Theorien der Gesellschaft: Einführung in zentrale Paradigmen der soziologischen Gegenwartsanalyse [Reprint 2018 ed.] 9783486809886, 9783486258448

Ein Lehrwerk, das dazu verhilft, verschiedene Gesellschaftstheorien zu erschließen.

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Theorien der Gesellschaft: Einführung in zentrale Paradigmen der soziologischen Gegenwartsanalyse [Reprint 2018 ed.]
 9783486809886, 9783486258448

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Kapitel I Klassische Modernisierungstheorien: Fragestellungen und Perspektiven der Gründungsväter der Soziologie
Kapitel II Colemans Theorie der Moderne
Kapitel III Die Modernisierungstheorie von Talcott Parsons
Kapitel IV Beobachtungen der Moderne in der Systemtheorie von Niklas Luhmann
Kapitel V Kritische Theorie als Theorie des kommunikativen Handelns - Jürgen Habermas
Kapitel VI Die Strukturierung der Moderne: Anthony Giddens Beitrag zu Sozialtheorie und soziologischer Zeitdiagnose
Kapitel VII Modernisierung und Weltsystem: Immanuel Wallersteins globalistische Wende der Modernisierungstheorie
Kapital VIII Foucault - ein Theoretiker der Moderne?
Kapitel IX Die postmoderne Zeitdiagnose Baudrillards
Kapitel X Ambivalenzen der Post-Modernisierung: Zygmunt Bauman
Kapitel XI Gesellschaftstheorie und Erkenntnisinteresse: Anregungen zum systematischen Theorievergleich
Hinweise zu den Autorinnen und Herausgebern:

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Lehr- und Handbücher der Kultur- und Sozialwissenschaften Herausgegeben von Dr. Christian Lahusen und Dr. Carsten Stark Bisher erschienene Werke: Lahusen • Stark, Modernisierung - Einfuhrung in die Lektüre klassisch-soziologischer Texte Stark • Lahusen (Hrg.), Theorien der Gesellschaft

Theorien der Gesellschaft Einführung in zentrale Paradigmen der soziologischen Gegenwartsanalyse

Herausgegeben von

Dr. Carsten Stark Dr. Christian Lahusen beide Otto-Friedrich-Universität Bamberg

R. Oldenbourg Verlag München Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Theorien der Gesellschaft : Einfuhrung in zentrale Paradigmen der soziologischen Gegenwartsanalyse / hrsg. von Carsten Stark ; Christian Lahusen. - München ; Wien : Oldenbourg, 2002 (Lehr- und Handbücher der Kultur- und Sozialwissenschaften) ISBN 3-486-25844-3

© 2002 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza ISBN 3-486-25844-3

Inhaltsverzeichnis 5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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Kapitel I Klassische Modernisierungstheorien: Fragestellungen und Perspektiven der Gründungsväter der Soziologie (Christian Lahuseri)

9

Kapitel II Colemans Theorie der Moderne {Joachim Behnke)

37

Kapitel III Die Modernisierungstheorie von Talcott Parsons (Jens Jetzkowitz)

67

Kapitel IV Beobachtungen der Moderne in der Systemtheorie von Niklas Luhmann (Achim Brosziewski)

99

Kapital V Kritische Theorie als Theorie des kommunikativen Handelns - Jürgen Habermas (Willy Viehöver / Thomas Kern) 127

Kapitel VI Die Strukturierung der Moderne: Anthony Giddens Beitrag zu Sozialtheorie und soziologischer Zeitdiagnose (Klaus Müller)

163

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Theorien der Gesellschaft

Kapitel VII Modernisierung und Weltsystem: Immanuel Wallersteins globalistische Wende der Modernisierungstheorie (Klaus Müller)

203

Kapitel VIII Foucault - ein Theoretiker der Moderne? (Urs Stäheli / Ute Teilmann)

237

Kapitel IX Die postmoderne Zeitdiagnose Baudrillards (Matthias Junge)

267

Kapitel X Ambivalenzen der Post-Modernisierung: Zygmunt Bauman (Thorsten Bonacker)

289

Kapitel XI Gesellschaftstheorie und Erkenntnisinteresse: Anregungen zum systematischen Theorievergleich (Carsten Stark)

319

Hinweise zu den Autorinnen und Herausgebern

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Vorwort Mit diesem Lehrbuch möchten wir Studierenden der Sozialwissenschaften eine Hilfe in die Hand geben, um sich in die verschiedenen Paradigmen der Gesellschaftsanalyse einzuarbeiten. Bislang finden sich derartige Hilfen unter dem Stichwort "soziologische Theorie". Aber nicht jede soziologische Theorie ist auch eine Gesellschaftstheorie und nicht jede Gesellschaftstheorie ist Soziologie. Ein Lehrbuch, das sich die Aufgabe stellt, in die Gesellschaftsanalyse einzuführen, darf sich daher nicht an den engen Grenzen der Soziologie orientieren. Vor allem aber darf es nicht den Anschein erwecken, als stelle es auch eine Einführung in die soziologische Theorie als Ganzes dar. Dieses Buch soll dabei helfen, verschiedene Gesellschaftstheorien zu erschließen. Gegenstand der einzelnen Beiträge sind demnach Theorien, welche die heutigen, modernen Gesellschaften treffend zu beschreiben, zu interpretieren und zu bewerten suchen. Es handelt sich folglich um verschiedene Perspektiven und Spielarten der Gesellschaftsanalyse. Aus diesem Grunde eignet sich das vorliegende Lehrbuch auch dazu, verschiedene Zeitdiagnosen besser zu verstehen und zu beurteilen. Sucht man nämlich nach Antworten auf die Frage, in welcher Gesellschaft wir heute eigentlich leben, so findet man viele Angebote auf dem Erkenntnismarkt: Risikogesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Kommunikationsgesellschaft, politische Gesellschaft usw. sind Stichworte, die derartige Angebote formulieren. Vor welchem theoretischen Hintergrund aber können diese Angebote hinterfragt werden? Für welches Erkenntnisinteresse stehen die jeweiligen Zeitdiagnosen? Inwieweit sind sie in einen theoretischen Diskurs über die Gesellschaft eingebettet? In welcher Beziehung stehen sie zu klassischen Einsichten soziologischer Theoriebildung? Derartige Fragen müssen beantworten werden, um über den essayistischen Charakter des zeitgenössigen Diskurses über die Gesellschaft hinausblicken zu können. Die Beantwortung derartiger Fragen ist jedoch nur mit Hilfe einer gründlichen Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen der Gesellschaftsanalyse möglich. In diesem Band werden verschiedene Gesellschaftstheorien als prominente Beispiele für unterschiedliche Paradigmen der Zeitanalyse vorgestellt. Obgleich unterschiedliche Autoren für ihre Beiträge verantwortlich zeichnen, folgen doch die jeweiligen Einführungen einem gemeinsamen Raster. Es werden jeweils die theoretischen Grundlagen und Vorläufer sowie die spezifische Modernisierungstheorie vorgestellt. Zugleich findet in jedem Beitrag eine Einbettung der behandelten Gesellschaftstheorie in den wissenschaftlich-kritischen Diskurs statt. Besonders hervorheben möchten wir, daß es sich bei diesem Band um ein "Lernbuch" handelt. Anders als in klassischen "Lehrbüchern" haben wir besonderen Wert darauf gelegt, die Studierenden bei der aktiven Wissensaneignung zu unterstützen. Aus diesem Grunde enthält jedes Kapitel eine Reihe von Fragen, die zum weiteren Arbeiten und zum Diskurs in Arbeitsgruppen und / oder Seminaren beitragen sollen. Ebenfalls aus dieser Motivation heraus erklärt es sich, daß wir zu Beginn und zum Schluß des Buches allgemeinere Kapitel platziert haben, die über die Grenzen der jeweiligen Theorien hinaus zur Reflexion und zum Theorievergleich anregen sollen.

Kapitel I Klassische Modernisierungstheorien: Fragestellungen und Perspektiven der Gründungsväter der Soziologie

Christian Lahusen

Inhalt:

1. 2. 3. 3.1 3.2 4. 5.

Einleitung: Warum Soziologie? Ausgangsfragen und Grundannahmen Modernisierungsprozesse Entwicklungs- oder Stufenmodelle der Modernisierung Triebkräfte und Faktoren der Modernisierung Mit der Moderne zufrieden? Zitierte und weiterführende Literatur

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Dieser Beitrag setzt sich zum Ziel, zentrale Fragestellungen und Antwortversuche der klassischen Soziologie herauszuarbeiten, die Anknüpfungspunkt oder Orientierungsmarke der heutigen Diskussionen sind. Dabei werden wir uns insbesondere auf das Werk von Auguste Comte und Herbert Spencer, Karl Marx, Emile Dürkheim, Max Weber und Georg Simme! beziehen, die dem gängigen Verständnis nach den soziologischen Diskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in seiner Verschiedenartigkeit besonders gut verkörpern. Dabei soll es weniger um eine zeithistorische Rekonstruktion der einzelnen 'Soziologien'gehen, denn hier liegen bereits eine Reihe von einschlägigen Werken vor. Vielmehr geht es darum, zentrale Fragestellungen, Konzepte und Argumentationsfiguren herauszuarbeiten, die dem 'klassischen' Diskurs im allgemeinen zu eigen sind. Aus diesem Grund werden zunächst die Begriffe der Differenzierung und Integration, der Ordnung und des Wandels erläutern. Sodann sollen die Erklärungsfaktoren benannt werden, die den Klassikern zufolge zur Entstehung unserer heutigen Gesellschaft geführt haben, um schließlich auf die Strukturen und Dilemmata der modernen Gesellschaft zu sprechet: zu kommen.

1. Einleitung: Warum Soziologie? Die Soziologie als Wissenschaft der Gesellschaft ist ein Kind der bürgerlichen Gesellschaft. Damit ist gemeint, daß sich die Soziologie seit Anbeginn mit der Entstehung, den Strukturen und Problemen der 'modernen' Gesellschaft auseinandergesetzt hat. In der Tat ist die Soziologie zu einer Zeit allgemeiner politischer, ökonomischer und kultureller Umwälzungen entstanden: Politische Umbrüche wie die französische Revolution, wirtschaftliche Umwälzungen wie die Industrialisierung, demographische Veränderungen wie erhöhtes Bevölkerungswachstum und Verstädterung, kulturell-religiöser Wandel wie die Säkularisierung und neue politische Auseinandersetzungen zwischen weltanschaulichen Lagern des Konservativismus, Liberalismus und Sozialismus kennzeichnen ein hoch wandelbares und konfliktbesetztes Umfeld. Vor diesem Hintergrund lag das Selbstverständnis und der Auftrag dieser jungen Wissenschaft nicht zuletzt auch darin begründet, Antworten auf die drängenden Fragen ihrer Zeit zu finden. Insofern ist von der Soziologie auch als Krisenwissenschaft gesprochen worden. Für alle Klassiker stand es außer Frage, daß die Soziologie nur als eine Wissenschaft von Nutzen sein könne und eine gesellschaftliche Berechtigung besäße. Denn nur durch rein wissenschaftliche, objektive Erkenntnisse ließen sich angemessene und brauchbare Antworten auf die vielen drängenden gesellschaftlichen Probleme und Fragen entwickeln. In diesem Sinne war die Soziologie auch Kind einer aufklärerischen 'Entzauberung', die Gott aus der Erklärung des menschlichen Zusammenlebens verabschiedete, um zu postulieren, daß Gesellschaften von Menschen geschaffen werden und deswegen nur durch eine Wissenschaft des menschlichen Zusammenlebens zu erklären seien. Wenn man so will, emanzipierte sich auch in diesem Gegenstandsbereich die Wissenschaft von der Religion. Keine theologisch-religiöse, sondern eine exakte und 'positive' Erklärung, die auf systematischer Beobachtung von Fakten und einer logischen, d.h. vernunftbegründeten Erklärung beruht, sollte alleine als Leitlinie der Gesell-

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schafitsanalyse dienen. Bezeichnenderweise ist gerade bei den frühen Gründungsvätern der Soziologie (insbesondere bei Auguste Comte oder Herbert Spencer) zu beobachten, daß ihre Konzeption einer neuen Wissenschaft der Gesellschaft starke Anleihen bei den bereits etablierten Naturwissenschaften machte. Aus methodischer Sicht etwa kam es bei der neuen Gesellschaftswissenschaft darauf an, wertneutrale Beobachtungen und exakte, überprüfbare Messungen durchzufuhren, Fakten systematisch zu kategorisieren und zu klassifizieren sowie in ein logisch-konsistentes System zu integrieren, aus dem allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu extrahieren sind (vgl. Comte 1974: 1-16; Spencer 1901: 123-53 u. 307-406). Doch auch im Hinblick auf den eigentlichen Gegenstandsbereich der Soziologie, die Gesellschaft, griff man auf viele Überlegungen früherer Gelehrter und Forschungsrichtungen zurück, die zu einem neuen, soziologischen Untersuchungsfeld zusammengeführt wurden. So ist beispielsweise auf demographische Studien und Theorien von Malthus oder Riccardo zu verweisen, die in demographischen Entwicklungen bestimmte Gesetzmäßigkeiten zu erkennen glaubten. Diese Überlegungen sind von den frühen Klassikern der Soziologie aufgegriffen worden, sahen sie doch in demographischen Veränderungen eine ganz wesentliche Triebkraft gesellschaftlicher Modernisierung. Auffällig sind auch Anleihen bei der (politischen) Ökonomie, die sich auch für die Gesellschaft interessiert hatte, sofern dies Produktions-, Distributions- und Konsumtionsprozesse betraf. Gerade für die britische Ökonomie um Riccardo und Adam Smith war die Arbeitsteilung ein ganz wichtiges Kennzeichen moderner Ökonomien und darüber hinaus auch ein zentraler Motor gesellschaftlicher Entwicklung. Auch dieser Gedanke ist als ein wesentlicher Ausgangspunkt der soziologischen Gesellschaftsanalyse übernommen worden, denn die Klassiker verstanden gesellschaftliche Entwicklung oder Modernisierung als einen Prozeß der stetigen Arbeitsteilung. Schließlich ist auch auf moral- oder geschichtsphilosophische Traditionen zu verweisen, die sich nicht nur für die allgemeinen Prinzipien der menschlichen Entfaltung interessierten, sondern auch gerade für die Frage nach der am menschlichen Geist oder Verstand gebundenen gesellschaftlichen Entwicklung. So war auch die junge Soziologie an der Frage interessiert, inwiefern die moderne Gesellschaft eine Ordnung etabliert, die nicht nur als Kollektiv anpassungs- und überlebensfähig ist, sondern auch eine Befreiung, Entfaltung und Verallgemeinerung menschlicher Autonomie im allgemeinen, der menschlichen Vernunft oder seines Geistes im besonderen mit sich bringt. Die Entstehung der Soziologie als eine 'neue' Wissenschaft der Gesellschaft ist damit an vielfältige intellektuelle Traditionen gebunden, von denen die Väter der Soziologie einige Fragestellungen und Erkenntnisse übernahmen, von denen sie sich aber auch abzusetzen suchten, um der neuen Wissenschaft ein klares Profil zu geben. Bei all der Vielfalt, die sich innerhalb dieser jungen Disziplin bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts an theoretischen und methodischen Gedankengebäuden heraus entwickelt hat, haben sich doch auch bestimmte 'klassische' Perspektiven und Argumentationsformen etabliert, die noch heute Referenzpunkt der aktuellen soziologischen Debatten sind. In der Tat lassen sich

12 Theorien der Gesellschaft aktuelle Gesellschaftstheorien und -analysen durchaus gewinnbringend aus der Perspektive der klassischen Soziologie erschließen und reflektieren, nehmen die heutigen Soziologen doch auf die Argumentationsfiguren und Gedankengebäude einzelner Klassiker Bezug, um ihre eigenen Positionen abzustecken und zu begründen.

2. Ausgangsfragen und Grundannahmen Die Soziologie der Gründungsväter weist, trotz aller Verschiedenartigkeit der Perspektiven und Argumentationen, doch auch eine Reihe von gemeinsamen Fragestellungen oder Leitmotiven auf. So stand für die Klassiker fest, daß die westlichen Gesellschaften einen eigenständigen Typus menschlichen Zusammenlebens darstellen, der sich im Hinblick auf eine Vielzahl von Merkmalen von allen anderen (vorherigen) Gesellschaften abhebt. Denn die moderne Gesellschaft nimmt im Hinblick auf Größe und Umfang, Anpassungs- und Leistungsfähigkeit, Innovations- und Entwicklungspotentiale, Kontinuität und Ordnung eine Sonderstellung ein. Diese Sonderstellung bringt aber nicht nur Vorteile mit sich. Denn die Gründungsväter hatten bereits erkannt, daß die modernen Gesellschaften auch Zwängen und Problemen unterworfen sind, die im Hinblick auf die Frage nach der Autonomie des Individuums und der Überlebensfähigkeit der Gesamtgesellschaft auch heute noch kontrovers diskutiert werden. Die Strukturen moderner Gesellschaften wurden von den Klassikern zumeist komparativ ermittelt, denn der Vergleich verschiedener Gesellschaften war ein wichtiges Instrument der Analyse der geschichtlichen Entwicklungsverläufe und -faktoren. Dabei lassen sich ein paar Fragestellungen und Annahmen herausstellen, mit denen sich alle Autoren (mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten und Intentionen) gleichermaßen auseinandergesetzt haben. So behaupten die Klassiker einhellig, daß sich die moderne Gesellschaft ganz wesentlich durch ihre höhere Komplexität auszeichnet. Dies liegt nicht nur an der unterschiedlichen Größe 'einfacher' und vollentwickelter Gesellschaften in dem Sinne, daß die modernen Gesellschaften umfangreicher und damit automatisch komplexer seien. Vielmehr argumentieren die Klassiker, daß die modernen Gesellschaften eine Vielzahl von Tätigkeiten und Rollen, Aufgabenbereichen und Wissensvorräten, Organisationen und Institutionen etc. hervorgebracht haben, die erst die Komplexität des gesellschaftlichen Aufbaus ausmachen. Die Klassiker sahen hier eine Entwicklungslinie am Werk, die sie als einen stetigen Differenzierungsprozeß umschrieben (vgl. Spencer 1899: 471-484 u. 1896: 74-78; Dürkheim 1992: 8391; Marx/ Engels 1983a: 50-61; Weber 1988a: 531-4; Simmel 1983: 61-77). Denn ihrer Meinung nach waren spezialisierte Tätigkeiten, Rollen oder Institutionen, die wir heute als eigenständige Einheiten kennen, in den einfachen Gesellschaften noch verschmolzen. Das heißt, Religion, Politik, Recht und Wissenschaft gingen in den vormodernen Gesellschaften ineinander über, da die politische Ordnung, die wissenschaftlichen Lehren, die gesellschaftlichen Sitten und Gebräuche etc. untereinander und mit der religiösen Ordnung eng verbunden waren: So wurden die Aufgaben des Priesters, Gelehrten, Richters und Führers

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durch eine Gruppe (z.B. den Ältestenrat) oder eine Person wahrgenommen. Die Infragestellung wissenschaftlicher Lehrsätze oder die Übertretung von Sitten oder Gebräuchen wurden deshalb auch als religiöse und politische Verfehlungen geahndet und sanktioniert. Diese ursprüngliche Einheit des gesellschaftlichen Lebens dividierte oder differenzierte sich im Laufe der Modernisierung immer stärker in spezialisierte Tätigkeiten, Rollen oder Institutionen, die jeweils eigene Handlungsformen, Wissensvorräte und Erwartungen sowie eigene Aufgaben, Zwecke oder Funktionen hervorbrachten. So emanzipierten sich Wissenschaft und Kunst zusehends von der Religion, wie auch diese eigenständigen Bereiche zusehends intern ausdifferenziert wurden (z.B. Theater, Bildhauerei, Musik, Malerei einerseits, die verschiedenen natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen andererseits). Für die Klassiker ergaben sich vor diesem Hintergrund eine Reihe von wichtigen soziologischen Fragestellungen. Welche Formen nimmt die Differenzierung nun konkret an, d.h. wie ist die moderne Gesellschaft genau aufgebaut oder strukturiert? Wie läßt sich diese Differenzierung erklären, d.h. welche Triebkräfte oder Ursachen stehen hinter dieser Entwicklung? Welche Richtung schlägt sie ein und welche Folgen zieht dieser Differenzierungsprozeß nach sich, d.h. welche Vor- und Nachteile sind hiermit verknüpft, wenn wir z.B. an die Leistungsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit der Gesellschaft, an die Beziehungen zwischen den Individuen oder an den Zusammenhalt des Kollektivs denken? Anhand des Differenzierungsbegriffs läßt sich verdeutlichen, daß die frühe Soziologie davon ausging, daß das stetige Wachstum der Gesellschaft eng mit der stetigen Differenzierung zusammen hing, in dem Sinne, daß nur eine ausdifferenzierte Gesellschaft mit einer wachsenden Zahl von Gesellschaftsmitgliedern fertig wird. Vor diesem Hintergrund aber stellte sich die Frage, ob solch große und hoch komplexe Gesellschaften überhaupt noch integrierbar sind. Theoretisch könnten die genannten Entwicklungen (Wachstum und Differenzierung) doch gerade die gesellschaftliche Ordnung stetig untergraben oder aushöhlen. Einerseits könnte die Differenzierung auch zu einem Krieg aller gegen alle fuhren; oder das Kollektiv könnte einfach zusehends zerfallen, da ihm das innere 'Bindemittel' im Laufe der Fortentwicklung abhanden kommt. Vor diesem Hintergrund beschäftigten sich die Klassiker deshalb auch mit Fragen, die sich auf die Integration moderner Gesellschaften bezogen. Was hält moderne Gesellschaften eigentlich zusammen, angesichts einer wachsenden Zahl von Gesellschafitsmitgliedern und spezialisierten Tätigkeiten, Rollen und Institutionen? Haben diese Gesellschaften überhaupt noch eine Ordnung und wie kann diese Ordnung beschrieben werden? Welche (nicht-gewollten) Wirkungen ziehen diese Integrationsformen nach sich, z.B. im Hinblick darauf, ob sie die Autonomie des Einzelnen stärken oder schwächen und ob sie die weitere Entwicklung der Gesellschaft hemmen oder beflügeln? Beide Fragenkomplexe hängen eng zusammen, argumentierten doch alle Autoren, daß hochgradig differenzierte Gesellschaften eine damit einhergehende hochkomplexe Integrationsform aufweisen. Denn eine Gesellschaft, die sich in viele spezialisierte Tätigkeiten, Rollen und Institutionen aufgespalten hat, muß

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und wird eine neue Struktur oder Ordnung hervorbringen, die die Gesellschaftsmitglieder auf verschiedenen Ebenen und Bereichen zugleich miteinander verbindet und neue Wechselbeziehungen oder Abhängigkeiten zwischen den zugeteilten Aufgaben oder Funktionen schafft. Für alle Klassiker war es deutlich zu erkennen, daß diese Differenzierungs- und Integrationsprozesse eine gewisse Eigendynamik an den Tag legen, die für das Individuum neue Freiheiten, aber auch neue Zwänge mit sich bringen und der Gesellschaft zugleich neue Entwicklungspotentiale eröffnen, aber auch eigene Folgeprobleme auferlegen. Die früheren Klassiker (insbesondere Auguste Comte und Herbert Spencer) haben diesen Prozeß noch primär als Fortschritt proklamiert, garantieren doch moderne Gesellschaften ihrer Meinung nach nicht nur ein höheres Maß an individueller Autonomie und Entfaltung, sondern auch einen höheren Grad an kollektiver Sicherheit und Wohlfahrt. Die jüngeren Klassiker teilten diesen Fortschrittsoptimismus zu einem gewissen Grade. Allerdings ließen sie auch gedämpftere, z.T. pessimistischere Töne anklingen. Denn sie sahen auch, daß der Mensch eine eigene Realität geschaffen hatte, die ihn - den Schöpfer - nun selbst immer mehr bedroht, unterjocht oder entfremdet. Blicken wir auf die bisherigen Ausführungen zurück, so fällt auf, daß diese Fragestellungen und Grundannahmen auf eine weitere Thematik verweisen, mit der sich die soziologische Theoriebildung seit den Gründungsvätern maßgeblich auseinandergesetzt hat. So sprach Auguste Comte von zwei Gesetzen oder Prinzipien, welche die gesellschaftliche Wirklichkeit bestimmen und leiten, nämlich vom Gesetz der Statik und Dynamik - oder vom Gesetz der Bewegung und des Daseins, wie er es auch nannte (vgl. Comte 1956: 115-29 u. 1974: 11844). Auch Herbert Spencer meinte etwas ganz ähnliches, als er von Wandel und Struktur als zwei unterschiedlichen Prinzipien sprach (vgl. Spencer 1896: 78-88). Beiden ging es um etwas, das aus heutiger Sicht mit den Begriffen des sozialen Wandels einerseits, der sozialen Ordnung andererseits belegt wird. So waren sie der Überzeugung, daß die westlichen, industrialisierten Gesellschaften ein erhöhtes Innovations- oder Entwicklungspotential besaßen, das auf eine Reihe von Faktoren zurückgeht (z.B. individuelles Glücksstreben, Wachstum der Gesellschaft, Differenzierung). Diese Faktoren halten die industrielle Gesellschaft in Bewegung und eröffnen ihr eine bessere Anpassung an die Umwelt. Andererseits betonten beide Autoren, daß sich industrielle Gesellschaften aber nicht 'kaputt-entwickeln', denn hier kommen Institutionen oder Strukturen ins Spiel, die diese sich fortentwickelnden Gesellschaften aufs neue ordnen (z.B. Kooperations-, Tausch- und Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern, Hierarchien, sympathische 'Instinkte'). Insbesondere Comte hat immer wieder davor gewarnt, eines der beiden Prinzipien überzubetonen, denn eine strukturell gefestigte Ordnung kann den Fortbestand einer Gesellschaft genauso gefährden wie ein ungeregelter Wandel. Beide Autoren glaubten aber aus ihren Beobachtungen erkennen zu können, daß industrielle Gesellschaften beiden Anforderungen gerecht werden, indem sie beide Prinzipien oder Gesetze in eine befruchtende Wechselwirkung einbringen. So entwickeln moderne Gesellschaften Ordnungsprinzipien, die selbst 'innovations-' oder entwicklungsfördernd sind; zugleich ist eine Gesellschaft, die mehr Entfaltungsmöglichkeiten

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einräumt, auch langfristig überlebensfähiger. Wie wir noch sehen werden, waren es wiederum die jüngeren Klassiker, die diese optimistische Beschreibung und Bewertung der industriellen Gesellschaft relativierten. Denn ob die mit der Industrialisierung einhergehenden Entwicklungen immer auch automatisch für den Einzelnen wie auch für die Gesamtgesellschaft nützlich sind, haben diese Autoren stärker in Frage gestellt. So haben Emile Dürkheim, Karl Marx, Max Weber und Georg Simmel aus sehr unterschiedlichen Perspektiven und mit divergierenden Intentionen verdeutlicht, daß die gesellschaftliche Entwicklung oder Modernisierung Eigendynamiken in Gang gesetzt hat, die zwar eine 'höhere' Ordnung ermöglichen, nicht aber in aller Hinsicht 'nützlich' oder sinnvoll sind (vgl. Dürkheim 1992: 95-101 u. 401-410; Weber 1980: 576-579 u. 1988a: 197-206; Simmel 1999: 617-654). Denn sie bringen die modernen Gesellschaften auch auf Gedeih und Verderb - auf einen Weg, den sie bei widersprüchlichen oder nachteiligen Folgen nicht mehr ohne weiteres wieder verlassen können.

3. Modernisierungsprozesse Mit den Begriffen der Differenzierung und Integration, des Wandels und der Ordnung haben wir zentrale Schlagwörter der klassischen Soziologie umschrieben, anhand derer sie das Wesen und die Struktur moderner Gesellschaften umschrieben hat. Hervorzuheben ist nun, daß die Klassiker die heutigen Gesellschaften vor allem entwicklungsgeschichtlich zu erklären und zu bewerten suchten. Aus heutiger Sicht würden wir sagen, daß die Geschichte der modernen Gesellschaft als ein 'Modernisierungsprozeß' konzipiert wurde, in deren Verlauf die Strukturen und die Entwicklungsdynamik unserer heutigen Gesellschaft immer klarer und deutlicher zutage traten. Zweifellos haben die einzelnen Klassiker unterschiedliche, z.T. auch konträre Bilder dieser gesellschaftlichen Modernisierung gezeichnet. Betrachten wir aber die Grundzüge, nach denen die Autoren die Genese der modernen Gesellschaft umschrieben oder erklärt haben, so fallen doch gewisse Wiederholungen oder Parallelen auf, die wir als Einstieg in die Gesellschaftsanalyse der Klassiker nutzen wollen. Demnach ergibt sich eine gemeinsame Geschichte der Entwicklung moderner Gesellschaften, die wir im Schaubild 1 bildlich wiedergeben.

16 Theorien der Gesellschaft Schaubild 1: 'Modernisierungsspirale' Integration (komplexere Gesellschaften) ^



(einfachere ^ Gemeinschaften)

sachliche und soziale Anforderungen an höhere Leistungsfähigkeit

Rationalisierung und Objektivierung sozialer Wirklichkeit

Differenzierung

Die von den Klassikern beschriebenen Modernisierungsprozesse gehen allesamt von einer Transformation einfacherer Gemeinschaften zu komplexeren Gesellschaften aus. Die einfachen Gesellschaften zeichnen sich, wie wir bereits erwähnt haben, durch einen geringen Differenzierungsgrad aus. Das heißt zunächst, daß die Tätigkeiten, die die Gesellschaftsmitglieder übernehmen, wenig spezialisiert und kaum auf konkrete Personen beschränkt sind. Das heißt dann auch, daß einzelne Positionen und Rollen (z.B. Führer, Priester, Jäger) - sofern sie sich überhaupt institutionell verfestigt haben - von unterschiedlichen Personen ausgeübt werden können. In diesem Sinne spricht Dürkheim auch davon, daß die einzelnen Mitglieder untereinander austauschbar sind, und daß die Individualität der Gruppenmitglieder folglich auch gering ausgeprägt ist (vgl. Dürkheim 1992: 185-190 u. 200-205). Schließlich haben sich in diesen Gesellschaften noch keine prinzipiellen Unterscheidungen zwischen verschiedenen Institutionen eingestellt, weshalb z.B. religiöse Handlungen mit politischen, ökonomischen, rechtlichen, wissenschaftlichen Handlungsbereichen verquickt blieben. Diese Gesellschaften wiesen folglich eine einfache, wenn auch statische Ordnung auf, die wenig Entwicklungspotentiale eröffnete (vgl. Spencer 1899: 557-564 u. 577579). Der Transformationsprozeß, der nun zur Entstehung moderner Gesellschaften führte, kam durch eine Reihe von Faktoren ins Rollen, die höhere Anforderungen an die Leistungs- und Funktionsfähigkeit dieser Gesellschaften stellten. In diesem Zusammenhang griffen die Klassiker (insbesondere Comte, Spencer, Marx und Dürkheim) ein bis dahin weit verbreitetes Argument auf, das davon ausging, daß ein erhöhtes Bevölkerungswachstum und die steigende Besiedlungsdichte die Arbeitsteilung zwischen den Gesellschaftsmitgliedern anregt (vgl. Comte 1974: 143-144; Spencer 1899: 463-470). Denn nun beginnen

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einzelne Personenkreise, sich auf bestimmte Tätigkeiten zu spezialisieren und entsprechende Rollenmuster und (Status-) Positionen zu entwickeln und zu besetzen. Erstens steigert dies die individuelle Besonderheit der einzelnen Gesellschaftsmitglieder, da nun verschiedene Personen unterschiedliche Tätigkeiten ausüben, Aufgaben und Rollen übernehmen (vgl. Dürkheim 1992: 325335). Zweitens erhöht dies die Leistungsfähigkeit des Kollektivs, da sich unterschiedliche Tätigkeits- oder Funktionsbereiche etablieren, die jeweils eigene Institutionen (Staat, Markt, Wissenschaft etc.) mit ihren spezifischen Aufgaben, Regeln und Wissensvorräten schaffen (vgl. Spencer 1899: 471-484). Drittens führt die Differenzierung qua Arbeitsteilung zu eigenen Formen der Integration hochkomplexer Gesellschaften (vgl. Comte 1974: 128-132). Denn zum einen erweitert sich die Kooperation der Gesellschaftsmitglieder innerhalb spezialisierter Tätigkeitsbereiche, z.B. im Bereich der Wirtschaft durch den hochgradig arbeitsteiligen Produktionsprozeß industrieller Waren und den geldgestützten Märkten (vgl. Marx/Engels 1983a: 50-61; Weber 1980: 199-209; Simmel 1983: 95-128). Zum anderen aber steigt auch die Kooperation zwischen verschiedenen Gesellschaftsbereichen (z.B. Wirtschaft und Politik) und den darin tätigen Personenkreisen, da sich zwischen diesen Kreisen vielfältige Abhängigkeits- und Komplementaritätsbeziehungen einstellen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn ein Gelehrter darauf angewiesen ist, daß ein Bäcker Brötchen bäckt, ein Interessenverband seine Belange politisch vertritt, ein Verwaltungsbeamter sein Gehalt überweist oder ein Künstler für seine Muße oder Erbauung sorgt. Die oben dargestellte 'Modernisierungsspirale' enthält zwei weitere Stichpunkte, die den Klassikern zufolge für ein Verständnis der Entstehungsgeschichte und Struktur moderner Gesellschaften ganz wesentlich sind. Die aufgeführten Begriffe der Rationalisierung und Objektivierung sozialer Beziehungen stammen zwar von Max Weber und Georg Simmel. Sie werden aber in den anderen Theoriegebäuden auch explizit erwähnt oder aber implizit angedeutet, weshalb es nicht übertrieben erscheint, hier einen weiteren Strang der frühen soziologischen Gesellschaftsanalyse auszumachen. So haben wir bereits gesagt, daß sich die Sozialbeziehungen im Laufe der Modernisierung ausdifferenzieren und in Form von spezialisierten Institutionen, Artefakten und Regelsystemen materialisieren oder objektivieren. Das heißt, im Bereich der Marktwirtschaft sind wir Arbeitskräfte und Konsumenten, im Bereich der Politik Wahlvolk und Klienten der Bürokratie, im Bereich der Wissenschaft Wissensträger oder Untersuchungsobjekt. Auf jedem dieser Bereiche kommt es zu einer partiellen aber gezielten und geregelten Kooperation aller Gesellschaftsmitglieder. Entscheidend für die Genese der modernen Gesellschaft ist der Umstand, daß sich diese verschiedenen Tätigkeits- und Kooperationsbereiche als soziale Einrichtungen oder Institutionen verfestigen (z.B. der Staat, die Universitäten, die Märkte), die das einzelne Individuum überleben und jedem neuen Gesellschaftsmitglied als äußere Kraft oder externer Zwang gegenübertreten (vgl. Dürkheim 1984: 105-114). Diese Institutionen sind für Gesellschaften gleich aus zweierlei Gründen unabdingbar. Denn einerseits sichern sie das Überleben der Gesellschaft von einer Generation zur

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anderen. Andererseits ermöglichen sie den Fortbestand großer Gesellschaften, in denen die einzelnen Mitglieder nicht zusammentreffen können, um alle Belange ihres täglichen Lebens auszuhandeln, sondern in denen die einzelnen Menschen von ihren jeweiligen Positionen und Orten am gesellschaftlichen Leben mitwirken. Dies gilt zum Beispiel für die Beziehungen zwischen Produzenten, Händlern und Konsumenten. Denn in modernen Volkswirtschaften spielen die konkreten Tauschbeziehungen zwischen den auf dem Marktplatz Anwesenden keine Rolle mehr, hat sich der lokale Marktplatz doch zu einem gesamtgesellschaftlichen Markt ausgeweitet, auf dem nun eine Vielzahl von Produzenten und Konsumenten unterschiedlichster Waren oder Dienstleistungen mitwirken. Die Beziehungen auf dem Markt werden damit nicht mehr zwischen Anwesenden ausgehandelt, sondern von einer Reihe von Institutionen (Banken, Börsen, Währungs- und Wettbewerbshütern u.v.m.) reguliert und mittels Geld als unpersönliches Medium ökonomischer Transaktionen gelenkt. Insbesondere das Geld gilt der klassischen Soziologie als ein Sinnbild der grundlegenden Veränderungen sozialer Beziehungen im Zuge der Modernisierung. Denn Geld objektiviert soziale Beziehungen, da sich der Wert einer Ware als Tauschwert in Form von Preisen materialisiert und somit nicht mehr individuell ausgehandelt und festgesetzt werden kann (vgl. Marx 1983; Simmel 1999: 128-38). Der Markt versachlicht soziale Beziehungen, da er diese auf Wertschöpfung und die daran gebundenen Regeln des Marktes ausrichtet. In diesem Sinne hat sich der Markt spätestens in der kapitalistischen Wirtschaft individueller Sinnbezüge (religiöser oder ethischer Art) entledigt und als ein eigener, unpersönlicher Bereich ausdifferenziert. "Rationale Wirtschaft ist sachlicher Betrieb. Orientiert ist sie an Geldpreisen, die im Interessenkampf der Menschen untereinander auf dem Markt entstehen. Ohne Schätzung in Geldpreisen, also: ohne jenen Kampf, ist keinerlei Kalkulation möglich. Geld ist das Abstrakteste und 'Unpersönlichste', was es im Menschenleben gibt. Der Kosmos der modernen rationalen kapitalistischen Wirtschaft wurde daher, je mehr er seinen immanenten Eigengesetzlichkeiten folgte, desto unzugänglicher jeglicher denkbaren Beziehung zu einer religiösen Brüderlichkeitsethik." (Weber 1988a: 544) Der Markt tritt dem Einzelnen folglich als eine eigene Realität und als ein äußerer Zwang gegenüber. So kann sich das Individuum zwar selbstverständlich durch den Markt verwirklichen, indem es seine persönlichen Bedürfnisse stillt, seine Wünsche erfüllt und seinen Lebensstil durch den Erwerb und Konsum konkreter Waren oder Dienstleistungen verwirklicht. Dies kann es aber nur, wenn es sich den Regeln und Funktionserfordernissen des Marktes unterwirft: es muß seine Arbeitskraft verkaufen, um über Geld verfügen zu können; der Wert seiner Arbeitskraft bestimmt auch seinen Lebensstil; schließlich richtet sich seine Lebensgestaltung am bestehenden Waren- oder Dienstleistungsangebot aus. Doch nicht nur der Konsument erfährt die Zwänge des Marktes. Auch der Produzent ist ein Gefangener des Marktes und sein unmittelbares Opfer, da er sich selbst schadet, sobald er individuelle Wünsche im Hinblick auf die zu produzierenden Waren, die Produktionsformen oder Ziele seines Unternehmens verfolgt, die keinen Absatz finden oder sich nicht rechnen. Als Mensch ist der Manager vieles (z.B. Vater, Hobbymusiker, Philanthrop), aber als erfolgreicher Kapitalist

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muß er Träger bestimmter Rollen und ihrer institutionalisierten Zwänge sein. Nur sofern er die Kapitalakkumulation und damit die Funktionsweise des Marktes zu seinem subjektiven Zweck oder Ziel macht, "und nur soweit wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Operation, funktioniert er als Kapitalist oder personifiziertes, mit Willen und Bewußtsein begabtes Kapital." (Marx 1984a: 167-168) Diese 'Versachlichung' sozialer Beziehungen beschränkt sich aber nicht nur auf die Ökonomisierung und Technisierung der kapitalistischen Produktionsformen, wie sie Karl Marx und Friedrich Engels ausgemacht haben. Für Georg Simmel ist die Tendenz zur Vergegenständlichung sozialer Beziehungen ein Merkmal der modernen Kultur insgesamt, denn zwischenmenschliches Handeln materialisiert sich im Laufe der Modernisierung stetig in technischen Apparaturen oder Verfahren, aber auch in kulturellen Gütern und Wissensbeständen. Wir haben es folglich mit der Entwicklung einer objektiven Kultur zu tun, die dem einzelnen Menschen und der individuellen Lebensführung als ein Arsenal bestimmender und gültiger Objekte (Kunstgegenstände, Techniken, Bücher und Lehren, Gebäude und Infrastruktur etc.) gegenüber tritt (vgl. Simmel 1992a: 560582). Darüber hinaus bringt diese Entwicklung eine Versachlichung der Beziehungen zwischen den Individuen mit sich, die ganz besonders für die Rolle des Geldes zutrifft: "Die Geldwirtschaft bringt die Notwendigkeit fortwährender mathematischer Operationen im täglichen Verkehr mit sich. Das Leben vieler Menschen wird von solchem Bestimmen, Abwägen, Rechnen, Reduzieren qualitativer Werte auf quantitative ausgefüllt." (Simmel 1983: 90) In dieser Tendenz zur Versachlichung und Systematisierung zeigt sich nach Max Weber eine allgemeine Entwicklungslinie der Modernisierung, die er auf den Begriff der Rationalisierung zurückfuhrt. Diese stetige Rationalisierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit bezieht sich aber nicht nur auf den kapitalistischen Produktionsprozeß mit seiner fortschreitenden Technisierung der Produktionsprozesse und der Ökonomisierung der Marktbeziehungen. Diese Beobachtungen sind nur Teil eines allgemeineren Prozesses, durch den die Gesellschaft auf drei verschiedenen Ebenen methodisch-systematisch durchorganisiert wird. Die Rationalisierung betrifft erstens die Ebene der Weltanschauungen und Weltdeutungen, bei denen intellektuelle Virtuosen (Gelehrte, Priester, Ethiker) an widerspruchsfreien Theorien, Morallehren oder Ethiken arbeiten (vgl. Weber 1980: 304-314 u. 348-367). Ideen- und Gedankengebäude werden auf diese Weise logisch durchrationalisiert und systematisiert, womit sie auch berechenbarer werden. Zweitens zeigt Weber am Beispiel der kapitalistischen Wirtschaft und des bürokratischen Staates, daß es auch zu einer Rationalisierung der Institutionen kommt, denn hier nun werden Handlungsabläufe, -regeln und -maximen methodisch geordnet und systematisiert, wodurch es zu einer größeren Berechenbarkeit und Planbarkeit wirtschaftlichen und staatlichen Handelns kommt (vgl. Weber 1988a: 544-553 u. 1988b). Drittens erstreckt sich diese Rationalisierung auf die Ebene der praktischen Lebensführung, denn insbesondere im Bereich der Berufsarbeit werden Qualifizierungs- und Tätigkeitsformen entwickelt, die auf

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eine methodisch-rationale Form des Arbeitens (z.B. Orientierung an Erfolg und Leistung, Effizienz und Produktivität) orientiert sind (vgl. Weber 1988a: 163-205 u. 1980: 576-577). Diese Entwicklungslinien der Vergegenständlichung und Rationalisierung stehen in engem Zusammenhang mit den dargelegten Prozessen der Differenzierung und Integration. Denn zum einen rationalisieren und objektivieren sich die ausdifferenzierten Teilbereiche, so daß sich Differenzierung und Rationalisierung bzw. Objektivierung gegenseitig bedingen und vorantreiben. So hatten wir am Beispiel des Marktes gezeigt, daß die am Markt beteiligten Akteure nun primär oder ausschließlich über geldvermittelte Tausch- und Wertschöpfungsprozesse in Beziehung stehen und damit das gesellschaftliche Miteinander auf eine bestimmte Art durchrationalisieren. Zum anderen aber ist dieser ausdifferenzierte und rationalisierte Teilbereich eine Form der Integration oder Vergesellschaftung, denn nun können alle Gesellschaftsmitglieder über einen gemeinsamen Markt in Beziehung zueinander treten, auch wenn sie nicht räumlich und zeitlich in persönlichem Kontakt zueinander treten: "indem das Geld so die Teilung der Produktion ermöglicht, bindet es die Menschen unweigerlich zusammen, denn nun arbeitet jeder für den andern, und erst die Arbeit aller schafft die umfassende wirtschaftliche Einheit, welche die einseitige Leistung des Individuums ergänzt." (Simmel 1983: 82) Die Differenzierung wird von allen Theoretikern als ein wesentliches Kennzeichen der Modernisierung betrachtet. In diesem Zusammenhang stellen sich zwei Fragen: .: 1. Wie weit gehen Differenzierungen eigentlich? Kommt es zur Zersplitterung oder Zerfaserung sozialer Ordnung durch immer spezialisiertere Tätigkeiten und Aufgabenbereiche? Und kommt es zu einer vollständigen Abspaltung der einzelnen Funktionsbereiche? Wie würden die Klassiker diese Fragen beantworten? (Literaturempfehiung: Weber 1988a: 536-573; Dürkheim 1992: 425-433 u. 477-480; Simmel 1983: 95-128) Die aktuelleren Theorien, die in den folgenden Kapiteln behandelt werden, setzen diese Diskussion fort. Vergleichen Sie die dort entwickelten Antworten auf die hier behandelte Frage. 2. Dürkheim hat am Beispiel der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern gezeigt, daß der Differenzierungsprozeß in fast allen entwickelteren Gesellschaften zur traditionalen Aufgabenaufteilung zwischen Frau (Familie) und Mann (Arbeit) führte. Allerdings sah er auch, daß Fraisen immer stärker berufstätig wurden und (zumindest bestimmte) Berufe ergriffen (vgl. Dürkheim 1992: 102-107). Handelt es sich bei dieser Entwicklung um eine Entdifferenzierung, durch die auch die Komplementarität, Solidarität und der Zusammenhalt zwischengeschlechtlicher Beziehungen (z.B. Ehen) verloren gehen? Oder entstehen hier neue Formen gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Differenzierungen, die neue Abhängigkeits- und Solidaritätsbande (z.B. auch neue Formen des partnerschaftlichen Zusammenlebens) mit sich bringen? Wie würden das die anderen Autoren sehen?

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3.1. Entwicklungs- oder Stufenmodelle der Modernisierung Überblicken wir die bisherigen Ausführungen, so wird deutlich, daß es den Klassikern um die Entstehung der westlichen Gesellschaften geht. Dabei fällt auf, daß die frühen Klassiker den zugrunde liegenden Modernisierungsprozeß in verschiedene Stadien oder Stufen unterteilten, um die Unterschiede zwischen den aufeinander folgenden Gesellschaftsformen genauer darzulegen, aber auch, um Gesetzmäßigkeiten oder allgemeine Prinzipien der gesellschaftlichen Entwicklung herauszuarbeiten. Unterschiedlicher Meinung waren die Klassiker darüber, wie allgemeingültig dieser Modernisierungsprozeß und die darin ausgemachte Stufenabfolge ist: Auguste Comte und Herbert Spencer zum Beispiel gingen davon aus, daß alle Gesellschaften, wenn sie sich denn überhaupt fortentwickeln, den von ihnen beschriebenen Weg beschreiten und daher zwangsläufig zu einer Gesellschaft 'westlicher' Prägung werden; Max Weber hingegen argumentierte, daß die westlichen Gesellschaften einem historisch spezifischen und 'einmaligen' Entwicklungsverlauf unterworfen sind, weshalb es darauf ankommt, die Entwicklungsbedingungen und -dynamiken jedes einzelnen Gesellschaftstypus oder Kulturkreises zu ermitteln. Für die Genese unserer westlichen Gesellschaften aber wollten alle Klassiker die allgemeingültigen Entwicklungsvoraussetzungen und -prinzipien eruieren. Auguste Comte formulierte ein Dreistadiengesetz, das sich an den institutionellen Strukturen der jeweiligen Gesellschaftsstufen orientiert und insbesondere die jeweils dominierende Art des Denkens und Wissens ins Zentrum stellt (vgl. Comte 1956: 5-41 u. 1974: 144-166). Die Modernisierung entwickelt sich demzufolge vom theologischen über das metaphysische zum positiven Stadium, wobei jedes Stadium einen geistig-emphatischen Fortschritt mit sich bringt: die Herrschaft der Theologen und Militärs schafft die gemeinsame moralisch-ethische Ordnung und den inneren Zusammenhalt früher Gesellschaften; die Übergangsherrschafit der metaphysischen Philosophen und Juristen dynamisiert die Gesellschaft durch die aktive Gestaltung einer durch Menschenhand gemachten Ordnung und die Orientierung an den Potentialen und Grundrechten des einzelnen Individuums; die Herrschaft der Industriellen und Wissenschaftler führt die Gesellschaft schließlich aus der potentiellen Anarchie der vorherigen Stufe mit ihrem Kampf der individuellen Rechte und Interessen in eine endgültig stabile und dynamische Ordnung. Denn dieses positive Stadium ist nicht nur wissenschaftlich und industriell leistungs- und entwicklungsfähiger. Eine solche Gesellschaft stellt auch eine moralisch-ethische Ordnung dar, die alle Individuen als Mitglieder eines vernünftigen und rationalen Ganzen zusammenfuhrt (vgl. Comte 1956: 57-67 u. 1974: 320-84). Herbert Spencer argumentierte, daß sich die Gesellschaften durch die Zusammenfassung kleinerer Gruppen in einfach, zweifach und mehrfach zusammengesetzte Großgruppen fortentwickeln, wobei er zwei grundlegende Endpunkte gesellschaftlicher Modernisierung ausmachte: eine militärische Gesell-

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schaftsform, in der die Individuen in eine gemeinsame (politische, religiöse, sittliche etc.) Ordnung zum Wohl Aller hineingezwungen werden; eine industrielle Gesellschaftsform, in der die Individuen freiwillig kooperieren und damit eine auf autonome Vereinbarungen und Wechselbeziehungen basierte Ordnung schaffen (vgl. Spencer 1899: 549-575). Auf der primitiven Stufe dominiert die Allgemeinheit über das Individuum, womit der regulierende Führungsapparat oder Staat zum Kern gesellschaftlicher Ordnung wird. Auf der entwickelten Stufe leitet sich das Allgemeinwohl vom individuellen Wohlergehen ab, weshalb der Markt und die freiwillige Kooperation zur Grundlage gesellschaftlicher Ordnung wird - eine Ordnung, die sich aufgrund der höheren Leistungsfähigkeit auch gegenüber den einfacheren Vorläufern durchsetzen wird (vgl. Spencer 1899: 598-600). Emile Dürkheim entwickelt in kritischer Auseinandersetzung mit Herbert Spencer und Auguste Comte eine Theorie gesellschaftlicher Differenzierung und Arbeitsteilung, die sich insbesondere für die spezifisch 'moderne' Form sozialer Ordnung oder Integration, hier insbesondere für die eigene Moral oder Solidarität arbeitsteiliger Gesellschaften interessiert. Dürkheim benennt hierfür zwei Gesellschaftsmodelle, die als Endpunkte der gesellschaftlichen Entwicklung verstanden werden können. Einfache Gesellschaften kennzeichnen sich durch eine mechanische Solidarität, durch welche die Individuen ganz an die Gruppe angebunden und ihrem Kollektivbewußtsein einverleibt werden. Die Solidarität basiert auf der Ähnlichkeit der Menschen, die auch durch eine durchweg repressive Sanktionierung von Abweichungen bestätigt und gestärkt wird (vgl. Dürkheim 1992: 118-161). Moderne Gesellschaften hingegen charakterisieren sich durch eine organische Solidarität, die auf der Arbeitsteilung und auf der Spezialisierung der Menschen auf jeweils eigene Tätigkeiten und Aufgaben beruht. Die Moral basiert hier auf der gegenseitigen Abhängigkeit, der Kooperation und der darin zum tragen kommende Vertragssolidarität zwischen autonom agierenden Individuen (vgl. Dürkheim 1991: 242-253 u. 1992: 162-184 u. 263-276). Die Arbeitsteilung bringt damit eine neue Moral hervor, die den Zusammenhalt der modernen Gesellschaft erhöht, da sie die solidarischen Bande zwischen den Menschen ausweitet und intensiviert. Karl Marx formuliert ein 'Stufenmodell', das sich weniger an analytischen Stadien orientiert, sondern vielmehr gängige historische Epochen zugrunde legt (z.B. Frühzeit, Feudalismus, Merkantilismus, Kapitalismus), um spezifische Merkmale der jeweiligen Entwicklungsstufe zu benennen und zugrunde liegende Entwicklungsmuster herauszuarbeiten (vgl. Marx/ Engels 1983a: 50-61). Dabei ging es ihm und Friedrich Engels primär um eine materialistische Rekonstruktion der Geschichte, die folglich nicht auf die Entwicklung des menschlichen Geistes und seiner Vernunft, der menschlichen Vorstellungen, Ideen und Lehren abhebt. Vielmehr interessiert sie, wie die Menschen im Laufe der Geschichte ihre materielle Lebensgrundlage sicherten, wie sie die Waren und Güter zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse produzierten und wie sich diese Entwicklung der Produktionsformen und -kräfte auf die Entfaltung der menschlichen Bedürfnisse, der Formen des menschlichen Zusammenlebens und der gesellschaftlichen Verhältnisse auswirkte (vgl. Marx/ Engels 1983a: 28-36). Besondere Aufmerksamkeit

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schenkte Marx dem Übergang von der feudalen über die merkantile zur kapitalistischen Gesellschaft, der durch eine dramatische Umwälzung der Produktionskräfte und Eigentumsverhältnisse gekennzeichnet war. Denn die Technisierung, Verwissenschaftlichung und Ökonomisierung der Produktion mit ihrer stetig wachsenden Arbeitsteilung ging mit einer Konzentration der Produktionsmittel in den Händen einer immer kleiner werdenden Zahl von Kapitalisten einher womit Widersprüche zum tragen kommen, die den Kapitalismus und die bürgerliche Gesellschaftsform periodischen Wirtschaftskrisen und Klassenkämpfen aussetzen (vgl. Marx/ Engels 1983b). Max Weber hat diese Beschreibung ergänzt, denn auch wenn diese materialistische Geschichtsdeutung eine gewisse Berechtigung besitzt, übersieht sie doch seiner Meinung nach die Eigenständigkeit anderer Rationalisierungsebenen der modernen Gesellschaft, wie sie etwa im Bereich der religiösen Weltdeutungen und der praktischen Lebensführung zu beobachten sind. Zudem ging es Weber nicht um eine pauschale Charakterisierung moderner Gesellschaften, würde dies doch die innere Komplexität dieser Ordnungen vereinfachen. So ist für Weber zwar unverkennbar, daß sich im Westen eine Ablösung von der Magie, dem Charisma religiöser oder politischer Führer und den fest umrissenen Traditionen hin zu einer rationalisierten, systematisierten und objektiv-kalkulierbaren Ordnung vollzogen hat (vgl. Weber 1988a: 536-548). Er ist aber primär daran interessiert zu zeigen, wie sich diese Entwicklung in den einzelnen Bereichen der Religion, der Wirtschaft, Herrschaft oder der praktischen Lebensführung genau konkretisiert. So argumentiert Weber beispielsweise, daß sich Herrschaftsformen im Verlauf der Entwicklung immer weniger auf charismatische Führer und unverrückbare Traditionen stützen. Statt dessen etabliert sich ein rationaler Herrschaftstypus, der sich an der formalen Legalität des Handelns orientiert und durch einen an das Dienstrecht und die Disziplin gebundenen bürokratischen Herrschaftsapparat getragen wird (vgl. Weber 1980: 125-142 u. 1988b). Diese legal-bürokratische Herrschaftsform ist berechenbarer und angesichts der heutigen Massengesellschaften mit ihren wachsenden Regulierungsaufgaben auch technisch überlegen (vgl. Weber 1980: 551-579). Entscheidend für Weber ist allerdings, daß dieser Rationalisierungsprozeß in den einzelnen Bereichen oder Sphären Eigengesetzlichkeiten schafft, die untereinander 'kompatibel' sein können (z.B. beim Verhältnis zwischen kapitalistischer Wirtschaft und bürokratischem Staat), die aber auch zu systematischen Spannungen führen können (z.B. zwischen religiöser Ethik und der politischen oder wirtschaftlichen Ordnung). Georg Simmel schließlich ist ebenso wie Weber nicht an hermetischen Stufenmodellen oder Stadiengesetzen interessiert, ebenso wenig war er auf die pauschale Kennzeichnung der modernen Gesellschaft aus. Seiner formalen Soziologie entsprechend hat er primär die verschiedenen Formen zwischenmenschlichen Handelns untersucht, etwa im Hinblick auf seine Soziologie sozialer Kreise und sozialer Gruppen, gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Differenzierung, der Geldwirtschaft und dergleichen mehr. Seine verschiedenen Studien lieferten ihm somit Anschauungsmaterialien für die Genese einer spezifisch

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modernen Vergesellschaftungsform, die er allerdings primär in seinen verschiedenen Aspekten beleuchtete. Im Hinblick auf die sozialen Kreise, aus denen Gesellschaften bestehen, argumentierte er zum Beispiel, daß es zu einer stetigen Differenzierung und Kreuzung dieser Kreise kommt. Vergesellschaftung und Individualisierung sind für ihn zwei Seiten einer Medaille, strukturiert sich doch die Gesellschaft durch ein kompliziertes Netz überlappender Kreise (Familie, Ausbildung, Arbeit, Freizeit, Vereinstätigkeiten etc.), in dem die einzelnen Gesellschaftsmitglieder eine eigene, individuelle Position einnehmen (vgl. Simmel 1992b: 456-511). Gleichzeitig arbeitete er in seinen Studien zur Arbeitsteilung und Geldwirtschaft eine weitere Form sozialer Beziehungen heraus, die der Vergesellschaftung und Individualisierung einen eigenen Impuls gibt, befreit sie das Individuum doch aus festen, überlieferten Sozialbeziehungen, um es als autonomes Wirtschaftssubjekt einer integrierten Volkswirtschaft einzuverleiben. Somit stellt sie aber soziale Wechselbeziehungen auf eine objektive Grundlage, deren Zwänge und Unfreiheiten wir bereits kurz genannt haben (vgl. Simmel 1999). Die moderne Gesellschaft basiert damit auf verschiedenen Formen der Vergesellschaftung, die alles in allem die Gesellschaft aus "ihrer festen, substantiellen und stabilen Form in den Zustand der Entwicklung, der Bewegung, der Labilität" (Simmel 1983: 92) überführt. 3. Alle Klassiker waren der Meinung, daß man die Struktur der industriellen oder modernen Gesellschaft besser versteht und erklären kann, wenn man ihre Geschichte kennt und analysiert. Damit unterstellen sie ein hohes Maß an geschichtlicher Kontinuität; gleichzeitig legen sie ausgeprägte Kausalitätsannahmen zugrunde, wonach das Gestern eine Ursache für das Heute oder Morgen ist. Diskutieren Sie diese Prämisse, insbesondere vor dem Hintergrund der in den folgenden Kapiteln vorgestellten Überlegungen (z.B. Foucault, Giddens oder Baumann). Gibt es geschichtliche Brüche, durch die der Strom der Geschichte unterbrochen wird? Wenn dies der Fall ist, ist die Entwicklung der Gesellschaft wieder offener und formbarer. Was bestimmt dann aber die Struktur unserer Gesellschaft, wenn es nicht nur die Geschichte alleine ist? 4. Die jüngeren Klassiker sind immer stärker von der Idee abgerückt, daß die Geschichte klaren Prinzipien oder Gesetzen folgt. Wer hat nun recht? Kann man von einer zentralen Linie gesellschaftlicher Entwicklung sprechen oder muß man eher von verschiedenen (widersprüchlichen) Verläufen ausgehen? Wenn dies aber stimmt, in welcher Beziehung stehen die 'Verläufe' zueinander?

