Todesarten: Sterben in Kultur und Geschichte [1 ed.]
 9783412527037, 9783412527013

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UTE PLANERT (HG.)

Todesarten Sterben in Kultur und Geschichte

BEIHEFTE ZUM ARCHIV FÜR KULTURGESCHICHTE IN VERBINDUNG MIT KARL ACHAM, BERNHARD JAHN, EVA-BETTINA KREMS, FRANK-LOTHAR KROLL, TOBIAS LEUKER, HELMUT NEUHAUS, NORBERT NUSSBAUM, STEFAN REBENICH HERAUSGEGEBEN VON

KLAUS HERBERS HEFT 99

Ute Planert (Hg.)

Todesarten Sterben in Kultur und Geschichte

Die Veröffentlichung dieser Publikation wurde unterstützt von: a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities, Universität zu Köln

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© 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande  ; Brill USA Inc., Boston MA, USA  ; Brill Asia Pte Ltd, Singapore  ; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland  ; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung  : Motiv aus dem Straubinger Totentanz des Felix Hölzl, Seelenhaus-Kapelle auf dem Friedhof St. Peter, Straubing; © akg images Korrektorat  : Anja Borkam, Jena Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52703-7

Inhalt

Ute Planert Todesarten: Zum Umgang mit dem Tod in Kultur und Geschichte.. . . . . . .

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Karl-Joachim Hölkeskamp Ein starker Abgang. Das Leichenbegängnis der römisch-republikanischen Aristokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Andreas Michel Tod: Vom Anfang der Bibel an.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Monika Schausten Erzählen vom Ende – vom Ende des Erzählens: Todesarten der volkssprachlichen Erzählliteratur im hohen Mittelalter . . . . . . . . . . . . . .

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Patrick Nehr-Baseler Dem Unvermeidlichen entgegensehen. Umgangsformen mit der eigenen Zukunft in spätmittelalterlichen Sterbebüchern. . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Arne Karsten Grabmalspomp und Seelenmessen. Kardinalstestamente und der Umgang mit Tod und Nachleben an der Kurie im 17. und 18. Jahrhundert. . . . . . . .

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Gudrun Gersmann Von Friedhöfen und Massengräbern: Skizze einer Totengeschichte der Französischen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ute Planert »Dulce et decorum est pro patria mori«. Vom Wandel des Soldatentodes an der Schwelle zur Moderne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hannes Wendler & Thiemo Breyer Metaphysische Thanatologie: Der Tod und seine Grenzen im Denken Max Schelers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Gabriele von Glasenapp »Jede*r stirbt für sich allein«. Darstellungen des Sterbens kindlicher Figuren während der Shoah in der Kinder- und Jugendliteratur. . . . . . . . . . . . . .

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Stephan Köhn Der nukleare Tod in Japan: Ōta Yōkos »6. August, 8.15 Uhr« oder der Kampf um die Erinnerung an die Atombombe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Henriette Terpe Todestagebücher in der hispanoamerikanischen Literatur. . . . . . . . . . . .

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Frank Hentschel Die Musik zweier Tötungsszenen: »Platoon« und »Full Metal Jacket« . . . . . .

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Mira Menzfeld Sterben in Finnland, Südchina und Deutschland: Interkulturelle Perspektiven aus Feldforschungen mit terminal erkrankten Personen . . . . . . . . . . . . .

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Benjamin Beil Tod und Spiele – Zum ständigen Sterben im Computerspiel . . . . . . . . . .

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Caroline Helmus Ein Ende des Todes im Cyberspace? (Un-)Sterblichkeitsphantasien im Transhumanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Todesarten: Zum Umgang mit dem Tod in Kultur und Geschichte Gewöhne dich daran zu glauben, dass der Tod keine Bedeutung für uns hat. Denn alles, was gut, und alles, was schlecht ist, ist Sache der Wahrnehmung. Der Verlust der Wahrnehmung aber ist der Tod. […] Das schauerlichste aller Übel, der Tod, hat also keine Bedeutung für uns; denn solange wir da sind, ist der Tod nicht da, wenn aber der Tod da ist, dann sind wir nicht da.1

Mit seiner im Perzeptionismus wurzelnden Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod und einer auf Seelenfrieden und Lebensgenuss im Diesseits ausgerichteten Ethik hat Epikur die bislang wohl radikalste und daher immer wieder zitierte Antwort auf die Furcht vor der Unvermeidlichkeit des Todes formuliert. Aber noch die strikte Negation ihrer Bedeutung ist Teil der Auseinandersetzung mit der Ungeheuerlichkeit dieser Zumutung, die sich geradezu als Fundament der menschlichen Kultur verstehen lässt. »Kultur entspringt dem Wissen um den Tod und die Sterblichkeit«, wie Jan Assmann einprägsam formulierte.2 Ihre Emanationen lassen sich als Versuch verstehen, die Vergänglichkeit zu überwinden und über den menschlichen Lebenshorizont hinaus zu wirken. Weil niemand dem Tod entgeht, ist es unmöglich, sich dieser fundamentalsten aller Wahrheiten zu entziehen. Keine menschliche Gemeinschaft, die nicht Vorstellungen vom Sein jenseits der eigenen Existenz entwickelt und Rituale im Umgang mit dem Tod ihrer Mitglieder ausgebildet hätte. Grabstätten mit Beigaben, die auf Vorstellungen von einem Weiterleben nach dem Tod verweisen, sind bereits von den Vorfahren des modernen Menschen bekannt; ausgedehnte Nekropolen wurden im alten Orient, Europa und China seit rund 3000 v. Chr. angelegt.3 Weltweit verbinden Ahnen- und Totenkulte Lebende und Verstorbene. Der Kosmos der Religionen ist ohne das Fatum des Todes nicht denkbar. Deutungsangebote für das Unbegreifbare zu liefern, gehört zum Kernbestand aller religiösen und philosophischen Lehren.4 Anleitungen 1 Epikur, Wege zum Glück, hg. und übersetzt von Rainer Nickel, Mannheim 2011, S. 225. 2 Jan Assmann, Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Todesriten im Alten Ägypten, Frankfurt a. M. 2000, S. 13. 3 Vgl. Liv Nilsson Stutz, Sarah Tarlow (Hg.), The Oxford Handbook of the Archaeology of Death and Burial, Oxford 2013. 4 Vgl. exemplarisch etwa Christoph Elsas et al. (Hg.), Sterben, Tod und Trauer in den Religionen und

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zum guten Sterben durchziehen die Geschichte der Menschheit von der griechischen Philosophie über die Werke der mittelalterlichen Ars moriendi bis zu aktuellen Ratgebern, und die Geschichte der Medizin kann als fortlaufender Versuch verstanden werden, dem Unabänderlichen zu trotzen.5 Die Auseinandersetzung mit dem Tod ist ein zentrales Thema in Kunst und Literatur, und das Bedürfnis, die Vergänglichkeit durch Erinnerung zu überwinden, zählt zum Leitmotiv jeder Geschichtsschreibung.6 Der Tod ist als ontologische Tatsache allgegenwärtig, aber die Bedeutung, die ihm zugewiesen wird, und die damit verbundenen Vorstellungen und Handlungsweisen sind so vielfältig wie die Formen menschlichen Zusammenlebens in ihren Variationen über Raum und Zeit. Die Frage nach der (Be-)Deutung des Todes führt daher mitten hinein in die Welt der Lebenden. Im Umgang mit dem Tod zeigt sich das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft. Er ist eine Sonde ins Diesseits, um Werthaltungen und Bezugssysteme gegenwärtiger und vergangener Kulturen zu entschlüsseln. Umgekehrt wirkt die Verfasstheit einer Gesellschaft nicht nur auf die sozialen Bedingungen des Sterbens und der Sterbenden zurück, sondern prägt durch die jeweilige Konzeptionalisierung des Todes auch die Art und Weise, wie das Sterben von den Individuen erfahren wird.7 Auch wenn der Tod das Schicksal aller Lebenden ist, so ist er keineswegs der große Gleichmacher, als der er in den Totentänzen oder in Calderóns im kriegerischen 17. Jahrhundert entstandenen »Großem Welttheater« aufscheint.8

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Kulturen der Welt, 4 Bde., Berlin 2007–2021; Héctor Wittwer, Philosophie des Todes, Stuttgart 2009; ders. (Hg.), Der Tod. Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 2014; Petra Gehring, Theorien des Todes zur Einführung, 4. Aufl., Hamburg 2021; Steven Luper, The Cambridge Companion to Life and Death, Cambridge 2014; Michael Cholbi, Travis Timmerman (Hg.), Exploring the Philosophy of Death and Dying. Classical and Contemporary Perspectives, New York, London 2021. Vgl. beispielsweise Arthur E. Imhof, Ars moriendi. Die Kunst des Sterbens einst und heute, Köln 1991; Andrea von Hülsen-Esch (Hg.), Zum Sterben schön! Alter, Totentanz und Sterbekunst vom Mittelalter bis heute, 2 Bde., Regensburg 2006; Roger Chartier, Les arts de mourir, 1450–1600, in: Annales 31 (1976), S. 51–75; Nancy Lee Beaty, The Craft of Dying. A Study in the Literary Tradition of the Ars moriendi in England, Yale 1970. Zur allmählichen Trennung von Totenkult und Geschichtsschreibung vgl. Uwe Dörk, Totenkult und Geschichtsschreibung. Eine Konstellationsgeschichte zwischen Mittelalter und Moderne, Paderborn 2014. Vgl. etwa Barbara Ludwig, Transkultureller Vergleich von Bewältigungsstrategien des Lebensendes, Frankfurt a. M. 2018; Gregor Ahn, Nadja Miczek, Katja Rakow (Hg.), Diesseits, Jenseits und Dazwischen? Die Transformation und Konstruktion von Sterben, Tod und Postmortalität, Göttingen 2014; Kathy Charmaz, Glennys Howarth, Allan Kellehear (Hg.), The Unknown Country. ­Death in Australia, Britain and the USA, 2. Aufl., London 2015; Angela Berlis, Magdalene L. Frettlöh, Isabelle Noth, Silvia Schroer (Hg.), Die Geschlechter des Todes. Theologische Perspektiven auf Tod und Gender, Göttingen 2022; vgl. auch den Beitrag von Mira Menzfeld in diesem Band. Vgl. Pedro Calderón de Barca, El gran theatro del mundo, in: Autos sacramentales, con cuatro



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Das Gegenteil ist richtig: Der Tod ist eine zutiefst kulturell verfasste und sozial stratifizierte Angelegenheit.9 Entsprechend groß ist das Feld geistes- und kulturwissenschaftlicher Ansätze, die sich mit der Erforschung von Tod und Sterben beschäftigen.10 Sie betrachten die damit verbundenen Artefakte, Riten und Praktiken als kulturelle Manifestationen, die dem menschlichen Dasein Sinn und Struktur verleihen. Archäologie, Vor- und Frühgeschichte analysieren die materiellen Repräsentationen des Todes. Anthropologie, Ethnologie und Religionssoziologie untersuchen die mannigfaltigen Vorstellungen, die sich um Tod und Jenseits ranken, und interpretieren die zahlreichen Verhaltensvorschriften, mit denen die unterschiedlichen Ethnien und Gesellschaftsformen Tod, Trauer und Sterben umgeben.11 In den Sozialwissenschaften hat sich die Thanatosocomedias nuevas, y sus loas y entremeses. Primera parte, Madrid 1655, S. 239v–254r. Unter den zahlreichen Arbeiten zum Totentanz vgl. hier nur Hellmut Rosenfeld, Der mittelalterliche Totentanz. Entstehung, Entwicklung, Bedeutung, 3. verbesserte und vermehrte Aufl., Köln, Wien 1974; Reinhold Hammerstein, Tanz und Musik des Todes. Die mittelalterlichen Totentänze und ihr Nachleben, Bern, München 1980; Gert Kaiser (Hg.), Der tanzende Tod. Mittelalterliche Totentänze, Frankfurt a. M. 1983; Franz Link (Hg.), Tanz und Tod in Kunst und Literatur, Berlin 1993; Rainer Stöckli, Zeitlos tanzt der Tod. Das Fortleben, Fortschreiben, Fortzeichnen der Totentanztradition im 20. Jahrhundert, Konstanz 1996; Uli Wunderlich, Der Tanz in den Tod, Freiburg i.Br. 2001; Rolf Paul Dreier, Der Totentanz. Ein Motiv der kirchlichen Kunst als Projektionsfläche für profane Botschaften (1425–1650), Leiden 2010; Susanne Warda, Memento mori. Bild und Text in den Totentänzen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln 2011; Jessica Nitsche (Hg.), Mit dem Tod tanzen. Tod und Totentanz im Film, Berlin 2015 sowie die Publikationen der Europäischen Totentanz-Gesellschaft.   9 Vgl. Ute Planert, Dietmar Süss, Meik Woyke (Hg.), Sterben, Töten, Gedenken. Zur Sozialgeschichte des Todes, Bonn 2015. 10 Die Vielzahl der Publikationen macht es unmöglich, einen auch nur hinreichenden Überblick über die Fülle der Literatur zu bieten. Die zitierten Werke sind daher als Auswahl zu verstehen, die auch Hinweise auf weitere Literatur enthalten. 11 Als Pionierstudie vgl. Robert Hertz, Contribution à l’étude sur la représentation collective de la mort, in: ders., Mélanges de sociologie religieuse et de folklore, Paris 1928 (erstmals 1907), S. 1–98. Vgl. etwa auch Richard Huntington, Peter Metcalf, Celebrations of Death. The Anthropology of Mortuary Ritual, Cambridge 1979; Joachim Whaley (Hg.), Mirrors of Mortality. Studies in the Social History of Death, London 1981; María Susana Cipolletti, Langsamer Abschied. Tod und Jenseits im Kulturvergleich, Frankfurt a. M. 1989; Constantin von Barloewen (Hg.), Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen, München 1996; Jan Assmann, Rolf Trauzettel (Hg.), Tod, Jenseits und Identität. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Thanatologie, Freiburg, München 2002; Jan Assmann, Franz Maciejewski, Axel Michaels (Hg.), Der Abschied von den Toten. Trauerrituale im Kulturvergleich, Göttingen 2005; Patrick Eiden et al. (Hg.), Totenkulte. Kulturelle und literarische Grenzgänge zwischen Leben und Tod, Frankfurt a. M. 2006; Allan Kellehear, A Social History of Dying, Cambridge 2007; Birgit Heller, Franz Winter (Hg.), Tod und Ritual. Interkulturelle Perspektiven zwischen Tradition und Moderne, Münster 2007; Thomas W. Laqueur, The Work of the Dead. A Cultural History of Mortal Remains, Princeton et al. 2015; Bernhard Lang,

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ziologie mittlerweile als eigenständiges Untersuchungsfeld etabliert.12 Die Interpretation der Sepulkralkultur ist ein wichtiger Teil der (Kunst)Geschichte,13 und in der Geschichtswissenschaft liegen nicht länger nur Überblicksarbeiten zur Geschichte des Todes, sondern zunehmend auch Spezialstudien zu Einzelaspekten vor.14 Auch in der politischen Theorie wird nach Ansätzen zum Verständnis von Tod und Sterben gefragt.15 Während sich die Medienkulturwissenschaft zunehmend mit populären Repräsentationsformen des Todes beschäftigt,16 analysiert die Literaturwissenschaft Himmel, Hölle, Paradies. Jenseitswelten von der Antike bis heute, München 2019; Andreas Degen, Ulrike Schneider, Ulrike Wels (Hg.), Sterben, Tod und Weiterleben. Vorstellungen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Würzburg 2019; mit dem Blick auf außereuropäische Gesellschaften der Gegenwart etwa Chuu Krydz Ikwuemesi, Chidi Ugwu, Christian Agbo (Hg.), Dying, Death and the Politics of After-Death in Africa. Studies of Some Nigerian Communities, Glienicke 2019; Günter Blamberger, Sudhir Kakar (Hg.), Imaginations of Death and the Beyond in India and Europe, Singapur 2018. 12 Vgl. etwa Klaus Feldmann, Tod und Gesellschaft. Sozialwissenschaftliche Thanatologie im Überblick, Wiesbaden 2004; Nina Jakoby, Michaela Thönnes (Hg.), Zur Soziologie des Sterbens. Aktuelle theoretische und empirische Beiträge, Wiesbaden 2017; Frank Thieme, Sterben  und  Tod  in Deutschland. Eine Einführung in die Thanatosoziologie, Wiesbaden 2019; Felix Tirschmann, Der Alltag des Todes. Perspektiven einer wissenssoziologischen Thanatologie, Wiesbaden 2019; Thorsten Benkel, Matthias Meitzler (Hg.), Wissenssoziologie des Todes, 2. Aufl., Weinheim, Basel 2021. 13 Die Fülle der Literatur kann hier auch nicht näherungsweise abgebildet werden. Vgl. als einige Beispiele die Publikationen und Vorträge im Umfeld des Berliner Requiem-Projekts; Sascha Winter, Das Grab in der Natur. Sepulkralkunst und Memoriakultur in europäischen Gärten und Parks des 18. Jahrhunderts, Petersberg 2018; Wolfgang Augustyn, Ulrich Söding (Hg.), Bildnis – Memoria – Repräsentation. Beiträge zur Erinnerungskultur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Passau 2021. 14 Vgl. neben der klassischen Studie von Philippe Ariès, L’homme devant la mort, Paris 1977 etwa auch Michel Vovelle, Mourir autrefois. Attitudes collectives devant la mort aux XVIIe et XVIIIe siècles, Paris 1974; Norbert Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 1996 und ders., Geschichte des Todes in der Neuzeit, Erfurt 2001. Zur Konjunktur einschlägiger Fragestellungen vgl. Moritz Buchner, Anna-Maria Götz, Transmortale. Sterben, Tod und Trauer in der neueren Forschung, Köln 2016; Cornelia Brink, Nicole Falkenhayner, Ralf von den Hoff (Hg.), Helden müssen sterben. Von Sinn und Fragwürdigkeit des heroischen Todes, Baden-Baden 2019; Martin Clauss, Ansgar Reiss, Stefanie Rüther (Hg.), Vom Umgang mit den Toten. Sterben im Krieg von der Antike bis zur Gegenwart, Leiden 2019; Anja Maria Hamann, Nina Kreibig, Katja Martin (Hg.), Tod und Krise. Totenfürsorge und Bestattungspraktiken im langen 19.  Jahrhundert, Potsdam 2021; Nina Kreibig, Institutionalisierter Tod. Die Kultur- und Sozialgeschichte der Berliner Leichenhäuser im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2022; Verena Burhenne (Hg.), Abschied nehmen. Sterben, Tod und Trauer, Münster 2022. 15 Vgl. Erin A. Dolgoy, Kimberley Hurd Hale, Bruce Peabody (Hg.), Political Theory on Death and Dying, New York, London 2022. 16 Vgl. Johannes Wende, Der Tod im Spielfilm. Eine exemplarische Analyse, München 2014; Ruth Penfold-Mounce, Death, the Dead and Popular Culture, Bingley 2018; Tal Morse, The Mourning News. Reporting Violent Death in a Global Age, New York 2018.



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die Strukturen der narrativen Darstellungen des Sterbens.17 Die Rechtswissenschaft hat die Situation am Lebensende in verschiedenen Ländern vergleichend betrachtet und an der Schnittstelle zur Moralphilosophie nach normativen Umgangsformen mit Toten und Trauernden gefragt.18 Dabei rückte auch der Status des menschlichen Leichnams in den Blick.19 Handbücher sowie neue Buchreihen und Zeitschriften belegen die Attraktivität der Thanatologie weit über ihre Ursprünge in Medizin, Psychologie und Bioethik hinaus.20 Nie zuvor in der Geschichte der modernen Wissenschaften, stellte der Theologe Friedrich Wilhelm Graf schon vor bald zwei Jahrzehnten fest, hätten Gelehrte so intensiv über Tod und Vergänglichkeit, Zeit und Ewigkeit nachgedacht wie heute. Damit stünden sie dem »Memento mori« früherer Zeiten in nichts nach.21

17 Vgl. Simon Peng-Keller, Andreas Mauz (Hg.), Sterbenarrative. Hermeneutische Erkundungen des Erzählens am und vom Lebensende, Berlin 2018; Christian Braun, Sprache des Sterbens – Sprache des Todes. Linguistische und interdisziplinäre Perspektivierungen eines zentralen Aspekts menschlichen Daseins, Berlin, Boston 2021; Anda-Lisa Harmening, Schreiben im Angesicht des Todes. Poetologie(n) des Sterbens von 1968 bis heute, Leiden et al. 2021. 18 Vgl. Stephanie Rohlfing-Dijoux, Uwe Hellmann (Hg.), Culture and Law. Multidisciplinary Cross-fertilization of View on the End of Life, Baden-Baden 2022; Dirk Preuss, Lara Hönings, Tade Matthias Spranger (Hg.), Facetten der Pietät, München 2015. 19 Vgl. Dominik Gross et al. (Hg.), Tod und toter Körper. Der Umgang mit dem Tod und der menschlichen Leiche am Beispiel der klinischen Obduktion, Kassel 2007; Stephanie Trieglaff, Der würdevolle Umgang mit dem menschlichen Leichnam, Diss. Potsdam 2010; Hubert Knoblauch et al. (Hg.), Der Tod, der tote Körper und die klinische Sektion, Berlin 2010; Brigitte Tag, Dominik Gross, Der Umgang mit der Leiche. Sektion und toter Körper in internationaler und interdisziplinärer Perspektive, Frankfurt a. M. 2010 sowie weitere Werke der von Dominik Gross, Andrea Esser, Hubert Knoblauch und Brigitte Tag herausgegebenen Reihe »Todesbilder. Studien zum gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod«. 20 Einen Ausgangspunkt der deutschsprachigen Diskussion bildete eine interdisziplinäre Berliner Vorlesungsreihe, vgl. Rolf Winau, Hans Peter Rosemeier (Hg.), Tod und Sterben, Berlin, Boston 1984. Eine Schneise in die umfangreiche Forschungsliteratur schlagen Héctor Wittwer, Daniel Schäfer, Andreas Frewer (Hg.), Handbuch Sterben und Tod. Geschichte  – Theorie  – Ethik, 2. Aufl., Stuttgart 2020; das vom Zentralinstitut für Sepulkralkultur in Kassel herausgegebene Große Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur. Wörterbuch der Sepulkralkultur, Bd. 1–5, Frankfurt a. M. 2002–2020 und Bernd Herrmann, Thanatologie. Eine historisch-anthropologische Orientierung, Wiesbaden 2021. Das verstärkte Interesse schlägt sich in Publikationsreihen wie der in Anm.  19 genannten »Todesbilder«-Serie oder der aktuellen Neugründung »Tod und Agency« nieder, die sich, hg. von Thomas Macho, Nina Kreibig und Moisés Prieto, seit 2022 »interdisziplinären Studien zum Lebensende« widmet. Auch das »Jahrbuch für Tod und Gesellschaft« des Arbeitskreises Thanatologie erschien erstmals 2022. Dagegen sind die seit vielen Jahrzehnten etablierten englischsprachigen Zeitschriften »Death Studies« und »Omega« stärker psychologisch und medizinisch ausgerichtet. 21 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Todesgegenwart, in: ders., Heinrich Meier (Hg.), Der Tod im Leben. Ein Symposion, München 2004, S. 7–46.

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Grafs Beobachtung widerspricht der verbreiteten Auffassung von der zunehmenden Verbannung des Todes aus dem Zentrum der Gesellschaft. Moderne Gesellschaften, so hatte einst Max Weber angemerkt, degradierten den Tod zum Zwischenfall ihrer »Zweckwelten« und machten ihn zu einer »sinnlose[n] Begebenheit«.22 Michel Foucault sah den Tod mit dem Aufkommen der regulierenden Bio-Macht seit dem späten 18. Jahrhundert zunehmend banalisiert und ins Private abgedrängt, während Norbert Elias die Individualisierungstendenzen der Industriegesellschaft für die Verdrängung des Todes aus dem öffentlichen Bewusstsein verantwortlich machte. Als Philippe Ariès 1977 seine ebenso vielgelesene wie häufig kritisierte Studie zur Geschichte des Todes veröffentlichte, entwarf er das Bild einer traditionellen Vertrautheit mit dem Tod in der abendländischen Kultur, die über die Dramatisierung des Sterbens und Stationen der Erotisierung zur Verdrängung und schließlich Ausbürgerung von Tod und Trauer aus der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts geführt habe23 – eine zunehmende »Entfremdung« im Verhältnis der Moderne zum Tod, die auch andere mentalitätsgeschichtlich orientierte Arbeiten konstatierten.24 Tatsächlich machen die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften und die sie durchdringende Rationalisierung aller Lebensbereiche auch vor dem Tod nicht halt. Der Hochleistungsmedizin gilt der Tod als »Endgegner«, und das Sterben findet längst in spezialisierten Institutionen statt, die dem alltäglichen Leben entzogen sind.25 Areale des Lebens und Areale des Todes, dazwischen eine Demarkationslinie: Die Coronavirus-Pandemie markierte hier einen neuen Höhepunkt. Zugleich betreiben spätmoderne Gesellschaften einen institutionellen Aufwand rund um Tod und Sterben, der sich nur schwer mit der These von der Verdrängung des Todes vereinbaren lässt.26 Spätestens seit der Jahrtausendwende ist die Gegenwart von einer »neuen Sichtbarkeit des Todes«27 geprägt. Sie steht in scharfem Kontrast zu ei22 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, 11. Aufl., Berlin 2011, S. 17f. 23 Philippe Ariés, L’homme devant la mort, Paris 1977. Vgl. auch ders., Images de l’homme devant la mort, Paris 1983. 24 Martina Kessel, Sterben/Tod. Neuzeit, in: Peter Dinzelbacher (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte, Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1993, S. 260–273, hier S. 265; Michel Vovelle, La mort et l’occident de 1300 à nos jours, Paris 1983. 25 Vgl. etwa Hubert Knoblauch, Arnold Zingerle (Hg.), Thanatosoziologie. Tod, Hospiz und die Institutionalisierung des Sterbens, Berlin 2016; Willibald J. Stronegger, Kristin Attems (Hg.), Mensch und Endlichkeit. Die Institutionalisierung des Lebensendes zwischen Wissenschaft und Lebenswelt, Baden-Baden 2018. Einen Wandel durch die Palliativmedizin konstatiert Daniel Cahmen, Tod und Sterben als gesellschaftlicher Auftrag – Ansätze einer veränderten Sterbekultur?, Norderstedt 2020. 26 Clive Seale, Constructing Death. The Sociology of Dying and Bereavement, Cambridge 1998. 27 Thomas H. Macho, Kristin Marek (Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes, München, Paderborn 2007. Vgl. auch Cornelia Klinger (Hg.), Perspektiven des Todes in der modernen Gesellschaft, Wien 2009.



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ner bis weit in die 1980er Jahre spürbaren gesellschaftlichen Weigerung, der Beschäftigung mit dem Tod allzu viel Platz einzuräumen. Das legt den Verdacht nahe, dass die Tabuisierung des Todes zumindest in der deutschen Nachkriegsgesellschaft nicht allein seiner Zwecklosigkeit im »stahlharten Gehäuse« der Moderne geschuldet ist,28 sondern auch das Resultat millionenfachen Sterbens in den beiden Weltkriegen und der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie war, die den Ermordeten noch die Gräber verweigerte. Mit dem allmählichen Abtreten der Kriegsgeneration wurde das Schweigen aus Schuld, Scham oder Traumatisierung von der Vergegenwärtigung des Massentodes in einer institutionell verankerten Erinnerungspolitik abgelöst. Auch auf anderen Gebieten trugen neue Entwicklungen dazu bei, die Frage nach dem Umgang mit dem Tod neu zu stellen. In Verbindung mit Fortschritten bei der Transplantationsmedizin löste die allmähliche Durchsetzung der Definition des Hirntods als entscheidendes Todeskriterium seit den späten 1960er Jahren breite Diskussionen aus. Intensiv geführte Debatten um die Grenzen der Medizin am Anfang und am Ende des Lebens machen deutlich, wie sehr die fortwährende Neudefinition von Leben und Sterben durch Medizin und Wissenschaft zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Tod herausfordert.29 Wie stark die Dinge im Fluss sind, zeigt auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020, mit dem der Zweite Senat das bis dahin geltende faktische Verbot der Sterbehilfe aufhob. Die Kammer stellte ausdrücklich fest, dass das Recht auf selbstbestimmtes Sterben als Ausdruck autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu akzeptieren sei und die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, auch die Freiheit einschließe, dafür um Hilfe nachzusuchen.30 Damit entsprach das Gericht dem verbreiteten Wunsch nach Kontrolle über das eigene Lebensende, der in Instrumenten wie der »Patientenverfügung« und »Vorsorgevollmacht« schon sprachlich zum Ausdruck kommt. Es ist zu erwarten, dass die demographische Entwicklung bei knapper werdenden Ressourcen weitere Debatten um die Ausgestaltung der Sterbehilfe mit sich bringen wird. Liberalisierung, Individualisierung und Enttraditionalisierung betreffen jedoch nicht nur die Verhältnisse am Lebensende, sondern wirken sich auch auf die Form des Abschieds von den Toten aus. In den hochmobilen und pluralen westlichen Gesellschaften verlieren überkommene Trauerrituale zunehmend an Bedeutung. Der Tod ist nicht mehr Bestandteil eines weithin geteilten (christlichen) Wertehorizonts und 28 Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1963, S. 203. 29 Vgl. dazu nur Andrea M. Esser, Daniel Kersting, Christoph G.W. Schäfer (Hg.), Welchen Tod stirbt der Mensch? Philosophische Kontroversen zur Definition und Bedeutung des Todes, Frankfurt a. M. 2012. 30 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15, Rn. 1–343.

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Normengefüges, sondern Gegenstand spezieller Subsysteme, die in je eigener Weise auf ihn Bezug nehmen und mit- und nebeneinander existieren.31 Der Verlust der Selbstverständlichkeiten beförderte die Konjunktur von Trauerratgebern und ließ multiple Begräbnisformen entstehen, die wie im Brennglas gesellschaftliche Veränderungen widerspiegeln: Städtische Friedhöfe richten muslimische Gräberfelder ein, Trauerredner*innen treten an die Stelle von Geistlichen, Urnenbeisetzungen und anonyme Bestattungen ersetzen die aufwendige Grabpflege, der Leichenschmaus wird zum postmortalen Event samt vorausgewählter Playlist, Todesanzeigen bemühen sich um Individualität, das Gedenken verlagert sich in Internet-Friedhöfe, immer häufiger findet die Beisetzung außerhalb von Friedhofsmauern auf See oder im Ruheforst statt. Den Friedhöfen, wo aufwendig gestaltete Grabmäler im 19. Jahrhundert zum Schauplatz bürgerlicher Selbstdarstellung und Zeugnis künstlerischer Finesse wurden, gehen die Toten aus. Der Tod zieht um und ist immer häufiger nur noch medial vermittelt in den virtuellen Welten der Krimis, Horrorschocker, Katastrophenfilme, Computerspiele und sozialen Medien zu finden. Der stetig anschwellenden Masse der Bildschirmtoten entspricht ihre ewige Wiederkehr. Zugleich hat die Entgrenzung von Öffentlichem und Privatem in der postbürgerlichen Gesellschaft zu einer Verschiebung des Sag- und Zeigbaren geführt, die auch vor der Darstellung des eigenen Todes nicht Halt macht. Die kommerzialisierte Zurschaustellung immer neuer, einstmals tabuisierter privater Details zur Beförderung der Einschaltquote hat hier ebenso Vorarbeit geleistet wie die Ausstellung des (vermeintlich) authentischen Lebens in den Sozia­len Medien. Kunst und Literatur setzten hier einen neuen Ton. Hatte Christoph Schlingensiefs öffentliches Sterben noch Kontroversen ausgelöst, wurde Wolfgang Herrndorfs posthum als Buch veröffentlichtes Blogprotokoll der letzten Lebensjahre für seine literarische Tapferkeit gelobt.32 Inzwischen lassen sich in den neuen Vergesellschaftungs­formen der Netzwelt auf (Video-)Blogs, YouTube- und Instagram-Kanälen Sterbeprozesse in Echtzeit mitverfolgen.33 31 Vgl. Alois Hahn, Matthias Hoffmann, Der Tod und das Sterben als soziales Ereignis, in: Cornelia Klinger (Hg.), Perspektiven des Todes in der modernen Gesellschaft, Wien 2009, S. 121–144. Zur Soziologie des Todes in Gegenwartsgesellschaften vgl. aus britischer Sicht David Clark (Hg.), The Sociology of Death. Theory, Culture, Practice, Oxford 1993. 32 Vgl. Christoph Schlingensief, So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein. Tagebuch einer Krebserkrankung, Köln 2009; Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur, Berlin 2013. Vgl. auch Roland Berbig et al. (Hg.), Krankheit, Sterben und Tod im Leben und Schreiben europäischer Schriftsteller, 2 Bde., Würzburg 2017. 33 Vgl. dazu und zu weiteren Aspekten der gegenwärtigen Medialisierung von Tod und Sterben Corinna Caduff, Sterben und Tod öffentlich gestalten. Neue Praktiken und Diskurse in den Künsten der Gegenwart, Paderborn 2022; Anke Offerhaus, Sterben, Trauern und Gedenken in der digitalisierten Gesellschaft. Zur Erweiterung von Handlungsspielräumen mit und durch digitale Medientechno-



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Der Tod rückt ins Virtuelle vor und entmaterialisiert sich dabei. Das gilt für das Ableben in den Endlosschleifen des Computerspiels, die immer einen Neuanfang zulassen, ebenso wie für bühnentaugliche Avatare prominenter Musiker*innen, die das jüngere Ich ihrer Schöpfer in die virtuelle Unendlichkeit transportieren. Die Überwindung der Materialität des Körpers in der virtuellen Realität führt die Gegenwart näher an die Träume des Transhumanismus, dessen radikalste Spielart nicht nur die Defizite der menschlichen Spezies technologisch optimieren will, sondern darauf abzielt, dem posthumanen Bewusstsein durch die Verlagerung in Speichermedien Ewigkeitscharakter zu verleihen.34 So viel Tod wie heute war nie. Eher als von seiner Verdrängung müsste man von der Veralltäglichung des Todes in der Gegenwart sprechen. Dieser Tod ist freilich immer der Tod der anderen, entmaterialisiert in virtuellen Welten, zuweilen scheinbar aufhebbar durch das Drücken des Reset-Knopfes. Während der reale Tod als ultimative Kränkung, ja Skandal verstanden wird, der überwunden oder, solange das nicht möglich ist, zumindest in die Randbezirke der Gesellschaft verbannt werden muss, breitet sich der virtuelle Tod auf allen Kanälen aus. Das kann man mit Freud als die Wiederkehr des Verdrängten verstehen, aber besser vielleicht noch als virtuelles Probehandeln einer Katastrophengesellschaft, die infolge der Überlagerung immer neuer Krisen in den Apokalypsemodus geschaltet hat – jungfräuliche Endzeitheilige, Ablasshandel, Verzichtsprediger und den Untergang erwartende Sekten inklusive. So gesehen dient die Konjunktur medialer Todesbilder der Gewöhnung durch Veralltäglichung und übt Distanzierung gegenüber dem Schrecken ein. Das unausgesprochene Ziel solcher Schreckensbilder wäre es dann, die Furcht vor einem möglichen kollektiven wie individuellen Ende zu bannen, das im Zeitalter von Krieg, Pandemien, Atomtod, Klimawandel und Artensterben näher denn je zu rücken scheint. Die ewige Wiederkehr der Toten in den Endlosschleifen der virtuellen Welten lässt sich somit als Antidot und Abwehrzauber gegen die Todesangst der Katastrophengesellschaft verstehen. Vor dem Hintergrund der Coronavirus-Pandemie und der Debatten um das men­ schengemachte »sechste große Massensterben«35 der Erdgeschichte setzte sich eine logien, in: Anna Bauer, Florian Greiner, Sabine H. Krauss, Marlene Lippok, Sarah Peuten (Hg.), Rationalitäten des Lebensendes. Interdisziplinäre Perspektiven auf Sterben, Tod und Trauer, Baden-Baden 2020, S. 251–286. 34 Vgl. Noelia Bueno-Goméz, Der Tod in technowissenschaftlichen Gesellschaften, in: Andreas Beinsteiner, Tanja Kohn (Hg.), Körperphantasien. Technisierung – Optimierung – Transhumanismus, Innsbruck 2016, S. 227–237; Tim Willmann, Amine El Maleq (Hg.), Sterben 2.0. (Trans)Humanistische Perspektiven zwischen Cyberspace, Mind Uploading und Kryonik, Berlin, Boston 2022. 35 Vgl. dazu etwa Ursula K. Heise, Imagining Extinction. The Cultural Meaning of Endangered Species, Chicago 2016; Elizabeth Kolbert, The Sixth Extinction. An Unnatural History, London 2015; Deborah Bird Rose et al. (Hg.), Extinction Studies. Stories of Time, Death, and Generations, New York

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Vorlesungsreihe an der Universität zu Köln das Ziel, die kulturspezifisch unterschiedlichen Formen des Umgangs mit Sterben und Tod auszuloten und die Zugänge der verschiedenen Disziplinen miteinander ins Gespräch zu bringen. Von der a.r.t.e.s.-­ Gra­duiertenschule der Philosophischen Fakultät finanziell unterstützt, liegen die Beiträge, ergänzt um weitere Artikel, nun gedruckt vor.36 Dabei entschlüsselt der Althistoriker Karl-Joachim Hölkeskamp die kulturelle Symbolik der prunkvollen Leichenbegängnisse in der Römischen Republik und zeigt, wie die führenden Familien die glanzvolle Inszenierung und ausgefeilte Choreographie der pompa funebris beim Tod eines ihrer Mitglieder zur eigenen Statusaffirmation nutzten. Doch zugleich hatten die Leichenbegängnisse eine kollektive Funktion: Sie dienten der Selbstvergewisserung und permanenten Selbstkonstituierung der politisch-militärischen Elite der Römischen Republik in Zeiten des Aufstiegs zu imperialer Größe. Der katholische Theologe Andreas Michel räumt mit der Vorstellung auf, dass die christliche Religion, die immerhin die Überwindung des Todes zu ihren Fundamenten zählt, über eine geradlinige Konzeptualisierung des Todes verfügt. Stattdessen weist die Bibel eine lange Reihe von Um- und Neuinterpretation der Todesthematik mit erheblichen Deutungskonkurrenzen auf, deren Vielstimmigkeit und Ambiguität die verschiedenartigen Entstehungskontexte der biblischen Texte widerspiegeln. Die Germanistin Monika Schausten nimmt die sowohl von christlicher Eschatologie als auch von höfischer Lebensrealität geprägte deutschsprachige Literatur des hohen Mittelalters in den Blick. Ihre Auseinandersetzung mit der Erzählung vom armen Heinrich, den Geschichten um Tristan und Isolde sowie mit dem Nibelungenlied legt dar, wie diese Narrationen mit dem Opfer, dem Liebes- und dem Heldentod drei paradigmatische Todesarten hervorbrachten, die über viele Jahrhunderte hinweg die symbolische Ordnung des kollektiven Bewusstseins in Mitteleuropa zu prägen vermochten.

2017; Roy Scranton, Learning to Die in the Anthropocene. Reflections on the End of a Civilization, New York 2015; Genese Marie Sodikoff (Hg.), The Anthropology of Extinction. Essays on Culture and Species Death, Bloomington 2011; Christos Lynteris, Human Extinction and the Pandemic Imaginary, London 2021. 36 Ich bedanke mich bei meinem Kollegen und Mitveranstalter Prof. Dr. Roman Bartosch für inspirierende Gespräche, Literaturhinweise und kluge Kommentare, bei der a.r.t.e.s. Graduate School und Prof. Dr. Andreas Speer für den großzügigen Druckkostenzuschuss, bei Prof. Dr. Klaus Herbers für die Aufnahme des Bandes als Beiheft des Archivs für Kulturgeschichte, bei Kristi Doepner vom Böhlau Verlag für die gute Betreuung, bei Elias Mahiout, Ann-Kathrin Maubach und Chiara Prinz für die Unterstützung der Drucklegung und bei den mitwirkenden Kolleginnen und Kollegen für ihre Bereitschaft, sich auf ein ebenso faszinierendes wie schwieriges Thema einzulassen.



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Die immense Furcht des mittelalterlichen Menschen vor dem »jähen Tod« ohne die rechte Vorbereitung auf das Jenseits führte zu einer Reihe von Gegenmaßnahmen, zu denen auch zahlreiche Anleitungen zum guten Sterben gehörten, die Theologen für ein Laienpublikum entwickelten. Die von dem Mediävisten Patrick Nehr-Baseler betrachteten Sterbebüchlein aus dem späten 15. Jahrhundert zielten jedoch nicht nur auf die stete Vergegenwärtigung des Jenseits, sondern schlossen etwa auch diätetische Anweisungen zur Gesunderhaltung im Diesseits ein, um nicht vor der von Gott gesetzten Stunde zu sterben. Dass die Absichten und Ziele von Sterbenden und ihren Hinterbliebenen zuweilen beträchtlich voneinander abwichen, macht der an der Kunstgeschichte geschulte Historiker Arne Karsten anhand der Testamente und Grabmäler italienischer Kardinäle im 17. und 18. Jahrhundert deutlich. Anders als den Geistlichen ging es ihren Familien weniger um das Seelenheil der Verstorbenen als vielmehr um die Perpetuierung weltlichen Ruhms. Daher orientierte sich die Ausgestaltung der Grabmäler häufig nicht an religiösen Vorstellungen oder im Testament verfügten Wünschen, sondern an den höchst diesseitigen Repräsentationsbedürfnissen der Nachwelt. Als ehemalige Leiterin des Deutschen Historischen Instituts in Paris begibt sich Gudrun Gersmann auf die Suche nach den Opfern der jakobinischen Schreckensherrschaft. Ihre Totengeschichte der Französischen Revolution rekonstruiert den von der Guillotine bestimmten Alltag in Paris und macht deutlich, wie die schiere Zahl der Ermordeten nicht nur zum politischen, sondern auch zum hygienischen Problem wurde. Man verscharrte sie in neu angelegten Massengräbern, die nach wechselvoller Geschichte größtenteils nicht mehr erhalten sind – mit Ausnahme eines Privatfriedhofs und einer später erbauten Kapelle, wo der französische Hochadel und die Anhänger der Bourbonen bis heute der Verstorbenen gedenken. Die politischen Umwälzungen in den Jahrzehnten um 1800 führten nicht nur zu einer Neuorganisation des Militärwesens, sondern auch zu einer Umdeutung des Sterbens im Krieg. Ute Planert zeichnet den – in den verschiedenen Territorien des Alten Reiches sehr unterschiedlichen – Weg von der spirituellen Kriegsbeteiligung der Bevölkerung zur allmählichen Einführung der Wehrpflicht nach und legt dar, wie das Sterben im Krieg schon in den Rheinbundstaaten und nicht erst in den Kriegen gegen Napoleon unter tatkräftiger Mithilfe der Kirchen erst zum Opfertod in der Nachfolge Christi und dann zum Heldentod fürs Vaterland umgedeutet wurde. Nach 1815 bemächtigten sich die Monarchen der Erinnerung an die gefallenen Soldaten und nutzten die Politik des Gedenkens als Instrument der Staatsintegration. Thiemo Breyer und Hannes Wendler argumentieren, dass mit Max Scheler ein neues Stadium philosophischen Todesdenkens begann, in dem das eigene Todes­bewusstsein in den Vordergrund philosophischer Betrachtung rückte. Während externa­listische Entwürfe den Tod als etwas nicht Erfahrbares kategorial vom Leben scheiden, ist bei

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Schelers Immanentisierung des Todes die materiale Präsenz des Todes den Prozessen des Entstehens und Vergehens eingeschrieben und damit als Teil des Lebens der menschlichen Erfahrung zugänglich. Seine metaphysische Thanatologie nimmt ihren Ausgangspunkt von der phänomenologischen Feststellung einer intuitiven Todes­ gewissheit und kann damit als ambitionierter Gegenentwurf zur epikureanischen Tradition der radikalen Trennung des Todes von der Welt der Lebenden gelten. Die Germanistin Gabriele von Glasenapp untersucht die Darstellung der Shoah in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur und findet in der frühen Bundesrepublik konventionelle Erzählmuster, die jeden Hinweis auf Tod und Sterben aussparten. Erst der gesellschaftlich-literarische Umbruch im Verlauf der 1970er Jahre, so dokumentiert der Beitrag, führte zu einem Paradigmenwechsel, der nicht nur die literarische Repräsentation der Shoah und auch das Sterben von Kindern zum Thema machte, sondern auch avancierte Formen uneindeutigen Erzählens etablierte und so den Leser*innen eigene Deutungsmöglichkeiten eröffnete. Die Überlebenden des Atombombenabwurfs von Hiroshima waren zwar dem nuklearen Tod entronnen, doch sie unterlagen einer anderen Form der Auslöschung, wie der Japanologe Stephan Köhn anhand des Schicksals der Schriftstellerin Ōta Yōko und ihrer Werke dokumentiert. Der Staat erfand sich nach 1945 neu, zensierte die »Atombombenliteratur« zunächst und vereinnahmte dann die Erinnerungen an die nuklearen Angriffe. Dabei wurden auch die aggressive Außenpolitik des Landes und die Rolle des Tenno umgedeutet. Vor diesem Hintergrund wurden die mahnenden Stimmen der Vergangenheit sukzessive ausgeblendet und zum Verstummen gebracht. Todestagebüchern aus dem hispanoamerikanischen Raum widmet sich die Romanistin Henriette Terpe. Anhand von ausgewählten Beispielen fragt sie danach, wie im Medium des Tagebuchs auf der Schwelle zwischen Leben und Tod Zeit erfahren wird und wie sich das Verhältnis von Sterbe- und Schreibprozess gestaltet. Dabei zeigt sich, dass die Tagebücher keineswegs allein auf die Thematisierung des Todes ausgerichtet sind, sondern dass alltägliche Gegebenheiten nun anders bewertet und poetisch neu gefasst werden. Dazu treten metapoetische Reflexionen zum Verhältnis zwischen literarischem Schreiben und dem eigenen Sterben, die aufgrund des eigenen Erlebens eine neue intellektuelle Durchdringung erfahren. Auf die enge Verbindung von Musik und Tod weist der Musikwissenschaftler Frank Hentschel hin, sei es weltweit bei Beerdigungszeremonien, im Requiem der christlichen Kultur, in der Oper oder im Film, wo Sterbeszenen je nach Inhalt und Situation ganz unterschiedlich ausgestaltet werden. Doch die Funktion der Filmmusik erschöpft sich nicht darin, eine bestimmte Atmosphäre zu schaffen oder die Gefühlslage der Zuschauer zu steuern. Sie kann auch, wie Hentschel am Beispiel der etwa zeitgleich entstandenen Vietnamfilme »Platoon« und »Full Metal Jacket« demonstriert, religiöse, kulturelle und politische Subtexte transportieren, indem sie heroisierende Sequenzen



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aufnimmt, die bereits im kulturellen Gedächtnis verankert sind, oder im Gegenteil popkulturelle Stücke einsetzt, die zur kritischen Distanzierung beitragen. Wie stark die (Selbst-)Wahrnehmung von Sterbeprozessen von k­ ulturspezifischen Parametern abhängt, veranschaulicht die Ethnologin Mira Menzfeld auf der Grundlage von Interviews mit Todkranken in Finnland, Deutschland und Südchina. Während in Finnland eine ärztliche Diagnose die letzte Lebensphase einleitet und in Deutschland erwartet wird, dem terminalen Prozess mit Humor zu begegnen, gilt in China das Ende erst als sicher, wenn der Mensch tatsächlich verstorben ist. Sterben ist demnach keine anthropologische Konstante, sondern basiert auf den verfügbaren Konzepten der jeweiligen Kultur. Daraus folgt, dass keineswegs alle Menschen gleich sterben – und mehr noch: dass gemäß den Vorstellungswelten der unterschiedlichen Kulturen nicht einmal alle Menschen sterben. Auch in der Welt der Computerspiele ist das Sterben keine unumstößliche Determinante. Zwar ist der Tod allgegenwärtig: Viele Spiele tragen den Tod im Titel, sie handeln vom Tod, die Spielfiguren sterben oder wandeln als Zombies oder Geister durch die Spielwelt. Dennoch steht nicht das Sterben, sondern das Wiederauferstehen im Zentrum des Spiels, wie der Medienwissenschaftler Benjamin Beil anhand verschiedener Beispiele erläutert. Entscheidend für diese Ambivalenz ist eine in die Erzählstruktur eingebaute Komponente der Wiederholbarkeit, so dass Computerspiele in der Regel dazu tendieren, den Tod der Spielfigur faktisch irrelevant erscheinen zu lassen. Wo der Fokus auf dem Restart liegt, ist der Tod flüchtig und ein Ende nur in seltenen Fällen intendiert. Die Überwindung des Todes ist auch das Ziel der »siliziumbasierten« Variante des Transhumanismus, mit der sich die Theologin Caroline Helmus kritisch auseinandersetzt. Dieses Konzept beabsichtigt nicht nur die technologische Erweiterung und Verbesserung der menschlichen Natur, sondern zielt auf ein Ende der Begrenzungen des menschlichen Daseins durch Mind-Uploading, also durch die Übertragung der im Gehirn verankerten Persönlichkeit auf externe Speichermedien. Helmus begreift die Suche nach einer posthumanen körperlosen Existenzform als säkular-eschatologische Weltanschauung, die durch den Einsatz technologischer Mittel auf Erlösung hofft und dennoch die materielle Bedingtheit des Daseins nicht aufheben kann. Entsprechend bleibt, so ihre These, auch der siliziumbasierte Transhumanismus den Bedingungen des Lebens unterworfen und kann dem Tod kein Ende setzen. Dem Tod, so lässt sich am Ende dieses Bandes das Fazit ziehen, entkommen wir nicht. Aber welche Bedeutung wir ihm beimessen und wie wir sterben, ist kulturspezifisch höchst variabel und fordert zu weiteren Forschungen heraus. Die Beschäftigung mit den letzten Dingen führt ins Herz des menschlichen Daseins und gibt wie nichts sonst Auskunft über die Welt der Lebenden.

Karl-Joachim Hölkeskamp

Ein starker Abgang. Das Leichenbegängnis der römisch-republikanischen Aristokratie Das antike Rom der Jahrhunderte vor der Zeitenwende kann man als eine Kultur der Spiele und Spektakel, als eine Kultur der Visualität, des Sehens und Gesehenwerdens bezeichnen  – oder auch und zugleich mit Fug und Recht als eine »Republik der Rituale«.1 Dazu gehörten die zahlreichen Prozessionen – darunter nicht zuletzt das Leichenbegängnis eines nobilis, eines Angehörigen der großen Familien der politisch-militärischen Elite: Die pompa funebris zeichnete sich durch eine ganz eigene rituelle Syntax und ein besonderes symbolisches Vokabular aus.2 1 Siehe dazu allgemein Geoffrey S. Sumi, Ceremony and Power. Performing Politics in Rome between Republic and Empire, Ann Arbor 2005; Harriet I. Flower, Spectacle and Political Culture in the Roman Republic, in: dies. (Hg.), The Cambridge Companion to the Roman Republic, Cambridge 2014, S. 377–398; Karl-Joachim Hölkeskamp, Hierarchie und Konsens. Pompae in der politischen Kultur der Republik, in: ders. (Hg.), Libera res publica. Die politische Kultur des antiken Rom – Positionen und Perspektiven, Stuttgart 2017, S. 189–237 (zuerst hg. in Alexander H. Arweiler, Bardo M. Gauly (Hg.), Machtfragen. Zur kulturellen Repräsentation und Konstruktion von Macht in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Stuttgart 2008, S. 79–126); ders., Reconstructing the Roman Republic. An Ancient Political Culture and Modern Research, Princeton 2010, S. 55–60, 112–115, 121–123; ders., Roman Republican Reflections. Studies in Politics, Power, and Pageantry, Stuttgart 2020, Index Rerum s.v. pompae, processions, ritual, spectacle, auch zum Folgenden; Ders., Political Culture – Career of a Concept, in: Valentina Arena, Jonathan Prag (Hg.), A Companion to the Political Culture of the Roman Republic, Malden 2022, S. 4–19. 2 Die folgenden Ausführungen beruhen auf diesen grundlegenden Arbeiten: Harriet I. Flower, Ancestor Masks and Aristocratic Power in Roman Culture, Oxford 1996; dies., Der Leichenzug – die Ahnen kommen wieder, in: Elke Stein-Hölkeskamp, Karl-Joachim Hölkeskamp (Hg.), Erinnerungsorte der Antike. Die römische Welt, München 2006, S. 321–337, 752–753; Egon Flaig, Die Pompa Funebris. Adlige Konkurrenz und annalistische Erinnerung in der Römischen Republik, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Memoria als Kultur, Göttingen 1995, S. 115–148; ders., Ritualisierte Politik. Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom, Göttingen 2003, S.  49–74; ders., Prozessionen aus der Tiefe der Zeit. Das Leichenbegängnis des römischen Adels – Rückblick, in: Dietrich Boschung, Karl-Joachim Hölkeskamp, Claudia Sode (Hg.), Raum und Performanz. Rituale in Residenzen von der Antike bis 1815, Stuttgart 2015, S. 99–126, jeweils mit weiteren Nachweisen. Vgl. außerdem Wolfgang Blösel, Die memoria der gentes als Rückgrat der kollektiven Erinnerung im republikanischen Rom, in: Ulrich Eigler, Ulrich Gotter, Nino Luraghi, Uwe Walter (Hg.), Formen römischer Geschichtsschreibung von den Anfängen bis Livius. Gattungen – Autoren – Kontexte, Darmstadt 2003, S. 54–72; Uwe Walter, Memoria und res publica. Zur Geschichtskultur im republikanischen Rom, Frankfurt 2004, S. 84–130.

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Zunächst widmen wir uns einer Beschreibung dieser Syntax und des eigentümlichen Vokabulars dieses dezidiert öffentlich zelebrierten Rituals. Sie stammt von Poly­bios, der aus der Perspektive eines Griechen als Beobachter von außen auf dieses Ritual schaut, aber gleichzeitig als intimer Kenner der römischen Verhältnisse, diese kulturspezifische Besonderheit, ihre symbolischen Funktionen und Botschaften zu deuten weiß: Wenn ein angesehener Mann stirbt, wird er bei der Bestattungsfeier auf das Forum zur Rednertribüne getragen, meistens weithin sichtbar in aufrechter Stellung, seltener liegend. Während nun ringsum das ganze Volk steht, steigt entweder, wenn ein Sohn im passenden Alter vorhanden[…]ist, dieser, oder ein anderer Verwandter aus derselben Familie auf die Tribüne und hält eine Rede über die Vorzüge des Verstorbenen und die Taten, die er in seinem Leben vollbracht hat. Das hat zur Folge, daß sich die Menge an jene Ereignisse erinnert und sie gleichsam vor Augen gestellt bekommt – nicht nur diejenigen, die selbst an diesen Taten beteiligt waren, sondern auch alle anderen. D ­ a­raus entsteht ein solches Mitgefühl, daß der Verlust nicht nur eine Sache der trauernden Angehörigen zu sein, sondern das ganze Volk zu betreffen scheint. Dann bestatten sie ihn und verrichten die traditionellen Riten. Darauf stellen sie das Bildnis des Verstorbenen im vornehmsten Raum des Hauses auf, und zwar in einem tempelartigen Holzschrein. Das Bildnis ist eine Maske, die besonders naturgetreu sowohl Form wie Farbe des Gesichts wiedergibt. Diesen Bildschrein öffnen sie an öffentlichen Feiertagen und schmücken die Masken ehrerbietig. Jedesmal, wenn ein angesehenes Mitglied stirbt, führen sie die Masken im Trauerzug mit, indem sie diese Personen anlegen, die dem Verstorbenen an Größe und in ihrem Äußeren am meisten gleichen. Diese tragen auch eine entsprechende Kleidung – wenn der Verstorbene Consul oder Praetor war, tragen sie eine Toga mit Purpursaum, wenn er Censor war, eine solche ganz aus Purpurstoff, und wenn er einen Triumph gefeiert […] hatte, eine golddurchwirkte. Sie selbst fahren auf Wagen – Rutenbündel, Beile und sonstige Insignien des Amtes werden ihnen vorangetragen, je nach der Würde des Ranges, den jeder in seinem Leben im Staat innegehabt hatte. Wenn sie dann bei den rostra angekommen sind, setzen sie sich der Reihe nach auf Amtsstühle. Wenn der Sprecher seine Rede über den gerade Verstorbenen beendet hat, spricht er von den übrigen Toten, die (also deren Masken) anwesend sind, indem er mit dem Ältesten beginnt und nennt ihre Vorzüge und Taten. Auf diese Weise wird die Erinnerung an tüchtige Männer immer wieder erneuert, und der Ruf derjenigen, die eine große Tat vollbracht haben, wird unsterblich. Zugleich aber wird der Name derer, die dem Vaterland gute Dienste geleistet haben, dem Volk bekannt und den Nachfahren weitergegeben.3 3 Polybios, Historien 6,53,1–54,2, Übersetzung nach Wilhelm Kierdorf, Laudatio funebris. In-



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Bei diesem genau geregelten, aus den gleichen typischen Elementen bestehenden und nach einer immer gleichen Choreographie ablaufenden Ritual ging es nicht in erster Linie um das letzte Geleit für den Verstorbenen selbst. Vielmehr standen seine Aufnahme und Einordnung in die Reihe seiner Ahnen im Mittelpunkt: Vor allem zu diesem Zweck waren die Vorfahren des Verstorbenen bei diesem Umzug symbolisch präsent. Das heißt auch, dass der gerade Verstorbene beim nächsten Begräbnis eines ranghohen Familienmitglieds dann bereits an der ihm gebührenden Position am Ende der Reihe der älteren Vorfahren – also unmittelbar vor dem dann aktuell Verstorbenen – symbolisch repräsentiert werden konnte. Die Präsenz der Ahnen in der Prozession wurde durch ihre wächsernen Porträtmasken der Vorfahren (imagines maiorum) sichtbar gemacht – wiederum im doppelten Sinne des Begriffs: visuell und metaphorisch. Diese imagines waren keine Totenmasken im herkömmlichen Sinne, sondern sollten im Gegenteil die Physiognomie des dargestellten Ahns zu Lebzeiten naturgetreu wiedergeben, und zwar möglichst genau und realistisch. Nicht zufällig wird gerade dieser Realismus von Polybios auffällig betont. Polybios ist ein ernst zu nehmender Zeuge. Dieser Grieche hatte ja lange genug in Rom gelebt und als väterlicher Freund und Mentor des Scipio Aemilianus Africanus minor Zugang zu den höchsten Kreisen gehabt. Sicherlich war er auch in den Stadtresidenzen anderer großer Familien zu Gast gewesen und hatte dort die Maskenschränke in den Atrien gesehen. Und er wird mehr als einmal auch Augenzeuge der Paraden der imagines dieser Familien geworden sein – das hat sich in seiner ebenso lebhaften wie genauen Beschreibung einer idealtypischen pompa funebris und der dabei vorgeführten Ahnenbilder niedergeschlagen. Wenn Polybios dabei die individuellen Züge der möglichst realistischen imagines hervorhebt, lassen sich daran weitere Überlegungen anschließen, die eine genauere Vorstellung des möglichen Aussehens dieser Masken vermitteln. Die Entstehung dieser Sitte war nämlich mit der Entwicklung eines weiteren kulturspezifischen Mediums eng verzahnt – dem Porträt. Die Porträtkunst der Republik hatte nichts mit der idealisierenden Darstellungskunst des klassischen Griechenland zu tun – im Gegenteil: Die römischen Porträts zeichneten sich durch einen gewissermaßen gesteigerten Realismus der Darstellung individueller Gesichtszüge, plastischer Details und physiognomischer Besonderheiten aus, der als ›Verismus‹ bezeichnet wird. Dazu zählen zuallererst die spezifischen Merkmale eines vorgerückten Alters: Falten auf der Stirn und über der Nasenwurzel, Krähenfüße an den Augen, schwere Lider, eingefallene Wangen und Lippen. Dabei geht es eben nicht etwa um eine schonungslose, womöglich gar karikierende Darstellung des körperlichen Verfalls – eher terpretationen und Untersuchungen zur Entwicklung der römischen Leichenrede, Meisenheim 1980, S. 1f.

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Abb. 1: Porträt eines unbekannten alten Mannes (»Veccio da Otricoli«), Marmor, erste Hälfte 1. Jahrhundert v. Chr. (Eric Vandeville / akg-images)

im Gegenteil: Sie diente einer betonten »Wertschätzung des Alters«. Die genannten Merkmale charakterisieren den Dargestellten unmissverständlich und konkret als Persönlichkeit, die sich im lebenslangen Dienst für die res publica und in der aufopfernden Hingabe an Pflichten verausgabt hat. Damit wird zugleich zeichenhaft die repräsentierte würdevolle Haltung (gravitas) und das entsprechende Auftreten in der Öffentlichkeit begründet, die dem durch Leistung und Laufbahn, Erfolg und Erfahrung erreichten Rang und Status (dignitas) angemessen zu sein haben. Darüber hinaus sollen damit Ernst, Gradlinigkeit, Standfestigkeit und strenge Prinzipientreue (constantia, fortitudo und severitas) im Wortsinne zum ›Ausdruck‹ kommen. Diese Merkmale evozieren das Alter als »Gipfel« und Krönung – das Erreichen der Spitze der streng geregelten Karriereleiter, des cursus honorum von der Quaestur bis zum Consulat, dem maximus honos. Lebensleistung und Erfahrung begründen den Anspruch auf Respekt und Reverenz, auf Gehör in den Angelegenheiten der res publica und verleihen den höchsten Grad an auctoritas. Dahinter steht die nie hinterfragte Vorstellung, dass dieses hierarchische Prinzip ein wichtiges Erbe der Vorfahren (maio­ res) ist, das zu bewahren und immer wieder durch Leistung in Politik und Krieg zu erneuern jeder Generation aufgegeben ist. Das spezifische Merkmal des veristischen Porträts besteht nun in einer (nur scheinbar paradoxen) Kombination der sich in diesen Vorstellungen manifestieren­



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den »ideologischen Homogenität« der politischen Klasse und ihrer K ­ ollektivmoral einerseits mit einem erstaunlich breiten »Spektrum unterschiedlicher und kon­trast­ reicher Möglichkeiten«, die auf »der physiognomischen Ebene« eine »individuelle Unverwechselbarkeit« und »Erkennbarkeit« der dargestellten Person herstellen sollen, andererseits.4 Diese Kombination spiegelt die Komplementarität des kollektiven Konsenses der politischen Klasse über Werte und Verhaltensnormen, Selbstverständnis und auch die Formen und Medien der Selbstdarstellung einerseits und der permanenten Konkurrenz der individuellen Angehörigen dieser Klasse um jene honores andererseits, die Zugehörigkeit, Status und Rang erst begründen. Ja, diese allgegenwärtige Agonalität war ja selbst ein integraler Kernbestandteil des tief eingerasteten Konsenses, der wiederum gerade durch die Medien des self-fashioning – darunter nicht zuletzt die aufwendigen civic rituals aller Art – ebenso permanent gepflegt wurde. In der Konkurrenz um die honores – der Begriff ›Wahlkampf‹ erscheint da eigentlich unangemessen – ging es eben nicht um sachliche Inhalte, Positionen oder gar Programme, sondern ausschließlich um Personen und ihr jeweiliges persönliches Profil. Dieses Profil – der lateinische Begriff der existimatio, der zugleich ›Ruf‹, ›Reputation‹ und (angesehener, bekannter) ›Name‹ bezeichnet – bildete sich aus einem komplexen Konglomerat von Faktoren, die von Fall zu Fall und von Individuum zu Individuum jeweils unterschiedlich zusammengesetzt und gewichtet sein konnten: erstens der Glanz des Namens – sei es derjenige einer großen Familie und/oder der selbst erworbene ›Name‹ des Aufsteigers, also des homo novus; zweitens die (möglichst frische und aktuelle) Erinnerung an Leistungen für die res publica in Krieg und Politik  – seien es wiederum diejenigen der Vorfahren und/oder die selbst erbrachten des Kandidaten; drittens das persönliche Auftreten in der Öffentlichkeit, in dem sich Würde und Distanz, Leutseligkeit und Jovialität die Waage halten sollten. Vor allem kam es darauf an, dass der eigene Anspruch, die bereits erwähnten persönlichen Eigenschaften und Qualitäten (virtutes) in möglichst hohem Maße zu besitzen und selbst bewiesen zu haben, allgemein anerkannt wurde. Wenn aber in der Konkurrenz um die honores, Reputation und Rang nur das jeweilige persönliche Profil der Kandidaten zählte, wenn sie dementsprechend ausschließlich als Individuen auftraten und wahrgenommen wurden, dann musste es notwendig besonders auf ihre Erkennbarkeit und Identifizierbarkeit ankommen  – denn nur dadurch konnte jene Vergleichbarkeit hergestellt werden, die wiederum 4 Siehe dazu und zum Folgenden Luca Giuliani, Bildnis und Botschaft. Hermeneutische Untersuchungen zur Bildniskunst der römischen Republik, Frankfurt 1986, S. 190–199, 239–245, dort auch die Zitate; Jan B. Meister, Der Körper des Princeps. Zur Problematik eines monarchischen Körpers ohne Monarchie (= Historia-Einzelschriften, Bd. 223), Stuttgart 2012, S. 27–37; Gilles Sauron, Römische Kunst von der mittleren Republik bis Augustus, Darmstadt 2013, S. 132–138.

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die strukturelle und pragmatische Voraussetzung der Abwägung des relativen Wertes der einzelnen Kandidaten und der Auswahl der erfolgreichen Bewerber als Entscheidung der Konkurrenz war. Konkret verlangte das permanente Aktivität, Anstrengung und Aufmerksamkeit: Da der einzelne Senator – ob ehrgeiziger Abkömmling einer etablierten Familie oder homo novus – eigentlich immer irgendwie Kandidat und Konkurrent war und das sogar als arrivierter Ex-Consul blieb, musste er sein Bild im Sinne des modernen Begriffs ›Image‹ pflegen; und zwar zu jeder Zeit, vom Morgenempfang – der salutatio in seiner Residenz – bis zum Gastmahl am Abend; an jedem Ort, im Atrium seines Hauses, auf den Straßen und dem Forum, vor Gericht und im Senatsgebäude; bei jedem öffentlichen Auftritt, bei Festen, Opfern und Prozessionen; und in jeder Rolle, ob als Magistrat, Redner und Anwalt, Patron und Priester – und selbst noch durch seine imago als Ahnherr späterer Kandidaten und Konkurrenten um die honores. Die dadurch permanent produzierte, zur unmittelbaren Erkennbarkeit gewissermaßen gesteigerte Sichtbarkeit war also ein Zwang, der jedem Akteur in dieser hochgradig kompetitiven politischen Kultur der Republik als Stadtstaat auferlegt war: Das bedeutet, dass alle Verfahren und Formen des öffentlichen Auftritts auf die Räume der Stadt konzentriert waren, es war eine Kultur der persönlichen Präsenz, des unmittelbaren Handelns und der Kommunikation unter Anwesenden.5 Damit wird der besondere kulturspezifische Status des erkenn- und identifizierba­ ren Bildes erst verständlich – eben nicht nur im übertragenen, metaphorischen Sinne des Begriffs Image, sondern auch in der konkreten sinnlichen Bedeutung des Begriffs: Vor diesem Hintergrund können die veristischen Porträts und vor allem die Ahnenbilder der imagines als mediale Kristallisations- oder Schnittpunkte des gesamten Spektrums der konkreten Praktiken des self-fashioning der politisch-sozialen Elite gelesen werden, auf die ich jetzt zurückkommen möchte. Die imagines aus Wachs wurden einzeln in kleinen Holzschränken aufbewahrt – und zwar an den Wänden des Atriums, jenes repräsentativen, der Öffentlichkeit zugänglichen Teils einer aristokratischen Residenz, der sich jedem Besucher unmittelbar nach dem Eingangsbereich darbot, etwa bei der erwähnten morgendlichen sa­ lutatio. Dieser großzügig ausgelegte Raum gewann durch die Ausstattung mit Säulen 5 Vgl. dazu generell Karl-Joachim Hölkeskamp, Politische Kultur – Karriere eines Konzepts. Ansätze und Anwendungen am Beispiel der Republik bzw. Konsens und Konkurrenz. Die politische Kultur der Republik in neuer Sicht, in: ders. (Hg.), Libera res publica (wie Anm. 1), S. 73–105 bzw. 123–161 (zuerst in: Matthias Haake, Ann-Cathrin Harders (Hg.), Politische Kultur und soziale Struktur der römischen Republik, Stuttgart 2017, S. 457–495, Ders., Konsens und Konkurrenz. Die politische Kultur der römischen Republik in neuer Sicht, in: Klio 88/2 [2006] S. 360–396), im Anschluss an Tonio Hölscher und Rudolf Schlögl (siehe die detaillierten Nachweise ihrer Arbeiten bei Hölkeskamp, Reconstructing the Roman Republic [wie Anm. 1], S. 71f.).



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geradezu »den Charakter eines häuslichen Forums«.6 Allerdings blieben die Türen der Schränke verschlossen und die Masken fast immer unsichtbar  – jedenfalls an normalen Tagen. Nur bei bestimmten Gelegenheiten wurden die Schränke feierlich geöffnet, so dass auch die Masken selbst sichtbar wurden: an öffentlichen Festtagen und zu besonderen familiären Anlässen. Dann wurden die imagines sogar eigens geschmückt – zu diesen Gelegenheiten zählte bezeichnenderweise etwa die Wahl des aktuellen Hausherrn zum maximus honos des Consulats. Dann wurden sie, so wollte es die Tradition, von dem gerade Gewählten eigenhändig mit Lorbeer bekränzt. Diese an sich ›private‹ Zeremonie – wenn dieser Begriff überhaupt angemessen ist – kann verschieden gelesen werden: als Akt einer erneuernden und auffrischenden Erinnerung an das über Generationen bereits akkumulierte symbolische Kapital, aber auch als eine gewissermaßen vorweggenommene Erweiterung durch die hier zelebrierte Ankündigung, dass der Hausherr als würdiger Nachkomme seiner Ahnen dereinst selbst mit einer imago in ihre Reihe eintreten und seinen unverlierbaren festen Platz in der politischen Genealogie der Familie einnehmen würde. Doch nicht nur die schiere Anzahl solcher Schränke in den Atrien der Stadtresidenzen alter Familien sorgte selbst im Alltag für eine ehrfurchtgebietende Aura – die Ahnen waren auch je für sich immer präsent: An jedem Schrank war nämlich ein kurzer Text angebracht, der immer sichtbar blieb und die normalerweise verborgene jeweilige imago ›lesbar‹ machte. Inhaltlich entsprachen diese Texte jenen knappen, formelhaften Inschriften auf den Sockeln der zahllosen Ehrenstatuen und Weihgaben aller Art im öffentlichen Raum in Rom selbst wie in vielen Städten Italiens und der Provinzen, die zunächst einfach der Identifizierung der dargestellten Person dienten; denn eine stehende Figur in stereotyper Haltung, in der Toga oder auch als Reiterstandbild, ist ja an sich ebenso »wortlos, schriftwortlos«, also unspezifisch wie ein Wachsbild, selbst wenn es (scheinbar) noch so realistisch ist.7 Generell kannte man diese Texte als tituli und sie vermittelten auch die gleichen Informationen, so dass der Betrachter die jeweils dargestellte Persönlichkeit sofort eindeutig identifizieren und auch gleich ihren Rang, 6 Plinius, Naturgeschichte 35,6; Valerius Maximus, Denkwürdige Taten und Worte 5,8,3; Cicero, Rede für Murena 88. Siehe dazu Flower, Aristocratic Masks (wie Anm. 2), S. 185–222, und Henner von Hesberg, Die Häuser der Senatoren in Rom. gesellschaftliche und politische Funktion, in: Werner Eck, Matthäus Heil (Hg.), Senatores populi Romani. Realität und mediale Präsentation einer Führungsschicht (= HABES – Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien, Bd. 40), Stuttgart 2005, S. 19–52, hier S. 38–41, Zitat 39. 7 Siehe dazu Markus Sehlmeyer, Stadtrömische Ehrenstatuen der republikanischen Zeit (= Historia Einzelschriften, Bd. 130), Stuttgart 1999; Peter Witzmann, Kommunikative Leistungen von Weih-, Ehren- und Grabinschriften: Wertbegriffe und Wertvorstellungen in Inschriften vorsullanischer Zeit, in: Maximilian Braun, Andreas Haltenhoff, Fritz-Heiner Mutschler (Hg.), Moribus antiquis res stat Romana. Römische Werte und römische Literatur im 3. und 2. Jh. v. Chr. (= Beiträge zur Altertumskunde, Bd. 134), Leipzig 2000, S. 55–86, Zitat: S. 61.

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gegebenenfalls den Anlass der Ehrung und damit ihre individuellen Verdienste genau einschätzen konnte. Daher waren diese tituli auch formal standardisiert und geradezu auf Vergleichen und Vergleichbarkeit ausgelegt – sie enthielten mindestens die Angaben zu den prestigereichsten Ämtern und Ehren, die bezeichnenderweise beide honores hießen: Consulate, die Censur, das Augurat und natürlich etwa auch ein Triumph. Zumeist dürften diese Inschriften allerdings etwas ausführlicher ausgefallen sein – etwa wie diejenigen auf den Sarkophagen einiger anderer Cornelii Scipiones, die in der bekannten Grabanlage der Familie an der Porta Capena standen:8 Auch in diesen ›Elogien‹ ist immer der volle Name – Vorname (praenomen), Name (nomen gentilis) und Zuname (cognomen)  – genannt, und zwar wiederum regelmäßig (in standardisierten Abkürzungen) mit dem Namen des Vaters und manchmal des Großvaters, was über die Bezeugung der familialen Kontinuität hinaus auch schon ein erster Hinweis auf die Abstammung von einem früheren Träger von Amt, Ehre und imago sein kann. Außerdem ist in den Texten dieser Gattung regelmäßig eine wiederum standardisierte Aufzählung der erreichten Ämter enthalten  – dazu gehören zuvörderst die curulischen Magistraturen Consulat, Aedilität, gegebenenfalls die Praetur und die besonders prestigereiche Censur, aber auch weniger bedeutende Ämter wie die Quaestur und das Militärtribunat werden gelegentlich ebenso genannt wie die Zugehörigkeit zu Richter- und Priesterkollegien; hinzu kommen knappe, zumeist weder vollständige noch genauer bezeichnete Hinweise auf Feldzüge, Eroberungen und Weihungen von Tempeln, die aus eingebrachten Beutemitteln finanziert waren.9 Allerdings wurde mit der Konzentration der Ahnenbilder mit ihren Schränken und tituli im Atrium eine Dimension der gepflegten Erinnerung konstituiert, die hier und nur hier zu verorten war – eine Dimension, die weder durch Statuen, Weihungen oder andere Monumente, die eventuell von prominenten Vorfahren des Hausherrn hier oder da in den öffentlichen Räumen der Stadt errichtet worden waren, noch durch Grabinschriften vermittelt werden konnte. Die tituli wurden nämlich durch Linien verbunden und miteinander vernetzt, so dass sie einen auf die Wand des Atriums gemalten Stammbaum bildeten: Diese stemmata visualisierten also die Tradition der Familie und die Kontinuität ihres Dienstes für die res publica. Zugleich wurde damit die konzentrierte Akkumulation 8 Filippo Coaelli, Il sepolcro degli Scipioni, in: Dialoghi di Archeologia 6 (1972), S. 36–106 (= ders., Revixit Ars. Arte e ideologia a Roma. Dai modelli ellenistici alla tradizione repubblicana, Rom 1996, S. 179–238); Flower, Ancestor Masks (wie Anm. 2), S. 160–166; Henri Etcheto, Les Scipions. Famille et pouvoir à Rome à l’époque républicaine, Bordeaux 2012, S. 209–225, jeweils mit weiteren Nachweisen. 9 Scipionen-Elogien: Peter Kruschwitz, Carmina Saturnia Epigraphica. Einleitung, Text und Kommentar zu den saturnischen Versinschriften (= Hermes Einzelschriften 84), Stuttgart 2002, Nr. 2–5; vgl. Flower, Ancestor Masks (wie Anm.  2), S.  166–184; Etcheto, Les Scipions (wie Anm.  8), S. 225–259, mit weiteren Nachweisen.



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der individuellen Ämter und Ehrungen aller Mitglieder der Familie als wertvolles symbolisches Kapital und in der Gegenwart zu investierendes soziales Kapital dokumentiert.10 Daran zeigt sich das entscheidende kulturspezifische Merkmal dieser Erinnerungspraktiken: Hier handelte es sich gerade nicht um einen konventionellen Stammbaum der Familie – darin kamen keineswegs alle ›natürlichen‹, also biologischen Ahnen des Hausherrn vor. Diejenigen verstorbenen Mitglieder der Familie, die (aus welchen Gründen auch immer) in der Rangkonkurrenz um die honores keine Rolle gespielt hatten, hatten im Atrium, der Ruhmeshalle der erfolgreichen Mehrer des symbolischen Kapitals der Familie, eben nichts zu suchen – hier blieben diejenigen Ahnen geradezu unter sich, die mit dem Erreichen eines hohen Amtes das ›Recht‹ auf eine eigene imago und damit zugleich auf die Einordnung in die öffentliche Genealogie ihrer gens erworben hatten. Gerade der homo novus Cicero, der selbst nicht über ima­ gines illustrer Vorfahren verfügte, war sich des symbolischen Wertes dieses »Rechtes« besonders bewusst: Zum »höchsten Rang in der Bürgerschaft«, nämlich dem Consulat, gehören nicht nur die Inhalte wie Heereskommanden, Provinzen und die Symbole der Macht, die den Inhaber des Amtes umgeben, nämlich der curulische Amtsstuhl und natürlich die Rutenbündel, sondern auch »das Porträt, das man der Nachwelt als Erinnerung« hinterlassen darf  – so wie er selbst, der als Sohn eines amtlosen Mannes aus dem provinziellen Landstädtchen Arpinum zum höchsten Amt gelangt war, damit eine consularische Familie begründet hatte und seinem eigenen Sohn den entsprechenden hohen Rang vererben konnte.11 Die typischen Tiraden der homines novi generell und der metaphorische Gebrauch des Begriffs imago im Besonderen enthüllen nicht nur, wie sehr sie von der kulturspe­ zifischen Variante eines horror vacui, der unübersehbaren gähnenden Leere an den Wänden der Atrien ihrer Häuser besessen waren  – mutatis mutandis lassen sie eben auch erkennen, wie wertvoll eine möglichst lange Reihe von hochrangigen Ahnen, ihre dauernde Präsenz und regelmäßige Sichtbarwerdung in Gestalt der imagines war. Mit anderen Worten, die imagines spielten nicht nur eine zentrale Rolle bei der zeremoniellen Darstellung des symbolischen Kapitals einer aristokratischen Familie, sondern auch bei der rituellen Herstellung ihres politischen und sozialen Ranges respektive bei dessen permanenter Aushandlung in der Konkurrenz mit ihren Peers.12 Im vollen Sinne 10 Vgl. dazu Maurizio Bettini, Familie und Verwandtschaft im antiken Rom (= Historische Studien, Bd. 8), Frankfurt 1986, S. 137–152. 11 Cicero, Rede für C. Rabirius Postumus 16 (Übersetzung nach M. Fuhrmann); vgl. die zweite Rede gegen C. Verres 5,36; Rede für Cn. Plancius 59. 12 Siehe dazu grundlegend Barbara Stollberg-Rilinger, Einleitung, in: dies. (Hg.), Vormoderne politische Verfahren, Berlin 2001, S.  9–24, hier S.  12f.; dies., Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31/4 (2004), S. 489–527, hier S. 498 und passim.

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des Begriffs re-präsentieren nämlich die imagines jene maiores, deren ›Empfehlung‹, also commendatio maiorum, einen in der Regel kaum einholbaren Vorsprung in der Konkurrenz um die honores verschaffte, denn der »Richter«, der diese höchsten Prämien vergab, das Wahlvolk, so Cicero, huldigte der fama der großen Namen und weide sich staunend »an tituli und imagines«13 – das wussten die homines novi nur zu gut. Das Privileg, bei jeder Gelegenheit auf eine Reihe illustrer Ahnen verweisen und auf ihre commendatio zählen zu können, hatte allerdings noch eine andere Seite. Denn nicht nur die neidischen homines novi forderten mit gleicher Regelmäßigkeit von den etablierten Aristokraten ein, sich an ihren Vorfahren, deren virtus und Leistungen messen zu lassen. Es waren die imagines selbst, ihre ständige Präsenz im Atrium und die dadurch beständig wachgehaltene Erinnerung an die Tradition der Familie, die einen dauernden mahnenden Druck auf die lebenden, durch die repräsentierten Ahnen gewissermaßen nobilitierten Nachfahren ausübten – Egon Flaig hat das auf eine treffende Formel gebracht: »Ob man imagines besaß oder nicht, man litt unter ihnen.«14 Die Ahnen und ihre Bilder generierten gewissermaßen die unentrinnbare Pflicht, sie nicht nur zu imitieren und ihrer virtus nachzueifern, sondern geradezu auch mit ihnen zu konkurrieren, durch eigene mühevolle Anstrengung erreichte Leistungen und Erfolge in Politik und Krieg und dadurch selbst errungene honores, Status und Rang. Wer sich dieser Pflicht auch nur scheinbar entzog, setzte sich dem Vorwurf der Trägheit aus. Angesichts des Fehlens alternativer Optionen oder gar alternativer, gesellschaftlich als legitim anerkannter Lebensentwürfe, aber auch angesichts fehlender Chancen zur Kompensation einer nicht adäquaten performance als nobilis konnten die imagines also sogar zu einer erheblichen Bürde oder auch, im Wortsinne, zu einer drückenden ›Erb-Last‹ werden. Die gar nicht so feinen Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedern einer Familie und das größere oder eben geringere Gewicht der Einlagen, die sie in das symbolische Kapital der Familie eingebracht hatten, waren nicht nur durch die ima­ gines und ihre tituli ein für alle Mal festgeschrieben, sondern wurden auch noch zu bestimmten Anlässen besonders deutlich sichtbar. Bei der wichtigsten Gelegenheit bewegten sich die Masken sogar aus dem Haus und erschienen in jenem öffentlichen Raum, in dem die dargestellten Ahnen einst erfolgreich agiert hatten – eben bei der pompa funebris. Die Prozession begann bezeichnenderweise im Atrium des Hauses des Verstorbenen – mithin an jenem Ort, an dem die imagines ihren regulären Platz hatten und an dem das akkumulierte symbolische Kapital der Familie gepflegt und den Besuchern des Hauses demonstrativ zur Schau gestellt wurde: seien es die ehr13 Horaz, Satiren 1,6,15–17; vgl. Cicero, Rede für P. Sestius 21; Rede für Cn. Plancius 67; Zweite Rede über das Siedlergesetz 100. 14 Flaig, Ritualisierte Politik (wie Anm. 2) S. 61.



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fürchtig staunenden Anhänger der Familie oder auch die potentiellen Konkurrenten aus der eigenen Peergroup. Und genau darum ging es auch bei diesem Ritual. Bei dieser Gelegenheit wurden die imagines ja von Personen (wahrscheinlich Schauspielern) getragen, die den betreffenden Vorfahren und die ihm verdankte Einlage in das symbolische Kapital der Familie eindeutig und unmittelbar erkennbar repräsentierten: Sie trugen nämlich die purpurgesäumte Toga eines Praetors oder Consuls oder auch die goldbestickte Purpurtracht des Triumphators. Sie wurden von einer entsprechenden Zahl von Amtsdienern, den Lictoren, in schwarzer Trauerkleidung begleitet, je nachdem, welchen Rang und welche honores der repräsentierte Ahn erreicht hatte – Consuln hatten 12 Lictoren, Praetoren 6 und ein Dictator sogar 24. Im Unterschied zur kleinen pompa (wie man alle zeremoniellen öffentlichen Auftritte des lebenden, aktiven Magistrats nennen könnte) wurden bei der pompa funebris die fasces als Zeichen der Trauer umgekehrt, also zu Boden zeigend getragen. Die Prozession wurde von einem »Ordner«, der die Choreographie leitete, und seinen Helfern in schwarzer Trauerkleidung angeführt. Die nächste Gruppe bestand aus Musikern, die Trompeten, Flöten und Hörner spielten. Danach kamen die Klage­ frauen, die die traditionellen Klagelieder sangen. Dann begann die Parade der Vorfahren  – an ihrer Spitze ging eine Personifikation des ältesten Ahns, also des Vorfahren, der im Wortsinne Rang und Namen in die Familie eingebracht und damit den Grundstock ihres symbolischen Kapitals gelegt hatte. Ihm folgten die übrigen Ahnen, und zwar in streng chronologischer Reihenfolge. Diese Parade bildete allerdings keine gleichförmig-lineare Kontinuität ab – im Gegenteil: Denn es waren wiederum nur die erfolgreichen Ahnen mit dem ›Recht‹ auf eine imago, die ihren festen Platz in der Reihe hatten. Durch diese Taxonomie wurde also nur ein politischer Stammbaum und durch ihn die gesamte Tradition der Familie zur Darstellung gebracht – und zwar auf zweifache Weise: Einerseits wurde das akkumulierte symbolische Kapital durch ihre Aufstellung im Raum gewissermaßen als verdichtete Gesamtheit sichtbar. Andererseits wurde dadurch auch eine zeitliche Tiefe, mithin die Verwurzelung der familialen Tradition in der glorreichen Gesamtgeschichte des gesamten populus Romanus, seiner res publica und seines Imperiums zur Darstellung gebracht – und das wurde durch die Prozession mit dem ältesten Ahn an der Spitze zugleich gewissermaßen performativ konkretisiert. Im lebensweltlichen Erfahrungsund Bewusstseinshorizont einer Kultur des Sehens und Gesehenwerdens, der physischen Präsenz und der Unmittelbarkeit des Handelns dürfte diese Kombination eine potenzierte suggestive Wirkung gehabt haben, welche die schiere Überzeugungskraft der vermittelten Botschaften und ihrer Vernetzung immens gesteigert haben muss. Diese Taxonomie der pompa funebris hatte eine Konsequenz, die viele prominente Familien billigend in Kauf genommen haben dürften: Da ja nur Ahnen curulischen

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Ranges überhaupt präsent waren, mussten die zum Teil erheblichen Lücken – oder genauer: die mehr oder weniger langen Phasen relativer Erfolglosigkeit, aus welchen Gründen auch immer – dabei unsichtbar bleiben. Angesichts der prinzipiellen Offenheit der Nobilität und der Fixierung der gesamten politischen Klasse auf den cursus honorum einerseits und angesichts eines sich zur Spitze des cursus stark verengenden Stellenkegels und der begrenzten Zahl der Ämter mit Kommandogewalt, die allein für die Prominenz einer Familie wirklich zählten, andererseits war ja ein gewisses Auf und Ab im relativen Rang einer Familie eher die Regel als die Ausnahme. Tatsächlich gelang es nur wenigen Familien, kontinuierlich über drei Generationen oder gar länger in den Consullisten und damit im inneren Zirkel der Nobilität präsent zu bleiben. Vor diesem Hintergrund wird die erwähnte eigentümliche Taxonomie der Parade der Ahnen in der pompa funebris erst verständlich: Die Brüche und Lücken in den kollektiven curulischen Karrieren der Familien sollten nicht sichtbar werden  – und das war eigentlich auch nicht nötig, weil es ja zuvörderst auf die eindringliche visuelle und performative Präsentation der Quantität und Qualität des akkumulierten symbolischen Kapitals als Gesamtheit ankam. Allerdings ließ sich so gerade nicht verhindern, dass die enormen Unterschiede des Umfangs und des relativen Wertes des jeweiligen symbolischen Kapitals der einzelnen Familien überdeutlich sichtbar wurden – und das machte die gar nicht so selten stattfindenden pompae funebres zu einem Medium des Vergleichens der jeweils präsentierten Kapitalien der Familien und damit des öffentlichen Aushandelns des aktuellen relativen Ranges und Vorranges und damit zugleich zu einem Schauplatz der allgegenwärtigen Konkurrenz innerhalb des Senatsadels. Erst nach der Parade der Ahnen kam die Gruppe ihres gerade verstorbenen Abkömmlings, der auf einer gelegentlich mit prächtigen, goldverbrämten Purpurdecken ausgestatteten Bahre mit Elfenbeinfüßen getragen wurde  – natürlich war auch der Tote in der Tracht des höchsten zu Lebzeiten erreichten Amtes gekleidet, und wenn er einen Triumph gefeiert hatte, trug er den besonders auffallenden goldbestickten Purpurornat. Außerdem wurden ihm – in unmissverständlicher Anspielung auf die andere, frühere pompa triumphalis – Beutestücke, sonstige Siegeszeichen und tituli mit den Namen eroberter Städte und Gebiete vorangetragen: eine Auswahl ebenjener spolia, die das Haus eines Triumphators schmückten. Dann kamen die Lictoren in Trauerkleidung, wiederum in der genauen Zahl, die dem gradus dignitatis des Verstor­benen entsprach. Darauf folgte die Bahre mit dem Verstorbenen selbst. Dahinter schritten die lebenden Verwandten – die Männer in dunkler Trauerkleidung, mit der Toga über den Kopf gezogen und bezeichnenderweise ohne die Abzeichen ihres Standes als Ritter, Senatoren oder auch aktive Magistrate, die Frauen dagegen mit unbedecktem Kopf und gelösten, nicht frisierten Haaren. Der Zug führte vom Haus des Verstorbenen nicht etwa geradewegs zur Begräbnisstätte der Familie außerhalb der Stadt, sondern zunächst zu einem der politisch-re-



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ligiösen Zentren Roms und des Reiches, dem Forum Romanum – genauer: zu den rostra, der Rednertribüne zwischen Forum und Comitium. Wie andere Prozessionen bewegte sich auch diese pompa also mitten durch die politisch-sakrale und memoriale Landschaft – und berührte dabei womöglich Orte oder Denkmäler, die auf den Verstorbenen selbst, seine Leistungen und Erfolge oder das symbolische Kapital seiner Familie verwiesen. Die meisten Familien  – und erst recht die homines novi  – hatten allerdings ganz andere Probleme: Sie hatten schlicht weniger zu bieten als die altadeligen Claudii, die Fabii, die Cornelii Scipiones oder auch die spätrepublikanische ›Dynastie‹ der nur formal plebeischen Caecilii Metelli – und das musste gerade bei den Paraden der imago-­ fähigen Ahnen geradezu gnadenlos auffallen. Da aber die Consular- und Triumphalfas­ ten vor allem der Frühzeit in der mittleren und späten Republik im konkreten wie metaphorischen Sinne des Ausdrucks noch nicht in Stein gemeißelt waren, bediente man sich einer naheliegenden und offenbar verbreiteten Art des corriger la fortune, um das eigene dürftige symbolische Kapital aufzustocken: Wiederum war es Cicero, der wortreich die »Verfälschung unserer Geschichte« beklagte – durch »falsche Triumphe«, »zu viele Consulate« und »falsche Stammbäume«, durch die gewisse Leute von niederer Herkunft sich gleichnamige altadelige Vorfahren zugelegt hätten. Später wurde beklagt, dass Familien »den Ruhm von Taten und honores durch täuschende Lügen« für sich beanspruchten  – die konkreten Medien, durch die diese »Verwirrung« wesentlich verursacht worden sei, seien einerseits »falsche tituli der imagines« und andererseits die »Lobreden auf die Verstorbenen«. Gerade diese Reden, so wiederum Cicero, seien von den Familien der Verstorbenen bewahrt worden, »sozusagen als ornamenta und monumenta«, um »anläßlich des Todes eines weiteren Mitgliedes der gleichen Familie« erneut gebraucht zu werden, um »an die ruhmvollen Taten des Hauses zu erinnern« und natürlich um dessen »nobilitas zu verherrlichen«.15 Um die gesamte, mehr oder eben weniger authentische Familiengeschichte ging es dann nämlich bei dem eigentlichen Höhepunkt des Rituals, das bezeichnenderweise auf der Rednertribüne am Comitium stattfand, also im Zentrum des gesamten politischen Lebens: die laudatio funebris, die feierliche Lobrede, die zumeist von einem Sohn des Verstorbenen von der Rednertribüne auf dem Forum gehalten wurde – wie diejenige, die Q. Caecilius Metellus, später selbst Consul, als junger Mann auf seinen Vater Lucius im Jahre 221 v. Chr. hielt und die ihren Weg in die enzyklopädische Na­ turgeschichte des älteren Plinius gefunden hat.16 Darin heißt es zunächst im üblichen 15 Cicero, Brutus 62; Livius 8,40,4f., vgl. auch 4,16,4. 16 Plinius, Naturgeschichte 7, 139f. Siehe dazu – und zu den laudationes generell – etwa Kierdorf, Laudatio funebris (wie Anm. 3); Flower, Ancestor Masks (wie Anm. 2), S. 128–158; Hans Beck, Of Fragments and Feelings. Roman Funeral Oratory Revisited, in: Christa Gray, Andrea Balbo,

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Duktus der Akkumulation durch Aufzählung: Der Verstorbene sei nicht nur Consul und Proconsul, Reiterführer und später auch Dictator zur Abhaltung der Wahlen, Pontifex und dann sogar Oberpriester gewesen, und er habe einen Triumph gefeiert, bei dem zum ersten Mal Elefanten vorgeführt worden seien. In diesem Hinweis auf neue, ›beispiellose‹, ›erstmalige‹ oder gar ›einmalige‹ Errungenschaften und Erfolge taucht bezeichnenderweise genau die gleiche Semantik der Superlative auf, die sich allenthalben in den permanenten Medien der Memoria findet, ja geradezu als typische Konvention der konservierten Erinnerung gelten darf. Auch der folgende, besonders vielsagende Teil der laudatio Metelli ist von Superlativen geradezu getränkt, die in Übersetzung nicht ganz einfach wiederzugeben sind: So habe dieser berühmte Metellus die »zehn wichtigsten und höchsten Ziele«, nach denen »kluge Männer« lebenslang strebten, vollkommen erreicht. Zu diesem exemplarischen Kanon typischer Qualitäten eines nobilis gehörte einerseits, sich im Krieg als »Kämpfer allersten Ranges« (primarius bellator) und »besonders tapferer und entschlossener Befehlshaber« ( fortissimus imperator) ausgezeichnet zu haben, unter dessen Auspicien als Feldherr die »größten Taten« vollbracht worden seien. Dazu gehörte andererseits, sich in der Politik als »hervorragender Redner« (optimus ora­ tor) einen Namen gemacht zu haben und als »Senator des höchsten Ranges« (sum­ mus senator) durch eine »ganz besondere Klugheit« (summa sapientia) hervorgetreten zu sein. Dabei habe er schließlich auch noch für den Wohlstand – und damit den sozioökonomischen Status – seiner Familie und deren Fortbestand gesorgt, indem er auf »anständige«, also standesgemäße Weise zu einem großen Vermögen gekommen sei und viele Kinder hinterlassen habe. So sei er zu guter Letzt als »hochberühmt« in der gesamten Bürgerschaft (clarissimus in civitate) anerkannt gewesen – und das sei, so der geradezu triumphierende Schlusspunkt, sonst noch niemandem gelungen, und zwar »seit der Gründung der Stadt«. Das heißt auch, dass es in diesem impliziten Dialog zwischen dem orator einer laudatio und den ehrfürchtig lauschenden Adressaten gar nicht auf »die nackte und objektive genealogische Struktur einer Familie« oder gar eine genaue historische »Wahrheit« ankam, sondern immer in erster Linie auf die Selbstverortung der Familie im Koordinatensystem des erwähnten Verhaltens- und Wertekodex, die durch den geradezu konventionalisierten Duktus dieser Reden vermittelt wurde. Es ging Richard M.A. Marshall, Catherine E.W. Steel (Hg.), Reading Republican Oratory. Reconstructions, Contexts, Receptions, Oxford 2018, S. 263–280, jeweils mit weiteren Nachweisen. – Siehe zu der laudatio im Kontext der multimedialen Selbstdarstellung dieser Familie Karl-Joachim Hölkeskamp, Memoria, Monumente und Moneten. Medien aristokratischer Selbstdarstellung – das Beispiel der Caecilii Metelli, in: ders. (Hg.), Libera res publica (wie Anm. 1), S. 273–309 (zuerst in: Florian Heymann, Wilhelm Hollstein, Martin Jehne (Hg.), Neue Forschungen zur Münzprägung der Römischen Republik, Bonn 2016, S. 49–82).



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also um etwas, was man als »Ordnung des Diskurses« bezeichnet hat, der in »jenem abstrakten, kaum greifbaren, aber immer entscheidenden Phänomen des Familienansehens« bestand. Allerdings war das symbolische Kapital, das dieses Ansehen begründete, ganz und gar nicht abstrakt, sondern bestand aus regelrecht zählbaren Einlagen in Gestalt von Consulaten und Censuren, Taten und Triumphen. Gerade das machte dieses Ansehen erst zu einem »sozialen Wert par excellence«, der immer vor allem »ein eminent relationaler Wert« in der hochgradig kompetitiven Lebenswelt war.17 Dieses Ansehen errechnete sich gewissermaßen aus der Einordnung und Verankerung des zu ehrenden Toten, des Redners und seiner Familie in den moralisch-metahistorischen Gesamtzusammenhang der Geschichte der res publica und des Anteils der eigenen maiores an der Akkumulation der gegenwärtigen Größe des Imperiums – und dieses Ansehen determinierte eben den relativen Rang der Familie in der herrschenden Klasse. Eine solche laudatio funebris – und die erwähnte typische Semantik der Superlative – stellte gewissermaßen die letzte, explizite und endgültige Bestätigung dar, dass der Verstorbene als Sieger aus der lebenslangen Konkurrenz um honores, Rang und Anerkennung hervorgegangen war und damit in die glorreiche Geschichte seiner Familie eingehen konnte. Denn diese besondere Art der Rede wurde ja nicht nur vor dem versammelten Volk gehalten, sondern zugleich in Anwesenheit der symbolisch präsenten Ahnen des Verstorbenen (und des Redners), die sich dazu auf den typischen Amtsstühlen höherer Magistrate niedergelassen hatten – man könnte geradezu von einer verdoppelten Ko-Präsenz als Charakteristikum der pompa funebris sprechen, da der populus Romanus als Publikum und Adressat zugleich einer Reihe seiner früheren Amtsträger gegenüberstand, die ihrerseits zugleich symbolische Ko-Akteure und ebenfalls Adressaten waren. Denn in einem weiteren Teil der typischen laudatio ging es bezeichnenderweise nicht nur um die Karriere, Taten und Tugenden des soeben Verstorbenen, sondern auch um honores und Leistungen ebendieser Ahnen – und die offenbar genau in der Reihenfolge aufgerufen wurden, in der sie in der Prozession aufgetreten waren. Hier verwiesen also Symbole und Worte, Repräsentation, Ritual und Rede derart aufeinander, dass den Anwesenden, Volk und Standesgenossen, die Tradition der einzelnen Familie optimal verdichtet, vernetzt und auf dem jeweils neuesten Stand ergänzt und aktualisiert präsentiert wurde. Zugleich konnten die Adressaten auf dem Forum Romanum, mitten in der zentralen Landschaft der kollektiven Erinnerung des populus Romanus, diese familiale Tradition als lebendigen, integralen, unverzichtbaren und unverlierbaren Bestandteil der Geschichte der Republik selbst sehen. Genau darin bestand ja die zentrale Bedeutung dieses Mediums der Selbstdar17 Vgl. dazu Bettini, Familie (wie Anm. 10), S. 144 (Zitate) und dazu Flaig, Ritualisierte Politik (wie Anm. 2), S. 56f.

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stellung und Selbstverortung, und genau das machte den unschätzbaren Wert aus, den die präsentierten Einlagen im symbolischen Kapital der Familie für deren Chancen in der permanenten Konkurrenz um neue honores hatten. Diese Vernetzung memorialer Medien setzte sich auch am Ort der eigentlichen Bestattung außerhalb der Stadt fort. Dorthin führte der Zug, nachdem die Feierlichkeiten auf dem Forum beendet waren; denn dort lagen die repräsentativen Grabanlagen der großen Familien, die sich vor der Porta Capena an der Via Appia befanden. Diese Form weithin sichtbarer, aufwendiger und beeindruckender Bauten, die sich spätestens im 3.  Jahrhundert zu entwickeln begann, belegt den deutlichen, in der späten Republik noch zunehmenden »Drang« zu einer gezielt »extrovertierten Selbstdarstellung« der Angehörigen der politischen Klasse:18 Dem diente nicht nur die exponierte Lage dieser repräsentativen Anlagen an den großen Ausfallstraßen, vor allem an der Via Appia, sondern auch die schiere Größe und die betont architektonische Gestaltung, die Art des Schmucks mit Säulen, Statuen und Bildern sowie nicht zuletzt die (außen angebrachten) Inschriften. Das ebenso bekannte wie gerade in dieser Hinsicht vielsagende Beispiel ist die bereits erwähnte, im Laufe der Zeit geradezu monumental ausgestaltete Grabstätte des berühmtesten Zweiges der gens Cornelia, der Scipionen, die ebenfalls an der Porta Capena lag, also gleich am Anfang der Via Appia. Der Bürger, der aus der Stadt kam, oder auch der fremde Reisende, der sich von Süden der urbs Roma näherte, passierte eine eindrucksvolle, immerhin etwa 9 Meter hohe Fassade: Aus dem dort anstehenden Fels war ein Podium herausgearbeitet und darüber erhob sich eine repräsentative, durch Halbsäulen ionischer oder korinthischer Ordnung gegliederte Front; die Flächen des Podiums waren offenbar mit Szenen siegreicher Kämpfe unter der Führung berühmter Familienmitglieder bemalt – vielleicht handelte es sich um dieselben prominenten Persönlichkeiten, zu deren Ehren die Porträtstatuen in den Nischen zwischen den Säulen aufgestellt worden waren und die in den großen Sarkophagen in den eigentlichen Grabkammern bestattet waren, darunter Consuln und Feldherren aus der Zeit des letzten Samniten- und des ersten Punischen Krieges, also aus der Zeit um 300 bis 250  v.  Chr. Dieses »multimediale Ensemble familialer Leistungskontinuität« bezog die Eindeutigkeit und Klarheit seiner Botschaft nicht zuletzt daraus, dass auch die gewissermaßen ›versteinerten‹ und dadurch verewigten laudationes in Gestalt der Grabinschriften darin integriert waren und die vermittelten Botschaften dadurch verstärkten.19 Zunächst gilt das für die erwähnte konventionalisierte Auf18 Henner von Hesberg, Römische Grabbauten, Darmstadt 1992, S.  22–24, und ders., Römische Baukunst, München 2005, S. 202. 19 Siehe zur »Multimedialität« der Selbstdarstellung der Cornelii Scipiones Karl-Joachim Hölkeskamp, Memoria by Multiplication. The Cornelii Scipiones in Monumental Memory, in: ders. (Hg.),



Ein starker Abgang

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Abb. 2: Rekonstruktion der Fassade des Scipionengrabes nach F. Coarelli (https://commons.wikimedia. org/wiki/File:Sepolcro_degli_scipioni_ALZATO.gif)

zählung der erreichten honores (im weitesten Sinne) des jeweiligen Verstorbenen  – und dabei verweisen diese Texte sogar explizit auf andere Medien des öffentlichen Erinnerns, obwohl die in geschlossenen Grabanlagen angebrachten Inschriften der Natur der Sache nach natürlich nicht jederzeit und für jedermann ›lesbar‹ waren. Dennoch enthalten schon die bereits erwähnten frühesten Texte aus dem Grab der Scipionen eine bezeichnende Redewendung: Die Verstorbenen – es handelt sich um L. Cornelius Scipio Barbatus, Consul 298 und später Censor, einerseits und seinen gleichnamigen Sohn, Consul 259 und Censor im folgenden Jahr, andererseits20 – seien also consol, censor, aidilis gewesen, und zwar ausdrücklich apud vos. Diese Wendung »bei euch« ist in mehrfachem Sinne zu verstehen, sie umfasst ein ganzes Spektrum von mitschwingenden und sich überschneidenden Bedeutungen: »unter euch« und »für euch«, im und für den populus Romanus, von ihm gewählt, mit im­ perium, sella curulis, Rutenbündeln ausgestattet und konkreten Kommanden betraut. Das waren ebenjene konkreten Aufgaben, deren erfolgreiche Erfüllung dann in den knappen, gewissermaßen titulus-artigen Aufzählungen genannt werden: »Taurasia und Cisauna in Samnium nahm er ein«, so der Schluss des Elogiums für Barbatus, außerdem »unterwarf er ganz Lucanien und führte Geiseln weg« – und nicht zuletzt Roman Republican Reflections (wie Anm. 1), S. 167–209 (zuerst in: Christopher Smith, Kai Sandberg (Hg.), Omnium Annalium Monumenta, Historical Writing and Historical Evidence in Republican Rome, Leiden 2018, S. 422–476); Zitat: Walter, Memoria (wie Anm. 2), S. 114. 20 Kruschwitz, Carmina (wie Anm. 9), Nr. 2, S. 33–57; Nr. 3, S. 58–70 (danach auch die Übersetzungen); Etcheto, Les Scipions (wie Anm. 8) Nr. 6 (IV) S. 159, und 8 (V), S. 160; A, S. 225–236, und B, S.236–241, jeweils mit detaillierten historisch-philologischen Kommentaren.

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deswegen galt er als ebenso tapferer wie kluger Mann ( fortis vir sapiensque), verfügte also ebenfalls über die in der laudatio Metelli hervorgehobenen zentralen virtutes. Sein Sohn habe nicht nur »die Stadt Aleria«, sondern auch ganz Korsika erobert und den »Tempestates«, den Göttinnen des (stürmischen) Wetters, einen Tempel gestiftet – gerade auch daher stimmten »die meisten Römer darin überein«, dass er der »beste Mann« (im Adel) gewesen sei. Vor allem bezeichnet die Wendung apud vos auch ganz direkt die rhetorische Hin-­ Wendung des Redners zu jenem Volk, das als Publikum einer pompa und einer lau­ datio funebris auf dem Forum Romanum präsent war  – und das zugleich auch der Adressat und ›Konsument‹ der Bilder und Botschaften war, die durch die in der Öffentlichkeit aufgestellten Statuen, sonstigen Monumente und ihre wiederum ähnlich angelegten Inschriften vermittelt wurden, die in den Elogien geradezu zitiert wurden. Diese Ko-Präsenz des populus Romanus wurde damit geradezu als Fiktion einer interaktiven Kommunikation mit seinem früheren Magistrat konzeptualisiert, dabei zugleich über das ephemere Ritual der pompa hinaus bis in die Grabkammer hinein gewissermaßen verlängert und konserviert. Erst vor diesem komplexen und gewissermaßen in die Tiefe gestaffelten Hintergrund – diese Formulierung ist hier keineswegs nur metaphorisch, sondern auch in einem durchaus konkreten historisch-chronologischen und räumlichen Sinne zu verstehen – wird die besondere Rolle der pompa funebris und der damit verbundenen höchst eigentümlichen Praktiken im kulturellen Gesamtsystem der gegenseitigen Verweise und Verbindungen zum Zweck der Identitätskonstruktion und stabilisierung über die Zeit für diese besondere Art einer Aristokratie ganz verständlich. Einerseits war diese Form der Prozession zunächst ein wichtiges Medium der Selbstdarstellung und Statusaffirmation der großen Familien. Andererseits konnte gerade deswegen dieses Ritual der kollektiven Selbstbestätigung der Nobilität und des Senatsadels insgesamt dienen, nämlich der Reproduktion ihrer Legitimität und der Geltung ihrer Orientierungen und Werte, ja ihrer permanenten Selbstkonstituierung als politisch-militärischer Elite und Verdienstadel. Jede einzelne pompa funebris war also mehr als die glanzvolle Inszenierung des Abgangs eines würdigen Mitglieds dieses Adels – und sie war auch mehr als ein Ritual der Selbstverortung seiner Familie in diesem Adel. Jede einzelne pompa funebris diente immer zugleich der kollektiven Selbstvergewisserung dieses Adels, denn jede Parade berühmter Ahnen und jede laudatio funebris spiegelte die Tradition dieses gesamten Adels, die glorreiche Geschichte des Aufstiegs der res publica zu imperialer Größe.

Andreas Michel

Tod: Vom Anfang der Bibel an

Wenn die jüdisch-christliche, vielleicht sogar noch näher die christliche Tradition als auf etwas spezialisiert gilt, dann wird dabei sicher schnell der Komplex Leben und Tod genannt. Als Religion, die sich, in zeitgenössischen Augen womöglich zu großsprecherisch, die Überwindung des Todes auf ihre Fahnen geschrieben hat, muss die christliche eine besondere Expertise für diesen eher als dunkel wahrgenommenen Bereich haben und sie muss in der Lage sein, dort Licht hineinzubringen. Freilich ist diese Expertise nicht einfach vom Himmel gefallen, war 30 n. Chr. nicht einfach »da«. Und schon gar nicht »einfach« da, sondern in variantenreichen Formen und Perspektiven. Entsprechende Vielfältigkeit zum Thema Tod hat sich in der christlichen Bibel aus Altem und Neuen Testament niedergeschlagen, in ­Zwischenetappen und – entgegen landläufiger Meinung – durchaus vielstimmigen Konzeptualisierungen. Sie sind Ergebnisse von Erfahrungen, Reflexionen und Diskussionen in unterschiedlichen Räumen und Zeiten unter variierenden soziokulturellen Bedingungen. Sie auf eine Linie bringen zu wollen, sagt deshalb mehr über die Wollenden als über das Gewollte aus. Sowohl wer die Bibel als historisches Dokument liest als auch wer die Bibel als synchrones Dokument von vorn nach hinten wahrnimmt, wird unweigerlich erkennen, dass der Tod, die Vorstellung über den Tod, seine bzw. ihre Geschichte, Entwicklungen, Rückentwicklungen hat, es eine einlinige, gar geradlinige Aussagereihe über den Tod nicht gibt. Dieser Beitrag will das Seine dazu leisten, Unerwartetes, Ungleichzeitiges, Ambiges in Sachen Tod und Bibel vorzustellen und fängt dazu zunächst am Anfang an.

1. Neues aus der Urgeschichte: Genesis 1–3 und kreatürliche Sterblichkeit

Die große, wohlbekannte, einleitende Schöpfungserzählung in Gen 1 mit ihrer Schaffung der Welt in sechs Tagen sagt viel aus über den Tod – nämlich praktisch nichts. Sie setzt ja auch auf das Licht und die hellen Seiten der Schöpfung und erwähnt ihre negativ-chaotischen Ränder, Tohuwabohu, Finsternis, Urflut und gegebenenfalls Sturm, nur am Anfang (Gen 1,2). Tod und Sterben sind keines Wortes wert. Wohl aber kommt das Stichwort »lebendig«, »Lebe[n], je nach deutscher Übersetzung, mehrfach vor, in der katholischen Einheitsübersetzung von 2016, die hier benutzt wird, in Gen  1,20.21.24.30 (»lebendig«, »Lebewesen«, »Lebensatem«), und so setzt sich

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das auch zunächst in der Paradieserzählung in Gen  2–3 fort: 2,7.9 (»Lebensatem«, »lebendig«; »Baum des Lebens«). Erst in Gen 2,17 fällt das Stichwort »sterben«: Genau siebenmal »Lebe[n]«, bevor vom »Sterben« die Rede ist, und danach geht es tatsächlich um Leben und Tod. Und wie? Tatsächlich so, dass der Text eigentlich unbestreitbar und trotz anderer Entwicklung in der späteren Rezeption des Textes von der selbstverständlichen Mortalität des Menschen ausgeht, vgl. Gen 2,7: »Da formte Gott, der H e r r , den Menschen, Staub vom Erdboden, und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.« Die Erdhaftigkeit – oder würde man besser sagen: die Erdhaftung  – gehört zum Menschen stofflich-natürlich dazu. Das formuliert ganz selbstverständlich auch die Strafsentenz gegenüber dem Menschen in Gen 3,19: »Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen, bis du zum Erdboden zurückkehrst; denn von ihm bist du genommen.« Die Strafe besteht offenkundig in der Mühsal des Lebens, im Bild des Schweißes ausgedrückt. Die »Rückkehr zum Erdboden« ist die fast erfreuliche, jedenfalls aber vorausgesetzte Befreiung von dieser leidenden Schweißexistenz, nicht selbst ein Stück oder gar der Höhepunkt des Urteils. Mortalität, Sterblichkeit des Menschen von Anfang an. Dem widerspricht die Todesandrohung in Gen 2,16-17 nicht: »Dann gebot Gott, der H e r r , dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn am Tag, da du davon isst, wirst [gemeint ist: musst!] du sterben.« Hier wird entgegen späterem Verständnis nicht die Sterblichkeit eines vorher unsterblich geschaffenen Menschen angedroht, sondern vorab in ziemlich typischer alttestamentlicher Diktion und im Übrigen wie so oft rhetorisch übertreibend die Todesstrafe für die Übertretung des Verbots angekündigt. Tatsächlich wird sie dann aber nicht vollstreckt, und zwar wegen Gottes »sympathischer Inkonsequenz«, wie dieses Phänomen etwa der evangelische Alttestamentler Bernd Janowski benannt hat.1 Und wie es im Übrigen auch die schlaue Schlange in Gen 3,4 tatsächlich weiß oder mindestens zu wissen vorgibt: »Nein, ihr werdet nicht sterben.« Und ja, derselbe Gott in all seiner sympathischen Inkonsequenz vermag später weder den Mörder seinem gerechten Schicksal zu überlassen – vielmehr erhält Kain sogar ein Schutzzeichen (Gen 4,15) –, noch steht er zu seinem Entschluss »den Menschen, den ich erschaffen habe, vom Erdboden (zu) vertilgen (Gen 6,7) bzw. alle(n) Wesen aus Fleisch … zugleich mit der Erde [zu verderben]« (Gen 6,13). Stattdessen rettet er Noach mit seiner Familie aus der Sintflut und ermöglicht der Menschheit Zukunft. 1 Bernd Janowski, Schöpferische Erinnerung. Zum »Gedenken Gottes« in der biblischen Fluterzählung, in: Oliver Dyma, Andreas Michel (Hg.), Sprachliche Tiefe – Theologische Weite (= Biblisch-­ Theologische Studien, Bd. 91), Neukirchen-Vluyn 2008, S. 17–47, hier S. 42, in Anschluss an Norbert Clemens Baumgart.



Tod: Vom Anfang der Bibel an

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Der Tod gehört nach Gen  2 zur Grundausstattung des Menschen und ist nicht Folge einer Verfehlung. Im besten Fall markiert der Tod das Ende eines erfüllten Lebens. Bei genauem Hinsehen ist die Sterblichkeitsreflexion bezüglich des Menschen im Text sogar intensiviert worden, und zwar mit der Einfügung des Stichworts »Staub«. Die Einheitsübersetzung 2016 zeigt das Sperrige der Formulierung sehr schön an, indem sie in Gen 2,7 mit dem »Staub vom Erdboden«, zwischen Kommata gesetzt, den Anstoß des hebräischen Textes ziemlich präzise wiedergibt: Es fehlt nämlich hier wie dort ein Äquivalent für die eigentlich nötige Präposition »aus« vor »Staub«. »Staub« ist deshalb wohl eine bewusste Einfügung, eine Art Glosse, die das ursprüngliche »Da formte Gott, der H e r r , den Menschen vom [wörtlich: aus] Erdboden« in seiner Bedeutung vertieft: Der Mensch ist von Anfang an Staub – also sterblich – und das wird, wohl ebenfalls von einem späteren Glossator verdeutlichend, in Gen 3,19 angefügt, als begründender Satz: »[wörtlich: denn] Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück«. Staub steht im biblischen Kontext durchgehend für diese natürliche Sterblichkeit. Der realiengeschichtliche Hintergrund der Staubformulierung sieht wohl so aus, dass im kargen Bergland des damaligen Israel/ Juda nicht die Erdbestattung die Regel war. Üblich, weil möglich, war die Grablege in aus dem Stein gehauenen Felsgräbern, also auf Bank- oder Schiebegrablegen in Grabkammern bzw. Grabhöhlen, und zwar in Ermangelung einer hinreichenden Erdschicht, die eine Inhumierung erlaubt hätte.2 Dass der Körper in Staub zerfällt und nur noch die Knochen sichtbar verbleiben und eingesammelt werden können bzw. müssen, um die nötige Mehrfachbelegung zu gewährleisten, war insofern Gegenstand der – fast – alltäglichen Erfahrung und wird nachträglich auch so präzisiert. Noch einmal: Die Rückkehr zum Staub in Gen 3,19 ist nicht Teil der Sanktion, sondern, wenn man so will, eher der (Er)Lösung aus dem misslich-mühsamen Leben im Schweiß, der eigentlichen Strafe. Die Logik des Textes geht also mitnichten dahin, dass man von der Staubexistenz erlöst werden müsste, das ist erst ein viel späteres, wenngleich vielleicht sogar produktives Missverständnis. Gen 2–3 hingegen zeichnet ganz nüchtern ein Bild menschlicher Realitäten, mit dem Todesgeschick von allem Anfang an, als Konstitutionsbedingung. Wie die intensivierte Sterblichkeitsreflexion in Gen 2,7/ 3,19 via »Staub« nicht ursprünglich ist, so ist wohl auch die Thematik »Baum des Lebens« (in Gen  2,9, 3,22.24) redaktionell nachgetragen. Zu den zwei besonders attraktiven, aber eben konkurrierenden Bäumen im Garten Eden, dem Baum des Lebens und dem Baum der 2 Dazu vgl. Jan Christian Gertz, Das erste Buch Mose (Genesis). Die Urgeschichte Gen 1–11 (= Das Alte Testament Deutsch, Bd. 1), Göttingen 2018, hier S. 101. Der vorliegende Beitrag trifft sich mit dem vorzüglichen Kommentar von Gertz auch an anderen Stellen immer wieder, das wird hier nicht immer eigens ausgewiesen.

