Theorie des philosophischen Arguments I und II: Ergänzt durch Aufsätze zur systematischen Philosophie 9783110629200, 9783110624687

Reinhard Lauth (1919–2007) was one of the most important systematic philosophers of the twentieth century. In his 1979 &

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Theorie des philosophischen Arguments I und II: Ergänzt durch Aufsätze zur systematischen Philosophie
 9783110629200, 9783110624687

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Theorie des philosophischen Arguments Teil I: Der Ausgangspunkt und seine Bedingungen
Zur Einleitung
I. Das philosophische Argument als Gegenstand dieser Untersuchung
II. Das Argument als Einheit von Grundsynthesis und Geltungserhebung
III. Das aussagende Argument als Behauptung oder Problem
IV. Das Argument als argumentative Intention
V. Das Argument als Einheit des Sichbehauptens und einfachen Behauptens
VI. Das unmittelbar Gesehene als Baustoff des Arguments
VII. Die Realisation von Wissen im Argument
VIII. Die Bezugnahme des Arguments auf Wahrheit
IX. Die Behauptung als Beanspruchung von Wahrheit
X. Wahrheit als bestimmender Wert des Arguments
XI. Die Idee der zu realisierenden Bewährung
XII. Der Vorbegriff von Erkenntnis im Argumente
XIII. Die Voraussetzung der Idee der Bewährtheit
XIV. Die Voraussetzung wenigstens eines Minimums an Erkenntnissen im Argumente
XV. Die Voraussetzung der Existenz von Erkenntnis im Argument
XVI. Der der Freiheit offenstehende Bereich der Aussage
XVII. Die als solche gesehene Differenz von Meinung und Erkenntnis im Argument
XVIII. Die als solche gesehene Differenz des Bildes von sich, als Bildes des Bildes des Seins und des Seins selbst, sowie der doppelten Konzeption des gebildeten Seins
XIX. Voraussetzung der möglichen Gelöstheit des Seinsbildes vom Sein selbst
XX. Voraussetzung des wahren Seins des Bildseins als solchen im Argumente
XXI. Die Voraussetzung der Gelöstheit des Wissensbildes von sich selbst im Argumentieren
XXII. Die Differenz von sich praeformierendem und performiertem Argument und die dadurch bedingte Zurückkunft des Argumentierenden auf die Praeformation der Aussage
XXIII. Die als solche im Argument angesetzte Differenz von Wissens- und Erkenntnisbild. (Der methodische Zweifel)
XXIV. Die Distanz zum Sein selbst im philosophischen Argumente
XXV. Die Freiheit der Konsideration im philosophischen Argument
XXVI. Die wissentlich unwahre Aussage
XXVII. Die Beurteilung mittels Vorstellens einer Aussage als Meinung und Fiktion
XXVIII. Ansatz von Elementen oder Momenten des Arguments als Hilfshandlung zur Bildung von Meinungen
XXIX. Das Scheinargument
XXX. Die Möglichkeit universellen Bezweifelns
XXXI. Die grundlegende Situation des Arguments
XXXII. Metaphysische Bezweiflung
XXXIII. Provisorische Gültigkeit
XXXIV. Die faktisch begründete Denknotwendigkeit als zur Begründung von Evidenz unzureichende
XXXV. Die grundlegende Hypothese der Authentizität und ihre Ineffizienz, sich aus sich zu bewähren
XXXVI. Die unmittelbare Selbstbewährung der Wahrheit
Theorie des philosophischen Arguments Teil II: [Seine Rechtfertigung und seine formalen und materialen Implikationen]
I. Wahrheit als erste Gewißheit
II. Unsere Erkenntnis der Wahrheit
III. Wahrheit als absolute Forderung ihrer selbst
IV. Die Annahme der absoluten Forderung
V. Die Struktur der Annahme
VI. Das Gesamtbild in seinem Aufbau
VII. Das vom Bilden vollzogene, das Bild selbst betreffende Geltendmachen
VIII. Die Behauptung der Wahrheit des Ingeltungsetzens als Option für die Wahrheit
IX. Die Behauptung der Wahrheit des Sichgeltendsetzens als Bezugnahme auf das Absolute
X. Die absolute Pertinenz des Geltendmachens und seine Bewährung
XI. Das Sichgeltendmachen als transzendentale Synthesis
XII. Das transzendentale Sein des Bildes als Reflex- und Reflexionseinheit
XIII. Sichbestimmung als Tathandlung
XIV. Die Legitimation des Sichbestimmens im Sichgeltendmachen
XV. Die Erkenntnis der spezifischen Weise des Sichbestimmens
XVI. Das Sichbestimmen als ständiges auf sich Zurückkommen
XVII. Die Erkenntnis des Ineinandergreifens der logischen Struktur und der Kausalstruktur im Sichsetzen des Arguments
XVIII. Das Problem der Wahrheit des Bildes vom transimaginären Sein
XIX. Das Sein selbst als ein das Bilden hemmendes Sein
XX. Die Hemmung als Vorgestelltes, das mehr als nur Vorgestelltes ist
XXI. Hemmende äußere Substanzen als erschlossene Ursache der Hemmung
XXII. Intentionale Hemmungen
XXIII. Die Realität des Universums
XXIV. Induktion als Mittel des Sichgeltendmachens
XXV. Konzeption der Gestaltung der Wirklichkeit als geforderter Aufgabe
XXVI. Der letzte Grund des Ansatzes der Differenz von Bild und Sein im Wissen
XXVII. Die Gefordertheit gewisser energischer Bejahungen
XXVIII. Die Gefordertheit unserer Selbstbejahung
XXIX. Das Problem des Gefordertseins der fremden Selbstbejahung
XXX. Die absolute Forderung der Vernünftigkeit
Philosophische Aufsätze
Kausalität
Die Sistenz
Das cogito
Philosophie und Religion
Bibliographie
Namenregister
Sachregister