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3.2. Triebkräfte und Faktoren der Modernisierung Wie sich an dieser groben Skizze erkennen läßt, ist die Vorstellung allgemeingültiger Stufen gesellschaftlicher Entwicklung, d.h. die Idee eines Stadiengesetzes, allmählich aufgegeben worden. Statt dessen wird verstärkt auf die Vielschichtigkeit und z.T. Widersprüchlichkeit der Modernisierung und der modernen Gesellschaft verwiesen. Dennoch ist es offenkundig, daß die genannten Klassiker am Prozeß der Modernisierung selbst interessiert waren, sahen sie in der geschichtlichen Entwicklung doch einen ganz wesentlichen Schlüssel für eine treffende Beschreibung und Erklärung der heutigen Gesellschaft und für eine angemessene Prognose der zukünftigen Verhältnisse. Jeder Klassiker setzte dabei eigene Schwerpunkte, die auch mit ihren Erklärungsstrategien zusammenhängen. Denn je nachdem, welche Gesetze oder Triebkräfte sie untersuchten, wandelte sich das Bild, das sie von ihrer Gesellschaft zeichneten. Das Schaubild 2 versucht das vorangegangene Diagramm in diesem Sinne weiterzuentwickeln, denn es trägt die dargelegten Modernisierungsprozesse und -aspekte zusammen, um sie durch zentrale Erklärungsdimensionen zu ergänzen. Einfache Gesellschaften mit ihrer basalen Integrationsform beginnen sich durch eine Reihe von Veränderungsanstößen weiterzuentwickeln. Hier lassen sich, erstens, Umweltbedingungen nennen, die für Herbert Spencer ein ganz wesentliches Element des Modernisierungsprozesses sind. Zum einen ist es die natürliche Umwelt mit ihren geographischen und klimatischen Besonderheiten, die sich auf die Entwicklung einer Gesellschaft auswirkt. Denn diese Umweltbedingungen erschweren oder erleichtern das Überleben und die Fortentwicklung der Gesellschaft, gleichwie sie auch bestimmte Produktionsformen und Fertigkeiten, Besiedlungsformen und Handelsströme determinieren. Zum anderen verweist er aber auch auf die soziale Umwelt, hier insbesondere auf andere Gesellschaften, die für die Fortentwicklung der betreffenden Gruppen entscheidend sind (z.B. durch Handel, Krieg, Verwandtschaftsbeziehungen). Zweitens wird immer wieder auf demographische Entwicklungen verwiesen: z.B. auf die Vergrößerung der Gesellschaften durch den (gewaltsamen) Zusammenschluß mehrerer Gruppen (vgl. Spencer 1899: 463-470) oder auf die zunehmende Bevölkerungsdichte (vgl. Dürkheim 1992: 314-22); aber auch auf die Auswirkungen einer kurzen Lebenserwartung und der durch die schnellere Generationenabfolge angestoßene Fortentwicklung der Gesellschaften (vgl. Comte 1974: 140-143). Drittens wird auch auf das Individuum mit seinen sich entwickelnden physischen und geistig-emotionalen Fähigkeiten verwiesen, etwa in dem Sinne, daß der Mensch zum zwischenmenschlichen Zusammenleben - durch seine motorischen Fähigkeiten, seine sozialen Kompetenzen, sein Streben nach Glück, seinen intellektuellen und emotionalen 'Haushalt' - im Laufe der Modernisierung immer mehr befähigt wird und durch die Entfaltung seiner intellektuellen und

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Schaubild 2: Modernisierungsprozesse und -faktoren Basale Integration Die Einheit der militärischen, religiösen, sozialen, ökonomischen etc. Bereiche • •

Veränderungsanstöße: Umweltbedingungen, demographische Veränderungen, geistig-emotionale Entwicklung des Menschen, Kraftersparnis, Widerspruchsfreiheit, Akkumulation

0 Differenzierung (z.B. Arbeitsteilung)

stratifikatorische Gliederung

v

«

funktionale Gliederung

V

Integration hierarchische organische Ordnung Ordnung

«

Versachlichung sozialer Handlungen und Beziehungen

Rationalisierung

Objektivierung

v

v

Integration sachlich-unpersönliche Ordnung (z.B. Bürokratie, Geldwirtschaft)

emotionalen Kapazitäten den gesellschaftlichen Fortschritt seinerseits anstößt (vgl. Spencer 1899: 41-93; Comte 1956: 149-157 u. 1974: 139-140). Die Annahme, daß das gesellschaftliche Zusammenleben und die Fortentwicklung der Gesellschaft bereits im Menschen angelegt sind, ist von den späteren Autoren allerdings als eine unbotmäßige Vereinfachung, die zudem wissenschaftlichsoziologisch nicht belegt oder widerlegt werden kann, abgelehnt worden. So stimmt zwar Emile Dürkheim der Beobachtung zu, daß der Mensch im Laufe der Geschichte seinen kognitiv-geistigen und emotionalen 'Haushalt' stetig ausdifferenzieren konnte. Dies ist aber nicht eine Ursache, sondern ganz im Gegenteil

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eine Folge der Modernisierung, denn der Mensch paßt seine individuellen Persönlichkeitsstrukturen den 'morphologischen' Strukturen seiner Gesellschaft an (vgl. Dürkheim 1992: 410-417; Dürkheim/ Mauss 1987). Damit wurde die aktive Mitwirkung des Individuums aber nicht gänzlich ausgeschlossen. Denn der Mensch ist zwar ein gesellschaftliches Wesen und daher in seiner Art und seinem Charakter von der Gesellschaft geprägt. Als denkendes und fühlendes Wesen aber kann er doch auch die Gesellschaft, die ihn geprägt hat, zugleich beeinflussen und formen. So hat Max Weber die Intentionen und Sinnbezüge des handelnden Individuums verstehend zu ermitteln versucht, um Veränderungsprozesse und Gesellschaftsstrukturen angemessen beschreiben und erklären zu können. Auf der Ebene der Weltdeutungen zum Beispiel setzte sich der Mensch nach Webers Meinung immer schon mit theologischen oder ethischen Lösungen des Problems der Theodizee und der Unvollkommenheit der Welt auseinander, und die hier entwickelten Lehren und Ethiken der Intellektuellenkasten führten zur Fortentwicklung und Rationalisierung der Gesellschaften. So hat Weber argumentiert, daß die protestantisch-calvinistischen Kongregationen Englands eine Brutstätte des Kapitalismus waren, entwickelten diese doch eine religiös inspirierte Berufs- und Arbeitsethik, die dem kapitalistischen Wirtschaften zum Durchbruch verhalf (vgl. Weber 1988a: 163-205 u. 1980: 314-319). Marx und Engels hingegen argumentieren, daß die Geschichte vor allem durch die Notwendigkeit der materiellen Lebenserhaltung vorangetrieben wird. Insbesondere das Bevölkerungswachstum und die steigenden Bedürfnisse des Menschen schaffen die Notwendigkeit einer Fortentwicklung der Produktionsmittel und -kräfte (z.B. neue Rohstoffe und Techniken), die sich dann in technischen Erfindungen, neuen Produktionsverfahren und Eigentumsverhältnissen materialisiert. Hier ist es der Mensch mit seinen materiellen Bedürfnissen und der dadurch angestoßene technisch-ökonomische Fortschritt bei der Produktivitätssteigerung, der die gesellschaftliche Entwicklung im Fluß hält. Viertens läßt sich ein weiterer Faktor benennen, der sich weniger auf konkrete Triebkräfte oder Variablen bezieht, sondern mehr auf eine spezifische Logik oder Dynamik der Modernisierung. So spricht Spencer (vgl. 1901: 197225) vom Prinzip der Kraftumwandlung, durch das natürliche und soziale Systeme 'energetisch' eng miteinander verknüpft sind, und durch das sich Gesellschaften immer dem Weg des geringsten Widerstandes entsprechend entwickeln. Denn Gesellschaften schreiten vorwärts, um äußere Reibungen und inneren Energieverlust (etwa bei der Produktion von Waren und Dienstleistungen, bei der Distribution oder Verteilung dieser Produkte oder bei der Form des Regierens und Verwaltens) zu begrenzen. Eine effektivere Kraftumwandlung kann nur durch eine größere Differenzierung der Gesellschaft gesichert werden, denn die Arbeitsteilung erlaubt es, die Gesellschaft an die vielfältigen Umweltbedingungen und -einflüsse durch funktionale Spezialisierung anzupassen (z.B. bei den Küstenbewohnern, die aufgrund ihrer geographischen Lage Fischerei und Handel betreiben), wiewohl hierdurch auch interne Reibungen abgebaut werden können (z.B. durch Berufe, die sich auf spezielle Aspekte des zwischenmenschlichen

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Zusammenlebens spezialisieren: Verwaltungsbeamte, Richter, Priester etc). Dieses Argument taucht auch in Dürkheims Studie zur Arbeitsteilung auf, denn hier argumentiert er, daß die gestiegene Bevölkerungszahl und -dichte zu einem erhöhten Konkurrenz- und Überlebenskampf fuhrt, der im Laufe der Modernisierung durch eine stetige Ausdifferenzierung spezialisierter Tätigkeiten befriedet wird. Und Georg Simmel spricht von diesem Effekt als einer Spielart des allgemeinen Prinzips der Kraftersparnis, denn die Arbeitsteilung ist für ihn ein Mittel der Reibungsminderung. "Unzählige Kräfte gehen da verloren, wo die Arbeitsteilung noch nicht jedem ein gesondertes Gebiet angewiesen hat, sondern der Anspruch an das gleiche, gewissermaßen noch nicht aufgeteilte, den Wettbewerb entfesselt" - was folglich dazu führt, "daß Kräfte verbraucht werden, um andere Kräfte lahmzulegen" (Simmel 1983: 69). Schließlich läßt sich bei Weber erkennen, daß er zwar von keinem allgemeinen Prinzip der Kraftumwandlung oder -ersparnis ausging. Seine Rationalisierungsannahme allerdings folgt der Vorstellung, daß der Erfolg zu einem primären Kriterium und zu einer zentralen Leitlinie der weiteren Entfaltung gesellschaftlicher Teilbereiche (z.B. der Wirtschaft oder des Staates) wurde. So schreibt er etwa im Bezug auf die legalbürokratische Rationalisierung der Herrschaft: "Sachlich, 'ohne Ansehen der Person' ..., ohne Haß und Liebe, verrichtet der bureaukratische Staatsapparat und der ihm eingegliederte rationale homo politicus, ebenso wie der homo oeconomicus, seine Geschäfte einschließlich der Bestrafung des Unrechtes gerade dann, wenn er sie im idealsten Sinne der rationalen Regeln staatlicher Gewaltordnung erledigt. Denn der gesamte Gang der innerpolitischen Funktionen des Staatsapparates in Rechtspflege und Verwaltung reguliert sich trotz aller 'Sozialpolitik' letzten Endes unvermeidlich stets wieder an der sachlichen Pragmatik der Staatsräson: an dem absoluten ... Selbstzweck der Erhaltung" (Weber 1988a: 546-547). Der Erfolg und nicht der Eigenwert einer Ordnung wird zum Kriterium seiner Weiterentwicklung und Existenz. Kommen wir zur ursprünglichen Konzeption der Arbeitsteilung zurück, so teilten Comte und Spencer die Überzeugung, daß die Differenzierung der Gesamtgesellschaft zugute kommt, da jedes Mitglied und jeder Teilbereich spezifische Aufgaben und Funktionen übernimmt, die komplementär zueinander stehen, sich ergänzen und voneinander abhängen. Diese Gliederung der Gesellschaft ist damit vor allem funktional. Comte, vor allem aber Spencer verband mit der Arbeitsteilung deshalb eine durchweg optimistische Sicht auf gesellschaftliche Ordnungen. Die späteren Klassiker haben sich von dieser Vorstellung schrittweise zurückgezogen, galt ihnen diese optimistische Beschreibung der arbeitsteilig-funktionalen Gliederung der Gesellschaft als allzu verkürzt. Emile Dürkheim zum Beispiel rückte ein Stück von dieser Argumentation weg, als er darauf hinwies, daß sich diese funktionale Gliederung nicht durchgesetzt hat, weil sie nützlicher sei. Denn der gesteigerte Nutzen dieser arbeitsteiligen Ordnung kann keine Ursache der gesellschaftlichen Modernisierung sein, da sich gesellschaftlicher Wandel so intentional gar nicht steuern läßt. Damit verwies er darauf, daß eine funktionale Gliederung nicht immer nützlich sein muß - auch wenn sich ein Nutzen nachträglich durchaus einstellen kann. "Das heißt nicht, daß die Zivilisation zu nichts nütze wäre; aber sie schreitet nicht wegen der Dienste fort, die sie

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leistet. Sie entwickelt sich, weil sie nicht anders kann, als sich zu entwickeln. Nachdem diese Entwicklung verwirklicht ist, ist sie im allgemeinen auch nützlich, oder zum mindesten wird sie genützt." (Dürkheim 1992: 402) Es ist aber nicht auszuschließen, daß sich die Gesellschaft auch falsch entwickeln kann, d.h. pathologische oder anomische Zustände annimmt (vgl. Dürkheim 1992: 421-465 u. 1984: 141-164). Max Weber distanzierte sich seinerseits noch weiter von dieser funktionalen Sichtweise. Denn seiner Rationalisierungsthese folgend argumentierte er, daß sich die Gesellschaft in eigene Sphären (religiöse Ethik, Wirtschaft, Staat, Kunst etc.) ausdifferenzierte und daß sich in jedem Teilbereich Eigengesetzlichkeiten einstellen. Insbesondere zwischen religiösen Weltdeutungen und den durchrationalisierten institutionellen Sphären der Wirtschaft oder der Politik ergeben sich deshalb prinzipielle Spannungsverhältnisse. Beispielsweise gerät "jede rationale ethische Religiosität in Spannung mit dem Kosmos des politischen Handelns, sobald eine Religion dem politischen Verband gegenüber überhaupt einmal Distanz gewonnen hat." (Weber 1980: 355) Diese Widersprüche und Spannun-gen werden von Weber aber nicht per se als schlecht oder problematisch bewertet, boten doch die religiöse Ethik des Okzidents mit ihrer weltablehnenden Orientierung und die damit einhergehenden Spannungen zur Welt "ein starkes dynamisches Entwicklungsmoment." (Weber 1980: 350) Dürkheim und Weber haben trotz aller Vorbehalte gegen die fortschrittsoptimistische Bewertung einer funktionalen Gliederung argumentiert, daß die Differenzierung und Rationalisierung eine Leistungs- und Effektivitätssteigerung mit sich bringt, die für umfangreiche und hochkomplexe Gesellschaften überlebensnotwendig ist. In gewisser Hinsicht klingen hier die Vorstellungen der klassischen politischen Ökonomie nach, wonach die arbeitsteilige Differenzierung Reibungen und Konflikte mindert und somit zu einer 'Harmonisierung' der spezialisierten Tätigkeiten fuhrt. Denn dieser Theorietradition zufolge ist der Wettbewerb der Menschen, ihrer Interessen und Tätigkeiten unter diesen Voraussetzungen nicht mehr ein Überlebenskampf zwischen Gleichen zum Schaden aller, sondern eine Kooperation zwischen Ungleichen zum gemeinsamen Nutzen (Adam Smith). Gegen diese Meinung hat sich insbesondere Karl Marx gewandt, denn er hat diese seiner Meinung nach idyllische Weltsicht der politischen Ökonomie heftig attackiert. Für ihn war die Arbeitsteilung Folge gewaltsamer Umwälzungen und die damit einhergehende Kooperation der Menschen eine im Produktionsprozeß erzwungene und asymmetrisch organisierte Zusammenarbeit. Für ihn war die Arbeitsteilung und die damit zusammenhängende funktionale Gliederung nicht das Kennzeichnende der kapitalistischen Gesellschaft, denn die Ausdifferenzierung verschiedener Tätigkeiten und Aufgaben ging mit der ungleichen Verfugung über die Produktionsmittel einher. Nicht die Frage, wie die Arbeit verteilt wird, ist hier entscheidend. Vielmehr sind die Eigentumsverhältnisse für ein Verständnis der kapitalistischen Gesellschaft zentral, bestimmen sie doch, wer aus der eigenen oder fremden Tätigkeit welchen Nutzen ziehen kann (vgl. Marx/ Engels 1983a: 32-35). Die funktionale Gliederung der arbeits-

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teiligen Gesellschaft war für ihn deshalb nur die Fassade einer stratifikatorischen und hierarchischen Gliederung zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen, die gleichzeitig auch eine hierarchische Gliederung zwischen den Herrschenden und den Beherrschten mit sich brachte (Marx/ Engels 1983 a: 6170 u. 1983b). Diese Eigentumsverhältnisse sind auch der Grund für die Widersprüche und die Krisenanfälligkeit der kapitalistischen Gesellschaft. Denn die Entstehung von Manufakturen im Laufe der Frühindustrialisierung, spätestens aber die Fabriken des modernen Kapitalismus brachten eine Vielzahl von Menschen in einen hochgradig mechanisierten, arbeitsteiligen Kooperations- und Produktionsprozeß zusammen. Diese Technisierung und Ökonomisierung der Produktion ging mit einer Konzentration des Kapitals in den Händen eines immer kleiner werdenden Kreises von Kapitalisten einher (vgl. Marx 1984a: 416-461). Nicht die Kraftersparnis, Leistungssteigerung und Effizienz stehen folglich hinter der gesellschaftlichen Fortentwicklung, zeichnet sich doch der moderne Kapitalismus auch gerade durch seinen extremen Raubbau an Mensch und Natur wie auch durch eine "Brachlegung und selbst eine teilweise Vernichtung von Kapital" (Marx 1984b: 263) und Waren aus. Eigentlicher Motor der bürgerlichen Gesellschaft ist demgegenüber die Kapitalakkumulation, die derart zum Selbstzweck der bürgerlichen Gesellschaft geworden ist, daß es zu schwerwiegenden Folgestörungen (unkontrollierbare Ausweitung der Produktion, fallende Profitraten, allgemeine Krisen und Klassenkämpfe) kommt. Vor diesem Hintergrund läßt sich ein letzter Entwicklungsfaktor in der Argumentation der Klassiker ausmachen. So geht Marx davon aus, daß sich die Produktionsmittel und -kräfte (z.B. die technisch und ökonomisch rationalisierte Fabrikarbeit) bei fortschreitender Entwicklung immer stärker mit den einmal etablierten Produktionsverhältnissen (z.B. den kapitalistischen Eigentumsformen) reiben. "Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist." (Marx 1984a: 791) Die damit einhergehenden Krisen und der so aufgestaute Veränderungsdruck entlädt sich geschichtlich in revolutionären Konflikten, die das Zeitalter einer neuen Gesellschaftsform einläuten. "Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften ist die Geschichte von Klassenkämpfen." (Marx/ Engels 1983b: 462) Konflikte sind in diesem Sinne ein wichtiger Motor gesellschaftlicher Entwicklung, auch wenn diese nicht immer revolutionäre Ausmaße annehmen müssen. Dieses Argument, das Marx gegen die seiner Meinung nach harmoniesüchtige politische Ökonomie stark macht, wird aber auch von den anderen Klassikern aufgeführt. Comte und Spencer z.B. sehen in (kriegerischen) Konflikten einen notwendigen Geburtshelfer der vormodernen Gesellschaften. Allerdings waren sie der Meinung, daß der Siegeszug der industriellen Gesellschaft (kriegerische) Konflikte überflüssig macht und damit einem dauernden sozialen Frieden zum Durchbruch verhilft (vgl. Spencer 1899: 549-575 u. 598-600; Comte 1956: 57-67 u. 149-157 u. 1974: 320-384). Nicht nur Marx, sondern auch Weber und Simmel gingen demgegenüber davon aus, daß Konflikte auch gerade für die moderne Gesellschaft kennzeichnend sind. Für Simmel etwa sind Konflikt und Eintracht aufeinander bezogene und aufeinander aufbauende Verhältnisse

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oder Zustände gesellschaftlicher Entwicklung. "Im Nacheinander wie im Nebeneinander des gesellschaftlichen Lebens verschlingen sie sich derartig, daß sich in jedem Friedenszustand die Bedingungen für den künftigen Kampf, in jedem Kampf die für den künftigen Frieden herausbilden." (Simmel 1992b: 369) Und Weber betonte, daß der von ihm behandelte Rationalisierungsprozeß auch gerade auf das (streitbare) Handeln konkreter Personenkreise, Klassen oder Gemeinschaften zurückgeführt werden kann. Denn diese verhalfen (nach Maßgabe eigener Interessenlagen) einem konkreten Herrschafts- oder Wirtschaftsbetrieb sowie einer spezifischen Weltanschauung oder Lebensführung (auch gewaltsam) zum Durchbruch und verschafften dieser Ordnung (auch gegen Widerstand) eine Geltung bzw. Legitimation (vgl. Weber 1980: 516-540 u. 1988a: 17-83). Jeder Schritt hin zur modernen Gesellschaft ist den Klassikern zufolge somit geschichtlich erkämpft worden, wobei dieser immerwährende Kampf nicht notwendigerweise der individuellen Selbstbestimmung und gesellschaftlichen Vervollkommnung zuarbeiten mußte, sondern auch den gesellschaftlichen Eigengesetzlichkeiten, Widersprüchen oder Paradoxien zur Hand ging. 5. Wir hatten bereits festgestellt, daß die Klassiker in der Geschichte moderner Gesellschaften bestimmte Prinzipien oder Eigengesetzlichkeiten am Werk sehen. Damit wird unterstellt, daß sich die moderne Gesellschaft auch unabhän gig vom Willen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder (damit auch der Herrscher, Erfinder oder Denker) entwickelt hat. Der geschichtliche Verlauf folgt einer kollektiven, unpersönlichen oder sachlichen Eigenlogik (Kraftersparnis und Effizienzsteigerung, Objektivierung und Rationalisierung etc.), die den Veränderungswünschen und revolutionären Bemühungen des Einzelnen als einschränkender oder hemmender Faktor gegenübersteht. Nehmen Sie zu dieser Position Stellung und überlegen Sie anhand konkreter geschichtlicher Ereignisse, ob diese Sichtweise nachzuvollziehen ist. Hierbei empfiehlt sich die Lektüre von Leo Tolstois' "Krieg und Frieden" (insbesondere der Anfang des zehnten Kapitels). Denn Tolstoi argumentiert, daß die napoleonischen Kriege und die Neuordnung Europas am Anfang des 19. Jahrhunderts nicht von Napoleon, Zar Alexander und anderen bestimmt wurde, sondern durch das Zusammentreffen einer Vielzahl von (Kleinst-) Ereignissen / ¡lail j oder Interventionen, was der Idee einer gesieuer ten oder 'geregelten' Entwicklung geradewegs widerspricht. Wägen Sie beide Positionen einmal gegeneinander ab.

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6. Die behandelten Beschreibungen der geschichtlichen Entwicklung und der gesellschaftlichen Ordnung enthalten zwei untergründige bi/jhhtrange So wird darauf hingewiesen, daß die Gesellschaft auf der gemeinsamen Arbeit, dem Tausch und i lande! :m iscl en den Men eben ben hl Hier ist alsc der Markt die Ökonomie oder der Industrialismus Grundlage oder Basis gesellschaftlicher Ordnung. Ebenso wird aber darauf verwiesen, daß der Streit und Konflikt ein ebenso relevanter Faktor gesellschaftlicher Entwicklung ist. Hier also scheint der politische Kampf, die Revolution oder gar der Krieg der Vater gesellschaftlicher Ordnung zu sein. Stimmt diese Gegenüberstellung von friedlichen und kriegerischen, harmonischen und konfliktbesetzten Mechanismen überhaupt? Überprüfen und diskutieren Sie, wie Spencer (1899: 549-575) und Comte (1974: 144-166) sowie Weber (1980: 199-211) und Marx/ Engels (1983a: 50-70) das Verhältnis dieser beiden Faktoren beschreiben und gewichten.

4. Mit der Moderne zufrieden? Differenzierung, Objektivierung und Rationalisierung sind Schlagwörter, mit denen die Klassiker auf einen Prozeß der Strukturierung und Verfestigung des menschlichen Zusammenlebens im Hinblick auf das Überleben des Gesamtkollektivs verweisen. Um überleben und sich entfalten zu können, entwickeln Gesellschaften eigene 'Bedürfnisse', Strukturen, Zwänge oder Dynamiken, die nicht unbedingt mit den Bedürfnissen, Zielen und Wünschen der Individuen übereinstimmen müssen, da sie eben einer eigenen, kollektiven Natur entsprechen. Es ist also das Zusammenwirken der Individuen, das eine gesellschaftliche Wirklichkeit schafft, die dem Individuum als eigene Realität gegenüber tritt. Das heißt, das gesellschaftliche Zusammenwirken der Individuen etabliert einen kategorialen Unterschied zwischen Individuum und Gesellschaft, und mit dieser Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft haben sich die Klassiker immer wieder im Hinblick auf eine angemessene Beschreibung und Bewertung der modernen Gesellschaft beschäftigt. Für alle Klassiker stand es dabei außer Frage, daß der Mensch ein soziales Wesen ist, denn dadurch, daß das Individuum in und durch die Gesellschaft lebt, ist es auch von dieser kollektiven Realität geprägt und sozialisiert. Allerdings verweisen die Klassiker auch darauf, daß sich das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft im Prozeß der Modernisierung selbst verändert. Denn das Gesellschaftsmitglied ist zwar als Person schon immer eine Einheit des gesellschaftlichen Kollektivs gewesen: Gesellschaften haben folglich schon immer durch ihre Mitglieder gehandelt, denn nur der Mensch kann (für die Gesellschaft) denken, fühlen und handeln. Allerdings haben wir bereits erwähnt, daß Spencer, Comte und Dürkheim davon ausgingen, daß der Mensch erst im Laufe der Modernisierung diejenigen motorischen, emotionalemphatischen und kognitiv-intellektuellen Qualitäten erlangte, die ihn heute auszeichnen und die ihn dazu befähigen, die heutige, hochkomplexe Gesellschaft am Leben zu halten (vgl. Comte 1956: 149-157). Zudem ist das Gesellschaftsmitglied erst im Laufe der Modernisierung zu einem Träger einer eigenen Individualität oder individuellen Persönlichkeit geworden (vgl. Dürkheim 1992:

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410-417; Simmel 1992b: 464-489). Denn in hochdifferenzierten Gesellschaften kommt es notwendigerweise zur Heraustrennung des Individuums aus festen und überschaubaren Gemeinschaften und Kreisen, weshalb jedes Gesellschaftsmitglied zu einem Träger eigener, spezialisierter Rollen und Fertigkeiten oder einer einmaligen Kombination verschiedener Rollen und Gruppenzugehörigkeiten wird. Die Individualität heutiger Prägung ist demnach Produkt der Modernisierung und bringt dem Menschen ein Mehr an Autonomie, Selbstentfaltung und Lebenserhaltung. Dies ist allerdings nur die eine Seite der Medaille. Denn einerseits haben wir zu dieser Individualität keine Alternative, solange die Gesellschaft auf eben diese Individualität zum eigenen Fortbestand angewiesen ist. Unsere Vorfahren durften keine Individuen sein, wir müssen es sein. Hochkomplexe Gesellschaften sind nämlich auf die Kooperation und das Zusammenwirken spezialisierter Individuen mit ihren je eigenen Aufgaben und Funktionen, Rollen und Fertigkeiten, Gruppenmitgliedschaften und Lebensräumen angewiesen. Zum anderen haben wir bereits darauf verwiesen, daß Gesellschaften Prozessen der Differenzierung, Versachlichung oder Rationalisierung unterworfen sind, und zwar auch deshalb, weil sonst eine räumlich und sozial wachsende Zahl von Gesellschaftsmitgliedern nicht mehr effektiv koordiniert werden könnte: Nur der kapitalistische Markt ermöglicht die Produktion und Distribution einer wachsenden Zahl von Waren und Dienstleistungen für die Befriedigung individueller Bedürfnisse; nur der bürokratische Staat ermöglicht die Lösung und Verwaltung einer wachsenden Zahl von kollektiven Aufgaben und individuellen Zielen (vgl. Weber 1980: 199211 u. 559-566 u. 1988b; Marx 1984a: 777-791; Simmel 1992b: 489-511). Auf diesen Ebenen setzten die Gesellschaftsmitglieder einen Modernisierungsprozeß in Gang, der die gesellschaftliche Wirklichkeit von ihnen entfernt oder entfremdet. Dies hat zweierlei nachteilige Folgen: Auf der individuellen Ebene kommt es zu Prozessen der Entfremdung oder Unterjochung, auf der gesellschaftlichen Ebene zu strukturellen Widersprüchen und Spannungen, die das Überleben der Gesellschaft mehr oder weniger gefährden können. Entscheidend an beiden Ebenen ist die Tatsache, daß der Mensch diese (nachteiligen) Entwicklungen nicht mehr ohne weiteres kontrollieren oder steuern kann, etabliert sich die Gesellschaft doch als eigene Wirklichkeit mit ihren (unkontrollierbaren) Eigendynamiken und Eigengesetzlichkeiten. In dieser Formulierung folgen die klassischen Modernisierungstheorien dem Frankenstein-Mythos, denn der Mensch hat eine Realität geschaffen, die ihn selbst zu kontrollieren und/oder zu unterjochen beginnt. Anders als beim Frankenstein-Mythos aber können sich die Gesellschaftsmitglieder nicht durch die Vernichtung des außer Kontrolle geratenen Wesens befreien. Denn die Individuen sind von der Gesellschaft abhängig: materiell im Hinblick auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse, ideell im Hinblick auf die Konstruktion einer eigenen Persönlichkeit oder Individualität. In der Tat standen die Klassiker der Veränderbarkeit der modernen Gesellschaft skeptisch gegenüber. Und dies gilt auch für Comte, Spencer und Marx. Denn auch für sie war es unmöglich, die Gesellschaft vom eingeschlagenen

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Entwicklungsverlauf abzubringen, sahen sie doch selbst Gesetzmäßigkeiten am Werk, die die Geschichte schicksalsmächtig lenkten. Allerdings waren diese Autoren auch der festen Überzeugung, daß die geschichtliche Entwicklung sowieso in die richtige Richtung wies, weshalb Comte (vgl. 1956: 115-129 u. 1974: 503-519) und Spencer (1899: 598-600 u. 1896: 252-257) der industriellen Gesellschaft, Marx und Engels (1983b) der kommunistischen Ordnung als Theoretiker und Praktiker nur zuzuarbeiten brauchten. Diese optimistisch-'heroische' Einstellung wurde von den späteren Klassikern nicht übernommen. Denn diese Autoren sahen nur die Möglichkeit, Entwicklungslinien und Fehlentwicklungen wissenschaftlich zu benennen, um beratend bei der Bestimmung möglicher Gegengifte auszuhelfen. Ob diese Maßnahmen aber überhaupt praktikabel sind und zu den erwünschten Zielen fuhren, konnte ihrer Meinung nach nur die Praxis selbst zeigen (vgl. Dürkheim 1992: 477-480 u. 1984: 141-164; Weber 1988a: 202-205 u. 1992: 71-111; Simmel 1999: 649-654). Sehen wir einmal von Karl Marx ab, so waren aber alle Autoren davon überzeugt, daß die Vorteile der modernen, kapitalistischen Gesellschaft die genannten Nachteile oder Fehlentwicklungen bei weitem kompensieren. Insbesondere die nachfolgenden Theoretiker des 20. Jahrhunderts haben darüber hinaus argumentiert, daß die moderne Gesellschaft eine Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit unter Beweis gestellt hat, womit sie die Widersprüche und Krisen, die von Dürkheim, Weber oder Marx beschrieben wurden, zu überwinden, zu befrieden oder mindestens zu kompensieren verstanden hat. In dieser Perspektive haben wir es mit einer Gesellschaft zu tun, die auch aufgrund der angesammelten soziologischen Erkenntnisse mit den Fehlentwicklungen und Folgeproblematiken der Modernisierung zu leben und diese zu korrigieren gelernt hat. 7. Die Klassiker waren der Meinung, daß die .iidifferenzierten Gesellschaften sich durch eine labilere (sogar: krisenanfällige) Ordnung auszeichnen, die aber gerade deshalb leistungsstärker, anpassungsfähiger und wandelbarer ist (vgl. z.B. Spencer 1901: 402; Simmel 1983: 92). Diskutieren Sie diese Prämisse. Können Sie Beispiele nennen, bei denen diese hochkomplexen Gesellschaften unfähig sind, sich an (veränderte) Gegebenheiten anzupassen? Ist die arbeitsteilige Differenzierung unter bestimmten Umständen selbst kontraproduktiv oder für den Fortbestand der Gesellschaft gefährlich? Berücksichtigen Sie für diesen Zweck., sun die moderne Gesellschaft (immei zu tun hat, und überlegen Sie, ob sich hier eine systematische Ursache in der Struktur unserer Gesellschaft benennen läßt

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8. So sehr die moderne Gesellschaft von Vorteil für das Individuum ist, so sehr haben doch die Klassiker auch darauf verwiesen, daß die Gesellschaftsmitglieder u.a. vom kapitalistischen Markt und bürokratischen Staat fremdbestimmt werden. Trifft diese Annahme noch auf unsere Wohlfahrtsgesellschaft zu, die sich an der sozialen Marktwirtschaft und dem deregulierten Staat orientiert? Haben wir die Nachteile der Modernisierung zu bezwingen gelernt? Oder ist die Entfremdung nun subtiler geworden? Stimmen wir nun selbst freiwillig unserer Fremdbestimmung durch den (sich globalisierenden) Kommerz, dem kompetitiven Arbeitsmarkt, der Medien- oder Expertendemokratie etc. zu? In welchem Verhältnis stehen Autonomie und Fremdbestimmung heute zueinander? Diskutieren Sie die Positionen der Klassiker in bezug auf die heutige Gesellschaft und die nachfolgend behandelten Theorien.

5. Zitierte und weiterführende Literatur Comte, Auguste: Rede über den Geist des Positivismus. Hamburg, 1956. Comte, Auguste: Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug. Stuttgart, 1974. Dürkheim, Emile: Die Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt/M., 1984. Dürkheim, Emile: Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral. Frankfurt/M., 1991. Dürkheim, Emile: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt/M., 1992. Dürkheim, Emile/ Mauss, Marcel: "Über einige primitive Formen von Klassifikation. Ein Beitrag zur Erforschung der kollektiven Vorstellungen." In: Emile Dürkheim: Schriften zur Soziologie der Erkenntnis. Frankfurt/M., 1987, S. 169-256. Marx, Karl: "Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons 'Philosophie des Elends'." In: Karl Marx/ Friedrich Engels: Gesammelte Werke. Band 4. Berlin-Ost, 1983, S. 63-182. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals. Gesammelte Werke Band 23. Berlin-Ost, 1984a. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion. Gesammelte Werke Band 25. Berlin-Ost, 1984b. Marx, Karl/ Engels, Friedrich: "Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten." In: Karl Marx/ Friedrich Engels: Gesammelte Werke. Band 3. BerlinOst, 1983a, S. 9-580.

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Marx, Karl/ Engels, Friedrich: "Manifest der Kommunistischen Partei." In: Karl Marx/ Friedrich Engels: Gesammelte Werke. Band 4. Berlin-Ost, 1983b, S. 459-493. Simmel, Georg: Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl. Frankfurt/M., 1983. Simmel, Georg: Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900. Gesamtausgabe Band 5. Frankfurt/M., 1992a. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt/M., 1992b. Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Frankfurt/M., 1999. Spencer, Herbert: Einleitung in das Studium der Sociologie. Erster und Zweiter Teil. Göttingen, 1896. Spencer, Herbert: The Principles ofSociology. Band 1. New York, 1899. Spencer, Herbert: Grundsätze einer synthetischen Auffassung der Dinge. Stuttgart, 1901. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen, 1980. Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Band 1. Tübingen, 1988a. Weber, Max: "Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens." In: Max Weber: Gesammelte politische Schriften. Tübingen, 1988b, S. 306-443. Weber, Max: "Wissenschaft als Beruf." In: Max Weber: Gesamtausgabe. Band 17. Tübingen, 1992, S. 71-111.

Kapitel II Colemans Theorie der Moderne

Joachim Behnke

Inhalt:

1. 1.1 1.2 2. 2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.2.1 2.2.1.1 2.2.1.1.1 2.2.1.1.2 2.2.1.2 2.2.2 2.2.2.1 2.2.2.2 2.2.2.3 2.2.2.4 2.2.3 3. 4. 5.

Einführung Allgemeine theoretische Grundlagen Theoretische Anleihen, Vorläufer des Paradigmas Colemans Theorie der Moderne Handlungsexternalitäten, Normen und die Bildung von Körperschaften Die Entstehung von Normen Die Bildung von Körperschaften Die moderne Gesellschaft Probleme der Moderne Strukturell bedingte Probleme von Körperschaften Trittbrettfahrer Kontrolle der Agenten Verlust an sozialem Kapital Lösungsvorschläge der Theorie Bereichsspezifische, wechselseitige und unabhängige Existenzfähigkeit Vorwärts und rückwärts gerichtete Kontrolle Internalisierung der Interessen der Körperschaft durch die Agenten mit Hilfe von Identifikation Wiedergewinnung von sozialem Kapital innerhalb der formalen Organisationen Gesellschaftliche Aufgaben der Soziologie Die Bedeutung Colemans für die Soziologie Arbeitsaufgaben Zitierte und weiterführende Literatur

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Das herausragende Merkmal des Entwicklungsprozesses zur modernen Gesellschaft ist nach Coleman die Ersetzung der natürlichen sozialen Umgebung durch eine vom Menschen geschaffene künstliche soziale Umgebung. Einen der wichtigsten Bestandteile dieser künstlichen sozialen Umgebung stellen formale Organisationen wie Körperschaften dar. Der Zweck von Körperschaften besteht darin, daß sie die Handlungen der einzelnen Individuen auf eine Weise koordinieren, daß ihnen so in einer gemeinsamen Unternehmung Kooperationsgewinne entstehen, die sie jeweils auf sich alleine gestellt nicht hätten erzielen können. Dabei werden die Mitglieder einer formalen Körperschaft durch ein bestimmtes Anreiz- und Sanktionssystem zur Leistung ihres spezifischen Beitrags gebracht. Dieses Anreiz- und Sanktionssystem stellt die Verfassung einer Körperschaft dar. Körperschaften sind dann notwendig, wenn es Situationen gibt, in denen ein Kollektiv von Personen ein allen gemeinsames Interesse an der Verwirklichung einer gemeinsamen Unternehmung hat, die Situation und die Beziehungen zwischen den Personen des Kollektivs aber nicht ausreichen, aus sich selbst heraus und spontan mit Hilfe von Normen ein Anreizsystem zu schaffen, das die einzelnen zur Leistung ihres Beitrags motivieren kann, Körperschaften überbrücken auf diese Weise gewissermaßen eine "Schwäche" der sozialen Beziehungen. Gleichzeitig aber unterminieren damit Körperschaften die noch bestehenden sozialen Beziehungen oder beseitigen diese in einigen Bereichen sogar und bewirken somit den Abbau des "sozialen Kapitals" einer Gesellschaft. Soziales Kapital ist das Potenzial eines Kollektivs, aus sich heraus unmittelbar eine Anreizstruktur zu generieren, die die gemeinsamen Interessen der Mitglieder des Kollektivs realisiert. Die Aufgabe der Sozialwissenschaft besteht nach Coleman nun darin, diesen Prozeß genau zu analysieren, also die Bedingungen des Zustandekommens ursprünglicher und spontaner Kooperation durch soziales Kapital einerseits und die Funktionsweise einer Körperschaft andererseits. Als Konsequenz der Analyse kann der Sozialwissenschaftler dann geeignete Vorschläge unterbreiten, wie das verlorengegangene soziale Kapital wiedergewonnen oder gar vermehrt werden kann.

1. Einführung In Colemans beeindruckendem Gesamtwerk findet sich keine Monographie, die sich explizit mit der Moderne beschäftigen würde. Allerdings nimmt in Colemans theoretischem Hauptwerk Foundations of Social Theory die "moderne Gesellschaft" einen wichtigen Platz ein, ihr ist explizit der vierte Teil des Werkes gewidmet. Dieser Teil ist jedoch nicht abgetrennt von den anderen Teilen der Foundations of Social Theory zu verstehen. Der grundlegende Begriff von Colemans Theorie der Moderne, die Körperschaft, wird auch in anderen Teilen des Buches ausfuhrlich behandelt, das Gleiche gilt für andere wesentliche Begriffe wie "Normen" oder "soziales Kapital". Eine angemessene Darstellung der modernen Gesellschaft, wie Coleman sie charakterisiert, ist daher nur möglich, wenn man das Gesamtkonzept der Foundations of Social Theory in den grundlegenden Argumentationslinien wiedergibt. Colemans Foundations of Social Theory gilt als eines der wichtigsten soziologischen Werke der letzten Jahrzehnte und wird in Bezug auf seine Bedeutung für die Entwicklung der soziologischen Disziplin von Anhängern und Kritikern gleichermaßen in einem Atemzug mit den Werken von Klassikern wie Dürkheim, Weber, Parsons und Homans genannt (vgl. z.B. Fararo 1996). Es ist dabei wohl kein Zufall, daß diese großen Namen der Soziologie neben ihren inhaltlichen Arbeiten, Dürkheims Studien

Coleman

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über den Selbstmord, Webers Analyse der protestantischen Ethik etc., vor allem für ihre grundlegenden Arbeiten bezüglich einer (oder der?) soziologischen Methode berühmt sind. Im Falle Colemans ist es daher auffällig, daß seine eigenen empirischen Arbeiten, die sich vornehmlich mit dem Bildungswesen befassen, eher unverbunden zu seiner methodologischen Grundlagenarbeit stehen (vgl. Mayer 1998). Die Foundations of Social Theory stellen auch keinen Versuch dar, wesentliche Einsichten der verschiedenen soziologischen Teildisziplinen unter einer bestimmten Perspektive zu vereinigen, sind also keine Foundations of Sociology (vgl. Esser 1992: 142). Eher sind sie als eine Art Anleitung zu verstehen, wie eine präzise und aussagekräftige Sozialtheorie zu entwickeln ist, wobei ein nicht unbedeutender Teil dieser Arbeit von Coleman selbst in seinem 1000-seitigen Monumentalwerk schon geleistet ist.

1.1 Allgemeine theoretische Grundlagen Colemans Ansatz läßt sich auf zwei Aspekte einer wissenschaftlichen Erklärung zurückführen, der erste betrifft den Gegenstand der Erklärung, der zweite die Methode derselben. Was den Gegenstand der Erklärung angeht, so ist Colemans Perspektive eindeutig: "Die Hauptaufgabe der Sozialwissenschaft liegt in der Erklärung sozialer Phänomene, nicht in der Erklärung von Verhaltensweisen einzelner Personen." (Coleman 1995a: 2) 1 Bezüglich der Methode der Erklärung unterscheidet Coleman zwischen Erklärungen durch statistische Assoziation, wobei das erklärende und das zu erklärende Phänomen auf derselben Ebene angesiedelt sind, und der inneren Analyse, die das äußere, d.h. das beobachtbare Verhalten eines Systems auf Prozesse zurückfuhrt, die im Innern des Systems ablaufen. In einem solchen Fall "bewegt sich die Analyse auf einer Ebene, die unterhalb der Systemebene liegt, und erklärt das Verhalten des Systems über das Verhalten seiner Bestandteile." (Coleman 1995a: 3) In Bezug auf soziale Systeme beinhaltet dies die Position des sogenannten methodologischen Individualismus, des Versuchs, das Verhalten sozialer Systeme auf individuelle Handlungen zurückzuführen. Coleman führt fünf Gründe an, die für die innere Analyse von Systemen sprechen, die ersten drei sind dabei pragmatischer Natur, der vierte ist wissenschaftstheoretisch, und der fünfte beinhaltet normative Aspekte. Das erste Argument ist rein methodischer Art und bezieht sich auf die vorhandene Datenlage. Vor allem wenn es um die Analyse umfangreicher Systeme geht, wie z.B. im Extremfall um eine Gesellschaft als Ganzes, stehen auf der Systemebene in der Regel zu wenig Daten zur Verfügung, um Hypothesen statistisch korrekt zu überprüfen. Die Ausweitung der Umfragenforschung versieht die Sozialwissenschaft inzwischen hingegen mit einer beachtlichen Menge von Individualdaten und - nicht weniger wichtig - mit einer großen Anzahl von brauchbaren statistischen Methoden zur Auswertung dieser Daten 2 . Das zweite 1

2

Hier und im Folgenden beziehe ich mich bei Zitaten und Hinweisen immer auf die deutsche Übersetzung der Foundations of Social Theory, die 1995 als dreibändige Studienausgabe unter dem Titel Grundlagen der Sozialtheorie bei Oldenbourg erschienen ist. Coleman weist darauf hin, daß die Kombination der Methoden der Individualdatenforschung mit einem Forschungsgegenstand der Aggregatebene einer "Vision for Sociology" entsprang, die er schon am Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere hatte und die auf den gleichzeitigen Einfluß zweier seiner Lehrer, nämlich Paul F. Lazarsfeld und Robert K. Merton, zurückzuführen war (vgl.

40 Theorien der Gesellschaft pragmatische Argument bezieht sich auf die Anwendbarkeit sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Diese können nur dann umgesetzt werden, und damit nur dann brauchbar sein, wenn sie auf der Ursachenseite Variablen beinhalten, die durch menschlichen Eingriff manipuliert werden können. Die Erklärung eines Phänomens der System- oder Makroebene muß also soweit "heruntergebrochen" werden, bis sie eine Ebene erreicht, die durch Variablen konstituiert ist, die zumindest teilweise durch menschliches Handeln beeinflußt werden können3. Das dritte Argument lautet, daß eine Erklärung von Systemverhalten durch Variablen tieferliegender Ebenen "stabiler und allgemeiner" sei als eine Erklärung auf der Makroebene. Dieses Argument ist insofern pragmatischer Natur, als es sich vor allem auf die Anwendbarkeit der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis bezieht, es beinhaltet aber auch einen zentralen wissenschaftstheoretischen Aspekt, der im vierten Argument weiter ausgeführt wird. In diesem weist Coleman darauf hin, daß eine Erklärung auf der Grundlage von Variablen tieferer Ebenen "fundamentaler" ist und ein tieferes "Verständnis" ermöglicht als eine auf der Systemebene verharrende Erklärung. Dieser Gedanke soll wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung hier kurz vertieft werden. Im Gegensatz zur Naturwissenschaft ist es der Soziologie nicht gelungen, auf der Makroebene des Sozialen Gesetze oder gesetzesähnliche Zusammenhänge zu finden (vgl. Opp 1992: 150). Der Hauptgrund dafür liegt darin, daß in der Soziologie die Randbedingungen, d.h. die räumlich-zeitlichen Hintergrundszenarien, vor denen sich ein solches Gesetz entfalten könnte, nicht konstant gehalten werden können, da sie im soziologischen Kontext aus Institutionen und sozialen Strukturen bestehen, die sich im Laufe der Zeit ständig wandeln (vgl. Wippler/ Lindenberg 1987: 138). Eine Strategie, solche Fluktuationen der Randbedingungen zu vermeiden, besteht nun darin, in die Erklärung "tiefere" Ebenen miteinzubeziehen, deren Randbedingungen weniger instabil, im idealen Fall sogar invariant, sind. Der Erfolg der Naturwissenschaften beruht auf der Existenz von Naturkonstanten, die die Formulierung gesetzesähnlicher Zusammenhänge erst ermöglichen. Im gleichen Sinne könnte daher der Erfolg der Soziologie erhöht werden, wenn es gelänge, eine Art von "soziologischen Konstanten" auszumachen, die dann die Randbedingungen bildeten, die bei der Formulierung "soziologischer Gesetze" zu beachten wären. Implizit gehen methodologische Individualisten davon aus, daß solche Konstanten in den Sozialwissenschaften am ehesten noch auf der Ebene des menschlichen Handelns zu finden sein dürften4. Nur Erklärun-

3

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Coleman 1996). Es ist wichtig festzustellen, daß Coleman keineswegs der Ansicht ist, daß eine an der Anwendung interessierte Sozialwissenschafit bei der Erklärung grundsätzlich auf tieferliegende Ebenen herabsteigen muß. Manchmal mag es Zusammenhänge auf der Makroebene geben, die direkt durch Eingriff auf derselben manipuliert werden können. Coleman hält dies nur für weniger wahrscheinlich, keineswegs für ausgeschlossen. Um ein Beispiel aus der Naturwissenschaft bzw. Technik heranzuziehen: Man kann als James Watt ganz brauchbare Dampfmaschinen bauen, ohne über die Brownsche Molekularbewegung Bescheid zu wissen. Dies ist nur eine Annahme der Vertreter bestimmter Denkschulen wie z.B. der des methodologischen Individualismus. Andere Denkschulen gehen davon aus, daß die "soziologischen Konstanten" auf anderen Ebenen auftreten. Systemtheoretiker gehen z.B. davon aus, daß diese Konstanten in erster Linie - oder vielleicht sogar nur - auf der Makroebene, d.h. der Systemebene, zu finden sind. Man muß sich dabei klar machen, daß der Begriff "Konstante" keineswegs als etwas Statisches zu verstehen ist, wie der Begriff im ersten Augenblick vielleicht suggeriert. Konstanten beziehen sich keineswegs auf Zustände, sondern in der Regel auf die Gleichförmigkeit des Ablaufs bestimmter

Coleman 41 gen, die letztlich bis auf die Ebene der Konstanten hinabreichen, und damit im eben erläuterten Sinne auf die Ebene des individuellen menschlichen Handelns, können überhaupt zu stabilen und gesetzesähnlichen Aussagen fuhren. Die Tiefe der Erklärung ist somit eine notwendige Voraussetzung für die Universalität der Theorie (vgl. Popper 1973: 219f). Es handelt sich beim methodologischen Individualismus insofern um eine klassische reduktionistische Theorie; allerdings nur, wenn man den Begriff "Reduktion" wörtlich im Sinne von Zurückfuhrung versteht, und nicht - wie fälschlicherweise oft mißverstanden - im Sinne von Verminderung (vgl. Esser 1992: 135). Auch wenn die Vorgehensweise sehr stark an die klassische Vorgehensweise in den Naturwissenschaften angelehnt ist, so gibt es doch einen entscheidenden Unterschied. In den Naturwissenschaften erhöht sich das Verständnis für ein Phänomen der höheren Ebene, wenn es durch Rückgriff auf tieferliegende Ebenen erklärt werden kann. Gewisse thermodynamische Zusammenhänge, die nur auf der Makroebene beobachtet werden können, z.B. die Volumenveränderungen von Gasen durch Erwärmung, können durch die Rückführung auf eine allgemeinere und tiefere Ebene, in diesem Fall die der Brownschen Molekularbewegung, besser verstanden werden. Der Prozeß der Rückführung auf tiefere Ebenen findet jedoch kein logisches Ende. Das derzeitige Ende ist immer das des derzeitigen Forschungsstandes. Auf dieser letzten, derzeit zur Verfügung stehenden Erklärungsebene müssen die beobachteten Zusammenhänge schlicht akzeptiert werden; sie selbst können nicht mehr erklärt werden. In der Soziologie hingegen gibt es eine "natürliche" logisch letzte Ebene der Erklärung, die sich aus der Selbstdefinition des Fachs ergibt. Dies ist diejenige des sinnhaften menschlichen Handelns, wie es z.B. Max Weber verstanden hat (vgl. Weber 1988b [1922]: 542). Im Unterschied zur Naturwissenschaft müssen wir Zusammenhänge auf dieser letzten Ebene nicht einfach akzeptieren, sondern können sie, indem wir ihnen einen Sinn unterstellen, "deutend verstehen". Wir vertiefen demnach unser Verständnis des Verhaltens eines sozialen Systems, wenn es mit Hilfe von individuellen Handlungen erklärt werden kann, die wir wiederum verstehen können5. Jetzt jedoch zum fünften und normativen Argument, das Coleman zugunsten des methodologischen Individualismus anführt. Es beruht auf einem "humanistisch geprägten Menschenbild." (Vgl. Coleman 1995a: 5) Die Rückführung sozialer Institutionen auf menschliches Handeln ist nicht zuletzt deswegen notwendig, um diese Institutionen moralisch bewerten zu können. Nicht die KZs sind unmoralisch, auch nicht ihre Funktion, die sie innerhalb eines bestimmten sozialen Systems erfüllen, es sind die Handlungen der Menschen, die sie errichten und in ihnen arbeiten, die wir unmoralisch nennen. Wie nun sieht die Struktur einer solchen inneren Analyse genauer aus, wenn sich Beziehungen auf der System- oder Makroebene auf Beziehungen einer untergeordneten Mikroebene zurückführen lassen? Coleman veranschaulicht sein Erklärungsschema graphisch wie in Abbildung 1 dargestellt. Als Beispiel wählt Coleman Webers berühmte These über den Zusammenhang der protestantischen Ethik mit dem "Geist des Kapitalismus" (vgl. Weber 1988a [1920]).

5

Prozesse. Es sollte klar sein, daß mit dem vertieften Verständnis durch Reduktion eine andere Art des Verstehens gemeint ist als die, die wir bei der Deutung menschlicher Handlungen anwenden.

42 Theorien der Gesellschaft Abbildung 1: Der Zusammenhang zwischen protestantischer Ethik und der Ausbildung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung nach dem Makro-Mikro-MakroErklärungsschema von Coleman Rotestantische Bhik •

Geist d e s •

tepitalismus .

> • Individuelle Wferte

ötonomi9ches\fcrtialten

Die Makro-Mikro-Verbindung, durch den Pfeil 1 symbolisiert, gibt in diesem Beispiel den Einfluß der protestantischen Doktrin auf die Werte eines Individuums wieder. Durch diese Werte gewinnt das Individuum bestimmte Einstellungen bezüglich seines ökonomischen Verhaltens, die zu einer bestimmten Art von Verhalten im ökonomischen Bereich führen. Durch das Verhalten aller an ökonomischen (Tausch) Vorgängen Beteiligten bildet sich eine bestimmte Art von Wirtschaftsordnung heraus, der man das Etikett "Kapitalismus" verleiht. Die allgemeine Form des Erklärungsschemas ist in Abbildung 2 wiedergegeben. Nach Esser (1996: 91 ff) stellt sie das "Grundmodell der soziologischen Erklärung" dar, die drei Stufen der Erklärung werden dabei als "Logik der Situation", "Logik der Selektion" und "Logik der Aggregation" bezeichnet. Abbildung 2: Das allgemeine Makro-Mikro-Makro-Erklärungsschema nach Coleman Makrophänomen 1

Mikrophänomen 1

Makrophänomen 2

Mikrophänomen 2

Die "Logik der Situation" gibt die Bedingungen bzw. Restriktionen an, die dem Akteur in seiner spezifischen Handlungssituation durch sein Umfeld gesetzt sind. Durch sie wird auch die Alternativenmenge bestimmt, die dem Akteur überhaupt zur Auswahl steht. Die "Logik der Selektion" wird durch eine bestimmte Form von Handlungstheorie umgesetzt. Diese muß in der Lage sein, die Entscheidung des Akteurs zu begründen, die er bei der Auswahl einer Option aus einer Menge von Optionen trifft. Die "Logik der Situation" beschreibt dann die Randbedingungen ebendieser Entscheidungssituation. Im Prinzip lassen sich viele Handlungstheorien denken, die hier zur Anwendung kommen könnten. Coleman entscheidet sich für eine Theorie des zielgerichteten Handelns im Sinne Max Webers (vgl. Weber 1972 [1921]: 11 ff). Für die for-

Coleman

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malen Analysen im fünften Teil der Foundations of Social Theory verfeinert Coleman seinen Akteursbegriff im Sinne des aus den Wirtschaftswissenschaften bekannten "homo oeconomicus", d.h. er geht von einem Akteur aus, der aus einer Menge von Handlungsoptionen immer diejenige auswählt, die seinen Nutzen maximiert. Als Hauptproblem einer soziologischen Erklärung bezeichnet Coleman jedoch den Übergang von der Mikro- zur Makroebene bzw. - in der Esserschen Terminologie - die "Logik der Aggregation". Dieser Übergang stellt seiner Ansicht nach meistens wesentlich mehr dar als die simple Aggregation der Verhaltensweisen der Individuen, da die einzelnen Handlungen miteinander in Wechselwirkung treten. Solche Wechselwirkungen können auf mehrere Weisen auftreten. Coleman nennt dabei das Auftreten externer Effekte, d.h. wenn die Handlung eines Akteurs Konsequenzen für andere hat, einfache bilaterale Tauschverhandlungen, bilaterale Tauschbeziehungen innerhalb eines Systems von Regeln wie z.B. dem Markt, kollektive Entscheidungen, interdependente Handlungen innerhalb einer formalen Organisation und die Schaffung von Normen zur Wahrung kollektiver Rechte, die mit Hilfe von Sanktionen durchgesetzt werden (vgl. Coleman 1995a: 25f). Im Zusammenhang mit Colemans Theorie der Moderne spielen insbesondere externe Effekte, Normen und formale Organisationen eine Schlüsselrolle. Auf sie wird daher später ausführlich eingegangen werden.

1.2 Theoretische Anleihen, Vorläufer des Paradigmas Colemans Anleihen aus anderen Disziplinen bzw. Vorgängern der eigenen Disziplin leiten sich, entsprechend der Priorität des Methodischen in den Foundations of Social Theory, vor allem aus seiner Handlungstheorie ab, sowie seiner Art der Theoriekonstruktion. Wie schon erwähnt, bezieht sich Coleman bei seinem Handlungsbegriff auf Max Weber. Auch Colemans Herrschaftstheorie nimmt vorwiegend auf Max Weber Bezug, so daß dieser den meistzitierten Autor in den Foundations of Social Theory darstellt. Für die Theoriekonstruktion selbst, vor allem für ihre formale Darstellung, sieht Coleman die Wirtschaftswissenschaften als Vorbild an. Das Modell der Entstehung eines Marktes aufgrund einzelner Tauschbeziehungen ist für ihn ein gelungenes Beispiel der Erklärung eines Makrophänomens durch Mikrohandlungen. Die Konstruktion von Gleichgewichtsmodellen in der Tradition von Walras (vgl. z.B. Varian 1985: 196) ist sein Hauptanliegen bei den formalen Analysen. Seine Konzeption des Akteurs geht allerdings in einer wichtigen Beziehung über die des klassischen "homo oeconomicus" hinaus. Sein Akteur ist nicht allein mit Ressourcen ausgestattet, sondern überdies mit Kontrollrechten über Ereignisse. Die "Verhandlungsmacht" des Akteurs besteht im Colemanschen Modell daher nicht nur aus den Gütern, die er besitzt und zum Tausch anbieten kann, sondern überdies aus dem Einfluß, den er besitzt, indem er das Eintreten bestimmter Ereignisse herbeiführen oder verhindern kann. Eine besonders wichtige Form solcher Kontrollrechte stellen in der Industriegesellschaft z.B. Luftverschmutzungsrechte dar, d.h. wer hat das Recht, darüber zu entscheiden, ob bzw. in welchem Umfang eine Fabrik die Umwelt mit Abgasen belasten darf. Hier treten eindeutige externe Effekte auf, da die Anwohner der Fabrik unmittelbar betroffen sind. Damit besteht ein Anlaß für den Betreiber der Fabrik und die Anwohner, über diese Kontrollrechte zu verhandeln. Mit dieser Art von Situationen hat sich insbeson-

44 Theorien der Gesellschaft dere Ronald H. Coase beschäftigt (vgl. Coase i960) 6 . Da die Verteilung von solchen Handlungsrechten eine der zentralen Fragen von Colemans Gedankengebäude ist, stellen die Analysen von Coase einen der wichtigsten Bezugspunkte Colemans Theorie dar. Colemans Menschenbild ist stark von der individualistischen Philosophie in der Tradition von Hobbes, Locke, Smith und Mill geprägt. Insbesondere deren liberale Vertreter eines freien, verantwortlich handelnden Menschen stehen ihm nahe und üben - wie erwähnt - einen maßgeblichen Einfluß auf die Konzeption seines Erklärungsmodells aus.

2. Colemans Theorie der Moderne Zwei Entwicklungen lassen sich nach Coleman für die fortgeschrittenen, modernen Gesellschaften feststellen. Zum einen ist dies ein Prozeß des fortschreitenden Ersatzes einer natürlichen physikalischen Umwelt durch eine konstruierte; Wälder, Wiesen und Tiere weichen Hochhäusern, Straßen und Autos. Zum anderen findet eine Substitution der ehemals natürlichen sozialen Umgebung durch ein (sozial) konstruiertes soziales Umfeld statt. Dieser zweite Prozeß ist für Coleman der Inbegriff der Moderne. Um das Wesen dieses Prozesses zu erläutern, muß jedoch auf grundlegende Begriffe der Colemanschen Handlungstheorie zurückgegriffen werden.

2.1 Handlungsexternalitäten, Normen und die Bildung von Körperschaften Die Handlungstheorie Colemans beruht auf vier fundamentalen Elementen: Akteuren, Dingen, Kontrolle und Interesse (vgl. Coleman 1995a: 34ff). Dinge sind dabei entweder Ressourcen oder Ereignisse. Jeder Akteur besitzt bestimmte Interessen an Ressourcen und Ereignissen, die - in ökonomischer Terminologie - seine Präferenzstruktur wiedergeben. Außerdem verfugt jeder Akteur über Kontrolle an bestimmten Dingen, d.h. er befindet sich im Besitz bestimmter Ressourcen und er ist in der Lage, bestimmte Ereignisse hervorzurufen oder zu verhindern. Die Erstausstattung aller Akteure an Ressourcen und Kontrolle über Ereignisse ist jedoch insofern suboptimal, als "Umsortierungen" von Dingen vorstellbar sind, die zumindest einige besser stellen würden ohne andere schlechter zu stellen. Die Möglichkeit einer solchen Umsortierung sagt aber noch nichts darüber aus, ob sie tatsächlich verwirklicht wird. Zwei Arten von Umsortierungen sind zu unterscheiden. Die eine ergibt sich spontan und unmittelbar aus den Interessen der Einzelnen und ihren direkten Handlungsmöglich6

Das nach ihm benannte Coase-Theorem besagt, daß es zu dem gleichen Ausmaß an Luftverschmutzung kommen wird, unabhängig davon, ob die Kontrollrechte anfänglich beim Betreiber der Fabrik oder den Anwohnern liegen. Dies gilt allerdings nur mit der wichtigen Einschränkung, daß keine sogenannten Transaktionskosten existieren. Dies sind alle Kosten, die durch die Herbeiführung und die Umsetzung eines Verhandlungsergebnisses entstehen. Unter Transaktionskosten fallen demnach die Kosten für die Feststellung der Ausgangsverteilung der Rechte, der Identifikation und Organisation der Berechtigten, der Durchführung der Umverteilung der Rechte und der Überwachung und Kontrolle der Ausübung derselben.

Coleman 45 keiten und umfaßt einfache Transaktionen zwischen jeweils zwei Akteuren, deren elementarste der Tausch ist. Besitzt eine Person Kontrolle über von ihr weniger geschätzte Ressourcen und Ereignisse, die von einer zweiten Person wesentlich höher eingeschätzt werden, die wiederum über von ihr niedrig eingeschätzte Ressourcen verfügt, an denen der ersten Person sehr viel liegt, so können beide Personen zu einem Tausch von Ressourcen oder der Kontrolle von Ereignissen kommen, durch den sie sich beide besser stellen. Eine zweite Art von Umsortierungen bedingt eine institutionelle Einbettung, da sie sich nicht durch unmittelbare Handlungsanreize erzielen läßt. Diese zwei Arten von Umsortierungen entsprechen in der Colemanschen Terminologie einfachen und komplexen sozialen Beziehungen (vgl. Coleman 1995a: 54). Einfache Beziehungen sind sich selbst erzeugend wie selbsterhaltend, da sie selbst eine Anreizstruktur sowohl für ihre Bildung als auch für ihre Fortsetzung darstellen. Jede einfache Beziehung wird dabei nur um ihrer selbst willen ausgeübt, d.h. die einzelne einfache Beziehung "rechnet" sich aus der Perspektive jedes der beiden an ihr beteiligten Akteure. Einfache Beziehungen sind die Grundbausteine von vielen sozialen Organisationen, die sich aus ihnen durch eine Art von "natürlichem Wachstum" ergeben und so eine "spontane Ordnung" im Sinne Hayeks (1973) erzeugen. Die bedeutendste auf einfachen Beziehungen aufgebaute soziale Organisation ist der Markt. Koordinationsprobleme von Handlungen, die bei einfachen Beziehungen auftreten, werden durch informale Regeln wie Normen und Konventionen gelöst. Im Gegensatz zu einfachen Beziehungen können komplexe Beziehungen nur entstehen und auch fortgesetzt werden, wenn sie von außen geformt werden. Die Anreizstruktur für die Aufrechterhaltung der Beziehung muß durch einen Dritten gesetzt werden, der selbst nicht Teil der Beziehung, bzw. der die Beziehung konstituierenden Transaktion ist. Lassen sich einfache Beziehungen mit spontanen chemischen Reaktionen vergleichen, so entsprechen komplexe Beziehungen chemischen Reaktionen, die nur unter Hinzufügung eines Katalysators ablaufen. Komplexe Beziehungen sind in der Regel die Ursache der Bildung von formalen Organisationen. Aus komplexen Beziehungen aufgebaute soziale Organisationen weisen eine starke Interdependenz zwischen den einzelnen Beziehungen auf, eine einzelne Beziehung ist für sich nicht überlebensfahig, sondern nur, wenn alle anderen Beziehungen der Organisation ebenfalls aufrechterhalten werden. Der Anreiz eines einzelnen Akteurs besteht in einer einzigen Auszahlung, die er als Saldo aus der Gesamtheit aller einzelnen Beziehungen erhält, die er in der Organisation eingeht. Er hat somit kein Interesse an den einzelnen Interaktionen, sondern nur an dem Netz von Interaktionen als Ganzes. Die wichtigste Form einer aus komplexen Beziehungen aufgebauten sozialen Organisation ist die Körperschaft7, die aus Positionen besteht, die durch Personen besetzt sind.

7

Ich verwende hier den Begriff der Körperschaft, da er auch in der deutschen Übersetzung gebraucht wird. Im amerikanischen Original unterscheidet Coleman zwischen "corporate actor" und "corporation", je nachdem, ob mehr der Handlungsaspekt oder jener der Organisation im Vordergrund steht. Durch den Kontext sollten jedoch Mißverständnisse des einheitlichen Gebrauchs des Begriffs "Körperschaft" ausgeschlossen sein.

46 Theorien der Gesellschaft 2.1.1 Die Entstehung von Normen Wesentlich für Coleman ist die Unterscheidung zwischen Handlungen, die nur Konsequenzen für denjenigen haben, der sie ausführt, und Handlungen, die auch Konsequenzen für Dritte haben, die diese nicht ausführen, also auch kein Kontrollrecht an ihr besitzen. Man spricht in letztgenannten Fall von externen Effekten. Diese können positiv oder negativ ausfallen, je nachdem, ob sie zum Nutzen oder zum Schaden der betroffenen Dritten sind. Da sie von den Konsequenzen der Handlung des Akteurs betroffen sind, erheben diese Dritten den Anspruch auf Kontrolle der Handlung. Dies begründet nach Coleman die Behauptung einer Norm. "Ich möchte sagen, daß in bezug auf eine spezifische Handlung eine Norm existiert, wenn das sozial definierte Recht auf Kontrolle der Handlung nicht vom Akteur, sondern von anderen behauptet wird." (Coleman 1995a: 313) Normen geben also an, welche Handlungen erwünscht und welche unerwünscht sind. Die Durchsetzung der Normen geschieht mit Hilfe von Sanktionen positiver oder negativer Art. Positive Sanktionen sind Belohnungen, die als Anreiz für erwünschte Handlungen wirken sollen, negative Sanktionen sind Bestrafungen, die vor der Ausführung unerwünschter Handlungen abschrecken sollen. Eine Handlung, die durch Normen geregelt werden soll, wird die Fokalhandlung der Norm genannt. Diejenigen Personen, deren Handlungen durch die Normen gelenkt werden sollen, heißen die Zielakteure der Norm. Diejenigen Personen, die von einer Einhaltung der Norm profitieren, heißen die Nutznießer der Norm. Konjunkte Normen existieren, wenn die Gruppe der Zielakteure mit der Gruppe der Nutznießer identisch ist. Ein Beispiel dafür wäre ein Verhaltenskodex innerhalb einer Berufsgruppe, von dessen Befolgung alle Mitglieder der Berufsgruppe profitieren würden. Disjunkte Normen sind dann vorhanden, wenn die Gruppe der Zielakteure von der Gruppe der Nutznießer verschieden ist. Disjunkte Normen sind häufig in Situationen vorhanden, in denen es ein Machtgefälle gibt und eine Seite der anderen Seite aufgrund ihrer Machtüberlegenheit ein bestimmtes Verhalten aufzwingen kann. Klassische disjunkte Normen sind z.B. Anstandsregeln für Kinder, die in diesem Fall die Zielakteure der Normen sind, während die Erwachsenen die Nutznießer dieser Normen darstellen. Eine weitere wesentliche Unterscheidung ist nach Coleman die zwischen konventionellen und essentiellen Normen. Konventionelle Normen beabsichtigen lediglich die Koordination von Handlungen herbeizuführen, die Richtung der Handlung ist dabei irrelevant. Eine klassische konventionelle Norm bezieht sich z.B. auf die Straßenseite, auf der der Autoverkehr stattfindet. Essentielle Normen hingegen beziehen sich auf eine bestimmte Richtung der Fokalhandlung, die nicht beliebig ist. Normen bezüglich des Eigentums würden z.B. darunter fallen. Der Begriff der Externalitäten von Handlungen ist bei Coleman sehr weit gefaßt. Eine besondere Bedeutung hat er bei Handlungen, die nur durch die gemeinsame Anstrengung vieler umgesetzt werden können, insbesondere wenn es um die Herstellung von öffentlichen Gütern geht8. Öffentliche Güter üben positive externe Effekte auf alle aus. Umgekehrt gilt: Klinkt sich ein einzelner aus dem gemeinsamen Vorha8

Öffentliche Güter sind dadurch gekennzeichnet, daß für sie nicht das Ausschlußprinzip gilt und sie nicht teilbar sind (vgl. Taylor 1987: 5f). Ist das öffentliche Gut einmal hergestellt, dann ist es allen gleichermaßen zugänglich und keiner kann von der Nutznießung des öffentlichen Gutes ausgeschlossen werden. Klassische öffentliche Güter sind z.B. äußere und innere Sicherheit.

Coleman

47

ben aus, übt er dadurch einen negativen externen Effekt auf die anderen aus, da der von jedem nun zu leistende Beitrag dadurch ansteigt, im schlimmsten Fall ist das gemeinsame Vorhaben möglicherweise sogar gar nicht mehr zu realisieren. Externalitäten bewirken auf diese Weise ein Bedürfnis, eine Nachfrage nach Normen. Die Etablierung einer Norm kann jedoch nur erfolgen, wenn auch auf der Angebotsseite bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Diese Bedingungen bestehen in der Installation eines wirksamen Sanktionssystems. Es lassen sich viele verschiedene Situationen denken, die entsprechend den Bedingungen Colemans eine Nachfrage nach Normen hervorrufen könnten. Am bekanntesten ist jedoch die Situation des aus der Spieltheorie stammenden Gefangenendilemmas 9 , die das Bedürfnis nach einer dementsprechenden Norm schafft (vgl. Ullmann-Margalit 1977). Das Grundmodell wird hier von Coleman auf eine Situation angewandt, in der zwei Personen ein gemeinschaftliches Projekt verwirklichen, zu dem jeder einen Beitrag beisteuern oder dies unterlassen kann. Durch diese Beiträge wird das gemeinschaftliche Projekt in einem den Beiträgen entsprechenden Maße umgesetzt. Der Ertrag aus diesem Projekt kommt dann beiden Personen zu denselben Anteilen zu. Es sei nun angenommen, daß der Beitrag, den eine Person zu leisten hat, 9 Dollar beträgt, und daß der Ertrag des gemeinsamen Projekts durch diesen Beitrag um 12 Dollar ansteigt. Der Ertrag wird allerdings immer gleichmäßig unter beiden Personen aufgeteilt. Leisten beide einen Beitrag, so können also 24 Dollar verteilt werden, d.h. für jeden 12 Dollar. Da jeder seinerseits 9 Dollar an Kosten hatte, verbleiben jedem der beiden 3 Dollar als Gewinn. Leistet nur einer einen Beitrag, so beträgt der Ertrag insgesamt 12 Dollar, für jeden einzelnen also dementsprechend 6 Dollar. Derjenige, der keinen Beitrag geleistet hat, erhält seinen Anteil ohne jeglichen Abzug. Der Beitragsleistende jedoch hat wieder seine 9 Dollar Aufwandskosten abzuziehen, so daß er insgesamt 3 Dollar Verlust macht. Die Auszahlungen der beiden Akteure, die diese für jede mögliche Kombination ihrer gewählten Handlungen bekommen, lassen sich in einer sogenannten Auszahlungsmatrix darstellen. Die Handlungsoptionen werden dabei durch die Zeilen bzw. die Spalten dargestellt. Jede Zelle der Matrix kommt daher durch die Kombination zweier Handlungen zustande, die Auszahlungen der beiden Akteure oder Spieler werden in die Matrix geschrieben, der erste Eintrag ist die Auszahlung des Zeilenspielers, der zweite Eintrag die des Spalten9

Das Gefangenendilemma ist mit Fug und Recht als "spieltheoretische Drosophila" (Ziegler 1998: 138) bezeichnet worden, da es das bekannteste und meistdiskutierte Beispiel der Spieltheorie darstellt. Die Grundsituation ist folgendermaßen zu beschreiben: Zwei Verbrecher werden gefaßt und kommen ins Untersuchungsgefängnis. Der Staatsanwalt kann ihnen allerdings den Bankraub, dessen sie verdächtigt werden, nicht nachweisen. Wohl kann er aber beide wegen eines kleineren Vergehens wie unerlaubten Waffenbesitzes belangen. In Einzelverhören macht er daher jedem Gefangenen das Angebot, den Partner zu verraten. Verrät ein Häftling seinen Partner, während dieser dichthält, kommt der Kronzeuge sofort frei, während sein Partner 10 Jahre Gefängnis bekommt. Halten beide dicht, so können sie wegen des kleineren Delikts jeweils nur zu 1 Jahr Gefängnis verurteilt werden. Verraten sie sich beide gegenseitig, so erhalten sie jeweils 5 Jahre. Unabhängig davon, was der andere tut, ist es also in jedem Fall besser, vor dem Staatsanwalt auszupacken. Beide werden also 5 Jahre Haft absitzen müssen. Das Dilemma besteht darin, daß sie beide mit weniger davongekommen wären, wenn sie sich gegenseitig kooperativ verhalten hätten. Die Grundsituation des Gefangenendilemmas ist auf eine Vielzahl von Bereichen angewandt worden, die prominentesten Beispiele stammen aus der Sicherheitspolitik (vgl. Rapoport/Chammah 1965) und der Theorie der Bereitstellung öffentlicher Güter (vgl. Olson 1965, Hardin 1982).

48 Theorien der Gesellschaft spielers. Die eben beschriebene Situation wird durch die Auszahlungsmatrix in Abbildung 3 charakterisiert. Abbildung 3: Auszahlungsmatrix eines Prisoners'-Dilemmas

Leistet einen Beitrag

Leistet keinen Beitrag

Leistet e i n e n Beitrag

3,3

-3,6

Leistet keinen Beitrag

6, -3

0,0

A,

Jeder der beiden Akteure besitzt eine sogenannte dominante Strategie, d.h. unabhängig davon, was der andere tut, ist es immer besser, keinen Beitrag zu leisten. Daher wird die Situation mit dem Ergebnis enden, das in der rechten unteren Zelle der Auszahlungsmatrix dargestellt ist. In spieltheoretischer Terminologie handelt es sich dabei um ein sogenanntes Nash-Gleichgewicht. Das Dilemma der Situation besteht nun darin, daß es ein Ergebnis gäbe, das für beide Akteure höhere Auszahlungen beinhalten würde, nämlich die Zelle links oben in der Auszahlungsmatrix, wenn beide ihren Beitrag leisteten. Versuchen die einzelnen Personen, ihre Auszahlung zu maximieren, so erhalten sie beide weniger, als sie bekommen würden, wenn sie gemeinsam jeweils eine andere Handlungsweise wählen würden. Individuelle Rationalität führt für das Kollektiv zu einem suboptimalen Ergebnis. Eine solche Situation schafft nach Ullmann-Margalit das Bedürfnis nach einer Norm. Nach Colemans Ansicht genügt es allerdings, um das Dilemma aufzulösen, wenn beide Akteure das Kontrollrecht über ihre Handlung jeweils dem anderen übertragen. Akteur Ai entscheidet über die Handlung von Akteur A 2 und umgekehrt. Die neue Situation entspricht dann einer Auszahlungsmatrix, wie sie in Abbildung 4 aufgeführt ist. Beide Spieler haben wieder eine dominante Strategie. Sie besteht für jeden Spieler in der Entscheidung, daß der andere Spieler seinen Beitrag zu leisten hat. Der erwünschte Zustand der beidseitigen Kooperation wird somit gewährleistet10. Ein echtes 10

Aus der Perspektive der meisten Spieltheoretiker dürfte ein Austausch der Kontrollrechte jedoch kaum als Lösung des Gefangenendilemmas akzeptiert werden. Dadurch wird - wie oben gezeigt ein neues Spiel geschaffen, für das zwar eine unproblematische Lösung existiert, die Problematik des ursprünglichen Gefangenendilemmas bleibt davon aber unberührt. Das Gefangenendilemma beschreibt eine ganz bestimmte Situation, die durch die Handlungsoptionen und die Interessen der Akteure an den möglichen Spielergebnissen definiert ist. Eine Umdefinition der Situation kann logischerweise keine Lösung der ursprünglichen Situation sein. Außerdem wird das Gefangenendi-

Coleman

49

Abbildung 4: Auszahlungsmatrix eines Spiels, das aus einem Prisoners'-Dilemma durch Austausch der Kontrollrechte entsteht

A Aj leistet einen Beitrag

Aj Leistet keinen Beitrag

A, Leistet einen Bs ¡trag

3,3

6,-3

-3,6

0, 0

A A, Leistet keinen Beitrag

Dilemma und damit auch das Bedürfnis nach der Einführung einer Norm entsteht für Coleman daher erst in einer Drei-Personen-Konstellation, wie sie in Abbildung 5 wiedergegeben ist. Die Situation ist eine Verallgemeinerung des Gefangenendilemmas. Jeder der nun drei Akteure besitzt wieder eine dominante Strategie, die darin besteht, keinen Beitrag zu leisten. Dadurch ergibt sich wieder ein Nash-Gleichgewicht, wenn alle drei Personen jeweils ihre dominante Strategie wählen. Das gemeinschaftliche Projekt wird daher nicht verwirklicht, obwohl alle drei Akteure sich besser stellen würden, wenn sie jeweils ihren Beitrag zur Herstellung des gemeinsamen Projekts leisten würden. Alle drei Akteure haben hier ein Interesse daran, das individuelle Kontrollrecht über die eigene Handlung aufzugeben und dem Kollektiv zu übereignen. Dies begründet nach Coleman das Bedürfnis nach einer Norm, die dem einzelnen dann die Handlung vorschreibt, die im Interesse des Kollektivs liegt. Da die einzelnen Akteure in diesem Fall gleichermaßen Nutznießer wie Zielakteure der Norm wären, handelt es sich um eine konjunkte Norm. Durch die Norm begründen die Akteure eine Herrschaftsbeziehung (vgl. Coleman 1995b: 4), in der sie gleichzeitig - in ihrer Rolle als Zielakteure - Untergebene wie - als Kollektiv, das gemeinsam das Kontrollrecht an ihren Handlungen ausübt - Vorgesetzter sind. Das vielleicht wichtigste Problem ist dabei, wie das Kollektiv seine Entscheidungen trifft, d.h. wie es seine Kontrollrechte ausübt. Sollten die Entscheidungen des Kollektivs z.B. durch eine einfache Mehrheitsregel gefunden werden, so bestände die Gefahr, daß sich Zweierkoalitionen bilden, die den Dritten zu ihrem Vorteil ausbeuten. Die Norm soll genau dies vermeiden. Ihre

lemma üblicherweise im Kontext der non-kooperativen Spieltheorie behandelt, in der bindende Absprachen nicht möglich sind. Als solche muß aber ein Austausch von Kontrollrechten wohl betrachtet werden (vgl. Voss 1998: 124). Coleman läßt die Frage unbeantwortet, wie in einer elementaren Zwei-Personen-Konstellation wie der beschriebenen die Ausübung des Kontrollrechts an der Handlung des einen durch den anderen denn überhaupt gewährleistet werden könnte.