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Erkenntnis von Gut und Böse, gibt es mittlerweile eine endlose Liste von Literatur.3 Der durchgängig und unverzichtbar im Text verankerte Baum ist dabei der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Er steht ausdrücklich in Gen 2,17, und ohne ihn funktioniert die Versuchungs- wie Erkenntnisszene in Gen 3,1–7 nicht. Auch das nachfolgende und mit Gen 3 sichtbar eng verbundene Kapitel 4 setzt im ersten Vers bezeichnenderweise mit dem Stichwort »erkennen« ein: »Der Mensch erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Kain.« »Erkennen« bzw. Erkenntnis« kann eben auch sexuelle Konnotationen im Sinne von Geschlechtsverkehr haben. Davon lebt bei einer erneuten Lektüre von Gen 2–3 nach derjenigen von Gen 4 auch die »Erkenntnis« bzw. das »Erkennen von Gut und Böse« in Gen 2,9.17, 3.5.22: Dort wird nämlich in die Erlangung der Fähigkeit zu moralischem Urteil – das ist mit dem »Erkennen von Gut und Böse« dominant gemeint – geschickt das Thema erwachender Sexualität und Generativität, beide klassisch verbunden, hineinverwoben, nicht als Haupt, aber eben doch als Nebenthema, in einem ohnehin vielschichtigen und auch deshalb so wirkungsmächtigen Text. Gemeinsam mit der mythischen Überlieferung der Umwelt arbeitet sich Gen 2–3 an der schicksalhaften Ambivalenz und Tragik der menschlichen Existenz ab. Das Motiv des Wunsches nach dem ewigen Leben ist schon in den alten vorderorientalischen Großerzählungen aus dem 3. bzw. 2. Jahrtausend v. Chr. stark präsent, dafür kennt die mesopotamische Literatur auch drei tragische Gestalten, nämlich Gilgamesch, Etana und Adapa.4 Bei allen dreien wird freilich das ewige Leben wegen der Tölpelhaftigkeit, Naivität oder auch Furcht der Protagonisten am Ende gerade nicht erlangt bzw. knapp verpasst. In Komik wie Tragik wird in den mesopotamischen Texten klar, dass der Tod dem Menschen unausweichlich bleibt. Komik und Tragik eignen erkennbar auch Gen 2–3. Entwickelt wird der Plot dabei auf der Folie eines hintergründigen Adoleszenzmythos: Der erst noch asexuell gedachte naive Erdling bzw. Menschling von Gen  2,7 wächst am typischerweise unbegründeten und sozusagen elterlichen, hier natürlich göttlichen Verbot ohne Begründung zu einem kritischen Wesen heran.5 Dieses Wesen erlangt am Ende die Erkenntnis von Gut und Böse, wo3 In sprachwissenschaftlicher Hinsicht wird die ungewöhnliche Formulierung in Gen 2,9 – es ist eine sog. Gespaltene Koordination – eingehend untersucht von Andreas Michel, Theologie aus der Peripherie. Die gespaltene Koordination im Biblischen Hebräisch (= Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, Bd. 257), Berlin, New York 1997, S. 1–22. 4 Alle drei Texte sind greifbar in Otto Kaiser (Hg.), Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Gütersloh 1982ff. Die Übersetzung stammt jeweils von Karl Hecker. Das Gilgamesch-Epos steht in Band III, Lieferung 4 unter »Mythen und Epen II«, 1994, 646–744, »Etanas Himmelsflug« bzw. »Adapa und der Südwind« finden sich in der »Ergänzungslieferung«, 2001, S. 34–51 bzw. S. 51–55. 5 Hintergründig schwingt dabei auch die Vorstellung vom göttlichen Erzieher des Menschen mit. Sie entspricht in ihrer Motivation der elterlichen Erziehung, wie sie sich in der älteren biblischen Weis-



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bei sich als grundlegende Erkenntnis die des Nacktseins, also der Begrenztheit, des Wissens um das Unwissen, einstellt und daraus resultierend Scham, vgl. Gen 3,7: »Da gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz.« Gerade ohne von Sünde zu sprechen, geht hier also sozusagen eine natürliche Unschuld zu Ende, als Begleitmusik und Bedingung des Erwachsenwerdens. Die andere Begleitmusik des Erwachsenwerdens sind  – vor dem Hintergrund antiken Verständnisses natürlich  – das Erwachen der Sexualität und die Fähigkeit zur Generativität, deshalb dann Gen 4,1, aber eben auch das Versagen des eigentlich moralisch erkenntnisfähigen Menschen in Gen 4,8, der Brudermord. Der Mensch von Gen 2–3 wird also erst mit dem eher kindlich neugierigen Handeln gegen das unbegründete Verbot vom naturnahen, symbiotischen Kind, vom Naturmenschen, zum erwachsenen, zum wirklichen, selbstbestimmenden, selbstreflexiven Menschen, zum Kulturmenschen, mit allen Ambivalenzen. Der Mensch verliert damit auch seine bequeme Lebensform im paradiesischen Garten und muss sich dem Ernst des erwachsenen Lebens außerhalb des Gartens stellen, vgl. Gen 3,23: »Da schickte Gott, der Herr, ihn aus dem Garten Eden weg, damit er den Erdboden bearbeite, von dem er genommen war.« Die »Erkenntnis«, die Menschen dabei erlangt haben, macht sie außerdem fortpflanzungsfähig und so gewinnen sie ihre gattungsspezifische Ewigkeit in zahlreicher Nachkommenschaft. Mit dem schon bei Gilgamensch, Etana und Adapa vorgeprägten Motiv der verpassten Chance wird entsprechend durchgespielt, dass es mit der individuellen Ewigkeit nun nichts mehr werden kann. Der Baum des Lebens wird deshalb in Gen  2,9, 3,22.24 eingeführt: Wie Gilgamesch das schon erworbene »Kraut des Lebens« durch Tölpelhaftigkeit, ja Dummheit, an eine Schlange wieder verliert, wie Etana aus Höhenangst abstürzt oder wie Adapa die ihm von den Göttern angebotene Speise und das Wasser des Lebens tragisch ausschlägt, so verlieren die ersten Menschen im Garten die theoretisch vorhandene Chance auf ewiges Leben. Damit ist die Entscheidung gefallen, als Gattung, nicht als Individuum Ewigkeit zu erlangen. Alles zusammen geht nicht, wenn der Mensch Mensch bleiben und nicht zum Gott werden soll, vgl. Gen 3,22: »Dann heitsliteratur, und zwar z.B. in Spr 23,13–14, findet: »Erspar dem Knaben die Züchtigung nicht; wenn du ihn schlägst mit dem Stock, wird er nicht sterben. Du schlägst ihn mit dem Stock, bewahrst aber sein Leben vor der Unterwelt.« Gebote und der damit verbundene, heute überholte Stock sind dazu da, um die Heranwachsenden zu »Zucht« zu erziehen und so vor nachhaltigem Schaden durch Dritte zu bewahren, im schlimmsten Fall also vor dem vorzeitigen Tod, vgl. dazu Magne Sæbø, Sprüche (= Das Alte Testament Deutsch, Bd. 16,1), Göttingen 2012, hier S. 293. Vgl. zum Thema gewalttätiger Erziehung im mythischen Kontext jetzt auch die bedenkenswerte Studie von Ehrenhard Skiera, Das eigenwillige Kind – Bedürfnis und Erziehung in nachmythischer Zeit. Grundzüge einer responsiven Pädagogik, Weinheim, Basel 2022, darin, im Blick auf die Bibel, S. 102–109.

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sprach Gott, der H e r r : Siehe, der Mensch ist wie einer von uns geworden, dass er Gut und Böse erkennt. Aber jetzt soll er nicht seine Hand ausstrecken, um auch noch vom Baum des Lebens zu nehmen, davon zu essen und ewig zu leben.« Dass der Mensch tatsächlich als Erstes zum Baum des Lebens hätte greifen können, erwägt der Text auch gar nicht ernsthaft. Aber damit muss sich das viel zu kleine Fenster der persönlichen Ewigkeit geradezu zwingend schließen. Gen 3,22 in seinem alttestamentlichen Kontext mit dem Etikett der »Strafe Gottes« zu versehen, erscheint mir freilich unangemessen.6 Der Text von Gen 3 entlässt daher den Menschen in eine radikale Diesseitigkeit, »östlich vom Garten Eden« (Gen 3,24), sowohl der Zugang zum früheren einfachen wie zum eigenen ewigen Leben ist versperrt. Wenigstens aber ist der Mensch nicht mehr »allein«, sondern der Mensch hat einen echten Menschen als Hilfe, »die ihm ebenbürtig ist« (beides Gen 2,18). Vorgestellt wird das im Text dann zwar im binär antiken Modell von männlich–weiblich, wie der durch und durch kulturverhaftete androzentrische Spruch in Gen 2,23 zeigt: »Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie genannt werden; denn vom Mann ist sie genommen.« Der Text fährt auch sexistisch fort, indem er der Frau nur Attraktivität, dem Mann aber (implizit) die sexuelle Aktivität zuschreibt, vgl. Gen 2,24: »Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und hängt seiner Frau an und sie werden ein Fleisch.« Aber eigentlich thematisiert der Text ganz grundsätzlich die soziale Angewiesenheit des Menschen auf den Menschen, vor allem aber die Unerlässlichkeit von engen Beziehungen bzw. Vorzugsbeziehungen und spielt sie kulturspezifisch und sicher ohne normative Kraft binärgeschlechtlich durch. Es geht dabei um Beziehungen, die mit den vorher intensivsten Beziehungen, nämlich denjenigen zu den eigenen Eltern, mithalten, neben sie, ja sogar in Konkurrenz zu ihnen treten können. Dass sie in der Zeugung von Nachkommen gipfeln, meint die Formulierung von dem »Ein-Fleisch-Werden« gerade nicht, denn wie das Ende von Gen 2,24 zu verstehen ist, zeigt ja der Spruch in 2,23: Es geht darum, dass beide jetzt vom gleichen Fleisch und Blut sind, also so eng verwandt wie in den Beziehungen der Herkunftsfamilie. An dieser Stelle des Textes von Gen 2–3 steht die mit Sexualität verbundene Generativität nur ganz im Hintergrund, das »ein Fleisch« bezieht sich eben entgegen landläufiger Auffassung gerade nicht auf Nachkommenschaft. Auch deswegen ist der binärgeschlechtliche Code des Textes auf der Oberfläche von Gen 2–3 nicht mit der Tiefenstruktur des Textes zu verwechseln, dem es um gelin-

6 Trotzdem so Markus Witte, Das Buch Hiob (= Das Alte Testament Deutsch, Bd. 13), Göttingen 2021, S. 125 (Kursiva im Original). Der Exkurs von Witte zu »Tod, Begräbnis und Totenreich im alten Israel und im Alten Testament« ebd. S. 124–126 ist gleichwohl sehr lesenswert!



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gende, lebensnotwendige, der Text würde sagen: »hilfreiche« Beziehungen zwischen Menschen in all ihrer Diversität geht. In dieser Konzeption radikaler Diesseitigkeit ist »Gott« als Gegenüber des Menschen nicht modellierbar. Ein »Gott allein genügt«, eine eremitische menschliche Existenz kam den Autor*innen des Textes ersichtlich nicht in den Sinn. Zwar redet der Text noch polytheistisch (Gen 3,22: »der Mensch ist wie einer von uns geworden«) und denkt wohl auch so. Noch gibt es deswegen sozusagen »echte« göttlich-menschliche Begegnungen auf Erden, wie sie für das polytheistische Denken möglich und typisch sind. Aber der Text ist offenkundig auf dem Weg der Entkoppelung des Göttlichen und Menschlichen, der Trennung von Jenseits und Diesseits, von Transzendenz und Immanenz, wie sie in radikaler Weise erst später im strengen Monotheismus vollzogen werden wird. Bei diesem Entkoppelungsprozess von Gott und Mensch, der hier Fahrt aufzunehmen beginnt, taucht freilich eine Frage offenkundig (noch) gar nicht auf: nämlich die nach dem Ergehen des Menschen jenseits seiner diesseitigen Existenz. Vor allem ist der in Gen 2–3 vorgestellte »Gott, der H e r r« (noch) kein Gott, der für den Bereich des Todes zuständig wäre, denn er ist ja der Schöpfergott, der den »Lebensatem« gibt bzw. einhaucht (Gen  2,7). »Gott, der H e r r« ist also ein Gott des Lebens, und das meint im vorderorientalischen Raum des 1. Jahrtausends v. Chr. zunächst: ein Gott des diesseitigen Lebens. In den erkennbar älteren alttestamentlichen Texten kommt weder die Idee eines ewigen jenseitigen Lebens noch eines ewigen, sozusagen jenseitigen Todes auf: Leben ist ganz einfach Leben, und Tod ist ganz einfach Tod. Selbst im vielleicht bekanntesten Text des Alten Testaments, im sogenannten Schema Israel, das in Dtn 6,4–9 steht, merkt man, wie sehr der Wirkbereich dieses einen Gottes, dessen Name, das Tetragramm, in allen deutschen Gebrauchsbibeln mittlerweile überall mit (der) »H e r r« wiedergegeben wird, sich auf alle denkbaren Räume und Zeiten erstreckt – mit einer Ausnahme, über der (noch) beredtes Schweigen liegt: dem Raum und der Zeit des Todes: Höre, Israel! Der H e r r , unser Gott, der H e r r ist einzig. Darum sollst du den H e r r n, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Und diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Kindern wiederholen. Du sollst sie sprechen, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden. Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben.

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2. Gott, der H E R R , und der Tod: Kompetenzausweitung im Rahmen der Monotheisierung

Die weitgehende Berührungslosigkeit des biblischen Gottes mit dem Tod und die fast durchgehende Ausblendung eines erquicklichen jenseitigen Lebens in den alttestamentlichen Schriften sind zunächst erstaunlich; Letzteres umso mehr, als dies in unmittelbarer Nähe zum ägyptischen Kulturraum, ja in stetiger Berührung mit ägyptischen Religionen und Religionsvorstellungen geschieht, die keineswegs einfach an der israelitisch-judäischen Religion vorbeigegangen sind. Die Königstheologie der wohl älteren Königspsalmen, die von der Gottessohnschaft des Königs (Ps 2,7) reden oder ihn sogar als »Gott« aufleben lassen (Ps 45,7), gibt von mangelnder Distanz beredte Kunde. Bei anderen großen Themen ägyptischer Religiosität wie der beliebten Theriomorphie von Gottheiten ist das ganz anders und so auch bei dem in Ägypten so wichtigen Thema des Jenseitsglaubens mit dem dort eingeschlossenen Gericht: weitgehend Fehlanzeige im Alten Testament.7 Mag sein, dass »ein erstes Bindeglied im königlichen Totenkult der vorexilischen Zeit zu finden ist«8 (die vorexilische Zeit endet mit der Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Neubabylonier 586 v. Chr.), aber Beweise gibt es dafür nicht. Ob das dann eine weitere Übernahme aus dem ägyptischen Raum bedeuten würde, mag angesichts des Totenkults für verstorbene Herrscher im älteren phönizischen Raum fraglich sein. An anderer Stelle haben wir jedenfalls einen neu interpretierten Text aus der vorexilischen Zeit um 700 v. Chr., nämlich Jes 22,15–19, der möglicherweise genau gegen ägyptisch inspirierte Bestattungsriten und entsprechende Totenverehrungspraktiken in der Jerusalemer Oberschicht polemisiert:9

7 Zur Besonderheit der ägyptischen »positive[n] Vorstellung von der Unterwelt«, und zwar »im Unterschied zu seinen altorientalischen Nachbarn«, vgl. Alexander Fischer, Der Tod im Alten Testa­ment und sein altorientalischer Kontext, in: Ulrich Volp (Hg.), Tod (= Themen der Theologie, Bd.  12), Tübingen 2018, S. 22–67, hier S. 27. Fischer bietet im ganzen Artikel einen gut gegliederten, facettenreichen Einblick in das Thema Tod rund um das Alte Testament. 8 Bernd Janowski, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen  – Kontexte  – Themenfelder, Tübingen 2019, hier S. 88–89, aber vgl. in dieser großangelegten Anthropologie auch das ganze Kapitel »Das Ende des Lebens«, S. 75–92. 9 Vgl. Christopher B. Hays, Re-Excavating Shebna’s Tomb: A New Reading of Isa 22:15–19 in its Ancient Near Eastern Context, in: Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft 122 (2010) S. 558– 575. Es geht in Jes 22 nicht um die Entfernung Schebnas aus dem Amt, sondern um die Zerstörung seiner ägyptisierenden Grabanlage. Im vorexilischen Jesaja-Buch erhalten Bestattungsbräuche insgesamt eine große und kontroverse Aufmerksamkeit, vgl. z.B. zum »Tophet« in Jes 30,27–33 auch Andreas Michel, Gott und Gewalt gegen Kinder im Alten Testament (= Forschungen zum Alten Testament 37), Tübingen 2003, S. 311, Anm. 327; vgl. auch Jes 14,4–23.



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So spricht der H e r r , der Gott der Heerscharen: Auf, geh zu diesem Verwalter, zu Schebna, dem Palastvorsteher! Wie kommst du dazu und wer bist du, dass du dir hier ein Grab ausgehauen hast? – Einer, der sich hoch oben sein Grab aushaut, sich im Felsen seine Wohnung ausmeißelt! – Siehe, der H e r r schleudert dich in hohem Bogen weg, Mann! – Er wickelt dich fest ein, knäult dich zu einem Knäuel zusammen – wie einen Ball in ein nach allen Seiten hin offenes Land. Dort wirst du sterben und dorthin kommen deine Prunkwagen, du Schande im Haus deines Herrn. Ich werde dich von deinem Posten stoßen und er wird dich aus deiner Stellung reißen.

Wir haben ohnehin mehrere Texte, die zum Beispiel massiv gegen die Beschwörung von Totengeistern, also die Praxis der Nekromantie auftreten, besonders prägnant etwa im Verbot von Dtn 18,10–11: »Es soll bei dir keinen geben, der seinen Sohn oder seine Tochter durchs Feuer gehen lässt, keinen, der Losorakel befragt, Wolken deutet, aus dem Becher weissagt, zaubert, Gebetsbeschwörungen hersagt oder Totengeister befragt, keinen Hellseher, keinen, der Verstorbene um Rat fragt.« Es spricht viel dafür, dass diese vorexilischen Texte einen religionsgeschichtlichen Stand der israelitischen Religion bezeugen, in der der Gott Israels überhaupt noch nicht gemeinsam mit den Toten gedacht werden konnte, geschweige denn in einen heilvollen Bezug mit ihnen getreten war. Der Bereich der Toten in der älteren israelitisch-judäischen Religion war nicht mit dem Gott des Lebens verbunden. Denselben musste sich dieser Gott, dem polytheistischen Referenzsystem nach und nach entwachsend, wie viele andere Bereiche in den Augen seiner Verehrer*innen erst erobern, man nennt das Kompetenzausweitung im Rahmen der Monotheisierung der Religion Israels. Wenn überhaupt, waren für den Tod und den Totenbereich im älteren vorexilischen religiösen Symbolsystem Israels andere Gottheiten zuständig. Sich den Toten zuzuwenden und damit mindestens implizit auch einer Totengottheit die Ehre zu erweisen, hätte im 7. Jahrhundert v. Chr. deshalb eine Verletzung der mittlerweile hart erkämpften Monolatrie, der Alleinverehrung des Gottes Israels, bedeutet. Wer starb, wanderte vielmehr in der üblichen Vorstellung in die Totenwelt, die Unterwelt, hebräisch Scheol. Die Vorstellung von dieser Unterwelt war von verschiedenen Akzenten geprägt: Die Unterwelt sei ein Gefängnis mit Toren und Riegeln, wo Finsternis herrsche und man in Fesseln liege, vgl. Ijob 38,17: »Haben dir sich die Tore des Todes geöffnet, hast du die Tore des Todesschattens geschaut?«, oder Ps  18,5–6: »Mich umfingen die Fesseln des Todes […]. Mich umstrickten die Fesseln der Unterwelt, über mich fielen die Schlingen des Todes.« Die Toten seien dort zur Passivität verurteilt, es herrsche dort bleierne Stille, vgl. Koh 9,10: »Es gibt weder Tun noch Rechnen noch Können noch Wissen in der Unterwelt.« Die bohrenden rhetorischen Anfragen in Ps 88,11–13 zeigen, dass es eine heilsame Kommunikation mit dem Gott des Lebens in der Totenwelt nicht mehr geben kann:

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Wirst du an den Toten Wunder tun, werden Schatten aufstehn, um dir zu danken? Erzählt man im Grab von deiner Huld, von deiner Treue im Totenreich? Werden deine Wunder in der Finsternis erkannt, deine Gerechtigkeit im Land des Vergessens?

Die Totenwelt liegt unten, in der Tiefe, die Vorstellung geht natürlich vom Grab aus. Dort bedrängen einen gewaltige chaotische Wassermassen, die auch ins Bild eines Meeresungeheuers mit einem Leib gesetzt werden können, vgl. Jona 2,3–4: »Aus dem Leib der Unterwelt schrie ich um Hilfe […]. Du hast mich in die Tiefe geworfen, in das Herz der Meere; mich umschlossen die Fluten, all deine Wellen und Wogen schlugen über mir zusammen.« In dieser Vorstellung ist die Unterwelt unersättlich und sucht in ihrem Rachen alles Lebendige zu verschlingen, vgl. Jes 5,14: »Darum hat die Unterwelt ihren Rachen weit aufgerissen und maßlos weit sperrt sie ihr Maul auf«, oder auch Hab 2,5: »Der hochmütige Held reißt […] wie die Unterwelt seinen Rachen auf und ist […] auch wie der Tod unersättlich.« Allerdings ist die Unterwelt auch keine Hölle in quasi spätmittelalterlicher Vorstellung, es gibt dort keine Höllenqualen, auch keine Strafen für die Verbrecher. Die Unterwelt ist der große Gleichmacher, in sie hinein gehen ja auch alle Verstorbenen, ungeachtet ihres gerechten oder ungerechten Lebenswandels. Für manchen zu Lebzeiten arg Malträtierten vermag die Unterwelt deshalb sogar ein geradezu erfreulicher Ort zu sein, das begründet Ijob 3,17–19: Dort hören Frevler auf zu toben, dort ruhen aus, deren Kraft erschöpft ist. Auch Gefangene sind frei von Sorgen, hören nicht mehr die Stimme des Treibers. Klein und Groß ist dort beisammen, der Sklave ist frei von seinem Herrn.

An sich ist die Todesexistenz zwar nicht erstrebenswert; wer freilich stirbt, für den ist es wichtig, in diesem Schattenreich nach dem Tod quasi aufgehoben und versiegelt zu sein, ohne Freuden und Beziehungen, eher öde und langweilig, aber eben auch ohne eigentliche Qualen oder Torturen. Die Macht des Gottes Israels ragte ursprünglich nicht in diesen Totenbereich hinein, sehr wohl aber die Macht des Todes in das diesseitige Leben. Insofern war die Grenze zwischen Leben und Tod sogar ins Diesseits verschoben, zuungunsten des Lebens. Schwere Krankheit bedeutete Berührung der Unterwelt, wie aus dem Bittruf an Gott in Ps 88,4–7 hervorgeht: Lass mein Bittgebet vor dein Angesicht kommen, neige dein Ohr meinem Rufen! Denn mit Leid ist meine Seele gesättigt, mein Leben berührt die Totenwelt. Schon zähle ich zu denen, die hinabsteigen in die Grube, bin wie ein Mensch, in dem keine Kraft mehr ist. Ausgestoßen unter den Toten, wie Erschlagene, die im Grab liegen, derer du nicht mehr gedenkst, abgeschnitten sind sie von deiner Hand.



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Eigentlich also war zwar der Bereich des Todes ein No-go-Bereich für den Gott des Lebens, deshalb zum Beispiel auch die Tabuerklärung des Totenbereichs für den Hohe­priester, vgl. Lev  21,11. Aber tatsächlich musste ja mit der alleinigen Durchsetzung Gottes, des H e r r n, im religiösen Symbolsystem Israels eine Kompetenzausweitung dieses Gottes einhergehen, eine Übernahme der Herrschaftsbereiche vormals ebenfalls kultisch verehrter oder persönlich anerkannter Gottheiten. Anders hätte die Einzigartigkeit und letztlich Einzigkeit des Gottes Israels auch nicht dauerhaft behauptet und plausibel gemacht werden können. Freilich hat diese Kompetenz­ ausweitung nirgendwo so lange gedauert wie im offenkundig hochproblematischen, teilweise tabuisierten Bereich des Todes. Möglicherweise liegt dabei in der eben genannten Grenzverschiebung zwischen Leben und Tod eine zentrale Bedingung der Möglichkeit für den Eingriff des Gottes des Lebens in die Totenwelt: Denn unter dieser Voraussetzung der anderen Grenzziehung zwischen Leben und Tod ins Diesseits hinein konnte man formulieren, dass »Gott aus dem Tod rettet«  – und zwar zunächst im Diesseits aus der bedrängenden Hand des Todes. Wenn man so will, ist die Voraussetzung für die aufkommende Idee eines erfreulichen jenseitigen Lebens zunächst die Erfahrung des höchst unerfreulichen diesseitigen Todes: Auf die vorausgehende Verdiesseitigung des Todes folgte also die Verjenseitigung des Lebens. Es sind dann nachexilische Psalmen des Alten Testaments in eher fortgeschrittener Zeit, die vielleicht sogar nicht mehr so lange vor dem Neuen Testament entstanden sind, die die aufkeimende Jenseitshoffnung betender Individuen mit Ps 73,24–26 so einfangen können: »Du leitest mich nach deinem Ratschluss, danach nimmst du mich auf in Herrlichkeit. Wen habe ich im Himmel außer dir? Neben dir erfreut mich nichts auf Erden. Mag mein Fleisch und mein Herz vergehen, Fels meines Herzens und mein Anteil ist Gott auf ewig.«10 Oder es sind Psalmen, die wie der sicher recht junge Ps 139,7–8 die Macht und Präsenz Gottes auch in der Scheol bekräftigen: »Wohin kann ich gehen vor deinem Geist, wohin vor deinem Angesicht fliehen? Wenn ich hinaufstiege zum Himmel – dort bist du; wenn ich mich lagerte in der Unterwelt – siehe, da bist du.« Man wird nicht umhinkommen anzunehmen, dass diese Entwicklung im Rahmen der Durchsetzung des Monotheismus eigentlich zwingend war.11 10 Daneben und davor gibt es Grab- bzw. Segensinschriften, die möglicherweise schon vorexilisch die »Dimension des über den Tod hinaus wirksamen Gottesschutzes« ( Janowski, Anthropologie [wie Anm. 8], S. 90) bezeugen, wenngleich eingeschränkt: »Auch wenn es bei diesen Inschriften nicht um die Hoffnung auf eine postmortale Existenz im Sinn der weisheitlich-apokalyptischen Texte geht, dürften die Vorstellungen, die in ihnen zum Ausdruck kommen, die Tendenz zu einer Annäherung von J H W H und Tod/Unterwelt mitbefördert haben« (ebd., S. 90). 11 In dieser Hinsicht ist die Beobachtung hochrelevant, dass mit der zunehmenden Unterscheidung zwischen Gott und Welt im Monotheismus die polytheistisch typische Grundunterscheidung zwischen Chaos und Kosmos an Bedeutung verliert bzw. der eine Gott eben auch für die Bereiche des Chaos

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Das ist freilich nicht der einzige Triggerfaktor für die Entwicklung von Ideen über den Tod hinaus. Neben diesen eher individuell-weisheitlichen Pfaden waren es wohl kollektive Erfahrungen (und Deutungen) von sozial-ökonomischer, politischer und religiöser Bedrohung und Gewalt ab dem 3. Jahrhundert v. Chr., die zu differenzierenden apokalyptischen Jenseitserwartungen führten, weil das diesseitige Leben nicht aufging. Die vielleicht älteste Formulierung mag in Jes 26,19 vorliegen: »Deine Toten werden leben, meine Leichen stehen auf. Wacht auf und jubelt, ihr Bewohner des Staubes!« Aber unabhängig vom Alter: Jes 26 ist schon deswegen so interessant, weil die griechische Übersetzung des hebräischen Textes in der sogenannten Septuaginta die Jenseitshoffnung mit jenen beiden Verben ausdrückt, die auch im Neuen Testament die diesbezüglichen Leitverben werden, nämlich »auf(er)stehen« (ἀνί­ στημι) und »auf(er)wecken« (ἐγείρω). Die vielleicht aufschlussreichste, auch relativ alte Formulierung (Ende 3.  Jahrhundert  v.  Chr.) findet man freilich außerbiblisch, im allerdings auch neutestamentlich sehr beliebten Wächterbuch, dem 22. Kapitel des äthiopischen Henoch.12 Danach gibt es in der Unterwelt vier verschiedene Höhlen bzw. Kammern zur Aufbewahrung der »Geister der Toten«, angedacht ist also schon so eine Art Warteraum bzw. Wartezeit oder »Fegefeuer«: Erstens eine Höhle für die »Geister der Gerechten«, die nach ihrem tatsächlich guten und gelungenen Leben nichts zu klagen haben; ihr Leben ist ausgeglichen, sie erfahren wahrscheinlich keine Auferweckung, weil ihr Leben aufgegangen ist. Zweitens eine Kammer für die »Geister der Sünder«, über die »ein Gericht […] in ihrem Leben nicht stattgefunden hat«; sie erfahren eine Auferweckung, freilich nicht zum Guten, während drittens die »Geister der Klagenden«, insbesondere der unschuldig Ermordeten, eine Auferweckung zum Guten erleben. Für die »Geister der Menschen«, die Sünder gewesen sind, aber gleichwohl schon im diesseitigen Leben zu den »Bedrückten« zählten, braucht es viertens ebenso wenig eine Auferweckung wie bei der erstgenannten Gruppe, weil sie den Ausgleich im diesseitigen Leben ja schon erhalten haben. Auf diesem Hintergrund lässt sich dann der alttestamentliche Kernbeleg für die Jenseitserwartung(en), nämlich Dan 12,2 aus dem Anfang des 2. Jahrhunderts v. Chr., viel zuständig werden muss, also auch für den Tod, vgl. dazu immer noch Fritz Stolz, Einführung in den biblischen Monotheismus, Darmstadt 1996, z.B. S. 174 (im Zusammenhang mit dem Monotheismus Deuterojesajas). 12 Die Interpretation folgt den Überlegungen und der Textwiedergabe von Klaus Bieberstein, Vom Verlangen nach Gerechtigkeit zur Erwartung einer Auferweckung von Toten. Noch einmal zum Problem der Theodizee, in: Erasmus Gass, Hermann-Josef Stipp (Hg.), »Ich werde meinen Bund mit euch niemals brechen!« (Ri 2,1). Festschrift für Walter Groß zum 70. Geburtstag (= Herders Biblische Studien, Bd. 62), Freiburg u. a. 2011, S.  297–313, hier S.  306–308. Bieberstein folgt seinerseits der Übersetzung von Marie-Therese Wacker, Weltordnung und Gericht. Studien zu 1 Henoch 22 (= Forschungen zur Bibel 45), Würzburg 1982, S. 95–96.



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präziser verstehen, wo wohl doch nur die Fälle unausgeglichenen Lebens im Diesseits besprochen werden (»viele«), also noch keine »allgemeine« endzeitliche Totenerweckung erwartet wird: »Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu.« Noch einmal hundert Jahre später wird 2  Makk  7,14 dann den vierten der sieben gemarterten jüdischen Brüder zu Antiochus IV. sprechen lassen: »Gott hat uns die Hoffnung gegeben, dass er uns auferstehen lässt. Darauf warten wir gern, wenn wir von Menschenhand sterben. Für dich aber gibt es keine Auferstehung zum Leben.« Es sind also apokalyptische Vorstellungen von einer doppelten Auferweckung  – und wohl zunächst einer sozusagen doppelten Nichtauferweckung, wenn nämlich das diesseitige Leben aufgegangen ist –, die um der Gerechtigkeit für Opfer wie Täter willen entwickelt wurden, vor allem aus Opferempathie und Leidempfindlichkeit heraus und nicht um menschliche Selbstverewigungswünsche zu befriedigen. Diese apokalyptische Sichtweise eröffnete die Hoffnung auf ein jenseitiges, ein ewiges Leben als Kompensation für ein nichterfülltes diesseitiges, sozusagen den »Himmel«. Sie drohte aber gleichzeitig mit der Potenzierung des Todes, erfindet also mit dem jenseitigen, dem »ewigen« Tod sozusagen die »Hölle«, und zwar für die verbrecherischen Täter*innen.

3. Die zwischentestamentlich-neutestamentliche Nachgeschichte

Die Auferweckung Jesu von Nazaret als eines gewaltlosen, leidenden Gerechten gilt im Neuen Testament dann als definitive Durchsetzung der Herrschaft Gottes über menschliche Gewalt, vor allem aber über die Macht des Todes.13 Speziell die älteste markinische Darstellung ist vom noch vorneutestamentlichen Weisheitsbuch geprägt (1. Jahrhundert v. Chr.), das in Weish 2,10–20 die frevlerischen Täter*innen über die Gerechten folgendermaßen sprechen lässt: Lasst uns den Gerechten unterdrücken, der in Armut lebt, die Witwe nicht schonen und das graue Haar des betagten Greises nicht scheuen! Unsere Stärke soll bestimmen, was Gerechtigkeit ist; denn das Schwache erweist sich als unnütz. Lasst uns dem Gerechten auflauern! Er ist uns unbequem und steht unserem Tun im Weg. Er wirft uns Vergehen gegen das Gesetz vor und beschuldigt uns des Verrats an unserer Erziehung. Er rühmt 13 Die vielfältigen Positionen des Neuen Testaments zum Thema des Todes und vor allem zur Deutung des Todes Jesu müssen hier noch pauschaler herangezogen werden als diejenigen des Alten Testaments, vgl. deshalb z.B. jüngst Manuel Vogel, Der Tod im Neuen Testament vor dem Hintergrund antiker ars moriendi, in: Ulrich Volp (Hg.), Tod (= Themen der Theologie, Bd. 12), Tübingen 2018, S. 68–127.

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sich, die Erkenntnis Gottes zu besitzen, und nennt sich einen Knecht des Herrn. Er ist unserer Gesinnung ein Vorwurf, schon sein Anblick ist uns lästig; denn er führt ein Leben, das dem der andern nicht gleicht, und seine Wege sind grundverschieden. Als falsche Münze gelten wir ihm; von unseren Wegen hält er sich fern wie von Unrat. Das Ende der Gerechten preist er glücklich und prahlt, Gott sei sein Vater. Wir wollen sehen, ob seine Worte wahr sind, und prüfen, wie es mit ihm ausgeht. Ist der Gerechte wirklich Sohn Gottes, dann nimmt sich Gott seiner an und entreißt ihn der Hand seiner Gegner. Durch Erniedrigung und Folter wollen wir ihn prüfen, um seinen Gleichmut kennenzulernen und seine Widerstandskraft auf die Probe zu stellen. Zu einem ehrlosen Tod wollen wir ihn verurteilen; er behauptet ja, es werde ihm Hilfe gewährt.

Für das Markus-Evangelium wird entscheidend sein, dass Gott diesen Plan der Gegner Jesu, in Vers 20 konzentriert, durchkreuzt und heilvoll am toten Gekreuzigten handelt. Die Auferweckung bzw. Auferstehung Jesu wird dann zum Fanal der Auferweckung der Christusgläubigen, wie es etwa Paulus in 1 Thess 4,14 zum Ausdruck bringt: »Denn wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, so wird Gott die Entschlafenen durch Jesus in die Gemeinschaft mit ihm führen.« So kann man nur am Ende eines langen Prozesses von Reinterpretation und Neuinterpretation reden. Von einem Text wie Gen 2–3 führt kein direkter Weg zu solchen neutestamentlichen »Spitzenaussagen«. Tatsächlich konkurrieren beide Texte, je für sich betrachtet, die Paradieserzählung im Alten und die Auferstehungs/ Auferweckungstexte im Neuen Testament, nicht unerheblich miteinander. Zwischen beiden liegt aber auch ein Denkweg, der das Jenseits eröffnet hat. Gleichzeitig hat sich die Sicht Späterer auf die Paradieserzählung geändert, und das sieht man sehr schön, wenn man die Fortsetzung des oben genannten Textes aus dem Weisheitsbuch liest, vgl. Weish 2,21–24: So denken sie, aber sie irren sich; denn ihre Schlechtigkeit macht sie blind. Sie verstehen von Gottes Geheimnissen nichts, sie hoffen nicht auf Lohn für Heiligkeit und erwarten keine Auszeichnung für untadelige Seelen. Denn Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht. Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt und ihn erfahren alle, die ihm angehören.

Hier liegt offensichtlich eine grundlegende, tatsächlich freilich schon länger vorbereitete Neuinterpretation von Gen 2–3 vor, mit folgenden Ingredienzen: Die kluge Schlange ist zum bösartigen Teufel mutiert. Aus einer Adoleszenzerzählung mit all ihrer Komik und Tragik ist – gegen den ursprünglichen Text – die Sündenfallgeschichte geworden: Der Teufel verführt ja zur Sünde. Unter monotheistischer Rahmung und auch mit hellenistischer Unterfütterung ist der Mensch nicht mehr kreatürlich sterb-



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lich von allem Anfang an, sondern eigentlich – für das Paradies – unvergänglich geschaffen. Das Diesseits gerät eigentlich ganz aus dem Blick, der – natürliche, diesseitige – Tod spielt eigentlich keine Rolle mehr, sondern das Thema des ewigen Todes, der durch die Sünde getriggert wird. Tod und Sünde sind Begriffe, die bei Paulus ständig in einem Satz bzw. Vers fallen, angefangen mit Röm 5,12. Hier kippen dann auch die Opferempathie und Leidempfindlichkeit der Apokalyptik in eine alles dominierende Sündenempfindlichkeit, noch dazu im Gewand einer durchaus schon traditionellen, misogynen Neuinterpretation von Gen 1–3, vgl. dazu 1 Kor 11,3.7–9 oder 1 Tim 2,14; vorneutestamentlich, aus der Zeit um 200 v. Chr., vgl. schon Sir 25,24: »Von einer Frau kommt der Anfang der Sünde und durch sie sterben wir alle.« Auch deshalb kann – in diesem antik-androzentrischen Kontext – die ewige Gottesbeziehung die Oberhand über die mensch-menschliche Beziehung gewinnen, die in Gen 2 als so zentral entwickelt worden war. Wer auch immer nach der oben vorgestellten Interpretation der Mehrzahl der alttestamentlichen Texte das Jenseits vermisst oder die Dominanz des Diesseits vielleicht kritisiert haben wird: In dieser neuen und schon zwischentestamentlich vorbereiteten Interpretationslinie, die speziell Paulus als Exeget natürlich gern übernimmt, droht das Umgekehrte, die mögliche Überwältigung des Diesseits durch das Jenseits. Jedenfalls ist – selbstverständlich unter veränderten soziokulturellen und so auch hermeneutischen Rahmenbedingungen – Gen 2–3 jetzt ziemlich genau von den Füßen auf den Kopf gestellt. Freilich: Solche Vielstimmigkeit, Widersprüchlichkeit oder auch Ambiguität ist nicht unerträglich, sondern eigentlich ein großer Schatz für die Lektüre all dieser biblischen Texte in einer pluralen Gesellschaft. Mag gut sein, dass für manch modernen Menschen eine vergleichsweise radikale Diesseitskonzeption wie im ursprünglichen Text von Gen 2–3 und ohne die überholten binären Codes14 mehr zumindest intellektuellen Charme hat als spätere neutestamentliche oder christentumsgeschichtliche Neuinterpretationen; zumal dann, wenn vom menschlichen Tod radikal unmythisch und ausgesprochen nüchtern als Annihilierung15 gesprochen wird, wie etwa in Koh 9,5–6: Ja, die Lebenden erkennen, dass sie sterben werden; die Toten aber erkennen nichts mehr. Sie erhalten auch keinen Lohn mehr, denn die Erinnerung an sie ist in Vergessenheit versunken. Liebe, Hass und Eifersucht gegen sie, all dies ist längst erloschen. Auf ewig haben sie keinen Anteil mehr an allem, was unter der Sonne getan wurde. 14 Das mitmenschliche Beziehungsleben binärgeschlechtlich zu codieren, vermeidet das gleich zu nennende Koheletbuch ebenfalls, und zwar in Koh 4,11–12, im Rekurs auf Gen 2: »Außerdem: Wenn zwei zusammen schlafen, wärmt einer den andern; einer allein – wie soll er warm werden? Und wenn jemand einen Einzelnen auch überwältigt, zwei sind ihm gewachsen und eine dreifache Schnur reißt nicht so schnell.« 15 Vgl. dazu die Überlegungen von Fischer, Tod, S. 47–48 (wie Anm. 7) unter »5.3 Der radikale Tod (Kohelet)«.

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Erzählen vom Ende – vom Ende des Erzählens: Todesarten der volkssprachlichen Erzählliteratur im hohen Mittelalter 1. Zur Einführung: Erzählen vom Tod, intermedial

In seinem 2019 in die Kinos gekommenen Film »Once upon a Time in Hollywood« widmet sich der Regisseur Quentin Tarantino jenen über populäre Gattungen des Spielfilms eingeschliffenen Formen von Sterben, Gewalt und Tod, die unsere Sichtweisen auf das Ende des Lebens sehr nachhaltig prägen. Dabei setzt er bei einer Filmgattung an, die bereits seit Beginn des letzten Jahrhunderts den Mythos von der Eroberung des (wilden) Westens in den Vereinigten Staaten in das kollektive Bewusstsein zu tragen wusste, dem Western.1 Tarantino nimmt die große Zeit des Genres in den Blick, die 1960er Jahre.2 Ausgehend vom sogenannten Spät- und Italo-Western führt er uns dessen eigene Darstellungsmuster von Gewalt und Tod im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen, die unzählige Produktionen seither in Serie hervorgebracht haben. Dazu dient eine am Reißbrett erdachte Handlung, deren Simplizität sich aus der Adap­tation vertrauter Schemata und Topographien der Gattung selbst ergibt. Zu diesen gehören der Antagonismus zwischen wehrhaftem Cowboy oder Sheriff und skrupellosem Bösewicht, Revolver- und Faustkämpfe zwischen den Parteien, der Schutz unschuldiger Frauen sowie ein Shootout oder Showdown am Ende der Ereigniskette ebenso wie als Orte der Handlung das Fort oder die kleine Stadt, der Saloon, die weite Landschaft und dergleichen.3 Doch sind westernspezifische Figurenkonstellationen, Ereignisse und Topographien dem Film konsequent als Zitate inseriert, denn Tarantinos Figuren sind nicht Cowboy und Sheriff, sondern deren in Westernproduktionen befindliche Darsteller, womit die Hollywoodschauspieler die eigentlichen Protagonisten der Handlung sind. Auf der Grundlage einer Ereigniskette, die Arbeit und Alltag der Schauspieler und Stuntleute in entsprechenden Kulissen verfolgt, ge1 Der Titel des Films knüpft an Filmtitel Sergio Leones an (»Once upon a Time in America«, 1984; »Once upon a Time in the West«, 1968). In Referenz auf den berühmten Regisseur situiert Tarantino sein Werk im Kontext des Italo-Western. Vgl. dazu Susanne Kaul, Jean-Pierre Palmier: Quentin Tarantino. Einführung in seine Filme und Filmästhetik, 3. Aufl., München 2022, S. 163. 2 Zur Geschichte des Western vgl. den Eintrag »Western« bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/ Western (letzter Zugriff: 08.03.2022). 3 Vgl. dazu ebd.

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neriert Tarantino eine produktive Doppelbödigkeit des erzählten Geschehens. Diese erzwingt von den Rezipierenden des Films eine reflektierende gegenüber einer dem Genre zwingend zugehörigen identifizierenden Wahrnehmung des Gezeigten. Der Film stellt die sich mit den Figurenkonstellationen und Ereignisfolgen des Westerns verbindenden Sinnangebote aus, indem er durch die partielle Anlage des Geschehens als Film im Film das exponiert, was sich in den stereotyp inszenierten Handlungsfolgen des Genres in der Regel wie von selbst und erwartungsgemäß ereignet. Der so erzeugte selbstreferentielle Blick auf den Western richtet sich auf seine Mythenproduktion und damit auf jene kulturell wirksamen Narrative, deren Wiederholung in Endlosschleifen der Serie, Gewalt, Töten und Sterben als legitime Mittel zur Restitution einer gerechten sozialen Ordnung ausweist. Tarantino reichert überdies seine Filmerzählung um den abgehalfterten Star von Westernserien, Rick Dalton (Leonardo di Caprio), und seinem Stuntmen, Cliff Booth (Brat Pitt), um eine historische Gewalttat an, indem er einen der spektakulärsten historischen Kriminalfälle der USA aufgreift, den Mord an der Schauspielerin Sharon Tate und ihren Freund*innen im August des Jahres 1969 durch eine ideologisierte Hippiegruppe um Charles Manson (die »Manson-Family«).4 Die fiktive, ja nahezu banale Erzählung von den Problemen eines im Abstieg der Karriere befindlichen Hollywoodstars und seiner Freundschaft zu seinem Stuntman ist mithin eingebettet in ein reales Setting. Von hier aus entfaltet sich eine gekonnt inszenierte Filmerzählung, die der Wirkung medialer Mythisierungen gewaltsamer Tötungsakte auf der Schnittstelle von Fiktion und Realität gilt und die schließlich beide Erzählstränge in einem im Titel prognostizierten Märchenschluss zusammenführt: In einer kontra­ faktisch angelegten Filmerzählung, deren Sinn sich vom Ende her erschließt, kulminiert das Geschehen im Shootout einer bestialischen Darstellung der mordenden Manson-Bande. In der Konfiguration mit den Narrativen des Western vollzieht sich die filmische Inszenierung bestialischen Mordens bei Tarantino dabei nicht an Sharon Tate und ihren Freunden*innen, sondern an ihrem Nachbarn Rick Dalton, dem Westernhelden, und seinem Gefährten, Booth. Ersterem gelingt es mit einer aus Filmrequisiten zuhandenen Waffe, die Bande zu töten. Am Ende obsiegt das Gute über das Böse, der Held erlangt Respekt bei der Geretteten (Sharon Tate), der Kumpane Booth ist nur leicht verletzt, die Schurken sind vernichtet, wie es sich für einen guten Western gehört. Das Wissen um die realen Folgen der mordenden Manson-Bande bei den Zuschauer*innen indes lässt im Schluss ein Märchen erkennen, dessen Sinngebungsangebote die Frage nach der Sinnlosigkeit eines nicht zu bändigenden Gewalthandelns, für die der Manson-Mord steht, eben nicht in Gänze stillzustellen vermag. 4 Zur »Verknüpfung fiktiver Elemente mit historischen Personen und Ereignissen« vgl. Kaul, Palmier, Tarantino (wie Anm. 1), S. 168f.



Erzählen vom Ende – vom Ende des Erzählens

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In seinem Film weist Tarantino narrative Verfahren als kulturell etablierte Bewältigungsformen aus, die Tod und Sterben mythisieren, mithin mit einem Sinn versehen und auf diese Weise die Einstellungen des Menschen zum Lebensende nachhaltig zu prägen vermögen.5 Diese Verfahren werden über Wiederholung manifest. Der Western ist in diesem Zusammenhang nur eines der verfügbaren Medien, die Kulturen seit jeher bereitstellen, um das begründen und begreifen zu können, was dem Menschen unverfügbar bleibt: Sterben und Tod. Ende und Anfang als »anthropologische Kategorien« erfordern, so hat es Udo Friedrich beschrieben,6 kulturelle Bewältigungsformen und damit Zuschreibungsoperationen und Begründungspraktiken, die, jenseits des Rationalen angesiedelt, das Unfassliche mit einem Sinn zu versehen vermögen. In diesem Zusammenhang kommt dem Erzählen in allen Kulturen und zu allen Zeiten wohl eine herausragende Funktion zu. Betrachtet man die Biographie des Menschen und die an sie gebundene lineare Zeitstruktur des »Lebensweges« als »geradezu natürliche[s] Modell des Erzählens«, so ergeben sich Anfang und Ende als »Grenzmarken der Zeitlichkeit«, die sich zu »komplexen geschichtsphilosophischen Sinnfiguren, zu Metanarrativen« ausbauen lassen,7 denn nicht nur das Subjekt hat »Ursprung und Ziel, sondern auch die Gemeinschaft: die Sippe, die Nation oder die Menschheit insgesamt«.8 Dass dem Erzählen die Bewältigung der blinden Flecke von Anfang und Ende obliegt, die im Mythos je eigene Verschränkungen erfahren, lässt sich bei Tarantino gut fassen. Sein Filmkunstwerk hat Anteil an jenen historischen Formen des Erzählens, die bereits das Mittelalter ausgebildet hat. Die Ausrichtung der Filmhandlung am Shootout, also am Märchenschluss des Western, partizipiert an Charakteristika vormoderner Erzählverfahren, die ebenfalls vom Ende der Erzählung aus ihre Logik und ihren Sinn entfalten.9 Bei Tarantino fließen erst am Schluss die beiden Erzählstränge (historischer Kriminalfall und dekonstruiertes Westerngenre) zusammen, und erst von hier aus entsteht der Sinnzusammenhang, den die Filmhandlung der scheinbar unverbunden nebeneinander herlaufenden Erzählstränge generiert. Zugleich aber markiert die Vernichtung der Manson-Bande im Narrativ der Rettung der zu schützenden Frau und der sich anbahnenden Freundschaft von Retter und Geretteten einen neuen Anfang. Doch während bei Tarantino der Märchenschluss als Remedium nur unzureichend gegen die Unerträglichkeit jener Kontingenz anerzählt, als die Moderne und 5 Vgl. dazu grundlegend Phillipe Ariès, Geschichte des Todes, München 1980. 6 Udo Friedrich, Erzählen vom Tod im ›Parzival‹. Zum Verhältnis von epischem und romanhaftem Erinnern im Mittelalter, in: Historische Narratologie – mediävistische Perspektiven, hg. von Harald Haferland, Matthias Meyer, Berlin u. a. 2010, S. 385–414, hier S. 385. 7 Ebd., S. 385. 8 Ebd., S. 386. 9 Vgl. dazu ebd., S. 386, mit weiterführender Literatur.

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Postmoderne die Sinnlosigkeit von Gewaltverbrechen identifizieren, sind die Finalität mittelalterlichen Erzählens und mit ihr das Erzählen vom Tod sowie Sterben und Tod selbst in einen anderen diskursiven und kulturellen Kontext eingebettet. Nicht die unerträgliche Kontingenz von Verbrechen, Gewalt und Tod ist hier Anlass des Erzählens sowie Grundlage auch seiner Formen, sondern das, was Alois Haas als das Apriori des »sich auf die neutestamentliche Offenbarung abstützenden Jenseitsglauben[s]«10 bezeichnet hat. Das Christentum fängt die Leerstelle des Todes, fängt das Unverfügbare bekanntlich in einer Lebens-Erzählung ab, die mit der Verheißung auf ein jenseitiges, immerwährendes Sein dem Leben erst im Tod Sinn, Ziel und finale Richtung gibt. Dafür stehen Leben und Sterben Jesu. Seine Leiden und sein Tod sind Voraussetzung einer Erlösung, an der alle Menschen im Glauben teilhaben können.11 Die Kraft der »christlichen Imaginationskräfte zur Ausgestaltung einer jenseitigen Raum-Zeit-Dimension«,12 von der Alois Haas spricht, erzeugt gegenüber der Existenz im Diesseits ein Jenseits, das Ewigkeit und damit ein Ende ohne Schrecken verheißt, indem sie die Endlichkeit irdischen Lebens in die Ewigzeitlichkeit des himmlischen zu überführen vermag. Die für die Gemeinschaft verbindliche Verknüpfung von Tod und Erlösung, die in der Passion textuelle Gestalt angenommen hat und die im Ritus der Eucharistie gegenwärtig ist, wird in der markanten Topographie der vier letzten Dinge fasslich. Mit dieser ist der Tod auf der Grundlage einer Ausdeutung einer Ecclesiasticus-Stelle versehen (»In omnibus operibus tuis memorare novissima tua, et in aeternum non peccabis«).13 Als letzte Dinge gelten dem Christentum Tod, Gericht, Hölle und Himmel.14 Die vier letzten Dinge sind also, so Alois Winklhofer, keine »Dinge«, sondern »Vorgänge, Ereignisse sowie durch die Ereignisse begründete Zustände. Sie geschehen am einzelnen Menschen, an der Menschheit, an der Schöpfung als einem Ganzen und setzen ein Ende, nicht in dem Sinne eines Schlusspunktes, sondern einer End- und Vollendungsgestalt.«15 Tod und Gericht sowie auch 10 Alois M. Haas, Der geistliche Heldentod, in: Tod im Mittelalter, hg. von Arno Borst, Gerhart von Graevenitz, Alexander patschovsky, Karlheinz Stierle, Konstanz 1993, S.  169–190, hier S. 169. 11 Zum Glauben als Voraussetzung der Erlösungsverheißung vgl. Alois M. Haas, Todesbilder im Mittelalter. Fakten und Hinweise in der deutschen Literatur, Darmstadt 1989, S. 22. 12 Haas, Heldentod (wie Anm. 10), S. 169. 13 Jesus Sirach (oder Ben Sira, der Siracide, das Sirachbuch, abgekürzt Sir) gehört zu den sog. Spätschriften des Alten Testaments. Das Buch ist nach seinem Autor benannt, der um 190/180 v. Chr. in Jerusalem die hebräische Urfassung niederschrieb, zit. n. Haas, Todesbilder (wie Anm. 11), S. 32. 14 Eine prominente bildkünstlerische Darstellung der vier letzten Dinge ist die Hieronymus Boschs, Die sieben Todsünden und die vier letzten Dinge, 1500–1525, https://de.wikipedia.org/wiki/Die_ vier_letzten_Dinge (letzter Zugriff: 08.03.2022). 15 Alois Winklhofer, Das Kommen seines Reiches. Von den letzten Dingen, Frankfurt a. M. 1959, S. 11.



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das Leben selbst sind durch die Vorstellung von den letzten Dingen als Durchgangsstadien gefasst, als von der Gottesfürchtigkeit der Sterbenden, häufig auch von deren Willen zur Umkehr, zur in der conversio möglichen Hinwendung zu Gott, abhängiger Übergang von der Zeitlichkeit des Diesseitigen zur Überzeitlichkeit ewigwährender Existenz, sei es im Himmel oder in der Hölle. Die Zeitkonzeption, die sich daran knüpft, ist die der Heilsgeschichte. In der Providenz, im Vorherbestimmten und im Ende, das zugleich einen Anfang verheißt, nimmt sie der Unerträglichkeit des Todes die Spitze, indem dieser nur Voraussetzung ist für ein ewiges Leben in Gott. Zugleich aber modelliert die Vorstellung von den letzten Dingen die Lebenserfahrung der Menschen sowie Form, Struktur und Inhalt ihrer Erzählungen vom Leben, denn sie gewinnt als Paradigma einer jederzeit möglichen Endzeit eine Dringlichkeit, die die Lebenszeit des Menschen so durchherrscht, daß die Zeit in ihren winzigsten und auch banalsten Einheiten immerfort in das als Ewigkeit konzipierte Jenseits offen ist.16

Von dieser Vorstellung aus gewinnt das christliche Leben im Mittelalter (und auch darüber hinaus) die entscheidende Direktive, nämlich die, des eigenen Sterbens stets eingedenk zu sein. Ihre Internalisierung durch die Gläubigen bewirkt, dass ihnen auch der im Mittelalter so gefürchtete jähe Tod (mors repentina, mors subita) nichts anhaben kann.17 Und umgekehrt nützt es, so steht es im zweiten Buch als Nr. 102 im »Elucidarium« zu lesen, den Bösen auch nichts, wenn sie gemütlich im Bett sterben.18 Mittelalterliche Totentänze, Antichrist- und Weltgerichtsspiele, Contemptus-mundiund Ars-moriendi-Schriften, Exempelliteratur und Visionserzählungen generieren in einer »merkwürdigen Amalgamierung von Gericht, Himmel und Hölle« das Memento mori als substantielle Voraussetzung christlicher Lebensführung.19 Von ihnen soll hier nicht die Rede sein. Stattdessen interessieren mich die christlichen Semantisierungen des Todes als Grundlage und Kontext jener narrativen Mythisierungsverfahren des Lebensendes, 16 17 18 19

Haas, Heldentod (wie Anm. 10), S. 170. Vgl. dazu Ariès, Geschichte des Todes (wie Anm. 5), S. 19f. Vgl. dazu Haas, Heldentod (wie Anm. 10), S. 170. Haas, Todesbilder (wie Anm. 11), S. 32f. Zu mittelalterlichen Sterberitualen sowie christlich geprägten Formen der Reflexion auf die Vergänglichkeit des Menschen vgl. etwa Norbert Ohler, Sterben und Tod im Mittelalter, München, Zürich 1990; Arno Borst u. a. (Hg.), Tod im Mittelalter, Konstanz 1993; Christian Kiening, Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle zur frühen Neuzeit, München 2003; Svenja Fahr, Timo Felber: Konzeptualisierungen des Todes. Deutungsmuster der Vergänglichkeit in den volkssprachigen Troiana-Romana-Erzählungen des 12.  Jahrhunderts, in: Euphorion 112 (2018), S. 297–322, hier S. 297f. mit weiterführender Literatur.

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wie sie die volkssprachlichen erzählenden Genres des Mittelalters hervorgebracht haben, denn es ist das Apriori der christlichen Thanatologie, es ist die durch die »phantasierende Glaubensvernunft aktualisierte Vorausnahme des Sterbens im Leben«,20 die Akzentuierung des Todes als Anfang neuen, ewigen Lebens, die auch die volkssprachliche Erzählliteratur imprägniert und ihre Sinngebungs- und Mythisierungsverfahren durchsetzt. Die sehr unterschiedlichen diskursiven Horizonte, die ihre Konkretisierung in unterschiedlichen Gattungen steuern, zeigen auf beeindruckende Weise, dass Literatur mehr ist als allein ein Medium zur Reflexion sozialer Umstände, mehr als nur ein Spiegel ihrer Zeit, mehr als nur eine historische Quelle, die uns Auskunft erteilte über die Art und Weise des mittelalterlichen Sterbens und die Vorstellungen und Einstellungen, die mit der Todeserfahrung und bedrohung einhergingen. Die erzählenden Gattungen erweisen sich – wie auch der Western – vielmehr als Inkubatoren, die im lizensierten Raum der Narration für das kollektive Bewusstsein Todesarten generieren, die die symbolische Ordnung vieler Jahrhunderte nachhaltig zu prägen vermochten. In diesem Zusammenhang, und das soll meine kleine Beispielreihe demonstrieren, entfernen sich die volkssprachlichen Gattungen kalkuliert von den Leitlinien einer christlichen Moraldidaxe, die eine Lebensführung in der Christusnachfolge als Voraussetzung ewigen Lebens nahezulegen sucht.

2. Opfertod? Christlicher Jenseitsglaube und höfische Lebensführung in Hartmanns von Aue »Der arme Heinrich«

Dies an einem ersten Beispiel zu demonstrieren, dient mir die kleine Erzählung vom »Armen Heinrich« des Autors Hartmann von Aue, in der die christliche Semantisierung des Todes im Leben in je unterschiedlichen Konkretionen als Anlass und thematisch-diskursiver Schwerpunkt eine herausragende Rolle spielt. Der außergewöhnliche Text, der um 1190 entstanden ist, siedelt sein Geschehen an der Schnittstelle geistlicher und weltlicher Diskurse an.21 Er erzählt in zwei – besonders in der Gestaltung der Schlusspartie  – deutlich voneinander abweichenden Versionen die Aussatzheilung des in Schwaben ansässigen Adeligen Heinrich. Diese Heilung ist als Folge einer Bekehrung (conversio) motiviert, die wiederum durch die Bereitschaft einer jungen Meierstochter ausgelöst wird, für Heinrich, ihren Herrn, das eigene Leben zu opfern. Doch als schon die Messer zur Opferung gewetzt werden, hält der Blick Heinrichs auf den bereits gefesselten Mädchenkörper ihn von dem Vollzug des jung20 Haas, Heldentod (wie Anm. 10), S. 170. 21 Zu Entstehung und quellengeschichtlicher Verortung des »Armen Heinrich« vgl.: Christoph Cormeau, Hartmann von Aue, in: 2VL, Bd. 3, 1981, Sp. 500–520, hier Sp. 502 und 513.



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fräulichen Blutopfers ab, und es ist gerade dieser Verzicht, der seine Heilung bewirkt. Schon diese kleine Inhaltsskizze lässt erkennen, dass die Erzählung das christliche Apriori, den Jenseitsglauben und die Frage nach dem rechten, christusförmigen Weg zum ewigen Heil zu ihrem thematischen Zentrum macht und an den unterschiedlichen Lebensentwürfen seiner beiden Protagonistenfiguren konkretisiert. Struktur und inhaltliche Gestaltung der vieldeutigen Erzählung verdanken sich, so Kurt Ruh, der kompilierenden Adaptation verschiedener Legendentypen, die die Heilung von Aussatzerkrankungen an Blutopfer von Kindern binden.22 In einem Fall erwirkt der Verzicht auf das Opfer die Heilung des Kranken, im anderen Fall wird das Opfer vollzogen, der Kranke geheilt, und die geopferten Kinder werden von Gott wieder zum Leben erweckt. Bei Hartmann dient die Replik auf diese legendarischen Erzählschemata indes nicht der narrativen Darstellung einer göttlichen Begnadung angesichts der Glaubensfestigkeit der Protagonisten. Der Autor entfaltet sein erzähltes Geschehen vielmehr in einem höfischen Milieu und konfrontiert damit die über die Legende eingespielten Inhalte und Darstellungsformen mit weltlich-höfischen. An Heinrich und der Meierstochter akzentuiert der Text zwei voneinander abweichende Modelle vom Tod im Leben. Da ist der Herzog: Ganz und gar mit den Eigenschaften eines höfischen Adeligen versehen, dem die Herzen seiner Untertanen zufliegen, und dem Weltleben verpflichtet, ereilt diesen die tödliche Krankheit. Der Text referentialisiert den Aussatzbefall Heinrichs als Prüfung Gottes: Der Erzähler stellt das plötzliche Auftreten der Krankheit mehrfach in den Horizont des christlichen Memento mori und verleiht der Dignität des Gebots, sich der eigenen Sterblichkeit bewusst zu sein, durch das Zitat einer Antiphon Notkers von St. Gallen aus dem 9. Jahrhundert in lateinischer Sprache zusätzlichen Nachdruck: »mêdiâ vîtâ in morte sûmus«. daz bediutet sich alsus, daz wir in dem tôde sweben, sô wir aller bast waenen leben.23 22 Zur Kompilation mittelalterlicher Aussatzlegenden in der Erzählung vgl. bes. Kurt Ruh, Hartmanns ›Armer Heinrich‹. Erzählmodell und theologische Implikationen, in: ders.: Kleine Schriften, Bd. 1, hg. von Volker Mertens, Berlin, New York 1994, S. 23–37, hier S. 24f. Vgl. dazu außerdem: Monika Schausten: Zwischen Wissen, Neugierde und Glauben. Von der produktiven Kraft des (Ver)Irrens in Hartmanns von Aue Der arme Heinrich, in: Anthropologie der Kehre. Figuren der Wende in der Literatur des Mittelalters (= Literatur – Theorie – Geschichte, Bd. 21), hg. von Udo Friedrich, Ulrich Hoffmann, Bruno Quast, Berlin, Boston 2020, S. 233–251, hier S. 239. 23 Hartmann von Aue, Der arme Heinrich, Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch (= Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 19131), hg., übersetzt und kommentiert von Nathanael Busch, Jürgen Wolf,

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[»media vita … sumus/ in morte sumus«. / Das heißt [auf Deutsch] wie folgt, / dass wir vom Tod umgeben sind, / wenn wir am allerbesten zu leben glauben.]

Trotz dieser christlichen Semantisierung der Krankheit auf der reflektierenden Ebene der Narration weist das erzählte Geschehen den Herzog als weiterhin im Diesseits verhaftete Figur aus: Lange Zeit sucht er nach Heilung bei den medizinischen Kapa­ zitäten in Salerno und auch als er ausgerechnet von diesen erfährt, dass nur das Blut­ opfer einer reinen Jungfrau ihn vom Aussatz befreien könne, ändert sich das kaum: Heinrich nimmt sein Schicksal an, zieht sich auf den Hof eines ihm verpflichteten Meiers zurück, nur um dort einer Jungfrau zu begegnen, deren Zuneigung er durch Geschenke zu nähren weiß. Ist Heinrich zu sehr dem Diesseits verhaftet, ist das Verhalten der Meierstochter zwischen religiösem Wahn, unbedingter Glaubensbereitschaft und persönlichem Kalkül angesiedelt.24 Sie ist ohne Umschweife bereit, das eigene Leben hinzugeben, als sie von der Krankheit ihres Herrn hört. Diese spontane Opferbereitschaft gerät da in ein dubioses Licht, wo das Mädchen mit ihrer Tat ein gutes Leben ihrer Eltern durch die Dankbarkeit ihres Herrn zu erreichen sucht. Obwohl sie gegenüber ihren Eltern, die sich gegen ihren Opfertod wenden, ausgezeichnete Kenntnisse christlich-theologischer Glaubensinhalte vorweisen kann, betont die Erzählung die Naivität ihres Glaubens. Diese wird besonders da greifbar, wo die Figur explizit auf die Vorstellung von den vier letzten Dingen rekurriert. Das Leben im Himmel stellt sich die Meierstochter als Abwesenheit aller körperlichen Einschränkungen und Leiden vor, die das Erdenleben mit sich bringt: »dâ enstirbet weder ros noch daz rint, dâ enmüjent diu weinenden kint, dâ enist weder ze heiz noch ze kalt, dâ wirt von jâren nieman alt, der alte wirt junger, dâ enist frost noch hunger, dâ enist dekeiner slahte leit, dâ ist ganze freude ân arbeit.«25 [»Dort sterben weder Ross noch Rind, / dort stören die weinenden Kinder nicht, / dort ist es weder zu heiß noch zu kalt, / dort wird niemand mit den Jahren alt, / der Alte wird Stuttgart 2013, V. 92–96. Die neuhochdeutschen Übertragungen der mittelhochdeutschen Zitate sind dieser Ausgabe entnommen. 24 Vgl. dazu Schausten, Wissen (wie Anm. 22), S. 245, mit weiterführender Literatur. 25 Hartmann von Aue, Der arme Heinrich (wie Anm. 23), V. 781–788.



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jünger. / Dort gibt es weder Frost noch Hunger, / dort gibt es keine Art von Unheil, / dort gibt es ungetrübte Freude ohne Mühe.«]

Wenn das Mädchen das ewige Leben im Himmel imaginiert, dann, so hat Meinolf Schumacher das formuliert, stellt sie sich das »als idealen Bauernhof« vor.26 In der Figurenrede komisiert der Erzähltext mithin den Jenseitsglauben der Meierstochter. Hartmann nutzt die Referenzen auf das christliche Memento mori also nicht primär dazu, sein Publikum anhand einer exemplarischen Figurengestaltung zu einer einwandfreien Lebensführung im Glauben anzuhalten. Vielmehr flicht er die heilsgeschichtlichen Verheißungen in eine raffiniert entworfene Erzählhandlung ein. Der Einbruch des Todes in das Leben  – einmal unerwünscht (Heinrich), einmal übersteigert herbeigesehnt (Meierstochter) – nimmt in der Narration bezogen auf beide Figuren als Ereignis konkrete Gestalt an. Der Tod markiert als lebensbedrohlicher Krankheitseinbruch den Anfang des erzählten Geschehens, er motiviert als freiwillig gewählter Opfertod das Verhalten des Mädchens. Doch am Schluss der Erzählung wird er abgewiesen. Der Opferverzicht Heinrichs, der im Horizont der adaptierten Legendenschemata als Indiz einer conversio hin zu einem christusförmigen Leben erscheinen könnte, motiviert und legitimiert in der Erzählhandlung die Heirat des ungleichen Paares, das im Anschluss ein langes Weltleben führt; ein Märchenschluss, der das Memento mori als Durchgangsstadium hin zu einem neuen Anfang in der Welt akzentuiert und damit ein höfisches Ideal des Lebens an die Stelle des christlichen Jenseits setzt. Dass der Erzähler am Schluss noch versichert, dass beide »nâch süezem lanclîbe« »daz êwige rîche«27 erlangten, kann den ambivalenten und irritierenden Eindruck kaum verdecken, dass die in die Erzählhandlung eingespielten christlichen Glaubensvorstellungen vor allem in der Ausgestaltung des Schlusses letztlich einer Auratisierung des höfischen Lebens dienen. Doch so erzählt es eben nur die A-Fassung der Geschichte. Die B-Fassung setzt am Schluss ganz andere Akzente.28 Zwar endet auch sie mit der Heirat der beiden, doch wenden sich Heinrich und das Mädchen sofort danach Gott zu, ohne die Ehe zu vollziehen (»nâch wertlîcher wone«, heißt es da, »wolden si beide niht«.29) Heinrich 26 Meinolf Schumacher, Gemalte Himmelsfreuden im Weltgericht. Zur Intermedialität der Letzten Dinge bei Heinrich von Neustadt, in: Ästhetische Transgressionen. Festschrift für Ulrich Ernst zum 60. Geburtstag, hg. von Michael Scheffel, Silke Grothues, Ruth Sassenhausen, Trier 2006, S. 55–80, hier S. 56. 27 Hartmann von Aue, Der arme Heinrich (wie Anm. 23), V. 1514, 1516. 28 Zur Textgeschichte und den Überlieferungsvarianten des »Armen Heinrich« vgl. bes. Kurt Gärtner, Überlieferung und textus receptus. Zur Neuausgabe des ›Armen Heinrich‹, in: editio 17 (2003), S. 89–99. 29 Hartmann von Aue, Der arme Heinrich (wie Anm. 23), V. 1513a, 1513b.

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tritt in ein Kloster ein und vertraut sich, so heißt es, der Gottesmutter Maria an. Der Erzähler preist diese Entscheidung emphatisch: wie moht er immer baz getuon? dâ verdienten si beide gelîche daz vrône himelrîche. daz lôn müez uns allen zuo jungest gevallen! daz si dâ genâmen, des helfe uns got (âmen!) durch sîner marter êre.30 [Was hätte er Besseres tun können? / Dort verdienten sie beide gleichermaßen / das herrliche Himmelreich. / Dieser Lohn möge uns allen schlussendlich zuteilwerden! / Was sie dort erhielten, / dazu helfe uns Gott (Amen!) / wegen der Glorie seiner Passion.]

Der Maßstab eines gottgefälligen Lebens in der Nachfolge Christi setzt in dieser Version als diskursiver Referenzrahmen der Erzählung den Schlussakzent anders als in A. Hier begründet das Handeln der Figuren, das als conversio nach der Trauung konkretisiert ist, ihre Aufnahme in das Himmelreich Gottes. Die Figuren werden am Ende der Erzählung zu Vorbildern einer heilsökonomisch begründeten Erwartung stilisiert, wenn der Erzähler in Form einer gebetsähnlichen Wendung auch für die Erzählgemeinschaft (»uns«) das ewige Reich Gottes erbittet.

3. Liebestod: Die Erfindung passionierter Liebe im mittelalterlichen Roman

Die These, dass die Liebe im Mittelalter erfunden worden sei, die prominent der Kulturhistoriker Denis de Rougemont bereits in den 1930er Jahren formuliert hat, versieht die Liebe, eigentlich eine dem Menschen per se zugehörige Emotion oder Erfahrung, mit einer historischen Dimension.31 Unabhängig davon, dass man die Liebe als anthropologische Konstante definieren muss, lassen sich zeitspezifisch unterschiedliche Ausdrucksformen, Akzentuierungen und Modelle der Liebe ausmachen, die Kulturen unter Rückgriff auf die jeweils vorhandenen Medien für die zutiefst menschliche Emotion seit jeher entwickeln. In diesem Zusammenhang kommt den volkssprachlichen Tristan-Romanen des Mittelalters für das europäische Liebesverständnis eine 30 Ebd., V. B 1513m–1520a. 31 Denis de Rougemont, Die Liebe und das Abendland, Zürich 1987 (Originalausgabe Paris 1939).



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herausragende Rolle zu. Sie entfalten das Konzept der passionierten, mit dem Tod verknüpften Liebe, das im Referenzrahmen christlicher Diskurse und Glaubenspraktiken als eine leidenschaftliche Form intimer Zweisamkeit Gegenstand der Erzählungen ist. Der Begriff der Passion deutet darauf, dass diese Liebe notwendig an Leid und Tod geknüpft ist. Die Texte des 12. und 13. Jahrhunderts konzipieren diese paradoxale Faktur der Liebe auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Die im Zentrum der großangelegten episodischen Romane stehende illegitime Liebe zwischen Tristan, dem Neffen des cornischen Königs Marke, und Isolde, die die Ehefrau des Königs ist, hat sich tief in das kollektive Gedächtnis europäischer Kulturen eingeschrieben, besonders weil sie aufgrund der Näheverhältnisse der drei Beteiligten eine des Liebesverrats ist,32 nicht lebbar, nicht von dieser Welt, zum Scheitern, zum Tod verurteilt. Doch dringt man nach der Art der Archäologen vom Destillat Richard Wagners in dessen »Tristan« in die tieferen Schichten der europäischen Kulturgeschichte vor, dann ergeben sich erhebliche zeitspezifische Differenzen zwischen der musikalisch entsprechend inszenierten Ekstase eines Liebesglücks im Sterben und der Art und Weise, wie die mittelalterlichen Texte den Plot präsentieren. Denn Letztere situieren die Geschichte vom Liebesverrat in einer großangelegten Romanhandlung, deren Verlauf entlang der Biographie ihres Protagonisten Tristan organisiert ist. Die französischen und deutschen Romane Bérouls, Thomas’ von Britannien, Eilharts von Oberg und Gottfrieds von Straßburg erzählen Herkunft, Lebensweg und Tod eines intellektuell und, was seine Begabungen als Kämpfer angeht, außergewöhnlichen Protagonisten im Rahmen eines genealogischen Metanarrativs, das den gesamten Roman umspannt. Wenn der früheste deutsche Tristan-Autor, Eilhart von Oberg, in seinem Prolog hervorhebt, er erzähle eine Geschichte von »manheit« und »minnen« (von kriegerischer Tüchtigkeit und Minne),33 dann benennt er jenen thematischen Zusammenhang, um den große Teile der mittelalterlichen Romanliteratur ganz generell kreisen. Aber anders als die verwandte Gattung des Artus-Romans, in der die Liebe des im (Märchen-)Schluss vereinten Paares als zentraler Aspekt adeligen Herrschens – gegen die gesellschaftliche Heiratspraxis im Mittelalter – imaginiert wird, ist die Liebe der Tristan-Romane als eine Kraft dargelegt, die die gesellschaftliche Ordnung sukzessive zersetzt, bis schließlich die von ihr Erfassten tiefes Leid und den Tod finden. Schon die Herkunft Tristans entwickeln die Texte aus einer illegitimen, unglücklichen Liebesverbindung seiner Eltern, Riwalin und Blanscheflur. Obzwar von untadeliger Abstammung, Riwalin ein Fürst, Blanscheflur die Schwester König Markes von Cornwall, bleibt ihre Liebe vor 32 Vgl. dazu grundlegend: Peter von Matt, Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München, Wien 1989. 33 Eilhart von Oberge (= Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker, Bd. 19), hg. von Franz Lichtenstein, Straßburg, London 1877, V. 52.

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der Gesellschaft verborgen und nimmt ein unglückliches Ende: Bei Gottwied stirbt Riwalin im Kampf, Blanscheflur flieht vom Hof und stirbt bei der Geburt des Sohnes, den dann seine Ziehmutter Tristan nennt. Im Namen des Helden ist die Traurigkeit der elterlichen Liebesgeschichte aufgehoben. Damit markiert er sein Herkommen auf gegenüber tradierten Markern adeliger Identität verstörende Art und Weise: Ist normalerweise die Abkunft vom Vater der gesellschaftliche Garant für die adelige Vorrangstellung, wird Tristan das Wissen um seine wahre Herkunft von den Zieheltern zu seinem eigenen Schutz verweigert, bis sein Onkel, Marke von Cornwall, in ihm den Neffen erkennt. Doch die Abkunft aus einer illegitimen Liebesbeziehung erweisen die Erzählungen in immer neuen Episoden als dauerhaftes Identitätsproblem ihres Helden, das sich in seiner Beziehung zur erzählten Gesellschaft des Hofes niederschlägt. Die Liebe ist in allen Versionen ursächlich für eine entscheidende Störung, die die legitimierende Funktion des genealogischen Narrativs einschränkt und damit einen fragilen sozialen Status der Tristanfigur begründet. Als höfischer Held ist Tristan in den Texten zeitlebens als ein Außenseiter inszeniert, der sich seinen Zugang selbst zum Hof des königlichen Onkels über seine höfischen Begabungen erringen muss: Die Selbstverständlichkeit, mit der das Herkunftsnarrativ den Herrschaftsanspruch der Nobilität zu sichern sucht, stellt sich bis zum Schluss nicht ein.34 Diese kleine Skizze mag genügen, um zu verdeutlichen, dass alle Tristan-Texte  – trotz ihrer Unterschiedlichkeit im Einzelnen  – die Liebe als eine die soziale Ordnung gefährdende Emotion akzentuieren, und dies schon lange bevor sie überhaupt auf die zentrale Liebesgeschichte zwischen Tristan und Isolde zu sprechen kommen. Die Vorgeschichte der Eltern bereitet vielmehr den Boden für sie: Denn im Rahmen der typologisch angelegten Erzählhandlungen überbietet die Liebe Tristans zur Frau seines Onkels die heimliche Liebe seiner Eltern noch einmal deutlich im Blick auf ihre Intensität und Dauer sowie ihr gesellschaftszersetzendes Potential. Und so ist dem Plot ein mythisches Requisit eigen, der Minnetrank, dessen versehentlicher Genuss die Entstehung der Liebe zwischen Tristan und Isolde zwar mythisch begründet, dem Ausmaß der gesellschaftlichen Störungen, die sie auslöst, indes keinen Abbruch tut. Illegitime Liebe und Liebesverrat sind in den verschiedenen Fassungen als zentrales Thema der Erzählungen sehr unterschiedlich akzentuiert: So konzipiert die im 12. Jahrhundert entstandene Fassung Eilharts im Rekurs auf das antike Motiv der Liebe als Krankheit die durch den Trank entstehende Bindung als Unglück, als lebens34 Zur hybriden Konzeption der Tristan-Figur im diskursiven Rahmen von Genealogie, Höfischheit und Liebe vgl. bes. Monika Schausten, ›ich bin, alse ich hân vernomen, ze wunderlîchen maeren komen‹: Zur Funktion biographischer und autobiographischer Figurenrede für die narrative Konstitution von Identität in Gottfrieds von Straßburg ›Tristan‹, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 123 (2001), S. 24–49.



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bedrohliche Gefahr für das durch sie schicksalhaft verbundene Paar. Die Qualität der Liebe ist hier vor allem durch die bis ins Physische gehende Abhängigkeit der Liebenden voneinander gekennzeichnet. Innerhalb der ersten vier Jahre nach dem Genuss des Trankes müssen sich beide ständig sehen, eine Woche ohne einander bedeutet den sicheren Tod.35 Stellvertretend sei hier ein innerer Monolog Isaldes zitiert, in dem sie Cupido anruft und einer tiefen Verzweiflung ob der entstandenen Liebe zu Tristant Ausdruck verleiht: »Cupîdô«, sprach sie, »der minne got, habe ich ergin dîn gebot mit ichte î missehaldin und habe ich arme Îsalde icht wedir dich getân, daz ich vormedin solde hân: daz hâstû an mir wol gerochin. mîn herze ist mir zubrochin vil nâ von dîner schulde: du en gibest mir dîn hulde, sô en mag ich nicht genesin.«36 [»Cupdio«, sprach sie, »Gott der Liebe, / sollte ich irgendeines Deiner Gebote / jemals missachtet haben / oder sollte ich arme Isalde / jemals etwas gegen Dich getan haben, / das ich hätte vermeiden sollen: / Das hast Du jetzt an mir gerächt. / Mein Herz ist ganz und gar zerbrochen / durch Deine Schuld: / Wenn Du mir nicht Deine Huld gewährst, / kann ich nicht gesund werden.«]

Liebe ist hier als potentiell todbringende Krankheit gefasst, für die sich die Figur schließlich entscheiden muss, um dem sicheren Tod zu entgehen: »ez ist bezzir daz ich in minne, wen ich vorlîse mînen lîp. wen worde ich nicht sîn wîp, sô bin ich sichirlîchen tôd.«37 35 Zu den unterschiedlichen Tristan-Fassungen sowie zum Minnetrank bei Eilhart vgl. Monika Schausten: Erzählwelten der Tristangeschichte im hohen Mittelalter. Untersuchungen zu den deutschsprachigen Tristanfassungen des 12. und 13. Jahrhunderts (= Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, Bd. 24), München 1999, S. 56. 36 Eilhart von Oberge (wie Anm. 33), V. 2467–2477. 37 Ebd., V. 2572–2575.

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[»Es ist besser, ihn zu lieben, / als das Leben zu verlieren. / Wenn ich mich ihm nicht hingebe, / so ist das mein sicherer Tod.«]

Tristant und Isalde müssen sich also lieben, müssen König Marke am Hof betrügen, um am Leben bleiben zu können; beide landen schließlich in einer Wildnis, in der sie jahrelang ein karges, den höfischen Annehmlichkeiten fernes Leben fristen müssen, das sie sofort aufgeben, als die akute Wirkung des Trankes nachlässt. Sie kehren an den Hof Markes zurück. Während der frühe deutschsprachige Tristan-Autor die Tristanminne im Rekurs auf antike Konzepte von Liebe als Fatum, als Entbehrung und todbringende Krankheit konstruiert, geht der zweite deutsche Tristan-Autor, Gottfried von Straßburg, am Beginn des 13. Jahrhunderts deutlich andere Wege. Er ist es, der die Akzentuierung der sozial höchst problematischen Liebe zwischen Tristan und Isolde im Rückgriff auf biblisches Wissen und christliche Praktiken als Passion gegenüber Eilhart fasst und sie damit gleichzeitig in bis dahin nie da gewesener Weise auratisiert; ein gewagtes Unterfangen, dessen Sprengkraft sich hier nur skizzenhaft mit dem Prolog illustrieren lässt, den Gottfried seiner Dichtung voransetzt. Ganz anders als Eilhart, der als Thema des Textes den Lebensweg Tristrants ausflaggt, die Liebe zu Isalde als entscheidende Station dieses Weges markiert, der am Ende zum Tod beider führt, und der schließlich sein Publikum um eine wohlwollende Aufnahme des problematischen Sujets bittet,38 nutzt Gottfried die topische Publikumsanrede der Prologe dazu, eigens für seine Fassung ein Publikum zu erfinden. Er konstruiert eine Gemeinschaft der »edelen herzen«, für die allein der implizite Autor im Prolog die Tauglichkeit der Geschichte konstatiert. Adressiert würden mit der Erzählung nur jene, diu samet in eime herzen treit ir süeze sûr, ir liebez leit, ir herzeliep, ir senede nôt, ir liebez leben, ir leiden tôt, ir lieben tôt, ir leidez leben.39

38 Vgl. dazu ebd., sowie V. 42–45: »und wie der listige man / die vrouwîn Isalden irwarp, / und wie sie dorch in irstarp, / her dorch sie und sie dorch in.«, Zur Publikumsadresse vgl. V. 21–30. 39 Gottfried von Strassburg, Tristan. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, nach dem Text von Friedrich Ranke hg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, Bd. 1, 3. Aufl., Stuttgart 1984, V. 59–63.



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die gleichzeitig in ihrem Herzen tragen: / Ihre süße Bitterkeit, ihr liebes Leid, / ihre Herzensfreude und ihre Sehnsuchtsqual, / ihr glückliches Leben, ihren traurigen Tod, / ihren glücklichen Tod, ihr trauriges Leben.]

Von diesem exklusiven Publikum wird die Akzeptanz von Leiden und Tod im Lieben als Grundlage einer Lebenserfahrung gefordert, die kongruent zu dem konzipiert ist, was Gottfried als Tristanliebe wenig später dann vorab definiert. Die Tristanliebe stellt er in einen Rahmen, der die Passion Christi, die liturgische Praxis der Eucharistie und die seit der Antike geläufige Vorstellung des Textes als Nahrung miteinander verknüpft: Deist aller edelen herzen brôt. hie mite sô lebet ir beider tôt. wir lesen ir leben, wir lesen ir tôt und ist uns daz süeze alse brôt. Ir leben, ir tôt sint unser brôt. sus lebet ir leben, sus lebet ir tôt. sus lebent si noch und sint doch tôt und ist ir tôt der lebenden brôt.40 [Dort finden alle edlen Herzen Brot. / Hierdurch lebt ihrer beider Tod. / Wir lesen von ihrem Leben, wir lesen von ihrem Tod, / und es erscheint uns erquicklich wie Brot. / Ihr Leben und ihr Tod sind unser Brot. / Also lebt ihr Leben, lebt weiter ihr Tod. / Also leben auch sie noch und sind doch tot, / und ihr Tod ist für die Lebenden Brot.]

Die Aufnahme der Tristanminne durch das Publikum spielt den gemeinsamen Vollzug der Wandlung in der Messe und die an ihn geknüpfte Heilserwartung ein: Die Rezeption der Dichtung ist als Vollzug einer exklusiven Gemeinschaft von Liebenden inszeniert. Der Tod des Paares wird im Rahmen einer mehr auf einen Klangeindruck denn auf eine rationale Argumentation setzenden Rhetorik als Voraussetzung einer dauerhaften Inspiration der Textaufnahme für das Leben der von ihr Betroffenen poetisiert. Die so konzipierte Lektüre ist der Anfang, der sich aus dem Tod der Liebenden ergibt. Die Mythisierung der Tristanminne im Mittelalter erreicht hier ihren Höhepunkt: Immer wieder spielt der Text zur Veranschaulichung der besonderen Gebundenheit dieser Liebe an die Leiderfahrung Allusionen auf die christliche Glaubenspraxis ein. So vollzieht sich der Höhepunkt der Beziehung Tristans und Isoldes in einer nur wahrhaft Liebenden zugänglichen Minnegrotte. Anders als bei 40 Ebd., V. 233–240.

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Eilhart landen die Liebenden nach ihrer Verbannung vom Hof nicht in der Wildnis, sondern an einem paradiesischen Ort, in einer Grotte, deren Architektur, das hat Friedrich Ranke im letzten Jahrhundert überzeugend beschrieben, der eines christlichen Kathedralbaus ähnelt und in der Tristan und Isolde ihrer Liebe frönen.41 Die Amalgamierung von Venustempel und Kirchengebäude, die der Text geschickt unternimmt, sowie ganz generell Gottfrieds Apotheose der Tristanliebe im Rahmen ihrer christlichen Kontextualisierung haben für Verstörung gesorgt, und das bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.42 Für das Mittelalter lässt sich die Kühnheit des Entwurfs an zwei Nachfolgetexten ausmachen, die sich noch im 13. Jahrhundert anschicken, den Fragment gebliebenen Roman Gottfrieds zu vollenden, nur um ihn dann – eher der Eilhart’schen Fassung folgend – noch einmal umzuschreiben. In den Fassungen Ulrichs von Türheim und Heinrichs von Freiberg wird am Ende der Geschichte der Minnetrank als ursächlich für die Liebe der beiden und ihre gesellschaftlichen Verfehlungen ins Feld geführt: Erzähler und erzähltes Geschehen rechtfertigen ihr Verhalten im Hinweis auf den Trank. Sogar König Marke, der Betrogene selbst, erfährt schließlich davon und lässt die beiden Liebenden nach ihrem Tod in Cornwall gemeinsam bestatten. Auf das Grab lässt er Rose und Rebe pflanzen. Die Liebe erhält hier erst nach dem Tod der Liebenden ihre Legitimation: Der König als Haupt der Gesellschaft vollzieht ihre nachträgliche Integration in die Gesellschaft. Zugleich begründet das die Liebe naturalisierende Bild vom Zusammenwachsen von Rose und Rebe aus dem Grab die Lebendigkeit der Liebe über den Tod hinaus.43

4. Heldentod: Das Ende im Nibelungenlied

Eine Darstellung derjenigen Todesarten, die die höfische Literatur des Mittelalters hervorgebracht hat, wäre kaum repräsentativ, würde man nicht die zeitspezifische Akzentuierung des Heldentods im Epos in den Blick nehmen. Mythisierungen des Helden sind gebunden an das Erzählen von und über ihn. Zu allen Zeiten haben diese Erzählungen in den Gemeinschaften, aus denen heraus und für die sie konzipiert und erdacht sind, eine kohäsive und Orientierung stiftende Funktion. Die »tausend Gestalten«, die das Erzählen vom Heros in unterschiedlichen Kulturen und zu 41 Friedrich Ranke, Die Allegorie der Minnegrotte in Gottfrieds Tristan, in: Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, 2 (1925), S. 21–36. 42 Vgl. dazu Schausten, Erzählwelten (wie Anm. 35), S. 128f. 43 Zu den Fortsetzungen von Gottfrieds Text durch Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg vgl. ebd., S. 201–286.



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unterschiedlichen Zeiten hervorbringt, partizipieren alle an einem bestimmten narrativen Muster.44 Zu diesem Muster gehört der Heldentod, ein »Bestimmtsein zum Tode, das das Heldenleben durchwaltet«, so Alois Haas.45 Im mittelhochdeutschen »Nibelungenlied«, das auf die Zeit um 1200 datiert wird, erweisen sich Sterben und Tod, die sich nicht nur an einem Protagonisten vollziehen, als Voraussetzung ganz spezifischer Heroisierungsverfahren, die dann auch (post mortem) auf der Ebene des erzählten Geschehens die weitere Handlung motivieren.46 Die Heroisierung der Protagonisten konkretisiert sich im Epos in ihrem Sterben, ihrer außergewöhnlichen Haltung angesichts des unausweichlichen, manchmal geradezu im Sinne der Gemeinschaft wissentlich in Kauf genommenen Todes, und eben diese Haltung begründet ihren Ruhm und sichert den Heldenfiguren der Epen ein Nachleben, das weit über das Mittelalter hinaus bis in Moderne und Postmoderne reicht. Im »Nibelungenlied« ist der Tod des und der Helden auf der Grundlage ihrer Exorbitanz nicht allein final (das Ende des Lebens gehört zum Heros), sondern auch kausal motiviert. An der Siegfried-Figur lässt sich darlegen, dass die Exorbitanz des Helden ein wesentlicher Parameter des heroischen Erzählmusters ist, der  – so Ulrich Bröckling  – in einem »Lavieren zwischen Alterität und Ähnlichkeit« besteht.47 Bröckling zielt auf den Umstand, dass das die Grenzen der Welt Überschreitende des Heros ein Baustein des heroischen Narrativs sein muss, dass dieser aber zugleich auch Anteil haben muss an menschlichen Attributen: »Helden mögen übermenschliche Kräfte besitzen, aber sie sind keine Götter.«48 Der anonym gebliebene Autor des »Nibelungenlieds« erzielt die im Rahmen dieser Spannung zu konkretisierende Ambivalenz durch eine höfisierende Adaptation eines Erzählsujets, dessen historischer Kern bis in die »Völkerwanderungszeit« des 5. Jahrhunderts zurückreicht.49 Bei ihm ist Siegfried primär kein in der Wildnis aufgezogener Vorzeitheld, sondern ein Königssohn aus Xanten, dessen übermäßige Körperkräfte indes doch auch wieder Anteil haben an dem unbändigen Sagenhelden, mit dem er die Unverwundbarkeit teilt, die durch sein Bad im Blut eines von ihm erlegten Drachens entsteht. Das Epos leitet aus der Exorbitanz Siegfrieds 44 Zur Kulturgeschichte des Heros vgl. grundlegend: Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt a. M. 1953. 45 Alois Haas, Todesbilder (wie Anm. 11), S. 138. 46 Vgl. dazu Ulrich Bröckling, Postheroische Helden. Ein Zeitbild, Berlin 2020, S. 25: »Helden sind sterblich, ja, ihr Tod ist oftmals geradezu Voraussetzung der Heroisierung.« 47 Ebd., S. 26. 48 Ebd., S. 25. Vgl. auch die Publikationen des Freiburger Sonderforschungsbereichs 948 »Helden-Heroisierungen-Heroismen«. 49 Zur Stoffgeschichte des »Nibelungenlieds« vgl. bes. Joachim Heinzle (Hg.), Mythos Nibelungen, Stuttgart 2013, S. 1–109 sowie Jan-Dirk Müller, Das Nibelungenlied (= Klassiker-Lektüren, Bd. 5), Berlin 2002, S. 17–38.

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seinen Machtanspruch über die erzählte höfische Welt ebenso ab wie über die gelegentlich eingeblendete mythische Welt, in der Alberich nur Statthalter ist für Siegfried, der Herr über den Nibelungenschatz ist. Außergewöhnliche Physis und magische Gegenstände, die die Stärke Siegfrieds bei Bedarf noch potenzieren, markieren die Tötung des Helden als eine fast nicht zu bewältigende Aufgabe seiner höfischen Umgebung, die seinen absoluten Vorranganspruch zunehmend kritisch be­obachtet. Am burgundischen Königshof, in den Siegfried auf der Grundlage einer kaum verhohlenen Drohung der feindlichen Machtübernahme Aufnahme finden kann,50 entsteht der Konflikt mit dem Helden aus einer sich stetig steigernden Abhängigkeit der Burgunden von dessen Kampfesmut und Stärke. Herbeigeführt werden kann sein Tod nur über Intrige und List. Das Epos korreliert die Überschreitung menschlicher Kraft und Stärke, als die die Exorbitanz des Helden Siegfried im »Nibelungenlied« konkret wird, mit einer Überschreitung der gesellschaftlichen Normen, die notwendig wird, um seinen Tod herbeizuführen. Provoziert wird der finale Konflikt zwischen dem Helden und den Burgunden durch den Streit zweier Königinnen, deren eine, Kriemhild  – burgundische Königstochter und Ehefrau Siegfrieds – dessen Vorrangstellung vor Gunther gegenüber der anderen, Brünhild, unter Vorlage von Beweisstücken behauptet, die die Königin der Burgunden öffentlich kompromittieren. Die Überwindung des exzeptionellen Helden bedarf eines weiteren Heros, dessen Außerordentlichkeit indes gegenüber der Siegfrieds anders ausgestaltet ist. Die Rede ist von Hagen, dem »grimme[n] man« mit »schreckliche[m] Blick«,51 der als Antipode Siegfrieds über einen besonderen politisch-strategischen Verstand verfügt, dessen sinistere Kennzeichnung zugleich aber auch vorausdeutet auf den finalen Untergang fast aller Akteure in der Halle Etzels.52 Hagen überzeugt die burgundischen Herrscher von der Notwendigkeit, Siegfried zu töten. Er fingiert einen Angriff der Dänen und Sachsen auf den Hof der Burgunden, kann auf diese Weise Kriemhild dazu bringen, die verwundbare Stelle auf dem Rücken des Helden durch ein aufgenähtes Kreuz zu kennzeichnen, sagt hernach den Angriff ab und bläst stattdessen zu einer Jagd. Die Raumordnung rahmt die Tötung des Helden und stellt zugleich Bewertungsmaßstäbe für das erzählte Geschehen bereit,53 insofern sich Siegfrieds Sterben im Wald am anderen Rheinufer jenseits des 50 Davon berichtet die berühmte 3. Âventiure des »Nibelungenlieds«, in: Das Nibelungenlied, nach der Ausgabe von Karl Bartsch hg. von Helmut De Boor, 22. rev. und von Roswitha Wisniewski ergänzte Aufl., Mannheim 1988, Str. 44–138. 51 Das Nibelungenlied, Mittelhochdeutscher Text und Übertragung, hg., übersetzt und mit einem Anhang versehen von Helmut Brackert, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1971, Str. 1753,3, 1734,4. 52 Zur finalen Ausrichtung des Erzählens im »Nibelungenlied« vgl. grundlegend: Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang, Tübingen 1998. 53 Vgl. dazu »Das Nibelungenlied« (wie Anm. 51), 16. Âventiure.



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Hofes ereignet. Die Episode ist überdeterminiert: Sie ermöglicht eine letzte Demonstration der extraordinären Stärke des Helden im Rahmen einer agonal strukturierten sozialen Ordnung. Siegfried sticht in der Jagdgesellschaft hervor: Er jagt nur mit einem Hund und nicht mit einer Meute, er erlegt alle Tiere des Waldes mit eigener Hand; Löwe, Wisent, Elch, vier Auerochsen, Hirsch und Eber sind seine Beute. Die Jagdgemeinschaft fürchtet, der Held werde den ganzen Wald leerjagen.54 Die Verklärung des Helden wird im Narrativ noch gesteigert: Siegfried fängt einen Bären, den er zum Entsetzen aller loslässt, nur um ihn dann mit bloßem Schwert zu erlegen.55 Im Rahmen dieser außergewöhnlichen Jagd setzt der Text im Rekurs auf den vestimentären Code des Höfischen die partielle Tierwerdung Siegfrieds als weiteren Ausweis seiner Exzeptionalität in Szene: Die höfische Bekleidung des Jägers ist unter der süß duftenden Haut eines Pantherfells verdeckt. Der Exotismus des Tieres, das nicht in diesen Wald gehört, deutet auf Siegfrieds Status in der auf seinen Tod bedachten Gesellschaft. Zugleich indiziert das Pantherfell für die Rezipierenden des Epos die Wandlung des Heros vom Jäger zum Gejagten, derer sich der Held selbst nicht bewusst wird. Das agonale Prinzip, das sein Verhalten steuert, wird Siegfried zum Verhängnis: Bei einem Wettlauf zur Wasserquelle ist er der Erste, beugt sich über das Wasser und wird in dieser Position von Hagen niedergestochen.56 Die Tötung von hinten stellt den Mörder als hinterlistig aus, mit lauteren Mitteln im direkten Zweikampf ist der Heros nicht zu überwältigen. Doch das Epos erzählt keinen plötzlichen Tod. Der Held erhält – hier auf christliche Sterberituale anspielend – vielmehr Zeit, des eigenen Sterbens eingedenk zu sein, sich von den Gefährten zu verabschieden und seiner Sorge um die Hinterbliebenen Ausdruck zu verleihen.57 Doch nicht einer Hinwendung zu Gott dient diese implementierte Stufenfolge des Sterbens, sondern einer Bewertung des Komplotts durch den Sterbenden selbst, die eine düstere Zukunftsprognose birgt. Den an ihm verübten Mord bezeichnet er als unwiderruflichen Makel, der dem Geschlecht der Burgunden von nun an anhaften werde: »Die sint dâ von bescholten,  swaz ir wirt geborn her nâch disen zîten.  ir habet iuwern zorn 54 55 56 57

Ebd., Str. 932–940. Ebd., Str. 947–963. Ebd., Str. 981. Zur öffentlichen und gesellschaftlichen Einbindung mittelalterlichen Sterbens vgl. Haas, Todesbilder (wie Anm. 11), S. 55–59 sowie Ohler (wie Anm. 19), S. 32f. Zu den Bezugnahmen auf den christlichen Gott vgl. bes. Viola Müller, Gottes Werk und Teufels Beitrag. Höfische Identitätskonstruktion zwischen Tod und Sterben im »Nibelungenlied«, in: Gott und Tod. Tod und Sterben in der höfischen Kultur des Mittelalters (= bayreuther forum Transit, Bd. 10), hg. von Susanne Knaeble, Silvan Wagner, Viola Wittmann, Berlin 2011, S. 169–191.

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gerochen al ze sêre  an dem lîbe mîn. mit laster ir gescheiden sult von guoten recken sîn.«58 [»Denn wer von nun an in diesem Geschlecht geboren wird, der ist mit einem schlimmen Makel behaftet. In Eurem blinden Zorn habt Ihr Euch dazu hinreißen lassen, an mir maßlose Rache zu üben. Mit Schande sollt Ihr aus der Reihe der trefflichen Recken ausgestoßen sein.«]

Siegfrieds Worte leiten hier die Mythisierung seines Ablebens ein. Was mit seinem Tod beginnt, ist bereits in der Figurenrede des sterbenden Helden auch der Anfang vom Ende der höfischen Gesellschaft. Die Episode von Siegfrieds Tod spielt das Ende der Geschichte, die vollständige Destruktion gesellschaftlichen Lebens ein. Der Erzähltext bringt dies in wirkmächtigen Bildern zum Ausdruck. Wenn der Erzähler bemerkt, dass Siegfried tot in die Blumen fiel und sich sein Blut über die Blumen ergoss,59 dann überführt er bereits an dieser Stelle den Untergang der burgundischen Hofgesellschaft am Hof des Hunnenkönigs Etzel in die Anschauung: Die Blumen, häufig verwendete Metapher für die höfische Gesellschaft, werden durch die Gewalttat mit Blut übergossen, die Zerstörung der höfischen Freude und ihre Ursache werden eindrücklich in die Anschauung überführt. Der Rest ist bekannt: Der zweite Teil des Epos erzählt die Geschichte von Kriemhilds Rache, die diese für den Siegfriedmord an ihren Verwandten nimmt. Die zahlreichen Âventiuren, die dem Kampfgeschehen am Hof Etzels gewidmet sind, bieten viel Raum für die Heroisierung der sterbenden Helden. Ihre Eigenschaften, unbedingte Loyalität im Angesicht des Todes, die Bereitschaft, sehenden Auges in den Tod zu gehen etc., konnten Eingang finden in ein kollektives Gedächtnis von langer Dauer. Das »Nibelungenlied« lässt sein Publikum schließlich mit einem desolaten Ende zurück, das keinen Anfang mehr zulässt, und mehr noch über die Erzählerstimme konstatiert, dass das Erzählen selbst angesichts des Gemetzels an sein Ende gekommen sei: Ine kan iu niht bescheiden, waz sider dâ geschach, wan ritter unde frouwen weinen man dâ sach, dar zuo die edeln knehte, ir lieben friunde tôt. hie hât daz maere ein ende: daz ist der Nibelunge nôt.60

58 Das Nibelungenlied, (wie Anm. 51), Str. 990. 59 Ebd., Str. 988,1, 998,1. 60 Das Nibelungenlied (wie Anm. 51), Str. 2379.



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[Ich kann Euch nicht sagen, was danach geschah, nur soviel kann ich sagen, daß man sah, wie Ritter, Frauen und edle Knappen den Tod ihrer teuren Freunde beweinten. Hier findet die Geschichte ihr Ende. Das ist »Der Nibelunge Not«.]

Damit aber verweigert sich das Epos auffallend jeder Einfügung in die ­»damaligen großen legitimatorischen Geschichtserzählungen«.61 Die »katastrophische ­Geschichte«, so Jan-Dirk Müller, fällt aus den verfügbaren geschichtstheologischen Modellen der Zeit – »den Weltalterlehren« – heraus. Historisch ist sie »nicht genau situierbar«.62 Sie trägt nichts bei zum translatio-Gedanken, »der Übertragung des römischen Kaisertums auf das deutsche Reich, aber auch nichts zur Vor- und Frühgeschichte eines deutschen Königtums, nichts zu irgendeiner Stammessage, nicht einmal zur Geschlechtermythologie eines der im 12. Jahrhundert einflußreichen Fürstenhäuser«.63 In seiner »fatale[n] Transzendenzlosigkeit, Geschlossenheit und Düsternis«,64 so noch einmal Alois Haas, übersteigt die Orientierungslosigkeit des epischen Schlusses jenes Ende, das Tarantino seiner Filmerzählung verpasst: Kein Märchenschluss gibt Anlass zur Hoffnung und zu neuem Anfang, kein Erzähler berichtet vom Aufstieg der Seelen in den Himmel. Zurück bleibt nur die Klage der Hinterbliebenen. Die Todesarten der höfischen Literatur konnten sich hartnäckig in das kollektive Bewusstsein vieler Jahrhunderte einnisten. Zugleich legen sie Zeugnis davon ab, dass die Regularien christlicher Lebensführung, Sterbelehren und -rituale im Rahmen eines Lizenzraums der volkssprachlichen Literatur auch Teil einer erzählenden Imagination dezidiert höfisch-weltlicher Erfahrungen (höfische Freude, Liebe, Gewalt und Untergang) sind.

61 Müller, Nibelungenlied (wie Anm. 49), S. 23. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Haas, Todesbilder (wie Anm. 11), S. 138.

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Dem Unvermeidlichen entgegensehen. Umgangsformen mit der eigenen Zukunft in spätmittelalterlichen Sterbebüchern 1. Der plötzliche Tod als Unsicherheitsfaktor im spätmittelalterlichen Diskurs über Tod und Sterben

Tundalus begann, mit dem Gefährten das Mahl zu nehmen. Aber die göttliche Liebe verhinderte dieses Streben, denn er konnte  – ich weiß nicht durch welch plötzlichen Anlass erschüttert  – die Hand, die er ausgestreckt hatte, nicht zu seinem Mund zurückbeugen. Darauf begann er schrecklich zu schreien und vertraute seine Axt, die er zuvor abgelegt hatte, der Frau des Genossen an und sagte wie folgt: »Bewache meine Axt, denn ich sterbe«. Und dann stürzte der leblose Körper sofort wortwörtlich zusammen, als wenn keinesfalls ein Geist zuvor dort gewesen wäre. Die Anzeichen des Todes sind auszumachen: Die Haare fallen aus, die Stirn wird hart, die Augen werden wächsern, die Nase wird spitz, die Lippen erblassen, das Kinn fällt ein und alle Glieder des Körpers erstarren. Die Familie läuft zusammen, die Speise wird emporgehoben, die Schildknappen schreien, der Gastgeber jammert, der Körper wird aufgebahrt, die Glocken werden geläutet, der Klerus eilt herbei, das Volk wundert sich und die ganze Bürgerschaft ist wegen des schnellen Todes des guten Ritters aufgewühlt.1

Diese emotionale Szene stammt aus der im 12.  Jahrhundert entstandenen und im späten Mittelalter in zahlreichen Übersetzungen weit bekannten »Visio Tnugdali«. Diese Vision schildert die Jenseitsreise des Ritters Tundalus: Gott reißt Tundalus, einen notorischen Sünder, mitten aus dem Leben und lässt ihn durch zahlreiche Strafund Lohnorte des Jenseits reisen, damit er sich bessere. Nach seiner conversio soll er – zurück im Diesseits – von seiner Reise berichten, was nicht nur zur Besserung seiner Mitmenschen, sondern auch außerhalb des Textes zur Besserung der die Vision lesenden Menschen führen soll.2 1 Marcus von Regensburg, Visio Tnugdali. Vision des Tnugdal, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Hans-Christian Lehner und Maximilian Nix (= Fontes Christiani, Bd. 74), Freiburg im Breisgau 2018, Kap. 1.22–1.27. 2 Zu Verbreitung und Bekanntheit der »Visio Tnugdali« im Mittelalter vgl. Nigel F. Palmer, Visio

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Die eben zitierte Passage macht deutlich, dass diejenigen, die im Leben zurückbleiben, Tundalus für tot halten. Sie erkennen die Zeichen des Todes und führen daraufhin die im Sterbefall üblichen Vorgänge durch: Der Tote wird aufgebahrt, die Glocken werden geläutet, und der Klerus kommt hinzu. Doch ist der Tod nicht schon schrecklich genug, so ist es doch vor allem die Plötzlichkeit seines Ablebens, die die Mitmenschen des irischen Ritters aufwühlt. Die Formulierung »plötzlich und unerwartet«, die heute eine schreckliche Wendung vor allem für die Hinterbliebenen beschreibt, benannte im Mittelalter auch die problematischen, sich über das Ende des Lebens hinaus auswirkenden Konsequenzen für den Verstorbenen selbst, denn im christlichen Denken entscheidet der Heilszustand des Menschen im Moment seines Sterbens über das jenseitige und damit ewige Schicksal – und nur wer im Zustand wahrer Reue und nach Büßung aller seiner Sünden verstirbt, erhält die Gnade Gottes und somit Teilhabe an der Gemeinschaft im Himmel. Alle anderen werden dazu verdammt, ewiglich in der Hölle zu verbleiben, ihren Qualen ausgesetzt.3 Die Theorie dieses dualistischen Jenseitssystems blieb jedoch nicht unwidersprochen. Eine erste Reaktion bildete spätestens im 12. Jahrhundert die Etablierung des jenseitigen Reinigungsgedankens in Form des Fegefeuers: Menschen, die im Zustand wahrer Reue gestorben sind, aber noch nicht alle Sünden gebüßt haben, können diese Buße im Fegefeuer vollenden und danach von dort in den Himmel aufsteigen.4 Obwohl diese Darstellung des christlichen Heilssystems viel zu verkürzt ist, so verdeutlicht sie doch gerade deshalb sehr nachdrücklich die Notwendigkeit und damit auch die Relevanz des guten Sterbens für den einzelnen Gläubigen im christlich-mittelalterlichen Weltbild: Schließlich ist »die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits ein Hiatus nicht im Tnugdali. The German and the Dutch Translations and their Circulation in the Later Middle Ages (= Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bd. 76), München 1982. Zur »Visio Tnugdali« als Läuterungserzählung vgl. Julia Weitbrecht, Aus der Welt. Reise und Heiligung in Legenden und Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters, Heidelberg 2011, S.  155–169; Maximilian Benz, Gesicht und Schrift. Die Erzählungen von Jenseitsreisen in Antike und Mittelalter (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 78), Berlin, Boston 2013, S. 151–165. Zu den frühneuhochdeutschen Fassungen des 15. Jahrhunderts vgl. jüngst Patrick Nehr-Baseler, Zwischen Heilsungewissheit, Hoffnungsgewissheit und Sozialkritik. Die frühneuhochdeutschen Übersetzungen C und D der ›Visio Tnugdali‹ im Fassungsvergleich, in: Visionen und ihre Kontexte. Die Kodifizierung, Autorisierung und Authentisierung von Offenbarung (12.–17. Jhd.), hg. von Julia Weitbrecht und Andreas Bihrer (Beiträge zur Hagiographie 25), Stuttgart 2023, S. 233–259. 3 Zum mittelalterlichen Jenseitsmodell vgl. zusammenfassend Peter Jezler, Jenseitsmodelle und Jenseitsvorsorge – eine Einführung, in: Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter, hg. von Dems., 2. Aufl., München 1994, S. 13–26. 4 Zur Idee des Fegefeuers vgl. prägend Jacques le Goff, Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter, München 1990, zudem Andreas Merkt, Das Fegefeuer. Entstehung und Funktion einer Idee, Darmstadt 2005.



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Kontinuum sondern in der Qualität von Raum« und Zeit.5 Die Entscheidung zwischen Himmel oder Hölle, zwischen ewiger Belohnung oder ewiger Verdammung, ist eng mit dem Sterben und der Sterbestunde verbunden. Daher erhält der plötzliche Tod seinen Schrecken.6 Die Furcht vor dem unerwarteten Versterben war so groß, dass zahlreiche Texte und Bilder des Mittelalters es sich zur Aufgabe gemacht haben, Schutzmechanismen gegen einen solchen Tod zu vermitteln:7 Ein Fresko im Augsburger Dom zeigt den Heiligen Christophorus, auf dessen Schultern das Christuskind sitzt. Seit dem 12. Jahrhundert avancierte dieser Heilige, der auch als Patron der Reisenden gilt, zum Schutzpatron gegen den plötzlichen Tod und damit zu einem der 14 Nothelfer. Das Augsburger Fresko zeugt von der Lebendigkeit seiner Anbetung bis ins späte 15. Jahrhundert. So trugen die Augsburger auf dem Saum seines Rockes im Teuerungs- und Seuchenjahr 1491 die Getreidepreise ein. Die Notwendigkeit des Vorhandenseins eines Schutzheiligen gegen den plötzlichen Tod sowie seine Anbetung sind – nicht nur in Augsburg – manifester Ausdruck der Sorge der Menschen gegenüber einem nicht voraussagbaren Sterbezeitpunkt und damit nicht planbaren Sterbeprozess.8 5 Harmut Böhme, Himmel und Hölle als Gefühlsraum, in: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, hg. von Claudia Benthien, Anne Fleig, Ingrid Kasten (= Literatur – Kultur – Geschlecht: Kleine Reihe, Bd. 16), Köln, Weimar, Wien 2000, S. 60–81, hier S. 64. Zur Erweiterung dieser Aussage um den Faktor der Zeit vgl. Patrick Nehr, Gnade und Gerechtigkeit, Hoffnung und Verzweiflung. Zeit­semantiken von Diesseits und Jenseits im Münchner Weltgerichtsspiel und im Münchner Eigengerichtsspiel (1510), in: Die Zeit der letzten Dinge. Deutungsmuster und Erzählformen des Umgangs mit Vergänglichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Julia Weitbrecht, Andreas Bihrer, Timo Felber (= Encomia Deutsch, Bd. 6), Göttingen 2020, S. 225–248, hier S. 228f. 6 Zur Bewertung des plötzlichen Todes im Mittelalter vgl. Anu Lahtinen, Mia Korpiola, Introduction. Preparing for a Good Death in Medieval and Early Modern Northern Europe, in: Dying Prepared in Medieval and Early Modern Northern Europe, hg. von dens. (= The Northern World, Bd. 82), Leiden 2018, S. 1–17, hier: S. 3f.; Jill Clements, Sudden Death in Early Medieval Englang, in: Dealing with the Dead. Mortality and Community in Medieval and Early Modern Europe, hg. von Thea Tomaini (= Explorations in Medieval Culture), Leiden 2018, S. 36–67. 7 Zu Schutzmechanismen gegen den und Umgangsformen mit dem plötzlichen Tod vgl. Ute Monika Schwob, Sorge um den »guten Tod« – Angst vor dem »jähen Tod«. Religiös-moralische Mahnun­ gen und Reaktionen von seiten der Gläubigen,: du guoter tôt. Sterben im Mittelalter – Ideal und Realität, hg. von Markus J. Wenninger (= Schriftenreihe der Akademie Frisach, Bd. 3), Klagenfurt 1998, S. 11–30, hier: S. 26f.; Christian Kiening, Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit, München 2003, S. 17. 8 Zur Schutzwirkung des Christophorus und zu zahlreichen, verschieden akzentuierten Bildumsetzungen vgl. Daniela Wagner, Die Zeit im Blick. Zur bildkünstlerischen Sichtbarmachung von Zukunft im späten Mittelalter in: Zukunft im Mittelalter. Zeitkonzepte und Planungsstrategien, hg. von Klaus Oschema und Bernd Schneidmüller (= Vorträge und Forschungen 90), Ostfildern 2021, S. 165– 183, hier S. 173–178. Zum Christophorus-Bildnis im Augsburger Dom vgl. Gerhard Fouquet, Gabriel Zeilinger, Katastrophen im Spätmittelalter, Darmstadt, Mainz 2011, S. 77.

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Im ausgehenden Mittelalter kann aus frömmigkeitsgeschichtlicher Sicht von drei verschiedenen Ungewissheiten gesprochen werden, die sich in der thematischen Orientierung der Theologie und der Ausgestaltung der Frömmigkeitspraxis zeigen. Zu diesen Ungewissheiten zählte erstens die Unbestimmtheit der Todesstunde; in der westlichen Sterbetheologie des Mittelalters wurde eine Sentenz immer wieder vertreten: Das Sterben ist unausweichlich, aber der Zeitpunkt des Todes ist unklar, nur Gott ist dieser bekannt. Zweitens gehörte zu diesen Ungewissheiten die Zweifelhaftigkeit des Heils: Der Mensch kann sich zu keinem Zeitpunkt seines eigenen Heilszustands sicher sein. Nur Gott weiß, ob ein Mensch errettet wird oder nicht. Das führte –drittens – zur Ungewissheit des Gerichtsentscheids nach dem Tod.9 Theologen reagierten auf dieses Problem, indem sie die Möglichkeiten der Heilsakkumulation zum Teil deutlich vereinfachten: Sie stellten die Gnade Gottes als nah und verfügbar dar, ohne sie jedoch deshalb schon als grundsätzlich gegeben zu charakterisieren.10 Die Vorbereitung auf das eigene Sterben wird verstärkt seit dem 14. Jahrhundert in verschiedenen Diskursen thematisiert.11 Lange begründete die Forschung die gerade   9 Zu den drei Ungewissheiten vgl. Berndt Hamm, Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, S.  123. Zur Heilsungewissheit, die sich wiederum aus verschiedenen Ungewissheiten ergibt – »die Ungewissheit der genügenden Vorbereitung«, »die Ungewissheit des Gnadenstandes« sowie »die Ungewissheit der Prädestination« –, vgl. Sven Grosse, Heilsungewissheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit (= Beiträge zur Historischen Theologie 85), Tübingen 1994, S. 35–40. 10 Vgl. hierzu Berndt Hamm, Wollen und Nicht-Können als Thema spätmittelalterlicher Bußseelsorge, in: Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis, hg. von Dems., Thomas Lentes (= Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe, Bd. 15), Tübingen 2001, S. 11–146. Zum Konzept der Nahen Gnade vgl. Berndt Hamm: Typen spätmittelalterlicher Gnadenmedialität, in: Media Salutis. Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von dems., Volker Leppin, Gury Schneider-Ludorff (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, Bd. 58), Tübingen 2011, S. 43–83. 11 Zum verstärkten Sterbediskurs vgl. zum Beispiel Amy Appleford, Learning to die in London. 1380– 1540 (= The Middle Ages Series), Philadelphia 2015, S. 2f.; Hamm, Luther (wie Anm. 9), S. 122. Die neuere Hinwendung der mediävistischen Forschung zu Tod und Sterben kann hier nicht in extenso dargestellt werden. In der älteren Forschung einflussreich war der mentalitätsgeschichtliche Zugang der Annales-Schule, vor allem durch Philippe Ariès. Vgl. für eine Zusammenfassung dieser älteren Forschungstendenzen jüngst Manuel Kamenzin, Die Tode der römisch-deutschen Könige und Kaiser (1150–1349) (= Mittelalter-Forschungen, Bd. 64), Ostfildern 2020, S. 19–27. Neuerdings sind eher vor allem kultur- und mediengeschichtliche, aber auch sozialgeschichtliche Ansätze verfolgt wurden. Als besonders wichtige Sammelbände wie Monographien sind hier chronologisch zu nennen: Ashby Kinch, Imago Mortis. Mediating Images of Death in Late Medieval Culture (= Visualising the Middle Ages, Bd. 9), Leiden, Boston 2013; Bruce Gordon, Peter Marshall (Hg.), The Place of the Dead. Death and Remembrance in Late Medieval and Early Modern Europe, Cambridge 2000; Romedio Schmitz-Esser, Der Leichnam im Mittelalter. Einbalsamierung, Verbrennung und die kulturelle Konstruktion des toten Körpers (= Mittelalter-Forschungen, Bd. 48), Ostfildern 2014; Apple­ford,



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dem Spätmittelalter attestierte Intensivierung des Sterbediskurses mit den Erfahrungen der Großen Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts. Dabei handelt es sich jedoch um eine unzulängliche Erklärung: Zum einen gab es immer wieder Seuchen, zum anderen waren dem Menschen des späten 15. Jahrhunderts selbst er- und durchlebte Seuchen sicherlich näher als die in nur wenigen gelehrten Kreisen gelesenen und verhandelten Schriften zur Pest aus dem 14. Jahrhundert. Zwar erhöhten Seuchen die Wahrscheinlichkeit eines plötzlichen und damit unvorbereiteten Sterbens, »die Seelsorgestrategien der spätmittelalterlichen Sterbelehren setzt aber […] den Normalfall voraus, dass ihre Adressaten den Tod verdrängen und ihn ferne wähnen«. Auf dieser Grundlage lässt sich die Intensivierung des Sterbediskurses – den Erkenntnissen der frömmigkeitsgeschichtlichen Forschung folgend – vielmehr mit den oben beschriebenen Heilsungewissheiten und der seit dem beginnenden 15. Jahrhundert verstärkten Zuwendung der gelehrten Theologen zum Laien begründen.12 Im Fokus dieses Beitrags soll eine der zentralen Ungewissheiten stehen: die Unbestimmtheit des Todeszeitpunkts und der Einfluss dieser Unbestimmtheit auf Texte zum guten Sterben; beispielhaft werden hier gedruckte Texte aus Augsburg des späten 15.  Jahrhundert herangezogen.13 Gilt diese Ungewissheit der Sterbestunde im Verständnis dieser Texte überhaupt für alle Menschen gleichermaßen? Und wie kann sich der Mensch – trotz dieser Ungewissheit – dennoch auf einen guten Tod vorbereiten?