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Reinhard Lauth Theorie des philosophischen Arguments I und II

Reinhard Lauth

Theorie des philosophischen Arguments I und II Ergänzt durch Aufsätze zur systematischen Philosophie

Herausgegeben von Marco Ivaldo und Ives Radrizzani Unter Mitwirkung von Friedrich Bechmann

ISBN 978-3-11-062468-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-062920-0 Library of Congress Control Number: 2022930186 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Vorwort

1

Theorie des philosophischen Arguments Teil I: Der Ausgangspunkt und seine Bedingungen Zur Einleitung

5

I.

Das philosophische Argument als Gegenstand 8 dieser Untersuchung

II.

Das Argument als Einheit von Grundsynthesis 11 und Geltungserhebung

III.

Das aussagende Argument als Behauptung oder Problem

IV.

Das Argument als argumentative Intention

V.

Das Argument als Einheit des Sichbehauptens und einfachen 21 Behauptens

VI.

Das unmittelbar Gesehene als Baustoff des Arguments

VII.

Die Realisation von Wissen im Argument

VIII.

Die Bezugnahme des Arguments auf Wahrheit

IX.

Die Behauptung als Beanspruchung von Wahrheit

X.

Wahrheit als bestimmender Wert des Arguments

XI.

Die Idee der zu realisierenden Bewährung

XII.

Der Vorbegriff von Erkenntnis im Argumente

59

XIII.

Die Voraussetzung der Idee der Bewährtheit

64

14

17

34 38 44 52

56

29

VIII

Inhalt

XIV.

Die Voraussetzung wenigstens eines Minimums an Erkenntnissen 68 im Argumente

XV.

Die Voraussetzung der Existenz von Erkenntnis im Argument

XVI.

Der der Freiheit offenstehende Bereich der Aussage

XVII.

Die als solche gesehene Differenz von Meinung und Erkenntnis im Argument 74

XVIII.

Die als solche gesehene Differenz des Bildes von sich, als Bildes des Bildes des Seins und des Seins selbst, sowie der doppelten 76 Konzeption des gebildeten Seins

XIX.

Voraussetzung der möglichen Gelöstheit des Seinsbildes vom Sein selbst 81

XX.

Voraussetzung des wahren Seins des Bildseins als solchen im Argumente 82

XXI.

Die Voraussetzung der Gelöstheit des Wissensbildes von sich selbst im Argumentieren 84

XXII.

Die Differenz von sich praeformierendem und performiertem Argument und die dadurch bedingte Zurückkunft des Argumentierenden auf die Praeformation der Aussage

70

72

89

XXIII.

Die als solche im Argument angesetzte Differenz von Wissens93 und Erkenntnisbild. (Der methodische Zweifel)

XXIV.

Die Distanz zum Sein selbst im philosophischen Argumente

XXV.

Die Freiheit der Konsideration im philosophischen Argument

XXVI.

Die wissentlich unwahre Aussage

101

XXVII. Die Beurteilung mittels Vorstellens einer Aussage als Meinung 103 und Fiktion XXVIII. Ansatz von Elementen oder Momenten des Arguments 108 als Hilfshandlung zur Bildung von Meinungen

95 98

Inhalt

111

XXIX.

Das Scheinargument

XXX.

Die Möglichkeit universellen Bezweifelns

XXXI.

Die grundlegende Situation des Arguments

XXXII. Metaphysische Bezweiflung XXXIII. Provisorische Gültigkeit

114 117

120 122

XXXIV. Die faktisch begründete Denknotwendigkeit als zur Begründung 126 von Evidenz unzureichende XXXV.

Die grundlegende Hypothese der Authentizität und ihre Ineffizienz, 129 sich aus sich zu bewähren

XXXVI. Die unmittelbare Selbstbewährung der Wahrheit

134

Theorie des philosophischen Arguments Teil II: [Seine Rechtfertigung und seine formalen und materialen Implikationen] I.

Wahrheit als erste Gewißheit

139

II.

Unsere Erkenntnis der Wahrheit

III.

Wahrheit als absolute Forderung ihrer selbst

IV.

Die Annahme der absoluten Forderung

V.

Die Struktur der Annahme

VI.

Das Gesamtbild in seinem Aufbau

VII.