50 Theorien der Gesellschaft Einhaltung soll vielmehr gewährleisten, daß die Entscheidungen des Kollektivs auch im Interesse des Kollektivs liegen und nicht im Interesse einer mächtigen Teilgruppe. Abbildung 5: Auszahlungsmatrix für ein Gemeinschaftsprojekt von drei Personen A,

A,

Leistet einen Beitrag

Leistet einen

leistet keinen

Beitrag

Beitrag

3,3,3

8, -1,-1

Leistet Keinen Beitrag

A, Leistet einen

Leistet keinen

Beitrag

Beitrag

-1, 8, -1

-1,-1,8

-5, 4, 4

4,4, -5

4, -5, 4

0,0,0

Leistet einen Beitrag

Leistet keinen Beitrag

Die Durchsetzung einer Norm ist allerdings nur gewährleistet, wenn normabweichendes Verhalten und normeinhaltendes Verhalten durch negative und positive Sanktionen bestraft bzw. belohnt werden. Dies wirft ein Problem auf, das Coleman als "Problem öffentlicher Güter zweiter Ordnung" bezeichnet (vgl. Coleman 1995a: 350ff). Da die Sanktionen Kosten erzeugen und ihre Durchführung im Interesse aller liegt, stellt ihre Bereitstellung ebenfalls wieder ein Dilemma dar11. Die Durchführung gemeinschaftlicher Projekte ist nur dann gewährleistet, wenn auch die Durchführung des gemeinschaftlichen Projekts der Sanktionierung von Drückebergern, die nicht ihren Anteil beitragen, gewährleistet ist. Ein Kerngedanke Colemans ist, daß das Sanktionssystem vornehmlich durch die sozialen Beziehungen unterstützt wird. Zur Etablierung einer Norm sind demnach stabile und feste soziale Beziehungen vonnöten. Am leichtesten ist es daher, eine Norm in einer kleinen und überschaubaren Gruppe durchzusetzen, in der die einzelnen Mitglieder untereinander enge Beziehungen unterhalten. Soziale Beziehungen wirken sich nach Coleman vor allem auf zweierlei Art auf die Durchsetzbarkeit von Normen aus, durch die Möglichkeit von Kommunikation12 und durch die Etablierung eines 11

12

Es ist nicht logisch notwendig, daß die Verhängung von Sanktionen den Sanktionierenden Kosten verursachen muß. Es läßt sich durchaus auch vorstellen, daß gewisse Personen einen persönlichen Gewinn aus Sanktionen gegenüber Normverletzern z.B. in Form des verbalen Tadels erzielen mögen (vgl. Frank 1992: 150). In einer engen Fassung der non-kooperativen Spieltheorie ist Kommunikation nicht zugelassen. In einer etwas weiteren Fassung ist Kommunikation zwar zugelassen, die Möglichkeit bindender Zu-

Coleman 51 Vertrauenssystems (vgl. Coleman 1995a: 349). Letzteres entsteht durch die vorhergehende Geschichte der Interaktionen zwischen den Akteuren, durch die sich so etwas wie "Verpflichtungen" und Erwartungen bezüglich des zukünftigen Verhaltens ausbilden13.

2.1.2 Die Bildung von Körperschaften Wenn die sozialstrukturellen Bedingungen jedoch nicht geeignet sind, implizite und informale Normen hervorzubringen, die ein vom Kollektiv erwünschtes Verhalten garantieren, dann ist es notwendig, das Sanktionssystem mit Hilfe einer formalen Organisation zu etablieren. Dies ist der Nährboden, auf dem sich komplexe und formale Körperschaften entwickeln. In der Körperschaft wird die Steuerung der betroffenen Handlungen durch die Verfassung der Körperschaft gewährleistet. Die Verfassung bestimmt vor allem die Zuteilung der Kontrollrechte, in ihr ist aber auch der Aufbau des Sanktionsapparates mit festgelegt. Die "effektive" Verfassung (vgl. Coleman 1995b: 5) eines sozialen Systems beinhaltet dabei nicht nur die geschriebenen Regeln und Gesetze, sondern auch die ungeschriebenen Normen und Verhaltenscodices, also alles, was eine Bahnung der Handlungen der Akteure erzeugt. Konjunkte Verfassungen sind - analog zu konjunkten Normen - Verfassungen, bei denen die "Nutznießer von gemeinschaftlich behaupteten Rechten auch die möglichen Zielakteure von gemeinschaftlich geschaffenen Beschränkungen oder Forderungen sind." (Coleman 1995b: 5) Wie Normen konstituieren auch Verfassungen Herrschaftsbeziehungen. Allerdings wird diesmal die Herrschaft nicht direkt durch das Kollektiv ausgeübt, sondern durch das Zwischenglied der Körperschaft. Gewissermaßen ist die Körperschaft zum Zwecke der Herrschaftsausübung erst gebildet worden. Die Körperschaft selbst setzt sich aus Positionen zusammen, die mit Personen besetzt sind. Die Gesamtheit der Kontrollrechte, die der Körperschaft übertragen sind, verteilt sich auf die einzelnen Positionen. Die Inhaber der Positionen üben diese Rechte nur als Teil der Körperschaft aus, nicht als natürliche Personen. Die Personen, die diese Positionen besitzen, wirken als Beauftragte oder "Agenten" des Kollektivs, das die Körperschaft zur Durchsetzung seiner Interessen gebildet hat. Das Kollektiv selbst ist demnach der Auftraggeber oder "Prinzipal". Die wohl bedeutendste und "erste" Bildung einer formal organisierten Körperschaft stellt die Staatsgründung dar, wie sie sich in den klassischen Vertragstheorien findet. Im Gesellschaftsvertrag von John Locke (1977 [1690]) z.B. schafft die Gesamtheit der Bürger als Volk die Körperschaft des Staates und als Agenten die Exe-

13

sagen wird aber trotzdem ausgeschlossen. Ein Gefangenendilemma wird auch durch Kommunikation keineswegs gelöst, auch wenn dies fälschlicherweise oft behauptet wird. Auch wenn die beteiligten Akteure sich gegenseitig zusichern, sich jeweils kooperativ zu verhalten, besteht für den anderen weiterhin - und im Grunde dann sogar erst recht - ein Anreiz, sich nicht-kooperativ zu verhalten. Diese Lösung eines Kooperationsproblems wie im Gefangenendilemma beruht darauf, daß das Originalspiel mehrmals gespielt wird. In solchen "iterierten Spielen" ist Kooperation tatsächlich eine rationale Verhaltensweise. Die ersten Formulierungen dieses Lösungsansatzes gehen bis auf David Hume zurück (vgl. Hume 1978 [1740]: 262ff, Lahno 1995). Berühmt geworden sind in neuerer Zeit die Computerturniere von Axelrod (1987), die in einer Simulationsstudie die "Evolution der Kooperation" (unter bestimmten Randbedingungen) nachweisen.

52 Theorien der Gesellschaft kutive14. Das Volk als Souverän ist der Prinzipal dieser Beziehung. Das Kontrollrecht, das jeder einzelne der Körperschaft überträgt, ist das ursprünglich von ihm als Individuum behauptete Recht auf Gewaltausübung zur Durchsetzung und zum Schutz seiner eigenen Interessen. Die gemeinschaftliche Übertragung dieser Rechte schafft das Gewaltmonopol des Staates, das wiederum durch die Regierung ausgeübt wird. Die Verfassung - der Gesellschaftsvertrag - kann auf zweierlei Weise versuchen, die Gewährleistung der Interessen des Kollektivs zu garantieren. Zum einen können sie explizit in der Verfassung niedergeschrieben sein, z.B. in Form eines Grundrechtekatalogs. Zum anderen kann die Gewährleistung der Durchsetzung der Interessen dadurch gesichert sein, daß in der Verfassung die Verfahren der Entscheidungsfindung der Körperschaft festgeschrieben werden. Letzteres bezieht sich z.B. in Hinsicht auf den Gesellschaftsvertrag auf die genaue Ausgestaltung der Legislative. Die Bürger sind in dieser konjunkten Verfassung sowohl Zielakteure des Rechts, indem dieses auf sie angewandt wird, als auch Nutznießer des Rechts, indem dieses sie vor den Übergriffen anderer Personen schützt. Weitere für die Struktur der modernen Gesellschaft wesentliche Körperschaften sind Unternehmen, in denen der einzelne das Kontrollrecht über seine Arbeit an den Arbeitgeber abtritt, und Schulen, in denen Eltern das ursprünglich von ihnen behauptete Recht auf Ausbildung und Erziehung ihrer Kinder in einem mehr oder weniger großen Umfang an Lehrer abtreten.

2.2. Die moderne Gesellschaft Vorherrschendes Merkmal der modernen Gesellschaft ist für Coleman die Tatsache, daß immer mehr Entscheidungen innerhalb des sozialen Systems auf dem Weg über Körperschaften getroffen werden. Nicht die einzelne Person überlegt mehr, zur Herstellung welcher Produkte sie ihre Arbeitskraft einsetzen will, sondern das Unternehmen, das sich im Wettbewerb mit anderen Unternehmen auf dem Markt behaupten muß. Nicht die Eltern treffen die Auswahl über die Fertigkeiten und das Wissen, die ihr Kind erwerben soll, sondern die staatliche Schulbehörde. Das natürliche soziale Umfeld wird schrittweise durch das konstruierte soziale Umfeld ersetzt, dessen Medium die formal organisierte Körperschaft ist. Doch im neuen, konstruierten sozialen Umfeld treten neue Probleme auf, mit denen die "vormoderne" Gesellschaft nicht konfrontiert worden ist.

2.2.1 Probleme der Moderne Aus der Definition der Moderne ergibt sich, daß Probleme der Moderne Probleme im Zusammenhang mit Körperschaften sind. Zwei Aspekte sind hierbei zu unter14

Die Exekutive stellt nur den hervorstechendsten Typus des Staatsagenten dar, auch Personen, die eine Position in der Legislative oder der Judikative innehaben, sind Agenten des Staates. In einem weiten Sinn sind sogar alle Bürger des Staates eine Art von "Agenten auf Abruf', da sie unter bestimmten Umständen zur Ausübung bestimmter Agententätigkeiten herangezogen werden können. So gehört es zu den klassischen Bürgerpflichten in vermutlich fast jedem Staat der Welt, daß im Kriegsfall Männer (und in manchen Staaten auch Frauen) zur Verteidigung des Staates eingezogen werden können.

Coleman 53 scheiden. Zum einen sind die Probleme zu beachten, die bei jeder Körperschaft auftreten und die sich auf den grundsätzlichen Aufbau einer Körperschaft, ihre Struktur, beziehen. Der zweite Problembereich entsteht durch spezifische Auswirkungen spezifischer Körperschaften, die das soziale Umfeld in zentralen Kernbereichen des menschlichen Lebens wie Arbeit und Erziehung verändern.

2.2.1.1 Strukturell bedingte Probleme von Körperschaften Probleme treten im Bereich des menschlichen Handelns in der Regel dann auf, wenn sich einzelne Personen nicht in der Weise verhalten, wie es von ihnen erwartet wird. Im Bezug auf Körperschaften füllen natürliche Personen zwei Arten von Rollen aus. Sie sind einerseits Teil des Kollektivs, das die Körperschaft gründet, andererseits übernehmen zumindest einige unter ihnen als Agenten der Körperschaft Aufgaben, die die Interessen des Prinzipals, des Kollektivs, realisieren sollen. Im ersten Fall entsteht für die Personen die Versuchung, zwar ihren Nutzen aus der Körperschaft zu ziehen, aber selbst keinen Beitrag zu ihrer Gründung und Aufrechterhaltung zu leisten. Dieses Problem wird das Trittbrettfahrerproblem genannt. Im zweiten Fall entsteht für die Agenten der Körperschaft ein Anreiz, die ihnen übergebenen Rechte zum eigenen Vorteil und nicht im Interesse der Körperschaft auszuüben. Dies ist das Kontrollproblem einer Körperschaft.

2.2.1.1.1 Trittbrettfahrer Trittbrettfahrerprobleme treten an vielen verschiedenen Stellen auf. Sie betreffen die Bereitstellung eines öffentlichen Gutes, die Teilnahme an der Sanktionierung und die Teilnahme an der Entscheidungsfindung der Körperschaft. In Bezug auf die Körperschaft des Staates sind somit alle Personen Trittbrettfahrer, die zwar die Leistungen des Staates annehmen, aber ihren Beitrag nicht in dem festgesetzten Umfang leisten, z.B. Steuerhinterzieher. Neben der Norm, die ein bestimmtes Verhalten als erwünscht festlegt, existieren zusätzlich Normen zweiter Ordnung, die die Mitglieder des Kollektivs verpflichten, von der Norm erster Ordnung abweichendes Verhalten zu sanktionieren. Da eine Norm ohne ein funktionierendes Sanktionierungssystem nicht aufrechterhalten werden kann, ist die Bedeutung von Normen zweiter Ordnung nicht zu unterschätzen. Coleman unterscheidet zwischen sogenannten heroischen und inkrementellen Sanktionen (vgl. Coleman 1995a: 360ff). Bei heroischen Sanktionen findet sich ein einzelner, der bereit ist, die Kosten der Sanktion allein zu übernehmen15. Inkrementelle Sanktionen kommen durch viele kleine Beiträge zustande, die in ihrer Gesamtheit eine wirksame Sanktionierungsmaßnahme ergeben. Die Aufweichung von Normen erster Ordnung nimmt häufig ihren Anfang mit einem Abbau Normen zweiter Ordnung. Nimmt man z.B. das System der organisierten Wissenschaft, so kann man für dieses feststellen, daß 15

Da die Bereitstellung von Sanktionen ein öffentliches Gut darstellt, handelt es sich bei Kollektiven, die ein Mitglied besitzen, das bereit ist, allein eine heroische Sanktion durchzuführen, um privilegierte Gruppen im Sinne Olsons (vgl. Olson 1968).

54 Theorien der Gesellschaft eine Norm erster Ordnung besteht, die die Qualität und Seriosität wissenschaftlicher Publikationen betrifft. Eine Norm zweiter Ordnung besteht dann in der Sanktionierung schlechter wissenschaftlicher Publikationen in Form von Repliken oder Rezensionen. Funktioniert dieses System nicht mehr, indem sich z.B. das Rezensionswesen zu einem System von gegenseitigen Gefälligkeiten entwickelt, so zieht dies auf Dauer den Zusammenbruch der Norm erster Ordnung nach sich. Da sowohl die Form der Beitragsleistung als auch die Form der Sanktionierung in einer Körperschaft festgelegt sind, auch wenn die Umsetzung gewisse Probleme bereiten vermag, ist in einer formalen Organisation das relevanteste Trittbrettfahrerproblem das Phänomen, daß sich die Mitglieder eines Kollektivs oft vor den Kosten drücken, die ihnen entstehen, wenn sie sich an der Entscheidungsfindung der Körperschaft beteiligen. In demokratischen Staaten wird diese Entscheidungsfindung durch das Verfahren von regelmäßig stattfindenden Wahlen des Parlaments undfozw. der Regierung, der Agenten des Kollektivs, vollzogen. NichtWähler entziehen sich diesen Kosten, da sie ja auch so von dem durch Wahlen bereitgestellten Gut, der Bestellung einer Regierung, profitieren.

2.2.1.1.2 Kontrolle der Agenten Körperschaften werden gebildet, um die Interessen eines Kollektivs zu wahren, im Falle eines Unternehmens sind dies die Kapitalanleger, im Falle des Staates die Bürger usw. Da die Körperschaft selbst ein abstraktes Gebilde ist, muß sie zur Durchsetzung der von ihr getroffenen Entscheidungen immer auf Agenten zurückgreifen. Das vielleicht grundlegendste Problem im Zusammenhang mit Körperschaften ist nun, wie die Körperschaft sicherstellen kann, daß der von ihr beauftragte Agent tatsächlich in ihrem Interesse handelt. Denn dieser besitzt als natürliche Person überdies immer auch eigene Interessen, die zumindest in bestimmten Situationen mit denen der Körperschaft in Konflikt geraten. Wie kann erreicht werden, daß Arbeiter ihre Arbeit sorgfältig verrichten, und daß Regierungen bzw. Politiker tatsächlich zum Wohle des Volkes handeln? Ein bedeutender Vorteil einer Theorie, die sich dem Postulat des methodologischen Individualismus verpflichtet fühlt, besteht darin, daß sie einen Rahmen bietet, der diese Fragestellung sowie eine angemessene Behandlung derselben überhaupt ermöglicht. Die Perspektive, daß z.B. Regierungspolitiker auch eigene Interessen verfolgen, macht eine realistische Analyse von Regierungshandeln erst möglich. "Public choice theory has been the avenue through which a romantic and illusory set of notions about the workings of governments and the behavior of persons who govern has been replaced by a set of notions that embody more scepticism about what governments can do and what governors will do, notions that are surely more consistent with the political reality that we may all observe about us." (Buchanan 1984: 11) Viele Theorien über die Demokratie widmen zwar einen großen Teil ihrer Analyse der Klärung der Frage, wie die Entscheidungen durch das Kollektiv gewonnen werden sollen, gehen dann aber selbstverständlich davon aus, daß die gefundenen Entscheidungen sozusagen automatisch durch die Agenten des Staates umgesetzt werden. Dieses Defizit weisen Rational- bzw. Public-Choice nicht auf, indem sie ihr Augenmerk auf die Anreize

Coleman

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der Agenten richten, die getroffenen Entscheidungen auch umzusetzen, ganz im Sinne eines anderen bedeutenden politischen Theoretikers "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser."

2.2.1.2 Verlust an sozialem Kapital In der modernen Gesellschaft werden Tätigkeitsbereiche, die zuvor den Entscheidungen der einzelnen Personen unterlagen, von Körperschaften übernommen. Dadurch nimmt der Anteil von Interaktionen zwischen Personen und Körperschaften gegenüber Interaktionen zwischen Personen untereinander zu. Dabei ist zu beobachten, daß sich Personen bei ihrem Verhalten gegenüber Körperschaften weniger "moralisch" verhalten als bei ihrem Verhalten gegenüber anderen Personen. Es ist leichter, den Staat oder den Arbeitgeber zu betrügen als den Nachbarn. Umgekehrt gilt, daß auch Körperschaften weniger zu "fairem" Verhalten gegenüber Personen neigen und dazu tendieren, sich gewisse Schwächen von natürlichen Personen besonders zunutze zu machen, insbesondere die Veranlagung, der Versuchung zu erliegen, kurzfristige Interessen auf Kosten langfristiger zu verfolgen (vgl. Coleman 1995b: 293). All dies kann als Indiz gedeutet werden, daß die Verbreitung von Körperschaften zuvor existierende Inseln der freiwilligen gegenseitigen Kooperation zerstört, oder - anders ausgedrückt - , daß Körperschaften ein Verschwinden des sozialen Kapitals der Gesellschaft nach sich ziehen. Es ist ein Wesenszug der Entwicklung einer modernen Gesellschaft, daß das soziale Kapital in ihr abnimmt 16 , während das physische Kapital, das in den natürlichen Ressourcen wie auch dem geschaffenen Vermögen besteht, zunimmt (vgl. Coleman 1995b: 429). Soziales Kapital besteht in dem Wert, den eine Sozialstruktur in Form von Ressourcen besitzt, "die von den Akteuren dazu benutzt werden können, ihre Interessen zu realisieren." (Coleman 1995a: 395) Soziales Kapital besteht also in einer Sozialstruktur, die z.B. das Aufkommen von Vertrauen und die Entstehung von Normen begünstigt, also die Bedingungen für kooperatives Handeln erleichtert. Die Wirkung, die die Bildung von Körperschaften in Bezug auf das soziale Kapital aufweist, läßt sich demnach unter anderem auf die Wirkung zurückführen, die Körperschaften auf die Sozialstruktur ausüben. Die Ausbildung von Körperschaften hat weitreichende Folgen für die Sozialstruktur. Deutlich wird das vor allem bei den Körperschaften, die den Beruf und die Kindererziehung betreffen. Bedingt durch die industrielle Revolution hat der Anteil der Menschen, die ihren Lebensunterhalt in Fabriken oder anderen Unternehmen verdienen, in den letzten 200 Jahren extrem zugenommen. Gleichzeitig sank der Anteil derjenigen, die in der Landwirtschaft arbeiteten. Begleitet wird diese Entwicklung von 16

Im Bezug auf den Staat ist die These vom Verlust des abnehmenden sozialen Kapitals nicht neu und wird - mit anderen Begrifflichkeiten versehen - von klassischen Liberalen wie Mill bis zu Theoretikern des Anarchismus wie Kropotkin vertreten (vgl. Taylor 1987: 168ff). Auch Taylor weist darauf hin, daß das Vorhandensein eines Staates sich negativ auf die freiwillige Kooperation in kleinen informalen Gruppen auswirken kann. "In the presence of a strong state, the individual may cease to care for, or even think about, those in his community who need help; he may cease to have any desire to make a direct contribution to the resolution of local problems, whether or not he is affected by them. ... The state releases the individual from the responsibility or need to cooperate with others directly." (Taylor 1987: 168f)

56 Theorien der Gesellschaft der Einführung öffentlicher Schulen und der Schulpflicht, so daß immer weniger Kinder ihre Ausbildung noch zu Hause erhalten. Coleman weist diese beiden Entwicklungstendenzen für die USA nach, aber sie gelten ganz ähnlich für alle westlichen Industrieländer, insbesondere auch für die Bundesrepublik. Am stärksten ist von diesen Entwicklungen die Institution der Familie betroffen, die damit einige der wichtigsten ihrer Funktionen verliert. Im weiteren Verlauf verliert die Familie neben der Produktion im Heimbetrieb und der dabei erfolgten Ausbildung der Kinder auch die Erziehungsfunktion in einem immer größeren Maße an staatliche Organisationen. Diese übernehmen in der modernen Gesellschaft auch weite Teile der Behandlung von Kranken und der Pflege der Mitglieder der älteren Generation, ebenfalls klassische Aufgabenbereiche der Familie. Gleichzeitig zu diesen Entwicklungen nehmen generell die Interaktionen zwischen Nachbarn und Mitgliedern der Gemeinschaft ab. Das alles hat zur Folge, daß die alte Sozialstruktur, die ein geschlossenes Netzwerk von engen Beziehungen darstellte, zerfallt. Einfache Beziehungen sind komplexen Beziehungen gewichen, und die unabhängige Existenzfähigkeit, in der ein Individuum alle Güter zur Befriedigung seiner Bedürfhisse selber herstellen konnte, ist einer globalen Existenzfähigkeit gewichen, in der nur noch das System als Ganzes mit seinen interdependenten Untereinheiten überleben kann. Der Abbau von sozialem Kapital durch die Bildung von Körperschaften scheint in gewisser Weise paradox zu sein, denn offensichtlich werden durch die Bildung einer Körperschaft die Interessen derjenigen verletzt, die eben zur Durchsetzung ihrer Interessen diese Körperschaft ins Leben gerufen haben. Wie kann es zu diesem Paradox kommen? Körperschaften besitzen als "supraindividuelle" Wesen sowohl Rechte als auch Ressourcen und entwickeln als solche supraindividuelle Wesen eine Form von Eigenleben. Obwohl die Körperschaften ursprünglich von einzelnen Personen gebildet worden sind, um deren Interessen zu verfolgen, können sie - einmal ins Leben gerufen - möglicherweise auch schädliche Wirkungen auf diese Personen ausüben. Diese treten als nicht vorhergesehene und nichtbeabsichtigte Folgen des Handelns der Individuen auf. Außerdem kann das Handeln von Körperschaften, ebenso wie das von Individuen, externe Effekte auf Dritte ausüben. Ähnlich wie im Zauberlehrling können die Körperschaften zu den von den Individuen selbst ins Leben gerufenen Geistern werden, die nun aber nicht mehr los zu werden sind. Der Konflikt zwischen den Interessenlagen der Individuen und den durch das Eigenleben der Körperschaft verwirklichten Handlungen läßt sich nur vor dem Hintergrund eines bestimmten methodischen Vorgehens formulieren. Auch hier erweist sich der methodologische Individualismus wieder als der notwendige begriffliche Anker, von dem aus die Wirkungsweisen der Körperschaft in der modernen Gesellschaft zu bewerten sind, will man nicht in einen tautologischen Funktionalismus verfallen. "Würde die Theorie als begrifflichen Ausgangspunkt nicht die Annahme wählen, daß Rechte und Ressourcen - und damit Souveränität - in den Händen individueller Personen liegen, könnte sie nicht die Frage stellen, wie diese Souveränität ihnen entfremdet und von Körperschaften behauptet werden kann, die ihnen vielleicht nicht umfassend Rechenschaft schuldig sind." (Coleman 1995b: 271) Es ist diese Folie von individuell behaupteten Rechten17, die den Hintergrund für eine kritische Sichtweise auf das Wirken der Körperschaften bildet. 17

Allerdings kommen diese individuellen Rechte den Menschen nicht qua ihres "Mensch-Seins" zu, wie dies der Fall bei einer naturrechtlichen Sichtweise wie z.B. der von John Locke ist, sondern

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2.2.2 Lösungsvorschläge der Theorie Individuen bilden eine Körperschaft, weil durch die Koordination ihrer Tätigkeiten durch die Körperschaft mehr an Wert geschaffen werden kann, als wenn jedes Individuum für sich alleine Güter und Dienstleistungen produzieren würde. Dadurch ist es der Körperschaft möglich, dem als ihr Agent Tätigen iür seinen Beitrag ein größeres Entgelt zu geben, als dieser für den Einsatz seiner Ressourcen erzielen würde, wenn er sie selbständig vermarkten würde. Diese von der Körperschaft ausbezahlten Leistungsanreize müssen aus der Sichtweise der Körperschaft allerdings geringer ausfallen als der von ihr als Organisation geschaffene Wert. Die Bilanz muß für die Körperschaft nur als Ganzes aufgehen, die Summe der geschaffenen Werte aus allen der Körperschaft zur Verfügung gestellten Ressourcen muß größer sein als die Summe aller von der Körperschaft an die Agenten bezahlten Leistungsanreize, damit diese ihre Ressourcen zur Verfügung stellen. Ist dieses Kriterium erfüllt, besitzt die Körperschaft globale Existenzfähigkeit. Der Vorteil von globaler Existenzfähigkeit liegt darin, daß die Körperschaft bei einzelnen Beziehungen zu bestimmten Agenten eine negative Nettobilanz hinnehmen kann, solange diese durch die positiven Nettobilanzen anderer Beziehungen ausgeglichen werden können. Der Nachteil globaler Existenzfähigkeit liegt auf der Hand: Wenn sich nur die Nettobilanzen einiger weniger Beziehungen zum Schlechten hin verändern, kann das schlagartig das Überleben des Systems als Ganzen in Gefahr bringen. Trittbrettfahrer, die für eine solche negative Bilanz einzelner Beziehungen verantwortlich sind, können daher das System durch ihr Verhalten zum Einsturz bringen. Eine Körperschaft kann auf verschiedene Weise versuchen, dennoch ihre Existenzfähigkeit zu erhalten, und somit das Trittbrettfahrerproblem zumindest ansatzweise in den Griff zu bekommen.

2.2.2.1 Bereichsspezifische, wechselseitige und unabhängige Existenzfähigkeit Eine Möglichkeit einer Körperschaft, sich gegen Trittbrettfahrer zu wehren und damit ihre Existenzfahigkeit zu sichern, besteht darin, von der globalen Existenzfähigkeit auf eine weniger umfassende Form zu kommen. Bereichsspezifische Existenzfähigkeit z.B. ist dann vorhanden (vgl. Coleman 1995b: 139f), wenn ein Unternehmen den Produktionsprozeß in mehrere Bereiche gliedert und jeder Bereich für sich genommen versuchen muß, seine Produkte an das Unternehmen zu "verkaufen". Die "Währung" besteht dabei in einer unternehmensinternen Bewertung der Einzelleistungen bzw. Produkte. Allerdings wirft diese Bewertung schwerwiegende Probleme auf, da ja innerhalb des Unternehmens kein Markt existiert, der die wahren "Preise" der einzelnen Produkte herausfindet. Der Grundgedanke der Einführung bereichsspezifischer Existenzfähigkeit besteht darin, die Leistungsanreize der Agenten stärker an die Leistung ihrer Beiträge zu koppeln. Im Extremfall kann dieses Prinzip bis auf das Individuum herabgebrochen werden, so daß der Leistungsanreiz des Individuums - im Falle eines Arbeiters sein Lohn - genau dem Wert seines marginalen Beitrags entspricht, den er zur Gesamtproduktion beisteuert. In diesem Fall bekäme das Indiviauch individuelle Rechte gründen nach Coleman (1995a: 56ff) auf einen allgemeinen Konsens, dem einzelnen Individuum diese Rechte zuzugestehen.

58 Theorien der Gesellschaft duum eine Art von unabhängiger Existenzfähigkeit zurück. Auf die eben geschilderte Weise kann das Trittbrettfahrerproblem wirkungsvoll gelöst werden, da keiner mehr von der Leistung anderer profitieren kann. Allerdings ist es in einem interdependenten Produktionsprozeß nicht möglich, die marginalen Beiträge der Einzelnen am Endprodukt festzustellen. Wäre dies tatsächlich möglich, würde vermutlich sogar die Notwendigkeit entfallen, Körperschaften überhaupt zu bilden. Das Charakteristikum einer Körperschaft besteht ja gerade darin, daß eine Gruppe von Individuen sich zusammenschließt, um gemeinsam ein Gut zu produzieren, das sich nicht einfach auf seine einzelnen Beiträge zurückfuhren und dementsprechend aufteilen läßt. Eine andere Möglichkeit einer Körperschaft, der Falle der globalen Existenzfähigkeit zu entgehen, besteht darin, gewisse Bereiche auszulagern und an dritte Personen oder Körperschaften zu übergeben, mit denen dann direkt und über den Markt verhandelt werden kann. Ein bekanntes Beispiel dafür sind Konzessionen, wie sie z.B. die Deutsche Bahn an den Betreiber der Speisewagen vergibt. Zwischen den beteiligten Partnern besteht in diesem Fall wechselseitige Existenzfähigkeit (vgl. Coleman 1995b: 143). Sowohl bei bereichsspezifischer wie bei wechselseitiger oder gar unabhängiger Existenzfähigkeit besteht der Versuch der Körperschaft, einen positiven Gesamtsaldo, d.h. der Summe aller einzelnen Salden, zu sichern, darin, schon bei den Teilsummen wo möglich - positive Salden zu erzielen18.

2.2.2.2 Vorwärts und rückwärts gerichtete Kontrolle Ein klassisches Verfahren, unerwünschte Verhaltensweisen wie z.B. Trittbrettfahren oder Ausnutzung der Ressourcen der Körperschaft zur Verfolgung eigener Interessen zu unterbinden, ist die Kontrolle. Coleman unterscheidet zwischen vorwärts und rückwärts gerichteter Kontrolle (vgl. Coleman 1995b: 140f). Bei vorwärts gerichteter Kontrolle handelt es sich um eine Kontrolle von Handlungen, d.h. die einzelnen 18

Allerdings stößt dieses Prinzip zumindest in gewissen Körperschaften an seine Grenzen. In vielen Körperschaften sind bestimmte Beziehungen von vornherein als "Verlustgeschäfte" mit negativen Salden festgelegt. Innerhalb eines Staates existieren z.B. immer große Gruppen von Personen, die durch Transferleistungen des Staates alimentiert werden müssen. Die Bilanz mit diesen Gruppen fällt von vornherein negativ aus, so daß sich der Staat seine globale Existenzfähigkeit nur dadurch erhalten kann, daß er die "Verluste", die diese Gruppen verursachen, durch "Gewinne" bei anderen Gruppen ausgleicht. Wenn sich diese Gruppe, die bisher aus der Sicht des Staates Überschüsse verursacht, weigert, weiterhin Beiträge zu leisten, die den Gegenwert der Leistungen, die sie vom Staat beziehen, übertreffen, ist die globale Existenzfähigkeit des Staates bedroht. Derselbe Fall tritt ein, wenn aus einer Versicherung die "guten" Risiken austreten, um eine neue Versicherung mit niedrigeren Policen zu bilden, so daß in der ursprünglichen Versicherung nur noch die "schlechten" Risiken verbleiben. Dieser Prozeß kann sich solange fortsetzen, bis die Versicherung zusammenbricht, da die Schäden durch die Policen nicht mehr gedeckt werden können. Auch in einer ursprünglichen Körperschaft wie der Familie kann keine unabhängige Existenzfähigkeit aller einzelnen Personen erzielt werden. Bestimmte Teile der Familie wie Kinder, in früheren Großfamilien auch die Generation der Alten, aber auch Behinderte, sind immer auf Alimentation angewiesen. Mag es im Fall von Kindern, die ja später Erwachsene werden, in der Regel über ihre gesamte Lebensspanne hinweg zu einem positiven Saldo kommen, so wird es immer Gruppen geben, die auch über ihre gesamte Lebensspanne hinweg negative Salden produzieren.

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Handlungen werden z.B. von Aufsehern beobachtet, um ihre korrekte Ausführung zu gewährleisten. Bei rückwärts gerichteter Kontrolle erfolgt diese anhand des Ergebnisses. In einem Unternehmen mit rückwärts gerichteter Kontrolle hat z.B. jeder Arbeiter im Produktionsprozeß die Möglichkeit, ein Zwischenprodukt eines anderen Arbeiters zurückzuweisen. Jeder Arbeiter übernimmt also die Verantwortung innerhalb seines Abschnitts der Produktion und wird durch alle anderen Arbeiter kontrolliert, die auf das Produkt seiner Arbeit zurückgreifen. Das allgemeine Prinzip der rückwärts gerichteten Kontrolle kann so formuliert werden, daß die Entscheidung über die Festlegung des Wertes eines Produkts beim nächststehenden Nutzer dieses Produkts liegen sollte. Auf Handlungen bezogen bedeutet dieses Prinzip, daß derjenige die Kontrollrechte über eine Handlung zugesprochen bekommen sollte, der von ihren Auswirkungen am stärksten betroffen ist. Ein elementares Beispiel für dieses Prinzip wäre der simple Verkauf eines Gutes. Der Käufer verfügt sozusagen über das Kontrollrecht der Handlung des Verkäufers, sein Produkt für einen bestimmten Preis verkaufen zu dürfen, indem er entscheidet, ob die Qualität des angebotenen Gutes den verlangten Preis rechtfertigt. Auch demokratische Wahlen sind ein Paradebeispiel für rückwärts gerichtete Kontrolle, wenn man die Ansicht vertritt, es handle sich bei politischen Wahlen in der Regel um eine Abstimmung über die vergangene Regierungsperiode. Im Sinne dieses "retrospective voting"-Ansatzes (vgl. Fiorina 1981) werden Regierungen nicht in Erwartung des von ihnen versprochenen Programms gewählt, sondern abgewählt, sobald die Wähler mit ihren Leistungen nicht mehr zufrieden sind. Um eine Art vorwärts gerichteter Kontrolle der Regierung durch die Bürger handelt es sich dagegen bei dem Versuch, durch Unterschriftenaktionen Einfluß auf ganz bestimmte politische Entscheidungen während einer Legislaturperiode zu nehmen.

2.2.2.3 Internalisierung der Interessen der Körperschaft durch die Agenten mit Hilfe von Identifikation Eine minimale Körperschaft wird dadurch gebildet, daß Prinzipal und Agent nicht mehr in einer Person zusammenfallen. Durch den Verlust der Identität von Prinzipal und Agent kommt es jedoch unweigerlich zu Interessenkonflikten. In konjunkten Herrschaftsbeziehungen sind diese Konflikte weniger stark ausgeprägt als in disjunkten Herrschaftsbeziehungen, da eine Gleichheit der Interessen besteht. Was gut für die Körperschaft ist, ist auch gut für den Agenten und umgekehrt, der Agent hat daher einen natürlichen Anreiz, sich im Interesse der Körperschaft zu verhalten. Noch stärker fällt diese "Loyalität" des Agenten mit der Körperschaft aus, wenn er nicht nur die Interessen mit ihr teilt, sondern sich sogar eins mit ihr fühlt. Durch die Identifikation des Agenten mit der Körperschaft kommt es automatisch zu einer Identität der Interessen (vgl. Coleman 1995b: 160). Die Identifikation mit der Körperschaft, die "corporate identity", kann durch die Körperschaft durch gemeinsame Rituale - wie z.B. gemeinsamer Morgensport in der Firma - herbeigeführt werden. Auch das Gefühl der Bedrohung kann die Identifikation der Agenten mit der Körperschaft verstärken, bestes Beispiel dafür ist der ausbrechende Patriotismus im Kriegsfall.

60 Theorien der Gesellschaft 2.2.2.4 Wiedergewinnung von sozialem Kapital innerhalb der formalen Organisationen Soziales Kapital in Form von Normen, Statussystemen und informalen Beziehungen verschwindet nicht gänzlich durch das Aufkommen von formalen Organisationen. Es tritt wieder auf die Bildfläche, sobald die notwendigen Bedingungen - kontinuierliche Beziehungen innerhalb eines übersehbaren, geschlossenen sozialen Netzwerks - gegeben sind. Diese können auch innerhalb einer formalen Organisation auftreten (vgl. Coleman 1993: 12). Die Untergliederung einer formalen Organisation in selbständig operierende Subsysteme hat daher neben dem Aspekt der möglichen Erzielung von bereichsspezifischer Existenzfähigkeit zusätzlich den Vorteil, "Nischen" zu schaffen, innerhalb derer sich wieder soziales Kapital entwickeln kann (vgl. Coleman 1993: 10). Der einzelne Angestellte mag sich gegenüber der Firma wenig verantwortlich fühlen und ist dementsprechend schlecht motiviert, seinen Beitrag zu leisten. Ist er jedoch Mitglied einer kleinen Gruppe von Angestellten, die für einen bestimmten Bereich gemeinsam die Verantwortung tragen, so wälzt der einzelne, wenn er nicht seinen vollen Beitrag bringt, seine Minderleistung auf die anderen Mitglieder der Gruppe ab. Innerhalb der Gruppe besteht also wieder der klassische Kontext, der die Entstehung von Normen begünstigt.

2.2.3 Gesellschaftliche Aufgaben der Soziologie Die Soziologie als Wissenschaft ist selbst ein Teil des Prozesses, der durch die industrielle Revolution in Gang gesetzt worden ist. Ihre Gründung und die Entwicklung ihrer Perspektiven läßt sich parallel zu den hervorstechenden Entwicklungstendenzen der modernen Gesellschaft - Abnahme der in der Landwirtschaft Arbeitstätigen, Abnahme der im eigenen Haushalt erzogenen und ausgebildeten Kinder - beobachten (vgl. Coleman 1993: 4). Da die Sozialwissenschaft selbst zum konstruierten sozialen Umfeld gehört, ist sie eine reflexive Wissenschaft, die sich selbst zum Objekt ihrer Analyse machen kann. In diesem Sinn läßt sich auch die Entwicklung der Soziologie interpretieren (vgl. Coleman 1993: 7). Charakteristisch für diese Entwicklung ist, wie seit der Marktforschung und Sozialpolitikforschung das Individuum in den Fokus des Forschungsinteresses der Soziologen geraten ist. Im Gegensatz zu den früheren Phasen der Soziologie, die "enthüllenden" Charakter hatten, ist die neue Forschung anwendungsbezogen und ermöglicht die "Rückkoppelung zu einem Akteur" (Coleman 1995b: 416). Damit ist die Möglichkeit gegeben, die Erkenntnisse der Wissenschaft für eine aktive Gestaltung der Gesellschaft heranzuziehen. Die Aufgabe der Wissenschaft besteht nach Coleman darin, an dieser sozialen Konstruktion teilzunehmen, indem sie das Wissen vermittelt, mit dem gewisse unerwünschte Effekte gemildert oder beseitigt werden können. "... our task is not merely to describe and analyse the functioning of society - not merely to understand, for example, how norms and status systems come into being and are maintained - but is a task of institutional design." (Coleman 1993: 10) Ziel der angewandten Sozialwissenschaft ist letztendlich "the rational reconstruction of society", so der programmatische Titel einer "presidential address"

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von 1992 (Coleman 1993). Eine Sozialwissenschaft, die nicht in der Lage ist, Wissen bereitzustellen, um dieses Ziel zu verwirklichen, stellt sich selbst in Frage (vgl. Coleman 1995b: 425). Das wichtigste Anwendungsproblem, das es für die Soziologie dabei zu lösen gilt, besteht - zumindest in der Gegenwart - darin, Wissen über die Struktur von formalen Organisationen zu erlangen, so daß das verlorengegangene soziale Kapital wiedergewonnen oder sogar vermehrt werden kann (vgl. Coleman 1995b: 444). Da die Folgen des Verlusts von sozialem Kapital bei der Erziehung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen mit am offensichtlichsten in Erscheinung treten, verwundert es auch nicht, daß Colemans eigene sozialpolitischen Untersuchungen sich vor allem mit dem Bildungswesen beschäftigen, einige davon mit weitreichenden politischen Konsequenzen. Seine Studie "Equality of Opportunity" von 1966 war der Auslöser des umstrittenen sogenannten "busing"-Programms, bei dem schwarze Jugendliche mit Bussen zu Schulen transportiert wurden, die vor allem von weißen Schülern besucht wurden. Durch diese Form der Integration sollte der Lernerfolg der schwarzen Schüler angehoben werden19.

3. Die Bedeutung Colemans für die Soziologie Die Kritik innerhalb der RC-Anhänger in der Soziologie an Coleman setzt unter anderem an methodischen Einwänden an. So bemängelt z.B. Junge - bei aller Bewunderung gegenüber Colemans monumentalem Werk - die "Konzentration auf strukturelle Interdependenz und damit auf parametrische Rationalität" (Junge 1998: 35). Coleman beschäftige sich mehr mit Situationen "einfacher Kontingenz", bei der das Verhalten des Akteurs von Parametern abhängt, die vom eigenen Verhalten unabhängig sind. Selbst wenn in der Theorie das Verhalten anderer berücksichtigt wird, geschieht dies in der parametrischen Form. In vielen interessanten Fällen des sozialen Handelns geht es jedoch um das Verhalten in Situationen "doppelter Kontingenz", d.h. die Folgen der Handlung eines Akteurs sind abhängig von den Handlungen Dritter. Daher muß er bei seiner Handlungswahl Erwartungen bezüglich der Handlungen dieser Dritter bilden und berücksichtigen und sich darüber klar sein, daß auch die dritten Personen wiederum Erwartungen hinsichtlich seines Verhaltens haben und sich dementsprechend verhalten werden. Solche Situationen sind der Gegenstandsbereich der Spieltheorie. Zwar wendet Coleman durchaus des öfteren spieltheoretische Konzepte an, allerdings nicht in dem formalen, fünften Teil der Foundations of Social Theory20, in dem die "Mathematik der sozialen Handlung" anhand von linearen Gleichungssystemen beschrieben wird. Das Vorgehen Colemans ist in diesem Bereich durch seine Orientierung an der ökonomischen Gleichgewichtstheorie zu erklären. Wichtig ist der Hinweis insofern, als die Erwartungen in Situationen doppelter Kontingenz "kulturelle Routinen" nahelegen und damit eine "Schwäche" von Colemans Theorie offenlegen, nämlich das Fehlen einer Theorie der Kultur. Auch Münch weist auf diesen Mangel in 19

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Allerdings hat sich das "busing'-Programm als alles andere als eine besonders erfolgreiche politische Maßnahme erwiesen. Überdies lag den entscheidenden Schlußfolgerungen über den Einfluß von "peer groups" auf den Lernerfolg nach Meinung bestimmter Kritiker sogar ein Vercodungsfehler zugrunde (vgl. Mayer 1998: 185). Diese entsprechen dem dritten Band der Studienausgabe von 1995.

62 Theorien der Gesellschaft . Bezug auf die "Verankerung von Normen in kulturellen Traditionen" hin (1998: 84). Der Vorwurf trifft jedoch nicht wirklich den Kern. Coleman schließt die Bedeutung von Kultur keineswegs aus, geschweige denn, daß er sie explizit leugnet, er setzt sie lediglich schon voraus - innerhalb der Untersuchung eines gegebenen Problems. Natürlich prägt Kultur die Erwartungshaltungen und vielleicht auch bestimmte Werthaltungen, als solche gehört sie damit zur "Logik der Situation". Sicher ist dies der Teil des sozialwissenschaftlichen Erklärungsschemas, den Coleman selbst am meisten vernachlässigt, während er sein Augenmerk hauptsächlich auf die "Logik der Aggregation" richtet, nichtsdestoweniger schließt die Theorie diesen Bereich nicht aus. Problematischer und grundsätzlicher ist jedoch der Einwand, daß Colemans Theorie der Entstehung von Normen ausschließlich auf externe Effekt gegründet ist und seine Theorie der Etablierung zu sehr auf rein ökonomische Motive - in Form der Vermeidung von Sanktionen - abhebt (vgl. Berger 1998, Münch 1998, Taylor 1993). Z.B. weist Berger nicht zu Unrecht darauf hin, daß es schwerfällt, Normen, die sich auf den Schwangerschaftsabbruch beziehen, auf Handlungsexternalitäten oder Koordinationsprobleme zurückzufuhren. Vielmehr handele es sich dabei um grundsätzliche "umstrittene moralische Überzeugungen" (Berger 1998: 70). Diese "Kritik" an Coleman dürfte auf einem Mißverständnis seines Normbegriffs beruhen, der wesentlich enger gefaßt ist, als dies üblicherweise verstanden wird. Nach Coleman existiert eine Norm, "wenn das sozial definierte Recht auf Kontrolle der Handlung nicht vom Akteur, sondern von anderen behauptet wird" (Coleman 1995a: 313). In diesem Sinn handelt es sich aber bei dem Thema des Schwangerschaftsabbruchs um keinen Streit um unterschiedliche Normen zwischen Befürwortern und Gegnern einer liberalen Regelung, sondern um einen Streit bezüglich verschiedener Wertvorstellungen, die z.B. den Schutz ungeborenen Lebens betreffen. Ausgangspunkt des Streits ist gewissermaßen, daß es im Sinne Colemans (noch) keine Norm gibt, zumindest keine einheitliche für die ganze Gesellschaft21. Man kann dieses Beispiel sogar als Beleg für Colemans Theorie der Normentstehung lesen, denn die Befürworter eines Verbots wollen ja gerade eine einheitliche Norm für alle, wobei sie ihre Forderung ganz im Sinne Colemans auf externe Effekte des Schwangerschaftsabbruchs, nämlich auf das ungeborene Leben, begründen. Normen dürfen also nicht mit Werten verwechselt werden oder mit normativen Fragen oder normativen Kriterien. Was diese angeht, so ist Colemans Einstellung eindeutig. "Normative Fragen lassen sich innerhalb einer positiven soziologischen Disziplin behandeln, solange normative Aussagen mit einer expliziten Rechtsallokation oder einem Wertsystem, die als normativ axiomatisch angesehen werden, zu rechtfertigen sind. Die Rechtfertigung des Wertsystems selber liegt außerhalb der Disziplin 2 . Doch wenn das System erst einmal besteht, dient es normativen Aussagen als Quelle der Rechtfertigung." (Coleman 1995b: 400) Der soziale Designer im Sinne Colemans nimmt ein Wertesystem als gegeben an und überlegt sich, wie soziale Organisationen zu konstruieren sind, so daß die von ihnen geschaffenen Ergebnisse im Sinne dieses Wertesystems erwünscht sind. Wie diese Werte zustande kommen, ist kein Bestandteil der Theorie, da Werte nicht erklärt, sondern bestenfalls geklärt wer-

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Natürlich gibt es aber Normen bezüglich des Schwangerschaftsabbruchs innerhalb bestimmter Gruppen, z.B. der der katholischen Bevölkerung. Hervorhebung vom Verfasser.

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den können. Eine positive Sozialtheorie steht deshalb keineswegs im Widerspruch zum sogenannten normativen Diskurs, sondern schließt an diesen an. 4, A r b e i t s a u f g a b e n

1. Was ist unter der "Logik der Aggregation" zu verstehen und welche Problematik taucht in diesem Zusammenhang auf? 2. Erklären Sie die Begriffe "vorwärts- und rückwärtsgerichtete Kontrolle"! Illustrieren Sie ihre Bedeutung durch die Anwendung auf verschiedene Bereiche Wie z.B. den Produktionsprozeß in einer Fabrik, die Vergabe eines Auftrags an einen Handwerker, die Kontrolle der Regierung durch den Bürger und die Kontrolle der Verwaltung durch die Regierung (vgl. Shepsle/Bonchek 1997: Kap. 13 u. 14). 3. Erläutern Sie die Problematik der Bereitstellung eines öffentlichen Gutes anhand des Gefangenendilemmas! Überlegen Sie sich alternative Formulierungen der Situation (vgl. Taylor 1987: Kap. 2)! Muß es in jedem Fall bei der Produktion öffentlicher Güter zu Dilemmasituationen kommen? 4. Normen wie Körperschaften entstehen als Antwort auf ein gegebenes Kooperationsproblem. Im Falle von Normen sind die sozialstrukturellen Bedingungen derart, daß sich auf der Basis einfacher Beziehungen das Kooperationsproblem lösen läßt. Diese Bedingungen sind nicht gegeben im Falle von Körperschaften, die auf komplexen Beziehungen aufbauen. Was sind - analog zu Normen - die Bedingungen, die eine Nachfrage nach, bzw. ein Angebot an Körperschaften entstehen lassen? Kann die Entstehung von Körperschaften im Rahmen eines Rational-Choice-Ansatzes überhaupt konsistent erklärt werden oder sind dafür möglicherweise Änderungen der Handlungstheorie vonnöten? 5. Coleman selbst spricht im Bezug auf die Etablierung von Normen von einem Problem öffentlicher Güter zweiter Ordnung, wenn es um die Bereitstellung von Sanktionen geht. Wenn das Dilemma erster Ordnung durch Androhung von Sanktionen "gelöst" wird, diese aber ein Dilemma zweiter Ordnung erzeugen, so scheint daraus ein infiniter Regress von Dilemmata zu folgen. Überlegen Sie, wie das vollständige zweistufige Spiel aussehen könnte, in dem als mögliche Spielzüge nicht nur die Entscheidungen der Personen enthalten sind, ob sie sich an der Bereitstellung des öffentlichen Gutes beteiligen sollen, sondern ebenfalls ihre Entscheidungen, ihren Beitrag bezüglich der Sanktionen zu leisten (vgl. Voss 1998). Unter welchen Umständen genügt eine solche zweistufige Darstellungsweise, tritt also das Problem des infiniten Regresses nicht auf? 6. Nehmen Sie kritisch Stellung zu Colemans Annahme, daß Erklärungen des Systemverhaltens, also von Phänomenen der Makroebene, mit Hilfe von Mikrophänomenen "stabiler und allgemeiner" seien als Erklärungen, die Makrophänomene mit Makrophänomenen erklären!

64 Theorien der Gesellschaft 5. Zitiertre und weiterführende Literatur Alexander, Jeffrey C./ Giesen, Bernhard/ Münch, Richard/ Smelser, Neil J. (Hg.): The Micro-Macro Link. Berkeley, 1987. Axelrod , Robert: Die Evolution der Kooperation. München, 1987. Berger, Johannes: "Das Interesse an Normen und die Normierung von Interessen. Eine Auseinandersetzung mit der Theorie der Normentstehung von James S. Coleman." In: Hans-Peter Müller/ Michael Schmid (Hg.): Norm, Herrschaft und Vertrauen. Opladen, 1998, S. 64-78. Buchanan, James M.: "Politics without Romance: A Sketch of Positive Public Choice Theory and its Normative Implications." In: James M. Buchanan/ Robert D. Tollison (Hg.): The Theory of Public Choice, Vol II.. Ann Arbor, Mich., 1984, S. 11-22. Buchanan, James M./ Tollison, Robert D. (Hg.): The Theory of Public Choice, Vol II. Ann Arbor, Mich., 1984. Clark, Jon (Hg.): James S. Coleman. London, 1996. Coase, R.H.: "The Problem of Social Cost." In: Journal of Law and Economics, 3, 1960, S. 1-44. Coleman, James S.: "The Rational Reconstruction of Society. 1992 Presidential Address." In: American Sociological Review, 58, 1993, S. 1-15. Coleman, James S.: Grundlagen der Sozialtheorie. Band 1: Handlungen und Handlungssysteme. München, 1995a. Coleman, James S.: Grundlagen der Sozialtheorie. Band 2: Körperschaften und die moderne Gesellschaft. München, 1995b. Coleman, James S.: Grundlagen der Sozialtheorie. Band 3: Die Mathematik der sozialen Handlung. München, 1995c. Coleman, James S.: "A Vision for Sociology." In: Jon Clark (Hg.): James S. Coleman. London, 1996, S. 343-349. Esser, Hartmut: '"Foundations of Social Theory' oder 'Foundations of Sociology'?" In: Analyse & Kritik, 14, 1992, S. 129-142. Esser, Hartmut: Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt am Main, 1996. Fararo, Thomas J.: "Foundational Problems in Theoretical Sociology." In: Jon Clark (Hg.): James S. Coleman. London, 1996, S. 263-284. Fiorina, Morris P.: Retrospective Voting in American National Elections. New Haven/ London, 1981. Frank, Robert H.: "Melding Sociology and Economics: James Coleman's 'Foundations of Social Theory'." In: Journal of Economic Literature, 30, 1992, S. 147-170. Hardin, Russell: Collective Action. Baltimore, 1982. Hayek, Friedrich A. v.: Law, Legislation and Liberty. Vol. 1: Rules and Order. Chicago (London), 1973. Hume, David: Ein Traktat über die menschliche Natur. Bd 2. Über die Affekte. Über Moral. Hamburg, 1978 [1740], Junge, Kay: "Vertrauen und die Grundlagen der Sozialtheorie. Ein Kommentar zu James S. Coleman." In: Hans-Peter Müller/ Michael Schmid (Hg.): Norm, Herrschaft und Vertrauen. Opladen, 1998, S. 26-63. Lahno, Bernd: Versprechen. Überlegungen zu einer künstlichen Tugend. München,

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Kapitel III Die Modernisierungstheorie von Talcott Parsons

Jens Jetzkowitz

Inhalt:

0. 1.

Vorbemerkung Parsons' allgemeine Theorie des Handelns als begriffliche Grundlage der Modernisierungstheorie 1.1 Einige Grundbegriffe der "Allgemeinen Handlungstheorie" 1.2 Philosophisches und soziologisches Traditionsgut in der "Allgemeinen Handlungstheorie" 2. Theorie der Moderne 2.1 Theorie des Modernisierungsprozesses 2.2 Die Moderne 2.2.1 Probleme der Moderne 2.2.2 Die von der Theorie vorgeschlagenen Konsequenzen 2.2.3 Die gesellschaftliche Bedeutung der Soziologie 3. Die Relevanz von Parsons1 Modernisierungstheorie im soziologischen Diskurs 3.1 Zur Auseinandersetzung mit Luhmanns Theorie selbstreferentieller autopoietischer Systeme 3.2 Zur Auseinandersetzung mit Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns 4. Arbeitsaufgaben 5. Zitierte und weiterführende Literatur

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Theorien der Gesellschaft

Wer liest heute noch die Schriften von Talcott Parsons? Seine Theorien und Begriffssysteme gelten als abstrakt und formalistisch und werden im Mainstream der soziologischen Forschung als unbrauchbar betrachtet. Nur wer aufmerksam ist, wird beobachten, daß Parsons' Werk nahezu allen aktuellen Modernisierungstheoretikern als Hintergrund dient, von dem die eigenen Überlegungen kritisch abgesetzt und weiterentwickelt werden. Allein schon diese Beobachtung muß dazu führen, Parsons zu lesen, um die Deutungen von Parsons' Werk in anderen Theorien zu verstehen und zu überprüfen. Parsons ist aber weit mehr als ein Klassiker. Recht verstanden lehrt seine Soziologie, Vergangenheit und Gegenwart differenziert wahrzunehmen. Sie stellt das Handwerkszeug zur Verfügung, um zu verstehen, welche Aspekte des gesellschaftlichen Lebens schicksalsgleich durch verschiedene Mechanismen vorherbestimmt sind und welche zufällig oder durch freie Willensentscheidungen hervorgebracht werden. Auf diese Weise fordert sie dazu auf Zukunft als partiell offen für Gestaltung zu begreifen und kreativ die Probleme gesellschaftlicher Zustände und Entwicklungen zu verstehen. Als drängendes Problem der Moderne sieht Parsons die Entwicklung einer Solidaritätsbasis an, die den Pluralismus und die moralische Autonomie des Einzelnen garantiert. Auf dieses Problem stößt man in allen Bereichen der Gestaltung von Lebensverhältnissen, sei es im Hinblick auf Fragen der gerechten Verteilung von Lebenschancen, sei es im Hinblick auf das Verhältnis von Gesellschaft und Natur. Stets geht es darum, die Konsequenzen von Verhaltensgewohnheiten abzuschätzen und den Raum für Entscheidungsfreiheiten zu vermessen. Die Leistungsfähigkeit von Parsons' Modernisierungstheorie liegt darin begründet, daß sie für diese Fragestellung sensibilisiert und damit Gesellschaftsanalysen auf einem hohen Reflexionsniveau ermöglicht.

0. Vorbemerkung "Strukturfunktionalismus" ist eine im soziologischen Diskurs durchaus übliche Bezeichnung für das Theorieprogramm, das Talcott Parsons zwischen seinem ersten großen Werk "The Structure of Social Action [1937]" und seiner letzten selbst herausgegebenen Aufsatzsammlung "Action Theory and the Human Condition [1978]" entwickelt hat. Nichtsdestotrotz ist sie problematisch, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen hat sich Parsons davon distanziert, sein Theorieprogramm mit dem Label "strukturell-funktionale Theorie" zu versehen, und betont, daß der Systembegriff bereits sehr früh im Mittelpunkt seines Denkens gestanden habe (vgl. Parsons 1975: 29). Er selbst verwendete die Bezeichnung der "Allgemeinen Handlungstheorie". Mißtraut man der Selbsteinschätzung eines Autors und überprüft sie - wie es von der Profession des Wissenschaftlers erwartet wird - kritisch auf ihre Richtigkeit, dann stößt man auf den zweiten Grund, Parsons' Theorie nicht dem Strukturfunktionalismus zuzurechnen. Parsons kreiert seine Theorie nicht, um gesellschaftliche Strukturen zu identifizieren, sie auf Funktionen zu beziehen und auf diese Weise zu verstehen und zu erklären. Vielmehr verwendet er Begriffe wie "Struktur", "Funktion" und "System" zum Aufbau eines Begriffsrahmens, der der soziologischen Analyse von Handlungen dienen soll. Bei seiner Anwendung wird unterstellt, daß der Aspekt der Wirklichkeit, der in einer spezifischen soziologischen Analyse untersucht wird, Teil einer systemischen Ordnung ist und mit anderen Teilen in Funktionsbeziehungen steht. Die für die strukturell-

Parsons 69 funktionale Theorie bedeutsame Frage, ob ein Strukturelement eine Funktion hat oder ob es funktionslos oder dysfunktional ist, ist für diesen Ansatz gegenstandslos.

1. Parsons' allgemeine Theorie des Handelns als begriffliche Grundlage der Modernisierungstheorie Die allgemeine Theorie des Handelns, an der Talcott Parsons in einem Zeitraum von mehr als 40 Jahren gearbeitet hat, basiert auf der Annahme, daß sich jede Handlung als das Ergebnis des Zusammenspiels einer Reihe von Komponenten darstellen läßt. Die Analyse, also: das Zerlegen von Komponenten und Wirkungszusammenhängen, ist diesem Theorieansatz zufolge die Vorgehensweise soziologischer Forschung. Bei der Entwicklung seiner "Allgemeinen Handlungstheorie" hat sich Parsons mit verschiedenen anderen Theorien auseinandergesetzt und sie im Hinblick auf seine zentrale Annahme ausgewertet. Deutlich wird das in seinem bereits erwähnten ersten großen Werk "The Structure of Social Action [1937]", in dem er die Theorien der Soziologen Max Weber und Emile Dürkheim und der Wirtschaftswissenschaftler Alfred Marshall und Vilfredo Pareto dahingehend interpretiert, daß sie einen gemeinsamen Konvergenzpunkt haben: ein voluntaristisches Konzept von Handeln. Demnach muß eine Theorie sozialen Verhaltens neben den verschiedensten konditionierenden Faktoren immer auch berücksichtigen, daß Menschen voluntative Wesen sind: Sie können sich mit dem Umstand, daß sie auf orientierende Informationen angewiesen sind, reflexiv auseinandersetzen, weil sie über einen Willen und über Imaginationsfähigkeit verfugen. Auch wenn Parsons seine eigene Theorie in späteren Ausarbeitungsphasen nicht mehr als voluntaristische Theorie des Handelns akzentuiert, gibt er den voluntaristischen Aspekt in seinem Handlungsbegriff nie auf. Von ihm ausgehend hat er die "Allgemeine Handlungstheorie" als ein integratives Begriffssystem entwickelt, das sich aber zugleich pointiert zu anderen sozialtheoretischen Ansätzen in Beziehung setzt. Ihr hohes Abstraktionsniveau und der Formalisierungsgrad der Sprache, mit der sie ausgearbeitet ist, können zwar als "Barrieren" in der Auseinandersetzung mit ihr empfunden werden. Eine allgemeine Theorie des Handelns, welche die Entwicklung nicht-reduktionistischer Theorien über spezifische soziale Phänomene ermöglicht, kommt aber ohne diese Darstellungsmittel nicht aus.

1.1 Einige Grundbegriffe der "Allgemeinen Handlungstheorie" "'Handeln' definiere ich als ein System (...)" (Parsons 1977c: 74) - In dieser Kurzform konzentriert sich das gesamte Programm der "Allgemeinen Handlungstheorie". Allerdings ist sie kaum zu entschlüsseln, ohne Antworten auf die folgenden Fragen zu erhalten: (1) Aus welchen Gründen wird Handlung als System betrachtet? (2) Wie ist der Begriffskomplex aufgebaut, mit dem Handlung als System analysiert werden soll? (3) Welche Konsequenzen entstehen für die Analyse von Handlungen, wenn man sie aus dieser Perspektive betrachtet?

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Theorien der Gesellschaft (4) Was folgt aus dieser Perspektive für die soziologische Forschung? Entlang dieser Fragen lassen sich die Grundzüge der "Allgemeinen Handlungstheorie" skizzieren.

(1) Parsons baut seine soziologische Theorie von einem wissenschaftsphilosophischen Standpunkt auf, dem analytischen Realismus. Dieser Standpunkt läßt sich folgendermaßen umschreiben: Die Welt, in der wir leben, ist in ihrer Beschaffenheit und in ihren Ursache-Wirkungsgefugen äußerst vielschichtig und unübersichtlich. Manche Zusammenhänge scheinen eindeutiger zu sein als andere und viele Gegebenheiten und Ereignisse lassen sich nicht nur auf einen einzigen ursächlichen Faktor zurückführen. Darüber hinaus scheinen sich Konstellationen im Laufe der Zeit zu wandeln. Da das Prinzip des "In-Beziehung-stehens" - bzw., um einen anderen Terminus zu verwenden, das Prinzip der Verbundenheit - alle Aspekte der Welt durchzieht, scheint es angemessen, es als Grundlage für das Verstehen und Erklären des gesamten Universums anzunehmen. Auf dieser Grundlage stellt sich jede Feststellung von Zusammenhängen und Ursache-Wirkungsgefugen in der '"sausenden brausenden' Realität" - Parsons nimmt diesen Begriff von William James auf (vgl. Ackerman/Parsons 1976: 81) - als eine Abstraktion von der Verbundenheit insgesamt dar. Der analytische Realismus geht also nicht nur davon aus, daß die Dinge und Ereignisse, welche die Welt konstituieren, in Zusammenhängen stehen. Gleichzeitig bringt er die Auffassung zum Ausdruck, daß diese Zusammenhänge von Menschen beobachtet und erkannt werden können. "Das ewig Unbegreifliche an der Welt ist ihre Begreiflichkeit." - An diese Aussage Albert Einsteins schließt Parsons (1978c: 357, Anm. 17) an, wenn er voraussetzt, daß auch das Handeln von Menschen als eine komplexe Ordnung betrachtet werden muß, die durch Gesetzmäßigkeiten und Regelungsmechanismen strukturiert ist. Gewiß gibt es Zufälle, und das heißt: Ausnahmen von den Regeln, aber das ändert nichts daran, daß sich Ordnungen und Zusammenhänge beobachten lassen. Parsons' analytischer Realismus, so läßt sich zusammenfassen, ist analytisch, insofern er die Ordnung des Handelns als Abstraktion aus der Verbundenheit der Welt insgesamt betrachtet. Realistisch ist er, weil er davon ausgeht, daß die dazu verwendeten Begriffe auf den Umstand der Verbundenheit als dem Prinzip der Wirklichkeit abgestimmt sein müssen. Der Systembegriff, davon geht Parsons aus, vermag diese Abstimmungsleistung zu erbringen, insbesondere wenn er zusammen mit zwei weiteren grundlegende Begriffe - dem der "Interpénétration" und dem der "Funktion" verwendet wird. (2) Mit dem Begriff des "Systems" ist zunächst einmal nichts anderes gemeint als eine Ordnung, eine Regelmäßigkeit oder - etwas komplexer - ein Zusammenhang von Regelmäßigkeiten. Wenn man sagt, dieses und jenes ist ein System, meint man nichts anderes, als daß da ein Zusammenhang von Ereignissen und Elementen besteht, der sich durch eine eigene Struktur auszeichnet, die ihn von einer Umwelt unterscheidet. "Umwelt" meint in diesem abstrakten Kontext, daß es auch Ereignisse und Elemente gibt, die nicht zum System gehören. Ein Beispiel kann diesen Gedankengang verdeutlichen: Bei der Analyse eines Ökosystems werden die Beziehungsmuster zwischen Pflanzen und Tieren erhoben - etwa in der Form: Wer frißt was oder wen? -

Parsons 71 und in ihrer Vernetzung und Überlagerung untersucht. Der Tatsache, daß Pflanzen und Tiere aus Molekülen bestehen und sie unter den Bedingungen der Schwerkraft leben, wird bei dieser Analyse geringere Bedeutung zugemessen; zwar sind physikalische Kräfte, chemische Stoffe und lebende Organismen notwendige Voraussetzungen für die Existenz eines Ökosystems, aber für die Beschreibung der Beziehungsmuster zwischen Pflanzen und Tieren sind sie sekundär. Man kann sie als Umwelt des Ökosystems betrachten. Allerdings, und damit ist der zweite Grundbegriff angesprochen, steht alles mit allem in Verbindung. Genau auf diesen Umstand bezieht sich der Begriff der "Interpenetration". Parsons geht davon aus, daß es als Ordnungen zu beschreibende Zusammenhänge in der Welt gibt, diese Ordnungen aber in Wechselwirkungen stehen und einander beeinflussen. So wird die Zunahme von Stickstoff im Boden ein Ökosystem beeinflussen, indem sie Veränderungen des Pflanzenbestandes bewirkt. Diese Veränderungen können wiederum einen Effekt auf den Stickstoffhaushalt eines Lebensraumes haben. Solche Wechselwirkungen gilt es zu berücksichtigen, wenn man ein System betrachtet. Parsons verwendet deswegen einen Systembegriff, der nicht von einer statisch bestehenden Ordnung ausgeht, sondern von Ordnungen, die sich im Austausch mit ihren Umwelten verändern können. Systemtheoretisch gesprochen: Parsons konzipiert Systeme als "umweltoffene" bzw. "lebende" Systeme. Um Wandel und Fortbestehen von Systemstrukturen beobachten und beschreiben zu können, führt Parsons den Begriff der "Funktion" ein. Ein System kann nur dann seine Systemstruktur erhalten, wenn es sich zu seinen Umwelten in Beziehung setzt. Diese Beziehung zwischen System und Umwelt bringt der Begriff der "Funktion" zum Ausdruck. Er wird definiert als Beitrag eines Systems an ein anderes System (vgl. Ackerman/ Parsons 1976: 76f). Das heißt, der Begriff erfaßt die Austauschverhältnisse eines Systems mit seinen Umwelten und markiert die Leistungen, die ein System erbringen muß, um weiter in den Umwelten zu bestehen und sich nicht aufzulösen. Zur Analyse dieser Prozesse hat Parsons ein Schema entwickelt, das als "VierFunktionen-Schema" oder "AGIL-Schema" bekannt ist (vgl. z.B. Parsons/Platt 1990: 23ff). Dieses Schema ist im Austausch von theoretischer und empirischer Forschung entstanden (vgl. Parsons/Bales/Shils 1953). Es dient dem Zweck, ein Handlungssystem in seinen Beziehungen zu den Umwelten zu durchleuchten. Dazu gliedert es die grundlegende Funktion eines Systems, seinen Fortbestand in der Zeit zu gewährleisten, in vier spezifischere Funktionen auf: (a) die Funktion der Anpassung (Adaptation); (b) die Funktion der Zielerreichung (Goal-Attainment); (c) die Funktion der Integration (Integration); (d) die Funktion der Erhaltung latenter Strukturmuster (Latent-PatternMaintenance). Mit diesen vier grundlegenden Funktionen läßt sich, so Parsons, jedes System in seinem Verhältnis zu seinen Umwelten kennzeichnen (vgl. Grafik 1): Die Funktionen der Anpassung und der Zielerreichung sorgen für den "Außenkontakt" eines Systems. Dabei meint "Anpassung" nichts anderes, als daß jedes System Ressourcen benötigt, um seinen Bestand zu garantieren; die Funktion der Zielerreichung bezieht sich darauf, daß jedes System seine interne Ordnung, d.h. systeminterne Zwecke, auch auf die Umweltgegebenheiten abstimmen muß und dafür Orientierung betreffs der

72 Theorien der Gesellschaft Umweltanforderungen benötigt. Die Funktion der Integration bezeichnet die Notwendigkeit, daß die unterschiedlichen Komponenten eines Systems aufeinander abgestimmt und miteinander verknüpft werden müssen, und die Funktion der Erhaltung latenter Strukturmuster bezieht sich darauf, daß jedes System bereits eine bestimmte "Identität" hat und folglich über Muster verfügt, die die interne Ordnung aufrechterhalten. Alle vier Funktionen bringen die Annahme zum Ausdruck, daß ein System seine Identität (Latent Pattern Maintenance) in den drei Stadien der Anpassung, Zielerreichung und Integration prozesshaft entwickelt. Grafik 1: Die vier grundlegenden Funktionen eines Systems: Der Bestand eines Systems wird durch die Funktionen Anpassung (A), Zielerreichung (G), Integration (I) und Erhaltung latenter Strukturmuster (L) gewährleistet.