London; Joëlle Rollo-Koster (Hg.), Death in Medieval Europe. Death Scripted and Death Choreographed, London, New York 2017; Lahtinen, Korpiola, Dying (wie Anm. 6); Tomaini, Dead (wie Anm. 6); Julia Weitbrecht, Andreas Bihrer, Timo Felber (Hg.), Die Zeit der letzten Dinge. Deutungsmuster und Erzählformen des Umgangs mit Vergänglichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit (= Encomia Deutsch, Bd. 6), Göttingen 2020; Kamenzin, Tode; Stephen Perkinson, Noa Turel (Hg.), Picturing Death 1200–1600 (= Brill’s Studies in Intellectual History, Bd. 321; Brill’s Studies on Art, Art History, and Intellectual History, Bd. 50), Leiden, Boston 2021. 12 Berndt Hamm, Die Nähe des Heiligen im ausgehenden Mittelalter: Ars moriendi, Totenmemoria, Gregorsmesse, in: Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, hg. von Reinhold Friedrich und Wolfgang Simon (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, Bd. 54), S.  474–509, hier S.  475. Vgl. zur Kritik an der Pesthypothese zudem Irmgard WilhelmSchaffer, Gottes Beamter und Spielmann des Teufels. Der Tod in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 164 sowie Appleford, London (wie Anm. 11), S. 10f. 13 Die Untersuchungsbeispiele ergeben sich aus meinem an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel entstehenden Dissertationsprojekt unter dem Arbeitstitel »Gutes Sterben und die Reise ins Jenseits – Verschränkungen von Endlichkeit und Ewigkeit im frühen deutschen Augsburger Buchdruck (1468– 1530)«. In dem Projekt untersuche ich die in Augsburg gedruckten volkssprachlichen Bücher zur Vorbereitung auf ein gutes Sterben im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert. Der Augsburger Buchdruck hat sich sowohl aus qualitativer wie auch quantitativer Sicht als besonders reichhaltiger Gegenstand für die Untersuchung spätmittelalterlicher Sterbebücher erwiesen.

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2. Das Wissen um das eigene Sterben in den »Dialogi« Gregors des Großen

Die »Dialogi« wurden verfasst von Gregor dem Großen, einem bedeutenden Papst des 6. Jahrhunderts, der mit seinen Texten gerade auch auf das Genre der Heiligenviten großen Einfluss nahm.14 Sie befinden sich – unter anderem – in einer 1473 in St.  Ulrich und Afra gedruckten Inkunabel15 und liegen hier in einer frühneuhochdeutschen Übersetzung vor.16 In dieser Inkunabel vereinte der Drucker – beginnend mit den »Dialogi« – verschiedene Texte, die aus christlicher Sicht die letzten vier Dinge behandeln: den Tod, das Jüngste Gericht am Ende der Weltzeit, die Hölle und den Himmel. Für den Gegenstand dieses Beitrags sind die »Dialogi« deswegen von Interesse, weil sie uns exemplarisch zeigen, dass in der Vorstellung des ausgehenden Mittelalters das Wissen um die Todesstunde keinesfalls allen Menschen unzugänglich war. Zugleich verdeutlichen sie wie auch andere Heiligenviten, dass das von ihnen geschilderte Sterben des Heiligen als paradigmatisch aufgefasst und als erstrebenswert für das gute Sterben eines Christen generell verstanden wurde.17 Sterben und Tod werden vor allem im vierten Buch der »Dialogi« thematisiert. Dabei geben die »Dialogi« keinesfalls praktische Vorschläge für ein gutes Sterben, doch der Leser kann am Vorbild der Heiligen die Bedingungen eines guten S­ terbens, die ausführlich besprochen werden, erlernen. Diese Bedingungen orientieren sich am Sterben Benedikts, von dem im zweiten Buch erzählt wurde.18 Heiligkeit, die immer 14 Einführend zu Gregor vgl. jüngst Neil Bronwen (Hg.), A companion to Gregory the Great (= Brills Companions to the Christian Tradition, Bd. 47), Leiden u. a. 2013; zu Jenseitsreisen und Visionen in den Dialogi vgl. Jesse Keskiaho, Visions and the Afterlife in Gregory’s Dialogues, in: Imagining the Medieval Afterlife, hg. von Richard Matthew Pollard (= Cambridge Studies in Medieval Literature 114), Cambridge 2020, S.  225–246, zum Einfluss auf die spätere Hagiographie vgl. Manfred Gerwing, Gregor der Große. II. Schriften und Wirkungsgeschichte im Mittelalter. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, Sp. 1664–1666, hier: Sp. 1665. 15 Zum Druck von 1473 vgl. GW 11405. Wenn der Druck zitiert wird, wird im Folgenden auf das in der BSB München vorliegende und digitalisierte Exemplar zurückgegriffen. BSB München 2 Inc. c.a. 213, https://daten.digitale-sammlungen.de/0002/bsb00027120/images/index.html?fip=193.174.98.30&id= 00027120&seite=1 (letzter Zugriff: 29.07.2022). Vgl. zum Exemplar in der BSB München Bayerische Staatsbibliothek Inkunabelkatalog, Bd. 3: Gras–Mans, Wiesbaden 1993, Nr. G-302. 16 Zur frühneuhochdeutschen Fassung des Benediktiners Johannes von Speyer und dessen Gesamtwerk vgl. jüngst Werner Williams-Krapp, Die Literatur des 15. und frühen 16. Jahrhunderts, Teilbd. 1: Modelle literarischer Interessenbildung, Berlin, Boston 2020, S. 412–417. 17 Zum paradigmatischen Sterben vgl. Klaus Schreiner, Der Tod Marias als Inbegriff christlichen Sterbens. Sterbekunst im Spiegel mittelalterlicher Legendenbildung, in: Tod im Mittelalter, hg. von Arno Borst u. a. (= Konstanzer Bibliothek, Bd. 20), Konstanz 1993, S. 261–312; zum Sterben der Heiligen vgl. Dieter von der Nahmer, Der Heilige und sein Tod. Sterben im Mittelalter, Darmstadt 2013. 18 Vgl. BSB München 2 Inc. c.a. 213, fol. 54rf. Zum Tod Benedikts vgl. zudem Nahmer, Heilige (wie Anm. 17), S. 122–128.



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erst konstruiert werden muss, wird grundsätzlich mit einer bestimmten Fähig­keit in Verbindung gebracht:19 mit dem Vermögen, demütig, in Hoffnung und in vollkommenem Glauben zu sterben. Voraussetzung dafür wiederum ist zumeist eine asketische Lebensführung, ein gottgedientes Leben. Das Sterben der Heiligen erweist sich dann als sinnlich und emotional dichter Übergang in den Tod: Das Jenseits öffnet sich und kommt auf den Sterbenden zu. Es ist – dem Theorem der spirituellen Sinne folgend  – ein inneres Wahrnehmen, das dem Heiligen den Übergang in die jenseitige Welt erleichtert. Dieses innere Wahrnehmen ist dabei keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal des Heiligen, auch seine Sterbebegleiter riechen und hören das Jenseits. Das Sehen dieses Raumes hingegen bleibt dem Sterbenden selbst vorbehalten.20 Dennoch: Für sich genommen darf dieses innere Sehen nicht als Marker von Heiligkeit verstanden werden. Vielmehr ist es die Qualität des Gesehenen, die über die Zuordnung des (heiligen) Sterbenden zur Heiligkeit entscheidet, erwartet den Heiligen doch die Gemeinschaft der Heiligen im Himmel. Die Sünder, wie Gregor an einem Beispiel schildert, sehen die Teufel, sind deshalb unruhig und verzweifeln, führt sie ihr jenseitiger Weg doch in die Verdammung.21 Damit wird Heiligkeit am Sterbebett in zweifacher Weise erzeugt. Zum einen entsteht sie durch das eigene innere Sehen des sterbenden Heiligen: Für den sterbenden Heiligen bedeutet seine Heiligkeit die Aufnahme in die jenseitige Gemeinschaft der Heiligen, deren Hierarchie allein durch den Grad der Heiligkeit ihrer Mitglieder bestimmt wird. Zum anderen bildet sich die Heiligkeit durch die Wahrnehmung der Sterbebegleiter, der im Diesseits verhafteten Zurückbleibenden: Sie können das gute Sterben des Heiligen – das legen die »Dialogi« nahe – von außen beobachten; der ruhige, friedvolle, aus Hoffnung, Glauben und Demut resultierende Übergang des Sterbenden ins Jenseits ist Ausweis seiner Heiligkeit und bestätigt gleichzeitig sein inneres Sehen. Eng verbunden mit dem Prozess des guten Sterbens sei für die Heiligen das Wissen um ihren nahenden Tod oder sogar die genaue Kenntnis ihrer Sterbestunde, erläutern die »Dialogi«. Zumeist erhalten die Heiligen dieses Wissen durch eine göttliche Vision: Maria, bestimmte Apostel oder ein Engel erscheinen ihnen und prophezeien 19 Zur Konstruktivität von Heiligkeit(en) vgl. Fiona Fritz, Heiligkeiten. Konstruktionen, Funktionen und Transfer von Heiligkeitskonzepten im europäischen Früh- und Hochmittelalter. Zur Einführung, in: Heiligkeiten. Konstruktionen, Funktionen und Transfer von Heiligkeitskonzepten im europäischen Früh- und Hochmittelalter, hg. von ders. und Andreas Bihrer (= Beiträge zur Hagiographie, Bd. 21), Stuttgart 2019, S. 7–11, hier: S. 7–9. Für einen ähnlichen Ansatz auf germanistischer Warte vgl. Maximilian Benz, Andreas Hammer, Elke Koch, Nina Nowakowski, Stephanie Seidl, Johannes Traulsen, Julia Weitbrecht, Legendarisches Erzählen: Optionen und Modelle in Spätantike und Mittelalter (= Philologische Studien und Quellen, Bd. 273), Berlin 2019, S. 9–21. 20 Vgl. BSB München 2 Inc. c.a. 213, fol. 54rf.,105r, 107r, 108rf. 21 Vgl. ebd., fol. 110r.

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ihnen ihr baldiges Ende. Oder sie haben dieses Wissen  – wie im Falle Benedikts  – ganz von alleine, ein Wissen, das somit nicht erklärungsbedürftig ist.22 Und selbst wenn ihnen der Sterbezeitpunkt nicht schon vorweg angekündigt wurde, so wird der Prozess des Sterbens bei bereits kranken Heiligen doch immerhin durch eine Lichtoder Christusvision eingeleitet.23 Der Heilige befindet sich also normalerweise in einer privilegierten Position: Durch die göttliche Vision kennt er den Zeitpunkt seines Sterbens, was ihm – im Gegensatz zum Nichtheiligen – ein geplantes, vorbereitetes und daher gutes Sterben ermöglicht. Dieses Alleinstellungsmerkmal wird auch in anderen Heiligenviten beschrieben.24 Zugleich – so räumen die »Dialogi« ein – gibt es von diesem Normalfall der Vorankündigung durch eine Vision aber auch Ausnahmen: In einem Fall beispielsweise diagnostizieren Ärzte den nahenden Tod des Heiligen, in einem anderen Fall spürt ein Heiliger das Ende seines Lebens durch seine Schmerzen selbst kommen. Medizinische Kompetenz und die Empfindungen des eigenen Körpers werden von den »Dialogi« also ebenfalls als Möglichkeit präsentiert, Gewissheit über den Zeitpunkt des eigenen, baldigen Endes herzustellen bzw. zu erlangen und darauf basierend die Vorbereitungen auf das Sterben einzuleiten.25 Die »Dialogi« präsentieren für den Heiligen also zwei verschiedene Möglichkeiten, Wissen über die eigene Sterbestunde zu erhalten: zum einen durch göttliche Vision, der häufigste Fall, zum anderen aber auch durch medizinisches oder körperliches Wissen. Der Lesende als vermutlich Nichtheiliger stand allerdings im ersten Fall vor dem Problem, dass solch visionäres Wissen als exklusiv galt. Im zweiten Fall hätte der Lesende die Kompetenzen medizinischer Todesprognostik erst erlernen müssen, um sie dann auf sich selbst anwenden zu können. Beide Fälle verdeutlichen eindrücklich, dass dem nichtheiligen Lesenden der Zugang zum Wissen über die eigene Sterbestunde zumindest erschwert, wenn nicht sogar unmöglich war. Das Problem der Ungewissheit der Todesstunde stellte ihn also vor andere Herausforderungen als den Heiligen. Mit den beiden möglichen Umgangsformen beschäftigte sich sowohl der theologisch-seelsorgerische als auch der medizinische Diskurs: Akzeptanz der Ungewissheit und das Schaffen von Gewissheit. 22 Vgl. ebd., fol. 54rf., 106rf., 109rf. 23 Vgl. ebd., fol. 109rf. 24 Ein bekanntes Beispiel bildet der Tod Columbas von Iona, wie er in Adomnáns Vita beschrieben wird. Vgl. Adomnán of Iona, Life of St. Columba. Translated by Richard Sharpe, London 1995, Buch iii, Kap. 22f. Nahmer urteilt zudem: »[…] ein Vorwissen des Todes als Mitteilung Gottes, etwa im Traum, [ist] nicht selten bezeugt«. Nahmer, Heilige (wie Anm. 17), S. 24. Zu Vision und Prophetie in der mittelalterlichen Hagiographie im Allgemeinen vgl. Klaus Herbers, Hagiography in the Medieval Western Christian World, in: Prognostication in the Medieval World. A Handbook, hg. von Matthias Heiduk, Klaus Herbers, Hans-Christian Lehner, Berlin, Boston 2021, S. 804–810, hier: S. 808. 25 Vgl. BSB München 2 Inc. c.a. 213, fol. 105r, 107r.



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3. Die Akzeptanz der Ungewissheit – Artes moriendi und Diätetik

In den Artes moriendi, sogenannten Sterbekünsten, die zu einem guten Sterben anleiten wollen, wird die Ungewissheit der Todesstunde dazu genutzt, dem Lesenden aufs Dringlichste nahezulegen, sich schon früh zu Lebzeiten regelmäßig und intensiv auf das Sterben vorzubereiten. Die Gattung der Artes moriendi entstand zu Beginn des 15.  Jahrhunderts, auch wenn Vorformen bereits seit dem 13.  Jahrhundert bekannt sind. Nachhaltig geprägt wurde sie vor allem durch den französischen Theologen Jean Gerson mit seiner im ersten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts auf Französisch und Latein verfassten Sterbekunst. Gerson ging es darum, die Kunst, gut zu sterben, allen Christen, also nicht nur Klerikern, sondern auch Laien, zugänglich zu machen. Das »Speculum artis bene moriendi«, das als Anhang der »Dialogi« in die Kompilation von 1473 mit aufgenommen ist, steht in dieser Tradition.26 Die Lektüre des Textes soll den Lesenden dazu befähigen, gut zu sterben, indem er eine Todesreflexion vollzieht und schützende Strategien vor teuflischen Anfechtungen in der Sterbestunde erlernt. Gleichzeitig vermittelt der Text aber auch Fragen, die die Sterbebegleiter dem Sterbenden im Sterbeprozess stellen, Ermahnungen, mit denen sie den Sterbenden konfrontieren, und Gebete, die sie gemeinsam mit dem Sterbenden sprechen sollen.27 Aufgrund dieser inhaltlichen Ausrichtung wurden die Artes moriendi daher lange Zeit lediglich als Anleitungen für die Sterbestunde selbst betrachtet. Neuere Studien hingegen kommen zu dem Ergebnis, dass die Artes moriendi vielmehr sowohl eine Anleitung für die Sterbestunde als auch eine Möglichkeit der Sterbevorbereitung im Leben sein wollten.28 Die Texte vertreten die Auffassung, es genüge eben nicht, alle Verantwortung auf die Sterbestunde zu schieben, schließlich seien die meisten Menschen durch die Ungewissheit der Sterbestunde im Moment ihres beginnenden Sterbeprozesses unvorbereitet. Daher solle der Mensch sich bereits im Leben auf das Sterben vorbereiten.29 26 Zu den Artes moriendi vgl. einführend Marc Chinca, Innenraum des Selbst, Innenraum des anderen. Zur Ars moriendi im 15. Jahrhundert, in: Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters, hg. von Burkhard Hasebrink, Hans-Jochen Schiewer, Almut Suerbaum, Anette Volfing, Tübingen 2008, S. 355–381; zum Speculum vgl. Karin Schneider: Speculum artis bene moriendi, in: Verfasserlexikon. Die deutsche Literatur des Mittelalters, Bd. 9, Sp. 40–49. 27 Vgl. BSB München 2 Inc. c.a. 213, fol. 168r–184v. 28 Vgl. zu der Ansicht der neueren Forschung in Kontrast zur älteren vor allem Chinca, Innenraum (wie Anm. 26), S. 364 sowie Christian Kiening: Zeit des Aufschubs oder: Jedermanns Ende, in: Die Zeit der letzten Dinge. Deutungsmuster und Erzählformen des Umgangs mit Vergänglichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Julia Weitbrecht, Andreas Bihrer, Timo Felber (= Encomia Deutsch, Bd. 6), Göttingen 2020, S. 81–99, hier: S. 82. 29 Vgl. BSB München 2 Inc. c.a. 213, fol. 169v: »Vnd darvmb so sol nicht allain der gaystlich / sunder auch ein yeder guotter vnd andaechtiger cristen mensch / der da begert wol vnd sicher zuo sterben also leben vnd sich halten / das er zuo aller stund wenn got wil sterben müg.« Zudem vgl. ebd., fol. 178rf.

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Interessanterweise rekurriert das »Speculum« bei den entsprechenden Maßnahmen auf Faktoren eines guten Sterbens, die der Lesende der Kompilation bereits vom Sterben der Heiligen aus den »Dialogi« Gregors des Großen kennen konnte: ein geduldiges, bereitwilliges und fröhliches Sterben im Glauben an und in der Hoffnung auf Christi Bußetod am Kreuz, voller Konzentration auf den Übergang in das Jenseits.30 Durch diese intratextuelle Kohärenz von »Dialogi« und »Speculum« wird das Wissen um das gute Sterben nicht nur formal wiederholt und vertieft. Im »Speculum« wird so auch gezeigt, wie auch Nichtheilige mittels eigener intensiver Vorbereitung und Hilfestellung durch ihre ermunternden und ermahnenden Begleiter ein Sterben erreichen können, das der Qualität des Sterbens der Heiligen nahekommt – ohne dabei allerdings den Zeitpunkt des Sterbens kennen zu müssen. Doch: Die Facetten eines guten Sterbens – Hoffnung, Glaube, Demut, Geduld – sind innerliche Vorgänge. Sie müssen, damit das gute Sterben auch für die Begleiter und Hinterbliebenen erkennbar wird, nach außen getragen werden: durch mündliche oder durch Körpersprache, aber auch durch das Verhalten des Sterbenden. Das »Speculum« weist darauf hin, dass viele Menschen jedoch im Sterben gar nicht mehr ansprechbar oder bei »Vernunft« seien, die erwünschte innere Haltung also nicht kommunizieren könnten. Hier besteht und bleibt also ein Unsicherheitsmoment: Wie können sich die Beistehenden der Qualität des Sterbens bewusst sein? Schließlich liegt es doch bei ihnen, die notwendigen Schritte zu vollführen, um den Sterbenden auf den richtigen Weg zu bringen: Sei es durch Ermahnungen, gemeinsame Gebete oder die Lektüre erbauender Texte.31 An diesem Unsicherheitsmoment arbeitet sich das »Modus disponendi se ad mortem« ab, das als Anhang des »Speculum artis bene moriendi« in der Kompilation von 1473 überliefert ist. Es stellt einen Absicherungsbrief gegen ein schlechtes Sterben dar und gibt dem Lesenden die Möglichkeit, seinen eigenen Namen einzutragen. Der Brief beginnt mit einem Sünden- und Reuebekenntnis. Als Bußleistung akzentuiert er das Sterben Christi – die eigenen Sünden seien so groß, dass der Mensch eine eigene Buße nicht leisten könne. Allein die in der Passion Christi freigesetzte Gnade könne ihn erretten. Verknüpft mit dem Sündenbekenntnis ist folglich seine Anerkennung des Gnadenwirkens Christi. Zudem versichert der Schreibende, bis zu seinem Tod ein gutes Leben zu führen, in der Zeit des Sterbens die Sakramente zu erlangen und sich den Anfechtungen des Teufels zu widersetzen. Der Brief schließt mit einem Kreuzzeichen. Er bietet eine Sicherung für beide im Sterbeprozess involvierten Parteien: sowohl für den Sterbenden selbst, der sich zu einem gottesfürchtigen Leben und Sterben 30 Vgl. ebd., fol. 169v–173v, 175r–176v. 31 Vgl. ebd., fol. 170r, 173vf., 175v, 176v, 177v; zu diesem Problem vgl. zudem ausführlich Chinca, Innenraum (wie Anm. 26), S. 372–377.



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verpflichtet und mit seiner Unterschrift seinen guten Willen demonstriert, als auch für die Sterbebegleiter, falls für sie der Zustand des Sterbenden durch seinen Sprach- oder gar Bewusstseinsverlust im Sterben nicht mehr nachvollziehbar sein sollte.32 Die Kompilation von 1473 weist gegenüber anderen Drucken derselben Textkonglomerate eine Besonderheit auf: Sie enthält nicht nur den handschriftlichen Schenkungsvermerk eines Geistlichen, sondern auch zahlreiche Kommentare und Annotationen derselben Hand.33 Vor dem Modus ergänzt der Schenkende, man solle diesen Brief mit Fleiß »merken«.34 »Merken« bedeutet im Frühneuhochdeutschen sowohl das Sicheinprägen von etwas als auch das Beachten von etwas.35 Der Schenkende legt den Lesenden also nahe, die Sicherheiten dieses Briefes für sich in Anspruch zu nehmen. Seine Annotation verweist auf die Bedeutsamkeit des kurzen Textes, die er als Geistlicher einzuschätzen wusste. Doch nicht nur der theologisch-seelsorgerische Diskurs befasste sich mit dem guten Sterben; medizinische Texte widmeten sich ebenfalls der Thematik und auch in ihnen spielten religiöse Deutungsmuster eine zentrale Rolle.36 Eine der am häufigsten 32 Vgl. BSB München 2 Inc. c.a. 213, fol. 183r–184v. 33 In dem Exemplar der 1473 in St. Ulrich und Afra gedruckten Kompilation aus der British Library findet sich ein Schenkungsvermerk. Er stammt wahrscheinlich von einem Mönch aus dem Kloster St. Ulrich und Afra und richtet sich an Jungfrau Ursula Sultzer, deren Schwester und Schwager. Die Sultzer waren eine angesehene Augsburger Kaufmannsfamilie. Der Zusatz »Jungfrau« lässt eine semireligiöse Lebensform der Ursula vermuten: Sie war Laiin, also nicht im geistlichen Stand, lebte wahrscheinlich aber nach bestimmten strengen spirituellen Regeln. Mit seinen Kommentaren und Annotationen hat der Schenkende die Lektüre der im Buch enthaltenen Texte vorzubereiten versucht, um die Jenseitsvorsorge der Familie und seine eigene Jenseitsvorsorge positiv zu beeinflussen. Vgl. London BL I.B. 5653, fol. 1r. Zum Schenkungsvermerk vgl. ausführlich Patrick Nehr-Baseler, Heilsames Annotieren, heilsames Schenken und heilsame Lektüre. Formen der Jenseitsvorsorge in einer eschatologischen Inkunabel von 1473, erscheint in: Jahrbuch der Reformationsgeschichtlichen Forschungsbibliothek 2 (2023). 34 London BL I.B. 5653, fol. 180v. 35 Vgl. Christa Baufeld, Kleines frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Tübingen 1996, S. 169. 36 Die Verbindung von Krankheit/Medizin und Sterben wurde bisher von der mediävistischen Forschung nur vereinzelt untersucht. Vor allem das Verhältnis von Arzt und Tod wurde angesprochen. Als wichtigste bisherige Studien und Bände sind zu nennen: Roger Seiler, Mittelalterliche Medizin und Probleme der Jenseitsvorsorge, in: Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter, hg. von Peter Jezler, 2. Aufl., München 1994, S. 117–124, Daniel Schäfer, Texte vom Tod. Zur Darstellung und Sinngebung des Todes im Spätmittelalter (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 620), Göppingen 1995, S. 297–334, Yves Ferroul, The Doctor and Death in the Middle Ages and the Renaissance, in: Death and Dying in the Middle Ages, ed. by Edelgard E. DeBruck, Barbara I. Gusick (= Studies in the Humanities. Literature  – Politics  – Society, Bd. 45), New York u. a. 1999, S.  31–50, Susan J. Ridyard (Hg.), Death, Sickness and Health in Medieval Society and Culture (= Sewanee Medieval Studies, Bd. 10), Sewanee 2000, Daniel Schäfer, »Gegen den Tod gibt es kein Kraut«. Arzt und Tod im Totentanz und in der spätmittelalterlichen Medizin, in: Zum Sterben schön. Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute, hg. von Andrea Hülsen-Esch, Hiltrud Westermann-Anger-

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gedruckten  – und damit wohl auch erfolgreichsten  – deutschsprachigen medizinischen Inkunabeln aus Augsburg stellte die 1475 zuerst bei Johann Bämler erschienene »Ordnung der Gesundheit« dar. Der Druck teilt sich in vier Bücher, die ersten drei basieren auf der titelgebenden Übersetzung des »Regimen Sanitatis« Konrads von Eichstätt für Rudolf von Hohenburg und seine Frau aus dem späten 14. Jahrhundert, während das vierte Buch aus Ortolfs medizinischem Kompendium kompiliert wurde.37 Die Ordnung versucht, ein bestimmtes Verhalten beim Leser zu habitualisieren, um ihn zu einem gesunden Leben anzuleiten. Das Werk ist im Kontext der verstärkten Vermittlung von medizinischem Wissen an Laien zu verstehen, werden doch dem Leser – in der Tradition des Textes von Eichstätt – direkt pharmazeutische, diagnostische und diätetische Kenntnisse mitgegeben.38 Das erste Buch legt bei der Vermittlung medizinischer Bildungsinhalte die Grundlagen, insofern Krankheit als Missverhältnis der Körpersäfte erklärt wird und die hausen, Regensburg 2006, S. 156–166; Nancy Mandeville Caciola, Afterlives. The Return of the Dead in the Middle Ages, Ithaca, London 2016, S. 66–107. 37 Ordnung der Gesundheit, zum Erfolg des Textes vgl. Gundolf Keil, Gedruckte medizinische Literatur in der Frühdruckzeit, in: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wiesbaden 1997, S. 469–475, hier S. 475, Ortrun Riha, Vom mittelalterlichen »Hausbuch« zur frühneuzeitlichen »Hausväterliteratur«. Medizinische Texte in Handschriften und Buchdruck, in: Die Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck, hg. von Gert Dicke, Klaus Grubmüller (= Wolfenbütteler Mittelalter-Studien, Bd. 16), Wiesbaden 2003, S. 203–227, hier S. 209. Als Textgrundlage für diesen Aufsatz dient die 1475 von Johann Bämler gedruckte Augsburger Erstausgabe. Vgl. BSB München 2 Inc. c.a. 408, https://daten.digitale-sammlungen.de/0003/bsb00034679/images/ index.html?fip=193.174.98.30&id=00034679&seite=1 (letzter Zugriff: 23.02.2022). Zur Ausgabe vgl. zudem GW M37273. Zur Werkgeschichte als Kompilation der Texte von Konrad von Eichstätt und Ortolf vgl. Christa Hagenmeyer, Das Regimen sanitatis Konrads von Eichstätt. Quellen, Texte, Wirkungsgeschichten (= Sudhoffs Archiv, Beiheft, Bd. 35), Stuttgart 1995, Bernhard Dietrich Haage, Wolfgang Wegner, Deutsche Fachliteratur der Artes in Mittelalter und Früher Neuzeit (= Grundlagen der Germanistik, Bd. 43), Berlin 2007, S. 220f. 38 Die Diskussion über die Vermittlung medizinischen Wissens an Laien im späten Mittelalter kann hier nicht vollständig abgedeckt werden. Vgl. als bedeutende Studien zu diesem Zusammenhang Ortrun Riha, Medizin für Nichtmediziner. Die Popularisierung heilkundlichen Wissens im Mittelalter, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 13 (1994), S. 9–34, Bernhard Schnell, Die volkssprachliche Medizinliteratur des Mittelalters – Wissen für wen?, in: Laienlektüre und Buchmarkt im späten Mittelalter, hg. von Thomas Kock, Rita Schlusemann (= Gesellschaft, Kultur und Schrift. Mediävistische Beiträge 5), Frankfurt a. M. 1997, S. 129–145; William Crossgrove, The Vernacularization of Science, Medicine and Technology in Late Medieval Europe. Broadening our Perspectives, in: Early Science and Medicine. A Journal for the Study of Science, Technology and Medicine in the Pre-modern Period 5 (2000), S. 47–63; Ortrun Riha, Chronisch Kranke in der medizinischen Fachliteratur des Mittelalters. Eine Suche nach der Patientenperspektive, in: Homo debilis. Behinderte – Kranke – Versehrte in der Gesellschaft des Mittelalters, hg. von Cordula Nolte (= Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters, Bd. 3), Korb 2009, S. 99–120.



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Grundlagen der Humoralpathologie verdeutlicht werden. Das zweite Buch greift diese Grundlagen auf und zeigt, dass Ernährung und Körperreinigung  – das heißt zum richtigen Zeitpunkt und im richtigen Maß den verschiedenen Komplexionen angepasstes Essen, Trinken, Baden, Schlafen und Aderlassen – die Schlüssel für ein gesundes und langes Leben seien; hier erfährt der Lesende also diätetisches Wissen, das Gesundheit als Ausgeglichenheit versteht. Mit dem wünschenswerten Verhalten in Seuchenzeiten beschäftigt sich das dritte Buch, während das vierte Buch weniger diätetisches, als vielmehr diagnostisch-semiotisches Einsichten weitergeben möchte: Urinschau (Uroskopie), Pulsmessung (Sphygmologie) und Blutschau (Hämatoskopie) sind hier die Eckpfeiler, um Gesundheit oder Krankheit festzustellen.39 In der Vorrede des Textes sticht die Verschränkung von medizinischen und religiö­ sen Wissensbeständen klar heraus, werden doch die laut Text anzustrebenden Kenntnisse in einen eschatologischen Denkrahmen eingebunden. Der Lesende wird in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass Gott jedem Menschen ein festes Ende zugewiesen habe. Dieses Ende erreichten aber die wenigsten, die meisten stürben schon vorher. Die Vorrede unterscheidet damit zwei Formen des Sterbens: ein Sterben, das mit dem von Gott geplanten Lebensende einhergeht, und ein Sterben, das diesem göttlichen Plan zuwiderläuft. Die »Ordnung« präsentiert dem Leser vier Möglichkeiten, die zu einem zu frühen Sterben führten. Die ersten beiden werden durch Gott selbst initiiert; er »zuck[t]« sowohl die Gerechten – als Belohnung – als auch die Sünder – als Strafe – zu früh aus dem Leben: »Raptus est justus« ist das hier vom Text angebrachte theologische Konzept. Als dritte Möglichkeit sieht der Text den verfrühten Tod durch Gewalt und Naturkatastrophen, ohne diese als Ausdruck göttlichen Zorns zu bewerten.40 Die vierte Möglichkeit stellt für die »Ordnung« jedoch das eigentliche Problem dar: Nicht zu ihrem rechten Ende kämen all jene Menschen, die ein unordentliches Leben führten, die sich also falsch ernährten und unkeusch seien. Diese Menschen stürben als Sünder, denn sie versündigten sich an sich selbst. Um dieser sündigen Form des Lebens und dieser Haltung, die ein solches Leben hervorrufe und damit ebenfalls in Opposition zum göttlichen Willen stehe, zu begegnen, entwickelt die »Ordnung« ein Gegenkonzept: Wer lange leben wolle, müsse Mäßigkeit an den Tag legen. Wie man aber mäßig und ordentlich lebe, finde man in der »Ordnung« selber.41 Ein maßvolles, an den diätetischen Regeln sich orientierendes Leben führt somit dazu, dass der Mensch das von Gott gesetzte Ende erreicht. Gesund bleiben zu wollen, verknüpft das Konzept der »Ordnung« daher mit gutem Leben und somit auch mit gutem 39 Vgl. BSB München 2 Inc. c.a. 408, fol. 3v–10v (Buch Eins), fol. 10v–31v (Buch Zwei), fol. 31v–37v (Buch Drei), fol. 38r–51v (Buch Vier). 40 Ebd., fol. 2rf., Zitate: fol. 2r. 41 Vgl. ebd., fol. 2v.

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Sterben. Über die Metapher des Lebens als Kerze veranschaulicht der Text, dass ein gutes, maßvolles und gesundes Leben letztlich zu einem guten Sterben führe: Lasse man eine Kerze in Ruhe und mit Maß abbrennen, erlösche sie ohne Rauch und Gestank; anders verhalte es sich, wenn man sie zu früh ausblase. Analog dazu sterbe der Mensch, der durch Unmäßigkeit und in Unordnung zu früh aus dem Leben trete, mit Schmerzen. Der ordentliche und gesund lebende Mensch sterbe hingegen ohne Schmerzen und Leid.42 Die »Ordnung« versucht also – wie die Artes moriendi auch –, eine Disposition dem Sterben gegenüber zu vermitteln, die bereits im Leben selbst ansetzt, bei gesundem und maßvollem Essen, Trinken, Schlafen und der richtigen Körperpflege. Anders als die Artes moriendi, die eine geistige Vorbereitung auf den Tod in den Fokus rücken, ermöglicht laut der »Ordnung« nur die Arbeit an sich selbst, an der eigenen Gesundheit, letztlich ein gutes, schmerzloses und dem göttlichen Willen entsprechendes Sterben. Die Prognostizierung der Todesstunde steht dabei nicht im Vordergrund, auch wenn einige Kapitel auch diese medizinische Praxis erläutern. Die Ungewissheit des Todeszeitpunktes ist aus Sicht des Textes allerdings kein Problem, da der Leser ja durch ein ordentliches Leben zu dem von Gott gesetzten Zeitziel komme. Wer dieses erreiche, sterbe auch gut.

4. Das Schaffen von Gewissheit – Gebetsrituale und medizinische Todesprognostik

Doch nicht immer wurde die Ungewissheit des Todes akzeptiert. Entsprechende Texte aus dem religiösen wie aus dem medizinisch-seelsorgerischen Bereich versuchen, dem Leser Praktiken zu vermitteln, die Wissen über das nahende Lebensende ermöglichen sollen. So druckte Günther Zainer 1471 für das Kloster St. Ulrich und Afra ein sogenanntes »Horae«, ein Tagzeitenbuch, das für die verschiedenen Stunden des Tages spezifische Gebete versammelt.43 Neben den Tagzeiten enthält das von Zainer gedruckte Buch aber auch Gebete für andere Situationen des geistigen Lebens: liturgische Gebete wie für die Eucharistie, aber auch für das Sterben. Aufgenommen hat er beispielsweise die acht Psalmen St. Bernhards, ein Gebetszyklus,44 dem zugesprochen 42 Ebd., fol. 2rf. 43 Zum Druck vgl. GW 12981. Als Textgrundlage wurde BSB München Inc. c.a. 1 genutzt, https://daten.digitale-sammlungen.de/0006/bsb00064141/images/index.html?fip=193.174.98.30&id=00064141&seite=1 (letzter Zugriff: 23.02.2022). Vgl. zu Tagzeitenbücher z.B. den Band Sandra Hindman, James H. Marrow (Hg.), Books of Hours reconsidered (= Studies in Medieval and Early Renaissance Art History), Turnhout, London 2013. 44 Eine Rahmenerzählung berichtet, dass das Wissen über diese acht Psalmen beim Teufel lag. Bernard wollte diese acht Psalmen lernen, aber der Teufel lehnte ab. Also plante Bernard, jeden Tag alle Psalmen zu lesen, so dass er immer die acht geforderten mitlesen würde. Der Teufel lenkte ein und nannte Bernard die acht Psalmen. Vgl. BSB München Inc. c.a. 1, fol. 133v–139v.



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wird, dass bei täglichem Gebet der Betende nicht verdammt werde, also nicht in die Hölle komme. Mit Hilfe der Psalmen erbittet der Lesende ein gutes Sterben, die Teilhabe am Opfertod Christi, Hoffnung im Sterben zu haben sowie die Barmherzigkeit Gottes. Zudem – und im Hinblick auf die Ungewissheit der Todesstunde noch viel wichtiger – erhalte der Betende bei täglicher Kontemplation dieser acht Verse dreißig Tage vor seinem Ableben Wissen über den eigenen Tod. Dahingehend interessant sind vor allem der dritt- und viertgenannte Psalm, bittet hier der Betende doch um Kunde über sein Ende sowie um die Anzahl der ihm noch verbleibenden Lebenstage.45 Das Gebetsbuch vermittelt also eine kontemplative Praxis, die durch stete, intensive und sich wiederholende Gebetsmeditation sowohl im Diesseits eine Vorbereitung auf den Tod als auch jenseitiges Wissen über das eigene Sterben ermöglichen soll. Eine solche Praxis sprach aber vor allem ExpertInnen, Geistliche oder engagierte Laien an.46 Die Möglichkeit, Gewissheit über den eigenen Todeszeitpunkt herzustellen, war – neben den Heiligen – damit einem relativ exklusiven Personenkreis vorbehalten. Ansonsten wurden Leser spätmittelalterlicher Inkunabeln meist in medizinischen Texten mit Todesprognostik konfrontiert.47 Ein in diesem Zusammenhang besonders einflussreiches und in Nürnberg und Augsburg mehrfach gedrucktes Werk, das über reformatorische Fassungen noch bis in die Frühe Neuzeit weiterwirkte, stellt die »Versehung von Leib, Seel, Ehr und Gut« dar. Diese Kompilation möchte vermitteln, wie man den Kranken beistehen soll: aus erblicher, medizinischer wie geistlicher Perspektive. Dazu verbindet die »Versehung« eine dem »Speculum« ähnelnde Ars moriendi mit Hinweisen zum Vererben, zur Diätetik, Prognostik und Selbstmedikation.48 45 Vgl. ebd. 46 Zur kontemplativen Gebetsmeditation vgl. Marc Chinca, Meditating Death in Medieval and Early Modern Devotional Writing. From Bonaventure to Luther, Oxford 2020. 47 Zur Todesprognostik im Mittelalter vgl. Daniel Schäfer, Hora incerta – Die Prognose des Todes in der Medizin der Renaissance, in: Zukunftsvoraussagen in der Renaissance, hg. von Klaus Bergdolt, Walther Ludwig (= Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung, Bd. 23), S. 223–239. 48 Die »Versehung« wurde zunächst 1489 in Nürnberg, dann 1490 und 1493 in Augsburg gedruckt, ehe es zu einem letzten Druck in der spätmittelalterlichen Textgestalt 1509 in Nürnberg kam. Zahlreiche Drucke der »Versehung« im 16. und 17. Jahrhundert behalten die Verquickung medizinischer und seelsorgerischer Texte bei, ersetzen aber die spätmittelalterliche Sterbelehre durch eine reformatorische Sterbelehre oder Trostschrift. Zu den spätmittelalterlichen Ausgaben vgl. GW M50190, M50192, M50194 sowie M50196. Zur Entwicklung des Textes in der frühen Neuzeit vgl. Gunther Franz, Huberinus  – Rhegius  – Holbein. Bibliographische und druckgeschichtliche Untersuchung der verbreitetsten Trost- und Erbauungsschriften des 16. Jahrhunderts (= Bibliotheca Humanistica & Reformatorica, Bd. 7), Den Haag 1973, S. 6–8, 17–21, 88–92. Weder die medizingeschichtliche noch die frömmigkeits- bzw. theologiegeschichtliche Forschung hat sich bisher intensiv mit der »Versehung« auseinandergesetzt. Vgl. Heinrich Schipperges, Die Kranken im Mittelalter, München 1990, S. 217. Austra Reinis hat zwar die »Versehung« aus reformationsgeschichtlicher Warte aus analysiert und kommt auch zu Ergebnissen bzgl. des Themenfeldes Krankheit und Gesundheit, beschränkt sich

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Die »Versehung« adressiert allerdings nicht den Kranken selbst, sondern den Beglei­ter des Kranken. Der Begleiter habe den Kranken zu versorgen und ihm – im Sinne der Verbindung von Gemütszustand und äußerer Physiognomie – gut zuzusprechen. Keineswegs aber sieht die »Versehung« im Begleiter des Kranken einen Arzt. Generell ist der Text gegenüber Ärzten skeptisch, was sich schon in der Einleitung zeigt: Sie kündigt an, der Text wolle zeigen, wann der Rat eines Arztes sinnvoll sei und wann nicht. Um das herauszufinden, solle der Kranke drei verschiedene Ärzte um Rat bitten, deren Empfehlungen vergleichen und dann auf Basis der eigenen Vernunft beurteilen, ob dem Rat eines Arztes zu folgen sei. Dass die »Versehung« die Behandlung durch einen Arzt oder – das betont der Text gesondert – das Vertrauen in einen Arzt nicht als Normalfall annimmt, zeigt sich in der großen Anzahl an Folii, die sich nur damit beschäftigen, wie der Begleiter den Kranken durch Diagnostik, Therapie und Diätetik auch ohne Arzt pflegen könne. Ein wichtige Rolle nimmt hier die Todesprognostik ein: Die »Versehung« vermittelt praktisches Wissen über Uroskopie (Lehre der Harnbeschaffenheit) und Sphygmologie (Lehre von der Beschaffenheit der Adern), was dabei helfen könne, den nahenden Tod eines Kranken zu prognostizieren. Vor allem die abnehmende Aderngröße und ein abnehmender Puls, den man beim Pulsfühlen mit vier Fingern nur unter zwei Fingern wahrnehme, seien klare Zeichen für den nahenden Tod. In Bezug auf den Harn müsse auf die Farbe der Harnflüssigkeit, die Farbe der Ablagerungen im Harn und die Konsistenz des Urins geachtet werden, bestimmte Kombinationen wiesen auf eine tödliche Krankheit hin.49 Der (Bildungs-)Anspruch, den die »Versehung« im Hinblick auf theoretische und medizinpraktische Kenntnisse an den Krankenbegleiter stellt, veranschaulicht gleichzeitig die Bedeutung, die sie dem Krankenbegleiter bei der Herstellung von Gewissheit des Todeszeitpunktes beimisst. Direkt vor dem Ars-moriendi-Abschnitt widmet sich die »Versehung« auffälligerweise den Zeichen des Todes noch einmal intensiver. Sie nennt zahlreiche signa mortis, die hier nicht en détail besprochen werden können, aber von der Harnfarbe bis zu Symptomen wie Haarausfall bei Lungenkranken sowie dem alleinigen Schwitzen am Haupt während einer Fieberkrankheit reichen. Zuletzt lässt der Text eine detailreiche Aufzählung von Symptomen folgen, die sogar eine genaue Datierung des Sterbens erlauben – vom Tod am selben Tag bis zum Tod in 19 Tagen. Entscheidendes Distinktionsmerkmal für diese Todeszeitspanne ist die platter, ein frühneuhochdeutscher Sammelbegriff, der auf die Blattern der Blatterkrankheit genauso hinweist jedoch gänzlich auf den seelsorgerischen Abschnitt des Kompendiums. Vgl. Austra Reinis, Reforming the Art of Dying. The ars moriendi in the German Reformation (1519–1528) (= St. Andrews Studies in Reformation History) Aldershot u. a. 2007, S. 4f., 28, 34. Als Textgrundlage wird für diesen Aufsatz der erste Augsburger Druck genutzt: HAB Wolfenbüttel , http://diglib.hab. de/inkunabeln/46-4-med/start.htm (letzter Zugriff: 23.02.2022). 49 Vgl. ebd., fol. 2v, 4v–5v, 12v–13v, 16r–17v, 21r–24v.



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wie auf Pocken, Masern und blasenwerfende Hautausschläge im Allgemeinen. Zur Bestimmung des Todeszeitpunktes sind die Farbe und der Ort der »plattern« von Relevanz, zudem werden Nebensymptome wie zum Beispiel die Farbe der Fingernägel sowie bestimmte Juckreize genannt. Diese ausführliche Symptombeschreibung und Todesprognostik sind laut der »Versehung« aus der generellen Erfahrung heraus motiviert, dass viele Totgesagte wieder gesund werden und viele, die auf dem Weg der Besserung waren, plötzlich doch sterben.50 Die Auseinandersetzung mit ihnen dient demnach dazu, dem Krankenbegleiter zu einer validen Einschätzung hinsichtlich des Kranken und seines genauen Zustands zu verhelfen. Diese Todesprognostik ist für den Ars-moriendi-Abschnitt der »Versehung« insofern von großer »heilsnotwendiger Bedeutung«,51 als sie den Schwer- und den Todkranken unterschiedliche Handlungsempfehlungen im Hinblick auf ihr geistiges Heil macht. Der entscheidende Unterschied liegt hier in der Disposition, die die beiden Krankengruppen dem eigenen Sterben gegenüber einnehmen sollen. Der Schwerkranke solle nach der Beichte Buße in Form von Ablass und Kommunion beten, »das gott der herr mich oder ander frumm menschen von meinen wegen vnser gepette dester ee erhoeret mich dardurche mein krankcheit dester ee abstellen / meinen gesund verlyhen wurd«,52 denn Gott wolle nicht den Tod, sondern die Besserung des Sünders. Hier verbindet der Text die Bitte um Heilung von der Krankheit mit der Andeutung (Beichte und Buße) und Aussicht auf seelische Besserung, einer conversio. Dem Schwerkranken ist also – anders als dem Todkranken – die Hoffnung auf Gesundheit und damit die Negierung des Sterbens empfohlen; sein Konzept darf lauten: Heilung durch Heiligung und vice versa. Für den Todkranken besteht jedoch keine Aussicht auf Besserung, die Bitte um Wiedergesundung wäre eine negative Hoffnung und daher eine Sünde.53 Er muss sich in sein Schicksal fügen und Gottes Plan annehmen. Der Begleiter des Kranken erfüllt also eine doppelte Funktion. Er muss zum einen mit Hilfe seines medizinischen Wissens die Krankheitszeichen deuten und den Todeszeitpunkt des Kranken ermitteln – Gewissheit herstellen. Auf dieser Grundlage muss er zum anderen eine Handlungsempfehlung für 50 Vgl. ebd., fol. 139v–143r. 51 In Anlehnung an Daniel Schäfer, der die Vermischung von Totentanzliteratur und medizinischer Fachprosa in Hinblick auf die Todesprognostik untersucht hat und zu dm Ergebnis kommt: »Für die rechtzeitige geistliche Vorbereitung auf einen abzusichernden Tod, bei dem nach damaliger Überzeugung die letzte unwiderrufliche Entscheidung über das jenseitige Schicksal fiel, war das sichere Erkennen der biologischen hora incerta und die Orientierung des Lebens auf den sicher eintretenden Tod wohlmöglich von heilsnotwendiger Bedeutung«. Daniel Schäfer, Der sichere Tod. Medizinische und theologische Aspekte der hora incerta im Spätmittelalter, in: Totentanz-Forschungen, hg. von der Europäischen Totantanz-Vereinigung, Zug 1996, S. 65–71, hier S. 66. 52 HAB Wolfenbüttel , fol. 143v. 53 Vgl. ebd., fol. 143v–146r.

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den Kranken aussprechen, von der dessen Gesundung, ja sogar sein jenseitiges Heil abhängt. Der Kranke selbst ist möglicherweise aufgrund seines gesundheitlichen Zustandes nicht mehr dazu fähig, für sich selbst zu entscheiden.

5. Fazit

Die Unsicherheit der Todesstunde stellte im späten Mittelalter vor dem Hintergrund von Heilsungewissheit und der Notwendigkeit von individueller Jenseitsvorsorge ein erhebliches Problem dar. Das plötzliche Sterben war zutiefst negativ konnotiert, denn wer war schon dauerhaft so vorbereitet, dass er sich auch im Fall seines plötzlichen Todes seines Heils sicher sein konnte? Die Vorhersage des Todeszeitpunkts erwies sich damit als bedeutsames Element der Sterbevorbereitung. Eine visionäre Einsicht in die eigene Zukunft erhielten aber vor allem Heilige und war damit Ausnahmepersonen der Gesellschaft vorbehalten. Für Nichtheilige, ob Geistliche oder Laien, entwickelte die Sterbeliteratur des ausgehenden Mittelalters daher mehrere Möglichkeiten, mit dieser Unsicherheit umzugehen. Eine erste Möglichkeit dieses Umgangs bildeten die Akzeptanz der Ungewissheit und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Sterbevorbereitung. Die Gattung der Artes moriendi zogen aus der Unsicherheit die Notwendigkeit, sich schon zu Lebzeiten intensiv mental und emotional auf das Sterben vorzubereiten und so auch für die unbekannte Todesstunde gerüstet zu sein. Ein Schutzbrief konnte zudem zusätzlich den Willen zu einem guten Sterben für die Hinterbliebenen belegen. Daneben leiteten die Artes moriendi aber auch Sterbebegleiter dazu an, die Sterbenden so zu betreuen, dass ihnen ein gutes Sterben möglich wird. Diätetische Texte wiederum vermittelten die Einsicht, dass eine an die richtige Diätetik angepasste Lebensführung dazu führt, dass der Mensch den von Gott – dem Menschen aber unbekannten – gesetzten Todeszeitpunkt erreicht. Ein Tod, der mit dem Willen Gottes übereinstimmt, kann ihrer Auffassung nach nur gut sein. Beide Gattungen waren sich dementsprechend einig, dass gutes Sterben durch gutes Leben ermöglicht wird, und unterschieden sich nur in der konkreten Ausgestaltung des Weges: Die Artes moriendi legten den Fokus auf einen spirituellen Lebenswandel, die diätetischen Texte rückten ein körperlich tugendhaftes Leben in den Mittelpunkt. Beide Gattungen wollten also nicht die Gewissheit des Todeszeitpunkts herstellen, sondern ihren Lesern vor dem Hintergrund der Ungewissheit – quasi in Ratgebermanier – die Gewissheit eines guten und damit heilsamen Sterbens ermöglichen. Eine zweite Möglichkeit, mit der Ungewissheit umzugehen, stellten Versuche dar, über bestimmte Praktiken Gewissheit über den Todeszeitpunkt zu erlangen. Im kontemplativen Bereich waren es meditative Gebete wie die Gebetreihe St.  Bernhards,



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die eine Vision und damit transzendentes Wissen über den eigenen Sterbezeitpunkt evozieren wollen. Aber auch die medizinische Todesprognostik wurde in die Sterbe­ literatur des späten 15. Jahrhunderts integriert, wie die »Versehung« gezeigt hat. Die medizinische Todesprognose diente dazu, über diesseitige Mittel das Wissen zu erzeugen, das eine angemessene geistliche Sterbevorbereitung ermöglichte – nicht nur weil der Sterbezeitpunkt bekannt wurde, sondern auch weil je nach Schweregrad einer Krankheit verschiedene geistige Haltungen des Kranken als akzeptierbar galten. Der Schwerkranke durfte noch auf Heilung hoffen, der Todkranke musste sich ganz auf das Jenseits konzentrieren, um gut zu sterben. So zeigen sich also in den ausgewählten Texten zwei Möglichkeiten, der Ungewissheit des Todeszeitpunkts zu begegnen. Entweder versuchte man, durch spirituelle oder durch medizinische Praktiken den Todeszeitpunkt zu erfahren, oder man akzeptierte die Ungewissheit und richtete sein Leben entsprechend danach aus. Beide Möglichkeiten zeugen von dem Willen der spätmittelalterlichen Texte, den Menschen im Angesicht des Unvermeidlichen, dem Sterben, zu einer großen Sorge um die eigene Zukunft zu erziehen. Gleichzeitig waren die Texte bestrebt, Wissen und Praktiken zur Verfügung zu stellen, die den Lesenden – bei aller Prädestination des Todes – dazu befähigen sollen, über die eigene Zukunft selbst zu verfügen. Über die eigene Zukunft zu verfügen beginnt dabei in Vergangenheit und Gegenwart: In den Artes moriendi muss der Leser sich für eine gute Sterbevorbereitung mit der heilsgeschichtlichen Vergangenheit beschäftigen, konkret mit Christi Passionsleiden, aber auch mit der eigenen Vergangenheit, also den eigenen Sünden. Zugleich muss er in der Gegenwart durch Sterbeimagination an seiner spirituellen Besserung arbeiten. Das gleiche Zeitschema gilt für die »acht Psalmen St. Bernards«. Die »Ordnung der Gesundheit« setzt ebenfalls in Vergangenheit und Gegenwart an, wenn auch die christliche Heilsgeschichte hier keine Rolle spielt: Der Lesende muss seinen bisherigen Lebensstil überdenken, muss sich diätetisch schulen und dann auch entsprechend der Regeln leben, um zu seinem von Gott gesetzten Ende zu kommen. Die »Versehung« wiederum legt den Fokus stärker auf die Zukunft und fragt danach, was in Krankheit und Sterben alles bedacht werden muss – Vererbung, körperliche Pflege und die Gesundheit der Seele. Aber das Wissen über diese Aspekte muss in der Gegenwart erlernt werden; in der Krankheit selbst wird es zu spät sein. So zeigt sich in den spätmittelalterlichen Texten zum guten Sterben ein verstärktes Zusammenwirken verschiedener Zeitlichkeiten, sie entwerfen eine »fullness of time« des Sterbens.54 Eines steht dabei fest: Ob durch Akzeptanz der Ungewissheit oder 54 Zur »fullness of time« als Beschreibungselement des Zusammenwirkens verschiedenster Zeitlichkeiten vgl. Matthew S. Champion, The Fullness of Time. Temporalities of the Fifteenth-Century Low Countries, Chicago/London 2017. Die neuere Zuwendung der geschichtswissenschaftlichen, aber

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durch Prognostizierung des Sterbezeitpunkts, die Texte zur Sterbevorbereitung streben an, Tod und Sterben als Aspekte der Eschata, der letzten Dinge, im Alltäglichen, in der mittelbaren Zukunft zu verankern.55 Dies tun sie zum einen durch eine Verjenseitigung des Lebens, also eine stete Konzentration auf Sterben, Tod und Jenseits in der unmittelbaren Lebenswelt des Menschen; Zukunftsplanung für das Jenseits wird hier radikal in das Diesseits integriert. Zum anderen zeigt sich eine Verdiesseitigung der Eschata, indem erfolgreiche Zukunftsplanung für das Diesseits – etwa die Erhaltung der eigenen Gesundheit  – letztlich gleichzeitig erfolgreiche Zukunftsplanung für das Jenseits bedeutet. Im Angesicht der Unvermeidlichkeit des Sterbens und der Unverfügbarkeit der Todesstunde wird die eigene Zukunft zu einem Imaginationsund Gestaltungsraum,56 zu einer Zukunft mittlerer Ebene. Der Umgang mit Sterben und Tod, wie er sich in den Vorbereitungen auf einen guten Tod zeigt, ist keineswegs eine allein auf die Endzeit ausgelegte Denkart.57

auch germanistischen Forschung zu Zeitvorstellungen und Zeitlichkeiten kann hier nicht in extenso dargelegt werden. Vgl. für den Themenkomplex von Sterben, Tod und Jenseitsvorstellungen aber jüngst den Band Weitbrecht, Bihrer, Felber, Zeit (wie Anm. 11). 55 Klaus Oschema hat in Anlehnung an Jean-Claude Schmitt deutlich gemacht, dass die Erforschung der mittelalterlichen Zukunft sich stärker auf das Alltägliche statt auf die übergeordneten Fragen nach Eschatologie und Apokalyptik zu konzentrieren hätten. Vgl. Klaus Oschema, Die Zukunft des Mittelalters. Befunde, Probleme und (astrologische) Einblicke, in: Zukunft im Mittelalter. Zeitkonzepte und Planungsstrategien, hg. von Klaus Oschema und Bernd Schneidmüller (= Vorträge und Forschungen 90), Ostfildern 2021, S. 19–86, hier S. 37. Dem ist zuzustimmen, wenn auch die Ergebnisse dieses Beitrags zeigen, dass in den spätmittelalterlichen Quellen zur Sterbevorbereitung ein Bestreben zu erkennen ist, die Eschata in das alltägliche Leben der Menschen zu integrieren. Womöglich wäre es für die Erforschung von Zeitvorstellungen in der Vormoderne von großer Bedeutung, die Ebenen von Diesseits und Jenseits als stärker verschränkt zu betrachten. 56 Zum Ineinandergehen von Planungsstrategien für die Zukunft im Diesseits wie für die Zukunft im Jenseits vgl. Petra Schulte, Zusammenfassung, in: Zukunft im Mittelalter. Zeitkonzepte und Planungsstrategien, hg. von Klaus Oschema und Bernd Schneidmüller (= Vorträge und Forschungen 90), Ostfildern 2021, S. 313–327, hier S. 320–327, zur Zukunft als Raum der Imagination vgl. ebd., S. 313. 57 Die Ergebnisse dieses Beitrags fügen sich somit in die Reihe von mediävistischen Korrekturen gegenüber Lucien Hölschers These des zukunftslosen Mittelalters ein, nach der das Mittelalter keine Zukunft mittlerer Ebene gekannt habe. Die in Augsburg im 15.  Jahrhundert gedruckten, im Spätmittelalter entstandenen Texte zur Sterbevorbereitung zeugen aber doch vom Bewusstsein der Autoren für das Sterben als einer mittelbaren und gestaltbaren Zukunft des mittelalterlichen Menschen. Zur These Hölschers und der mediävistischen Kritik daran vgl. jüngst Oschema, Zukunft (wie Anm. 55), S. 35f. Die Ergebnisse dieses Beitrags sind erste zentrale Ergebnisse meiner an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel entstehenden Dissertation zu spätmittelalterlichen Artes moriendi unter dem Arbeitstitel »Gutes Sterben und die Reise ins Jenseits – Verschränkungen von Endlichkeit und Ewigkeit im frühen deutschen Augsburger Buchdruck (1468–1530)«.

Arne Karsten

Grabmalspomp und Seelenmessen Kardinalstestamente und der Umgang mit Tod und Nachleben an der Kurie im 17. und 18. Jahrhundert

Am 30. Oktober 1661 machte Kardinal Bernardino Spada (1594–1661) sein Testament. Der zu diesem Zeitpunkt bereits krank darnieder liegende Kardinal konnte auf eine erfolgreiche Karriere zurückblicken, die ihn unter anderem als päpstlichen Nuntius nach Paris (1623–1627) und Legaten nach Bologna (1627–1631) geführt hatte.1 Seine einflussreiche Stellung an der Kurie hatte er nicht zuletzt dazu genutzt, mehrere seiner zahlreichen Neffen und Nichten standesgemäß zu verheiraten und den dadurch erreichten Status der Familie mittels einer intensiven Kunstpatronage augenfällig zu inszenieren. Noch in seinem letzten Willen brachte der sterbende Kardinal seinen ausgeprägten Sinn für die Bedeutung der Inszenierung des sozialen Status einer Familie zum Ausdruck, wenn er darin festlegte: Wir verfügen, dass, sobald die Seele sich vom Körper getrennt hat, unser Leichnam in die Kirche Santa Maria in Vallicella gebracht und dort aufgebahrt werde, und zwar mit jener Anzahl an Kerzen und an Aufwand, wie es unserem unten benannten Erben angemessen scheint, und dann soll der Leichnam in unserer Familiengrablege in der Kirche San Girolamo della Carità beigesetzt werden, bis einer der Unsrigen eine größere Kapelle in einer anderen Kirche errichten lässt, für welchen Fall wir verfügen, dass unser Leichnam dorthin überführt werde und dort beigesetzt werde mit jenen Grabmalserinnerungen, wie sie unserem untengenannten Erben und dem Bauherren der genannten Kapelle richtig erscheinen.2

1 Bernardino Spada starb wenige Tage nach der Abfassung seines Testaments am 10. November 1661. Zu seiner Person und Laufbahn Arne Karsten, Kardinal Bernardino Spada. Eine Karriere im barocken Rom, Göttingen 2001. 2 Zit. nach: Biblioteca Apostolica Vaticana (BAV), Barb. Lat. 4909, fol. 6r–9r: »Subito, che sarà separata l’anima dal corpo, vogliamo che sia portato il nostro cadavere nella Chiesa di S. Maria in Vallicella, et ivi esposto con quel numero di torcie, et apparato funebre, che parerà all’infrascritto nostro herede, e poi sia sepolto nella sepoltura di nostra Casa nella Chiesa di S. Girolamo della Carità per modo di deposito, sino che alcuno de nostri faccia una capella più grande in altra Chiesa, nel qual caso vogliamo, che il nostro cadavere sia ivi trasportato, e morato con quelle memorie sepulcrali, che più piacerà all’infrascritto herede, e a chi farà fare detta Capella.« Datiert: 30 Ottobre 1661.

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In der Tat befindet sich die letzte Ruhestätte Bernardino Spadas in der San Carlo Borromeo gewidmeten Familienkapelle in Santa Maria in Vallicella, Hauptkirche der Oratorianer in Rom. Eine Inschrift erinnert dort an den Kardinal und dessen wichtigste Karrierestationen und führt auf diese Weise den für die Vormoderne so selbstverständlichen und zentralen Zusammenhang zwischen Jenseits und Diesseits vor Augen; gewissermaßen an der Schnittstelle befindet sich das Testament, aufgesetzt noch zu Lebzeiten, doch mit Bestimmungen für die Zeit nach dem Tod. Im Folgenden wird es mir darum gehen, frühneuzeitliche Kardinalstestamente mit Blick auf die darin enthaltenen Bestimmungen über den Umgang mit den sterblichen Überresten zu untersuchen sowie im Hinblick auf die in ihnen enthaltenen Bestimmungen bezüglich der Erinnerung an den Verstorbenen durch ein Grabmal. Der reiche Bestand an Dokumenten dieses Typs in den römischen Archiven3 ermöglicht einen Blick auf den Umgang der kurialen Führungselite mit dem eigenen Tod, der nicht nur aus mentalitäts-, sondern auch aus sozialgeschichtlicher Perspektive aufschlussreich ist. In aller Regel beginnen diese Testamente mit Bestimmungen darüber, was unmittelbar nach dem Tod zu geschehen habe: wo der Leichnam aufzubahren und beizusetzen sei, wie viele Messen für das Seelenheil des Verstorbenen gelesen werden sollen, schließlich ob und in welcher Form ein Grabmal errichtet werden solle. Ein idealtypisches Beispiel für diese am Anfang des Textes stehende Passage bietet das Testament des Kardinals Raimondo Capizucchi (1616–1691): Sobald meine Seele sich vom Körper getrennt hat, soll mein Leichnam in der [für Kardinäle] üblichen Form in der Kirche Santa Maria in Campitelli aufgebahrt und dort in der Kapelle meiner Familie auch beigesetzt werden. Ebenso verfüge ich, dass nach meinem Tod so schnell wie möglich 1000 Totenmessen gelesen werden, zum einen Teil in der genannten Kirche, und zum anderen in anderen Kirchen gemäß der Wahl meines Erben, und zwar sollen so viele möglich an privilegierten Altären gelesen werden.4

Die Zahl der zu lesenden Totenmessen variiert, häufig findet sich wie bei Kardinal Capizucchi die Zahl 1000, doch hielt so mancher Purpurträger größeren Aufwand 3 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang vor allem die römischen Notariatsakten des Archivio Capitolineo im Archivio die Stato di Roma (ASR), daneben die Biblioteca Apostolica Vaticana (BAV). 4 Testament des Kardinals Raimondo Capizucchi vom 23. April 1691, in: ASR, Notari de Tribunale dell’Archivio Capitolineo (AC), vol. 920, vom 23. April 1691, fol. 494r–496v, hier: 495r–v: »Quando l’anima mia sara separata dal corpo voglio che il mio cadavero sia esposto nella forma solita nella Chiesa di S. Maria in Campitelli, e poi sepolto nella cappella di mia casa. Item voglio, che subito seguita la mia morte, e quanto prima sarà possibile si facciano celebrare per l’anima mia mille messe di requiem parte nella sudetta Chiesa, e la altra in altre Chiese ad arbitrio dal mio Erede e di esse qual maggior numero, che si potrà negli Altari privilegiati.«



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für geboten: 2000, 3000, auch 5000 Messen sind keine Seltenheit,5 und auch der Hinweis, sie seien so rasch wie möglich und vorzugsweise an (mit Ablassgewährung) privilegierten Altären zu lesen, verrät, dass die Furcht vor dem Aufenthalt im Fegefeuer, den ja die Totenmessen abkürzen sollen, höchst lebendig war. Doch keine Regel ohne Ausnahme, Kardinal Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1649–1713) verfügte in seinem letzten Willen am 31. Dezember 1712: Ich überlasse meine Seele Gott dem Allmächtigen […] und meinen Körper meiner Titelkirche San Martino e Silvestro, wo er beigesetzt werden soll im Eingangsbereich der alten, unterirdischen Kirche an unauffälliger Stelle und einzig mit dem Stein und der dort bereits befindlichen Inschrift, ohne weitere Zutat.

An Messen aber sollten nach seinem Tod lediglich drei gelesen werden und dann noch einmal zwei am ersten Jahrestag seines Todes, aber nur ein einziges Mal.6 Offensichtlich stand Kardinal Tomasi dem Glauben so vieler seiner Standesgenossen, durch die schiere Masse der Fürbitten das jenseitige Leben beeinflussen zu können, eher skeptisch gegenüber. In guter und recht zahlreicher Gesellschaft befand sich Tomasi hingegen mit seiner auf bescheidener Gestaltung der Grablege bestehenden Bestimmung. Sie findet sich in Kardinalstestamenten nicht selten, sehr selten freilich in Gestalt einer Verfügung von so demonstrativer Bescheidenheit wie bei Kardinal Antonio Barberini d. Ä. (1569–1646). Als Bruder Papst Urbans VIII. (reg. 1623–1644) war dieser immerhin Angehöriger einer Familie, die sich zum Zeitpunkt seines Todes am 11. September 1646 in den Spitzen der römischen Aristokratie etabliert hatte.7 Dessen ungeachtet ordnete der dem Kapuzinerorden angehörende Kardinal an, sein Leichnam 5 Einige Beispiele: 2000 Messen bei Marc’Antonio Franciotti (1592–1666) und Antonio Barberini d. Ä.; 3000 bei Alessandro Bichi (1596–1657) und Fabrizio Spada (1643–1717); 5000 bei Carlo Bonelli (1612–1676), Decio Azzolini (1623–1689) und Neri Corsini (1614–1678). Alle Angaben nach www. requiem-projekt.de, s.v. Datenbank. 6 ASR, 30 Notai Capitolinei, ufficio 27, 01/1713, fol. 17r–18r und 42r–v, Testament des Kardinal Giuseppe Maria Tomasi di Lampedusa, 31. Dezember 1712, hier: 17 r–v: »Lascio la mia anima all’onnipotente Dio […] e il mio corpo alla chiesa di S. Martino, e Silvestro mio titolo, ove sia seppellito nel primo ingresso della chiesa vecchia sotteranea in luogo umile colla sola iscrizione già fatta sopra il mattone apporvisi sopra, senz’altra aggiunta.« Eine »messa di requiem in S. Martino«, eine weitere »all’altare sotteraneo della Basilica di S. Pietro, chiamato Confessione degli Apostoli« und schließlich eine »in S. Paolo und S. Lorenzo fuori delle mura. E tutte le sudette messe s’intendano per una sola volta. Si faccia nella detta chiesa di S. Martino l’anniversario in capo all’anno della mia morte per l’anima mia, una volta sola, cioè nel primo anno solamente. […] Si canti in detta chiesa di S. Silvestro al Quirinale una messa da requiem parimente una sola volta.« 7 Die dabei angewandten Strategien untersucht detailliert Ulrich Köchli, Urban VIII. und die Bar-

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möge nach einfachen und privaten Exequien beigesetzt werden in der Kirche der Kapuziner, die ich darum bitte, meiner in ihren Messopfern und Gebeten zu gedenken: Und meine Grablege möge nicht anders ausgestaltet sein als aus schlichtem Marmor, ohne jeden skulpturalen Schmuck mit dieser Inschrift: Hier liegt Asche, Staub und Nichts.8

Den in Kardinalstestamenten oftmals geäußerten expliziten Verzicht auf ein Grabmal und Beisetzungspomp durchweg als einen nicht recht ernst gemeinten Bescheidenheitstopos zu deuten, halte ich für unzutreffend,9 denn die letztwilligen Verfügungen enthalten neben Fällen von demonstrativer Bescheidenheit auch ganz andere Bestimmungen bezüglich der Grablegengestaltung. Neben Kardinälen, welche die Beisetzung in der Familiengruft anordneten,10 gab es solche, die völlig unbefangen auf das berini. Nepotismus als Strukturmerkmal päpstlicher Herrschaftsorganisation in der Vormoderne (= Päpste und Papsttum, Bd. 46), Stuttgart 2017.  8 ASR, AC, Testamenti e donazioni Bd. 29 (1643–1646), fol. 557r-559v, hier: fol. 557v: »Sia il mio cadavero con semplice et private esequie, et senza alcuna pompa sepolto nella Chiesa de’ Padri Capuccini, quali prego a ricordarsi di me nelli loro sacrificii et orationi: Ne in altra maniera si adorna il mio sepolchro se non di puro marmo, et senza fregio alcuno con questa inscrizione Hic iacet pulvis cinis et nihil.«  9 Deren Bestimmungen im Hinblick auf ein Grabmal decken sich mit dem Befund aus Kardinalstestamenten des 13. und frühen 14. Jahrhunderts weitgehend: Auch hier ist weitaus seltener vom Wunsch nach Errichtung eines Grabmonuments die Rede als vom ausdrücklichen Verzicht darauf, vgl. Agostino Paravicini Bagliani, I testamenti dei cardinali del Duecento, Rom 1980. Auch im Testament des Kardinals Jacopo Ammanati-Piccolomini (1422–1479) heißt es: »[…] sapiant tamen omnia modestiam funeralem, non saeculi pompam. Si Roma, ut opto, morior, concupio in Basilica Apostolorum Principis Petri post Altare Beati Gregorii ad dextram sepulchri Pontificis Pii, ut qui me extulit vivens, mortuum iuxta se habeat«, zit. nach Sebastiano Pauli, Disquisizione istorica della patria, e compendio della vita di Giacomo Ammannati Piccolomini, Cardinale di S. Chiesa […], Lucca 1712, S. 104. Ich danke Anett Ladegast für diesen Hinweis. Anregend zu Kardinalstestamenten im Rom des 16. und 17. Jahrhunderts als sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Quellengattung Maria Antonietta Visceglia, Cardinali della Controriforma: Affetti ed Eredità, in: Religione, cultura e politica nell’Europa dell’età moderna. Studi offerti a Mario Rosa dagli amici, hg. von Carlo Ossola, Florenz 2003, S. 191–211. 10 Etwa, als ein Beispiel von vielen, Kardinal Fabrizio Spada (1643–1717): Sein Leichnam »sia seppelito nella sepoltura della mia casa, nella cappella di S.  Carlo fatta della ch. mem. del Marchese Horatio mio padre«. Das Testament in: ASR, AC, Ufficio 2, 06/1717, fol. 387r–390v und 418r–420v, hier: fol. 387v. Ludovico Ludovisi verfügte in seinem Testament die Beisetzung zu Füßen dieses Papstes: »Onero heredem meum […], ut corpus Gregorij XV. Patrui nostri funebri apparatu et pompa […] in templum S. Ignatii transferat, eoque in tumulo condat, quem tanti viri virtus, et cineres ipsi deposcunt. Meum vero corpus in sepulcro sito ad predicti Pontificis pedes locetur ut sicut viventem Patrum, cuius nepos sum ex animo veneratus, ita etiam mortuas subditas, et supplices cineres habeam.« Archivio Segreto Vaticano, Archivio Boncompagni Ludovisi, Prot. 297/I-27, fol. 388v. Zur politisch komplizierten Vorgeschichte, die dazu führte, dass dieses Grabmal erst knapp hundert Jahre nach dem Tod Gregors XV. errichtet wurde, vgl. Daniel Büchel, Arne Karsten und Philipp Zitzlsperger, Mit Kunst aus der Krise? Das Grabmal Pierre Legros’ für Papst Gregor XV. Ludovisi in der römischen Kirche Sant’Ignazio, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 29 (2002), S. 165–198.



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Abb. 1: Rom, Sant’ Ignazio, Grabmal Papst Gregors XV. und seines Kardinalnepoten Ludovico Ludovisi. Das nach Plänen des französischen Bildhauers Pierre Legros in den Jahren 1709 bis 1714 geschaffene Grabmonument zählt zu den spektakulärsten Ensembles der römisch-kurialen Erinnerungskultur in der Frühen Neuzeit.

Grabmal verwiesen, das sie sich schon zu Lebzeiten errichtet hatten,11 oder das aus dem Erbe finanziert werden sollte, wie etwa im Falle des Kardinalnepoten Ludovico Ludovisi (1595–1632), der ein Doppelgrab für seinen päpstlichen Onkel Gregor XV. (1621–1623) und sich selbst in der von ihm finanzierten Jesuitenkirche Sant’Ignazio in Rom wünschte und schließlich auch, wenngleich mit fast hundertjähriger Verzögerung, erhalten sollte.12

11 Wie etwa Kardinal Luca Antonio Virile (1569–1634), in: ASR, Archivio Capitolino (AC), uff. 8, vol. 1362, fol. 836r–841v, hier: 836r: »[…]voglio esser seppellito nella mia Sepoltura esistente in detta Chiesa [SS. Tinità dei Monti] con la mia memoria in una Lapide che dica Hic Lucas Antonius Cardinalis Virilis sepultus est, con l’ effigie della mia testa di marmo, et con l’inscrittione di tutti li carichi che ho havuto in vita mia.« 12 So z. B. Kardinal Savo Mellini (1644–1701): »e se nel tempo della mia morte non posso finire il mio deposito […], ordino, e voglio che si finischi quanto prima, e detta mia statua si collochi in fronte a quella del già Cardinal Giovanni Garzia [Mellini]«, ASR, AC, Uff. 31, 10/1700, fol. 288v; oder Kardinal Saverio Canale (1695–1773): »Per quello riguarda la sepoltura del corpo intendo, e voglio che loco depositi si metta in un luogo a parte della medesima chiesa [S. Marcello in Rom], ove sarò stato sepolto, obligando poi, e gravando il mio erede […] facendovi fare in una delle facciate […] a spesa della mia eredità un piccolo deposito di pietra«. ASR, AC, vol. 1626, fol. 298v.

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Geradezu genüsslich beschrieb etwa der Kardinal Berlinghiero Gessi (1563–1639) in seinem letzten Willen das Grabmal und die Patronatskapelle in S. Maria della Vit­ toria, mit deren Ausstattung er schon zu Lebzeiten begonnen hatte, in allen Einzelheiten: Neben einem Altarbild von Guercino sollte an den Seiten der Kapelle ein Bild Christi am Kreuz von Guido Reni sowie gegenüber ein Porträt des Kardinals selbst, ebenfalls von der Hand des berühmten Reni, angebracht werden, nebst einer im Entwurf dem Testament beigelegten Gedenkinschrift.13 Derartig detaillierte Bestimmungen finden sich allerdings eher selten, und der Glaube an eine Verbindung zwischen der Errichtung eines Grabmals und dem eigenen Seelenheil ist in keinem einzigen Fall auch nur ansatzweise zu erkennen. Die Zurückhaltung bei Angaben über die Gestaltung des Grabmals steht in auffälligem Kontrast zum bereits erwähnten Nachdruck, mit dem die möglichst rasch nach dem Tod zu erfolgende Lesung von meist nach Tausenden zählenden Messen »per suffragio della nostra anima« angeordnet wurde. Vor allem aber finden sich in den Testamenten oftmals Formulierungen, die jedwede Form inszenierten Gedenkens explizit verbieten. Kardinal Leandro Porcia (1673–1740) etwa flehte seine Testamentsvollstrecker geradezu an, sie möchten doch all ihre Autorität einsetzen, um seinen Wunsch nach einer Beisetzung, wie sie für schlichte Mönche üblich sei, zu erfüllen.14 Aber 13 Das Testament des Berlinghiero Gessi in: ASR, AC, vol. 1383, fol. 117r–137r, hier: fol. 117v: »Volo à meis executoribus mandari, quod Capella, mihi ab iis dictis Patribus Carmelitanis in eadem Ecclesia de Victoria concessa, ornetur, et perficiatur istarum aliarum Cappellarum eiusdem Ecclesiae, et specialiter eiusque perfectius, sit confecta, et accomodata: ad Altare apponatur tabula, seu pictura salvatoris, confecta à Joanne Francisco Barberio de Cento [Guercino]. In muris eiusdam Capellae volo ex una partio inseri tabulam Christi pendentis in Cruce, confectam à Guido Reno: ex altra parete tabulam meae imaginis similiter picta à Reno, et sub illa lapide cum verbis descriptis in folio presenti testamento annexo: et pro impensis dicti operis quod erogentur fructus dugendorum meorum locos Montis Salis, et nolo Domino Berlingerio Gypsio meo Nepoti cui inferius dicta loca relinquo ius aliquod in illorum fructibus acquiri, nisi postquam in omnibus et per omnia eadem Capella erit ornata, et perfecta.« Zum Testament Gessis und seiner Grabkapelle vgl. Edvige Aleandri Barletta, Il testamento del cardinale Berlingiero Gessi e la Capella della SS. Trinità in S. Maria della Vittoria, in: Commentari 21 (1970), S. 145–152. 14 ASR, 30 Not. Cap., uff. 6, 06/1740, fol. 40r: »[…] vorrei che mi fossero fatti i funerali primari e da semplice monaco nella mia Chiesa Titolare di S. Callisto ed imploro tutta l’autorità de miei Signori Esecutori Testamentari, acciò m’ottengano questa grazia, che ardentemente desidero. E non potendosi ottenere ordino e voglio che i funerali mie siano celebrati colla maggiore modestia, cosichè nell’apparato della Chiesa non v’eressi ne oro ne argento e vi siano pochissime armi proibendo espressamente che questa si effigano fuori della Chiesa alla muraglia.« Zur Beisetzung Porcias vgl. Alphonsus Ciaconius, Vitae et res gestae pontificum Romanorum et S.R.E. Cardinalium […], Bd. 6, Rom 1757, Sp. 536: »Corpus eius translatum fuit ad Ecclesiam eius Titularem S. Calisti, ibique solemni, ac funebri pompa humatum fuit, tumuloque dejaecta fuit inscriptio«. Die Grabinschrift zit. nach www. requiem-projekt.de Datenbank, s.v. Porcia, Leandro: »g r av ior i b v s s e di s rom a n a e n e g o t i i s a dh i bi t o«. Auch Kardinal Gioacchino Besozzi (1679–1755) bat ausdrücklich »per le viscere di Gesù Christo la Santità di Nostro Signore che permetta, e non si faccia alterare la mia volontà



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alles Bescheidenheitspathos war vergebens: Seine Beisetzung fand mit dem gebotenen Pomp statt. Und auch eine Grabplatte mit Inschrift ließen seine Brüder noch in seinem Todesjahr anfertigen, in der sie die Nachwelt ausführlich über die Verdienste des verstorbenen Kardinals »in höchst bedeutenden Angelegenheiten der römischen Kirche« informierten. In der Regel wird in den Testamenten jedoch, weniger pathetisch als im Falle des Leandro Porcia, nüchtern der Wunsch geäußert, man wolle »so schlicht wie möglich« beigesetzt werden. Gerade diese Formulierung, aber auch die ebenfalls oft anzutreffende Wendung »wie es einem Kardinal der römischen Kirche angemessen ist«15 macht deutlich, dass weder die Gestaltung der Exequienfeiern noch die Grabmalserrichtung sich stets nach den Vorstellungen des Verstorbenen und seiner individuellen Religiosität richteten, sondern einer anderen Logik, nämlich den Ansprüchen der Nachwelt unterlagen.16 Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für das Spannungsverhältnis zwischen den Wünschen der Verstorbenen und den Bedürfnissen seiner Verwandten bietet die Grabplatte des Kardinals Francesco Maria Brancaccio (1592–1675) in der römischen Jesuitenkirche Il Gesù. Auf ihr ließ der Neffe und Universalerbe des Kardinals, Stefano Brancaccio, festhalten, er habe, den testamentarischen Bestimmungen des Onkels entsprechend, äußerste Schlichtheit bei der Gestaltung des Grabmals gewahrt und »die Inschrift auf bloßem Stein weder mit Lobes- noch mit Skulpturenschmuck verziert«.17 An anderer Stelle jedoch werde er e desidero esser sepolto nel luogo ove si sepelliscono li altri monaci«. ASR, 30 Not.Cap., ufficio 32, 06/1755, fol. 147r. 15 Vgl. etwa die testamentarischen Bestimmungen der Kardinäle Decio Azzolini, Carlo Leopoldo Calcagnini (1679–1746), Marc’Antonio Franciotti, Mario Marefoschi (1714–1780), Galeazzo Marescotti (1627–1726) und Bernardino Scotti (1656–1726), in: www.requiem-projekt.de, Datenbank, Kardinalsgrabmäler, s.v. Schon der 1504 von Julius II. (1503–1513) berufene päpstliche Zeremonienmeister Paris de Grassi erhob in seinem »Tractatus de funeribus et exequiis« den Anspruch, dass für die Regie der Papst- und Kardinalsbegräbnisse nicht etwa die Erben und Testamentsvollstrecker (und schon gar nicht der Wille des Verstorbenen) maßgeblich seien, sondern allein die Zeremoniare, vgl. Nikolaus Staubach, qu i bus v i rt u t u m t e s t i mon i i s i n v i ta f l oru i t ; i l l i s i n mor t e or n e t u r . Paris de Grassis und das kuriale Begräbniszeremoniell des frühen 16. Jahrhunderts, in: Praemium Virtutis II. Grabmäler und Begräbniszeremoniell in der italienischen Hoch- und Spätrenaissance, hg. von Joachim Poeschke u. a., Münster 2005, S. 13–28, hier: S. 18. 16 Wie denn allgemein die Trauerrituale der adeligen und zumal der höfischen Gesellschaft abhängig von der sozialen Position des Verstorbenen waren, vgl. hierzu mit Beispielen für die politische Bedeutung der Traueretikette im Frankreich des 18. Jahrhunderts Martin Papenheim, Erinnerung und Unsterblichkeit. Semantische Studien zum Totenkult in Frankreich (1715–1794), Stuttgart 1992, S. 28–32. 17 Die Grabinschrift in Il Gesù lautet: »d. o. m .   / h ic vo c e m a ng e l i r e s v r r e c t ion i s   / e t a dv e n t v m m ag n i de i e t s a lvat or i s i e s v c h r i s t i   / f r a nc i s c i m a r i a e c a r di n a l i s br a nc at i e p i s c op i p or t v e n   / os s a c i n e r e s q. e i v s de m pe c c at or i s e x pe c ta n t   / obi i t a n no m d c l x x v a e tat i s l x x x i i i   / h a nc n v di

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seiner Dankbarkeit angemesseneren Ausdruck verleihen, sprich ein entsprechendes Grabmal errichten lassen.18 Einen Widerspruch zwischen der Erfüllung des Wunsches nach ostentativer Bescheidenheit einerseits und ebenso ostentativer Verherrlichung des Verstorbenen an anderem Orte andererseits sah der Erbe offensichtlich nicht. Noch eindeutiger vereinnahmte der Kardinal Francesco Barberini  d.  J. (1662– 1738) zu Beginn des 18. Jahrhunderts seine verstorbenen Vorfahren im Dienste eines familienidentitätsstiftenden Erinnerungsensembles in der Patronatskirche des wichtigsten Feudalsitzes der Familie in Palestrina.19 Das südlich von Rom in den Colli Albani gelegene Fürstentum hatten die Barberini 1630, zur Zeit der Herrschaft »ihres« Papstes Urban VIII., von der altadeligen Baronalfamilie Colonna erworben und in der Folgezeit mit erheblichem finanziellen Aufwand zum Zentrum ihrer Feudalherrschaft ausgebaut.20 Nach der Errichtung der Kirche S. Rosalia durch seinen Vater, den principe Maffeo Barberini, entwickelte Kardinal Francesco d. J. (1662–1738) den Plan, den Innenraum der Kirche zu einem veritablen Familienmausoleum umzugestalten. In zwei Schritten entstand dabei ein Erinnerungsensemble, das nicht nur durch seine ästhetische Gestaltung beeindruckt, sondern den Betrachter über seinen Zweck in

nom i n i s n v d o q. i n l a p i de  / non l av di s non s c v l p t v r a e or n a m e n t o   / de c or at e m e p ig r a ph e m   / v t i t e s ta m e n t o i l l e r ig oros e p r a e s c r i p s e r at  / s ic ope r e r e l ig ios e i n s c r i p ta m volv i t p os v i t q.   / s t e ph a n v us a rc h i e p i s c op v s br a nc at i v s e p v s v i t e r bi e ns i s  / e s f r at r e n e p os e t h e r e s  / n e ta n t o pat ruo mode r at ion i s   / s i bi obe di e n t i a e g l or i a m i n v i de r e t   / a n no s a lv i t i s m d c l x x i x  / a l io l o c o ta n t i s v i r t v t i b v s ta n t i s qv e i n s e be n e f ic i i s / mon v m e n t v m dig n i v s e xc i tat v rv s«. 18 Zu diesem Grabmal mit Büste des Kardinals in S.  Angelo a Nilo in Neapel vgl. Leo Bruhns, Das Motiv der ewigen Anbetung in der römischen Grabmalsplastik des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 4 (1940), S. 253–432. 19 Vgl. zum Folgenden die umfassende Studie von Axel C. Gampp, Santa Rosalia in Palestrina. Die Grablege der Barberini und das ästhetische Konzept der ›Magnificentia‹, in: Römisches Jahrbuch der Biblioteca Hertziana 29 (1994), S. 343–368. Zur größeren Autonomie, die der Adel bei der Ausgestaltung von Kirchen auf seinen Feudalsitzen besaß und den daraus mitunter resultierenden geradezu exzessiven Zügen des Familienkultes in diesen Kirchen grundlegend Christoph Weber, Familienkanonikate und Patronatsbistümer. Ein Beitrag zur Geschichte von Adel und Klerus im neuzeitlichen Italien, Berlin 1988. Zu den Grabmonumenten der Barberini in Rom vgl. Ulrich Köchli, Grabmalskultur und soziale Strategien im frühneuzeitlichen Rom am Beispiel der Familie Urbans VIII. Barberini, in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 97 (2003), S.  71–88 sowie Carolin Behrmann, Die Rückkehr des lebenden Toten. Berninis Grabmal Urbans VIII. (1623–1644), in: Totenkult und Wille zur Macht. Die unruhigen Ruhestätten der Päpste in St. Peter, hg. von Horst Bredekamp und Volker Reinhardt, Darmstadt 2004, S. 179–196. 20 Grundlegend hierzu Jörg-Martin Merz, Das Heiligtum der Fortuna in Palestrina und die Architektur der Neuzeit, München 2001.



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der Inschrift am Monument für Kardinal Antonio Barberini d. J. (1608–1671) mit unmissverständlichen Worten aufklärt: Kardinal Francesco d. J. habe dem Wunsch des Vaters Maffeo folgend und als Denkmal menschlicher Vergänglichkeit zu Lebzeiten und im Vollbesitz seiner Kräfte sich und seinem Geschlecht diesen Grabplatz zur zukünftigen Gemeinschaft ausgewählt, damit die [hier] vereinten sterblichen Überreste der Verstorbenen den Lebenden ein Zeugnis der Eintracht gäben.21

Was an diesem prachtvollen Marmorensemble ein »Denkmal menschlicher Vergänglichkeit« sein sollte, wird das Geheimnis des Auftraggebers bleiben. Der Absicht Kardinal Francesco Barberinis, die Einigkeit und den Rang seines Hauses der Nachwelt für alle Zeiten nachdrücklich vor Augen zu führen, fielen jedenfalls die individuellen Wünsche seiner Ahnen hinsichtlich ihrer letzten Ruhestätte unbekümmert zum Opfer: So wurde Kardinal Antonio Barberini d. J. in sein prachtvolles Grab in S. Rosalia aus dem Dom von Palestrina überführt. Dort hatte er zuvor gemäß seiner expliziten testamentarischen Bestimmung,22 gewissermaßen seinem Onkel Kardinal Antonio d. Ä. nacheifernd, unter einer Grabplatte mit der bezeichnend schlichten Inschrift »Peccator« geruht.23 Dass selbst Ordensgemeinschaften in den Grabmälern mitunter keineswegs nur ein Mittel zur Förderung des Seelenheils der Verstorbenen sahen, sondern ebenso ein Vehikel zur Perpetuierung weltlichen Ruhmes, lässt die Grabinschrift des Kardinals Scipione Cobelluzzi (1564–1626) in Santa Susanna zu Rom in exemplarischer Weise erkennen. Finanziert wurde sie vom Universalerben des Kardinals, dem Jesuitenkolleg von Viterbo,24 und auf der Inschrift wird als herausragendes Verdienst Cobelluzzis folgendes angeführt: 21 »m a ph a e i pat r i s vo t u m s e c u t us   / e t h u m a n a e c a duc i tat i s m e mor   / v iv us a dh uc e t va l e n s s i bi g e n t i l i bus q : s u i s f u t u ru m c om u n e m t u m u lu m h ic e l e g i t  / u t de f u nc t oru m c on i u nc t io c i n e ru m v i v e n t i bus f or e t c onc or di a e d o c u m e n t u m«, zit. nach Gampp, S. Rosalia (wie Anm. 19), S. 359. 22 Vgl. Lorenzo Cardella, Memorie storiche de’ Cardinali della Santa Romana Chiesa, 9 Bde., Rom 1792–97, Bd. 6, S. 283: »con questa breve epigrafe: Il Peccatore, a norma della testamentaria sua disposizione«. 23 Gampp, S. Rosalia (wie Anm. 19), S. 359. 24 Die Tatsache, dass Cobelluzzi nicht seine Familie, sondern den Ordenskonvent der Jesuiten in seiner Heimatstadt Viterbo als Universalerben einsetzte, belegt seine Zugehörigkeit zur Gruppe der spirituali im Kardinalskollegium; vgl. Wolfgang Reinhard, Paul V. Borghese (1605–1621). Mikropolitische Papstgeschichte (= Päpste und Papsttum, Bd. 37), Stuttgart 2009, S. 256: »Scipione Cobelluzzi war Humanist, der als Sohn Viterbos von Kardinal Farnese, dann aber vor allem von [Kardinal Girolamo] Bernerio protegiert wurde. 1606–1623 war er Brevensekretär […]. 1616 wurde er Kardinal, machte aber als solcher kaum von sich reden, erwies sich allerdings nicht als Borgheseklient, sondern wurde

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Ganz Rom ist sich einig im Lob, das er aufgrund seiner Gelehrsamkeit den Purpur erlangt hat, den Wissenschaften durch seine stetige Förderung der Gelehrten Dank abgestattet und das Ergebnis seines Wirkens daran gemessen hat, möglichst vielen zur verdienten Förderung zu verhelfen.25

Besonders in der Schlusswendung des Zitats schimmert ein entschieden heidnisch-antik anmutendes Leistungsmotiv auf, nämlich dasjenige des tüchtigen Patriziers, der sich durch rastlose Tätigkeit um seine Klientel verdient macht. Im Fall der eingangs erwähnten Familie Spada schließlich, der im 17. Jahrhundert der Aufstieg in die Spitzen der römischen Aristokratie gelang, können wir die Instrumentalisierung der Memoria im Dienste der Statusbehauptung mit besonderer Klarheit und auf einem bemerkenswerten Reflexionsniveau der Protagonisten über mehrere Jahrzehnte verfolgen. Dank einer glücklichen Überlieferungslage lässt sich die Erinnerungspolitik dieser Familie durch den vollständig erhaltenen Briefwechsel zwischen den Protagonisten des Aufstiegs, dem Kardinal Bernardino Spada und seinem Bruder, dem Oratorianerpater Virgilio Spada (1596–1662) außerordentlich detailliert nachzeichnen. Die Errichtung von Grabkapellen diente den Spada in sehr zielgerichteter Weise als flankierende Maßnahme bei der Etablierung von Familienzweigen in Bologna, Faenza, Spoleto und Rom.26 Allein in Rom zogen sich die Planungen und Baumaßnahmen im Bereich der Grabkapellen über mehr als drei Jahrzehnte hin und betrafen Kapellen in S. Girolamo della Carità,27 S. Andrea della Valle (die schließlich nicht ausgeführt wurde) und S. Maria in Vallicella.28 Besonders die Grablege in S. Girolamo della Carità diente dabei als aufwendig inszenierte Ahneneher zu den spirituali gerechnet.« 25 »d o m / s c i p ion i ∙ c obe l lv t io ∙v i t e r bi e n s i   /   s ∙ s v s a n n a e ∙ c a r d ∙bi bl io t h e ­ c a r i o   /   e c c l e s i a s t i c a e ∙ d i g n i t a t i s ∙ l i b e r t a t i q v e   /   r e t i n e n t i s ­s i m o   / i n ∙ q v e m ∙ h o c ∙ e l o g i v m ∙ r o m a ∙ c o n s e n t i t   /   l i t t e r i s ∙ c o n c i l i a ­t r i c i b v s   / p v r p v r a m∙a de p t v m∙e sse / pe r pet vo ∙l i t t e r ato­r v m∙pat roc i n io / gr at i a m∙ l i t t e r i s ∙ r e d d i d i s s e   /   f r v c t v m ∙ p o ­t e n ­t i a e   /   o p p o r t v n i t a t e ∙ b e n e m e r e n d i ∙ d e ∙ p l v r i b v s   /   a e s t i m a s s e   /   o b i i t∙ a n ∙ d o m ∙ m c x x v i   /   a e t a t i s ∙ s va e ∙ l x i i   /   c o l l e g i v m ∙ v i t e r b i e n s e ∙ s o c i e t∙ i e s v   /   t e s t a m e n t o ∙ h e r e s   /  p os v i t«. 26 Vgl. hierzu Arne Karsten, Vier Hochzeiten und ein Todesfall: Die Familie Spada zwischen Rom und Bologna, in: Modell Rom? – Der Kirchenstaat und Italien in der frühen Neuzeit: Ausstrahlungen, Wechselwirkungen und Antagonismen, hg. von Daniel Büchel und Volker Reinhardt, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 21–42. 27 Zu den Ambitionen der Auftraggeber, die zur Neugestaltung dieser Kapelle führten, zusammenfassend Fulvio Lenzo, La Cappella Spada in S. Girolamo della Carità. Una »stanza addobbata« per le ambizioni di un cardinale, in: Römische Historische Mitteilungen 50 (2008), S. 283–428. 28 Vgl. David L. Butler, The Spada Chapel in S. Maria in Vallicella, Rome. A Study of Late Baroque Patronage, Taste, and Style, Ann Arbor 1993.



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Abb. 2: Rom, S. Girolamo della Carità, Cappella Spada, Detail: Porträtmedaillons. Die traditionsarme ­Familie Spada suchte ihren Aufstieg aus im nördlichen Kirchenstaat beheimatetem Provinzadel in die Spitzen der römischen Aristokratie nicht zuletzt durch den Verweis auf halblegendäre Vorfahren im Medium der Sepulkralplastik zu legitimieren.

galerie. Angesichts der in Rom weitverbreiteten Zweifel an den altadeligen Wurzeln des Hauses Spada musste der Familie am Nachweis einer solchen Tradition besonders gelegen sein.29 Und so machten sich die Brüder Bernardino und Virgilio an umfassende genealogische Studien, an deren Ende sie eine eindrückliche Ahnenreihe bis ins Mittelalter rekonstruiert hatten.30 Einige dieser Vorfahren wurden dann in Gestalt von Porträtmedaillons an den Seitenwänden der Familienkapelle in S. Girolamo della Carità ins Bild gesetzt. Über die der Auswahl zugrunde liegenden, höchst pragmatischen Kriterien informiert uns Virgilio Spada im Fall des Bernardino Lorenzo Spada, der es im 16. Jahrhundert zum Bischof der völlig unbedeutenden Diözese Calvi gebracht hatte, mit der 29 Zu den Hintergründen dieser Zweifel und den Gegenmaßnahmen der Spada-Brüder vgl. Arne Karsten, Familienbande im Außendienst. Die diplomatischen Aktivitäten des Kardinals Bernardino Spada (1594–1661) im Kontext der Familienpolitik, in: Außenbeziehungen aus akteurszentrierter Perspektive. Verflechtung – Gender – Interkulturalität, hg. von Hillard von Thiessen und Christian Windler, Köln, Weimar, Wien 2010, S. 45–61. 30 Überliefert in: ASR, Fondo Spada Veralli (FSV), Bd. 266: »Note di cose domestiche fatta dal cardinale Bernardino Spada.«

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ihm eigenen erfrischenden Direktheit: »Ein Bischof vor 114 Jahren bedeutet nicht viel für arrivierte Familien, aber dort, wo es gerade Geschwätz und Gerede gegeben hat, fängt man besser mit einem Nachweis an, der die anderen Erinnerungszeichen glaubwürdiger macht.«31 Die blassen Schatten längst verstorbener Vorfahren wurden auf diese Weise zur memorialen Verfügungsmasse, mit deren Hilfe sich die diskreditierenden Zweifel an den legitimierenden Traditionen des Familienverbandes bekämpfen ließen. Im Zusammenhang mit den Erinnerungsstrategien des Hauses Spada verdient ein Spezifikum der römischen (und allgemeiner: der italienischen) Grabmalskultur hervorgehoben zu werden, der die hiesigen frühneuzeitlichen Grabmäler von ihren nordalpinen Pendants, jedenfalls solchen des Adels, in signifikanter Weise unterschied: der Verzicht auf Ahnennachweise in Gestalt der Wappenpräsentation. Eine solche erfreute sich an Grabmälern deutscher Adeliger, zumeist in Gestalt der 16-fachen Ahnenprobe, großer Beliebtheit.32 In Rom hingegen war und blieb es üblich, lediglich das Familienwappen des bzw. der Verstorbenen am Grabmal anzubringen, was umso bemerkenswerter ist, als das Wappen als Medium zur visuellen Inszenierung sozialer Beziehungen sonst intensiv genutzt wurde.33 Um seine Verbundenheit mit Papst Urban VIII., der ihn 1626 zum Kardinal ernannt hatte, zum Ausdruck zu bringen, ließ etwa Bernardino Spada sogar noch die hölzernen Skulpturenposta­ mente in seinem Palazzo mit Devotionswappen bemalen, die das Spada- mit dem Barberini-Wappen verbunden zeigten. An Grabmälern aber finden wir solche heraldisch-klientelären Verknüpfungssysteme gerade in Rom nicht ein einziges Mal. Angesichts der ungewöhnlichen sozialen Mobilität der römischen Oberschicht, deren

31 ASR, FSV, Bd. 490: »Scritture, conti e disegni relativi alla costruzione delle cappelle di famiglia in Roma e Bologna a cura di mons. Virgilio e Orazio Spada«, fol. 121r: »Un vescovo havuto in casa cento quattordici anni sono, non è gran cosa in famiglie accreditate, ma dove sono precedute ciarle e concetti, si comincia da un documento che […] serve a render più credibili le altre memorie.« 32 Vgl. hierzu Inga Brinkmann, Grabmonumente als Zeichen gegenreformatorischer Politik im Umfeld Julius Echters von Mespelbrunn, Fürstbischof zu Würzburg, in: Das Grabmal des Günstlings, hg. von Arne Karsten, Berlin 2011, S. 107–122. Auch an Grabmälern für hohe Kleriker traten im Reich im Laufe des 16. Jahrhunderts Wappen an die Stelle von Heiligenfiguren, vgl. Wolfgang Schmid, Memoria in der Kathedralstadt – zu den Grablegen der Erzbischöfe von Trier, Köln und Mainz vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, in: Memoria, Communitas, Civitas. Mémoire et conscience urbaines en occident à la fin du moyen âge, hg. von Hanno Brand, Pierre Monnet und Martial Staub, Ostfildern 2003, 243–262, hier S. 248. 33 Vgl. hierzu Wolfgang Reinhard, Sozialgeschichte der Kurie in Wappenbrauch und Siegelbild. Ein Versuch über Devotionswappen frühneuzeitlicher Kardinäle, in: Römische Kurie. Kirchliche Finanzen. Vatikanisches Archiv. Studien zu Ehren von Hermann Hoberg, hg. von Erwin Gatz, Rom 1979, S. 741–772.



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Bestand ja auch im Gegensatz zu anderen Städten nicht durch ein goldenes Buch, das die zur Aristokratie zählenden Familie aufführte, dauerhaft festgeschrieben war,34 lag dem römischen Adel die in Deutschland und Frankreich weitverbreitete Methode des Nachweises von 4, 8, 16 oder gar 32 adligen völlig fern. Sie wäre auch seit dem Ende des 16.  Jahrhunderts wegen des ständigen Einströmens bürgerlicher Geldfamilien absolut undurchführbar gewesen. Im Kirchenstaat bildete sich am Ende eine völlige Präponderanz der hohen Kirchenmänner in der Ahnenreihe heraus.35

Entsprechend wichtig musste gerade in vergleichsweise traditionsarmen Aufsteigerfamilien die angemessene Inszenierung dieser prestigerelevanten, herausragenden Vorfahren im Medium der Sepulkralkunst erscheinen. Die Ausprägung spezifischer Grabmalselemente und formen folgte mithin im Rom der Frühen Neuzeit in vielen Fällen, auch und gerade innerhalb der hohen Geistlichkeit, nicht etwa der Logik religiöser Vorstellungen, wie sie in Kardinalstestamenten zum Ausdruck kamen, sondern den gesellschaftlichen Bedürfnissen der Nachwelt.

34 Die Anlage eines solche goldenen Buchs wurde erst am 04.01.1746 unter Benedikt XIV. Lambertini (1740–1758) durch die Bulle »Urbem Romam« verfügt, vgl. Christoph Weber, Kardinäle und Prälaten in den letzten Jahrzehnten des Kirchenstaats. Elite-Rekrutierung, Karriere-Muster und soziale Zusammensetzung der kurialen Führungsschicht zur Zeit Pius’ IX. (1846–1878), 2 Bde., Stuttgart 1978 (= Päpste und Papsttum, Bd. 13), S. 35. 35 Weber, Kardinäle und Prälaten (wie Anm. 35), S. 19.

Gudrun Gersmann

Von Friedhöfen und Massengräbern: Skizze einer Totengeschichte der Französischen Revolution Mitten im Herzen von Paris liegt der Picpus-Friedhof, auf den ersten Blick ein friedliches grünes Plätzchen nahe der Place de la Nation im quirligen verkehrsreichen 12.  Arrondissement.1 Der idyllische Eindruck trügt jedoch, denn der einzige noch existierende private Pariser Friedhof ist ein sinistrer Ort, der in einem eingefriedeten Bereich zwei Massengräber aus der Zeit der revolutionären Schreckensherrschaft beherbergt.2 Nur wenige Pariser*innen wissen, dass der Picpus-Friedhof als Begräbnisstätte für Hunderte von Guillotine-Opfern im Jahr 1794 traurige Berühmtheit erlangt hat und damit zum Schauplatz eines bislang weitgehend unerforschten – wenn nicht verleugneten – Kapitels der Stadtgeschichte geworden ist. Tatsächlich erstaunt es, wie wenig sich auch die Revolutionsforschung bisher mit dem posthumen Schicksal der Revolutionsopfer und der Frage nach dem Verbleib ihrer Überreste befasst hat. Was ist aus den Massengräbern geworden, was geschah mit den Leichen der Guillotinierten? Und wie ist die Nachwelt damit umgegangen?3 Am Beispiel der vier Pariser Revolutionsfriedhöfe Madeleine, Errancis, Sainte-Marguerite und Picpus wird auf den folgenden Seiten das Projekt einer ersten Spurensuche unternommen. Der Anblick der eingezäunten Massengräber des Picpus ruft spontan eindeutige Assoziationen wach: Im Europa des 20. und 21. Jahrhunderts sind Massengräber zum Symbol unvorstellbarer Grausamkeiten, »ethnischer Säuberungen« und brutaler Massaker an der unschuldigen Zivilbevölkerung geworden. Die Namen von Oradour, Srebrenica und anderen Schreckensorten haben sich tief in das Gedächtnis der Zeitgenossen eingebrannt. Im Ancien Régime war die Bestattung in Massengräbern über 1 Immer noch lesenswert die Darstellung von Maxime Du Camp, Les cimetières de Paris, in: Revue des Deux Mondes, Bd. 2, Nr. 4 (11874), S. 812–851. 2 Albrecht Schreiber, Friedhof Picpus in Paris, in: Ohlsdorf-Zeitschrift für Trauerkultur, Ausgabe Nr.  77/78, II/III 2002  – Juni 2002, https://fof-ohlsdorf.de/kulturgeschichte/2002/77s48_picpus. htm (letzter Zugriff: 19.12.2022). 3 Zur generellen Vernachlässigung der human remains durch die Forschung weiterführend auch die Überlegungen von Elisabeth Anstett, Jean-Marc dreyfus, Introduction. Corpses and Mass Violence. An Inventory of the Unthinkable, in: Jean-Marc dreyfus, Elisabeth anstett, Human Remains and Mass Violence. Methodological Approaches, Manchester 2014, S. 3: »Yet, while the body, when alive, is considered from almost every possible perspective by the social sciences, it has so far been paid virtually no attention once dead […]. Yet human remains constitute a grey area, or even a taboo, in the research on the body conducted in the human science.«

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Abb. 1: Tafel am Eingang des Pariser Picpus-Friedhofs im 12. Arrondissement: »Hier wurden in zwei Massengräbern die Körper von mehr als 1300 Personen beigesetzt, die zwischen dem 13. Juni und dem 28. Juli 1794 auf der Place du Trône guillotiniert wurden.«

lange Jahrhunderte hinweg jedoch zumindest für den gemeinen Mann der Regelfall: Abgesehen von den privilegierten Vertretern des Adels, die sich ad sanctos in den Kirchen bestatten ließen, wurden die in der Kapitale Verstorbenen seit dem Mittelalter gewöhnlich in anonymen Gemeinschaftsgräbern, den fosses communes beerdigt, egal, ob sie friedlich eingeschlafen oder einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen waren.4 Im Laufe des 18. Jahrhunderts gerieten diese Bestattungsformen jedoch nicht nur in der gelehrten Welt, sondern auch bei der breiten Bevölkerung in Verruf, fürchtete man sich doch zunehmend vor den giftigen Gasen, die den Leichengruben entströmten und unter Umständen, wie im Jahre 1779 in der Rue de la Lingerie, sogar den Tod von Anwohnern und Handwerkern verursachen konnten. Aufmerksame Chronisten wie der seit 1779 als Inspektor für die Sauberkeit der Stadt zuständige Chemiker, Apotheker und Agrarwissenschaftler Antoine Cadet de Vaux5 oder der 4 Als neuere Überblicksdarstellung informativ ist die Studie von Vanessa Harding, The Dead and the Living in Paris and London, Cambridge 2002, zu den fosses communes S. 113f. 5 Sėgolène de Dainville-Barbiche, Les cimetières à Paris aux XVIIIe siècle. Problèmes d’odeurs et de salubrité publice, in: Actes des congrès nationaux des sociétés historiques et scientifiques 2014, S. 51– 68, hier vor allem S. 57f.



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Schriftsteller Louis-Sébastien Mercier haben in ihren Schriften mit meisterhafter Feder ein drastisches Bild der katastrophalen hygienischen Zustände gezeichnet, die am Vorabend der Französischen Revolution auf dem größten Pariser Friedhof intra muros, dem Cimetière des Innocents, herrschten. Die von den verwesenden Kadavern ausgehenden Miasmen würden, so Mercier, die Atmosphäre verpesten, den Wein verderben und sogar die Milch in den Nachbarhäusern vorzeitig gerinnen lassen.6 Als der »Friedhof der Unschuldigen« nach wiederholten, immer dringlicher formulierten Beschwerden der Anwohner im Jahre 1785 – ganz im Sinne des aufgeklärten städtebaulichen Reformdiskurses – geschlossen und die skelettierten Überreste der Toten in die neuen unterirdischen Beinhäuser der Katakomben überführt wurden, hatten etwa zwei Millionen Menschen dort ihre letzte Ruhestätte gefunden.7 Obwohl die Massengräber einen elementaren Bestandteil vormoderner Funeralpraktiken bildeten und auf den Friedhöfen der Pariser Pfarreien vor der Französischen Revolution auch überall visibel waren, änderten sich in den ersten Jahren der Französischen Revolution ihre Bedeutung und Wahrnehmung in signifikanter Art und Weise. Einst zwar abstoßender, Furcht und Ekel erregender, aber zugleich doch auch selbstverständlicher Teil der urbanen Alltagswelt, avancierten sie im Zuge der revolutionären Radikalisierung mit einem Schlag zur »Chef- und Geheimsache« der seit Juli 1789 amtierenden neuen Pariser Stadtverwaltung, die sich spätestens seit den Septembermassakern des Jahres 1792 und der sich daran anschließenden Hinrichtungswelle mit dem heiklen Problem der Schaffung geeigneter »Entsorgungsplätze« auseinandersetzen musste:8 Oberste Pflicht der Verantwortlichen war es nun, die Leichen der Guillotinierten unter Ausschluss der Öffentlichkeit möglichst zügig und spurenlos zu beseitigen, um zu verhindern, dass Angehörige, Freunde oder Anhänger von den Begräbnisorten erfuhren, vom Zustand der ausgeplünderten und misshandelten Toten berichteten oder womöglich sogar eigenmächtige Ausgrabungsversuche unternahmen. Ein Dekret der Nationalversammlung hatte zwar im Mai 1791 die französischen Städte und Dörfer dazu verpflichtet, ihre alten Friedhöfe intra muros aufzuheben und die Toten künftig auf neuen Friedhöfen außerhalb der Stadtmauern zu begraben.9 Da der Ausnahmezustand der Jahre 1793/1794 mit seiner raschen 6 Zur wachsenden Kritik an der Situation des Cimetière des Innocents im 18. Jahrhundert allgemein Madeleine Foisil, Les attitudes devant la mort au XVIIIe siècle. Sépultures et suppressions de sépultures dans le cimetière parisien des Saints-Innocents, in: Revue Historique 251. Jg., Nr.  Fasc. 2 (510), S. 303–330; Louis-Sébastien Mercier, Le Tableau de Paris, Amsterdam 1788, Bd. 9, S. 324. 7 Zu den Diskussionen um die notwendige Schließung des Friedhofs auch Owen Hannaway, Caroline C. Hannaway, La fermeture du cimetiere des Innocents, Dix – buitiéme siécle 2 (1977), S. 181–191. 8 Erin-Marie Legacey, Making Space for the Dead. Catacombs, Cemeteries, and the Reimagining of Paris, 1780–1830, S. 31. 9 Pascal Moreaux, Quelques aspects de l’histoire funéraire dans la civilisation judéo-chrétienne en

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Abfolge von Hinrichtungen aber gerade unter sanitären Aspekten ein schnelles und konsequentes Handeln erforderte, mussten die Autoritäten nun zwangsläufig auf die traditionellen fosses communes der Pariser Friedhöfe ausweichen, die sich jeweils in unmittelbarer Nähe des Schafotts befanden und somit für eine unauffällige Beseitigung der Opfer genutzt werden konnten. Das erste Mal kam die nach ihrem Befürworter, dem Arzt Joseph-Ignace Guillotin, benannte neue Hinrichtungsapparatur der Guillotine bekanntlich am 25. April des Jahres 1792 auf der Place de Grève, dem Vorplatz des städtischen Rathauses, zum Einsatz. Nach dem Sturm auf die Tuilerien im August 1792 hätte sie – mit den entsprechenden Konsequenzen im Hinblick auf die Bestattung der Guillotinierungsopfer – eigentlich fest auf der Place du Carrousel gegenüber den Tuilerien installiert werden sollen.10 Als die Hinrichtung des abgesetzten Königs Ludwig  XVI. am 21.  Januar 1793 stattdessen aber auf die Place de la Révolution, die heutige Place de la Concorde, verlegt wurde, rückte der weniger als 1 Kilometer vom Schauplatz entfernte, im Jahre 1720 gegründete Friedhof des Pfarrbezirks der Kirche Sainte-Madeleine geradezu zwangsläufig in den Mittelpunkt des Geschehens. Am gleichen Ort, an dem man im Jahre 1770 bereits die 130 Opfer eines anlässlich der Hochzeitsfeierlichkeiten des Thronfolgers mit der österreichischen Prinzessin Marie-Antoinette veranstalteten Feuerwerks beerdigt hatte, lagen Ludwig und Marie-Antoinette fortan Seite an Seite mit der Marat-Mörderin Charlotte Corday, mit den 22 am 31.  Oktober 1793 hingerichteten Girondisten, dem berühmt-berüchtigten »Philippe Egalité«, der nicht minder prominenten Autorin Madame Roland und schließlich der Kämpferin für die Rechte der Frauen, Olympe de Gouges.11 Mit der Karriere des Madeleine-Friedhofs als Revolutionsfriedhof war es jedoch schon nach ein paar Monaten vorbei. Im Zuge France, in: Études sur la mort 125 (2004), S. 9–21, https://www.cairn.info/revue-etudes-sur-la-mort2004-1-page-9.htm (letzter Zugriff: 20.12.2022). 10 Immer noch lesenswert zur Geschichte der Guillotine ist die Studie von Daniel Arasse, Die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit, Hamburg 1988, zu den unterschiedlichen Stationen in Paris S. 134ff.; siehe auch als deutschsprachige Monographie Angela Taeger, Die Guillotine und die Erfindung der Humanität, Stuttgart 2016. 11 Zu den Umständen der Hinrichtung und Bestattung Ludwigs XVI. und Marie Antoinettes Gudrun Gersmann, Von toten Herrschern und Trauerzeremonien. Die Überführung der sterblichen Überreste Ludwigs XVI nach Saint-Denis 1815, in: Dietrich Boschung, Karl-Joachim Hölkeskamp, Claudia Sode (Hg.), Raum und Performanz. Rituale in Residenzen von der Antike bis 1815, Stuttgart 2015, S. 333–354; dies., Ein König ohne Grab. Was geschah mit dem Leichnam Ludwigs XVI.? Versuch einer Rekonstruktion, in: Christina Schröer, Peter Hoeres, Armin Owzar (Hg.), Herrschaftsverlust und Machtverfall, München 2013, S. 118–192; dies., Saint Denis und der Totenkult der Restauration. Von der Rückeroberung eines königlichen Erinnerungsortes, in: Eva Dewes, Sandra Duhem (Hg.), Kulturelles Gedächtnis und interkulturelle Rezeption im europäischen Kontext, Berlin 2008, S. 139–158.