(3) Betrachtet man nun mittels dieser Begriffe Handlung als System, dann sind zum einen die Außenverhältnisse des Handlungssystems und zum anderen seine interne Struktur in den Blick zu nehmen (vgl. Grafik 2). Nach "außen" grenzt sich jedes Handlungssystem deutlich von zwei anderen Systemen ab. Zunächst einmal unterscheidet es sich von anderen Äußerungsformen des Organismus, und zwar dadurch, daß es durch eigene Sinnsetzungen orientiert ist. Rein körperliche Reaktionen auf einen vorangehenden Reiz sind nicht der eigentliche Aspekt, den Parsons mit dem Begriff der "Handlung" erfassen möchte. Darum betrachtet er den menschlichen Körper als Voraussetzung unseres Handelns im Sinne einer Umwelt des Handlungssystems (biologisches System). Ein Beispiel verdeutlicht diesen Ansatz: Schlägt man einem Menschen auf den solar plexus, dann krümmt er sich - ein reiner und kaum beeinflußbarer Reflex. Wie er aber nach dem erhaltenen

Parsons 73 Schlag auf diesen reagiert - ob er wegläuft, nach dem Grund für den Angriff fragt oder den Schläger selbst attackiert ist vor allem an seinen Überzeugungen, Moralvorstellungen und an anderen normativen Mustern ausgerichtet, denen er im Laufe seines bisherigen Lebens begegnet ist. In der Regel stehen ihm unterschiedliche Möglichkeiten zur Wahl und es hängt von seinem Handlungskonzept (und natürlich von der Situation) ab, wie er mit erlittener Gewalt umgeht. Handeln ist also ein Verhalten in einer Situation, die von Menschen sinnhaft ausgerichtet wird. Mit "Sinn" ist dabei gemeint, daß es normative, also: richtungsweisende Muster gibt, welche die Bezugnahme auf eine Situation steuern. Anders ausgedrückt: In den Situationen, in denen Menschen prinzipiell eine Wahlfreiheit über ihr Verhalten haben, handeln sie. Insofern sich Handelnde wechselseitig mit der Freiheit konfrontieren, prinzipiell zwischen Handlungsalternativen auswählen zu können, konstituiert sich soziale Ordnung immer unter den Bedingungen doppelter Kontingenz (vgl. Parsons et.al. 1951: 16; Parsons 1977a: 167f). Damit ist gemeint, daß einem Handelnden zum einen die Möglichkeit offensteht, zwischen alternativen Verhaltensweisen zu wählen. Zum anderen ist er für sein Gegenüber selbst "soziales Objekt" und folglich Ziel von nicht notwendigem, aber möglichem Agieren. Diese grundlegend problematische Situation wird Parsons zufolge durch normative Muster "überbrückt", die Menschen im Laufe ihrer Sozialisation kennenlernen und ihnen Möglichkeiten für ihr Verhalten aufzeigen. Folglich besteht das Handlungssystem aus normativen Mustern. Diese bedürfen allerdings der Begründung. Das bedeutet, daß die Verpflichtungen und Bindungen, die bei der mehr oder weniger bewußten - Auswahl zwischen unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten eine Rolle spielen, in einer umfassenden und Handlungen begründende Vorstellung von dieser Welt und ihrem Sinn oder Unsinn eingeordnet werden müssen. Darauf weist z.B. die Existenz der traditionellen Religionen hin. Parsons faßt auch diese grundlegenden Vorstellungen von Sinn und Ziel der Welt und von kosmischer Ordnung in einem eigenen System zusammen, das er das "telische System" nennt (vgl. Parsons 1978c). Es unterscheidet sich vom Handlungssystem dadurch, daß es nur auf dem Wege der Spekulation zugänglich ist, während die normativen Muster als Elemente des Handlungssystems empirisch wahrnehmbar sind und - etwa mit den Methoden der Sozialwissenschaften - erforscht werden können. Damit sind die unmittelbaren Umwelten des Handlungssystems benannt - zu ergänzen ist lediglich das System der chemischen Elemente und physikalischen Kräfte, das in der "Allgemeinen Handlungstheorie" ebenfalls als eine eigenständige Ordnung konzipiert wird (vgl. Parsons 1978c). Die interne Struktur von Handlungen stellt Parsons mit Hilfe des AGIL-Schemas als einen systemischen Prozeß dar. Er unterscheidet Kultur, Sozialität, Persönlichkeit und Verhaltenscodierung als Elemente jeder Handlung. Da jedes dieser Elemente selbst wiederum als eine eigenständige Ordnung betrachtet werden kann, spricht er vom kulturellen, vom sozialen, vom personalen und vom behavioralen System (vgl. z.B. Parsons/ Platt 1990: 29ff). Das behaviorale System faßt die erlernten Verhaltensmuster eines Organismus zusammen (Adaptation), das psychische System beinhaltet die motivationalen Orientierungsmuster von Akteuren (Goal-attainment), das Kultursystem besteht aus den Regeln, welche die Entscheidungen im Orientierungsprozeß festlegen (Latent Pattern Maintenance) und das Sozialsystem umfaßt die Interaktionsmuster (Integration). Handeln wird auf diese Weise als ein Prozeß verstan-

74 Theorien der Gesellschaft den, der als eine emergente Einheit aus diesen Subsystemen und ihren Beziehungen untereinander entsteht. Soziale Systeme lassen sich - wie alle anderen Subsysteme des Handelns auch - selbst wiederum entsprechend der vier grundlegenden Funktionen analysieren. Parsons unterscheidet die Kategorien "Wert", "Norm", "Kollektivität" und "Rolle" als Komponenten, die in jeder sozialen Struktur vorhanden sind. Wiewohl sie in jedem sozialen System eine spezifische Funktion im Blick auf das Ganze erfüllen, setzen sich soziale Systeme immer aus Kombinationen dieser Strukturelemente zusammen. Grafik 2: Die "Landkarte" des Handelns: Im Koordinatenkreuz des AGIL-Schemas sind die verschiedenen Systeme angeordnet, die Handeln in seiner Umwelt konstituieren. Das soziale System ist mit seinen Strukturelementen dargestellt. L

I

kulturelles

Wert Norm soziales Rolle

telisches System

• Handlungssystem

behavioraies System

physikalisch-chemisches System

A

personales System

biologisches System

G

Im Sozialsystem erfüllen Werte die Funktion der Strukturerhaltung, sie "(...) stellen wünschenswerte Typen sozialer Systeme dar, die das Eingehen von Verpflichtungen durch soziale Einheiten regeln" (Parsons 1985: 15). Sie üben den stärksten informational-kontrollierenden Einfluß in sozialen Systemen aus und erzeugen eine normative Spannung, indem sie auf den "Soll-Zustand" des Systems hinweisen und dadurch auf die Kluft zwischen den wünschenswerten und den tatsächlichen Verhältnissen aufmerksam machen (vgl. Parsons/Platt 1990: 60). Das Problem der Integration wird durch Normen bearbeitet. Normen sind in Abgrenzung zu Werten auf besondere soziale Situationen beschränkt, sie leiten soziales Handeln in spezifischen Handlungs-

Parsons 75 konstellationen (vgl. Parsons 1985: 15). Kollektivitäten übernehmen in einem Sozialsystem die Zielerreichungsfunktion, da sie Erwartungen in der Beziehung von zwei oder mehreren Akteuren aufeinander abstimmen und der normativen Ordnung über die Definition des jeweiligen Mitgliedsstatus Ressourcen zuführen. Die Rolle bildet schließlich in der Hierarchie der kontrollierenden Faktoren die unterste Stufe. Sie erfüllt die Funktion der Anpassung eines sozialen Systems an seine Umwelt, da sie als normativ geregelter Komplex von Verhalten dem System Ressourcen zur Erfüllung diffus bestehender Erwartungen bereitstellt. Sie ist gewissermaßen die Basis-Strukturkomponente eines Sozialsystems, denn sie bedingt seine Stabilität. Diese vier Komponenten sind unabhängig voneinander variabel. Die Veränderung eines Rollensets muß also nicht automatisch auch den Wandel des gesamten Normengefuges, in das es eingebettet ist, nach sich ziehen. (4) Ausgehend von der Position des analytischen Realismus baut Parsons einen Komplex von Begriffen auf, die als Abstraktionen den Rahmen für eine soziologische Analyse von der Ordnung des Handelns - bzw. von sozialer Ordnung - ermöglichen sollen. Empirische Phänomene wie Handlungen erlangen nur dann wissenschaftliche Bedeutung, bzw. sie werden immer nur dann zum Objekt wissenschaftlicher Interpretationen, wenn sie in der Perspektive eines begrifflichen Bezugsrahmens wahrgenommen werden, der bestimmte Aspekte ihrer Realität erschließt. Demnach unterscheidet sich soziologische Forschung dadurch von dem alltäglichen Vorgang der Handlungsinterpretation, daß sie Handlungen im "begrifflichen Bezugsrahmen des Handelns" erfaßt und darstellt. Dabei wird durch die Anwendung des AGIL-Schemas der Gegenstandsbereich der Soziologie eingegrenzt und präzisiert: Der Gegenstand der Soziologie ist das soziale System, das im Kontext des Handlungssystems das Funktionieren der unterschiedlichen Systemkomponenten aufeinander abstimmt und miteinander verknüpft. Die normativen Muster, die situationsspezifisch Erwartungshaltungen für Handeln aufbauen, überbrücken das Problem der doppelten Kontingenz, auch wenn diese Lösung stets prekär ist. Der "begriffliche Bezugsrahmen des Handelns" besteht also nicht aus Taxonomien, die dazu da sind, Handlungen einzuordnen (vgl. Klausner/ Graves 1981). Vielmehr konstituieren die Begriffe erst soziologische Tatsachen (vgl. Parsons 1968: 6, 30; Ackerman/ Parsons 1976). Das Begriffssystem selbst hat also eine propositionale Struktur.

1.2 Philosophisches und soziologisches Traditionsgut in der "Allgemeinen Handlungstheorie" Parsons' Entwurf einer "Allgemeinen Handlungstheorie" ist durchaus als originell zu betrachten; gleichwohl übernimmt er wesentliche Ideen und Konzepte aus anderen Theoriekontexten. So hat sich seine wissenschaftsphilosophische Position hauptsächlich unter Aufnahme von Überlegungen des Philosophen Alfred N. Whitehead (1984; 1987) und des Physiologen Lawrence J. Henderson (1935; 1970) entwickelt (Wenzel 1990). Er bezieht sich auch immer wieder auf die Vernunftkritiken von Immanuel Kant, wobei er aber eine eigene Lesart dieser Schriften ausbildet. Insgesamt

76 Theorien der Gesellschaft verhält er sich zu Kants Position mal kritisch (Parsons 1968: 473ff), mal eher affirmativ (Parsons 1978c: 353f); seine Position des analytischen Realismus weicht aber hinsichtlich metaphysischer Sachverhalte grundsätzlich von Kants kritischem Idealismus ab und orientiert sich an Whiteheads Prozeßphilosophie (Bershady 1973: 71, 91f; Wenzel 1990: 112-121). Die Interpretation von Parsons' "Allgemeiner Handlungstheorie" unter Rückgriff auf Kants kritischen Idealismus (Münch 1982) ist daher ebenso als eine eigenständige Rekonstruktion anzusehen wie etwa eine, die sich auf Charles S. Peirce' semiotisches Erkenntnisprogramm beruft (Jetzkowitz 2000). Für die Ausgestaltung der Handlungstheorie und die gesellschaftstheoretischen Arbeiten sind Emile Dürkheim und Max Weber als die wichtigsten soziologischen Referenten zu nennen, auch wenn sich Parsons mit einer Vielzahl weiterer Ansätze im Bereich der mit Handeln befaßten Wissenschaften auseinandergesetzt hat (zum Überblick vgl. Parsons 1977a). Da Parsons diese Auseinandersetzungen stets von seinem wissenschaftsphilosophischen Standpunkt ausgehend führte, hat er die Allgemeine Handlungstheorie nicht - wie zuweilen behauptet wird - mit einem monologischen Handlungsbegriff versehen. Vielmehr hat er Handeln als Relation begriffen (vgl. z.B. Parsons 1977a), so daß er im Ergebnis auch als symbolischer Interaktionist gelesen werden kann (Turner 1975). Dazu hat insbesondere auch seine Auseinandersetzung mit Freud beigetragen (vgl. z.B. Parsons 1977c). Nicht unerwähnt bleiben darf hier der Einfluß wirtschaftswissenschaftlicher Theorien auf Parsons' Denken. Neben Vilfredo Pareto, mit dem Parsons durch die Vermittlung von L. J. Henderson bekannt wurde (vgl. Henderson 1935; dazu vgl. Parsons 1975: 3f, 8f), hat sich seine Theorieentwicklung vor allem in Auseinandersetzung mit Alfred Marshall, Josef Schumpeter und auch John M. Keynes geformt. In diesem Zusammenhang ist beachtenswert, daß der Begriff des systemischen "Gleichgewichts", den Parsons insbesondere in seiner mittleren Werkphase verwendet und für den er vielfach kritisiert worden ist, durch wirtschaftswissenschaftliche Modelle beeinflußt ist. Berücksichtigt man, daß sie auf der Vorstellung von Wachstumswirtschaft mit fließenden Quoten der Veränderung basieren, dann wird deutlich, daß der Begriff des "Gleichgewichts" einen - verzichtbaren - fiktiven Bezugspunkt für die Analyse von Bewegungsvorgängen und Entwicklungen markiert und nicht auf eine statische Vorstellung von Gesellschaft hinweist.

2. Theorie der Moderne Parsons' Beschäftigung mit Modernisierungstheorien setzt bereits vor der Veröffentlichung von "The Structure of Social Action [1937]" ein: Im Rahmen seiner Dissertation zum Kapitalismusbegriff beschäftigte er sich mit den Theorien von Karl Marx, Werner Sombart und Max Weber. Seine eigene Theorie der Moderne ist unübersehbar an der Auseinandersetzung mit Max Weber orientiert und wird von ihm als Fortsetzung von Webers Modernisierungstheorie "mit anderen Mitteln" aufgefaßt: "Die Entwicklungen in der Biologie und den Sozialwissenschaften haben eine sichere Grundlage für die Annahme geschaffen, die grundsätzliche Kontinuität von Gesellschaft und Kultur sei im Rahmen einer allgemeineren Theorie der Evolution lebender Systeme zu begreifen" (Parsons 1985: 10). Den Begriff der "Moderne" verwendet Par-

Parsons 77 sons zur Bezeichnung bestimmter sozialstruktureller Merkmale, die sich historisch im Nordwesten Europas im 17. Jahrhundert herausgebildet haben (vgl. Parsons 1985: 68ff) und deren Konsequenzen eine Gesellschaftsorganisation ermöglicht haben, die gesellschaftlichen Akteuren eine bislang nicht gekannte moralische Autonomie zubilligt. Die Auswirkungen dieser sozialstrukturellen Innovationen reichen bis in die Gegenwart, in der Gesellschaften kaum noch als Einheiten angesehen, sondern als hochgradig fragmentiert und differenziert und unübersehbar komplex erlebt werden, was im Begriff der "Postmoderne" thematisiert wird. Parsons schließt die Möglichkeit nicht aus, "daß eines Tages eine 'postmodernen' Phase sozialer Entwicklung aus einem anderen sozialen und kulturellen Ursprung sowie mit anderen Merkmalen entstehen könnte" (Parsons 1985: 11); die gegenwärtigen Entwicklungen sind aber als Folgen voranschreitender Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse zu begreifen.

2.1 Theorie des Modernisierungsprozesses Parsons versteht Modernisierung als eine besondere Ausprägung der gesellschaftlichen Entwicklung. Der Modernisierungsprozeß vollzieht sich nach den gleichen Mustern des sozialen Wandels, denen soziale Ordnungen insgesamt unterliegen. Diese Konzeption begründet sich aus den im analytischen Realismus enthaltenen prozeßphilosophischen Vorstellungen von Kontinuität als wirklichkeitskonstituierendem Prinzip (vgl. vorne Kap. 1.1., Unterpunkt 1). Gleichwohl ist mit der modernen Gesellschaftsstruktur eine neue Qualität sozialer Ordnungen entstanden. Sie ist durch charakteristische Merkmale von anderen Gesellschaftsformen unterschieden. Diese beiden Aspekte von Parsons' Theorie des Modernisierungsprozesses werden im folgenden in zwei getrennten Abschnitten erläutert. Im ersten Abschnitt wird Parsons' Konzept von sozialem Wandel dargelegt (1), im zweiten Abschnitt werden die charakteristischen Merkmale moderner Gesellschaften - in Abgrenzung von vormodernen Gesellschaften - beschrieben (2). (1) Parsons entwickelt seine Theorie des sozialen Wandels aus der zentralen Idee seiner "Allgemeinen Handlungstheorie", der zufolge das willentliche Handeln von Menschen und das Bestehen von sozialer Ordnung durch die Bezugnahme auf normative Muster grundlegend miteinander verwoben sind. Allerdings geht er nicht davon aus, daß willentliches Handeln und soziale Ordnung vollständig aufeinander abgestimmt oder gar identisch sind. Zwar macht jeder Mensch im Laufe seiner lebenslangen Sozialisation immer wieder Erfahrungen mit normativen Mustern - unabhängig davon, ob er sie als solche erkennt oder nicht. Damit ist aber nicht determiniert, ob er diese Muster auch internalisiert und sie seine Bedürfnisdispositionen formen. So können beispielsweise Eltern ihre Kinder tausendfach dazu aufrufen, die Spielsachen ordentlich wegzupacken, ohne daß die Kinder diese Erwartung ihrer Eltern zu ihrer eigenen machen. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß zwischen sozialen Ordnungen und den an ihnen beteiligten Akteuren in der Regel ein Spannungsverhältnis besteht. "Spannung" meint, daß in der Situation, in der ein Akteur handelt, seine Bedürfnisse und Interessen und die Erwartungen, die an ihn gerichtet sind, auseinandertreten (vgl. Parsons 1965: 71). Es hängt insbesondere von der Motivation der Akteure ab, ob sie

78 Theorien der Gesellschaft die normativen Strukturen eher mehr oder eher weniger erfüllen (vgl. dazu Parsons/ Shils 1959: 11 Off). Sozialer Wandel wird auf der Grundlage dieser Konzeption als Veränderung der normativen Ordnung des Handelns verstanden. Präzise ausgedrückt, konzipiert Parsons sozialen Wandel als "Institutionalisierung von neuen Mustern normativer Kultur". Dabei weist der Schlüsselbegriff der "Institutionalisierung" darauf hin, daß ein Muster normativer Kultur erst dann in Interaktionen wirksam ist, wenn sich ein Akteur mit seiner Hilfe in einer Situation orientiert und diese Orientierungsweise durch andere Akteure bestätigt wird (vgl. Parsons/ Platt 1990: 54). Ein institutionalisiertes Muster normativer Kultur wird durch die Interessen von Akteuren getragen ("Trägerschichten" im Sinne Max Webers) und ist mit Sanktionen verbunden. Orientiert sich ein Akteur an einem anderen als dem erwarteten Muster, so muß das nicht zwangsläufig zu sozialem Wandel fuhren. Die deviante Handlung kann ja aus einem Irrtum entstanden sein oder - wenn mit Absicht vollzogen - unter dem Druck der anderen Akteure widerrufen werden, so daß sich das neue Handlungsmuster in der sozialen Ordnung nicht etabliert. Die Ergebnisse von auf Innovation abzielenden Prozessen liegen also zwischen dem einen Extrem ihrer vollständigen Institutionalisierung und dem anderen Extrem ihrer Auflösung. Ob und, wenn ja, wie sich Innovationspotentiale durchsetzen, hängt dabei von einer Vielzahl von Selektionsprozessen ab. So ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung, wer sich für die mögliche Innovation einsetzt und was ihre Durchsetzung strukturell bewirken wird. Ebenso kommt es darauf an, in welcher Art und Weise die Innovation unterstützt wird, und schließlich sind auch die Formen von Widerspruch bedeutsam, die das deviante Verhalten in anderen erzeugt (vgl. Parsons 1965: 73). Von diesen Faktoren, die das Schicksal von Innovationspotentialen entscheidend bestimmen, sind insbesondere die Einwände und Widersprüche herauszuheben, die jede im Entstehen begriffene Innovation provoziert. Da in jeder Gesellschaft auch Interessen wirken, die auf die Erhaltung des status quo abzielen, entsteht ein sozialer Konflikt, in dem um die Institutionalisierung von neuen Handlungsmustern gerungen wird. Bei den Trägern einer Innovation ist in diesem Prozeß die Tendenz zur Entdifferenzierung auffallend (vgl. Parsons 1977b: 312). "Entdifferenzierung" meint, daß sich die devianten Akteure auf eine abstraktere, von ihnen zumeist als "ursprünglicher" apostrophierte Ebene im Wertesystem der Gesellschaft berufen, die das deviante Verhalten legitimiert und zugleich die bestehenden Normen in Frage stellt. So könnten z.B. Menschen, die ein Demonstrationsverbot gegen den Bau einer Gentechnikfabrik brechen, ihr Handeln durch Werte wie "Gesundheit" und "risikofreies Leben" legitimiert sehen. Damit ziehen sie zugleich in Zweifel, daß das Demonstrationsverbot selbst auch diese Werte verkörpert, indem es Leben und Gesundheit von Demonstranten, Polizisten und anwesenden Dritten schützt. Es bezieht sich aber in einer viel spezifischeren Weise auf die Verwirklichung dieser Werte, denn es setzt voraus, daß auch das Bestehen von Instanzen wünschenswert ist, die Normen effektiv durchsetzen, um die obersten Ziele einer gesellschaftlichen Gemeinschaft zu erreichen. Die voranstehende Darstellung verdeutlicht die Bedeutung der Interpénétration sozialer Systeme mit personalen Systemen: soziale Systeme entstehen aus dem wechselseitig aufeinander bezogenem Handeln von Akteuren und sie wandeln sich auch mit deren Orientierungen. Soziale Systeme bestehen aber Parsons zufolge nicht aus Inter-

Parsons 79 aktionen, sondern aus normativen Mustern der Interaktion. Die Institutionalisierung von neuen normativen Mustern kann demnach als Bereitstellung von Motivationsressourcen für das System verstanden werden. Dabei wirkt der Prozeß der Institutionalisierung als "Filter"; es wird ja nicht jedes deviante Verhaltensmuster als Element der sozialen Ordnung übernommen. Mit Hilfe des AGIL-Schemas unterscheidet Parsons vier unterschiedliche Aspekte des Institutionalisierungsprozesses: Standardhebung durch Anpassung, Differenzierung, Inklusion und Wert-Generalisierung. Unter "Standardhebung durch Anpassung" versteht er "ein(en) Prozeß, durch den ein größeres Spektrum von Hilfsmitteln sozialen Einheiten verfugbar gemacht wird, so daß ihr Funktionieren von einigen, insbesondere sozialen Bechränkungen, denen ihre Vorgänger unterlagen, befreit werden kann" (Parsons 1985: 41). Ein solcher Prozeß vollzieht sich in einem sozialen System durch dessen Differenzierung. "Unter Differenzierung verstehen wir die Teilung einer Einheit oder Struktur in einem sozialen System in zwei oder mehr Einheiten oder Strukturen, die sich in ihren Merkmalen und ihrer funktionalen Bedeutung für das System voneinander unterscheiden" (Parsons 1985: 40). Soll die Teilung einer Einheit oder Struktur den Standard einer Gesellschaft anheben (vgl. dazu Parsons 1985: 41), dann muß ihnen eine Funktion zugewiesen werden. Dadurch wird die normative Ordnung in ihrem Bezug auf Situationen spezifischer. Differenzierung und Standardhebung durch Anpassung führen in der Gesellschaft zu Folgeproblemen in den anderen Sektoren, da die nun vermehrten Einheiten oder Strukturen des Systems neu koordiniert werden müssen. Demnach stellt sich das Problem, wie Akteure oder Handlungsmuster, die vorher aufgrund ihrer Normabweichung ausgeschlossen waren, in die bestehende Struktur der gesellschaftlichen Gemeinschaft einbezogen werden können ("Inklusion"). Ein solcher Einbeziehungsprozeß bildet den Abschluß der Institutionalisierung. Sein Gelingen hängt jedoch davon ab, ob und wie die Innovation mit dem Wertmuster der Gesellschaft vereinbar ist. Ein neues normatives Muster wird nur in dem Ausmaß institutionalisiert, in dem es legitimiert ist. Dazu muß das bestehende Wertesystem verallgemeinert werden ("Wert-Generalisierung"). Innovationspotential führt also nicht "automatisch" dazu, daß eine differenziertere Sozialstruktur entsteht. Es kann auch zur Segmentation kommen, d.h. zur Ausbildung von Einheiten, die im Blick auf das übergeordnete System nicht funktional spezifiziert sind, sondern parallel zu bestehenden Strukturelementen im System funktionieren. Parsons stellt jedoch die These auf, daß jede bedeutsame Devianz in einem sozialen System zumindest auf der Rollenebene, also in der Motivation der Akteure, weitgehende Störungen bewirken und zu Strukturveränderungen führen wird (vgl. Parsons 1965: 74). Gleichzeitig ist darauf hinzuweisen, daß die soziale Ordnung grundsätzlich, wenn auch in einer abgewandelten Form, aufrechterhalten bleibt. An einem Beispiel lassen sich diese Dimensionen des Institutionalisierungsprozesses verdeutlichen: In einem Betrieb gehört es zu den Usancen, daß die männlichen Mitarbeiter Jahreskalender mit Fotos von nackten Frauen aufhängen. Die Mitarbeiterinnen nehmen das hin, bis sich eine neue Kollegin gegen diesen "Brauch" wehrt, weil sie sich durch die demonstrative Präsentation von Frauen als Sexualobjekten am Arbeitsplatz von ihren männlichen Kollegen selbst auf diesen Status reduziert fühlt. Ihre Forderung nach Gleichberechtigung hinsichtlich des Schutzes der Persönlichkeit ist im Kontext des Betriebes ein neues Handlungsmuster, das bei seiner Institutionalisierung

80 Theorien der Gesellschaft verschiedenen Widerständen begegnet - begründet etwa durch Hinweise, daß hier eine Tradition des "Kalenderaufhängens" bestehe oder keine Diskriminierungsabsicht vorliege. Die Chancen des Institutionalisierungsprozesses lassen sich im Anschluß an den Entwicklungsaspekt "Standardhebung durch Anpassung" beschreiben: Sollte die "renitente" Kollegin Sympathisanten für ihr Anliegen finden, so verspricht die Institutionalisierung des neuen Handlungsmusters auf der normativen Ebene, die Motivationslage im Betrieb insgesamt zu verbessern, insofern die Garantie des Persönlichkeitsschutzes allen Mitarbeitern - unabhängig ihres Geschlechts - zugute kommt und ihnen ein hohes Maß an persönlicher Selbstbestimmung an ihrem Arbeitsplatz sichert. Ob die Struktur des Betriebes daraufhin differenziert wird und im Hinblick auf dieses Ziel funktional spezifische Elemente ausbildet - etwa in der Rolle eines Persönlichkeitsschutz-Beauftragten oder in der Norm, Diskriminierungsverdachte im Rahmen betrieblicher Supervisionen zu diskutieren - oder sich geschlechtsrollenspezifische Segmente ausbilden, hängt davon ab, ob sich der Wert der "Gleichheit" soweit generalisiert, daß er Vorstellungen eines umfassenden Persönlichkeitsschutzes als Leitlinie zum Ausdruck bringt. In diesem Fall wird das sich im devianten Handeln der "renitenten" Kollegin dokumentierende neue normative Muster in die bestehende Struktur des Betriebes einbezogen und die Integrationsfunktion kann in der Folge verbessert erfüllt werden. Vermutlich wird die Ausfuhrung der Integrationsfunktion zumindest leicht beschädigt, wenn statt der Errichtung von Institutionen, die dem umfassenden Persönlichkeitsschutz aller Mitarbeiter dienen, lediglich die Norm ausgegeben wird, daß keine kompromittierenden Kalender mehr aufgehängt werden dürfen. Eine solche Norm könnte als Spezifikation eines bereits in Geltung befindlichen Wertes von "Gleichheit" installiert werden. Auf diese Weise würde sich allerdings die Sozialstruktur des Betriebes nicht funktional differenzieren, sondern segmentieren, insofern den männlichen Mitarbeitern ein Verbot auferlegt wird und dadurch die Einteilung in männliche und weibliche Beschäftigte verschärft wird, ohne daß diesen Einheiten im Hinblick auf die sozialen Umgangsformen eine jeweils spezifische Funktion zukommt. (2) Eine wichtige Akzentsetzung in Parsons' Theorie des sozialen Wandels liegt in der Annahme begründet, daß eine bestehende soziale Struktur in Prozessen sozialen Wandels entwickelt wird. Eine solche Entwicklung vollzieht sich im Zusammenwirken von zwei Faktoren: Der erste Faktor bestimmt die Richtung des Entwicklungsprozesses - verbessert ein neues (bzw. deviantes) Muster normativer Kultur die Chancen des Systems, in der Zeit fortzubestehen? Der zweite Faktor ist durch den Zufall gegeben, denn welche neuen Handlungsmuster wo und wann entstehen und institutionalisiert werden, läßt sich nicht mit 100%iger Sicherheit auf Determinanten zurückfuhren. Es entspricht daher theoretischer Klugheit, beide Faktoren als theoretische Möglichkeiten in eine Theorie der gesellschaftlichen Evolution einzubeziehen. "Evolution" ist demnach nicht gleichbedeutend mit "Entfaltung" in dem Sinne, daß ein dem sozialen System immanenter struktureller Kern im Verlauf der Geschichte "aufblüht" (vgl. Giddens 1995: 217; 284ff); vielmehr ist sie historischen Kontingenzen ausgesetzt. Solche Kontingenzen haben Parsons zufolge auch dazu gefuhrt, daß das Muster der "modernen Gesellschaft" entstanden und - vor allem - nicht zerstört worden ist. Seine Institutionalisierung vollzieht sich in den gleichen Prozessen wie sozialer Wandel insge-

Parsons 81 samt, aber in anderen raumzeitlichen Ausmaßen, insofern Modernisierung gesamte Gesellschaftssysteme betrifft. Heute stellt sich angesichts von Globalisierungsphänomenen die Frage, ob man noch von modernen Gesellschaftssystemen im Plural sprechen kann. Lassen sich die unter Rekurs auf das Nation-Konzept formierten sozialen Systeme noch als die einflußreichsten begreifen oder lösen sich im Prozeß voranschreitender Modernisierung Ordnungen wie z.B. die deutsche, die französische und die indische Gesellschaft in einer Weltgesellschaft auf? Die Beantwortung dieser Frage setzt ein Kriterium dafür voraus, was ein soziales System zu einer Gesellschaft macht. Parsons bezeichnet den Typus sozialer Systeme als "Gesellschaft", der den höchsten Grad an Selbstgenügsamkeit (self-sufficiency) gegenüber seinen Umwelten erreicht hat (vgl. Parsons 1985: 19; 1986: 16). "Selbstgenügsamkeit" bezieht sich vor allem darauf, daß das System die Austauschbeziehungen zu seinen Umwelten stabil halten kann. Zu diesem Zweck sind in der Geschichte menschlicher Gesellschaften Mechanismen entstanden, welche die Austauschvorgänge zunehmend kontrollieren. Mit ihrer Hilfe lassen sich interne Störungen bewältigen und das System kann auf seine Umwelten einwirken (vgl. Parsons 1985: 20; 1986: 17f). Da eine Gesellschaft mehr Voraussetzungen für eine relativ selbständige Existenz in sich trägt als andere Sozialsysteme, ist diese Funktion für sie unabdingbar. Ihre Erfüllung kann Parsons zufolge im Laufe der Gesellschaftsentwicklung verbessert werden und so versteht er Gesellschaftsentwicklung als Steigerung der Selbstgenügsamkeit von Gesellschaftssystemen. Das heißt, daß die Fähigkeit, Beziehungen zu Umwelten zu kontrollieren, von frühen Gesellschaften der Menschheitsgeschichte bis zur modernen Gesellschaft sukzessive zunimmt ("Richtungsfaktor"). Diese Annahme basiert auf der Beobachtung, daß sich unter den Wertesystemen von Gesellschaften, die sich in der Menschheitsgeschichte herausgebildet haben, Unterschiede im Hinblick auf die Frage erkennen lassen, inwieweit sie die Ordnung der gesellschaftlichen Gemeinschaft (also: die Solidarität der Mitglieder) aufrechterhalten und gleichzeitig "Willensfreiheit des Handelns" durch die Institutionalisierung von neuen Handlungsmustern ermöglichen konnten bzw. können. Für die Gesellschaftsmitglieder bedeutet diese Entwicklung eine Zunahme an Handlungsmöglichkeiten bzw. ein Abbau von durch Traditionen fixierten Verpflichtungen auf bestimmte Verhaltensmuster. Allerdings ist damit kein Wandlungsprozeß vom "Reich des Zwangs" in das "Reich der Freiheit" beschrieben, sondern es entsteht der Zwang der individuellen Entscheidung. Im Kontext dieser gesellschaftsevolutionären Vorstellung formuliert Parsons seine Theorie des Modernisierungsprozesses, aus der sich auch seine Sicht auf Globalisierungsphänomene erschließt (2.2). Seine Überlegungen bauen dabei auf einer Analyse der vormodernen Gesellschaftsentwicklung auf (2.1). (2.1) Frühe Gesellschaften konstituieren sich unter der Voraussetzung von vier Strukturelementen, die einer normativen sozialen Ordnung Stabilität in der Zeit garantieren (vgl. Parsons 1982). Zu diesen Strukturelementen gehört zunächst einmal eine Kultur als Orientierungsinstanz, die im frühesten Entwicklungsstadium von Gesellschaften gleichsam identisch mit Religion ist. Sie kodifiziert die "kollektive Identität der Gesellschaft" (Parsons 1986: 59); das heißt, sie bringt die Bedeutung der Gemeinschaft zum Ausdruck und ermöglicht es der Gemeinschaft auf diese Weise, sich in der

82 Theorien der Gesellschaft Welt zu verorten. Damit die Mitglieder einer Gemeinschaft an einer solchen Orientierungsinstanz teilhaben können, ist es des weiteren notwendig, daß Sinngehalte zwischen ihnen vermittelt und Handlungszwecke ausgehandelt werden können. Sprache als symbolische Mitteilung von Sinn muß daher als eine weitere entscheidende Ermöglichungsbedingung von Gesellschaft aufgefaßt werden. Darüber hinaus manifestiert sich die Anpassungsfähigkeit der Gesellschaft an die natürliche Umgebung in der Institutionalisierung von einfacher Technologie. Schließlich ist auf das Inzest-Tabu hinzuweisen. Es reguliert die interne Organisation der Gesellschaft, indem es solidarische Bindungen im Rahmen eines weitverzweigten, die ursprüngliche Solidarität übersteigenden Verwandtschaftssystems aufbaut. Solche Verwandtschaftssysteme können komplexe Formen der Verschwägerung annehmen, bleiben aber - bei aller internen Komplexität - nur geringfügig funktional differenziert. Ihre Einheiten stellen Segmente dar, die keine spezifischen Funktionen fiir das Gesamtsystem übernehmen. Die Segmente selbst sind intern lediglich insofern differenziert, als daß den gesellschaftlichen Einheiten - also Akteuren, im Sinne von Persönlichkeiten in Rollen, und Kollektivitäten - nach den Kriterien "Alter" und "Geschlecht" die Erfüllung bestimmter Zwecke zugewiesen ist. Das in die Religion eingeschmolzene, für Gesellschaften dieser Entwicklungsstufe kennzeichnende Wertesystem legitimiert also eine gesellschaftliche Ordnung, in der den Gesellschaftsmitgliedern aufgrund von biologischen Kriterien ein Status zugewiesen wird (vgl. Parsons 1977b: 286f). Diese vier Strukturelemente - Religion, Sprache, Inzest-Tabu und einfache Technologie - betrachtet Parsons als die ersten vier "evolutionären Universalien" (vgl. Parsons 1982: 300f). Da sie unter verschiedenen historisch kontingenten Bedingungen strukturanalog entstanden sind, lassen sie sich als unabdingbare Grundlagen interpretieren, ohne die eine weitere gesellschaftliche Evolution nicht stattfinden kann. Solche Strukturen können sich regional in einer Gesellschaft unter ganz spezifischen Bedingungen entwickeln; einmal hervorgebracht können sie dann in andere Gesellschaften diffundieren, obwohl die Bedingungen der "Ursprungsgesellschaft" dort nicht vorhanden sind, und institutionalisiert werden, weil sie den Grad der Selbstgenügsamkeit des Gesellschaftssystems steigern und insofern einen evolutionären Vorteil bieten. Allerdings ist eine solche Entwicklung nicht zwangsläufig; eine Gesellschaft, die einen Entwicklungsschritt nicht mitgeht, kann eine "Nische" finden. So existieren bis in die Gegenwart Gesellschaften, die keinen Entwicklungsschritt über diese vier grundlegenden Strukturelemente hinausgegangen sind. Da in diesen Gesellschaften die Institutionalisierung von neuen Mustern normativer Kultur nur in den engen Grenzen der durch die Religion gestifteten Sinn- und Identitätsmuster möglich ist, lassen sie kaum Spezialisierungen bei der Übernahme von Aufgaben zu. Aus diesem Grunde sind sie sehr weitgehend von dem Zustand ihrer Umwelten abhängig. Diese Beschränkung für die Selbstgenügsamkeit ist in der Gesellschaftsentwicklung aufgebrochen worden, indem Gesellschaften ihre Einheit nicht in einer gemeinsamen Religion, sondern in einem abstrakteren moralischen Kodex begründet haben. Die Mitgliedschaft in einer Gesellschaft, die sich als "moralische Gemeinschaft" generiert, ist nicht mehr daran gebunden, daß alle Gesellschaftsmitglieder in spezifischen Glaubenssätzen übereinstimmen, sondern durch ein allgemeineres Wertesystem, eine "'ökumenische' Zivilreligion" (Parsons 1977: 309). Sie bringt die Zustimmung erfordernden generalisierten Werte öffentlich zum Ausdruck und konstruiert

Parsons 83 auf diese Weise eine kollektive Identität, die aber intern eine gewisse Pluralität aufweist, weil die allgemeinen Werte unterschiedliche Spezifikationen erfahren können. Die Entstehung einer solchen "ökumenischen" Zivilreligion - in seinem Aufsatz über "evolutionäre Universalien" spricht Parsons (1982: 306-309) noch von einer "kulturellen Legitimationsbasis" - ist eng mit einem weiteren innovativen Strukturelement verknüpft, der sozialen Schichtung. Sie entsteht Parsons zufolge dadurch, daß im Zuge der Seßhaftwerdung in einer Gesellschaft Ansprüche auf ein Territorium entstehen, über die sich das Ordnungsprinzip der Gemeinschaft von der Verschwägerung auf territoriale Faktoren verlagern kann. Somit entsteht die Möglichkeit, daß Mitgliedschaft nicht mehr nur durch das Verwandtschaftssystem, sondern durch den Wohnort definiert wird. Eine solche Verlagerung der Kriterien, nach denen Menschen als Mitglieder der Gesellschaft anerkannt werden, kann wiederum eine Differenzierung der Status-Zuweisung in der gesellschaftlichen Gemeinschaft zur Folge haben. Aufbauend auf der Differenzierung nach Alter, die innerhalb der Gesellschaft die Funktion erfüllt, in bezug auf die Weitergabe der Tradition zwischen Lehrenden und Lernenden zu unterscheiden, kann ein System sozialer Schichtung dadurch entstehen, daß ältere und jüngere Abstammungslinien unterschiedliches Prestige genießen. Dieser "Prestigeunterschied" (vgl. Parsons 1982: 302f) wirkt sich in zweierlei Weise aus: Erstens differenzieren sich die Lebensmöglichkeiten innerhalb der Gemeinschaft aus, Segmente gewinnen unterschiedliche Vorteile oder Nachteile, ihre Existenz zu sichern. Zweitens entstehen unterschiedliche Funktionen in der Gesellschaft, es kommt zu Spezialisierungen bezüglich der religiösen, politisch-militärischen und merkantilen Aufgaben (vgl. Parsons 1986: 73). Da in einer solchen Lage die Gefahr besteht, daß mit wachsender Größe und Vielfalt die Ordnung der Gesellschaft zerbricht, wird ein kultureller Wandel notwendig, der zur Integration der differenzierten Einheiten eine Zivilreligion als verallgemeinerte Legitimationsbasis zur Verfügung stellt und Solidarität zwischen den Gesellschaftsmitgliedern trotz ungleich verteilter Lebenschancen ermöglicht. Gesellschaften, in denen sowohl eine 'ökumenische' Zivilreligion als auch ein System sozialer Schichtung institutionalisiert ist, haben nach Parsons' Modell eine andere Stufe der gesellschaftlichen Evolution erreicht. Er bezeichnet sie als "intermediäre Gesellschaften" (vgl. Parsons 1986). Als Indikator verwendet er die Institutionalisierung von geschriebener Sprache in der männlichen Oberschicht einer Gesellschaft (vgl. Parsons 1986: 47), da Schriftbeherrschung zum einen soziale Schichtung verstärkt und zum anderen die Differenzierung von religiösen und politisch-militärischen Aufgaben begünstigt (vgl. Parsons 1977b: 303; 1986: 46ff). Mit der Konstitution einer Gesellschaft als "moralischer Gemeinschaft" und der Etablierung pluraler Sinnstrukturen kann insgesamt eine zunehmende funktionale Differenzierung einsetzen. Es entsteht die Grundlage für die Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Subsystemen, die - spezifischen Wertmustern folgend - die Funktionen der Gesamtgesellschaft spezialisiert erfüllen. Die Selbstgenügsamkeit kann dabei durch zwei weitere "evolutionäre Universalien" gesteigert werden, die bürokratische Organisation und den Geld- und Marktkomplex (vgl. Parsons 1982: 309-315). Die bürokratische Organisation ist - auf sozialer Schichtung aufbauend - die effektivste Form der Verwaltung. Sie basiert auf der Institutionalisierung von Amtsautorität nach einem hierarchischen Muster, welches die Ausübung von Macht dadurch ermöglicht,

84 Theorien der Gesellschaft daß unter Berufung auf Amt und Würden allgemein bindende Entscheidungen getroffen und verkündet werden können. Die Ausübung von Macht ist aber nicht allein auf die Androhung von Zwang gestützt, sondern sie bedarf ebenso der Solidarität und des Konsenses der Gesellschaftsmitglieder, d.h., sie muß kulturell legitimiert sein. Der Geld- und Marktkomplex hingegen befreit Ressourcen von ihren durch Tradition festgelegten Bindungen. Geld fungiert als ein generalisiertes Tauschmedium, das den Wert von Gütern oder Dienstleistungen im Sinne ihres instrumentellen Nutzens abstrakt repräsentiert, so daß diese über Märkte allgemein als Ressourcen zugänglich gemacht werden können. Über die Institutionalisierung jedes dieser Strukturmuster wird die Anpassungsfähigkeit von Gesellschaften entscheidend gesteigert. Dabei weisen beide Institutionen universalistische Aspekte auf: Die Form einer bürokratischen Organisation setzt voraus, daß für alle Mitglieder keine anderen Bindungen zu gelten haben als die der Organisation, und das Funktionieren eines Geld- und Marktkomplexes ist davon abhängig, daß für alle Akteure gleichermaßen Eigentumsrechte, die Regelung des Geldwesens, die Regelung der Vertragsbeziehungen von Tauschpartnern und die Verbindlichkeit des Beschäftigungsstatus gegenüber anderen Statusaspekten gelten. Beide Komplexe können sich zwar auch ohne eine universalistische normative Ordnung sehr weit entwickeln, jedoch sind sie auf einer solchen institutionellen Basis funktionsfähiger, da sie die gesellschaftliche Ordnung dynamisiert und gleichzeitig stabilisiert. Mit der Institutionalisierung eines formalen Systems universalistischer Rechtsnormen beginnt aber, so Parsons, der Prozeß der Modernisierung. (2.2) Von der vormodernen unterscheidet sich die moderne Gesellschaftskonzeption grundlegend dadurch, daß sie normativ die Freiheit für die gesellschaftlichen Einheiten einfordert, ihre eigenen Wert-Verpflichtungen unabhängig von einer religiösen Basis und von den moralischen Imperativen der gesellschaftlichen Gemeinschaft definieren zu können. Anstelle des Vorrangs gesellschaftlicher Verpflichtungen tritt die moralische Autonomie der gesellschaftlichen Einheiten, so daß die solidarischen Bindungen der Gesellschaft auch durch charismatische Innovationen nicht beeinträchtigt werden. Parsons kennzeichnet diese moderne Form der Gesellschaftskonzeption mit dem Begriff des "institutionalisierten Individualismus" (vgl. dazu unten Kap. 2.2.1.). Dabei ist die moderne Gesellschaft neben dem Trend zur Institutionalisierung von Individualismus vor allem auch durch einen Prozeß der Universalisierung gekennzeichnet. Diese beiden Aspekte der Entstehung und Durchsetzung des Musters der modernen Gesellschaft ergänzen und bedingen sich wechselseitig. Die Institutionalisierung eines formalen Systems universalistischer Normen - Parsons (1982: 315-319) zufolge ebenfalls eine "evolutionäre Universalie" - nimmt die in der bürokratischen Organisation und im Geld- und Marktkomplex angelegten universalistischen Tendenzen auf und baut sie zu einem zentralen Muster der Gesellschafitsorganisation aus: Ein für alle Gesellschaftsmitglieder gültiges und von allen mit zu gestaltendes System von Rechtsnormen dient der Aufrechterhaltung und der Veränderung von sozialer Ordnung, indem es Verfahrens- und Entscheidungsregeln für das Eingehen von sozialen Beziehungen und das Austragen von sozialen Konflikten aufstellt. Auf dieser Grundlage kann das Zusammenleben der Gesellschaftsmitglieder in relativer Unabhängigkeit von ökonomischen, politischen und anderen bedingenden

Parsons 85 Faktoren organisiert werden (vgl. Parsons 1985: 29-32). Dem Einzelnen kann - bzw. muß - "moralische Autonomie" unterstellt werden, weil er sowohl Mitgestalter als auch Mitbetroffener der Rechtsnormen ist. Ohne durch unhinterfragbare Traditionen auf spezifische Handlungsmuster festgelegt zu sein, ist er zugleich freigestellt, seine Interessen zu verfolgen. Dazu steht ihm die Bildung demokratischer Vereinigungen mit gewählter Führung und allgemeinem Wahlrecht - die letzte "evolutionäre Universalie", die Parsons nennt - als Gemeinschaften von freien Bürgern offen (vgl. Parsons 1982:319-324). Im Wechselspiel von universalistischen und individualistischen Tendenzen entsteht Potential dafür, daß sich die Effektivität der Subsysteme moderner Gesellschaften erhöht, da auch sie dazu freigesetzt sind, ihre Zwecke ohne durch Traditionen festgelegte Barrieren zu verfolgen. Demgemäß kann im Ökonomie-System das Nutzenprinzip wirksamer durchgesetzt und im Polit-Bereich das Ziel effektiver Machtausübung verfolgt werden, die gesellschaftliche Gemeinschaft kann konstruktiver Solidaritäten herstellen und das Strukturerhaltungssystem nachhaltiger Integrität einfordern, so daß das Muster der modernen Gesellschaftsorganisation die Selbstgenügsamkeit von Gesellschaften - d.h. ihre zunehmende Unabhängigkeit von Umweltbedingungen - steigert. Dabei greifen die Subsysteme bei der Erfüllung ihrer Funktionen über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus. Diese Entwicklung deutet Parsons allerdings nicht als die Vorboten einer im Entstehen befindlichen Weltgesellschaft. Vielmehr geht er davon aus, daß sich eine internationale soziale Ordnung als ein "über-gesellschaftliches" Sozialsystem ausbilden wird (vgl. Parsons 1961). "Über-gesellschaftlich" bedeutet nicht "der Gesellschaft übergeordnet". Parsons geht nicht davon aus, daß sich die Nationalstaaten auflösen oder sie den Grad ihrer Selbstgenügsamkeit zugunsten einer hierarchisch übergeordneten Einheit senken werden. Statt dessen betrachtet er sie als Voraussetzungen eines Systems moderner Gesellschaften, daß sich aus den Beziehungen von nationalstaatlich verfaßten Gesellschaftssystemen konstituiert (vgl. Parsons 1985).

2.2 Die Moderne Die moderne Gesellschaft ist - aus Parsons' Blickwinkel betrachtet - das Ergebnis eines gesellschaftlichen Evolutionsprozesses, in dem - historisch kontingent Potentiale für eine soziale Ordnung entwickelt und institutionalisiert wurden, welche wesentlich selbstgenügsamer ist als alle anderen bislang existierenden Ordnungen. Sie vermag gesellschaftlichen Einheiten moralische Autonomie zu gewähren, ohne daß die Ordnung auseinanderbricht, indem sie Individualismus als zentrales normatives Muster institutionalisiert. Es ist nicht allein Ausdruck von Parsons' Patriotismus, daß er die am weitesten reichende Institutionalisierung des individualistischen Musters in den USA vorfindet. Vielmehr bezieht er sich dabei auf die Analyse Max Webers und betont den Umstand, daß die asketische Form des Protestantismus, die ein diesseitsbezogenes und individualistisches Wertmuster verkörpert, dort ihren stärksten Einfluß ausgeübt hat. Dies hat sowohl zu einer weitgehenden Lösung aus askriptiven, d.h. durch Traditionen zugeschriebenen, Bindungen geführt als auch eine individuell-utilitaristische Dimension der Handlungsorientierung stark gefördert. Die von Parsons am Bei-

86 Theorien der Gesellschaft spiel der US-amerikanischen Gesellschaft aufgezeigten "Probleme der Moderne" sind daher insoweit generalisierungsfähig, als sie Tendenzen im Muster der "modernen Gesellschaft" allgemein aufweisen. Seine Arbeiten zum Faschismus in Deutschland zeigen, daß je nach kulturellem und historischem Kontext andere Probleme im Modernisierungsprozessen bestehen können (vgl. z.B. Gerhardt 1992).

2.2.1 Probleme der Moderne Wer die "Probleme der Moderne" verstehen will, bedarf grundlegender Kenntnisse über die "Anatomie" der modernen Gesellschaft. Er muß berücksichtigen, daß die Institutionalisierung eines formalen Systems universalistischer Rechtsnormen den Modernisierungsprozeß insofern einläutet, als dadurch die Grundlage geschaffen ist, auf der die gesellschaftlichen Einheiten in die moralische Autonomie entlassen werden können. Somit ist die Schaukel angestoßen, die zu einer wechselseitigen Steigerung von universalistischen und individualistischen Tendenzen fuhrt. Für die soziale Ordnung ist die Institutionalisierung von Individualismus die eigentliche Innovation. Die damit verbundene Organisationsform von Gesellschaft ist in Parsons' Soziologie der Schlüssel zum Verständnis der Moderne und ihrer Probleme. Parsons führt dazu aus: '"Institutionalisierter Individualismus' meint einen Modus der Organisation von Komponenten menschlichen Handelns, der beim Durchschnittsindividuum wie auch bei den Kollektiven, denen es angehört, die Fähigkeit erweitert, jene Werte zu verwirklichen, denen sie verpflichtet sind. Die Erweiterung dieser Fähigkeit auf individueller Ebene hat sich parallel zu dem entsprechenden Vermögen der sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen (der Organisation und den kulturellen Normen) entwickelt, die den Ordnungsrahmen für die Verwirklichung der Werte und Ziele von individuellen und kollektiven Einheiten bilden. Solch eine institutionelle Ordnung ist nur dann möglich, wenn es einen gewissen Konsens gibt hinsichtlich der relevanten Werte sowie der Grundmuster kultureller Orientierung, mit denen die Werte verknüpft sind" (Parsons/ Platt 1990: llf). Als Form der gesellschaftlichen Ordnung hat der institutionalisierte Individualismus die Fähigkeit der modernen Gesellschaft enorm gesteigert, sich an die unterschiedlichsten Gegebenheiten in den verschiedenen Umwelten anzupassen, auf sie einzuwirken und dadurch den Bestand der Gesellschaft zu sichern. Parsons nennt drei große Differenzierungsprozesse, die Gesellschaften im Zuge der Modernisierung durchlaufen und in denen sich diese Steigerung ihrer Anpassungsfähigkeit vollzieht: Die industrielle Revolution leitet eine sprunghafte Verbesserung der Ressourcenbereitstellung ein; die demokratische Revolution führt dazu, daß sich Akteure in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen selbstbestimmt für ihre Ziele und Zwecke engagieren; schließlich bedingt die von Parsons so genannte "Bildungsrevolution", welche die massenhafte soziale Verbreiterung kulturellen Wissens mit sich bringt, eine Dynamisierung in der Auseinandersetzung und Vermittlung von Strukturmustern, so daß die "Pflege" der Identität einer Gesellschaft auf eine breite Basis gestellt ist (vgl. dazu Parsons 1985: 96-102, 120-125; Parsons/Platt 1990: 12ff). Diese Entwicklungen weisen darauf hin, daß die normative Spannung, die moderne Wertmuster - Parsons spricht im Blick auf die USA von einem "instrumentellen Aktivismus" (vgl. dazu Parsons/ Platt 1990: 61 ff) - erzeugen, die adaptiven gegenüber

Parsons 87 den integrativen Funktionen betonen. Der instrumenteile Aktivismus ist eher auf die Umwelten ausgerichtet als auf die Erhaltung der internen Strukturen (vgl. Parsons/ Platt 1990: 65). Die Differenzierungsprozesse haben zu einer verstärkten Pluralisierung der modernen Gesellschaftsstruktur geführt, so daß sich die Frage auftut, auf welcher Grundlage die differenzierten Einheiten integriert werden können. Ein wichtiges Konzept der Integration in modernen Gesellschaften arbeitet Parsons in einem komplizierten Theoriebaustein aus, der sogenannten Theorie symbolisch generalisierter Interaktionsmedien (vgl. Parsons 1980; zum Überblick Jetzkowitz 1996: 36-38). Auf Dürkheims Vorstellung von funktionalen Abhängigkeiten in arbeitsteiligen Gesellschaften aufbauend (vgl. Parsons 1993), entwickelt er das Konzept von Medien, die bei zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung die Angewiesenheit der funktionalen Einheiten aufeinander vermitteln und dadurch integrativ wirken. Er geht davon aus, daß in einer entsprechend entwickelten Gesellschaft jedes der vier primären Subsysteme ein Austauschmedium produziert: Die Ökonomie (Adaptationsfunktion) bringt das Medium "Geld" hervor, der Polit-Bereich (Goal-attainmentFunktion) "Macht", die gesellschaftliche Gemeinschaft (Integrationsfunktion) "Einfluß" und das Treuhandsystem (Funktion der Latent pattern maintenance) "Wertbindungen". Diese Medien haben keinen Wert an sich, sondern nur einen Tauschwert. Verankert in einer Institution "ihres" Subsystems, erzeugen sie im Austausch mit den anderen Medien Wirkungen in deren Ursprungssubsysteme. Indem sich die Subsysteme auf diese Weise ihre Leistungen wechselseitig zur Verfügung stellen, entsteht ein Geflecht von Abhängigkeiten, das sich kontrollierend auf gesellschaftliche Prozesse auswirkt. So gibt beispielweise ein Politiker, der sich bei der Ausübung eines Amtes wissenschaftlich beraten läßt, Macht ab an das Treuhandsystem. Dadurch legitimiert er sein Handeln, während der beratende Wissenschaftler seine Wertbindungen, in diesem Fall idealerweise an Standards kognitiver Rationalität, bei der Übernahme operativer Verantwortung einsetzt. Diese Austauschmedien tragen allerdings nur dann zur Integration der ausdifferenzierten gesellschaftlichen Subsystemen bei, wenn sie in ein generalisiertes Wertmuster eingebunden sind, das für die Akteure der verschiedenen Bereiche binden ist. Ob es in der Moderne ein solches Wertmuster überhaupt noch gibt bzw. geben kann, ist im soziologischen Diskurs durchaus umstritten. Parsons' Konzeption des institutionalisierten Individualismus geht davon aus, daß es auch in modernen Gesellschaften Loyalitätsbindungen geben kann, die allen gesellschaftlichen Akteuren gemeinsam sind, nämlich die Achtung der Freiheit und Würde des Individuums und - gewissermaßen als andere Seite der Medaille - die Bindung an Gerechtigkeitsmaßstäbe (vgl. Parsons 1993).

2.2.2 Die von der Theorie vorgeschlagenen Konsequenzen Soziologische Theorie ist kein Rezeptbuch für soziales Handeln. Sie erschließt Perspektiven auf moderne Gesellschaftsentwicklungen, indem sie denkbare Konsequenzen erörtert und auf diese Weise Beiträge zum gesamtgesellschaftlichen Diskurs über die Gestaltung von Lebensverhältnissen erarbeitet.

88 Theorien der Gesellschaft Die Konsequenzen, die sich aus einer Modernisierungstheorie bezüglich der Probleme der Moderne ableiten lassen, werden zum einen an ihren Prognosen über die zukünftige Gesellschaftsentwicklung sichtbar. In dieser Hinsicht ist z.B. erwähnenswert, daß Parsons 1964 "prophezeit" hat, der Ostblock werde zusammenbrechen, wenn er nicht das Muster demokratischer Assoziation institutionalisiere (vgl. Parsons 1982: 324). Über solche einzelnen konkreten Hinweise hinausgehend, läßt sich Parsons' gesamte Theorie der modernen Gesellschaft als Aufforderung betrachten, das Eigentümliche der zeitgenössischen Gesellschaftsentwicklung zu verstehen und auf ihre Probleme zu reagieren. Die zentrale Idee dieser Aufforderung läßt sich in Abgrenzung von Max Webers Theoriebildung deutlich machen, auf die Parsons selbst bei der Entwicklung seiner Sichtweise von den Problemen der modernen Gesellschaft kritisch Bezug nimmt. Weber vertritt die Ansicht, daß der "Geist des Kapitalismus" sowie die gesamte rationale Lebensführung des modernen Menschen wesentlich aus der christlichen Askese hervorgegangen ist. So schreibt er am Ende seiner Schrift "Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" (Zitate aus Weber 1988: 203f): "Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte. Heute ist ihr Geist ob endgültig, wer weiß es? - aus diesem Gehäuse entwichen. Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage ruht, dieser Stütze nicht mehr. Auch die rosige Stimmung ihrer lachenden Erbin: der Aufklärung, scheint endgültig im Verbleichen und als ein Gespenst ehemals religiöser Glaubensinhalte geht der Gedanke der 'Berufspflicht' in unserem Leben um." Das von seiner Basis im Protestantismus entkoppelte Konzept des Berufes birgt dort, wo es nicht "zu den höchsten geistigen Kulturwerten in Beziehung gesetzt werden kann", das Potential, die Lebensführung des modernen Menschen auszuprägen als "mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbrämt". Diese düstere Prognose Webers teilt Parsons nicht. Seiner Ansicht nach hat Weber die in der modernen Gesellschaft wirksamen "spiritual forces" nicht adäquat wahrgenommen. Seine Gesellschaftskonzeption - der zufolge auch noch in der Moderne die Gesellschaftsmitglieder auf ein gemeinsames, wenn auch: äußerst abstraktes Wertmuster verpflichtet sind - ist darauf angelegt, diese Bindungskräfte bei der Gesellschaftsanalyse nicht unter den Tisch fallen zu lassen. Dies wird bereits sehr früh in seiner Werksentwicklung im Rahmen seiner Analyse der modernen Berufskonzeption deutlich. An den Beispielen des Mediziner-, des Priester- und des Anwaltsberufes weist er auf "spiritual forces" hin und entwickelt sie modellhaft als nicht-utilitaristische Formen individuell orientierten Handelns (vgl. Parsons 1954). Dabei arbeitet er heraus, daß diese Berufsrollen drei Eigenschaften vereinen: eine entwickelte technische, auf hochgradig spezialisierter Bildung basierende Kompetenz, eine universalistische nicht-vereinseitigte und objektive Praxis und schließlich eine Orientierung an typischen Risiken und an Werten, die nicht primär Nutzenkalkülen folgen und nicht auf Profit bezogen sind. Aus dieser Analyse zieht er den Schluß, daß diese Berufskonzeptionen zugleich individualistisch-autonom und an ethischen Standpunkten ausgerichtet sind. In der modernen Berufskonzeption ist Vertrauen demnach dadurch begründet, daß sich der Rollenträger selbst an eine ethische Maxime bindet. Zugleich

Parsons 89 ermöglicht diese Konzeption dem Akteur einen hohen Grad an Unabhängigkeit und Flexibilität im Umgang mit sich wandelnden Situationen. Die Bedeutung, die Parsons dieser Berufskonzeption zumisst, scheint nicht übertrieben, wenn man sich vergegenwärtigt, daß sie in allen gesellschaftlichen Bereichen in Form der Professionalisierung des Handelns wirksam wird. Als Muster normativer Kultur wird es für den Manager ebenso wie für den, der in seiner Freizeit eine Fußballmannschaft trainiert, an Orientierungspotential gewinnen. Zugleich ist damit aber auch der Nachweis erbracht, daß der Prozeß der Professionalisierung bzw. der Rationalisierung von Lebensführung nicht gleichsam zwangsläufig in das "eherne Gehäuse der Hörigkeit" fuhren muß, das Max Weber erwartet hat. Aber auch dann, wenn keine Zwangsläufigkeit angenommen werden muß, ist damit nicht die Möglichkeit einer solchen Entwicklung ausgeschlossen. Man muß also die Frage stellen: Was fuhrt Parsons zu der Annahme, daß diese Entwicklung nicht trotzdem eintritt und die Bindungen an individualistische und nicht-utilitaristische ethische Standards Bestand haben, ja sich sogar noch im Zuge des weiteren Modernisierungsprozesses ausbreiten werden? - Diese Frage fuhrt zu Parsons' Prognosen über die weitere gesellschaftliche Entwicklung. Er geht davon aus, daß sich in zukünftigen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen affektuelle Bindungen an das individualistische Wertmuster entwickeln werden. Damit ist nichts anderes gemeint als die verallgemeinerte Vorstellung einer sozialen Ordnung, welche die "Freiheit des einzelnen" als nicht-utilitaristisches Wert-Konzept institutionalisiert. Parsons arbeitet diese Überlegungen in Auseinandersetzung mit den religiösen Dimensionen der modernen Gesellschaft aus. So nimmt er an, daß die moderne Gesellschaft nicht einfach insofern als "säkularisiert" beschrieben werden kann, als damit die Auflösung aller religiösen Bindungen gemeint ist (vgl. Parsons 1978a: 240f; 1978b: 307ff). Statt dessen betont er, daß sich die Handlungsmuster des nicht-religiösen Bereiches zunehmend an normativen Idealen ausrichten, die früher allein für religiöse Bereiche kennzeichnend waren. Die Säkularisierung religiöser Bereiche betrachtet er also nicht allein als Auflösung religiöser Bindungen; vielmehr fragt er danach, inwieweit das Wert-Konzept der "Nächstenliebe" in andere gesellschaftliche Bereiche diffundiert. Für einen solchen Diffusionsprozeß zeigt er vor allem auch strukturelle Notwendigkeiten auf. Auf diese weist er hin, wenn er die Folgen der rechtlichen Garantie von religiösem Pluralismus analysiert. Er zeigt, daß die moderne Gesellschaft das Prinzip der Toleranz gegenüber anderen Glaubensrichtungen und Theorien der Lebensführung einfordert und damit eine Erwartungsstruktur im Hinblick auf Reziprozität aufbaut. Darin sieht er die Entstehung von "modernen" sozialen Bindungskräften, denn die Anerkennung bei gleichzeitigem Festhalten an der eigenen Anschauung befordert das Aufbrechen partikularistischer Grenzen im Hinblick auf universalistische Horizonte (vgl. dazu auch Brandt 1993:249-296). Diese Analysen fuhren Parsons zu der Annahme, daß die zukünftige Gesellschaftsevolution normative Muster hervorbringen muß für eine "order of human love" (Parsons 1978a: 253), welche menschliches Handeln nach dem Muster affektiver Bindungen zwischen Individuen orientiert. Am Beispiel von neuen religiösen Strömungen in den USA der 70er Jahre weist Parsons auf zwei charakteristische Merkmale hin: Erstens sind sie diesseitsbezogen, was sich insbesondere in der Vermeidung von theistischen Vorstellungen ausdrückt und dieser Bewegung ermöglicht, auch Elemente

90 Theorien der Gesellschaft aus dem Hinduismus und dem Buddhismus aufzunehmen; des weiteren wird die Gemeinschaft nicht exklusiv, sondern inklusiv definiert, so daß in radikalen Versionen solidarische Beziehungen in Orientierung an einem weltgesellschaftlichen Ideal entworfen werden. Damit aus diesem in neuen religiösen Bewegungen hervorgebrachten kulturellen Mustern eine "integrative Ergänzung" zum instrumenteilen Aktivismus werden kann, bedarf es seiner Institutionalisierung in den Gesellschaften bzw. im System der Gesellschaften. Auf diese Weise kann der institutionalisierte Individualismus eine Solidaritätsbasis erhalten (vgl. Parsons 1978b: 318ff).

2.2.3 Die gesellschaftliche Bedeutung der Soziologie Mit seinen prognostischen Äußerungen über den weiteren Verlauf der Evolution moderner Gesellschaften vertritt Parsons keinen deskriptiven Anspruch. Vielmehr erzeugt seine Theoriebildung systematisch den Hinweis darauf, daß die gesellschaftliche Ordnung in der Moderne das von Weber angedeutete Schicksal der Erstarrung in Egoismus und zweckrationalen Kalkülen nehmen wird, wenn sich keine auf menschlicher Liebe gegründeten Solidaritätsformen ausbilden (vgl. Baum 1977). Die "Allgemeine Handlungstheorie" ist demnach selbst als moderne Konzeption von Handeln aufgebaut; Parsons' Begriff des "Handelns" fordert selbst Handlungskonsequenzen ein (vgl. Lechner 1991: 178). Allerdings ist sie als wissenschaftliche Theorie keine Anleitung für die Gestaltung der "guten Gesellschaft". Parsons' zufolge dienen Wissenschaften der Erzeugung und Vermittlung von kognitiver Rationalität und auch von motivationalen Bindungen an die Standards kognitiver Rationalität (vgl. Parsons/ Platt 1990: 51ff). Die Aufgabe der Soziologie bestimmt er als - möglichst rationale - Analyse des "apparent dilemma of freedom and determinism" (Parsons 1967: 150). Unter "Determinismus" ist dabei die schicksalsgleiche Vorherbestimmung des menschlichen Lebens durch Ordnungsmechanismen zu verstehen, "Freiheit" meint hier aus der ureigensten Willensentscheidung entspringendes Verhalten. Parsons hat seinen Beitrag zur Beziehung dieser beiden verschiedenen Ausgangspunkte bei der Konzeption von Handeln in die Form der "Allgemeinen Handlungstheorie" gebracht. Inwieweit seine Analyse tragfähig ist, bedarf der Diskussion, aber einer kenntnisreichen und fairen.

3. Die Relevanz von Parsons' Modernisierungstheorie im soziologischen Diskurs Parsons' Arbeiten haben im soziologischen Diskurs insbesondere in den 50er und 60er Jahren affirmative und pejorative Äußerungen hervorgerufen, sogar ohne daß Anliegen und Ausgestaltung seiner "Allgemeinen Handlungstheorie" hinreichend zur Kenntnis genommen wurden. Seine Konvergenzthese und sein Bemühen um einen integrativen begrifflichen Bezugsrahmen für die soziologische Forschung stellen in vielerlei Hinsicht Grundlagen für die moderne Soziologie dar, auch wenn sie zu pointiert vorgetragen waren, um eine breitenwirksame Inklusion der verschiedenen soziologischen Theorieschulen und Paradigmen zu erreichen. Richard Münch (1982; 1994) und Jeffrey C. Alexander (1983; 1988) haben sich im Anspruch, die Theorietradition

Parsons 91 fortzuführen, mit jeweils eigenen Akzentsetzungen um solch eine Inklusionsbewegung bemüht (vgl. dazu Jetzkowitz 1996). Die Auswirkungen von Parsons' Arbeiten im soziologischen Diskurs lassen sich am besten exemplarisch verdeutlichen, und zwar anhand zweier Gesellschaftstheorien, die als "Konkurrenzunternehmungen" zu ihnen entwickelt wurden. "Paradigmenintern" hat sich Niklas Luhmann mit seiner "Theorie selbstreferentieller autopoietischer Systeme" im steten Dialog mit Parsons' "Allgemeiner Handlungstheorie" von dieser abgesetzt (3.1.). "Paradigmenextern" ist Jürgen Habermas' "Theorie des kommunikativen Handelns" explizit dazu aufgebaut, Verkürzungen in Parsons' Theoriebildung zu vermeiden (3.2.).