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einer Umstrukturierung des Hinrichtungswesens wurde der Friedhof bereits im März des Jahres 1794 geschlossen, das Schafott von der Place de la Révolution entfernt. Mit diesem Schritt reagierte die Pariser Stadtverwaltung auf den wachsenden Unmut der Bevölkerung: Zwar hatte sich die Guillotine nach ihrer anfangs umstrittenen Einführung im Jahre 1792 rasch zum Erfolgsmodell entwickelt, zum integralen Bestandteil der Alltagskultur, ob en miniature als Spielzeug für Kinder oder als Schmuck von Tabakdosen und Tischgeschirr,12 doch riefen die blutigen Begleitumstände der Guillotinierungen schon bald heftigen Widerstand hervor. Gerade die Händler des Quartiers rund um die vornehme Rue St. Honoré äußerten sich wiederholt besorgt darüber, dass der Anblick des blutüberströmten Schafotts und der bestialische Leichengestank der Massengräber potentielle Kunden verschrecken könnten. Auch das Weinen der Opfer und das allnächtliche Rumpeln der Leichenkarren mochten die Anwohner auf Dauer keineswegs hinnehmen oder gar aus nächster Nähe miterleben müssen.13 Die von der Pariser Kommune daraufhin eilends angeordnete Verlegung der Guillotine auf die Place de la Bastille bzw. Place Antoine führte allerdings keineswegs zu einer Entschärfung der Lage, da auch die Bewohner des Faubourg Saint-Antoine offen gegen die Guillotinierungen rebellierten. Nach der Bestattung von 75 Männern und Frauen, die zwischen dem 9. und 14.  Juni 1794 unter dem Fallbeil gestorben und auf dem Friedhof der Kirche Sainte Marguerite verscharrt worden waren, landete die »Köpfmaschine«14 auf Initiative der Stadtverwaltung schließlich auf der Place du Trône Renversé an der Peripherie der Metropole, wo sie ihr Werk künftig mehr oder weniger im Verborgenen verrichten sollte.15 Zwischen dem 14. Juni 1794 bis zum Sturz Robespierres am 27. Juli 1794 war die Guillotine hier fast ohne Unterlass in Aktion. In nur sechs Wochen sollen mehr Hinrichtungen auf der Place du Trône Renversé durchgeführt worden sein als in den ganzen 13 Monaten zuvor auf der Place de la Révolution.16 Ideal war der Standort auch 12 Jean-Paul Bertaud, Alltagsleben während der Französischen Revolution, Freiburg 1989, S.  244: »Miniaturmodelle der Guillotine werden als Kinderspielzeug verkauft, und Eltern gehen mit ihren Kindern auf die schattigen Champs-Elysées, um dort ein Kasperltheater zu besuchen, in dem bei der üblichen Hinrichtungsszene nicht mehr der Galgen, sondern die Guillotine im Mittelpunkt steht.« 13 Zum »Lärm« rund um die Guillotinierungen Olivier Blanc, Der letzte Brief. Die Schreckensherrschaft der Französischen Revolution in Augenzeugenberichten, Wien 1988, S. 111. 14 Abbildung der Guillotine oder neuen Köpfmaschine, der Piquen, der Freyheitsmütze und Freyheitsmünzen der Franzosen Für Neu- und Wißbegierige, Halle 1793. 15 Henry de Montherlant, Le Lieu le plus loin du monde, in: Revue des Deux Mondes, 1. Juni 1967, S. 327–332; zu den diversen Umzügen der Guillotine auch Friedrich Schulz, Neues Paris, die Pariser und die Gärten von Paris, Altona 1801, S. 131: »Die Guillotine hat die ganze Stadt vom West bis zum Morgen durchgewandert, und auf dreien Plätzen geschlachtet«. 16 Eine Liste der auf dem Picpus bestatteten Hinrichtungsopfer ist veröffentlicht bei G. Lenôtre, Le jardin de Picpus, Paris, 1928, S. 185–254 (hinter dem Autorennamen G. Lenôtre verbirgt sich Louis

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insofern, als die Körper der Hingerichteten ungemein rasch beiseite geschafft werden konnten: Von der Place du Trône Renversé benötigte man praktischerweise nur wenige Schritte bis zum Garten des ehemaligen Damenstifts St. Augustin de Picpus,17 das im Jahre 1792 geschlossen und durch den neuen Besitzer, einen citoyen namens Riédain, in eine »Heilanstalt« umgewandelt worden war. Nach der Schließung dieses Etablissements, das nur dem Namen nach medizinischen Zwecken gedient, de facto aber betuchten, unter den Verdacht konterrevolutionärer Machenschaften geratenen Parisern einen halbwegs sicheren Unterschlupf geboten hatte, konnte der versteckte, von Mauern umgebene, lediglich durch eine schmale Öffnung zugängliche Picpus-Garten mit minimalem logistischen Aufwand zum provisorischen Friedhof umfunktioniert werden: Ein erstes im Boden ausgehobenes Massengrab füllte sich so schnell mit verstümmelten Körpern und abgeschlagenen Köpfen, dass binnen kurzem eine zweite Grube angelegt werden musste. Schon bald waren die Probleme des neuen Friedhofs allerdings nicht mehr zu übersehen: Da die Körperflüssigkeiten der Toten in den undurchlässigen Lehmboden nicht einsickern konnten, muss sich von den anfangs nur notdürftig mit Brettern abgedeckten Massengräbern – wie auch etliche Augenzeugen berichtet haben – in den heißen Sommermonaten des Jahres 1793 trotz der Verbrennung desinfizierender Kräuter ein infernalischer Gestank ausgebreitet haben, ganz zu schweigen von den entwürdigenden Szenen, die sich auf dem Gelände Tag für Tag abspielten: Die Totengräber, die die Kapelle des ehemaligen Klosters als Büro zur Inventarisierung der Kleidung der Guillotinierten nutzten, stahlen offenbar alles, was ihnen an Leinen oder Schmuck in die Hände geriet. Anscheinend hatten sie es sich auch beizeiten angewöhnt, mit den abgetrennten Köpfen achtlos die Lücken zwischen den aufgeschichteten Leibern zu stopfen.18 Auf den Marmortafeln der im Jahre 1840 erbauten Gedenkkapelle auf dem Picpus sind die Namen aller Opfer aufgelistet: Angehörige aller gesellschaftlichen Schichten haben demnach auf dem Picpus ihre letzte Ruhestätte gefunden, Adelige und Soldaten, Dienstmädchen, Priester und Nonnen, so auch die am 29 »Messidor« des Jahres II enthaupteten 16 Karmelitinnen von Compiègne, deren Schicksal der tiefkatholische Komponist Francis Poulenc in den 1950er Jahren eine eigene Oper gewidmet hat.19 UnLéon Théodore Gosselin, Mitglied der Académie Française, Autor zahlreicher Studien zur Geschichte der Französischen Revolution). 17 In einem achtseitigen Dossier der Archives Nationales (Signatur F 13 330: Commission des Travaux publics) werden die Vorgänge des Jahres 1793 sowohl aus der Perspektive des Bürgers Riédain als auch aus der Sicht der zuständigen städtischen Kommissare dokumentiert. 18 Eine Beschreibung der katastrophalen Verhältnisse auf dem Picpus-Friedhof findet sich schon bei Jules Michelet, Histoire de la Révolution française, Paris 1879, Bd. 9, S. 257ff. 19 La chapelle funéraire de Picpus. Liste des victimes immolées à la Barrière du trône, et inhumées au cimetière de Picpus, Paris 1814.



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geachtet aller Versuche, die Guillotine-Opfer so schnell wie möglich in Massengräbern verschwinden zu lassen und damit zugleich dem Blick der Öffentlichkeit zu entziehen, konnte der Umfang der Hinrichtungen den Zeitgenossen allerdings im realen Stadtalltag nicht lange verborgen bleiben. Noch während der Phase der Terreur erschien im Jahre 1793 eine »Liste générale et alphabétique des noms, Ages, Qualités, Emplois et Demeures de tous les Conspirateurs qui ont été condamnes a mort par le Tribunal Revolutionnaire«. Autor war der Konventsabgeordnete Jean-Baptiste Car­rier,20 ein Experte des gewaltsamen Tötens, der als Représentant en mission des Konvents im gleichen Jahr 1793 in der Stadt Nantes mit unfassbarer Grausamkeit Massenertränkungen in der Loire durchführen ließ. Auch in privaten Briefen und Dokumenten der 1790er Jahre lassen sich häufig detaillierte Hinweise auf die Guillotinierungen entdecken. Der Pariser Bürger Célestin Guittard vertraute seinem Tagebuch nicht nur vielfältige Gesundheits- und Geldprobleme an, sondern auch eine Auflistung aller Guillotinierungen, soweit sie ihm im Paris des Jahres 1794 unter die Augen kamen. Dass er seine Notizen mit Skizzen und Karikaturen der Guillotine anreicherte, indem er beispielsweise eine lange Reihe von Strichmännchen zeichnete, die vor dem Henker Sanson auf dem Schafott Schlange standen, macht einen besonderen Reiz seiner Aufzeichnungen aus.21 Nach diversen Überblickswerken im 19. Jahrhundert hat der Historiker Donald Greer mit dem Ziel einer social autopsy der Terreur in den 1930er Jahren als Erster den Versuch einer systematischen statistischen Erfassung der in den 18 Monaten zwischen März 1793 und August 1794 durchgeführten Guillotinierungen unternommen. Seinen Schätzungen zufolge sind in ganz Frankreich 16.594 Todesurteile ausgesprochen worden, über 2500 davon in Paris.22 Von den vier Revolutionsfriedhöfen, auf denen die meisten der 2500 Guillotine-­ Opfer bestattet wurden, ist im heutigen Pariser Stadtbild nur wenig übriggeblieben. Ausgehend von einem Gesetzeserlass der frühen 1790er Jahre, der die Friedhöfe generell der Verfügungsgewalt der Kirche entzogen und ihren Verkauf angeordnet hatte, wurden die drei Revolutionsfriedhöfe Madeleine, Picpus und Errancis bereits in den Jahren 1794, 1795 und 1797 geschlossen, Madeleine und Picpus anschließend zum Verkauf angeboten. Im Jahre 1806 folgte die Schließung des Friedhofs Sainte-Marguerite, auf dem man während der Revolution 73 Guillotinierte begraben hatte. Authentische Reste der einstigen Massengräber finden sich aktuell nur noch auf 20 Zu Carriers Wirken in Nantes siehe die Darstellung in der Audition du représentant Carrier concernant les événements de Nantes, lors de la séance du 2 frimaire de l’an III (22 novembre 1794), in: Archives Parlementaires de 1787 à 1860 – Première série (1787–1799), Paris 2012, S. 4949–4952. 21 Paul Stänner, Ein ganz normaler Bürger von Paris, https://www.deutschlandfunk.de/ein-ganz-normaler-buerger-von-paris-100.html (letzter Zugriff: 20.12.2022) 22 Donald M. Greer, The Incidence of the Terror During the French Revolution. A Statistical Interpretation, Cambridge, MA 1935.

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dem Picpus- und dem Sainte-Marguerite-Friedhof. Die fosses communes des Made­ leine- und des Errancis-Friedhofs, auf dem zwischen März 1794 und Mai 1795 über 1100 Hinrichtungsopfer in Massengräbern bestattet worden waren, sind zwar noch in ihren ehemaligen Umrissen erahnbar, de facto jedoch nicht mehr vorhanden, da die Gebeine der Toten im 19. Jahrhundert in die Pariser Katakomben überführt wurden.23 Der Transfer der Überreste in die neue städtische Nekropole der Katakomben an der Place Denfert-Rochereau muss einerseits sicherlich als konsequente Maßnahme einer modernen städtischen Reformpolitik gesehen werden, die sich die Verbesserung der katastrophalen hygienischen Verhältnisse in der Metropole auf die Fahnen geschrieben hatte. Wenn man den Thesen jüngerer Restaurationshistoriker folgt,24 dann kann die Ausräumung und Zerstörung der revolutionären Massengräber im 19. Jahrhundert andererseits jedoch durchaus auch als Teil einer damnatio memoriae begriffen werden, als Versuch, die Orte der nationalen Schande posthum in unterirdischen Kammern zu verbergen und somit aus dem Gedächtnis der Nachwelt zu tilgen. Tatsächlich bleibt aus der Ex-post-Perspektive unterm Strich der Eindruck zurück, dass die Nachwelt die Toten der Revolution, und erst recht die vielen Namenlosen unter ihnen, im Laufe der Zeit aus dem Gedächtnis verloren bzw. vielleicht sogar konsequent gestrichen hat. Bezeichnenderweise ist in den Katakomben lediglich die Sektion markiert, in der die Toten des Madeleine-Friedhofs liegen, die Toten des Errancis sind hingegen irgendwo im Labyrinth der Katakomben, an einem Ort, den niemand kennt, abgeladen worden. In der Rue de Monceau im 8. Pariser Arrondissement erinnert heute nur noch eine schlichte Gedenkplakette mit der Inschrift »Emplacement de l’ancien cimetière des Errancis où furent inhumés du 24 mars 1794 au mois de mai 1795 les corps de 1119 personnes guillotinées place de la Révolution« an den einstigen Revolutionsfriedhof Errancis. Ähnlich karge Informationen liefern die Hinweistafeln des im Jahre 1637 eröffneten, seit 1794 für die Bestattung von Guillotine-Opfern genutzten Cimetière Sainte-Marguerite25 – ungeachtet der Tatsache, dass hier mit dem kleinen Sohn Ludwigs XVI. und Marie-Antoinettes ein überaus prominentes Revolutionsopfer begra23 Zur Überführung in die Katakomben Erin-Marie Legacey, The Paris Catacombs. Remains and Reunion beneath the Postrevolutionary City, in: French Historical Studies 40, Heft 3 (2017), S. 509– 536. 24 Aufschlussreich sind in diesem Kontext die Anmerkungen von Matthijs M. Lok, Un Oubli Total Du Passé? The Political and Social Construction of Silence in Restoration Europe (1813–1830), in: History and Memory 26 (2) 2014, S. 40–75. 25 Ein »Album-Photo« zum aktuellen Zustand des Friedhofs findet sich auf der Webseite der zuständigen Pariser Diözese unter https://dioceseparis.fr/138-Cimetiere-Sainte-Marguerite.html (letzter Zugriff: 20.12.2022).



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ben liegt:26 Der Leichnam des zehnjährigen Ludwig XVII. war im Morgengrauen des 10.  Juni 1795 unter mysteriösen Begleitumständen in einem Massengrab des Cime­ tière abgeladen worden. Zwar wollte der Totengräber Valentin Bertrancourt – eigenen Aussagen nach – den Leichnam des kleinen Jungen schon wenige Tage nach der Bestattung heimlich ausgegraben, in einen mit der bourbonischen Lilie geschmückten Bleisarg gelegt und in der Nähe der Kirche bestattet haben, doch konnten die Überreste Ludwigs trotz mehrerer Exhumierungsaktionen seit dem 19. Jahrhundert bisher nicht geborgen werden. Aufgrund der vielen Rätsel und Fragen, die der Fall nach wie vor aufgibt, bestreiten die Vertreter der »Stellvertreter«-Theorie bis heute hartnäckig die Faktizität der Bestattung. Obwohl das bei der Autopsie Ludwigs XVII. 1795 entwendete Herz des Kindes am Ende einer schier unglaublichen Überlieferungsgeschichte dank sorgfältiger, dem neuesten Stand der Medizin entsprechender DNA-Untersuchungen27 mittlerweile eindeutig als Herz des Bourbonensprösslings identifiziert werden konnte, beharren sie nach wie vor darauf, dass der angeblich aus dem Kerker entführte Ludwig die Revolution überlebt habe, während ein eigens für ihn beschaffter »Doppelgänger« an seiner statt gestorben sei.28 Welchen politischen Zündstoff die Frage des Begräbnisortes im Falle Ludwigs XVII. auch im 21. Jahrhundert noch in sich birgt, zeigte sich im Herbst des Jahres 2004 erneut angesichts von archäologischen Grabungen auf dem Terrain des Sainte-Marguerite-Friedhofs, die von der Stadt Paris veranlasst worden waren. Auch wenn die entsprechenden Aktivitäten keineswegs auf eine Exhumierung Ludwigs XVII. zielten, sondern sich vielmehr auf Restaurierungsarbeiten rund um die Friedhofskapelle konzentrierten, reagierten die im »Institut Louis XVII« organisierten Anhänger Ludwigs XVII. mit scharfen Protesten, da sie eine Profanierung des Grabes durch die Tätigkeit der Archäologen fürchteten.29 Die Frage, ob der »echte« Ludwig  XVII. oder vielmehr ein »Ersatzkandidat« auf dem Friedhof liegt, interessiert heute in erster Linie jedoch nur noch die untereinander zerstrittenen royalistischen Interessengruppen, in der öffentlichen Wahrnehmung spielt sie hingegen kaum noch eine Rolle. 26 L. Lambeau, Le cimetière de Sainte-Marguerite et la sépulture de Louis XVII. Historique, disparition prochaine 1624–1904. 27 Die Untersuchungsergebnisse werden präsentiert in dem Beitrag von Gerard Lucotte, Thierry Thomasset et al., The Mitochondrial DNA Mitotype of Louis XVII (1785–1795?), in: International Journal of Sciences 4 (11) 2020, S. 10–18. 28 Eric Le Mitouard, La tombe de Louis XVII a-t-elle été fouillée?, in: Le Parisien, 30. September 2004, http://www.leparisien.fr/paris-75/la-tombe-de-louis-xvii-a-t-elle-ete-fouillee-30-09-2004-­20053346 88.php (letzter Zugriff: 19.12.2022); Pierre Léon Thillaud, Le cimetière sainte-Marguerite. Analyse des premières fouilles (novembre 1846 et juin 1894), in: Cahiers de la Rotonde (6) 1986, S. 81–90. 29 Bericht im Journal Le Parisien, September 2004, https://www.leparisien.fr/paris-75/la-tombe-delouis-­xvii-a-t-elle-ete-fouillee-30-09-2004-2005334688.php (letzter Zugriff: 05.12.2022).

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Ein regelmäßiges Totengedenken findet heutzutage nur noch auf dem Picpus und dem Madeleine-Friedhof statt, der Anfang Januar 1793, wie bereits erwähnt, mit einem Schlag in den Mittelpunkt des Revolutionsgeschehens gerückt war. Am Morgen des 21. Januar 1793 hatte man Ludwig XVI. – alias »Bürger Capet« – in Begleitung seines Beichtvaters, des Abbé Edgeworth, in einer geschlossenen Kutsche zum Schafott gefahren. Fast 14.000 schwer bewaffnete Nationalgardisten waren aufgeboten worden, um die geplante Guillotinierung ohne royalistische Störfeuer durchführen zu können. Nach einem letzten dramatischen Appell an seine Untertanen (»Ich bin unschuldig an den Verbrechen, die man mir vorwirft. Ich vergebe meinen Mördern und bitte Gott, ihnen zu vergeben«) hatten die Gehilfen des Scharfrichters den mit grauen Seidenhosen und einem weißen Hemd30 bekleideten König gefesselt, auf einem Brett festgeschnallt und dann das Fallbeil gelöst. Der Tod des Bourbonen trat nach offizieller Mitteilung zwischen 10.20  Uhr und 10.24  Uhr ein. Nur Minuten, nachdem der Pariser Scharfrichter Sanson das blutige Haupt des Königs triumphierend der Menge gezeigt und damit für einen Ausbruch kollektiver Raserei gesorgt hatte, war der Leichnam – mit dem abgeschlagenen Kopf neben dem Torso – in einen Weidenkorb gelegt und mit einem Karren zum Friedhof der benachbarten Madeleine-Kirche gefahren worden. Ähnlich verfuhr man im Oktober 1793 mit Marie-Antoinette. Angeblich hatte man das Königsgrab in den folgenden zwei Tagen scharf überwachen lassen, um Raub und Plünderung zu verhindern.31 Das Massengrab des Madeleine-Friedhofs sollte allerdings nur bis zum Herrschafts­ antritt des neuen Bourbonenkönigs Ludwigs  XVIII. im Jahre 1814 die letzte Ruhestätte des unglücklichen Königspaares bleiben. Nach einer großangelegten Exhumierungsaktion32 in den fosses communes des Madeleine-Friedhofes wurden die »kostbaren Überreste« Ludwigs und Marie-Antoinettes am 21.  Januar 1815, dem Jahrestag der Hinrichtung des Königs, in einer feierlichen Trauerzeremonie in die Abteikirche von Saint-Denis überführt.33 Zeitgleich begannen am 21.  Januar 1815 auf dem Terrain des ehemaligen Madeleine-Friedhofes die Arbeiten am Bau der soge30 Einige Anmerkungen über die gerichtliche Ermordung Ludwigs XVI, Königs in Frankreich, in: Historisch-politisches Magazin, nebst literarischen Nachrichten, Februar 1793, S. 129–136. 31 Reiches Quellenmaterial zur Hinrichtung Ludwig XVI liefert Gaston Du Fresne de Beaucourt, Captivité et derniers moments de Louis XVI. Récits Originaux & Documents Officiels. Paris 1892, bes. S. 302ff. 32 Zum Ablauf der Exhumierung Edme-Louis Barbier, Notice sur L’Exhumation de Leurs Majestés Louis XVI, et Marie-Antoinette, Archiduchesse d’Autriche, Paris 1815, S.10ff. 33 Ronen Steinberg fasst in: The Afterlives of the Terror. Facing the Legacies of Mass Violence in Postrevolutionary France, Ithaca, NY 2019 die Ausgrabungspolitik der französischen Restauration treffend zusammen: »The Restoration emerges as a period preoccupied with digging up or exhuming the past« (S. 91).



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Abb. 2: Hinrichtung Ludwig XVI. nach einem Kupferstich aus dem Jahr 1793.

nannten Sühnekapelle (Chapelle Expiatoire), deren Altar sich angeblich genau über der einstigen Begräbnisstätte des Monarchen befindet.34 Die offizielle Darstellung lässt bis heute keinen Zweifel am Erfolg der Grabungen von 1815 zu. In den einschlägigen Publikationen wird nach wie vor so unkritisch wie selbstverständlich verbreitet, dass die Gebeine des Königspaars seit diesem denkwürdigen Jahr in der Basilika von Saint-Denis unter zwei Marmorgrabplatten mit der Inschrift »Marie-Antoinette – Reine de France et de Navarre« und »Louis XVI – Roi de France et de Navarre« ruhen. Der Glaube an die Beweiskraft der Exhumierungen ist seit mehr als zwei Jahrhunderten ungebrochen, auch wenn die scheinbar stimmige Version der Ereignisse ex post erhebliche Skepsis aufwirft: Mehr als zwanzig Jahre nach der Exekution – und allein mit den Werkzeugen einer damals noch in den Kinderschuhen steckenden forensischen Wissenschaft – hätte man die königlichen Skelette 34 Zur Geschichte und Architektur der Chapelle Expiatoire u. a. Michael Hesse, Revolutionsopfer als Glaubensmärtyrer. Die Chapelle expiatoire und die Sühnemonumente der Restauration in Paris, in: Gudrun Gersmann, Hubertus Kohle (Hg.), Frankreich 1815–1830. Trauma oder Utopie? Die Gesellschaft der Restauration und das Erbe der Revolution, Stuttgart 1993, S. 197–216; als ältere Pionierstudie sei erwähnt Jean-Marie Darnis, Les monuments expiatoires du supplice de Louis XVI et de Marie-Antoinette sous l’Empire et la Restauration 1812–1830, Paris 1981; zuletzt Anja Butenschön, Topographie der Erinnerung. Die Sühnemonumente der Französischen Restauration 1814– 1830, Berlin 2009.

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in den Massengräbern des Madeleine-Friedhofs im Januar 1815 niemals korrekt identifizieren können. Dies wäre auch schon allein aufgrund der rasenden Eile unmöglich gewesen, mit der man den blutbefleckten, enthaupteten Körper des Monarchen am Vormittag des 21. Januar 1793 auf den Friedhof der Madeleine-Kirche gebracht, dort mit Ätzkalk bedeckt und dann in 12 Fuß Tiefe in einem der Massengräber des Friedhofs versenkt hatte. Da ohnehin nur sehr wenige, zudem strikter Verschwiegenheit unterzogene Personen in die Bestattung der königlichen Leiche einbezogen gewesen waren, hätte sich der genaue Ort der Ablage des verstümmelten Körpers im Grunde eigentlich schon am 22.  Januar 1793 kaum mehr mit letzter Präzision bestimmen lassen. Alle gegenteiligen Behauptungen, wie sie unter anderem in den Schauerromanen des 1796 nach Frankreich zurückgekehrten ehemaligen Girondisten Jean-Baptiste-Joseph-Innocent-Philadelphe Regnault de Warin nachzulesen waren,35 müssen ins Reich der Legende verwiesen werden. Dass auch diverse, offenbar von Royalisten initiierte Versuche, die verwesten Körper Ludwigs und Marie-Antoinettes bei heimlichen Exhumierungsversuchen in den fosses communes ausfindig machen zu wollen, in den späten 1790er Jahren scheiterten, mag man als weiteren klaren Beleg für die Aussichtslosigkeit solcher Unternehmungen sehen. Umso erstaunlicher lesen sich vor diesem Hintergrund die im Jahre 1805 bei Mallinckrodt in Dortmund verlegten »Briefe geschrieben auf einer Reise nach Paris« des Physikers, Schriftstellers und Geodäten Johann Friedrich Benzenberg, die dem deutschen Lesepublikum einen lebendigen Eindruck vom Zustand der Gräber Ludwigs und Marie-Antoinettes zu Beginn des 19. Jahrhunderts vermittelten. Ein Jahr zuvor war Benzenberg voller Enthusiasmus zu einer Besichtigungstour in die französische Hauptstadt aufgebrochen. Einen Höhepunkt seiner Reise hatte die intensive Suche nach den Königsgräbern gebildet, die – anders als bei dem Schriftsteller August von Kotzebue  – nach einigem Hin und Her für ihn schließlich von Erfolg gekrönt war. Nach der Bestechung mit einer ordentlichen »bouteille Bier« hatten einige der Friedhofsnachbarn den Reisenden nämlich kurzerhand zur ehemaligen Gemeinschaftsgrube des Madeleine-Friedhofs geführt, die sich ihm elf Jahre nach der Hinrichtung des Königs und der Königin, nun aber, wie er begeistert notierte, als liebevoll gepflegter und mit einem »schönen Rasen« bedeckter Wallfahrtsort darstellte.36 Massengräber als idyllische Orte? Die von Benzenberg beschriebene wundersame Metamorphose des Cimetière de la Madeleine hat tatsächlich stattgefunden. Sie ver35 Jean-Joseph Regnault-Warin war ein ehemaliger Girondist und Terreur-Gegner, der später aus seinem Exil nach Frankreich zurückkehrte, Jean-Joseph Regnault-Warin, Le cimetière de la Madeleine, 4 Bde., Paris 1800–1801. 36 Johann Friedrich Benzenberg, Paris geschrieben auf einer Reise nach Paris im Jahr 1804, 2 Bde., Dortmund 1805-1806, hier Bd. II, S. 242–246.



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dankte sich in erster Linie der Umtriebigkeit des Pariser Anwalts und Notars Pierre-­ Louis-Olivier Descloseaux, der den unter dem Eindruck zahlreicher Beschwerden über den Kadavergestank der Massengräber geschlossenen Friedhof in der zweiten Hälfte der 1790er Jahre von der Stadt Paris erworben hatte.37 Als Bewohner eines direkt an den Madeleine-Friedhof angrenzenden Hauses in der Rue d’Anjou hatte Desclo­ seaux – so behauptete er zumindest – die Bestattung Ludwigs und Marie-Antoinettes im Januar bzw. Oktober 1793 hautnah aus einem der Fenster heraus mit ansehen und niemals vergessen können. Nach dem Ankauf des Friedhofs – inklusive der Massengräber – hatte er sich in den folgenden Jahren voller Energie der Umgestaltung des Gottesackers gewidmet, rund um die fosses communes einen Obst- und Gemüsegarten angelegt, die Stelle, an der Ludwig und Marie-Antoinette seiner Erinnerung nach ins Erdreich geworfen worden waren, eingezäunt, mit einem Holzkreuz versehen und mit neu gepflanzten Trauerweiden markiert. In kurzer Zeit war es ihm so gelungen, einen finsteren Ort des Schreckens in eine würdevolle Pilgerstätte, wenn nicht sogar in eine durchaus profitable Touristenattraktion zu transformieren: Während seine Tochter gelegentlich spezielle Friedhofsführungen zu den königlichen Gräbern organisierte, veröffentlichte er selbst – wahrscheinlich erst nach der Rückkehr der Bourbonen im Jahr 1814 – einen illustrierten Führer des Madeleine-Friedhofs mit einer genauen Kartierung der beiden königlichen Gräber.38 Noch im Jahr 1810 hatte die napoleonische Zensur die Veröffentlichung einer Schrift mit dem Titel »Le cimetière de la Madeleine« mit dem Hinweis darauf abgelehnt, dass ein allzu starkes Interesse für die bourbonische Königsfamilie zu diesem Zeitpunkt gefährliche Folgen haben könne.39 Seinen eigenen Worten nach wollte Descloseaux Friedhofskauf und Gräberpflege aus rein idealistischen Motiven betrieben haben. In Worten und Schriften präsentierte er sich – vor allem seit 1814 – stets als überzeugter, ja leidenschaftlicher Royalist, dem es ausschließlich um die Wahrung der Erinnerung an die unglücklichen königlichen »Märtyrer« zu tun gewesen sei. Zur angemessenen Würdigung seiner Lebensleistung versah er seine Unterschrift ab einem bestimmten Zeitpunkt sogar konsequent mit dem Zusatz »Hüter des Grabes von Ludwig XVI.«. De facto legte Descloseaux in seinen späteren Verhandlungen mit Ludwig XVIII. allerdings ein bemerkenswert hohes Maß an Geschäftstüchtigkeit an den Tag: So war er im Januar 37 André Vaquier, Le cimetière de la Madeleine et le sieur Descloseaux, in: Paris et Ile-de-France, Bd. XII. 1961, S. 7–134. 38 Die 1814 in Paris unter Descloseaux’ Namen veröffentlichte 50-seitige Liste des »Personnes qui ont péri par jugement du Tribunal Révolutionnaire, et dont les corps ont été inhumés dans le terrain de l’ancien cimetière de la Madeleine« enthält teilweise allerdings eine fehlerhafte Darstellung. 39 Siehe dazu die Hinweise bei Pierre Ladoue, Les Panégyristes de Louis XVI et de Marie-Antoinette depuis 1793 jusqu’à 1912, Essai de Bibliographie Raisonnée, Paris 1912, S. XIff.

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Gudrun Gersmann Abb. 3: Aufschrift auf der Gedenktafel zum Grab Nr. 2 auf dem Pariser Picpus-Friedhof: »Ungefähr 304 Märtyrer, enthauptet auf der Place du Trône im Juni 1794, ruhen hier in Erwartung der Auferstehung.«

1816 nur gegen Zahlung einer hohen Geldsumme bereit, das Grundstück des Madeleine-Friedhofes und sein Wohnhaus an den Bruder des toten Königs und die königliche Familie abzutreten. Ganz anders als der Madeleine-Friedhof entwickelte sich hingegen der kleine Picpus-Friedhof, der zwei Jahre nach dem Ende der Exekutionen von 1794 ebenfalls einen Besitzerwechsel erlebte. Im Unterschied zu dem undurchsichtigen Geschäftemacher Pierre-Olivier-Descloseaux war es jedoch eine süddeutsche Prinzessin, die unter einem fingierten Namen am 24. Brumaire des Jahres V (14. November 1796) der Stadt Paris den kleinen, rechteckigen Teil des Terrains abkaufte, der die beiden Massengräber enthielt. Die neue Eigentümerin, Amalie Zephyrine von Hohenzollern-Sigmaringen, hatte ein höchstpersönliches Interesse am Erwerb der beiden fosses communes. Ihr Bruder Friedrich, der Fürst zu Salm-Kyrburg,40 war am 23. Juli 1794 auf der Place du Trône Renversé als angeblicher »Volksfeind« guillotiniert und wenig später zusammen mit ihrem ebenfalls hingerichteten Geliebten Alexandre de 40 Zur Biographie des Bruders weiterführend die Monographie von Joachim Emig, Friedrich  III. von Salm-Kyrburg (1745–1794). Ein deutscher Reichsfürst im Spannungsfeld von Ancien régime und Revolution, Paris 1997.



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Beau­harnais sowie den Kadavern von 44 weiteren Opfern auf dem Picpus verscharrt worden. Auch wenn Amalie Zephyrine die Überreste ihres Bruders nicht, wie ursprünglich geplant, eigenhändig aus der Grube auszugraben vermochte, hatte sie die Grabstätte durch den Erwerb und die spätere Einfriedung doch wenigstens ein Stück weit vor dem Zugriff von Grabräubern schützen können. Amalie Zephyrines Vorgehen blieb trotz aller Geheimhaltungsversuche weder unbemerkt noch folgenlos: Als der während der Revolution geflüchtete französische (Hoch-)Adel wenige Jahre später nach Paris zurückkehrte, konnte er sich zwar nicht mehr der Massengräber, aber dafür immerhin der neben den fosses communes des Picpus liegenden Grundstücke bemächtigen. Zu diesem Zweck hatte man  – unter der Federführung der Familie de Noailles  – eine eigene Association41 gegründet, deren Mitglieder alle die gleiche traumatische Erfahrung teilten, da jeder von ihnen bei den Guillotinierungen der Place du Trône Renversé enge Verwandte verloren hatte, Mütter und Väter, Töchter und Söhne, Onkel und Tanten.42 Laut einer damals erlassenen und bis heute gültigen Friedhofsordnung ist die Bestattung auf diesem Friedhof auf ewige Zeiten ausschließlich den Familienangehörigen der Hingerichteten vorbehalten. Die Grabstätten des Picpus lesen sich deshalb wie ein Who’s Who des französischen Hochadels, dessen große Namen – von den de Noailles bis zu den La Rochefoucauld und den de Montmorency  – allesamt dort vertreten sind. Eine amerikanische Flagge irritiert nur auf den ersten Blick, tatsächlich schmückt sie das Grab des berühmten Revolu­ tionshelden Lafayette, der ebenfalls auf dem Picpus seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Fragt man danach, ob und wie die Opfer auf den beiden ehemaligen Revolutionsfriedhöfen noch präsent sind, stößt man schnell auf ganz unterschiedliche Kommemorationsmuster und modelle, angefangen schon bei der »Gedenkumgebung«. Anders als bei den fosses communes des Picpus erinnert auf dem Madeleine-Friedhof kein Schild an das Schicksal der hier einst verscharrten Guillotine-Opfer. Anders als auf dem Picpus, auf dem der Besucher mit der nackten Wahrheit der Massengräber unmittelbar konfrontiert wird, sind die entleerten fosses communes auf dem Made­leine-­ Friedhof nur noch für den Kenner sichtbar: Die Gebeine der einst hier bestatteten Toten sind ja bereits vor langer Zeit in die Pariser Katakomben transportiert worden. Ohnehin hat der ehemalige Revolutionsfriedhof im Jahre 1865 durch die Umwandlung in die parkartige Anlage des Square Louis  XVI eine radikale Transformation erfahren, die endgültig fast jede Erinnerung an die Revolutionszeit ausgemerzt hat. 41 Zur Gründungsgeschichte der Adelsgemeinschaft rund um den Picpus-Friedhof Paul De Noailles, Anne-Paule-Dominique de Noailles, Marquise de Montagu, Dentu 1865. 42 Zur Formierung einer solchen Leidensgemeinschaft aufschlussreich auch die Studie von Emmanuel Fureix, La France des larmes. Deuils politiques à l’âge romantique (1814–1840), Paris 2009, hier S. 144f.

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Gudrun Gersmann Abb. 4: Chapelle Expiatoire im 8. Arrondissement. Hier wurde im Auftrag Ludwig XVIII. eine Sühnekapelle auf dem Gelände des ehemaligen Madeleine-Friedhofs errichtet, wo die Körper Ludwig XVI. und seiner Ehefrau Marie Antoinette in einem Massengrab verscharrt worden waren. Heute findet dort jedes Jahr am 21. Januar, dem Tag der Hinrichtung Ludwig XVI., eine feierliche Gedenkmesse statt.

Spezielle Hochzeitsagenturen haben den Reiz der Location in Sachen Marketing mittlerweile längst zu schätzen gelernt und verheißen – mit beachtlicher Resonanz, wie es scheint – einer zahlungskräftigen Klientel auf kitschig aufgemachten Webseiten »märchenhafte Hochzeitserlebnisse« rund um eine Trauung in der Sühnekapelle. Den Hochzeitspaaren, die sich für teures Geld in diesem Ambiente das Jawort geben, dürfte allerdings kaum bewusst sein, dass sich unter ihren Füßen einst der verwesende Leichnam Ludwigs XVI. und anderer befand. An jedem 21. Januar avanciert die Chapelle Expiatoire zum Schauplatz eines spezifischen Totenkults: Seit 1815 werden in Paris und in zahlreichen Provinzstädten in Erinnerung an den Hinrichtungstag Sühnemessen für den verstorbenen König Ludwig  XVI. gefeiert. Der bekannteste Veranstaltungsort ist seit vielen Jahren naturgemäß der ehemalige Madeleine-Friedhof, auf dem an besagtem Datum ebenfalls eine feierliche Gedenkmesse stattfindet. Sie erfreut sich nicht nur in Film und Fernsehen hoher medialer Aufmerksamkeit, sondern lockt stets auch eine große Schar von Zuschauern an, die dem amtierenden Chef des Hauses Bourbon beim Verlassen der Sühnekapelle mit dem Ruf »Vive le Roi!« huldigen.43 43 Entsprechende Hinweise liefern die einschlägigen Pressevideos auf YouTube.



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Das Totengedenken auf dem Picpus-Friedhof44 zeichnet sich hingegen durch einen wesentlich intimeren Charakter aus. Immer um den 14. Juni herum, den Tag, an dem die Guillotine auf der Place du Trône Renversé ihre Arbeit aufnahm, versammeln sich die Mitglieder des Hochadels in der zu diesem Zeitpunkt gut gefüllten kleinen Friedhofskapelle. Auch hier sind die Abläufe im Lauf der Zeit ritualisiert worden: Die Veranstaltung beginnt ihrerseits mit einer Gedenkmesse zu Ehren der Opfer, bei der  – wie im Jahre 2010  – auch schon einmal das Martyrium des Adels unter der revolutionären Schreckensherrschaft mit den Erfahrungen von Auschwitz und Bergen-Belsen verglichen wird. Auf die Messe folgt eine Prozession zu den normalerweise von einer Mauer umschlossenen Massengräbern. An diesem einen Juniabend im Jahr aber wird das sonst versperrte Gitter geöffnet und dem Besucher ein freier Blick auf die von Kerzen erhellten fosses communes gewährt, in denen die Opfer, wie es auf den Gedenktafeln heißt, auf ihre Auferstehung warten. Viele der Anwesenden, die bei hereinbrechender Nacht in einer langen Reihe hintereinander an den Gräbern vorbeiziehen, tragen aus Respekt vor ihren einst gewaltsam gestorbenen Angehörigen Trauerbänder am Ärmel oder im Haar. Die Zeremonie auf dem Picpus scheint für die Betroffenen offensichtlich weniger eine langweilige Routineveranstaltung zu sein als die Vergegenwärtigung einer Vergangenheit, die eben nicht als fern und abgeschlossen, sondern als ganz unmittelbar erlebt wird. Die Toten sind nicht tot, man hat sie ebenso wenig vergessen wie die Gräuel der Terreur, die wie eine göttliche Heimsuchung über die Franzosen gekommen sei. Kommen wir zum Schluss: Unterm Strich vermittelt der skizzierte Umgang mit dem Trauma der revolutionären Hinrichtungen und Massengräber eine Ahnung davon, dass zumindest für einen Teil der französischen Gesellschaft die von Ludwig XVIII. bei seinem Herrschaftsantritt verkündete Devise »Einigkeit und Vergessen« nie funktioniert hat. Geradezu paradigmatisch illustrieren die beiden Arten des Totengedenkens auf dem Picpus- und dem Madeleine-Friedhof, dass die Revolution auch noch nach mehr als 230 Jahren in Frankreich tiefe Wunden aufreißt. Pointiert formuliert, hat sich die Auseinandersetzung mit den Massengräbern und Revolutionsfriedhöfen in Frankreich seit dem späten 18. Jahrhundert nicht in eindimensionalen Rezeptionsbahnen bewegt, sondern innerhalb eines komplexen Spannungsfeldes ausdifferenziert. Vergleicht man jedoch die vom Adel organisierten Feiern auf dem Picpus mit dem Gedenkkult auf dem Madeleine-Friedhof in Hinsicht auf die Choreographie, das Objekt, die Botschaft und die Akteure des Gedenkens, dann sind die Unterschiede so frappierend, dass man von einer veritablen Gegenveranstaltung sprechen möchte. Während von den Repräsentanten und Nachfahren der Familie Bour44 Die Verfasserin dieses Beitrags hatte in den Jahren 2010 und 2011 als damalige Direktorin des DHI Paris selbst Gelegenheit, an dieser Zeremonie teilzunehmen.

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bon auf der einen Seite in der Chapelle Expiatoire und auf dem Madeleine-Friedhof an jedem 21. Januar ein pathetischer Totenkult rund um Ludwig  XVI. inszeniert wird, hat sich der französische Hochadel auf dem Picpus-Friedhof seine eigenen, aus gemeinsamen Trauererfahrungen resultierenden Gedenkformen erschaffen: Bei ihrer Feier sind die Adeligen Teil einer gelebten familiären Leidensgemeinschaft, Akteure des Gedenkens und Objekte des Erinnerns in einer Person. Während der 21. Januar auf dem alten Madeleine-Friedhof unter großer medialer Beteiligung am hellen Tag gefeiert wird, hat der Adel seine Gedenktreffen auf dem Picpus extra auf den späten Abend bzw. die Nacht verlegt: Lange, offizielle Ansprachen haben in diesem Programm keinen Platz – Höhe- und Endpunkt der Feier ist nach der Messe eben der Schweigemarsch zu den Massengräbern, bei dem man lediglich den dumpfen Klang der Schritte und das traurige Angelus-Läuten hört. Das bei diesen Feiern praktizierte Gedenken zielt nicht auf Schuldzuweisungen ab, sondern beschwört die Anwesenheit der Toten, die den Überlebenden ganz nah sind. Dass im Schloss der Familie von Noailles in der Nähe von Paris neben der Espressomaschine ein Glassturz mit einem blutbefleckten Leinenfetzen steht, der von der Nachtmütze der 1794 guillotinierten Vorfahrin stammen soll, zeigt einmal mehr, wie lebendig die Toten noch in der Gegenwart sind.45

45 Interessant ist in diesem Kontext das Buch von Florence de Baudus, Le lien du sang, Monaco 2000. Es handelt sich angesichts fehlender Nachweise zwar um kein wissenschaftliches Werk im eigentlichen Sinn, doch hat Baudus, selber »descendante d’un des guillotinés«, zahlreiche Nachfahren der auf dem Picpus begrabenen Guillotineopfer interviewen und daraus eine Art aktuelles Stimmungsbild in Bezug auf den Umgang mit den Hingerichteten entwickeln können.

Ute Planert

»Dulce et decorum est pro patria mori« Vom Wandel des Soldatentodes an der Schwelle zur Moderne

»Dulce et decorum est pro patria mori«: Wohl keine andere Sentenz der Antike erlebte eine solch steile Karriere wie das einem philosophischem Tugenddiskurs entrissene Zitat des Horaz, das seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von Europa bis Amerika und Australien auf Gefallenendenkmälern und Nationalmonumenten den Tod für das Vaterland verherrlichte und aus der Schullektüre der Gymnasien nicht wegzudenken war. Einem breiteren Publikum dürfte der Sinnspruch erstmals durch die Lektüre von William Thackerays vielgelesenem Gesellschaftsroman »Vanity Fair« vertraut geworden sein, der 1847/1848 im Satiremagazin »Punch« erschien und schon im Jahr darauf ins Deutsche übersetzt wurde.1 Dort schmückt das Horaz-Zitat zusammen mit der Personifikation einer weinenden Britannia das Grabmal des in Waterloo gefallenen Antihelden George Osborne. Ähnliche Embleme, merkt der Erzähler lakonisch an, fanden sich zu Hunderten im Angebot zeitgenössischer Bildhauer, erfreuten sich derlei »großspurige Heidenallegorien« in den Kriegsjahren doch konstanter Nachfrage.2 Thackerays Sittenbild der napoleonischen Epoche verweist auf einen fundamentalen Wandel im Verhältnis von Krieg und Gesellschaft in den Jahrzehnten um 1800, der sich auch im Umgang mit gefallenen Soldaten niederschlug. Während Großbritannien seine Streitkräfte auch ohne Wehrpflicht deutlich verstärkte und die Gesellschaft rhetorisch auf den Krieg einschwor, verwandelten sich auf dem Kontinent die Söldnerheere der Frühen Neuzeit in Armeen von Bürgersoldaten und Nationalkriegern. Mit dem Aufstieg des verachteten Landsknechts zum patriotischen Helden geriet der anonyme Tod auf dem Schlachtfeld zum Opfer auf dem Altar des Vaterlandes. Ihr zum Martyrium aufgewerteter Tod machte alle männlichen Kriegsteilnehmer und in Einzelfällen selbst Frauen erinnerungswürdig. Mit der Figur des Nationalkrie-

1 William Makepeace Thackeray, Der Markt des Lebens: ein Roman ohne einen Helden. Aus dem Englischen von Dr. A. Diezmann, Leipzig 1848. Jüngere Ausgaben übersetzen den Titel als »Jahrmarkt der Eitelkeit(en)«. 2 Vgl. zur Erinnerung an die napoleonischen Kriege in Großbritannien: Holger Hoock, »Monumental Memories. State Commemoration of the Napoleonic Wars in Early Nineteenth-Century Britain«, in: Alan Forrest, Étienne Francois, Karen Hagemann (Hg.), War Memories: The Revolutionary and Napoleonic Wars in Modern European Culture, London 2012, S. 193–214.

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gers prägte die Erinnerungskultur der Kriege gegen die napoleonische Herrschaft die Vorstellung von militärischem Heldentum bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Struktureller Hintergrund dieser Veränderungen war der Wandel der Staatenwelt als Resultat kriegerischer Auseinandersetzungen seit dem späten 18.  Jahrhundert.3 Im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, in den Kriegen der Französischen Revolution und in den Umwälzungen der napoleonischen Epoche wurde der Untertan zum Staatsbürger, dessen Recht auf politische Partizipation die Pflicht zur militärischen Verteidigung des Gemeinwesens einschloss. Die Verschränkung von ziviler und militärischer Sphäre machte den Tod des Bürgersoldaten zum Politikum. Die Verfügung des Staates über das Leben seiner Bürger im Krieg wurde legitimationsbedürftig und verlangte nach Begründung und Sinnstiftung. Daher entwickelte sich in modernen Staaten unabhängig von ihrer politischen Verfasstheit ein häufig religiös überformter politischer Totenkult, dem die Aufgabe zukam, die gemeinsame Identität der Lebenden zu stärken und den Tod der Gefallenen politisch zu deuten.4 Allerdings verlief der Wandel von der Söldnerarmee zum Volksheer im deutschen Sprachraum, der im Mittelpunkt dieser Betrachtungen steht, deutlich komplexer und weniger linear, als es die in groben Strichen gezeichnete Skizze vermuten lässt, die sich inzwischen als dominante Erzählung in der Geschichtsschreibung etabliert hat und die den Blick ausschließlich auf Preußen richtet.5 Im Folgenden soll daher mit einem breiteren Blick auf die deutsche Staatenwelt die komplexe Transformation nachgezeichnet werden, die der politische Umgang mit dem Sterben im Krieg im 18. und frühen 19.  Jahrhundert erfuhr. Als entscheidende Einflussfaktoren erwiesen sich dabei neue Formen der Heeresaufbringung, der Wandel des Patriotismusbegriffs, die allmähliche Durchsetzung nationaler Vorstellungen und die flankierende Rolle der Kirchen. 3 Vgl. etwa Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 3. Aufl., München 2020; Dieter Langewiesche, Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne, Bonn 2019; Ewald Frie, Ute Planert (Hg.), Revolution, Krieg und die Geburt von Staat und Nation. Staatsbildung in Europa und den Amerikas 1770–1930, Tübingen 2016. 4 Vgl. Reinhart Koselleck, Michael Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994; Manfred Hettling, Jörg Echternkamp, Gefallenengedenken im globalen Vergleich. Nationale Tradition, politische Legitimation und Individualisierung der Erinnerung, München 2013; Georg L. Mosse, Gefallen für das Vaterland, Stuttgart 2013; Manfred Hettling, Die zwei Körper des toten Soldaten. Gefallenengedenken in Deutschland seit 1800, in: Martin Clauss, Ansgar Reiss, Stefanie Rüther (Hg.), Vom Umgang mit den Toten. Sterben im Krieg von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2019, S. 145–174, sowie die weiteren Beiträge dieses Bandes. 5 Vgl. als Beispiel etwa Kelly Minelli, Soldat (Frühe Neuzeit), in: Compendium heroicum, (Sonderforschungsbereich 948 »Helden – Heroisierungen – Heroismen« der Universität Freiburg, 14.02.2018), https://www.compendium-heroicum.de/lemma/soldat-fruehe-neuzeit/#4_das_ende_des_18_und_ der_anfang_des_19_jahrhunderts_vom_buergerhelden_zum_nationalkrieger (letzter Zugriff: 23.09. 2022).



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1. Wandel des Kriegs- und Militärwesens im 18. Jahrhundert

Im Ancien Régime hatten ständische Schranken für eine strikte Trennung von Offizieren und Gemeinen gesorgt, die sich noch im Tod fortsetzte. Heldentum und militärische Ehre waren einer adeligen Kriegerkaste vorbehalten, die für die geworbenen oder zum Dienst gepressten Soldaten zumeist nur Verachtung übrig hatte. Im Krieg verwundete Offiziere wurden nach allen Regeln der Kunst versorgt, ihre toten Körper sorgfältig geborgen und mit allen zeremoniellen Ehren bestattet. Ihre Auszeichnungen fanden Eingang in die Geschichte ihrer Regimenter, und im 18. Jahrhundert hielt man die Namen gefallener Offiziere nicht selten in zeitgenössischen Medienberichten fest.6 Die Leichen der Gemeinen dagegen ließ man auf der Walstatt liegen, wo sie ausgeplündert und allenfalls von der lokalen Bevölkerung zur Seuchenverhütung in Massengräbern verscharrt wurden. Von ihrem Tod erfuhren die Hinterbliebenen nur durch Berichte von Überlebenden. Schriftliche Todesvermerke etwa in Kirchenmatrikeln blieben die Ausnahme, so dass es den Angehörigen oft unmöglich war, die notwendigen Belege für die Auszahlung des restlichen Solds oder eine Wiederverheiratung beizubringen.7 Angesichts der zahlreichen Kriege des 18. Jahrhunderts war das Kriegs- und Mili­ tärwesen der europäischen Mächte beträchtlichen Veränderungen unterworfen. Der aufstrebende Militärstaat Preußen ergänzte 1733 sein teures und von notorischer Desertion geprägtes Stehendes Heer um ein kostengünstiges und prinzipiell unerschöpfliches Rekrutierungspotential: Mit der Einführung des Kantonsystems verpflichtete er die männlichen Untertanen unterer Sozialschichten dem Grundsatz nach zum Militärdienst. Auch wenn aufgrund des rollierenden Systems jeweils nur ein Teil der Landeskinder tatsächlich unter Waffen stand, stellten sie während der Regierungszeit Friedrichs II. in Friedenszeiten doch rund 40 Prozent der Armeeangehörigen.8 Andere Staaten wie Hessen-Kassel zogen nach, und auch die Habsburgermonarchie führte 1771 in den meisten Landesteilen zur Heeresergänzung das Konskriptionssystem ein, das trotz vielfacher Ausnahmen einen beträchtlichen Teil der männlichen Untertanen wehrdienstpflichtig machte.9 6 Vgl. Marian Füssel, Ein »Jammer und Todestal«. Die Toten auf den Schlachtfeldern des 18. Jahrhunderts, in: Clauss, Reiss, Rüther, Vom Umgang mit den Toten, S. 221–240; Frank Zielsdorf, Militärische Erinnerungskulturen in Preußen im 18.  Jahrhundert. Akteure  – Medien  – Dynamiken, Göttingen 2016. 7 Vgl. Füssel, Jammer und Todestal (wie Anm. 6), S. 232–234. 8 Martin Guddat, Handbuch zur preußischen Militärgeschichte. 1688–1786, Hamburg 2011, S. 236f. 9 Michael Hochedlinger, Militarisierung und Staatenverdichtung. Das Beispiel der Habsburgermonarchie in der frühen Neuzeit, in: Thomas Kolnberger, Ilja Steffelbauer, Gerald Weigl (Hg.), Krieg und Akkulturation, Wien 2004, S. 107–129; Hans-Georg Böhme, Die Wehrverfassung in Hes-

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Zur Stärkung der Motivation und Kohärenz der wachsenden Truppenteile appellierten die kriegführenden Staaten ganz traditionell an die christliche Gottesfurcht der Soldaten und ihre dynastische Loyalität zum Herrscherhaus. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als die Bildungseliten ihren (Landes-)Patriotismus entdeckten und zunehmend über Fragen der deutschen Nation debattierten, begannen sich auf der Ebene der Einzelstaaten in das klassische Referenzsystem von Thron und Altar allmählich auch Appelle an die Vaterlandsliebe der Soldaten zu mischen.

2. Patriotismus und politische Partizipation

Schon seit der Wiederentdeckung von Tacitus’ »Germania« durch die Humanisten hatten in den Kriegsphasen der Frühen Neuzeit nationale Mythen und Stereotypen zur Abgrenzung etwa gegen das expansive Frankreich eine bedeutende Rolle gespielt. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts nahmen Debatten um die deutsche Nation auch in Friedenszeiten zu. Ihre Träger waren eine neue Schicht von bürgerlichen und (reform)adeligen Gebildeten, die durch den Ausbau der Universitäten und die Ausweitung des Beamtenapparats im Zuge der Modernisierung und bürokratischen Rationalisierung der Monarchien und ihrer Bemühungen, den kirchlichen Einfluss zurückzudrängen, entstanden war. Die wachsende Schicht der Gebildeten bildete den soziostrukturellen Grundstock für eine weithin konstatierte »Leserevolution«, die mit einer emphatischen Hinwendung zur neu entdeckten deutschen Nationalkultur, Adelskritik und  – angesichts des Antagonismus zwischen Preußen und der Habsburgermonarchie  – intensiven Debatten um die Notwendigkeit einer Reichsreform einherging. Die zahlreichen Diskussionen um die Bedeutung der deutschen Sprache, einen gemeinsamen »Nationalcharakter«, germanische Helden oder die Notwendigkeit eines Nationaltheaters waren kein bloß intellektueller Selbstverständigungsdiskurs, sondern zielten darauf ab, die »Staatsnation aus den Elementen der Kulturnation […] zu bilden«.10

sen-Kassel im 18. Jahrhundert bis zum Siebenjährigen Kriege, Kassel 1954; Rainer Wohlfeil, Vom Stehenden Heer des Absolutismus zur Allgemeinen Wehrpflicht (1789–1814), in: Militärgeschichtliches Forschungsamt Freiburg (Hg.), Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648–1939, Band 2, München 1983; Siegfried Fiedler, Grundriss der Militär- und Kriegsgeschichte, 3 Bände, München 1972–1978; ders.: Kriegswesen und Kriegführung im Zeitalter der Revolutionskriege (Heerwesen der Neuzeit, Abt. III), Koblenz 1988. 10 Vgl. Wolfgang Frühwald, Die Idee kultureller Nationsbildung und die Entstehung der Literatursprache in Deutschland, in: Otto Dann (Hg.), Nationalismus in vorindustrieller Zeit, München 1986, S. 129–142.



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Gleichzeitig erschienen in vielen Einzelstaaten des Alten Reiches patriotische Schriften, in denen sich Gebildete auf ihre Vaterlandsliebe beriefen, um Vorschläge zur Verbesserung des Gemeinwesens im jeweiligen Territorialstaat zu unterbreiten. Der Hinweis auf ihren Patriotismus diente einer ökonomisch und intellektuell privilegierten, politisch aber ohnmächtigen Elite als Instrument, um ihre bisherige »Untertanenexistenz zu überwinden und aktiv am gemeinen Wesen Anteil zu nehmen«, dem sie bislang nur als passive Mitglieder angehört hatten.11 Selbst Monarchen verließen sich im Zeitalter der Aufklärung nun immer weniger auf die traditional-religiöse Legitimation ihrer Herrschaft und begannen, sich als erste Diener ihres Staates und patriotische Garanten des gemeinen Nutzens zu inszenieren.12

3. Preußen im Siebenjährigen Krieg: Todesbereitschaft als patriotischer Appell

Eine weitreichende Neudefinition dieser auf Partizipationswünsche und Loyalitätsverlangen ausgerichteten Vaterlandssemantik kündigte sich seit dem österreichischen Erbfolgekrieg an, als zahlreiche Dichter und Publizisten den Arminius-Stoff erneut aufgriffen und dabei den Heldenmut und die Todesbereitschaft des Cheruskerfürsten 11 Rudolf Vierhaus, Patriotismus – Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung, in: ders. (Hg.), Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen, Göttingen 1987, S. 96–109. 12 Auf die Komplexität dieser Veränderungen und die Rolle, die Kriege dabei spielten, kann hier nicht weiter eingegangen werden. Vgl. zum Hintergrund etwa Christoph Prignitz, Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Patriotismus von 1750 bis 1850, Wiesbaden 1981; Eckhart Hellmut, Reinhard Stauber (Hg.), Nationalismus vor dem Nationalismus (Aufklärung 10/2), Hamburg 1998; Martin Wrede, Das Reich und seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg, Mainz 2004; Ute Planert, Wann beginnt der »moderne« deutsche Nationalismus? Plädoyer für eine nationale Sattelzeit, in: Jörg Echternkamp, Oliver Müller (Hg.), Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen, 1760–1960, München 2002; Jörg Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus, 1770–1840, Frankfurt a. M., New York: 1998; Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000; Wolfgang Burgdorf, »Reichsnationalismus« gegen »Territorialnationalismus«: Phasen der Intensivierung des nationalen Bewußtseins in Deutschland seit dem Siebenjährigen Krieg, in: Dieter Langewiesche, Georg Schmidt (Hg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, S. 157–190; ders., Nationales Erwachen der Deutschen nach 1756. Reichisches gegen territoriales Nationalbewußtsein, in: Marco Bellabarba, Reinhardt Stauber (Hg.), Territoriale Identität und politische Kultur in der Frühen Neuzeit, Berlin 1998, S. 109–132; Reinhardt Stauber, Nation. Nationalismus, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online (Brill Reference Online, 2019), https://referenceworks.brillonline.com/entries/enzyklopaedie-der-neuzeit/nation-nationalismus-COM_316128?s. num=1&s.rows=20&s.f.s2_parent=s.f.book.enzyklopaedie-der-neuzeit&s.q=nationalismus (letzter Zu­griff: 23.09.2022).

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betonten.13 Im Kontext des Siebenjährigen Krieges verbarg sich die Aufforderung, sein Leben auf dem »Altar des Vaterlands« zu lassen, dann erstmals nicht länger nur im Gewand der Dichtung und Historie, sondern wurde in der Streitschrift eines von Friedrich  II. an die Brandenburgische Universität Frankfurt berufenen Professors zum patriotischen Appell. In Thomas Abbts 1761 erschienener Abhandlung »Vom Tode für das Vaterland« erfuhr der Krieg eine vollkommene Umwertung: Er war nicht länger der ultimative Schrecken und eine Strafe Gottes, sondern erschien als Instrument der Läuterung, aus dem der Einzelne und die nationale Gemeinschaft gestärkt hervorgingen.14 Allerdings war der Tod für das Vaterland für Abbt anders als später in der Französischen Revolution keineswegs die letale Konsequenz einer vorgängigen politischen Partizipation. Vielmehr begründete erst die willige Inkaufnahme der eigenen Vernichtung ein Anrecht auf die Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft, die sich in Abbts Pamphlet nicht auf das Reich oder eine abstrakte deutsche Nation, sondern auf Preußen bezog. Abbts Abhandlung stand ebenso wie Johann Wilhelm Ludwig Gleims 1758 veröffentlichte Grenadierlieder im Kontext der preußischen Medienoffensive gegen Öster­ reich. Die Auseinandersetzung der beiden Großmächte wurde von einer Fülle von Flugschriften, Kriegspredigten, Soldatenliedern, Heldenepen und Kriegsgedichten begleitet. Neu war auch die Produktion patriotischer Massenware, so dass Friedrichs II. Konterfei unzählige Tabakdosen, Tücher und Kalender schmückte.15 Wie hoch trotz der säkularen Kriegspropaganda weiterhin die Mobilisierungsfaktoren Religion und vor allem Konfession eingeschätzt wurden, zeigte sich daran, dass sich Preußen alle Mühe gab, die machtpolitisch motivierte Auseinandersetzung zweier konfessionsverschiedener Staaten zum Religionskrieg zu stilisieren. Der mit Österreich verbündete französische Kriegsgegner gab Preußen nicht nur die Möglichkeit, die nationale Karte zu spielen, sondern ein weiteres Mal den Topos vom französischen Religionskrieg gegen die protestantischen Mächte zu bedienen. Der territorial-dynastische preußische Patriotismus verschmolz so mit der Anknüpfung an das überlieferte Feindbild Frankreich, der Berufung auf die deutsche Nation und auf die Behauptung der Bedrohung der protestantischen Konfession. Zugleich beließ es Preußen in diesem »Krieg der 13 Hans-Peter Herrmann, »Ich bin fürs Vaterland zu sterben auch bereit«. Patriotismus oder Nationalismus im 18. Jahrhundert? Lesenotizen zu den deutschen Arminiusdramen 1740–1808, in: ders., Hans-Martin Blitz, Susanna Mossman (Hg.), Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18.  Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1996, S. 32–65. 14 Vgl. Thomas Abbt, Vom Tode für das Vaterland (1761), in: Johannes Kunisch (Hg.), Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeitzeugen zum Siebenjährigen Krieg, Frankfurt a. M. 1996, S. 589–650. 15 Vgl. Horst Carl, Okkupation und Regionalismus. Die preußischen Westprovinzen im Siebenjährigen Krieg, Mainz 1993.



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Federn« nicht länger bei einer Zensur unliebsamer Medieninhalte, sondern versuchte gezielt, auf die öffentliche Meinung Einfluss zu nehmen. Ein halbes Jahrhundert später sollten sich die so entwickelten Methoden der Kriegspropaganda im Kampf gegen die napoleonische Hegemonie als nützlich erweisen. Es spricht viel dafür, dass Preußen im Siebenjährigen Krieg an der Schwelle zur territorialen Nationsbildung stand – Kriegsheroen, Feindbilder und Vaterlandsprediger inklusive.16

4. Sachsen und Vorderösterreich am Ende des Ancien Régime: Die Rolle der Wehrverfassung

Anders stellte sich die Situation zur gleichen Zeit im benachbarten Sachsen dar, wo nach den Heeresreformen August des Starken fast ausschließlich Landeskinder in der Armee dienten. Hier verließ man sich zur Stärkung der Kampfmotivation auf die dynastische Loyalität und die Popularität von Kurfürst Friedrich August I., der für die Soldaten zugleich Landesvater, Befehlshaber und Kriegsherr war. Durch die Wehrverfassung entwickelten auch regionale und landsmannschaftliche Faktoren eine starke Kohäsionskraft. Die von patriotischen Intellektuellen während des Siebenjährigen Kriegs in Umlauf gebrachten Schriften mit ihren Appellen an die Opfer- und Todesbereitschaft der Soldaten zeigten dagegen wenig Wirkung. Stattdessen setzte die kursächsische Regierung erfolgreich auf die Mitwirkung der Kirche, stellte Feldprediger ein und ließ zahlreiche Gesang- und Gebetbücher drucken. Selbst in den Kriegen gegen die Französische Revolution, als Hunderte von politischen Flugschriften, Journalen, Liedern und Gedichten eine inzwischen deutlich stärker alphabetisierte Bevölkerung erreichten, spielten Gottesfurcht und dynastische Loyalität sowohl für die in Süddeutschland kämpfenden sächsischen Truppen selbst als auch für ihre Unterstützung durch Spenden aus der Heimat eine weitaus wichtigere Rolle als die nationalen Appelle einer kleinen Schicht Gebildeter.17 Auch in Vorderösterreich wurden während der Koalitionskriege erfolgreich Spenden für das habsburgische Militär gesammelt. Die Unterstützung von Soldaten durch 16 Vgl. Wolfgang Burgdorf, »Reichsnationalismus« gegen »Territorialnationalismus« (wie Anm. 12), S. 162. 17 Vgl. Stefan Kroll, »Gottesfurcht« und »Vaterlandsliebe«: Zwei Triebfedern zur Motivierung und Disziplinierung von Soldaten im Krieg? Das Beispiel Kursachsen im 18. Jahrhundert, in: Michael Kaiser, Stefan Kroll (Hg.), Militär und Religiosität in der Frühen Neuzeit, Münster 2004, S. 225–248; ders., Soldaten im 18. Jahrhundert zwischen Friedensalltag und Kriegserfahrung. Lebenswelten und Kultur in der kursächsischen Armee 1728–1796, Paderborn u. a. 2006; zur dynastischen Loyalität der kursächsischen Truppen im Siebenjährigen Krieg vgl. Marcus von Salisch: Treue Deserteure: Das kursächsische Militär und der Siebenjährige Krieg, München 2009.

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Spendenkampagnen war also nicht erst eine preußische Neuerfindung während der »Befreiungskriege« gegen Napoleon, sondern eine im Alten Reich in Anlehnung an die Kollekte entwickelte und von den Kirchen im Namen der regierenden Dynastien längst etablierte Aktionsform.18 Gerade im ländlich-katholischen Süden fielen tiefe Religiosität, Verankerung der katholischen Konfession und Anhänglichkeit an das Haus Habsburg in eins. Allerdings reichten die militärische Traditionen der Donaumonarchie und des Reiches im 18.  Jahrhundert anders als in Preußen noch nicht sonderlich weit in die Gesellschaft hinein.19 Die Landesdefensionswerke waren im Zeitalter der Stehenden Heere in Vergessenheit geraten, und die nach preußischem Vorbild entwickelte Theresianische Militärreform hatte noch längst nicht überall Wurzeln geschlagen.20 In Vorderösterreich hatte man erst 1786 das Kantonsystem eingeführt und musste nach heftiger Gegenwehr der Stände die Zuständigkeit der Zentrale für die Einberufung der Dienstpflichtigen zurücknehmen. Wo die Stände die Militärpflichtigen auswählten, diente das Heer weiterhin als Auffangbecken für den Bodensatz der Gesellschaft und zur Abschiebung unliebsamer Zeitgenossen. Auf diese Weise war es den Städten und Gemeinden möglich, unliebsame »Erzraufer«, »Müßiggänger«, »Hurer«, »Säufer«, »grobe Excesse-Macher« und »Ehebrecher« aus ihrem Einzugsgebiet zu entfernen – sehr zum Unmut des Generalkommandos der österreichischen Rheinarmee, das sich 1797 über die Gepflogenheit beschwerte, die vorderösterreichischen Regimenter »teils mit Vaga­bunden, teils mit einheimischen Sträflingen, die bei nächster Gelegenheit entlaufen« anzufüllen.21 Noch die Würzburger Bettelordnung von 1801 ließ aufgegriffenen »Müssiggängern« die Wahl zwischen Arbeitshaus und Zwangsrekrutierung.22 Die 18 Vgl. Otto Heinl, Heereswesen und Volksbewaffnung in Vorderösterreich im Zeitalter Josefs II. und der Revolutionskriege, Freiburg 1941, S. 40–42. 19 Allerdings ist die von Otto Hintze und Otto Büsch entwickelte These der sozialen Militarisierung Preußens durch mikrohistorisch angelegte Studien inzwischen etwas relativiert, wenn auch nicht verworfen worden, vgl. etwa Otto Büsch, Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen 1713–1807, Berlin 1962; Ralf Pröve, Bruno Thoss (Hg.), Kriegerische Gewalt und militärische Präsenz in der Neuzeit. Ausgewählte Schriften von Bernhard R. Kroener, Paderborn 2008; Bernhard R. Kroener, Ralf Pröve (Hg.), Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der frühen Neuzeit, Paderborn 1996; Ralf Pröve (Hg.), Klio in Uniform? Probleme und Perspektiven einer modernen Militärgeschichte der Frühen Neuzeit, Köln 1997; Martin Winter, Untertanengeist durch Militärpflicht? Das preußische Kantonsystem in brandenburgischen Städten im 18. Jahrhundert, Bielefeld 2005. 20 Vgl. das Forschungsprojekt von Josef Löffler an der Universität Wien zur Durchsetzung der theresianischen Reformen im ländlichen Raum. 21 Generalkommando der Rheinarmee, 21.07.1797, zit. nach: Heinl: Heereswesen und Volksbewaffnung (wie Anm. 18), S. 26. 22 Vgl. Ernst Schubert: Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18.  Jahrhunderts, 2. Aufl., Neustadt a.d. Aisch 1990, S. 141f. Einer zeitgenössischen medizinischen Topographie ist zu entnehmen, dass es noch nach der Jahrhundertwende üblich war, aufgegriffene Vaganten nach kurzem Auf-



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Kluft, die das Militär traditionellerweise von der Welt der ehrbaren Bürger und Bauern trennte, war immer noch tief.

5. Süddeutschland in den Koalitionskriegen: Begrenzte Kriegsbereitschaft

Die beiden Sphären trafen erst aufeinander, als das österreichische Heer gegen die Truppen der Französischen Revolution in die Defensive geriet und man zur Verteidigung der Rheingrenze die Bewohner der anliegenden Dörfer zu Hilfe rufen musste. Trotz erheblicher Vorbehalte, die womöglich mit den Zielen der Französischen Revolution sympathisierenden Untertanen zu bewaffnen, empfahl ein Reichsgutachten 1794, die Bevölkerung in die Abwehr der feindlichen Invasion einzubeziehen. Daraufhin beschloss eine Reihe von süddeutschen Reichskreisen und Reichständen die Einführung einer Landmiliz.23 In Württemberg, wo die mächtigen Landstände dem herzoglichen Stehenden Heer ohnehin misstrauisch gegenüberstanden, begeisterten sich die gebildeten Schichten für diese »Nationalerziehungsanstalt« und suchten mit zahlreichen Flugschriften und Predigten »Hermanns kriegerischen Geiste« in der württembergischen Bevölkerung zu wecken. Allerdings schlug die literarische Begeisterung der Bildungsbürger nicht auf jene durch, die sich in dieses Institut einreihen sollten. Von 25.000, 60.000 oder gar 100.000 Milizionären, die der württembergische Herzog aufzubringen hoffte, konnte keine Rede sein.24 In einigen Regionen des Schwäbischen Kreises führten die Vorbereitungen zum Milizenzug zu Unruhen und Tumulten. In den zahlreichen Klein- und Kleinstterritorien der nichtarmierten Stände, die keine Form der Wehrpflicht gekannt hatten, blieb den Einwohnern die Vorstellung, auf Geheiß einer gesichtslosen Behörde zu den Waffen zu greifen, ebenso fremd wie die Idee, sich feindlichen Truppen entgegenzustellen und sein Leben zu riskieren, solange es nicht darum ging, das eigene Dorf vor unmittelbar Gefahr zu schützen. In Baden zogen nur aus den grenznahen Gebieten einige Defensionäre an den Rhein, während sich im Hinterland die Maßnahmen nur schleppend oder gar enthalt im Würzburger Zuchthaus an ein fremdes Militär abzugeben, vgl. Philipp Joseph Horsch, Versuch einer Topographie der Stadt Würzburg in Beziehung auf den allgemeinen Gesundheitszustand und die dahin zielenden Anstalten, Arnstein, Rudolstadt 1805. 23 Vgl. Heinz-Günther Borck, Der Schwäbische Reichskreis im Zeitalter der französischen Revolutionskriege (1792–1806), Stuttgart 1970, S. 85 und Wilhelm Wendland, Versuch einer allgemeinen Volksbewaffnung in Süddeutschland während der Jahre 1791 bis 1794, Berlin 1901 (Neudruck Vaduz 1965), S. 118–142. 24 Erwin Hölzle, Das alte Recht und die Revolution. Eine politische Geschichte Württembergs in der Revolutionszeit 1789–1805, München, Berlin 1931, S. 121. Dabei bezog sich der geforderte Nationalismus stets auf das konkret-württembergische, nicht auf das abstrakt-deutsche Vaterland.

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nicht umsetzen ließen.25 Immer seltener rückten die Landwehrmänner zum Exerzieren aus, bis die Bemühungen 1795 schließlich ganz einschliefen.26 In Vorderösterreich dagegen wurde die kaiserliche Armee während der französischen Offensive 1796 von Milizen aus grenznahen Regionen unterstützt. Sie beteiligten sich zuweilen an den Kämpfen und setzten den französischen Truppen auf dem Rückzug zu. Meist wurden sie jedoch abseits der Front verwendet und kamen nur in Ausnahmefällen ins Gefecht. Sie sollten vor allem das reguläre Militär entlasten, indem sie den Sicherungsdienste am Rhein oder Kundschafteraufgaben übernahmen, Gefangene einbrachten und Schanzen errichteten.27 Der vorderösterreichische Regierungspräsident Joseph Thaddäus von Sumerau gab sich alle Mühe, mit »warmer Vaterlandsliebe« für das »deutschpatriotische Unternehmen« zu werben. Doch abgesehen vom Regierungssitz Freiburg, an dem man mit tatkräftiger Unterstützung ortsansässiger Honoratioren und des Münsterpfarrers eine Bürgerwehr bildete, ließ die Bereitschaft der Untertanen, zur Verteidigung der »heiligen Religion« und des »besten Monarchen« in die Bresche zu springen, bald deutlich nach.28 Auch hier zeigten sich nur die Einwohner in Grenzregionen mit ihrer langen Geschichte kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und dem Reich verteidigungsbereit, und ihr Engagement bezog sich nur auf die Abwehr unmittelbarer Gefahren. Insofern blieb die Landmiliz eine Landesdefensionsanstalt im eigentlichen Sinne des Wortes.

6. Ursachenforschung

Die Aktivierung von Zivilisten für militärische Zwecke bedarf, das haben vergleichende Forschungen gezeigt, einer besonderen politischen Legitimation und der Herstellung einer kollektiven Identität.29 Doch in den Koalitionskriegen am Ende 25 Vgl. Heinl, Heereswesen und Volksbewaffnung (wie Anm. 18), S. 40–57; Wendland, Versuch einer allgemeinen Volksbewaffnung (wie Anm. 23); Reinhold Lenz, Volksbewaffnung und Staatsidee in Österreich (1792–1797), Wien, Leipzig 1926. 26 Vgl. Ute Planert, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden. Alltag, Wahrnehmung, Deutung, 1792–1841, Paderborn 2007, S. 396–399. 27 Vgl. Heinl, Heereswesen und Volksbewaffnung (wie Anm. 18), S. 61–64 sowie Oskar Regele, Zur Militärgeschichte Vorderösterreichs, in: Friedrich Metz (Hg.), Vorderösterreich. Eine geschichtliche Landeskunde, 4. Aufl., Freiburg 2000, S. 87–94, hier S. 89. 28 Vgl. v. Sumeraus Zirkular vom 08.07.1796, Stadtarchiv Villingen-Schwenningen Z 62a und seine Aufrufe zum Landsturm vom 22.02.1794 und 24.11.1799, Stadtarchiv Villingen-Schwenningen, Z 57. 29 Vgl. Ralf Pröve, Stadtgemeindlicher Republikanismus und die »Macht des Volkes«. Civile Ordnungsformationen und kommunale Leitbilder politischer Partizipation in den deutschen Staaten vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000.



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des Alten Reiches brachte weder der traditionelle Reichspatriotismus noch die verbreitete Loyalität zum Haus Habsburg eine über punktuelle Erfolge hinausgehende Mobilisierung der Zivilbevölkerung für den Krieg zu Wege. Die Ursachen dafür waren vielfältig und reichten von der traditionellen Trennung zwischen militärischer und ziviler Sphäre, der politischen Zurückhaltung gegenüber Volksbewaffnungsplänen samt fehlender oder wenig eingespielter Vorformen der Wehrpflicht über kleinteilige Landschaften, die übergreifende Loyalitäten erschwerten, bis hin zu den sozialstrukturellen Verhältnissen und Kommunikationsbedingungen eines weitgehend ländlich geprägten Raumes, in dem die patriotischen Appelle einer kleinen bürgerlichen Minderheit ohne die Rückendeckung der Obrigkeiten ins Leere liefen. Als besonders hinderlich erwies sich zudem, dass zwei Faktoren fehlten, die sich etwa im friderizianischen Preußen als durchschlagend erwiesen hatten: eine dynastische Heldenfigur und die Kriegsmobilisierung durch die Kirche. Zwar entwickelte sich um Erzherzog Carl, der als Oberbefehlshaber verschiedener Truppenteile und schließlich als Generalissimus die Reichs- und kaiserlichen Truppen in den Koalitionskriegen führte, in Süddeutschland und Österreich ein veritabler Personenkult, der sich in unzähligen Bildern und Gedichten niederschlug. Geistliche interpretierten seine Siege als göttliches Zeichen für einen baldigen Frieden, und in Augsburg wurde dem »Retter der Deutschen« bereits 1802 ein Denkmal gesetzt.30 Allerdings kam es immer wieder zu Spannungen zwischen Carl und seinem regierenden Bruder sowie dem Wiener Hof, so dass angestoßene Militärreformen zunächst versandeten und der Erzherzog mehrfach das Armeekommando niederlegte, bis er schließlich nach einem eigenmächtig abgeschlossenen Waffenstillstand vom Kaiser suspendiert wurde. Zwar gelang es Carl schließlich doch, einige Heeresreformen durchzusetzen, doch die beständigen Querelen verhinderten, dass sich die Popularität des Erzherzogs in einen durchschlagenden Effekt dynastischer Kriegsmobilisierung übersetzen ließ.31 Nach dem Untergang des Alten Reiches setzte das neu gegründete Kaisertum Österreich noch vor Preußen auf die nationale Karte, zunächst freilich ohne Erfolg. 30 Vgl. die Predigt des badischen Kapuzinerpaters Nicephor, mit der er nach den Siegen der von Erzherzog Karl geführten Truppen bei Amberg und Würzburg im Spätsommer 1796 die Einwohner der bedrängten Reichsstadt Biberach zu trösten suchte, zit. nach Planert, Mythos vom Befreiungskrieg (wie Anm. 26), S. 513f.; H. Borchers, Denkmal des Erzherzogs Karl in Augsburg, in: Ebbes. Zeitschrift für das Bayrische Schwaben vom Ries bis ins Allgäu 12 (6) 1990, S. 45–47. 31 Carl hatte Napoleon bei Aspern die erste Niederlage auf dem Schlachtfeld beigebracht, musste sich aber wenig später bei Wagram geschlagen geben und wurde wegen des danach eigenmächtig abgeschlossenen Waffenstillstands von seinem Bruder entlassen, woraufhin er sich ins Privatleben zurückzog. Vgl. Gunther E. Rothenberg, Napoleon’s Great Adversary: Archduke Charles and the Austrian Army, 1792–1814, Bloomington 1982.

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Nach dem Schock des verlorenen Dritten Koalitionskriegs wurde unter der Ägide von Erzherzog Johann und des österreichischen Außenministers Johann Philipp Graf Stadion 1808 zur Ergänzung der Linientruppen die Landwehr eingeführt, die unterbürgerliche Männer von 18 bis 30 Jahren zum Waffendienst verpflichtete. Wer eingezogen wurde, entschied das Los. Da sich aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in der langjährigen Kriegszeit viele Männer freiwillig meldeten, nahm die Landwehr auch ohne formale Wehrpflicht allmählich den Charakter einer Volksarmee an. Der aufmerksam beobachtete Widerstand der spanischen Bevölkerung gegen die napoleonische Herrschaft ließ in Wien die Hoffnung reifen, 1809 einen von entsprechender Propaganda begleiteten »Nationalkrieg« führen zu können. Von Tirol abgesehen, wo man mit österreichischer Hilfe gegen den Anschluss an das rheinbündische Bayern und die verhängte Wehrpflicht rebellierte, brach die Idee ­eines Nationalkriegs gegen Napoleon freilich rasch in sich zusammen, weil sich die anderen Mächte nicht wie erwartet dem antifranzösischen Kurs anschlossen.32

7. Kriegstheologie in Süddeutschland: Vom Krieg als »Strafe Gottes« zum Opfer in der Nachfolge Christi

Auch setzte die Kriegsmobilisierung durch die Kirchen im Süden erst allmählich ein. Ihr Selbstverständnis ebenso wie die traditionelle Form der christlichen Kriegsdeutung standen im Alten Reich Aufrufen zur aktiven Kriegsbeteiligung entgegen. Zu Beginn der Koalitionskriege wurde der Krieg wie in den Jahrhunderten zuvor sowohl von protestantischer wie von katholischer Seite als göttliche Strafe oder Prüfung interpretiert. Damit waren Buße, Läuterung und Zuflucht zum Gebet die angemessene Reaktion auf den Krieg, nicht die Teilnahme an militärische Aktionen. Den Untertanen oblag es, sich im Ertragen der Kriegslasten zu üben und ansonsten für das Waffenglück des Kaisers samt seiner Verbündeten und einen baldigen Frieden zu beten. Insbesondere die katholische Kirche hielt zur spirituellen Kriegsmobilisierung ein ganzes Arsenal von Methoden bereit, die einer traditionellen Dramaturgie folgten. Dazu gehörten neben der Ausschreibung von Buß- und Fastentagen auch zehn- oder vierzigstündige Gebete zur Segnung der österreichischen und alliierten Waffen, bei der die eucharistische Anbetung des Allerheiligsten von der Verlesung bestimmter, nur Kriegssituationen vorbehaltener Gebetstexte begleitet wurde. Der sich über Tage hinziehenden Liturgie wurde eine transzendentale Wirksamkeit zugeschrieben. Dazu gesellten sich Kriegsandachten in den Klöstern und ein mittägliches Gebetsläu32 Vgl. Hellmuth Rössler, Graf Johann Philipp Stadion. Napoleons deutscher Gegenspieler, 2 Bde., München 1966.



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ten, um auch diejenigen zum Gebet aufzurufen, die bei der Feldarbeit unabkömmlich waren.33 Auch der katholische Reichsadel achtete darauf, dass die Patronatsgeistlichen Bitt- und Dankgottesdienste mit mehrstündigen Gebeten und Prozessionen für den Sieg der Kaiserlichen vornahmen. In Engelswies, einem habsburgischen Lehen der Grafen von Kastell, ließ man eigens eine Glocke gießen, um mit ihrem Läuten die Gläubigen in weitem Umkreis daran zu erinnern, regelmäßig ein Vaterunser für das Kriegsglück der österreichischen Waffen zu beten.34 7.1 Kriegsdeutungen: Von der Strafe zur Läuterung

Allerdings kam schon während der Revolutionskriege längst nicht mehr jede Predigt mit demselben barocken Furor daher, der noch im Siebenjährigen Krieg üblich gewesen war. Auf katholischer Seite waren es vor allem Ordensgeistliche, im protestantischen Umfeld pietistische Pfarrer, die Schreckensbilder von Tod und Zerstörung beschworen und den Krieg als »Geisel Gottes und Strafruthe unserer Sünden« deuteten. Als Meister der markigen Worte erwies sich der vorderösterreichische Kapuzinerpater Heinrich, der 1793 in Villingen dem erschrockenen Kirchenvolk das Wüten der Kriegsfurie vor Augen führte: In ihrer Rechten führt sie ein blankes Schwert, von welchem rauchendes Menschenblut herabträufelt; in ihrer Linken eine Fackel, deren Flamme nach Pallästen und Hütten zu lechzen scheint. Ihr weit aufgesperrter Rache verschlingt die Fülle der Vorratshäuser, den Schweiß des Landmanns […]. Wo immer diese Furie ihren furchtbaren Gang hinnimmt, dort lodern Flecken und Dörfer in Flammen auf, Städte werden eingeäschert, Festungen […] zu Schauplätzen des Elends, des Blutvergießens, des Mordens gemacht. […] Felder, die zuvor dem hungernden Viehe fette Weiden gaben, werden mit Menschenblut getränket; liegen weitumher mit Erschlagenen, mit Leichen und Todtengeribbe überstreuet […]. Die hoffnungsvollsten Söhne werden den Armen ihrer ergrauten und hilfsbedürftigen Eltern entrissen; der Gang des Gewerbes wird ersticket, der Preiß der Waaren erhöhet; die Handelschaft gehemmt, und der Ackerbau erschwert.35 33 Vgl. die Erlasse und Zirkulare aus dem Fürstbistum Konstanz während der Koalitionskriege im Erzbischöfliches Archiv Freiburg bei Planert, Mythos vom Befreiungskrieg (wie Anm. 26), S. 510f. 34 Vgl. [E. Bücheler], Beiträge zur Ortschronick. Von Bürgermeister E[rasmus] Bücheler, abgedruckt in: Zwischen Wallfahrt, Armut und Liberalismus. Die Ortesgeschichte von Engelswies in dörflichen Selbstzeugnissen, bearb. v. Edwin Ernst Weber, Sigmaringen 1994, S. 123–129, hier S. 124. 35 [P. Heinrich], Rede über die Allgemeinen Anliegenheit des Krieges am zweyten Sonntage nach Ostern gesprochen von dem Wohlehrwürdigen P. Heinrich aus dem Franciskusorden der minderen Kapuziner, als man auf höchst-bischöfliche Verordnung der K.K.V.-Oest. Stadt Villingen das erste öffentliche Gebeth hielt, o.O. 1793, S. 6f.; Rudolf Schlögl, Glaube und Religion in der Säkularisie-

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Auch pietistische Geistliche wurden nicht müde, ihren Gemeinden die lange Liste ihrer Sünden und Versäumnisse ins Bewusstsein zu rücken. Ihr Gott war ein strafender, die kleinsten Verfehlungen wägender Gott, vor dessen Gericht kein Sterblicher standhielt. So konnten sich die Gläubigen nur in reuiger Zerknirschung der göttlichen Gnade anvertrauen, ohne zu wissen, ob sie ihnen auch gewährt wurde.36 Dagegen stellten die von der Aufklärung beeinflussten Geistlichen beider Konfessionen den Erziehungs- und Entwicklungsgedanken in den Vordergrund. Zwar galt Krieg immer noch als größter aller Schrecken, doch anders als im Siebenjährigen Krieg stellten sie keine kausale Verbindung mehr zwischen der Geißel des Krieges und den von den Gläubigen begangenen Sünden her. Hier erschien der Krieg als Instrument der Läuterung, den die göttliche Weisheit in pädagogischer Absicht auf die Menschheit kommen ließ, um sie zum christlichen Lebenswandel zu ermahnen. An die Stelle des strafenden Gottes trat die Hoffnung auf Verbesserung des Menschengeschlechts. Auch die Friedenssehnsucht des 18. Jahrhunderts fand nun zuweilen Eingang in die Predigttexte. Dabei wurde Krieg nicht länger als Folge von Gottlosigkeit und Schuld verstanden, sondern erschien in Umkehrung traditioneller Interpreta­ tionsmuster als die Ursache von Sittenlosigkeit, Religionsvergessenheit und Leiden. Doch ungeachtet der unterschiedlichen Deutungsmodi galt die Intensivierung der Frömmigkeit als adäquate Antwort auf die Herausforderungen des Kriegs, nicht die aktive Teilnahme von Zivilisten am Kriegsgeschehen.37 7.2 Jesus als Patriot: Sterben aus Nächstenliebe

Allerdings gerieten am Ende des 18. Jahrhunderts die tradierten Formen s­ piritueller Kriegsbeteiligung des Kirchenvolkes in Widerspruch zu den Plänen, unter dem Druck der französischen Invasion die Untertanen zur Beteiligung an der Landwehr aufzurufen. Insbesondere im protestantischen Württemberg, wo das Staatskirchentum dem Regenten einen direkteren Durchgriff auf die Geistlichkeit ermöglichte, wurde nun eine radikale Neuinterpretation des Christusverständnisses zugunsten einer Kriegstheologie initiiert, die im Einklang mit den politischen Rahmenbedingungen stand. rung: Religion in der katholischen Stadt. Köln, Aachen, Münster 1700–1840, München, Wien 1995, hier vor allem S.  198–201) hat von einem Umschwung zugunsten eines Gottes der Barmherzigkeit seit Ende der 1760 Jahre gesprochen. Die Beispiele aus Süddeutschland zeigen hingegen, dass daneben auch die Evokation des barocken Zornesgottes noch ihren Platz hatte, und zwar in beiden christlichen Konfessionen, vgl. mit weiteren Belegen Planert, Mythos vom Befreiungskrieg (wie Anm. 26), S. 509–516. 36 Vgl. Planert, Mythos vom Befreiungskrieg (wie Anm. 26), S. 515. 37 Vgl. Planert, Mythos vom Befreiungskrieg (wie Anm. 26), S. 511–516.



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Zu Beginn der Koalitionskriege hatte das evangelische Konsistorium in Stuttgart die württembergischen Pfarrer noch angewiesen, ihre Gemeinden jeden Sonntag das klassische Sündenbekenntnis und Bußversprechen ablegen zu lassen, um das Land vor dem Ausgreifen des Krieges auf württembergisches Territorium zu bewahren. Doch in dem Maß, wie sich die politische Haltung der süddeutschen Staaten infolge der militärischen Entwicklung wandelte, änderten sich auch Inhalt und Funktion der auf den Krieg bezogenen Gottesdienste.38 Der am preußischen Hof erzogene und militärisch ausgebildete Herzog Ludwig Eugen hatte sich angesichts der Erfolge der französischen Revolutionstruppen 1794 entschlossen, zur Landesverteidigung Milizen aufzubieten. Zur besseren Akzeptanz dieser im Land bislang unbekannten Maßnahme ließ er das Vorhaben kirchlich flankieren. Entsprechend ermahnte das Landeskirchliche Konsistorium die Gemeindepfarrer in einem Rundschreiben, das Kirchenvolk zur Unterstützung der Verteidigungsanstalten aufzurufen. Die Kirchenoberen gaben sich alle Mühe, die Aufhebung des biblischen Tötungsverbot und das Ende der überkommenen Trennung von Zivilgesellschaft und Militär theologisch zu rechtfertigen, indem sie eine weitreichende Neuinterpretation des Gebots zur christlichen Nächstenliebe ins Felde führten. In dieser Sichtweise umfasste die christliche Nächstenliebe auch die Pflicht, sein Leben für das seiner Brüder zu lassen. Die Gemeinschaft der Mitmenschen aber konstituiere das Vaterland. Mithin sei es Christenpflicht, das Vaterland »selbst mit der Aufopferung seines Lebens« zu verteidigen.39 Aus dem passiven, in der Nachfolge Christi leidenden Kriegsopfer wurde in der Deutung des württembergischen Kirchenkonsistorium der Krieger, der sein Leben aktiv für seine Mitbürger einsetzte. Die württembergische Geistlichkeit nahm die kirchenamtliche Neuinterpretation des christlichen Liebesgebotes zunächst nur zögerlich auf. Doch schon im Zweiten Koalitionskrieg wurde nicht mehr nur von Buße gesprochen, sondern auch Vaterlandsliebe gepredigt. Als leuchtendes Vorbild galt dabei ein verbürgerlichter, von Vaterlandsliebe beseelter Jesus. Patriotische Tugenden wurden nun umstandslos auf Jesus projiziert. Er habe, so ließ der Pfarrer von Murr in einer Predigt aus dem Jahr 1800 verlauten, für die jüdische Nation alles gefühlt, »was ein von VaterlandsLiebe erfüllter Bürger nur fühlen kann«.40 Diesem gelte es nachzueifern. Jesu Opfertod wurde so umstandslos zum Muster bürgerlich-patriotischen Handels stilisiert. 38 Vgl. auch Andreas Gestrich, Kirchliche Kriegsmentalität um 1800, in: Jost Dülffer (Hg.), Kriegsbereitschaft und Friedensordnung in Deutschland 1800–1814, Münster 1995, S. 183–201. 39 Vgl. Anweisung für die wirtembergische Geistlichkeit wie sie ihre Gemeinen zur Unterstützung und Beförderung der zur Landes-Vertheidigung getroffenen Landesherrlichen Anstalten ermahnen sollen [1794], Landeskirchliches Archiv Stuttgart, A 26/569. 40 Vgl. Empfindungen eines nachdenkenden Bürgers beim dahinsinkenden Flor seines Vaterlandes. Predigt am 10. Trinitatis, Sontag, den 17. Aug. 1800. Gehalten von M. Benjamin Eberhad Finck, Pfarrer

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Noch stärker wurde die kriegstheologische Umdeutung forciert, nachdem Württemberg 1806 dem Rheinbund beigetreten war und sich zur Stellung von 12.000 Soldaten für das napoleonische Heer verpflichtet hatte. Wie in Frankreich und anderen Rheinbundstaaten üblich, bestimmte die neue Konskriptionsordnung junge Männer der unteren Sozialschichten ab 18 Jahren zum Dienst und ließ nach französischem Vorbild eine Reihe von Ausnahmen für Adelige und Honoratioren sowie den Kauf von »Einstehern« zu. Insbesondere in jenen Landesteilen, die nach Säkularisierung und Mediatisierung Württemberg zugeschlagen worden waren, war der Unmut ebenso groß wie die Findigkeit der Untertanen, sich der ungeliebten Militärpflicht zu entziehen. Daher nahm eine neue, in ihrer Radikalität im Rheinbund ­einzigartige Verordnung 1809 nur noch die Söhne des Adels von der Dienstpflicht aus. Vier Jahre vor Preußen, dessen 1813 eingeführtes Reglement gemeinhin als der Beginn der Wehrpflicht im deutschen Sprachraum gilt, rief der württembergische König Friedrich mit wenigen Ausnahmen alle männlichen Untertanen vom 18. bis zum 40. Lebensjahr zu den Waffen, um nicht den Eindruck zu erwecken, die Wehrpflicht sei nur eine den »unteren Volksclassen« auferlegte Last.41 Unter den Bedingungen der (nahezu) allgemeinen Wehrpflicht fiel es schwer, den Krieg in den Kirchen noch länger als Unheil zu interpretieren. Entsprechend verschwand das alte Erklärungsmuster vom Krieg als Strafe Gottes gänzlich aus den vom württembergischen Konsistorium verordneten Gebetstexten und machte in den an die jeweiligen politischen und militärischen Verhältnisse angepassten Predigten dem Dank an die »Vertheidiger unseres Vaterlandes« Platz. Um sich des göttlichen Schutzes würdig zu erweisen, habe jeder »mit männlicher Unerschrockenheit« und Gehorsam gegen Gottes Willen seine Pflicht zu erfüllen, könne man doch nicht ehrenvoller und glücklicher sterben als in Erfüllung der Pflicht zur Nächstenliebe, wie es schon Jesus vorgelebt habe.42 Ganz ähnlich erhoben protestantische Geistliche auch in anderen Ländern des Rheinbundes das Sterben für andere zur Christenpflicht und stilisierten diesen Tod zur erhabensten Bestimmung des Menschen.43 zu Murr, Tübingen o.J. [1800], zit. nach Andreas Gestrich, Kirchliche Kriegsmentalität in Württemberg um 1800, in: Jost Dülffer (Hg.), Kriegsbereitschaft und Friedensordnung in Deutschland 1800–1814, Münster, Hamburg 1995, S. 183–201, hier S. 190. 41 Vgl. zur Heeresaufbringung in Süddeutschland um 1800 und zu den zahlreichen Möglichkeiten, sich der ungeliebten Wehrpflicht zu entziehen, Planert, Mythos vom Befreiungskrieg (wie Anm. 26), S. 383–474; zu den württembergischen Militärreformen S. 413f. 42 Vgl. Dankpredigt wegen der erhaltenen Siege und Eroberungen, gehalten den 28. Jun. des Jahres 1807, von Pfarrer M. Happrecht in Schüßingen, Württembergische Landesbibliothek, Handschriften, HB, XV7, Nr. 2. 43 Vgl. August Ludwig Hoppenstedt, Vom Sterben für Andere, in: ders., Predigten, Bd. 2, Hannover 1818, zit. nach Reinhard Oberschelp (Hg.), Politische Predigten 1727–1866. Niedersächsische Beispiele aus Krieg und Frieden, Hildesheim 1985, S. 92–96, hier S. 96.



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7.3 Sterben im Russlandfeldzug: Für Gott, König und Vaterland

Die christliche Legitimation des Schlachtentodes hatte also längst vor den antinapoleonischen Kriegen und auch außerhalb von Preußen Einzug in die protestantischen Kirchen gehalten. Allerdings bedurfte es erst des unglücklichen Russlandfeldzugs, bis der Stuttgarter Hofprediger und Oberkonsistorialrat d’Autel die Formel vom Tod für das Vaterland ins Felde führte, um das Sterben württembergischer Landeskinder patriotisch zu deuten. Als er zu Beginn des Jahres 1813 wie an jedem 1. Januar mit einer Festpredigt an die Übernahme der Königswürde durch Friedrich I. erinnerte, war zwar das ganze Ausmaß der russischen Katastrophe noch nicht bekannt. Doch hatten Zeitungen längst vom Brand von Moskau berichtet, die Niederlage der großen Armee vermeldet und erste Flugschriften und Augenzeugenberichte Württemberg erreicht. Angesichts des massenhaften Sterbens reichten die bekannten christlichen Sinnangebote nicht mehr aus. Zwar erschien auch jetzt noch Christus als Vorbild im Leiden, doch anders als zuvor bezog d’Autel die Pflicht, das eigene Leben einzusetzen, nun nicht mehr allein auf die Nachfolge Christi oder auf das Gebot christlicher Nächstenliebe, sondern auf das württembergische Vaterland. Der oberste Geistliche des Königreichs verwies auf die Verflechtung von Einzelschicksal und Weltgeschehen in Kriegszeiten und sprach von der Erweiterung des häuslichen Kreises zur »Vaterlandsfamilie« sowie von der Notwendigkeit der Pflichterfüllung gegenüber König und Vaterland.44 Damit bediente er sich erstmals derselben Sinnstiftungsmuster, wie sie bereits in den Vaterlandsdiskursen des 18. Jahrhunderts zirkuliert waren und wenige Monate später nach der Kriegserklärung Preußens an Frankreich auch in den antinapoleonischen Kriegen verwendet wurden.45 Offenkundig erhoffte man sich vom Appell an die – hier noch auf den Territorialstaat Württemberg bezogene – Vaterlandsliebe eine stärkere Wirkung als von bloßem Gehorsam gegenüber göttlichen oder weltlichen Gesetzen. Ziel war die Herstellung einer emotionalisierten Schicksalsgemeinschaft, der sich der Einzelne ebenso verpflichtet fühlen sollte wie der eigenen Familie. Für eine solche Vaterlandsfamilie ließen sich Opfer einfordern und erbringen, die im nachaufklärerischen Zeitalter weder Götter noch Regenten allein für sich beanspruchen konnten. Erst aus der Trias von Gott, König und Vaterland erwuchs jene emotionale Loyalität, auf die der moderne Staat mit seinen letalen Zu44 Vgl. Predigt am ersten Januar 1813 als am Gedächtnißfeste der von Württembergs Regenten angenommenen Königswürde, gehalten in der Königlichen Schloßkirche zu Stuttgart, von A.H. d’Autel, K.W. Ober-Consistorial-Rath, Hofprediger, Ritter des K.W.C.B. Ordens, Stuttgart 1813, Zitat S. 18. 45 Vgl. Karen Hagemann, »Mannlicher Muth und Teutsche Ehre«. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens, Paderborn u. a. 2002; Gerhard Graf, Gottesbild und Politik. Eine Studie zur Frömmigkeit in Preußen während der Befreiungskriege 1813–1815, Göttingen 1993.

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mutungen zählen zu können hoffte. Das war der Grund, warum die Rheinbundstaaten schon vor 1813 von jener sakralen Vaterlandsrhetorik Gebrauch machten, die üblicherweise Preußen in den »Befreiungskriegen« zugeschrieben wird.46

8. Nationalkrieg und Heldentod?

Der kirchlich unterstützten Emotionalisierung des Todes für das politische Gemeinwesen traten im Verlauf des Jahres 1813 mit dem Beitritt immer mehr deutscher Staaten zur antinapoleonischen Koalition vielstimmige Aufrufe zum »Nationalkrieg« gegen Napoleon und eine ausgefeilte, vor allem in Preußen perfektionierte Kriegspropaganda an die Seite.47 Hier hatten nach den vernichtenden Niederlagen von 1806/1807 einschneidende Heeresreformen in Abwandlung des französischen Modells eine umfassende Modernisierung des Militärs in Gang gesetzt. Der Vorrang von Anciennität und Stand im Offizierskorps wurde gestrichen, Karrierechancen sollten sich künftig an Bildung und Leistung orientieren. Der rechtliche Status von Unteroffizieren und Soldaten wurde verbessert und die entehrende Prügelstrafe abgeschafft. Aus unwilligen Bauern sollten patriotische Volkskrieger werden, die nach der Einführung der Wehrpflicht 1813 nicht nur in der Linienarmee, sondern auch in der Landwehr ihr Vaterland verteidigten.48 Auch in etlichen anderen Staaten wurde die Wehrpflicht eingeführt, die dort, wo in der Fortführung traditioneller Privilegien die oberen Sozialschichten davon ausgenommen waren, von Appellen und sanftem Druck zur freiwilligen Kriegsteilnahme begleitet wurden. Die Mehrdeutigkeit der Begriffe Vaterland und Nation ließ die Unterschiede zwischen klassischer dynastischer Loyalität und dem neuen Bekenntnis zur deutschen Nation verwischen. Nationaler Enthusiasmus war vor allem im (protestantischen) Bürgertum und in studentischen Kreisen verbreitet, wo man als Lohn für die Kriegsbereitschaft mehr politische Partizipation erhoffte. Dagegen zeigt die regionale Verteilung der Spenden in Preußen, dass die Unterstützungsbereitschaft zwar in weite Bevölkerungsteile 46 Vgl. zur preußischen Kriegspredigt Graf, Gottesbild und Politik (wie Anm. 45); Arlie J. Hoover, The Gospel of Nationalism. German Patriotis Preaching from Napoleon to Versailles, Stuttgart 1986. Bernd von Münchow-Pohl hat gezeigt, dass in Preußen noch bis 1812 von Kriegspropaganda wenig zu spüren war, vgl. Zwischen Reform und Krieg. Untersuchung zur Bewusstseinslage in Preussen 1809–1812, Göttingen 1987. 47 Vgl. Hagemann, Mannlicher Muth (wie Anm. 45). 48 Vgl. ausführlich Dierk Walter, Preußische Heeresreformen 1807–1870. Militärische Innovationen und der Mythos der »Roonschen Reform«, Paderborn 2003 und mit längerer zeitlicher Perspektive Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001.



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hinein­reichte, sie aber überwiegend dynastisch motiviert war und mit der Entfernung zur Hauptstadt abnahm.49 Insgesamt ließ sich hinsichtlich der Kriegsbegeisterung ein deutliches NordSüd-­Gefälle beobachten: Besonders ausgeprägt war die Gegnerschaft zu Frankreich in Preußen, das unter der napoleonischen Hegemonie stark gelitten hatte. In den südlichen Rheinbundländern hingegen hatte das Bündnis der Fürsten mit Napoleon den Krieg seit 1806 von den Landesgrenzen ferngehalten. Statt Franzosenhass und Nationalbegeisterung herrschte hier eine generelle Kriegsmüdigkeit vor. Die Deser­ tionszahlen in Westfalen bewegten sich vor und nach 1813 auf ähnlich hohem Niveau, und in der mediatisierten Adelslandschaft Süddeutschlands, die anders als in den Revolutionskriegen nun von Kriegszügen verschont blieben, hielt man die ungeliebte landesherrliche Anweisung zur Aufstellung einer Landwehr für ein »Fastnachtspossenspiel«, das der regionale Adel nach Kräften boykottierte.50 Der Beitritt aller deutschen Staaten zur antifranzösischen Koalition, die Ausdeh­ nung der Rekrutierungsverpflichtung und die Kriegsmobilisierung mittels i­ntensiver publizistischer und kirchlicher Einflussnahme ließen die Truppenstärke der Heere auf bisher ungekannte Größenordnungen anschwellen. Die Logistik und insbeson­dere die sanitäre und medizinische Versorgung hielt damit bei weitem nicht Schritt. Deshalb wurden zunächst in den zum französischen Imperium zählenden Rheinbundstaaten, später auch in Österreich nach der Kriegsniederlage von 1809 zahlreiche Frauenvereine gegründet, um die notleidende Bevölkerung zu unterstützen und Kriegsverwundete zu pflegen. Seit dem Frühjahr 1813 sammelten auch in Preußen adelige und bürgerliche Frauen Spenden, sorgten für die Einkleidung der Soldaten, kümmerten sich um Hinterbliebene, organisierten Suppenküchen und suchten in Kriegslazaretten die größte Not zu lindern. Auch in anderen deutschen Staaten wurden Wohltätigkeitsvereine gegründet, in denen häufig die Regentinnen die Schirmherrschaft im Sinne der adeligen Caritas übernahmen. Anders als in den Kriegen des Ancien Régime, wo die Sorge um adelige Offiziere im Mittelpunkt gestanden hatte, wurden im Zeitalter der Volkskriege allen Kombattanten Fürsorge zuteil, unabhängig von Stand und Konfession.51

49 Vgl. Hagemann, Mannlicher Muth (wie Anm. 45). 50 Vgl. das Zitat in Planert, Mythos vom Befreiungskrieg (wie Anm. 26), S. 655; zu den regionalen Unterschieden in den antinapoleonischen Kriegen vgl. Ute Planert, Dichtung und Wahrheit. Der Mythos vom Befreiungskrieg und die Erfahrungswelt der Zeitgenossen, in: Martin Hofbauer, Martin Rink (Hg.), Die Völkerschlacht bei Leipzig. Verläufe, Folgen, Bedeutungen 1813 – 1913 – 2013, Berlin, Boston 2017, S. 269–284. 51 Dirk Alexander Reder, Frauenbewegung und Nation. Patriotische Frauenvereine in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert (1813–1830), Köln 1998; Planert, Mythos vom Befreiungskrieg (wie Anm. 26), S. 489–492.

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Dass sich die patriotische Caritas der Frauenvereine auf verwundete Soldaten ­aller Sozialschichten erstreckte, änderte am Umgang mit dem toten Soldatenkörper freilich ebenso wenig wie die allgegenwärtige Verherrlichung des Heldentodes in Predigten, Gedichten und in der Malerei. Nach wie vor ließ man die Leichen einfacher Soldaten auf dem Schlachtfeld liegen und gab ihre Körper Plünderungen preis. Bestenfalls verscharrte man sie in Massengräbern. Vor dem Tod so vieler Menschen in den bis dahin größten Schlachten der Menschheitsgeschichte – allein in den vier Tagen der Leipziger »Völkerschlacht« ließen rund 100.000 junge Männer ihr Leben – versagten alle herkömmlichen Bewältigungsmechanismen, wie die Tagebücher des Leipziger Totengräbers Johann Daniel Ahlemann und andere Augenzeugenberichte deutlich erkennen lassen.52 Auch in Waterloo war die Erde bis zum Horizont von den Leichnamen der Gefallenen bedeckt. Ihre Zähne waren ein begehrtes Handelsgut,53 und es gibt Hinweise darauf, dass die auf den Feldern gefundenen Gebeine später als Knochenmehl in der Zuckerindustrie Verwendung fanden.54 Zu Lebzeiten als »Helden« und »Nationalkrieger« gerühmt, starben die Soldaten nach wie vor einen anonymen Tod. Das machte ihren Witwen die Durchsetzung von Erbansprüchen oder eine Wiederverheiratung schwer, bis die Staaten des Deutschen Bundes schließlich geregelte Verfahren zur Toterklärung verabschiedeten. Erst im Umfeld der Reichseinigungskriege in den 1860er Jahren begann Preußen damit, seine Soldaten mit Erkennungsmarken auszustatten. Damit blieben Kriegstote nicht länger anonym, sondern wurde als Individuum identifizierbar. Doch bis zum flächendeckenden Einsatz der Erkennungsmarken sollte es noch bis zum Ersten Weltkrieg dauern.55

52 Vgl. Johann Daniel Ahlemann, Der Leipziger Totengräber in der Völkerschlacht: Seine Erlebnisse bei der Erstürmung Leipzigs am 19. Oktober 1813 und die Greuel auf dem Gottesacker überhaupt, Neudruck zur 100-Jahrfeier 1913 bei Georg Petzoldt, Leipzig 1913. Zur Völkerschlacht vgl. auch Hofbauer, Rink, Völkerschlacht bei Leipzig (wie Anm. 50); Hans-Ulrich Thamer, Die Völkerschlacht bei Leipzig: Europas Kampf gegen Napoleon, München 2013. 53 Vgl. Paul O’Keeffe, Waterloo. The Aftermath, New York 2015; Bénédicte Savoy, Napoleon und Europa. Traum und Trauma, München 2010. 54 So die These einer Forschungsarbeit von Bernard Wilkin, Robin Schäfer und Tony Pollard, vgl. Lorenz Hemicker, Das grausige Ende der Gefallenen von Waterloo, In: FAZ online, 18.08.2022, h ­ ttps:­// www.faz.net/aktuell/gesellschaft/schlacht-von-waterloo-raetsel-um-20-000-gefallene-offenbar-ge loest-18250827.html (letzter Zugriff: 23.09.2022). 55 Vgl. Jean Höidal, Deutsche Erkennungsmarken. Von den Anfängen bis heute. Mit den geheimen Codierungen (MOB-Listen) der Luftwaffe, Norderstedt 2005.



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9. Die Ehre des (toten) Kriegers: Vielgestaltiger politischer Totenkult

Im Zuge des Wandels hin zu Wehrpflicht und Volkskrieg wurden ausgehend von Preußen alle Kriegsteilnehmer unabhängig von ihrem Stand ehr- und erinnerungswürdig. Gleichzeit mit der Einführung der Wehrpflicht hatte Friedrich Wilhelm III. im März 1813 mit dem Eisernen Kreuz eine Tapferkeitsauszeichnung geschaffen, die er persönlich als höchstes Zeichen königlicher Anerkennung sowohl an Offiziere als auch an Mannschaften verlieh. Etwa jeder zwanzigste Kriegsteilnehmer, darunter ein Viertel Offiziere, wurde mit der Medaille geehrt. Die Auszeichnungen sollten im Zeitalter des Massenkriegs die Kriegsteilnehmer zu Höchstleistungen anzuspornen, ohne das ohnehin knappe Budget zu strapazieren. Auch Zivilisten und im Lazarettdienst tätige Frauen konnten für ihre Verdienste geehrt werden. Front und Heimat, Männer und Frauen waren so im Dienst am Vaterland vereint. Die Zahl der Eisernen Kreuze war von vornherein begrenzt worden und hielt nicht mit der geweckten Erwartung vieler Kriegsteilnehmer auf Auszeichnung Schritt. Daher versprach der preußische König, alle Offizieren und Soldaten, die ihre Kriegspflichten erfüllt hatten, mit einer Denkmünze zu ehren. Die Münzen sollten aus dem Metall eroberter Waffen gegossen werden und wurden nach dem Krieg im Rahmen örtlicher Kirchenfeiern verliehen. Während Franz I. von Österreich dem preußischen Beispiel folgte, musste der badische Großherzog von Veteranen dazu gedrängt werden, allen Kriegsteilnehmern ohne Rangunterschied eine Felddienst-Auszeichnung zu verleihen.56 Anders als im Alten Reich, als Ordensverleihungen Offizieren vorbehalten blieben, wurden in den Kriegen gegen das napoleonische Frankreich damit erstmals Soldaten unabhängig von ihrer sozialen Herkunft militärische Ehren zuteil.57 Auch der Umgang mit der Erinnerung an die gefallenen Soldaten änderte sich. Im deutschen Sprachraum waren Herrscher oder allenfalls adelige Generäle denkmalswürdig gewesen, während sich mit den Regimentsgeschichten eine spezifische Form der militärischen Erinnerungskultur entwickelt hatte, in deren Mittelpunkt die Taten adeliger Offiziere standen.58 Wenngleich die junge Französische Republik auf Betreiben Robespierres den Erstürmern der Tuilerien eine provisorische Erinnerungstafel stiftete, so setzte sie den in ihrem Dienst gefallenen Offizieren ungeachtet ihrer Her56 Vgl. Baden und Württemberg im Zeitalter Napoleons, Bd. 1.1., Stuttgart 1987, S. 464. 57 Vgl. Karen Hagemann, Umkämpftes Gedächtnis. Die Antinapoleonischen Kriege in der deutschen Erinnerung, Paderborn 2019, S. 165–173. 58 Vgl. Zielsdorf, Militärische Erinnerungskulturen (wie Anm. 6); Wencke Meteling, »Der Ruhm verpflichtet!« Regimenter als Träger kriegerisch-vaterländischer und konservativ-monarchischer Traditionsstiftung in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Horst Carl, Ute Planert (Hg.), Militärische Erinnerungskulturen vom 14. bis 19. Jahrhundert. Träger – Medien – Deutungskonkurrenzen, Göttingen 2012, S. 263–295.

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kunft ein Denkmal, nicht jedoch einfachen Soldaten.59 Es blieb dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm  II. vorbehalten, den 1793 bei der Rückeroberung Frankfurts gefallenen hessischen Kriegern ein Denkmal zu widmen, das auch die Namen einfacher Soldaten verzeichnete. In dieser Tradition stehend, ordnete sein Sohn Friedrich Wilhelm III. zwanzig Jahre später schon sechs Wochen nach der Kriegserklärung an Frankreich an, das in allen preußischen Kirchen auf Kosten der Gemeinden Holztafeln an die für »König und Vaterland« gefallenen Krieger erinnern sollten und die Namen derjenigen, die sich besonders ausgezeichnet hätten, voranzustellen seien.60 Zum ersten Jahrestag des Kriegsendes fanden landesweite und rege besuchte Totenfeiern statt, bei denen nach zentral festgelegtem Ritus die Namen der Gefallenen verlesen und Kollekten für ihre Hinterbliebenen durchgeführt wurden. Sobald die Erinnerungstafeln fertiggestellt waren, wurden sie mit großem militärischen Gepränge in den Kirchen aufgehängt und von den lokalen Geistlichen gesegnet. Anders als in den anderen Staaten der antinapoleonischen Koalition schrieb man in Preußen so schon seit 1816 alle gefallenen Soldaten unabhängig von ihrem sozialen Stand oder militärischen Rang in das kollektive Gedächtnis des Landes ein.61 Auch wurden an mehreren Schlachtorten Tabernakel errichtet, um damit der »gefallenen Helden« zu gedenken. Die Figurinen des auf dem Berliner Kreuzberg errichteten, wichtigsten Denkmals dieser Serie wiesen freilich deutlich Züge der Königsfamilie und herausragender preußischer Generäle auf und unterstrichen damit den monarchischen Führungsanspruch. Anders als in Preußen gedachte man in Württemberg zwar mit einem jährlichen Gedenkgottesdienst der vielen Tausenden Opfer des Russlandfeldzugs,62 doch ansonsten fehlte eine institutionalisierte Erinnerungskultur, so dass das Gefallenengedenken in Süddeutschland zunächst in privater Hand lag. Daher schlossen sich in Baden, Württemberg und Bayern seit den 1820er Jahren zahlreiche, zuweilen nach Feldzügen unterschiedene »Bruderbünde« heimgekehrter Soldaten zusammen, die zu individuell festgelegten Terminen mit Gottesdiensten, Gebeten oder Gedenkfeiern an ihre gefallenen Kameraden erinnerten. In dieser Zeit entstanden auch die ersten Gedächtnistafeln, schlichte, aber kunstvoll gestaltete Holzdenkmäler, auf de59 Vgl. etwa das Denkmal für Théophile Latour d’Auvergne und drei weitere französische Offiziere in Oberhausen an der Donau, den 8 Meter hohe Obelisken für General Hoche in Weißenburg am Rhein und das schon 1796 bei Koblenz errichtete Denkmal für General Marceau. 60 Vgl. Verordnung über die Stiftung eines bleibenden Denkmahls für die, so im Kampfe für Unabhängigkeit und Vaterland blieben. Vom 5ten Mai 1813, Gesetz-Sammlung für die Königlich-Preußischen Staaten (1813), Nr. 11, S. 65f. 61 Vgl. Hagemann, Umkämpftes Gedächtnis (wie Anm. 57), S. 176f. 62 So ordnete der württembergische König einen jährlichen Trauergottesdienst für die in Russland gefallenen Soldaten an, der noch in den 1830er Jahren abgehalten wurde, vgl. Planert, Mythos vom Befreiungskrieg (wie Anm. 26), S. 625.



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nen umrahmt von militärischen und christlichen Symbolen die Namen und häufig auch das Alter der Gefallenen und Verschollenen aufgezeichnet waren. Sie wurden im Rahmen eines feierlichen Gottesdienstes im Altarraum der lokalen Kirchen und Kapellen aufgehängt. Neben den Soldatenkameradschaften traten auch die Familien der Gefallenen oder ganze Pfarr- und Dorfgemeinden als Stifter in Erscheinung. Im katholischen Raum lehnten sich die Denkmäler in der Gestaltung häufig an die Tradition der Votivtafeln an und bildeten die Gefallenen in gegenständlicher Manier, zuweilen umgeben von trauernden Angehörigen, in ihrer Uniform ab.63 Während das frühe Totengedenken im christlichen Rahmen verblieb, wurde die Erinnerung an die Gefallenen der napoleonischen Kriege nach dem Ende der unmit­ telbaren Nachkriegszeit mehr und mehr zum Politikum. In Rheinhessen, der baye­ ri­schen Pfalz und in der preußischen Rheinprovinz, die zwei Jahrzehnte lang zu Frankreich gehört hatten, schlossen sich seit den 1830er Jahren rund 2000 »Napoleons-Veteranen« zu Vereinen zusammen. Im Vergleich zur restaurativen Politik des Deutschen Bundes erschien das französische Intermezzo mehr und mehr als eine Epoche politischer Progressivität, zumal der geschasste Kaiser bis zu seinem Tod auf St. Helena nichts unversucht ließ, um sich in seinen vielgelesenen Memoiren zur Inkarnation des Liberalismus zu stilisieren.64 Gegenüber der Marginalisierung ihrer Erfahrungen im neuen Deutschland schlossen sich die »Napoleons-Veteranen« zu Kultgemeinschaften zusammen, um am Geburtstag oder Krönungstag des verstorbenen Kaisers »dem Verklärten und seinen unsterblichen Siegen« sowie ihren gefallenen Kameraden zu gedenken. Steinerne Kriegerdenkmäler, an denen an christlichen Feiertagen Veteranen in Uniform Wache hielten, verewigten die Namen der Gefallenen und wurden im Lauf der Zeit um die Todesdaten der in der Heimat gestorbenen Veteranen ergänzt.65 In Bayern hatten schon nach der verlustreichen Schlacht von Polozk 1812 Offi­ ziere die Schaffung eines Denkmals angeregt, das an alle Kämpfer der damals auf französischer Seite stehenden Armee erinnern sollte, unabhängig von ihrem Rang. Allerdings konnte sich ein derart demokratisches Totengedenken nicht durchsetzen, zumal Bayern nach dem verlorenen Russlandfeldzug ins Lager der antinapoleonischen Koalition wechselte. Der Obelisk, den Ludwig I. schließlich 1833 zum zwanzigsten Jahrestag der Leipziger Schlacht errichten ließ, war sichtbar bemüht, die französische Mesalliance vergessen zu machen, und gedachte in Verdrehung der tatsächlichen Ver63 Vgl. die Beispiele bei Planert, Mythos vom Befreiungskrieg (wie Anm. 26), S. 622–626. 64 Vgl. Ute Planert, Liberation: Myth and Reality in Germany, in: Alan Forrest, Peter Hicks (Hg.), The Cambridge History of the Napoleonic Wars, Bd. 3, Cambridge 2022, S. 220–238. 65 Vgl. Walther Klein, Der Napoleon-Kult in der Pfalz, München, Berlin 1934; Ute Planert, Vorbild oder Feindbild? Das Zeitalter Napoleons im Gedächtnis des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Heinz Duchhardt, Jahrbuch für Europäische Geschichte, Bd. 14, München 2013, S. 3–38.

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hältnisse der rund 30.000 in Russland gefallenen Bayern mit den Worten: »Auch sie starben für des Vaterlands Befreiung.«66 Auch in Württemberg wurde die Erinnerung an die Vergangenheit in den 1830er Jahren zum Politikum, als sich die dem Gedenken gewidmeten Soldatenbruderschaften allmählich zu einer regelrechten Veteranenbewegung formierten. Bei ihren zahlreichen Festen, Umzügen und Gottesdiensten legten die Organisationen durchaus heterogene Deutungen der wechselhaften politischen Vergangenheit des Landes an den Tag. Nachdem Festredner die Französische Revolution zum Beginn einer liberalen Ära bürgerlicher Mitbestimmung erhoben hatten, beeilte sich König Wilhelm I., die Partizipationserwartungen zu kanalisieren und auf die Integration seines in französischer Zeit bunt zusammengewürfelten Ländchens umzulenken. Er nutzte sein 25-jähriges Regierungsjubiläum 1841 zur Stiftung einer Kriegsdenkmünze, die an rund 30.000 ehemalige Kriegsteilnehmer ohne Ansehen von Rang, Herkunft und Feldzug, dafür aber erst nach Überprüfung von Leumund und Gesinnung vergeben wurde. Die alten Soldatenbruderschaften wurden durch offiziöse, von Amtmännern kontrollierte Veteranenvereine ersetzt und das Gedenken ganz auf die Person des Königs zentriert. Ungeachtet der Tatsache, dass die Württemberger ihre Königskrone der frühen Allianz mit Napoleon verdankten, waren etliche Jahrzehnte später beim Festzug zum Thronjubiläum nur Veteranen in Uniformen aus den »Befreiungskriegen« gegen Napoleon zu sehen. Eine tausendfach unters Volk gebrachte Bilderserie zeigte den damaligen Kronprinzen bei den Feldzügen gegen Frankreich im Kreis seiner Soldaten. Auch das im Landtag vertretene städtisch-liberale Bürgertum machte sich die nationale Umdeutung der Geschehnisse zu eigen und stiftete eine Siegessäule, deren Aufschriften ausschließlich auf die Siege gegen Napoleon Bezug nahm.67 Der politische Totenkult bezog zwar Veteranen aller sozialen Schichten ein, stellte aber die Person des Königs in den Mittelpunkt und zielte erkennbar auf die Staatsintegration des jungen Königreichs mit seiner heterogenen territorialen Zusammensetzung und wechselhaften politischen Vergangenheit.

66 Vgl. ausführlich Ute Planert, Auf dem Weg zum Befreiungskrieg, in: Winfried Müller et al. (Hg.), Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster u. a. 2004, S. 195–219. 67 Vgl. zur nationalen Umdeutung der württembergischen Vergangenheit ausführlich Planert, Auf dem Weg zum Befreiungskrieg (wie Anm. 66); dies., Mythos vom Befreiungskrieg (wie Anm. 26), S. 632–641.



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10. Fazit

Mit der Etablierung moderner Staaten und dem Wandel vom Söldner- zum Volksheer war auch eine Neubewertung des Sterbens im Krieg verbunden. Die Einführung der Wehrpflicht machte den staatlich angeordneten Massentod begründungspflichtig und führte schließlich auch zu einer Demokratisierung der Erinnerung. Während im revolutionären Frankreich politische Teilhabe und Vaterlandsverteidigung im Begriff der patrie in eins fielen, hatte das Bekenntnis zum Patriotismus im Alten Reich zunächst zur Adressierung bürgerlicher Partizipationswünsche in den Einzelstaaten fungiert und wurde erst im Siebenjährigen Krieg bellizistisch und mit (territorial) nationalen Vorstellungen aufgeladen  – nicht zufällig in Preußen, das seinen politischen Aufstieg im 18. Jahrhundert dem Militär und einer Vorform der Wehrpflicht verdankte. Die hierbei von bürgerlichen Eliten formulierten Vorstellungen vom Heldentod fürs Vaterland ließen sich im komplexen System des Alten Reiches freilich ebenso wenig auf andere Staaten übertragen wie die preußischen Methoden der Heeresaufbringung. Ständische Vorrechte standen dem ebenso entgegen wie regionale Besonderheiten und eine theologische Praxis, die auf eine nur spirituelle Kriegsbeteiligung der Untertanen abzielte. Zwar ließen sich drei Jahrzehnte später unter dem Druck der Koalitionskriege entlang des Rheins ältere Einrichtungen zur Grenzverteidigung reaktivieren, doch weitergehende Pläne zur Aufstellung von Milizen und Freiwilligentruppen liefen trotz begleitender Nationalrhetorik ins Leere. Unter dem Eindruck des Krieges verschob sich die kirchliche Kriegsdeutung von der »Strafe Gottes« zur »Prüfung« durch die Zeitläufte, doch erst mit dem Ende des Ancien Régime und der Einführung der Wehrpflicht in den neuen Rheinbundstaaten passte sich das theologische Kriegsverständnis vor allem der evangelischen Kirche, die direktem Staatseinfluss ausgesetzt war, dem militaristischen Zeitgeist an und deutete das Gebot der Nächstenliebe zur Christenpflicht zur Vaterlandsverteidigung um. Entsprechend fanden sich 1812, als die evangelische Landeskirche im rheinbündischen Württemberg den Tod von nahezu 15.000 Landeskindern in Russland sinnstiftend begleiten musste, in den Predigten bereits alle nationaltheologischen Argumentationsfiguren, die üblicherweise Preußen in den antinapoleonischen Kriegen zugeschrieben werden  – vom Tod für das Vaterland in der Nachfolge Christi bis hin zur Verteidigung der Volksfamilie.68

68 Zu Preußen vgl. Karen Hagemann, National Symbols and the Politics of Memory: The Prussian Iron Cross of 1813, its Cultural Context and its Aftermath, in: Alan Forrest, Étienne François, Karen Hagemann (Hg.), War Memories. The Revolutionary and Napoleonic Wars in Modern European Culture, Basingstoke 2013, S. 215–241.

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Ute Planert

Die Wehrpflicht und mit ihr die Mobilisierung ganzer Alterskohorten für den Krieg war ein tiefer Einschnitt in das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft. Mit der Figur des Nationalkriegers prägten die napoleonischen Kriege die Vorstellung von militärischem Heldentum bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Zugleich hinterließ der Tod Hunderttausender junger Männer spürbare Lücken und bedurfte politischer Legitimation und Sinnstiftung. Während Preußen in den »Befreiungskriegen« durch die Verleihung von Ehrenzeichen einfache Kriegsteilnehmer aufwertete und in Kirchen sowie durch Denkmalsetzungen eine institutionalisierte Erinnerungskultur an die »gefallenen Helden« schuf, blieben die süddeutschen Staaten mit ihrer zwischen Frankreich und Deutschland oszillierenden Geschichte zurückhaltend und überließen das Gefallenengedenken zunächst der privaten Initiative von Angehörigen und lokalen Gemeinden. Erst als Veteranenvereine diese erinnerungspolitische Leerstelle füllten und daraus politische Forderungen abzuleiten begannen, beeilten sich die Monarchen, den liberalen und nationalen Deutungskonkurrenzen ihre eigene Lesart der Geschichte entgegenzusetzen. Die französische Vergangenheit wurde aus der Memorialkultur getilgt und die Erinnerung an die napoleonische Epoche in eine bereinigte Konstruktion (territorial)nationaler Vergangenheitspolitik überführt, die nach innen auf monarchische Staatsintegration abzielte und nach außen die Leistungen der süddeutschen Staaten und ihrer Einwohner für die Beendigung der französischen Herrschaft betonte, um sich dadurch in das mittlerweile dominante Deutungsmuster des »nationalen Befreiungskriegs« gegen Napoleon einzuschreiben.

Hannes Wendler & Thiemo Breyer

Metaphysische Thanatologie: Der Tod und seine Grenzen im Denken Max Schelers 1. Phänomen oder Phantom? Zur Möglichkeit einer Phänomenologie des Todes Auch seinen Tod vermag er [der Mensch] noch frei auf sich zu nehmen, in ihn wahrhaft einzuwilligen – wissend, er selbst sei das Opfer für den Werdegang der Gottheit und sein Tod die Ernte und die Genesung der Gottheit an ihm. Wer liebt, stirbt leicht; wer genügend Welt in sich eingetrunken und sich seiner Verantwortung bewußt ist und seiner Mitverantwortung, stirbt leicht! Wer die Natur – die ichfremde – schon in seinem Leben als elementare Macht empfunden hat, als die große Welle, die ihn trug und die er nur ein ganz klein wenig zügelte – gibt sich leicht ganz den großen Fluten hin.1

Wie ist eine Phänomenologie des Todes möglich? In einer weiten Auslegung des Begriffs widmet sich die Phänomenologie als Lehre von den Bewusstseinserscheinungen der Strukturanalyse der Erfahrung und ihrer Korrelate. Schon in der griechischen Antike wurde das philosophische Problem des Todes jedoch insbesondere dadurch artikuliert, dass dieser jenseits des Erfahrbaren anzusiedeln sei, da er das Subjekt der Erfahrung vernichte. Sinnbildlich für diese Auffassung des Todes wurde Epikurs Überwindung der Todesangst: »Das angeblich schaurigste aller Übel also, der Tod, hat für uns keine Bedeutung; denn so lange wir noch da sind, ist der Tod nicht da; stellt sich aber der Tod ein, so sind wir nicht mehr da.«2 Wenn der Tod aber nicht erfahrbar ist und es somit kein subjektiv zugängliches Phänomen des Todes gibt, dann ist seine phänomenologische Erforschbarkeit grundsätzlich gefährdet. Am Anfang der phänomenologischen Thanatologie steht demnach ein Rechtfertigungsproblem,3 das vor allem bei einem Verständnis von Phänomenologie virulent 1 Max Scheler, Altern und Tod (Vorlesung 1923/24: Das Wesen des Todes), in: Schriften aus dem Nachlaß, Bd. III, Philosophische Anthropologie, hg. von Manfred S. Frings, Bonn 1987, S. 340. 2 Epikur, Brief an Menoikes, in: Leben Und Meinungen Berühmter Philosophen. Zweiter Band. Buch VII–X, hg. von Diogenes Laertius, übersetzt von Otto Apelt, Berlin 1921, S. 244. Im griechischen Original lautet die betreffende Stelle: »τὸ φρικωδέστατον οὖν τῶν κακῶν ὁ θάνατος οὐδὲν πρὸς ἡμᾶς͵ ἐπειδήπερ ὅταν μὲν ἡμεῖς ὦμεν͵ ὁ θάνατος οὐ πάρεστιν͵ ὅταν δὲ ὁ θάνατος παρῇ͵ τόθ΄ ἡμεῖς οὐκ ἐσμέν.« 3 Für eine Übersicht phänomenologischer Zugänge zum Todesproblem siehe Christian Sternad, On the Verge of Subjectivity: Phenomenologies of Death, in: The Subject(s) of Phenomenology, hg. von Iulian Apostolescu, Cham 2020, S. 231–243.

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ist, in dem ein deskriptiver und konstitutionsanalytischer Ansatz verfolgt und dabei methodisch von intentionalen Erlebnissen ausgegangen wird. Angesichts dieser Schwierigkeiten kann es erforderlich scheinen, einen indirekten Weg einzuschlagen, in dem das Todeswissen induktiv von der Beobachtung des Todes anderer und vom Zeichengehalt von Leichnamen erschlossen wird. Diese Strategie umgeht das phänomenologischen Rechtfertigungsproblem durch eine Externalisierung des Todes. In der Tradition Epikurs werden Leben und Tod hierbei so aufgefasst, dass sie durch einen Hiatus voneinander getrennt sind und ein rein logisches, nicht aber ein materiales Gegensatzpaar bilden. Im phänomenologischen Diskurs findet die externalistische Konzeption ihren paradigmatischen Ausdruck im Denken Jean-Paul Sartres, für den der Tod kein sinnstiftendes Potential im Leben entfaltet, sondern eine Faktizität darstellt, die sinntilgend, absurd und unverständlich aus einer »Indifferenzexteriorität«4 wirkt. Dieses Verständnis bringt Sartre durch ein denkwürdiges Aperçu zum Ausdruck: »Der Tod ist ein reines Faktum wie die Geburt; er geschieht uns von draußen und verwandelt uns in Draußen.«5 In der historischen Betrachtung wird klar, dass die externalistische Todeskonzeption nicht alternativlos ist.6 So lässt sich ein weiterer Ansatz identifizieren, der sich durch eine Liminalisierung des Todes auszeichnet. Auch in dieser Betrachtungsrichtung opponieren Leben und Tod einander, nun allerdings in der Struktur, dass der Tod den End- und die Geburt den Anfangspol des Lebens bilden. Je nach Variante der liminalistischen Todeskonzeption kann der Tod folglich als kategoriale, unüberschreitbare und letztlich unverständliche Grenze des Lebens oder als graduelle, überschreitbare und erfahrbare Schwelle aufgefasst werden. Tod und Geburt, aber auch Schlaf und Bewusstlosigkeit bilden hiernach eine Reihe von sogenannten »Limesgestalten«,7 die sich der bewussten, erstpersonalen Erfahrung entziehen und folglich »selbst nicht direkt erfahrbar«8 sind. 4 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts: Versuch einer phänomenologischen Ontologie, in: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Philosophische Schriften, Bd. 3, Reinbek bei Hamburg 1952, S. 614. 5 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 937. Im französischen Original lautet die entsprechende Passage wie folgt: »La mort est un pur fait, comme la naissance; elle vient à nous du dehors et elle nous transforme en dehors.« ( Jean-Paul Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1943, S. 590). 6 Thiemo Breyer, Zeit und Tod bei Jaspers und in der Phänomenologie, in: Karl Jaspers – Phänomenologie und Psychopathologie, hg. von Thomas Fuchs, Stefano Micali und Micali Wandruszka, Freiburg 2013, S. 183–199. 7 Edmund Husserl, Späte Texte über Zeitkonstitution (1929–1934): Die C-Manuskripte, hg. von Dieter Lohmar (= Husserliana Materialien VIII), Dordrecht 2006, S. 154. 8 Edmund Husserl, Die anthropologische Welt (1936), in: Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916–1937), hg. von Sowa Rochus (= Husserliana XXXIX), Dordrecht 2008, S. 591.



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Sowohl das externalistische als auch das liminalistische Todesverständnis laufen Gefahr, den Tod als ein unbegreifbares Unwesen aufzufassen, das durch eine absurde oder paradoxe Struktur ausgezeichnet ist, und somit als Gegenstand möglicher Beschreibungen und philosophischer Analysen gleichsam aus dem Blick zu verlieren. Um diesem wesensphilosophischen Quietismus Ausdruck zu verleihen, unterscheidet Elisabeth Ströker bezüglich der Todesgewissheit zwischen dem »Fehlen der Einsicht, warum der Tod sei«, und der positiven »Einsicht eines Fehlens«, warum der Tod auch nicht sein könnte: »Das Muß des Todes bringt es im Erleben zu keiner ›einsichtigen‹ Notwendigkeit. Nicht ein Wesensfaktum ist der Tod, sondern ein Faktum tremendum.«9 Zwar bewahrt der Begriff des factum tremendum den wesensphilosophischen Quietismus davor in eine globale ignorabimus-Problematik zu degenerieren, die sich mit der bloßen Unerkennbarkeit des Todes begnügt, doch sie verlegt das Erkenntnisproblem auf die Ebene der nichtintentionalen Affektivität, der nun mit Kategorien der Passivität beizukommen sei.10 Anhand dieses Zusammenhangs lässt sich einsehen, dass der starke Subjektbegriff, welcher der transzendentalen ebenso wie der existentiellen Phänomenologie gemeinsam ist, gewisse Phänomene aus dem Bereich ihrer paradigmatischen Verstehensmuster verdrängt. Der Unterteilung von Hedwig Conrad-Martius11 folgend, muss demgegenüber noch die realistische Orientierung der Phänomenologie abgehoben werden, die auch als »Gegenstandsphänomenologie«12 angesprochen wird. Ihren vielleicht prominentesten Vertreter hat diese Ausrichtung in Max Scheler, dessen Emotionalismus nun die Gefühls- und Affektsphäre in den Mittelpunkt des philosophischen Interesses rückt. Bezeichnenderweise gestattet Schelers Philosophie des Todes es darüber hinaus, eine dritte Todeskonzeption zu unterscheiden. Diese ist durch eine Imma­ nentisierung des Todes ausgezeichnet, der zufolge der Tod Teil des Lebens ist. Zwar stehen Leben und Tod in dieser Auffassung noch immer in einem Oppositionsverhältnis, jedoch nicht in der Art eines kategorialen Gegensatzes, sondern einer materialen Präsenz des Todes in Lebensprozessen des Entstehens und des Vergehens. Dabei fördert insbesondere die Strukturanalyse des Alterns den Tod als ein diesem wesent 9 Elisabeth Ströker, Der Tod im Denken Max Schelers, in: Man and World 1/2 (1968), S. 191–207, hier S. 203. Siehe Breyer, Zeit und Tod bei Jaspers und in der Phänomenologie, S. 187. 10 Siehe Breyer, Zeit und Tod bei Jaspers und in der Phänomenologie (wie Anm. 6), S. 187. 11 Hedwig Conrad-Martius, Die transzendentale und die ontologische Phänomenologie, in: Schriften zur Philosophie III, hg. von Eberhard Avé-Lallement, München 1965; dies., Phänomenologie und Spekulation, in: Schriften zur Philosophie III, hg. von Eberhard Avé-Lallement, München 1965. 12 Alexander Nicolai Wendt, Die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie, Baden-Baden 2022; vgl. Herbert Spiegelberg, The Phenomenological Movement. A Historical Introduction, Bd. 1, Dordrecht 1965.

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liches Moment zutage: »In dieser Wesensstruktur jedes erfahrenen Lebensmoments ist es nun das Richtungserlebnis dieses Wechsels, das auch Erlebnis der Todesrichtung genannt werden kann.«13 In diametralem Gegensatz zur epikureanischen Tradition postuliert der Immanentismus eine intuitive Gewissheit (auch) des eigenen Todes, die ohne zu ziehende Schlussfolgerungen unmittelbar im Lebensgefühl mitgegeben ist. Da dem zeitgenössischen Auge in diesen Formulierungen unmittelbar eine Nähe zum fundamentalontologischen Sein-zum-Tode auffällt, wird verständlich, wenn Manfred Frings davon schreibt, dass »überraschende Parallelen zu Heidegger bereits bei Max Scheler auffindbar sind«.14 Diesbezüglich würdigt Ströker Schelers Ansatz, der es rechtfertige, mit ihm »ein neues Stadium philosophischen Todesdenkens beginnen zu lassen«, da bei Scheler erstmals »das eigene Todesbewußtsein in den Vordergrund philosophischer Betrachtung gerückt« werde.15 Auch in der nüchterneren Beurteilung erscheint die immanentistische Todeskonzeption, da diese von der Erkenn- und Erfahrbarkeit des Todes ausgeht, als die philosophisch ambitionierteste der drei skizzierten Positionen. Dementsprechend lastet auf ihr zugleich die größte onus probandi. Die Wahl, diese als Metaphysische Thanato­ logie darzulegen, entspricht dem in den 1920er Jahren einsetzenden Versuch Schelers, eine neue Metaphysik zu entwickeln, die eine Synthese der Weltgegebenheiten in der »natürlichen Weltanschauung«, »der Wissenschaft« und der »phänomenologischen Reduktion« herstellen soll.16 Der Mensch hat eine Sonderstellung in dieser Metaphysik, insofern er als Mikrokosmos »zum Korrelat universeller Erfahrungsbereiche«17 wird, zu denen die drei Formen der Weltgegebenheit zählen – es ließe sich in diesem Sinne auch von einer metaphysischen Anthropologie18 sprechen. Wenngleich Schelers Thanatologie multiperspektivisch verfasst ist, findet sie ihre Ordnung und Einheit in der metaphysischen Anthropologie. Diese Perspektive durchzieht die 13 Max Scheler, Tod und Fortleben, in: Schriften aus dem Nachlass. Band I. Zur Ethik und Erkenntnislehre, hg. von Manfred S. Frings, Bonn 1986, S. 20. 14 Manfred S. Frings, Person und Dasein. Zur Frage der Ontologie des Wertseins, Dordrecht, S. 17. 15 Ströker, Der Tod im Denken Max Schelers (wie Anm. 9), S. 194. 16 Max Scheler, Manuskripte zur Erkenntnis- und Methodenlehre der Metaphysik als positiver Erkenntnis (Auseinandersetzung mit Gegnern), in: Schriften aus dem Nachlass. Band II. Erkenntnislehre und Metaphysik, hg. von Manfred S. Frings, Bonn 1979, S. 98f.; siehe Eberhard Avé-Lallemant, Die phänomenologische Reduktion in der Philosophie Max Schelers, in: Max Scheler Im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, hg. von Paul Good, Bern 1975. 17 Eberhard Avé-Lallemant, Schelers Phänomenbegriff und die Idee der phänomenologischen Erfahrung, in: Phänomenologische Forschungen (9) 1980, S. 90–123, hier S. 92. 18 Dies entspricht z.B. Helmut Fahrenbachs Lesart, nach der Scheler nicht als Begründer einer neuen Philosophischen Anthropologie aufzufassen sei (die Fahrenbach erst bei Helmuth Plessner verwirklicht sieht), sondern als letzter Proponent einer metaphysischen Anthropologie (s. Helmut Fahrenbach, Mensch, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1973, S. 888–913).



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nachfolgenden Darstellungen der phänomenologischen, naturphilosophischen und axiologischen Thanatologie. Die Wahl dieser Darstellungsart entspringt der Frage danach, wie Schelers Philo­ sophie des Todes hätte aussehen müssen, wenn er sie je hätte abschließen können. Wie fügt sich das Todesproblem in den Kontext von Schelers Gesamtwerk ein? Welcher Stellenwert kommt ihm darin zu? Die Bearbeitung dieser Fragen betrifft die Werkexegese und leistet somit einen Beitrag zur Erforschung von Schelers Denkansatz. Darüber hinaus besteht ihr systematischer Ertrag darin, Anschlussmöglichkeiten zu identifizieren, um Schelers Philosophie des Todes weiterzuentwickeln. Vor diesem Hintergrund widmet sich Kapitel 2 Schelers phänomenologischer Thanatologie. Dabei betrachten wir den am besten bekannten Aspekt von Schelers Philosophie des Todes, die These der intuitiven Todesgewissheit. Obgleich dieser These zu Recht ein zentraler Stellenwert eingeräumt wird, da sie das Alleinstellungsmerkmal des Scheler’schen Ansatzes zum Todesproblem ausmacht, wird ihr Geltungsbereich erst anhand ihrer exegetischen Verortung bestimm- und eingrenzbar. Darüber hinaus beschäftigt sich Kapitel 3 mit Schelers naturphilosophischer Thanatologie. Das Hauptanliegen dieser Betrachtungsrichtung ist es, die Bedingungen zu klären, unter denen der Übergang von einem belebten Leib zu einem toten Körper stattfinden kann. Im Dialog mit den Naturwissenschaften können so die Konstitutionsbedingungen des Leichnams in der Organismusstruktur der Metazoen (Vielzeller) und die Letztursache des Sterben-Müssens in der Fortpflanzung thematisiert werden. Auf diese Weise überschreitet die naturphilosophische Thanatologie das intuitiv gegebene Erfahrungswissen, das durch induktive Erkenntnisquellen ergänzt wird. Während unsere Untersuchungen von Schelers phänomenologischer und naturphilosophischer Thanatologie in erster Linie exegetisch ausgerichtet sind, erbringt Kapitel 4 einen systematischen Beitrag, indem die Möglichkeit einer axiologischen Thanatologie verfolgt wird. Diese stellt einen Zusammenhang zwischen Schelers Idee von der lebenssteigernden Fortpflanzung, das heißt in seiner Terminologie der »Hinaufpflanzung«, mit derjenigen von der entgegengesetzten, kosmischen Wertabnahme her. Wo die Perspektive einer schelerianischen Thanatologie auf das Weltganze folglich gnostisch ausfällt, bleibt sie auf der Ebene der individuellen Lebensführung neuplatonisch, insofern hier der intuitiven Todesgewissheit die philosophische Aufgabe eines Sterben-Lernens entspringt. Die kosmische und individuelle Betrachtungsebene stehen jedoch nicht bezuglos nebeneinander, sondern können – so lautet unser Vorschlag – durch Schelers Konzept der kosmisch vitalen »Einsfühlung« zwischen einzelnem Lebewesen und »Allleben« zur Synthese gebracht werden. Dabei wird die »dionysische Reduktion« als Seelen- und Selbsttechnik vorgestellt, die die gemütsmäßigen Bedingungen herstellt, um solch eine Einsfühlung zu ermöglichen – historisch erreicht sie für Scheler ihren höchsten Ausdruck in der Fühlungsart von Franziskus von Assisi.

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2. Phänomenologische Thanatologie: Der Tod als materialer Wesensverhalt und seine intuitive Gegebenheit im Altern

Um Max Schelers Todeskonzept zu entwickeln, ist es sachdienlich, es zunächst im Kontext seines Gesamtwerkes zu situieren.19 Scheler entwickelt seine phänomenologische Thanatologie vornehmlich an zwei Stellen, die in seinen Nachlassschriften veröffentlicht wurden: 1914 in einem Vortrag, den er in Göttingen unter dem Titel »Tod und Fortleben«20 hielt und der am Anfang von Schelers mittlerer Schaffensperiode einzuordnen ist, während die Kölner Vorlesung »Altern und Tod«21 auf 1923/1924 datiert ist und somit auf das Ende dieser mittleren Phase fällt. Mit dem Todesthema befasst Scheler sich jedoch immer wieder, so dass sich verstreute Ausführungen in einer Reihe seiner Schriften finden, zum Beispiel während seiner mittleren Periode in »Probleme der Religion«22 von 1921, und in seiner späten Phase, zum Beispiel in den »Späten Schriften«.23 Der frühere Vortrag von 1914 fokussiert die phänomenologische Bestimmung des Todesbewusstsein in der Struktur des Alterns, die durch eine klassifikatorische Analyse des Problems der persönlichen Fortdauer ergänzt wird. In der späteren Vorlesung von 1923/1924 unterzieht Scheler das Todesbewusstsein einer multiperspektivischen Untersuchung, die neben der phänomenologischen ebenso eine erkenntnistheoretische, naturphilosophische, psychologische, soziologische, ethische und metaphysische Analyse enthält. Dieser weit skizzierte Untersuchungsansatz veranlasst Manfred Fings dazu, »Altern und Tod« als einen der »neun Gesichtspunkte« zu identifizieren, »die den Rahmen seiner [Schelers] ›Phi­losophischen Anthropologie‹ abgegeben hätten«.24 Im Folgenden wird sich zeigen, dass erst vor dem Hintergrund solch einer Synopsis, die die Entwicklungen von Schelers Philosophie des Todes berücksichtigt, einige der Übelstände in der Rezeption seiner phänomenologischen Thanatologie sichtbar 19 Den Rahmen für unsere exegetische Kontextualisierung verdanken wir Prof.  Dr.  Wolfhart Henckmanns Einordnung des Todesproblems in Schelers Denken. Die Korrespondenz mit ihm ist für uns von unschätzbarem Wert, und wir blicken der Veröffentlichung seiner Darstellung von »Schelers Philosophie des Todes« mit Spannung entgegen. 20 Scheler, Tod und Fortleben (wie Anm. 13). 21 Scheler, Altern und Tod (wie Anm. 1). 22 Max Scheler, Probleme der Religion (1921), in: Vom Ewigen im Menschen. Gesammelte Werke V, hg. von Maria Scheler, Bonn 1954. 23 Max Scheler, Späte Schriften. Gesammelte Werke IX, hg. von Manfred S. Frings, Bonn 1979. 24 Manfred S.  Frings, Max Scheler, Schriften aus dem Nachlaß. Band III. Philosophische Anthropologie, hg. von Manfred S.  Frings, Bonn 1987, S.  345. Frings Liste umfasst neben Tod und Altern noch die Punkte: Typologie des Selbstbewusstseins, Wesensontologie des Menschen, Unterschied zum Tier, Ursprung des Menschen, sozialhistorische Veränderungen des Menschen, All-Menschheit, Vergleichende Anthropologie und Weltgrund.



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und – folglich – korrigierbar werden. Dieses Vorgehen dient nicht nur dazu, das im Allgemeinen wenig beachtete Thema des Todes im Scheler’schen Denken zu würdigen. Darüber hinaus versuchen wir somit, den einseitigen Fokus der Forschungsliteratur auf die frühere Schrift »Tod und Fortleben« zu überwinden.25 Dabei leitet uns die Überzeugung, dass auch die Bedeutung der darin entwickelten Ideen erst durch die Berücksichtigung von Schelers Gesamtwerk erschlossen werden kann. Im Herzen von Schelers immanentistischer Todeskonzeption steht die Annahme einer intuitiven Todesgewissheit, die im Altern erfahren wird.26 Mit dieser Auffassung wendet Scheler sich gegen einen  – aus seiner Sicht  – weitverbreiteten Fehler in der Philosophie des Todes. Dieser bestehe in dem Versuch, das Epikur’sche Problem der vermeintlichen Unerfahrbarkeit des Todes dadurch zu umgehen, »unser Wissen vom Tode [als] bloßes Ergebnis der äußeren, auf Beobachtung und Induktion beruhenden Erfahrung vom Sterben anderer Menschen und uns umgebender Lebewesen«27 anzusehen. Diesem Umweg liegt die Vorstellung zugrunde, nur der Tod der anderen sei anschaulich gegeben (durch den Leichnam), wohingegen das eigene Sterben-Müssen und der eigene Tod erschlossen werden müssten. Das Bewusstsein vom eigenen Tod beruhe demnach letztlich auf einer Generalisierung, die sich in einer Übertragung des Todes anderer auf den eigenen Tod vollziehe. Allein logisch besehen, das heißt noch vor dem grundsätzlicheren, phänomenologischen Disput, der die Sachunangemessenheit der induktiven Todesvergewisserung betrifft, liegt hier ein Problem vor. Die induktive Auffassung verwechselt nämlich den Tod mit dem Leichnam. Aber die »Leiche ist ein Kennzeichen des Todes, nicht der Tod«.28 Der Schlusscharakter derartiger Todeskonzeptionen ist folglich schon in ihrer Gegenstandswahl angelegt, insofern die Distanz, die den Leichnam vom Tod als dem Prinzip, das den Wechsel vom lebendigen Leib zum toten Körper erwirkt, trennt, in der Tat durch einen Schluss überbrückt werden muss. Jedoch verfehlt dieser Ansatz das eigentliche Explanandum der Thanatologie, den Tod selbst. Dennoch wäre es falsch, hieraus zu folgern, Scheler würde keine inferenzielle Todesgewissheit kennen oder ihr nur einen nachgeordneten Stellenwert einräumen.29 25 Für eine Darstellung, die Altern und Tod (und nicht Tod und Fortleben) fokussiert, siehe Milan Uze­ lac, Schelers Deutung des Todes (Zu seiner Lehre von den letzten Dingen), in: Arhe 2/4 (2005). Obwohl Uzelac damit eine der wenigen Arbeiten zu Schelers Todeskonzept vorlegt, die die Nachlassbände berücksichtigt, besteht in einigen Punkten Dissens zur hier vorgetragenen Darstellung. 26 Dies gilt insbesondere für die frühe Fassung von Schelers Todeskonzeption. 27 Scheler, Tod und Fortleben (wie Anm. 13), S. 16. 28 Scheler, Altern und Tod (wie Anm. 1), S. 286. Das nächste Kapitel ist den naturphilosophischen Konstitutionsbedingungen des Leichnams gewidmet. 29 Ströker, Der Tod im Denken Max Schelers (wie Anm. 9); Sternad, On the Verge of Subjectivity (wie Anm. 3).

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Der wirkliche Zusammenhang ist komplex und erfordert eine differenzierte Urteils­ bildung. In der späteren Vorlesung ergänzt Scheler die phänomenologische Betrachtung der Todesgewissheit mit einer psychogenetischen Konstitutionsanalyse der Unterscheidung von lebendig und tot im menschlichen Geist.30 Die Fähigkeit, Lebendiges und Totes voneinander zu unterscheiden, »vollzieht sich in der seelisch-­ geistigen Entwicklung des Menschen nur sehr langsam und stufenweise; ist keineswegs von Hause aus da«.31 Der Ausgangspunkt des psychogenetischen Erwerbs der Unterscheidung lebendig–tot ist die Lehre der Funktionalisierung:32 »Alle sog. Verstandesformen und Anschauungsformen haben sich im Menschen erst gebildet im geistigen Verkehr mit der objektiven Welt (Funktionalisierung von Wesensanschau­ ungen).«33 Um die Entwicklung dieser Fähigkeit zu begreifen, müssen »psychologische, historische und ethnologische Forschungen«34 berücksichtigt werden. Diese legen eine psychogenetische Asymmetrie im Wissen vom Lebendigen einerseits und demjenigen vom Toten andererseits nahe. Beide sind »nicht gleich ursprünglich«,35 sondern alles erfahrungsmäßig Gegebene wird »primär und nativistisch auf ein zugleich Lebendiges und Beseeltes ursprünglich bezogen, das heißt als Ausdruck«.36 In der Psychogenese geht die Ausdruckwahrnehmung (von etwas als lebendig) der Dingwahrnehmung (von etwas als tot oder unbelebt) voraus – als trügen alle Dinge ursprünglich ein Gesicht.37 Etwas als tot wahrzunehmen, setzt folglich eine Enttäuschung voraus, die darin besteht, dass »im geistigen Verkehr mit der objektiven Welt« Erfahrungen gemacht werden, in denen die primäre Erfahrung der Natur als belebt als nur scheinbar entlarvt wird. Dass in einem derartigen negativen Vorgang der Enttäuschung ein positives Täuschungsbewusstsein mitgegeben ist, wird verges30 Der Begriff der Psychogenese hat in Schelers Schriften zum Tod eine doppelte Bedeutung: Zum einen meint er die kognitive Entwicklung, wie sie durch die Geschichte, in den Kulturen und Arten geworden ist (Funktionalisierung), zum anderen bezeichnet er das, was wir heute als Entwicklungspsychologie ansprechen. 31 Scheler, Altern und Tod (wie Anm. 1), S. 267. 32 Avé-Lallemant, Schelers Phänomenbegriff (wie Anm. 17), S. 90–123; Guido Cusinato, Die Historisierung des Apriori und der Funktionalisierungsbegriff im Denken Max Schelers, in: Cognitio humana – Dynamik des Wissens und der Werte. Akten des XVII. Deutschen Kongresses für Philosophie Leipzig 1996: Workshop-Beiträge, hg. von Christoph Hubing, Berlin 1996, S. 846–853; Wei Zhang, Schelers Kritik an der phänomenologischen Auffassung des gegenständlichen Apriori bei Husserl, in: Prolegomena: Časopis za filozofiju 10 (2) 2011, S. 265–280. 33 Scheler, Altern und Tod (wie Anm. 1), S. 267f. 34 Ebd., S. 267. 35 Ebd., S. 270. 36 Ebd., S. 268. 37 Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (1923), in: Gesammelte Werke VII, hg. von Manfred S. Frings, Bern, München 1973.



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sen, wenn man »dem Kind das Weltbild des Erwachsenen zuerst [einlegt]«,38 dem dann etwas additiv hinzugefügt werden müsste. Der Fehler in dieser Ansicht besteht Scheler zufolge darin zu meinen, die erwachsene Anschauungsform von Dingen als tot wäre einfacher und müsste darum ursprünglich in der kindlichen Anschauungsform schon enthalten sein, welche folglich durch einen Mechanismus der Beseelung ergänzt vorgestellt werden müsste. Das Gegenteil ist wahr: »Leben ist a) […] die primäre gegebene Strukturform alles möglichen Wahrnehmbaren; b) ein positiver Begriff, beruhend auf einem Urphänomen.«39 Dies ist der psychogenetische Hintergrund dafür, dass die Anschauungsform von etwas als tot, die wir als Erwachsene bzw. im europäischen Kulturraum als selbstverständlich vermeinen, tatsächlich komplexer und von der Ausdruckswahrnehmung abgeleitet ist. So wird zugleich die Systemstelle ersichtlich, in der Scheler den inferenziellen Charakter des Wissens um den Tod gelten lässt: »›Tot‹ ist psychogenetisch ein: a) purer induktiver Erfahrungsbegriff. Es gibt kein echtes Wesen des Toten; b) ein negativer Begriff.«40 Die Betrachtung der Psychogenese der Fähigkeit zur Unterscheidung von lebendig und tot hat eine Asymmetrie in der Gegebenheitsordnung beider Anschauungsformen zutage gefördert. Während das Lebendige ursprünglich, positiv und unmittelbar gegeben ist, erfordert der Erwerb des Wissens vom Toten das Durchlaufen von Enttäuschungserfahrungen, die schlussendlich zu seiner abgeleiteten, negativen und inferenziellen Gegebenheit führen. Insofern die Psychogenese der Unterscheidung lebendig–tot auf das Konzept eines Urphänomens des Lebens angewiesen ist, aus dessen Wesen das Wissen vom Tod gewonnen werden kann, muss die psychogenetische Betrachtung durch eine entsprechende phänomenologische Wesensanalyse ergänzt werden. Ebendiese entwickelt Scheler anhand einer Bestimmung der Erfahrung des Alterns. Die grundsätzliche Geste Schelers bezüglich des Todesproblems ist die, dass dieses nicht umschifft werden darf, sondern direkt angegangen werden muss. Wie bereits ausgeführt, hält Scheler den Aufweis der Todesgewissheit auch ohne Zuhilfenahme der Sozialsphäre (Schluss vom Tod der anderen auf meinen) und des Gestorbenen (Schluss vom Leichnam auf den Tod) für möglich: »Ein Mensch wüßte in irgendeiner Form und Weise, daß ihn der Tod ereilen wird, auch wenn er das einzige Lebewesen auf Erden wäre«41 – auf eine ähnliche Weise in der für Scheler42 Robinson 38 Scheler, Altern und Tod (wie Anm. 1), S. 269. 39 Ebd., S. 270. 40 Ebd. 41 Scheler, Tod und Fortleben (wie Anm. 13), S. 16. 42 Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (wie Anm. 37).

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Crusoe ein Bewusstsein von der Existenz anderer Iche hätte: Da das Wesen des Menschen auf die Sozialsphäre hingeordnet ist, ist sein Lebensvollzug auf den Tod hin ausgerichtet. Zur Veranschaulichung dient ein Gedankenexperiment: »Denken wir uns nun einen Menschen, der keinerlei Wissen von seinem Geburtstage hätte und der Zahl der Jahre seines bisherigen Lebens.«43 Des Weiteren ermangele es diesem Menschen an äußerlichen Alterserscheinungen, er fühle keine Organempfindungen (inklusive Mattigkeit), und er erkranke niemals. »Ich frage: Hätte dieser Mensch dann keinerlei Bewußtsein von seinem Alter? Ich antworte: Ja; er besäße, obzwar keinerlei Maß mehr für sein Alter, doch ein Bewußtsein von ihm: er besäße es im Gefühl von seinem Leben und dessen Wucht.«44 Dieses im Altern gegebene Lebensgefühl »ist die letzte intuitive Grundlage für den Begriff des ›Alterns‹ überhaupt […]. [E]s ist etwas Absolutes, das alle auf Alterskriterien und auf objektivem Zeitmaße beruhenden Altersbestimmungen als ihre letzte Erfüllung voraussetzen.«45 Analog zu Robinson Crusoe weiß der Mann ohne Geburtstag dennoch von seinem Altern. In diesem Lebensgefühl des Alterns ist die intuitive Todesgewissheit angelegt: »Der Tod selbst aber als dynamische Richtung des Lebensniedergangs ist allem Lebendigen aus inneren Gründen wesentlich.«46 Dass die Todesgewissheit ein integraler und irreduzibles Moment des Lebensgefühls des Alterns ist, veranschaulicht Scheler noch weiter: »Nehmen wir in der Form eines Gedankenexperiments die intuitive Todesgewißheit aus einer beliebigen Phase unseres Lebens heraus, so ergäbe sich sofort eine Haltung gegenüber aller Zukunft, die mit unserer wirklichen Haltung keinerlei Ähnlichkeit mehr hat.«47 Ein Mensch ohne die lebensimmanente Richtungserfahrung auf den Tod hin stünde vor der Unendlichkeit an Potentialen einer Zukunft, die die Bedeutsamkeit und die »Wucht« jedes seiner Erlebnisse (für sein Leben) verändern würde. Wenn Scheler sich auf den Biologen Karl Ernst von Baer beruft und die Lebewesen durch ihr Sterben-Können und Müssen von den anorganischen Dingen unterscheidet,48 dann wird gleichsam fragwürdig, inwieweit solch ein Mensch ohne intuitive Todesgewissheit überhaupt als Lebewesen zu bestimmen ist. Ebendiese lebensimmanente Richtungserfahrung ist dem Menschen im Lebensprozess des Alterns und der dem diesem innewohnenden Zeitbewusstsein gegeben. »[S]o würde einzig der Wechsel seiner erlebten Zeitstruktur selbst ihm [dem Menschen] die Einsicht geben können, dass er einem ›Nichtmehrlebenkönnen‹ über-

43 Scheler, Tod und Fortleben (wie Anm. 13), S. 22. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Scheler, Altern und Tod (wie Anm. 1), S. 285. 47 Scheler, Tod und Fortleben (wie Anm. 13), S. 22. 48 Ebd., S. 25.



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haupt, also dem Tode entgegenschreitet.«49 Zunächst ist die im Altern gegebene ge­ lebte Zeit zu unterscheiden von der Veränderung und der Fortdauer der Dinge in der objektiven Zeit. Die Erfahrung der gelebten Zeit »enthält nun drei eigenartige Erstre­ ckungen […]: unmittelbares Gegenwärtigsein, Vergangensein und Zukünftigsein von etwas […] und in ihnen drei entsprechende qualitativ verschiedene Aktarten […]: un­ mittelbares Wahrnehmen, unmittelbares Erinnern und unmittelbares Erwarten.«50 Dabei umfasst jede Dauer der erlebten Zeit strukturell den Gehalt der drei zeitlichen Erstreckungen. Die Besonderheit, in der die gelebte Zeit im Altern erfahren wird, besteht darin, dass der Umfang des Vergangenseins fortwährend zunimmt, während der des Zukünftigseins abnimmt und der Umfang des Gegenwärtigseins zwischen diesen beiden »zusammengepreßt«51 wird. Nach dieser Auffassung des Alterns ist unsere Lebenserfahrung zunächst von einem Übermaß an künftigen Möglichkeiten gekennzeichnet, die sich zusehends in Wirklichkeiten übersetzen, bis schließlich ein Übermaß an gewesenen Verwirklichungen übrigbleibt: Mit der Menge des in jedem Augenblick als gelebt gegebenen Lebens und seiner Nachwirksamkeit vermindert sich also die Menge des Erlebenkönnens, wie es in der unmittelbaren Lebenserwartung vorliegt. Die Umfänge des phänomenalen Gegenwärtigseins werden dabei von objektivem Zeitpunkt zu Zeitpunkt kleiner und kleiner, wie immer auch der Gesamtgehalt wachse  – klar an besonders merkbaren Phasenunterschieden: Für das Kind ist die Gegenwart eine breite und helle Fläche des buntesten Seins. Aber diese Fläche nimmt mit jedem Fortschritt des Lebensprozesses ab. Sie wird enger und enger, immer gepreßter und gepreßter zwischen Nachwirksamkeit und Vorwirksamkeit. Für den Jüngling und Knaben steht seine erlebte Zukunft da wie ein breiter, heller, ins Unabsehbare sich erstreckender glänzender Gang, ein ungeheurer Spielraum in der Erlebnisform »Erlebenkönnen«, in den Wunsch, Verlangen, Phantasie tausend Gestalten malt. Aber mit jedem Stück Leben, das gelebt ist und als gelebt in seiner unmittelbaren Nachwirkung gegeben ist, verengert sich fühlbar dieser Spielraum des noch erlebbaren Lebens. Der Spielraum seines Leben-könnens nimmt ab an Reichtum und Fülle, und der Druck der unmittelbaren Nachwirksamkeit wird größer.52

Vorweg ist es wichtig, dem Missverständnis vorzubeugen, dass die Auffassung des Alterns als einem Schwinden von künftigen Potentialen, dem die Anreicherung vergan­ 49 Max Scheler, Idealismus – Realismus, in: Späte Schriften. Gesammelte Werke IX, hg. von Manfred S. Frings, Bonn 1979, S. 229. Die hierin ausgedrückte Nähe von Schelers Todeskonzeption zu derjenigen Heideggers hat Manfred Frings herausgearbeitet (s. Frings, Person und Dasein [wie Anm. 14]). 50 Scheler, Tod und Fortleben (wie Anm. 13), S. 19f. 51 Ebd., S. 20. 52 Ebd.

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gener Wirklichkeiten koordiniert ist, das Altern in der objektiven Zeit anstatt der gelebten Zeit verorten und mithin linear anstatt ekstatisch begreife. »Geben wir das Alter eines Menschen in Zahlen an, so hat diese künstliche Altersangabe, wie ich sie nennen darf, mit seinem natürlichen Alter sehr wenig zu tun.«53 Hierbei bleibt der Lebensprozess des Wachstums unbeachtet, durch welchen neue Lebenspotentiale erst mit fortschreitendem Alter entstehen, das heißt einem dem Altern zugehörigen Prozess. Dennoch gilt es darauf zu bestehen, dass der »natürliche Tod« durch ein »Aufhören wie ›von innen her‹ (causa immanens) durch denselben Prozeß und seine führende Aktivität bewirkt und bestimmt ist, der aufhört«.54 Hierdurch unterscheidet der natürliche Tod sich sowohl vom katastrophalen Tod, der von außen herbeigeführt wird, als auch vom bloß relativen Vergehen, das auch als Entstehen von etwas anderem begriffen werden kann (zum Beispiel bei anorganischen Veränderungen). Vielmehr betrifft die im Altern gegebene Todesgewissheit »ein absolutes Vergehen«55 eines lebendigen Individuums, das als diese Formeinheit nie wiederkehren kann: »Ein Lebewesen ist also ›Individuum‹ – wie es Totes nie ist. ›Nur Individuen können sterben.‹«56 Die im natürlichen Altern erfahrene Übersetzung von Lebenspotentialen in wirklichkeiten betrifft diese irreversible Alterns- und Sterbenserfahrung in der lebendigen Zeit. Scheler bemüht sich, die logische Pfadabhängigkeit des Alterns phänomenologisch als »Determinationserlebnis«57 zu fassen: Damit ist das gefühlsmäßige Gewahrsein des »Wesensgesetz[es] des Lebens (als psychophysisch indifferenten Faktums)« bezeichnet, »daß nämlich jeder Schritt der spontanen Selbstveränderung den Spielraum möglicher Selbstveränderungen und Entwicklungen selber einengt«.58 Hierdurch kann die Metaphorik der »›Gesamtwucht‹ der Vitalität eines ­Menschen«59 erhellt werden, denn in der intuitiven Todesgewissheit artikuliert sich das gefühlsmäßige Gewahrsein davon, mehr und mehr vom Gewicht des Vergangenseins erdrückt zu werden, wohingegen das Lebensgefühl der Jugend davon unbeschwert und daher »leicht« ist.60 Es muss hier eine offene Frage bleiben, ob und inwieweit die Metapho53 Ebd., S. 21. 54 Scheler, Altern und Tod (wie Anm. 1), S. 259. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 Scheler, Idealismus – Realismus, S. 229 (wie Anm. 49. 58 Ebd. 59 Scheler, Tod und Fortleben (wie Anm. 13), S. 21. 60 Die Idee einer Phänomenologie der Lebensphasen, d. h. der »Phasen von Wachstum und Altern« des Menschen, identifiziert Scheler in der »Sympathieschrift« als Desideratum für den Fortschritt der phänomenologischen Denkart. Der Gedanke der Veränderungen des Natur-, Seelen- und Weltbildes in den Lebensphasen Kindheit, Pubertät, Erwachsenen- und Greisenalter beschäftigt Scheler auch in seinen dem Todesproblem gewidmeten Schriften, denen insbesondere die Lehre einer kosmisch vitalen Einsfühlung zugrundeliegt (siehe Scheler, Wesen und Formen der Sympathie [wie Anm. 37], S. 116ff.).



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rik der Lebenswucht eine beabsichtigte Allusion an Friedrich Nietzsches Rede von dem »größte[n] Schwergewicht«61 ist. In jedem Fall räumt die vitalrelative Auffassung der Todesgewissheit mit zwei Vorurteilen auf: mit dem Vorurteil der Passivität, nach dem der Tod ein reines Widerfahrnis ist, und dem Vorurteil der Ineffabilität, dem gemäß sich im Tod ein unbegreifliches Nichts kundtut, zu dem jedwede sinnstiftende Bezugnahme unmöglich ist. Stattdessen fasst Scheler das Sterben als »eine Tat, ein[en] Actus des Lebewesens selbst« auf, der »in die Reihe der Lebensakte mit hineingehört«.62 Vor diesem Hintergrund hat Elisabeth Ströker »die Enge des Schelerschen Ansatzes« kritisiert, der dadurch, dass Scheler »Altern und Sterben in eins« fasst, »auf das Gebiet biologischer Entwicklung beschränkt bleibt«.63 Hierdurch werde das spezifisch menschliche Sterben verkannt und mit dem Verenden und dem Altern, die der Mensch mit den Tieren und den Pflanzen als Vitalprozesse gemeinsam hat, vermengt.64 Für Ströker liegt der Fehler darin, Altern und Sterben als gleichgerichtet aufzufassen, das heißt die Todesgewissheit aus der dynamischen Lebensrichtung zu gewinnen, während beide doch vielmehr zueinander gegensinnig sind: »›Vorlaufend‹ wissen wir vom Tode, so jedoch, daß diese Antizipation des Endes zugleich ›zurückläuft‹ zum jeweiligen gegenwärtigen Augenblick.«65 Aus der Gegensinnigkeit von Leben und Tod folgt gerade nicht, dass der Tod erlebnismäßig gegeben sein könnte oder im Alter vertrauter würde. Im Gegenteil: »[D]as pure Was des Todes bleibt mir […] wesensmäßig verschlossen«.66 Indem Ströker damit versucht, die Frage nach dem Wesen des Todes als »eine sinnlose Frage«67 auszuweisen, stellt sie zugleich die Möglichkeitsfrage an jede Phänomenologie des Todes. Strökers Standpunkt ist durch eine externalistische Todeskonzeption charakterisiert, welche die Dialektik des Todes darin ansetzt, dass er nur als Abwesenheit anwesend ist und somit als »das Enfant terrible des Denkens schlechthin«68 unbestimmbar bleiben muss. Auf den ersten Blick scheint es wenig aussichtsreich zu versuchen, den externalistischen Schlusspunkt von Strökers Todeskonzeption mit Schelers Immanentismus 61 Siehe Aphorismus 341 in Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Werke in drei Bänden, Bd. 2, München 1954, S. 202. 62 Scheler, Tod und Fortleben (wie Anm. 13), S. 24. 63 Ströker, Der Tod im Denken Max Schelers (wie Anm. 9), S. 204. 64 Für eine zeitgenössische Behandlung der Frage nach dem Sterben-Können der Tiere siehe Christian Sternad, Being Capable of Death: Remarks on the Death of the Animal from a Phenomenological Perspective, in: Studia Phænomenologica (17) 2017, S. 101–118. 65 Ströker, Der Tod im Denken Max Schelers (wie Anm. 9), S. 205. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 206. 68 Ebd.

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zu versöhnen. Doch der Schein trügt. Es ist wahr, dass Scheler Altern und Sterben gleichermaßen in der Vitalsphäre ansetzt, doch es wäre voreilig, hieraus den Schluss zu ziehen, er hätte deshalb keinen Begriff von der Nichtwissbarkeit, die mit dem Tod einhergeht. Explizit erkennt er diese Verbindung für die geistig-personale Sphäre an, wo er sie als Problem der persönlichen Fortdauer verhandelt: »Nur einer kann im Sterbensakte wissen, ob und daß er fortlebt: Das ist der Sterbende selbst. Jeder muß ganz allein und für sich die große Stunde seines Todes und seines eventuellen Fortlebens erfahren.«69 Dem liegt die Anschauung zugrunde, dass die vitale und die geistige-personale Sphäre voneinander unabhängig sind, so dass »ich als Person nicht unterliege dem Gesetz meines ›Fleisches‹«.70 Zugleich konstituiert die Unabhängig­ keit der Person vom Vital-Ich die Selbstobjektivation, die jeder Form von Selbstmord oder Martyrium zugrunde liegt. Was das Problem der persönlichen Fortdauer betrifft, erkennt Scheler folglich an, dass wir nicht wissen können, ob eine Person fortdauern wird (bzw. dass es jeweils nur für die Person im Sterbeakt erfahrbar wird). Dies ist eine direkte Folge aus Schelers Überwindung des Problems des Fremdpsychischen mit seiner Lehre von der unmittelbaren Ausdruckswahrnehmung.71 »Daß Ausdruckserscheinungen nach dem Tode ausbleiben, ist daher ein Grund allein zur Annahme, daß ich die Person nicht mehr verstehen kann; nicht aber ist es ein Grund zur Annahme, sie sei nicht da.«72 Der hierdurch nahegelegte Agnostizismus trägt dem externalistischen Topos vom Unwesen des Todes Rechnung, zumindest in einer epistemologischen Interpretation und beschränkt auf die geistig-personale Sphäre.73 Diese Betrachtung greifen wir in Kapitel 4 zur axiologischen Thanatologie wieder auf. Zunächst gilt es lediglich festzuhalten, dass das, was Ströker als human-exklusives Sterben vom Enden anderer Lebewesen unterscheidet, Scheler als Problem der persönlichen Fortdauer identifiziert, so dass der Disput sich zum Teil terminologisch auflösen lässt. Um der Frage nach dem Verenden der Tiere nachzugehen, die Ströker ebenfalls anspricht, ist es erforderlich, sich nun Schelers naturphilosophischer Todeslehre zuzuwenden.

69 Scheler, Altern und Tod (wie Anm. 1), S. 301. An einer anderen Stelle drückt Scheler denselben Zusammenhang hoffnungsvoller aus: »Die metaphysische Süße des Todes weiß nur einer – der Sterbende« (Max Scheler, Zusätze aus den nachgelassenen Manuskripten, in: Späte Schriften. Gesammelte Werke IX, hg. von Manfred S. Frings, Bonn 1979, S. 294). Die Formulierung nimmt den Gedanken des Zugehörigkeitsbewusstseins des individuellen Lebens zum Allleben vorweg. Die dadurch implizierte Transformation des Todesbewusstseins wird weiter unten diskutiert. 70 Scheler, Altern und Tod (wie Anm. 1), S. 302. 71 Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (wie Anm. 37). 72 Scheler, Tod und Fortleben (wie Anm. 13), S. 37. 73 Thomas Macho, Das Leben Nehmen. Suizid in der Moderne, Frankfurt a. M. 2017.



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3. Naturphilosophische Thanatologie: Die Konstitutionsbedingungen des Leichnams und die Letztursache des Todes in der Fortpflanzung

Die naturphilosophische Betrachtung setzt erneut beim Problem des Leichnams an. Es wurde gesagt, dass die Todesgewissheit im Altern anschaulich gegeben ist, und zwar auf eine Weise, die seiner Gegebenheit durch den Leichnam anderer vorausgeht. Induktive Theorien, die die Todesgewissheit durch einen Schluss vom Leichnam anderer auf das eigene Selbst erklären, haben das Problem, dass der Begriff des Leichnams nicht selbstverständlich ist und einer naturphilosophischen Fundierung bedarf. Um diese zu erbringen, ist es erforderlich, die Voraussetzungen dafür zu klären, wie es zuallererst zu einem Leichnam kommen kann. Zu diesem Zweck sucht Scheler den Dialog mit den Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie seiner Zeit, und stellt dabei fest, »daß die deutliche Erscheinung eines Todes (mit Leichnam) erst bei den Metazoen (Vielzellern) beginnt und daß sich das Phänomen steigert, je höher die Differenzierung und Arbeitsteilung der Zellkomplexe und Gewebe des Organismus ist«.74 Diese Feststellung besteht aus zwei Teilen: Zum einen hängt die Erscheinung des Leichnams von der Organisationsform des Lebewesens ab, das stirbt, insofern nur Vielzeller Leichname zurücklassen. Zum anderen wird der Begriff des Leichnams gradualisiert, insofern die Deutlichkeit seiner Erscheinung mit dem Komplexionsgrad der Organismusstruktur zunimmt. Zur weiteren Qualifikation dieser Feststellung bezieht Scheler sich unter anderem auf August Weismanns These75, »[d]ass die Einzelligen und die Keimzellen der Vielzelligen in gewissem Sinne unsterblich sind«.76 Sterblich sind für Weismann lediglich die somatischen Zellen (Soma), nicht aber die Keimzellen. Infolgedessen ist das Prädikat der Sterblichkeit auf Einzeller (Protozoen) nicht anwendbar, da diese trivialerweise nicht auf die erforderliche Art zellulär differenziert sind, wohingegen bei Vielzellern (Metazoen) zwischen »der sterblichen und der unsterblichen Hälfte des Individuums«77 unterschieden werden muss. Die potentielle Unsterblichkeit der Keimzellen besteht nach Weismann darin, dass diese unter günstigen Bedingungen (Befruchtung usw.) dazu imstande sind, sich »zu einem neuen Individuum zu entwickeln, oder anders ausgedrückt, sich mit einem neuen Soma zu umgeben«.78

74 Scheler, Altern und Tod (wie Anm. 1), S. 255. 75 Weismanns Lehre bezeichnet Scheler als »[d]ie wirksamste« (ebd., S. 285). 76 August Weismann, Bemerkungen zu einigen Tages-Problemen (1890), in: Aufsätze über Vererbung und verwandte biologische Fragen, Jena 1892, S. 642. 77 August Weismann, Über Leben und Tod (1884), in: Aufsätze über Vererbung und verwandte biologische Fragen, Jena 1892, S. 142. 78 Ebd.

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Nach Scheler ist der Leichnam in Weismanns Lehre »nur die Folge einer bestimmten Form des Todes, insbesondere des Todes, der im Metazoon stattfindet, wenn die geschlechtlichen Funktionen nicht mehr an einem Individuum ablaufen, sondern an ›zwei‹ verteilt sind«.79 In seiner Kritik an Weismann wird der gradualistische Aspekt von Schelers Konzept des Leichnams relevant. Scheler bezweifelt nämlich, dass »bei der Teilung des Protozoons keine ›Leiche‹ auftritt«.80 Vielmehr müsse man sagen: »Die Leiche hat bei der Teilung des Einzelligen – fast – den Grenzwert ›0‹ erreicht, aber nur darum, weil fast der ganze Stoff des Muttertiers zum Aufbau des neuen Tieres verwandt wird.«81 Es bleibt dem naturwissenschaftlichen Diskurs vorbehalten zu klären, ob auch bei der Reproduktion von Einzellern Teile des Protoplasmas ausgeschieden werden, die einem minimalen Begriff des Leichnams genügen würden. Naturphilosophisch gehaltvoller ist demgegenüber die hierbei veranschlagte Rede von der Unsterblichkeit. Diese hält Scheler nicht nur aufgrund der »hohe[n] positive[n] Wertbejahung«, mit welcher der Begriff der Unsterblichkeit konnotiert ist, für unglücklich gewählt, sondern sie ist darüber hinaus unangemessen, da die Einzeller »noch nicht jenes Wesen der Individuation in sich verkörpert [haben], die Voraussetzung ist für den Adel des Todes«.82 Wie oben dargelegt, ist hierfür eine organismische Struktur erforderlich, die es dem Lebewesen gestattet, ein Zeitbewusstsein der gelebten Zeit zu haben. Das Entstehen und Vergehen der Einzeller ähnelt in dieser Hinsicht dem der anorganischen Materie so stark, dass anstatt von ihrer Unsterblichkeit lediglich von ihrer »Unter-sterblichkeit«83gesprochen werden kann. Mit dem Topos der Untersterblichkeit ist der der persönlichen Fortdauer »als Problem der ›Übersterblichkeit‹«84 korreliert: »›Übersterblich‹ wäre demnach ein Ding, das deswegen nicht stirbt, da es den Leibtod überdauert  – darum überdauert, da seine Existenz und sein Sosein unabhängig ist von aller vitalen Kausalität.«85 Wieder einmal setzt diese Bestimmung die Unabhängigkeit der vitalen von der geistigen Sphären voraus, da so verständlich wird, wie die Person als wesenhafte Seinseinheit verschiedener Aktklassen nicht auf die Vitalsphäre reduziert werden kann. Die Bedeutung der Übersterblichkeit der Person besteht dementsprechend darin, dass die Person kein Träger des Prädikats der Sterblichkeit sein kann. Unter- und Übersterblichkeit begrenzen den Bereich des Sterblichen auf einen Teilbereich der Vitalsphäre, nämlich den Lebensvollzug der Metazoen. Damit ist zugleich der Höhepunkt der 79 Scheler, Altern und Tod (wie Anm. 1), S. 285. 80 Ebd., S. 286. 81 Ebd. 82 Ebd., S. 290. 83 Ebd., S. 289. 84 Ebd., S. 290. 85 Ebd.



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naturphilosophischen Bestimmung des Todesproblems erreicht, nämlich die Angabe seiner letzten Ursache: »Die oberste Ursache des Todes ist die Fortpflanzung.«86 Diese Generalthese der sogenannten Fortpflanzungstheorie des Todes entwickelt Scheler unter anderem in Auseinandersetzung mit Alexander Goettes87 Denken. Dessen Fortpflanzungstheorie unterzieht Scheler jedoch einer Reihe von Korrekturen, allem voran eine nietzscheanische Reinterpretation der Fortpflanzung als »lebenssteigernder Fortpflanzung«88 (das heißt als »Hinaufpflanzung«).89 Anders als in der naturwissenschaftlichen Deutung einer Hinaufpflanzung zu immer komplexeren Organisationsformen ist diese bei Scheler in eine kosmologische Auffassung vom »Allleben« eingebettet. Diesen schwierigen Begriff entwickelt Scheler an verschiedenen Stellen auf unterschiedliche Weise, doch eine für die vorliegende Untersuchung hilfreiche Bestimmung nimmt er bezüglich der Frage nach der absoluten Zeit vor, das heißt »eine[r] Zeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mehr relativ auf ein bestimmtes Lebewesen« sind, so dass »ein einziger absolut unumkehrbarer Prozeß in ihr abliefe, niemals also ›das selbe‹ Sein und Geschehen wiederkehren kann«:90 Es wird eine solche absolute eine Zeit anzunehmen sein, wenn es ein übersingulares und überindividuelles All-Leben gibt, das in allen lebendigen Gebilden lebt, und wenn die Welt selbst auf einer Stufe der Daseinsrelativität, die nicht mehr relativ auf Leben ist, ein organismenartiges Werdesein ist, das sich erst in der Zeit bildet und vollendet. Dann wäre auch der Welt als Ganzer Ursprung, Altern und Tod gewiß. […] Nach dieser Auffassung gibt es dann aber das, was die Griechen einen ›Kosmos‹ nannten, nicht mehr. Die Welt »hat« dann nicht eine Geschichte, sondern sie ist eine Geschichte.91

Die kosmologische Bestimmung des Alllebens führt den Gedanken ins Feld, dass es eine absolute Form gelebter Zeit gibt, die transindividuell ist. Dabei enthält der Begriff des Alllebens eine Doppeldeutigkeit: Zum einen meint Allleben ein transindi86 Ebd., S. 291. 87 Alexander Goette, Über den Ursprung des Todes, Hamburg, Leipzig 1883. 88 Scheler, Altern und Tod (wie Anm. 1), S. 291. 89 Die Idee der lebenssteigernden Fortpflanzung als Hinaufpflanzung stammt von einer berühmten Sentenz aus Nietzsches »Zarathustra«: »Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf ! Dazu helfe dir der Garten der Ehe! Einen höheren Leib sollst du schaffen, eine erste Bewegung, ein aus sich rollendes Rad  – einen Schaffenden sollst du schaffen« (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und für Keinen, in: Werke in drei Bänden, Bd. 2, München 1954, S. 331). Die Richtung nach oben inhäriert für Scheler jedoch dem Allleben selbst (s. Scheler, Probleme der Religion [wie Anm. 22]). 90 Scheler, Idealismus – Realismus (wie Anm. 49), S. 235. 91 Ebd., 235f.

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viduelles Lebensprinzip, das sich in den einzelnen Lebewesen realisiert und diesen gewissermaßen Leben einhaucht – wie im vitalistischen Diskurs.92 Um Missverständnisse zu vermeiden, heißt diese Deutung des Alllebens im folgenden universales Le­ ben. Zum anderen bezeichnet Allleben die Auffassung, dass das Weltganze als »organismenartiges Werdesein«, das heißt als Lebewesen verstanden werden kann – eine Vorstellung, die noch heute in abgewandelter Form als sogenannte Gaia-Hypothese diskutiert wird.93 Wenn diese Auffassung richtig ist und das Weltganze einem Lebensprozess unterliegt, dann bedeutet das für die Philosophie der Zeit, dass die kosmische Zeit endlich ist, weil das Allleben sterblich ist. Das universale Leben als Lebensprinzip wäre demgegenüber selbst zwar nicht sterblich (weil es kein Lebewesen ist), aber dennoch endlich, denn es würde erlöschen, wenn alle Lebewesen gestorben wären. Demgemäß fasst Scheler das »universale Leben« lediglich als »ein[en] Zwi­ schenprozeß des Weltgeschehens – ein rauschendes Fest im Gange der Welt« auf.94 In der These der Endlichkeit des universalen Lebens und des Alllebens ist der Gedanke einer Todes- und »Absterbeordnung« angelegt. Hierbei sind Individualtod, Artentod, Universaltod und Alltod zu unterscheiden. Diese stehen grundsätzlich wie folgt im Verhältnis zueinander: Höhere Komplexitätsgrade der Organismusstruktur können zwar das individuelle Leben verlängern, das heißt den Individualtod hinauszögern, doch »in der Absterbeordnung des universellen Lebens« verfallen sie umso früher dem Artentod, »je höher sie sind«.95 Das Absterben aller Arten bedeutet zugleich das Ende des universalen Lebens, so dass der Universaltod als Grenzbegriff des Artentodes ersichtlich wird. Die Rede vom Universaltod muss auf einen derartigen Grenzbegriff beschränkt bleiben, da das universale Lebensprinzip selbst nicht sterblich ist; es ließe sich höchstens von einem Erlöschen oder Enden seiner Wirksamkeit sprechen, wenn kein Seiendes mehr durch dieses Prinzip belebt wird, das selbst in potentia fortbestehen könnte. Wo der Universaltod folglich das Ende der Episode im Weltprozess markiert, die in dem Vorkommen der Arten besteht, bezieht sich der Alltod auf das Ende des Weltprozesses selbst, sofern dieser als »organismenartiges Werdesein«, das heißt als Allleben aufgefasst wird. Darüber hinaus hat die Annahme des Alllebens Rückwirkungen auf die Konzeption des Individualtodes. Zur Veranschaulichung verwendet Scheler eine in der Mystik gebräuchliche Metapher, die das individuelle Leben als Welle und des Allleben als Meer beschreibt. In diesem Bild ist der Individualtod »real-ontologisch [das] Zurücktauchen der Lebenswelle (Funktions­

92 Hans Driesch, Geschichte des Vitalismus, Paderborn 1922. 93 James Lovelock, Gaia: The Living Earth, in: Nature 426 (6968) 2003, S. 769f. 94 Scheler, Probleme der Religion (wie Anm. 22), S. 234. 95 Ebd., S. 235.



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einheit) in das Lebensmeer des Allebens«.96 Auf diese Weise kann der Individualtod zur Hinaufpflanzung des Alllebens beitragen, dessen »Ernte« er ist. Um diesen Gedanken zu vertiefen, muss die naturphilosophische Bestimmung der Todes- und Absterbeordnung anthropologisch ausgewertet werden. Diese ist nämlich die Voraussetzung von Schelers Rede vom Menschen als »fixierteste Tierart«97, das heißt seiner Konterkarrikatur von Nietzsches Diktum vom Menschen »als das noch nicht festgestellte Tier«98. Gemäß Schelers Gesetz der Absterbeordnung wird der Mensch als entwicklungsgeschichtlich differenzierteste, »späteste« Art am frühesten vom Artentod heimgesucht werden.99 Doch es gibt einen möglichen Ausweg aus seinem Vitalschicksal: »Es ist der Weg der Vergeistigung des Lebens, das heißt die Zuwendung seiner Kraftfaktoren an die an sich kräftelosen ›Akte‹ des Geistes«.100 In seiner Anthropologie fasst Scheler die Indienstnahme der Kräfte des Lebensdranges durch seine Bestimmung des Menschen als »Neinsagenkönner« bzw. als »Asket des Lebens«.101 Indem der Geist dem Lebensdrang Bilder vorhält, lenkt er diesen und kann so schlussendlich die menschliche »Triebenergie zu geistiger Tätigkeit ›sublimieren‹«.102 Ebbt eine so vergeistigte Lebenswelle zurück in das Alllebensmeer, reichert es dieses ebenfalls mit Geist an. Spätestens an diesem Punkt übersteigt die anthropologische Einordnung des Verhältnisses von Individual- und Allleben den Rahmen der naturphilosophischen Thanatologie. Zur weiteren Erforschung des Zusammenhangs ist ein Perspektivenwechsel zu Schelers Lehre von den Werten erforderlich.

 96 Max Scheler, Zur Metaphysik des Menschen, in: Schriften aus dem Nachlass, Bd. III, Philosophische Anthropologie, hg. von Manfred S. Frings, Bonn 1987, S. 230.  97 Scheler, Probleme der Religion (wie Anm. 22), S. 200; siehe auch ders., Tod und Fortleben (wie Anm. 13), S. 48; ders., Philosophische Weltanschauung, in: Späte Schriften. Gesammelte Werke IX, hg. von Manfred S. Frings, Bonn 1979, S. 94.  98 Siehe Norbert Bolz, Das Böse jenseits von Gut und Böse, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 38 (11) 1990, S. 1009–1018.  99 Die Frage, in welchem Sinn der Mensch die differenzierteste und späteste Organismusstruktur aufweist, sei vorerst ausgeklammert, da ihre Beantwortung einen zu umfangreichen Exkurs voraussetzen würde. Die kurze Antwort lautet, dass der Differenzierungsgrad hier nicht evolutionistisch aufgefasst werden muss, sondern im Lichte von Schelers Mikrokosmosthese (bzw. Plessners exzentrischer Positionalitätsform, die in Schelers von Schelling beeinflusster Naturphilosophie angelegt ist). Siehe hierzu Guido Cusinato, Biosemiotica e psicopatologia dell’ordo amoris. In dialogo con Max Scheler, Mailand 2018. 100 Scheler, Probleme der Religion (wie Anm. 22), S. 234. 101 Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, in: Späte Schriften. Gesammelte Werke IX, hg. von Manfred S. Frings, Bonn 1979, S. 44. 102 Ebd., S. 45.

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4. Axiologische Thanatologie: Ein Kampf zwischen kosmischem Werteverfall und lebenssteigernder Fortpflanzung

Wie gelangt der Mensch zu einem Bewusstsein davon, dass sein Leben dem Allleben als Teilprozess eingeordnet ist? Um diese Frage zu beantworten, ist es aufschlussreich, sie in einen weiter gefassten, axiologischen Zusammenhang einzubetten. Der Auffas­ sung, dass das universale Leben nur »eine Episode im Weltprozeß«103 ist, liegt bei Scheler der gnostische Gedanke von einem »Kampfe zwischen Lebendigen und Totem« zugrunde, in dem »mit Absehung von Geist und Gott – nicht das Leben, sondern auf alle Fälle der Tod« den Sieg davontragen wird – das Aussterben aller Arten, der Universaltod.104 Nach einer Scheler wohlvertrauten schichtenontologischen Gesetzmäßigkeit sind die relativ niedrigeren Schichten die stärkeren und so wird das Organische dem Anorganischen unterliegen.105 In Hinsicht auf die hierdurch bewirkten Veränderungen der Wertsphäre artikuliert sich dieser Kampf als das, was wir axiolo­ gische Entropie nennen möchten. »Eine unaufhaltsame Bewegung vom Werthöheren zum Wertniedrigeren beherrscht als Tendenz diese gefallene Welt«:106 »Das Tote stürzt ins Nichts; das tote Arbeitsfähige ins Arbeitslose; das Leben in das Tote; der Geist stürzt in die Strudel des Lebens – überwältigt von Trieb und Leidenschaft.«107 Dieser axiologischen Verfallsbewegung vom Werthöheren zum Wertniedrigeren setzt Scheler den Weg der Vergeistigung des Lebens entgegen. In dieser Hinsicht kann die axiologische Bedeutung des Todes erhellt werden, der als absolutes Vergehen der Lebewesen (im Unterschied zum relativen Vergehen bzw. der Erhaltungsgesetze des Anorganischen) »zeigt, daß Dauerhaftigkeit und Werthöhe umgekehrt proportional in der Welt verteilt sind«.108 Was durch die Vergeistigung des Lebens überwunden werden soll, ist, dass in der gnostischen Betrachtung »Geist und Leben […] nicht als zwei aufeinander angewiesene Seinsprinzipien«, sondern »als zwei schlechthin antagonistische, ja feindselige Mächte« erscheinen.109 Diese Auffassung 103 Scheler, Probleme der Religion (wie Anm. 22), S. 235. 104 Ebd., S. 234. Eine zeitgenössischere Erklärung für diese Annahme könnte sich auf den physikalischen Begriff der Entropie berufen, die gemeinhin als ein Maß für die nötige Information aufgefasst wird, um von einem beobachtbaren Makrozustand eines Systems auf den tatsächlichen Mikrozustand zu schließen – oder kurz: ein Maß für die Unkenntnis der Zustände aller Einzelteile des Systems. Gemäß dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik bleibt die Gesamtentropie im Universum (aufgefasst als geschlossenes System) entweder gleich oder nimmt zu. Da Lebewesen eine niedrigentropische Organisationsform sind, ist ihr Fortbestand auf lange Sicht unwahrscheinlich. 105 Siehe Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, Berlin 1940. 106 Scheler, Probleme der Religion (wie Anm. 22), S. 235. 107 Ebd. 108 Ebd. 109 Scheler, Philosophische Weltanschauung (wie Anm. 97), S. 137.



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hat darüber hinaus Implikationen für die Bedeutung der Gesetzmäßigkeit der Todesund Absterbeordnung für das menschliche Leben. Aus der gnostischen Perspektive auf das Allleben erscheint die geistige Indienstnahme des Lebens in der Menschheitsgeschichte wie ein »fortschreitende[r] Zerstörungsprozeß«.110 Vom Gesichtspunkt der Absterbeordnung der Arten erscheint die Menschheitsgeschichte wiederum als der »notwendige Absterbeprozeß einer von vornherein todwunden Art […]; einer Art, die schon in ihrem Ursprung – wenigstens in ihrer Form als homo sapiens des ausgesprochen abendländischen Menschen – ein faux pas des Lebens gewesen ist«.111 Hiermit ist der Punkt erreicht, an dem die Frage danach, wie der Mensch zu seinem Zugehörigkeitsbewusstsein zum Allleben gelangt, weiter vertieft werden kann, indem sie ex negativo von ihren Verfallserscheinungen her betrachtet wird. Scheler bringt den Absterbeprozess des Menschengeschlechts mit einem bestimmten »Menschentypus« in Zusammenhang, der hier als Homo sapiens des abendländischen Menschen angesprochen wird. Das Todesbewusstsein dieses Menschentypus ist durch eine charakteristische Verdrängungsform verstellt, die Scheler als »metaphysisch[e] Verzweiflung«112 »des ›modernen westeuropäischen Menschen‹«113 bezeichnet. Die metaphysische Verzweiflung rührt von der besonderen Erfahrungsweise dieses Menschentypus her und drückt sich am deutlichsten in der »negative[n] Bewußtseinsillusion« vom »Nichtdasein des Todes« aus.114 Der Tod ist »nicht eigentlich an­ schaulich für ihn da: Er lebt nicht ›angesichts‹ des Todes«.115 Seine Erlebnisstruktur zeichnet sich vor allen Dingen durch seinen bis ins Grenzenlose gesteigerten »Arbeitsund Erwerbstrieb«116 aus, der schließlich dazu führt, dass die vitalen und die geistigen Werte in seinem Erleben durch die Nutzenwerte verdeckt werden. Deshalb ist Frings beizupflichten, wenn er bemerkt, dass sich »[d]ie Wertabnahme hier insbesondere durch den sog. ›Fortschritt‹ der Hervorbringung angenehmer und nützlicher Dinge [zeigt]«.117 Der mit dem verabsolutierten Arbeits- und Erwerbstrieb einhergehende Fortschrittswille (Fortschritt um des Fortschritts selber willen) führt zu einem hypertrophen Wachstum der Güter der Sphäre der Nutzenwerte und ist dadurch Ausdruck des Zusammenhangs, dass »[d]as Wertwachstum der niedrigeren Wertgebiete durch die Wertabnahme in den höheren Wertgebieten [kompensiert wird]«.118 110 Ebd. 111 Ebd., S. 137f. 112 Scheler, Tod und Fortleben (wie Anm. 13), S. 30. 113 Ebd., S. 28. 114 Ebd., S. 30. 115 Ebd. 116 Ebd. 117 Frings, Person und Dasein (wie Anm. 14), S. 22. 118 Scheler, Probleme der Religion (wie Anm. 22), S. 239.

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Der Mensch vermag die Güter »um so willkürlicher und planvoller hervor[zu-] bringen, je niedriger die Wertmodalität ist, zu der sie gehören«.119 Demgegenüber ist er auf die »Gnade« angewiesen, »daß sie ihm ohne seine Tätigkeit geschenkt werden […], je höher die Wertmodalität ist, zu der die Güter gehören«.120 Am deutlichsten werden diese Zusammenhänge anhand des Verhältnisses von nützlichen und geistigen Gütern, hier entspricht nämlich dem Wachstum der berechen- und multi­plizierbaren Güter der Nutzenwertsphäre die Abnahme der geistigen Güter, die keinen Fortschritt kennen. Die Formel des unbegrenzten Fortschritts trifft Scheler zufolge nur auf den »Apparat [zu], angenehme und nützliche Dinge hervorzubingen«.121 Diesen Apparat bezeichnet er auch als internationalen Zivilisationskosmos der menschlichen Gesellschaft. Wie sieht nun die Erlebnisstruktur dieses von Scheler vorgestellten abendländischen Menschentypus aus? Grundsätzlich ist sie durch eine Umdeutung höherer Funktionen und Anschauungsformen im Sinne der Nutzenwerte gekennzeichnet:122 »›Denken‹ wird dem Durchschnittstyp zum ›Rechnen‹«,123 und dementsprechend fokussiert er einseitig das Leistungs- und Herrschaftswissen, das heißt die niedrigste Art des Wissens.124 Des Weiteren wird ihm sein Leib »ein Körper unter anderen, Teil des universalen Mechanismus der Körperwelt«, und dementsprechend wird das Leben auf eine hochkomplexe Interaktion in der Körperwelt reduziert.125 Auch seine 119 Ebd., S. 237. 120 Ebd. 121 Ebd. 122 Die Beschreibung dieses Menschentypus hat Scheler an verschiedenen Stellen beschäftigt. Jenseits der Beschreibungen in »Probleme der Religion« und »Tod und Fortleben« besteht eine augenscheinliche Konvergenz mit der dem »Genius des Krieges« angehängten »Kategorientafel des englischen Denkens« (siehe Max Scheler, Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg, in: Politisch-Pädagogische Schriften. Gesammelte Werke IV, hg. von Manfred S.  Frings, Bern, München 1982, S. 249f.). Diese Beobachtung wird des Weiteren durch eine Passage in »Tod und Fortleben« bekräftigt, welche die Logik der Verdrängung des Todes betrifft: »Das Nichtdasein des Todes aber – das ist hier wirklich eine Art negativer Bewußtseinsillusion des modernen Menschentyps. Selbst gefürchtet ist der Tod nicht mehr: denn seine Idee ist weggefürchtet, ist von derselben Lebensangst verscheucht, welche zur Rechenhaftigkeit der Lebensführung führte. Der Tod ist dem neuen Typus weder der fackelsenkende Jüngling, noch Parze, noch Gerippe. Er allein fand kein Symbol für ihn: denn er ist für das Erleben nicht da. Dieser neue Mensch benimmt sich wirklich, wie es jenem ein wenig kindischen Syllogismus der formalen Logikbücher in Millscher Interpretation entspricht: Herr N. wird sterben, weil der Herzog von Wellington und noch einige starben, was wir uns in der Form ›alle Menschen sind sterblich‹ ›notiert‹ haben! Nicht eine Wesenswahrheit, die für den Menschen nur darum gilt, weil sie zum Wesen ›Leben‹ gehört, sondern eine ›Induktion‹ soll der Tod sein« (Scheler, Tod und Fortleben [wie Anm. 13], S. 30). 123 Scheler, Tod und Fortleben (wie Anm. 13), S. 29. 124 Scheler, Philosophische Weltanschauung (wie Anm. 97); siehe Frings, Person und Dasein (wie Anm. 14), S. 23. 125 Scheler, Tod und Fortleben (wie Anm. 13), S. 29.



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Beziehung zur Fortpflanzung verändert sich entsprechend des ökonomischen Kalküls: »Dieser Typ erzeugt Kinder im Maße, als er arm, das heißt für ihn: ›verzweifelt‹ ist.«126 Die Ökonomisierung der Fortpflanzung verweist für Scheler bereits auf eine entsprechende Ökonomisierung des Todesbewusstseins: »Er ›rechnet‹ mit dem Tode wie mit Feuers- und Wassersgefahr – als ginge es ihn so wenig an wie Feuer und Wasser«.127 Die Verdrängung des Todesbewusstseins bezieht sich hierbei auf die intuitive Gegebenheit des natürlichen Todes als Lebensphänomen und artikuliert sich durch die einseitige Fokussierung auf den katastrophalen Tod, der von außen kommt. Diese einseitige Fokussierung rührt von einem »Lebensgefühl« her, in dem die Welt »nicht mehr die warme, organische ›Heimat‹« ist, sondern »ein kalter Gegenstand der Berechnung und des Angriffs der Arbeit [wird]«.128 Kontemplation über und Liebe zur Welt wird überschattet durch eine unbewältigte Angst: »Angst gebiert die Rechenhaftigkeit der Lebensführung und ist das emotionale Apriori des stolzen ›cogito ergo sum‹.«129 Das emotionale Apriori der Angst liegt der »beispiel­lose[n] ›Geschäftigkeit‹« dieses Menschentypus zugrunde, welche letztlich »als Folge eines tiefen Bewußtseins der Seinsunwürdigkeit und der metaphysischen Verzweiflung dieses Menschentyps« aufgefasst werden muss.130 Die Verdrängungsform der metaphysischen Verzweiflung, die Scheler hier markiert, wird weiterhin unterschieden von der des metaphysischen Leichtsinns. Dieser besteht in einer »unheimliche[n] Ruhe und ›Fröhlichkeit‹ angesichts der Schwere und Evidenz des Todesgedankens. Ein Wesen, das in jedem Augenblick seines Daseins seine tieferlebte Todesevidenz auch vor Augen hätte  – es würde ganz anders leben und handeln als der normale Mensch«.131 Anders als die metaphysische Verzweiflung ist der metaphysische Leichtsinn keine kulturelle Verfallsform übersteigerter Todesangst, sondern »von hoher vitaler Zweckmäßigkeit«:132 Nur durch die Zurückdrängung der Todesidee aus der Zone des klaren Beachtungsbewußtseins wächst den einzelnen Nützlichkeitsaktionen des Menschen jener »Ernst«und jene Gewichtigkeit und Bedeutsamkeit zu, die ihnen fehlten, wenn der Todesgedanke uns immer klar und deutlich im Bewußtsein gegenwärtig wäre.133

126 Ebd. 127 Ebd., S. 31. 128 Ebd., S. 29. 129 Ebd., S. 30. 130 Ebd. 131 Ebd., S. 28. 132 Ebd., S. 27. 133 Ebd.

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Die Einsicht in die Funktionalität des metaphysischen Leichtsinns, der durch die Fokussierung auf die jeweils nahe Zukunft die Lebensfähigkeit des Menschen sicher­stellt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich trotz aller »Ruhe« und »Heiterkeit« bei dem »Sicherheitsgefühl« um »eine der allersonderbarsten und die äußerste Verwunderung herausfordernden Erscheinungen« handelt.134 Die Unbekümmertheit angesichts der Todesgewissheit schließt nämlich keineswegs ein Höchstmaß an Todesfurcht angesichts einer lebensbedrohlichen Lage aus. Die Quintessenz des metaphysischen Leichtsinns besteht Scheler zufolge darin, »daß der Lebenstrieb die Todesidee in uns verhüllt«.135 Zur Veranschaulichung beruft er sich an verschiedenen Stellen auf das alte Sprichwort: Ich leb und weis nicht, wie lange, ich sterbe und weis nicht, wanne, ich fahr und weis doch nicht, wohin, Mich wundert, das ich fröhlich bin.136

Die Fröhlichkeit und das Sicherheitsgefühl im metaphysischen Leichtsinn reduzieren die gefühlsmäßige »Wucht« des Todesbewusstseins auf ein erträgliches Maß. Die Fröhlichkeit als emotionales Apriori unterscheidet folglich den metaphysischen Leichtsinn vom Apriori der Angst in der metaphysischen Verzweiflung, die in ihrer idealtypischen Darstellung das Todesbewusstsein nicht nur abschwächt, sondern vollständig ausblendet.137 Auch wenn der metaphysische Leichtsinn durch seine vitale Zweckmäßigkeit positiv besetzt ist, gilt es zu beachten, dass er dennoch eine Form der Verdrängung des Todes darstellt. Zusammen mit den Fehlern, den »Tod nur da gelten zu lassen, wo ein ›Leichnam‹ angebbar ist«, »den Tod selbst mit dem Individualtod [zu verwechseln]« und »den Tod als bloße Grenze dieses [individuellen] Alters [aufzufassen]«, bilden die metaphysische Verzweiflung und der metaphysische Leichtsinn den Grundstock einer bei Scheler angelegten thanatologischen

134 Ebd., 27f. 135 Scheler, Altern und Tod (wie Anm. 1), S. 254. 136 Zitiert nach Martin Luther, Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (1483–1546), hg. von Joachim Karl Friedrich Knaake, Bd. 34, Weimar 1908, S. 274. Von Luther stammt die berühmte Umkehrung des gemeinen Sprichwortes für Christen: »Ich lebe und weis, wie lange / Ich sterbe und weis, wanne, / Ich fahr und weis, Gott lob, wohin, / Mich wundert, das ich traurig bin«, Luther, Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (1483–1546), S. 275. 137 Für eine Darstellung des Begriffs des emotionalen Apriori siehe Cusinato, Die Historisierung des Apriori (wie Anm. 32).



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Fehlertheorie, das heißt dessen, was wir in Anlehnung an seine Schrift zur Selbsterkenntnis die Idole der Todeserkenntnis nennen möchten.138 Auch hier kommt Frings das Verdienst zu, eine Parallele zwischen Scheler und Heidegger erkannt zu haben: »Der ›metaphysische Leichtsinn‹ und das ›uneigentliche Sein zum Tode‹ sind dem Sinne nach zwei völlig gleiche Elemente in der ›natürlichen Weltanschauung‹ Schelers und der ›Alltäglichkeit‹ Heideggers.«139 Diese These kann nun allerdings vor dem Hintergrund der Idole der Todeserkenntnis weiter qualifiziert werden. Der metaphysische Leichtsinn bildet nämlich vor allen Dingen die »natürliche« Seite der Verdrängung der Todesgewissheit ab, wohingegen die metaphysische Verzweiflung die »kulturelle« Seite betrifft. Folglich wird es fraglich, ob Frings den Vergleich zwischen metaphysischem Leichtsinn und uneigentlichem Sein zum Tode optimal ansetzt. Unser Vorschlag besteht daher darin, die Strukturanalogie, die zwischen der Beruhigung über den Tod, die das Besorgen »des Man« bei Heid­ egger bewirkt, und dem fröhlichen Gleichmut angesichts des Sterben-Müssens, der dem Menschen bei Scheler von Natur aus eigen ist, durch die »kulturelle« Verfallsform der selbstverschuldeten Verschüttung des Todesbewusstseins durch übersteigertes Leistungs- und Erwerbsstreben zu ergänzen. In der bisherigen Behandlung stand die negative Leistung der Analyserichtung der axiologischen Thanatologie im Vordergrund, die es ermöglicht, die Idole als Fehlerquellen zu identifizieren und die durch sie nahegelegten Verzerrungen des Todesbewusstseins zu vermeiden. Um darüber hinaus den positiven Ertrag der axiologischen Thanatologie sichtbar zu machen, ist es hilfreich, den Wertgehalt des Todes zu bestimmen. Hierfür enthalten Schelers Schriften zwar nur spärliche Hinweise, doch im Formalismus findet sich ein Anhaltspunkt: »Die Grenze des Lebenswertes nach unten oder der ›Tod‹ hebt wesensgesetzlich auch den Wert des Angenehmen auf (resp. der ganzen Wertsphäre des ›Angenehmen‹ und ›Unangenehmen‹).«140 Ausgehend von dieser Passage legt Frings eine axiologische Analyse der beiden in ihr enthaltenen Konzepte vor: die Auffassung des Todes als der unteren Grenze einer Wertsphäre und die des Todes als der Auflösung der Gegensatzmodalitäten der Wertreihen. Den Indi­ vidualtod betreffend versteht Frings die unterste Grenze in der Sphäre der sinnlichen Werte als »grösstmögliche[n] Schmerz des Leibes […], bei dem der Unwert des sinnlichen Zustandsgefühl (Schmerz) maximal ist«.141 Die maximale Unwerterfahrung des größtmöglichen Schmerzes ist nach Frings im Todeskrampf gegeben, bei dem der 138 Scheler, Tod und Fortleben (wie Anm. 13), S. 35. 139 Frings, Person und Dasein (wie Anm. 14), S. 20. 140 Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, Bern, München 1966, S. 112. 141 Frings, Person und Dasein (wie Anm. 14), S. 21f.

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Schmerz den ganzen Leib erfüllt und zerstört. In dieser Grenzerfahrung des Maximums des »Unwert[s] ›Unangenehm‹ als des tiefsten Wertes der Wertränge«142 löst sich mit der Extensivität des Leibes zugleich die Modalität »Angenehm–Unangehm« auf. Bezüglich des Alltods stellt Frings eine Analogie zwischen der sinnlichen und der vitalen Wertsphäre auf: »[S]o folgt hieraus schon syllogistisch, dass das letzte Vital­ geschehen überhaupt, nämlich der Tod des universellen Lebens als Ganzes, das der Träger der Lebenswerte ist, mit dem Unwert ›Schlecht‹ zusammenfällt«.143 Die Angabe eines Pendants zum Todeskrampf als der Erfahrung des maximalen Unwerts »unangenehm« auf der Ebene des Individualtodes für die Ebene des Alltodes bleibt Frings allerdings schuldig. Im Lichte der entwickelten Thesen zur axiologischen Entropie liegt die Annahme nahe, dass diese Systemstelle durch den »internationalen Zivilisationskosmos der menschlichen Gesellschaft« besetzt werden kann. Die axiologische Bestimmung des Alltodes als die Erfahrung des maximalen Unwertes »schlecht« der vitalen Wertsphäre enthält allerdings eine Schwierigkeit. Insoweit der Alltod als das irreversible und absolute Vergehen des organismenartigen Werdeseins »Weltprozess« aufgefasst worden ist, kann dieser wesensnotwendig nur einmal eintreten.144 Da dies offensichtlich noch nicht der Fall war, muss das Alltodes­bewusstsein aus der Lebensstruktur des Alllebens gewonnen werden (analog zur Gegebenheit des individuellen Todesbewusstseins im Altern). In Analogie zur Auffassung des Alterns als der Abnahme von künftigen Potentialen bei gleichzeitiger Zunahme von vergangenen Verwirklichungen im individuellen Leben kann der Alternsprozess des Alllebens axiologisch in der Abnahme des Höher-Wertigen bei gleichzeitiger Zunahme des Niedriger-Wertigen ausgemacht werden. Die These besteht weiter darin, dass der stete Fortschritt des »internationalen Zivilisationskosmos« (mitsamt seines spezifischen Menschentypus) für Scheler eine Episode im Allleben darstellt, die als eine tödliche Krankheit des Alllebens verstanden werden kann. In der Verfallsbewegung vom Werthöheren zum Wertniedrigeren, die durch den Fortschritt des Zivilisationskosmos angetrieben wird, kündigt sich die Grenzerfahrung des im Lebensgefühl gegebenen Maximums des Unwerts »schlecht« an.145 142 Ebd., S. 22. 143 Ebd. 144 Die Komplikationen, die sich durch eine zyklische Auffassung des kosmischen Geschehens ergeben würden, klammern wir zum Zwecke der Entwicklung unserer These vorerst aus. 145 Es ist wichtig zu sehen, dass die Extrapolation vom Artensterben auf das Allleben kein gangbarer Weg zur axiologischen Bestimmung des Alltodes ist, da dieses Verfahren lediglich die Ebene des Universaltodes betreffen würde. Des Weiteren würde eine derartige Extrapolation kein intuitives, sondern ein inferenzielles Todesbewusstsein konstituieren.



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Die Frage nach der axiologischen Bestimmung des Alltodes führt uns – ein letztes Mal – zu der Frage zurück, wie der Mensch ein Bewusstsein davon erwirbt, dass sein Leben dem Allleben eingeordnet ist. Der Nachweis für ein solches Zugehörigkeitsbewusstsein zum Allleben betrifft nicht nur die erforderliche, phänomenologische Absicherung der axiologischen Bestimmung des Alltodes, sondern auch der axiologischen Thanatologie überhaupt. Im Wesentlichen lautet die Antwort auf unsere Frage, dass dieses Zugehörigkeitsbewusstsein in der Unipathie, das heißt der Einsfühlung erfahren wird. Erwägen wir hierzu eine oben bereits teilweise angeführte Stelle nun in voller Länge: Da der »Tod« real-ontologisch Zurücktauchen der Lebenswelle (Funktionseinheit) in das Lebensmeer des Alllebens ist, ist notwendig die sympathetisch-ekstatische Einswerdung mit dem Alleben eine Anticipatio, eine intuitive Vorausnahme des Todes und seines Sinnes als Erntefestes des ›wachsenden‹ Allebens. Ein ›Er-sterben‹ (nicht Ab-sterben oder Ver-sterben)!146

Die Einsfühlung ist die basalste Sympathieform, die Scheler kennt und seit der zweiten Auflage der »Sympathieschrift« den anderen Sympathieformen zugrunde legt.147 Sie tritt entweder als emotionale Verschmelzung zweier Vitaliche auf oder als unio mystica zwischen Vitalich und Allleben – die sogenannte kosmisch vitale Einsfühlung. Der letztere Fall ist der für unsere Untersuchung maßgebende, bleibt aber »mittelbar gebunden [an] die Einsfühlung von Mensch und Mensch«, das heißt die emotionale Verschmelzung der Vitaliche. Es handelt sich bei der kosmisch vitalen Einsfühlung demzufolge um eine Fähigkeit, die erst ausgebildet werden muss. Die Pforte zur Einsfühlung in das kosmische Leben ist das kosmische Leben da, wo es dem Menschen eben am nächsten und verwandtesten ist: im anderen Menschen. Wer den dionysischen Rausch des Einsgefühles von Mensch und Mensch nie kennenlernte – gleichgültig wie immer –, dem wird auch die vital-dynamisch Seite der Natur […] auf immer verschlossen bleiben.148

Hinzu kommt bei Scheler die Voraussetzung einer »›organologische[n] Weltansicht‹«, das heißt einer Auffassung, der zufolge das Weltganze »als ein Allorganismus gegeben ist, den ›ein‹ Leben durchrinnt«.149 Die kosmisch vitale Einsfühlung 146 147 148 149

Scheler, Zur Metaphysik des Menschen (wie Anm. 96), S. 230. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (wie Anm. 37). Ebd., S. 116. Ebd., S. 92.

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ermöglicht es sodann, die Einzelerscheinungen der Natur als »universelles Ausdrucksfeld dieses einen Weltorganismus«150 aufzufassen, in dem sich einzelnen Phänomene der Natur zum Allleben verhalten »wie etwa das Gesichtsganze des Menschen zu seinen einzelnen Ausdrucksäußerungen«151. Die Naturerfahrung wird so zur Ausdruckwahrnehmung, in der das Vitalich »unmittelbar (und nicht etwa durch einen Schluß) in das lebendige Zentrum der Dinge hinein[springt]«.152 So stellt die kosmisch vitale Einsfühlung einen emotionalen Verkehr mit den Dingen her, deren »anschauliche Attribute (Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcke usw.)«, aber auch deren »Form« und »Gestalt« lediglich »als die periphere Erscheinung und Grenze dieses seines so beschaffenen inneren Lebens« erscheinen.153 Die Phänomene, anhand derer Scheler die kosmisch vitale Einsfühlung veranschaulicht, wurden im Verlauf unserer Untersuchung bereits angesprochen. Besonders deutlich wird es im »dionyischen Rausch« der auf Fortpflanzung gerichteten Geschlechtsliebe. Von der Warte der »je originale[n] Produktion des Allebens« erscheint die »zweigeschlechtliche Zeugung nur [als] eine Technik der Natur«, die sich selbst jenseits des Wollens des Menschen selbst hervorbringt.154 Die Einsfühlung in der Geschlechtsliebe findet dabei nicht nur zwischen den beiden Liebenden statt, sondern zwischen jeweils beiden und dem einen Allleben: »Es ist die geheimnisvolle Fühlungnahme beider Sicheinsfühlenden mit dem Allleben selbst, das ontisch zu produzieren tendiert.«155 Diese in der Geschlechtsliebe statthabende kosmisch vitale Einsfühlung ist für Scheler die phänomenologische Grundlage für das Bewusstsein einer »lebenssteigernden Fortpflanzung« bzw. der »Hinaufpflanzung«: »Denn Geschlechtsliebe ist nichts anderes als emotionale Wertauffassung in Form einer Antizipation der günstigsten Chancen für die qualitative Erhöhung des Menschentums.«156 Dies bedeutet zugleich, dass sich in dieser Fühlungnahme das Entstehen eines neuen Lebens kundtut, welches dem Alllebensstrom »entrinnt«. »Immer bleibt das Kind ein Geschenk der großen Naturmacht des Eros selbst und seines erhaben-heiteren dämonischen Spiels.«157 Diese Betrachtung der liebevoll-einsfühlenden Hinaufpflanzung des Kindes als Geschenk steht in Schelers Verständnis im schroffen Gegensatz zu der ökonomisch-­ ängstlichen Auffassung des Kindes als Lebensversicherung, die beim »westeuropä150 Ebd. 151 Ebd., S. 100. 152 Ebd., S. 92. 153 Ebd. 154 Ebd., S. 120. 155 Ebd. 156 Ebd., S. 121. 157 Ebd., S. 120.



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ischen Menschentypus« des »internationalen Zivilisationskosmos« vorherrscht. Dass seine Lehre von der kosmisch vitalen Einsfühlung in der Tat mit der Vorstellung eines neuen Menschentypus verknüpft ist, wird daran deutlich, dass er eine Selbst- und See­lentechnik zur Ausbildung der Einsfühlungsfähigkeit andenkt – die sogenannte dionyische Reduktion.158 Durch das »Ausschalten des Geistes, Intellektes und der Wahrnehmung als Erstgegebenes«159 stellt die dionysische Reduktion die Bedingungen her, unter denen die kosmisch vitale Einsfühlung allein möglich ist, nämlich indem die sub- und transvitalen Seinssphären eingeklammert werden: »Erst die Außerkurssetzung der in diesen beiden Sphären [die noetische Geistes- und Vernunftsphäre einerseits und die leibkörperliche Empfindungs- und sinnliche Gefühlssphäre andererseits] tätigen ›Funktionen‹ und ›Akte‹ im Maße ihres Gelingens  – macht den Menschen zur Einsfühlung geneigt und fähig.«160 Ziel der dionyischen Reduktion ist es, dem Menschen dazu zu verhelfen, sich über seinen Leibkörper »›heroisch‹ [zu] erheben« und »zugleich seine geistige Individualität ›vergessen‹ oder doch gleichsam ohne ›Achtung‹ [zu] lassen«.161 Erst wenn die sinnliche Leibgebundenheit und die geistige Individualität ausgeschaltet sind, kann der Mensch »sein triebhaftes ›Leben‹ dahinströmen lassen, um zu den Einsfühlungen zu kommen«.162 Den höchsten Verwirklichungsgrad der kosmisch vitalen Einsfühlungsfähigkeit sieht Scheler historisch in der Gestalt des Franziskus von Assisi verwirklicht, der als »Wertpersontyp des Heiligen«163 als das wichtigste Vorbild des von Scheler vorgestellten Menschentypus gilt. Die Leistung von Franziskus geht jedoch über die kosmisch vitale Einsfühlung hinaus. Der Heilige verbindet diese nämlich mit dem moralischen Aufschwung, der darin besteht, die vital-seelische Sphäre zugunsten der geistig-personalen zu transzendieren (was Schelers Deutung der »phänomenologischen Reduktion« in seiner Spätphase entspricht)164. Dies artikuliert sich als Verbindung von akosmistischer Gottesliebe und kosmisch vitaler Einsfühlung: 158 Siehe Avé-Lallemant, Die phänomenologische Reduktion in der Philosophie Max Schelers; ders., Schelers Phänomenbegriff und die Idee der phänomenologischen Erfahrung (wie Anm. 17); Guido Cusinato, Methode oder Techne? Ethik und Realität in der ›phänomenologischen Reduktion‹ Max Schelers, in: Denken des Ursprungs – Ursprung des Denkens, hg. von Christian Bermes, Wolfhart Henckmann und Heinz Leonardy, Würzburg 1998, S.  83–97; ders., Katharsis. La morte dell’ego e il divino come apertura al mondo nella prospettiva di Max Scheler, Neapel 1999. 159 Max Scheler, Zusätze, in: Schriften aus dem Nachlass, Bd. II, Erkenntnislehre und Metaphysik, hg. von Manfred S. Frings, Bern, München 1979, S. 251. 160 Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (wie Anm. 37), S. 46. 161 Ebd. 162 Ebd. 163 Siehe Frings, Person und Dasein (wie Anm. 14), § 15ff. 164 Scheler, Philosophische Weltanschauung (wie Anm. 97), S. 281f.; siehe Cusinato, Methode oder

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Es war aber das Werk eines der größten Seelen- und Geistesbildner der europäischen Menschengeschichte, den denkwürdigen Versuch zu machen, die akosmistische personale […] Liebesmystik des Allerbarmens […] mit dem kosmovitalen Einsgefühl mit dem Sein und Leben der Natur zur Einheit und zur Synthese in einen Lebensprozeß zu bringen. Dies war die sehr seltene Tat des Heiligen von Assisi.165

Indem für Franziskus »Sonne und Mond, Wasser und Feuer« gleich wie die Tiere zu Brüdern und Schwestern werden, entdeckt er die Solidarität des Alllebens mit sich selbst. Hierin liegt zugleich der ethische Gehalt der kosmisch vitalen Einsfühlung für die axiologische Thanatologie begründet. Mit der Technik der dionysischen Reduktion befreit sich der neue Menschentypus Scheler gemäß von der Verdrängung der Todesgewissheit, die sowohl in der natürlichen Form des metaphysischen Leichtsinns wie auch in der Verfallsform der metaphysischen Verzweiflung die sinnstiftende Beziehung zum Tod verhindern. An ihre Stelle tritt eine transformierte und gesteigerte Form des Todesbewusstseins, die metaphysische Solidarität: »Der ›Kampf‹, struggle of life, ist nur Außenseite, ist nur in den Grenzbezirken der Arten möglich. In der Tiefe seines Wesens und Ursprungs ist das Leben solidarisch durch und durch!«166 Die axiologische Bestimmung des Zugehörigkeitsbewusstseins des individuellen Lebens zum Allleben nimmt dem Tod somit seinen Stachel. Die in Altern und Sterben gemachte Erfahrung, vom fortwährend anschwellenden Umfang des Vergangenseins erdrückt zu werden, weicht in der kosmisch vitalen Einsfühlung einem »widerstandslosen« Einströmen in das Alllebensmeer. Das Todesbewusstsein der metaphysischen Solidarität erkennt im Individualtod nämlich lediglich einen Teilprozess im Weltprozess, welcher das Allleben ist: Wer vom Tode nicht nur »weiß« aus Büchern, oder vom Hörensagen, auch nicht nur mit ihm ›rechnet‹, wie die Lebensversicherungen, sondern ihn vor sich sieht, der sieht ›sich‹ – d. h. seine geistige Person, sein wahres Selbst – zu gleicher Zeit über den Tod als Lebensgrenze hinausschwingen und hinausleben.167

Das Wissen, welches der von Scheler vorgestellte neue Menschentypus vom Tod hat, wandelt sich gegenüber dem des Menschentypus im internationalen Zivilisationskosmos vom Leistungs- und Herrschaftswissen zum Heils- und Erlösungswissen, das Techne? Ethik und Realität in der ›phänomenologischen Reduktion‹ Max Schelers. (wie Anm. 158) 165 Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (wie Anm. 37), S. 97. 166 Scheler, Altern und Tod (wie Anm. 1), S. 303. 167 Scheler, Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg, S. 83.



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heißt von den niedrigsten zu den höchsten Formen des Wissens.168 In diesem Sinne ist Matthias Schloßberger beizupflichten, wenn er schreibt, dass [d]ie Einsfühlung mit der Natur Scheler zufolge eine fundamentale Rolle für die kognitive Entwicklung in einem weiten Sinne des Begriffs [spielt], d. h. in entwicklungspsychologischer wie in erkenntnistheoretischer Perspektive, für die moralische Entwicklung und für die Entwicklung der Möglichkeit, ein gutes und glückliches Leben zu führen.169

Doch die Bedeutsamkeit der Einsfühlung für die kognitive Entwicklung geht über den von Schloßberger veranschlagten Bereich der Wiederentdeckung der Naturliebe hinaus, da sie zugleich die Bedingung dafür betrifft, dass der Mensch sein Sterben-Müssen als ethische Herausforderung begreifen lernt. Der Ertrag der kosmisch vitalen Einsfühlung für die axiologische Thanatologie hängt folglich mit der alten, sokratischen Auffassung der Philosophie als Sterben-Lernen zusammen.170 Die Botschaft des heiligen Franziskus lautet demgegenüber, dass eine Ethik der bloßen Vergeistigung des Lebens einseitig wäre und durch »eine Expansion der spezifisch christlichen Liebesemotion zu Gott […] auf die gesamte untermenschliche Natur«171 ergänzt werden muss  – das heißt eine Verlebendigung des Geistes. Die Verdrängungsformen der Todesgewissheit sind Ausdruck einer übermäßigen Bindung an das Vitalich, welche die Vorstellung vom Individualtod mit einer unerträglichen Angst besetzt. Diese Bindung kann nach zwei Seiten hin überwunden werden, entweder durch den moralischen Aufschwung zur geistigen Personsphäre oder durch das kosmisch vitale Einsfühlen mit dem Alllebensstrom. Wir haben gesehen, dass die Frage nach der Sterblichkeit der Person für Scheler unsinnig ist und stattdessen als Frage nach der persönlichen Fortdauer angesetzt werden muss. Da diese Frage jedoch unbeantwortbar ist, muss die letzte Antwort auf die Frage nach dem guten Tod in der Vitalsphäre gesucht werden. Das Sterben des Todes als letzter Akt des Lebens ist dann ein »Er-Sterben«, ein »Hinaufsterben«, wenn der »›Scharfsinn des Herzens‹ [es] vermag […] – sich dieses gotthaften Lebens der Natur von innen her zu bemäch­ tigen«.172 Demgemäß ist die Überwindung der Todesangst integraler Bestandteil der Herzensbildung. Hierzu ist für Scheler der einzig gangbare Weg die kosmisch vi-

168 Scheler, Philosophische Weltanschauung (wie Anm. 97). 169 Matthias Schlossberger, Phänomenologie der Normativität. Entwurf einer materialen Anthropologie im Anschluss an Max Scheler und Helmuth Plessner, Basel 2019, S. 232. 170 Cusinato, Katharsis (wie Anm. 158). 171 Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (wie Anm. 37), S. 97. 172 Ebd., 100.

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tale Einsfühlung und die ihr entspringende solidarische Naturliebe, in welcher der Mensch erfährt, dass Tod und Liebe zusammengehören: »Wer liebt, stirbt leicht.«

5. Metaphysische Thanatologie: Der menschliche Tod als Korrelat universaler Erfahrungsbereiche

Am Anfang unserer Betrachtung standen die Möglichkeits- und Rechtfertigungsfragen an eine Phänomenologie des Todes, für die sinnbildlich der Epikur’sche Ausschluss des Todes aus dem Bereich des Erfahrbaren steht. Demgegenüber muss Max Schelers metaphysische Thanatologie als selbstbewusster Gegenentwurf angesehen werden, der seinen Ausgangspunkt von der phänomenologischen These einer intuitiven Todesgewissheit nimmt. Die Dignität der Scheler’schen Thanatologie wird exegetisch mit einem gewissen Recht auf diesem Ansatz begründet, übersteigt ihn jedoch systematisch. Zur Veranschaulichung hierfür ist die Bewegung paradigmatisch, die von der phänomenologischen Etablierung des Todes als einem materialen Wesensverhalt in der Struktur des menschlichen Lebens ausgeht, über die Identifikation der vielzelligen Organismusstruktur und der Fortpflanzung als naturphilosophische Möglichkeitsbedingungen für das Sterben-Können verläuft und bis hin zu der kosmischen Tendenz zur Wertabnahme und der metaphysischen Solidarität des Alllebens als dem Endpunkt der axiologischen Thanatologie führt. Diese Bewegung ist Ausdruck davon, dass die immanentistische Todeskonzeption auf einen »sanguinen« Erfahrungsbegriff zurückgreift (realistische Phänomenologie), der sich nicht mit dem Erfahrungshorizont eines abstrakten Subjekts oder eines minimalen Selbst erschöpfen lässt (transzendentale Phänomenologie). Stattdessen entspringt die Todesgewissheit einer menschlichen Erfahrung, deren Ordnung von Anfang an über sich selbst hinaus und auf das Weltganze hinweist und somit zum Korrelat universaler Erfahrungsberei­ che wird. Von dieser Warte aus erlangt die Tatsache, dass der Mensch sterben muss, metaphysische Bedeutsamkeit; die intuitive Todesgewissheit erstreckt sich über die verschiedenen Todesarten, vom Individual- bis zum Alltod: »Die Menschenseele ist in gewissem Sinne – alles« lautet jener berühmte Satz des Aristoteles […]. Nach dieser Idee ist der Teil Mensch mit dem Ganzen der Welt zwar nicht daseins-, wohl aber wesensidentisch, und das Ganze der Welt im Menschen als einem Teile der Welt voll enthalten. Die Wesenheiten aller Dinge schneiden sich im Menschen und alle sind im Menschen solidarisch. ›Homo est quodammodo omnia‹ heißt es auch bei Thomas von Aquino. […] Dieses Werden einer Selbstkonzentration der großen Welt, des ›Makrokosmos‹, in einem individuell persönlichen geistigen Zentrum, dem ›Mikrokosmos‹, oder dieses Weltwerden einer menschlichen Person in Liebe und Erkennt-



Metaphysische Thanatologie: Der Tod und seine Grenzen im Denken Max Schelers

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nis  – das sind nur zwei Ausdrücke für verschiedene Richtungen der Betrachtung des­ selben tiefsten Gestaltungsprozesses, der Bildung heißt. Die Welt hat sich realiter zum Menschen emporgebildet, der Mensch soll es idealiter zur Welt!173

Aus einer deskriptiven Perspektive liegt diese Bestimmung des Menschen als Mikrokos­ mos Schelers Ansatz einer metaphysischen Anthropologie zugrunde, die Einheit und Ordnung in den verschiedenen Erfahrungs- und Seinsschichten stiftet. Anthropologie und Metaphysik erscheinen so als zwei Seiten einer Medaille. Aus einer normativen Perspektive darf es nicht verwundern, dass die Beziehung zwischen dem Menschen als Mikro- und dem Weltganzen als Makrokosmos (bzw. Makroanthropos) als Bildung aufgefasst wird. Diese kann hier nicht mehr als Anhäufung von Wissen durch ein Individuum verstanden werden, sondern bedeutet wortwörtlich die Erschließung von Welt (in einem Prozess der Sympoiesis von Mensch und Welt). Diese Auffassung stand zugleich im Hintergrund der Schlussthese zur axiologischen Thanatologie, dass die Überwindung der Todesangst durch die kosmisch vitale Einsfühlung zwischen Mensch und Allleben nur vermöge einer Herzensbildung gelingen kann. Obwohl Schelers Philosophie des Todes eine bemerkenswerte und einzigartige Blickrichtung verkörpert, muss eine vollentwickelte metaphysische Thanatologie weiterhin als Desiderat der Forschung gelten. Neben der weiteren, exegetischen Vertiefung der Ressourcen in Schelers Denken ist hierzu erforderlich, die Perspektive der metaphysischen Thanatologie systematisch im thanatologischen Diskurs insgesamt zu reflektieren. Wir verstehen unsere Untersuchung als eine erste Bereitstellung des hierfür nötigen Instrumentariums. Bis zu einer umfassenden Erschließung und Neuformulierung einer schelerianischen Thanatologie bleiben allerdings einige Zwischenschritte zu leisten und viele Anregungen aufzugreifen.

173 Max Scheler, Philosophische Weltanschauung (wie Anm. 97), S. 90f.

Gabriele von Glasenapp

»Jede*r stirbt für sich allein« Darstellungen des Sterbens kindlicher Figuren während der Shoah in der Kinder- und Jugendliteratur

Wie kann es nur so etwas Schreckliches geben, fragte ich. Wie kann es nur so etwas Schreckliches geben, dass manche sterben müssen, wenn sie noch nicht mal zehn Jahre alt sind? (Astrid Lindgren, Die Brüder Löwenherz)

Auf dem Gelände von Yad Vashem, der israelischen Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Jüdinnen und Juden, gibt es seit 1987 ein Mahnmal, das an die von den Nationalsozialisten ermordeten jüdischen Kinder erinnern soll. In einem großen, nahezu völlig abgedunkelten, aber verspiegelten Raum wird das Licht von fünf Kerzen in Form von Tausenden von kleinen Punkten oder Sternen beständig reflektiert. Sie stehen symbolisch für die rund anderthalb Millionen ermordeten Heranwachsenden, deren Alter, Namen und Herkunft durch eine Stimme auf einem Endlostonband vorgetragen werden. Erzeugt wird auf diese Weise der Eindruck des Un-Erträglichen, der vor allem der Tatsache geschuldet ist, dass hier nicht der erwachsenen, sondern der kindlichen, der heranwachsenden Opfer gedacht wird, einer Gruppe von Menschen also, die per se als hilf- und wehrlos erscheint und daher eigentlich den Reflex der Schutzbedürftigkeit hervorruft, der hier jedoch in grundlegender Weise verweigert wurde. Bis heute gilt der Tod und vor allem der gewaltsame Tod von Kindern als höchste Form des zivilisatorischen Tabubruchs. Der Tod, zumal die absichtliche, gezielte Tötung von Kindern, wiegt in allen Zivilisationen und unter allen Umständen schwerer als jene von Erwachsenen – sie ist durch nichts zu rechtfertigen. Dennoch geschah und geschieht sie allenthalben, im privaten Umfeld, infolge von Flucht- und Migrationsbewegungen, als Teil von verdeckten oder offenen Genoziden. Die gewaltsame Tötung von Kindern und deren Tabuisierung sind eine anthropologische Konstante in allen Kulturen, ebenso wie ihre mediale Repräsentation, das heißt zu allen Zeiten ist auch von diesem Tabubruch als Ungeheuerlichkeit erzählt worden. Das gilt auch für das Sterben von Kindern während der Shoah, auch darüber ist, ungeachtet des Verdikts von Adorno, wonach jede Dichtung über und nach Auschwitz als barbarisch zu bezeichnen sei, seit den 1940er Jahren – in sehr unterschiedlichen Kontexten – immer wieder erzählt worden. Diese Erzählungen werden im Zentrum dieses Beitrags stehen, dabei liegt der Fokus jedoch auf Erzählungen, die nicht nur von Kindern erzählen, sondern auch an Heranwachsende unterschied-

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lichen Alters adressiert sind – auf Texten (und Bildern) also, die von der Forschung unter kinder- und jugendliterarische Erzählungen gefasst werden. Vorausgeschickt sei, dass es den vorliegenden Ausführungen nicht um d­ idaktische Implikationen zu tun ist, das heißt um Fragen, ob mediale Darstellungen über den Tod von Heranwachsenden in der Shoah legitim oder altersadäquat sind, ob sie im Deutsch-, Religions- oder Philosophieunterricht ihren Platz haben, ob sie doch eher als Zusatzlektüre im Geschichtsunterricht eingesetzt werden sollten oder wie es sich mit den Reaktionen der Rezipient*innen auf solche Darstellungen verhält. Im Zentrum des Beitrages stehen vielmehr Darstellungsmodi, das heißt das narratologisch-ästhetische Potential dieser Texte, Perspektivierungen des Genozids und mögliche Grenzen des Darstellbaren, wenn Heranwachsende mit dem Tod von Kindern während der Shoah in fiktionalen Formaten konfrontiert werden. Zur besseren Kontextualisierung sollen den Ausführungen zwei kurze Bemerkungen vorausgeschickt werden. Zum einen, was unter Kinder- und Jugendliteratur zu verstehen ist: Was sind ihre Spezifika, und was unterscheidet sie grundlegend von der Literatur für Erwachsene? Und zum anderen – mit den zentralen Merkmalen von Kinder- und Jugendliteratur durchaus zusammenhängend – aus diachroner Perspektive: Wie verhält es sich generell mit der Darstellung des Sterbens, des Todes von Heranwachsenden in kinder- und jugendliterarischen Erzählungen, welcher Raum wird welchen Formen des Sterbens unter welchen Umständen und in welchen Textsorten zugestanden? Zunächst jedoch zu den Spezifika von Kinder- und Jugendliteratur, zu der neben fiktionalen Formaten (die im Zentrum des vorliegenden Beitrags stehen werden) auch pragmatische Darstellungen zu zählen sind. Kurz gesagt zählen zur Kinder- und Jugendliteratur alle Texte, die von ihren Autor*innen oder den Verlagen durch paratextuelle Signale explizit an Heranwachsende adressiert sind bzw. ihnen empfohlen werden.1 Das heißt, anders als im Falle einzelner Gattungen manifestiert sich das konstitutive Element von Kinder- und Jugendliteratur nicht in bestimmten Textmerkmalen, sondern in der Adressatenspezifik; eine Eigenschaft, die den Texten nicht inhärent ist, sondern ihnen durch von der Gemeinschaft anerkannten Vermittlergruppen (unter anderem Pädagog*innen, Verleger*innen, Autor*innen) zugewiesen wird. Damit handelt es sich bei Kinder- und Jugendliteratur, anders als im Falle der Erwachsenenliteratur, um eine sogenannte Vermittler*innenliteratur, da nur die Vermittler*innen, also die Erwachsenen, durch den Akt der Adressierung oder Empfehlung von Texten an Heranwachsende den Textkorpus Kinder- und Jugendliteratur konstituieren. Kinder- und Jugendliteratur muss daher auch als ein Sonderfall schriftlicher Kommunikation bezeichnet werden; ein Sonderfall deshalb, weil in 1 Hans-Heino Ewers, Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in Grundbegriffe der Kinder- und Jugendliteraturforschung, 2., überarb. und aktualisierte Aufl., München 2012, S. 15f., 19f.