3.1 Zur Auseinandersetzung mit Luhmanns Theorie selbstreferentieller autopoietischer Systeme Niklas Luhmanns Version einer mit den Begriffen der Systemtheorie arbeitenden soziologischen Theorie steht - wie Parsons auch - in der Tradition des auf Dürkheim zurückgehenden sozialwissenschaftlichen Funktionalismus. Aus der "Allgemeinen Handlungstheorie" übernimmt er viele Konzepte, die er für seine Zwecke revidiert und neu bestimmt (vgl. Luhmann 1984; 1997). Luhmanns Revision einer mit dem Systembegriff arbeitenden Soziologie vollzieht sich vor dem Hintergrund konstruktivistischer Wissenschaftstheorien. Der Systembegriff dient ihm nicht als eine Art Hilfmittel, um die Strukturen der "sausenden brausenden Wirklichkeit" transparent zu machen, sondern Systeme werden selbst als Wirklichkeit konstruierende Einheiten betrachtet. Soziale Systeme - so die theoriekonstitutive Annahme - existieren in der faktischen Verknüpfung von Kommunikationen. Indem Individuen z.B. das Medium der Sprache verwenden, ist eine Realität sui generis entstanden, die nicht auf den Vorgang zu reduzieren ist, daß jemand einer anderen Person eine Information übermittelt. Eine Aussage über einen Sachverhalt impliziert immer (mindestens) eine Aussage über die Aussage dieses Sachverhaltes. Kommunikation funktioniert selbstreferentiell, sie bezieht sich immer nur auf Kommunikation. Demnach fuhren Kommunikationen ein Eigenleben; sie sind davon abgelöst, was z.B. ein Sprecher oder Autor "im Kopf' hatte, als er etwas sagte oder schrieb, und auch davon, was in das Bewußtsein eines Hörers oder Lesers eindringt. Soziale Systeme und psychische Systeme bauen nämlich, so Luhmann, auf verschiedenen Operationen auf: Kommunikationen im ersten und Gedanken im zweiten Fall. Beide "Sphären" sind jeweils als autopoietische Systeme konzipiert. Das heißt, es sind Systeme, welche die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst (altgriechisch autos = selbst) herstellen (altgriechisch poiéin = herstellen). Auf dieser Theoriekonstruktion begründet Luhmann seinen Zweifel, daß durch das Konzept eines "Wertekonsenses" im Sinne einer Übereinstimmung über kulturelle Muster das Problem doppelter Kontingenz theoretisch zu lösen ist. Er unterstellt Parsons dabei, daß dieser von einer faktischen Übereinstimmung über Werte ausgeht und nicht von einer auf die Zukunft bezogenen, erwarteten Übereinstimmung, die den Möglichkeitsspielraum in doppelt kontingenten Handlungssituationen einschränkt. Parsons zufolge ist dann, wenn eine solche Übereinstimmung unterstellt bzw. erwartet

92 Theorien der Gesellschaft werden kann, die Grundbedingung für die Integration eines sozialen Systems erfüllt. Der in dieser Vorstellung implizit vorhandenen Zeitdimension verleiht Luhmann in seiner Theorie einen anderen Stellenwert. Ihm zufolge besteht das zentrale Problem sozialer Ordnungen - verstanden als Kommunikationssysteme - darin, Anschlußkommunikation herzustellen, um ihren Bestand in der Zeit zu sichern. Auf diese Weise eskamotiert er die Frage nach der Integration zugunsten einer auf das Stilmittel der Paradoxie setzenden Problemformel, daß das Problem des Fortbestandes darin bestehe, Anschlußkommunikation - und das heißt: den Fortbestand - zu sichern. Seine Gesellschaftstheorie baut Luhmann auf der Grundlage einer ebenfalls paradoxen Systemdefinition auf ("System ist die Differenz von Identität und Differenz"), die ihn unter der Aufnahme der These von der "Selbstherstellung" (Autopoiesis) der systemischen Elemente dazu führt, Gesellschaften als informational abgeschlossen zu betrachten. Die moderne Gesellschaft apostrophiert er als funktional differenzierte Gesellschaft - seine Theorie der gesellschaftlichen Evolution ist insgesamt stark an Parsons angelehnt die ihren Fortbestand durch interne Differenzierung sichert und auf diesem Weg ihre Evolution vorantreibt. Zu den zentralen Teilsystemen zählt Luhmann das Wirtschaftssystem, das Rechtssystem, das politische System, das Wissenschaftssystem, das Erziehungssystem, die Religion, die Familien, das Kunst- und das Medizin- und das Mediensystem. Unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung haben sich die Teilsysteme als autopoietische Systeme entwickelt, die nur aus bestimmten, codierten Kommunikationen bestehen und jeweils spezifische Funktionen für das Gesellschaftssystem erfüllen. Diese Teilsysteme werden nicht mehr als integrationsfähig begriffen. Demnach konzipiert Luhmann die moderne Gesellschaft unter dem Vorzeichen der Verselbständigungsproblematik. Sie ist eine Gesellschaft, in der verschiedene Rationalitäten gelten und sich weiterentwickeln, ohne daß sie gerichtet beeinflußbar wären. Luhmann gibt also auch die von Dürkheim und Parsons gepflegte Vorstellung auf, daß die Funktionsbereiche der modernen Gesellschaft über die Verpflichtung auf Werte verbunden seien und demnach in einer - in der Moderne äußerst abstrakten - Erwartung ihre Einheit findet. Diese Folgerungen aus Luhmanns Bemühungen um eine systemtheoretisch arbeitenden Soziologie gründen nicht zuletzt in einer pejorativen Haltung gegenüber Parsons' "analytischem Realismus" (vgl. z.B. Luhmann 1988: 136ff). Seine radikalisierte konstruktivistische Wissenschaftsphilosophie verzichtet auf die Vorstellung, daß außerhalb der eigenen Theoriekonstruktionen liegende Instanzen anzunehmen seien, welchen die Theorie Informationen über ihre sachliche Angemessenheit entnehmen könnte. Eine kritische Überprüfung der "Theorie selbstreferentieller autopoietischer Systeme" wird damit durch sie selbst ausgeschlossen.

3.2 Zur Auseinandersetzung mit Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns Jürgen Habermas hat bei seinem Aufbau einer - in der Tradition der Frankfurter Schule stehenden - kritischen Gesellschaftstheorie Parsons' umfassendem und begrifflich elaboriertem gesellschaftstheoretischen Entwurf ein umfangreiches Kapitel gewidmet (vgl. Habermas 1988: 297-444). Die Auseinandersetzung führt er unter dem

Parsons 93 Gesichtspunkt der Theoriekonstruktion und unter Aufnahme von Begrifflichkeiten aus Parsons' Theorie symbolisch generalisierter Interaktionsmedien. Seine eigene "Theorie des kommunikativen Handelns" entwirft er - wie es sich für einen kritischen Theoretiker gehört - in kritischer Auseinandersetzung mit Parsons. Habermas zufolge hat Parsons' Theorie einen blinden Fleck dort, wo es um die Verbindung von Handeln und Ordnung geht. Sie blende aufgrund ihres systemtheoretischen Begriffsinstrumentariums systematisch die Bedeutung von Prozessen der intersubjektiven Verständigung aus. Diese Kritik läßt sich verdeutlichen an der hermeneutischen Problematik des Fremdverstehens: Hinsichtlich der Frage, ob man bspw. das Handeln von Menschen in einer anderen Gesellschaft mit einer eigenen Kultur verstehen kann, weist Habermas darauf hin, daß man zwar mittels eines "realistisch-empiristischen Zuganges", der von außen das Handeln mit Hilfe der Kategorien "Zweck" und "Mittel" bzw. "Ursachen" und "Wirkungen" analysiert, wichtige Aspekte des Beobachteten verstehen könne. Eine solche Analyse bedürfe aber immer der Ergänzung durch einen Zugang über intersubjektiv geteilte Vorstellungen. Das heißt, der Beobachter muß immer auch Teilnehmer sein, der das Handeln, das er verstehen will, innerlich mit der gleichen Anteilnahme wie andere Teilnehmer auch vollzieht. Er muß die "Lebenswelt" der Beobachteten teilen. Mit dem Begriff der "Lebenswelt" bezeichnet Habermas das Selbstverständliche im menschlichen Zusammenleben, das die Handelnden als intuitives Wissen im Bereich alltäglicher Erfahrungen orientiert. Diese Komponenten sozialen Handelns sind, so Habermas, für die systemtheoretisch informierte Beobachtung unzugänglich und können nur aus der Innenperspektive, d.h. von den Teilnehmern selbst erschlossen werden. Auf dieser Unterscheidung aufbauend, nimmt Habermas bei der Ausarbeitung seiner Gesellschaftstheorie den Systembegriff auf, um zweckrational rekonstruierbare Zusammenhänge zu bezeichnen, stellt ihm aber den Lebensweltbegriff an die Seite. Gesellschaft besteht also immer zugleich aus Lebenswelt und System. Die Lebenswelt ist für den Bestand einer Gesellschaft, für ihre Identität, von zentraler Bedeutung, da sich in ihr die Deutungsmuster reproduzieren, die menschlichem Leben Sinn geben. Auf ihre Bedeutsamkeit für die Durchsetzung von kommunikativer Vernunft aufmerksam zu machen, ist das Anliegen der "Theorie des kommunikativen Handelns". Sie weist demgemäß auf die "Bedrohung" lebensweltlicher Kommunikation durch mediengesteuerte systemische Kommunikation hin, die sich zu einer "Kolonialisierung der Lebenswelt" entwickelt (vgl. Habermas 1988: 293, 471 ff). Die Theorie findet damit im Begriff der "Lebenswelt" einen Ort, von dem aus Kritik gegenüber der sozialen Praxis als Zweck der soziologischen Analyse begründet werden kann. Habermas sucht demnach - ähnlich wie Parsons - nach Strukturelemente in der Moderne, die Prozessen der Verselbständigung entgegenstehen. Anders als Parsons fixiert er aber mit dem Konzept der "Lebenswelt" eine Leitlinie, um pathologische Handlungsformen aufzuzeigen. Damit präformiert er aber zugleich auch die Analyse von zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklungen und setzt seine Theorie dem Risiko aus, neue Muster normativer Kultur nicht als solche wahrzunehmen.

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Theorien der Gesellschaft

4. Arbeitsaufgaben (1) Der Systembegriff wird in der Soziologie in ganz verschiedener Weise angewendet. Luhmann verbindet ihn mit der Theorie der Autopoiesis, Habermas identifiziert damit strategisches Handeln und Zweck-Mittel-Relationen, Coleman faßt darunter Aggregate einzelner Handlungen. Diskutieren Sie die Vor- und Nachteile der verschiedenen Konzeptionen, insbesondere auch unter Berücksichtigung der jeweiligen wissenschaftsphilosophischen Hintergründe. Welcher Gebrauch des Systembegriffs verspricht welchen Erkenntnisgewinn? (Literaturempfehlung: Müller, Klaus 1996: Allgemeine Systemtheorie. Geschichte, Methodologie und sozialwissenschaftliche Heuristik eines Wissenschaftsprogramms) (2) Die Institutionalisierung von Individualismus als normatives Muster setzt die gesellschaftlichen Akteure der moralischen Autonomie aus. Das bedeutet aber nicht, daß gesellschaftliche Verpflichtungen abgeschafft werden, sondern daß ein Zwang entsteht, sich selbst seine eigenen Verpflichtungen - im Rahmen der für alle verbindlichen Gesetze - zu definieren. Wie wirkt sich diese Form der Gesellschaftsorganisation auf den einzelnen aus? Welche Anforderungen stellt sie an ihn? Literaturempfehlung: Alexander, Jeffrey C.: Soziale Differenzierung und kultureller Wandel) (3) Immer wieder stellt sich in der zeitgenössischen Soziologie die Frage, inwieweit die moderne Gesellschaft überhaupt Prozesse der Individualisierung durchläuft. Dabei werden unterschiedliche Positionen vertreten. In Deutschland ist die Individualisierungsthese durch Ulrich Becks Schrift "Risikogesellschaft" prominent geworden. Sie besagt, daß sich die kollektiven Bindungen in Form von Klassen, Nachbarschaften, Geschlechtsrollen, sogar in Partnerschaften und an die Eckpunkte der Biographie, stetig verflüchtigen. Diskutieren Sie diese These vor dem Hintergrund von Parsons' Analyse der modernen Gesellschaft. (Literaturempfehlung: Beck, Ulrich 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 121-248) (4) Hat der Modernisierungsprozeß ein Ende? Wenn ja, welches? Gibt es Alternativen zum Modernisierungsprozeß? - Erarbeiten Sie Antworten zu diesen Fragen, indem Sie sich die Prinzipien der gesellschaftlichen Entwicklung klar machen, die verschiedenen Sozialtheorien zugrunde gelegt sind. Berücksichtigen Sie dabei insbesondere auch das Prinzip der "Dialektik". (Literaturempfehlung: Münch, Richard 1986: "Differenzierung, Rationalisierung, Interpénétration. Die Herausbildung der modernen Gesellschaft". In: Horst Reimann (Hg.) Soziologie und Ethnologie. Zur Interaktion zwischen zwei Disziplinen, 48-71).

Parsons 95

5. Zitierte und weiterführende Literatur Ackerman, Charles/ Parsons, Talcott: "Der Begriff 'Sozialsystem' als theoretisches Instrument." In: Talcott Parsons: Zur Theorie sozialer Systeme. Hrsg. u. eingl. v. Stefan Jensen. Opladen, 1976, S. 69-84. Alexander, Jeffrey C.: Theoretical Logic in Sociology, Vol. 4: The Modern Reconstruction of Classical Thought: Talcott Parsons. Berkeley; Los Angeles, 1983. Alexander, Jeffrey C. Alexander (Hg.): Soziale Differenzierung und kultureller Wandel. Essays zur neofunktionalistischen Gesellschaftstheorie. Frankfurt/ Main, 1993. Alexander, Jeffrey C.: "Die neue Theoriebewegung: Eine ihrer Erscheinungsformen." In: Jeffrey C. Alexander (Hg.): Soziale Differenzierung und kultureller Wandel. Essays zur neofunktionalistischen Gesellschaftstheorie. Frankfurt/ Main, 1993, S. 31-47. Beardslee, William A. (Hg.): America and the Future of Theology. Philadelphia, 1967. Bershady, Harold J.: Ideology and Social Knowledge. N e w York, 1973. Brandt, Sigrid: Religiöses Handeln in moderner Welt. Talcott Parsons' Religionssoziologie im Rahmen seiner allgemeinen Handlungs- und Systemtheorie. Frankfort/Main, 1993. Döbert, Rainer/ Habermas, Jürgen/ Nunner-Winkler, Gertrud (Hg.): Entwicklung des Ichs. Köln, 1977. Gerhardt, Uta 1992: "Die soziologische Erklärung des nationalsozialistischen Antisemitismus während des Zweiten Weltkrieges in den USA. Zur Faschismustheorie Talcott Parsons'." In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 1, 1992, S. 253-273. Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. 2., durchges. Aufl.. Frankfurt/Main; New York, 1995. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde.. Frankfurt/Main, 1988. Henderson, Lawrence J.: Pareto's General Sociology. A Physiologist's Interpretation. Cambridge, 1935. Henderson, Lawrence J. 1970: L.J. Henderson on the Social System. Selected Writings. Hrsg. v. Bernard Barber. Chicago, 1970. Jensen, Stefan: Talcott Parsons. Eine Einführung. Stuttgart, 1980. Jetzkowitz, Jens: Störungen im Gleichgewicht. Das Problem des sozialen Wandels in funktionalistischen Handlungstheorien. Münster, 1996. Jetzkowitz, Jens: Recht und Religion in der modernen Gesellschaft. Soziologische Theorie und Analyse am Beispiel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Sachen "Religion" zwischen den Jahren 1983 und 1997. Opladen, 2000. Klausner, Michael/ Groves, Mark A.: "Empirical Application of Parsonian Theory." In: Sociological Inquiry, 51, 1981, S. 243-265. Lechner, Frank J.: "Parsons and Modernity: an Interpretation." In: Roland Robertson and Bryan S. Turner (Hg.): Talcott Parsons. Theorist of Modernity. London et.al, 1991, S. 166-186.

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Kapitel IV Beobachtungen der Moderne in der Systemtheorie von Niklas Luhmann Achim

Brosziewski

Inhalt:

1. 2. 3. 3.1 3.2 3.3 4. 5. 6.

Einleitung Kennzeichen der Moderne: das Beobachten zweiter Ordnung Theorie der Moderne Evolution der gesellschaftlichen Differenzierungsformen Die Form funktionaler Differenzierung Eine gesellschaftliche Aufgabe der Soziologie Disziplinare und interdisziplinäre Referenzen der Theorie sozialer Systeme Arbeitsaufgaben Zitierte und weiterführende Literatur

100 Theorien der Gesellschaft

Niklas Luhmann zufolge werden die zentralen Strukturen der modernen Gesellschaft durch die Verschränkung von Beobachtungsverhältnissen gebildet. Jede und jeder Einzelne wird aufgefordert, andere und dann auch sich selbst als Beobachter zu beobachten. Deshalb ist Identität zu einem Grundproblem geworden - nicht nur die Identität jedes Einzelnen, sondern auch der gesellschaftlichen Ordnung insgesamt. Sie stellt keine Fixpunkte, keine höchsten Ideen und Instanzen mehr zur Verfügung, die für ewig und für jeden Anspruch angerufen werden könnten. Jeder gesellschaftliche Teilbereich hat seine Eigenlogik die Wirtschaft mit ihren ständigen Preisschwankungen und Produktwechseln; die Kunst mit ihrem Selbstüberbietungszwang; das Recht mit seinen internen Konsistenzproblemen und der daraus folgenden Distanz zum Gerechtigkeitsgefühl; die Wissenschaft mit ihren technischen Erfolgen, deren Effekte niemand vorhersagen, geschweige denn kontrollieren könnte; das Erziehungssystem in seinem Dilemma zwischen Bildungsidealen und Karriereanforderungen an die Zöglinge; die Familie in ihrem Anspruch, das ganz persönliche Welterleben aller ihrer Mitglieder zusammenzuhalten. Auch die Politik kann nicht gesellschaftsweit integrieren oder nur steuern, kann sie doch bestenfalls ihr Eigenproblem lösen, Macht- und Gewaltpotentiale so einzuschränken, daß trotz Verzicht auf deren Mittel bindende Entscheidungen zustande kommen können. Erst recht bietet Moral keine Aussicht auf gesellschaftliche Einheit, fordert sie doch jeden Einzelnen zur Konsistenz mit seinen eigenen Wertvorstellungen und somit zum Streit über jene Wertbindungen auf Was bleibt, ist die Chance, durch eigene Beobachtungen Rahmen für sich selbst zu setzen, sowie die Notwendigkeit, die Tauglichkeit dieser Rahmen für andere im Kontakt mit ihnen der Bewährungsprobe auszusetzen, Annahme und Ablehnung — sie werden in jeder Kommunikation erneut entschieden, Alles, was gilt, gilt allenfalls "bis auf weiteres". Identität und Gemeinsamkeit bilden weder den Anfang noch das Ende der Gesellschaft, sondern ein andauerndes Problem, das Gesellschaft in Bewegung hält. Für die gesellschaftliche Resonanz der Soziologie wird entscheidend sein, ob und wie sie ihre eigenen Beobachtungen diesen Verhältnissen einzufügen versteht.

1. Einleitung Der Beitrag erläutert einige wenige Grundbegriffe der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann, die für eine Charakterisierung der Modernität der Gesellschaft zentral sind: die Begriffe des Beobachtens, der Selbstreferenz und der Rekursion. Im Sinne dieser Auswahl und Beschränkung ist der Text auch als eine Hinfuhrung zur Gesellschaftstheorie Luhmanns konzipiert. Da diese Theorie mit einer Vielzahl von Begriffen arbeitet, die sich oft nur wechselseitig erläutern können, müssen genaue und ausfuhrliche Darstellungen jedoch durch Verweise auf entsprechende Stellen im Werk Luhmanns kompensiert werden. Eine Kurzdarstellung wie diese kann keine einfache Aneignung der Theorie bieten. So können im Folgenden einige Besonderheiten der Systemtheorie in der Beschreibung und Analyse der modernen Gesellschaft vorgestellt werden. Das Ziel einer Einfuhrung in diese spezifische Beobachtungsweise wäre erreicht, wenn der Text zu zeigen verstünde, daß eine Weiterfuhrung systemtheoretischer Beobachtungen nicht wegen, sondern trotz der angezeigten Aneignungsschwierigkeiten lohnt. Vorab sei angemerkt, daß die Gesellschaftstheorie Luhmanns die Soziologie nicht in die Lage eines "Gesellschaftsexperten" versetzt, der die Probleme der Mo-

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derne zu diagnostizieren und zu therapieren verstünde. Die Orientierung an gesellschaftlichen Problemen (und nicht: an kosmischen Ordnungen) ist für sie gerade ein Kennzeichen der Moderne selbst. Für eine systemtheoretische Erklärung dieser Gegenwart ist das Konzept der soziokulturellen Evolution leitend, die keine Höchstinstanz der Problematisierung und Normalisierung kennt. Der Modernität der modernen Gesellschaft soll durch eine theoretische Erfassung ihrer Form und des Vergleichs mit anderen Formen gerecht werden. Eine gesellschaftliche Aufgabe der Soziologie ist schon darin zu sehen, diese Form angemessen zu beschreiben und in der Gesellschaft zur Darstellung zu bringen.

2. Kennzeichen der Moderne: das Beobachten zweiter Ordnung Einer der zentralen Begriffe der Systemtheorie von Niklas Luhmann ist der Begriff des Beobachtens. Wenn man seiner Theorie nach ein zentrales Kennzeichen der modernen Gesellschaft hervorheben wollte, so wäre es ihre Einstellung auf ein Beobachten zweiter Ordnung, ein Beobachten von Beobachtungen (Luhmann 1992a; 1997: 766-769). In sehr ausführlichen Einzelstudien konnte Luhmann zeigen, daß die wichtigsten Strukturen der ausdifferenzierten Funktionssysteme der modernen Gesellschaft als ein Beobachten von Beobachtungen eingerichtet sind. Im Recht werden Konfliktbereitschaften beobachtet und für die Beteiligten verbindlich beurteilt. Die Religion hat zu beobachten, wie sich die welttranszendierenden Beobachtungen Gottes weltimmanent beobachten und beglaubigen lassen. In der Wirtschaft wird beobachtet, welche Leistungen zu welchen Preisen abgegeben und angenommen werden, um eigene Nachfragen und Angebote im selben Modus: Zahlung gegen Leistung, einstellen zu können. Die Wissenschaft richtet sich ganz und gar auf die Beobachtung der Bedingungen ein, unter denen eine Beobachtung stattfinden muß, um ihre Ergebnisse als wahr anerkennen zu können. In der Erziehung beobachten Erzieher (Eltern, Lehrer, Aufsichts- und Fürsorgepersonal), wie Kinder ihre Welt beobachten, um korrigierend, warnend und verbessernd eingreifen zu können. Politiker beobachten, wie ihre Amtsführung durch die öffentliche Meinung beobachtet und dargestellt wird, um jene Beobachter zu dirigieren, von denen sie ihre Amtsführung abhängig wähnen (in der Demokratie die Wahlbevölkerung, in Plutokratien die jeweils mächtig erscheinende Klientel). Und schließlich kann auch die Kunst nur durch Beobachtungen gefallen, die den Alltagsstil des Beobachtens durchkreuzen und ihren Beobachtern überraschende Ordnungen präsentieren. Will man diese Typisierung der Eigenart der Moderne nachvollziehen, muß man zunächst Abstand nehmen von jenem Normalverständnis des Beobachtens, demzufolge man nur die Augen aufzumachen brauchte, um zu sehen, was der Fall sei. Beobachten ist hier sehr abstrakt angesetzt und umfaßt nicht nur den Fall des Sehens. Zudem muß man - will man die Verhältnisse zwischen Beobachtungen eingehend analysieren - damit rechnen, auf sehr komplexe, zirkuläre und "letztendlich" paradoxe Sachverhalte zu stoßen. Anzuerkennen sind die Momente zum einen der Selbstreferenz, die allem Beobachten eigen ist, und zum anderen der Rekursion, also des Erinnerns und Antizipierens von Beobachtungsresultaten, ohne die eine Vernetzung und damit ein Beobachten von Beobachtungen gar nicht zustande kommen könnte. Diese

102 Theorien der Gesellschaft drei Konzepte - Beobachten, Selbstreferenz und Rekursion - müssen also zumindest in groben Umrissen skizziert werden, um die Kennzeichnung der Moderne durch Niklas Luhmann zu verstehen. Unter Beobachten versteht Niklas Luhmann im Anschluß an den Mathematiker und Logiker George Spencer-Brown (1969) jedes Bezeichnen im Rahmen einer Unterscheidung (Luhmann 1992d: 79-87). Ohne Unterscheidung und ohne Bezeichnung so der Umkehrschluß - kann nichts beobachtet, nichts identifiziert und nichts für weitere Beobachtungen (Behandlungen, Beurteilungen, Bewertungen usw.) festgehalten werden. So abstrakt angesetzt, kann man (mindestens) zwei Fälle unterscheiden (und bezeichnen), die diese Art des Operierens realisieren können: das wahrnehmungsgestützte und -abhängige Bewußtsein einerseits und die zeichengestützte und -abhängige Kommunikation andererseits (Luhmann 1995a: 13-36). Im Bewußtsein sind es Intentionen, die in der Gleichzeitigkeit alles Wahrnehmbaren einige Wahrnehmungen auszeichnen und gegenüber allen anderen Wahrnehmungen abheben.1 Auf diese Weise können Vorstellungen gebildet und für den weiteren Gebrauch, zum Beispiel im Denken, identifiziert, erinnert und bei Bedarf aufgerufen werden. In der Kommunikation sind es Mitteilungen, die Information aus allen anderen Weltereignissen herausheben und auf die man sich in weiteren Mitteilungen berufen kann. In beiden Fällen muß etwas von allem anderen abgehoben und eingegrenzt werden, um Beobachtung und gegebenenfalls Identifikation von etwas zu ermöglichen. Gekoppelt werden diese beiden grundsätzlich verschiedenen Beobachtungsformen in erster Linie durch Sprache (Luhmann 1997: 109-110, 205-230 u.ö.), dann auch - in erheblich niedrigerem Spezifikationsgrad - durch Gesten und Zeigehandlungen aller Art, und schließlich, vor allem im Zeitalter des Fernsehens und des Internet, durch Bilder und Piktogramme. Die Elemente der Sprache - Wörter und ihre Kombinationen zu Sätzen - sind einerseits wahrnehmbar, also auch bewußt zu unterscheiden und zu benutzen. Andererseits fixieren sie über ihre Bedeutungen und den Kontext ihres Gebrauchs einen Sinn, der zumindest den Sprecher, im Fall der Zustimmung aber auch die Hörer in weiteren Handlungen und Kommunikationen bindet und für Rückgriffe (zum Beispiel für Nachfragen und Klärungsbedarf) verfugbar wird. Beobachten erzeugt zugleich Identität und Differenz: die Identität des Bezeichneten und die Differenz zur unbezeichneten Seite der Unterscheidung. Jede Folgebeobachtung hat dann die Wahl, ihre Bezeichnung an der Identität oder an der Differenz anzusetzen, die erste Beobachtung zu bestätigen oder auf das auszugehen, was die Erstbeobachtung unberücksichtigt läßt (Luhmann 1995a: 92-164).2 Dieser Wahl zwischen Bestätigung und Korrektur liegt aber eine zumindest ebenso weitreichende Einschränkung zugrunde. Denn die Wahl besteht ja lediglich darin, auf der einen oder auf der anderen Seite weiterzumachen, aber nicht: von vorne anzufangen! (Luhmann 1995a: 506) Jedes Anknüpfen an Beobachtungen, jedes Fortspinnen eines Netzes von Beobachtungen, schließt (zumindest vorläufig) die Freiheit aus, statt des "oder" das "und" der beiden Seiten zu wählen. Ausgeschlossen bleibt zunächst, das durch die Bezeichnung Unterschiedene als Einheit aufzufassen und im Anschluß daran von der 1

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Die Gestaltpsychologie nennt hier - allerdings abermals auf das Sehen eingeschränkt - die Abgrenzung von Vorder- und Hintergrund. Soziologisch interpretiert sind also sowohl Konsens als auch Dissens mögliche Resultate, wenn Beobachtungen an andere Beobachtungen anschließen.

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Einheit des Unterschiedenen auszugehen. 3 Denn damit würde die Leistung der ersten Beobachtung - etwas im Unterschied zu anderem zu bezeichnen - ja wieder ausgelöscht. Man stünde vor dem Nichts und müßte ganz neu beginnen; also den Kontakt zum Vorherigen abbrechen, den Faden des Netzes von Beobachtungen zerreißen lassen. Wer an Beobachtungen anknüpfen will - sei es, um sie zu benutzen, sei es, um sie zu korrigieren - muß jenseits der Wahl zwischen verschiedenen Seiten des Anschlusses diese grundlegende Leistung einer Erstbeobachtung, das Trennen zweier Seiten und das Aufspannen einer Grenze, die bestimmt, wo es weitergehen kann, zunächst einmal akzeptieren. Und der Begriff für diese notwendige Leistung allen Beobachtens heißt Selbstreferenz (Luhmann 1995a: 92). Erst dieser Begriff erlaubt es überhaupt, die Einheit der Operation genannt "Beobachten" als eine Zweiheit, als Unterscheidenund-Bezeichnen, zu rekonstruieren und doch als Einheit zu behandeln (Luhmann 1993b). Man kann das "was" der Beobachung als ihre Fremdreferenz identifizieren; eine Referenz, die ihre Prägnanz aus dem Unterschiedenen gewinnt. Das Einsetzen der Unterscheidung selbst realisiert hingegen die Selbstreferenz der Beobachtung. Erst in der Beobachtung von Beobachtungen hat man die Wahl, an der Fremdreferenz einer Beobachtung anzusetzen oder nach der Einheit des durch die Bezeichnung Unterschiedenen zu fragen. Und ein Verstehen von Beobachtungen ist nur möglich, wenn man beide Möglichkeiten zu kombinieren vermag. "Verstehen", so heißt es bei Luhmann anläßlich der Probleme pädagogischen Verstehens und Handelns, "ist Beobachtung im Hinblick auf die Handhabung von Selbstreferenz" (Luhmann 1986: 79). Mit dem Begriff der Rekursion bezieht sich Luhmann auf eine Theorieentwicklung, die sich als "second order cybernetics" ("Cybernetics of Cybernetics") einen Namen gemacht hat. 4 Vor allem Heinz von Foerster hat sich auf diesen Begriff gestützt, den er seinerseits der Mathematik rekursiver Funktionen entnommen hat (Foerster 1994a). "Rekursiv" ist dort eine Funktion, in der die Ergebnisse einer Gleichung wieder als Variablen in dieselbe Gleichung (in dasselbe Gleichungssystem) eingesetzt und erneut zur Berechung eines Ergebnisses herangezogen werden - ein Verfahren, das prinzipiell beliebig oft wiederholt werden kann, bis sich entweder sogenannte "Eigenwerte" 5 einstellen oder die Berechnungen aus pragmatischen Gründen abgebrochen werden (müssen). Die mathematischen Eigenschaften solcher Funktionen brauchen hier nicht weiter zu interessieren. Ausschlaggebend für den Begriff der Rekursion ist allein der Umstand, daß ein Prozeß durch den Gebrauch von Ergebnissen (Informationen) in Gang gesetzt und gehalten werden kann, die er selbst erzeugt hat -

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Diese Freiheit kommt nur ausnahmsweise und unter Sonderbedingungen zum Zuge, zum Beispiel unter den Bedingungen schriftgestützter Kommunikation (im Recht, in der Wissenschaft, in der Verwaltung usw.). Leser haben die Zeit, eine lange Beobachtungssequenz (einen Text) zu beurteilen und den "ganzen Ansatz" anzunehmen oder abzulehnen. Siehe Foerster 1995. Vgl. hierzu u.a. Luhmann 1992d: 275-279. Gemessen an der Aufmerksamkeit, die Luhmanns Theorieentwicklungen zuteil wurde, wäre hier statt Rekursion der Begriff der Autopoiesis vorzustellen und zu erläutern. Die beiden Begriffe sind komplementär zueinander zu verstehen. Während Autopoiesis auf die Operationen eines Systems abstellt und ihre Selbstproduktivität bezeichnet, greift Rekursion auf die Beobachtungen des Systems und deren Möglichkeiten zurück, die zur Selbstproduktion notwendigen Fremdreferenzen, also den Bezug des Systems zu seiner Umwelt zu handhaben. Da hier der Begriff der Beobachtung im Zentrum steht, wird im Folgenden von Rekursion ausgegangen. Ergebnisse, die sich durch weitere Anwendungen nicht mehr verändern (Foerster 1994a: 107f.).

104 Theorien der Gesellschaft und daß dieser Prozeß nichts anderes als eigene Strukturen und eine eigene Zeit voraussetzt, in der diese Strukturen genutzt und auch verändert werden können. Die wichtigste Folge dieses Merkmals rekursiver Prozesse ist, daß sie morphogenetisch in ihren je aktuellen Strukturen - nur historisch verstanden und erklärt werden können; daß sie mit anderen Worten keine "Wesenheiten" enthalten, die unabhängig von jeder Zeit (in aller Ewigkeit) bestehen könnten. Selbst wenn man Systeme, die sich aus derartigen Prozessen produzieren, als Maschinen auffassen würde, also annähme, daß ihre jeweils ablaufenden Prozesse determinierten und strikt gekoppelten Strukturen folgten (wie etwa ein mathematisches Gleichungssystem), müßte man sie als nichttriviale Maschinen (Foerster 1994b: 158 u.ö.) betrachten, die ihre internen Strukturen selber an In- und Outputs ausrichten und deshalb in ihrem Verhalten unvorhersehbar sind. Die Beobachtung rekursiv operierender Systeme muß daher immer solch eine fungierende Selbstreferenz in Rechnung stellen - was immer als Input und Output diesen Systemen zugeordnet werden kann. Um hier nur ein Beispiel aus dem Bereich sozialer Systeme zu geben: Wissenschaft hat die Funktion, neues Wissen zu ermitteln, oder umgekehrt formuliert: jedes Wissen, das sich als "neu" behaupten will, der Forschung zu unterziehen. Das erfordert die Angabe, welches Wissen denn durch das neue Wissen zu ersetzen und im Erfolgsfalle als "alt" zu kennzeichnen sei (Luhmann 1992d: 220 und 296-298). Diese Bedingung zwingt dazu, stets vom "Stand der Forschung" auszugehen, um forschen zu können. Oder um es auf den paradoxen und darin treffenden Punkt zu bringen: Man muß wissen, um wissen zu können - jedenfalls dann, wenn es wissenschaftlich zugehen soll. Konsequenterweise finden zahllose Wissensbehauptungen keinen Anschluß an das Wissenschaftssystem und deshalb keinen Anspruch auf Wahrheit, weil sie nicht auf die Ersetzungsbedingungen zugreifen können, und aus diesem Grunde vom Prozeß wissenschaftlicher Rekursion ausgeschlossen bleiben. Beobachtungen sind nur als rekursive Prozesse möglich, nur als Abfolge von Selektionen, deren Resultate von vorangehenden Selektionen abhängig bleiben; und deren eigene Identität von weiteren Selektionen abhängig bleibt, die ihr selbst erst nachfolgen werden (andernfalls ließe sich nicht von "Resultaten" sprechen, denn sie blieben unbeobachtet). Das gilt für jedes Beobachten von Objekten und erst recht für das Beobachten von Beobachtungen, das heißt für das Beobachten des Gebrauchs von Unterscheidungen (Luhmann 1995a: 101). Terminologisch werden hierbei Beobachtungen erster Ordnung und zweiter Ordnung unterschieden, ohne daß diese Bezeichnungsweise hierarchisch interpretiert werden darf. Denn zum einen ist jede Beobachtung zweiter Ordnung selber auch eine Beobachtung erster Ordnung (ihr "Objekt" ist eben eine bestimmte Beobachtung), zum anderen sieht sie nur in bestimmten Aspekten mehr als die beobachtete Beobachtung (zum Beispiel die Kontingenz der eingesetzten Unterscheidung), in anderen Aspekten aber auch weniger (sie schränkt sich ja auf ihr Objekt ein und läßt alles andere außer Acht). Nicht zuletzt ist die Beobachtung zweiter Ordnung konstitutiv mit höheren Unsicherheiten verbunden, denn die Richtigkeit ihrer Resultate ist mit zwei möglichen Fehlerquellen belastet: Fehlern, die in der Erstbeobachtung, und solchen, die in der Zweitbeobachtung auftreten können (Luhmann 1992d: 103). Legt man den vorgestellten Beobachtungsbegriff (Bezeichnen-im-Rahmen-vonUnterscheidungen) zugrunde, so kann man sagen: Gesellschaftliche Realität erscheint

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als ein Prozessieren von Bezeichnungen, und all ihre Stabilitäten findet sie allein in Bezeichnungen, deren Wert aktuell nicht bestritten wird. Von diesem Ausgangspunkt aus wird die Unwahrscheinlichkeit sozialer Ordnung einer Gesellschaft erkennbar, deren Modernität nicht zuletzt darin besteht, daß sie keine Bezeichnung - keinen Begriff und keine Aussage - der (potentiellen) Kritik entzieht, daß sie auf jede kosmologische und / oder religiöse Letztabsicherung durch Wesenheiten, Substanzen und ähnlich ewige, nur einer "höheren Autorität" zugängliche Wahrheiten verzichtet. Statt dessen stellt sie auf die Beobachtung von Beobachtungen ab und kann im Aufbau von Ordnungen (kognitiven wie sozialen Ordnungen) nur auf "Eigenwerte" (im Bezeichnen und Beschreiben) zurückgreifen, die sich im Moment ihres Gebrauchs der Kritik zu entziehen vermögen und darin ihre eigene Autorität produzieren müssen. Wie unwahrscheinlich diese Art Ordnungsaufbau ist und wie unwahrscheinlich sein Fortbestand erscheint, zeigt sich nicht zuletzt in den zahllosen Bewegungen, die "fundamentalisierende" Welt- und Gesellschaftsbeschreibungen intellektuell-ethischer, religiösmoralischer und politisch-fanatischer Art erzeugen und sich mit ihnen identifizieren.

3. Theorie der Moderne Die Ausdrücke Moderne und Modernisierung haben in der Theoriearchitektur Luhmanns keine selbständige Bedeutung. Sie sind mit anderen Worten für ein Verständnis seiner Gesellschaftstheorie entbehrlich. Luhmann sieht diese Begriffe als Teil der Semantik 6 einer Gesellschaft, die ihre Besonderheit nicht anders zu beschreiben versteht als durch eine historische Differenz, also durch eine rein zeitliche Abgrenzung zu Gesellschaften, die sie dann als ihre "Vorläufer" interpretieren muß. 7 Wenn Luhmann selbst den Ausdruck "moderne Gesellschaft" verwendet, dann fungiert er allein als sprachliche Kurzform für eine Gesellschaft, die ihre internen Abgrenzungen und Bezüge primär an funktionalen Differenzen ausrichtet und dadurch einen Unterschied zu Gesellschaften bildet, deren Kommunikationen primär an segmentären oder primär an stratifikatorischen Differenzen orientiert sind. Das kann, wer will, als eine "Epocheneinteilung" lesen und in eine historische Skala der Abfolge "erst segmentär, dann stratifikatorisch und letztlich funktional differenziert" transformieren. Für Darstellungszwecke mag dies ganz nützlich sein, und auch Luhmann selber bedient sich dieser Präsentationsform, vor allem, um die Besonderheiten der funktionalen Differenzierung anhand von Vergleichen mit primär stratifikatorischer Differenzierung zu erläutern. Aber nochmals: Theorienotwendig ist solch eine Historisierung nicht. Differenzierung ist eine primär sachbezogene Formel. Sie verweist auf Differenzen, die entweder vorliegen und beobachtbar sind oder nicht. Vor allem behauptet die These vom Primat funktionaler Differenzierung nicht, daß es keine Gleichzeitigkeit von 6

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Mit Semantik werden Formen bezeichnet, die den Sinn von Ereignissen auf bekannte und vertraute Sinnmuster beziehen (Luhmann 1993d: 19). Innerhalb dieser Semantik unterscheidet Moderne sich selbst nur von Tradition, benutzt also eine rein zeitliche Unterscheidung wie "früher" und "heute". Allerdings ist dies keineswegs eine "neutrale", sondern eine typisch hierarchische Unterscheidung, in der die eine Seite, die zur Selbstbezeichnung dient, der anderen Seite übergeordnet wird. Denn die Moderne stellt sich frei, aus der Tradition zu übernehmen, was "wichtig" und "wertvoll" erscheint - eine Wahlfreiheit, die der anderen Seite nicht zugedacht werden kann.

106 Theorien der Gesellschaft funktionalen, stratifikatorischen und segmentaren Differenzierungen geben könne (Luhmann 1997: 612 und 760). Im Gegenteil: Funktionale Differenzierung wiederholt auch segmentare und stratifikatorische Differenzierungsformen in ihrer eigenen Form. So kann man das Verhältnis der verschiedenen Funktionssysteme wie Religion, Erziehung, Politik, Wirtschaft usw. untereinander auch als eines der segmentaren Art beschreiben. Sie sind verschieden in bezug auf die jeweils zu erfüllende Funktion, aber auch gleich darin, daß sie für je ihre Funktion exklusiv zuständig sind und sich deshalb in allem Anderen auf die Leistungen der je anderen Funktionssysteme verlassen müssen, so daß kein Funktionssystem den Ausfall eines anderen kompensieren könnte (Luhmann 1997: 746, 753 u.ö.). Und auch stratifikatorische Differenzierungen sind in der Moderne zu beobachten, zum Beispiel in den Hierarchien formaler Organisationen, die sich auf Leistungserzeugung für bestimmte Funktionen spezialisieren. Allein die Gesellschaft insgesamt läßt sich nicht hierarchisch organisieren. Der bloße Hinweis auf das Vorliegen segmentärer oder stratifikatorischer Differenzierungen innerhalb der modernen Gesellschaft widerlegt also nicht - wie manche Kritiker der Theorie zu meinen scheinen - die These vom Primat funktionaler Differenzierung (vgl. Luhmann 1997: 776). Segmentare, stratifikatorische und funktional differenzierte Gesellschaften8 unterscheiden sich darin, wie sie die innergesellschaftlichen System-zu-System-Beziehungen anhand der Differenz von gleich und ungleich regulieren (Luhmann 1997: 613). Dabei bezieht sich diese Differenz nicht - wie zum Beispiel in der soziologischen Ungleichheitsforschung - auf die Lebensbedingungen und -chancen einzelner Personen, sondern auf die Relevanz einzelner Kommunikationen in den jeweiligen Systemverhältnissen. Einfach gesagt: Die Differenz von Gleichheit und Ungleichheit sortiert "nichtssagende" Kommunikationen aus. Die Lebensbedingungen der Individuen werden in allen drei Differenzierungsformen anhand einer zusätzlichen Unterscheidung, der Unterscheidung von Inklusion und Exklusion reguliert, die ihrerseits mit der Primärform der gesellschaftlichen Differenzierung variiert. In segmentaren Gesellschaften ordnen sich Gleichheit und Verschiedenheit aller beobachtbaren Teilsysteme nach der Abstammung, nach der Lebensgemeinschaft oder einer Kombination dieser beiden Merkmale. Die verschiedenen Stämme, Clans usw. beobachten einander als gleich (zum Beispiel auch: als auf gleiche Weise kampfund damit kriegsfähig) und regulieren Verschiedenheit innerhalb der derart gezogenen Grenzen, in denen dann zum Beispiel Männer und Frauen nach Arbeits- und Lebensbereichen getrennt werden, sich Häuptlinge von Kriegern unterscheiden usw. Stratifikatorische Gesellschaften ordnen sich primär anhand von Rängen, also in einem Schema von oben und unten mit verschiedenen Abstufungsgraden: von einfachen Dualen (Freie und Sklaven, Adel und Volk) über Ständeordnungen bis hin zu solch komplexen Rangordnungen wie dem indischen Kastensystem. Gleichheit wird dann innerhalb der differenzierten Ränge realisiert. Mitglieder von Adelsfamilien hatten innerhalb des Adels zu heiraten. Politik konnte nur innerhalb dieses Ranges betrieben werden, und wer ihm nicht der Herkunft nach angehörte, konnte allenfalls durch Kampf seine Zugehörigkeit erzwingen. Funktional differenzierte Gesellschaften ord8

Meistens argumentiert Luhmann mit diesen drei Differenzierungsformen (z.B. in Luhmann 1993d: 25-27). In "Die Gesellschaft der Gesellschaft" (613) nimmt er die Differenzierung nach Zentrum und Peripherie hinzu.

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nen ihre (Zentral-)Kommunikationen durch eine Gleichheit des Verschiedenen. Sie trennen nach Funktionen, das heißt nach Kommunikationsproblemen, erzeugen so Verschiedenheit, und setzen das Verschiedene gleich, indem jedes Problem gelöst werden muß, also die Lösung eines Problems nicht die Lösung eines anderen ersetzen kann. Sie können mit anderen Worten das Verschiedene nicht nach Rängen sortieren (Luhmann 1993d: 27). Man kann dies beispielsweise an der Fruchtlosigkeit aller Versuche der "bürgerlichen" Gesellschaftstheorien ablesen, doch ein Primat der Politik oder der Wirtschaft nachzuweisen, die ob dieser Kontroverse keinen Blick dafür gewinnen konnten, daß die Probleme der Erziehung, der Erzeugung neuen und doch überzeugenden Wissens, der Stabilisierung von Normen, der künstlerischen Weltbeobachtung usw. weder durch die Politik noch durch die Wirtschaft gelöst werden können. Die Inklusion und Exklusion einzelner Personen hängt ganz von der dominanten gesellschaftlichen Differenzierungsform ab (Luhmann 1995c, 1995d und 1997: 618-634). In segmentären Gesellschaften bedeutete der Ausschluß aus einem Dorf, einem Clan usw. fast automatisch den sozialen und dann oft auch den physischen Tod oder zumindest eine drastische Beschneidung des Zugangs zu vitalen Ressourcen. In stratifikatorischen Gesellschaften ist die Mobilität auf die gleichwertigen Ränge der Herkunftsfamilien beschränkt. Sozialer Auf- und Abstieg betraf in der Regel ganze Familien (und waren zumeist über Konflikterfolge, nicht durch Leistung bestimmt). Fälle individueller Mobilitäten im heutigen Sinne waren marginal (Eintritt ins Kloster oder ins Heer) und hatten keine sozialstrukturelle Bedeutung. Die funktional differenzierte Gesellschaft reguliert die Inklusion und Exklusion der Individuen in Form von Karrieren, also über die Selektion von Personen für Positionen, die den Zugang zu funktionsspezifischen Leistungen privilegieren (beispielsweise Rentenansprüche) und disprivilegieren (Anstalts-, Außenseiter- und Aussteigerkarrieren).

3.1 Evolution der gesellschaftlichen Differenzierungsformen Sowenig wie die Theorie funktionaler Differenzierung als Epochentheorie gemeint ist, so ist sie erst recht nicht als eine Fortschrittstheorie zu interpretieren. Sie unterstellt sich also nicht dem modernen Vorurteil, in der Zukunft oder auch nur im "Neuen" und "Modernen" wäre zwangsläufig auch das "Bessere" zu finden. Die Zeit und alle etwaigen "Fortschritte" in ihr lassen Differenzierung entweder zu oder auch nicht. Differenzen können sich stabilisieren, wenn es ihnen gelingt, nicht nur sich selbst, sondern auch ihre jeweiligen Voraussetzungen zu reproduzieren. An die Stelle von Entwicklungs-, Fortschritts- und auch Modernisierungstheorien tritt das Konzept einer soziokulturellen Evolution (Luhmann 1997: 413-594 und 1993d: 41-53), die unter bestimmten Bedingungen auch unwahrscheinliche, weil sehr voraussetzungsreiche Formen hervorbringt, die aber keine Garantie dafür bietet, daß sich das Unwahrscheinliche auch dauerhaft halten läßt und erst recht nicht dafür, daß es auf Dauer gut geht, gut wird und gut bleibt. Die "Übergänge" der verschiedenen Primärformen gesellschaftlicher Differenzierung sind dann ebenfalls nicht als "Entwicklung", also nicht als "geordnete" (geplante, gewollte) Abfolgen von sozialen Ordnungen zu verstehen, die bereits in ihren Vorläufern angelegt waren und zwangsläufig (etwa: durch den Zwang der Vernunft oder durch einen "notwendigen" Klassenkampf) hätten entstehen

108 Theorien der Gesellschaft müssen. Die Übergänge sind weder als Reformen (heute sagt man: als Projekte) noch als Revolutionen etwa im Sinne von Karl Marx, sondern in einem präzisen, mathematischen Begriffssinne als Katastrophen zu verstehen (Luhmann 1997: 655 u.ö.): als Ausfall zentraler, ordnungsbildender Strukturen und als ein "blindes" und "wildes"9 Ausprobieren von Strukturen, die sich auch unter solch katastrophalen Bedingungen wenigstens momentweise noch halten lassen. Das schließt Konsolidierungen einzelner Strukturen nicht aus, läßt aber eine Stabilisierung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene äußerst unwahrscheinlich werden. Die "moderne", also die funktional differenzierte Gesellschaft, hat sich von ihrer Katastrophe längst noch nicht erholt, verfugt nicht über ein Gesamtbild ihrer selbst und macht es auch zunehmend unwahrscheinlicher, daß solch ein Gesamtbericht (ein metarecit im Sinne von Lyotard) noch gefunden werden könnte. Erstrebenswert wäre, wenn man zumindest ersatzweise über eine Theorie verfugen würde, die diesen Sachverhalt zu erfassen und zu beschreiben in der Lage wäre. Die Katastrophe der Modernisierung der Gesellschaft hat kein Datum. Sie läßt sich also ebenfalls nicht als Geschichte beschreiben, in der ein Ereignis ein nächstes gibt, in der irgendeine Kette historischer Großtaten Schicksal macht. Es gab über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende verstreut einige soziale Sonderformen, die innerhalb der vorherrschenden Differenzierungsformen evoluieren konnten, einige Funktionssysteme schon früh erste Differenzierungen ausweisen ließen und deren Effekte dann zu einer Kumulation führten, die die Reproduktion der bis dahin akzeptierten Sozialstruktur erst allmählich und dann sehr plötzlich verunmöglichten. Diese Plötzlichkeit, die Überraschung der Gesellschaft durch sich selbst, lokalisiert Luhmann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Luhmann 1993d: 27; 1997: 733-743), also ungefähr in jenem Zeitraum, der in der Semantik als das Aufkommen der "bürgerlichen Gesellschaft" beschrieben wird.10 Die Entwicklung der Voraussetzungen für solch eine abrupte Änderung der gesellschaftlichen Differenzierungsform reichen jedoch historisch sehr weit zurück. Zur Veranschaulichung sollen hier - bevor im folgenden Abschnitt die Form funktionaler Differenzierung dargestellt wird - zwei Beispiele solcher evolutionärer Vorentwicklungen gegeben werden: die Erfindung und Funktionalisierung von Geld (1.) und von Schrift (2.).11 (1.) Die moderne Wirtschaft ist ohne Geld nicht vorstellbar und würde kollabieren, würde aus irgendeinem Grunde der Geldmechanismus außer Kraft gesetzt. Die Verwendung von geldähnlichen Zahlungsmitteln läßt sich in der Geschichte des Austausches von Gütern und Dienstleistungen weit zurückverfolgen. Der erste wichtige Schritt der Ablösung des Geldes von primär symbolisch gestützten Trägerobjekten (Muscheln und dergleichen) lag in der Erfindung des Münzgeldes (vgl. dazu Hutter 1993), die anhand der aktuellen Quellenlage dem siebenten Jahrhundert vor Christus zugerechnet wird. Seine ursprüngliche Funktion war dabei keineswegs die eines universalen Zahlungsmittels, sondern die einer Verrechnungseinheit komplexer Tauschvorgänge innerhalb des Einzugsbereichs eines Großhaushaltes. Manche solcher Haus9

Peter Fuchs (1994: 71) spricht von "wilder Kontingenz". Über Datierungen läßt sich natürlich immer streiten - je präziser sie genommen werden, umso ausgiebiger. 11 Weitere Beispiele wären etwa das Amt (Politik und Verwaltung), das Ornament (Kunst) oder der Vertrag (Recht). 10

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haltsmünzen wurden auch von Händlern akzeptiert, die nur gelegentliche Austauschkontakte mit den Haushaltsmitgliedern pflegten. So konnte eine erste "Zirkulation" des Geldes beobachtet werden. Wichtig waren dafür nicht ausschließlich der Materialwert des Trägerobjektes (Bronze, Silber, Gold usw.), sondern in erster Linie die Fragen nach der Vertrauenswürdigkeit und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit jenes Haushaltes, der für die Rücknahme seiner Münzen einstand. Es kam also auf die Prägung der Münzen an, auf ihre Insignien, die eine Rücknahme gegen Leistungen zu garantieren vermochten. Ganz zentral wurde diese Bedingung bei der Entwicklung des reinen Notengeldes, dessen Träger (Papier) nun gar keinen Materialwert aufweisen konnte. Das Notengeld ist aus der Ausstellung von Lombard- und Pfandscheinen entstanden, die anfangs nur eine duale Verpflichtungsfunktion symbolisierten, die an namentlich genannte Gläubiger-Schuldner-Beziehungen geknüpft waren. Erst mit dem Aufkommen eines exorbitanten Bedarfs des Staates an Krediten zur Finanzierung des Militärs und der kolonialen Seefahrt konnte so etwas wie eine staatlich und rechtlich gedeckte Annahmegarantie von Notengeld entstehen, konnte schließlich Geld zu einem "gesetzlichen" Zahlungsmittel evoluieren, dessen Gebrauch dann nur noch durch nationale und seltener internationale Inflationierungen und Deflationierungen beeinträchtig wird. Für die Ausdifferenzierung eines eigenen, autonom operierenden Wirtschaftssystems ist die Emergenz von Geld - in allen seinen drei Funktionen: als Zahlungs-, Rechen- und Wertaufbewahrungseinheit - jedoch nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung (dazu eingehend Luhmann 1989, insb. 230-271). Es kommt zusätzlich darauf an, welche Güter und Leistungen dem geld-, zahlungs- und kreditvermittelten Transfer zugänglich sind und welche nicht. Der Anlaß für die vollständige Ausdifferenzierung der Wirtschaft ist historisch gesehen in der Monetarisierung des Grundbesitzes und der Arbeitskraft zu sehen (siehe hierzu auch Polanyi 1990). Beides zusammengenommen erst löst die Versorgungschancen und -beschränkungen aus der vorherrschenden Subsistenzwirtschafit in Familien, Großhaushalten und Dorfgemeinschaften heraus und schafft jene Mobilisierungen des Kapitals und der Arbeit, die die moderne Wirtschaft kennzeichnet und die nur noch wirtschaftsintern, kontrolliert an geldbezogenen Einnahme- und Kapitalrechnungen, zu Strukturen gerinnt und Erwartungen an die zukünftigen Chancen des Zugriffs auf Güter und Dienstleistungen (für Individuen, Familien, Organisationen und Staatshaushalte) stabilisiert. 12 (2.) Ähnlich wie Geld ist auch Schrift nicht in ihrer aktuell dominanten Funktion entstanden (hierzu und zum Folgenden siehe Luhmann 1997: 249-290). Schrift wurde ursprünglich für Zwecke des Aufzeichnens und Erinnerns und nicht für Mitteilungen an Leser entwickelt - denn wer hätte bei der Erfindung der Schrift sie schon lesen können? 13 Schrift diente in den ersten Jahrtausenden ihrer kulturellen Existenz vor allem der Verwaltung von Beständen wirtschaftlicher und rechtlicher Art, teilweise auch zur Erhaltung der Bestände an "höherem", weil heiligem Wissen 14 (vgl. für 12 13

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Die Anfänge dieser Entwicklung hatte Karl Marx bei seiner Theorie des Kapitals vor Augen. Eine ähnliche Differenz von Erfindungsintention und sozialer Funktion ist beim Computer festzustellen. Erfunden wurde er für Zwecke des Rechnens. Seine soziale Funktion liegt heute aber vor allem in der Verarbeitung von Aufzeichnungen. Im jüdisch-christlichen Bereich zum Beispiel zur Pflege der Schöpfungsgeschichte.

110 Theorien der Gesellschaft eine weitläufige Forschung nur Goody 1990). Erst allmählich entwickelten sich im Medium der Schrift Formen des Wissens, die speziell für Leser gedacht waren und ihrer Belehrung dienen konnten. Neues Wissen und Lernen traten an die Stelle von Bewahrung und Schutz des bestehenden Wissens. Die Entwicklung der phonetischen Schriften und dann die griechische Erfindung der Philosophie gelten als die entsprechenden Transformationen innerhalb des europäisch-okzidentalen Kulturkreises. Wie folgenreich die schriftliche Überlieferung sein kann, erkennt man allein schon an den semantischen Überhängen aus dieser Frühphase der Wissenskultivierung, am Fortbestehen der Polis-Theorie zum Beispiel (heute unter dem Namen der "civil society" wieder aktuell) oder an der Renaissance von Ethik - und das, obwohl wir unter völlig anderen Bedingungen leben müssen als jene Autoren, die diese Begriffe und Theorien in die Welt gesetzt hatten. Sozialstrukturell weitreichende Wirkungen jenseits der Verwaltung, der Religion und der Adelserziehung kamen der Schrift aber erst mit der Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks (15. Jahrhundert) und später mit dem Aufkommen der Massenpresse zu (Luhmann 1997: 291-302). Entscheidend ist dabei nicht in erster Linie die Sorge um die Qualität des fixierten und verbreiteten Wissens, also nicht die Frage nach der Nähe des Schreibers zu autoritätsstiftenden Quellen.15 Die sozialstrukturell katastrophale Wirkung liegt vielmehr in der Anonymisierung und Unkontrollierbarkeit der Leser, also darin, daß man seither nicht mehr wissen kann, wer was gelesen, wer was nicht gelesen hat, und wer sich wie auf das Gelesene und das Ungelesene einstellt. Etwas verkürzt gesagt ist hier der Grund für das Auftreten einer Beobachtungsform zu sehen, die heute mit dem Begriff der Meinung bezeichnet wird. Das sozialstrukturelle Problem liegt dabei darin, wessen Meinung denn gelten soll, wenn in wichtigen Fragen Entscheidungen zu treffen sind. Die Figur der "öffentlichen Meinung" und der Souveränität, die an sie gebunden sein soll, ist eine Antwort auf diese Problematik (vgl. dazu auch Habermas 1991). Die Entwicklung problemspezifischer Codierungen, symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien und die darauf aufbauende Ausdifferenzierung von Funktionssystemen sind andere und sozialstrukturell tieferliegende Antworten auf die durch Schrift, Wissens- und Informationsverbreitung geschaffene Ausgangslage. Die gewählten Beispiele (Geld und Schrift) müssen hier ausreichen, um zu zeigen, was unter soziokultureller Evolution zu verstehen ist, und daß "Modernität" weder in einem Zuge (durch die Französische Revolution beispielsweise) noch aufgrund eines einzigen Merkmals (Aufklärungsvernunft etwa) evoluieren konnte. Eine ausführliche Darstellung und Erklärung dieser Evolution ist ohnehin bis heute gar nicht geleistet. Auch Luhmann hat nur theoretische Vorlagen und Hinweise gegeben, wie sie erforscht werden könnte. Sein Augenmerk und Interesse aber galt vornehmlich dem Resultat der Evolution und dem Problem seiner Beschreibung und Analyse. Wir folgen im weiteren dieser Einschränkung.

15

Als Reaktion auf dieses Problem wird die Figur des "Autors" erfunden (Luhmann 1997: 889). Seit dem 15. Jahrhundert, also seit dem Buchdruck, brauchen Texte einen namentlich genannten Verfasser, und heiße er zumindest "Anonymus".

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3.2 Die Form funktionaler Differenzierung Für eine angemessene Beschreibung der modernen Gesellschaft kommt es in erster Linie darauf an, eine Begrifflichkeit zu finden, die in der Lage ist, das Verschiedenartige zu vergleichen, ohne die Unterschiedlichkeiten auszulöschen. Das bedeutet nicht zuletzt einen Verzicht auf jede Art von Einheitsformel, die beanspruchte, alles von einem einzigen Gesichtspunkt erfassen und für alle Zukunft verbindlich festlegen zu können. Es bedeutet mithin zugleich den Verzicht auf die Aussicht einer normativmoralischen Integration der Gesamtgesellschaft, also Verzicht auf Utopie. Aus demselben Grund ist ein gewisser Abstraktionsgrad der beschreibungsleitenden Begriffe unerläßlich. So ist in den Rufen nach einer "notwendigen" Vereinfachung der systemtheoretischen Gesellschaftstheorie oft nicht unterscheidbar, ob diese "Not" in wissenschaftlichen Anschlußbedürfnissen, in akademischen Lehrzwängen oder aber in Vereinheitlichungsbedürfnissen moralisch-normativer Art begründet ist. Die Liste gesellschaftlicher Funktionen ist von Luhmann rekursiv erschlossen worden, ausgehend von aktuell beobachtbaren Differenzierungen. In ihr liegt mithin keine Garantie für Vollständigkeit, wohl aber für - durch Analysen gezeigte - Exklusivität der Funktionen untereinander. Es ist nicht auszuschließen, daß weitere Funktionen zu erschließen wären oder sich sogar neuartige herausbilden können (Fuchs/ Schneider 1995). Kritische, auch theorieintern diskutierte Fälle wären etwa die Systeme der Massenmedien und der sozialen Arbeit. Wir beschränken uns hier auf die besonders deutlichen und von Luhmann oft als Beispiele angeführten Fälle der Religion, der Kunst, des Rechts, der Politik, der Wissenschaft, der Erziehung, der Wirtschaft, der Familie und des Gesundheitssystems. Die Beliebigkeit der Reihenfolge ist absichtlich gewählt, um die übliche Sichtverengung auf die Fälle der Wirtschaft und der Politik schon durch die Darstellung zu konterkarieren. Die Religion hat das Problem zu betreuen, daß letztlich jeder Sinn, und sei er noch so vertraut, in seinen unabschließbaren Verweisungen ins Unvertraute und damit auch ins letztlich Unbestimmbare übergeht. In diesem Funktionssystem geht es mithin um die Bestimmung des Unbestimmbaren, um das Verstehen und die Akzeptanz von Selektivität schlechthin (Luhmann 1977). Die Kunst, und mit ihr jedes einzelne Kunstwerk, hat zu zeigen, daß auch im Bereich der bloßen Möglichkeiten, des Imaginären und des Fiktiven Ordnung unvermeidlich ist, wenn überhaupt nur irgendeine Beobachtung (sich) einsetzt (Luhmann 1995a: 238-241). Das Recht stabilisiert Erwartungen im Blick auf den Fall, daß ihnen zuwidergehandelt wird, und ermöglicht so auch die Bildung sozial riskanter Erwartungen (Luhmann 1981: 73-91; 1995b: 124143). Die Politik hat Entscheidungen eine Bindungswirkung auch für jene zu geben, die an ihrem Zustandekommen nicht beteiligt waren, ihnen nicht zugestimmt haben oder eine einmal gegebene Zustimmung auch widerrufen könnten. Die Funktion der Politik liegt in diesem Sinne in der Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen (Luhmann 1995e: 103). Das Problem der Wissenschaft liegt darin, Aussagen, die neues Wissen behaupten 16 , die Werte "wahr" oder "unwahr" zuzuteilen und diese Zuteilung auch festzuhalten (andernfalls müßten jede Wahrheit und jede Unwahrheit jeden Tag erneut zur Prüfung anstehen) (Luhmann 1992d: 343 u.ö.). In der Erziehung geht es um die Korrektur selbstläufiger Sozialisationsprozesse der Individuen 16

Vor allem riskante, unwahrscheinliche und von daher besonders interessante Aussagen.

112 Theorien der Gesellschaft (Luhmann/ Schorr 1988: 53 u.ö.). Die Wirtschaft hat die Chance des Zugriffs auf Güter und Dienste auch für einen absehbaren, wenngleich nie abschließbaren Zeitraum der Zukunft zu sichern - und dies in jedem Moment und für jeden Moment stets aktueller Knappheiten (Luhmann 1989: 64). In der Familie steht die (kommunikative) Komplettberücksichtigung der einzelnen Personen zur Disposition (Luhmann 1990c: 208). Dem Gesundheitssystem obliegt die Diagnose und Behandlung von Krankheiten (Luhmann 1990a). Zu betonen ist, daß Problembezug in keinem Fall mit Problemlösung identifiziert werden darf. Es wäre ja absurd, anzunehmen, irgendeines der vorgestellten Probleme wäre auf gesamtgesellschaftlicher Ebene gelöst oder sogar nach allen denkbaren Kriterien "befriedigend" gelöst. Die moderne Gesellschaft ist keine Befriedungsgesellschaft. Problembezug heißt lediglich, daß alle auftretenden Unsicherheiten und Konfliktpotentiale sachlich spezifiziert werden müssen, um verstanden werden zu können, um Anlaß für Kommunikation geben und - im Erfolgsfalle - Effekte bewirken zu können, die von den Beteiligten als "befriedigend" bezeichnet werden. Wenn man denn eine Individualfünktion der funktionalen Differenzierung ausmachen wollte, so wäre sie mithin in der Transformation von Angst in Unsicherheit zu sehen, die dann ihrerseits neuartige Ängste vor einer Gesellschaft ermöglicht, die für unspezifizierte Ängste keine Adresse verfugbar hält (Luhmann 1989: 270f.; 1996b: 61-63). Es wäre der hier vorgestellten Theorie nach mithin völlig unrealistisch, von der Gesellschaft (statt von ihren Funktionssystemen) die Lösung jener Probleme zu erwarten, deren Kognition diese Gesellschaft selber überhaupt erst möglich macht, die ohne Gesellschaft mithin gar nicht wahrnehmbar wären. Unsicherheit kann es nur in der Zeit geben, also in der Unterscheidung von vorher und nachher und der Erzeugung eines Momentes, dessen Vorher das Nachher nicht mit Sicherheit vorgibt. Im Moment selbst geschieht nur, was geschieht. Er enthält nur Gegebenheiten und nichts Negatives, also auch keine Unsicherheit. Daraus folgt, daß die Funktionen gesellschaftlich gesehen nicht im Nacheinander abgearbeitet werden können, sondern gleichzeitig erfüllt werden müssen - oder eben gleichzeitig unerfüllt bleiben. Man kann nicht für alle Politik betreiben und derweil die Erziehung des Nachwuchses, die Produktion von Gütern usw. stoppen, bis die Politik ein Resultat erzeugt hat. Diese Gleichzeitigkeit bedingt wiederum, daß die funktionsbezogenen Operationen untereinander nicht interferieren dürfen, um erfolgreiche Handlungsepisoden überhaupt erst möglich zu machen. Die evolutionäre Errungenschaft - und man muß wiederholen: eine äußerst unwahrscheinliche, weil voraussetzungsreiche und deshalb stets instabile und unzuverlässige Formbildung - , die solch eine Funktionsspezialisierung von Operationen erst ermöglicht, kann mit Luhmann in der Codierung von Ereignissen und Handlungen gesehen werden (Luhmann 1987b). Jeder Code leistet eine Verdopplung von Ereignissen. Er ordnet jedem Ereignis in seinem Einzugsbereich zwei Werte und nur zwei Werte zu: einen positiven Wert und einen negativen Wert, einen Wert zur Bezeichnung von Erfolg und einen Wert zur Bezeichnung von Mißerfolg, die ihren Sinn jeweils aus der Negation des anderen Wertes erhalten. Was damit erreicht wird, ist keineswegs eine Erfolgsgarantie (ebenso wäre es, wegen der Zweiwertigkeit, eine Mißerfolgs- und Enttäuschungsgarantie). Gewonnen wird in der Orientierung des Handelns an binären Codierungen der Ausschluß aller möglichen dritten Werte. Erst dieser Ausschluß sichert die Interferenzunterbrechung zwischen

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den Funktionssystemen und die Autonomie in der Ausarbeitung je eigener Erfolgskriterien (oder Programme, wie es bei Luhmann (1987a) heißt). Nur so wird gesichert, daß eine missglückte Investition nicht zu politischer Instabilität fuhrt oder eine Wahrheit als Irrtum erscheinen läßt oder den Ausschluß der Unternehmerkinder aus dem Erziehungssystem bewirkt oder die Schönheit der Firmengebäude beeinträchtigt usw. Der Code stellt - um an die theoretischen Grundlagen anzuschließen - der Beobachtung zwei Seiten zur Bezeichnung zur Verfügung, von denen eine zu präferieren und eine zu vermeiden ist. Seine Unterscheidung sichert die Selbstreferenz des Funktionssystems und macht es in dem durch sie Unterschiedenen möglich, an eigene Resultate anzuknüpfen und auf kommende Resultate auszugehen, also Rekursion und ein eigenes Gedächtnis zu organisieren, anhand dessen sich Erfolge wie Mißerfolge diskriminieren und eine Zukunft, zwar nicht vorwegnehmen, aber zumindest programmieren läßt. Der Ausschluß aller dritten Werte durch den strikt zweiwertigen Code macht es zugleich möglich, daß alle Funktionen zugleich bedient werden können, indem jeder Code einen bestimmten Wert aus der Menge möglicher Werte aufgreift und ihn wiederum durch einen Negativwert vervollständigt, um Kriterien für die Beurteilung der eigenen Problemlösungsmuster zu gewinnen. Für die Religion leistet der Code von Immanenz und Transzendenz die Bestimmung der zugehörigen Kommunikationen.17 In der Kunst dirigiert der Code von passend und nichtpassend18 die Wahl und Ausfuhrung der Formen im Arrangement der Kunstwerke. Das Recht operiert mit der Differenz von Recht und Unrecht19, die Politik mit der Differenz von Macht-Haben / keine Macht-Haben (mit der Zweitcodierung Amthaben / Nichtamthaben und der rechtlichen Kontrolle der Amtsführung) (Luhmann 1988: 31-59), die Wissenschaft mit dem Code von wahr und unwahr (Luhmann 1992d: 174, 199-203 u.ö.). In der Erziehung sind sowohl pädagogische Handlungen als auch die Eigenbeiträge der Zöglinge nach karriereförderlich / karrierehinderlich zu unterscheiden und zu beurteilen. 0 Die Wirtschaft bestimmt sich anhand der Differenz von Haben und Nicht-Haben (mit der Zweitcodierung der Geldwirtschaft: Zahlung und Nichtzahlung) (Luhmann 1989: 46f., 188-200 u.ö.). In der Paarbeziehung (und mit ihr auch in der modernen Familie) entscheidet die Differenz von höchstpersönlicher und anonymer Relevanz, welche Ereignisse in ihr Eigenreich fallen und welche nicht (Luhmann 1994: 24f.). Im Gesundheitssystem geht es um die Leitdifferenz von krank und gesund (Luhmann 1990a).