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diese Kommunikation vordringlich Erwachsene involviert sind, deren Vorstellungen die Inhalte, Formen und Funktionen dieser Literatur für Kinder bestimmen. Diese sehr spezifische Kommunikationsform, die auch für die an Heranwachsende adressierte Shoahliteratur ihre Gültigkeit hat, verdankt sich den wiederum ausschließlich von Erwachsenen postulierten Kindheitsvorstellungen in der Moderne. Dabei wird – verstärkt seit der Aufklärung – von einer kategorialen Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen ausgegangen, das heißt, Kinder werden als Alteritätsfiguren angesehen,2 die eigenen, vor allem aber nichterwachsenen Logiken folgen und daher auch einer eigenen Literatur bedürfen. Kindheit erweist sich damit als eine kulturelle Konstruktion, ja als eine Fiktion, die ihre Entstehung und Veränderung dem hegemonialen Blickwinkel allein der Erwachsenen verdankt.3 Es sind diese Beobachtungen der Erwachsenen, die in letzter Konsequenz die auf das Kind bezogenen sozialen, pädagogischen und eben auch literarischen »Wirklichkeiten« institutionalisieren und organisieren. Die literarische Repräsentation von Kindheit und Jugend ist dabei kein Alleinstellungsmerkmal – weder der Kinder- und Jugend- noch der allgemeinen Literatur; in beiden Fällen verdanken sich die Darstellungen den Wahrnehmungen von Erwachsenen, ebenso wie die möglichen Unterschiede in diesen Repräsentationen den Vorstellungen der Erwachsenen über die Fassungskraft und die Interessen der heranwachsenden Adressat*innen geschuldet sind. Das gilt auch und vielleicht in besonderem Maße – und dies wäre die zweite Vorbemerkung  – für die Darstellung von Kindheit und Tod in kinder- bzw. jugendliterarischen Werken. Ungeachtet einer generell hohen Kindersterblichkeit, Kriegen und grassierenden Seuchen, von denen die Bevölkerung in Mitteleuropa in den vergangenen Jahrhunderten in erheblichem Maße betroffen war, findet sich davon, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine Abbildung in der Kinderliteratur früherer Epochen. Selbst Amos Comenius’ Sachbilderbuch »Orbis Sensualium Pictus« (1658), das vielleicht bekannteste kinderliterarische Werk der Frühmoderne, bildet hier keine Ausnahme. Beschrieben wird in 150 Kapiteln in Wort und Bild die Welt in ihrer Gesamtheit, das heißt Himmel und Erde, Pflanzen und Tiere, die Menschen, ihre Handwerke und Berufe, die Künste und Wissenschaften, Tugenden und Laster, Spiele, Politik, Kriege, Religionen und Strafen bis hin zum Jüngsten Gericht. Der Tod wird nicht ausgespart, wie im 129. Kapitel über »Sepultura / Die Begräbnis«4 2 Davide Giuriato, Kindheit und Literatur. Zur Einleitung, in: Davide Giuriato, Philipp Hubmann, Mareike Schildmann (Hg.), Kindheit und Literatur. Konzepte – Poetik – Wissen (= Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae, Bd. 235), Freiburg i.Br. 2018, S. 7–21, hier S. 10. 3 Ebd., S. 12. 4 Joh[annes] Amos Comenius, Orbis sensualium pictus. Hoc est, Omnium fundamentalium in Mundo Rerum & in Vita Actionum. Pictura & Nomenclatura. Die sichtbare Welt / Das ist / Aller vornemsten Welt-Dinge und Lebens-Verrichtungen Vorbildung und Benahmung, Nürnberg 1658, S. 262f.; vgl.

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nachzulesen ist, aber Bild und Text zeigen keine Kinder, die ansonsten durchaus in Erscheinung treten, der Tod bzw. der Umgang mit dem Sterben bleibt in Comenius’ Werk allein den Erwachsenen vorbehalten. Daran ändert sich – ungeachtet einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Kinderliteratur sowohl hinsichtlich der Gattungen wie der Themen und Funktionen – in den folgenden Epochen nur wenig, und zwar bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, so der gängige Tenor der zahlreichen wissenschaftlichen Überblicksdarstellungen.5 Allerdings gibt es von der Forschung bislang nicht oder kaum beachtete prominente Ausnahmen. Sie betreffen zum einen die Epen und Sagen der Antike, die seit dem 18. Jahrhundert auch in Ausgaben für Heranwachsende ediert bzw. nacherzählt werden.6 An erster Stelle zu nennen ist hier Gustav Schwabs dreibändige Anthologie »Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums« (1838–1849),7 in der von der Ermordung des kleinen Astyanax (die in Homers Epos nicht erwähnt wird!) bei der Eroberung von Troja ebenso erzählt wird wie von der Tötung von Kindern durch Kronos, Medea oder Niobe.8 Analog dazu fehlt auch in keiner der zahlreichen kinauch Ingrid Hruby, Johann Amos Comenius (1592–1670), Orbis sensualium pictus, Nürnberg 1658, in: Theodor Brüggemann, Otto Brunken (Hg.), Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1570–1750, Stuttgart 1991, S. 433–453. 5 Von der Vielzahl an einschlägigen Darstellungen seien hier genannt: Claus Ensberg, Tod und Sterben in der erzählenden Kinder- und Jugendliteratur, in: Kurt Franz (Hg.), Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon, Teil 6, Themen/Motive/Stoffe, Meitingen 2006, S.  1–46; Claus Ensberg, Tod und Sterben in der dramatischen Kinder- und Jugendliteratur, in: Kurt Franz (Hg.), Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon, Teil 6, Themen/Motive/Stoffe, Meitingen 2008, S.  1–27; Margarete Hopp, Sterben, Tod und Trauer im Bilderbuch seit 1945 (= Kinder- und Jugendkultur, -Literatur und -Medien. Theorie – Geschichte – Didaktik, Bd. 100), Frankfurt a. M. u. a. 2015; Kurt Franz, Tod und Sterben in der lyrischen Kinder- und Jugendliteratur, in: Kurt Franz (Hg.), Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon, Teil 6, Themen/Motive/Stoffe, Meitingen 2016, S. 1–48; Veljka Ruzicka Kenfel, Juliane House (Hg.), Death in Children’s Literature and Cinema and its Translation (= Kinder- und Jugendkultur, -Literatur und -Medien. Theorie – Geschichte – Didaktik, Bd. 123), Berlin u. a. 2020. Alle Arbeiten beginnen (mit Ausnahme der Abhandlung von Franz, S.  3–15) zeitlich erst in den späten 1960er, frühen 1970er Jahren. Die Abhandlung von Helena Cortés Gabaudan, The Treatment of Death in German Literature and Its Reflection in Early Children’s Literature, in: Ruzicka Kenfel, House (Hg.), Death in Children’s Literature, S. 17–41, nimmt zwar auch die Kinder- und Jugendliteratur früherer Epochen in den Blick, fokussiert dort aber nicht das Sterben von Kindern. 6 Zum Textkorpus insgesamt vgl. Maria Rutenfranz, Götter, Helden, Menschen. Rezeption und Adaption antiker Mythologie in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur (= Kinder- und Jugendkultur, -Literatur und -Medien. Theorie – Geschichte – Didaktik, Bd. 26), Frankfurt a. M. 2004, S. 46–138. 7 Vgl. Stefanie Jentgens, Gustav Schwab, Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Drei Theile. Stuttgart 1838–1840, in: Otto Brunken, Bettina Hurrelmann, Klaus-Ulrich Pech (Hg.), Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1800 bis 1850, Stuttgart, Weimar 1998, Sp. 721–734. 8 Gustav Schwab, Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Drei Theile, Stuttgart 1838–1840, Bd. 1, S. 175, 193–195; Bd. 2, S. 421.



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derliterarischen Ausgaben des »Nibelungenliedes«9 die Szene, in der Hagen Ortlieb, das Kind des hunnischen Königspaars Kriemhild und Etzel, tötet. Auch die ebenfalls im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung gewinnenden Kinderbibeln10 erzählen das Sterben von Kindern, zum einen im Alten Testament als letzte der zehn von Gott gesandten Plagen, bei der alle Erstgeborenen (Kinder) getötet werden, im Neuen Testament durch den herodianischen/bethlehemitischen Kindermord. Sterbende Kinder in nicht geringer Anzahl finden sich ebenso in kinderliterarischen Klassikern, darunter in den »Kinder- und Hausmärchen« (1812) der Brüder Grimm,11 wie auch in zahlreichen in der Tradition der Aufklärung stehenden Warnund Beispielgeschichten. Zwei dieser Geschichten zählen wie die Grimm’schen Märchen bis heute zu den bekanntesten Erzählungen deutscher Kinderliteratur: Heinrich Hoffmanns Bilderbuch »Der Struwwelpeter« (1844), singulär bis heute, was die Vielfalt der Todesarten angeht, die die ungehorsamen Kinder erleiden,12 sowie Wilhelm Buschs Bildergeschichte »Max und Moritz. Eine Bubengeschichte in sieben Streichen« (1865): Beide Protagonisten werden am Ende zur Strafe für ihre Übeltaten (an Erwachsenen) zu Schrot zermahlen.13 Keine der hier genannten Erzählungen beansprucht jedoch, eine Abbildung von Wirklichkeit zu leisten, wie sie als typisch für realistisches Erzählen seit dem Ende des 18.  Jahrhunderts gilt; diese Tatsache ist eine der entscheidenden Voraussetzungen dafür, dass das Sterben von Kindern hier erzählerisch überhaupt zur Darstellung gelangen konnte. In der modernen Kinderliteratur bleibt das Thema weiter ein Tabu; erst 1973 veröffentlicht Astrid Lindgren mit »Die Brüder Löwenherz« einen äußerst wirkmächtigen kinderliterarischen Roman, der aus der Perspektive eines Kindes vom Sterben eines Kindes erzählt, allerdings eingebettet in ein phantastisches Setting: Der bei einem Brand ums Leben gekommene Jonathan Löwe gelangt zusammen mit seinem Bruder Karl in das wunderbare Land Nangijala, in dem beide ein glückliches Leben führen und beständig Abenteuer erleben.14 Obwohl Lindgren Anfang   9 Vgl. zu den einschlägigen Ausgaben Jutta Krienke, Die Rezeption des Nibelungenstoffes in der Kinder- und Jugendliteratur, in: Otto Brunken, Bettina Hurrelmann, Maria Michels-Kohlhage, Gisela Wilkending (Hg.), Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1850–1900, Stuttgart, Weimar 2008, Sp. 743–755. 10 Zu Formen und Funktionen dieser Gattung vgl. Reinmar Tschirch, Kinderbibel, in: Kurt Franz (Hg.), Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon, Teil 5, Literarische Begriffe/Werke/Medien, Meitingen 2000, S. 1–23. 11 Bettina Kümmerling-Meibauer, Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Ein internationales Lexikon, Stuttgart, Weimar 1999, S. 397–401. 12 Ebd., S. 458–460. 13 Ebd., S. 163–165. 14 Ebd. S. 639–641; zu Lindgrens Roman vgl. auch Ensberg, Tod und Sterben in der erzählenden Kinder- und Jugendliteratur (wie Anm. 5), S. 4–8.

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der 1970er Jahre bereits zu den international renommiertesten kinderliterarischen Autor*innen zählte und es sich nicht um eine realistische Erzählung handelte, wurde sie vor allem in Deutschland scharf angegriffen, der Tod sei ein viel zu ernstes Thema, um überhaupt in Kinderbüchern behandelt zu werden. Zu diesem Zeitpunkt jedoch hatte sich innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur bereits ein grundlegender Wandel dergestalt angebahnt, dass den Texten a­ ufgetragen wurde, nicht einer Wirklichkeitsvermeidung Vorschub zu leisten, sondern die Rezipient*innen im Gegenteil über die gesellschaftspolitischen Verfasstheiten der Autorgegenwart aufzuklären.15 Dazu zählt auch die Omnipräsenz des Themas Tod, von dem immer auch Heranwachsende betroffen sind  – durch Krankheit, Verbrechen, Unfall, Selbstmord, Naturkatastrophen, Kriege, Genozide, Flucht- und Migrationsbewegungen. Mittlerweile bildet die Kinder- und Jugendliteratur  – und zwar für alle Altersstufen – die ganze Bandbreite des Sterbens ab;16 darunter an prominenter Stelle auch das Sterben von Kindern und Jugendlichen.

1. Shoahliteratur für Kinder und Jugendliche

Auch die Kinder- und Jugendliteratur kennt das Phänomen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – im Hinblick auf die Thematik des vorliegenden Beitrages bedeutet das, dass kinder- und jugendliterarische Erzählungen über die Shoah bereits in ihren Anfängen Ende der 1950er Jahre Szenarien entwerfen, die für sich in Anspruch nehmen, einer Wirklichkeitserkundung der seinerzeit jüngsten deutschen Vergangenheit zu dienen.17 Bei diesen frühen Erzählungen handelt es sich mehrheitlich um sogenannte Freundschafts- und Helfergeschichten, das heißt nichtjüdische Akteure und Akteurinnen stehen treu zu ihren jüdischen Freunden und unterstützen sie bzw. ihre Familien bei der erfolgreichen Flucht aus Deutschland. Typisch für die Texte sind eine deutlich markierte nichtjüdische Perspektive sowie die Metaphorisierung 15 Gina Weinkauff, Gabriele von Glasenapp, Kinder- und Jugendliteratur, 3., aktualisierte und erw. Aufl. (= Standard Wissen Lehramt. UTB, Bd. 3345), Paderborn 2018, S. 83f. 16 Vgl. dazu die einschlägigen Überblicksdarstellungen (wie Anm. 5); vgl. zusätzlich Renate Grubert, Suizid als Thema der Kinder- und Jugendliteratur, in: Kurt Franz, Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon, Teil 6, Themen/Motive/Stoffe, Meitingen 2001, S. 1–14. 17 Vgl. Gabriele von Glasenapp, Annäherungsversuche. Die Darstellung der Shoah in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur, in: Irmela von der Lühe, Sławomir Jacek Żurek (Hg.), Pamięć o Zagładzdie w polskojęzycznej i niemieckojęzycznej literaturze autorek i autorów drugiego oraz trzeciego pokolenia post-Szoah / Das Gedächtnis an die Shoah in der polnischen und deutschsprachigen Literatur von Autorinnen und Autoren der zweiten und dritten Post-Shoah-Generation, Lublin 2019, S. 249–263, hier S. 252–254.



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gesellschaftspolitischer Kontexte: Anstelle der Begriffe Nationalsozialismus, Antisemitismus oder Rasse treten Begriffe wie die Machthaber oder dunkle Zeit. Fokussiert werden ausgewählte Aspekte aus der Frühphase der Shoah, oder anders formuliert: Es wird erzählt von der Shoah als einem Ereignis ohne Deportation, ohne Konzentrationslager und natürlich auch ohne das Sterben der Akteure.18 Diese Erzählmuster werden erst Anfang der 1960er Jahre zumindest partiell aufgebrochen, mit dem Erscheinen von Hans Peter Richters vielfach aufgelegtem und in zahlreiche Sprachen übersetztem Roman »Damals war es Friedrich« (1961). Bis heute ist er der bekannteste jugendliterarische Holocaustroman und zugleich derjenige, der trotz mittlerweile deutlicher Kritik am häufigsten in den Schulen gelesen wird.19 Diese mittlerweile über sechs Jahrzehnte anhaltende Popularität hat Gründe: Erzählt wird aus der Sicht eines namenlosen nichtjüdischen Ich-Erzählers von der Freundschaft mit dem gleichaltrigen jüdischen Jungen Friedrich, beginnend mit beider Kindheit Ende der 1920er Jahre. Parallel zum Leben der beiden Jungen wird von den Stationen der Ausgrenzung, Entrechtung, Verhaftung, Vertreibung und partiell auch der Ghettoisierung jüdischer Menschen erzählt, von denen auch Friedrich und seine Familie betroffen sind, ohne dass ihnen Hilfe zuteilwird. Auch in Richters Erzählung bleiben Deportation und der eigentliche Genozid ausgespart, sehr wohl erzählt wird jedoch vom Tod des Protagonisten: Friedrich stirbt 1942 einen einsamen Tod bei einem Bombenangriff der Alliierten, denn als Jude wird er vom Blockwart des schützenden Bunkers verwiesen: Friedrich saß in den Schatten des Hauseingangs hingeduckt. Die Augen hielt er geschlossen; sein Gesicht war blaß. […] Herr Resch hob den Fuß und trat Friedrich. Friedrich rollte aus dem Hauseingang auf den Plattenweg. Von der rechten Schläfe zog sich eine Blutspur bis zum Kragen. Meine Hand verkrampfte sich in den dornigen Rosensträuchern. »Sein Glück, dass er so umgekommen ist«, sagte Herr Resch.20

Damit ist Friedrich der erste jüdische Akteur, von dessen Tod im unmittelbaren Zusammenhang mit der Shoah erzählt wird, wenngleich die Art seines Sterbens in der Rückschau eines der zentralen Probleme des Romans aufscheinen lässt, dass hier nämlich einem Einzelschicksal ein repräsentativer Charakter zuerkannt wird, den es de 18 Analog zu den Darstellungen über den Tod kindlicher oder jugendlicher Figuren hat sich die kinderund jugendliterarische Forschung bislang auch nicht mit der Vielzahl medialer Repräsentationen von sterbenden Heranwachsenden im Zusammenhang mit der Shoah auseinandergesetzt. 19 Zu Diskussionen und Kontroversen über Richters Roman vgl. Glasenapp, Annäherungsversuche (wie Anm. 17), S. 256f. 20 Hans Peter Richter, Damals war es Friedrich, 67. Aufl., München 2018, S. 159 (Hervorhebung im Original).

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facto keinesfalls hatte. Tatsächlich ist es dieser Erzählung zwar auch um das Schicksal der jüdischen Minderheit in Deutschland in den Jahren zwischen 1933 und 1945 zu tun, ebenso sehr jedoch um den Umgang der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit dieser Minderheit: Beide erscheinen der Willkür des nationalsozialistischen ­Regimes in gleicher Weise machtlos ausgeliefert. Nicht zuletzt aus diesem Grund stellt Richters Erzählung aus heutiger Perspektive ein wichtiges Zeitdokument dar, da sich in ihr der Umgang mit der Vergangenheit zu Beginn der 1960er Jahre wie in einem Brennglas abbildet, das heißt im selben Maß, wie Richters Roman alterte, wurde er zu einem Dokument des darin eingekapselten Bewusstseins seiner Zeit. Zugleich ist Richters Roman eines der wenigen Beispiele, in denen explizit vom Tod eines Heranwachsenden erzählt wird, darin folgt ihm nur zwei Jahre später der österreichische Autor Winfried Bruckner in seinem Roman »Die toten Engel« (1963), der seinen Fokus auf das Leben und Sterben jüdischer Kinder im Warschauer Ghetto richtet: Dann fuhren die Lastwagen los. Noch lange hörte man die hellen Stimmen der Kinder. Frisch gewaschen und gekämmt, mit glücklichen Gesichtern fuhren sie aus dem Ghetto. In Dörfer, in denen es einen Bach gab, der über Steine sprang, und Vögel und Katzen und Hühner unter Bäumen. Keines der Kinder kam zurück. In der Nähe von Warschau wurden sie zu einem Haufen zusammengetrieben und alle erschossen.21

Diese Explizitheit stellt jedoch nicht nur innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur eine Ausnahme dar. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an das (nicht an Heranwachsende adressierte) bereits 1950 in Deutschland erschienene »Tagebuch der Anne Frank«, wo selbst im Paratext die Ermordung der Verfasserin nicht explizit benannt, sondern bestenfalls angedeutet wurde.22 21 Winfried Bruckner, Die toten Engel, 16. Aufl., Ravensburg 1996, S. 59. 22 Neuere, nunmehr auch an Heranwachsende adressierte Ausgaben und Adaptionen äußern sich expliziter zum Tod von Anne Frank, so die Erzählerinstanz in dem Sachbilderbuch »Anne Frank« von Josephine Poole und Angela Barrett, Würzburg 2005: »Doch sie [Anne und ihre Schwester Margot] waren in einem deutschen Konzentrationslager gestorben« (S.  30) oder das vielbeachtete Graphic Diary »Das Tagebuch der Anne Frank« von Ari Folman und David Polonsky, Frankfurt a. M. 2017, in dem im Nachwort »Wie es weiterging …« ausgeführt wird, dass die beiden Schwestern an einer Typhusepidemie starben (S. 150). Daneben existieren allerdings bis heute zahlreiche weitere kinder- und jugendliterarische Erzählungen über die Shoah, in denen das Sterben von Heranwachsenden nicht erzählerisch vergegenwärtigt, sondern »lediglich« berichtet wird; vgl. u. a. Karen Levine, Hanas Koffer. Die Geschichte der Hana Brady, Ravensburg 2003 (»Die traurige Nachricht kam zuerst. Sie saß mit den Kindern in einem Kreis und sagte ihnen mit ruhiger Stimme, was sie sich sowieso schon gedacht hatten. Hana war in Auschwitz gestorben«, S. 113). Vgl. auch Manfred Theisens Roman »Der Koffer der Adele Kurzweil«, Düsseldorf 2009, in der lediglich in zwei Sätzen auf die Ermordung



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2. Narratologische Implikationen (1): Der offene Schluss

Auch wenn Richters Roman kein Muster literarischen Erzählens über die Shoah wurde, wie gleich noch zu zeigen sein wird, markiert er dennoch den Beginn einer intensiven kinder- und jugendliterarischen Auseinandersetzung mit der Shoah, die sich im Verlauf der folgenden Jahrzehnte in der Veröffentlichung einer Vielzahl von weiteren Erzählungen manifestiert. Nicht nur das Textkorpus, auch das Spektrum der Erzählungen hat sich im Verlauf von gut sechzig Jahren, mit zunehmender zeitlicher Distanz zu den Ereignissen, erheblich erweitert: Anstelle der zunächst ausschließlich deutschen, nichtjüdischen Perspektive auf die Shoah tritt eine Polyphonie an Stimmen – nicht zuletzt durch die zahlreichen Übersetzungen, unter anderem aus den angloamerikanischen und skandinavischen Sprachen, aus dem Niederländischen, dem Französischen, dem Hebräischen, Italienischen, aber auch dem Polnischen und Russischen. In ihrer Gesamtheit stehen sie zugleich für die globale Dimension der Shoah.23 Erzählt wird die Shoah mittlerweile als eine Geschichte der Flucht, des Widerstandes, des Versteckens, des Überlebens, der Trennungen, des Erinnerns, aber natürlich auch des Sterbens von Heranwachsenden. Welche Merkmale lassen sich nun für das kinder- und jugendliterarische Erzählen über den Tod von Heranwachsenden in der Shoah konstatieren? Zu unterscheiden sind hier weniger inhaltliche Festlegungen oder Schwerpunktsetzungen, sondern in erster Linie narratologische Verfahren, die hier in Anwendung gebracht werden. Dazu zählt an erster Stelle der »offene Schluss«, der die Möglichkeit des Sterbens ebenso impliziert wie die des Überlebens, ohne damit die Wahrscheinlichkeit des Erzählten grundlegend in Frage zu stellen. Dies soll im Folgenden an zwei aussagekräftigen Beispielen verdeutlicht werden: 1987 erschien die kinderliterarische Erzählung »Markus und der Golem« von Bodo Schulenburg, eines der wenigen in der DDR veröffentlichten Werke über die Shoah. Erzählt wird, aus der Perspektive des siebenjährigen Markus, von einem historischen Ereignis im Februar 1942: von den letzten sieben Tagen vor der Deportation von 150 Kleinkindern und Säuglingen aus dem jüdischen Säuglings- und Kleinkinderheim in Berlin-Niederschönhausen. In Markus’ Wahrnehmung verschwimmen die Erinnerungen an die Ereignisse der letzten Jahre und Monate, an einen Zoobesuch mit seinem Vater, das Versteck in einem Keller und die Geschichten, die abends von den jüdischen Erzieherinnen erzählt werden. Zunehmend diffuser gestalten sich in der der Protagonistin verwiesen wird (vgl. S. 63, 77). Es ist auffällig, dass diese Art der Darstellung vielfach im Zusammenhang mit dem Schicksal historischer Persönlichkeiten verwendet wird – seltener hingegen für literarische Figuren. 23 Glasenapp, Annäherungsversuche (wie Anm. 17), S. 259–261.

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Vorstellung des Jungen auch die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, wenn er die Figur des Golem als realen Beschützer in der Not anruft. Doch der Golem erscheint nicht, stattdessen kommt die SS, das Heim wird geräumt, die Bewohner*innen deportiert. Die Flucht in die Fiktion hat Markus nicht retten können; zunächst nicht, muss ergänzt werden, denn im letzten Moment wirft eine der Erzieherinnen eine Kinderbadewanne über den Jungen und entzieht ihn so dem Zugriff seiner Verfolger – ob für den Moment oder auf Dauer, bleibt offen, denn auch der Erzähler erklärt am Ende offen, über kein Wissen hinsichtlich Markus’ Schicksal zu verfügen: »Was wurde aus Markus? Ich weiß es nicht! Wurde er gefunden, versteckt, gerettet? Es ist möglich.«24 Eröffnet wird, dem Wesen der aristotelischen Fiktionsformel gemäß, ein Möglichkeitsraum, denn natürlich besteht die Möglichkeit, dass der Protagonist nicht entdeckt wird, gerettet wird, überleben wird. Der offene Schluss bietet all diese Optionen, verweigert sich aber der Eindeutigkeit, das heißt, die Erzählung reflektiert damit zugleich, zumindest implizit, ihre eigene Fiktionalität. Dennoch eröffnet nur sie dem Protagonisten zumindest eine Überlebenschance, oder anders formuliert: Sie allein stemmt sich dem Tod des Protagonisten entgegen. Nur ein Jahr vor Schulenburgs Erzählung erschien 1986 als Übersetzung aus dem Schweizer Französischen das erste Bilderbuch über die Shoah: Rosa Weiss mit Illustrationen von Roberto Innocenti.25 Wieder wird die Geschichte eines Kindes erzählt, in diesem Fall jene des ungefähr acht- bis neunjährigen Mädchens Rosa Weiss, das während des Krieges in einer namenlosen deutschen Kleinstadt aufwächst. Rosa Weiss ist ein nichtjüdisches deutsches Mädchen, wie man den Bildern vielleicht entnehmen kann, der Text gibt diese Informationen nicht. Durch die Verhaftung eines kleinen Jungen aufmerksam geworden, entdeckt Rosa Weiss auf ihren Streifzügen durch den Wald ein mit Stacheldraht umzäuntes Areal, dahinter abgemagerte Kinder in gestreifter Kleidung und mit gelben Sternen. Das Mädchen beginnt, sie durch den Zaun mit Nahrungsmitteln zu versorgen, dennoch werden die Kinder immer dünner und zugleich Rosas rosa Schleife immer blasser. Eines Tages sind die Soldaten und Panzer aus der Stadt verschwunden. Im Wald gibt es keine Baracken mehr, der Stacheldraht ist niedergerissen, und die Kinder sind nicht mehr da. Als Rosa über die Zaunreste blickt, fallen Schüsse, heißt es im Text26 – abgegeben von Soldaten, wem sie gelten, ob die Protagonistin getroffen worden ist, ob sie überlebt hat, bleibt ebenso offen wie

24 Bodo Schulenburg, Markus und der Golem, Berlin 2014, S. 50. 25 Roberto Innocenti, Christophe Gallaz, Rosa Weiss, Frankfurt a. M. 1986; vgl. dazu auch Hopp, Sterben, Tod und Trauer im Bilderbuch (wie Anm. 5), deren Darstellung sich allerdings fast ausschließlich auf inhaltliche Aspekte konzentriert, S. 312–320. 26 Innocenti, Gallaz, Rosa Weiss (wie vorige Anm.), S. 27 (die deutsche Ausgabe ist nicht paginiert, die Zählung orientiert sich daher an der seitengleichen französischen Originalausgabe).



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das Schicksal der anderen Kinder. Auf dem letzten Bild – ohne Text – sieht man nur noch zerfallene Zaunreste und eine menschenleere, unberührte Natur.27 Schulenburg hatte, wie im paratextuellen Umfeld auch deutlich markiert ist, ein historisches Ereignis aufgegriffen und fiktionalisiert.28 Rosa Weiss hingegen verweigert sich sowohl einer solchen Referentialisierung als auch, wie sich allerdings erst auf den zweiten Blick erschließt, mimetischen Erzählverfahren. So »realistisch« Innocentis Illustrationen auch anmuten, so bilden sie doch gerade nicht den historisch konkretisierbaren Einzelfall ab, sondern betonen den Kunstcharakter des Erzählten und Abgebildeten: Weder der Ort, in dem Rosa Weiss lebt, noch das Lager sind geographisch referentialisierbar, der Lagerzaun ist frei zugänglich, das Lager selbst hat keine Wachen, die Kinder dort haben weder Namen noch erwachsene Bezugspersonen, während die Protagonistin selbst zwar einen Namen hat, der jedoch, zumindest in der deutschen Übersetzung, eindeutig auf einen fiktionalen Prätext zu verweisen scheint: das Grimm’sche Märchen »Schneeweißchen und Rosenrot«.29 Anders als Schulenburgs Werk ist Rosa Weiss’ Geschichte als multimodaler Text erzählt, der zwei verschiedene Zeichensysteme miteinander verknüpft: Bild und Schrifttext, wobei das Verhältnis der beiden Codes keineswegs durch gegenseitige Komplementarität oder gar Anreicherung geprägt ist.30 Als symmetrisch kann das Verhältnis nur im Hinblick auf die Informationsverweigerung bezeichnet werden, denn die zahlreichen Ellipsen auf inhaltlicher Ebene werden von Schrift und Bild gleichermaßen produziert. Oder anders formuliert: Wenn dem Schrifttext keine Auskunft über das weitere Schicksal von Rosa und den gefangenen Kindern zu entnehmen ist, so wird diese Lücke auch auf der Bildebene nicht geschlossen. »Rosa Weiss wollte wissen …«,31 beginnt einer der wenigen Sätze der Erzählung; der fiktionale Charakter des Werkes eröffnet hier weniger einen Möglichkeitsraum, sondern fordert die Leser*innen aktiv zur Sinnkonstruktion auf: Sie sollen wissen wollen, was mit den Kindern, was mit der Protagonistin geschehen ist, ob sie sterben mussten oder überleben konnten, denn deutlicher noch als Schulenburgs Erzählung verweigert sich das Bilderbuch der Antwort und damit der Eindeutigkeit. Die Ent27 Ebd., S. 30f. 28 Schulenburg, Markus und der Golem (wie Anm. 24). 29 Im paratextuellen Umfeld der französischen Originalfassung (die für die deutschen Ausgaben nicht übernommen wurde) ist von Seiten des Verlags eine andere Deutung des Namens angeboten worden, mit ihm werde erinnert an »un groupe de jeunes pacifistes allemands, qui durant la dernière guerre, payèrent de leur vie le courage de dénoncer le nazisme et de s’y opposer« (S. 38). 30 Zur Analyse multimodaler Texte vgl. Michael Staiger, Kategorien der Bilderbuchanalyse. Ein sechsdimensionales Modell, in: Ben Dammers, Anne Krichel, Michael Staiger (Hg.), Das Bilderbuch. Theoretische Grundlagen und analytische Zugänge, Berlin 2022, S. 3–27, hier S. 4f. 31 Innocenti, Gallaz, Rosa Weiss (wie Anm. 25), S. 14.

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scheidung über Leben und Tod der Akteure obliegt in diesen Erzählungen damit in gewisser Weise den Leser*innen,32 in entscheidendem Maße aber auch der für die narratologische Konstruktion der Werke maßgeblichen Figur der Ellipse. Verstanden wird darunter in der Narratologie ein Zeitabschnitt des dargestellten Geschehens, der in der erzählerischen Darstellung ausgespart wird.33 Erst die Aussparung eröffnet, narratologisch gesehen, den Möglichkeitsraum, von dem hier vor allem die offenen Erzählschlüsse betroffen sind.

3. Narratologische Implikationen (2): Elliptisches Erzählen

Weitaus häufiger sind jedoch, was die kinder- und jugendliterarische Repräsentation sterbender Kinder in der Shoah betrifft, andere Formen elliptischen Erzählens, die genau diese Möglichkeitsräume am Ende nicht mehr eröffnen. Im letzten Teil des Beitrages sollen diese Darstellungsmodi ebenfalls an einigen repräsentativen Beispielen illustriert werden. Zu den zentralen Merkmalen dieser Erzählungen zählen heranwachsende Protagonist*innen, die die Situation, in der sie sich befinden, qua ihres jungen Alters nicht verstehen können. Dieser vorgeblich »naive Blick auf das Grauen«34 der Shoah ist das Resultat eines in hohem Maße elliptischen Erzählens – es dominiert die Auslassung, die wiederum erreicht wird durch eine konsequent durchgehaltene interne Fokalisierung seitens der Erzählerfiguren. Die auf diese Weise entstehenden Lücken werden zwangsläufig von den auf Kohärenz bedachten Leser*innen gefüllt, die zudem gegenüber den Figuren über einen deutlichen Wissensvorsprung verfügen. Innerhalb der Kinder- und 32 Diese Aussage gilt jedoch nur für die deutsche (und andere) Übersetzung(en) des Texts, nicht für die französische Originalausgabe. Im Unterschied zu nahezu allen Übersetzungen äußert sich dort auf den ersten Seiten (S. 5–19) die Protagonistin selbst als erzählende Instanz, bevor dann der Rest der Handlung durch einen extradiegetischen, nullfokalisierten Erzähler übermittelt wird (Roberto Innocenti, Christophe Gallaz, Rose Blanche, Paris 1990, 19f.). Dieser Wechsel von einer autodiegetischen, intern fokalisierten zu einer extradiegetischen, nullfokalisierten Erzählerstimme in Verbindung mit den kontinuierlich blasser erscheinenden Farben von Rosas Kleidung kann durchaus als proleptischer Verweis auf ein »Verlöschen« und damit Sterben von Rosa gedeutet werden. Zu den Implikationen der zahlreichen Übersetzungen von »Rosa Weiss« vgl. Emer O’Sullivan, Rose Blanche, Rosa Weiss, Rosa Blanca. A Comparative View of a Controversial Picture Book, in: The Lion and the Unicorn 29 (2005), S. 152–170. 33 Matías Martínez, Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 11. überarb. und aktualisierte Aufl., München 2020, S. 45–47. 34 Annette Kliewer, Der naive Blick auf das Grauen. Der Holocaust aus Kindersicht, in: Gabriele von Glasenapp, Gisela Wilkending (Hg.), Geschichte und Geschichten. Die Kinder- und Jugendliteratur und das kulturelle und politische Gedächtnis, Frankfurt a. M. 2005, S. 229–245.



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Jugendliteratur35 ist dieses Verfahren erstmals von Gudrun Pausewang36 in ihrem Roman »Reise im August« (1992) angewendet worden: Da die elfjährige Alice sich jahrelang mit ihrer Familie vor den Nazis verstecken musste, versteht sie nicht, was es mit der Bahnfahrt auf sich hat, die sie  – eingepfercht in einen Viehwaggon  – plötzlich antreten muss, während die Leser*innen die vermeintliche »Reise« sehr schnell als eine Deportation identifizieren können. Gleichsam im Zeitraffertempo durchläuft die Protagonistin eine Erweiterung ihres Wissenshorizontes; sie beginnt zu erahnen, warum sie sich jahrelang mit ihren Großeltern verstecken musste, dass ihre Eltern bereits vor Jahren in ein Lager deportiert wurden, aus dem sie nicht zurückgekehrt sind und auch nicht zurückkehren werden. Schrittweise nähert sich ihr Informationsstand dem der Leser*innen an, doch am Ende der Erzählung sind Leser*innen und Protagonistin hinsichtlich ihres Wissenshorizontes erneut weiter denn je voneinander entfernt: Im Lager angekommen, ist Alice froh darüber, dass sie und alle »Mitreisenden« nach der tagelangen Fahrt sofort zum Duschen geschickt werden. Die Erzählung endet mit Alice’ erwartungsvollen Blicken zu den Duschköpfen an der Decke: Alice legte den Kopf in den Nacken. Gleich, gleich würde sich nun Wasser aus der Brause dort oben über sie ergießen. Es würde sie säubern von dem Schmutz und dem Grauen der Reise, würde sie wieder so rein machen, wie sie vorher gewesen war. Sie hob die Arme und öffnete die Hände.37

Diese Erzählung bietet keinen offenen Schluss, keinen Möglichkeitsraum, denn an dem unmittelbar danach eintretenden Tod der Protagonistin besteht kein Zweifel, doch die intern fokalisierte Erzählerinstanz ist verstummt und überlässt am Ende den Leser*innen das Feld. Das Sterben wird also durch eine erzählerische Leerstelle markiert, oder anders gesprochen: Es vollzieht sich zwangsläufig und ausschließlich in der Imagination der Rezipient*innen. Es wird also vom Sterben der Heranwachsenden in der Shoah nicht explizit erzählt (durch Erzählerinstanzen oder andere Akteur*innen), sondern es wird – narratologisch gesprochen – gleichsam »ausgelagert« 35 Das Vorbild für diese Form des Erzählens durch unwissende, intern fokalisierte heranwachsende Erzähler entstammt der Allgemeinliteratur, allerdings handelt es sich in diesen Fällen ausnahmslos um autobiographisch grundierte Erzählungen von Überlebenden. Zu den bekanntesten Beispielen zählen »Roman eines Schicksallosen« (1975) von Imre Kertész sowie »Kinderjahre« (1978) von Jona Oberski. Vgl. dazu Eva Lezzi, Zerstörte Kindheit. Literarische Autobiographien zur Shoah, Köln 2001, S. 152–177. 36 Schon in früheren jugendliterarischen Romanen, darunter in ihren Dystopien »Die letzten Kinder von Schewenborn« (1983) und »Die Wolke« (1986), hatte Pausewang über das Sterben von Kindern aus der Perspektive von Heranwachsenden erzählt und damit zum Teil heftige Kontroversen ausgelöst. 37 Gudrun Pausewang, Reise im August, Ravensburg 1992, S. 160.

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in die Interferenzen und Diskrepanzen zwischen zwei Kommunikationssystemen, nämlich einem inneren (der eingeschränkten Wahrnehmung der Akteur*innen) und einem äußeren (dem Vorwissen der Leser*innen).

Exkurs: Korczak und die Kinder

Diese Feststellung gilt auch für einen sehr spezifischen Korpus an kinder- und jugendliterarischen Shoaherzählungen, auf die an dieser Stelle in einem kurzen Exkurs eingegangen werden soll; gemeint sind die Erzählungen über den polnisch-jüdischen Arzt und Pädagogen Janusz Korczak (1878/1879–1942). Die Beschäftigung mit Janusz Korczak macht deutlich, dass sich polnische und deutsche Erinnerungskulturen trotz aller Überschneidungen grundlegend voneinander unterscheiden: In einem Beitrag für polnische Leser*innen bedürfte es keiner Erläuterungen zu Janusz Korczak, denn in Polen zählt er zu den ikonisch gewordenen Akteuren und wichtigsten Erinnerungsfiguren der jüngeren polnischen wie europäischen Geschichte. Nach Janusz Korczak, zu Lebzeiten ein ebenso bedeutender wie medial äußerst präsenter Kinderarzt, Pädagoge und Kinderbuchautor, sind Schulen und Straßen benannt, ihm wurden zahlreiche Biographien gewidmet, Denkmäler errichtet, es gibt Periodika und Literaturpreise, die seinen Namen tragen, Filme und Theaterstücke, die die Geschichte seines Lebens behandeln, seine wissenschaftlichen, publizistischen wie kinderliterarischen Werke werden bis heute aufgelegt, und seit langem schon sind sowohl sein Leben wie seine Forschungen Gegenstand unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen, darunter vor allem der Allgemeinen wie der Heil- und Sonderpädagogik, der Kinderpsychologie wie der Kindheitsforschung, und zwar weit über die Grenzen Polens und Europas hinaus. In dem hier relevanten Kontext geht es jedoch um Janusz Korczak als den Mann, der von den Deutschen gezwungen wurde, im Oktober 1940 mit den Kindern des von ihm geleiteten jüdischen Waisenhauses in das Warschauer Ghetto umzusiedeln, bevor er im August 1942 zusammen mit über 200 Kindern und seinen Mitarbeiter*innen nach Treblinka deportiert und ermordet wurde. Zahlreiche Zeitgenossen haben Zeugnis abgelegt vom Marsch der Kinder mit Janusz Korczak vom Waisenhaus zu den Güterzügen. Kaum ein Ereignis der Shoah hat eine vergleichbare Wirkung entfaltet und keines auch mehr Zuneigung erfahren als die Erzählung über den Arzt, der »seine« Kinder freiwillig in den Tod begleitet, Kinder, die ihm – eine Wissenshierarchie, die für den ikonographischen Charakter dieser Szene von zentraler Bedeutung ist – ahnungslos und voller Vertrauen folgen.38 Es ist diese Szene, die – obwohl in 38 Gabriele von Glasenapp, »Der Doktor bleibt!«. Janusz Korczak als literarische Figur, in: Roczniki Humanistyczne. Neofilologia 68 (5) 2020, S. 93–113, hier S. 95f.



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keinem Bildmedium festgehalten – allen erinnerungskulturellen Überlieferungsformen zugrunde liegt: Man kann nichts von Korczak lesen, nichts über ihn hören, ohne daran zu denken, wie sein Weg endete, ohne den Zug der Kinder über die Straßen des Warschauer Ghettos, zur Verladerampe, zur ›Endlösung‹ vor sich zu sehen; jenen Zug jüdischer Waisenkinder, denen ihr Erzieher, ihr ›Herr Doktor‹ voranschritt, ihnen auch in diesem Augenblick Zuverlässigkeit, Vertrauen und Menschsein gebend. […] Die Legende erzählt  – wenn das auch durch Augenzeugen nicht belegt ist, also wohl nie mehr authentisch zu machen sein wird, trotzdem aber doch stimmend, historisch passend, in diesem Sinne also authentisch  –, daß dem Zug der jüdischen Waisenkinder am glühendheißen Augusttag 1942 zur Verladerampe, in die Waggons, die sie nach Treblinka brachten, eine grüne Fahne vorangetragen worden sei.39

Über das Schicksal von Janusz Korczak und den ihm anvertrauten Kindern wird aber nicht nur in der historischen Forschung »erzählt«, seit den 1970er Jahren ist es auch Gegenstand von fiktionalen Formaten, und hier erstaunlicherweise in ihrer großen Mehrheit von kinder- und jugendliterarischen Erzählungen, und hier wiederum zu einem großen Teil in Bilderbüchern.40 Damit besitzt die Kinder- und Jugendliteratur, was diesen sehr spezifischen Teil der Erinnerungskultur betrifft, gegenüber der allgemeinen Literatur eindeutig ein Alleinstellungsmerkmal. Wie lassen sich nun die Spezifika dieses Textkorpus auf inhaltlicher Ebene im Hinblick auf die mediale Repräsentation sterbender Kinder beschreiben? Zunächst: Trotz sehr unterschiedlicher künstlerischer Mittel und Erzählperspektiven wird im Grunde in allen Werken dieselbe Geschichte erzählt: das Leben im Warschauer Ghetto, im Waisenhaus von Janusz Korczak, in dem die kindliche Autonomie trotz unerträglicher Bedingungen qua kindlicher Selbstverwaltung noch einmal einen Höhepunkt erlebt, und schließlich der Räumungsbefehl, der letzte Gang der Gemeinschaft zum sogenannten Umschlagplatz, das Besteigen der bereitgestellten Züge. Alle Erzählungen enden mit dieser Szene, dann brechen sie ab. Auch im Falle dieser Erzählungen gibt es keinen Zweifel über das weitere Schicksal, das heißt die Ermordung von Korczak und den Kindern, mitunter werden diese Informationen auch im Paratext vorweggenommen oder »nachgereicht«. Es ist diese erzählerische Leerstelle, dieses in Text und Bild 39 Günter Schulze, Nachwort zu König Maciuś der Erste. Roman in zwei Teilen für Leser jeden Alters von Janusz Korczak, Berlin 1987, S. 443–454, hier S. 446f. 40 Ermittelt wurden insgesamt 35 kinder- bzw. jugendliterarische Werke, darunter 13 Bilderbücher bzw. Graphic Novels, die die Geschichte von Janusz Korczak und »seinen« Kindern erzählen (vgl. Glasenapp, »Der Doktor bleibt!«, wie Anm. 38, S. 108–110).

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nicht erzählte Sterben, das der gesamten Erzählung gleichsam als »Legitimation« dient; eine Erzählung, der zudem erkennbar das Muster der Märtyrererzählung unterlegt ist. Die Singularität dieser Erzählungen über das Sterben von Janusz Korczak und die ihm anvertrauten Kinder erschließt sich daher nicht durch die einzelne Erzählung, sondern durch ihre Vielzahl. Singulär sind die Erzählungen zudem nicht zuletzt im Hinblick auf ihre Verbreitung; hier ist ohne Übertreibung von transnationalen, globalen Dimensionen zu sprechen. Sie verdanken sich der großen Anzahl von wechselseitigen Übersetzungen, und das meint aus sowie in Sprachen, die auch Kulturkreisen zugehörig sind, in denen erinnerungskulturelle Dimensionen der Shoah nicht an erster Stelle stehen, darunter ostasiatische Länder wie Süd-Korea, Japan, China. Eine vergleichbare Rezeption hat bislang lediglich das »Tagebuch der Anne Frank« erfahren, ein Text, der zwar von den großen Bedrängnissen einer Heranwachsenden während der Shoah handelt, allerdings zunächst nicht an Heranwachsende adressiert war.41

4. Narratologische Implikationen (3): Polyvalentes Erzählen

Eine wenigstens ebenso große Verbreitung, nämlich Übersetzungen in fast fünfzig Sprachen, zahlreiche Literaturpreise sowie eine Verfilmung, hat das Werk erfahren, auf das hier zuletzt eingegangen werden soll, der 2007 erschienene Roman »Der Junge im gestreiften Pyjama« des 1971 geborenen irischen Autors John Boyne. Im Unterschied zu den anderen in diesen Ausführungen behandelten Texten sagt dieser Roman zunächst nicht, wovon er handelt, dem der Handlung vorangestellten (grammatisch nicht ganz korrekten) Paratext, bei dem nicht deutlich wird, welche Instanz hier ihre Stimme erhebt, lässt sich nur entnehmen, dass er das (anders als sonst in Paratexten üblich) auch gar nicht sagen möchte: Die Geschichte von »Der Junge im gestreiften Pyjama« ist schwer zu beschreiben. Normalerweise geben wir an dieser Stelle ein paar Hinweise auf den Inhalt, aber bei diesem Buch – so glauben wir – ist es besser, wenn man vorher nicht weiß, worum es geht. Wer zu lesen beginnt, begibt sich auf eine Reise mit einem neunjährigen Jungen namens 41 An Heranwachsende adressierte Ausgaben und Adaptionen des »Tagebuchs« sowie Biographien über Anne Frank wurden erst im Verlauf der 1980er Jahre veröffentlicht; vgl. auch Anm. 22. Mittlerweile zählt das »Tagebuch« auch zum festen Kanon der Schullektüre; vgl. Marion Bönnighausen, Literatur für die Schule. Ein Werklexikon für den Deutschunterricht, Paderborn 2014, S.  214f. sowie Kaspar H. Spinner, Jan Standke, Erzählende Kinder- und Jugendliteratur im Deutschunterricht. Textvorschläge – Didaktik – Methodik, Stuttgart 2016, S. 97–100.



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Bruno. (Und doch ist es kein Buch für Neunjährige.) Früher oder später kommt er mit Bruno an einen Zaun. Zäune wie dieser existieren auf der ganzen Welt.42

Im Zentrum der Handlung, so viel lässt sich mit Gewissheit sagen, steht der neunjährige Bruno, aus dessen naturgemäß sehr eingeschränkter Perspektive, das heißt streng intern fokalisiert, auch erzählt wird. Eines Tages muss Brunos Familie zu seinem großen Leidwesen umziehen, der Vater wird nach Aus-Wisch versetzt, so versteht es Bruno jedenfalls, wo alles anders ist als zu Hause. Vor allem gibt es dort Zäune, viele Zäune, und Bruno ist nicht klar, warum die Menschen jenseits des Zauns, auf den er von seinem Zimmer aus blicken kann, alle in einem gestreiften Pyjama herumlaufen, und es sagt ihm auch niemand. Aber er macht sich auf, dieses Geheimnis zu ergründen, und lernt dabei den gleichaltrigen Schmuel kennen, der jenseits des Zauns lebt, schrecklich dünn ist, auch einen gestreiften Pyjama trägt und auf der Suche nach seinem Vater ist. Die Jungen freunden sich an, Bruno versorgt Schmuel mit Essen und will ihm schließlich bei der Suche nach dem Vater helfen. Dafür jedoch muss er sich auf das umzäunte Gelände begeben – und das hat Folgen. Narratologisch gesprochen handelt es sich bei Bruno um einen unzuverlässigen Erzähler, die Diskrepanz zwischen seiner Wahrnehmung und dem Wissenshorizont der Leser*innen wird an keiner Stelle aufgelöst, auch nicht in den letzten Sätzen der Erzählung: […] im Weitergehen stellte er fest, dass es nicht mehr regnete, weil alle nacheinander in einen langen, erstaunlich warmen Raum drängten, der offenbar sehr stabil gebaut war, weil nirgendwo Regen durchdrang. Im Grunde wirkte er sogar vollkommen luftdicht. […] Er nahm Schmuels dünne Hand in die seine und drückte sie fest. »Du bist mein bester Freund, Schmuel«, sagte er. »Mein bester Freund für immer.« Vielleicht öffnete Schmuel den Mund, um ihm zu antworten, aber Bruno hörte es nicht mehr, denn im selben Augenblick kam ein Aufschrei von allen Marschierenden im Raum, als die Eingangstür geschlossen wurde und ein lautes metallisches Geräusch von außen hereindrang. Bruno hob eine Augenbraue und verstand überhaupt nichts, aber er nahm an, dass es wohl damit zu tun hatte, den Regen nicht hereinzulassen und die Menschen vor einer Erkältung zu schützen. Dann wurde es sehr dunkel im Raum, und trotz des darauffolgenden Chaos merkte Bruno, dass er Schmuels Hand immer noch festhielt und ihn nichts auf der Welt dazu bewegen konnte, sie loszulassen.43

42 John Boyne, Der Junge im gestreiften Pyjama. Eine Fabel, Frankfurt a. M. 2007 (Klappentext). 43 Ebd., S. 262f.

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Was immer die Rezipient*innen über die Ereignisse und das Ende der Erzählung zu wissen meinen, ist im Text selbst niemals so erzählt worden. Diese »Verweigerungshaltung« gibt der Text an keiner Stelle auf, das heißt, die Leser*innen verfügen zwar über mehr Wissen als der Protagonist, den von ihnen im Akt der Lektüre rekonstruierten Ereignissen stehen sie jedoch ebenso machtlos gegenüber wie die Objektfigur Bruno. Hinzu kommt, dass sich Boynes Roman kategorisch den gängigen Konventio­ nen historischer Romane verweigert; der Text stellt an keiner Stelle den Anspruch, mimetisch von historisch referentialisierbaren Ereignissen zu erzählen.44 Boyne selbst hat seinen Roman im Untertitel »Eine Fabel« genannt, das heißt, folgerichtig sind auch seine Akteure nicht der Realität nachgebildet; vor allem im Falle von Bruno handelt es sich um eine genuin allegorische und daher transpsychologische Figur. Zugleich ist auch diesem Text eine sehr spezifische Relation zwischen Text bzw. Protagonist und Leser*innen inhärent, denn er verkehrt stillschweigend eine der zentralen Konventionen kinder- bzw. jugendliterarischen Erzählens, wonach die Leser*innen grundsätzlich jünger zu sein haben als die Protagonist*innen der Werke, in ihr Gegenteil: Der Protagonist in Boynes Roman ist deutlich jünger als die intendierten Leser*innen, daher verfügen diese auch über mehr historisches Wissen und sind in der Lage, Brunos Aussagen zu »übersetzen«. Das heißt, es gibt eine Geschichte, die aus Brunos Perspektive übermittelt wird, und eine Vielzahl weiterer Geschichten, die die Leser*innen durch ihren Akt der Lektüre konstruieren. Da aber bekanntermaßen jede Übersetzung zugleich eine Interpretation darstellt, sind auch die durch die Leser*innen konstruierten Geschichten ungeachtet ihrer Referentialisierbarkeit in letzter Konsequenz als genuin subjektiv anzusehen. Dass diese grundsätzliche Polyvalenz Gültigkeit für alle fiktionalen Formate hat, sei hier nur am Rande erwähnt. Sie wird in Boynes Roman nur deutlicher herausgestellt als in jenen Texten, die durch erzählerische Mittel die Fiktion aufrechterhalten, man könne von der Vergangenheit so erzählen, wie es tatsächlich gewesen ist. Und was ist aus Bruno geworden?, ließe sich zum Schluss fragen. Die Antwort darauf wird wiederum ausschließlich dem Deutungshorizont der Leser*innen überantwortet. Folgt man Brunos Wahrnehmung, kann man ihn sich am Ende der Erzählung als einen glücklichen Jungen vorstellen. Natürlich sind die historischen Fakten nur allzu bekannt: Ungefähr anderthalb Millionen Heranwachsende wurden Opfer der Shoah, und natürlich fungieren die hier genannten kinder- und jugendliterarischen Erzählungen (und viele weitere) auch als ein zentrales und in seiner Bedeutung kaum zu überschätzendes Medium des kulturellen Gedächtnisses. Der Genozid soll nicht 44 Eine Tatsache, die von vielen Kritikern des Romans bis heute nicht in Rechnung gestellt wird; vgl. zu den entsprechenden Kontroversen Verena Buser, Der Junge im gestreiften Pyjama, in: Wolfgang Benz (Hg.), Vorurteile in der Kinder- und Jugendliteratur, Berlin 2010, S. 211–221.



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in Vergessenheit geraten, und die Erzählungen sollen und wollen ihren Teil dazu beitragen.

6. Schlussbemerkung

Polyvalenz, Ambiguität, Leerstellen, Möglichkeitsräume gehören zu den zentralen Merkmalen fiktionaler Formate – das gilt auch für das Erzählen über das Sterben von jüdischen Kindern während der Shoah45 vor allem in neueren kinder- und jugendliterarischen Texten. Ein Blick in die Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur zeigt, dass die Darstellung der Shoah durchaus von unterschiedlichen ästhetischen Verfahren geprägt war. So folgten die Texte der 1950er bis 1970er Jahre mehrheitlich den Konventionen des historischen Romans, deren Erzählverfahren einerseits insinuierten, es werde so erzählt, »wie es wirklich gewesen war«, zugleich jedoch wurden zentrale Elemente des Genozids, darunter die Deportation, die Konzentrationslager sowie die Ermordung insbesondere von Heranwachsenden, stillschweigend ausgespart. Verantwortlich für diese Erzählstrategie waren sicherlich in hohem Maß die gesellschaftspolitischen Verfasstheiten der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die die Shoah und insbesondere die deutsche Verantwortung für die Shoah in ihrer Gesamtheit »beschwieg«,46 des Weiteren aber auch pädagogische Implikationen, wonach der Tod von Heranwachsenden in welchen Kontexten auch immer grundsätzlich kein Gegenstand kinder- und jugendliterarischer Erzählungen war. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass erst der gesellschaftlich-literarische Paradigmenwechsel im Verlauf der 1970er Jahre die entscheidende Voraussetzung innerhalb der Kinderund Jugendliteratur dafür bildete, sich der literarischen Repräsentation der Shoah und hier auch dem Sterben von Kindern zuzuwenden. Dieser Paradigmenwechsel ging einher mit neuen, avancierten Formen des Erzählens; das heißt, an die Stelle heterodiegetischer, nullfokalisierter Erzähler traten nun zunehmend Erzählerinstanzen, die aus subjektiver und daher naturgemäß eingeschränkter Perspektive auf die von ihnen übermittelten Sachverhalte den Rezipient*innen eigene Deutungsmöglichkeiten 45 Erzählt wird in der Kinder- und Jugendliteratur im Zusammenhang mit der Shoah keineswegs ausschließlich vom Sterben jüdischer Kinder, thematisiert (wenngleich eher in Einzelfällen) werden auch die Verfolgung und Ermordung von Sinti- und Roma- sowie von behinderten Kindern im Rahmen der »Kindereuthanasie«. Zu den bekanntesten Erzählungen zählt die mittlerweile ebenfalls auf Grund ihrer antiziganistischen Stereotype in die Kritik geratene Kurzgeschichte »Jenö war mein Freund« (1958) von Wolfdietrich Schnurre sowie der Roman »Nebel im August« (2008) von Robert Domes. 46 Vgl. dazu zuletzt Annegret von Wietersheim, »Später einmal werde ich es dir erzählen«. Leerstellen in der Kinder- und Jugendliteratur der 1950er Jahre (= Studien zur europäischen Kinder- und Jugendliteratur/Studies in European Children’s and Young Adult Literature, Bd. 7), Heidelberg 2019.

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eröffneten. Auch durch deutlich markiertes elliptisches Erzählen und offene Schlüsse konnten sich die Erzählungen – wie an den Beispielen erläutert wurde – historischen Eindeutigkeiten zumindest partiell entziehen, das heißt, das (mögliche) Sterben der heranwachsenden Figuren wird nicht mehr erzählt, sondern in die Vorstellung der Rezi­pient*innen verlagert. Diese Modi des Erzählens boten den Leser*innen die Möglichkeit, auf ihre eigene, individuelle Weise, mit dem Grauen, dem eigentlich Unvorstellbaren, umzugehen; zugleich jedoch erzeugten diese narratologischen Verfahren eine genuine Einsamkeit nicht nur der Rezipient*innen, sondern in letzter Konsequenz immer auch der sterbenden Figuren.

Stephan Köhn

Der nukleare Tod in Japan: Ōta Yōkos »6. August, 8.15 Uhr« oder der Kampf um die Erinnerung an die Atombombe 1. Einleitung: Hiroshima als unmögliche Erinnerung

Am 6. August 1945 um 8.15 Uhr fiel die erste von zwei erstmals in einem Krieg eingesetzten Atombomben auf die japanische Stadt Hiroshima; die zweite folgte am 9. August 1945 um 11.02 Uhr auf die Stadt Nagasaki. Wenn auch die Zahlen mit Vorsicht zu behandeln sind, so wurden in einem im August 1946 veröffentlichten Bericht ca. 124.000 Tote für Hiroshima und ca. 74.000 Tote für Nagasaki ermittelt, das heißt Personen, die durch direkte Einwirkung der Detonation (Druck- und Hitzewelle) sowie durch Verstrahlung (Gammastrahlen) bis Ende 1945 gestorben waren. Spätere Erhebungen weisen aufgrund der nachgewiesenen Langzeitfolgen der Verstrahlung bei weitem höhere Zahlen für Personen aus, die im Zusammenhang mit den beiden Bombenabwürfen in den beiden Städten ums Leben kamen.1 Die vermeintliche Bedeutung der beiden Bombenabwürfe zur Beendigung des Pazifikkrieges, wie sie vor allem durch den damaligen US-Präsidenten Harry S. Truman immer wieder hervorgehoben wurde und maßgeblicher Baustein im revisionistischen Geschichtsbild der Vereinigten Staaten war und im Grunde genommen bis heute ist, ist inzwischen äußerst umstritten.2 Kritische amerikanische Historiker wie zum Beispiel John Dower sprechen hingegen von einem nuklearen Genozid, da es zum Zeitpunkt des Kriegsgeschehens keinerlei militärische Notwendigkeit mehr für die Abwürfe gegeben habe, sondern primär rassistische Aspekte eine zentrale Rolle bei der Auswahl des Ziellandes und der konkreten Durchsetzung der Bombenabwürfe trotz Widerstände in Regierungskreisen gespielt hätten.3 Doch auch innerhalb des japanischen Geschichtsrevisionismus, wie er ab Mitte der 1950er Jahre nachhaltig das nationale Narrativ zum 15-jährigen Krieg, das heißt 1 Zu den Zahlangaben vgl. Hiroshima-shi, Nagasaki-shi genbaku saigaishi henhū iinkai (Hg.), Genbaku saigai. Hiroshima, Nagasaki (= Iwanami gendai bunko gakujutsu 149), Tōkyō 2005. 2 Vgl. hierzu die Diskussionen in Philip Nobile (Hg.), Judgment at the Smithsonian. The Bombing of Hiroshima and Nagasaki, New York 1995. 3 Vgl. John Dower, Ways of Forgetting, Ways of Remembering. Japan in the Modern World, New York, London 2012, S. 138–160 sowie ders., Cultures of War. Pearl Harbor, Hiroshima, 9–11, Iraq, New York, London 2010, S. 166–177, 197–220.

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des Zeitraums vom Einmarsch in die Mandschurei im September 1931 bis zur Kapitulation im August 1945, prägen sollte, werden Hiroshima und Nagasaki zu »den« Schlüsselereignissen, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Die Atombombenabwürfe ermöglichten es nun dem japanischen Tennō, bislang Schlüsselfigur, auf dessen Weisung die aggressive Expansionspolitik vor allem in Ost- und Südostasien betrieben wurde, durch seine weise Entscheidung (seidan) den Krieg durch Annahme der Potsdamer Erklärung vorzeitig zu beenden. Hier waren es nicht, wie bei Truman, amerikanische Soldatenleben, die durch den Abwurf gerettet werden konnten, sondern japanische Zivilisten, die nun durch den Landesvater vor weiteren Abwürfen bewahrt werden konnten.4 Die Atombomben ermöglichten es dem Tennō, sich von einem Kriegstreiber in einen Friedensbringer innerhalb der nationalen Geschichtsschreibung neu zu erfinden – ein wichtiger Baustein für die Rehabilitierung, ­wodurch der Tennō einer Anklage im Rahmen der Tōkyōter Kriegsverbrechertribunale von 1946 bis 1948 schließlich entgehen konnte.5 Über den nuklearen Tod in Japan sprechen, heißt gleichzeitig, sich der äußeren Umstände, unter denen der Abwürfe zunächst nur erinnert werden konnte, noch einmal bewusst zu werden. Von September 1945 bis Oktober 1949 wurde von den Alliierten Streitkräften eine Zensurbehörde (Civil Censorship Detachment, CCD) eingerichtet, die zur Wahrung der weiteren demokratischen Entwicklung Japans alle Medieninhalte, die gegen den sogenannten Press Code vom 21. September 1945, ein aus zehn Hauptpunkten bestehender Kriterienkatalog der Alliierten, verstießen, herauszufiltern und zu beschlagnahmen.6 Die mehr als 9200 Personen, die für diese Behörde arbeiteten, zensierten Medieninhalte, die zu öffentlichem Aufruhr oder Missmut gegenüber den Besatzern und ihrer Politik führen konnten. Daher wurde das Gros der Berichte, das sich mit den Atombombenabwürfen und ihren Folgen befasste, vor allem in der Anfangszeit rigoros aus dem Verkehr gezogen. Diese vier Jahre 4 Vgl. hierzu auch Seizaburō Shinobu, Seidan no rekishigaku, Tōkyō 1992, S. 297–326. In der über das Radio ausgestrahlten Kapitulationserklärung vom 15. August 1945 heißt es hierzu: »Der Feind hat eine neue, grausame Waffe eingesetzt und damit unterschiedslos unschuldige Zivilisten getötet. […] Eine Fortsetzung des Krieges würde nicht nur zu einer Auslöschung unseres eigenen Volkes führen, sondern auch zu einem Ende der menschlichen Zivilisation.« Der Originaltext findet sich auf der Seite des kaiserlichen Hofamtes, https://www.kunaicho.go.jp/kunaicho/koho/taisenkankei/syusen/ pdf/syousyo.pdf (letzter Zugriff am 23.01.2022). 5 Vgl. hierzu auch Yoshikuni Igarashi, Haisen no kioku. Shintai, bunka, monogatari, Tōkyō 2007, S. 36–50. 6 Einzelne Punkte wie z.B. Punkt 2 (»Nothing should be printed which might, directly or indirectly, disturb the public tranquility«) waren so weit gefasst, dass Verstöße quasi vorprogrammiert waren. Das Original befindet sich heute in der Prange Collection der University of Maryland, https://www. lib.umd.edu/binaries/content/gallery/public/prange/about-us/censordocs_presscode.jpg (letzter Zugriff am 23.01.2022).



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schufen, so der japanische Kritiker Etō Jun in seiner Studie zu den Auswirkungen der Zensur auf die japanische Nachkriegszeit, einen versiegelten Diskursraum (tozasareta gengo kukan), der eine Absenz, eine Leerstelle im historischen Bewusstsein in Japan erzeugte.7 So bekennt zum Beispiel der Autor Inoue Hisashi in einer Gesprächsrunde zum Thema Atombombenliteratur (genbaku bungaku), dass er selbst erst 1951 von den eigentlichen Zerstörungen und Folgen der »neuartigen Bombe« erfahren habe.8 Doch ist dies nur die halbe Wahrheit, denn auch die japanische Regierung hatte wenig Interesse an einer Verbreitung von Informationen über die beiden Abwürfe, welche die Unterlegenheit Japans in diesem Krieg für jedermann hätte deutlich werden lassen. So wurden direkt nach der Kapitulationserklärung am 15.  August 1945 bis zur Arbeitsaufnahme der Alliierten Zensurbehörde am 10. September 1945 von japanischer Seite aus Informationen über die Abwürfe und die Folgen zurückgehalten. Auch nach der offiziellen Auflösung der Zensurbehörde am 31. Oktober 1949 wurde von japanischer Seite aus noch bis Anfang der 1950er Jahre eine entsprechende Medienzensur fortgeführt.9 Hinzu kam eine Art Hypersensibilität bei den japanischen Verlagen, die Repressalien seitens der Besatzer und finanzielle Einbußen durch die Konfiszierung bereits gedruckter Medienprodukte befürchteten, weshalb sie eine Form der freiwilligen Selbstzensur (jishuku) praktizierten, indem von vornherein eher unverfängliche Darstellungen und Berichte über die Bombenabwürfe in den Druck gingen. Erinnerungen an Hiroshima und Nagasaki waren somit – im Gegensatz zu anderen Kriegs­ erinnerungen – von Anfang an umkämpft und vor allem unbeliebt. Inmitten dieses systemisch geschaffenen Informationsvakuums verdienen die lite­ rarischen Zeugnisse von Überlebenden der Abwürfe besondere Aufmerksamkeit, sind sie doch die einzigen Quellen, die zu einem sehr frühen Zeitpunkt bereits das Unrepräsentierbare des bis dato noch unbekannten nuklearen Todes zu repräsentieren versuchten. Einige dieser Werke konnten in lokalen Literaturzeitschriften mit sehr geringer Auflage erscheinen und so der Zensur entkommen, andere wurden in zunächst verkürzter Form publiziert, bis dann einige Jahre später eine ungekürzte Drucklegung erfolgen konnte; andere jedoch gingen durch die Beschlagnahmung irreversibel verloren. Doch wäre es an dieser Stelle übereilt zu glauben, dass Augenzeugenberichte aus erster Hand zwangsläufig auf große Resonanz bei der übrigen japanischen Bevölkerung in der damaligen Zeit gestoßen wären. Genau das Gegenteil war meist der Fall, wie ich in den folgenden Ausführungen anhand der vielleicht be7 Vgl. Hierzu Jun Etō, Tozasareta gengo kūkan. Senryōgun no ken’etsu to sengo Nihon (= Bunshun bunko), Tōkyō 1994. 8 Vgl. Hisashi Inoue, Genbaku bungaku to Okinawa bungaku, in: Hisashi Inoue, Yōchi Komori: Zadankai Shōwa bungaku, Tōkyō 2013, S. 9–105, hier S. 25. 9 Vgl. hierzu Kōkichi Takakuwa, Makkāsā no shinbun ken’etsu, Tōkyō 1984, S. 35–52.

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kanntesten literarischen Augenzeugin des Atombombenabwurfs auf Hiroshima zeigen möchte, die wie keine Zweite erleben musste, wie schwierig das Erinnern von und das Gedenken an Hiroshima war.

2. Eine Literatin in Zeiten der Zensur

Ōta Yōko, 1903 in Hiroshima geboren, begann ihre schriftstellerische Tätigkeit schon weit vor den Abwürfen, und zwar im Jahr 1929 mit der Veröffentlichung ihres Debütromans. Der Abwurf auf Hiroshima, den Ōta Yōko selbst miterlebt hatte, stellte jedoch eine unwiderrufliche Zäsur in ihrem Schaffen dar: Fortan schrieb die Autorin fast ausschließlich über Hiroshima, die Bombe und die Folgen. Inmitten der vielen Augenzeugen stellte Ōta Yōko somit eine Ausnahme dar, da sie bereits zuvor als Schriftstellerin tätig und sich ihrer Rolle als Augenzeugin und Literatin, in ihren Berichten über den 6. August 1945 auch stets bewusst gewesen war. Bereits am 30. August 1945 veröffentlichte Ōta Yōko in der landesweiten Tageszeitung »Asahi shinbun« den kurzen Augenzeugenbericht »Ein tiefes, unergründliches Licht« (»Kaitei no yō-na hikari«), der die persönlichen Erlebnisse vom Abwurf der Bombe über das provisorische Kampieren am Flussufer bis hin zur Flucht aus der zerstörten Stadt in Kürze schilderte und als konzeptionelle Grundlage für weitere Werke diente. Dieser frühe Bericht, der vor der Einrichtung des oben erwähnten CCD in Druck ging, war gleich in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen sprach Ōta hier lediglich von einer neuartigen Bombe (shingata heiki) statt von Atombombe (genshi bakudan) – aufgrund der direkt im Anschluss verhängten Zensur seitens der japanischen Regierung blieb die wahre Natur dieser »neuartigen Bombe« dem Gros der Bevölkerung zunächst noch verborgen. Zum anderen äußerte sie in diesem frühen Text noch recht unverblümt ihre Meinung gegenüber den Siegermächten: Es ist beschämend, dass sie die Bombe nur aus dem einen Grund eingesetzt haben, um diesen Krieg früher beenden zu können. Die Deutschen haben den Krieg verloren. Aber genauso wenig, wie ich die Deutschen [für ihre Niederlage] verachten kann, kann ich die anderen [für ihren Sieg] mit dieser neuartigen Bombe bewundern. Hiroshima hat verheerende Schäden davongetragen; wenn man jedoch das Bild dieser [zerstörten] Stadt als hässlich empfinden sollte, so handelt es sich dabei um nichts Anderes als die [innere] Hässlichkeit derjenigen, die diese Bombe abgeworfen haben.10

10 Yōko Ōta, Kaitei no yō-na hikari, in: Asahi shinbun, 30. August 1945, S. 2.



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Im November 1946 versuchte die Autorin, in der Literaturzeitschrift »Erzählungen« (»Shōsetsu«) zunächst ihre Kurzgeschichte »Flussufer« (»Kawara«), die den Überlebenskampf dreier Opfer in den ersten Monaten nach dem Abwurf schildert, zu veröffentlichen, doch wurde die komplette Ausgabe der Zeitschrift Gegenstand der Zensur, so dass diese Kurzgeschichte bis zur Februarausgabe 1948 unveröffentlicht bleiben musste.11 Im selben Jahr erschien dann Ōtas bis dato umfangreichster Bericht über den 6. August 1945, die »Stadt der Leichen« (»Shikabane no machi«), der zwar bereits zwischen August und November 1945 in Grundzügen entstanden war, jedoch erst 1948 in Druck gehen konnte. Auch hier führte die von den Alliierten verhängte Zensur letztlich dazu, dass die »Stadt der Leichen« erst verspätet im Jahr 1950, das heißt ein Jahr nach Auflösung des CCD, in einer ungekürzten Fassung bei dem Verlag Tōga shobō gedruckt werden konnte.12 Bemerkenswert ist in diesem Kontext nun ein weiterer Text von Ōta Yōko, der in der Forschung bislang jedoch keinerlei Berücksichtigung gefunden hat: »6. August, 8.15 Uhr« (»Hachigatsu muika hachiji jūgofun«). Dieses in der kulturpolitischen Zeitschrift »Wiederaufbau« (»Kaizō«) im August 1949 veröffentlichte Werk erschien nicht nur zwischen den beiden Versionen ihrer »Stadt der Leichen«, sondern auch kurz vor Ende der offiziellen Pressezensur durch das CCD. In diesem kurzen Text, auf den im folgenden Abschnitt näher eingegangen werden soll, verwendete Ōta zum ersten Mal einige Passagen des eigentlich schon für ihre Erstpublikation der »Stadt der Leichen« vorgesehenen Kapitels »Apathische Gesichter« (»Muyoku ganbō«). Interessanterweise war es jedoch nicht Ōtas Geschichte, die bei der obligatorischen Präzensur der Ausgabe im Juli 1949 zum Stein des Anstoßes für die Zensoren wurde, sondern Geschichten von Schriftstellerkollegen wie zum Beispiel Satomi Ton. Das Auge der Zensoren war allem Anschein nach – vielleicht auch aufgrund der Effizienz der Selbstzensur der Verlage – gegenüber Berichten über den Atombombenabwurf auf Hiroshima gegen Ende des CCD milder geworden.

11 In der betreffenden Ausgabe wurde – wie die Zensurnotizen zeigen – die Kurzgeschichte »Ins Vaterland« (»Kokoku e«) von Tamura Taijirō wegen des Vorwurfs der Kriegspropaganda von den Zensoren beanstandet. Warum jedoch die bereinigte Version von »Ins Vaterland« bereits im November 1947 in der Zeitschrift erscheinen konnte, während Ōta Yōkos nicht beanstandete Geschichte »Flussufer« erst im Februar 1948 in Druck gehen konnte, ist unklar. 12 Die Publikation der »Stadt der Leichen« ist ein Paradebeispiel für die äußerst angespannte Atmosphäre von Zensur und Selbstzensur in der Zeit. Einerseits wurden von den Alliierten Stellen des Manuskripts zensiert und zur Überarbeitung an den Verlag bzw. die Autorin zurückgegeben, andererseits hat der Tōkyōter Verlag Chūō kōronsha von sich aus das möglicherweise Probleme verursachende Kapitel »Apathische Gesichter« (»Muyoku ganbō«) im Vorfeld aus dem Manuskript gestrichen. Vgl. hierzu den Textvergleich in Hiroyoshi Nagaoka, Genbaku bunken wo yomu, Tōkyō 1982, S. 241– 267.

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Bis Mitte der 1950er Jahre veröffentlichte Ōta verschiedene Erzählungen und Essays über Hiroshima, darunter »Menschliche Fetzen« (»Ningen ranru«, 1951), »Halb Mensch« (»Han ningen«, 1954) und »Stadt und Mensch in der ­Abendstille« (»Yūnagi no machi to hito to«, 1955) als wohl bekannteste Werke. Das Schreiben über Hiroshima und die Bombe erwiesen sich jedoch als zweischneidiges Schwert für die Autorin. Bald galt Ōta weithin als Atombombenautorin (genbaku sakka), die aus dem Schreiben über die Katastrophe Profit zu schlagen versuche, und Schriftstellerkollegen wie zum Beispiel Eguchi Kan kritisierten darüber hinaus ihre empfundene thematische Enge.13 Ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre distanzierte sich Ōta Yōko, die eigenen Aussagen zufolge nicht als Atombombenautorin verstanden werden wollte, immer weiter vom literarischen Establishment ihrer Zeit. Ihr Name blieb jedoch bis zu ihrem Tod im Jahr 1963 fest verbunden mit dem Schreiben über Hiroshima und die Bombe. In der heutigen Forschung gilt Ōta Yōko unbestritten als eine der Wegbereiterinnen der japanischen Atombombenliteratur, ein Genre, das überhaupt erst seit den 1970er Jahren durch die wegweisenden Arbeiten von Nagaoka Hiroyoshi und seit den 1980er Jahren durch Kuroko Kazuo als literarisches Genre sichtbar gemacht und zum Gegenstand erster literaturwissenschaftlicher Arbeiten genommen worden war. Außerhalb der Wissenschaft jedoch ist Ōta Yōkos literarisches Werk heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Abgesehen von »Stadt der Leichen« und »Halb Mensch« sind fast alle anderen Werke nur noch antiquarisch zu beziehen. Die Nichtpräsenz im Buchhandel ist ein Schicksal, das heute viele Atombombenautorinnen teilen. Für Ōta Yōko waren die Zeichen der Zeit für ein Erinnern an die Geschehnisse vom August 1945 mehr als alarmierend: In Japan sind Werke über Themen, über die japanische Literati unbedingt einmal etwas hätten schreiben müssen, auch sieben Jahre nach Kriegsende noch nicht gedruckt worden. Stattdessen erscheinen bedauerlicherweise zusehends kriegsverherrlichende Werke und erfreuen sich auch noch hoher Verkaufszahlen. [Für diese Entwicklung] sehe ich das Gros unserer Literaten in der Verantwortung.14

Doch nicht nur die ersten Anzeichen geschichtsrevisionistischen Schreibens bereiteten der Autorin Sorgen, sondern auch das wachsende Desinteresse in der Bevöl13 Eguchi schlägt der Autorin »kollegialerweise« vor, noch einmal nach Hiroshima oder Nagasaki zu fahren, um neuen Stoff für ihre »Atombombenliteratur«, bei der der Stoff auszugehen scheint, zu finden. Vgl. Kan Eguchi Ōta Yōko ni kotaeru, in: Kindai bungaku 8 (3) 1953, S. 75–78, hier S. 78. 14 Yōko Ōta, Sakka no taido, in: Kindai bungaku 7 (7) 1952, S. 7–9, hier S. 8.



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kerung an dem Abwurf der Atombombe, der »für die Menschen nur noch eine Art Naturkatastrophe zu sein schien, die sich fern von einem selbst in Hiroshima und Nagasaki zugetragen hatte«.15 Für Ōta Yōko war das Schreiben über den 6. August 1945 jedoch mehr als nur ein Festhalten, ein Dokumentieren der Ereignisse. Es stellte gleichzeitig auch einen Übertragungs- und Übersetzungsprozess dar. Zum einen galt es, das bis dato Unrepräsentierbare sprachlich repräsentierbar zu machen, zum anderen eine als abgeschlossen erachtete Vergangenheit mit der Gegenwart des Lesers immer wieder neu zu verknüpfen, damit der Abwurf der Bombe auch nachhaltig zu einem verstehbaren Teil der eigenen Geschichte werden konnte.

3. Eine unmögliche Geschichte möglich machen

Ōta Yōkos Text »6. August, 8.15 Uhr«, der von den Herausgebern der Zeitschrift »Wiederaufbau« als ein »Stück Dokumentarliteratur, in das die Autorin […] ihre ganz persönlichen Erfahrungen gesteckt hat«,16 angepriesen wurde, war wie das Gros ihres Schreibens über den nuklearen Tod geprägt von einer gewissen Inkohärenz. Ōtas sich selbst auferlegtes Diktum der »Objektivierung« ihrer zunächst »subjektiv« gemachten Erlebnisse war hierfür eine der Hauptursachen. Der Text zeichnet sich durch eine Heterogenität der einzelnen Elemente aus, was in gewisser Weise auch die gesamte narrative Konzeption prägt, die sich in ihrer Ambivalenz dem Leser in einem Moment zu erschließen scheint und sich ihm im anderen Moment gleich darauf wieder zu entziehen versucht. Der »6. August, 8.15 Uhr« ist weniger eine durchkonzipierte literarische Dokumentation des Geschehenen als vielmehr der fragmentierte Augenzeugenbericht eines traumatischen Ereignisses, welches die Autorin vier Jahre zuvor selbst durchlebt hatte. Als Autorin und Augenzeugin einer noch nie dagewesenen Katastrophe trägt Ōta Yōko im Grunde genommen eine unmögliche Geschichte (impossible history) in sich; Cathy Caruth spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Krise der Wahrheit (crisis of truth), da sich das traumatische Ereignis in seiner Zugänglichkeit der Augenzeugin entzieht und somit bei der Autorin und der Leserschaft Zweifel an der Korrektheit und Darstellung des Durchlebten aufkommen lässt.17 Die Hinzunahme von Informationen aus externen Quellen war daher Ōtas Mittel der Wahl, um dieser Wahrheit für sich  – und auch ihre Leser  – habhaft zu werden. 15 Ebd. 16 Yōko Ōta, Hachigatsu muika hachiji jūgofun, in: Kaizō 30 (8) 1949, S. 42–49, hier S. 42. 17 Vgl. hierzu Cathy Caruth, Trauma and Experience, in: Dies. (Hg.), Trauma. Explorations in Memory, Baltimore, London 1995, S. 3–12, hier S. 5–8.

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Ōta Yōko beginnt ihren aus der Ich-Perspektive geschilderten Bericht nahezu unvermittelt mit dem Moment des Abwurfs der Bombe am 6. August um 8.15 Uhr. Das intradiegetische »Ich«, das sich zum Zeitpunkt der Detonation im Haus seiner Mutter im Stadtviertel Hakojima Kukenchō im Norden der Stadt Hiroshima befindet, wird durch ein blaues, gleißendes Licht aus dem Schlaf gerissen. Als »Ich« noch halb benommen aus dem Fenster des ersten Stocks blickt, macht sich bereits eine dunkle Vorahnung breit: Die ganze Stadt hatte sich, soweit der Blick reichte, in eine Stadt der Verwüstung verwandelt. Die langen, sich windenden Häuserreihen des Viertels lagen zusammengestürzt herum, so als ob sie sich an den Boden schmiegen wollten, und die Rundfunkstation […] sowie das Verlagsgebäude der Zeitung »Chūgoku shinbun«, die bislang beide nicht zu sehen waren, ragten nun als einzige [Gebäude] noch in die Höhe.18

Wie durch ein Wunder überleben »Ich«, seine Mutter und seine jüngere Schwester mit einem Säugling den Abwurf und fliehen vor den sich ausbreitenden Bränden zum nahegelegenen Fluss. Das Flussufer (kawara), das bereits drei Jahre zuvor Ōta Yōkos fiktionalisierter Protagonistin Koyuki in der gleichnamigen Kurzgeschichte Schutz geboten hat, dient diesmal Ōtas intradiegetischem Alter Ego »Ich« und seiner Familie als temporäres Refugium vor dem sich ausbreitendem Flammenmeer. Die Autorin versucht erst gar nicht das Unmögliche, das ganze Ausmaß der Katastrophe darzustellen. Statt ihre Leser durch die zerstörte Stadt zu begleiten, führt Ōta Yōko Menschen mit den unterschiedlichsten Verletzungen – quasi stellvertretend für die Vielschichtigkeit des nuklearen Todes – zum Flussufer. Von überall her kommen »Menschen, die mit beiden Händen ihre noch immer blutenden Wunden zuhalten, Menschen, bei denen die Haut ihres nackten, rotweiß aufgedunsenen Körpers in Fetzen herunterhängt, Menschen, bei denen alle Haare, die einmal unter ihrer Kopfbedeckung herausgeragt hatten, weggebrannt waren«.19 Ōtas Protagonistinnen wirken intradiegetisch in gewisser Weise distanziert: einerseits durch den vergleichsweise geringen Grad ihrer äußerlichen Verletzungen (Schnittwunden, Schwellungen etc.), andererseits durch die fehlende Kommunikation mit ihrer Umwelt. Nur »Ich« tritt direkt in Kontakt mit einigen der Überlebenden, die für den unwissenden Leser als objektivierende und gleichzeitig affirmierende Quelle fungieren. Die Anonymität der Überlebenden  – »eine Frau«, »ein junger Soldat« oder »ein Mann« – ermöglicht es Ōta Yōko, sie als Pars pro toto für die Gesamtheit derer, die bei dem Abwurf zunächst noch mit dem Leben davongekomme18 Ōta, Hachigatsu muika hachiji jūgofun (wie Anm. 16), S. 43. 19 Ebd., S. 44.



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nen waren, sprechen zu lassen. Doch während noch jenseits des Flussufers die Brände weiter wüten, holt auch die Überlebenden am Fluss letztlich der unvermeidliche Tod ein: »Das, was sich hier abspielte, war jedoch kein Einzelfall. Zunächst türmten sich an allen Flussufern der sieben Flüsse, die durch Hiroshima fließen, die Leichenberge, später dann auch in allen Vierteln der Stadt. Das hier war lediglich der Beginn eines großen und langen Sterbens.«20 Am dritten Tag verlassen »Ich« und seine Familie das sich mehr und mehr in einen Friedhof verwandelnde Flussufer und suchen Zuflucht bei Verwandten auf dem Land. Die Stadt, die »Ich« hinter sich gelassen hat, ist nur noch eine Stadt der Leichen. Die Autorin unternimmt erst gar nicht den Versuch, das Ausmaß der zerstörten Stadt zu beschreiben; stattdessen fokussiert sie gänzlich auf die menschliche Tragödie, um das Ungeheuerliche der Katastrophe vermittelbar zu machen: Überall lagen nackte Leichen, mal mit dem Gesicht nach unten gedreht, mal in zusammengekauerter Haltung. Einige, die an Steinmauern Schutz gesucht hatten, waren selbst zu Stein geworden. Bei anderen war, obwohl sie keine Kleidung mehr anhatten, nicht mehr zu erkennen, ob es sich um Männer oder Frauen handeln mochte, da sie gleich einer ölig glänzenden Buddhastatue [miteinander verschmolzen waren].21

Doch auch außerhalb von Hiroshima verfolgt »Ich« der nukleare Tod. Das plötzliche Sterben, das unter den Überlebenden des Abwurfs als Folge der Verstrahlung um sich greift, erklärt die Autorin ihren Lesern sachlich-nüchtern als Auswirkungen des Urans auf den menschlichen Körper: Es gibt hierbei drei Arten des Sterbens durch die Bombe: erstens der sofortige Tod, zweitens der Tod aufgrund durchfallartiger Symptome, die der roten Ruhr ähneln, und drittens der Tod trotz nur kleinerer äußerer Hautverletzungen […]. Bei diesen treten dann im Lauf der Zeit Zahnfleischbluten, Haarausfall, Anämie und Kehlkopfgeschwüre auf. Andere spucken oder erbrechen Blut, haben Blut in Urin und Stuhl oder Bluten aus den Hautporen.22

Anfang des darauffolgenden Jahres besucht »Ich« zum ersten Mal wieder die Innenstadt von Hiroshima  – eine Stadt, die ihr nicht nur durch die Bombe fremd geworden ist. Die überfüllten Straßen und Bahnen, die sich ihr zeigen, gaukeln für den Moment das Bild einer zur Normalität zurückgekehrten Stadt vor. Doch wo 20 Ebd., S. 45. 21 Ebd., S. 47. 22 Ebd., S. 48.

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immer auch das Auge hinblickt, erinnern die von der Bombe Gezeichneten an jenen Tag im August. Ōta Yōkos »6.  August, 8.15  Uhr« verkörpert die Zerrissenheit, die viele frühe Autorinnen und Autoren verspürt haben mussten, um einen adäquaten Weg zur Vermittlung ihrer persönlichen Erlebnisse an Dritte zu finden. Die bewusste Wahl eines eher dokumentarischen Stils birgt ein neues Problem in sich, wie John Whittier Treat bemerkt, denn es stellt sich die Frage, inwieweit Nicht-Opfer-Leser durch den Text ermächtigt werden sollen, um die Geschichte von Hiroshima zu ihrer ganz eigenen Geschichte machen zu können.23 Ōta erzeugt eine permanente Distanz zwischen ihrem »Ich«, der Bombe und der Leserschaft. Für die Leserschaft wird es somit nicht möglich, zu einem second witness zu werden, wie Dominick LaCapra die Möglichkeit des Sich-hinein-Versetzens in und Nacherlebens von traumatischen Ereignissen als Teil einer eigenen Erfahrung durch das Lesen bezeichnet.24 Die Erfahrungen bleiben versiegelt und dadurch unzugänglich im Text. Ōta Yōko kündigt, wie Treat zu Recht weiterschreibt, den stillschweigend vorausgesetzten Pakt der Dialogizität zwischen Autor und Leser, doch wird dabei außer Acht gelassen, dass die Autorin immer auch gleichzeitig Opfer ist.25

4. Die neuen Zeichen der Zeit

Ōta Yōkos »6. August, 8.15 Uhr« wurde veröffentlicht in einer Zeit der nationalen Reartikulation und Rekonstruktion. Die Autorin sah sich dabei mit dem Problem konfrontiert, über etwas Zeugnis ablegen zu wollen und zu müssen, was aufgrund der verhängten Zensur zu einer nationalen Leerstelle im historischen Gedächtnis geworden war, denn die knapp vier Jahre währende Zensur der Alliierten zum Umbau Japans in einen demokratischen Staat der freien Meinungsäußerung hatte mit ihrem Press Code zur vermeintlichen Wahrung der Ruhe und Sicherheit im Land zu einer Ausfilterung unerwünschter Text, Bild- und Tondokumente geführt. Der eingangs erwähnte verschlossene Diskursraum als Folge der Zensurpraxis bedingte eine Nichtartikulation und somit Ausblendung historischer Fakten und Zusammenhänge. Gerade weil objektives Informationsmaterial entweder direkt im ­Vorfeld bei der Produktion herausgestrichen oder zumindest im Nachhinein vor einer möglichen Distribution beschlagnahmt und meist außer Landes gebracht worden war, stellten Prosa und Lyrik 23 Vgl. John Whittier Treat, Writing Ground Zero. Japanese Literature and the Atomic Bomb, Chicago, London 1995, S. 206. 24 Vgl. Dominick LaCapra, History and Memory after Auschwitz, Ithaca, London 1998, S. 20–22. 25 Vgl. Treat, Writing Ground Zero (wie Anm. 23), S. 207.



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eine wichtige, alternative Informationsquelle über die Ereignisse in Hiroshima und Nagasaki dar, vor allem für die Leserschaft außerhalb der Schadensgebiete. Gegenüber der Bombe und ihren Folgen herrschte somit, wie Shigesawa Atsuko konstatiert, Unwissen (muchi) und Desinteressiere (mukanshin) in der breiten Bevölkerung.26 Auch wenn die »Asahi shinbun« ihren am 8. August 1945 noch vagen Bericht über den Abwurf einer sogenannten feindlichen neuartigen Bombe (teki shingata bakudan) auf Hiroshima bereits kurze Zeit später nach der Radioansprache von Harry S. Truman in Amerika am 9. August 1945 konkretisieren und am 11. August 1945 zum ersten Mal den Begriff Atombombe (genshi bakudan) in Verbindung mit der Zerstörung Hiroshimas erwähnen konnte, blieb doch das wahre Schadensausmaß im Vergleich zu den konventionellen, in den Luftangriffen während des Krieges eingesetzten Bomben aufgrund der Geheimhaltung durch die Zensur nicht ermessbar.27 Ōta Yōko musste für den Leser den 6.  August 1945 nicht nur als ein Stück vergessene Kriegsgeschichte rekonstruieren, sondern als einen Teil gemeinsamer Nachkriegsgeschichte rekonfigurieren. Die Beschreibungen stellten für die Autorin auf sprachlicher Ebene eine Herausforderung dar, galt es doch einerseits, die sichtbaren Spuren so in Worte zu fassen, dass sie nicht durch Stereotypisierungen oder Simplifizierungen ihre bis dahin historische Singularität und Ungeheuerlichkeit einbüßten. Andererseits war es aber notwendig, die trügerische Sicherheit der anscheinend noch körperlich unversehrten Überlebenden, die wenige Wochen nach dem Abwurf an den indirekten Folgen der Bombe sterben sollten, den Lesern als neue Gefahr bewusst zu machen.28 Doch nicht nur Ōtas Schilderungen des schleichenden Todes unter den Überlebenden, die meist in den offiziellen Statistiken als Opfer der Bombe nicht erfasst wurden, da »die Ärzte auf den Totenscheinen Blutvergiftung als Todesursache vermerkten«,29 sind bemerkenswert. Auch die Tatsache, dass Ōta in diesem frühen Text bereits die Bezeichnung Strahlenopfer (hibakusha) benutzte statt wie bis dahin üblich Katastrophenopfer (risaisha) bzw. Kriegsopfer (sensaisha), verdient Be26 Vgl. Atsuko Shigesawa, Genbaku to ken’etsu. Amerikajin kishatachi ga mita Hiroshima, Nagasaki (= Chūkō shinsho 2060), Tōkyō 2010, S. 136–174. 27 Vgl. »Asahi shinbun«, 8. August 1945, S. 1 sowie »Asahi shinbun«, 11. August 1945, S. 1. 28 Im amerikanischen Narrativ der »sauberen« Bombe war das Thema der Strahleneinwirkungen auf Mensch und Umwelt lange Zeit Tabu. Der am 12.09.1945 in der »New York Times« erschienene Bericht des australischen Reporters Wilfried G. Burchett, der als erster Reporter überhaupt direkt nach dem Abwurf in Hiroshima recherchieren konnte, schilderte erstmalig die Strahlenschäden durch die Bombe. Kurze Zeit später wurde daher auf Betreiben der Alliierten eine vermeintlich wissenschaftlich basierte Gegendarstellung veröffentlicht, in der Burchetts Bericht als haltlos diffamiert wurde. Seitdem war das Thema möglicher Strahlenschäden zu einem der sensibelsten Themen für die Zensoren geworden. Vgl. hierzu ausführlich Sōzō Matsuura, Zōho ketteiban: Senryōka no genron dan’atsu, Tōkyō 1974, S. 379–389. 29 Ōta, Hachigatsu muika hachiji jūgofun (wie Anm. 16), S. 48.

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achtung, denn der Terminus hibakusha taucht, wie Naono Akiko in ihrer Studie zeigt, erst ab Anfang 1950 zunächst sporadisch in den Tageszeitungen auf, bevor er sich dann nach den Wasserstoffbombentests im Bikini-Atoll 1954, bei denen das japanische Fischerboot Lucky Dragon Nr. 5 durch den anschließenden Fallout verstrahlt worden war, fest im japanischen Diskurs über die Atombombe etablieren konnte. Die Besatzung der Lucky Dragon wurde zu einer Metonymie für die gesamte Nation, die sich nun in ihrer Selbstwahrnehmung und beschreibung als einzige Atombombenopfernation (yuiitsu no hibakukoku) darzustellen begann.30 Um eine Verständnisbrücke zur Erfahrungswelt ihrer Leser zu schlagen, war für Ōta Yōko die Integration von Sachverständigenmeinungen das Mittel der Wahl. Womöglich auch aus einer gewissen Trotzhaltung heraus verwendete die Autorin in diesem Text Fragmente aus ihrem vom Verlag Chūō kōronsha im Zuge freiwilliger Selbstzensur herausgestrichenen Kapitel »Apathische Gesichter«, das ursprünglich 1948 in der »Stadt der Leichen« abgedruckt werden sollte. In Form von (vermutlich) zeitgenössischen Zeitungszitaten kommen bekannte Wissenschaftler wie der Physiker Dr.  Fujiwara (Hiroshima-Bunri-Universität) oder der Pathologe Prof.  Tsuzuki (Tōkyō-Universität), die auch in zahlreichen Artikeln der großen Tageszeitungen »Asahi shinbun« oder »Yomiuri shinbun« in dieser Zeit als Experten zum Thema zu finden sind, in Auszügen zu Wort, um dem Leser die Spezifik des atomaren Schreckens noch einmal aus einer neutralen, dritten Erzählinstanz vor Augen zu führen. Ōta Yōko war vor allem eine unbequeme Stimme für ihre Leserschaft. Das Hiro­ shima, über das sie schrieb, war in erster Linie ein Ort des Verdrängen- und Vergessen-Wollens: »Die Japaner von heute haben natürlich kein Interesse [mukanshin] mehr an den Atombombenschäden in Hiroshima oder Nagasaki. Aber selbst die Einwohner von Hiroshima wollen inzwischen keine wissenschaftlichen Erklärungen […] mehr hören.«31 Hiroshima verlor im Bewusstsein der Menschen seine historische Singularität – die allgemeine Gleichbehandlung mit anderen konventionellen Bombardierungen während des Krieges ließ ein Handeln seitens der Regierung durch entsprechende Hilfsmaßnahmen in vielen Augen nicht dringender notwendig erscheinen als in anderen Schadensgebieten. Der »6.  August, 8.15  Uhr« wurde in einer Zeit publiziert, in der das »alte« Hiroshima nur noch eine blasse Erinnerung war was sich auch an der Schreibung im Japanischen zeigte. Das »neue« Hiroshima der Nachkriegszeit wurde im allgemeinen Mediendiskurs vor allem als ヒロシマ geschrieben (anstelle der historischen Schreibung 広島). Diese harmlos aussehende Notationsänderung barg zentrale Konnotationsverschiebungen im Umgang mit Hiroshima als »Ort«. Die neue Schreib30 Vgl. hierzu Akiko Naono, Genbaku taiken to sengo Nihon, Tōkyō 2015, S. 16–56. 31 Ōta, Hachigatsu muika hachiji jūgofun (wie Anm. 16), S. 48.



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weise mit den Silbenschriftzeichen ヒロシマ löste die Stadt Hiroshima aus ihrem historischen und geographischen Kontext heraus und transformierte sie in einen abstrakten Raum kollektiver Erinnerung.32 Dieses »neue« Hiroshima begann direkt nach dem Abwurf um 8.15  Uhr. Es streifte das historische »alte« Hiroshima33 ab und rekonfigurierte es als wichtigen Teil des neuen nationalen Narrativs der Nachkriegszeit. Damit einher ging zugleich eine Entpolitisierung des Ortes. Das »neue« Hiroshima war nun vorwärts- und zukunftsgerichtet; es fragte nicht nach der Bombe und damit auch nicht nach den Gründen für den Abwurf. Japans Rolle als Aggressor während des 15-jährigen Krieges wurde mehr und mehr verschleiert und leistete der nationalen Selbstviktimisierung weiter Vorschub.34 Bereits Ende 1945 wurden in Hiroshima die Pläne für einen Wiederaufbau der Stadt als Symbol des Weltfriedens gefasst und damit zugleich die Weichen für das neue nationale Geschichtsnarrativ gestellt. In diesem nachkriegszeitlichen Gründungsmythos (kigen no monogatari) ermächtigte die Bombe, wie eingangs erwähnt, den Tennō zu seiner weisen Entscheidung und versöhnte die Bevölkerung dadurch mit Kaiser und Kaiserhaus, in deren Namen Abermillionen während des Kriegs ihr Leben lassen mussten, so dass diese auch nach der Kapitulation weiter fortbestehen konnten.35 Zudem lenkten die Betonung des Weltfriedens und die Hoffnung an eine Neuerfindung Hiroshimas die Bevölkerung von Hiroshimas wohl größtem Problem ab: Was macht man mit den Überlebenden, die vorerst dem nuklearen Tod entkommen sind? Im selben Jahr, in dem »6. August, 8.15 Uhr« erschien, trat das zuvor über eine Volksabstimmung in Hiroshima mit überwältigender Mehrheit verabschiedete und anschließend vom japanischen Parlament ratifizierte Gesetz zum [Wieder-]Aufbau Hiroshimas in eine Stadt des Gedenkens an den Frieden (Hiroshima heiwa kinen toshi kensetsu hō) in Kraft. Mit diesem Gesetz erlangte die Stadt einen Sonderstatus unter den im Krieg zerstörten Städten, was zu entsprechenden Sonderzahlungen durch den Staat führte. Gleichzeitig verpflichtete sich die Stadt zur Musealisierung 32 Dass es sich hierbei um eine dem nuklearen Diskurs inhärente Strategie der zeitlichen und lokalen Entkopplung handelt, verdeutlichte der 11. März 2011. Die Region Fukushima, in der sich die sog. Dreifachkatastrophe (Higashi Nihon daishinsai) ereignete, wurde im Anschluss statt der üblichen Schreibweise als 福島 nun ebenfalls in Silbenschrift als フクシマ geschrieben und somit in einen diskursiven Nichtort transformiert. 33 Dieses historische Hiroshima ist nicht nur das durch die Atombombe zerstörte Hiroshima mit seiner berühmten Burg und seiner Altstadt; es ist gleichzeitig auch das militaristische Hiroshima des japanischen Kaiserreichs, in dem seit Beginn des ersten Sino-Japanischen Krieges 1894/1895 die militärische Regierungszentrale (daihon’ei) saß – mit anderen Worten ein Hiroshima, das zu einer sehr unliebsamen Erinnerung nach der Kapitulation geworden war. 34 Vgl. Hiroshi Matsumoto, Hiroshima to iu shisō, Tōkyō 1996, S. 14–16. 35 Zu diesem Gründungsmythos als zentrale Diskursformation der Nachkriegszeit vgl. Igarashi, Haisen no kioku (wie Anm. 5), S. 33–43.

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ihrer selbst als Mahnmal für den Weltfrieden mit den entsprechenden Bauprojekten in der Innenstadt.36 In ihrem 1955 erschienenen Werk »Stadt und Mensch in der Abendstille« ließ Ōta Yōko ihr autobiographisches Alter Ego, die Autorin Oda Atsuko, die ebenfalls eine Überlebende des Abwurfs ist, nach Hiroshima für eine Reportage reisen, um einen Blick hinter die Kulissen dieses strahlenden Nachkriegshiroshimas zu werfen. Atsuko findet hier, in der anonymisierten Stadt H., die Slums der Atombombenopfer jenseits der prächtigen Boulevards, die aus der nationalisierten Erinnerung ausgegrenzt bzw. ausgelöscht scheinen: »Nach und nach hat sich das Hiroshima, das jetzt in Katakana als ヒロシマ geschrieben wird, herausentwickelt. […] Wiederaufbau ist aber etwas anderes, diese Schreibweise für Hiroshima ist mir zuwider.«37 Dem Leser offenbarte sich hier in Ōtas Erzählung, die bezeichnenderweise den Untertitel »Die Wirklichkeit [von Hiroshima] im Jahre 1953« (1953-nen no jittai) trägt, eine Parallelwelt der Vergessenen, der Strahlenopfer, der Zwangsdeportierten aus den ehemaligen japanischen Kolonien, der Kleinkriminellen etc., denn für diese hatte sich die im Wiederaufbau befindliche Stadt in eine fremde, unbewohnbare Filmkulisse verwandelt, bei der die neuen Boulevards und Geschäftsfassaden lediglich die Illusion einer wie Phönix aus der Asche wieder auferstandenen Stadt erweckten. Das wahre Hiroshima zeigte sich hingegen in den Slums an und auf den Flussdämmen, in welchen die sozial Abgehängten ihren letzten Zufluchtsort gefunden hatten. Und diese Slums wuchsen, wie Nishii Marina in ihrer Studie von 2020 zeigen konnte, rapide an, da nicht nur Überlebende aus den zerstörten Stadtvierteln nach Notunterkünften in einem der zahlreichen Slums suchten, sondern nun auch die aus der Evakuierung aufs Land zurückgekehrten Einwohner sowie die in die neuen Kolonien ausgewanderten und nach dem Krieg zwangsrepatriierten ehemaligen Bewohner Hiroshimas.38 Der generelle Mangel an Wohnraum führte dazu, dass viele, die sich zunächst nur provisorisch angesiedelt hatten, über Jahre dort wohnen blieben, bis dann die gesamten Innenstadtareale im Zuge der Auferstehung als Friedensstadt ab Anfang der 1950er Jahre Schritt für Schritt dem Erdboden gleichgemacht wurden. Die Transformation in eine Stadt des Friedens war vor allem auch eine Verwandlung in eine Stadt des Friedenstourismus. Dieser durch und durch kommerziell basierten Transformation

36 Da die Stadt Hiroshima mit dieser Gesetzesinitiative der Stadt Nagasaki zuvorgekommen war, musste sich diese – eine strategische Zusammenarbeit der beiden Atombombenstädte fand in dieser Zeit nicht statt – notgedrungen mit der Einbringung des Gesetzes zum [Wieder-]Aufbau von Nagasaki als internationale Kulturstadt (Nagasaki kokusai bunka toshi kensetsu hō) im selben Jahr neu erfinden, um ebenfalls Sonderzahlungen von der Regierung zu erhalten. 37 Yōko Ōta, Yūnagi no machi to hito to, in: Ōta Yōko shū 3, Tōkyō 1982, S. 136. 38 Vgl. Marina Nishii, Hiroshima – fukkō no sengo shi, Kyōto 2020, S. 241–249.



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der Stadt auf Kosten der Bevölkerung, die die Bombe überlebt hatte, begegnete die Autorin daher mit äußerster Skepsis. Mitte der 1950er Jahre war dieser Transformationsprozess in das »neue« Hiro­ shima des Friedens abgeschlossen. Die Einweihung des Dokumentationszentrums zum Gedenken an den Frieden in Hiroshima (Hiroshima heiwa kinen shiryōkan) im Jahr 1955 versiegelte das »alte« Hiroshima in der Vergangenheit und stellte zugleich mit der Bereitstellung seiner Räumlichkeiten für die landesweite Wanderausstellung zur friedlichen Nutzung von Kernenergie (Genshiryoku heiwa riyō hakurankai) im Folgejahr die Weichen für das neue Nachkriegsparadigma des strahlend-heiteren Lebens (akarui seikatsu) einer neu aufkommenden Mittelschicht in Japan.39

5. Von der Entbehrlichkeit einer Augenzeugin

Mit ihrem Schreiben über den nuklearen Tod löste vor allem die Autorin Ōta Yōko eine Debatte über die Frage der Literarizität und Legitimität von Atombombenliteratur im Allgemeinen aus. Das Verhaften an der intradiegetischen Ich-Perspektive erschien vielen Literaturkritikern und Schriftstellerkollegen der Nachkriegszeit als unliebsames Relikt der längst überwunden geglaubten literarischen Tradition der sogenannten Ich-Erzählungen (watakushi shōsetsu), eine aus dem europäischen Naturalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich entwickelnde Form der selbstzerfleischenden literarischen Nabelschau, die in der Nachkriegszeit in Verruf geraten war. Zudem entzog sich die faktische Nüchternheit der dokumentarischen Darstellung des Geschehenen, die zur Objektivierung des persönlich Erlebten und Erinnerten gezielt eingesetzt wurde, in der Regel den gängigen Vorstellungen von literarischem Schreiben. Daher waren Dokumentationsliteratur (kiroku bungaku) oder Augenzeugenliteratur (shōgen bungaku) meist Bezeichnungen, mit denen man versuchte, diese als andersartig empfundenen Texte zu etikettieren und gleichzeitig als unliterarisch zu marginalisieren. Hatten Frauen in den ersten Nachkriegsjahren im literarischen Establishment in Japan ohnehin einen schweren Stand, so waren Autorinnen von Atombombenliteratur von vornherein zur absoluten Ausgrenzung durch ihre Schriftstellerkollegen verdammt. Ōta Yōko, die in vielen ihrer Werke, die sich dem Atombombenabwurf und den Folgen widmeten, intradiegetisch als Literatin auftrat und agierte, wurde ext39 Für die von der amerikanischen Regierung lancierte Wanderausstellung wurde nicht nur ein Teil der aus den Ruinen zusammengetragenen Exponate aus dem Dokumentationszentrum entfernt, sondern einige Exponate der Ausstellung wurden als Dauerleihgabe bis Anfang der 1970er Jahre zusammen mit den Zeugnissen des Abwurfs unter einem Dach ausgestellt. Vgl. ausführlich Masumi Satō, Hiroshima wo nokosu, Tōkyō 2018, S. 133–140.

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radiegetisch von ihren Kritikern genau diese Fähigkeit, Literatur über die Bombe und die Folgen zu schreiben, aberkannt. Gerade weil das Schreiben über den 6.  August 1945 einen sprachlichen Diskursraum zur Verhandlung der japanischen Nachkriegs­ identität darstellte, waren in dieser Zeit die Sprecherpositionen hart umkämpft. Von europäischer – oder besser gesagt: deutscher – Warte aus betrachtet, ist die japanische Debatte um Literarizität und Legitimität von (literarischen) Zeugnissen, die von Überlebenden der Abwürfe verfasst worden sind, äußerst irritierend, würde doch niemand allen Ernstes den Überlebenden des Holocaust die Glaubwürdigkeit und Kompetenz absprechen, über ihre im Grunde unrepräsentierbaren Erfahrungen zu schreiben. Der Holocaustzeuge birgt, wie Giorgio Agamben kritisch anmerkt, eine Unmöglichkeit in sich, da er von etwas Zeugnis ablegt, in dessen Zentrum das Wesentliche fehlt, »etwas Unbezeugbares, das die Überlebenden ihrer Autorität beraubt«.40 Die Überlebenden sind daher in erster Linie »Bevollmächtigte: sie bezeugen ein Zeugnis, das fehlt«.41 Agamben verweist in seiner Dialektik des Erinnerns an den Holocaust auf das Paradox, dass die »echten« Zeugen als Opfer des Holocaust nicht mehr in der Lage gewesen seien, über diesen Zeugnis abzulegen; die Zeitzeugen somit vor allem Bevollmächtigte gewesen seien, an deren Stelle zu sprechen. Dies schwäche jedoch nicht den Wert des »Zeugnisses«, das diese Bevollmächtigen ablegten, vielmehr zwinge es den Leser dazu, den Sinn »in einer Zone zu suchen, in der wir ihn nicht vermutet hätten«.42 Im Falle des Diskurses um die Überlebenden der Atombombenabwürfe scheint den Überlebenden in Japan aber selbst diese Funktion als Bevollmächtigte abgesprochen zu werden. Bis Mitte der 1950er Jahre galten nur die Verstorbenen als Opfer der Bombe; erst mit der offiziellen Anerkennung der Strahlenerkrankung als Folge der Bombe wurde auch auf die Überlebenden der Begriff des Opfers ausgeweitet. Atombombenautorinnen wie Ōta Yōko, die Opfer und Schriftstellerin in einem waren, scheinen zudem Sündenböcke in einem viel größeren Diskurs der Nachkriegszeit zu sein. Das Mitläufertum führender Intellektueller und das Versagen der Literatur, einen wirksamen Gegendiskurs während der Zeit des 15-jährigen Krieges zu entwickeln, führte in der direkten Nachkriegszeit zu erbitterten Kämpfen in den führenden Literaturzeitschriften um die Frage, wie objektiv moderne Literatur sein müsse und wie subjektiv sie noch sein dürfe.43 Die Ausblendung sozialer Realität in 40 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (= edition suhrkamp), Frankfurt a. M. 2003, S. 30. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Federführend waren hier die Zeitschriften »Neue japanische Literatur« (»Shin Nihon bungaku«) und »Moderne Literatur« (»Kindai bungaku«), in denen die Frage nach der Kriegsverantwortung führender Literaten zu heftigen Debatten und Diffamierungen führte.



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den Werken der zuvor erwähnten Ich-Erzählungen wurde dabei als einer der Hauptgründe für das Versagen führender Literaten gesehen, die vor den soziopolitischen Missständen während der Kriegsjahre bereitwillig ihre Augen verschlossen hätten. Der Autor Hosoda Tamiki erklärte 1946 daher zur Aufgabe der neuen Nachkriegs­ literatur programmatisch: Das Wichtigste ist, dass ein Autor weder die historischen Wahrheiten verzerrt noch nach Gutdünken mit seinen subjektiven Eindrücken beschönigt. Stattdessen sollte er sich multiperspektivisch dieser Realität stellen, sie von oben und von unten, von rechts und von links betrachten. Er sollte darüber reflektieren, was Wahrheit und was Realität ist, und dies seiner Leserschaft in konziser Form vermitteln.44

Doch dieses neue Wahrheits- und Realitätsdiktum traf auf die Atombombenliteratur wiederum nur zum Teil zu. Augenzeuginnen wie Ōta Yōko, die – so 1955 der Kritiker Hanada Kiyoteru – »als direkte Opfer dieser Bombe den Wunsch haben, zum stellvertretenden Sprecher [für all die stummen und verstummten Zeugen] zu werden, ohne selbst ihr Leid zu klagen und zu benennen«,45 kommen ihrer Verantwortung als Autorin gleich in doppelter Hinsicht nicht nach. Weder vermögen sie, objektive Berichte (kiroku) zu schreiben, noch sind sie in der Lage, ihr innerstes Trauma adäquat zur Sprache zu bringen (bungaku). Diese Ambivalenz führt letztlich dazu, dass das Band zu den Lesern in diesem Übertragungsprozess auf eine harte Probe gestellt ist, zumal es sich letztlich um ein reziprokes Band handeln muss, wie John Whittier Treat treffend festhält: Every representation of is a representation to; rhetoric is directed toward assisting the reader to grasp the work in a predetermined way. Such coercion, however gentle, is bound up with contending premises, both on the author’s part and the reader’s, over rights to knowledge and consequently power.46

Es scheint, dass für viele Kritiker Atombombenautorinnen wie Ōta Yōko ihr Anrecht eingebüßt hätten, selbst durch ihre Erlebnisse traumatisiert worden zu sein. Von ihnen wurde erwartet, objektive Berichterstattungen über den 6.  August zu geben, die mit einer neuen Form der literarischen Darstellung und einer neuen Form der Sprache nun all die Bedingungen einer modernen Dokumentarliteratur zu erfüllen 44 Tamiki Hosoda, ›Minshu sensen‹ no bungaku e, in: Chūgoku bunka 1 (1) 1946, S. 2–6, hier S. 6. 45 Kiyoteru Hanada, Genshi jidai no geijutsu, in: Nihon no genbaku bungaku 15, Tōkyō 1983, S. 198– 208, hier S. 204. 46 Treat, Writing Ground Zero (wie Anm. 23), S. 207.

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hatten. Ōta Yōko beschritt durchaus mit ihrem Schreiben einen literarischen neuen Weg, wie die Analyse von Yamamoto Akihiro zeigt, doch gelangte dies erst posthum und auch nur in einem kleinen Kreis zur entsprechenden Wertschätzung.47 Die besondere Schwierigkeit, die sich für die Autorin dabei ergab, ihre eigenen Erlebnisse mit der Erlebniswelt von Personen, die keine Atombombenopfer waren, zu verknüpfen, resultierte in einem fundamentalen, für viele hibakusha zunächst nicht wahrnehmbaren Wandel auf Leserseite, denn im Zuge der Institutionalisierung landesweiter Erinnerungskulturen an die Abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki transformierte sich die gesamte Bevölkerung zu einer imaginierten Sympathiegemeinschaft (kyōkan no kyōdōtai) von Opfern der Bombe. Das heißt, Überlebende wie Ōta Yōko verlieren ihre Singularität und Legitimität als authentische Stimme, die über den Abwurf und die Folgen Zeugnis ablegen. Sie schreiben, ohne dies selbst zu realisieren, für Leser, die nun selbst – zumindest emotional – zu Opfern geworden sind und die nur noch in ausgewählten Situationen Unterstützung durch »echte« Überlebende des nuklearen Todes bedürfen. Ōta Yōko war, wie es Kuroko Kazuo treffend auf den Punkt bringt, nicht in der Lage (oder vielleicht auch nicht willens) zu sehen, dass der 6. August 1945 längst nicht mehr in der Hand der Überlebenden lag: Er war nun zu einer Staatsangelegenheit geworden.48 Ōta Yōkos schriftstellerisches Alter Ego Oda Atsuko in der Erzählung »Halb Mensch«, das sich zum Schlaftablettenentzug seiner posttraumatischen Störung in eine Klinik begibt, beklagt dies stellvertretend: »Für die Rundfunkanstalten war es ganz natürlich, für die eine besagte Stunde jenen Tages Oda Atsuko, die mit dem oberflächlichen Etikett ›Atombombenautorin‹ versehen wurde, heranzuziehen, um sie über ihre Erinnerung an die Bombe erzählen zu lassen.«49 Oda Atsukos bzw. Ōta Yōkos Stimme findet in erster Linie Gehör im Rahmen nationaler, kollektiver Erinnerungsarbeit im August, als affirmative Stimme einer vermeintlich von allen geteilten Erinnerung an Hiroshima. In den ersten zehn Jahren, in denen Ōta Yōko über Hiroshima und die Bombe schrieb, wurde Hiroshima nicht nur entlokalisiert und enthistorisiert, es wurde auch zu einem abstrakten Nachbild einer längst vergessenen Erinnerung. Im Zuge eines nationalen Erinnerungskultes mit dem »neuen« Nachkriegshiroshima im Mittelpunkt wurde das Erinnern zum reinen Selbstzweck. Die möglichen Gründe für den Abwurf der Bombe wurden dabei genauso ausgeblendet wie die Überlebenden des Abwurfs 47 Vgl. hierzu Akihiro Yamamoto, Senryōka ni okeru hibaku taiken no ›katari‹, in: Genbaku bungaku kenkyū (10) 2011, S. 101–111. 48 Vgl. Kazuo Kuroko, Sengo, aru juso to ikari no kōzō, in: Shin Nihon bungaku 32 (4) 1977, S. 78–91, hier S. 91. 49 Yōko Ōta, Han ningen, in: Ōta Yōko shū 1, Tōkyō 1982, S. 276–277.



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als solche, die erst 1957 als Opfer offiziell von der Regierung in einem entsprechenden Gesetz Anerkennung fanden.50 Wie wenig die Bombe und die Augenzeugen in diesem neuen nationalen Narrativ Mitte der 1950er Jahre noch eine Rolle spielten, zeigt ein kurzer Blick in Geschichtslehrbücher dieser Zeit. Während in dem 1952 von Okada Yuzuru herausgegebenen Lehrbuch für die Junior High School »Demokratie und strahlende Zukunft« (»Minshu shugi to akarui seikatsu«) auf rund 65 Seiten in der Lerneinheit »Weltfrieden« (»Sekai no heiwa«) zahlreiche Augenzeugenberichte, darunter auch Exzerpte aus Ōtas »Stadt der Leichen«, die Ereignisse des August 1945 multiperspektivisch darzustellen versuchten, wurden aus den staatlich zugelassenen Lehrbüchern der Folgezeit diese Berichte über die Bombe(n) wieder entfernt.51 In dem 1956 von Konishi Shirō und Ienaga Saburō herausgegebenen Lehrbuch »Gesellschaftskunde für die Junior High School« (»Chūgaku shakai«) wird die nukleare Katastrophe auf einen einzigen Satz reduziert: »Am 6.  August wurde eine Atombombe auf Hiroshima abgeworfen, am 8.  August erklärte die Sowjetunion Japan den Krieg, und am darauffolgenden Tag wurde eine weitere Bombe auf Nagasaki abgeworfen. Japans Niederlage war damit besiegelt.«52 Innerhalb des neuen nationalen Geschichtsnarrativs, wie es vor allem über den Sozialkunde- und Geschichtsunterricht nachhaltig in die Gesellschaft getragen wurde, waren die Stimmen der realen Opfer anscheinend vernachlässigbar geworden. Das kommunikative Gedächtnis in Form von Atombombenliteratur wurde zugunsten des kulturellen Gedächtnisses in Form von Dokumentationszentren und Friedenparks systematisch aufgegeben, für die bereits 1947 die konkreten Planungen begonnen hatten. Frühe Stadtentwürfe und Gesetzesnovellen legten die Basis für die Konservierung der Stadt als Friedensstadt.53 Diese Neugestaltung der Innenstadt als Ort nationaler Erinnerung setzte jedoch gleichzeitig die Räumung dieses Areals voraus – die aus der

50 Das Gesetz zur medizinischen Versorgung von Strahlungsopfern der Atombombe (Genshi bakudan hibakusha no iryō tō ni kan suru hōritsu) regelte die ärztliche Versorgung von »nachweislichen« Strahlungsopfern – ein Punkt, der in der Folgezeit noch zu zahlreichen Kontroversen führen sollte – auf Kosten des Staates. 51 Bereits 1948 wurde von den Alliierten ein Screeningverfahren zur Auswahl landesweit einsetzbarer Schullehrbücher (kyōkasho kentei seido) eingeführt. Nach Ende der Okkupationszeit 1952 jedoch wuchs die Einflussnahme der Regierungspartei auf die zuständige Kommission zusehends; das Ausschalten vermeintlich kommunistischer Experten aus dieser Runde leistete dem revisionistischen Geschichtsbild maßgeblich Vorschub. Mit der 1955 vorgenommenen Änderung der Unterrichtsrichtlinien (gakushū shidō yōryō) wurde dann dieses Narrativ irreversibel festgeschrieben und diente fortan als Grundlage für die Zulassungskriterien eines Lehrbuchs in Japan. Vgl. hierzu auch Eiichi Matsui, Rekishi kyōiku to kyōkasho kentei, in: Hōritsu jihō 41 (10) 1969, S. 17–23, hier S. 21–23. 52 Shirō Konishi, Saburō Ienaga, Chūgaku shakai, 2 Bde., Tōkyō 1956, S. 196f. 53 Vgl. hierzu die Studie von Sumiko Ebara, Genbaku dōmu (= Rekishi bunka raiburarī), Tōkyō 2016.

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Friedensstadt Vertriebenen lassen sich – wie von Ōta in »Stadt und Mensch in der Abendstille« beschrieben – nolens volens in den Slums an den Flussdämmen nieder. 1954 erhielt Ōta Yōko für »Halb Mensch« den Friedenskulturpreis und wurde für den 31. Akutagawa-Literaturpreis für Nachwuchsschriftsteller nominiert, doch ging keiner der sieben Juroren des Akutagawa-Preiskomitees in seiner Stellungnahme näher auf das Werk ein – ein symptomatischer Umgang mit Autorin und Werk im Speziellen und Atombombenliteratur im Allgemeinen. Mitte der 1950er Jahre war nicht nur in der allgemeinen Wahrnehmung die Nachkriegszeit zu Ende, sondern auch anscheinend das Zeitalter für Atombombenliteratur. Verbittert wandte sich Ōta Yōko schließlich vom literarischen Establishment, dem sie sich nie richtig verbunden gefühlt hatte, endgültig ab. Dies ging sicherlich auch einher mit der Selbsterkenntnis, das historische, »alte« Hiroshima nicht mehr in das abstrakte, »neue« Hiroshima der Nachkriegszeit übersetzen zu können. Im Jahr 1956 ließ Ōta in »Halb vagabundierend« (»Han hōrō«) ihre Ich-Erzählerin auf eine unbegrenzte Reise nach Izu (Präfektur Shizuoka) fahren. Während dieser Reise kommt die Frustration gegenüber der eigenen geschichtsblinden und atomgläubigen Gesellschaft, die sich zwar noch 1954 in Massenprotesten für die Ächtung von Nuklearbomben engagiert hatte, aber schon 1955 von den nuklearen Verheißungen der oben genannten Wanderausstellung zur friedlichen Nutzung von Kernenergie verzaubern ließ, zum Ausdruck: »[Erst] gab es die Wasserstoffbombentests und dann fiel auf Tōkyō etwas, das als Asche des Todes bezeichnet wurde. Das geschieht Euch ganz recht, dachte ich mir. Ihr sollt auch mal mit der Todesasche kontaminiert werden und einer nach dem anderen sterben.«54 Hiroshima und Nagasaki sind, wie Günther Anders in seinem Reisetagebuch »Der Mann auf der Brücke« zu Recht betont, in ihrer historischen Dimension nicht vergleichbar,55 jedoch sicherlich in ihrer literarischen. Ob Ōta Yōko, Hara Tamiki, Hayashi Kyōko oder Nagai Takashi – das Schreiben über die Bombe und die F ­ olgen blieb und bleibt unpopulär als Teil einer ungewollten Erinnerung. Auch nach der Dreifachkatastrophe in Fukushima vom 11. März 2011, die erneut die Schrecken des nuklearen Todes in Japan hat Realität werden lassen, blieben die Erinnerungen an die Atombomben weitgehend in ihrem versiegelten Diskursraum unzugänglich. Eine Übersetzung des Unrepräsentierbaren in Form der Atombombenliteratur, die bereits zu Ōta Yōkos Lebzeiten unter keinen günstigen Vorzeichen stand, könnte nur dann eine zweite Chance bekommen, wenn eine kritische Revision des Systems Nachkriegsjapan (sengo Nihon) zu einer erneuten reziproken Dialogizität zwischen Autor und Leser von Atombombenliteratur führen würde. 54 Yōko Ōta, Han hōrō, in: Ōta Yōko shū 3, Tōkyō 1982, S. 296. 55 Vgl. Günther Anders, Hiroshima ist überall (= Beck’sche Reihe 1112), München 1995, S. 110–112.



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6. Schlussgedanken

Der nukleare Tod und vor allem das Schreiben über bzw. Erinnern an ihn, wie hier am Beispiel der Schriftstellerin Ōta Yōko verdeutlicht, waren und sind jenseits der menschlichen Tragödie, die sich dahinter verbirgt, wohl wie keine zweite Todesart in Japan äußerst kontrovers. Der nukleare Tod ist im Falle Ōtas irreversibel mit der Stadt Hiroshima verbunden, jedoch nicht länger mit dem realhistorischen vor- und kriegszeitlichen »alten« Hiroshima, sondern mit dem diskursiven nachkriegszeitlichen »neuen« Hiroshima, das nun als Metonymie für den August 1945 als solches dient. Nagasaki als zweiter Abwurfort rückte hierbei völlig in den Hintergrund. Die aufgezeigte Ahistorizität des nachkriegszeitlichen »neuen« Hiroshimas hat bereits 1959 der Philosoph und Schriftsteller Günther Anders nach seinem Besuch in Worte zu fassen versucht: Nein, ich kann vom Geschehenen nichts sehen. Die sichtbaren Dinge: die neuen Häuser, die unterschlagen das Gewesene genau so, wie die Zeitungen es tun oder die Alltagsgespräche. Alles scheint »zeitneutral«, das heißt: alles sieht so aus, als hätte es seit eh und je so gestanden; das Gegenwärtige tarnt sich als »immer schon so gewesen«; und dieses scheinbar Gewesene überwächst das wirklich Gewesene. Geschichte wird nach rückwärts gefälscht; und zwar (denn der Wiederaufbau ist ja schließlich auch Geschichte) von der Geschichte selbst. Geschichte – die Geschichte ihrer Selbstfälschung.56

Günther Anders, der 13 Jahre nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima nach Japan gereist war, schilderte in seinem »Der Mann auf der Brücke« auf diese Weise sein Befremden über die für ihn überraschende Ahistorizität einer mehr als geschichts­ trächtigen Stadt. Zu Anders’ Zeiten war das »alte« Hiroshima längst zum »neuen« Hiroshima geworden, einem Ort, der entlokalisiert und enthistorisiert im kollektiven Gedächtnis der Nachkriegszeit verankert und zu einem Ort des Gedenkens und Erinnerns geworden war. Bereits am 17. Dezember 1949 hatte der Schriftsteller und Literaturkritiker Toyoshima Yoshio in der Tageszeitung »Tōkyō shinbun« nach einem Besuch in Hiroshima resümiert, dass »Hiroshima [ヒロシマ] mitten dabei sei, sich zu verpuppen und zu erneuern, von einer ehemaligen Militärstadt in eine Kulturstadt, in eine Stadt des Gedenkens, eine Stadt zum Aufruf für den Weltfrieden«.57 Diese Transformation fiel landesweit auf breite Zustimmung. Stimmen, die bereits hier die Gefahr einer geschichtsrevisionistischen Vereinnahmung des Dower’schen nuklearen 56 Ebd., S. 62. [Auszeichnungen im Original] 57 Yoshio Toyoshima, ›Hiroshima‹ e no kanshin, in: Genbaku no bungaku 15, Tōkyō 1983, S. 57–60, hier S. 60.

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Genozids gewittert hätten, sind in der allgemeinen Wiederaufbaueuphorie der Nachkriegszeit nur äußerst schwer auszumachen. Die staatliche Vereinnahmung von Hiroshima erzeugt einen Diskursraum, in dem die Sprecherpositionen und Erinnerungen heiß umkämpft waren und sind. Die Überlebenden vom 6. August 1945 waren zwar vielleicht dem nuklearen Tod entronnen, doch führte nun der Entzug ihrer Sprecherpositionen als legitime Augenzeugen des Unrepräsentierbaren im Zuge nationaler Viktimisierung zu einer anderen Art der Auslöschung, in dem sie als mahnende Stimmen der Vergangenheit sukzessive ausgeblendet und zum Verstummen gebracht wurden. Wie vielleicht keine zweite Todesart ruhte auf dem August 1945 die Identität einer gesamten sich neu erfindenden Nation – und dies bis in die Gegenwart. Der nukleare Tod ist Teil des gegenwärtigen Japan. Das Aufdecken relevanter Diskursformationen und Diskursakteure stellt daher eine der großen Herausforderungen unserer Zeit dar.

Henriette Terpe

Todestagebücher in der hispanoamerikanischen Literatur 15.12.2012 18:30 Das Verfallsdatum auf dem beim Kaiser’s gekauften Ciabatta zum Aufbacken ist der 17. Februar. (Wolfgang Herrndorf )

Seit Wolfgang Herrndorf zwischen 2010 und 2013 in einem Blog sein später als »Arbeit und Struktur«1 veröffentlichtes Tagebuch führte, in dem er nach der Diagnose eines Hirntumors seinen Gesundheitszustand dokumentierte und gleichzeitig einen literarisch geformten Text schuf, ist die Idee eines »Todestagebuchs« im deutschsprachigen Raum nicht mehr völlig unbekannt. In Herrndorfs Text überlagern sich autobiographische Beschreibungen mit literarischen Betrachtungen und Reflexionen über das eigene Leben, das unmittelbar und unausweichlich von einem greifbar nahen Ende bedroht ist. Das Schreiben selbst, wie der Titel »Arbeit und Struktur« bereits andeutet, nimmt in diesen letzten Lebensmonaten eine zentrale Funktion ein, was auch im Text selbst reflektiert wird, so dass sich das Bild eines Autors erkennen lässt, der sich schreibend beim Sterben beobachtet. Herrndorfs Projekt war neuartig und erschütternd zugleich, da das Genre sich erst im Schreibprozess entwickelte und da die Leser*innen durch das Onlinemedium live Zeugen des allmählichen gesundheitlichen Verfalls des Autors werden konnten. Der 2013 in Buchform erschienenen Fassung mag zwar dieser Effekt der »Liveübertragung« fehlen, doch büßt sie nichts an ihrer fesselnden Intensität ein. Größtenteils unbekannt dürfte den von der Neuheit des Genres überraschten deutschsprachigen Leser*innen allerdings die Existenz verschiedener Todestagebücher in der spanischsprachigen Literatur sein. 1973 veröffentlichte der uruguayische Dichter Roberto Ibáñez posthum das Werk »Diario de la muerte«2 seiner 1971 verstorbenen Frau, der Dichterin Sara de Ibáñez. 1989 erschien, ebenfalls posthum, das »Diario de muerte«3 des 1988 an Krebs verstorbenen chilenischen Dichters Enrique Lihn. Und 1 Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur, Reinbek bei Hamburg 2015. 2 Sara de Ibáñez, Poesía completa, Montevideo 2017. 3 Enrique Lihn, Diario de muerte, Santiago de Chile 2010.

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nicht zuletzt wurde 2007 »Veneno de escorpión azul. Diario de vida y muerte«4 des 2006 ebenfalls an Krebs verstorbenen chilenischen Dichters Gonzalo Millán veröffentlicht. Diese drei Werke unterscheiden sich dahingehend von Herrndorfs »Arbeit und Struktur«, dass sie größtenteils nicht in Prosa verfasst sind, sondern formal eher Gedichtbänden entsprechen. Nichtsdestotrotz fallen sie bereits durch die jeweiligen Titel wie auch durch weitere formale Merkmale auch in die Kategorie Tagebuch, wobei hier noch eine weitere Spezifizierung erforderlich scheint, da die Texte explizit nicht nur als Tagebücher (»des Lebens«) gekennzeichnet sind, sondern als Todes­ tagebücher. Im Folgenden sollen zunächst diese formalen Aspekte kurz skizziert werden, bevor anhand der drei Beispiele zuerst die spezifische Darstellung der Zeit in den Todestagebüchern analysiert wird. Danach richtet sich unser Blick darauf, welche unterschiedlichen Beziehungen die Texte zwischen Tod und Sterben einerseits und dem Schreiben und der Literatur andererseits herstellen, denn wie Adriana Teodorescu richtig feststellt, sind diese Beziehungen deutlich komplexer als die oft klischeehaft angenommene Vorstellung, Literatur sei per se ein »slap in the face of death«5 und ein probates Mittel, ihn ungeschehen zu machen. Das Tagebuch, dessen Ursprünge im 17.  Jahrhundert liegen,6 wurde erst Mitte des 20. Jahrhunderts zum Studienobjekt der europäischen Literaturwissenschaft, obwohl es sich in den drei Jahrhunderten dazwischen bereits mehrfach weiterentwickelt hatte. Ungeachtet der verschiedenen historischen Ausprägungen stellt Morales Toro, vornehmlich bezugnehmend auf die französische Forschung zum Thema,7 vier charakteristische Merkmale des Tagebuchs heraus, die als konstitutiv für das Genre zu verstehen sind: Erstens: Das Tagebuch ist immer der »Tyrannei des Kalenders« unterworfen. Da es die Perspektive auf den Alltag richtet, ist es chronologisch daran gebunden, »tagein, tagaus« die Ereignisse zu dokumentieren. Zweitens: Auch wenn es auf den ersten Blick trivial erscheinen mag: Der oder die Verfasserin eines Tagebuchs ist immer ein persönliches, biographisches Ich (und kein fiktives). Drittens: In seiner Eigenschaft als Medium der täglichen Dokumentation ist das Tagebuch thematisch sehr offen: Von zufälligen Begegnungen über Haushaltsangelegenheiten bis hin zu analytischen Reflexionen von großer intellektueller Tiefe findet alles seinen 4 Gonzalo Millán, Veneno de escorpión azul. Diario de vida y muerte, Santiago de Chile 2007. 5 Adriana Teodorescu, Death Representations in Literature: Forms and Theories, Newcastle-­uponTyne 2015, S. 1. 6 Die Ursprünge des Tagebuchs liegen in der im 17.  Jahrhundert aufkommenden Praxis eines täglich geführten Kassenbuchs, das die Einnahmen und Ausgaben und somit das (Geschäfts-)Leben einzelner Personen dokumentierte, vgl. Leonidas Morales Toro, El diario íntimo en Chile, Santiago de Chile 2014, S. 13. 7 Michele Leleu, Les journaux intimes, Paris 1952; Maurice Blanchot, Le libre à venir, Paris 1959; Alain Girard, Le journal intime, Paris 1963; Béatrice Didier, Le journal intime, Paris 1976.



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Platz. Viertens: Das Verfassen eines Tagebuchs geschieht aus der Privatsphäre heraus, es unterliegt immer zunächst einem Siegel des Geheimen. Dass sie trotzdem nicht selten an die Öffentlichkeit gelangen, liegt an verschiedenen Mechanismen, die das Geheimnis des Tagebuchs einer breiteren Leserschaft zugänglich machen, etwa eine posthume Veröffentlichung oder die bewusste Entscheidung des Autors, das Tagebuch zu Lebzeiten öffentlich zu machen.8 Die Variante des Todestagebuchs, die in der hier beschriebenen Form erst ab der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts überhaupt möglich wurde, da der technische Fortschritt in der Medizin und vor allem in der Onkologie nun Diagnosen erlaubte, die die mehr oder weniger präzise die verbleibende Lebensdauer voraussagten bzw. drohende Todesurteile aussprechen konnten, erfordert Ergänzungen, die vor allem das erste und zweite genannte Merkmal betreffen. Während das herkömmliche Tagebuch der chronologischen Tyrannei des Kalenders unterliegt und Tag für Tag fortschreitet, ist das Todestagebuch von einer ganz anderen Tyrannei bedroht: Durch die von der Medizin ausgesprochenen Prognose muss das Todestagebuch ständig mit einem abrupten Abbruch rechnen und ist so notwendigerweise immer in einer Art chronologischem Schwebezustand, was seine nahe Zukunft betrifft.9 Auch das zweite Merkmal erhält unter der Bedingung der schweren Krankheit und des nahenden Todes eine neue Facette, die sich mit einem Vers Gonzalo Milláns auf den Punkt bringen lässt: »Quién es el sujeto que muere?«10 Die Krankheiten bringen tiefgreifende physische wie psychische Veränderungen mit sich, so dass die Stabilität des schreibenden Subjekts in den Tagebüchern häufig in Frage gestellt werden muss und auch durch die Texte selbst als instabil und im Wandel begriffen charakterisiert wird. Das frühere, gesunde Ich der Texte besitzt mitunter eine komplett andere Identität als das von Krankheit und Diagnose heimgesuchte Ich, so dass das Schreiben nun auch dazu dient, diesen neuen körperlichen wie geistigen Zustand zu untersuchen. Gleichzeitig ist das todkranke biographische Ich stärker denn je mit dem Tagebuch verwoben: Die Möglichkeit weiterzuschreiben, bedeutet gleichzeitig, dass das Ich noch lebt, während ein Abbruch des Schreibens entweder eine abrupte Verschlechterung des Gesundheitszustands oder im äußersten Fall die Auslöschung des schreibenden Ichs bedeutet. Die Grenzen zwischen Leben und Literatur sind hier mitunter fließend. Das Merkmal der thematischen Offenheit scheint auf den ersten Blick bei einem Todestagebuch nicht zwingend gegeben zu  8 Morales Toro, El diario (wie Anm. 6), S. 17.   9 Das Werk »Fragmentos de un libro futuro« (»Fragmente eines zukünftigen Buches«) des spanischen Dichters José Ángel Valente, welches ebenfalls als Todestagebuch zu lesen ist, thematisiert diese Unsicherheit bereits im Titel, siehe José Ángel Valente, Fragmentos de un libro futuro, Barcelona 2001. 10 Keines der hier vorgestellten Werke liegt in deutscher Übersetzung vor. Zu jedem angeführten Zitat werde ich in einer zugehörigen Fußnote eine sinngemäße eigene deutsche Übersetzung geben. In diesem Fall: »Wer ist das sterbende Subjekt?« Millán, Veneno (wie Anm. 4), S. 19.

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sein, da sich eine ausschließliche Ausrichtung auf das Thema Tod erwarten ließe. Das ist jedoch nur bedingt der Fall, da einerseits – zusammenhängend mit einer neuartigen Wahrnehmung der Zeit  – auch alltägliche Gegebenheiten in einem anderen Licht erscheinen und so unter anderen Vorzeichen ihren Eingang in den Text finden und andererseits metapoetische Reflexionen zum Verhältnis zwischen literarischem Schreiben und dem Sterben hier eine neue intellektuelle Durchdringung erfahren, die auf dem eigenen Erleben beruht. Obgleich die drei hier vorgestellten Werke alle posthum erschienen, hat dies in diesen besonderen Fällen von Tagebüchern weniger mit der Geheimhaltung und mehr mit der Natur der Sache zu tun. Auch wenn die Texte während ihrer Entstehung nicht in dem Maße der Öffentlichkeit zugänglich waren wie im Fall von Herrndorfs Blog, so war bei keinem eine Publikation von vornherein ausgeschlossen und es gab keine Vermerke, die sich gegen eine posthume Publikation ausgesprochen hätten. So ist es denkbar, dass die Publikation während des Entstehungsprozesses mitgedacht wurde und das Schreiben nicht durchweg »für die Schublade« erfolgte. Im Fall von Enrique Lihn zum Beispiel ist belegt, dass er bis zuletzt auch immer wieder Korrekturen an den bereits vorliegenden maschinengeschriebenen Manuskripten vornahm,11 so dass zu vermuten ist, dass er im Falle einer Publikation an einer möglichst sauberen Version des Textes interessiert war. Der Mensch weiß um seine Sterblichkeit, was ihn, wie Heidegger betont, vom Tier unterscheide.12 Allerdings ist dieses Wissen zunächst einmal abstrakt und rein begrifflich. Erst in dem Moment, in dem der Mensch entweder durch den Tod ihm nahestehender Personen oder durch eigene tödliche Krankheit den Tod plötzlich »ernst nimmt«, vollzieht sich ein Wandel in diesem Wissen: Unsere neue Todeserfahrung fügt, wenn man so will, dem platonischen Vorwissen oder Vorbegriff, den der Mensch davon haben kann, nichts hinzu, sie verlagert diesen Vorbegriff: in der Erfahrung der Trauer oder der Krankheit vollzieht sich die Beförderung unseres Wissens zur Tatsächlichkeit. […] Für denjenigen, der den Ernst des Todes »realisiert«, hält der Tod Einzug in Zeit und Raum.13

Dieser »Einzug in Zeit und Raum« wirkt sich unterschiedlich auf die Wahrnehmung und literarische Formung der im Tagebuch so entscheidenden Komponente der Zeit aus. Im »Diario de la muerte« von Sara de Ibáñez weisen schon einige der Gedichttitel in eine bestimmte Richtung: »Un día«, »Hoy«, »Un día más«, »Cada día …« 11 Lihn, Diario (wie Anm. 3), S. 18. 12 Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 215. 13 Vladimir Jankélévitch, Der Tod, Frankfurt a. M. 2015, S. 25.



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und »Como siempre«.14 Ungleich einem herkömmlichen Tagebuch, in dem sich die Tage wenigstens durch ein konkretes Datum oder einzelne Wochentage unterscheiden, herrscht hier eine Uniformität der Tage. Der Lauf der Zeit scheint paralysiert zu sein, fast als wiederhole sich ein einziger Tag immer und immer wieder: Un día más Un día más, un rayo que se bebe otra gota de mi sangre. Un pío más en la ventana, un vuelo que entre mis ojos y la muerte cabe. Un soplo más que entre las hojas grises me empuja con secreto distraído. Un día más, sin hambre, sin sed, sin cielo, sin furor, vacío.15

Die interne Struktur des Gedichtes wird einerseits durch die metrische Gestaltung16 bestimmt, andererseits durch die parallelen Konstruktionen in den ungeraden Versen (»Un día más«, »Un pío más«, »Un soplo más«, »Un día más«), die jeweils mit dem folgenden Vers syntaktische Einheiten bilden. Durch die Parallelismen entsteht eine semantische Überlagerung der vier Verspaare. Jeder Tag konsumiert einen weiteren Tropfen Blut, so dass sich das Leben jeden Tag etwas weiter erschöpft.17 Kleine alltägliche Ereignisse wie das Zwitschern oder der Windhauch werden in direkte Relation mit dem drohenden Tod gestellt: Nur der Flug oder vielleicht auch der Flügelschlag steht zwischen den Augen des lyrischen Ichs und dem Tod, der geheimnisvolle zarte Windhauch ist stark genug, um das geschwächte Ich weiterzutreiben. Die bei14 »Ein Tag«, »Heute«, »Noch ein Tag«, »Jeden Tag …« und »Wie immer«. 15 »Noch ein Tag // Noch ein Tag, ein Strahl / der noch einen Tropfen meines Blutes trinkt. / Noch ein Zwitschern am Fenster, ein Flug / der zwischen meine Augen und den Tod passt. / Noch ein Windhauch, der mich zwischen den grauen Blättern / mit seinem zerstreuten Geheimnis forttreibt. / Noch ein Tag, ohne Hunger / ohne Durst, ohne Himmel, ohne Eifer, leer.« de Ibáñez, Diario (wie Anm. 2), S. 432. 16 Hierbei sind der erste und vorletzte Vers heptasílabos (7 Silben), während es sich bei den restlichen Versen um endecasílabos (11 Silben) handelt. Die Kombination dieser Versmaße ohne regelmäßigen Reim entspricht der spanischen Gedichtform der silva. 17 Dieser Vers erinnert natürlich an das von Seneca formulierte »tägliche Sterben« und seine Metapher der Wasseruhr, die nicht mit einem Mal alles Wasser verliert, sondern Tropfen für Tropfen, wobei es eben nicht nur der letzte Tropfen ist, der die Uhr vollständig entleert, sondern die Summe aller bereits vorher herausgeflossenen Tropfen (Epistulae morales 24, 19–21), vgl. Seneca, Der gute Tod, Ditzingen 2017.

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den letzten Verse bekommen durch die Wiederholung (»Un día más«) den Charakter einer resignierten Zusammenfassung dieser ewig gleichen Tage, die sich »ohne Hunger, ohne Durst, ohne Himmel, ohne Eifer« vollkommen leer aneinanderreihen. Die physischen Bedürfnisse scheinen durch die Krankheit in gleichem Maße gehemmt zu sein, wie auch der emotionale und intellektuelle »Hunger und Durst« in der Leere mündet. Der genaue Zeitpunkt des Todes ist dem Ich nicht bekannt. Es befindet sich in einem Zustand genau auf der Schwelle, in dem der Anbruch eines neuen Tages einerseits noch das Leben verheißt, andererseits aber die Grenzlinie zur anderen Seite, zum Tod, bereits so fein ist, dass die Tage nicht mehr mit Leben gefüllt sind und sich in ihrer Einförmigkeit des Wartens absolut gleichen. In diesem Schwebezustand, in dem das Ich noch lebt und noch nicht tot ist, gibt es keine Zugehörigkeit und das Vergehen der Tage erscheint als eine äußerliche Bewegung der Zeit, während das Ich regungslos in seinem Grenzraum verharrt. In dem Gedicht »Cada día …«, in dem der Übergang zwischen Schlafen und Wachen beschrieben wird, zwei Zustände, die sich in ihrer Unerträglichkeit nichts nehmen (»De los monstruos nocturnos mordido, / en la diurna crueldad me embeleso«),18 wird in den letzten zwei Versen die Situation des Ichs sehr deutlich: Pasa el mundo en su río cerrado y en sus márgenes sordas me duermo.19

Der Kontrast zwischen der Regungslosigkeit des Ichs und der kontinuierlichen Bewegung wird hier mit Hilfe der Metaphern von Fluss und Ufer sehr deutlich: Das Ich ist außerhalb des Flusses der Welt und der Zeit und schläft am »stillen Ufer«, wo nicht einmal mehr die Geräusche des unaufhörlich fließenden Flusses zu hören sind. Angesichts des eigenen Todes reagiert dieses lyrische Ich also mit einem vorzeitigen Ausstieg aus einer linearen Vorstellung von Zeit. Es manifestiert sich unbeweglich an einem festen Ort, der einer Schwelle zwischen Leben und Tod gleicht, mit der Folge, dass die trotzdem weiterlaufende Zeit als zyklisch und repetitiv wahrgenommen wird. Unabhängig davon, wie bewegt und lebendig der Fluss der Welt auch sein mag, die »Augen voller Tod« des Ichs sind abwesend: Hoy que todo está vivo como un sol que madruga 18 »Von den nächtlichen Monstern gebissen / begeistere ich mich für die Grausamkeit des Tages«, de Ibáñez, Diario (wie Anm. 2), S. 440. 19 »Die Welt geht in ihrem begrenzten Fluss an mir vorüber / und an ihren stillen Ufern schlafe ich ein.« de Ibáñez, Diario (wie Anm. 2), S. 440.



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y el viento es mar de cantos y el mar no tiene arrugas. […] sólo mis ojos andan lejanos, en la bruma, cargados con su muerte.20

In Enrique Lihns »Diario de muerte« steht die Wahrnehmung der Zeit durch das lyrische Ich weniger stark im Vordergrund. Nur durch kleine Hinweise (zum Beispiel im Gedicht »Todavía aleteo …«21) wird deutlich, dass das Augenmerk hier auf dem »noch« liegt: Noch bleibt etwas Zeit, noch ist das Ich lebendig und in der Lage zu schreiben. Ein Aspekt, der aber doch sehr offen thematisiert wird, ist die Ungewissheit über den genauen Zeitpunkt des Sterbens. Gleich das dritte Gedicht des »Diario de muerte« beginnt mit der Frage: »No sería deseable recibir una comunicación del más allá, con la hora y el día exacto de nuestra muerte, eso, y un revólver invisible?«22 Im Rest des Gedichts wird in dem für Lihns Gedichte typischen essayistischen Tonfall die Diskrepanz zwischen dem medizinischen Fortschritt in der Individualmedizin und der Ungenauigkeit der Voraussagen für den genauen Sterbezeitpunkt analysiert. Weder die statistischen Prognosen noch der Perspektivwechsel auf den einzelnen Patienten erlauben es der Medizin, dieses Rätsel des Jenseits zu lüften: Los señores médicos lo hacían mientras creyeron en la ciencia de las generalidades, pero el más acá les llevaba, con harta frecuencia, la contraria. Desde que, como ahora, sólo hay enfermos individuales, dejaron, por lo mismo, de existir los pronósticos.23

Im Gegensatz zur Lyrik von Sara de Ibáñez, in der die Gewissheit des Todes zu einer gewissen Lethargie und Eintönigkeit führte, ist bei Lihn die Ungewissheit über den genauen Zeitpunkt ambivalent besetzt. Eine exakte Prognose würde dem rationalen 20 »Heute, wo alles lebendig ist / wie eine früh aufgestandene Sonne, / und der Wind ein Meer von Gesang ist/ und das Meer keine Falten hat […] sind nur meine Augen / abwesend, im Nebel / voll von ihrem Tod«, de Ibáñez, Diario (wie Anm. 2), S. 422. 21 »Noch schlage ich mit den Flügeln  …«  – das lyrische Ich stilisiert sich hier zum Baudelaire’schen Albatros, der sich noch zur Wehr setzt gegen die Misshandlungen der Matrosen. 22 »Wäre es nicht wünschenswert, eine Nachricht aus dem Jenseits zu erhalten mit der exakten Uhrzeit und dem Tag unseres Todes, genau, und einen unsichtbaren Revolver?«, Lihn, Diario (wie Anm. 3), S. 25. 23 »Die werten Ärzte machten [solche Voraussagen] solange sie an die Wissenschaft des Allgemeingültigen glaubten, aber das Diesseits machte ihnen, mit hoher Frequenz, einen Strich durch die Rechnung. Seit es, wie es inzwischen der Fall ist, nur noch individuelle Kranke gibt, haben die Prognosen, aus dem gleichen Grund, aufgehört zu existieren.« Ebd.

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Teil des Ichs die Sicherheit der Orientierung in Zeit und Raum geben, jedoch gleichzeitig »altamente perjudicial«24 sein, denn solange der Zeitpunkt ungewiss ist, kann das »noch« Hoffnung und Trost spenden und zumindest kann die Krankheit das Leben »imitieren« (»La enfermedad imita a la vida«). Noch bleibt etwas Zeit zum Schreiben, noch bleibt etwas Zeit zum Leben. Das Tagebuch von Gonzalo Millán unterscheidet sich insofern von den anderen beiden Tagebüchern, dass sich hier Gedichte mit Einträgen in Prosa abwechseln bzw. mitunter sogar verschmelzen, die sowohl den Alltag dokumentieren als auch im Stile von Aphorismen literarische Reflexionen beinhalten. Alle Einträge sind mit genauem Datum und größtenteils sogar der genauen  Uhrzeit versehen. Nicht umsonst trägt dieses Tagebuch den Untertitel »Diario de vida y muerte«, also ein Tagebuch zu Leben und Tod. Auf rein formaler Ebene ist auffällig, dass die zeitliche Unterteilung der Einträge ab etwa der Hälfte der gut dreihundert Seiten immer feiner wird, als ließe sich durch dieses noch genauere Protokollieren die kurze verbleibende Zeit greifen und festhalten. Durch den Einzug des Todes in Zeit und Raum ändert sich auch hier die Wahrnehmung der Zeit fundamental, aber nicht ohne das Ich in ein Dilemma zu stürzen. Da einmal das Bewusstsein dafür geschärft ist, dass nicht mehr viel Zeit bleibt, wird die Zeit zu einem kostbaren Gut: Porque el tiempo es escaso y precioso los días son un tesoro merecido, las horas instantes de la eternidad, los minutos efímeros cordeles volando en pleno día, los segundos cenizas de diamantes.25

Allerdings ist dieser Schatz an kostbarer Zeit auch eine Belastung, denn er bringt eine moralische Verpflichtung mit sich, diese kostbare Zeit gut zu nutzen und nicht zu verschwenden. Diese große Verantwortung setzt das Ich unter Druck, und die Anstrengung, die Zeit sinnvoll zu nutzen, kann wiederum nur in Zeitverschwendung münden, da allein schon das Grübeln über ein sinnvolles Füllen der Zeit dieselbe wie im Flug vergehen lässt. Es gibt kein Zurück mehr zu einem unbekümmerten Umgang mit der Zeit – so wie es vor der Diagnose vielleicht einmal war –, so dass es nicht verwundert, wie sich die kostbare Zeit in »días de plomo« und Stunden schwer wie 24 »hochgradig schädlich«, ebd. 25 »Weil die Zeit knapp und kostbar ist / sind die Tage ein verdienter Schatz, / die Stunden Augenblicke der Ewigkeit / die Minuten flüchtig dahin fliegende Rösser / am helllichten Tag, die Sekunden / Diamantenasche.« Millán, Veneno (wie Anm. 4), S. 33.



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»sacos de arena«26 verwandelt. Der Alltag mit seinen Routinen ändert sich zunächst nicht grundlegend. Aber die Tage gewinnen allein dadurch Exklusivität, dass sie vielleicht die letzten sein könnten: »Un día distinto de los otros, excepcional sin dejar de ser común y corriente«.27 Langfristige Pläne sind nun nicht mehr möglich, und ständig wechseln sich ein »zu viel« und ein »zu wenig« an Zeit ab, wobei durch das Schreiben einige ausgewählte Momente festgehalten werden, die »sich unmäßig aufblähen«.28 Die Linearität des Zeitflusses ist bei Millán also durchaus noch gegeben, jedoch ist die verbleibende Lebenszeit gleichzeitig kostbarer Schatz und schwer zu ertragende Belastung. Als Ausweg aus dieser Dichotomie wird das Paradies als Überwindung bzw. Vereinigung der Oppositionen beschrieben: El paraíso es una noche y un día, una vida y una muerte; una historia y una interrupción del relato. No hay llegada sin partida.29

Das Schreiben selbst hängt bei Millán konzeptuell nun direkt mit dieser zwiegespaltenen Zeitwahrnehmung zusammen, denn wenn einerseits die kostbare Zeit sinnvoll gefüllt werden will, aber dadurch nur umso schneller verrinnt, so überträgt sich diese Wahrnehmung natürlich direkt auf den Schreibprozess. Durch das Schreiben des Tage­buchs soll möglichst viel des verbleibenden Lebens festgehalten, aufgeschrieben, erinnert werden, und gleichzeitig hindert dieses Schreiben das Ich daran, die Tage voll auszukosten und zu (er)leben. Milláns Tagebuch lässt sich auf mehreren Ebenen mit Derridas Überlegungen zum pharmakon30 in Verbindung setzen. Schon der Titel des Tagebuchs, »Veneno de escorpión azul«,31 weist auf ein pharmakon hin. Dieser Titel rührt von dem in Kuba unter dem Namen Escozul oder Vidatox vertriebenen homöopathischen Krebsmedikament her, welches aus dem Gift des blauen Skorpions (Rhopalurus junceus) hergestellt wird. Die Eigenschaften giftig und heilend 26 »Tage aus Blei« und Stunden, »die schwer wie Sandsäcke wiegen«, Millán, Veneno (wie Anm. 4), S. 40. 27 »Ein Tag, anders als die anderen, außergewöhnlich, und dabei doch ganz gewöhnlich und normal.« Ebd., S. 126. 28 »demasiado tiempo y nada de tiempo se suceden”; «eternizar algunos hechos aislados que se inflan con desmesura«, ebd., S. 285. 29 »Das Paradies ist eine Nacht und ein Tag / ein Leben und ein Tod; eine Geschichte / und eine Unterbrechung der Erzählung. / Es gibt kein Ankommen ohne Abreise.« Millán, Veneno (wie Anm. 4), S. 123. 30 Durch eine kurze Notiz relativ zu Beginn des Tagebuchs weist Millán selbst uns auf seine Kenntnis von Derridas Schriften hin (»Pharmakon – Derrida / ouroboros« ), ebd., S. 40. 31 »Gift des blauen Skorpions«.

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lassen sich bei einem solchen pharmakon im Sinne Derridas nicht immer sauber auseinanderhalten: Manchmal erscheint es schädlich, heilt aber dann doch, manchmal erscheint es heilsam, stellt sich dann aber als giftig heraus. Somit verweist der Titel einerseits auf das von Millán täglich eingenommene Mittel, andererseits wird das gesamte Tagebuchprojekt mit diesem Titel zu einem pharmakon. Wie oben bereits beschrieben, ist zunächst die Wahrnehmung der Zeit einer solchen Ambivalenz untergeordnet, und mit ihr gerät das Schreiben selbst zu einer Art pharmakon. Das gilt einerseits für das Schreiben selbst, wenn es die wertvolle Zeit mit etwas Sinnvollem füllt, sie aber gleichzeitig auch schnell vergehen lässt. Zudem gilt es für das Schreiben als Archiv für Erinnerungen, denn obwohl im Tagebuch Erinnerungen und Erlebnisse schriftlich festgehalten werden können, sind diese Erinnerungen doch immer nur ein kleiner Teil des gelebten Lebens: Después de las avenidas de la memoria ampliada a la fuerza, los despojos dispersos, los restos abandonados del ayer, bajamar de kilómetros mar adentro. Medusas blandas como globos de agua y piedras sospechosas palpitantes.32

Hinter den breiten Straßen der (schriftlichen?) Erinnerungen bleiben zahllose Reste und Abfälle zurück, die kilometerweit den von der Ebbe entblößten Strand füllen und dort unbeachtet liegen bleiben. Das schreibende Ich in Milláns Tagebuch macht die Erfahrung, die auch König Tamus, wie in Platons »Phaidros« beschrieben, in Anbetracht der Schrift vermutete und wie Derrida sie ebenfalls aufgreift: »[U]nter dem Vorwand, das Gedächtnis zu supplieren, macht die Schrift nur noch vergesslicher«.33 Doch gleichzeitig kann das Ich im Todestagebuch wissen, »dass er abwesend sein kann, ohne dass die typoi aufhören, da zu sein, dass er sie vergessen kann, ohne dass sie ihren Dienst aufkündigen. […] Sie werden auch dann noch sein Wort tragen, wenn er nicht mehr da ist, ihnen Leben einzuhauchen. Selbst wenn er tot ist«.34 Je fieberhafter das Ich dieses Tagebuchs gegen Ende seines Lebens schreibt – denn, wie eingangs gesagt, werden die Einträge in den letzten Wochen immer dichter –, desto mehr von seinem 32 »Hinter den Prachtstraßen der Erinnerung / mit Gewalt verbreitert, / der verstreute Abfall, die zurückgelassenen / Reste von gestern, Ebbe / kilometerweit meereinwärts. / Quallen weich wie Wasserbomben / und verdächtige zuckende Steine.« Millán, Veneno (wie Anm. 4), S. 182. 33 Jacques Derrida, Dissemination, Wien 1995, S. 111. 34 Ebd., S. 116.



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Leben kann es also noch dokumentieren, aber gleichzeitig geraten auch immer mehr Teile seines Lebens in Vergessenheit (»el disco duro no dura«35 – »die Festplatte ist vergänglich«, bemerkt das Ich in einer modernisierten Vanitas-Metapher über seinen eigenen Körper). Und die Situation ist noch drastischer, denn je mehr dieses Ich in der Schrift lebt, desto mehr entfernt es sich vom Leben außerhalb seiner vier Wände und seines Schreibhefts und geht so bereits Schritt für Schritt seinem Tod entgegen. Während Milláns Tagebuch und der gesamte Schreibprozess sich also als ein phar­ makon lesen lassen, ist bei Enrique Lihn der Fokus anders gesetzt. Lihns gesamte Lyrik zeichnet sich durch ein hohes Maß an Autoreflexivität aus, durch ein ständiges Hinterfragen und Erforschen der lyrischen Diskurse und ihrer Bezüge zur Realität sowie durch ein immer wiederkehrendes metapoetisches Kommentieren und Beobachten des eigenen Schreibens.36 Dies trifft in besonderem Maße auch für das »Diario de muerte« zu, in dessen Texten das lyrische Ich wieder und wieder aus verschiedenen Perspektiven Krankheit und Tod zu ergründen sucht. Dabei beobachtet es einerseits sich selbst und hinterfragt gleichzeitig die dürftigen sprachlichen Möglichkeiten, die dem Menschen zur Verfügung stehen, um die Realität des Todes zu fassen. Gleich zu Beginn des Gedichtbands lassen die ersten Verse keinen Zweifel über die Unzulänglichkeiten der Sprache: Nada tiene que ver el dolor con el dolor nada tiene que ver la desesperación con la desesperación Las palabras que usamos para designar esas cosas están viciadas No hay nombres en la zona muda.37

Wenn die Realität von Schmerz und Verzweiflung sich bereits ihrer sprachlichen Darstellung entziehen, lässt sich für den Tod selbst nicht viel mehr erwarten: Qué otra cosa se puede decir de la muerte que sea desde ella, no sobre ella Es una cosa sorda, muda y ciega La antropomorfizamos en el temor de que no sea un sujeto sino la tercera persona, no persona, “él” o “ella”.38 35 Millán, Veneno (wie Anm. 4), S. 34. 36 Vgl. Óscar Galindo Villarroel, Las metáforas impuras: escritura, sujeto y realidad en la poesía chilena actual, Madrid 1999. 37 »Nichts hat der Schmerz mit dem Schmerz zu tun / nichts hat die Verzweiflung mit der Verzweiflung zu tun / Die Wörter die wir für diese Dinge benutzen sind verdorben / Es gibt keine Namen in der stummen Zone.« Lihn, Diario (wie Anm. 3), S. 21. 38 »Was lässt sich noch anderes vom Tod sagen / was wirklich von ihm aus wäre, und nicht über ihn / Er

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Dieses Bewusstsein für die Dürftigkeit der Sprache, die durchaus auch zu einem Verstummen der Lyrik führen könnte, ist durch Lihns gesamtes Werk hingegen eine der treibenden Kräfte hinter seiner Poetik. Der Drahtseilakt, das Nichtsagbare in Worte zu fassen, der bereits in seiner Reise- und Liebeslyrik sowie in den Gedichten mit sozialer und politischer Thematik immer präsent war, kulminiert in seinem »Diario de muerte« in der Konfrontation mit dem Unsagbarem par excellence. Im Gedicht »Limitaciones del lenguaje« wird deutlich, wie Tod und Sprache mit Sein und Nichtsein in Beziehung stehen: El lenguaje espera el milagro de una tercera persona (que no sea el ausente de las gramáticas árabes) ni un personaje ni una cosa ni un muerto Un verdadero sujeto que hable de por sí, en una voz inhumana De lo que ni yo ni tú podemos decir bloqueados por nuestros pronombres personales. Tenemos aquí a un hombre, apretando el gatillo contra sus sienes Algo ve entre ese gesto y su muerte Lo ve durante una partícula elemental del tiempo tan corta que no formará parte de aquél Si algo pudiera alargarla sin temporalizarla una droga (¡descúbranla!) Se escucharían los primeros pálidos ecos De una inédita descripción de lo que no es.39

Konkret stehen Tod, Negativität und Sprache hier genau in der Konstellation, wie Giorgio Agamben sie in »Die Sprache und der Tod: ein Seminar über den Ort der Negativität«40 miteinander in Beziehung setzt. Lihns Lyrik sucht immer wieder ist eine taube, stumme und blinde Sache / Wir vermenschlichen ihn aus Angst, dass er gar kein Subjekt sei / sondern die dritte Person, keine Person, ›er‹ oder ›sie‹.« Ebd., S. 69. 39 »Grenzen der Sprache // Die Sprache erwartet das Wunder einer dritten Person / (die nicht der Abwesende aus den arabischen Grammatiken ist) / noch eine Person oder eine Sache oder ein Toter / Ein wirkliches Subjekt, das aus sich heraus spricht, mit einer unmenschlichen Stimme / von etwas, das weder ich noch du sagen können, / blockiert von unseren Personalpronomen. // Wir sehen hier einen Mann, der auf seine Schläfe zielt / Irgendetwas sieht er zwischen dieser Geste und seinem Tod / Er sieht es während eines Sekundenbruchteils / der so kurz ist, dass er außerhalb der Zeit liegt / Wenn er sich mit irgendetwas verlängern ließe, ohne dass er Teil der Zeit würde / eine Droge (entdeckt sie!) / würde man die ersten blassen Echos / einer unbekannten Beschreibung dessen hören, was nicht ist«, Lihn, Diario (wie Anm. 3), S. 35. 40 Giorgio Agamben, Die Sprache und der Tod: ein Seminar über den Ort der Negativität, Frankfurt a. M. 2007.



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nach dem Stattfinden von Sprache, nach der negativen Dimension von Sprache, wie Agamben sie definiert, in der sie nicht mehr Laut und noch nicht Bedeutung ist. Das Bewusstsein für diese negative Dimension von Sprache öffnet dem Menschen laut Agamben mithin auch das Bewusstsein für das tödliche Risiko des absoluten Nichts, für eine »unbekannte Beschreibung dessen, was nicht ist«. Lihn scheint diesen tiefen Zusammenhang zwischen Erfahrung von Sprache und Erfahrung von Tod zu ahnen, wenn er in seinen Gedichten die Geheimnisse von beiden zu ergründen sucht. Das Nichts des Todes ist bei Lihn absolut und unsagbar, wie unter anderem aus dem Gedicht »Casi cruzo la barrera«41 deutlich wird, in dem das lyrische Ich beschreibt, wie es – im Moment des Todes – durch einen Spiegel auf die andere Seite hindurchtritt, um zu beobachten, wie nun der Spiegel die Welt mit seinem »Nichts« füllt. Bei Sara de Ibáñez hingegen erhält das Nichts des Todes, ziehen wir die Rilke-Lektüre Blanchots hinzu, eine ganz andere Bedeutung. De Ibáñez Lyrik ist erfüllt von einem Sehnen und Verlangen, das in dem Gedicht »Aspiración« einen sehr deutlichen Ausdruck findet. Die ersten drei Strophen beginnen jeweils mit den Worten »Si pudiera« (»wenn ich könnte«), und das lyrische Ich sehnt sich erst, ein Fluss zu sein, dann ein Flammenmeer gelber Blüten, eine Quelle, ein Tropfen, ein Reflex, ein Seufzen, bis das Gedicht schließt mit den Versen si pudiera hallar el modo de ser nada.42

Die graduelle Reduktion endet  – auch auf metrischer Ebene mit einer Reduktion des letzten Verses um die Hälfte der Silben – mit einem Sehnen nach dem Nichts. Allerdings ist dieses Nichts bei de Ibáñez weniger Ausdruck der absoluten Negativität und Leere, sondern vielmehr der Fluchtpunkt, an dem sich alle Oppositionen und Widersprüche auflösen, wo das lyrische Ich alles Persönliche hinter sich lassen kann und ganz in der Kunst aufgehen kann, wo sich das Wort »Tod« mit Rilke »ohne Negation« lesen lässt. Somit gerät das Nichts hier zum Raum der Möglichkeit, wo das Ende gleichzeitig auch den Neubeginn enthält. Das Sehnen nach dem Nichts in Sara de Ibáñez’ Lyrik, bedingt durch den drohenden Tod des schreibenden Subjekts, verschmilzt mit der Erfahrung der Kunst oder des orphischen Raumes, wie sie Blanchot beschreibt,43 in dem er der Kunst als Bild, als Wort und Rhythmus immer die 41 »Beinahe überquere ich die Barriere«. 42 »Wenn ich nur die Art und Weise finden könnte / Nichts zu sein.« de Ibáñez, Diario (wie Anm. 2), S. 427. 43 »Das offene ist das Gedicht. Der Raum, in dem alles zum tiefen Sein zurückkehrt, wo es unendli-

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bedrohliche Nähe eines vagen und leeren Außen attestiert, in dem das Sein im Nichts fortleben kann. Das Sehnen nach künstlerischem Ausdruck einerseits und nach dem Tod andererseits verlieren bei Sara de Ibáñez ihre Widersprüchlichkeit, so dass für sie der gleiche Imperativ gilt, den Rilke im »Sonett XIII« des zweiten Teils der Sonette an Orpheus formuliert: »sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug. Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung«.44 Die direkte Konfrontation mit dem Tod traf gleichzeitig die Menschen Sara de Ibáñez, Enrique Lihn und Gonzalo Millán als auch die Dichter Sara de Ibáñez, Enrique Lihn und Gonzalo Millán. In den letzten Monaten ihres Lebens und Schreibens konvergierten Biographie und Werk in ihren jeweiligen Todestagebüchern, in denen das schreibende und das sterbende Ich weit näher zusammenrücken, als sich für das schreibende und das lebende Ich je annehmen ließe. Auch wenn der Tod bereits in ihrem früheren Werk den Stellenwert eines literarischen Motivs eingenommen hatte, sind ihre jeweils letzten Werke sowohl Ausdruck ihrer über ein Lebensalter geformten Poetik als auch zutiefst menschliche Zeugnisse eines individuellen Abschieds.

chen Durchgang zwischen den zwei Bereichen gibt, wo alles stirbt, wo der Tod jedoch der gelehrte Begleiter des Lebens ist, wo das Entsetzen Entzücken ist, wo die Feier wehklagt und das Wehklagen lobpreist; der Raum selbst, in dem sich ›alle Welten stürzen, als in ihre nächst-tiefere Wirklichkeit‹, jener des größten Kreises und der unaufhörlichen Verwandlung, ist der Raum des Gedichts, der orphische Raum, zu dem der Dichter zweifellos keinen Zugang hat, in den er nur vordringen kann, um zu verschwinden.« Maurice Blanchot, Der literarische Raum, Zürich 2012, S. 145. 44 Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien. Die Sonette an Orpheus, Zürich 2002, S. 224.

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Die Musik zweier Tötungsszenen: »Platoon« und »Full Metal Jacket« Musik begleitet den Tod in vielfacher Hinsicht. Musik bei Beerdigungszeremonien ist ein weltweites Phänomen. Im europäischen Kontext spielt der Trauermarsch eine wichtige Rolle. Aber auch die Totenmesse, das Requiem, das in den christlichen Kulturen als mehrstimmige Gattung seit dem 15. Jahrhundert (Ockeghem) nachgewiesen ist, bildet eine wichtige Facette musikalischer Auseinandersetzung mit dem Tod. Und in der um 1600 entstandenen Gattung Oper wird beinahe so viel gestorben wie geliebt. Wo aber im Musiktheater gestorben wird, da wird das Sterben auch musikalisch ausgestaltet. Die Verbreitung des Films zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat auch nicht eben zur Einschränkung der Vielfalt und Komplexität des Themas beigetragen. Sich mit Musik unter der Perspektive Todesarten – Artes moriendi zu befassen, das macht zunächst einmal starke Einschränkungen nötig. Offensichtlich zielt das Thema eher auf den Moment des Sterbens, nicht auf den Tod generell. Requien und Beerdi­ gungszeremonien stehen damit nicht im Zentrum des Interesses, sondern Szenen des Sterbens, für die sich Oper und Film gleichermaßen anbieten. Doch selbst bei dieser Einschränkung ergibt sich ein kaum beherrschbarer Facettenreichtum, je nachdem, ob ein natürlicher oder ein gewaltsamer Tod gezeigt wird, ob das Sterben mit Trauer oder Triumph einhergeht, welche Rolle das Opfer im Handlungsverlauf spielte, das heißt, welche Beziehung das Publikum zur sterbenden Person aufgebaut hat. Wenn nach einer langen Jagd auf einen Serienkiller in einem Thriller der Antagonist schließlich getötet wird, löst dies ganz andere Gefühle aus, als wenn in einem Melodram die Geliebte an einer Krankheit stirbt. Es macht auch einen Unterschied, ob die Musik gegebenenfalls den Schreckensmoment einer Tötung oder aber die eigentlich erst später einsetzende Trauer antizipiert. Ein gutes Beispiel ist die Erschießung des kleinen Mädchens in Paul Haggis’ »Crash«. Dort rennt das Mädchen ihrem Vater zu Hilfe und springt ihm in die Arme, gerade als der Täter einen Schuss abgibt. Die Bilder zeigen den Schrecken der Eltern, aber die Musik schildert den Schmerz und die Trauer, die das Ereignis nach sich ziehen wird. Zusammen mit der Zeitlupe wird das Schreckliche der Szene auf Distanz gerückt, das unbeschreiblich Schmerzliche aber akzentuiert. In Szenen, in denen ein solches Schreckensmoment nicht vorhanden ist – wenn etwa eine Person an einer Krankheit stirbt –, da ist eine solche Distanzierung nicht nötig. In Viscontis »Tod in Venedig«, einem Film, der ohnehin eine durchgehend melancholische Atmosphäre verbreitet, ist der Tod Aschenbachs mit Mahlers

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berühmtem Adagietto (5. Symphonie) unterlegt. Aber es ist keine Distanzschaffung nötig, denn der Tod tritt erwartet, ohne Schrecken und in einer Stimmung ein, die das schwermütige Moment ohnehin hervorhebt. Auch die Frage, ob bei einer Darstellung des Todes die Perspektive des Opfers oder des Täters (falls vorhanden) eingenommen wird, ist entscheidend. Alex’ Morde und Gewalttaten oder -phantasien in Kubricks »A Clockwork Orange« vollziehen sich zu Ouvertüren von Rossini und und der 9. Symphonie von Beethoven. Sie reflektieren den Genuss des Täters bei seinen Gewaltorgien, die bei ihm ebenso wie Musik und Sex mit Lust verknüpft sind. Erst im zweiten Teil des Films, als Alex selbst zum Opfer des faschistischen Staatsapparates wird, klingt die Gewalt schmerzhaft, weil sie nun ihm selbst angetan wird. Dieser Art ließe sich ohne Schwierigkeit eine Typologie von Sterbeszenen in Oper und Film erstellen. Soll sie aber tragfähig sein, wären Tausende von Opern und Filmen zu sichten. Und angesichts so vieler unterschiedlicher Filmgenres, in denen Sterbe­ szenen vorkommen, wären beim Film gegebenenfalls auch die damit einhergehenden Spezifika zu berücksichtigen. Da dies hier nicht geleistet werden kann, sollen lediglich zwei Sterbeszenen aus zwei vergleichbaren Filmen näher betrachtet werden. Dies bietet, anders als es bei einer Typologisierung der Fall wäre, auch die Gelegenheit, auf die Konnotationen der Musik in Bezug auf den filmischen Kontext insgesamt näher einzugehen, also die Individualität der beiden Szenen stärker in den Fokus zu rücken. Vergleichbar sind die beiden Filme, insofern sie sich mit demselben Thema, dem Vietnamkrieg, auseinandersetzen und zeitnah entstanden sind: Oliver Stones »Platoon« (1986) und Stanley Kubricks »Full Metal Jacket« (1987). Eine wesentliche Differenz der ausgewählten Szenen besteht darin, dass in »Platoon« ein Protagonist und Sympathieträger stirbt, in »Full Metal Jacket« dagegen namenlose nordvietnamesische Soldaten. In »Platoon« wird der Tod von Kameraden mit Entsetzen beobachtet, während in »Full Metal Jacket« die Perspektive der Täter im Zentrum steht. Ziel der folgenden Darstellung ist nicht so sehr ein Vergleich der beiden Szenen als vielmehr die Illustrierung der von der Musik ausgelösten Konnotationen im gesamtfilmischen Kontext.

1. Der Tod Elias’ in »Platoon«

Ein Protagonist aus »Platoon«, der Sympathieträger Elias, wird etwa eine halbe Stunde vor Schluss des Films von nordvietnamesischen Soldaten durch Schüsse in den Rücken getötet. Der Tod wird regelrecht zelebriert: Immer wieder versucht der bereits blutüberströmte Elias, sich aufzurichten und weiterzulaufen. Ringsum schlagen Geschosse ein, Erde wird aufgewirbelt. Im Hintergrund stürzen nordvietnamesische



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Soldaten zu Boden. Die Kamera nimmt diverse Perspektiven ein: aus dem Hubschrauber nach unten zu Elias, von unten zum Hubschrauber, Elias aus der Ferne und aus der Nähe. Die sehr getragene Streichermusik besitzt dieselbe Langsamkeit wie die Zeitlupe. Beides rückt die Brutalität der Sterbeszene in eine gewisse Distanz und unterstreicht Mitgefühl, Trauer und Schmerz, zumal die Musik einen besonders melancholischen Charakter besitzt: Es ist Samuel Barbers berühmtes Adagio für Streichorchester, das 2004 von den Hörerinnen und Hörern der BBC zur traurigsten klassischen Komposition gewählt wurde.1 Arturo Toscanini und andere dirigierten das Werk mehrfach während des Zweiten Weltkriegs,2 so dass ihm vielleicht eine besondere Verknüpfung mit der schwermütigen Erfahrung von Krieg zugewachsen sein mag. Die Komposition ist fest im US-amerikanischen Gedächtnis verankert. Es ist eine der berühmtesten nordamerikanischen klassischen Kompositionen des 20. Jahrhunderts, und es wurde 1945 bei der Nachricht vom Tod Franklin D. Roosevelts im Radio gespielt.3 Die weitere Nutzung der Musik im Zusammenhang mit dem Tod von Staatsleuten bis hin zu John F. Kennedy trug zur Assoziation der Musik mit politisch bedeutsamen Todesfällen bei.4 Diese Verknüpfung der Musik mit sehr positiv konnotierten Staatsleuten steht im Hintergrund ihrer Wahl für die Sterbeszene eines Soldaten im Vietnamkrieg. Ihr Einsatz verleiht dieser Figur eine staatstragende Bedeutung: Wie Roosevelt und Kennedy opfert auch Elias sein Leben dem US-amerikanischen Staat oder Volk. Die Musik macht Elias zu einem Helden, der durch die Musik sein quasistaatliches Beerdigungszeremoniell erhält. In den reichhaltigen Diskussionen über die Verwendung von Barbers Adagio in »Platoon« scheint nie darauf hingewiesen worden zu sein,5 dass der Komponist das Stück 1967 auch in ein Agnus Dei für gemischten Chor umgearbeitet hat. Dadurch erhält der Tod des Elias auch ein sakrales Moment, das visuell durch die offensichtliche Kreuzigungspose des sich immer wieder aufrichtenden Elias deutlich unterstützt wird. Tatsächlich besitzt der Film, angefangen beim Motto (»Rejoice O young man in thy youth … – Ecclesiastes«) ein dichtes Netz christlicher Symbole und Anspielungen, das Avent Beck sehr überzeugend herausgearbeitet hat. Oliver Stone selbst nannte die Szene »Elias crucified«.6 Beck macht äußerst plausibel, dass Elias, der 1 Luke Howard, The Popular Reception of Samuel Barber’s »Adagio for Strings«, in: American Music 25 (1) 2007, S. 50–80, hier S. 50. 2 Ebd., S. 76, Anm. 11. 3 Ebd., S. 53. 4 Ebd., S. 54. 5 Siehe etwa den kleinen Überblick in Julie McQuinn, Listening Again to Barber’s Adagio for Strings as Film Music, in: American Music 27 (4) 2009, S. 461–499, hier S. 471f. 6 Ebd., S. 218.

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Frank Hentschel Abb. 1: Filmstill aus »Platoon« (1986)

nicht zufällig einen alttestamentarischen Namen trägt, Christus präfiguriere, so wie sich in der typologischen Bibelexegese das Alte Testament im Neuen vollende.7 Elias vollendet sich in Chris Taylor, dessen Namen ebenso wenig beliebig ist. Chris spielt zwar scheinbar eine Nebenrolle, doch als Erzähler wird die Handlung weitgehend aus seiner Perspektive geschildert. Werden hier die USA, personifiziert in Elias und Chris, also als Lamm Gottes dargestellt, das sich im Vietnamkrieg für die Sünden der Menschheit opfert? Eine maßlosere Glorifizierung der US-amerikanischen Moral und Politik wäre kaum denkbar. Und wirklich ist die Konstruktion komplexer und entzieht sich einer allzu einfachen Deutung. Schon Beck weist darauf hin, dass im Zentrum des Films weniger der Krieg der US-Amerikaner gegen die Nordvietnamesen stehe, sondern der Konflikt zwischen Elias und Barnes, der als Antichrist erscheine.8 Das Geschehen bildet eher einen »civil war« ab, wie Chris selbst sagt.9 Und auch Chris selbst verleiht sich einen schillernden Charakter, wenn er am Schluss feststellt, Elias und Barnes hätten um den Besitz seiner Seele gekämpft, und er sei das Kind zweier Väter. Der Einsatz der Musik trägt auch zur Komplexität der Deutung bei, denn Teile des Adagios bzw. seiner Adaption durch Georges Delerue durchziehen den gesamten Film, können also nicht allein in Bezug auf die eine besprochene Szene betrachtet werden. Luke Howard ist sogar der Meinung, die Musik Barbers sei derart omnipräsent in dem Film, dass »making connections between specific scenes and the symbolism of the music might be missing the larger point«.10 Von einer Musik, die in etwa zwölf Minuten in einem knapp zweistündigen Film erklingt, zu sagen, sie sei zu allgegenwärtig, um konkrete symbolische Bezüge zwischen der Musik und den konkreten Szenen herzustellen, scheint allerdings einigermaßen übertrieben zu sein. Die Musik umrahmt erst den Film, indem sie zunächst beim Vorspann und während der   7 Ebd., S. 214.   8 Ebd., S. 219.   9 Ebd., S. 217. 10 Howard, Popular Reception (wie Anm. 1), S. 57.



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Eingangssequenz erklingt und dann wieder während der Schlusssequenz und beim Abspann. Dazwischen erklingt sie weitere sechs Mal. Hier ist eine Übersicht: Min. 0:29 bis 2:45: Vorspann mit Motto; Chris kommt in Vietnam an. Min. 16:46 bis 17:20: Chris’ Nachtwache; Brief an Chris’ Großmutter (Voiceover). Min. 25:12 bis 25:34: Chris kommt nach seiner Verwundung zurück ins Camp. Min. 53:15 bis 56:22: Chris blickt auf das Massaker an vietnamesischen Zivilisten; Brandstiftung im Dorf; die Musik erreicht erstmals ihren Höhepunkt (2 Takte vor Ziffer 5 der Originalpartitur); Chris rettet zwei Mädchen vor einer Vergewaltigung und sieht Elias, die Soldaten verlassen das Dorf, teilweise mit Kindern auf ihren Schultern; während eines Dialogs verstummt die Musik für einige Zeit. Std. 1:00:20 bis 1:01:13: Dialog zwischen Chris und Elias; Elias drückt seine Zweifel über den Sinn des Krieges aus; sie sehen eine Sternschnuppe; Brief an die Großmutter, in dem auch der Ausdruck »civil war« fällt und die Bemerkung: »we’re fighting each other«. Std. 1:15:16 bis 1:17:38: Rettung des Platoons mit Hubschraubern; Elias’ Tod; die Musik erreicht erneut ihren Höhepunkt; einzige Szene, in der Elias (und nicht Chris) im Zentrum steht, während die Musik ertönt; nur in dieser Szene erklingt die Musik während der Gewaltdarstellung; nur hier wird sie mit Zeitlupe kombiniert. Std. 1:47:01 bis 1:47:41: Beseitigung von Leichen; Abtransport Überlebender, darunter Chris. Std. 1:48:59 bis Schluss (1:54:30): Chris verabschiedet sich; der Hubschrauber hebt ab; Chris sagt rückblickend (Voiceover): »We did not fight the enemy, we fought ourselves and the enemy was in us«; Abspann; Höhepunkt wird auf dem Copyright-Zeichen ausgeblendet.

Auch wenn Luke Howards Warnung, in Filmmusik, die breit über einen Film verstreut ist, nicht zu viel Symbolik hineinzulesen, prinzipiell sehr zu beherzigen ist, fallen doch einige Gestaltungsmomente auf, die signifikant zu sein scheinen, ohne dass sich die Interpretation in zweifelhaften Subtilitäten verliert. Zunächst einmal begleitet die Musik grundsätzlich die mit Christus assoziierten Personen: Chris oder Chris und Elias – nie Barnes. Das einzige Mal, da Elias im Zentrum steht, wird ausgerechnet dessen präfigurierende Christus-Funktion hervorgehoben. Überdies ist die Szene, in der Elias erschossen wird, filmisch in besonderer Weise hervorgehoben (Kruzi­fix­ikonographie und Zeitlupe). Durch die Dauer der Ausschnitte und die nur in wenigen Szenen zu hörende Einbeziehung des musikalischen Höhepunktes werden außerdem Akzente gesetzt: Die beiden herausragenden Szenen sind das Massaker an den vietnamesischen Zivilisten und der Tod des Elias. In der ersten der beiden Szenen wird die moralische Integrität von Chris und Elias sehr deutlich vorgeführt.

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So bleibt es bei aller Komplexität doch bei einer christlichen Überhöhung der beiden Protagonisten und eventuell sogar der USA, die am stärksten durch die mehrfache Hervorhebung gebrochen wird, dass es sich eigentlich um einen Bürgerkrieg gehandelt habe, dass US-Amerikaner gegeneinander gekämpft hätten.

2. Tötung zweier nordvietnamesischer Soldaten in »Full Metal Jacket«

Beim Häuserkampf in Hué erschießt Crazy Earl zwei nordvietnamesische Soldaten. Die Situation ist überaus angespannt, weil die Gegner nicht zu sehen sind, aber immer wieder Schüsse fallen und es bereits Opfer auf Seiten der US-amerikanischen Soldaten gegeben hat. An die Mauern gedrückt und zusammengekauert, suchen die Soldaten Schutz an den Hauswänden und -nischen. Ihre Gesichter strahlen höchste Anspannung und Angst aus; die Hände des Kriegsberichterstatters können die Kamera nicht mehr still halten. Da wechseln zwei nordvietnamesische Soldaten das Haus, doch zu schnell für Crazy Earl, der gerade nachgeladen hat. Zwei Nachzügler erwischt er aber offensichtlich tödlich mit seinem Gewehr. Die Anspannung weicht einem erleichterten Lächeln. Die gesamte Szene ist gänzlich aus der Perspektive des US-amerikanischen Soldaten gefilmt; die beiden nordvietnamesischen Soldaten bleiben anonym, und es gibt keine sympathisierenden Betrachter des Geschehens im Film. Genau in diesem Moment setzt eine Musik ein, die an Heiterkeit und Absurdität kaum zu überbieten ist: »Surfin’ Bird« von The Trashmen mit reinem Nonsense-­ Text. A-well-a everybody’s heard about the bird B-b-b-bird, b-birdd’s the word A-well, a bird, bird, bird, bird is the word A-well, a bird, bird, bird, well-a bird is the word A-well, a bird, bird, bird, b-bird’s the word A-well, a bird, bird, bird, well-a bird is the word A-well, a bird, bird, b-bird is the word A-well, a bird, bird, bird, b-bird’s the word A-well, a bird, bird, bird, well-a bird is the word A-well, a bird, bird, b-bird’s the word A-well-a don’t you know about the bird? Well, everybody knows that the bird is the word […]



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Abb. 2–4: Filmstills aus »Full Metal Jacket« (1987)

Stanley Kubrick erklärte im Interview mit »The Rolling Stone« dazu: What I love about the music in that scene is that it suggests postcombat euphoria  – which you see in the marine’s face when he fires at the men running out of the building: he misses the first four, waits a beat, then hits the next two. And that great look on his face, that look of euphoric pleasure, the pleasure one has read described in so many accounts of combat. So he’s got this look on his face, and suddenly the music starts and the tanks are rolling and the marines are mopping up. The choices weren’t arbitrary.11

Es ist unwahrscheinlich, dass sich in dieser sicher sehr plausiblen Erklärung der Musikeinsatz erschöpft, denn das Gefühl einer »postcombat euphoria« mag mit dem Moment von Heiterkeit und Leichtigkeit kongruieren, aber kaum mit der absurden Komik, die vom Text ausgeht. Überdies erklingt die Musik einige Zeit weiter, und das Szenario ändert sich unterdessen sehr deutlich: Panzer rücken nach, Hubschrauber transportieren Verletzte ab, die Soldaten befinden sich wie aufgereiht in Deckung von Baufundamenten, und ein Filmteam aus drei Personen, die sich aneinander festhalten, 11 Tim Cahil, The Rolling Stone Interview: Stanley Kubrick, in: Stanley Kubrick, Interviews, hg. von Gene D. Phillips, Jackson 2000, S. 189–203, hier S. 193.

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bewegen sich geduckt langsam von rechts nach links über die Leinwand. Die Bewegung des Filmteams scheint genau zur Musik zu passen. Douglas  W. Reiter nennt dies »choreographed«, Elisa Pezzotta beschreibt sie nachgerade als Tanz.12 Schließlich folgt die Kamera dem Kameramann. Zwischendurch fallen Schüsse, Soldaten winken in die Kamera. Der Film erlangt dadurch eine metareflexive Qualität: Das Filmen von Krieg wird zum Thema. So wie das Filmteam den Krieg filmt, tut es auch Kubrick selbst. Dass sich dabei Realität und Fiktion mischen, machen die nachfolgenden Kommentare der Soldaten deutlich. Natürlich beginnt Joker: »Is that you, John Wayne?« Cowboy fährt fort: »Start the camera! This is ›Vietnam – The Movie‹«, und so weiter. Insbesondere Anspielungen auf die populärkulturelle Tradition des Westerns folgen, in denen die Vietnamesen mit den »Indianern« gleichgesetzt werden. Die Grenzen zwischen Geschichte und Fiktion, Nachrichten und Kino, Politik und Phantasie verschwimmen; und die Absurdität der Musik unterstreicht diese Mixtur. Popmusik erklingt aber nicht nur in dieser Szene. Die Musik, die die Ermordung der nordvietnamesischen Soldaten und die »postcombat euphoria« untermalt, muss daher auch im Kontext der übrigen Szenen betrachtet werden. Für die Auswahl der Musik nennt Kubrick zwei Kriterien: ihre zeitgenössische Beliebtheit und ihre Passgenauigkeit für die einzelnen Szenen: »The music really depended on the scene. We checked through Billboard’s list of Top 100 hits for each year from 1962 to 1968. We were looking for interesting material that played well with a scene.«13 Die Passgenauigkeit der Musik für die behandelte Szene scheint in der »postcombat euphoria«, der Bewegung des Filmteams sowie ihrer Absurdität zu liegen, die die Grenze von Realität und Fiktion unterstreicht. Eine genauere Betrachtung der übrigen Popmusikeinsätze legt nahe, dass diese Absurdität hier als Klimax eines Prozesses zur Geltung kommt. Dies zeigt sich an der Relation von Lyrics und Filmgeschehen. Nur beim allerersten Einsatz von Popmusik dürfte der Zusammenhang von Songtext und Handlung unbestreitbar sein: Der Film beginnt mit Johnny Wrights »Hello Vietnam« – einem kriegstreiberischen, patriotischen Lied, das durch seinen Country-Stil überdies in Beziehung zu dem soeben angesprochenen Subtext über den Western gesetzt werden kann. Die Lyrics besingen den Abschied eines Soldaten von seiner Geliebten und seine Pflicht zur Verteidigung der Freiheit, in den Krieg zu ziehen. Gleichzeitig sehen wir, wie sich die jungen Rekruten mit leerem Blick die Haare 12 Douglas W. Reitinger, Paint It Black: Rock Music and Vietnam War Films, in: The Journal of American Culture 15 (3) 2014, S. 53–59, hier S. 57; Elisa Pezzotta, The Metaphor of Dance in Stanley Kubrick’s 2001: A Space Odyssey, A Clockwork Orange and Full Metal Jacket, in: Journal of Adaptation in Film & Performance 5 (1) 2012, S. 51–64, hier S. 56f. 13 Cahil, Interview (wie Anm. 11), S. 193.



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frisieren lassen – eine Szene, die mit Heldentum sehr wenig gemein hat. Die Ironie ist nicht zu übersehen.14 In dem folgenden ersten Teil der Filmhandlung, der die Ausbildung der Soldaten auf Parris Island schildert, spielt Popmusik keine Rolle mehr. Sie setzt zu Beginn der zweiten Filmhälfte in Vietnam mit Nancy Sinatras Song »These Boots Are Made for Walkin’« wieder ein. Zu sehen ist eine vietnamesische Prostituierte von hinten, die ihren Körper erotisch zum Rhythmus der Musik sanft schwingen lässt – allerdings nicht Stiefel, sondern (im Gegenteil) Stöckelschuhe trägt. Dennoch suggerieren die Lyrics einige Beziehungen zur Filmhandlung. Die Zeile »One of these days these boots are gonna walk all over you« lässt sich auf die nordvietnamesischen Soldaten beziehen, die vielleicht über die US-amerikanischen Truppen hinweg marschieren. Es lässt sich auch eine feministische Note hineinlesen, die sich dann wiederum auf irgendeine Weise in Beziehung zur Sexualisierung von Gewalt setzen lässt, wie sie im Teil auf Parris Island sehr explizit gemacht wird.15 Es verdient jedoch Beachtung, dass zum einen das Video zum Song kaum an Feminismus denken lässt, sondern ohne weiteres als Phantasie ganz im Sinne des Male Gaze zu begreifen ist. Und zum anderen enthält der Text keine einzige Formulierung, die ähnlich zwingend an einen Zusammenhang mit dem Filmgeschehen denken lässt, wie dies bei »Hello Vietnam« der Fall ist. Beim dritten Popmusikeinsatz ist es noch viel schwieriger, einen Zusammenhang zwischen Lyrics und Filmhandlung herzustellen. Es handelt sich um den Song »Chapel of Love« von The Dixie Cups. Das Lied beschreibt in rosigen Bildern eine bevorstehende Heirat. Douglas W. Reiter versucht, den Text dennoch auf die Handlung zu beziehen: The battle begins, and Joker and Rafterman undergo their own rites of initiation while The Dixie Cups sing, «Going to the chapel and we’re gonna get married … Gee, I really love you and we’re gonna get married.” Joker and Rafterman are figuratively married in combat, to a large extent to each other, but they also embrace, and irrevocably contract with, the enemy and death.16

Diese Interpretation erscheint einigermaßen weit hergeholt. Eine Anbindung an die Handlung ergibt sich, wenn überhaupt, daraus, dass Kubrick einen Hinweis da14 Helmut Rösing, Kann Musik politisch sein? Zur Rolle der Musik in Stanley Kubricks Film Full Metal Jacket, in: Komposition als Kommunikation. Zur Musik des 20.  Jahrhunderts, hg. von Constantin Floros, Friedrich Geiger und Thomas Schäfer, Frankfurt a. M. u. a. 2000, S. 313–322, hier S. 316. 15 Solche Perspektiven rücken Thomas Doherty, Full Metal Genre: Stanley Kubrick’s Vietnam Combat Movie, in: Film Quarterly 42 (2) 1988/1989, S. 24–30, hier S. 28 und Stephan Sperl, Die Semantisierung der Musik im filmischen Werk Stanley Kubricks, Würzburg 2006, S. 210f. in den Fokus. 16 Reitinger, Paint it Black (wie Anm. 12), S. 56.

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rauf gibt, dass sie diegetisch gemeint sein könnte. Als die Kamera zu Joker hinüberschwenkt, wird hinter ihm ein Transistorradio sichtbar. Gleich darauf erklingen die Sirenen wegen der einsetzenden Tet-Offensive; die Soldaten laufen aus dem Zelt und in der Tat verstummt die Musik in dem Moment, da die Kamera das Zelt verlässt. Die Lyrics von »Chapel of Love« bestehen aber aus semantisch sinnvollen Sätzen; und solange es diese gibt, finden KulturwissenschaftlerInnen immer einen Weg, sie auf die Handlung zu beziehen. Es ist daher bemerkenswert und spricht für eine absichtsvolle Dramaturgie, dass der vierte Popsong genau mit dieser semantischen Sinnhaftigkeit bricht. Der Text von »Woolly Bully« von Sam the Sham & the Pharaohs ist weitestgehend surreal und absurd; die ersten Zeilen lauten: Uno dos, one two tres quatro Ay, wooly bully Watch it now, watch it Here he comes, here he comes Watch it now, he get ’cha Matty told Hatty About a thing she saw Had two big horns And a wooly jaw

Die Absurdität dieses Textes erlaubt eigentlich keine Bezugnahme mehr zur Filmhandlung, auch wenn Reitingers Hinweise darauf, dass genau in dem Moment, in dem Crazy Earl einem Soldaten, dessen Gesicht von einem Sonnenhut bedeckt ist und der in einem Sessel zu schlafen scheint, die Kopfbedeckung entfernt, »watch it, watch it« im Song ertönt.17 Aufgefordert mit den Worten »Here, man, take this!«, erhebt sich der US-amerikanische Kriegsfotograph und richtet sein Objektiv zu den Worten »watch it« auf den scheinbar schlafenden Soldaten, der sich als toter Vietnamsoldat entpuppt. Diese Passgenauigkeit dürfte tatsächlich kein Zufall sein. Was aber viel bemerkenswerter erscheint, ist der Umstand, dass diese Worte überhaupt keinen Mehrwert erzeugen; sie duplizieren nur das ohnehin äußerst explizite Geschehen. Keine psychologische, vorausweisende, konterkarierende oder andere subtile Deutung erscheint möglich. Die musikalisch-visuelle Tautologie stellt selbst eine Art von Sinnlosigkeit dar. So ist es kein Wunder, dass der fünfte und letzte Popmusikeinsatz, der parallel zur Filmhandlung geschieht, eben »Surfin’ Bird«, in endgültige Absurdität mündet. Die Birds als Metaphern für die Helikopter zu deuten, wie es Douglas W. Reitinger tut,18 17 Ebd., S. 57. 18 Ebd.



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erscheint als ebenso absurd wie der Songtext selbst. Stattdessen ist in dem Song wohl die Klimax einer Entwicklung zu sehen, in der die verwendeten Popsongs mehr und mehr Unabhängigkeit von der Filmhandlung erlangen, in immer stärkeren Kontrast zum Geschehen rücken und dadurch fast eine Art von Parallelwelt erkennen lassen, wie es ganz ähnlich auch Georg Seßlen beschreibt.19 Die Auswahl der Popsongs auf der Grundlage von Billboard’s Hot 100 genau aus der Zeit des Vietnamkrieges bis zur Tet-Offensive ist nicht nur ein Spiel mit historischer Präzision, sondern sie akzentuiert die absurde Parallelexistenz von US-amerikanischem Alltag mit seinen unbeschwerten Songs einerseits und gleichzeitiger grauenvoller Kriegsrealität andererseits in Vietnam. In der Szene, in der Crazy Earl die beiden vietnamesischen Soldaten erschießt, gipfelt diese Parallelsetzung in Form einer Klimax der Absurdität. Da die Absurdität von dieser Szene an nicht mehr zu steigern war, nimmt der Film nun auch wirklich einen anderen Verlauf, indem er eine Szene ins Zentrum rückt, in der der Kampf gegen eine nordvietnamesische Scharfschützin und schließlich deren Tötung geschildert wird. Bezeichnenderweise wird hier, wie es zuvor allein beim Selbstmord von Private Pyle auf Parris Island der Fall war, Mood Music von Abigail Mead (alias Vivian Kubrick) eingesetzt. In dieser weiteren Sterbeszene zeigt Joker Mitleid mit der schwer verwundeten Soldatin, die er auf ihr eigenes Flehen hin schließlich erschießt, um sie von ihren Qualen zu befreien. Hier unterstreicht die Musik die finstere Seite des Krieges, zeigt Menschlichkeit der Soldaten und bezieht die Perspektive des nordvietnamesischen Opfers mit ein. Erst im Abspann erklingt erneut ein Popsong, »Paint it Black« von den Rolling Stones, dessen düsterer Text sich wieder zwanglos mit der vorangehenden Handlung, das heißt allgemeiner den Schrecken des Krieges in Zusammenhang bringen lässt. Er setzt erst bei schwarzer Leinwand ein und macht schon dadurch deutlich, dass er nicht mehr als Teil der handlungsbegleitenden Songs zu verstehen ist. *** Der Tod hat im Film keinen bestimmten Sound. Wie er klingt, hängt davon ab, wie er sich ereignet und welche Rolle die sterbende Figur im Film gespielt hat und wie nahe sie dem Publikum steht. Es macht einen Unterschied, ob nach wilder Jagd in einem Actionfilm ein Verbrecher niedergestreckt wird oder ob in einem Filmdrama ein Kind viel zu früh an einer unheilbaren Krankheit stirbt. Eine anonyme Figur, die etwa in einem Katastrophenfilm neben Hunderten von anderen Menschen hinweggerafft wird, erfährt auch musikalisch weniger Beachtung, während der Tod eines Individuums, das Sympathieträger ist und im Zentrum eines Films stand, musikalisch sehr viel eingehender kommentiert werden wird. 19 Georg Seesslen, Fernand Jung, Stanley Kubrick und seine Filme, Marburg 2001, S. 70.

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Musik wird im Film häufig dazu genutzt, die Perspektive der Zuschauer und Zuschauerinnen zu leiten und zu manipulieren. In Komödien werden Todesfälle wie andere Grausamkeiten durch eine Musik mit humoristischer Stimmung deutlich entschärft. Die Schrecklichkeit von Sterbeszenen wird in Dramen oft mit trauriger Musik untermalt, so dass ein emotionaler Zustand, der tatsächlich erst später einsetzt, vorgezogen wird, während in Horrorfilmen gerade das Moment des Schreckens und Grauens auch musikalisch durch dissonante, laute und schrille Klänge unterstrichen wird. Filme können aber auch die Perspektive eines Täters einnehmen, der Gefallen an seinen Mordtaten findet, und daher brutale Szenen mit einer Musik versehen, die Entspannung und Befriedigung ausstrahlt – ein Mittel, das dann zu Verfremdungseffekten beim Publikum führen kann. Die zwei analysierten Filmszenen sollten deutlich gemacht haben, wie unterschied­ lich der Tod im Film musikalisch gestaltet werden kann, eben in Abhängigkeit davon, wie sie in den Film eingeflochten sind, welche Stoßrichtung der Film hat und welchen narrativen Stellenwert die betroffenen Figuren einnehmen. Überdies zeigen beide Filme, dass sich die Rolle der Filmmusik nicht auf die sogenannte »Mood«-Funktion beschränkt, also die expressive Charakterisierung einer Szene oder die Schaffung einer Atmosphäre, sondern dass Musik auch weitergehende religiöse, kulturelle und politische Subtexte transportieren kann. Das kann sie zum Beispiel, indem sie präexistentes Material heranzieht, Material also, das nicht für den Film komponiert wurde, sondern bereits vorhanden war, und die im kulturellen Gedächtnis mit bestimmten Assoziationen verknüpft ist wie im Fall von »Platoon«. Sie kann es aber auch, indem sie eine Musik einsetzt, die durch ihre eigenen Qualitäten das Geschehen kritisch beleuchtet wie im Fall von »Full Metal Jacket«.

Mira Menzfeld

Sterben in Finnland, Südchina und Deutschland: Interkulturelle Perspektiven aus Feldforschungen mit terminal erkrankten Personen 1. Einleitung: Menschen sterben sehr verschieden

Je nachdem, wo jemand aufwächst und lebt, stirbt sie oder er anders. Abhängig davon, von wem und wie jemand die Welt erklärt bekommt, wird er oder sie zum Beispiel damit rechnen, später einmal unwiderruflich tot zu sein – oder auch nicht. Nur unter Bezugnahme auf die Sterbekonzepte, die im Rahmen unseres jeweils vertrauten kulturellen Kontexts als denkbar gelten, kann jede*r von uns überhaupt versterben. Wenn wir – wie ich das im vorliegenden Beitrag tun werde – davon ausgehen, dass »Sterben« den Prozess des Übergangs zwischen Vollauf-Lebendsein und Totsein bezeichnet, und wenn wir weiterhin anerkennen, dass es möglich ist, diesen Prozess unterschiedlich zu konzeptualisieren, dann folgt daraus (zumindest aus ethnologischer Perspektive), dass bei weitem nicht alle Menschen gleich sterben – und mehr noch: dass noch nicht einmal alle Menschen sterben. Viele Kulturen kennen Markierungen oder Zusprechungen, die Sterbensprozesse einleiten, ihren gelungenen Vollzug begünstigen und sie abschließen sollen. Je nach kulturellem Kontext gibt es zudem unterschiedliche mögliche Beginn- und Endpunkte des Sterbens; manchmal wird Sterbenden und ihren Angehörigen unter Umständen auch abverlangt, dass sie sich intensiv für ein adäquat abgeschlossenes Sterben anstrengen, so dass der oder die Sterbende letztlich erfolgreich tot sein kann. Wenn man wissen möchte, welche Sterbensverständnisse weltweit, kulturübergreifend besonders verbreitet sind, zeigen sich grob drei Grundausrichtungen der temporalen Verortung von Sterbensprozessen: das präexitale Sterben, das postexitale Sterben, und das punktuelle Sterben (was streng genommen gar kein Sterbensprozess ist, weil ihm das Verlaufsmoment fehlt). Beim präexitalen Sterben wird angenommen, dass der Sterbensprozess anfängt, bevor eine Person für immer aufhört zu atmen, zu reden, sich eigenständig zu bewegen etc. Beim postexitalen Sterben geht man hingegen davon aus, dass das Sterben überhaupt erst nach dem physischen Exitus beginnen kann. Daneben kann es natürlich auch Konzepte eines punktuellen Versterbens geben, bei dem eine quicklebendige Person innerhalb eines kurzen Momentes in den Zustand des Totseins übergeht und kein Sterbensprozess im eigentlichen Sinne stattfindet – weil hier aber das Prozessuale fehlt, identifiziere

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ich das punktuelle Versterben nicht als Sterben im üblichen Sinne und klammere es in dieser Betrachtung aus. Etwas exakter formuliert:1 Präexitales Sterben beschreibt Konzepte, die davon ausgehen, dass das Sterben vor dem Austritt einer Person aus dem Leib, mit dem sie verbunden ist (»Exitus«), beginnt. Eine Person wird basierend auf geteilten kulturellen Konzepten des Sterbens entweder von der betroffenen Person selbst und/oder von relevanten Personen in ihrem Umfeld als sterbend identifiziert, bevor ihr Körper leblos geworden ist.2 Präexitales Sterben kann damit beginnen, dass ein Mensch von den Personen in der Umgebung als sterbend deklariert und behandelt wird; dass jemand spürt, dass der eigene körperliche Exitus nahe ist und sich möglicherweise auch auf den eigenen Exitus vorbereitet; oder dass die Person von Expert*innen informiert wird, von denen man annimmt, dass sie in der Lage sind festzustellen, ob jemand stirbt oder nicht.3 Eine präexital sterbende Person kann auch einen sich bewegenden, atmenden und handelnden Körper zurücklassen, wenn sie das Sterben bereits beendet hat: Dann ist sie präexital tot.4 Postexitales Sterben bedeutet, dass man davon ausgeht, dass eine Person genau zum oder nach dem Exitus mit dem Prozess der Ablösung von ihrem Leib beginnt, oder dass sie vorher zu sterben begonnen hat und nach dem Exitus weiter im Sterben begriffen ist. Eine postexital sterbende Person kann in der Regel nicht in der Welt der verkörperten Menschen handeln, indem sie einen Leib bewohnt und durch ihn agiert, wie es vor dem Exitus der Fall war. Sie kann jedoch weiterhin einen nie mehr atmenden, sprechenden und sich bewegenden Leib bewohnen und unabhängig von ihrem 1 Die folgenden drei Abschnitte sind ungefähre deutsche Übersetzungen entsprechender Definitionen aus Mira Menzfeld, Anthropology of Dying. A Participant Observation with Dying Persons in Germany, Wiesbaden 2018. 2 Vgl. als Beispiele: Barney G. Glaser, Anselm L. Strauss, Awareness of Dying. Chicago 1965; Hikaru Suzuki, Introduction: Making One’s Death, Dying, and Disposal in Contemporary Japan, in: Hikaru Suzuki (Hg.), Death and Dying in Contemporary Japan, Hoboken 2013, S.  1–30; Ludek Broz, Daniel Münster (Hg.), Suicide and Agency. Anthropological Perspectives on Self-Destruction, Personhood, and Power, Farnham 2015. 3 Vgl. als Beispiel: Elisabeth Kübler-Ross, Interviews mit Sterbenden, Stuttgart 1973; Philippe Descola, Leben und Sterben in Amazonien. Bei den Jívaro-Indianern, Berlin 2011; Robert Desjarlais, A Good Death, Recorded, in: Veena Das, Clara Han (Hg.), Living and Dying in the Contemporary World. A Compendium, Oakland 2016, S. 648–661. 4 Vgl. als Beispiele: Ulrike Blindt, Die Frage der Einmischung. Moralische Dilemmata im Feld und die Hilflosigkeit der Ethnologen, in: Peter Berger, Jeanne Berrenberg, Berit Fuhrmann, Jochen Seebode, Christian Strümpell (Hg.), Feldforschung: Ethnologische Zugänge zu sozialen Wirklichkeiten – Fieldwork: Social Realities in Anthropological Perspectives, Berlin 2009, S. 85–117; Todd Sanders, Save our Skins. Structural Adjustment, Morality and the Occult in Tanzania, in: Henrietta Moore, Todd Sanders (Hg.), Magical Interpretations, Material Realities: Modernity, Witchcraft and the Occult in Postcolonial Africa, London 2001, S. 97–117.



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Exitus der Gesellschaft angehören,5 indem sie weiterhin als Person präsent ist.6 Darü­ ber hinaus kann eine postexital sterbende Person den Sterbeprozess in einem gesonderten Raum durchlaufen, der losgelöst von ihrer früheren sozialen und physischen Einbettung ist: Sie kann etwa in einem Zustand und einer Sphäre des Dazwischen verweilen, anstatt den Sterbensprozess hin zum Totsein zügig zu durchlaufen, und sie muss gegebenenfalls in diesem Zwischenraum Aufgaben erfüllen oder warten, bis sie postexital tot oder aber reinkarniert ist.7 Sterben ist ein Transformationsprozess.8 Er beinhaltet die Loslösung einer Person von dem Leib, den sie bewohnt. Sterben bedeutet für Sterbende zudem einen Statuswechsel sowie die Neuverhandlung oder Neudefinition der Beziehungen zwischen der betroffenen Person und den Menschen in ihrer Umgebung.9 Aus ethnologischer Sicht ist das Sterben nicht etwas, das zwangsläufig bei jedem Menschen in ähnlicher Weise abläuft: In einigen Kontexten wird Sterben als ein unumkehrbarer Prozess gesehen, der zum Exitus führt, ohne dass es eine Möglichkeit gibt einzugreifen, um ihn zu stoppen.10 In anderen Kontexten können Menschen gar nicht einfach so sterben,11 entscheiden sich gezielt für den Tod12 oder sogar erfolgreich dafür, nicht zu sterben.13 Sterben zu definieren als »die persönliche Erwartung und Akzeptanz des Todes als unmittelbar bevorstehendes Ereignis«,14 passt daher zwar gut zu kulturspezifischen   5 Vgl. als Beispiele: Godula Kosack, Seelenkonzepte in anderen Kulturen, in: Ulrike Krasberg, Godula Kosack (Hg.), … und was ist mit der Seele? Seelenvorstellungen im Kulturvergleich, Frankfurt a. M. 2009, S. 17–32; Ulrike Krasberg, Wenn sich das Fleisch von den Knochen gelöst hat, ist das Sterben abgeschlossen. Seelenvorstellungen im ländlichen Griechenland, in: ebd., S.  53–68; Gisela Reppel, Knochen für die Ewigkeit. Die Sekundärbestattungen der Merina in Madagaskar, in: ebd., S. 169–194.   6 Vgl. als Beispiele: Max Gluckman, Mortuary Customs and the Belief in the Survival After Death Among South-Eastern Bantu, in: Bantu Studies (11) 1937, S. 117–136. Sjaak Van der Geest, Dying Peacefully: Considering Good Death and Bad Death in Kwahu-Tafo, Ghana, in: Social Science and Medicine (58) 2004, S. 899–91.   7 Siehe Michael Lambek, After Life, in: Das, Han (Hg.), Living and Dying (wie Anm. 3), S. 629–647.   8 Vgl. Allan Kellehear, The Inner Life of the Dying Person, New York 2014, S. 7–9.   9 Vgl. Robert Desjarlais, Sensory Biographies. Lives and Deaths Among Nepal’s Yolmo Buddhists, Berkeley, 2003; Philippe Descola, Leben und Sterben in Amazonien. Bei den Jívaro-Indianern, Berlin 2011; Harry M. Marks, Chemonotes, in: Das, Han (Hg.), Living and Dying, S. 675–695. 10 Vgl. Gerhild Becker, Carola Xander, Zur Erkennbarkeit des Beginns des Sterbeprozesses, in: Franz-Josef Bormann and Gian Domenico Borasio (Hg.), Sterben. Dimensionen eines anthropologischen Grundphänomens, Berlin, Boston 2012, S. 116–136. 11 Vgl. Christopher Justice, Dying the Good Death. The Pilgrimage to Die in India’s Holy City, Delhi 1997. 12 Vgl. Robert Desjarlais, A Good Death, Recorded, in: Das, Han (Hg.), Living and Dying (wie Anm. 3), S. 648–661. 13 Vgl. Lambek, After Life (wie Anm. 7). 14 Allan Kellehear, The Inner Life of the Dying Person, New York 2014, S. 9.

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Konzepten, die das Sterben als vor dem Exitus stattfindend und mit dem Exitus endend fassen. Es passt jedoch nicht für alle Kulturen: So bedeutet der begonnene Sterbeprozess nicht notwendigerweise in allen Kontexten, dass man bald tot ist, und vollendetes Sterben führt nicht notwendigerweise immer zum persönlichen Tod. Ob man präexital oder postexital sterben kann  – also ob einem die jeweiligen Ideen dazu, wie und wann Sterben möglich ist und was es bedeutet, intuitiv zugänglich sind –, hängt stark damit zusammen, in welchem kulturellen Kontext man sich üblicherweise bewegt: Je nachdem findet man dann etwa die präexitale oder die postexitale Sterbenskonzeption absolut zugänglich und »wahr«, die jeweils andere weniger oder gar nicht vorstellbar und »richtig«.15 Ich möchte dazu einladen, drei Kontexte kennenzulernen, innerhalb derer ich terminal erkrankte Personen getroffen habe: Finnland, China und Deutschland. Aus allen drei Regionen werde ich sterbenskranke Menschen vorstellen, die in ihrer Art und Weise, mit einer unheilbaren Erkrankung umzugehen, wesentliche Aspekte der Sterbenskonzepte in ihrer Heimat verdeutlichen. Selbstverständlich stehen sie nicht repräsentativ für alle sterbenden Menschen in ihrer jeweiligen Region  – beispielsweise wird die terminale Erkrankungsspanne eines vermögenden Bankers in Shanghai sehr anders aussehen als das von Xia, die ich in China kennenlernte; und das Versterben eines überzeugten Buddhisten in Deutschland mag anders vonstattengehen als das Sterben jener Personen in Deutschland, die ich weiter unten vorstellen werde. Was die Schilderungen aber hervorragend zeigen können, ist die Vielfalt verschiedener denkbarer Sterbenskonzeptionen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Im direkten Kontrast zueinander gelesen, schärfen sie auch den Blick dafür, dass es kein kulturell voraussetzungsfreies Sterben gibt. Die im vorliegenden Beitrag besprochenen Beispiele beziehen sich auf Personen, für die eine terminale Diagnose von ausgebildeten Mediziner*innen vorlag und die im Verlauf der Forschung verstorben sind. Alle hier einfließenden Forschungsergebnisse wurden zwischen 2013 und 2019 während verschiedener Feldforschungsaufenthalte in Finnland, Deutschland und China erhoben. Gemäß der Forschungsvereinbarungen mit den Beforschten habe ich eine Anonymisierung der weiter unten vorgestellten Personen vorgenommen.16

15 Beispiele für präexitales und postexitales Sterben finden sich weiter unten (oder ausführlicher etwa bei Menzfeld, Anthropology of Dying (wie Anm. 1) und dies., Und manche sterben nie. Verortungen von Sterbensprozessen im interkulturellen Vergleich, in: Thorsten Benkel (Hg.), Zwischen Leben und Tod, Wiesbaden 2018, S. 93–108. 16 Einverständniserklärungen erfolgten als repeated informed consent, je nach Lokalkonvention schriftlich oder mündlich eingeholt.



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2. Finnland: Tuula hat niemanden, der ihr das Sterben zeigt, kommt aber trotzdem zurecht

Tuula17 ist klein und zierlich, trägt meistens schon zum Frühstück rote und orange wallende Kleider, und sie versucht, ungefähr zwei Stunden jeden Tag vor ihrer kleinen quadratischen Leinwand zu verbringen. An guten Tagen spannt sie sie in eine hochbeinige Staffelei am Fenster, da sei das Licht im finnischen Sommer überirdisch schön, sagt sie. An nicht so guten Tagen malt sie halb im Liegen, ihr Sohn hat ihr ein kleines Aufstellgerüst gebaut, das wie ein Betttischchen funktioniert und in das sie ihre kleine Leinwand und ihre Palette einrasten kann. Die alte Dose mit Terpentin zum Pinselauswaschen steht an solchen Tagen nahebei, so dass sie mit möglichst wenig Kraftaufwand auch dann malen kann, wenn sie sich müde fühlt. Aus Tuulas Malzimmer sieht man eine breite spiegelnde Wasserfläche, darin felsige Inselchen, am Rande etwas Wald. Die Fenster sind bodentief und lassen manchmal fast zu viel Sonne herein, dann trägt Tuula drinnen eine Sonnenbrille, wie sie sie früher nur bei Langlauftouren im tiefen Winter angezogen hat, damit sie nicht schneeblind wurde. Heute sind Langlauftouren undenkbar, denn der Krebs will sich nicht zurückziehen. Im Gegenteil, er hat gestreut. »Manchmal weiß ich nicht, ob es die Medikamente sind oder die Krankheit, wenn ich mich manchmal müde fühle oder Sachen vergesse«, sagt sie, »aber das ist eigentlich auch egal. Es geht mir auf die Nerven.« Was sie auf keinen Fall vergisst, ist der samstägliche Saunanachmittag, wenn es ihr gut genug dafür geht. Seit Tuula nicht mehr zuhause wohnt, sondern im Hospiz, freut sie sich, dass sie die Sauna nicht mehr selbst anheizen muss. Die Aromaraterunden machen ihr Spaß: Dabei wird vor dem Aufguss nicht verraten, welcher Duft mit dem Handtuch verwedelt wird, und alle, die mitsaunieren, können beim Verdampfen einen Tipp abgeben, welches Obst oder welches Holz sie gerade erriechen. »Das ist lustig«, sagt Tuula. Die Pflegenden sagen: »Das aktiviert die positiven Sinneseindrücke unserer Patientinnen und Patienten und hilft ihnen, ihren Körper positiv zu erleben.« Was auch beim positiven Erleben des Körpers hilft und lustig ist, ist die Likörrunde nach dem Saunagang für Tuula und ihre Mitbewohnenden: Denn wenn man sowieso stirbt, muss man sich keine Sorgen mehr um die Leberwerte im Alter machen. Über den Durst trinkt keiner, da passt das Personal schon auf, aber bloß weil man unheilbaren Krebs hat oder COPD in der Endausprägung, lässt man sich doch nicht auch noch den Saunalikör wegnehmen, findet Tuula. 17 Der folgende Abschnitt präsentiert noch unveröffentlichte Forschungsdaten von 2019 und Ergebnisse aus vorangegangenen Arbeiten (Menzfeld, Anthropology of Dying (wie Anm. 1); dies., Liminal Asymmetries: Making Sense of Transition Dynamics in Relations with Dying Persons, erscheint in: Curare – Zeitschrift für Medizinethnologie (2022).

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Wie Sterben geht, das kann ihr hier keiner sagen. Das stört Tuula; vor allem am Anfang hat es sie gestört, kurz nach ihrem Einzug. Sie hat damals viel gegoogelt und mit Ärztinnen und Pflegern gesprochen und versucht herauszufinden, wie der übliche Verlauf ihrer Krankheit ist und mit wie viel guter Zeit, also Momenten, in denen sie mehr tun kann als herumzuliegen, sie zu rechnen habe. Dazu konnte sich aber niemand so genau festlegen, das sei nicht möglich vorherzusagen, es gebe nur Erfah­rungswerte und vor allem verlaufe es bei jeder Person verschieden. »Inzwischen komme ich damit besser zurecht, mit dieser Ungewissheit«, sagt sie heute. »Aber auch jetzt denke ich manchmal: Man hat eigentlich niemanden, an den man sich wenden kann, der einem sagt, wie es jetzt weitergeht.« Eine Möglichkeit, Tuulas Erfahrung zu deuten, ist es, sich anzuschauen, was genau aus ethnologischer Sicht beim Sterben passiert. Sterben, also die Situation zwischen Vollauflebendigsein und Totsein, wird für gewöhnlich verstanden als ein Übergang zwischen zwei Arten des Seins, die – lokal bzw. kulturell jeweils unterschiedlich ausgestaltet – im Bereich des für Menschen Möglichen gedacht werden. Aber es ist im kulturellen Kontext Tuulas (wie auch in vielen anderen europäischen Regionen) ein Übergangsprozess, fachsprachlich eine »liminale Phase«, dem oft Elemente fehlen, die andere Übergangsprozesse normalerweise beinhalten: etwa eine Initiation durch eine Person, die bereits initiiert ist; die Begleitung durch die Übergangsphase durch Personen, die bereits dasselbe durchgemacht haben; und die Gemeinschaftlichkeit (communitas) mit anderen, die in derselben liminalen Situation stecken wie man selbst. Diese drei häufig fehlenden Grundelemente der liminalen Phase präexitalen Sterbens können Sterbende stören.18 Das Gefühl, dass weder etwa der initiierende Arzt noch zum Beispiel der geliebte Ehepartner geeignet und zuständig dafür sind, durch die Übergangssituation des Sterbens zu geleiten, ist für viele Menschen nicht besonders schön. In der liminalen Phase des Sterbens fehlt sozusagen jemand, an den man sich wenden und um Rat bitten kann. Tuulas Sterben begann mit einer terminalen Diagnose – also einem Arzt, der ihr sagte, dass sie nicht mehr lange zu leben habe und in absehbarer Zeit an einer nicht medizinisch behandelbaren Krankheit sterben werde. Tuula und ihr gesamtes Umfeld waren daraufhin sehr traurig, verzweifelt, wütend – aber sie zogen nicht etwa grundständig in Zweifel, dass der behandelnde Arzt sich diese Diagnose nur ausgedacht haben könnte oder eine falsche Diagnose gestellt haben könnte, weil er schlecht ausgebildet wäre. Im Gegenteil: Tuula veränderte daraufhin ihren Lebensmittelpunkt (nur aufgrund der terminalen Diagnose war sie überhaupt einzugsberechtigt im Hospiz), stellte alltägliche Gewohnheiten um (sie malt nun öfter), sorgte sich weniger um die negativen Auswirkungen von Genussgiften (etwa den Likör nach dem Saunagang) 18 Vgl. Menzfeld, Liminal Asymmetries (wie Anm. 17).



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und vieles mehr. Für Tuula war das Arztgespräch ein Moment, in dem sie annahm, eine verlässliche Prognose über ihr Sein oder Nichtsein in der näheren Zukunft zu erhalten. Als »tot« wird sie für ihr Umfeld üblicherweise dann gelten, wenn sie nicht mehr atmet und ihr Körper verfällt. In anderen Kontexten hätte die Diagnosemitteilung, die Tuula bekam, aber vielleicht eine ganz andere Bedeutung. Ein Beispiel dafür, welche das sein könnte, beschreibe ich im nächsten Abschnitt.

3. China: Xia stirbt erst, wenn das Leben ihren Körper verlassen hat – denn niemand kann schließlich genau wissen, was die Zukunft bringt

Xia19 bekommt oft nahrhafte Fleischbrühen serviert. Ihre Angehörigen sorgen sich sehr darum, wie und wann und was sie isst – aber trotzdem hat sie das Gefühl, schwächer und schwächer zu werden. Ihr Sohn meint, sie solle unbedingt daran glauben, dass es ihr bald besser gehe, sie selbst ist manchmal einer Meinung mit ihm und bemüht sich, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken, manchmal aber hat sie auch Angst, dass es eben nicht mehr besser wird. Aber welchen Grund könnte es geben, sich der Verzweiflung hinzugeben, solange sie noch atmet und spricht und lacht? Das finden ihre Angehörigen, das finden alle um sie herum, und sie selbst findet das eigent­lich auch. Xia wohnt in einer chinesischen Hafen- und Industriestadt, in die es viele Menschen aus den umliegenden Landstrichen zieht, die Arbeit finden wollen. Meistens ist die Arbeit, die sie finden, schwer: Kleidung färben etwa, nicht unbedingt mit vor Schadstoffen schützenden Handschuhen, oder Kleidung bleichen, nicht unbedingt geschützt durch hochwertige Masken. Fast alle haben gehört, dass es krank machen kann,20 wenn man in einer bestimmten Branche arbeitet, in der die Arbeitsschritte mit giftigen Laugen, Dämpfen und Lösungen noch nicht vollautomatisiert sind, sondern teils oder ganz von Menschen erledigt werden müssen. Aber giftige Farbe an den Händen ertragen sich leicht, wenn davon dem Kind eine gute Ausbildung bezahlt 19 Dieser Abschnitt stützt sich auf eine Feldforschung 2015 und auf einen daraus entstandenen Artikel zum Thema, vgl. Mira Menzfeld, Silent Questions: (Not) Talking about Dying in the Pearl River Delta, in: MAT – Medicine Anthropology Theory 9 (2) 2022, S. 1–10. 20 Vgl. etwa H. Checkoway, R. M. Ray, J. I. Lundin, G. Astrakianakis, N. S. Seixas, J. E. Camp, K. J. Wernli et al., Lung Cancer and Occupational Exposures Other than Cotton Dust and Endotoxin among Women Textile Workers in Shanghai, China, in: Occupational and Environmental Medicine 68 (6) 2011, S. 425–29; Zorawar Singh, Pooja Chadha, Textile Industry and Occupational Cancer, in: Journal of Occupational Medicine and Toxicology 11 (39) 2016, https://doi.org/10.1186/ s12995-016-0128-3.

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werden kann oder wenn dafür hinterher genug Essen auf dem Tisch steht; und vor allem ertragen sie sich, weil es keine Alternative gibt. Als es bei ihr nach vielen Jahren harter Arbeit begann, mit dem Husten und der Mattigkeit, wartete Xia erst einmal ab. Irgendwann entschied sie sich, in ein regionales Gesundheitszentrum zu gehen, sich dort in die Schlange zu stellen und sich untersuchen zu lassen. Das Gesundheitszentrum hatte viel zu wenige Räume, um allen einen eigenen Raum für Untersuchungen zur Verfügung zu stellen. Ärztliche Konsultationen und körperliche Untersuchungen fanden darum in einer großen Halle statt. Wenn nebenan jemand das Oberteil ausziehen musste, um abgehört zu werden, oder einen Ausschlag zeigen sollte, der unter der Kleidung verborgen war, dann schaute man halt weg, um ihm ein wenig Privatsphäre zu gewähren. Das Gesundheitszentrum hatte wenig gemeinsam mit den vor Hightechgeräten und Spitzenmedizinerinnen strotzenden Krankenhäusern, in denen etwa in Shanghai oder auch im Expat-Viertel der Hafenstadt Kranke behandelt wurden. Hier im Gesundheitszentrum gab es keine Klimaanlage und auch nicht vor allen Fenstern Moskitogitter. Xia wurde in diesem Gesundheitszentrum von einem völlig überarbeiteten jungen Arzt betreut. Er untersuchte sie, vor allem ihre Lunge. Er gab ihr Schmerzmittel und sagte, er wolle sich alles genauer ansehen, sie vielleicht auch in ein anderes spezialisiertes Untersuchungszentrum überweisen. Einige Zeit später wurde Xia weiter untersucht. Als sie das dritte Mal ins Gesundheitszentrum kam, begleiteten sie ihr Mann und ihr Sohn; da erfuhren sie alle gemeinsam, dass Xia ernstlich krank sei und es schwierig werden könnte in Zukunft, dass Schwäche und Atemprobleme zunehmen könnten und einiges mehr. So genau weiß sie das alles nicht mehr, und der Arzt redete später noch mit ihrem Mann und ihrem Sohn weiter, als sie selbst schon auf dem Weg zu einer anderen Untersuchung war. Seitdem erhält sie besondere Medikamente, nicht nur die leichten Schmerztabletten, »die verteilen sie sonst hier an alle, aber ich kriege spezielle Tabletten«. Xia und ihre Familie sind sich nicht so sicher, ob Xia hier im lokalen Gesundheitszentrum die bestmögliche Behandlung bekommt. Sie weiß auch nicht, ob sie hier die genaueste und verlässlichste Diagnose erhält. Behandlungserfolge und, ja, durchaus auch terminale Diagnosen können in ihrer Erfahrungswelt von vielen Faktoren abhängen, nicht zuletzt von finanziellen  – es ist nicht undenkbar, dass etwa eine terminale Diagnose nur so lange gültig bleibt, wie man nicht das Geld für eine bessere Behandlung auftreiben kann, oder dass eine Krankheit als behandelbar bezeichnet wird, die eigentlich unheilbar ist, nur um den Betroffenen bis zuletzt teure und nutzlose Medikamente verkaufen zu können. Xias Arzt macht zwar einen sehr kompetenten und engagierten Eindruck, aber woher soll sie wissen, ob dieser Eindruck der Wahrheit entspricht? Weder kennt sie ihn oder seine Familie, noch hat sie sonstige wechselseitigen Unterstützungs- und Verpflichtungsbeziehungen (guanxi) mit ihm.



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In ihrem Viertel ist ein Arzt, der eine schlimme Prognose stellt, manchmal schlicht unfähig. Vielleicht hat er auch seine Abschlüsse in Humanmedizin gefälscht oder seine Betreuenden bestochen, damit er im Abschlusszeugnis bessere Noten erhielt, als ihm eigentlich zustünden. Vielleicht ist er bloß zu fixiert darauf, ihren körperlichen Zustand auszuleuchten, und darum schlicht nicht dazu in der Lage zu begreifen, dass ihre Schwäche vor allem damit zusammenhängt, dass ihr Sohn sich nicht immer mit den Jobs und Menschen umgibt, die sie selbst für ihn aussuchen würde – denn auch das kann ja krank machen, das sagen alle ihre Nachbarn. Vielleicht schämt sich der Arzt auch dafür, dass er nicht das Equipment und die Medikamente hat, die er eigentlich bräuchte, um die Erkrankung, die sie hat, adäquat zu behandeln. Vielleicht möchte er bestochen werden, oder er möchte eine extrem teure Behandlung verkaufen und wirft darum mit pessimistischen Prognosen um sich, damit später, beim Aufscheinen einer Behandlungsmöglichkeit, dann das Geld lockerer sitzt. Vielleicht gibt es auch im Gesundheitszentrum nur gefälschte Medikamente, also solche ohne Wirkstoff oder gar solche, die krank machen, so dass die Behandlung die terminale Erkrankung erst hervorruft. Oder der Arzt ist einfach unhöflich und grob, weil er sich und sein eigenes Leben nicht leiden kann. Solche und ähnliche Gedanken kommen Menschen in Xias Wohnviertel manchmal, wenn es um kritische Arztprognosen geht. Leider sind diese Ideen nicht etwa als Verschwörungsnarrative weglächelbar, sondern in den nicht so vermögenden Vierteln immer wieder bittere Realität. Wer kann, versucht Geld aufzutreiben, um schwer erkrankte Angehörige in teurere Kliniken oder sogar nach Hongkong zu bringen – also dahin, wo die medizinische Versorgung über jeden Zweifel erhaben erscheint. Natürlich gibt es nicht viele Menschen, die Familien wie der von Xia Geld zu vernünftigen Konditionen leihen; und die, die ihnen Geld leihen, sind nicht immer die seriösesten Personen. Darum sagt Xia hin und wieder, dass es ihr ein wenig besser gehe, auch wenn es nicht stimmt, damit die Familie nicht noch mehr Kredite aufnehmen muss. Ohnehin, so denkt sie und so denkt auch ihre Familie, ist man nicht sterbenskrank, sondern entweder tot oder es gibt noch Hoffnung. Dass ein Arzt jemanden sozusagen sterbend spricht, indem er sagt, dass er oder sie nur noch kurze Zeit zu leben habe, wäre damit nicht (wie bei Tuula) eine verlässliche Aussage über ihren Seinszustand jetzt und in Zukunft – sondern schlicht unhöflich und überheblich. Denn woher will der Arzt wissen, was geschehen wird, solange Xia nicht aufhört zu atmen? Xias Familie wird ihr Sterben erst dann als begonnen ansehen, wenn sie dauerhaft nicht mehr atmet; und erst dann werden ihre Angehörigen versuchen, ihre Sterbephase  – die Reise der Seele ins Reich der Toten, das Ablösen von der Welt der Lebenden – möglichst gelingend zu begleiten. Weder für Xia noch für ihre Umgebung käme es übrigens in Frage, ein etwaiges Sterbenmüssen oder das Totsein einer Person mit Hilfe von Witzeleien oder gar

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selbst­ironischen Scherzen anzusprechen. Schon die Möglichkeit von Sterben und Tod in tiefem Ernst direkt anzusprechen, wäre für das Umfeld einer schwer erkrankten Person kaum denkbar, noch weniger für möglicherweise Betroffene; und über all das zu lachen, käme wirklich niemandem in den Sinn. Dass das in anderen Regionen, in denen zugleich andere Sterbenskonzepte vorherrschen, entsprechend anders sein kann, zeigt der nächste Abschnitt.

4. Deutschland: Lisbeth, Joachim und andere reißen Witze – auch wenn das im Sterben heikel sein kann

Ähnlich wie in Finnland legen es auch sterbende Menschen in Deutschland üblicherweise nicht darauf an zu sterben – wenn wir von Sonderfällen wie krankheitsbedingt Suizidgefährdeten oder auch suizidaffinen Menschen mit unheilbaren, aber nicht aus sich heraus stark lebenslimitierenden Krankheiten absehen. Das Sterbendsein vieler Sterbender ist hier also nicht selbst ausgesucht, sondern wurde ihnen aufgrund einer medizinischen Diagnosekommunikation zugesprochen  – die von ihnen selbst und von ihrem Umfeld sowie vom diagnostizierenden medizinischen Personal üblicherweise als gesichert und objektiv korrekt, also als seinsbestimmendes Faktum, wahrgenommen wird. Menschen, die terminal erkrankt sind und während ihres Sterbens über weite Strecken bei Bewusstsein sind, leiden oft daran, nicht mehr lange zu leben zu haben. Dass auch Heiterkeit und Spaßmachen zu den letzten Monaten und Wochen gehören können, wird seltener besprochen, ist aber trotzdem der Fall.21 Als nur ein Beispiel für die vielen verschiedenen Kontexte, in denen Humor insbesondere präexitales Sterben durchdringen kann, möchte ich gleich einige Informant*innen aus Deutschland vorstellen. Humor im Sterben und sterbensbezogener Humor unter Sterbenden wird sehr selten aus emischer Perspektive, also durch ein Verstehen der Sicht Sterbender selbst, beforscht. Wenn sich jedoch  – das geschieht noch eher selten  – wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigt wird, scheint es so, als könnten Lachen und Scherzen zu durchaus vielen terminalen Erkrankungserlebnissen gehören. Driessen erklärt 21 Dieser Abschnitt beruht auf Passagen aus Menzfeld, Anthropology of Dying (wie Anm. 1), wiederum basierend auf Feldforschungen zwischen 2013 und 2016; er behandelt außerdem Themen, die in einem kürzlichen erschienenen Artikel aufgegriffen werden, vgl: dies., Zum Schreien: Les émotions »troublantes« ressenties par des personnes en situation de mourir pré-exital en Allemagne. / Zum Schreien: Experiencing Uncanny Emotions as a Pre-Exitally Dying Person in Germany. / Zum Schreien: Las perturbadoras emociones que sienten los individuos en una situación de muerte preexistente en Alemania, in: Anthropologie et Sociétés 45 (1/2) 2021, S. 109–133.