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Luhmann 1993a: insb. 313-321. Hier wie in allen anderen Fällen ist in der Interpretation darauf zu achten, daß der Sinn des Systems nicht auf einer der beiden Seiten, sondern nur im gegenseitigen Verweis konstituiert wird. Religion ist weder im Jenseits noch im Diesseits zu finden, sondern nur im Bezug von Jenseitigem auf Diesseitiges und umgekehrt. Luhmann 1995a: 190. Die Bezeichnung des kunstspezifischen Codes ist auch innertheoretisch noch umstritten. Luhmann verkürzt den Code teilweise noch auf "schön / häßlich", was seinen Kritikern zu alteuropäisch und bürgerlich erscheint. Eine anerkannte Alternative ist bislang jedoch noch nicht gefunden (317). Luhmann 1995b: 165-187. Angesichts eines naheliegenden Tautologieverdachts ist darauf hinzuweisen, daß das Recht alle eigenen Operationen an diesem Code orientieren können muß: Auch das Unrecht muß rechtmäßig behandelt werden können, sonst wäre es nicht als Unrecht erkennbar. Luhmann 1987a: 190 u.ö. Vorausgesetzt ist hier ein weiter Karrierebegriff, der sich auf jede Form sozialer Positionierung bezieht und nicht nur die Stellenabfolge in einer Erwerbsorganisation meint (obwohl das natürlich auch).

114 Theorien der Gesellschaft Ein Code ist - für sich, das heißt in seiner Zweiseitigkeit genommen - noch keine Beobachtung. Vielmehr fungiert er als Leitunterscheidung, die Bezeichnungen erlaubt und Ereignisse, die bezeichnet werden, als systemzugehörig markiert. Niemand hat je "die Wahrheit an sich" gesehen, sondern immer nur Aussagen, die entweder wahr oder unwahr sind.21 Die Einheit des Codes ist nur in dem "oder" zu beobachten. Der Einsatz der Leitunterscheidung realisiert die Selbstreferenz des Systems, das sich mittels des jeweiligen Codes identifiziert, denn für die Einheit des Codes (für das "oder") gibt es keine "Entsprechung" in der Umwelt. In der "Welt an sich" gibt es kein rechtmäßiges oder unrechtmäßiges Verhalten, das unabhängig vom Recht als solches erkannt und behandelt werden könnte. Auch Knappheit an Gütern ist keineswegs ein "naturgegebener" Sachverhalt. Allein die Beobachtung, daß der Zugriff des Einen den Zugriff eines (und aller) Anderen ausschließt, erzeugt Knappheit als einen sozial gegebenen Sachverhalt, von dem eine "Natur an sich" gar nichts wissen könnte. Entsprechendes gilt für alle anderen Funktionscodes, einschließlich des Codes wahr / unwahr. "Jenseits" seines Einzugsbereiches, also jenseits der Wissenschaft, gibt es keine Wahrheit, also auch keine Unwahrheit. Die "Welt an sich" ist weder wahr noch unwahr. Die Feststellung der Selbstreferenz aller Funktionscodes besagt aber nicht, daß sie unabhängig von allen Ereignissen in der Umwelt eingesetzt werden könnten. Ihr Gebrauch ist alles andere als beliebig. (Das kann probieren, wer Beliebiges als "wahr" zu behaupten versucht.) Auch die Beobachtungen, die sich durch Codes leiten lassen, sind nur Beobachtungen, indem sie Selbst- und Fremdreferenz in jeder ihrer Operationen koppeln. Als Produkte dieser fortlaufenden Kopplungen entstehen und erscheinen dann die Fälle: die Fälle des Rechts, die Fälle der Wirtschaft (Kaufs- und Verkaufsentscheide), die Fälle der Wissenschaft, die Fälle der Kunst (Kunstwerke) usw. Die Fälle sichern die Rekursivität, den Zusammenhang der codegeleiteten Beobachtungen ab. Denn nur im Vergleich mit anderen Fällen (mit vergangenen und zu erwartenden künftigen Fällen) kann entschieden werden, welcher der beiden Codewerte im jeweils aktuellen Fall angemessen zuzuordnen ist. Und diese grundlegende Vergleichsnotwendigkeit22 nimmt dem Einsatz der Codes und ihrer Seiten jedes Moment der Beliebigkeit (=der Unbeobachtbarkeit). In dieser fallübergreifenden Grundstruktur sind codegeleitete Beobachtungen immer Beobachtungen zweiter Ordnung, die auf Beobachtungen erster Ordnung zugreifen, sie überformen und alles, was ist oder getan wird, in Kontingenz23 versetzen, das heißt: in den Vergleich mit anderen Möglichkeiten einstellen (vgl. Luhmann 1992a: 119-128). "Beobachtungen der Moderne" - das sind in erster Linie die Beobachtungen im Rahmen der funktionsbezogenen Codes. In der altgewordenen Moderne ist diese Art der Beobachtung völlig normalisiert, ist ihre Beherrschung zur Bedingung 21

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Respektive im Normalfall der wissenschaftlichen Hypothese: Aussagen, deren Wahrheit oder Unwahrheit festgestellt werden könnte. Selbst die Einmaligkeit eines Falles kann ja nur durch Vergleich, und zwar durch Vergleich mit allen anderen Fällen behauptet werden. Der Begriff "Kontingenz" wird von Luhmann modaltheoretisch gebraucht. Er bezeichnet eine zweifache Ausschließung: den Ausschluß von Notwendigkeit und Unmöglichkeit, also auch den "Grund" von Freiheit und Entscheidungszwang: "Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist." (1984: 152).

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der Teilnahme an gesellschaftlich folgenreicher Kommunikation geworden. Probleme bekommt nur, wer auch noch jene Einheit zu beobachten versucht, in der gleichzeitig all die unterschiedenen Unterscheidungen realisiert werden, wer noch den Zusammenhang des Getrennten zu bestimmen und zu beschreiben versucht. Jeder Code erzeugt schon für sich eine komplette Realität (die Realität aller vergangenen, aktuellen und künftigen Fälle und ihrer Randbedingungen), in der sich sein fortlaufender Gebrauch zu bewähren hat und Erfolge wie Mißerfolge zu verzeichnen sind. 24 Wer nicht gewillt ist, angesichts dieser Schwierigkeiten einfach eine "Mehrheit von Welten" anzunehmen und jene Realität im Dunkeln zu lassen, in der solch eine Annahme möglich ist, sieht sich vor die Notwendigkeit gestellt, selber eine Unterscheidung zu treffen, in der die Einheit des Getrennten bezeichnet werden kann. Daß es dabei keine logisch zwingenden und sozial verbindlichen, sondern nur sachlich wie sozial kontingente Lösungen geben kann, sollte nach allem Gesagten selbstverständlich sein. Besonders problematisch ist die Anerkennung dieses Sachverhalts aber dann, wenn man eine wahre Beschreibung der gesellschaftlichen Vielheit anzufertigen versucht, sich also für eine der gesellschaftlich ausgearbeiteten Unterscheidungen entscheidet und für seine Beschreibungen wissenschaftlichen Anspruch erhebt. In der Wissenschaft muß es ihrem eigenen Code gemäß sowohl logisch als auch zustimmungsfahig zugehen. Logische Widersprüchlichkeiten und soziale Kontingenz (Dissens) ihrer Resultate sind für die Wissenschaft kaum akzeptabel, denn die Einheit ihres eigenen Codes verlangt, daß es nur eine Wahrheit geben darf, die für alle (faktischen und denkbaren) Beobachter gilt. Eine Unterscheidung, die diesen Einheitszwang zu umgehen versucht, ihm aber letztlich auch nicht oder nur durch paradoxe Manöver entkommen kann, ist die Unterscheidung von Polykontexturalität und Monokontexturalität (Luhmann 1997: 1132). Sie stammt von Gotthard Günther, der eine Logik für eine Mehrheit von Subjekten entworfen hat, die sich verständigen müssen, ohne von einer gemeinsamen Welt oder Realität schon ausgehen zu können. 25 Günther hatte festgestellt, daß die klassische Logik für dieses Problem nicht ausreicht, da sie nur zwei Werte kennt: die Werte "wahr" und "falsch", und nur einen dieser Werte, den Wert "wahr" zur Bezeichnung von Weltsachverhalten verfugbar macht. Denn der Wert "falsch" dient der Markierung von Fehlern, die nicht der Welt, sondern nur einem der sie beobachtenden Subjekte zugeordnet werden können. Günther nennt ein Schema, das wie die klassische Logik nur einen Wert für die Bezeichnung von Weltsachverhalten verfugbar macht, eine Kontextur. Zur Lösung seines Problems, für die Frage, wie Subjekte zu einer gemeinsamen Weltkonstruktion kommen, mußte Günther klären, wie eine Kontextur überhaupt erzeugt und gegebenenfalls auch abgelehnt werden kann. Für beide Möglichkeiten - für die Annahme einer Kontextur wie für ihre Ablehnung - muß es Werte geben, die nicht schon die Kontextur voraussetzen, ihr selbst also auch nicht entnommen werden können. 26 Wenn man nun wie Günther 24

25

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In klassischer Terminologie kann man diese Realität auch als Praxis bezeichnen. Die Theorie hat dann das Problem, mit den verschiedenen Praxen - der rechtlichen, der medizinischen, der wissenschaftlichen, der wirtschaftlichen, der politischen usw. - zurechtzukommen. Denn das besagt j a schon der ursprüngliche, strenge Begriff des Subjekts: daß es nur sich selbst zugrundelegen kann und alles andere von diesem Grund, seiner einzig gewissen Realität her erschließen muß. Vgl. zum Folgenden Günther 1976-1980, hier zitiert nach Luhmann 1992d: 88 und Fuchs 1992: 46-54. Für den Fall der klassischen Logik heißt das: Sie selbst kann in ihrem Rahmen zwischen "wahr" und

116 Theorien der Gesellschaft die Freiheit zur Wahl einer bestimmten Kontextur nicht ausschließen will, muß man eine Mehrheit möglicher Kontexturen annehmen. Diese Annahme, die sich logisch nicht beweisen (aber auch nicht widerlegen) läßt, wird im Begriff der Polykontexturalität festgehalten, als dessen andere Seite nur der Begriff der Monokontexturalität stehen kann. Die logischen Implikationen dieser Konstruktion brauchen hier nicht weiter ausgelotet werden. Im zuvor behandelten Kontext der Funktionscodes interessiert nur eine Möglichkeit der Verallgemeinerung. Wenn man den Bereich der Logik mit ihrer spezifischen Unterscheidung von wahr und falsch übergreift und jede Unterscheidung, die einen Positivwert genau einem Negativwert gegenüberstellt und auf ihrer basalen Ebene jeden dritten Wert ausschließt, als monokontextural bezeichnet, dann läßt sich sagen, daß jeder der vorgestellten Funktionscodes eine eigene Kontextur erzeugt (Luhmann 1992d: 666). Da die moderne Gesellschaft aber alle Codes gleichzeitig verwendet, ist sie selbst und mit ihr die Welt, die sie erschließt, polykontextural verfaßt (Luhmann 1992d: 627-629; Fuchs 1992: 81). Mit Hilfe dieser Kennzeichnung läßt sich zum einen fragen, ob es neben den Funktionscodes vielleicht noch weitere Unterscheidungen geben kann, die die Eigenheit einer Kontextur erfüllen, zum Beispiel den Code der Moral, der zwischen Achtung und Mißachtung von Personen unterscheidet und wenn er sich universal versteht - auf dieser Ebene keinen dritten Wert zuläßt (vgl. Luhmann 1993c). Zum anderen wäre davon auszugehen, daß jeder Versuch einer logisch einwandfreien (also einer monokontexturalen) Einheitsbeschreibung der modernen Gesellschaft ihren Gegenstand verfehlt (Fuchs 1992: 7-13 u.ö.).27

3.3 Eine gesellschaftliche Aufgabe der Soziologie Ein durchgängiges Problem der funktional differenzierten Gesellschaft, das nun nicht seinerseits als eigene Funktion ausdifferenziert werden kann, liegt demnach darin, ihre eigene Einheit zu erfassen und zu beschreiben. Schon die einzelnen Funktionssysteme tendieren zur Totalisierung ihrer Bezugsprobleme (Fuchs 1992: 77 u.ö.); man kann auch sagen: zur Rekonstruktion der ganzen (Sozial-)Welt nach Maßgabe ihrer eigenen Codierungen. Geld regiert die Welt, meint die Wirtschaft. Letztlich zählt nur die Macht, sagt die Politik. Künstler und Kunstliebhaber sind davon überzeugt, daß Ausdruckshandeln Grund und Telos des Daseins in einem ist. Und auch die Wissenschaft hatte lange Zeit - sei es als Philosophie oder als Aufklärung - die Spitzenposition der Weltbeobachtung und die Autorität zu einem Gesamtbericht für sich allein beansprucht, darin die Religion beerbend. Daneben richten sich Kritik-, Protest- und Fundamentalbewegungen am "Fehlen" von gesellschaftlicher Einheit auf und entwer-

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"falsch" entscheiden, aber sie kann nicht angeben, wann es falsch wäre, die Unterscheidung von wahr und falsch anzuwenden. Sie kann sich umgekehrt also auch nicht über die "Wahrheit" respektive "Richtigkeit" ihres eigenen Gebrauchs vergewissern. Die klassische Logik ist - mit Gödel gesprochen - logisch unvollständig. Mit Paradoxien ist aber auch dann zu rechnen, wenn mittels der Unterscheidung von Polykontexturalität und Monokontexturalität Beschreibungen mit Wahrheitsanspruch angefertigt werden, wenn also eine der sozialen Kontexturen der Beschreibung zugrundegelegt werden soll. Dann kommt es zu Selbstbezugsproblemen bis hin zu Selbstwidersprüchen.

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fen exklusive Gesellschaftsbeschreibungen von sehr dramatischer und konfliktträchtiger Form. Wenn man in dieser Lage unbedingt eine gesellschaftliche Aufgabe (und nicht nur die Relevanz bestimmter Forschungsprogramme) der Soziologie reklamieren wollte, dann könnte es nur die Aufgabe sein, den Sachverhalt solcher Spezialuniversalisierungen als ein Produkt funktionaler Differenzierung genauer zu erfassen und deren Folgen innerhalb der Gesellschaft zur Darstellung zu bringen, was theorienotwendigerweise wiederum nur als Reduktion, als eine Beobachtung und Beschreibung neben anderen gelingen kann (Luhmann 1992b und 1992c). Die Hauptprobleme, aber auch die wichtigsten Erträge werden darin liegen, die Selbstbeobachtungsformen der Gesellschaft von Einheits- auf Unterscheidungsvorstellungen, von Identität auf Differenz umzustellen, also alle vorliegenden Totalisierungen zu entschärfen: jene der Funktionssysteme, aber auch die Totalisierung durch eine universale Moral (dazu ausfuhrlich Fuchs 1992). Dabei wäre zur Anerkennung zu bringen, daß Exklusion ein unvermeidbarer Effekt aller Beobachtungen, Beschreibungen und Bewertungen ist und nicht ein Sachverhalt, der ohne Rücksicht auf die Beobachtungskontexte zu unbedingtem Engagement zwingen kann. Schon die Wahl einer Bezeichnung schließt das Unbezeichnete (zumindest vorläufig) aus der weiteren Behandlung aus. Erst recht zwingt der Einsatz einer Unterscheidung und einer auf sie gegründeten Beschreibung und Beurteilung jeden anderen möglichen Anfang in den "unmarked State", in die unbeobachtbare Welt. Es müßten daher Formen gefunden werden, die dem Ausgeschlossenen auch der Gesellschaftsbeschreibung den Wiedereinschluß ins Netz der Beobachtungen ermöglichen. Die Soziologie müßte auch für sich selbst auf den endgültigen Gesellschaftsbericht verzichten und - bei aller Gründung auf sozialen Tatsachen - den Formen des Nachtrags und der Revision größeres Gewicht beimessen. Luhmann hat in seinem 30jährigen Projekt einer Gesellschaftstheorie, die solch einer Aufgabe gerecht werden sollte, die Unterscheidung von System und Umwelt vorgeschlagen und ausprobiert, welche Einsichten sich mit ihr gewinnen und darstellen lassen. Das Resultat dieses Experiments konnte er kurz vor seinem Tod mit dem Buch "Die Gesellschaft der Gesellschaft" vorlegen. Alle oben referierten Merkmale der funktionalen Differenzierung und der soziokulturellen Evolution sind diesem Werk und seinen zahlreichen "Vorstudien" und "Ergänzungen" entnommen. Die SystemUmwelt-Unterscheidung hat den Vorzug, daß sie von vornherein auf das Phänomen der Ausgrenzung aufmerksam macht und daran erinnert, daß das Ausgegrenzte nicht weniger wichtig sein kann als das Eingegrenzte. Kein System kann sich dadurch wichtig nehmen, daß es seine Umwelt für unwichtig hält. Es verlöre seine Differenz und mit ihr die eigene Identität. So auch das System der Gesellschaft. Selbst wenn man akzeptiert, daß Gesellschaft nur durch Kommunikation ihr Inneres und ihre Eigenheit realisieren kann, heißt das noch lange nicht, daß sie ihr Äußeres - das Bewußtsein, die Menschen und ihre Lebensbedingungen - überhaupt gleichgültig nehmen könnte. Will man aber Verbesserungen, das heißt Umwertungen in dieser Problematik erreichen, kommt alles darauf an, diese Differenzen zu beachten und nicht qua Definition wegzuwünschen. Nur so kann unter anderem auch der Mensch und sein Verhältnis zur Gesellschaft wirklich ernst genommen werden (siehe dazu die Beiträge in Luhmann 1995f und Fuchs/ Göbel 1994). Denn nur auf dieser Grundlage kann man überhaupt

118 Theorien der Gesellschaft danach fragen, wie das Äußere der Gesellschaft in ihrem Inneren zur Darstellung kommen und nachhaltige Beachtung erlangen kann. Die System-Umwelt-Unterscheidung ist aber keineswegs die einzige und ausschließliche, der man eine angemessene Problem- und Komplexitätskapazität zutrauen kann. Luhmann selbst hat schon auf andere Unterscheidungen wie Medium und Form, Operation und Beobachtung, Variation und Selektion, Mikrodiversität und Selbstorganisation und andere mehr hingewiesen und der System-Umwelt-Differenz für seine Zwecke "lediglich" ein theoriearchitektonisch organisierendes Primat zugesprochen (siehe bspw. Luhmann 1992d: 361). Die Gesellschaftstheorie kann auch mit Luhmann - ganz seinem Autopoiesis-Theorem entsprechend - nicht an ihr Ende gelangen. Gesellschaftstheorie und -beschreibung wird erst mit ihrem Gegenstand, erst mit der Gesellschaft an ein endgültiges Ende gelangen.

4. Disziplinäre und interdisziplinäre Referenzen der Theorie sozialer Systeme Gemessen am Gegenstand der Theorie Niklas Luhmanns und am Anspruch ihrer Reichweite kann man innerhalb des Faches Soziologie allenfalls zwei Vorläufer ausmachen:28 Karl Marx und Talcott Parsons. Beide Autoren zielten auf die Gesellschaft als ganze und nicht auf irgendein soziales Sonderphänomen. Marx hatte wie Luhmann die Historizität der modernen Gesellschaft vor Augen und suchte nach dem zeitlichen Bruch, ohne den Modernität weder hätte entstehen können noch erklärbar wäre. Gleichwohl findet man in Luhmanns Werk kaum Referenzen auf diesen Vorläufer - ebensowenig wie auf alle anderen Klassiker des Faches. Luhmann suchte seine theoretischen Anknüpfungspunkte - anders etwa als Talcott Parsons oder auch Jürgen Habermas - nicht in der Interpretation und Re-Analyse klassischer Vorlagen, sondern im gesamten Feld wissenschaftlicher Unternehmungen, die auf universale Theoriebildung abzielten und abzielen. So findet man erkennbar folgenreiche Auseinandersetzungen mit Edmund Husserls Phänomenologie, mit der allgemeinen Systemtheorie und der Kybernetik (W. Ross Ashby, Norbert Wiener, Heinz von Foerster, Ranulph Glanville), der Informationstheorie (Claude Shannon, Gregory Bateson), der mehrwertigen Logik (Gotthard Günther), der biologischen Kognitionstheorie (Humberto Maturana, Francisco Varela), mit dem mathematischen Kalkül der Bezeichnungen von George Spencer-Brown, mit der Psychologie der Wahrnehmungsmedien (Fritz Heider). Diese Breite und Tiefe des theoretischen Einzugsgebietes dürfte ein Hauptgrund für die Rezeptionsschwierigkeiten und die Ausgrenzungen innerhalb der Soziologie darstellen. Auch die Beziehungen zum Werk und zur Theorie von Talcott Parsons sollten nicht überschätzt werden, selbst wenn Luhmann bei ihm Möglichkeiten soziologischer Theoriebildung kennengelernt und einige seiner Begriffe (z. B. Interpenetration und symbolisch generalisierte Medien) - allerdings mit weitreichenden Anpassungen - aufgenommen hat. Völlig irreführend wäre es, Luhmanns Systemtheorie als die "Nachfolge" der Parsonsschen Systemtheorie einzuordnen, wozu die Namensgleichheit verführen könnte. Zu stark divergieren die zentralen Konzepte und 28

Wenn man gewillt ist, den ersten als Vertreter des Faches vor dessen akademischen Institutionalisierung zu akzeptieren.

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die Architekturen beider Entwürfe. Vor allem den "rein analytischen" Status des Handlungsbegriffes von Parsons konnte Luhmann nicht akzeptieren. So hatte Luhmann in der Phase der Ausarbeitung seiner Gesellschaftstheorie fachintern nur einen einzigen Gesprächspartner, der im Rahmen eigener Theorieanstrengungen die geforderten Universalitätsansprüche erkannte und zu diskutieren bereit war: Jürgen Habermas und seine Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas/ Luhmann 1971). Hauptstreitpunkte der beiden waren der normative Gehalt, der der Theorie der Kommunikation zugrundegelegt werden kann, und der Anspruch an Kritik, die eine auf Kommunikation eingestellte Gesellschaftstheorie daraufhin zu erfüllen hätte. Die direkte Diskussion ist - nicht zuletzt wegen Habermas' Rückzug auf (rechts-)philosophische Themen und Begründungswege - verebbt und in den Texten beider Autoren, wenn überhaupt, nur noch in Form von Kurzpolemiken präsent. Die Differenzen stimulieren jedoch in der Nachfolge beider Autoren weiterhin die intensivsten theoretischen Auseinandersetzungen um eine soziologische Gesellschaftstheorie (siehe Giegel 1991; Kneer 1996 und Füllsack 1998). Auf der anderen Seite ist eine für die Soziologie außergewöhnlich große interdisziplinäre Resonanz auf die Beiträge Luhmanns zu verzeichnen, insbesondere auf jene Arbeiten, die sich mit den Reflexionstheorien einzelner Funktionsbereiche beschäftigen. Vor allem in der Rechtstheorie, in der Pädagogik und in der Literaturwissenschaft, dann auch in der Familientherapie (und von dort aus in der Organisationsberatung) sind entsprechende Auseinandersetzungen zu finden. Vereinzelte Bezüge sind darüber hinaus in der Wirtschafts- und in der Politikwissenschaft festzustellen. Das "Paradigma" Niklas Luhmanns - wenn es unbedingt "ein" Paradigma sein soll - wird derzeit nur von wenigen Autoren aus- und umgearbeitet, die in seiner Bielefelder Lehrzeit bei ihm lernen und einen Kreis von informierten Diskutanden bilden konnten.29 Rudolf Stichweh, der Nachfolger auf Luhmanns Bielefelder Lehrstuhl, arbeitet vor allem im wissens- und wissenschaftssoziologischen Bereich und an einer Präzisierung und Vertiefung einer Soziologie der Weltgesellschaft. Dirk Baecker greift in erster Linie die Theorien der Beobachtung zweiter Ordnung und der Formbildung auf und probiert aus, welche Anschlüsse sich damit auch außerhalb der Soziologie gewinnen lassen (in der Ökonomie, in der Kunst, in der Philosophie, in der Managementpraxis u.a.m.). Peter Fuchs arbeitet den kommunikationstheoretischen Zweig auf und aus, dabei nicht selten auch manch gewohnte Konzepte Luhmanns in Frage stellend und provozierend. André Kieserling beschäftigt sich mit Interaktionssoziologie und professions- sowie organisationssoziologischen Fragestellungen. Ein starker Bezug zu Luhmanns Theorie ist auch im Bielefelder Forschungsschwerpunkt "Risikosoziologie" unter der Federführung von Klaus P. Japp und Jost Halfmann zu finden. Die internationale Rezeption Luhmanns leidet - neben den genannten disziplinaren Hindernissen - vor allem an fehlenden Übersetzungen seiner Haupt- und Nebenwerke.30 "Soziale Systeme" wurde erst 1995 auf Englisch publiziert, für die Übersetzung von "Die Gesellschaft der Gesellschaft" werden Sponsoren gesucht. Vereinzelt geben internationale Zeitschriften Schwerpunkthefte heraus, die sich mit Luhmanns 29

30

Um die Begründung einer regelrechten "Schule" hat sich Luhmann selbst nie bemüht. "... ich selber würde ja von Schülern gar nichts lernen können", so seine Begründung (Luhmann 1992e: 103). "Inseln" der Rezeption finden sich - aufgrund von institutionellen Beziehungen und ähnlichen "Zufällen" - in Italien und in Japan.

120 Theorien der Gesellschaft Werk und einzelnen Aspekten beschäftigen (so Salvaggio/ Barbesino 1996a und 1996b). Via Internet und World Wide Web suchen derzeit einige US-amerikanische Soziologen nach neuen Wegen, die disziplinaren und sprachlichen Rezeptionsbarrieren zu umgehen.31 Für Anschlüsse an die französischsprachige Soziologie fehlt bislang noch jede textliche und institutionelle Grundlage. Somit dürften Rezeption, Diskussion und Revision der Luhmannschen System- und Gesellschaftstheorie noch für einige Zeit hauptsächlich auf den deutschsprachigen Raum beschränkt bleiben (siehe hier vor allem die Zeitschrift "Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie").

5. Arbeitsaufgaben !. Beobachten ist ein durch und durch alltäglicher Vorgang. Ohne ihn käme man weder vor Spiegel und Kleiderschrank noch beim Autofahren zurecht. In zeitentlasteten Momenten kann man auch zuschauen, was die Leute so treiben oder - durch Bücher und das "innere Auge" - längst versunkene Welten auferstehen lassen. Was ist zu gewinnen, aber was geht auch verloren, wenn etwas so Einfaches und Selbstverständliches wie das Beobachten durch die komplex verschachtelte Dreiheit von Unterscheidung, Selbstreferenz und Rekursion beschrieben wird? Stellen Sie diese Begriffe und ihre Bezüge dar, und vergleichen Sie sie auch mit den Alltagskategorien der Perspektive, des Standpunktes und der individuellen Meinung. 2. Die Ausdrücke Evolution, Geschichte und Fortschritt werden in der Regel nicht sehr deutlich, sondern nur in Nuancen voneinander unterschieden. Bei Evolution stehen normalerweise Vorstellungen der "Anpassung" an eine natürliche Umwelt im Vordergrund. Geschichte stellt eine Vergangenheit dar, die die Gegenwart nicht mehr binden kann und in eine offene Zukunft entläßt. Die Semantiken des Fortschritts und der Fortschrittskritik begleiten das Geschichtsbewußtsein in der Form von bilanzierenden Wertungen, Welches Problem tritt hingegen in dem vorgestellten Konzept der soziokulturellen Evolution an die Stelle der Anpassung an Natur und an die Frage des Überlebens? Wie ist der Zusammenhang von evolutionären Errungenschaften und funktionaler Differenzierung der Gesellschaft zu denken, wenn nicht als Geschichte und Fortschritt? 3. In der Lehre werden Allgemeine und Spezielle Soziologien getrennt unterrichtet. Daneben hat sich auch die Unterscheidung von Mikro- und Makrosoziologie eingebürgert, ohne daß das Verhältnis beider Unterscheidungen zueinander hätte geklärt werden können. Das liegt nicht zuletzt daran, daß jede dieser Unterscheidungen fachuniversal angesetzt ist. Denn was könnte es noch neben der Einheit von allgemein und speziell oder von Mikro und Makro geben? Vor allem kann in diesen Unterscheidungen kein Platz für eine Gesellschaftstheorie vorgesehen werden, denn Gesellschaft kann kaum ausschließlich im Allgemeinen und nur auf der Seite der Makrophänomene placiert werden. Sollte man daher - wie schon anfangs des Jahrhunderts vorgeschlagen - in der Soziologie nicht besser gleich auf einen Gesellschaftsbegriff und auf Gesellschaftstheorie verzichten (so Ferdinand fönnies)? Diskutieren Sie in diesem Zusam31

Eine "Startseite" findet sich unter http://home.earthlink.net/~mterp/luh-main.html.

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menhang den Vorschlag Luhmanns, Gesellschaft als das Insgesamt aller füreinander erreichbaren Kommunikationen aufzufassen, also mit der Unterscheidung von Kommunikation und kommunikativer Erreichbarkeit zu beginnen (denken Sie bei "Erreichbarkeit" vor allem Ein den Begriff der Rekursion). Die Gesellschaft als das umfassende Kommunikationssystem, für das es kein soziales Außen geben könne, wäre dann nur ein möglicher Gegenstand der Soziologie neben vielen anderen (Luhmann 1984: 18; 1997: 78-80). Wie ist diese Vorstellung zu begründen, und weiche Effekte hätte ihre Verbreitung für die etablierten Unterscheidungen von Allgemein und Speziell und von Mikro und Makro? 4 GoselLschaftsbegrifie und Gescilschaftsbescbreibungen sind en vogue. "In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?" fragen sich nicht nur soziologische Zeitdiagnostiker, sondern auch die Kultursparten in Presse, Funk und Fernsehen. Die Titel der "Industrie-" oder "kapitalistischen Gesellschaft" haben sich verbraucht und sind einem Sammelsurium von völlig unspezifischen ("post", "neo, "nach") oder aspekthaften Präfixen gewichen. Man kann sich aussuchen, ob man in der postmodernen Gesellschaft, der nachindustriellen Gesellschaft, der Risikogesellschaft, der Multioptionsgesellschaft, der Wissensgesellschaft, der Erlebnisgesellschaft, der Freizeitgesellschaft, der Mittwochsgesellschaft, der Beratungsgesellschaft oder einer von vielen weiteren X-Gesellschaften lebt. Sollte sich die Soziologie als Fach (nicht: als intellektuelle Heimat einzelner Autoren) aus dieser Beschreibungsproduktion für die Märkte der kulturellen Intelligenz heraushalten? Könnte sie es überhaupt? Wenn aber jede Beschreibung - ob eine soziologische oder eine andere - nichts anderes als eine Kommunikation sein kann, chafi als jene Einheit aufgefaßt, wird, die jede Kommunikation einschließt: Mit welchen typischen Schwierigkeiten hat dann jeder nt rechnen, die Gesellschaft als Einheit zu beschreiben? (Literaturempfehlung: Fuchs 1992, auch Luhmann 1997: 866-893.) 5. Wissenschaft ist ein Funktionssystem der Gesellschaft und erkennt sich selbst wie jedes andere Funktionssystem nur an einem eigenen Code: anhand der Unterscheidung von wahren und unwahren Aussagen. Wie kann die Soziologie - als ein Subsystem dieses Funktionssystem - mit konkurrierenden Aussagen über ihre Gegenstände (die Gesellschaft oder andere Sozidisvsteme wie Familien. Organisationen, die Wirtschaft usw.) fertig werden, die sich nicht der Unterscheidung von wahr und unwahr unterstellen? Vergleichen Sie in bezug auf dieses Problem die Idee der Aufklärung mit dem Programm, Beobachter zu beobachten und Unterscheidungen zu unterscheiden. (Literaturempfehlung: Luhmann 1996a und 1996c; daneben auch das Kapitel zur Modernität der Wissenschaft in Luhmann 1992d: 702-719 sowie Baecker 1990.) Modernität hat -• v\te iinn t r sie im Eir zeliall genau bestimmt sei - stets mit Kontingenz zu tun, also mit der Vorstellung: alles, was ist, könnte auch anders sein. Vergleichen Sie die Modernitäts- und Kontmgenzvorstellungen, die in den Begriffen des Fortschritts, der Rationalität, der Gleichheit, der Freiheit und der Evolution vorausgesetzt werden (Lileraturempiehkrog: Luhmann 1992a, msb. die Beiträge über "Europäische Rationalität" und " Kontingent als Eigenwert der modernen Gesellschaft".)

122 Theorien der Gesellschaft Überlegen Sie auch, wie Kontingenz und Kritik zusammenhängen. Kritisieren Sie die Gesellschaft. Bedenken Sie dabei, daß Sie in einer Gesellschaft leben, die Kritik verlangt. Eine konsequente Kritik der Gesellschaft müßte daher auch noch eine Kritik dieses Verlangens einschließen können. (Literaturempfehlung: Luhmann 1993e.)

6. Zitierte und weiterführende Literatur Baecker, Dirk u.a. (Hrsg.): Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. Frankfurt/Main, 1987. Baecker, Dirk: "Die Kunst der Unterscheidungen." In: ars electrónica (Linz) (Hrsg.): Im Netz der Systeme. Berlin, 1990, S. 7-39. Baraldi, Claudio u.a.: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt am Main, 1997. Dallmann, Hans-Ulrich: Die Systemtheorie Niklas Luhmanns und ihre theologische Konzeption. Stuttgart, 1994. Foerster, Heinz von: "Gegenstände: greifbare Symbole für (Eigen-)verhalten." In: Heinz von Foerster: Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke. Frankfurt/ Main, 1994a, S. 103-115. Foerster, Heinz von: "Molekular-Ethologie: ein unbescheidener Versuch semantischer Klärung." In: Heinz von Foerster: Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke. Frankfurt/Main, 1994b, S. 149-193. Foerster, Heinz von: Cybernetics of Cybernetics: The Control of Control and the Communication of Communication. Minneapolis, 1995. Fuchs, Peter: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit. Frankfurt/Main, 1992. Fuchs, Peter: Niklas Luhmann - beobachtet. Eine Einführung in die Systemtheorie. Opladen, 1993 Fuchs, Peter: "Und wer berät die Gesellschaft? Gesellschaftstheorie und Beratungsphänomen in soziologischer Sicht." In: Peter Fuchs/ Eckart Pankoke: Beratungsgesellschaft. Schwerte, 1994, S. 67-77. Fuchs, Peter: Das seltsame Problem der Weltgesellschaft. Eine Neubrandenburger Vorlesung. Opladen, 1997. Fuchs, Peter: Liebe, Sex und solche Sachen. Zur Konstruktion moderner Intimsysteme. Konstanz, 1999. Fuchs, Peter/ Göbel, Andreas (Hrsg.): Der Mensch - das Medium der Gesellschaft? Frankfurt/Main, 1994. Fuchs, Peter/ Schneider, Dietrich: "Das Hauptmann-von-Köpenick-Syndrom. Überlegungen zur Zukunft funktionaler Differenzierung." In: Soziale Systeme Zeitschrift für soziologische Theorie, 1 (2), 1995, S. 203-224. Füllsack, Manfred: "Geltungsansprüche und Beobachtungen zweiter Ordnung. Wie nahe kommen sich Diskurs- und Systemtheorie?" In: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie, 4 (1), 1998, S. 185-198. Giegel, Hans-Joachim: "Über Systeme und Lebenswelten." In: Soziologische Revue, 14(1), 1991, S. 14-20.

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Kapitel V Kritische Theorie als Theorie des kommunikativen Handelns Jürgen Habermas Willy Viehöver / Thomas Kern

Inhalt:

1. 1.1 1.2 2. 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 3. 4.

Die Kritische Theorie der ersten Generation Die Entwicklung der frühen Kritischen Theorie Was bedeutet Kritische Theorie? Theorie kommunikativen Handelns Die Universalpragmatik als Fundament einer kritischen Sozialwissenschaft Handlungstheorie Lebenswelt Entkopplung von System und Lebenswelt These der Kolonialisierung der Lebenswelt Sprache, Gesellschaft und Vernunft Diskurse und Öffentlichkeit als Institute der Freiheit Öffentlichkeit als diskursive Arena Die Herausforderung: Was kann die kritische Theorie leisten? Arbeitsaufgaben Zitierte und weiterführende Literatur

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Theorien der Gesellschaft

Die Theorie des kommunikativen Handelns zählt inz wischen zum soziologischen Urgestein, Obwohl die Zeiten soziologischer Großtheorie einstweilen zu verrinnen scheinen, werden jüngst gar ganze "Habermasindustrien" diagnostiziert, als wollte jemand die Entkopplung einer bestimmte Richtung soziologischer Theorieproduktion vom Denken eines prominenten Vertreters kritischer Gesellschaftstheorie verkünden (Kieserling 1999). Wie dem auch set, die lauen Winde gegenwärtiger KonkurrenzUnternehmungen dürften wohl noch eine Weile wehen, bevor das kritische Potential der Theorie des kommunikativen Handelns endgültig abgeschliffen worden ist. Habermas' Hauptwerk liefert eine Theorie der Moderne, die die Maßstäbe der Vernunft im kommunikativen Handeln verankert sieht, iweil der Sprache selbst das Ziel der Verständigung innewohnt. Habermas vereint in seinem Werk Theorie des kommunikativen Handelns auf eigentümliche Weise Elemente klassischer soziologischer Theorien von Dürkheim, über Marx, Mead und Weber bis hin zu Parsons und Theorieelemente moderner Theoretiker wie u.a. Luhmann, Münch, Offe und Schluchter, um nur einige zu nennen, zu einem zweistufigen Gesellschaftsmodell, das System- und Handlungstheorie miteinander verbindet und beiden zugleich eine kritische Wendung gibt. Im folgenden werden wir, mit Ausnahme der Väter der kritischen Theorie, auf die Quellen der Theorie des kommunikativen Handelns nicht eingehen. Der Umstand, daß Jürgen Habermas die Tradition der kritischen Theorie weiterzuführen beansprucht, macht es aber notwendig, an dieser Stelle auf das ursprüngliche Ansinnen der kritischen Theorie ein wenig näher einzugehen.

1. Die Kritische Theorie der ersten Generation 1.1 Die Entwicklung der frühen Kritischen Theorie "Es gibt kein richtiges Leben im falschen." - So lautet ein Schlüsselsatz Theodor W. Adornos (1951), der das Denken der kritischen Theorie in prägnanter Weise zum Ausdruck bringt. Die kritische Theorie war Ende der zwanziger Jahre mit dem Anspruch angetreten, ungerechte Herrschafts- und Machtstrukturen in der Gesellschaft aufzudecken und einen Weg zur Emanzipation von den bestehenden Verhältnissen zu weisen. Sie hat einen nachhaltigen Einfluß auf das Geistesleben in Deutschland ausgeübt, der bis heute spürbar ist. In den sechziger Jahren waren Namen wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno oder Herbert Marcuse vermutlich jedem Leser einer größeren Zeitung geläufig. Getragen wurde die kritische Theorie von einem interdisziplinären Kreis scharfsinniger Denker, die durch ihre Arbeiten auf verschiedenen Feldern der Geistes- und Sozialwissenschaften Berühmtheit erlangten: Der Literaturwissenschaftler Leo Löwenthal, die Juristen Franz Neumann und Otto Kirchheimer, der Nationalökonom Friedrich Pollock, der Psychoanalytiker Erich Fromm, der Germanist und Sozialphilosoph Herbert Marcuse und der Kulturphilosoph Walter Benjamin. Im Mittelpunkt dieses illustren intellektuellen Zirkels standen jedoch unbestritten zwei Personen: Theodor W. Adorno (1903-1969) und Max Horkheimer (1895-1973). Sie galten als die fuhrenden Köpfe der kritischen Theorie. Dabei handelt es sich um zwei durchaus ungleiche Persönlichkeiten: "Horkheimer, für den eine ausgeprägte Neigung zu großbürgerlicher Lebensweise charakteristisch war, hatte die Begabung, Macht auszuüben und darzustellen. Adorno war demgegenüber ein Intellektueller und Künstler, der, wie Jürgen Habermas es formuliert, nie imstande gewesen ist, sich reali-

Habermas 129 tätsgerechte Immunisierungs- und Anpassungsstrategien anzueignen, so daß man ihm gegenüber immer und umstandslos die Rolle des richtigen Erwachsenen spielen konnte" (Figal 1992: 315). Intellektuell ergänzten sie sich durch ihre Unterschiedlichkeit. Horkheimer war der große "Programmatiker, der bereits um 1930 ein großes Buch über dialektische Logik geplant hatte", während Adorno bis heute als der "entschieden Vielseitigere und Produktivere" gilt, "der Horkheimer erst eine Perspektive darauf öffnete, wie dieses Buch zu schreiben sei" (Ebd.). Das Hauptwerk der beiden, die Dialektik der Aufklärung (1947), wurde jedoch erst viele Jahre später abgeschlossen. Begründet wurde die Kritische Theorie im Frankfurter Institut für Sozialforschung, daher auch die Bezeichnung "Frankfurter Schule". Das Institut war 1923 ins Leben gerufen worden, durch eine großzügige Stiftung des Unternehmersohns Felix Weil, der sich während seines Studiums der Volkswirtschaftslehre für die Ideen der marxistischen Theorie begeistert hatte, ohne jedoch den starren Interpretationen der kommunistischen Bewegung zu folgen. Das Institut sollte eine unabhängige marxistische Forschung ermöglichen. Horkheimer wurde 1930 Direktor. Im selben Jahr wurde eine Zweigstelle in Genf eröffnet und eine Zusammenarbeit mit der Columbia Universität in New York ins Leben gerufen. Das wichtigste Publikationsforum der Gruppe war die Zeitschrift für Sozialforschung, die von 1932 bis 1941 auch während des Exils erschien. Dieser umsichtigen Planung ist es zu verdanken, daß die meisten Mitglieder des Instituts nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 in die USA emigrieren und ihre Studien fortsetzen konnten. Nach dem Krieg kehrten Adorno und Horkheimer nach Frankfurt zurück, während einige ihrer ehemaligen Mitarbeiter in den USA blieben. In den fünfziger und sechziger Jahren entfaltete ihr in Frankfurt neueröffnetes Institut für Sozialforschung einen großen gesellschaftlichen Einfluß. Bis heute gilt die Frankfurter Schule als geistiger Wegbereiter für die Studentenrevolte von 1968, obwohl die Philosophen der Studentenbewegung eher distanziert gegenüberstanden. Ihr öffentliches Erscheinungsbild wurde in diesen Jahren zunehmend von Jürgen Habermas bestimmt, der 1956 Assistent am Institut geworden war und sich immer häufiger in der Öffentlichkeit zu Wort meldete. Dementsprechend erhofften sich nach dem Tod von Adorno (1969) und Horkheimer (1973) viele von ihm eine Weiterführung der kritischen Theorie und ihrer Anliegen. Sein umfangreiches philosophisches Werk hat bewiesen, daß diese Erwartungen nicht zu hoch gegriffen waren.

1.2 Was bedeutet kritische Theorie? "Kritische Theorie bleibt die Anzeige und Charakterisierung einer infamen Welt", bemerkte einmal der Literaturwissenschaftler Leo Löwenthal im Alter. Sie ist ein Kontrastbegriff, der verständlich wird, wenn wir uns dem zuwenden, was Horkheimer in seinem berühmten programmatischen Aufsatz von 1937 als "traditionelle Theorie" bezeichnete. Unter "traditioneller Theorie" sind Aussagensysteme zu verstehen, die allgemeinen Sätzen abgeleitet sind und in denen die Grundregeln bereits festgelegt sind, nach denen sich weitere Sätze ableiten lassen. Horkheimer beschäftigt sich nun weniger damit, was genau unter einer wissenschaftlichen Theorie zu verstehen sei - was die klassische Aufgabe der Erkenntnisphilosophie wäre - sondern konzentriert

13 0 Theorien der Gesellschaft sich auf die Frage nach ihrer Funktion: Welche Konsequenzen ergeben sich aus wissenschaftlichen Theorien fiir die Gesellschaft, in der wir leben? Im allgemeinen beschreiben Theorien Zusammenhänge zwischen Tatsachen. Da sie aus allgemeinen Aussagen abgeleitet sind, beschreiben sie jedoch nicht nur Sachverhalte, sondern ermöglichen es, neue Tatsachen zu entdecken. Sie prognostizieren Ereignisse mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit und verweisen somit über den beschreibenden Kontext hinaus auf Handlungsmöglichkeiten in der Zukunft. Aus diesem Grund dürfte es kaum möglich sein, ohne Theorie die Natur zu beherrschen, geschweige denn, ökonomischen oder sozialen Problemen zu begegnen. Die Wende zur kritischen Theorie besteht darin, daß solche konventionellen Aussagensysteme - Horkheimer bezeichnet sie als traditionelle Theorie - nicht nur Zusammenhänge von Tatsachen beschreiben. Eingebettet in einen gesellschaftlichen Kontext der Entstehung und Verwendung, sind sie selbst Teil eines übergreifenden Zusammenhangs. Beispiele für die enge Beziehung zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und ökonomischen oder militärischen Verwertungsinteressen gibt es viele. So haben zahlreiche soziologische Studien belegt, daß die Computer- oder Atomtechnik heute weniger weit entwickelt wären, wenn nicht das Militär massiv in die Halbleiterund Atomforschung investiert hätte (Halfmann 1991, Keck 1985). Ein privater Investor wäre vermutlich kaum bereit oder in der Lage gewesen, das Risiko solch hoher Investitionen zu tragen. Ein besonders eindrückliches Beispiel für die enge Verquickung von Wissenschaft und Militär zeigt sich in der Tatsache, daß moderne Kriege nicht nur eine politische und moralische Dimension haben; "sie bilden zugleich einen Kontext intensiver Erforschung und Evaluation der Funktionsweise von Waffensystemen oder der Anwendbarkeit von Militärstrategien" (Weyer 1991: 405). Ein amerikanischer Luftwaffengeneral, bezeichnete den Golfkrieg als das "bisher größte Labor-Experiment für den Mix von Waffengattungen" (Ebd.). Daß dabei zahlreiche Menschen ihr Leben verloren haben, ist aus dieser wissenschaftlichen Perspektive vermutlich nur ein Nebeneffekt. Es geht aber nicht allein um militärische Forschung. Auf dem Feld der konventionellen Technikentwicklung spielen gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen ebenfalls eine wichtige Rolle. So stand hinter der Entwicklung des "Transrapid" der politische Wille zur Förderung neuer Verkehrssysteme. Und die wissenschaftliche Forschung zur Optimierung von Solarzellen verdankt sich dem gewachsenen Interesse an emissionsneutralen Methoden der Energiegewinnung. Ähnliches gilt für genetisch veränderte Lebensmittel, Medikamente, Verhütungsmittel oder technische Alltagsprodukte wie das Telefon (Rammert 1990). Ihre Erforschung, Entwicklung, Verbreitung und Verwendung ist in einen übergreifenden gesellschaftlichen Kontext eingebettet, den es zu beachten gilt. Vor dem Hintergrund dieser Beispiele ist die Position Horkheimers verständlich, daß Wahrheit nicht gleichbedeutend ist mit Vernünftigkeit und daß Theorien, die sich auf Tatsachen beziehen nicht in der Lage sind, ihre eigene Vernünftigkeit zu beurteilen. Dazu bedarf es einer Perspektive, die den gesellschaftlichen Kontext, in den traditionelle Theorien eingebettet sind, zum Gegenstand philosophischer Reflexionen macht. Das heißt, der Atomphysiker müßte sich von seinen wissenschaftlichen Experimenten abwenden und die gesellschaftlichen Strukturen untersuchen, die es ihm ermöglicht oder ihn dazu veranlaßt haben, seine Forschungsabsichten zu verwirklichen. Ein solches Vorgehen ist angesichts des Grades der gesellschaftlichen Differenzierung schwer vorstellbar. Damit bleibt der gesamte gesellschaftliche Bezugsrahmen ausge-

Habermas 131 blendet, in dem wissenschaftliche Ergebnisse zustande kommen. Traditionelle bzw. "bürgerliche" Theorien betrachten ihn als gegeben und sind daher nicht in der Lage, der Gesellschaft kritisch gegenüberzutreten. Horkheimer geht es also nicht um den Wahrheitsanspruch wissenschaftlicher Aussagensysteme, sondern um ihre Vernünftigkeit. Genau an dieser Stelle empfiehlt er sein Projekt einer "kritischen Theorie": Sie soll die gesellschaftliche Praxis auf ihre Vernünftigkeit hin befragen. Damit ist die kritische Theorie keine Alternative zur bürgerlichen Wissenschaft, sie thematisiert vielmehr den gesellschaftlichen Zusammenhang, in den traditionelle Theorien eingebettet sind und deckt deren Begrenztheit auf. Im Zentrum Horkheimers Interesses steht die Ökonomie. Die kritische Theorie verfolgt das Ziel, die Unvernünftigkeit der bürgerlichen (kapitalistischen) Wirtschaftsweise aufzudecken und vernünftige Formen der Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen anzuregen. Indem sie die Unvernunft der bestehenden Produktionsverhältnisse aufdeckt und kritisiert, leistet die kritische Theorie einen praktischen Beitrag für eine bessere, weil vernünftige Zukunft der Gesellschaft. Die zentralen Fragen, die Horkheimer mit seinem Ansatz aufgeworfen hat und mit deren Lösung sich die Anhänger der kritischen Theorie bis heute beschäftigen, lassen sich wie folgt zusammenfassen (Figal 1992: 322): Woher nimmt die kritische Theorie ihren Maßstab für die Beurteilung der Vernünftigkeit gesellschaftlicher Strukturen? Obwohl sich Horkheimer der marxistischen Kritik an den bürgerlichen Produktionsverhältnissen anschließt, verzichtet er auf eine allzu enge Verbindung mit dem Marxismus, weil er die Denkfreiheit der kritischen Theorie bewahren will. Wenn es aber nicht der Marxismus ist, aus welcher Perspektive soll die Gesellschaft dann kritisiert werden? Die kritische Theorie Jürgen Habermas gibt auf diese Frage eine interessante Antwort. Wie wir sehen werden, sieht Habermas den "Ort" der Vernünftigkeit in der Sprache selbst. Wo bleibt die Selbstkritik der kritischen Theorie? Da sie selbst aus einem gesellschaftlichen Kontext heraus entstanden ist, müßte Horkheimer angeben, worin die gesellschaftliche Bedingtheit der kritischen Theorie liegt und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. An dieser Stelle wenden wir uns ab von der kritischen Theorie der ersten Generation und widmen uns dem Werk von Jürgen Habermas, der mit seiner Arbeit einen entscheidenden Beitrag ihrer Weiterentwicklung geleistet und die Entwicklung der Soziologie in Deutschland nachhaltig geprägt hat.

2. Theorie kommunikativen Handelns Ohne Zweifel ist Jürgen Habermas (* 1929)' der bekannteste und einflußreichste deutsche Philosoph der Gegenwart. Dies liegt zum einen begründet in seinem umfang1

Nach seinem Studium in Göttingen, Zürich und Bonn promovierte er 1954 mit einer Dissertation über Schelling. Die folgenden beiden Jahre wirkte er als freier Mitarbeiter bei der FAZ und dem Merkur, bis er 1956 von dem aus dem Exil zurückgekehrten Adorno als Assistent an das wiedereröffnete Institut für Sozialforschung nach Frankfurt geholt wurde. Da Horkheimer seine Habilitation am Frankfurter Institut ablehnte - sein Verhältnis zu Habermas war nicht spannungsfrei - habilitierte er sich bei Wolfgang Abendroth in Marburg und wurde auf eine außerordentliche Professur für Philosophie nach Heidelberg berufen. 1964 folgte er einem Ruf an die Goethe-Universität

132 Theorien der Gesellschaft reichen und beeindruckenden philosophischen Werk. Darüber hinaus hat er sich stets als ein engagierter Intellektueller verstanden, der sich in der Öffentlichkeit zu Wort meldet, in Diskussionen eingreift und nicht davor zurückschreckt, politische Debatten zu initiieren. Neben seiner Rolle in wissenschaftlichen Kontroversen wie dem Positivismusstreit (Adorno 1969) oder der Debatte um die Sozialtechnologie (Habermas/ Luhmann 1971) trat er in der Öffentlichkeit fast immer als linksliberaler Verteidiger demokratischer Grundwerte im Kampf gegen linken und rechten politischen Extremismus in Deutschland auf.2 Horkheimers Aufsatz über das Verhältnis von kritischer und traditioneller Theorie hatte auch für die Arbeit von Habermas eine orientierende Funktion. In seiner Frankfurter Antrittsvorlesung Erkenntnis und Interesse und seinem bisherigen Hauptwerk Theorie kommunikativen Handelns (Habermas 1981, Bd. 1: 517) bezog er sich er ausdrücklich auf Horkheimers Überlegungen. Trotzdem war er nie an einer Wiederholung des früheren Ansatzes interessiert. Ihm ging es um eine philosophische Weiterentwicklung des Konzepts und die Lösung bestehender Probleme: Für Habermas ist die kritische Theorie ein Produkt der modernen Gesellschaft. Sie steht ihr nicht gegenüber, als wäre sie von außen gekommen, sondern ist ein von ihr hervorgebrachtes Produkt und damit fester Bestandteil der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Insofern trägt die kritische Theorie dazu bei, die moderne Gesellschaft über sich selbst aufzuklären. Dies zu belegen ist sein Programm, das sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes philosophisches und soziologisches Werk zieht. Obwohl Habermas Theorie des kommunikativen Handelns mit der Entfaltung einer Sprach- und Diskurstheorie einsetzt, soll diese hier nicht im Mittelpunkt stehen. Argumentative Diskurse hat Jürgen Habermas als Fortsetzung des kommunikativen Handelns mit anderen Mitteln verstanden. Die Entwicklung einer Diskurstheorie nimmt einen Großteil seines Werkes ein (Habermas 1974, 1981, 1984, 1992). Jedoch hat Habermas nicht nur die Entwicklung einer Theorie des sich auf Argumente und Gründe stützenden Diskurses vorangetrieben, sondern ist - insbesondere mit der Theorie des kommunikativen Handelns - auch um eine Soziologisierung der Diskurstheorie im Rahmen einer umfassenden Theorie kommunikativen Handelns bemüht, ohne dabei die Probleme einer Gesellschaftstheorie als Handlungstheorie auszublenden. In der Theorie des kommunikativen Handelns beschäftigt sich Habermas zunächst mit der Bedeutung des kommunikativen Handelns für die Entstehung, Erhaltung und Erneuerung der gesellschaftlichen Lebenswelt und damit auch sozialer Ordnung. Er stellt sich Gesellschaft einerseits als symbolisch strukturierte Lebenswelt vor, die über kommunikatives Handeln reproduziert wird (Habermas 1988: 88-104). Lebenswelt und kommunikatives Handeln gelten ihm also als Komplementärbegriffe, die nicht getrennt voneinander gedacht werden können. Mit der kommunikativen Handlung ist aber nur der Aspekt der Verständigung im Gespräch abgedeckt. Verständi-

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Frankfurt, w o er den Lehrstuhl Horkheimers übernahm. Er blieb dort bis 1971. In diesem Jahr wurde er Direktor des Starnberger Max-Planck-Instituts. 1983 kehrte er nach Frankfurt zurück, w o er bis zu seiner Emeritierung Philosophie lehrte. Davon zeugt auch seine jüngste Auseinandersetzung mit Peter Sloterdijk in der Frage, ob es legitim sei, in das menschliche Erbgut zum Zweck einer Verbesserung der menschlichen Rasse manipulierend einzugreifen. Es sei angemerkt, daß seine Rolle in diesen Kontroversen, zumindest was den Stil der Auseinandersetzung anbelangte, durchaus umstritten war (Geiss 1988; Sloterdijk 1999; Ulrich 1999).

Habermas 133 gungsorientiertes kommunikatives Handeln ist vom strategischen Handeln zu unterscheiden. In seiner Handlungstheorie hat er mit dem zweckrationalen Handeln einen Handlungstyp konzipiert, der nicht auf Verständigung abzielt, sondern allein auf die erfolgsorientierte Einwirkung der Akteure auf ihre Umwelt. Diese zweckrationalen Handlungen sind nicht auf die symbolische Reproduktion der Lebenswelt gerichtet, sondern auf Prozesse, die der materiellen Bestandssicherung (Produktion, innere und äußere Sicherheit etc.) der Gesellschaft dienen (Habermas 1981, Bd. 2: 229). Diese beiden Handlungstypen bilden den Ausgangspunkt für Habermas zweitstufiges Modell der Gesellschaft und zugleich auch die Basis seiner Theorie der Evolution der Moderne. Folgerichtig stellt Habermas dem Begriff der Lebenswelt den des Systems gegenüber, das er als Bereich des zweckrationalen Handelns charakterisiert. Demnach wird die Gesellschaft nicht allein durch verständigungsorientierte Handlungskoordination zusammengehalten (Sozialintegration). Komplexe moderne Gesellschaften bedürfen ebenso der erfolgsorientierten Handlungskoordination (Systemintegration). Entsprechend betont Habermas die Notwendigkeit von System- und Sozialintegration. Eine Theorie der Moderne kann, so Habermas, nur als System- und Handlungstheorie gedacht werden. Einen zentralen Baustein dazu bildet das System-Lebenswelt-Konzept mittels dessen Habermas zugleich versucht, eine Brücke zwischen Handlungsund Systemtheorie zu schlagen. Zugleich verbindet er die beiden Komponenten mit einer Theorie der sozialen Evolution, worin ein weiterer entscheidender Beitrag zur Theorie der Moderne besteht. Bevor diese Theorieelemente ausführlicher dargestellt werden, seien die drei Schritte Lebenswelt, System und Entkopplung von System und Lebenswelt und die These der Kolonialisierung der Lebenswelt kurz zusammengefaßt. • Habermas verknüpft im System-Lebenswelt-Konzept eine Theorie der Rationalisierung und Differenzierung (der Lebenswelt) mit einer Theorie der funktionalen Differenzierung gesellschaftlicher Subsysteme. Er geht dabei von einem Primat der Lebenswelt aus, denn der Ausdifferenzierung der Systeme aus lebensweltlichen Zusammenhängen müssen Rationalisierungsprozesse der Lebenswelt vorausgehen. Unter Rationalisierung versteht Habermas - anders als Weber - nicht allein die Durchsetzung der Zweckrationalität, die zum optimalen Einsatz von Mitteln im Hinblick auf gegebene Zwecke anhält. Dieser Begriff hat unser heutiges Verständnis von Rationalität und Rationalisierung (etwa in Wirtschaft und Industrie) hauptsächlich geprägt. Habermas grenzt sich davon ab und begreift gesellschaftliche Rationalisierung umfassender als einen Prozeß der Distanzierung von mythischen Weltbildern (Habermas 1981, Bd. 1: 103ff). Dieser Prozeß der Entzauberung setzt aber Rationalitätspotentiale allererst frei. Er führt nicht nur zu einer Differenzierung der Lebenswelt, sondern erlaubt die kommunikative Bearbeitung strittiger Fragen in den unterschiedlichen Sphären der Wissenschaft, der Moral und der Kunst durch das Medium des Diskurses. Geltungsansprüche in der objektiven, sozialen und subjektiven Welt werden für rationale Diskurse geöffnet, in denen sich das "bessere Argument" (Habermas 1981, Bd. 2: 218) durchsetzen kann. Dabei handelt es sich um einen Vorgang der Entschränkung von Kommunikation mit nachhaltigen Auswirkungen auf die Lebenswelt und die Bedingungen ihrer Rationalisierbarkeit (Habermas 1981, Bd. 2: 219ff). • Durch eine Entkopplung der Systeme von den Prozessen der lebensweltlichen Reproduktion werden die Prozesse der sozialen Integration von Prozessen der systemischen Integration teilweise voneinander entkoppelt. Dies ist, so Habermas, einem Prozeß sozialer Evolution zu verdanken, der sich erst in modernen Gesellschaften

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Theorien der Gesellschaft

vollendet. Während systemische Reproduktion auf generalisierte Kommunikationsmedien (etwa Geld und Macht) umgestellt werden kann, bleibt die Reproduktion der Lebenswelt auf die Verständigungsleistungen des kommunikativen Handelns angewiesen. Habermas glaubt, daß dies auch dann der Fall ist, wenn sich die Reproduktionsleistungen der Lebenswelt nicht mehr aus traditionalen Norm- und Wissensbeständen speisen können. Gerade in modernen Gesellschaften ist es der Modus der diskursiven Verständigung, der zum Motor weiterer gesellschaftlicher Rationalisierung wird und damit den Prozeß der kommunikativen Verflüssigung von Traditionsbeständen vorantreibt. Es ist aber bei Habermas eben nicht die Verflüssigung von Traditionsbeständen, die zu Pathologien bei der sozialen Integration fuhrt - also zu Psychopathologien, Anomie und Sinnverlust, wie etwa Weber oder Schelsky behaupten würden. • Habermas' Modell einer Krise der Modernisierung geht vielmehr von einer Kolonialisierung der Lebenswelt durch systemische Imperative aus. Es kommt erst dann zu gesellschaftlichen Pathologien, wenn Komplexitätssteigerungen und Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Subsysteme dergestalt in Prozesse der lebensweltlichen Reproduktion eingreifen, daß diese in ihren Grundfesten erschüttert werden. Habermas formuliert im Grunde Dürkheims Frage, wie soziale Integration angesichts zunehmender funktionaler Differenzierung und angesichts des Verlustes eines umfassenden gesellschaftlichen Kollektivbewußtseins auftretender Anomieerscheinungen, möglich sei, mit kommunikationstheoretischen Mitteln (dabei insbesondere an Meads Theorie der symbolischen Interaktion anschließend) um. Im Mittelpunkt seines theoretischen Modells steht dabei zunächst der Begriff der Lebenswelt. Bevor wir aber zu Erläuterung des System-Lebenswelt-Konzeptes kommen, sind einige einleitende Bemerkungen zu Habermas' Handlungs- und Kommunikationstheorie notwendig.

2.1 Die Universalpragmatik als Fundament einer kritischen Sozialwissenschaft Habermas begann er in den siebziger Jahren damit, sich für die angelsächsische Sprachphilosophie zu interessieren und vollzog einen sogenannten "linguistic turn". In der Sprachphilosophie hatte sich in Anlehnung an den Philosophen Ludwig Wittgenstein die Einsicht durchgesetzt, daß sich unser Sprechen nicht in Aussagen über Sachverhalte in der Welt erschöpft (Habermas 1988: 75-87). Sprechen erschöpft sich nicht im formulieren von Sätzen: Wer spricht, der handelt. Unsere Äußerungen haben einen institutionellen Charakter. Es handelt sich um Sprechakte bzw. Sprechhandlungen, die soziale Konsequenzen nach sich ziehen. Daraus folgt, Gesprochenes hat eine ähnliche Qualität wie beobachtbare Handlungen. Hier liegt die zentrale Bedeutung des "linguistic turn". Beispiele sind: Geständnisse, Versprechen, Gelöbnisse, Bekenntnisse, Gratulationen oder Schwüre. Besonders anschaulich sind Sätze wie: "Hiermit erkläre ich Euch zu Mann und Frau." Wer einen Befehl gibt, übernimmt die Rolle des Befehlenden; wer seine Liebe eingesteht, schlüpft in die Rolle des Liebhabers etc. Für Habermas rückte der von Chomsky geprägte Begriff der kommunikativen Kompetenz in den Mittelpunkt seines philosophischen Denkens. Es handelt sich um die Fähigkeit, "Sätze in bestimmten Situationen zu äußern und dabei eine bestimmte

Habermas 135 Rolle 3 zu übernehmen" (Figal 1992: 379). Habermas unterscheidet vier verschiedene Klassen von Sprechhandlungen (Habermas 1971: 11 Off), wovon sich drei, in Anlehnung an Karl R. Popper, auf unterschiedliche Realitätsbereiche (Welten) beziehen: 1. Konstative Sprechakte beziehen sich auf die objektive Welt der Dinge, Tatsachen und Ereignisse. (Beispiel: "Ich sage dir, Washington D.C. ist die Hauptstadt der Vereinigten Staaten" etc.). 2. Regulative Sprechakte beziehen sich auf den die soziale Welt, das heißt den normativen Kontext, in den soziale Beziehungen eingebettet sind (Beispiele: "Ich verspreche dir die Treue"; "Sie sind entlassen!", "Du sollst nicht lügen!" etc.). 3. Repräsentative Sprechakte beziehen sich auf die subjektive Welt der Einstellungen, Intentionen, Wünsche und Gefühle (Beispiele: "Ich hoffe, es geht dir gut", "Fühlst Du Dich wohl?", "Ich liebe dich" etc.). 4. Kommunikative Sprechakte beziehen sich im Unterschied zu den obigen dreien nicht auf bestimmte Realitätsbereiche; ihr Bezugsgegenstand sind vielmehr andere Sprechhandlungen. Sie erlauben es, die Bedeutung sprachlicher Äußerungen (der drei ersten Klassen) zum Thema zu machen und so zu einer Verständigung zu kommen. (Beispiele: "Wie hast du das gemeint?"; "Ich wollte dich mit meiner Äußerung nicht kränken" etc.). Ein Blick auf diese vier Klassen von Sprechakten zeigt, daß Sprache nicht nur ein Medium der Verständigung über etwas in der subjektiven, objektiven oder normativen Welt ist (Klasse 1 bis 3), sie dient auch der Handlungskoordinierung von Individuen (Klasse 4) im Falle des Versagens problemloser Kommunikation. Im Grunde gibt es zwei Möglichkeiten, mit den Regeln sprachlichen Handelns umzugehen: Entweder sie werden schlicht angewendet (einfache Verständigung) oder sie werden selbst zum Thema des Gesprächs gemacht (Metakommunikation). Demnach ist es ein Unterschied, ob zwei Personen miteinander streiten oder ob sie (eventuell in einer Paartherapie) über ihren Konflikt sprechen. Im zweiten Fall verlassen die Beteiligten die inhaltliche Ebene ihrer Auseinandersetzung, beschäftigen sich nicht mehr mit deren Anlaß, sondern versuchen zu klären, unter welchen Bedingungen es möglich ist, die bestehende Situation zu entschärfen. Indem sie sich auf ein solches Gespräch einlassen, verlassen sie die Ebene des kommunikativen Handelns und fuhren - so nennt es Habermas - einen Diskurs. In solchen Diskursen einigen sich die Gesprächspartner auf jene Grundsätze, die sie in ihrem Miteinander respektieren wollen. Man könnte auch sagen, daß sie sich auf die Spielregeln einigen, an denen sie ihr Zusammenleben orientieren wollen: "Das entscheidende Moment für die weitere Argumentation von Habermas ist nun, daß jeder Sprechakt ein Sprecherangebot an den Kommunikationspartner darstellt, das letzterer akzeptieren oder nicht akzeptieren kann. Anders ausgedrückt: in jedem Sprechakt wird ein Geltungsanspruch artikuliert, der angenommen, abgewiesen oder dahingestellt werden kann" (Gripp, 1984: 49). Die Geltungsansprüche unterscheiden sich danach, auf welchen Realitätsbereich (Weltbezug) der Sprechakt sich bezieht:

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Zum Rollenbegriff vgl. die einschlägige soziologische Einfiihrungsliteratur (z.B. Arbeitsgruppe Soziologie 1993: 23-41).