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das dadurch, dass Scherze oft auf Grenzbereiche der menschlichen Existenz Bezug nähmen:22 In Witzen verschwimmen häufig die Unterschiede zwischen Selbst und Anderem, Kultur und Natur, Leben und Tod, dilemmatischen und tragischen Situationen und Missverständnissen. Weil es beim Sterben ebenfalls oft sehr pointiert um solche ambivalenten Ereignisse voller verschwimmender Grenzziehungen und Gewissheiten geht, insbesondere auch beim präexitalen Sterben in Deutschland, wäre es geradezu kurios, wenn nicht auch Humor und Heiterkeit Teile von Sterbeprozessen wären. Fegg macht darauf aufmerksam, dass etwa zwei Drittel der sterbenden Patienten in der Palliativmedizin von Momenten des Wohlbefindens während des Sterbensprozesses berichteten und Humor als wichtige positive Ressource im Sterben erlebten.23 Stevenson deutet Humor unter anderem als Bewältigungsmechanismus für den Umgang mit emotionalem Druck und unkontrollierbaren Situationen.24 Klein, der sein Buch über Humor im Sterben auf die Erfahrungen stützt, die er mit seiner unheilbar kranken Frau gemacht hat, erwähnt, dass 85  Prozent der US-amerikanischen Personen, die weniger als sechs Monate zu leben hätten, Spaß und Humor als hilfreich für die Bewältigung des Sterbens ansähen – aber nur 15 Prozent humorvolle Episoden mit ihren Betreuenden wahrnehmen.25 Die Dissertation von Jones, die sich mit der Bewältigung des Sterbens durch Humor bei Palliativpflegekräften befasst, liefert eine Typologie des Humors in der Palliativpflege und erwähnt Witzekategorien wie spielerische Albernheit, Witze über Körperfunktionen und Unbeschwertheit.26 Diese Arten von humorvollem Verhalten finden sich auch in der Feldforschung mit sterbenden Personen in Deutschland nicht selten. Viele nichtsterbende Menschen in der Umgebung von Sterbenden nehmen nicht unbedingt an, dass Witze ein integraler Bestandteil des Sterbens sind, weil das Sterben häufig als ein Prozess angesehen wird, der wahrscheinlich nicht willkommen und schon gar nicht belustigend ist. Manche Angehörige und sogar manche Ärzt*innen erwähnen sogar eine »innere Weigerung« (Dr. A.), sich einem Sterbenden mit Humor zu nähern. Sofern es um Humor geht, bei dem man sich über das Sterbendsein 22 Vgl. Henk G. G. M. Driessen, Anthropology of Humor, in: James D. Wright (Hg.), International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, Amsterdam 2015, S. 416–419. 23 Vgl. Martin Fegg, Patientenbedürfnisse: Psychische Bedürfnisse, in: Claudia Bausewein, Susanne Roller, Raymond Voltz (Hg.), Leitfaden Palliative Care. Palliativmedizin und Hospizbetreuung, München 2015, S. 8–12. 24 Vgl. Robert G. Stevenson, We Laugh to Keep from Crying: Coping Through Humor, in: Loss, Grief and Care 7 (1/2) 1993, S. 173–179. 25 Vgl. Allan Klein, The Courage to Laugh: Humor, Hope, and Healing in the Face of Death and Dying, New York 1998. 26 Vgl. Craig D. Jones, »The Secret Source of Humor is Sorrow …«: Humor as a Coping Mechanism in the Dying Process, Dissertation: Massachusetts School of Professional Psychology 2008.

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von Sterbenden lustig macht oder gedankenlose Scherze über etwa körperliche Eingeschränktheiten reißt, wird diese Sichtweise von Sterbenden üblicherweise geteilt: Die Erwartung an Nichtsterbende von Sterbenden ist üblicherweise, dass sie einfühlsam und behutsam eventuelle Ängste und Traurigkeiten der sterbenden Person antizipieren und entsprechend vorsichtig und grenzwahrend reagieren. Ein Beforschter sagte etwa ganz ausdrücklich, dass er es begrüße, wenn der nichtsterbende Gesprächspartner eines Sterbenden emotional nachzuvollziehen versuche, dass Sterben »alles verlieren« (Hermann) bedeute; damit meinte er, dass Nichtsterbende versuchen sollten, wenigstens ansatzweise die Unermesslichkeit und Unwiderruflichkeit des Sterbenmüssens für sich selbst vorstellbar zu machen. Hingegen sei gerade in den ersten Wochen des Sterbens Humor ein unangemessener Umgangsmodus mit Sterbenden, so war die ziemlich einhellige Meinung Sterbender und auch Nichtsterbender im Feld. Für viele Sterbende  – manchmal auch für die Umgebung  – kann sich das aber irgendwann ändern. Wenn das Sterbendsein normaler und normaler wird, können sterbende Personen anfangen, sich über die Gesamtsituation ab und an lustig zu machen  – übrigens nicht anstelle, sondern in Abwechslung oder Gleichzeitigkeit mit Trauer oder Wut über das eigene Sterbendsein. Die Witze, die in dieser Phase aufkommen, zeigen unter Umständen einen gewissen Galgenhumor und referieren auf das baldige Totsein als solches; sie können sich aber auch auf alltägliche Ereignisse wie Probleme mit neuen Pflegebetten oder Kathetern beziehen und haben nicht immer abstrakt-existentielle Bezüge. Einige Menschen entwickeln allerdings eine für sie neue und besondere Art von Humor, der sich unzweideutig auf das Sterben selbst bezieht. So zum Beispiel Lisbeth: Weißt du, was das Beste an all dem ist? Ich bin mir zum ersten Mal in meinem Leben absolut sicher, dass ich nie wieder unser Haus aufräumen muss! Jetzt seid ihr neidisch, ihr zwei, ja! […] Kochen auch nicht mehr, und Essen wird serviert! (Lisbeth, Hausfrau, verheiratet, Mutter)

Vor allem physisch-psychische Nahkontaktpersonen wie Krankenpfleger*innen, Hospizhelfer*innen und Ehepartner greifen diese besondere Art von Humor häufig auf und entwickeln ihn weiter zu einem neu verfügbaren Kommunikationsrepertoire mit der jeweiligen sterbenden Person. Auch einige Ärzt*innen versuchten, auf ähnlich humorvolle Weise zu antworten, wenn eine*r ihrer Patient*innen einen Witz machte. Situationsabhängig stieß das dann jeweils auf Zustimmung oder Ablehnung: Insbesondere wenn Sterbende das Gefühl hatten, sie würden die Grenzen des Scherzens mit kontrollieren können und somit mitbestimmen, wann Humor angebracht sei, konnten solche Scherze als verbindend und angenehm wahrgenommen werden. Mit



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einem sterbenden Menschen, den ich erst relativ kurz vor seinem Tod kennenlernte und der nicht mehr sprechen, aber dafür schreiben konnte, hatte ich folgende schriftliche Unterhaltung: Joachim: Ich lass mir ab morgen Kaffee direkt [über die Sonde] in den Magen geben. MM: Warum? Schmeckst du den irgendwie? Joachim: Nein. Es ist straight, gute, alte Gewohnheiten zu pflegen. Ich find das irgendwie cool. MM: Meinst du das so als Gag, oder machst du das dann wirklich immer? Joachim: Es ist ein guter Witz. [lächelt, schreibt schnell] Wie in »Leben des Brian« [von Monty Python]. Kennst du den? MM: Ja, toller Film. Joachim: Letzte Szene. Wenn sie hängen und das Lied singen. So muss man das machen. ( Joachim, Bahnangestellter, in einer Beziehung, keine Kinder)

Viele Forschungspartner*innen fanden früher oder später ihren eigenen Weg, sich dem nahenden Tod und ihrer unheilbaren Erkrankungen auf humorvolle Weise zu nähern. Besonders wenn es dabei unmittelbar um den eigentlichen Sterbeprozess ging, neigten sie dazu, kulturspezifisch stark sterbensmodellbestimmende Konzepte von Autonomie und Würde27 teils explizit mit dem eigenen Scherzemachen zu verbinden: »Ich bestimme, worüber ich lache. So mach ich das!«, sagte etwa meine Schlüsselinformantin Johanna des Öfteren, direkt nachdem sie einen Scherz gemacht hatte. Personen, die in ihren letzten Wochen immer wieder »Highway to Hell« von AC/DC spielten und darüber mit ihren Sterbebegleiter*innen lachten, oder Personen, die Cartoons über den Tod und das Sterben wälzten, verbanden diese Handlungen nicht selten mit dem Gefühl, trotz aller Hilflosigkeit noch ein wenig Handelnde zu bleiben. Scherze können also zu einem Teil der Gestaltung nicht nur der eigenen alltäglichen Existenz, sondern auch der Interpretation des eigenen Sterbeprozesses werden: Lustige Momente im Sterben sind manchmal also eine »Art, mit allem umzugehen« (Hermann), und können individuelle Aneignungen von Modellen wie Autonomie und Würde bedeuten. Wenn allerdings eine nichtsterbende Bezugsperson einen  – meistens nur recht punktuell favorisierten – humorvollen Umgangston in eine permanente Kommunikationsform umwandelt, fühlt sich das für die meisten Sterbenden unangemessen an. Barbara etwa fand es fundamental schwierig, wenn sie nicht selbst für das Einleiten und Beenden von Scherzepisoden in Gesprächen zuständig war:

27 Siehe hierzu auch: Menzfeld, Anthropology of Dying (wie Anm. 1).

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Barbara: Jetzt reden wir also über hohe Kalorienzufuhr. Wenn Sie wüssten, wie sehr ich mir mein Leben lang gewünscht habe, sowas mal von einem Arzt zu hören! [lacht] [Ärztin: Ja, Sie können jetzt buchstäblich nicht genug essen, viel Spaß!] … [Ärztin verlässt den Raum] Barbara zu MM: Meinst du, sie hat es ernst gemeint, ich soll es genießen? Glaubst du, sie wusste, dass ich einen Witz gemacht habe? … ich komme endlich dazu, meine Diät aufzugeben! [lacht] [Zwei Tage später] Ärztin [die die humorvolle Stimmung von vor dem Wochenende wieder aufnimmt]: Und wie geht es Ihnen? Essen Sie schon einen ganzen Kuchen zum Frühstück? Barbara: Sicherlich nicht. Ich habe andere Dinge, um die ich mich kümmern muss. [sehr ernster Blick, feuchte Augen] … [Ärztin verlässt den Raum] Barbara: Was war das jetzt? … Was ist das für ein Mensch, der so etwas zur Begrüßung sagt, wenn … [gestikuliert, schaut schockiert] (Barbara, Rentnerin, verheiratet, Mutter)

Wenn genau diese beiden Emotionsmodi – Traurigkeit einerseits, Scherzen oder Unbe­ schwertheit andererseits  – einander häufiger abwechseln, sieht die nichtsterbende Umgebung das wahrscheinlich als seltsam, vielleicht sogar als im medizinischen Sinne pathologisch an: »Diese Stimmungsschwankungen gefallen mir gar nicht. Es geht ihr nicht gut« (Dr. D.). Vielleicht werden sogar Tranquilizer oder andere emotionsintensitätsbeeinflussende Medikamente in Erwägung gezogen, um das scheinbar unangemessene und »stressige Auf und Ab« (Dr. D.) zu modifizieren. Möglicherweise wird der sterbenden Person empfohlen, psychologische Betreuung zu akzeptieren, oder es wird  – je nach Sterbeort  – sogar direkt der oder die Stationspsychologe*in ans Bett geschickt. Das passiert etwa, wenn von Seiten des professionellen Betreuungsumfeldes übermäßig humorvolle Episoden dahingehend interpretiert werden, dass die sterbende Person etwas verarbeiten müsse (und das bislang nicht hinreichend tue), oder als Zeichen dafür, dass die sterbende Person nicht in der Lage sei, die Tatsache zu erkennen, dass sie sterben müsse (was aber in diesem kulturellen Kontext als wünschenswert gilt). Oft werden rasche Stimmungswechsel von Nichtsterbenden auch einfach als ungewohnt empfunden, was in einer gewissen Zurückhaltung resultieren kann, mit der sterbenden Person zu sprechen, weil es für Nichtsterbende schwer vorhersehbar scheint, in welcher Stimmung man den oder die Sterbenden antreffen wird. Allgemein wird von Nichtsterbenden üblicherweise sowohl eine lang anhaltende und intensive Traurigkeit als ungesund angesehen, zugleich aber auch eine anhaltend sehr gute Laune oder ein sprunghafter Hang zur Witzigkeit als seltsam empfunden. Verknüpft mit kulturellen Modellen des Sterbens sind also Gefühlsregeln und Gefühlsexpressionsnormen, die weder zu häufige noch zu seltene Wechsel der Grundstimmung tolerieren noch eine intensive Dominanz entweder heiterer oder trauriger Stimmungen präferieren.



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Manchmal bekamen Nichtsterbende die heiteren Phasen von Sterbenden auch kaum mit. Zum Beispiel erlebten die sterbenden Kontaktpersonen ihre humorvollen Momente nicht etwa am häufigsten, indem sie ihrem sozialen Umfeld Witze erzählten, sondern vielmehr, indem sie für sich Dinge taten, die sie selbst lustig fanden: allein Komödien ansehe, Comics lesen usw. Ein Feldforschungspartner, Horst, erzählte etwa, dass er von Zeit zu Zeit eine Zigarette rauche, wenn er ganz für sich sei und die Energie dazu finde – und das, obwohl er sein ganzes Leben lang nur sehr selten geraucht habe. Er sagte, dies sei als »privater kleiner Scherz« gedacht: »Es ist so unvernünftig! Aber ich lache dann ein bisschen in mich rein, ich sage heimlich zu mir, ich hätte wirklich Raucher werden sollen, denn die [Zigaretten] bringen mich jetzt ja doch nicht um.« Humor und Heiterkeit sind Facetten des Lebens, die prinzipiell jedem sterbenden oder nichtsterbenden Menschen bekannt sind, die aber gemäß den weitverbreiteten impliziten Sterbensmodellen etwa in Deutschland nicht unbedingt mit Sterbenden in Verbindung gebracht werden. Humor kann in bestimmten Situationen willkommen sein, aber wann Scherze aus Sicht Sterbender angemessen sind und ob lustige Momente überhaupt mit Nichtsterbenden geteilt werden, variiert stark.

5. Fazit: Kulturelle Kontexte bestimmen Sterbemöglichkeiten wesentlich, aber nicht ausschließlich

Die drei Beispiele aus Finnland, China und Deutschland zeigten verschiedene Besonderheiten unterschiedlicher Sterbekonzeptionen auf. Zum Beispiel versterben die portraitierten Personen aus Finnland und Deutschland präexital, was einerseits mit der lokal verbreiteten kulturellen Konzeption des Sterbens zusammenhängt, aber auch durch weitere Faktoren bestimmt wird – hier sind etwa die angenommene Glaubwürdigkeit des örtlichen Gesundheitswesens und seiner Diagnoseverfahren zu nennen. Anders sieht es bei Xia aus: Hier liegt einerseits eine kulturelle Annahme postexitaler Sterbensverläufe vor, wird aber zusätzlich verstärkt durch weitere Aspekte, etwa durch ein Misstrauen gegenüber den zur Verfügung stehenden Gesundheitsversorgungsinstitutionen. Genau genommen ist Xia also nicht so eindeutig sterbend wie etwa Tuula: Im Gegenteil, Xia mag terminal erkrankt sein, ihr eigentliches Sterben beginnt aber erst später. Welche Gefühle von terminal Erkrankten wie empfunden werden, welche ihnen zugeschrieben werden und welche nicht, hängt ebenfalls damit zusammen, welche Sterbekonzeptionen jeweils vorherrschen – und zugleich aber auch mit anderen Faktoren. Zum Beispiel kommt Tuula nicht auf die Idee, in einem präexitalen Kontext als Sterbende Applaus dafür zu erwarten, dass sie an ihre Genesung glaubt; im Gegenteil,

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wahrscheinlich würde ihr Umfeld es auf Dauer eher merkwürdig oder besorgniserregend finden, wenn sie ihre Terminaldiagnose nicht als Beginn ihres Sterbendseins begreifen würde und darüber gesellschaftliche erwartete Gefühle (wie offen kommunizierte Wut, Trauer, aber auch Gelassenheit) entwickeln würde – alles Emotionen, die mit dem lokalen Modell des Sterbens verknüpft sind. Umgekehrt kommt Xia nicht auf die Idee, einer (konventionsentsprechend verhalten geäußerten) katastrophalen Dia­ gnose mit offen ausgedrückter Wut, Trauer oder Gelassenheit zu begegnen; das wäre in ihrem Kontext weder üblich, noch würde es als gesund oder vernünftig gelten. Stattdessen kommuniziert sie in ihrer postexital geprägten Umgebung vielmehr die (als völlig vernünftig und gesund) geltende Hoffnung, dass sich alles noch zum Besseren wende und dass als unheilbar erst die Person zu betrauern sei, die aufgehört habe zu atmen. Bei Barbara, Lisbeth und vielen anderen deutschen Feldkontakten entpuppen sich Sterbeprozesse auch als Orte des bisweilen fehlplatzierten und unerwarteten, aber auch entlastenden und schlicht lebensfrohen Witzes: Obwohl die kulturspezifischen Gefühlsregeln betreffs Humor in der bewusst durchlebten Sterbephase nicht immer allen Beteiligten ganz deutlich sind – oder Witze und Lustigsein sogar als Abweichungen von einer gedachten Norm interpretiert werden können –, sind heitere Momente Teil des Sterbens aus Sterbendenperspektive. Zugleich gehen viele Sterbende höchst differenziert damit um, mit wem sie wann humorvolle Momente teilen mögen. Nicht zuletzt kann etwa bei Tuula, aber auch etwa während zahlreicher Begegnungen mit sterbenden Menschen in Deutschland28 ein implizit oder explizit mitschwingendes, wenn auch nicht unbedingt allgemein diskutiertes Unwohlsein beobachtet werden, was die mangelnde liminale Begleitung im Sterben angeht: Während in anderen liminalen Phasen, etwa in der Geburts- oder Eheschließungszeit, üblicherweise nach Bedarf auf den Rat und die Begleitung von Menschen zurückgegriffen werden kann, die das Gleiche schon einmal oder mehrfach durchlaufen haben, ist das beim präexitalen Sterben schwierig – denn die Menschen, die schon gestorben sind, sind eben tot und können keine Begleitung mehr anbieten. Das ist natürlich nicht ihre Schuld, aber auch nicht die derjenigen, die ohne liminal Initiierte als Begleitende sterben müssen; es ist einfach eine Tatsache, der auch die bestmeinenden Enttabui­ sierungsversuche und Coachingangebote von Nichtsterbenden nichts entgegnen können.29 Wenn man sich allerdings klar macht, dass und warum dieses unlösbare liminale Defizit in präexitalen Sterbekonzepten belastend sein kann, ist zumindest ein Name für dieses spezielle Unwohlsein gefunden – und das wiederum kann entlasten. 28 Vgl. ebd. 29 Vgl dazu: Mira Menzfeld, When the Dying Do not Feel Tabooed: Perspectives of the Terminally Ill in Western Germany, in: Mortality 22 (4) 2017, S. 308–323; dies., Anthropology of Dying; dies., Liminal Asymmetries.

Benjamin Beil

Tod und Spiele – Zum ständigen Sterben im Computerspiel 1. Prolog: Super Mario ist tot

Im März 2021 verkündete das Computerspielonlinemagazin »IGN«: »It’s March 31, The Day Mario Dies.«1 Diese Meldung vom Tod des berühmtesten Klempners der Computerspielgeschichte muss verwundern, denn schließlich hat Super Mario seit seinem ersten Auftritt in »Super Mario Bros.« 1985 stets mehrere Leben, und sein Tod – wenn man es überhaupt so nennen will – ist allenfalls flüchtig, folgt doch auf das Scheitern eines Spieldurchgangs immer der Restart, die spielerische Wiederholung. Super Mario stirbt also niemals wirklich, und so bezieht sich der reißerische Titel des IGN-Beitrags auch lediglich augenzwinkernd darauf, dass einige ältere »Super-Mario«-Spiele am 31. März 2021 aus dem Nintendo-Store entfernt wurden. In der Tat scheint die Löschung von Software die einzige Möglichkeit, virtuelle Figuren zuverlässig umzubringen. Diese einleitende Anekdote illustriert das nicht selten recht bizarre Verhältnis zwischen Tod und Computerspielen, das zwischen Allgegenwärtigkeit und Irrelevanz zu oszillieren scheint. Natürlich handeln viele Computerspiele vom Tod, die Figuren ihrer Erzählungen sterben oder sie sind bereits tot und wandeln als Zombies oder Geister durch die Spielwelt.2 Unzählige Computerspiele tragen den Tod gar im Titel: von erfolgreichen zeitgenössischen Spielen wie »Death Stranding« (2019) oder »Deathloop« (2021) bis hin zum berüchtigten Arcade-Rennspiel »Death Race« aus dem Jahr 1976, das für einen der ersten Skandale der Computerspielgeschichte sorgte (Abb. 1 und Abb. 2): Trotz bescheidener graphischer Darstellung gab es schon früh Aufregung über das Töten im Spiel. In »Death Race« hat die Spielerin die Aufgabe, Passanten zu überfahren. Visualisiert wird dieses tödliche Rennen auf der Verpackung, im Spiel begegnet man pixeligen Autos und Strichmännchen.3 1 Vgl. https://www.ign.com/articles/the-internet-dubs-march-31-the-day-mario-dies (letzter Zugriff: 16.10.2022). 2 Vgl. Miriam Schreiter, Wie kommt der Tod ins Spiel? Von Leichen und Geistern in Casual Games, Glückstadt 2019; Britta Neitzel, Zurück auf Anfang. Zum Tod in Computerspielen, in: AugenBlick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft (43) 2008, S. 82–90. 3 Neitzel, Anfang (wie Anm. 2), S. 85.

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Abb. 1 und Abb. 2: »Death Race« (Exidy, 1976) – Werbematerial und Spielgraphik

Jenseits einiger hitziger gesellschaftlicher Diskurse, die mit der sogenannten Killerspieldebatte Anfang der 2000er Jahre in Deutschland ihren Höhepunkt erreichten, erscheinen der Tod und das Töten im Computerspiel aber selten ein Grund zur Aufregung. So gehört das Besiegen von gegnerischen Figuren zu den gängigsten Spielmechanismen4 – das gilt für einfache Spielsteine und klassische Schachfiguren genauso wie für mehr oder weniger fotorealistische anthropomorphe Opponenten in zeitgenössischen Computerspielen.5 Der Tod der eigenen Spielfigur, des Avatars, mag demgegenüber auf den ersten Blick schwerer wiegen, aber auch dieser Tod ist letztlich Teil der spielerischen Wiederholung, der stets gegebenen Möglichkeit des spielerischen Scheiterns.6 Ein wenig komplizierter ist die Sache im Fall von Computerspielen aber dann doch. So lassen sich gerade zeitgenössische Computerspiele in den seltensten Fällen auf ihre abstrakten spielerischen Regelwerke reduzieren. Computerspiele sind Spiele, aber gleichzeitig erschaffen sie fiktionale Welten und erzählen Geschichten. 4 Ein solches Argument ist nicht gleichbedeutend mit der gerade in der Killerspieldebatte häufig angeführten These, dass das ständige Töten gegnerischer Figuren zu einer Abstumpfung der Spieler*innen gegenüber Gewaltdarstellungen führe. Eine solche Argumentation greift viel zu kurz und verkennt insbesondere, dass diese spielerischen Wiederholungen in erster Linie auf ein abstraktes spielerisches Regelwerk zurückgehen. Die Wechselwirkung zwischen Gewaltdarstellungen und Computerspielen ist weitaus komplexer und bedarf einer differenzierteren Betrachtung. Vgl. Jochen Venus, Du sollst nicht töten spielen. Medienmorphologische Anmerkungen zur Killerspiel-Debatte, in: Lili 37 (146) 2007, S.  67–90; Benjamin Beil, Eine Operation am offenen Herzen  – über Gewalt und Computerspiele, in: Benjamin Beil, Philipp Bojahr, T. Sofie Taubert (Hg.), Im Spielrausch. Streifzüge durch die Welten des Theaters und des Computerspiels, Glückstadt 2017, S. 103–111. 5 Felix Schröter, Spiel | Figur. Theorie und Ästhetik der Computerspielfigur, Marburg 2021. 6 Jesper Juul, The Art of Failure. An Essay on the Pain of Playing Video Games, Cambridge, MA 2013.



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Sie sind Hybridformen aus Spiel und Erzählung und generieren damit fortwährend Reibungsflächen zwischen spielerischer Wiederholbarkeit und erzählerischer Determiniertheit. Die folgenden Abschnitte möchten das oft spannungsreiche Verhältnis zwischen einem erzählerisch (vermeintlich) endgültigen und spielerisch (vermeintlich) flüchtigen Tod, das eine besondere Zeitlichkeit des Computerspiels erzeugt, genauer betrachten. Diese Überlegungen müssen freilich schlaglichtartig und anekdotisch bleiben. Es geht also keineswegs um eine umfassende Theorie zum Tod im Computerspiel, sondern lediglich um einen anschaulichen und materialnahen Einblick in die vielfältigen ästhetischen Wechselspiele, durch die die Medienkulturgeschichte der Todesarten im (immer noch recht) neuen Medium Computerspiel fortgeschrieben wird.

2. Zeitlichkeit des Spiels: Wiederholbarkeit und Ungewissheit7

Ein offener Ablauf und ein (ungewisses) Ende sind grundlegende Eigenschaften eines jeden Spiels, und so gehört ein spielerisches Probehandeln seit den Anfängen seiner Mediengeschichte zum ästhetischen Repertoire des Computerspiels. Das Spiel entwirft einen »Möglichkeitenraum […] in Bezug auf Handlungen und Entscheidungen als reaktives System der Bedeutungsvorhaltung«.8 Jedem Spiel geht dabei eine Rahmung voraus, die Handlungen zu spielerischen Handlungen werden lässt. Gregory Bateson hat dies in seiner anthropologischen Auseinandersetzung mit einer »Theorie des Spiels und der Phantasie«9 als Akt der Metakommunikation beschrieben und anhand seiner Beobachtung von spielenden Tieren im Zoo veranschaulicht: Wie können Tiere ihre spielerischen Bisse und Angriffe von echten Feindseligkeiten unterscheiden? Wie können sie ihr Gegenüber veranlassen, scheinbar aggressives Verhalten als Spiel zu interpretieren? Das spielerische Als-ob ist somit stets eine »Referenzfunktion zwischen dem Gehandelten und dem Gemeinten«.10 Innerhalb dieser Form der Rahmung ist für Spiele ein ungewisser Ausgang von zentraler Bedeutung. So hat Roger Caillois in seiner einflussreichen Arbeit »Die Spiele   7 Dieser Aufsatz führt vorangegangene Überlegungen zur Zeitlichkeit im Computerspiel weiter, vgl. Benjamin Beil, Be Kind Rewind. Zur Zeitlichkeit des Computerspiels, in: Adam Czirak (Hg.), Performance zwischen den Zeiten: Reenactments und Preenactments in Kunst und Wissenschaft, Bielefeld 2019, S. 239–258.   8 Rolf F. Nohr, Die Natürlichkeit des Spielens. Vom Verschwinden des Gemachten im Computerspiel, Münster 2008, S. 238.  9 Gregory Bateson, Eine Theorie des Spiels und der Phantasie [1955], in: Claus Pias, Christian Holtorf (Hg.), Escape! Computerspiel als Kulturtechnik, Köln 2007, S. 193–207. 10 Nohr, Natürlichkeit (wie Anm. 8), S. 72.

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und die Menschen« das Spiel als eine »ungewisse Betätigung« beschrieben, »deren Ablauf und deren Ergebnis nicht von vornherein feststeht, da bei allem Zwang, zu einem Ergebnis zu kommen, der Initiative des Spielers notwendiger Weise eine gewisse Bewegungsfreiheit zugebilligt werden muss«.11 Dieser Punkt scheint auf den ersten Blick weniger bedeutsam als andere von Caillois benannte Eigenschaften des Spiels wie Freiheit, Unproduktivität und Regelhaftigkeit,12 entpuppt sich jedoch bei genauerer Betrachtung als zentrales Charakteristikum des Spiels  – trotz oder vielleicht gerade weil es sich um eine strukturelle und nicht um eine tendenziell normative Kategorie wie Unproduktivität handelt. Entscheidend ist dabei, dass das Spiel eine »contrived contingency«13 generiert, eine künstliche und »kontrollierte« Ungewissheit, die in ein spielerisches Regelwerk eingebettet ist.

3. Zeitlichkeit des Computerspiels: Geschichten spielen

Im Computerspiel werden diese Eigenschaften der Wiederholbarkeit und des ungewissen Ausgangs eines Spiels nun mit einer determinierten Erzählung vermischt. Dabei geraten ein spielerisches Scheitern und der daraus resultierende Neustart der Spielsituation nicht selten in Konflikt mit der narrativen Kohärenz der Spielwelt und generieren eine oft paradoxe Zeitstruktur. So schreibt Frank Furtwängler in seinem Beitrag zum Bildschirmtod der Spielfigur im Computerspiel: Bis zum Tod der Spielfigur orientieren sich die Handlungen eines Spielers in Richtung Zukunft. Im Moment des Todes transformiert sich das angetretene Jenseits jedoch in ein Diesseits bzw. seine Gegenwart, in die der Spieler mit seiner Spielfigur wieder versetzt wird. Dann wird er vom Spiel in die Vergangenheit zurückversetzt. Die Welt, die er dort vorfindet, hat sich weniger verändert als er selbst, da er nun durch die Erfahrung des Todes die Spielwelt anders wahrnimmt.14

Diese besondere Form der Zeitlichkeit des Computerspiels ist in den Game Studies vielfach diskutiert worden.15 So zeigt zum Beispiel Federico Alvarez auf, dass ein spie11 Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, Stuttgart 1960, S. 16. 12 Ebd. 13 Thomas Malaby, Beyond Play: A New Approach to Games, in: Games and Culture (2) 2007 S. 95– 113, hier S. 96. 14 Frank Furtwängler, Kulturtechnik des Sterbens. You are Dead – Continue Yes/No?, in: Thomas Macho, Kristin Marek (Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes, München 2007, S. 559–576, hier S. 575. 15 Vgl. Mark J.P. Wolf, Time in the Video Game, in: Mark J.P. Wolf (Hg.), The Medium of the Video



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Abb. 3 und 4: Spielzeit und Erzählzeit – synchron und asynchron

lerisches Scheitern und der damit ausgelöste Restart in der Regel zu einer Asynchronität von Spiel und Spielerzählung, von Spielzeit und Erzählzeit führten (Abb. 3 und Abb.  4).16 In den meisten Fällen bleibt diese Asynchronität unauflösbar, das heißt, dass schlicht von unterschiedlichen Zeitlichkeiten von Spiel und Erzählung auszugehen ist und dass Restartstrukturen allein über die Kenntnis etablierter spielerischer Konventionen funktionieren. So erlebt Super Mario auch in aktuellen Spielen wie »Super Mario Odyssey« (2017) nach dem spielerischen Scheitern ohne weitere Erklärung eine Wiederauferstehung am letzten Speicherpunkt, genau wie schon vor über dreißig Jahren in »Super Mario Bros.« (1985). Britta Neitzel merkt in diesem Zusammenhang an, dass eine Verbindung von Spiel und Erzählung letztlich immer zu reflexiven bzw. selbstreflexiven Formen tendiere: Damit explizieren Computerspiele etwas, das Genette bezogen auf literarische Formen als ›gleichzeitiges Erzählen‹ bezeichnen würde, wenn nämlich im Präsens erzählt wird Game, Austin 2002, S. 77–91; Jesper Juul, Introduction to Game Time, in: Noah Wardrip-Fruin, Pat Harrigan (Hg.), First Person. New Media as Story, Performance, and Game, Cambridge, MA 2004, S. 131–142; Serjoscha Wiemer, Das geöffnete Intervall. Medientheorie und Ästhetik des Videospiels, München 2014; Stefan Höltgen, Jan Claas van Treeck (Hg.), Time To Play. Zeit und Computerspiel, Glückstadt 2016; Federico Alvarez Igarzábal, Time and Space in Video Games. A Cognitive-Formalist Approach, Bielefeld 2019. 16 Vgl. Alvarez: Time (wie Anm.  15), S.  118–123. Die Abbildungen sind übernommen von ebd., S. 118f.

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und Erzählzeit und erzählte Zeit zusammenfallen. Im gleichzeitigen Erzählen tritt nach Genette entweder der Akt der Narration zugunsten der Geschichte zurück, so dass so etwas wie objektives Erzählen und Transparenz erzeugt würde, oder aber die Geschichte träte zugunsten der Narration zurück, wenn nämlich letztlich über das Sprechen gesprochen würde. Diese Form des Erzählens kommt in der Literatur sehr selten vor, […] das Spielen jedoch findet immer im Präsens statt, jegliche Zeitverschiebung wäre wieder eine Erzählung über das Spielen. Insofern scheint die einzige Möglichkeit eines Computerspiels, Narration und Spiel tatsächlich zu integrieren, darin zu liegen, über das Spiel zu spielen, d. h. Spielmechaniken, spielerische Abläufe oder spielerische Elemente als Bestandteile der Diegese des Spiels aufzunehmen.17

In der Tat scheint diese Beobachtung auf viele der hier diskutierten Fallbeispiele zuzutreffen, die in ihren Wiederholungen mehr und mehr zur spielerischen Dekonstruktion ihrer Erzählwelten neigen – oder, mit Neitzel gesprochen, zu einem Spielen über das Spiel. Die folgende Zusammenschau verschiedener zeitlicher Eigenheiten zeitgenössischer Spiele in Bezug auf den Tod von Spielfiguren gliedert sich in zwei Kategorien: Vertuschungen und Verzweigungen. Diese Zweiteilung ist heuristisch und versucht sozusagen verschiedene Eskalationsstufen zeitlicher Komplexität von Computerspielen abzubilden. Im ersten Fall wird ein Restart durch das erzählerische Szenario der Spielwelt plausibilisiert und der Tod einer Spielfigur gewissermaßen narrativ abgeschwächt. Im zweiten Fall wird demgegenüber der Tod strukturell betont und der Restart geradezu zum eigentlichen Spielziel erhoben. 3.1 Vertuschungen

Während das Mushroom Kingdom, Super Marios surrealistische Heimat, keinerlei Erklärung für die wundersame Unsterblichkeit seiner Bewohner liefert, verfolgen viele zeitgenössische Spielerzählungen einen »realistischeren« oder vielmehr einen innerhalb ihrer Erzählwelt (mehr oder weniger) plausibilisierten Ansatz. Natürlich tendieren auch diese Welten zum Spektakel und zum Phantastischen, versuchen aber die Wiederauferstehung ihrer Spielfiguren nach dem Bildschirmtod über magische oder technische Elemente narrativ zu erklären. So verfügt beispielsweise die retrofuturistische Unterwasserwelt von »Bioshock« (2007) über sogenannte Vita-Chambers, die Jack, die Hauptfigur des Spiels, von seinen »tödlichen« Verletzungen heilen 17 Britta Neitzel, Game Studies mit Portal, in: Thomas Hensel, Britta Neitzel, Rolf F. Nohr (Hg.), The cake is a lie! Polyperspektivische Betrachtungen des Computerspiels am Beispiel von Portal, Münster 2015, S. 7–20, hier S. 9. Neitzel verweist auf Gérard Genette, Die Erzählung, München 1994.



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Abb. 5: »Bioshock« (2007, 2K Boston/2K Games) – Vita-Chamber

(Abb. 5). In der postapokalyptischen Zukunftswelt von »Borderlands« (2009) übernehmen diese Funktion die New-U-Stationen. In beiden Fällen folgt die Erklärung der Funktionsweise dieser Kammern/Stationen bekannten Science-Fiction-Konventionen, das heißt einem weitgehend sinnentleerten Technobabbel. Ein wenig komplizierter ist das narrative Grundgerüst der »Assassin’s-Creed«-­ Spiele (2007–2020). Zwar ist diese Spielreihe vor allem für ihre aufwendigen virtuellen Rekonstruktionen historischer Schauplätze bekannt, vom ptolemäischen Ägypten bis zum viktorianischen London. Jedoch handelt es sich stets um eine Simulation in der Simulation. Über dem jeweiligen historischen Szenario liegt eine weitere, in der Zukunft angesiedelte Erzählebene, in der es eine Technologie gibt, den Animus, die es dem Protagonisten bzw. der Protagonistin erlaubt, in die Erinnerungen seiner/ihrer Vorfahren einzutauchen.18 So steuern Spieler*innen beispielsweise in »Assassin’s Creed IV: Black Flag« (2013) streng genommen nicht die Hauptfigur der Spielerzählung – den britischen Piraten Edward Kenway, der im 18. Jahrhundert in der Karibik lebte –, sondern einen (namenlosen) Spieletester, der in einer nicht allzu fernen Zukunft für das Entwicklerstudio Abstergo Entertainment arbeitet und dort mit Hilfe des Animus in die Rolle von Edward Kenway schlüpft. Interessanterweise ist Abstergo Entertainment, sieht man einmal ab von einer sinisteren Firmenpolitik, 18 Vgl. Benjamin Beil, First Person Perspectives. Point of View und figurenzentrierte Erzählformen im Film und im Computerspiel, Münster 2010, S. 171–177.

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die das Ziel verfolgt, die Weltherschafft zu ergreifen, dem realen Entwicklerstudio von »Black Flag« Ubisoft Montreal nicht unähnlich. Den Tod der Spielfigur Kenway stellt »Black Flag« als »Desynchronisation« dar. Die Spielwelt löst sich dabei in ihre virtuellen Fragmente auf, anschließend beginnt die jeweilige Spielsequenz von Neuem. Eine Desynchronisation tritt dabei nicht nur im Falle des Todes von Kenway auf, sondern auch, wenn bestimmte Spielziele nicht korrekt absolviert wurden. Das Spiel »Prince of Persia: Sands of Time« (2003) nutzt ebenfalls, wenn auch stilistisch auf ganz andere Art und Weise, eine zweite Erzählebene, um den Tod der Spielfigur narrativ zu plausibilisieren. Hier schaltet sich bei einem Ableben der Spielfigur ein Voice-over-Erzähler ein, der verkündet: »No, no, no. That’s not how it happened!« Daraufhin springt das Spiel zum letzten Speicherpunkt zurück. Diese Strategie mutet mit Blick auf andere Erzählmedien wie den Film nicht gerade ungewöhnlich an, jedoch kommt eine Voice-over-Stimme im Computerspiel nur äußerst selten zum Einsatz19 – schlicht weil, wie bereits angemerkt, das Spielen stets im Präsens stattfindet und »jegliche Zeitverschiebung […] wieder eine Erzählung über das Spielen«20 wäre. Eine gleichzeitige Schilderung des Spielgeschehens gleicht eher einer kommentierten Sportveranstaltung, und deshalb dürfte es kein Zufall sein, dass ein Wechsel zwischen Spiel und Voice-over in »Prince of Persia« erst in dem Moment stattfindet, in dem das Spielgeschehen durch den Tod der Spielfigur zu einem (vorläufigen) Ende kommt. Eines der wohl ungewöhnlichsten Beispiele für eine erzählerische Überformung spielerischer Restartstrukturen stellt das Spiel »Middle-earth: Shadow of Mordor« (2014) dar, das, wie der Titel bereits vermuten lässt, J. R. R. Tolkiens Mittelerde als Schauplatz nutzt. Der Protagonist des Spiels, der Mensch Talion, wird zu Beginn der Spielhandlung von den Schergen Saurons ermordet. Kurz vor seinem Tod fährt jedoch der Geist des Elbenschmiedes Celebrimbor in Talions Körper und verleiht dem Protagonisten die Fähigkeit zur Regeneration bzw. zur fortwährenden Wiederauferstehung. Auf den ersten Blick mag »Shadow of Mordors« untoter Held den auferstandenen Spielfiguren aus »Bioshock« und »Borderlands« gleichen. Doch während in den beiden letztgenannten Spielen der Tod der Spielfigur für die Spielwelt gleichsam folgenlos bleibt, reagieren die Orks, die virtuellen Einwohner Mordors, plötzlich auf die stetige Wiederkehr Talions. Ein Ork verkündet irritiert: »Is this some kind of joke? I killed you already!« Ein anderer droht der Spielfigur: »Have you lost count of how many times I’ve killed you? Let me remind you!« Natürlich 19 Vgl. Sarah Kozloff, Invisible Storytellers. Voice-over Narration in American Fiction Film, Berkeley: Univ. of California Press 1988; Beil, Perspectives (wie Anm. 19), S. 199–209; Alvarez, Time (wie Anm. 15), S. 139–155. 20 Neitzel, Portal (wie Anm. 18), S. 9.



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handelt es sich auch bei »Shadow of Mordor« nur um eine narrative Spielerei, die originell, aber schnell durchschaubar ist. Es erscheint aber durchaus interessant zu beobachten, wie grundlegend diese Restartlogik die Simulation einer Spielwelt (und ihrer virtuellen Bewohner) prägt und ihr dabei durchaus ein gewisses Eigenleben verleiht. Das Spielen von »Shadow of Mordor« ist somit nicht nur ein Spielen in der Spielwelt, sondern ebenso ein Spielen mit der Spielwelt, ein Spielen über das Spiel. Eine letzte narrative Plausibilisierungsstrategie, die hier genannt werden soll – und die eigentlich keine ist –, ist eine vermeintlich naheliegende Variante: die Kopplung von Spieltod und Erzähltod. In diesem Fall wird die spielerische Wiederholung ausgesetzt, indem auf Speicherpunkte verzichtet wird. Mit dem Scheitern der Spielfigur beginnen Spiel und Erzählung von Neuem, eine Asynchronität kann somit gar nicht erst auftreten. Während dieses Spielprinzip bei frühen Arcade-Automaten wie »Pac-Man« (1980) üblich war, findet es sich in zeitgenössischen Spielen meist in Form eines optional wählbaren Schwierigkeitsgrads, der auch als Permadeath-Modus (permanent death) bezeichnet wird. Es mag zwar vielsagend sein, dass das Computerspiel mit dem Permadeath eine Art Steigerungsform des »normalen« Todes kennt, darüber hinaus ist der Permadeath allerdings analytisch wenig ertragreich. Interessanter erscheint wiederum eine selbstreflexive Variante dieser Funktion, die sich im Spiel »Hellblade: Senua’s Sacrifice« (2017) findet. Die Protagonistin des Spiels, die junge keltische Kriegerin Senua, die nach dem Tod ihres Partners zunehmend dem Wahnsinn verfällt, irrt durch eine alptraumhafte Fantasy-Welt, die aus Versatzstücken der Wikingerkultur zusammengesetzt ist. Nach einer ersten Konfrontation mit den Monstern, die die Spielwelt bevölkern, erhält Senua ein dunkles Mal, und eine Erzählerstimme verkündet: »The dark rot will grow each time you fail / if the rot reaches Senua’s Head, her quest is over / and all progress will be lost.« Da die Stimme hier die primäre Erzählebene durchbricht und sich direkt an den/die Spieler*in wendet, ist man gehalten, diese Zeilen als eine Spielanweisung, ein Tutorial, zu verstehen. Interessanterweise verrät die Erzählerstimme jedoch nicht, wie häufig Senua bzw. der/die Spieler*in scheitern kann, bis der Permadeath eintritt – und schließlich stellt sich heraus, dass es diese Funktion gar nicht gibt. Das dunkle Mal an Senuas Arm wächst nur scheinbar und wird zwischen den Spieltoden immer wieder zurückgesetzt (Abb. 6). Durch die Vermischung einer Erzählung über den Wahnsinn und einer Lüge, die sich als Spielanweisung maskiert, generiert »Hellblade« einen ungewöhnlichen Fall von spielerischer Unzuverlässigkeit – nicht im Sinne der beschriebenen spielerischen Ungewissheit, sondern in der Tradition erzählerischer Unzuverlässigkeit.21 Damit erzeugt Hellblade einen geradezu paradoxen Schwebezustand zwischen Wiederholbarkeit und Nichtwiederholbarkeit, der im Spiel eigentlich gar nicht möglich ist, in 21 Vgl. Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction, Chicago 1983 [1961].

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Abb. 6: »Hellblade: Senua’s Sacrifice« (2017, Ninja Theory) – Senuas dunkles Mal

der Hybridstruktur des Computerspiels aber, bis zum Zeitpunkt der Aufdeckung des erzählerisch-spielerischen Bluffs, anhalten kann. In Anlehnung an Johan Huizingas »heiligen Ernst des Spiels«22 ließe sich im Fall von »Hellblade« gewissermaßen von einem »heiligen Wahnsinn«23 sprechen – »games celebrate uncertainty and insanity at the same time, and result in a kind of gaming bliss«.24 3.2 Verzweigungen

Die hier diskutierten Vertuschungen behandeln spielerische Restarts im Wesentlichen als eine erzählerische Störung – auch wenn diese Störung im Fall von »Shadow of Mordor« und »Hellblade« vielleicht bereits zum erzählerischen Leitmotiv mutiert ist. Die folgenden Beispiele gehen jedoch noch einen Schritt weiter, indem sie zeitliche Paradoxien ganz bewusst erzeugen und demonstrieren, dass Computerspiele gerade die Möglichkeit bieten, über die reale (lineare) Zeit hinauszugehen. Die Paradoxien sind somit sozusagen kein narrativer Makel mehr, sondern eine besondere Eigenschaft des Spiels. Auch dieses erzählerische Motiv ist nicht neu, und so ist der 22 Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel [1956], Reinbek bei Hamburg 1994, S. 18. 23 Frank Furtwängler, A crossword at war with a narrative. Narrativität versus Interaktivität in Computerspielen, in: Peter Gendolla (Hg.), Formen interaktiver Medienkunst, Frankfurt a. M. 2001, S. 369–400, hier S. 375. 24 Markus Rautzenberg, Navigating Uncertainty. Ludic Epistemology in an Age of New Essentialisms, in: Mathias Fuchs (Hg.), Diversity of Play, Lüneburg 2015, S. 83–106, hier S. 90.



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Titel dieses Abschnitts natürlich eine Anspielung auf Jorge Luis Borges’ berühmte Kurzgeschichte »Der Garten der Pfade, die sich verzweigen«,25 in der der Protagonist auf ein Buch stößt, dessen Erzählung sich mit jeder Entscheidung, die getroffen wird, weiter verzweigt und auf diese Weise selbst alle möglichen Varianten dieser Erzählung enthält. In der Philosophie und in der Literaturwissenschaft sind mit der Possible-World-Theory ähnliche Gedankenspiele zu finden. Allerdings scheinen solche Denkfiguren gerade im Computerspiel mit Blick auf interaktive Wiederholungsstrukturen besonders reizvoll. Im Grunde sind Verzweigungen aufgrund der spielerischen Ungewissheit natürlich Teil eines jeden Spiels. Die Besonderheit der folgenden Beispiele ist jedoch, dass die Wiederholung hier zum zentralen Aspekt des Spiels wird bzw. dass sie gleichsam in das Spiel (und in die Spielerzählung) zurückgespiegelt wird. Kleinman, Fox und Zhu sprechen von »metagaming mechanics of rewinding«: »All of these games feature some mechanic that allows the player go back and revisit a past choice, but in all these games, the mechanic of rewinding is a gameplay mechanic, rather than optional.«26 Eines der bekanntesten Beispiele für Rewind-Mechaniken ist das Spiel »Braid« (2008), ein auf den ersten Blick den »Super-Mario«-Spielen ähnelndes Jump’n’Run, in dem das (vermeintliche) Spielziel darin besteht, eine Prinzessin vor Monstern zu retten. Doch anders als in den »Super-Mario«-Abenteuern stirbt in »Braid« die Spielfigur Tim nicht, wenn sie mit einem Monster zusammenstößt, sondern das Spiel stoppt, und es wird eine Rückspulfunktion aktiviert, die es Spieler*innen erlaubt, an einen beliebigen Punkt des jeweiligen Spielverlaufs zurückzuspringen (Abb.  7). In der einfachen Variante mag diese Funktion wie eine erweiterte Form eines Speicherpunkts anmuten. In späteren Levels des Spiels wird das Zurückspulen als Spielmechanik jedoch zunehmend komplexer, da nicht alle Hindernisse und Monster auf die Rewind-Funktion reagieren. Auf diese Weise entsteht eine Art Puzzlespiel mit zurückspulbaren und nichtzurückspulbaren Elementen der Spielwelt. Interessant ist »Braid« für eine Betrachtung der Zeitlichkeit des Computerspiels aber nicht nur aufgrund seiner Rewind-Mechaniken. Hinzu kommt eine ungewöhnliche Hintergrundgeschichte, die in weiten Teilen lückenhaft und metaphorisch bleibt, jedoch andeutet, dass die Handlung des Spiels rückwärts verläuft und dass Tim nicht der Retter der Prinzessin ist, sondern dass er vielmehr das Monster verkörpert, vor dem die Prinzessin flieht. Auf diese Weise kontrastiert »Braid« seine Rewind-Mechanik 25 Jorge Luis Borges, Der Garten der Pfade, die sich verzweigen [1941], in: Jorge Luis Borges (Hg.), Fiktionen, Frankfurt a. M. 1996, S. 77–89. 26 Erica Kleinman, Valerie Fox, Jichen Zhu: Towards a Framework for Metagaming Mechanics of Rewinding in Interactive Storytelling, in: Frank Nack, Andrew S. Gordon (Hg.), Interactive Storytelling. ICIDS 2016. Lecture Notes in Computer Science, New York 2016, S. 363–374, hier S. 365.

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Abb. 7: »Braid« (2008, Number None/Microsoft) – zurückspulen

Abb. 8: »Life is Strange« (2015, Dontnod Entertainment/Square Enix) – Entscheidungsdiagramm

mit Themen wie Vergebung, Bedauern und der Unumkehrbarkeit von Ereignissen: »Braid« takes the seemingly familiar genre of the platformer and turns it into an allegorical exploration of the themes of time and regret […] offering the player an opportunity to pursue the question, ›what if I could go back,‹ in different ways.«27

27 Ian Bogost, How to Do Things with Videogames, Minneapolis 2011, S. 16.



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Abb. 9 und 10: »Zero Escape: Virtue’s Last Reward« (2012, Chunsoft/Rising Star Games) – Entscheidungsdiagramm (Details)

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Eine weniger diffuse Hintergrundgeschichte bietet das Spiel »Life is Strange« (2015), eine Coming-of-Age-Story, die das erlaubt, was sich alle Jugendlichen sehnlichst wünschen: in jeder Situation richtig und schlagfertig zu handeln. Die Protagonistin des Spiels, die 18-jährige Max Caulfield, verfügt über die Fähigkeit, die Zeit anzuhalten und »zurückzuspulen«. Auf diese Weise können Spieler*innen unterschiedliche Handlungsmöglichen ausprobieren und die jeweiligen Resultate am Ende gegeneinander abwägen. Auch hier geht die Rewind-Funktion über einen einfachen Restart hinaus, da sich die unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten in den meisten Situationen nicht in einem »Gewinnen« oder »Verlieren« erschöpfen, sondern vielmehr unterschiedliche narrative Pfade einer Geschichte abbilden. Ohnehin beeinflussen die meisten Auswahlmöglichkeiten die Erzählung des Spiels nur minimal, dramatische Entscheidungen, die zum Tod der eigenen Spielfigur oder anderer Figuren der Spielwelt führen, bleiben die Ausnahme. Das Spiel ist zudem episodisch aufgebaut und visualisiert die sich verzweigenden Pfade am Ende jeder Episode in Form einer statistischen Übersicht, in der der eigene Spielverlauf mit den Entscheidungen anderer Spieler*innen verglichen werden kann (Abb. 8). »Life ist Strange« mag hinsichtlich seines Szenarios an bekannte Zeitreisegeschichten wie »Back to the Future« (1985) erinnern. Durch seine interaktive Struktur und die abschließende Visualisierung seiner Verzweigungen geht das Spiel jedoch über seine literarischen und filmischen Vorbilder hinaus, da es in seinen zeitlichen Verschleifungen nicht mehr eine »richtige« und endgültige Variante seiner Geschichte, sondern stets mehrere mögliche Pfade abbildet. Besonders deutlich wird dieser Unterschied zwischen Formen des Restarts mit Blick auf ein anders Beispiel: »Zero Escape: Virtue’s Last Reward« (2012). Diese Interactive Novel beinhaltet nicht nur wesentlich mehr Verzweigungen als »Life is Strange«, auch wird das Freischalten aller Verzweigungen hier zur zentralen Spielherausforderung. Das Spiel bildet seine unterschiedlichen Handlungsverläufe in einem interaktiven Flow-Diagramm ab, das nach und nach »freigespielt« werden muss (Abb. 9 und Abb. 10). Die zeitlichen Paradoxien der spielerisch-erzählerischen Hybridstruktur des Computerspiels werden damit zum Spielfeld und das Freilegen aller Varianten zum eigentlichen Spielziel.

4. Computerspiele als Zeitmaschinen

Der Biologe J.  B.  S.  Haldane stellt mit Blick auf die menschliche Raum- und Zeitwahrnehmung 1927 fest: »The universe is not only queerer than we suppose, but queerer than we can suppose.«28 Dieser Beobachtung fügt Federico Alvarez 2019 28 J.B.S. Haldane, Possible Worlds and Other Essays, London 1927, S. 286.



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in seiner Studie zu Raum- und Zeitstrukturen des Computerspiels die Anmerkung hinzu: Gameworlds, on the other hand, are not half as queer as they could be. Here is a technology that allows us to create mind-boggling virtual worlds. They transport us to fantastic settings where magic and dragons are real, and to science fiction universes where we can travel through different systems in our galaxy and meet extraterrestrial civilizations. Nonetheless, these worlds often remain, in many fundamental ways, very similar to ours. […] By and large, the fictional worlds of video games are slightly modified versions of the world as we intuitively understand it.29

So wäre mit Blick auf zeitgenössische Computerspiele vor allem zu kritisieren, dass sie, obgleich sie »das Versprechen einer ›anderen‹ Zeiterfahrung jenseits der Zeitrationalität des Alltags geben«,30 ihr Potential oftmals nicht ausschöpfen, weil ihre fiktionalen Welten zu sehr einem vermeintlichen Realitätsparadigma verpflichtet sind. Gametime is reversible, it can be slowed down and sped up, and it can be paused. Many, perhaps most, games make use of these forms of temporal manipulations – though they are seldom included as parts of fictional worlds, when games depict them.31

Während die menschliche Zeiterfahrung in erster Linie durch eine Unumkehrbarkeit bestimmt ist  – deren Schlusspunkt durch den Tod markiert ist  –, ist eine grundlegende Eigenschaft von Medientechnik, dass »die Zeit selbst zu einer manipulierbaren Variablen«32 wird und Medien sozusagen dazu in der Lage sind, die »Erfahrung von Zeitlichkeit zu transzendieren«.33 Medien prägen somit »auf ganz grundsätzliche Weise den Umgang mit Zeit und Zeitlichkeit«.34 Während zum Beispiel Textverarbeitungsprogramme die Funktion des »Undo« – des Rückgängigmachens einer Handlung  – als eine »kulturell[e] Grundfunktion im Umgang mit digitalen Me29 Alvarez, Time (wie Anm. 15), S. 11. 30 Karin Bruns, Höchste Zeit für Mr. Hitchcock. Spiel als Wissenstechnik zwischen Zeitmanagement und Game-Engine, in: Caja Thimm (Hg.), Das Spiel: Muster und Metapher der Mediengesellschaft, Wiesbaden 2010, S. 151–168, hier S. 154. 31 Alvarez, Time (wie Anm. 15), S. 13. 32 Sybille Krämer, Friedrich Kittler  – Kulturtechniken der Zeitachsenmanipulation, in: Alice Lagaay, David Lauer (Hg.), Medientheorien. Eine philosophische Einführung, Frankfurt a. M. 2004, S. 201–224, hier S. 206. 33 Serjoscha Wiemer, Zeit, in: Benjamin Beil, Thomas Hensel, Andreas Rauscher (Hg.), Game Studies, Wiesbaden 2018, S. 27–45, hier S. 28. 34 Ebd., S. 27.

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dien«35 popularisiert haben, gehen Computerspiele noch einen Schritt weiter, indem sie Zeitmanipulationen durch digitale Medientechnik narrativ rahmen und in einen spielerisch-erzählerischen Möglichkeitsraum einbetten. Spieler*innen können somit den Umgang mit einer neuen »temporale[n] Handlungsmacht«36 erproben – indem sie zum Beispiel den Tod einfach rückgängig machen.

5. Epilog: Im Augenblick des Todes

Die vorangegangenen Beispiele haben gezeigt, dass Computerspiele im Fall des Todes ihrer Spielfiguren vor allem das Motiv der Wiederholbarkeit betonen und dass diese Wiederholbarkeit entweder über technische und magische Elemente einer Spielwelt plausibilisiert wird (Wiederauferstehungsmaschinen, Zauber und Flüche) oder aber selbstreflexive Formen erzeugt (Erzählebenensprünge, Zeitmanipulationen und Entscheidungsdiagramme). Beide Strategien haben gemeinsam, dass sie dazu tendieren, den Tod des Avatars oder einer gegnerischen Spielfigur irrelevant erschienen zu lassen – der Tod ist stets nur flüchtig, der Fokus liegt auf der Wiederauferstehung, auf dem Restart. Am Ende dieses Beitrags soll jedoch ein Spiel stehen, das aufzeigt, dass der Tod im Computerspiel spielerisch wie erzählerisch auch ganz anders dargestellt werden kann: das Spielexperiment »Before your Eyes« (2021). »Before your Eyes« ist im Grunde eine spielerische Variation des redensartlichen Augenblicks, in dem das Leben im Moment des Todes vorbeirauscht. Zu Beginn erwacht der Protagonist des Spiels an Bord eines Boots, das von einem mysteriösen Fährmann (in Katzengestalt) gesteuert wird (Abb. 11). Die Aufgabe des Fährmanns ist es, Seelen ins Jenseits zu begleiten. Dazu muss der Protagonist in mehreren Rückblenden zu den wichtigsten Momenten seines Lebens zurückkehren (Abb. 12). Während das erzählerische Szenario von »Before your Eyes« bekannt anmuten dürfte, gestaltet sich die spielerische Umsetzung durchaus ungewöhnlich. Statt mit einem Controller oder mit Tastatur und Maus, steuern Spieler*innen »Before your Eyes« mit Hilfe der Webcam ihres Computers. Das Spiel erkennt, wenn Spieler*innen blinzeln, und springt mit jedem kurzen Augenschließen zur jeweils nächsten Szene einer Rückblende. Auch wenn »Before your Eyes« hinsichtlich seiner Interaktionsmöglichkeiten damit denkbar simpel ausfällt – es gibt nur eine Spielmechanik (Weiterschalten einer Szene) und eine Kontrollform (Blinzeln) –, erzeugt die körperlich ungewohnte Steuerung doch ein erstaunliches komplexes Spielerlebnis. So las35 Ebd., S. 39. 36 Ebd.



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Abb. 11 und 12: »Before your Eyes« (2021, GoodbyeWorld Games/Skybound Games) – Fährmann und Rückblende

sen sich Rückblenden mit regelmäßigen, schnellen Szenenwechseln durch bewusstes Blinzeln (mehr oder weniger) gut kontrollieren, Gleiches gilt für ein Abkürzen oder Überspringen von Szenen, die Spieler*innen als uninteressant oder auch als unangenehm empfinden. In Rückblenden, in denen Spieler*innen gern länger verweilen möchten, ein Blinzeln aber nicht länger unterdrücken können (oder dieses schlicht unbewusst erfolgt), zeigt sich jedoch die Tücke oder eben gerade die Qualität der

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ungewöhnlichen Steuerungsform. Szenen rauschen vorbei und Augenblicke gehen verloren, ohne dass Spieler*innen dies verhindern können. Diese Kopplung eines Verlusts der körperlichen Kontrolle mit einer »ungewollten« spielerischen Handlung macht die Besonderheit von »Before your Eyes« aus – oder in den Worten des Videoessayisten Jacob Gellers: The beautiful metaphor of »Before Your Eyes’« central gameplay conceit is its inevitability. There are no scenes in that game that progressed without me. In every one, I played a part in it, I moved it forward, I blinked and set the hourglass spinning. And yet, I didn’t have any choice!37

Während Computerspiele dem Moment des Todes oftmals mit einem Restart und damit der Möglichkeit, den Tod in der spielerischen Wiederholung zu überwinden, begegnen, demonstriert »Before your Eyes« gerade das Gegenteil: ein Moment der Unumkehrbarkeit und Unvermeidbarkeit – ein Ende.

37 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=LTI1WCopTsg&t=1114s (letzter Zugriff: 16.10.2022).

Caroline Helmus

Ein Ende des Todes im Cyberspace? (Un-)Sterblichkeitsphantasien im Transhumanismus Im September 2021 verkündeten mehrere Nachrichtenportale, dass ein geplantes Biotechunternehmen im Silicon Valley den Alterungsprozess aufheben wolle.1 Bei diesem unternehmerischen Projekt kommen verschiedene milliardenschwere Investoren, wie Yuri Millner oder Jeff Bezos, zusammen und wollen in einem internationalen Verbund die wissenschaftliche Forschung über Alterungsprozesse und Zellverjüngung fördern. Das Rätsel rund um die Möglichkeit der menschlichen Unsterblichkeit motiviere die finanzielle Freizügigkeit, zitiert die »Tagesschau« scherzhaft Antonio Regalado vom »MIT Technology Review-Magazin«. Ein Fünkchen Wahrheit scheint dem aber zugrunde zu liegen, wenn man die Verquickung des Silicon Valley mit Bewegungen wie dem Transhumanismus bedenkt, die für eine technologisch induzierte Ausweitung der Lebensspanne eintreten.2 Dabei würden sich [n]ur wenige Menschen […] heutzutage als »Transhumanistinnen« oder »Transhuma­ nis­ten« bezeichnen wollen, hingegen teilen viele die hintergründigen metaphysisch-­ imaginativen Intuitionen, die weltanschaulichen Überzeugungen und anthropologischen Grundannahmen des Transhumanismus, und zwar auch dort, wo dies niemals explizit reflektiert oder bewusst gewählt wird.3

1 Vgl. exemplarisch Marcus Schuler, Altos Labs will das Altern aufhalten, https://www.tagesschau.de/ wirtschaft/technologie/altos-labs-silicon-valley-101.html (letzter Zugriff: 27.06.2022). 2 Vgl. Sarah Spiekermann, Digitale Ethik. Ein Wertesystem für das 21. Jahrhundert. München 2019; Margarita Boenig-Liptsin, Benjamin Hurlbut, Technologies of Transcendence at Singularity University, in: Hava Tirosh-Samuelson, Benjamin Hurlbut (Hg.), Perfecting Human Futures. Transhuman Visions and Technological Imaginations. Wiesbaden 2016, S. 239–267, hier S. 239–243; Oliver Dürr, Homo Novus. Vollendlichkeit im Zeitalter des Transhumanismus (= Studia Oecumenica Friburgensia, Bd. 108), Münster 2021, S. 36. 3 Dürr, Homo Novus (wie Anm. 2), S. 63. Vgl. hierzu auch Boenig-Liptsin, Hurlbut, Technologies of Transcendence (wie Anm. 2), S. 244–248; siehe insgesamt Oliver Dürr, Umstrittene Imagination. Zur Konfrontation von Christentum und Transhumanismus im säkularen Zeitalter, in: Oliver Dürr, Ralph Kunz, Andreas Steingruber (Hg.), »Wachet und betet.« Mystik, Spiritualität und Gebet in Zeiten politischer und gesellschaftlicher Unruhe (= Glaube & Gesellschaft, Bd. 10), Münster 2021, S. 55–79.

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Grob lässt sich das Anliegen des Transhumanismus4 als Bemühen um eine technologische Erweiterung5 und Verbesserung des Menschen umreißen.6 Diese Veränderung soll dabei so weit gehen, dass die Gattung Mensch hinter sich gelassen wird und die neue Art des »Posthuman« entsteht. Allerdings divergieren die Vorstellungen über den Posthuman und die Visionen über die Entstehungsmöglichkeiten innerhalb der transhumanistischen Bewegung. Die Vorstellungen reichen von technischen Erweiterungen des Körpers oder der Intelligenz, der Möglichkeit, den Alterungsprozess aufzuheben, bis hin zu Visionen eines digitalen Lebens im Netz.7 Trotz der Heterogenität der transhumanistischen Ansätze eint sie eine »gemeinsame Hoffnung auf die künftigen Technologien, die mindestens das Altern und den Tod überwinden sollen.«8 Aus einer philosophisch-theologischen Perspektive kann man in diesem Sinne beim Transhumanismus auch von einer »technikzentrierte[n] eschatologische[n] Weltanschauung«9 sprechen, da der Transhumanismus eine säkularisierte Idee vom ewigen Leben propagiert.10   4 Im Folgenden wird vereinheitlichend vom Transhumanismus gesprochen. Entgegen einer Differenzierung von Transhumanismus, technologischem Posthumanismus und kritischem Posthumanismus ( Janina Loh, Trans- und Posthumanismus zur Einführung, 2. Aufl., Hamburg 2019) wird die Sammelbezeichnung gewählt, um die sachlogische Zugehörigkeit des Transhumanismus und des technologischen Posthumanismus herauszustellen. Zudem vermag die Vereinheitlichung auf die Andersartigkeit des (kritischen) Posthumanismus als eigenständiger Bewegung zu verweisen. Vgl. zur Kritik einer vereinheitlichenden Rede vom Posthumanismus und der Differenzierung zwischen Posthumanismus und Transhumanismus Caroline Helmus, Transhumanismus. Der neue (Unter-)Gang des Menschen? Das Menschenbild des Transhumanismus und seine Herausforderung für die Theologische Anthropologie (= ratio fidei, Bd. 72), Regensburg 2020, S. 19f.; Dürr, Homo Novus (wie Anm. 2), S. XV, 104–107.   5 Der Begriff der Technologie ist hier als Spezifizierung von Technik zu verstehen und verweist auf den Einsatz neuer und neuester Technologie, bei der innerhalb des transhumanistischen Diskurses insbesondere Verfahren der konvergierenden Technologien (Nano-, Bio-, Informationstechnologie und Neurowissenschaft; kurz: NBIC), zum Erreichen der transhumanistischen Ziele diskutiert werden. Ich danke Ute Planert für den wertvollen Hinweis zu diesem Punkt.  6 Vgl. insgesamt Nick Bostrom, The Transhumanist FAQ. A General Introduction, https://nickbostrom.com/views/transhumanist.pdf (letzter Zugriff: 22.07.2022).  7 Vgl. Ders., Transhumanist Values, http:// www.nickbostrom.com/ethics/values.pdf (letzter Zugriff: 22.07.2022), S. 5; Max More, Transhumanism. Towards a Futurist Philosophy, in: Extropy 6 (1990), S. 6–12, hier S. 6f.; Stefan Lorenz Sorgner, Transhumanismus – »die gefährlichste Idee der Welt«!?, Freiburg, Basel, Wien 2016, S. 13.  8 Oliver Krüger, Virtualität und Unsterblichkeit. Die Visionen des Posthumanismus (= Litterae, Bd. 123), Freiburg im Breisgau 2004, S. 114.  9 Christopher Coenen, Verbesserung des Menschen durch konvergierende Technologien? Christliche und posthumanistische Stimmen in der aktuellen Technikdebatte, in: Hartmut Böhm, Konrad Ott (Hg.), Bioethik – menschliche Identität in Grenzbereichen (= Erkenntnis und Glaube, Bd. 40), Leipzig 2008, S. 41–124, hier S. 42. 10 Vgl. Johannes Rüster, Ist das Körper oder kann das weg? Transhumanismus zwischen Literatur, My-



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Es scheint dabei die nicht nur theologisch vorherrschende Meinung zu sein, dass die angestrebte transhumanistische Transformation des Menschen, »the disappearance of humans as embodied creatures«11 zur Folge hat, weil der Transhumanismus »eine Überwindung leiblicher und sonstiger materieller Beschränkungen menschlicher Existenz«12 anstrebe. Derart komme dem Transhumanismus aber eine religiöse Funktion zu, da er Rettung vor der Endlichkeit verspreche.13 Eine religiös-metaphysische Verbindung mit dem transhumanistischen Anliegen wird aber in der Regel von Transhumanist*innen abgelehnt, da sie sich rein auf die (natur)wissenschaftliche Autorität berufen wollen und sich verpflichtet sehen, auf außernatürliche oder irrationale Annahmen zu verzichten. Auch wenn sie sich damit als Vertreter*innen einer nichtreligiösen Weltsicht verstehen, lässt sich bereits anhand ihrer Vorstellungen, wie die neue Art des Posthuman entstehen soll, aufzeigen, dass der Transhumanismus an religiösen Motiven wie dem ewigen Leben oder der Möglichkeit zur Auferstehung partizipiert. Dies soll anhand von vier Schritten thematisiert werden: Nach einer generellen Einführung in die Agenda des Transhumanismus (1.) werden Vorstellungen und Methoden diskutiert, die die Möglichkeit des posthumanen Daseins über ein siliziumbasiertes Dasein verwirklicht sehen (2.). Gerade die Vorstellungen eines siliziumbasierten Lebens, also eines digitalen Lebens, veranschaulichen in ihrer Radikathos und Religion  – und die didaktischen Konsequenzen, in: Dierk Spreen u. a. (Hg.), Kritik des Transhumanismus. Über eine Ideologie der Optimierungsgesellschaft, Bielefeld 2018, S. 143–174, hier S. 144f., 158–161; Bernd Flessner, Die Rückkehr der Magier. Die KI als Lapsis philosophorum des 21. Jahrhunderts, in: Dierk Spreen u. a. (Hg.), Kritik des Transhumanismus. Über eine Ideologie der Optimierungsgesellschaft, Bielefeld 2018, S. 63–106, hier S. 70; Caroline Helmus, Transhumanismus (wie Anm. 4), S. 12; Dürr, Homo Novus (wie Anm. 2), S. 126. 11 Brent Waters, From Human to Posthuman. Christian Theology and Technology in a Postmodern World, Aldershot u. a. 2006, S. 64. Vgl. auch Bradley B. Onishi, Information, Bodies, and Heidegger. Tracing Visions of the Posthuman, in: Sophia (50) 2011, S. 101–112, hier S. 4. Onishi kommt zu folgendem anthropologischen Bild im Transhumanismus: »The transhuman ambition for technological advancement is undergirded by an ultra-humanist logic that understands material existence, including the human body, to be a hindrance to the goals of the human/post-human species. The technological advancements proposed by transhumanists aim to reduce all material entities to patterns of information in order to have the freedom to arrange and re-arrange them at an anatomical level.« Auch Calvin Mercer geht davon aus, dass das cyberbasierte Dasein kein verkörpertes Dasein sei, dass es aber einen Körper haben könne, sofern es sich materiell habituiere. Vgl. Calvin Mercer, Bodies and Persons. Theological Reflections on Transhumanism, in: Dialog: A Journal of Theology (54) 2015, S. 27–33, hier 27, 29. 12 Christopher Coenen, Der posthumanistische Technofuturismus in den Debatten über Nanotechnologie und Converging Technologies, in: Alfred Nordmann (Hg.), Nanotechnologien im Kontext. Philosophische, ethische und gesellschaftliche Perspektiven, Berlin 2006, S. 195–222, hier S. 203. Vgl. ders., Transhumanismus und Utopie. Ein Abgrenzungsversuch aus aktuellem Anlass, in: Rolf Steltemeier (Hg.), Neue Utopien. Zum Wandel eines Genres, Heidelberg 2009, S. 135–168, hier S. 151. 13 Vgl. Dürr, Homo Novus (wie Anm. 2), S. 123.

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lität die transhumanistische Unsterblichkeitsrhetorik. Als Zwischenreflexion erfolgt schließlich ein Diskurs über das transhumanistische Körperbild (3.). Es ist hierbei beachtenswert, dass der Körper zwar der Ausgangspunkt für die transhumanistischen Unsterblichkeitsfantasien ist, da dieser in seiner biologischen Form überwunden werden soll, zugleich wird aber dem Körper ein notwendiges Moment für ein digitales Dasein zugesprochen. Zum Schluss werden die Diskurspunkte zusammengetragen und dahingehend kritisch beleuchtet, inwiefern (Un-)Sterblichkeitsfantasien im Transhumanismus vorliegen (4.).

1. Eine kleine Einführung in die Agenda des Transhumanismus

Eine einheitliche Charakterisierung des Transhumanismus gestaltet sich aufgrund der Heterogenität der jeweiligen Akteur*innen als schwierig. So kommentiert auch Oliver Krüger: Die »Rivalitäten um die öffentliche Aufmerksamkeit und die trans­ humanistische Deutungshoheit sind stark ausgeprägt und spiegeln sich in der Anzahl von proklamierten Manifesten, von Neologismen für Schulen und von Institutionsgründungen wider«.14 Der Versuch einer Skizzierung dieser fluiden Bewegung kommt also nicht umhin, eine gewisse Unschärfe in Kauf zu nehmen, der durch explizite Verweise auf die Akteur*innen begegnet werden soll. Nichtsdestotrotz kann man davon sprechen, dass transhumanistische Vertreter*innen der Wille nach einer technologischen Aufwertung des Menschen zusammenbringt.15 Die Grundlage bildet ein mechanistisches, naturalistisches Menschenbild, nach dem der Mensch als reines Produkt der Natur betrachtet wird, deshalb aber auch verbessert werden kann. Zudem ist diese Aufwertung notwendig, da die Natur und entsprechend der Mensch sich unzureichend entwickeln. Die natürliche Evolution sei als solche nicht nur beschränkt und an ihr Ende gelangt, sie entziehe sich auch der menschlichen Kontrolle. So argumentiert exemplarisch James Hughes für die technologische Emanzipation von der Natur: »[T]ranshuman technologies, technologies that push the boundaries of humanness, can radically improve our quality of life, […] we have a fundamental right to use them to control our bodies and minds.«16 14 Krüger, Virtualität und Unsterblichkeit (wie Anm. 6), S. 114. 15 Vgl. hierzu und im Folgenden sowie insgesamt zur Einführung in den Transhumanismus und zu seinen unterschiedlichen Positionen ebd.; Jeanine Thweatt-Bates, Cyborg selves. A Theological Anthropology of the Posthuman, Farnham 2012; Janina Loh, Trans- und Posthumanismus (wie Anm. 4); Helmus, Transhumanismus (wie Anm.  4); Dürr, Homo Novus (wie Anm.  2); Anna Puzio, Über-Menschen. Philosophische Auseinandersetzung mit der Anthropologie des Transhumanismus, Bielefeld 2022. 16 James Hughes, Citizen Cyborg. Why Democratic Societies Must Respond to the Redesigned Human



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Die Formung der Natur durch Technik wird hierbei zum beherrschenden und antreibenden Moment. So heißt es in dem als Basistext zu charakterisierenden »Trans­ humanist-FAQ«-Dokument: Transhumanism is a way of thinking about the future that is based on the premise that the human species in its current form does not represent the end of our development but rather a comparatively early phase. We formally define it as follows: (1) The intellectual and cultural movement that affirms the possibility and desirability of fundamentally improving the human condition through applied reason, especially by developing and making widely available technologies to eliminate aging and to greatly enhance human intellectual, physical, and psychological capacities. (2) The study of the ramifications, promises, and potential dangers of technologies that will enable us to overcome fundamental human limitations, and the related study of the ethical matters involved in developing and using such technologies.17

Max More versteht den Transhumanismus als eine Art Lebensphilosophie, welche die Sicht vertritt, »that it is both possible and desirable to overcome biological limitations on human cognition, emotion and physical and sensory capabilities, and that we should use science, technology, and experimentation guided by critical and creative thinking to do so.«18 Hier deutet sich bereits ein später zu thematisierendes Moment an, denn der Weg zur Überwindung der biologischen Begrenztheit wird durch den Einsatz wissenschaftlich-technischer Mittel beschritten. Technik wird als Emanzipationsmittel gegenüber einem evolutionistischen Menschen- und Weltbild verstanden. Als biologisches Wesen altert und verfällt der Mensch. Diese degenerative und begrenzende Natur steht im Kontrast zu dem technologischen Mehr an Möglichem.19 Transhumanist*innen streben nach diesem Mehr des bisher Möglichen. Ein Mehr an Technik hebt nicht nur die Evolution auf die nächst höhere Entwicklungsstufe, auch der Mensch kann derart seine begrenzende Natur ablegen und sich technologisch aufwerten (enhancen).

of the Future, Cambridge, MA 2004, S. 12. Vgl. hierzu auch Bernd Flessner, Die Rückkehr der Magier (wie Anm. 8), S. 68. 17 Bostrom, FAQ (wie Anm. 4), S. 4. 18 Max More, The Philosophy of Transhumanism, in: Max More, Natasha Vita-More (Hg.), The Transhumanist Reader. Classical and Contemporary Essays on the Science, Technology, and Philosophy of the Human Future, New York 2013, S. 3–17, hier S. 12f. 19 Vgl. Helmus, Transhumanismus (wie Anm. 4), S. 19–126; Puzio, Über-Menschen (wie Anm. 13), S. 52.

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Die transhumanistischen Phantasien reichen dabei so weit, dass sich der Mensch zu einem Transhuman, einem Zwischenwesen auf dem Weg hin zum Posthuman, entwickeln kann.20 Mit dem Posthuman wird das menschliche Dasein schließlich hinter sich gelassen. Becoming posthuman means exceeding the limitations that define the less desirable aspects of the “human condition”. Posthuman beings would no longer suffer from disease, aging, and inevitable death (but they are likely to face other challenges). They would have vastly greater physical capability and freedom of form – often referred to as “morphological freedom”. Posthumans would also have much greater cognitive capabilities, and more refined emotions (more joy, less anger, or whatever changes each individual prefers).21

Die technologisch induzierte Erweiterung des Intellekts, die immerwährende körperliche Gesundheit, das Aufheben von Alterungsprozessen und ähnliche Bestrebungen führten also zu einer derart radikalen Veränderung des Menschen, dass hierbei von einer völlig neuen Art zu sprechen sei. Insbesondere Diskussionen um Symbiosen von Mensch und Technik sowie die Idee des mind-uploading, also das Hochladen des menschlichen Bewusstseins auf einen Computer, erregen hierbei Aufmerksamkeit.22 Das posthumane Dasein ist aber nicht nur über ein rein digitales Dasein zu erlangen. Ebenso besteht die Möglichkeit »of making many smaller but cumulatively profound augmentations to a biological human.”23 Weiterhin handelt es sich um Methoden, die direkt im und am menschlichen Körper durchgeführt werden. Das zentrale und neuartige Anliegen des Transhumanismus ist also die technische Selbstkreierung des Menschen über das Menschsein hinaus. Wie bereits festgehalten: Den Willen zur technologischen Selbstüberschreitung sehen Transhumanist*innen in dem Bestreben begründet, die menschlich biologischen Verfallsprozesse zu überwinden. Der Höhepunkt des menschlichen Verfalls stellt der Tod dar. Oliver Dürr kommt daher zu dem Schluss, dass »das Leitmotiv des Transhumanismus die Überwindung des (unfreiwilligen) Todes«24 sei, und kommentiert weiter:

20 Siehe als Beispiele für die heterogenen Konzepte Hans Moravec, Mind Children. The Future of Robot and Human Intelligence, Cambridge 41988, S.  125; More, Philosophy (wie Anm.  16), S.  4; Nick Bostrom, Why I Want to Be a Posthuman When I Grow Up, http://www.nickbostrom.com/ posthuman.pdf (letzter Zugriff: 25.01.2022), S. 11; Bostrom, FAQ (wie Anm. 4), S. 6f. 21 More, Philosophy (wie Anm. 16), S. 4. 22 Bostrom, FAQ (wie Anm. 4), S. 5. 23 Ebd. 24 Dürr, Homo Novus (wie Anm. 2), S. 79.



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Auch dort, wo individuelle Vertreterinnen und Vertreter nicht davon überzeugt sind, dass letztendlich der Tod realiter abgeschafft werden kann, ist der Kampf gegen ihn und das Hinauszögern des Todes ein zentrales Motiv und Movens, das den zeitgenössischen Transhumanismus von einem bloßen Hedonismus, Utilitarismus oder von anderen Arten der Optimierungsphilosophie unterscheidet.25

Der Posthuman wird hierbei als zum Menschen alteritäres Wesen stilisiert. Diese Grenzziehung kommt gebündelt im Streben nach einer Aufhebung und Überwindung der biologischen Prozesse zum Ausdruck. Die Wahrnehmung der Natur als degenerativ und infolgedessen auch die des Menschen aufgrund seiner biologischen Bedingtheit führt aber zu einem normativ aufgeladenen Menschen- und Körperbild, denn nur die negative Abgrenzung zum Menschen und seinem Daseinszustand macht den zukünftigen Posthuman und die mit ihm verbundenen Visionen erstrebenswert.26 Die Infragestellung des menschlichen Selbstverständnisses als biologisches, endliches Wesen durch den Transhumanismus wird durch diesen erneut mit neuem Orientierungspotential gefüllt. Über die Vision des zukünftigen Posthuman erfolgt eine »Umweg-Argumentation«27 nach der »[a]usgehend von ›gegenwärti­ gen‹ Problemlagen […] auf dem Umweg über Zukunftsdebatten unter Einschluss von Folgenüberlegungen Orientierung ›für heute‹ gesucht«28 wird. Über diese Umweg-Argumentation werden Zukunftsvisionen zum Maßstab einer Deutung des gegenwärtigen Lebens. Es stellt sich damit unter anderem die Frage, welche Folgen dies für das Menschenbild hat. Im Fall des Transhumanismus wird gerade der Missstand der menschlich biologisch endlichen Natur betont, um zu verdeutlichen, dass dieser zu überwinden sei. Im Posthuman hingegen sammeln sich die Visionen und Utopien, wie sich Transhumanist*innen das zukünftige Leben erträumen. Dass diese Visionen insbesondere Entgrenzungsphantasien bis hin zur Unsterblichkeit sind, veranschaulichen gerade Vorstellungen,29 die das posthumane Dasein siliziumbasiert verwirklicht sehen, wie nachfolgend aufgezeigt wird. 25 Ebd. 26 Vgl. Helmus, Transhumanismus (wie Anm. 4), S. 86–90. 27 Armin Grunwald, Umstrittene Zukünfte und rationale Abwägung. Prospektives Folgenwissen in der Technikfolgenabschätzung, in: Theorie und Praxis (16) 2007, S. 54–63, hier S. 56. 28 Ebd. 29 Der deutsche Transhumanist Stefan Lorenz Sorgner unterscheidet zwischen einem »Kohlenstoff-basierten […] [und einem] Silizium-basierten Transhumanismus« (Sorgner, Transhumanismus (wie Anm.  5), S.  76) und verweist mit dieser Binnendifferenzierung auf das jeweils favorisierte Trägermedium für den posthumanen Zustand. Vgl. ders., Pedigrees, in: Robert Ranisch, Stefan Lorenz Sorgner (Hg.), Post- and Transhumanism. An Introduction (= Beyond Humanism, Bd. 1), Frankfurt a. M. u. a. 2014, S. 29–47, hier S. 31; Helmus, Transhumanismus (wie Anm. 4), S. 20; Dürr, Homo Novus (wie Anm. 2), S. 70.

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2. Unsterblichkeit dank Cyberspace? Die Entgrenzungsphantasien des siliziumbasierten Transhumanismus

Die thematische Einführung in die Visionen des Transhumanismus und seine denkerische Verortung zeigte bereits auf, dass die Anthropologie unter einem negativen Vorzeichen steht. Die Leitperspektive, den Menschen als biologisches und damit endliches Wesen wahrzunehmen, führt zu einer normativen Abwertung des derzeitigen menschlichen Daseins, die mit einer gleichzeitigen imperativischen Handlungsaufforderung verbunden wird, dieses Dasein mit Hilfe von technologischem Enhancement zu überwinden. Dies lässt sich insbesondere mit Blick auf die Vorstellung des siliziumbasierten Lebens verdeutlichen. Der siliziumbasierte Transhumanismus steht für die radikalste Idee posthumanen Lebens und will dies unter anderem über die Idee des mind-uploads verwirklichen. Zunächst wird dieser Ansatz skizziert, um anschließend zu reflektieren, inwieweit diese Visionen (Un-)Sterblichkeitsphantasien darstellen. Der Upload-Phantasie liegen zwei zentrale transhumanistische Motive zugrunde: einerseits die Annahme, dass der biologische Körper aufgrund seiner Endlichkeit technologisch überwunden werden muss, andererseits die Zentrierung auf das Bewusstsein und hier insbesondere auf den Intellekt als zu bewahrende, zu erweiternde und zu verbessernde menschliche Fähigkeit.30 Die Zusammenführung beider Motive führt zu verschiedenen Szenarien von einer (graduellen) Ersetzung des biologischen Gehirns durch ein künstliches oder zum Transfer des mind auf ein künstliches Substrat, bis hin zu Szenarien, in einer Cloud zu leben und damit unbegrenzte Intelligenz zu besitzen.31 Die Idee des Uploads basiert auf dem Gedanken, dass der Mensch bzw. sein Bewusstsein aus Informationsmustern besteht, die algorithmisch rekonstruierbar sind und entsprechend digital nachgebildet werden können. Damit wird eine starke Com­ putational Theory of Mind beansprucht, nach der »the mind literally is a digital computer […] and that thought literally is a kind of computation.«32 30 Vgl. Helmus, Transhumanismus (wie Anm.  4), S.  52f.; Loh, Trans- und Posthumanismus (wie Anm. 4), S. 99. 31 Vgl. Ray Kurzweil, How to Create a Mind. The Secret of Human Thought Revealed, London 2013, S. 116f.; Hannah Scheidt, The Fleshless Future. A Phenomenological Perspective on Mind Uploading, in: Calvin Mercer, Tracy J. Trothen (Hg.), Religion and Transhumanism. The Unknown Future of Human Enhancement, Westport 2014, S. 315–328, hier S. 315–318. 32 Steven Horst, The Computational Theory of Mind, https://plato.stanford.edu/entries/computational-mind/ (letzter Zugriff: 22.07.2022). Vgl. hierzu Massimo Pigliucci, Mind Uploading. A Philosophical Counter-Analysis, in: Damien Broderick, Russell Blackford (Hg.), Intelligence Unbound. The Future of Uploaded and Machine Minds, Chichester 2014, S. 119–130, hier S. 122.



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Da das menschliche Gehirn funktional äquivalent zu den Prozessen eines Computers funktioniere, könne der Mensch decodiert und entsprechend vollständig simuliert werden.33 Ray Kurzweil fasst die Vision folgendermaßen zusammen: »Scanning all of its [the human brain] salient details and then reinstantiating those details into a suitably powerful computational substrate. This process would capture a person’s entire personality, memory, skills, and history.«34 Auch Moravec und Pohl favorisieren die Vision des Upload-Szenarios und beschreiben in einem Gedankenexperiment, wie ein Patient, der kurz vor seinem Tod steht, die ärztliche Option erhält, durch den technologischen Transfer seiner Hirnprozesse digital weiterleben zu können.35 Dafür wird das Hirn mit einem portablen Computer verbunden und die Hirnströme aufgezeichnet und registriert. Die Verbindung führe dazu, dass der Computer ein Programm entwickeln könne, das jede menschliche Regung decodiere und speichere. Nach einem ausreichenden Datentransfer und der Modellierung der jeweiligen Handlungs- und Denkmuster könne sich das Hirnprogramm aktiv in die Prozesse einbringen und schließlich die volle Funktion übernehmen, sobald das biologische Hirn und der Körper ausfielen. Das Computerprogramm simuliere fortan das biologische Hirn, und der Patient könne so in der Maschine weiterleben. Während Pohl und Moravec noch von einer (kurzzeitigen) Symbiose für eine Übertragung der biologischen Daten auf ein siliziumbasiertes Medium ausgehen, ist Nick Bostrom einen Gedankenschritt weiter. In seinem Aufsatz »Are You Living in a Computer Simulation« diskutiert er, inwiefern es den Posthumans möglich sei, uns gegenwärtige Menschen wieder digital auferstehen zu lassen.36 Um bewusstes, simuliertes Leben zu erschaffen, müssten nur die Prozesse des Hirns strukturell repliziert werden, und durch die kulturell gesammelten Informationen über unsere Gesellschaft könnten wir und unsere jetzige Welt computerbasiert simuliert werden. Auch die Posthumans, die diese Welt erschüfen, könnten in dieser Welt leben. Bostrom sieht selbst die naturalistische Verbindung zu einem religiösen Konzept der Auferstehung der Toten und spricht in diesem Zusammenhang davon, die Menschheit wiederzuerschaffen (to create). Er sieht hier den Posthuman als creator, einen Schöpfer, der den 33 Nick Bostrom, A History of Transhumanist Thought, https://nickbostrom.com/papers/history.pdf (letzter Zugriff: 22.07.2022), S. 11; ders., Superintelligenz. Szenarien einer kommenden Revolution, Berlin 2014, S. 51–59. 34 Ray Kurzweil, The Singularity Is Near. When Humans Transcend Biology, New York 2005, S. 199. 35 Vgl. hierzu und im Folgenden Frederik Pohl, Hans Moravec, Souls in Silicon, https://frc.ri.cmu. edu/~hpm/project.archive/general.articles/1993/Silicon/Souls.html (letzter Zugriff: 22.07.2022); Moravec, Mind Children (wie Anm. 18), S. 109f. 36 Vgl. Nick Bostrom, Are You Living in a Computer Simulation, https://www.simulation-argument. com/simulation.pdf (letzter Zugriff: 22.07.2022), S. 2.

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Menschen Unsterblichkeit und Freiheit bringt, durchaus auch aus religiöser Perspektive: »An afterlife would be a real possibility.«37 Insgesamt zeigen die hier angeführten Beispiele auf, inwiefern transhumanistische Visionen eines siliziumbasierten Daseins Phantasien über Unsterblichkeit sind. Sie gehen einher mit einer Überwindung des biologisch-endlichen und damit sterblichen Körpers. Beachtenswert ist, dass die angeführten Beispiele den Tod nicht leugnen. Der biologische Körper stirbt zwar, zugleich ist aber ein digitales Weiterleben möglich. Welche Methoden auch immer zum Erreichen des siliziumbasierten Daseins favorisiert werden, es sind Methoden, die eine Unsterblichkeit der Person postulieren.38 Zudem wurde deutlich, dass Transhumanist*innen, die ein siliziumbasiertes Dasein der Posthumans annehmen und die Methode des Uploading bevorzugen, diesen Posthumans zusprechen, dass sie leben.39 Leben ist damit aus ihrer Perspektive unabhängig von biologischen Prozessen.40 Zutreffend charakterisiert Daniel Came damit den Transhumanismus als »ein[en] Unsterblichkeitsmythos für das säkulare Zeitalter.«41 Den gleichen Schluss zieht auch Mark Coeckelbergh, für den die technologische Vision, den Menschen zu enhancen, scheinbar geradewegs in die Vision der Unverletzbarkeit und Unsterblichkeit führe.42 Ebenso bestimmt Oliver Krüger den cyberbasierten Transhumanismus von Moravec und Kurzweil als Vision einer »immortal existence in virtuality.«43 Neben grundsätzlichen philosophischen Diskurspunkten wie der Frage nach der theoretischen und logischen Möglichkeit der personalen Identität vor und nach dem Upload,44 der Diskussion rund um das informationstechnische Verständnis des Geistes,45 ist meines Erachtens insbesondere die Verhältnisbestimmung zum Körper zu 37 Ebd., S. 12. 38 Vgl. Loh, Trans- und Posthumanismus (wie Anm. 4), S. 102. 39 Vgl. Bostrom, FAQ (wie Anm. 4), S. 17; Hughes, Citizen Cyborg (wie Anm. 14), S. 4; Charl Linssen, Pieter Lemmens, Embodiment in Whole-Brain-Emulation and Its Implications for Death Anxiety, in: Journal of Evolution & Technology (26) 2016, S. 1–15, hier S. 3. 40 Es findet damit eines Reduzierung auf neurologische Prozesse statt sowie eine funktionalistische Umdeutung von Bewusstseinszuständen als Informationsalgorithmus. 41 Daniel Came, Der Tod und seine Leugnung im Transhumanismus, in: Benedikt Paul Göcke, Frank Meier-Hamidi (Hg.), Designobjekt Mensch. Die Agenda des Transhumanismus auf dem Prüfstand, Freiburg, Basel, Wien 2018, S. 95–113, hier S. 110. 42 Vgl. Mark Coeckelbergh, Vulnerable Cyborgs. Learning to Live with our Dragons, in: Journal of Evolution & Technology (22) 2011, S. 1–9, hier S. 1. 43 Oliver Krüger, Gnosis in Cyberspace? Body, Mind and Progress in Posthumanism, in: Journal of Evolution & Technology (14) 2005, S. 77–89, hier S. 79. 44 Vgl. Loh, Trans- und Posthumanismus (wie Anm. 4), S. 105. 45 Vgl. Zur Einführung in den Funktionalismus Friedhelm Decher, Handbuch der Philosophie des



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beachten, da entgegen der in der Einleitung erwähnten Kritik46 am Transhumanismus dieser selbst in seinen cyberbasierten Visionen den Körper nicht aufgibt.

3. Es lebe der digitale Körper

Trotz aller Abwertung des Körpers ist es bemerkenswert, dass selbst diejenigen Vertreter, die eine vollstände Digitalisierung des Daseins anstreben, dem Körper ein notwendiges Moment der Selbstbeziehung zusprechen. Pohl und Moravec gehen in dem bereits geschilderten Gedankenexperiment davon aus, dass die sinnliche Wahrnehmung von computerbasiert funktionalen Äquivalenten übernommen werden kann.47 An anderer Stelle schreibt Moravec: And, yet, we will not be truly disembodied minds. Humans need a sense of body. […] To remain sane, a transplanted mind will require a consistent sensory and motor image, derived from a body, or from a simulation. Transplanted human minds will often be without physical bodies, but hardly ever without the illusion of having them.48

Bostrom spricht in seinen Visionen eines digitalen Lebens ebenfalls von einer Körpersimulation, die sowohl die Beziehung zwischen Hirn und Körper als auch die Körper-Umwelt-Beziehung wiedergibt.49 Grundsätzlich müsse eine Körpersimulation die Erfahrungen und das Empfinden eines originalen Körpers widerspiegeln, so dass es zu einem Moment der Ununterscheidbarkeit komme.50 Dennoch ist ein simulierter Körper nicht beliebig. Das einschränkende Moment, welches hier zugestanden wird, lautet, dass ein Körper Begrenzung haben muss, um die Geistes, Darmstadt 2015, S. 245–248; Dieter Teichert, Einführung in die Philosophie des Geistes, Darmstadt 2010, S. 89–98; Geert Keil, Die zwei Teilthesen des Funktionalismus, in: Peter Schefe u. a. (Hg.), Informatik und Philosophie, Mannheim 1993, S. 195–209, hier S. 198. 46 Vgl. Anm. 9 und Anm. 10. 47 Vgl. Pohl, Moravec, Souls (wie Anm. 33); Kurzweil, Singularity (wie Anm. 32), S. 200. 48 Hans Moravec, The Sense Have no Future, http://tikvahfund.org/wp-content/uploads/2021/12/ Moravek-The-Senses-Have-No-Future.pdf (letzter Zugriff: 22.07.2022), S. 5. Vgl. ders., Körper, Roboter, Geist, in: Kunstforum international (133) 1996, S.  98–112, hier S.  111; Kurzweil, Singularity (wie Anm. 32), S. 203. 49 Vgl. Bostrom, Are you Living in a Computer Simulation (wie Anm. 34), S. 2. 50 Vgl. ders., Whole Brain Emulation. A Roadmap, https://www.fhi.ox.ac.uk/brain-emulation-roadmap-report.pdf (letzter Zugriff: 22.07.2022), S. 74. Einen ähnlichen Ansatz vertritt auch Ray Kurzweil, siehe dazu exemplarisch Kurzweil, Singularity (wie Anm. 32), S. 28f.: »Future machine intelligence will also have ›bodies‹ […] in order to interact with the world, but these nanoengineered bodies will be far more capable and durable than biological human bodies.«

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Differenz zum jeweils Anderen zu haben. »Bodily appearance is a strong part of one’s sense of identity. This holds for whatever avatar we choose; the remarkable plasticity of this mental self-representation has been demonstrated by virtual reality experiments.«51 Dieses Begrenzungsmoment wird als Körper aufgefasst, als Verkörperung des Selbst. Insgesamt ist damit eine notwendige Realisierung des Selbst im Körper angesprochen, aber der Körper nicht auf eine bestimmte Materie beschränkt. Die menschliche Form, im Sinne einer Verkörperung, ist flexibel und kann verändert werden.52 Der Körper, ob biologisch oder technologisch, ist damit einerseits durch seine plurale Realisierbarkeit verzichtbar. Andererseits ist er trotz dieser Pluralität unverzichtbar. Verkörperung ist aus transhumanistischer Perspektive multipel realisierbar. Durch das digitale Dasein sehen Transhumanist*innen eine materielle Unabhängigkeit verwirklicht und damit eine vielfältige Realisierung des Trägermediums für bewusstes Leben.53 Dadurch suggeriert der Transhumanismus aber, dass der Tod im Bereich menschlicher Verfügbarkeit stehe, unabhängig davon, ob diese Visionen realisierbar seien oder nicht,54 denn die vermeintliche Verzichtbarkeit des biologischen und damit sterblichen Körpers sowie die Annahme, dass ein artifizieller Körper ein nicht vergängliches Trägermedium darstelle und funktional äquivalent zum Einsatz kommen könne, lässt die Lebensspanne beliebig lang werden. Zugleich zeigt die Beliebigkeit der Körperform, um das Selbst zu habituieren, nicht die Lösung des Selbst von einem Körper auf, sondern vielmehr die Unverzichtbarkeit von Verkörperung. Festzuhalten ist damit, dass es aus transhumanistischer Perspektive notwendig ist, sich als verkörpertes Subjekt wahrzunehmen. Allerdings verschiebt sich der Körperbegriff radikal im Vergleich zu dem bisher tradierten Körperverständnis. Diesen Punkt haben Charl Linssen und Pieter Lemmens dementsprechend reflektiert, dass sie Verkörperung mit fleischlicher Verkörperung gleichsetzen.55 Das fleischliche Moment am Körper ist der Punkt, den die Transhumanisten in Frage stellen. Der Körper wird folglich nicht als solcher negativ bewertet, wie auch Oliver Krüger mit Bezug zu starken transhumanistischen Positionen von Moravec und Kurzweil folgert:56 51 Linssen, Lemmens, Embodiment in Whole-Brain-Emulation (wie Anm. 37), S. 10. Vgl. auch Ray Kurzweil, Spiritual Machines. The Merging of Man and Machine, in: The Futurist (33) 1999, S. 16– 21, hier 21. 52 Vgl. Natasha Vita-More, Bringing Arts/Design into the Discussion of Transhumanism, in: Gregory R. Hansell u. a. (Hg.), H±. Transhumanism and Its Critics, Philadelphia 2011, S. 70– 83, hier S. 80. 53 Vgl. Helmus, Transhumanismus (wie Anm.  4), S.  121–126, 367–369; Dürr, Homo Novus (wie Anm. 2), S. 76. 54 Vgl. Dürr, Homo Novus (wie Anm. 2), S. 115. 55 Vgl. Linssen, Lemmens, Embodiment in Whole-Brain-Emulation (wie Anm. 37), S. 4. 56 Vgl. Krüger, Gnosis in Cyberspace (wie Anm. 41), S. 85f.



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In posthumanist visions, bodies do not disappear at all: what has to be overcome is the material, real, concrete biological human body while simultaneously a vast number of new body images were created. This ambivalent phenomenon might be terminologically comprehended by the differentiation between body (Koerper) and corporeality (Koer­perlichkeit). Posthumanism proclaims the overcoming of the body but not for the overcoming of corporeality since the future visions are characterized by definite physical actions.57

Die Reduktion des Menschen auf informationstechnische Prozesse und die Annahme einer Beliebigkeit des Materials von Verkörperung zeigen deutlich die Unsterblichkeitsphantasien auf. Die damit einhergehende suggerierte Verfügungsgewalt über den biologischen Körper degradiert den Körper aber zu einem Objekt und spricht ihm notwendig Passivität und Beliebigkeit zu. Trotz der Notwendigkeit der Habituierung wird eine Distanz zwischen Körper und Selbst geschaffen, die dualistische Implikationen aufweist und belegt, inwiefern das zu überwindende, weil sterbliche Moment mit dem biologischen Körper gleichgesetzt wird.

4. Fazit: Ein Ende des Todes im Cyberspace?

Die zu Beginn vorgenommene Charakterisierung des Transhumanismus als säkular-eschatologische Weltanschauung, die ihre Erlösung technologisch und damit immanent erreichen möchte, zeigt sich insbesondere an ihrer Deutung des Menschseins. Diese fokussiert sich auf die Endlichkeit des Menschen, die Begrenzung des Daseins, weil der Mensch in der biologisch-immanenten Welt verhaftet ist. Dies spitzt sich in der Erfahrung des Körpers als Kontingenzerfahrung zu. Alles Immanente, alles Biologische als dystopischen Faktor wahrzunehmen, führt zu einer technophilen Utopie. Das Versprechen des Transhumanismus ist genau in diesem Sinne die Überwindung von Unsicherheit, da er den Gehalt von Erlösung imaginativ in den Bereich potenzieller technischer Verfügbarkeit hereinholt, obwohl er faktisch weit jenseits unserer medizinischen Möglichkeiten liegt.58

Die skizzenhafte Auseinandersetzung mit dem transhumanistischen Menschenbild zeigt zudem, dass Menschsein unter einem Funktions- und Nutzenaspekt betrach57 Ebd. Krügers Verwendung des Begriffs Posthumanismus ist gleichzusetzen mit siliziumbasierten Visionen des Transhumanismus. 58 Dürr, Homo Novus (wie Anm. 2), S. 127.

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tet wird. Technik wird derart nicht nur als Emanzipationsmittel verstanden, sondern auch zum ermöglichenden Moment der Selbstbefreiung und Selbsterlösung. Menschen werden nicht nur als funktionierende Maschinen betrachtet,59 sondern auch als reparable und beliebige Maschinen. Letztendlich kommt dem Körper aufgrund der Annahme seiner multiplen Realisierbarkeit ein Produktcharakter zu, er wird als gefügiges und zu kontrollierendes Besitzobjekt wahrgenommen,60 er wird »zu einem passiven Objekt der Gestaltung degradiert«.61 Durch die handlungsleitende Maxime der technischen Kontrolle und Aufwertung des Körpers, um eben gerade diesem Körper zu entkommen, wirkt der Transhumanismus biopolitisch auf den Menschen ein.62 Die Befreiungs- und Fortschrittsmöglichkeiten, die Transhumanist*innen durch den Einsatz von Technik am und im Menschen verwirklicht sehen, ist schließlich Freiheit von der vom Transhumanismus selbst vorgenommenen negativen Selbst- und Wirklichkeitsdeutung. Allerdings verschweigen die hier aufgeführten transhumanistischen Visionen eines siliziumbasierten Daseins ihre eigene materielle Abhängigkeit. Schließlich ist auch ein cyberbasiertes Dasein ein endliches Dasein aufgrund der materiellen Abhängigkeit zur Hardware bzw. zum Dasein der Welt als solcher. Sofern Transhumanist*innen sich dem Ziel eines cyberbasierten Daseins verschreiben, um die biologische Endlichkeit zu überwinden, sie sich aber zugleich der materiellen Bedingtheit des cyberbasierten Daseins bewusst sind bzw. sie diese nicht aufgeben können, wird die Dimension der biologischen Endlichkeit nicht überwunden. Vielmehr wird die vordergründige Überwindung in das cyberbasierte Dasein nur linear verschoben. Der (siliziumbasierte) Transhumanismus verbleibt damit im Leben und setzt dem Tod kein Ende.

59 Vgl. Helmus, Transhumanismus (wie Anm. 4), S. 111–115. 60 Vgl. ebd., 115–117; Loh, Trans- und Posthumanismus (wie Anm. 4), S. 87; Thweatt-Bates, Cyborg Selves (wie Anm. 13), S. 77–80; Karin Harrasser, Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen, Bielefeld 2013, S. 21–23. 61 Loh, Trans- und Posthumanismus (wie Anm. 4), S. 85. 62 Vgl. Helmus, Transhumanismus (wie Anm. 4), S. 291; Dürr, Homo Novus (wie Anm. 2), S. 137.

Autorinnen und Autoren

Benjamin Beil ist Professor für Medienwissenschaft mit Schwerpunkt Digitalkulturen am Institut für Medienkultur und Theater an der Universität zu Köln. Er forscht zu den Themen Game Studies, partizipative Medienkulturen, Inter- und Transmedialität sowie digitale Medien im Museum. Zu seinen aktuellen Publikationen gehören: als Herausgeber zusammen mit Gundolf S. Freyermuth, Hanns Christian Schmidt und Raven Rusch, Playful Materialities. The Stuff that Games Are Made Of, Bielefeld 2022; zusammen mit Thomas Hensel und Andreas Rauscher, Game Studies, Wiesbaden 2018; zusammen mit Philipp Bojahr und T. Sofie Taubert, Im Spielrausch. Streifzüge durch die Welten des Theaters und des Computerspiels, Glückstadt 2017. Thiemo Breyer ist Professor für Phänomenologie und Anthropologie an der Universität zu Köln sowie Direktor des dortigen Husserl-Archivs. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Bewusstseins-, Verkörperungs- und Emotionstheorie. Weitere Spezialthemen sind die Methodologien der Kulturwissenschaften, Hermeneutik und Psychopathologie. Publikationen u. a.: On the Topology of Cultural Memory, Würzburg 2007; Intentionalität und Attentionalität, München 2011; Verkörperte Intersubjektivität und Empathie, Frankfurt a. M. 2015; als Herausgeber u. a.: Phenomenology of Thinking, New York 2016; Perspectives on the Philosophy of Culture, Darmstadt 2022; Handbuch Phänomenologie, Tübingen 2023. Gudrun Gersmann hat seit 2004 den Lehrstuhl für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität zu Köln inne. Zwischen 2007 und 2012 war sie Direktorin des Deutschen Historischen Instituts in Paris. Für ihre Verdienste um die deutsch-französische Geschichtswissenschaft wurde sie 2017 mit dem nationalen französischen Verdienstorden der Ehrenlegion ausgezeichnet. Ihre Forschungen konzentrieren sich vor allem auf die Geschichte der Französischen Revolution, die Geschichte des rheinischen Adels im 18. Jahrhundert und die Zeit der französischen Herrschaft in Köln. Darüber hinaus ist sie eine Pionierin der digitalen Geschichtswissenschaft im deutschsprachigen Bereich und hat seit den späten 1990er Jahren eine Vielzahl von digitalen Publikationsformaten entwickelt.  Aktuelle Publikationen u. a.: Le Constitutionnel und Oesterreichischer Beobachter: Spielarten der Publizistik in der internationalen Presselandschaft der Restauration, in: MAP  – Modern Academic Publishing, 2021, DOI:  http://doi.org/10.15463/

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map-lc; Kölner (Universitäts-)Sammlungen auf MAP-Lab: Forschen  – Zugänge schaffen – Vermitteln, in: Blog Zeitenblicke. Wissenschaftskommunikation aus Forschung, Lehre, Organisation. URL: https://fnzkoeln.hypotheses.org/7577. Gabriele von Glasenapp ist Professorin für deutsche Literaturwissenschaft und ihre Didaktik mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft an der Universität zu Köln. Von 2011 bis 2022 war sie Leiterin der Kölner Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendmedienforschung. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u. a. Kinder- und Jugendliteratur (und -medien) des 19., 20. und 21. Jahrhunderts, Theorie, Geschichte und Gattungen der Kinder- und Jugendliteratur, deutschsprachige jüdische (Kinder- und Jugend-)Literatur vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Erinnerungskultur und kollektives Gedächtnis, Populärkultur, jüdische Schulbücher vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Veröffentlichungen u. a.: als Herausgeberin mit Andre Kagelmann und Ingrid Tomkowiak, Erinnerung reloaded? (Re-)Inszenierungen des kulturellen Gedächtnisses in Kinder- und Jugendmedien, Berlin 2021; als Herausgeberin mit Claudia Maria Pecher und Martin Anker, Martin Luther und die Reformation in der Kinder- und Jugendliteratur. Beiträge zur literarhistorischen und literaturästhetischen Praxis, Baltmannsweiler 2018; zusammen mit Gina Weinkauff: Kinder- und Jugendliteratur (2010), 3. Aufl., Paderborn 2018. Caroline Helmus, Dr. phil, studierte in Köln und Münster die Fächer Theologie, Geschichte und Philosophie. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Technik und Religion, theologische Anthropologie, Religion als Deutungskategorie im Anschluss an Ernst Cassirers Kulturtheorie. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Ist »glauben« ein universales Vermögen? Zur Möglichkeit des Glaubensvollzugs bei von Geburt an schwerster kognitiver Beeinträchtigung« am Lehrstuhl für Fundamentaltheologie bei Prof. Dr. Saskia Wendel an der Universität Tübingen. Zudem ist sie am Lehrstuhl für Systematische Theologie des Instituts für Katholische Theologie der Universität zu Köln beschäftigt. 2020 erschien ihre Dissertation unter dem Titel »Transhumanismus – der neue (Unter-)Gang des Menschen? Das Menschenbild des Transhumanismus und seine Herausforderung für die Theologische Anthropologie« (ratio fidei, Bd. 72), Regensburg 2020. Frank Hentschel ist Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Historische Musikpsychologie mit Fokus auf das lange 19. Jahrhundert sowie Filmmusik. Veröffentlichungen u. a.: Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776–1871, Frankfurt a. M., New York 2006; Töne der Angst. Die Musik im Horrorfilm (Deep Focus, Bd. 12), Berlin 2011; Exploring 19th-Century



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Perception of ›Uncanny‹ Music Using a Semantic Network Approach«, in: Music Perception 40/2 (2022), S. 168–189 (gemeinsam mit Anja Cui); als Herausgeber: Historische Musikwissenschaft. Gegenstand  – Geschichte  – Methodik (Kompendien Musik, Bd. 2), Laaber 2019. Karl-Joachim Hölkeskamp ist emeritierter Professor für Alte Geschichte an der Universität zu Köln. Er befasst sich mit griechischer und römischer Geschichte, mit den Erinnerungskulturen der Antike sowie mit der Entstehung der Polis und der Gesetzgebung im archaischen Griechenland. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die politische Kultur der römischen Republik, die Sozial- und Mentalitätsgeschichte der republikanischen Aristokratie und die Geschichte der politisch-sozialen Begriffe. Außerdem hat er Beiträge zu Theorien, Methoden und zur Wissenschaftsgeschichte der Alten Geschichte vorgelegt. Veröffentlichungen: Reconstructing the Roman Republic. An Ancient Political Culture and Modern Research, Princeton 2010; Libera Res Publica. Die politische Kultur des antiken Rom  – Positionen und Perspektiven, Stuttgart 2017; Roman Republican Refelections. Studies in Politics, Power, and Pageantry, Stuttgart 2020. Arne Karsten lehrt als Privatdozent für Geschichte der Neuzeit am Historischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte Italiens seit dem Ausgang des Mittelalters, europäische Erinnerungskultur und die Spätphase der k.u.k. Monarchie. Zahlreiche Publikationen zu den genannten Themen, darunter: Bernini. Der Schöpfer des barocken Rom, 3. Aufl., München 2017; Der Untergang der Welt von gestern. Wien und die k. u. k. Monarchie 1911–1919, München 2019; Geschichte Venedigs, 2. Aufl., München 2023. Stephan Köhn ist Professor für Japanologie an der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Populär- und Medienkultur der japanischen Moderne (1600 bis heute), der edo-zeitlichen Druck- und Verlagsgeschichte sowie der Nationalitäts- und Identitätsdiskurse mit Schwerpunkt auf Japans nuklearem Erbe. Veröffentlichungen u. a.: Über die Kommerzialisierung von Wissen im Japan des 18. Jahrhunderts, Wiesbaden 2022; Crossing the Borders to Modernity, Wiesbaden 2022; als Herausgeber zusammen mit Chantal Weber: Outcasts in Japans Vormoderne: Mechanismen der Segregation in der Edo-Zeit, Wiesbaden 2019. Mira Menzfeld ist Ethnologin und arbeitet als fortgeschrittene Postdoktorandin im Rahmen des UFSP »Digital Religion(s)« am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Zürich. Zu ihren Spezialisierungsfeldern zählen die Ethnologie des Sterbens, Religionsethnologie mit einem Fokus auf Islam und religiöse Digitabili-

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tät, und die Ethnologie von Emotionen insbesondere in Paarbeziehungen. Sie führte Feldforschungen mit terminal erkrankten Personen, europäischen SalafitInnen und Transmigrant*innen in der Schweiz, Finnland, Südchina und Deutschland durch. Ihre Promotionsschrift »What it means to die« wurde 2019 mit dem Dissertationspreis der Deutschen Gesellschaft für Kultur- und Sozialanthropologie prämiert. Jüngst gab sie die bilinguale Special Issue »Der Fall Kabuls 2021 / The Fall of Kabul 2021« der Zeitschrift Ethnoscripts heraus (Ausgabe 24 [1], 2022) und veröffentlichte Fachartikel u. a. zu Sterbensverständnissen in Südchina : »Silent Questions: (Not) Talking about Dying in the Pearl River Delta«, in: Medicine Anthropology Theory 9(2) (2022), S. 1–10. Andreas Michel ist Professor für Biblische Theologie an der Universität zu Köln. Er forscht insbesondere zu dem alttestamentlichen Buch der Klagelieder und dem Pentateuch, den fünf Büchern Mose. Für letztere ist er Fachherausgeber im »Wissenschaftlichen Bibellexikon im Internet«. Seine weiteren Publikationsschwerpunkte sind, neben der Sprache des Bibelhebräischen, Gewalt- und Kindheitsdiskurse in der Bibel und ihrer Welt. 2023 erscheint eine größere Bibeldidaktik in der Reihe »Theologie für Lehrerinnen und Lehrer« bei Vandenhoeck & Ruprecht, bei der er Mitherausgeber und Mitautor ist, insbesondere für den alttestamentlichen Anteil. Patrick Nehr-Baseler ist seit 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für die Geschichte des frühen und hohen Mittelalters sowie für Historische Grundwissenschaften an der CAU zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Frömmigkeits- und Religionsgeschichte des 14. bis 16. Jahrhunderts, der vormodernen Emotions- und Sinnesgeschichte, der Inkunabelkunde sowie der Integration der Mediävistik in das Semantic Web (Linked Open Data). Sein Promotionsprojekt unter dem Arbeitstitel »Gutes Sterben und die Reise ins Jenseits – Verschränkungen von Endlichkeit und Ewigkeit im frühen deutschen Augsburger Buchdruck (1468– 1530)« beschäftigt sich mit deutschsprachigen spätmittelalterlichen Artes moriendi. Ute Planert ist Professorin für Neuere Geschichte an der Universität zu Köln. Sie forscht zur europäischen Geschichte des »langen« 19. Jahrhunderts und zur Geschlechtergeschichte der Weimarer Republik. Sie ist Expertin für das napoleonische Zeitalter und Autorin zahlreicher Studien zur Geschichte von Nationalismus, Krieg, Tod und Gewalt. Veröffentlichungen u. a.: Napoleons Welt. Ein Zeitalter in Bildern, Darmstadt 2021; Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden. Alltag – Wahrnehmung – Deutung 1792–1841, Paderborn 2007; als Herausgeberin u. a.: Sterben, Töten, Gedenken. Zur Sozialgeschichte des Todes, Bonn 2018 (mit Dietmar Süß); Decades of Reconstruction. Postwar Societies, State-Buil-



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ding, and International Relations. From the Eighteenth to the Twentieth Century, Cambridge 2017 (mit James Retallack). Monika Schausten ist Professorin für Ältere deutsche Sprache und Literatur mit den Schwerpunkten Spätmittelalter, frühe Neuzeit und historische Geschlechterforschung an der Universität zu Köln. Sie forscht zur Literatur des 13. bis 15. Jahrhunderts mit Schwerpunkten auf medien- und kulturanthropologischen Fragestellungen. Veröffentlichungen u. a.: Suche nach Identität. Das ›Eigene‹ und das ›Andere‹ in Romanen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Köln 2006; als Herausgeberin: Die Farben imaginierter Welten. Zur Kulturgeschichte ihrer Codierung in Literatur und Kunst vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Berlin 2012 sowie gemeinsam mit Udo Friedrich und Christiane Krusenbaum-Verheugen: Kunst und Konventionalität. Dynamiken sozialen Wissens und Handelns in der Literatur des Mittelalters, Berlin 2021. Henriette Terpe studierte Physik, Romanistik und Komparatistik an der Universität zu Köln, der Ruhr-Universität Bochum sowie der Universidad Complutense de Madrid. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Romanischen Seminar der Universität zu Köln und forscht zur südamerikanischen Lyrik des 20. Jahrhunderts mit Interessenschwerpunkten in Chile, Argentinien, Uruguay und Brasilien. Ihre von der Studienstiftung des Deutschen Volkes geförderte Promotion beschäftigt sich mit spanischsprachigen lyrischen Todestagebüchern. Neben ihrer akademischen Tätigkeit arbeitet sie als literarische Übersetzerin und Musikerin sowie im Wissenschaftsmanagement. Hannes Wendler wird am a.r.t.e.s. Graduiertenkolleg der Universität zu Köln als Mercator-Fellow promoviert. Er hat Philosophie und Psychologie in Innsbruck und Heidelberg mit einem Forschungsaufenthalt in Cambridge studiert und befindet sich gegenwärtig in der Psychotherapeutenausbildung. Sein Promotionsprojekt trägt den Titel »Désordre du Cœur: Die theoretische Grundlegung einer axiologischen Psychopathologie und die klinische Bestimmung von Wertnehmungsstörungen«. Seine Forschungsschwerpunkte betreffen die phänomenologische Psychologie, die Empathie und das Mensch-Tier-Übergangsfeld. Zusammen mit  Alexander Wendt unterhält er das Podcastprojekt »Fipsi: der philosophisch-psychologische Podcast« (https://www.phi-psy.de/fipsi-der-philosophisch-psychologische-podcast/). Veröffentlichungen u. a.: zusammen mit Thomas Fuchs, Understanding Incomprehensibility. Misgivings and Potentials of the Phenomenological Psychopathology of Schizophrenia, in: Frontiers in Psychology (2023); Philosophical Primatology: Reflections on Theses of Anthropological Difference, the Logic of Anthropomorphism and Anthro-

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Autorinnen und Autoren

podenial, and the Self-other Category Mistake Within the Scope of Cognitive Primate Research, in: Biological Theory 15 (2019); Critique of Empathy. Rediscovering the Problem of Other Minds (im Druck).