136 Theorien der Gesellschaft • Konstative Sprechakte stehen unter dem Geltungsanspruch der Wahrheit. Es geht darum, ob eine Aussage über die Welt der Tatsachen als zutreffend akzeptiert wird oder nicht (Beispiel: "Ist Washington D.C. wirklich die Hauptstadt der Vereinigten Staaten?" etc.). • Regulative Sprechakte stehen unter dem Geltungsanspruch der Richtigkeit. Es geht darum, ob bestimmte Formen des sozialen Verhaltens gerechtfertigt sind oder nicht (Beispiel: "Es steht Ihnen nicht zu, mich zu entlassen!"; "Warum sollte ich die Wahrheit sagen?" etc.). • Repräsentative Sprechakte stehen unter dem Geltungsanspruch der Aufrichtigkeit. Es geht um die Frage, ob ausgedrückte Intentionen, Gefühle oder Wünsche authentisch sind (Beispiele: "Liebst du mich wirklich?"; "Bist du sicher, daß es dir gut geht?" etc.) • Kommunikative Sprechakte stehen unter dem Geltungsanspruch der Verständlichkeit. Hier geht es um die Bedeutung des Gesagten. Wie oben bezieht sich dieser Geltungsanspruch nicht auf einen bestimmten Ausschnitt der Welt, sondern auf das Sprechen selbst (Beispiel: "Habe ich Sie richtig verstanden?"; "Wie meinen Sie das?" etc.). Die vier Geltungsansprüche Wahrheit, Richtigkeit, Aufrichtigkeit und Verständlichkeit bezeichnet Habermas als pragmatische Universalien, weil sie bei jedem Sprechakt automatisch vorausgesetzt werden, unabhängig von Raum, Zeit, Person oder Kultur. Das heißt, die vier Geltungsansprüche sind untrennbar mit jedem Sprechen verknüpft. Er behauptet dabei nicht, daß die Sprecher sich immer diesen Idealen verpflichtet fühlen. Seine Argumentation zielt darauf, daß alle Beteiligten an einer Sprechsituation diese idealen Bedingungen zumindest fiktiv unterstellen müssen, damit es überhaupt Sinn hat, sich miteinander zu unterhalten. Wenn ich davon ausgehe, daß meine Gesprächspartner sowieso die Unwahrheit sagt, ihr Verhalten unangemessen, ihre Person unaufrichtig ist oder sie uns sowieso nicht verstehen, dann macht ein Gespräch keinen Sinn. Wie weit sich die Beteiligten diesen Idealen annähern, ist von außen unmöglich zu beurteilen. Wenn es auf der Ebene der konstativen, regulativen oder repräsentativen Sprechakte zu Meinungsverschiedenheiten kommt, ist es nach Habermas möglich, durch einen Diskurs eine Einigung zu finden. Bei solchen Diskursen wird das Gespräch selbst zum Thema gemacht. In dieser Hinsicht sind Diskurse reflexiv. Es geht um die Frage, welche Geltungsansprüche akzeptiert werden und welche nicht. Entsprechend dem Geltungsanspruch kommunikativer Sprechakte (vgl. Punkt a.4 und b.4) zielen solche Diskurse zumindest theoretisch auf eine Verständigung unter den Beteiligten. Damit ein Diskurs erfolgreich verlaufen kann, müssen jedoch bestimmte Grundsätze beachtet werden (vgl. Habermas 1973: 255ff): • Alle potentiellen Teilnehmer haben die gleiche Chance, sich in den gemeinsamen Diskurs einzubringen. • Alle Diskursteilnehmer müssen im Prinzip die Chance haben, in "konstativen Sprechakten" alle ihnen relevant erscheinenden Sachverhalte anzusprechen. Es darf keine Tabus geben oder Themen, die der Kritik nicht zugänglich sind. • Alle Diskursteilnehmer müssen die Chance haben, "repräsentative Sprechakte" zu verwenden, das heißt, ihre Einstellungen, Gefühle und Intentionen zum Ausdruck zu bringen.

Habermas 137 • Alle Diskursteilnehmer haben dieselbe Chance, "regulative Sprechakte" zu verwenden, das heißt zu befehlen, widersetzen, erlauben, verbieten etc. Wenn alle diese Bedingungen erfüllt wären, hätten wir es mit einer idealen Sprechsituation zu tun. In der idealen Sprechsituation sind die universalen Bedingungen für eine sprachliche Verständigung festgelegt. Ist von vornherein klar, daß eine der Regeln nicht eingehalten wird, so ist der Diskurs unvernünftig. Und wer sich an diese Regeln nicht hält, verhindert eine vernünftige Einigung. Aus diesem Grund bildet die ideale Sprechsituation das normative Fundament jeglicher Sprechhandlung und bietet für Habermas einen hoffnungsvollen Ansatzpunkt, um gesellschaftliche Verhältnisse zu beurteilen und gegebenenfalls zu kritisieren. Damit bezieht sich sein Rationalitätsbegriff nicht auf den Inhalt der Einigung, sondern auf das formale Verfahren, in dem sie erzielt wurde. Nur in einem Diskurs ist es möglich, einen Konsens zu erzielen, der den Maßstäben der Vernunft standhält. Unter Konsens ist die "intersubjektive Anerkennung kritisierbarer Geltungsansprüche" zu verstehen (Habermas 1981, Bd. 1: 37). Ein solcher Konsens ist rational, weil "sich ein kommunikativ erzieltes Einverständnis letztlich auf Gründe stützen muß. Und die Rationalität derer, die an dieser Kommunikation teilnehmen, bemisst sich daran, ob sie ihre Äußerungen unter gegebenen Umständen begründen könnten" (Ebd.). Hier liegt der Maßstab für die Vernünftigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse. Von hier ist es möglich, kritische Fragen an die Gesellschaft zu stellen: Beruhen die gesellschaftlichen Verhältnisse auf einem vernünftigen Konsens, der in einem Diskurs erzielt worden ist, welcher der idealen Sprechsituation nahe kommen? Beruht der erzielte Konsens auf kritisierbaren Argumenten (Geltungsansprüchen) oder werden gesellschaftliche Strukturen allein durch Machtmittel oder Hinweis auf die Tradition legitimiert und durchgesetzt? Wie ist es möglich, angesichts gesellschaftlicher Konflikte zu einer Einigung zu kommen? Etc. Da nach Habermas jeder die Sprache sprechen (oder erlernen) kann, ist potentiell jeder befähigt zu vernünftigem Verhalten und gegenseitiger Verständigung im Diskurs. Beispiele: Beruht die Einigung auf eine Änderung des Staatsbürgerrechts von 1999 auf einem rationalen Diskurs und kritisierbaren Argumenten oder wurde eine "vernünftige Lösung" unter Hinweis auf Tradition oder Appelle an irrationale Gefühle verhindert? Ähnliche Fragen könnten im Hinblick auf die permanenten Diskussionen um Änderungen im Gesundheits- oder Rentensystem gestellt werden. 4

2.2 Handlungstheorie Wie Habermas gezeigt hat, läßt sich aus der Universalpragmatik ein Maßstab für die kritische Beurteilung gesellschaftlicher Verhältnisse ableiten. Davon ausgehend 4

Die Stärke dieses Ansatzes liegt zweifellos in der Anpassungsfähigkeit des Konsenses, der immer wieder in Frage gestellt und durch eine neue Einigung stabilisiert werden kann (Reese-Schäfer 1991: 21). Allerdings steht und fällt mit der Gültigkeit der Universalpragmatik der kritische Anspruch der Theorie kommunikativen Handelns. Wenn es Habermas nicht gelingt, die von ihm behauptete Universalpragmatik überzeugend zu begründen, steht seine gesamte Theorie auf einem brüchigen Fundament, zumal Habermas selbst einräumen muß, daß es von außen kaum möglich ist zu überprüfen, inwiefern die Bedingung der idealen Sprechsituation während eines Diskurses erfüllt sind (Habermas 1984: 179f.). Darauf berufen sich seine Kritiker bis heute.

13 8 Theorien der Gesellschaft entfaltet er systematisch eine umfassende Gesellschaftstheorie, die modernsten Ansprüchen gerecht werden und die Sozialwissenschaften in die Lage versetzen soll, ein vernünftiges Urteil über den Zustand der Gesellschaft abzugeben. Er beginnt mit einer ausführlichen Analyse des soziologischen Handlungsbegriffs. Entsprechend der vier unterschiedlichen Geltungsansprüche einzelner Sprechakte unterscheidet Habermas vier verschiedene Handlungstypen (Habermas 1981, Bd. 1: 447): • Teleologische Handlungen sind strikt erfolgsorientiert. Der im Prinzip "einsame" Akteur erreicht sein Ziel, indem er "die in der gegebenen Situation erfolgversprechenden Mittel wählt und in geeigneter Weise anwendet" (Habermas 1981, Bd. 1: 126f). "Teleologische Handlungen können unter dem Aspekt ihrer Wirksamkeit beurteilt werden" (Habermas 1981, Bd. 1: 447). Teleologische Handlungen sind strikt zweckrational. Wenn sie sich auf die objektive Welt (Sachverhalte, Dinge, Ereignisse etc.) beziehen, spricht Habermas von instrumentellem Handeln bzw. Arbeit. Beziehen sie sich hingegen auf Akteure (soziale Welt), so spricht er von strategischem Handeln, da andere Akteure wie Gegenstände in der Umwelt behandelt werden, die es zu manipulieren gilt. Dem teleologischem Handeln liegt "technisch und strategisch verwertbares Wissen" (Ebd.) zugrunde, das im Hinblick auf Wahrheitsansprüche kritisiert und durch wissenschaftlichen Fortschritt verbessert werden kann. In der Soziologie beschäftigen sich hauptsächlich die utilitaristischen Ansätze aus der Verhaltens- und Spieltheorie mit diesem Handlungstyp. • Beim Begriff der normenregulierten Handlung geht es nicht mehr um einzelne Akteure, sondern um Mitglieder einer Gruppe, die ihr Handeln an "gemeinsamen Werten orientieren" (Habermas 1981, Bd. 1: 127). Wer gegen die Normen der Gruppe verstößt wird bestraft, wer sie befolgt belohnt (oder zumindest nicht bestraft). Es geht daher um die Frage, in welcher Situation welches "Benehmen" angemessen ist. Das Verhalten des Akteurs orientiert sich an dem moralisch-praktischen Wissen, das er sich im Verlauf seiner Mitgliedschaft in der Gruppe angeeignet (internalisiert) hat und ist damit auf die soziale Welt bezogen. Die gemeinschaftlichen Normen können im Hinblick auf ihre Berechtigung (Richtigkeitsansprüche) kritisiert und gegebenenfalls verändert werden. In der Soziologie hat sich vor allem die Rollentheorie dem normenregulierten Handeln angenommen. • Dramaturgisches Handeln bezieht sich "weder auf den einsamen Aktor noch auf das Mitglied einer sozialen Gruppe, sondern auf Interaktionsteilnehmer, die füreinander ein Publikum bilden, vor dessen Auge sie sich darstellen" (Habermas 1981, Bd. 1: 128). Es geht darum, wie der einzelne vor der Gruppe seine Gefühle, Wünsche oder Intentionen darstellt, zu denen normalerweise nur er privilegierten Zugang hat. Damit ist klar, daß sich dieses Handeln an dem Wissen um die innere Welt der Subjektivität orientiert ("Wer bin ich?"; "Was fühle ich?"; "Welches Bedürfnis habe ich?" etc.). Dramaturgisches Handeln kann im Hinblick auf seine Wahrhaftigkeit thematisiert und gegebenenfalls als unwahrhaftig kritisiert werden. In den vergangenen Jahren hat sich vor allem die Kultursoziologie verstärkt für das dramaturgische Handeln interessiert, etwa mit der These von der Ästhetisierung des Alltagslebens durch Gerhard Schulze (1993). Weitere Ansätze wurden von Goffmann oder Garfinkel vorgelegt. • Kommunikatives Handeln "bezieht sich auf die Interaktion von mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten, die [...] eine interpersonale

Habermas 139 Beziehung eingehen." Dabei suchen die Beteiligten eine Verständigung über die Handlungssituation, "um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen einvernehmlich zu koordinieren" (Habermas 1981, Bd. 1: 128). Habermas spricht in diesem Fall von einem Diskurs. Die Sprache ist dabei nicht nur Medium, sondern auch Gegenstand des Diskurses, da es um die Deutung von Sprechakten geht (Beispiele: "Wie hast du das gemeint?"; "Das habe ich anders verstanden!"; "Wie können wir uns einigen?" etc.). Ein Weltbezug wird daher nur indirekt hergestellt. Entscheidend ist dabei, daß prinzipiell alle Geltungsansprüche der Kritik unterworfen werden können. Bei einem so erzielten Einverständnis handelt es sich nach Habermas um einen rationalen (vernünftigen) Konsens. Nun ist das Dissensrisiko in kommunikativen Handlungen solange relativ gering, als gemeinsam geteilte Traditionen (z.B. mythische Weltbilder) und Normbestände die handelnden Personen mit Gewißheiten versehen, die selten enttäuscht oder gar systematisch in Frage gestellt werden. Habermas kann aber die Gewißheiten, auf die sich Menschen in ihren alltäglichen Handlungen stützen, nicht aus den spontanen kommunikativen Handlungen selbst herleiten. Er geht vielmehr davon aus, daß die kommunikativ Handelnden immer schon in eine Lebenswelt eingebettet sind und, daß das (traditionell) bereitgestellte Hintergrundwissen, seine normativen Obligationen und individuellen und kollektive Identitäten, die Gewißheiten und das Vertrauen besorgen, "die für die risikoabsorbierende Rückendeckung eines massiven Hintergrundkonsenses" notwendig sind. (Habermas 1988: 85) Auf diesen Komplementärbegriff zum kommunikativen Handel kommen wir nun zu sprechen.

2.2.1 Lebenswelt Das Lebensweltkonzept gewinnt Habermas in kritischer Auseinandersetzung mit Schütz und Luckmann. Die Fragestellung, die ihn jedoch zur Aufnahme des Lebensweltkonzeptes nötigt, weil er einen Komplementärbegriff zum kommunikativen Handeln braucht, gewinnt er, wie erwähnt, insbesondere aus den Werken Meads und Dürkheim. Wie Dürkheim begibt sich Habermas auf die Suche nach den Voraussetzungen und Bedingungen sozialer Integration und Desintegration. Er weiß, daß sein u.a. an Mead gewonnenes Model symbolisch und sprachlich vermittelter Interaktion einer Ergänzung bedarf, um die Herkunft der Wissens- und Deutungsreserven, aus denen die sozialen Akteure in Handlungssituationen schöpfen, erklären zu können. Sicherlich, soziale Akteure orientieren ihre Handlungen an eigenen Situationsdeutungen, dabei stellt die Situation einen thematisch ausgegrenzten Ausschnitt der Lebenswelt dar. Es ist, laut Habermas, zunächst das lebensweltliche Hintergrundwissen, aus dem die Akteure in den jeweiligen situativen Handlungszusammenhängen schöpfen. Kommunikativ Handelnde bewegen sich "immer schon" im Horizont der Lebenswelt, deren Deutungsreserven zugleich auch die Voraussetzungen teleologischen/zielorientierten strategischen Handelns bilden (Habermas 1981, Bd. 2: 192 ff): "Die kommunikativ Handelnden bewegen sich stets innerhalb des Horizonts ihrer Lebenswelt; aus ihm können sie nicht heraustreten. Als Interpreten gehören sie selbst mit ihren Sprechhandlungen der Lebenswelt an, aber sie können sich nicht auf etwas in der Lebenswelt in derselben Weise beziehen wie auf Tatsachen, Normen oder Erlebnisse." (TkH 2: 192)

140 Theorien der Gesellschaft Daher spricht Habermas auch davon, daß die Lebenswelt gleichsam der transzendentale Ort sei, an dem sich die einander begegnenden Akteure auf etwas in der objektiven, der sozialen oder der Welt subjektiver Befindlichkeiten beziehen können: "Jede Sprechhandlung kann im Ganzen stets als ungültig kritisiert werden: als unwahr im Hinblick auf eine gemachte Aussage (bzw. die Existenzpräsuppositionen des Aussageinhalts); als unrichtig im Hinblick auf bestehende normative Kontexte (oder die Legitimität der vorausgesetzten Normen); und als unwahrhaftig im Hinblick auf die Intention des Sprechers." (Habermas 1988: 79) Wann auch immer sich Akteure in der Alltagspraxis auf Tatsachen, Normen und Erlebnisse oder Befindlichkeiten berufen, sie können dies nur im Rekurs auf kulturelle Wissens- und Deutungsvorräte und Sprache. In aktuellen Kommunikationssituationen bleibt die Lebenswelt stets die Deckungsreserve situationsspezifischer Thematisierungen, wie folgendes Beispiel verdeutlichen soll: Beispiel: Herr M eilt eine belebte Einkaufsstraße entlang. Es ist Mittag. Er möchte unbedingt noch vor Ladenschluß ein Geschenk iur seine Frau kaufen. Sie hat morgen Geburtstag. Während er in Gedanken vertieft ist, womit er sie diesmal überraschen könnte, hört er plötzlich ein Geräusch, dann ruft jemand "Achtung" und es gelingt ihm gerade noch auszuweichen. Ein Dachziegel ist knapp an seinem Kopf vorbeigesaust und gleich neben ihm mit einem lauten Krach auf dem Boden aufgeschlagen. Einige der vorbeilaufenden Menschen halten inne, schauen kurz auf und gehen dann weiter. Jetzt erst sieht Herr M, daß das Haus, neben dem er steht, eingerüstet war und einige Arbeiter auf dem Dach zu Gange waren. Einer ruft ihm zu: "Ist alles in Ordnung? Sind sie verletzt?" Herr M nickt verstört und geht wortlos weiter. Die Handlungssituation von Herrn M stellt sich dar als ein Bereich von Handlungsmöglichkeiten und Verständigungsbedürfnissen (Habermas 1981, Bd. 2: 187f.). Sie ist geprägt von einem Thema - der Geburtstag seiner Frau - und ein darauf bezogenes Ziel, das Geschenk. Um dieses Ziel zu erreichen verfolgt er einen Plan. Er möchte auf der Einkaufsstraße nach etwas Geeignetem suchen. Der normative Rahmen seiner Situation ist davon geprägt, daß er mit seiner Frau schon seit acht Jahren verheiratet ist und sie von ihm, wie es nun mal üblich ist, ein Geschenk erwartet. Sie liebt Überraschungen. Der zeitliche Kontext ist durch die Mittagspause bestimmt und der räumliche durch die vielbelebte Einkaufsstraße. Damit ist er beschäftigt. Was um ihn herum passiert, interessiert ihn wenig, bis ihn der Dachziegel fast erwischt. Jetzt sieht er seine Situation plötzlich mit neuen Augen: Da sind Gegenstände, Häuser und Menschen, die für ihn plötzlich relevant geworden sind. Hätte der Bauarbeiter ihn nicht gewarnt, wäre um ein Haar sein Plan (Geschenk) vereitelt worden und er hätte den Geburtstag seiner Frau vermutlich im Krankenhaus verbracht. Die objektive Situation hat sich für Herrn M auch nach seiner (fast) Begegnung mit dem Dachziegel kaum verändert. Trotzdem hat sich das Thema und mit ihm der Horizont der Situation verschoben. Den Geburtstag seiner Frau hat er für einen Moment vollkommen vergessen. Er erlebt sich und seine Situation aus einer vollkommen neuen Perspektive. An dieser Stelle führt Habermas seinen Begriff der Lebenswelt ein.5 Die Lebenswelt ist der gesamte Horizont, der unsere aktuelle Situation objektiv, sozial und subjektiv bestimmt. Sie bildet den stets präsenten Hintergrund für unser 5

Zur Auseinandersetzung mit dem Lebensweltkonzept siehe Matthiesen (1983), Bauer (1987) und Balkenhol (1991).

Habermas 141 Handeln im Alltag. In diesen "beweglichen Horizont" (Habermas 1981, Bd. 2: 188) ist die Handlungssituation der Beteiligten eingebettet. Sie bildet das momentane Zentrum der Lebenswelt, das sich jederzeit - etwa durch einen herunterfallenden Dachziegel wieder verschieben kann. Die Lebenswelt verschiebt sich jedoch nicht. Der Unterschied zwischen Lebenswelt und Situation besteht darin, daß die Lebenswelt die selbstverständliche, mit Gegenständen und Menschen durchzogene und Gefühlen besetzte Umgebung ist, in der wir uns tagtäglich bewegen. Sie ist für uns "so unproblematisch, daß wir uns gar nicht aus freien Stücken, nach Belieben, irgendwelche Teile davon zu Bewußtsein bringen können" (Habermas 1985: 187). Die Situation ist dagegen nur ein "im Hinblick auf ein Thema" ausgegrenzter Ausschnitt aus der Lebenswelt (Habermas 1981, Bd. 2: 194). Wenn wir mehr über die Lebenswelt erfahren wollen, lohnt es sich, die Abenteuer des Herrn M weiter zu verfolgen: Das Erlebnis mit dem Dachziegel hat Herrn M ganz aus seinem Konzept geworfen. Für einen Moment hatte er sogar vergessen, warum er überhaupt in der Stadt unterwegs war. Außerdem war er spät dran. Das Büro wartete. Also schnell in den Kaufhof! Nach einigem Suchen findet er einen wunderschönen Schal. "Genau das Richtige für meine Frau!", denkt er sich. Aber der Preis des Kleidungsstücks ist nicht ausgezeichnet. Er schaut sich um. Ah, dort hinten ... "Könnten Sie mir vielleicht weiterhelfen? Was kostet dieser Schal", fragt er eine Frau, die bei den Hosen steht. "Tut mir leid, ich bin keine Verkäuferin", antwortet sie ihm freundlich. Das ist Herrn M peinlich: "Tut mir leid." Aber zugleich ist er ärgerlich: "Wo ist denn das ganze Verkaufspersonal? Es ist ja nicht einmal jemand an der Kasse!" Die Frau lächelt ihn an und meint scherzhaft: "Die sind wahrscheinlich alle auf dem Arbeitsamt und schauen sich nach neuen Jobs um. - Ich weiß auch nicht, vielleicht ist das Personal in der Mittagspause." Herr M lächelt. Innerlich ist er aber verärgert. Es ist gerade kurz vor eins. Da er dringend ins Büro zurück muß, beschließt er, heute abend wieder vorbeizuschauen und dann - mit etwas Glück - das begehrte Teil zu kaufen. Er will ja nicht ohne Geschenk für seine Frau dastehen. Diese kleine Begebenheit ist ein anschauliches Beispiel, wie die gemeinsame Lebenswelt durch kommunikatives Handeln hergestellt wird. Herr M weist Frau X die Rolle der Verkäuferin zu und begibt sich ihr gegenüber komplementär in die Rolle des Kunden. Bisher ist die Begegnung ein Muster für normenreguliertes Handeln. Seine Beziehungsdefinition erweist sich jedoch als falsch, da Frau X den Richtigkeitsanspruch hinter seiner Frage nicht teilt. Ihre Situationsdefinition ist eine andere. Entsprechend wechselt sie auf die Ebene des Diskurses, indem sie die Situation thematisiert und seine falsche Annahme korrigiert, daß Frau X eine Verkäuferin sei. Herr M diskutiert nicht lange und akzeptiert den von ihr vertretenen Geltungsanspruch. Es ist kaum anzunehmen, daß Frau X eine Verkäuferin ist, die ihn absichtlich täuscht, indem sie sich als Kundin ausgibt. Die Störung ist behoben, die Beteiligten haben ihre wechselseitigen Situationsdefinitionen abgeglichen und befinden sich wieder in einer gemeinsamen Lebenswelt. Der Schlüssel dazu lag im Diskurs. Als Ganzes wird das lebensweltliche Hintergrundwissen jedoch nie thematisierbar, es kann nicht in gleicher Weise wie Fakten, Normen und subjektives Befinden zum Thema von Interaktionen gemacht werden: "Nur die begrenzten Ausschnitte der Lebenswelt, die in einen Situationshorizont hereingezogen werden, bilden einen thematisierungsfähigen Kontext verständi-

142 Theorien der Gesellschaft gungsorientierten Handelns und treten unter der Kategorie des Wissens auf." (Habermas 1981, Bd. 2: 189) In Alltagssituationen verläuft Kommunikation zwar in der Regel, wie obiges Beispiel zeigt, aber keineswegs immer, unproblematisch. Je nach Handlungssituation können Fakten, Normen und die Wahrhaftigkeit von Sprecherintentionen und Befindlichkeiten thematisch und strittig werden. Themen wie die Spendenaffäre der CDU, oder die Nutzung der Gentechnologie zeigen, daß hier Situationsdefinitionen im Hinblick auf Fragen der Wahrheit, der moralischen Richtigkeit und der Wahrhaftigkeit strittig werden. Zielorientiertes oder teleologisches Handeln setzt einen Konsens der Akteure über die Situationsdefinition voraus (Habermas 1981, Bd. 2: 194). Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, bedarf es der Aushandlung einer gemeinsamen Situationsdefinition, sonst können die Akteure ihre Handlungsziele zumindest nicht mehr auf dem Wege kommunikativen Handelns erreichen. Verständigung über eine, dann jeweils in kooperativen Deutungsprozessen auszuhandelnde Situationsdefinition, muß dabei einerseits aus den Deutungs- und Wissensvorräten der jeweiligen Akteure schöpfen, zugleich können sie diese aber auch verändern und durch neue Situationsdefinitionen den Grenzverlauf zwischen äußerer Natur, Gesellschaft und innerer Natur neu bestimmen (Habermas 1981, Bd. 2: 186). Habermas deutet Schütz und Luckmanns Lebensweltkonzept kommunikationstheoretisch um, indem er auf die intersubjektiv erzeugte Lebenswelt verweist, zugleich schließt er an Dürkheims Begriff des Kollektivbewußtseins an: "Wenn wir die Lebensweltanalyse als einen Versuch verstehen, das, was Dürkheim Kollektivbewußtsein genannt hat, aus der Innenperspektive der Angehörigen rekonstruktiv zu beschreiben, könnte der Gesichtspunkt, unter dem Dürkheim den Strukturwandel des Kollektivbewußtseins betrachtet hat, auch für eine phänomenologisch ansetzende Untersuchung instruktiv sein. Die von Dürkheim beobachteten Differenzierungsvorgänge lassen sich dann so verstehen, daß die präjudizierende Gewalt über die kommunikative Alltagspraxis in dem Maße verliert, wie die Aktoren Verständigung eigenen Interpretationsleistungen verdanken. Den Prozeß der Differenzierung der Lebenswelt begreift Dürkheim als Auseinandertreten von Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit; diese müssen wir freilich erst einmal als strukturelle Komponenten der Lebenswelt einführen und erklären." (Habermas, 1981, Bd. 2: 203) Die Annahme einer in sich differenzierten Lebenswelt zwingt Habermas den kulturalistisch verkürzten Begriff der Lebenswelt um die Sozial- und Persönlichkeitsdimensionen zu erweitern. Er schlägt einen dreidimensionalen Begriff der Lebenswelt vor, der sich in Kultur, Sozial- und Persönlichkeitsdimension gliedert (Habermas 1981, Bd. 2: 203ff). Es sind nicht nur die Handlungsalternativen situativ beschränkende Wissens- und Deutungsvorräte, die die Handlungssituationen strukturieren, sondern auch normative institutionelle Ordnungen und Persönlichkeitsstrukturen. Normen, Erlebnisse und Empfindungen haben einen Doppelstatus insofern, als sie zum Thema kommunikativen Handelns werden können, andererseits aber auch strukturelle Komponenten der Lebenswelt bilden (siehe Habermas 1981, Bd. 2: 211-223). Habermas möchte auf eine theoretische Darstellung der Reproduktionsprozesse der Lebenswelt im ganzen hinaus. Die nötigt ihn, den aus der Teilnehmelperspektive gewonnenen Lebensweltbegriff zurückzustellen, es geht ihm ja nicht darum, zu zeigen, wie sich Individuen in Handlungssituationen behaupten, sondern um die Antwort auf die Frage "wie behauptet sich die Lebenswelt, aus der jede Situation nur einen Ausschnitt bil-

Habermas 143 det." (Habermas 1981, Bd. 2: 207). Über das Alltagsweltkonzept der Lebenswelt - die Erzählperspektive dient ihm hier als Grundlage zur Entwicklung eines analytischen Lebensweltkonzeptes - arbeitet sich Habermas zu den Funktionen vor, die die drei Komponenten der Lebenswelt Kultur (kulturelle Reproduktion), Gesellschaft (soziale Integration) und Persönlichkeit (Sozialisation) erfüllen müssen, damit die Lebenswelt sich als ganzes reproduzieren kann (siehe Tabelle 1). So glaubt Habermas, die Bedingungen angeben zu können, unter denen sich die symbolischen Strukturen der Lebenswelt (Kontinuierung von Wissen, Stabilisierung von Solidaritäten und Sozialisation kompetenter zurechnungsfähiger Akteur) reproduzieren können.

Strukturelle Komponenten Kultur

Gesellschaft

Politik

Reproduktionsprozesse

Kulturelle Reproduktion

Soziale Integration

Sozialisation

konsensföhige Deutungsschemata ("gültiges Wissen")

Obligationen

InterpretationsLeistungen

Legitimationen

Bildungswirksame Verhaltensmuster, Erziehungsziele

Legitim geordnete Interpersonelle Beziehungen

Soziale Zugehörigkeit

Motivationen Für normenkonforme Handlungen

InteraktionsFähigkeiten ("personale Identität")

Tabelle 1: Beiträge der Reproduktionsprozesse zur Erhaltung der strukturellen Komponenten der Lebenswelt (zitiert nach Habermas 1981, Bd. 2: 214) Wieder steht für Habermas der Begriff des kommunikativen Handelns im Zentrum: "Unter dem funktionalen Aspekt der Verständigung dient kommunikatives Handeln der Tradition und der Erneuerung kulturellen Wissens; unter dem Aspekt der Handlungskoordinierung dient es der sozialen Integration und der Herstellung von Solidarität; unter dem Aspekt der Sozialisation schließlich dient kommunikatives

144 Theorien der Gesellschaft Handeln der Ausbildung personaler Identitäten." (Habermas 1981, Bd. 2: 208; Hervorhebungen im Original)6 Damit hat Habermas jene Elemente benannt, die über die zu einem Netz kommunikativer Alltagspraktiken7 verwobenen Interaktionen zur Reproduktion der Strukturen der Lebenswelt beitragen.8 Er hat damit auch die Grundlage für ein Krisenmodell der Gesellschaft gelegt, die er über eine kritische Diskussion der Anomietheorie (Dürkheim), der Thesen des Sinn- und Freiheitsverlustes und der Bürokratisierung (Weber) und der Verdinglichungsthese (Marx, kritische Theorie) entwickelt. Diese zu entfalten, bedarf es jedoch der Erweiterung der Gesellschaftstheorie um eine systemtheoretische Komponente. Von der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt unterscheidet Habermas die materielle Reproduktion, die sich "im Medium der Zwecktätigkeit (...) vollzieht" (Habermas 1981, Bd. 2: 209). Beide Prozesse, symbolische Reproduktion der Lebenswelt - obwohl verständigungsorientiertes Handeln als anthropologisch fundamental betrachtet wird (Habermas 1981, Bd. 2: 217) - und deren materielle Reproduktion unterliegen sozio-kulturellen Evolutionsprozesse. Die Strukturen geschichtlicher Lebenswelten variieren in Abhängigkeit von (sozialen, kognitiven und moralischen) Lernprozessen. Den Kern der Habermasschen Theorie der Ausdifferenzierung der Lebenswelt besagt, daß mit jeder fundamentalen Veränderung der Interaktionsformen auch ein Rationalitätszuwachs einhergeht. Schließlich setzt sich im Prozeß der soziokulturellen Evolution der rationale auf Argumente gestützte Diskurs als zentrale Verständigungsform durch (Habermas 1981, Bd. 2: 218ff). 9 Auf den Prozeß der Rationalisierung und Ausdifferenzierung der Lebenswelt kann hier nicht genauer eingegangen werden, Stichworte müssen genügen: • Zunehmende Entkopplung von Weltbildern und dem Institutionensystem. • Zunehmende Erweiterung des Möglichkeitsspielraumes für die Entwicklung interpersonaler Beziehungen. • Dauerrevision diskursiv verflüssigter Traditionen durch die Kritikbereitschaft und Kompetenz sprach- und handlungsfähiger Individuen. • Universalistische prinzipiengeleitete Moralvorstellungen die sich auch im positiven Recht niederschlagen. • Durchsetzung diskursiver Verfahren und Formen diskursiver Willensbildung. • Formale Erziehungsprozesse und Autonomisierung des Bildungssystems. Dieses im kommunikativen Handeln prinzipiell angelegte Rationalitätspotential kann sich erst in der Modernen durch die Einübung des Prinzips egalitär-diskursiver 6

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Aus Tabelle 1 sind dann auch die Beiträge, die die einzelnen Reproduktionsprozesse für die anderen Komponenten der Lebenswelt leisten ersichtlich. Ausfuhrlicher dazu Habermas (1981, Bd. 2: 213ff). Kommunikatives Handeln besorgt in diesem Sinne sowohl die Tradierung, Kritik und Erwerb kulturellen Wissens, als auch Handlungskoordinierungs- und Identitätsbildungsleistungen (Habermas 1981, Bd. 2: 216ff). Habermas möchte mit diesem Konzept der Lebenswelt Verengungen vermeiden, die entstehen, sofern, wie in der Wissenssoziologie (Kultur), der Gesellschaftstheorie in der Tradition Dürkheims (Integration) oder der Sozialisationstheorie (Persönlichkeit), nur jeweils eine Komponente der Lebenswelt betont wird. Zur evolutionären Durchsetzung egalitär-diskursiver Verständigungsmechanismen siehe Eder (1985) aus phylogenetischer und Miller (1986) aus ontogenetischer Sicht.

Habermas 145 Verständigung voll entfalten (Habermas 1981, Bd. 2: 220ff und Eder 1985). Jedoch stellt Habermas dieser optimistischen Lesart des Modernisierungsprozesse eine Theorie des gesellschaftlichen Pathogenese zur Seite, dabei wiederum an Weber, Dürkheim und Marx anschließend. Die oben in groben Zügen nachgezeichnete Folie der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt wird von Habermas gleichsam über Dürkheims Konzepte der organischen Solidarität und der Anomietheorie gelegt (Habermas 1981, Bd. 2: 221 ff). Habermas fuhrt nun mögliche Pathologien, wie Sinnverlust, Anomie und Entfremdung, nicht auf die Prozesse der Rationalisierung der Lebenswelt zurück, sondern verweist auf Dürkheims Theorie der Teilung der Arbeit und Marxens Kritik der Produktionsverhältnisse anspielend, auf die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme. Er wählt also "einen materialistischen Zugang zu Störungen der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt." (Habermas 1981, Bd. 2: 222). Damit muß Habermas sich den Sphären der materiellen Reproduktion zuwenden.

2.2.2 Entkopplung von System und Lebenswelt Die Handlungstheorie bedarf einer systemtheoretischen Ausweitung, denn gesellschaftliche Integration vollzieht sich eben nicht nur unter den Voraussetzungen verständigungsorientierten Handelns. Gesellschaft ist vielmehr zugleich als System und als Lebenswelt zu konzipieren (Habermas 1981, Bd. 2: 222ff), weil die zielgerichteten Handlungen der Akteure "nicht nur über Prozesse der Verständigung koordiniert, sondern über funktionale Zusammenhänge, die von ihnen nicht intendiert sind und innerhalb des Horizonts der Alltagspraxis meistens auch nicht wahrgenommen werden." (Habermas 1981, Bd. 2: 226-227). Habermas schlägt ein Modell evolutionärer Entkopplung von Lebenswelt und System vor, daß Sozial- und Systemintegration unterscheidet. Für Habermas gilt hierbei - evolutionär betrachtet - das Primat der Lebenswelt, denn die objektiven Bedingungen für eine Ausdifferenzierung funktionaler Subsysteme, wie Staat oder Markt, sind erst im Verlaufe der sozialen Evolution aus lebensweltlichen Zusammenhängen hervorgegangen (Habermas 1981, Bd. 2: 230). Es handelt sich daher bei der Systembildung und Differenzierung um einen Differenzierungsvorgang 2. Ordnung. Nicht Stammesgesellschaften oder traditionale staatlich organisierte Gesellschaften, sondern erst moderne Gesellschaften verfügen über, durch das entsprachlichte Steuerungsmedium Geld, integrierte Wirtschaftssysteme und Märkte und über ein System administrativer Verwaltung, das über das Machtmedium mit dem Staatsbürger und dem Klienten "kommuniziert". Warenverkehr und bürokratische Austauschprozesse funktionieren also erst in der modernen Gesellschaft über weitgehend entsprachlichte Kommunikationsmedien. In Stammesgesellschaften bleiben die Mechanismen der Sozial- und Systemintegration noch weitgehend verschränkt (Habermas 1981, Bd. 2: 233-246). Im Prozeß sozialer Evolution gehen nacheinander jedoch vier Mechanismen der Differenzierung in Führung. 1. Egalitäre Stammesgesellschaften sind - basierend auf den Tauschmodus segmentär differenziert. Sie zeichnen sich durch mythische Bewußtseinsstrukturen und Familienstrukturen aus. Religiösen Deutungsmuster geben den Verwandtschaftssystemen ihre bindende Kraft. Die drei Dimensionen der Lebenswelt treten hier ebensowenig auseinander wie System- und Sozialintegration. Die sozialen Zugehörigkeiten der Stämme bestimmen sich über Verwandtschaftsbeziehungen. Rollendifferenzierungen

146 Theorien der Gesellschaft beziehen sich auf Geschlecht, Generation und Abstammung. Die Ökonomie ist als Subsistenzökonomie noch nicht aus der Lebenswelt ausdifferenziert. 2. Hierarchisch gegliederte Stammesgesellschaften sind durch Stratifikation charakterisiert und Handlungen werden einer weitgehend über den Machtmodus koordiniert. Macht ist jedoch noch nicht als generalisiertes Steuerungsmedium von der lebensweltlichen Kommunikation abgekoppelt. Unklar bleibt bei Habermas, was den Subsistenzdruck der Stammesgesellschaften soweit erhöhte, daß ein Anreiz für eine funktionale Spezifizierung der Arbeit entstand. Jedenfalls scheint der Subsistenzdruck jenes Systemproblem zu bezeichnen, daß Stammesgesellschaften zu Arbeitsteilung und zur Suche nach wirksameren und wenig aufwendigen Mitteln der Subsistenzsicherung motivierte. Damit löst sich erfolgsorientiertes Handeln aus dem Bereich lebensweltlichen verständigungsorientierten Handelns, hierarchisch organisierte Stammesgesellschaften entstehen. Dennoch bleibt segmentäre Differenzierung über Tausch und hierarchische Differenzierung über Macht an Geschlechts- und Generationsrollen gebunden. Das Verwandtschaftssystem bleibt auch in hierarchischen Stammesgesellschaften noch die Institution, die für Systemintegration und Sozialintegration verantwortlich ist. Die Verankerung des systemischen Mechanismus der Stratifikation erfolgt über das Statussystem, in dem die Abstammungsgruppen voneinander differenziert werden. 3. Staatlich organisierte Klassengesellschaften koordinieren Handlungen über den Machtmodus, basieren aber bereits auf unähnlich funktional spezifizierten Einheiten. In staatlich organisierten Klassengesellschaft treten Sozial- und Systemintegration auseinander. Verwandtschaftsstrukturen und Statussysteme können die systemische Integration nicht mehr sicherstellen. In der staatlich organisierten Klassengesellschaft erfolgt die institutionelle Verankerung der systemischen Integrationsmechanismen in der Lebenswelt über politische Ämter. Zugleich aber gelingt noch keine Ausdifferenzierung generalisierter Kommunikationsmedien. Macht und Geld und Wirtschaftssystem und staatliche Organisation können sich noch nicht gegeneinander ausdifferenzieren. 4. In modernen ökonomisch konstituierten Klassengesellschaften sind es generalisierte Steuerungsmedien (Geld, Macht), die für eine Differenzierung und Integration der Subsysteme Wirtschaft und staatliche Administration Sorge tragen. In ihnen geht der systemisch induzierte Tausch- und Machtmechanismus evolutionär in Führung. Gemäß der Theorie des kommunikativen Handels sind die Medien Macht und Geld der Subsysteme Markt und Staat weitgehend gegenüber den moralisch praktischen Grundlagen der Lebenswelt abgekoppelt, aber sie bedürfen gleichwohl - qua Institutionalisierung der Privatrechtsordnung - einer Verankerung in der Lebenswelt, weil es das Subsystem der Gesellschaft ist, "das den Bestand des Gesellschaftssystems im ganzen definiert." (Habermas 1981, Bd. 2: 230) Habermas weist jedoch daraufhin, daß es für diese vier Transformationen einer institutionellen Basis in der Lebenswelt bedürfe. Diese Institutionen setzen wiederum Lernprozesse voraus und Gesellschaften lernen, wenn sie Systemprobleme lösen (Habermas 1976, 1981, Bd. 2: 464ff und 257-267; expliziter zur Lerntheorie aber Eder 1985 und Miller 1986). Moral und Recht müssen dabei Schrittmacherfunktionen übernehmen, bevor Subsysteme auf höherem Niveau ausdifferenziert werden können Stichwort: Rationalisierung der Lebenswelt (Habermas 1981, Bd. 2: 203ff). Der Prozeß der Rationalisierung der Lebenswelt zeichnet sich durch eine schrittweise

Habermas 147 Freisetzung des Rationalitätspotentials kommunikativen Handels aus. Schließlich lösen sich Moralvorstellungen von traditionalen Beständen. Prinzipiengeleitete Moralvorstellungen und formale Rechtsvorstellungen herrschen vor. Deutungsmuster und Wissensbestände müssen einer diskursiven Prüfung und Tradierung standhalten. Wissen, Moral und subjektives Befinden ist nun ständig der Kritik ausgesetzt und muß sich an den Geltungsansprüchen der Wahrheit, Richtigkeit und der Wahrhaftigkeit messen lassen. Zugleich erfolgt aber auch eine stärkere Trennung von zweck- und verständigungsorientiertem Handeln. Damit deutet Habermas über die Begriffe System und Lebenswelt Webers Bürokratisierungs- und Rationalisierungsthesen um. Bei Weber wird die Strukturierung modernen Verwaltungs- und Wirtschaftshandelns durch deren Umstellung von wertrationalem auf zweckrationales Handeln erläutert, das wiederum in terms methodisch rationaler Lebensführung aus dem Geist des Kapitalismus - der protestantischen Ethik - bezogen wird. Habermas unterstellt für den Übergang von feudalen zu modernen Gesellschaften Systemprobleme, die für die Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften einen evolutionären Anschub boten und die zur Entwicklung der modernen Staatsgewalt und zum kapitalistischen Betrieb führten. Bei Habermas werden die "protestantischen Sekten" als jene Gruppen beschrieben, die ein kognitives und moralisches Potential entwickelten, das schließlich Eingang in die Deutungssysteme und Wissensvorräte der Gesellschaften fand. Nur in der jüdisch-christlichen Tradition standen den entstehenden zivilgesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Institutionen, die in den Weltbildern verkörperten Rationalitätsstrukturen zur Verfügung, die zum einen in unterschiedliche Wertsphären differenzierten Weltverständnis mit entsprechenden Moral- und Rechtsvorstellungen führten (universalistische, posttraditionale, prinzipiengeleitete Moral; positiv gesetztes Recht, Buchhaltung etc.). Es entwickelt sich "ein auf Satzungs- und Begründungsprinzip beruhendes Recht" (Positivierung, Formalisierung und Legalisierung des Rechts) und eine auf der methodischen Lebensführung beruhende Berufskultur. Indem die Gesellschaften, die in den Deutungssystemen enthaltenen Moral- und Rechtsvorstellungen institutionell nutzen konnten, wurde nicht nur eine neue Form der Sozialintegration, sondern auch eine Entwicklung der Produktivkräfte und damit die Lösung von Systemproblemen möglich (Habermas 1981, Bd. 2: 464ff), wobei - und dies ist für Habermas' Krisentheorie wichtig - das Rationalisierungspotential in den Institutionen immer nur selektiv genutzt wird (siehe u.a. Habermas 1981, Bd. 2: 467). Die einzelnen Stufen und Mechanismen des evolutionären Lernprozesses, der zur Ausdifferenzierung einer posttraditionalen Lebenswelt mit ihren spezifischen privaten und öffentlichen Rollenstrukturen (Hommes, citoyen) und zur Etablierung moderner Markt- und Verwaltungssysteme führte, bleiben bei Weber, wie auch bei Habermas weitgehend offen (siehe Habermas 1981, Bd. 2: 468ff und weiterführend Thompson 1987, Eder 1985). Weder die Institutionalisierung des Geldmediums in der bürgerlichen Privatrechtsordnung, noch die rechtlichen Voraussetzungen des modernen Verwaltungsstaates lassen sich problemlos schon aus den Moralvorstellungen der protestantischen Sekten und dem Modus des zweckrationalen Handelns "herleiten". Die bürgerlichen Revolutionen und folgende soziale Massenbewegungen (Arbeiterbewegung, Frauenbewegung) haben ihrerseits weitere Rationalitätspotentiale freisetzen können (Eder 1985). Voraussetzung der Entkopplung der formal organisierten Handlungsbereiche Wirtschaft und Staat, bleibt aber die entsprechende Rationalisierung und Ausdifferenzierung der Lebenswelt:

148 Theorien der Gesellschaft "Die Verrechtlichung von sozialen Beziehungen erfordert ein hohes Maß an Wertgeneralisierung, die weitgehende Entbindung von normativen Kontexten sowie die Aufspaltung der konkreten Sittlichkeit in Moralität und Legalität. Die Lebenswelt muß soweit rationalisiert sein, daß sittlich neutralisierte Handlungsbereiche mit Hilfe formaler Verfahren der Normsetzung und Begründung legitim geregelt werden können. Die kulturelle Überlieferung muß schon so weit verflüssigt sein, daß legitime Ordnungen traditionsfester dogmatischer Grundlagen entbehren können. Und Personen müssen innerhalb des Kontingenzspielraums abstrakt und allgemein normierter Handlungsbereiche schon so weit autonom handeln können, daß sie ohne Gefährdung der eigenen Identität von moralisch definierten Zusammenhängen verständigungsorientierten Handelns auf rechtlich organisierte Handlungsbereiche umschalten können." (Habermas 1981, Bd. 2: 469-470) Bis heute hält Habermas an der Auffassung fest, daß Recht und Moral die Schaltelemente bilden, über die Strukturen der Lebenswelt mit den systemischen Sphären in Verbindung bleiben. Recht ist anders als bei Luhmann, ebenso wie die Wissenschaft und die Kunst, eben nicht als autopoietisches System verstanden, sondern waltet an den Nahtstellen von System und Lebenswelt (Habermas 1992), wobei die Grenze zwischen System und Lebenswelt, "zwischen den Subsystemen Wirtschaft und bürokratisierten Staatverwaltung einerseits, der (von Familie, Nachbarschaft, freien Assoziationen getragenen) privaten Lebenssphären sowie der Öffentlichkeit (der Privatleute und der Staatsbürger) andererseits verläuft." (Habermas 1981, Bd. 2: 458) Aber die Rückbindung der weitgehend entsprachlichten und über generalisierte Steuerungsmedien gelenkten Prozesse systemischer Integration an diejenigen der sozialen Integration müssen nicht reibungslos gelingen. Damit gelangt Habermas zu einer Revision der These des Sinn- und Freiheitsverlustes von Weber und zur These der Kolonialisierung der Lebenswelt durch verselbständigte systemische Imperative.

2.3 These der Kolonialisierung der Lebenswelt Nach Habermas, bedarf die auf kommunikativem Handeln basierende Lebenswelt einer kulturellen Überlieferung, die nicht kognitiv-instrumentell vereinseitigt ist. Nur die kommunikative Rationalität, die im Prinzip egalitär-diskursiver Verständigung steckt und nicht die Zweckrationalität strategisch-instrumentellen Handelns, kann das Vernunftpotential moderner Gesellschaften voll zur Geltung bringen (Habermas 1988, Dryzek 1990). Dazu bedarf es u.a. einer funktionierenden Öffentlichkeit und eine gegen systemische Instrumentalisierung geschützte Privatsphäre (Habermas 1962). "In der kommunikativen Alltagspraxis müssen sich kognitive Deutungen, moralische Erwartungen, Expressionen und Bewertungen durchdringen und über den Geltungstransfer, der in performativer Einstellung möglich ist, einen rationalen Zusammenhang bilden." (Habermas 1981, Bd. 2: 483) Die kommunikative Infrastruktur der Lebenswelt sieht Habermas nun in doppelter Weise bedroht, zum einen durch eine systemisch induzierte Verdinglichung der Ressourcen der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt, zum anderen durch kulturelle Verarmung die durch Ausbildung elitärer Expertenzirkel mitbedingt wird (Habermas 1981, Bd. 2: 483). Diese zweifache Pathologie der Gesellschaft läßt sich wie folgt zusammenfassen:

Habermas 149 • Anders als in Webers Sichtweise ist Verrechtlichung 10 (Zweckrationalität), die an die Stelle von Ethik (Wertrationalität) tritt, noch kein Zeichen einer pathologischen Entwicklung. Entsprechend zeigt Bürokratisierung nur an, daß es gelungen ist, ein neues Steuerungsmedium durch Legalisierung von Macht zu institutionalisieren. System und Lebenswelt stehen nun über die generalisierten Medien Macht und Geld in Beziehung. Zur lebensweltlichen Seite hin bildet sich die Institution der Kleinfamilie aus, die weitgehend von ökonomischen Funktionen entlastet ist. Zur Privatsphäre bildet die Öffentlichkeit Parteien, Presse, Massenmedien und Kulturbetrieb als jene gesellschaftliche Institutionen aus, die mit dem staatlichen Verwaltungsapparat in Verbindung stehen. Als kulturelle und politische Öffentlichkeit dienen diese Institutionen aus der Systemperspektive der Legitimationsbeschaffung für politische Entscheidungen und deren Umsetzungen. Weiterhin werden für gezahlte Steuern staatliche Organisationsleistungen erbracht. Auf der anderen Seite bilden die in der Lebenswelt verankerten Haushalte die Umwelt des Wirtschaftssystems, versorgen es gegen Arbeitseinkommen mit Arbeitskraft und die Nachfrage der Konsumenten wird idealiter mit Diensten versehen. Die Rollen des Klienten und des Arbeitnehmers sind dabei weitgehend organisationsabhängig und rechtsförmig organisiert. Die Rollen des Staatsbürgers und des Konsumenten sind hingegen weniger organisationsabhängig und bleiben zunächst stärker an lebensweltliche Kommunikationszusammenhänge und Willensbildungsprozesse rückgebunden (Habermas 1981, Bd. 2: 470-477). Aber auch hier wirkt sich in den Massendemokratien die größere Effektivität der systemischen Integrationskraft aus. Die generalisierten Medien Geld und Macht erleichtern - weil weitgehend entsprachlicht - die formalisierten Beziehungen zwischen den Systemen und den Akteuren, die in lebensweltlichen Institutionszusammenhängen handeln. Bürokratisierung bedeutet nicht notwendig Freiheitsverlust und der kapitalistischen Produktionsweise folgt nicht notwendig Sinnverlust (Habermas 1981, Bd. 2: 471). Diese zeitigen sich erst durch systemisch induzierte Vereinseitigung der Lebensstile und eine bürokratische Austrocknung der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit. Sie lassen den Genußmenschen ohne Herz und den Fachmenschen ohne Geist entstehen - Lebensstile, von denen Webers These vom Sinnverlust spricht. Also nicht Enttraditionalisierung oder Entzauberung, die Erosion der protestantischen Berufsethik, sondern systemische Imperative erzeugen, laut Habermas, fragmentiertes Bewußtsein, Anomie und Sinnverlust in den lebensweltlichen Zusammenhängen (Habermas 1981, Bd. 2: 477ff). "Wenn man diesen Trend der Entkoppelung von System und Lebenswelt auf die Ebene eine systematischen Geschichte der Verständigungsformen abbildet, verrät sich die unaufhaltsame Ironie des weltgeschichtlichen Aufklärungsprozesses: die Rationalisierung der Lebenswelt ermöglicht eine Steigerung der Systemkomplexität, die so hypertrophiert, daß die losgelassenen Systemimperative die Fassungskraft der Lebenswelt, die von ihnen instrumentalisiert wird, sprengen." (Habermas 1981, Bd. 2: 232-233) Erst wenn Konsum und Arbeit zum Selbstzweck, Reproduktion des Wirtschaftssystems und die Loyalität der Staatsbürger und fiskalische Abschöpfung zu Instrumenten der Reproduktion des Verwaltungsapparates werden und das Gemeinwohl dabei ebenso aus dem Blick gerät wie persönliche und kollektive Identitäten und Bedürfnisse, wird die Entkopplung von System und Lebenswelt pathologisch. Die Ratio10

Zur Frage von Recht, Verrechtlichung und Rationalität siehe Eder (1986a, 1986b, 1987), Peters (1991) und Habermas (1992).

150 Theorien der Gesellschaft nalisierung der Lebenswelt sollte über diskursive Verfahren und die Ausbildung kritischer Staatsbürger dafür sorgen, daß eine Kolonialisierung der Lebenswelt durch systemische Imperative verhindert werden kann. Aber auch im Prozeß der lebensweltlichen Rationalisierung kann es zu Fehlentwicklungen kommen, die sich allerdings von den systemisch induzierten unterscheiden. • Von der systemisch induzierten Verdinglichung lebensweltlicher Reproduktionsprozesse ist das Absterben "vitaler Überlieferungen" zu unterscheiden. Dieses "geht auf eine Ausdifferenzierung von Wissenschaft, Moral und Kunst zurück, die nicht nur das Autonomwerden von spezialistisch bearbeiteten Sektoren bedeutet, sondern auch die Abspaltung von den unglaubwürdig gewordenen Traditionen, die sich auf dem Boden der Alltagshermeneutik in entmächtigter Naturwüchsigkeit fortbilden." (Habermas 1981, Bd. 2: 483) In diesem Falle zerreißen die kommunikativen Bindungen zwischen Expertenkulturen und den anderen Akteuren der Zivilgesellschaft. Die kognitiven, moralischen und ästhetischen Potentiale können in der Alltagswelt nicht mehr genutzt werden. Habermas ist davon überzeugt, daß die symbolische Reproduktion der Lebenswelt anders als die materielle Reproduktion nicht ohne pathologische Nebeneffekte auf die Grundlage systemischer Integration umgestellt werden kann (Habermas 1981, Bd. 2: 476-477). Dies ist im Kern das Argument, auf dem Habermas' Konzept einer Pathogenese der Moderne basiert. Es ist nicht die Rationalisierung der Lebenswelt durch fortschreitende Verflüssigung, oder besser Diskursivierung, von Traditions- und Wissensbeständen, aber auch nicht die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme per se, die zu einer Krise im Projekt der Moderne fuhrt. • Zum einen ist, anders als bei Weber, die Bildung marktförmiger Beziehungen und der Bürokratisierung, also die Ausbildung der formal organisierten Handlungsbereiche, nicht zwangsläufig mit negativen Folgen für die lebensweltlichen Reproduktionsprozesse verbunden. Vielmehr deuten sie ein neues Niveau der Systemdifferenzierung an, wobei die Bereiche Staat und Wirtschaft nicht mehr über die Mechanismen der Verständigung integriert werden. (Habermas 1981, Bd. 2: 455) Während Weber die Zunahme der zweckrationalen Handlungsorientierungen und Bürokratisierung per se schon für den Sinn- und Freiheitsverlust und die Entstehung des ehernen Gehäuses der Hörigkeit verantwortlich macht, ist dies bei Habermas (1981, Bd. 2: 471) erst durch den Übergriff systemischer Imperative auf die Lebenswelt der Fall. Nur dann, wenn Bürokratisierung die Akteure des Sinnzusammenhangs ihrer eigenen Handlungen beraubt werden, wird Bürokratisierung pathologisch. • Anders verhält es sich mit dem Problem kultureller Verarmung. Für Weber führt der Prozeß der Entzauberung und Säkularisierung, d.h. die Erosion der protestantischen Berufsethik und die Durchsetzung eines instrumentalistischen Berufsverhältnisses, zu den Lebensstilen des Genußmenschen ohne Herz und des geistlosen Fachmenschen. Habermas sieht die Entzauberung, oder bei ihm, die kommunikative Verflüssigung von Traditionsbeständen, per se nicht als problematisch an, denn er glaubt, daß Diskurse, als Fortsetzung des kommunikativen Handels mit den Mitteln des sich an Geltungsansprüchen (Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit) orientierenden Argumentes, das Potential der Vernunft in der Moderne in Gestalt einer prozeduralen Rationalität retten können (Habermas 1981, Bd. 2: 451)." Gemeinsam mit Weber teilt 11

Diese Problematik verfolgt Habermas z.B. in Habermas (1984) und Habermas (1992). Dazu auch

Habermas 151 er die Auffassung, daß es nach der Entzauberung der religiösen und metaphysischen Weltbilder zu einer Ausdifferenzierung der lebensweltlichen Wertsphären Wissenschaft, Moral und Kunst und zur Institutionalisierung entsprechender Handlungssysteme kommt. Mithin kommt es nun auch zu einer internen Geschichte der Kunst, der Moral- und Rechtstheorie und vor allem der Wissenschaften (Habermas 1981, Bd. 2: 482) Alle drei Handlungsbereiche unterliegen ihrerseits Professionalisierungsprozessen. Indem sich nun z.B. Expertenkulturen ausbilden, gelangt das Reflexions- und Rationalitätspotential z.B. der Wissenschaften nicht mehr problemlos in den Besitz der Alltagspraxis der zivilgesellschaftlichen Bürger (Habermas 1981, Bd. 2: 482). Selbst wenn also wissenschaftliche, moralische oder künstlerische Rationalitätsgewinne in den drei entsprechenden Handlungssystemen zu verzeichnen sind, so kommen diese nicht zwangsläufig der Alltagspraxis als ganzem zu gute. Darin liegt nun das Moment kultureller Verarmung, ein Prozeß, der durch die Kolonialisierung der Lebenswelt noch beschleunigt werden kann (Habermas 1981, Bd. 2: 488). strukturelle Komponenten Störungen im Bereich der

Kultur

Gesellschaft

Person

Bewertungsdimension

Kulturelle Reproduktion

Sinnverlust

Legitimationsentzug

Orientierungsund Erziehungskrise

Rationalität des Wissens

Soziale Integration

Verunsicherung der kollektiven Identität

Anomie

Entfremdung

Solidarität der Angehörigen

Sozialisation

Traditionsbruch

Motivationsentzug

Psychopathologien

ZurechnungsFähigkeit der Person

Tabelle 2: Krisenerscheinungen bei Reproduktionsstörungen (Pathologien) (zitiert nach Habermas, 1981, Bd. 2: 215) Zusammenfassend gilt also: Erst die Kolonialisierung der Lebenswelt durch systemische Imperative, die durch die lebensweltlichen Reproduktionsprozesse nicht kritisch Honneth & Joas (1986), Gerhards (1997), Gerhards/ Neidhard/ Rucht (1999).

152 Theorien der Gesellschaft mehr kontrolliert und in ihren Konsequenzen verarbeitet werden können, führt zu Sinnverlust, Anomie und zu Persönlichkeitspathologien (siehe Tabelle 2). Sinnverlust, Anomie und Psychopathologien beschreibt Habermas also anders als Weber, nicht als zwangsläufige Ergebnisse der Entzauberungsprozesses auf der einen Seite und des Bürokratisierungsprozesses auf der anderen (Habermas 1981, Bd. 2: 488). Für ihn sind im Programm der Modernen sowohl ein Rationalitätspotential als auch die Möglichkeit einer gesellschaftspathologischen Entwicklung angelegt. Damit kann Habermas jedoch noch nicht zeigen, warum die Pathologien der kulturellen Verarmung und der Verselbständigung der mediengesteuerten Subsysteme überhaupt auftreten (Habermas 1981, Bd. 2: 483). Warum entfalten die Subsysteme Wirtschaft und Staat eine zerstörerische Eigendynamik und warum dient z.B. die Wissenschaft zwar der Beförderung des wirtschaftlichen Wachstums und der Beförderung einer rationalen Verwaltung, aber nicht dem "Welt- und Selbstverständnis kommunizierender Bürger" (Habermas 1981, Bd. 2: 484)? Habermas behauptet, diese Entwicklung könne nicht, wie bei Weber, aus der Effektivität der zweckrational strukturierten Organisationsformen erklärt werden. Habermas sieht hierfür strukturelle Gründe gegeben (Habermas 1981, Bd. 2: 488). Die theoretische Begründung für eine solche Annahme entwickelt Habermas nun über einen weiteren Klassiker soziologischen Denkens: Karl Marx und dessen These der inneren Kolonialisierung (Habermas 1981, Bd. 2: 489-447). Um die These der inneren Kolonialisierung fruchtbar machen zu können, muß er sie von der einseitigen Konzentration auf den Tausch von Arbeitskraft gegen Lohn befreien, denn Verdinglichungseffekte gehen sowohl von der Monetarisierung als auch von der Bürokratisierung öffentlicher und privater Lebensbereiche aus (Habermas 1981, Bd. 2: 504). Und die Marx-Orthodoxie kann die Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften hin zur Massendemokratie, zum staatlichen Interventionismus und zum Wohlfahrtsstaat (Pazifizierung des Klassenkonfliktes) nicht erklären. Überhaupt verliert der Klassenkonflikt, so Habermas, seine strukturbildende Kraft für die Lebenswelt sozialer Gruppen. Bei der inneren Kolonialisierung der Lebenswelt handelt es sich um einen neuen, eher klassenunspezifisch auftretenden "Verdinglichungseffekt" (Habermas 1981, Bd. 2: 513). Habermas Augenmerk richtet sich daher auf die anderen Austauschbeziehungen zwischen System und Lebenswelt, auf die aufgewertete Konsumentenrolle, die aufgeblähte Klientenrolle und die Rolle des Staatsbürgers ("Reinigung der politischen Teilhabe von partizipatorischen Gehalten." / Habermas 1981, Bd. 2: 514). Habermas weist drauf hin, daß es trotz der Stillegung des Klassenkonfliktes noch genügend Konflikte geben kann, die zwar nicht in klassenspezifischer Gestalt auftreten, aber doch auf eine in "systemisch integrierte Handlungsbereiche verdrängte Klassenstruktur zurückgehen" (Habermas 1981, Bd. 2: 515). Solange die Wachstumsdynamik der kapitalistischen Wirtschaftsform nicht erlahmt, garantieren Wohlfahrtsstaat und die Massendemokratie - bei gleichzeitiger Ausdehnung der Staatstätigkeit - die Stillegung des nach wie vor eingebauten Klassenantagonismus. Dies ändert sich, sobald es zu Krisen kommt. Nun wäre gemäß der Weberschen Entzauberungsthese erwartbar, daß, sobald eine rationalisierte Lebenswelt die strukturellen Möglichkeiten der Ideologiebildung einbüßt, der Konflikt zwischen systemischer Integration und sozialer Integration offen zutage tritt (Habermas 1981, Bd. 2: 489-447). Aber offenbar hat sich in den modernen (spätkapitalistischen) Gesellschaften ein Äquivalent für Ideologie entwickelt. Statt den Interpretationsbedarf ideologisch zu decken, gewinnt die Forderung an Bedeutung,

Habermas 153 Interpretationsleistungen auf dem Niveau von Ideologien gar nicht aufkommen zu lassen. Habermas spricht folglich von einer Fragmentierung des Alltagsbewußtseins. In Habermas' Konzept der Kolonialisierung werden nun die Thesen der kulturellen Verarmung und der wildgewordenen Systemimperative wieder verknüpft: "Tatsächlich kommt ein solcher Effekt dadurch zustande, daß die für den okzidentalen Rationalismus kennzeichnende Ausdifferenzierung von Wissenschaft, Moral und Kunst nicht nur das Autonomwerden spezialistisch bearbeiteter Sektoren zur Folge hat, sondern auch deren Abspaltung von einem in der Alltagspraxis naturwüchsig fortgebildeten Traditionsstrom." (Habermas 1981, Bd. 2: 521) Das fragmentierte Bewußtsein verhindert gleichsam, daß die zivilgesellschaftlichen Akteure sich des Eingriffs der systemischen Imperative in die lebensweltlichen Reproduktionszusammenhänge bewußt werden. So kann das Spiel der Metropolen und des Weltmarktes, wie Habermas sagt, nicht mehr von der Peripherie der Lebenswelt her durchschaut werden. Gleichwohl teilt Habermas den Pessimismus der älteren kritischen Theorie nicht, denn diese Abspaltung, die zum fragmentierten Bewußtsein führt, ist natürlich immer wieder zum Problem gemacht worden, man denke an Frauen-, Ökologie- und Friedensbewegung. Und Habermas sieht nun den Ursprung des rettenden kritischen Potentials in der kommunikativen Vernunft selbst angelegt. Aber: Die kommunikative Vernunft braucht ihrerseits Institutionen der Freiheit, um dem kritischen Potential der Sprache im Diskurs zu ihrem Recht verhelfen zu können.

2.4 Sprache, Gesellschaft und Vernunft Nun sieht Habermas allerdings die Möglichkeit, zu Institutionen der Freiheit zu gelangen, die einerseits die moderne Gesellschaft mit sinnstiftenden Deutungsangeboten rückkoppeln und zweitens, die kommunikativ strukturierten Handlungsbereiche der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit - die wiederum selbst als eine Institution der Freiheit in modernen Gesellschaften zu verstehen ist (Habermas 1962) - und der bürgerlichen Privatsphäre vor aller verdinglichenden Eigendynamik der Subsysteme Wirtschaft und staatlicher Verwaltung schützen (Habermas 1962, 1990, 1992). Dieses Potential ist im Kern des kommunikativen Handelns bereits angelegt, wird aber, wie Habermas anhand der Theorie der Rationalisierung der Lebenswelt zeigt, erst in der modernen Gesellschaft wirklich freigesetzt (Habermas 1976, 1981, 1983, 1988).

2.5 Diskurse und Öffentlichkeit als Institute der Freiheit Habermas Darlegungen münden in der Einsicht, daß letztlich alles Sprechen auf Verständigung abzielt. Für Habermas eröffnet sich im "kommunikativen Handeln" etwa im Rahmen öffentlicher Diskussionen - die Aussicht darauf, über die Vernünftigkeit bzw. Unvernünftigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse befinden zu können. Bei solchen öffentlichen Debatten besteht nach Habermas zumindest im Prinzip die Möglichkeit einer vernünftigen Einigung. Hier sieht er die Chance für eine normative Fundierung seiner kritischen Theorie. Darauf aufbauend entwickelt er seine oben beschriebene soziologische Handlungs- und Gesellschaftstheorie, die die Sozialwissenschaften in die Lage versetzen soll, die gegenwärtige Situation der Gesellschaft zu be-

154 Theorien der Gesellschaft schreiben und auf ihre Vernünftigkeit hin zu beurteilen. Das zentrale Dilemma der kritischen Theorie bestand darin, daß sie nicht anzugeben vermochte, an welchem Maßstab die Vernünftigkeit einer Gesellschaft zu messen ist. Wie ist es möglich, wünschenswerte gesellschaftliche Verhältnisse von nicht wünschenswerten zu unterscheiden? In seiner Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) deutete sich bereits an, daß Habermas im öffentlichen Diskurs eine Chance sieht zur Korrektur falscher gesellschaftlicher Entwicklungen. Bis in die frühen sechziger Jahre hinein schien ihm das Werk von Karl Marx die geeignete Grundlage für eine kritische Theorie zu bieten. Ausgehend von den ungerechten Produktionsverhältnissen sei es möglich, der bürgerlichen Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten (Habermas 1963). Dies änderte sich, als er in einer kritischen Analyse zu dem Fazit gekommen war, daß Marx seine Gesellschaftstheorie einseitig auf dem Begriff der Arbeit (instrumentelles Handeln) aufgebaut hatte. Marx hatte der Bedeutung des "kommunikativen Handelns" im öffentlichen Gespräch keine Aufmerksamkeit geschenkt. Von besonderer Bedeutung ist dabei der Diskurs als Fortsetzung des kommunikativen Handelns, das für ihn soziales Handeln in seiner reinsten Form repräsentiert, da es allein auf gegenseitige Verständigung im Diskurs ausgerichtet ist, mit andern Mitteln. Das Ziel des diskursiven Gesprächs ist die Verständigung mit den Mitteln des Arguments. Durch diskursives Handeln ist es möglich, Störungen auf der Ebene der drei Weltbezüge zu beheben: • Um hinsichtlich unterschiedlicher Wahrheitsansprüche im Falle konstativer Sprechhandlungen (telelogisches Handeln) eine Verständigung zu erzielen, empfiehlt Habermas den theoretischen Diskurs, bei dem die Kontrahenten ihre Wahrheitsansprüche der Kritik stellen und begründen müssen. • Bei Störungen des regulativen Sprachgebrauchs (normengeleitetes Handeln), also unterschiedlichen Auffassungen über die Richtigkeit bestimmter Normen, kann der Konflikt mit Hilfe eines praktischen Diskurses ausgetragen werden. Der praktische Diskurs zielt auf eine rationale Kritik und Begründung von Normen und Werten. • Kommt es zu Störungen auf der Ebene des repräsentativen Sprachgebrauchs (dramaturgisches Handeln) - wenn die Aufrichtigkeit einer Person in Frage steht - bietet sich die Möglichkeit, im therapeutischen Diskurs potentielle Selbsttäuschungen mit "argumentativen Mitteln" (Habermas 1981, Bd. 1: 448) aufzulösen und dem Betroffenen zu größerer Wahrhaftigkeit zu verhelfen. In allen drei Fällen geht Habermas davon aus, daß es möglich ist, falls die Betroffenen sich auf einen Diskurs einlassen, bestehende Konflikte und Störungen mit Hilfe des "besseren Arguments" zu beheben. Je mehr soziale Lebensbereiche der rationalen Argumentation offenstehen, desto mehr ist es nach Habermas berechtigt, von gesellschaftlichem Fortschritt zu sprechen.

Habermas 155 2.6 Öffentlichkeit als diskursive Arena Neben der Debatte über die Rechtsentwicklung und die möglichen negativen Konsequenzen der Verrechtlichung (Peters 1991) ist insbesondere die Theorie der Öffentlichkeit im soziologischen Diskurs aufgenommen worden (Habermas 1990, 1992, Gerhards 1997, Gerhards/ Neidhard/ Rucht 1998). Schon in der Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit hat Habermas die Bürgerliche Öffentlichkeit als Medium der Kritik politischer Herrschaft beschrieben und in Faktizität und Geltung weiterentwickelt (Habermas 1992). Habermas geht davon aus, daß die Öffentlichkeit ein symbolischer Raum ist, in dem die Prinzipien verständigungsorientierten Handelns gelten. Jedenfalls muß Habermas für den Fall einer nicht-vermachteten Öffentlichkeit davon ausgehen, daß zumindest die zivilgesellschaftlichen Akteure Bürger, Künstler, soziale Bewegungen, Verbraucherverbände, im Prinzip aber auch Parteien und wissenschaftliche Assoziationen sich um eine Verständigungsorientierung im Gegensatz zur Erfolgsorientierung bemühen. Dies setzt eine bestimmte Interaktionsorientierung voraus und läßt erwarten, daß Ego und Alter sich nicht von strategischen Handlungseinstellungen vereinnahmen lassen: "Im Unterschied zu erfolgsorientiert eingestellten Aktoren, die sich wechselseitig als etwas in der objektiven Welt Vorkommendes beobachten, begegnen sich kommunikativ Handelnden in einer Situation, die sie zugleich mit ihren kooperativ ausgehandelten Deutungen konstituieren. Der intersubjektiv geteilte Raum einer Sprechsituation erschließt sich mit den interpersonalen Beziehungen, die die Beteiligten eingehen, indem sie zu den gegenseitigen Sprechaktangeboten Stellung nehmen und illokutionäre Verpflichtungen übernehmen. Jede Begegnung, die sich nicht in Kontakten wechselseitiger Beobachtung, sondern vom gegenseitigen Zugeständnis kommunikativer Freiheit zehrt, bewegt sich in einem sprachlich konstituierten öffentlichen Raum." (Habermas 1992: 436) Nur unter diesen Bedingungen kann die Öffentlichkeit sich zu einer Institution der Freiheit und damit zu einer intermediären Struktur auswachsen, die sich einer Vermachtung durch systemische Imperative erwehren kann: "In komplexen Gesellschaften bildet die Öffentlichkeit eine intermediäre Struktur, die zwischen dem politischen System einerseits, den privaten Sektoren der Lebenswelt und funktional spezifizierten Handlungssystemen andererseits vermittelt. Sie stellt ein hochkomplexes Netzwerk dar, das sich räumlich in eine Vielzahl von überlappenden internationalen, nationalen, regionalen, kommunalen, subkulturellen Arenen verzweigt; das sich sachlich nach funktionalen Gesichtspunkten, Themenschwerpunkten, Politikbereichen usw. in mehr oder weniger spezialisierte, aber für ein Laienpublikum noch zugängliche Öffentlichkeiten (z.B. in populärwissenschaftliche und literarische, kirchliche und künstlerische, feministische und "alternative" gesundheits-, sozial- oder wissenschaftspolitische Öffentlichkeiten) gliedert; und das sich nach Kommunikationsdichte, Organisationskomplexität und Reichweite nach Ebenen differenziert - von der episodischen Kneipen-, Kaffeehaus- oder Straßenöffentlichkeit über die veranstaltete Präsenzöffentlichkeit von Theaterauffuhrungen, Elternabenden, Rockkonzerten, Parteiversammlungen oder Kirchentagen bis zu der abstrakten, über die Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit von vereinzelten, global verstreuten Lesern, Zuhörern und Zuschauern." (Habermas 1992: 451-452)

156 Theorien der Gesellschaft Habermas blieb aber eine Erklärung dafür schuldig, warum, wo und wie sich das Prinzip der Diskursivität im 18. Jahrhundert durchgesetzt haben soll. Im Anschluß an Habermas hat Klaus Eder (1985) zu zeigen versucht, daß sich der Verständigungsmechanismus egalitär-diskursiver Auseinandersetzungen erst seit dem späten 18. Jahrhundert durchzusetzen beginnt. Diskursivität wird gleichsam im gesellschaftlichen Assoziationswesen eingeübt und ermöglicht den Teilnehmern, im Rahmen kollektiver Lernprozesse, individuelle Lernprozesse, die einen Übergang zu einem postkonventionellen Moralbewußtsein erlauben. Erst auf der Grundlage dieser Lernprozesse kann und muß das politische System an die Erfordernisse postkonventioneller Moralvorstellungen angeschlossen werden. Voraussetzung ist aber wiederum eine funktionierende politische Öffentlichkeit und ein politisches System, das für Anregungen zivilgesellschaftlicher Akteure und für deren Probleme offen bleibt. Auch die Öffentlichkeit bleibt vor den verdinglichenden Eingriffen systemischer Imperative nicht geschützt. Insofern hat Habermas die Rolle der Massenmedien stets recht ambivalent beurteilt, gleichwohl er sie nie mit jenem Pessimismus betrachtete, mit dem die junge kritische Theorie auf die Massenmedien blickte. Anders als die repräsentative Öffentlichkeit des Mittelalters ist die moderne politische Öffentlichkeit eine Institution, die die Herrschaft über das Medium öffentlicher Diskurse rationalisieren sollte. Mit der Entwicklung des liberalen Kapitalismus kommt es im 19. Jahrhundert laut Habermas zu einem Strukturwandel der Öffentlichkeit. Öffentlichkeit ist nun durch die Massenmedien und durch die Interessenkonkurrenz vermachtet, während die Möglichkeiten zum kritischen Räsonnement ausgedünnt werden. Aber selbst wo Organisationen das Bild der Zivilgesellschaft bestimmen, sieht Habermas die Möglichkeit kritischer öffentlicher Diskussion und damit zumindest im Prinzip die Möglichkeit der Kontrolle politischer Herrschaft durch zivilgesellschaftliche Institutionen. Gerade die jüngeren Schriften Habermas' (1990, 1992) sind im Hinblick auf die Entwicklung des Modells der Öffentlichkeit und seiner kritischen Rezeption (Dryzek 1990, Gerhards 1997) interessant. In Absetzung von systemtheoretischen Varianten der Öffentlichkeit, aber auch gegen Versuche, Öffentlichkeit zu stark zu materialisieren, versucht Habermas eine kommunikationstheoretische Definition: "Öffentlichkeit läßt sich nicht als Institution und gewiß nicht als Organisation begreifen; sie ist selbst kein Normengefüge mit Kompetenz- und Rollendifferenzierung, Mitgliedschaftsregelung usw. Ebensowenig stellt sie ein System dar; sie erlaubt zwar interne Grenzziehungen, ist aber nach außen hin durch offene, durchlässige und verschiebbare Horizonte gekennzeichnet." (Habermas 1992: 435-436) Habermas bevorzugt hingegen ein fluides Modell der Öffentlichkeit, das sich auf den im kommunikativen Handeln erzeugten sozialen bzw. symbolischen Raum bezieht: "Die Öffentlichkeit läßt sich am ehesten als ein Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen, also von Meinungen beschreiben; dabei werden die Kommunikationsflüsse so gefiltert und synthetisiert, daß sie sich zu themenspezifisch gebündelten öffentlichen Meinungen verdichten. (...) die Öffentlichkeit spezialisiert sich weder in der einen (Religion, Schule, Familie, Strukturen, die an Prozesse der lebensweltlichen Reproduktion gebunden sind) noch in der anderen Hinsicht (oder Strukturen wie Wissenschaft, Moral und Kunst als Handlungssystem, die auf je einen der Geltungsansprüche einer ausdifferenzierten Lebenswelt Bezug nehmen: Wahrheit, Richtigkeit und Authentizität); soweit sie sich auf politisch relevante Fragen

Habermas 157 erstreckt, überläßt sie deren spezialisierte Bearbeitung dem politischen System. Die Öffentlichkeit zeichnet sich vielmehr durch eine Kommunikationsstruktur aus, die sich auf einen dritten Aspekt verständigungsorientierten Handelns bezieht: weder auf die Funktionen noch auf die Inhalte der alltäglichen Kommunikation, sondern auf den im kommunikativen Handeln erzeugten sozialen Raum." (Habermas 1992: 435436) In jüngeren Debatten ist häufiger auch von einer deliberativen Öffentlichkeit die Rede. Habermas hatte seine Vorstellungen einer deliberativen Öffentlichkeit zwar bereits in der Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit formuliert, aber dann in Habermas (1992) vor dem Hintergrund vielfältiger Kritiken, auf die hier nicht eingegangen werden kann, weiterentwickelt (siehe hierzu, die Neuausgabe des Strukturwandels der Öffentlichkeit aus dem Jahre 1990). Anders als im liberalen Modell der Öffentlichkeit werden statt bloßer Repräsentation im deliberativen Modell idealiter Verständigung, Konsens oder wenigstens Mehrheiten gesucht. Zudem sollten die Kontrahenten, die öffentlich debattieren, ihre Behauptungen mittels Argumenten stützen können. Hier wird das Prinzip des anything goes nicht nur durch die Metanormen des "wechselseitigen Respekts" und des "Verzichts auf Ehrverletzung" eingegrenzt, sondern durch gute Gründe. Das deliberative Modell erwartet in wichtigen gesellschaftlichen Fragen ein aktives Publikum, wie z.B. im Streit über die angemessenen politischen und praktischen Reaktionen auf die BSE-Krise (Rinderwahn) in der Mitte der neunziger Jahre. Zivilgesellschaftliche Akteure oder Assoziationen sollen die Positionen des politischen Zentrums (Verwaltungen, Gerichte, Verbände) ergänzen und so zur Legitimation von politischen Entscheidungen beitragen oder diese kritisch in Frage stellen (Gerhards 1997, Gerhards/ Neidhardt/ Rucht 1998): "Solche Assoziationen sind auf die Erzeugung und Verbreitung praktischer Überzeugungen, also darauf spezialisiert, Themen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz zu entdecken, Beiträge zu möglichen Problemlösungen beizusteuern, Werte zu interpretieren, gute Gründe zu produzieren, andere zu entwerten. Sie können aber nur auf indirekte Weise, nämlich dadurch wirksam werden, daß sie über breitenwirksamen Einstellungs- und Wertewandel die Parameter der verfaßten Willensbildung verschieben." (Habermas 1992: 625) Das Prinzip der Partizipation ersetzt das der Repräsentation. Und gerade von den zivilgesellschaftlichen Akteuren erwartet das deliberative Modell der Öffentlichkeit den Willen zur argumentativen Auseinandersetzung. Mehr als von den Akteuren des politischen und gesellschaftlichen Zentrums wird von den Akteuren der Zivilgesellschaft erwartet, daß sie ihre Behauptungen und moralischen Forderungen mit Gründen versehen. Folglich erwartet man als Anhänger des deliberativen Modells öffentlicher Kommunikation im Hinblick auf die Erfüllung des Legitimationsprinzips auch mehr als Information und Transparenz. Ziel öffentlicher Debatten ist ein Konsens der Meinungen oder aber die Erzeugung argumentativ gestützter Mehrheitspositionen. In einer jüngeren Studien haben Gerhards/ Neidhardt/ Rucht (1998) zeigen können, daß sich Habermas Erwartung nicht immer erfüllen müssen. Gleichwohl besteht Habermas anders als radikal-demokratische Positionen darauf, daß die kommunikative Macht der zivilgesellschaftlichen Akteure nur indirekt auf das politisch-administrative System Einfluß nehmen kann. Politische Entscheidungen werden weiterhin durch formale politische Entscheidungsverfahren getroffen:

158 Theorien der Gesellschaft "Kommunikative Macht kann nur indirekt, in einer Art der Begrenzung des Vollzugs der administrativen - also der tatsächlich ausgeübten - Macht wirksam werden." (Habermas 1992: 362-363, 630) Andere Autoren, wie z.B. Dryzek, halten diese strikte Trennung zwischen argumentativ strukturierten Handelungszusammenhängen in der Öffentlichkeitssphäre und politischen Entscheidungsprozessen im politischen System nicht aufrecht. Sie glauben, daß in politischen Entscheidungsprozessen selber noch die diskursive Prinzipien rationalisierbar sind. Diese These hat z.B. stark die soziologische Diskussion über Mediationsverfahren beeinflusst.

2.7 Die Herausforderung: Was kann die kritische Theorie leisten? Die "neue" kritische Theorie von Jürgen Habermas verzichtet auf eine pauschale Kapitalismuskritik, wie sie von Marx und den Vertretern der frühen kritischen Theorie vorgetragen worden ist. Stattdessen konzentriert er sich auf Spannungspotentiale an den Schnittstellen von Lebenswelt und System. Konkret steht für ihn die Frage im Mittelpunkt, "wann das Wachstum des monetär-bürokratischen Komplexes" (Habermas 1981, Bd. 2: 548) pathologische Nebenwirkungen in der Lebenswelt hervorruft. Als Heilmittel gegen solche Effekte der "ungesteuerten Komplexitätssteigerung" (Habermas 1981, Bd. 2: 549) empfiehlt Habermas den offenen und rationalen Diskurs in der Gesellschaft. Oft fuhrt der Diskurs zu sozialen Konflikten (z.B. Arbeiter- oder Ökologiebewegung). Nach Überzeugung von Habermas setzen Diskurse jedoch kollektive Lernprozesse in Gang und eröffnen die Möglichkeit, systemische Strukturen im Hinblick auf eine bessere Verträglichkeit mit der Lebenswelt zu gestalten. Ein Beispiel ist die durch staatliche Sozialpolitik bewirkte Verbesserung von Arbeits- und Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten, die in der frühen Phase der industriellen Revolution vom gesellschaftlichen Wohlstand ausgeschlossen waren. Oder das gestiegene ökologische Bewußtsein in Öffentlichkeit, Politik und Wirtschaft durch den Protest der Umweltbewegung. Der Maßstab für die Beurteilung gesellschaftlicher Verhältnisse liegt in der Frage, inwiefern soziale Prozesse auf einem rationalen Diskurs beruhen. Es darf keine gesellschaftlichen Bereiche geben, die dem kritischen und rationalen Diskurs entzogen sind. Die kritische Theorie konzentriert sich darauf, die Kluft zwischen Realität und Möglichkeit aufzuzeigen. Sie beschränkt ihren Rationalitätsbegriff jedoch strikt auf eine Verfahrensweise (den Diskurs). Inwiefern dem Diskurs sozialintegrative und kritische Funktionen zugeschrieben werden können, ist in der soziologischen Diskussion sehr umstritten (Münch 1982, Luhmann 1984, 1990, siehe versöhnlich Miller 1992).

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3. Arbeitsaufgaben 1. Worin besieht der entscheidende Unterschied zwischen der kritischen Theorie alter Prägung ( Adorno/ Horkheimer etc.) und dem Entwurf von Jürgen Habermas? Mit Bezug auf die Idealbedingungen eines Konsenses (Stichwort: ideale Sprechsituation) bemerkte Mikias Luhmann einmal. daß es "nicht gut als rational postuliert werden" kann, "sich so weit von Realbedingungen zu entfernen" (Luhmann 1990: 73). Gründet die Theorie kommunikativen Handelns auf unrealistischen Annahmen? 2. Diskutieren sie folgende Forderung: Die Sozialwissenschaften sollten ihrem Gegenstand möglichst distanziert., sachlich und wertfrei gegenüberstehen. Kann die Wissenschaft der Gesellschaft überhaupt den Weg weisen? Wird sie hier in ihrer Leistungsfähigkeit nicht überschätzt oder gar überfordert? Liegt dem Anspruch der kritischen Theorie womöglich ein überzogener Fortschrittsoptimismus zugrunde? 3. Wie gelangt Habermas zu einem dreidimensionalen Konzept der Lebenswelt? Zeigen sie anhand eines Beispiels, worin die drei Komponenten der Lebenswelt bestehen und was die "Leistungen5' der jeweiligen Reproduktionsprozesse sind. 4. In Habermas Theorie der Moderne verbirgt sich ein Modell sozialer Evolution. Zeichnen sie die vier wesentlichen Stadien sozialer Evolution nach und zeigen sie, inwiefern dabei System und Lebenswelt auseinandertreten. Warum kann Habermas zu der Auffassung gelangen, daß jeder Stufe systemischer Differenzierung und Komplexitätssteigerung eine Rationalitätssteigerung der Lebenswelt vorausgehen : muß? ~ " \ 5. Jürgen Habermas setzt sich explizit mit Max Webers Thesen des Sinnverlusts und der Bürokratisierung auseinander. Worin bestehen genau Habermas Reformulierungen, die es ihm schließlich erlauben, Webers Annahmen in das zweistufige Konzept System und Lebenswelt einzubauen? 6. Jürgen Habermas hat sich in der Theorie des kommunikativen Handelns nicht mit den Problemen der Naturzerstörung auseinandergesetzt. Wie ist vor dem Hintergrund fortschreitender Naturzerstörung z.B. Treibhausei'feki, O / o i ü e e M e e r e s - und Wasserverschmutzung, Bodenkontaminierung etc. seine Behauptung zu verstehen, daß die symbolische Reproduktion der Lebenswelt, anders als die materielle Reproduktion, nicht ohne pathologische Nebeneffekte auf die Grundlagen systemischer Integration umgepolt werden kann. Läßt sich das Problem der Naturzerstörung problemlos in .sermas zweistufiges Gesellschaftskonzept einlesen, oder ist die e,. : kommunikativen Handelns vor ; mhiniergrund bereits nicht mehr auf der Höhe der Zeit? 7. Zeichnen sie Habermas Interpretation der These der Kolonialisierung der Lebenswelt nach und diskutieren sie dann folgende Frage: Ist es notwendig, die Marx-

160 Theorien der Gesellschaft •L m l Ambivalenz F rank 1 uit Main S 312fi und Jaiques Derrida: Marx' ü pet ie> lei verseht /« ^'KU die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt am Main 1995, S. 139ff.

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Kapitel XI

Gesellschaftstheorie und Erkenntnisinteresse: Anregungen zum systematischen Theorievergleich Carsten Stark

Inhalt: 1. Die Theoriekonstruktion 2. Erkenntnisinteresse 3. Zeitdiagnose 4. Empirische Basis 5. Erkenntnis und Interesse 6. Zitierte und weiterfuhrende Literatur

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Theorien der Gesellschaft

Die Gesellschaft, wie man sie beobachtet, wie man sie versteht, wie sie ist und wie man sie haben möchte. Das sind nicht nur Fragen, die jeder Mensch für sich beantwortet, sondern die - in wissenschaftliche Formen gebracht - in gleicher oder auch besonderer Weise die Soziologie beschäftigen. Unser Einführungsband hat nun deutlich gemacht, daß sich die Antworten auf diese Fragen von Theorie zu Theorie, von Theoretiker zu Theoretiker unterscheiden. Diese Tatsache ist erst einmal verwirrend, wenn man von einem Studium der Soziologie Wahrheiten, erlernbares Wissen oder Aufklärung über den Stand der Gesellschaftsforschung erwartet , V i Wartung ist berechtigt. Das Ziel, cirndnc kritisch hinterfragen zu können, wird aber nicht nur durch das "Erlernen" einzelner Theorien, sondern vor allem durch einen eigenständigen und systematischen Theorievergleich erreicht. Lehrbücher können einen solchen Vergleich durchaus anbieten (vgl. Haller 1999), aber damit nehmen sie den Studierenden die Aufgabe der selbständigen Reflexion nicht wirklich ab, sondern offerieren lediglich Angebote, die selbst wiederum hinterfragt werden müssen. In diesem Kapitel werden wir verschiedene Angebote machen, selbstständig Theorien zu vergleichen. Der Vergleich selbst findet nicht in diesem Buch, sondern, wie wir hoffen, auf der Grundlage unserer Arbeitsaufgaben in den Köpfen, in Arbeitsgruppen oder in Seminaren statt. Vier Ebenen sollen dabei betrachtet werden: die Theoriekonstruktion, das Erkenntnissinteresse, die empirische Basis und die Zeitdiagnose. Diese Ebenen sollen zum Schluß dieses Kapitels dazu dienen, allgemeine Gütekriterien für Gesellschaftstheorien aufzustellen, ohne dabei selbst Partei für eine spezifische Weltdeutung zu ergreifen.'

1. Die Theoriekonstruktion Theorien werden konstruiert, nicht nur, weil sie abstrakte Gebilde sind, die vor allem in Büchern oder in Köpfen existieren, sondern auch in dem Sinne, daß sie aus Einheiten bestehen, die mühsam zu einem Ganzen zusammengesetzt werden müssen. Die Form dieser Zusammensetzung ist in jeder Theorie anders. Vergleicht man eine Gesellschaftstheorie mit einem Haus, so ist mit der "Form" der Theorie die spezifische Architektur gemeint. Aber nicht nur die Art der Zusammensetzung der Bauteile unterscheidet sich, sondern auch die Beschaffenheit der Bauelemente selbst. Theoriekonstruktion bedeutet in diesem Sinne, spezifische Elemente (d.h. mehr oder weniger abstrakte und definierte Begriffe) in einer spezifischen Weise zusammenzusetzen. Das Theoriehaus, das auf diese Weise konstruiert wird, steht dabei zwar in einem engen Verhältnis zu den Inhalten, der Botschaft, die mit der Theorie verkündet werden soll. Die Herstellung dieses Zusammenhangs ist jedoch insofern eine Interpretationsleistung, als der gleiche Inhalt durch unterschiedliche Formen transportiert werden kann. Warum eine spezifische Form gewählt wurde, ist also immer klärungsbedürftig.

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Das bedeutet nicht, daß wir keine spezifische erkenntnistheoretische Position vertreten würden. In diesem Lehrbuch halten wir uns aber in diesem Sinne zurück. Spezifisch erkenntnistheoretische Positionen produzieren ganz eigene Gütekriterien für Gesellschaftstheorien, machen damit aber den hier angestrebten Vergleich nicht einfacher. Zudem soll den Studierenden ermöglicht werden, sich selbst zu positionieren.

Theorievergleich 321 Häuser werden in der Regel für Menschen gebaut und beeinflussen durch ihre Architektur die Art und Weise, wie Menschen in ihnen leben. In einem Haus ohne Küche wird es eine andere Art der Essenszubereitung geben als in einem Haus mit Küche - vielleicht bestellt man bei einem Italiener - , und in einem Haus ohne Kinderzimmer wird deren Spiel und Leben sich in eine andere Form begeben. Man kann der Architektur eines Hauses eine Idee des Lebens im Haus unterstellen, manchmal sagt der Architekt den Bewohnern auch, was er sich bei der Konstruktion gedacht hat, aber in keinem Fall determiniert die Architektur die Lebenspraxis der Hausbewohner; die sehen halt zu, was sie daraus machen. Hausbewohner können sich dann ärgern oder einfach nur verwundert sein. Die Aufgabe eines Soziologen, der sich mit soziologischer Theoriearchitektur auseinandersetzen muß, ist jedoch noch etwas komplizierter. Es ist nicht nur klärungsbedürftig, warum ein spezifischer Inhalt mit einer spezifischen und keiner anderen Form transportiert wird. Es ist auch umgekehrt klärungsbedürftig, warum eine spezifische Form nur einen spezifischen Inhalt transportiert. Inhalt und Form einer Gesellschaftstheorie stehen in einem komplexen Wechselverhältnis, das in beiden Richtungen der Interpretation und Klärung bedarf. Eine erste Möglichkeit, dieses komplexe Verhältnis darzustellen, um dadurch die Güte und den Ertrag großer Gesellschaftstheorien abschätzen zu können, hat C. Wright Mills (1963) vorgeschlagen. Er schlägt vor, zwischen semantischen und syntaktischen Aspekten von Theorien zu unterscheiden. "Wenn wir in Betracht ziehen, was ein Wort wirklich bedeutet, haben wir es mit seinen semantischen Aspekten zu tun, wogegen seine syntaktischen sich in der Beziehung zu anderen Worten äußern." (Mills 1963: 74) Vor diesem Hintergrund kann die Angemessenheit des betrachteten Theoriegebäudes besser beurteilt werden. Denn zuweilen neigen Gesellschaftstheorien zu Schaumschlägereien, also einem eklatanten Missverhältnis zwischen theoretischem Aufwand und Erkenntnisertrag. Mills kritisiert in diesem Sinne vor allem Parsons. Dessen Theorie ist für ihn "syntaxtrunken und in der Semantik mit Blindheit geschlagen. Ihre Anhänger können einfach nicht verstehen, daß man mit der Definition eines Wortes lediglich andere auffordert, es in der gewünschten Weise zu benutzen und verstehen. (...) Die großen Theoretiker sind so sehr mit der syntaktischen Bedeutung der Worte beschäftigt, haben so wenig Gefühl für ihre semantischen Bezüge und legen sich auf einen so hohen Abstraktionsgrad fest, daß ihre 'Typologien' - und die ganze Arbeit, sie herzustellen - vielfach auf ein leeres Spiel mit Begriffen hinauslaufen (...)." (Mills 1963: 75) Theorien "leben" in ihrer Theoriekonstruktion. Die architektonische Zusammensetzung ihrer Bauteile legt fest, wie sich der Theoretiker selbst in ihr bewegen, d.h. sich ausdrücken kann. Das bewirkt, daß oft viele Zusammenhänge in einer Theorie aus Gründen der Stringenz der Theoriekonstruktion schwierig ausgedrückt werden müssen, obgleich sie gar nicht schwierig sind. In diesen Fällen ist es wichtig, die Theoriekonstruktion zu kennen, um hinter komplizierten Sätzen nicht gleich auch komplizierte Inhalte vermuten zu müssen, die dem unbedarften Leser nur nicht auf Anhieb zugänglich sind. Man kann dies auch in folgender Regel zusammenfassen: Je abstrakter die Elemente einer Theorie, desto komplexer wird die Theoriearchitektur.

322 Theorien der Gesellschaft Und je komplexer die Theoriearchitektur, desto länger werden Aussagen und Bücher, ohne daß damit gleichsam mehr gesagt würde. Dennoch kann eine komplexe Theoriekonstruktion helfen, Sachverhalte in einer für die wissenschaftliche Analyse präziseren und differenzierteren Weise auszudrücken, als dies etwa die Umgangssprache tun kann. Theoriekonstruktionen können helfen, "mehr" zu verstehen. Um Äpfel nicht mit Birnen zu verwechseln, ist es bei dem Vergleich von Theoriekonstruktionen verschiedener Autoren wichtig, den Vergleich auf der Ebene der Semantik von dem Vergleich auf der Ebene der Syntax zu unterscheiden. So können natürlich die gleichen Begriffe in verschiedenen Theorien unterschiedliche Bedeutung haben. Wenn Habermas z.B. von "(sozialen) Systemen" spricht, so meint er gesellschaftliche Handlungsbereiche, die sowohl auf das Verständnis als auch auf die Verständigung der handelnden Menschen nicht angewiesen sind. Wenn Parsons von "sozialen Systemen" spricht, meint er theoretisch vorstellbare und empirisch beobachtbare Zusammenhänge menschlicher Interaktion, die sich von anderen Zusammenhängen unterscheiden lassen. Die gleichen Begriffe werden also aufgrund von verschiedenen Theoriekonstruktionen unterschiedlich definiert, sie nehmen innerhalb dieser Theorien dann auch einen unterschiedlichen Platz ein. Für Habermas ist es wichtig, mit dem Begriff "System" einen verselbständigten gesellschaftlichen Teilbereich zu benennen, der sich von anderen, der zwischenmenschlich-autonomen Abstimmung zugänglichen, gesellschaftlichen Bereichen unterscheiden läßt. In der Habermasschen Theoriearchitektur nimmt der Begriff "System" einen spezifischen Platz zur Beschreibung eines spezifisch empirischen Phänomens (das der Verselbständigung) ein. Für Parsons ist es hingegen wichtig, mit dem Begriff "System" die "Ganzheitlichkeit" seiner Theoriekonstruktion zum Ausdruck zu bringen. Zwar sind auch seine sozialen Systeme empirische Systeme, aber ihre Charakterisierung als System ist nicht wie bei Habermas eine empirische, sondern eine theoretisch-methodologische. Es ist aber auch umgekehrt möglich, daß unterschiedliche Begriffe das gleiche meinen. So spricht etwa Parsons, um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu beschreiben, von "Interpénétration", Luhmann hingegen redet von "struktureller Kopplung". Beide meinen, daß die Prozesse im Individuum (Wertorientierungen, Rollenperzeptionen, Gedanken) nicht monokausal mit den Prozessen in der Gesellschaft (Institutionenbildung, Kommunikationen, Rollendefinitionen) verknüpft, sich aber sehr wohl ähnlich sind. Diese "Ähnlichkeit" meinen beide, aber der eine nennt sie strukturelle Kopplung und der andere nennt sie Interpénétration. Die Unterschiedlichkeit der Begriffe soll dabei die Unterschiedlichkeit der Theoriekonstruktion im Ganzen zum Ausdruck bringen, die in diesem Falle sehr stark mit der Syntax in Verbindung stehen; die Begriffe stehen in den jeweiligen Theorien mit wiederum anderen Begriffen in Verbindung: Interpénétration mit den Begriffen "Sozialisation" und "Institutionalisierung", die zwar bei Parsons, nicht aber bei Luhmann zentral sind; "strukturelle Kopplung" mit den Begriffen Autopoiesis und Beobachtung zweiter Ordnung, die für Luhmann entscheidend sind, von Parsons aber wiederum nicht verwendet werden. Die semantische Vergleichsfrage wäre, ob es auch für diese Begriffe eine Entsprechung in der jeweils anderen Theorie gibt, welche die gleiche Bedeutung haben. Die Frage der

Theorievergleich 323 Syntax würde lauten: Mit welchen anderen Begriffen stehen diese Bedeutungen in den jeweiligen Theorien in Verbindung? Man kann das dann immer weiter durchdeklinieren und würde bei unserem beispielhaften Vergleich von Luhmann und Parsons wohl feststellen, daß der eigentliche Bedeutungsunterschied kein sehr gewaltiger ist und sich auf wenige zentrale Aussagen reduzieren läßt. Auf dieser Ebene der Theoriekonstruktion unterscheiden sich die in diesem Band vorgestellten Theorien erheblich. Einige definieren die verwendeten Begriffe so abstrakt, daß selbst die Definitionen nur unter Rückgriff auf die Position des Begriffes innerhalb der Theorie verständlich sind. Das erschwert den Zugang erheblich, wenn man hinter den Begriffen so etwas wie "Phänomene der Realität" vermutet, die man sich nur bildlich vor Augen fuhren muß. In solchen Theorien ist es nicht möglich, zuerst einmal die Begriffe zu verstehen, um sich dann über ihre Verknüpfung bewußt zu werden; vielmehr muß beides gleichzeitig geschehen, wobei man sich dann immer wieder fragen sollte, was das eigentlich ist, was man dann verstanden hat. Andere Theorien kommen mit wenigen zentralen Begriffen aus, die zudem noch nahe an dem sind, was man das "Alltagsverständnis sozialer Phänomene" nennen könnte. Die Semantik dieser Theorien erleichtert auf diese Weise sehr stark den Zugang zur Theorie. Auf der anderen Seite fordert eine solch "einfache" Semantik jedoch eine oberflächliche Kritik geradezu heraus, weil bereits auf der Ebene der Begriffsbildung alltagsweltliche Kritik geübt werden kann. Dies erschwert aber in großem Maße den Zugang zu den eigentlich gemeinten Zusammenhängen. Bei solchen Theorien ist deshalb ein wohlwollender Zugang hilfreich, der nicht gleich abbricht, wo die Bedeutung der Begriffe nicht einleuchtet, sondern sich auf die Theorie einläßt, um das zu verstehen, was insgesamt gemeint ist. Von einer "guten" Gesellschaftstheorie sollte man sicherlich eine hohe Stringenz der Theoriekonstruktion erwarten. Dennoch kann diese Stringenz auch - zumal bei sehr komplexen Theorien - zum Selbstzweck degenerieren; und zwar dann, wenn immer klar ist, in welchem theoretischen Zusammenhang ein Gedanke steht, aber die Frage danach, was denn damit eigentlich gesagt werden soll, immer schwieriger zu beantworten wird, weil sich die Antwort auf diese Frage nur noch auf die Theoriekonstruktion selbst bezieht. Arbeitsaufgaben 1. Ordnen Sie die hier vorgestellten Theorien nach dem Abstraktionsgrad ihrer Begrifflichkeiten. 2.Vergleichen Sie die Komplexität der dargestellten Zusammenhänge. 3. Suchen Sie nach Begriffen, die in mehreren Theorien verwendet werden und vergleichen Sie deren jeweilige Bedeutung und Position innerhalb der Theoriearchi9HHBHHHIHHBHBHHBHBHH

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Theorien der Gesellschaft Literaturempfehlimg

C. Wright Mills: Kritik der soziologischen Denkweise. Neuwied, 1963. Alfred Schütz: Talcott Parsons. Zur Theorie sozialen Handelns. Frankfurt/Main, 1977.

2. Erkenntnisinteresse Ein weiterer Unterschied der hier vorgestellten Gesellschaftstheorien besteht im jeweiligen Erkenntnisinteresse. Anders als noch bei den Klassikern der soziologischen Theorie besteht das primäre Erkenntnisinteresse nicht mehr ausschließlich in der Erklärung des Modernisierungsprozesses und dem Verstehen der Moderne in Abgrenzung zu vormodernen Gesellschaften. Auf der einen Seite versuchen Theorien der Postmoderne gerade eine solche Modernisierungstheorie zu überwinden, um auf diese Weise zeitgenössische Gesellschaften besser verstehen zu können. Auf der anderen Seite existieren groß angelegte Sozialtheorien, für welche die Frage nach der Konstitution der Gesellschaft nur einen Teilbereich des Erkenntnisinteresses ausmacht. Für die ersteren ist eher die Zeitdiagnose zentrales Ziel, die anderen versuchen, die Gesellschaftheorie in einen allgemeineren theoretischen Zusammenhang einzubetten. Der umfangreichste Theorieentwurf ist dabei wohl der von Talcott Parsons, der die Gesellschaft nur als einen Spezialfall sozialer Systeme begreift, die er wiederum im Zusammenhang mit den allgemeinen Handlungsbedingungen des Menschen bis hin zu dessen allgemeiner Lebenswelt untersucht. Eine so weitreichende Theorie ist aus diesem Grunde in starkem Maße auf Erkenntnisse angewiesen, die außerhalb der engen Grenzen der Soziologie gesucht werden müssen. Eine allgemeine Handlungstheorie beinhaltet so z.B. Erkenntnisse der Verhaltensbiologie, der Psychologie oder Psychoanalyse und der Kulturtheorie (Ethnologie). Dieses holistische Erkenntnisinteresse von Parsons macht verständlich, warum er auf der Ebene der Theoriekonstruktion nach allgemeinen Theoriebauteilen gesucht hat. Die Systemtheorie war für ihn ein Mittel, seine soziologischen Analysen in einen allgemeinen Kontext einzuordnen, ohne auf die holistische Perspektive verzichten zu müssen. Vor allem das AGIL- Schema ist vor diesem Hintergrund nur als Werkzeug eines spezifischen Erkenntnisinteresses zu verstehen. Von diesem Erkenntnisinteresse haben sich spätere Theorien verabschiedet. So verzichtet z.B. Luhmann auf eine Einbettung seiner Theorie sozialer Systeme in eine allgemeine Handlungstheorie; Luhmanns Erkenntnisinteresse liegt vielmehr in der Herausarbeitung der Besonderheiten des Gesellschaftssystems in Abgrenzung zu anderen sozialen Systemen. Mit seinem Konzept der Universalpragmatik, der Theorie der Lebenswelt und der Fokussierung von Geltungsansprüchen liegt die Habermassche Theorie näher bei Parsons, wobei diese Perspektive wiederum als Werkzeug für ein umfassenderes Erkenntnisproblem zu verstehen ist. Denn Habermas fragt sich, aus welcher theoretischen Perspektive es möglich ist, gesellschaftliche Verhältnisse kri-

Theorievergleich 325 tisch zu beurteilen. Dieser normative Ansatz verbindet also Habermas mit Parsons, wobei Parsons' normativer Anspruch sich gleichsam ungewollt aus seiner Methodologie ergibt. Diese postuliert nämlich eine Art normativen Anspruchs der natürlichen Ordnung, der sich aus dem Zusammenspiel der lebensweltlichen Bedingungen menschlichen Daseins ergibt. Habermas hingegen betont die menschliche Konstruktion dieser Bedingungen, und läßt diese Bedingung an sich gelten. Andere Theoretiker, die sich ganz explizit für die zeitgenössischen Gesellschaften interessieren, verzichten ganz auf diese allgemeine theoretische Perspektive. Sie bauen gewissermaßen auf die bereits gewonnenen Erkenntnisse der Klassiker auf, um zeitgenössische Gesellschaften von dem abzugrenzen, was nicht nur die Klassiker, sondern auch Parsons, Luhmann und Habermas als "modern" beschrieben haben. Baudrillard und Baumann sind an keiner umfassenden Gesellschaftheorie interessiert, vielmehr möchten sie die neue Qualität des gesellschaftlichen Lebens unserer Zeit herausstellen, ein solches Interesse bezieht Gesellschaftstheorien mit ein, macht sie aber selbst nicht zum zentralen Gegenstand der Auseinandersetzung. Dies alles soll beispielhaft verdeutlichen, daß es mindestens zwei Gegensätze gibt, die das Erkenntnisinteresse der hier vorgestellten Gesellschaftheorien auszeichnen. Zum einen gibt es den Gegensatz zwischen holistischen und spezifischen Sozialtheorien, also zwischen Theorien, die einen "ganzheitlichen" Anspruch haben und mit diesem alle Bereiche menschlichen Zusammenlebens zu erklären suchen, und Theorien, die sich auf spezifische Bereiche bzw. historische Epochen konzentrieren. Zum anderen ist der Gegensatz zwischen Gesellschaftsbeschreibung (Beobachtung) und Gesellschaftskritik zu nennen. Gesellschaftsbeschreibungen versuchen "wertneutral" Gesetzmäßigkeiten oder Muster gesellschaftlichen Lebens zu erkennen und in einen theoretischen Zusammenhang zu stellen, währenddessen die Gesellschaftskritik mit Hilfe eines theoretisch entwickelten normativen Standpunkts versucht, die erkannten gesellschaftlichen Muster zu bewerten. In den Konstruktionen der hier vorgestellten Theorien sind die Übergänge fließend. So kommt z.B. keine Kritik daran vorbei, erst einmal möglichst neutral zu beschreiben, was denn eigentlich kritisiert werden soll. Problematisch ist dabei, die Beschreibung nicht bereits von der Kritik beeinflussen zu lassen. Umgekehrt kann man in Frage stellen, ob es überhaupt möglich ist, als Soziologe - der ja selbst eine bestimmte Rolle in der Gesellschaft spielt - so etwas wie eine neutrale Position einzunehmen. Wenn diese Frage verneint werden muß, könnte es redlicher sein, den eigenen normativen Standpunkt wenigstens zu benennen, oder besser noch: ihn selbst theoretisch zu begründen. Auf diese schwierigen methodologischen Fragen gibt es zwar eindeutige philosophische Antworten, in der soziologischen Theoriekonstruktion sind die Übergänge jedoch sehr viel fließender, als erkenntnistheoretische Standpunkte vermuten lassen würden. Dennoch bezeichnen diese Gegensätze unterschiedliche Standpunkte in der wissenschaftlichen Kontroverse darüber, wie sozialwissenschaftliche Erkenntnis überhaupt möglich ist. Alle hier vorgestellten Autoren haben hierzu eine Theorie, die nicht unbedingt immer in ihren Texten zu finden ist.

326 Theorien der Gesellschaft Bei der Frage nach der Erkenntnistheorie geht es also auch um die Frage nach der Theorie hinter der Theorie. Vielleicht offenbart uns ein Theoretiker noch die Idee seiner Theoriekonstruktion, die Idee hinter der Idee offenbart er uns oft nicht, und - so die Tragik der Geschichte - sie muß ihm noch nicht einmal bewußt sein. Man kommt dann zu der scheinbar absurden Erkenntnis, daß man über eine Theorie mehr "weiß" als der Theoretiker selbst. Nehmen wir noch einmal das Haus-Beispiel: Ein Architekt konstruiert ein Haus mit einem großen Eltern-Schlafzimmer. Wir können ihm die Idee unterstellen, daß ein (Ehe-)Paar genügend Platz für seine eigensten Bedürfnisse braucht, daß räumliche Enge einer Paarbeziehung schadet und kinderfreie Zeit auch einen entsprechenden kinderfreien Raum benötigt. Nennen wir diese Theorie der Einfachheit halber "Interaktionsbezogene Raum-Zeit Äquivalenz" (IRZ). Fragen wir den Architekten nach der Idee hinter seiner Hauskonstruktion, so wird er sich selbst als Verfechter des IRZ-Theorems bezeichnen, vielleicht auch mit etwas kritischer Distanz. Mit dieser Theorie sind aber andere Ideen verbunden. So setzt sie etwa voraus, daß Paarbeziehungen gemeinsame Räumlichkeiten überhaupt benötigen, oder daß es überhaupt sinnvoll ist, als Paar zu leben. Ohne diese Voraussetzung macht die Architektur keinen Sinn und Menschen, die lieber in getrennten (und gleich großen) Räumen schlafen oder Kinder gemeinsam erziehen wollen, ohne ein "Paar" zu sein, haben ein Problem mit der Architektur. Dieses Problem kann, muß dem Architekten aber nicht bewußt sein. Existent ist es aber dennoch. Die "Idee" steckt im Haus, nicht unbedingt im Kopf des Architekten. So wie hinter der Konstruktion eines Architekten eine spezifische Sozialtheorie steckt, so findet sich hinter jeder Gesellschaftstheorie eine spezifische Erkenntnistheorie. Sie ist in jeder Theorie enthalten, auch wenn sie nur mehr oder weniger explizit gemacht wird. Wenn man zum Beispiel das Glück und das Amüsement hatte, Niklas Luhmann einen Vortag halten zu hören, in dem er für seine eigene Theorie postuliert, sie sei "der Fall und nichts stecke dahinter", kann man diese Aussage nur vor dem Hintergrund seiner Vorstellung von der Möglichkeit soziologischer Erkenntnis verstehen. Für Luhmann kann ein soziologischer Prozeß des "hinter die Dinge Sehens" nicht abgeschlossen werden, denn: was steckt hinter den Dingen, die hinter den Dingen stecken (usw.)? Die Kritik von Ideologien müßte für Luhmann selbst wiederum ideologiekritisch betrachtet werden. Eine solche Erkenntnisstrategie entfernt sich aber für Luhmann von dem, was eigentlich beobachtbar, also: "der Fall" ist. Da eine solche erkenntnistheoretische Position aber nicht nur für die Beobachtung der Gesellschaft, sondern auch für die Beobachtung der Theorie selbst gilt, muß man eben sagen, daß diese der "Fall" ist, und nichts weiter dahinter steckt. Woher weiß man aber nun, welche Erkenntnistheorie hinter welcher Gesellschaftstheorie steckt? Zum einen steht es im Text oder "zwischen den Zeilen". In der Regel hat man es als Soziologe, der sich mit Gesellschaftstheorien auseinandersetzt, ja mit Texten zu tun, die sich als solche von der Person des Autors losgelöst betrachten lassen. Nur dadurch ist es möglich, daß z.B. Jens Jetzkowitz einen Beitrag über Talcott Parsons schreibt, ohne ihn persönlich gekannt oder sich mit dessen Biographie auseinandergesetzt zu haben.

Theorievergleich 327 Zum anderen kann es aber auch sinnvoll sein, anders zu arbeiten. Biographische Analysen über den persönlichen und/oder wissenschaftlichen Werdegang eines Autors können auch einen Zugang zu seiner Theorie, besonders aber zu seiner Theorieentwicklung darstellen. Dort wo das Erkenntnisinteresse einer Theorie nicht explizit gemacht wird und sich die Frage nach der Erkenntnistheorie nur durch eine Lektüre zwischen den Zeilen beantworten läßt, kann es durchaus sinnvoll sein, sich in historischer Methode einer Theorie und einem Theoretiker zu nähern, um nach Entwicklungspfaden, Schulen und biographischen Zäsuren zu suchen (vgl. Kaessler 1999). Die folgenden Fragen können dabei helfen, sich der Problematik des Zusammenhangs von Erkenntnisinteresse und Gesellschaftstheorie bewußt zu werden und gezielt nach Sekundärliteratur zu suchen: - Welchen Zweck verfolgt die Theorie? - Was kann man mit ihr "anfangen"? - Sagt uns die Theorie, was richtig und was falsch ist? - Wenn ja, wie begründet sie diese Einsicht? - Wenn nein, wie begründet sie diesen Anspruch? - Welches Menschenbild wird von der Theorie vertreten? - Macht sie empirisch überprüfbare Aussagen, stellt sie also Hypothesen auf? - Welchen gesellschaftsrelevanten Stellenwert postuliert die Theorie für sich? Es gibt spezifische Erkenntnistheorien, die von Gesellschaftstheorien spezifische Antworten auf diese Fragen erwarten. Spezifische Antworten auf diese Fragen in den jeweiligen Gesellschafstheorien zu finden hilft also dabei, zu entscheiden, welche erkenntnistheoretische Position ein Theoretiker einnimmt. Von einer "kritischen" Gesellschaftstheorie muß z.B. die Formulierung eines normativen Standpunktes ebenso erwartet werden wie ein praktischer Bezug. Sie muß uns sagen können, was richtig und was falsch ist, und sie muß uns ebenso sagen können, wie man die Dinge ändern kann. Von "konstruktivistischen" Gesellschaftstheorien muß erwartet werden, daß sie sich - wenn überhaupt - zu diesen Fragen nur hypothetisch äußern. Von einer "kritisch-rationalen" Gesellschaftstheorie sollte man empirisch überprüfbare Aussagen erwarten, ist doch ihr Anspruch, daß Erkenntnis nur durch die falsifikationsoffene Überprüfung von Hypothesen möglich ist. Dies sind nur Beispiele. Sie verdeutlichen aber auch, daß die oben genannten Fragen keinen Katalog zur Beurteilung der Güte einer Gesellschaftstheorie abgeben können. Ein an Zeitdiagnose und Kritik interessierter Theoretiker wird einem Konstruktivisten schnell vorwerfen können, keine relevanten Aussagen machen zu können. Konstruktivisten werfen hingegen Realisten schnell vor, nur eine spezifische (auch anders mögliche) Konstruktion der Realität anzubieten. Sie haben aber wiederum das theorieimmanente Problem aufzuzeigen, warum und auf welcher Bewertungsgrundlage (wenn doch alles ohnehin nur kontingente Konstruktion ist) die eigene konstruktivistische Gesellschaftskonstruktion die bessere sei. Ein Theoretiker mit dem erkenntnistheoretischen Anspruch der empirischen Falsifizierbarkeit einer theoretischen Aussage hat sicherlich schneller mit komplexen Theoriekonstruktionen Schwierigkeiten,

328 Theorien der Gesellschaft weil komplexe Theorien komplexe Theoriekonstruktionen mit abstrakten Begrifflichkeiten hervorrufen, die sich wiederum nur schwer und mit erheblichem Interpretationsbedarf empirisch operationalisieren lassen. Wenn derartige Gütekriterien aufgestellt werden, sind diese also selbst nur innerhalb eines spezifischen erkenntnistheoretischen Paradigmas "gültig". Da diese Positionen aber in jedem Falle strittig sind, macht es keinen Sinn, auf diese Art und Weise nach Gütekriterien des Theorievergleiches zu suchen. Arbeitsaufgaben 3. "Entweder smtms der rflochten, und geht konkret in die Wissenschaft von ihr ein, oder diese ist einzig ein Produkt subjektiver Vernunft, jenseits aller Rückfragen nach ihrer objektiven Vermittlung." (Theodor W. Adorno 1972) Nehmen Sie mit Hilfe der Theorie autopoietischer Systeme von Niklas Luhmann Stellung zu dieser Behauptung und vergleichen Sie den Luhmannschen Standpunkt mit Theorien der Postmoderne. Literaturempfehlung Theodor W. Adorno u.a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Frankfurt/Main. 1972. . Jürgen Habermas / Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. B 1 1 i Giesen < Michael Schmid (II i ' d Geschichte. Erklarungsprobleme in den Sozuüwhsensehaften. Harnburg, 1975.

3. Zeitdiagnose Die meisten Gesellschaftstheorien versuchen nicht nur die Funktionsweise moderner Gesellschaften zu verstehen. Teil dieses "Verstehens" ist es auch mehr oder weniger explizit, in irgendeiner Weise eine qualitative Bestimmung vorzunehmen, nach dem Motto: Wie steht es um unsere Gesellschaft? In Analogie zur Tätigkeit eines Arztes kann man hier von der "Diagnose" sprechen. Derartige gesellschaftstheoretische Zeitdiagnosen gibt es viele auf dem Markt (zum Überblick: Schimank/ Volkmann 2000). Viele davon zeichnen sich durch eine gewisse "Theoriezurückhaltung" (ReeseSchäfer 1996: 379) aus, obgleich bei weitem nicht alle Resultat empirischer Arbeiten sind. Die hier vorgestellten Gesellschaftstheorien gehören nicht alle zu diesem Genre, aber jede der hier vorgestellten Theorien kann auch als Zeitdiagnose gelesen werden. Dies widerspricht nicht unbedingt dem weiter oben aufgezeichneten Gegensatz zwischen beschreibenden und kritischen Theorien, denn eine Zeitdiagnose muß keinen eigenen kritischen Standpunkt begründet haben. Was ist damit gemeint? Die Frage danach, wie man die aktuelle Gesellschaft bewertet oder welche Diagnose man stellt,

Theorievergleich 329 ist in starkem Maße davon abhängig, wie man die Gesellschaft beobachtet, zu beobachten in der Lage ist. Dies wiederum unterscheidet sich sehr stark danach, über welche Theoriekonstruktion man verfugt und welches Erkenntnisinteresse man hat. Theoriekonstruktionen engen nicht notwendigerweise die Sichtweise ein, aber sie filtern in gewisser Weise immer das, was man mit ihnen beschreiben kann. Aber obwohl dies so ist, handelt es sich hier nicht um zwei unabhängige und eine abhängige Variable. Gesellschaftstheorie ist immer auch Teil der Gesellschaft in der Form, daß theoretische Wertungen - ob man sie jetzt für objektiv hält oder nicht - in Theoriekonstruktion und Erkenntnisinteresse einfließen. In diesem Sinne ist jede Gesellschaftstheorie auch Zeitdiagnose, auch dann, wenn die Zeitdiagnose nicht das erklärte Erkenntnisinteresse darstellt oder die Theoriekonstruktion für alle diagnostischen Optionen offen ist. In diesem Sinne kann also mit Zeitdiagnose nicht unbedingt auch Gesellschaftskritik gemeint sein, wie sie weiter oben als Resultat eines spezifischen Erkenntnisinteresses vorgestellt wurde. Es gibt einen wesentlichen Punkt, der Gesellschaftskritik von Zeitdiagnose scheidet: "Die Gesellschaftskritik läßt sich auf die Zeitgebundenheit der vorgefundenen Strukturen von vornherein nicht ein, sondern neigt stattdessen dazu, eine vorher fertige Theorie bloß noch auf die jeweilige Situation anzuwenden (...). Eine Zeitdiagnose dagegen setzt die Zeitlichkeit der Gegenwart an die aller erste Stelle, sie versucht also das zu diagnostizieren, was das besondere an ihr ist, was das Jetzt vom Vorher und Nachher unterscheidet." (Reese-Schäfer 1996: 379) Grob ist es daher möglich, die Zeitdiagnosen der hier vorgestellten Gesellschafstheorien danach zu unterscheiden, ob sie bei der Bewertung der Moderne in der Tradition soziologischer Klassiker wie Max Weber, Georg Simmel oder Emile Dürkheim stehen, oder ob sie die zeitgenössische Moderne in der Qualifizierung ihrer wichtigsten Strukturmerkmale von dem dort beschriebenen "Projekt der Moderne" unterscheiden möchten. Sicherlich behauptet keine der hier dargestellten Theorien, daß die moderne Gesellschaft hinreichend von den Klassikern beschrieben wurde. Dennoch halten viele an der im ersten Kapitel dieses Buches dargestellten Beschreibung der modernen Gesellschaft fest. Andere Theoretiker sehen jedoch in dieser Hinsicht neue Zeiten angebrochen. Hier gilt es zuerst eine begriffliche Klarstellung zu treffen. In der Alltagssprache bezeichnet man ja die Gesellschaft, in der man selbst lebt, als "modern". Wir müssen diesen Begriff durch den der "aktuellen" Gesellschaft ersetzen, da manche Theoretiker diese aktuelle Gesellschaft als "modern", andere aber als "postmodern" bezeichnen. Jene, die "modern" sagen, sehen in der Regel die aktuelle Gesellschaft als das Resultat eines "Modernisierungsprozesses" an. Dieser Prozeß wird von bestimmten Mechanismen gespeist, die, einmal in Gang gekommen, die Modernisierung immer weiter vorantreiben. Für derartige Gesellschaftstheorien ist die aktuelle Gesellschaft genauso eine "moderne" Gesellschaft, wie dies schon die Gesellschaften vor 50 oder 100 Jahren waren. Die Grundprinzipien des Modernisierungsprozesses haben sich nur immer weiter durchgesetzt, die aktuelle Gesellschaft ist einfach noch "moderner" geworden. Diese angenommenen Grundprinzipien des Modernisierungsprozesses unterscheiden sich dann auch nur sehr geringfügig von jenen, die bereits die Klassiker für ihre eigenen aktuellen Gesellschaften herausgestellt haben. Zu nennen

330 Theorien der Gesellschaft sind hier Prozesse der Differenzierung, der Mobilisierung, der Individualisierung, der Demokratisierung, der Verwissenschaftlichung, der Rationalisierung, der Kommunikationsvermehrung usw. Moderne unterscheiden sich von vormodernen oder "traditionellen" Gesellschaften darin, daß es in letzteren diese Prozesse noch nicht gab; sie unterscheiden sich also qualitativ. Die aktuelle Gesellschaft unterscheidet sich für diese Theorien von früheren modernen Gesellschaften hingegen nur quantitativ, es hat eben noch ein gewisses "Mehr" an Modernisierung stattgefunden. Die Anhänger der Postmoderne sehen aber auch einen qualitativen Grund, die aktuelle Gesellschaft von modernen Gesellschaften begrifflich zu unterscheiden. Die Notwendigkeit einer begrifflichen Unterscheidung hat aber nicht nur zu dem Schlagwort "Postmoderne" gefiihrt, andere Begriffe, die aber nicht eine so deutliche Zäsur unterstellen, sind "reflexive Moderne" oder "zweite Moderne". Die Theorien einer qualitativ neuen Moderne legen verständlicherweise ein sehr viel stärkeres Gewicht auf die Zeitdiagnose als Theorien, die sich mit dem Projekt der Moderne an sich auseinandersetzen (vgl. Reese-Schäfer 1999), auch haben sie einen stärkeren aktuell-empirischen Bezug. Dennoch kommen sie bei der Bestimmung dessen, worin das qualitativ Neue der aktuellen Gesellschaft liegt, zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen. Als konvergent kann man wohl lediglich die Beobachtung bezeichnen, daß die aktuelle Moderne Rationalität als solche und damit den angenommenen Primat der Rationalisierung der klassischen Modernisierungstheorien in Frage stellt. In der aktuellen Moderne wendet sich das klassische Projekt der Moderne gegen sich selbst und schafft auf diese Weise etwas qualitativ Neues. Arbeitsaufgaben 4. Versuchen Sie anhand der Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann verschiedene Geschehnisse zu kritisieren. 5. Vergleichen sie anhand der Theorie von Talcott Parsons die Leistungsfähigkeit unterschiedlicher empirischer Gesellschaftssysteme. 6. Wie unterscheidet sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in der Postmoderne von dem in der Moderne? Versuchen Sie, empirische Beispiele zu finden. 7. Auf welchem Verständnis und welchem Bild von Geschichte basieren die unterschiedlichen Diagnosen der aktuellen Gesellschaften? Literaturempfelilung Walter Reese-Schäfer: "Zeitdiagnose als wissenschaftliche Aufgabe." In: Berliner Journal für Soziologie, 6, 1996, S. 377-390. Walter Reese-Schäfer: "Die seltsame Konvergenz der Zeitdiagnosen: Versuch einer Zwischenbilanz." In: Soziale Welt, 50, 1999, S. 433-448.

Theorievergleich 331

4. Empirische Basis Die Soziologie ist eine empirische Wissenschaft. Auch Gesellschaftstheorien benötigen empirische Daten, um ihre Aussagen zu stützen; nur sehr selten auch, um sie zu belegen oder gar induktiv herzuleiten. Es gibt gute Gründe, auch von Gesellschaftstheorien empirische Plausibilität zu erwarten: Die Präzisierung des Geltungsbereiches theoretischer Aussagen auf spezifisch empirische Phänomene macht es einfacher, vorhandenes empirisches Wissen in die Theorie zu integrieren und umgekehrt, theoretische Aussagen in Hinblick auf die historische Veränderung der empirischen Realität zu modifizieren oder zu falsifizieren. D.h., nur Theorien, die mit beiden Beinen auf dem Boden stehen, merken, wenn sich der Boden unter ihren Füßen verändert. Die hier vorgestellten Gesellschaftstheorien haben alle einen deduktiven Zugang zur empirischen Realität. Sie konstruieren Erklärungen und versuchen empirische Plausibilität zu gewinnen. Sie sind nicht das Ergebnis empirischer Grundlagenforschung in dem Sinne, daß sie kleinste empirische Einheiten durch immer stärkerer Verallgemeinerung zu einer großen Theorie induktiv zusammenzusetzen suchen. Auf diese Weise bis zu einer Theorie der Gesellschaft zu gelangen wäre auch sicherlich ein schwieriges Unterfangen. Mit aus diesem Grunde besteht das empirische Datenmaterial fast aller in diesem Band vorgestellten Gesellschaftstheorien in "historischen" Fakten. Bei allen Problemen, die mit diesem Datenmaterial verbunden sind, - vor allem der Tendenz, soziale Fakten ohne Berücksichtigung ihrer historischen Situation aus einer neuzeitlichen Perspektive zu interpretieren - bleibt doch kaum eine andere Möglichkeit, als dieses Datenmaterial zu nutzen, wenn man die aktuelle Gesellschaft als Resultat eines historischen Modernisierungsprozesses oder eines ausgeprägten Epochenwandels zu verstehen sucht. Neben der Geschichte der Gesellschaft gibt es zusätzlich noch die Möglichkeit, die Geschichte der Gesellschaftsanalyse selbst in die Theoriekonstruktion einzubauen, um auf diese Weise die Schwierigkeit, historische Daten richtig zu interpretieren, etwas abzufedern. Auch durch die kritische Auseinandersetzung mit "klassischen" Zeitdiagnosen anhand der Interpretation aktueller Phänomene ist es möglich, eine empirisch informierte Konstruktion von Gesellschaftstheorie zu betreiben. Viele der hier vorgestellten Theorien beziehen daher in ihrer Verbindung zur "Realität" auch den Bezug zu klassischen Theoriediskursen ein. Alle hier vorgestellten Theorien gehen aber letztlich von theoretischen Annahmen aus, die sich selbst nicht empirisch bestätigen oder verwerfen lassen. Sie zeichnen sich vielmehr durch einen unterschiedlichen Grad von Irritierbarkeit aus. Hier gibt es jedoch gravierende Unterschiede: Zwar sind alle hier vorgestellten Theorien Ergebnis deduktiver Schlüsse, aber lassen sie sich nicht dennoch auch von induktiven Schlüssen irritieren? Das ist in vielen Fällen nur eine hypothetische Frage, es gibt aber durchaus Theorien oder besser: Theorieschulen, die systematisch induktive Schleifen in ihr Programm eingearbeitet haben und auf diese Weise zu neuen theoretischen Aussagen gelangen. Gerade die Rational-Choice-Theorie hat auf diese Weise bis heute sehr starke Veränderungen

332 Theorien der Gesellschaft durchlebt, aber auch die Theorien von Foucault, Habermas oder Giddens verstehen sich nicht nur als empirisch informiert, sondern auch als empirisch irritierbar an. Arbeitsaufgaben 8. Suchen Sie in verschiedenen Gesellschaftstheorien nach historischen Belegen für theoretische Aussagen. 9. Suchen Sie nach historischen Ereignissen, die von den Theorien unterschiedlich interpretiert werden. 10. Suchen Sie nach Möglichkeiten, alle hier vorgestellten Theorien anhand aktueller Geschehnis.se m diskutieren, ••::.'••'• Literaturempfehlung Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus. Tübingen, 1965. Udo Kelle: Empirisch begründete Theoriebildung. Weinheim, 1994. Karl-Dieter Opp / Reinhard Wippler (Hg.): Empirischer Theorievergleich. Opladen, 1990.

5. Erkenntnis und Interesse Auch wenn es die Sache nicht einfacher macht: es ist absurd zu meinen, es gäbe nur eine "richtige" Gesellschaftstheorie, und es ginge lediglich darum, sich diese anzueignen und richtig anzuwenden. Ebenso absurd ist es allerdings auch zu meinen, an allen Theorien sei schon etwas Wahres dran und es ginge lediglich darum, die richtige Mixtur zu kreieren. Beide Auffassungen negieren den hier dargestellten Zusammenhang zwischen Theoriekonstruktion, Erkenntnisinteresse, empirischer Basis und Zeitdiagnose. Alle diese Elemente einer Gesellschaftstheorie stehen in einer kausalen Verbindung mit den anderen Elementen. Man kann z.B. Gesellschaftstheorien nicht anhand empirischer Daten miteinander vergleichen, weil diese Theorien nicht nur spezifische Aussagen machen, sondern hinter diesen Aussagen auch spezifische "Weltdeutungen" und Erkenntnistheorien stehen, die nicht gleichsam ebenfalls einer empirischen Überprüfung unterzogen werden können. Empirische Aussagen sind vor dem Hintergrund einer bestimmten Erkenntnistheorie plausibel, vor dem Hintergrund einer anderen Erkenntnistheorie hingegen absurd. Dennoch können Aussagen über Gütekriterien gemacht werden, ohne eine "Weltdeutungsschule" zu bevorzugen. Es handelt sich dabei um Minimalforderungen, die sich aus den hier vorgestellten analytischen Ebenen ergeben.

Theorievergleich 333 Empirische Basis: Eine Gesellschaftstheorie ohne empirische Irritierbarkeit hebt ab und wandelt sich nur noch aus theorieinternen Gründen. Sie wird zur reinen Philosophie. Eine Gesellschaftstheorie mit soziologischem Anspruch muß sich gegenüber empirischen Veränderungen offen und irritierbar zeigen. Sie sollte daher Kriterien benennen, nach denen ein systematischer Bezug zu empirischen Sachverhalten hergestellt werden kann. Erkenntnistheorie: Erst vor dem Hintergrund einer spezifischen Erkenntnistheorie ist jedoch ersichtlich, was aus Irritationen wird bzw. werden kann. Erkenntnistheorien sind so etwas wie der schließende Kern einer Gesellschaftstheorie. Vor ihrem Hintergrund wird deutlich, was eine Theorie sehen kann, aber auch, was eine Theorie sehen will. Gesellschaftstheorien sollten die ihnen zugrunde liegende Erkenntnistheorie klar benennen und diese Einschätzung nicht dem Leser überlassen. Zeitdiagnose: Die Einschätzung empirischer Sachverhalte vor dem Hintergrund anderer - manchmal auch besserer - Möglichkeiten, ist Bestandteil einer jeden Gesellschaftstheorie. Dieser zeitdiagnostische Aspekt zeigt uns, worauf die Theorie eigentlich hinaus will. Dieser Aspekt macht gleichsam den "Sinn" einer Theorie innerhalb der Gesellschaft aus. Gleichgültig in welchem erkenntnistheoretischen Kontext eine Gesellschaftstheorie zu finden ist, sollte sie dem Umstand Rechnung tragen, daß sie selbst Bestandteil einer Gesellschaft ist, über die sie Aussagen macht. Jede Gesellschaftstheorie sollte auch eine praktisch-reflexive Auseinandersetzung mit den Bedingungen der eigenen Zeitdiagnose bieten. Theoriekonstruktion: Durch die Theorekonstruktion werden Zeitdiagnose, empirische Aussagen und Erkenntnistheorie miteinander in einer Theorie der Gesellschaft verbunden. Das wichtigste Gütekriterium kann hier nur das der Stringenz sein. Damit ist jedoch mehr gemeint als nur plausible Argumentation und vernünftige Begriffsbildung. So wären z.B. Theorien, die sich dem kritischen Rationalismus verpflichtet fühlen, aber Hypothesen aufstellen, die sich nicht falsifizieren lassen, nicht stringent. Eine Theoriekonstruktion bedarf nicht nur einer begrifflichen, sondern auch einer logischen Stringenz. Die Integration der oben beschriebenen Theoriebereiche muß gewährleistet und plausibel, d.h. nachvollziehbar sein. Zusätzlich kann eine gewisse "Ökonomie" der Semantik eingefordert werden. D.h., die Komplexität einer Theoriekonstruktion sollte in einem vernünftigen Verhältnis zum Erkenntnisgewinn stehen. Es ließen sich eine Reihe weitere Kriterien formulieren. So kann man z.B. nach dem innovativen Potential einer Theorie fragen, der sprachliche Formulierung oder ihrer Systematik. Mit den hier vorgestellten Gütekriterien sind also lediglich Minimalforderungen gestellt.

334 Theorien der Gesellschaft Arbeitsaufgaben IL Nennen Sie für jedes hier vorgestellte Gütekriterium ein extrem gutes und ein extrem schlechtes Beispiel aus den vorgestellten Gesellschaftstheorien. Suchen Sie nach theorieimmanenten Gründen für Ihre Einschätzung. Literat« rempfehlung Max Haller: Soziologische Theorie im systematisch-kritischen Vergleich. Opladen, 1999. Bernhard Giesen / Michael Schmid (Hg.): Theorie, Handeln und Geschichte. Erklärungsprobleme in den Sozialwissenschaften. Hamburg, 1975. 6. Zitierte und weiterführende Literatur: Adorno, Theodor W. u.a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied, 1972. Giesen, Bernhard / Schmid, Michael (Hg.): Theorie, Handeln und Geschichte. Erklärungsprobleme in den Sozialwissenschaften. Hamburg, 1975. Habermas, Jürgen: Zur Logik der Sozialwissenschaften. Frankfurt, 1982. Haller, Max: Soziologische Theorie im systematisch-kritischen Vergleich. Opladen, 1999. Hondrich, Karl Otto / Matthes, Joachim (Hg.): Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften. Neuwied, 1978. Kelle, Udo: Empirisch begründete Theoriebildung. Weinheim, 1994. Mills, C. Wrigth: Kritik der soziologischen Denkweise. Neuwied, 1963. Mittelstraß, Jürgen (Hg.): Methodologische Probleme einer normativ-kritischen Gesellschaftstheorie. Frankfurt, 1975. Opp, Karl-Dieter: Methodologie der Sozialwissenschaften. Einführung in Probleme ihrer Theoriebildung und praktischen Anwendung. Opladen, 1995. Popper, Karl R.: Das Elend des Historizismus. Tübingen, 1965. Reese-Schäfer, Walter: "Zeitdiagnose als wissenschaftliche Aufgabe." In: Berliner Journal für Soziologie, 6, 1996, S. 377-390. Reese-Schäfer, Walter: "Die seltsame Konvergenz der Zeitdiagnosen: Versuch einer Zwischenbilanz." In: Soziale Welt, 50, 1999, S. 433-448. Schimank, Uwe / Volkmann, Ute: Soziologische Gegenwartsdiagnosen. Opladen, 2000. Schmid, Michael: Rationalität und Theoriebildung. Amsterdam; Atlanta, 1996. Schütz, Alfred / Parsons, Talcott: Zur Theorie sozialen Handelns. Ein Briefwechsel. Frankfurt, 1977. Topitsch, Ernst (Hg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln, 1976.

Hinweise zu den Autorinnen und Herausgebern:

Behnke, Joachim, Dr., wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Politikwissenschaft I der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Bonacker, Thorsten, Dr., wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie der Phillips-Universität Marburg. Brosziewski, Achim, Dr., wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie der Universität St. Gallen. Jetzkowitz, Jens, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut fiir Soziologie der Phillips-Universität Marburg. Junge, Matthias, PD Dr., Dozent für Soziologie am Institut fiir Soziologie der Technischen Universität Chemnitz. Kern, Thomas, Dr., Institute of Social Development Research, Yonsei-University Seoul. Lahusen, Christian, Dr., wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Soziologie II der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Müller, Klaus, PD Dr., Gastprofessor für Soziologie am FB Politik und Sozialwissenschaften der FU Berlin. Stäheli Urs, Ph.D., Visiting Assistant Professor am German Department der Stanford University. Stark, Carsten, Dr., wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Soziologie II der Otto-Friedrich-Universität B amberg. Teilmann, Ute, Dipl. Soz., Department of Political Science der Cornell University. Viehöver, Willy, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt "Vergesellschaftung der Natur und Naturalisierung der Gesellschaft" an der Universität Augsburg.