Das vom Bilden vollzogene, das Bild selbst betreffende 158 Geltendmachen

VIII.

Die Behauptung der Wahrheit des Ingeltungsetzens als Option 160 für die Wahrheit

141 143

147

150 154

IX

X

Inhalt

IX.

Die Behauptung der Wahrheit des Sichgeltendsetzens als Bezugnahme auf das Absolute 164

X.

Die absolute Pertinenz des Geltendmachens und seine Bewährung 167

XI.

Das Sichgeltendmachen als transzendentale Synthesis

XII.

Das transzendentale Sein des Bildes als Reflexund Reflexionseinheit 171

XIII.

Sichbestimmung als Tathandlung

XIV.

Die Legitimation des Sichbestimmens im Sichgeltendmachen

XV.

Die Erkenntnis der spezifischen Weise des Sichbestimmens

XVI.

Das Sichbestimmen als ständiges auf sich Zurückkommen

XVII.

Die Erkenntnis des Ineinandergreifens der logischen Struktur 191 und der Kausalstruktur im Sichsetzen des Arguments

XVIII.

Das Problem der Wahrheit des Bildes vom transimaginären 193 Sein

XIX.

Das Sein selbst als ein das Bilden hemmendes Sein

XX.

Die Hemmung als Vorgestelltes, das mehr als nur Vorgestelltes 199 ist

XXI.

Hemmende äußere Substanzen als erschlossene Ursache 203 der Hemmung

XXII.

Intentionale Hemmungen

XXIII.

Die Realität des Universums

XXIV.

Induktion als Mittel des Sichgeltendmachens

169

174

205 207 209

178 182 185

195

Inhalt

XXV.

Konzeption der Gestaltung der Wirklichkeit als geforderter 214 Aufgabe

XXVI.

Der letzte Grund des Ansatzes der Differenz von Bild und Sein 218 im Wissen

XXVII. Die Gefordertheit gewisser energischer Bejahungen XXVIII. Die Gefordertheit unserer Selbstbejahung

221

224

XXIX.

Das Problem des Gefordertseins der fremden Selbstbejahung

XXX.

Die absolute Forderung der Vernünftigkeit

Philosophische Aufsätze Kausalität Die Sistenz Das cogito

233 249 268

Philosophie und Religion

Bibliographie Namenregister Sachregister

287 291 293

277

XI

228

226

Vorwort Im Jahre 1979 veröffentlichte Reinhard Lauth bei De Gruyter einen Band mit dem Titel: Theorie des philosophischen Arguments, der das philosophische Rückgrat seines spekulativen Schaffens darstellt. Das Buch wurde „Klaus Hammacher gewidmet“ und ist in 263 Paragraphen gegliedert. In seinen letzten Jahren hat Lauth eine Fortsetzung konzipiert und ein Typoskript erarbeitet, das die Überschrift „2. Theil“ trägt. Er ist leider nicht mehr dazu gekommen, das Werk zu Ende zu schreiben. Dieser zweite Teil, der ihm am Herzen lag, da er bis zu seinem Hinscheiden intensiv daran arbeitete, ist unvollständig geblieben und hört nach dem 229. Paragraphen abrupt auf. Er wird hier zum ersten Mal herausgegeben, zusammen mit dem bereits 1979 erschienenen ersten Teil, um das Ganze der Theorie des philosophischen Arguments, insofern es vorliegt, in ihrer einheitlichen Form zu präsentieren. Ergänzend wird eine Reihe von unveröffentlichten Aufsätzen spekulativen Inhalts mit herausgegeben, sodass der Band einen wichtigen Teil des Nachlasses zugänglich macht. Die Vorlage zu dieser Edition des zweiten Teils des Argumentbuchs besteht aus zwei fragmentarisch gebliebenen Typoskripten (I, M). – I findet sich im Besitz von Marco Ivaldo und wurde ihm vom Verfasser lange vor Abschluss der Revisionsarbeit geschenkt; es bietet eine umfassende, aber nicht letzte Fassung dieses zweiten Teils. – M findet sich im Besitz von Hans Georg von Manz und entspricht dem letzten Stand von Reinhard Lauths Arbeit an diesem Teil. Diese gegenüber I überarbeitete Fassung deckt aber nur die ersten 93 Paragraphen ab. Der hier veröffentlichte Text wurde aus M und I zusammengesetzt: die §§ 1–93 werden in der Fassung von M, die übrigen in der Fassung von I wiedergegeben. Der Text bricht abrupt nach dem § 229 ab. Mangels einer Übersicht ist es unmöglich zu ermitteln, wie umfangreich das nicht mehr Zustandegekommene hätte sein sollen. Der Wortlaut des Verfassers ist hier treu wiedergegeben, nur offensichtliche Tippfehler wurden stillschweigend berichtigt. Für Verweise auf Lauths eigene Anmerkungen wurden Großbuchstaben verwendet; die Verweise der Herausgeber wurden mit Zahlen nummeriert. Als Ergänzung zu dieser Ausgabe des Nachlasses werden noch besonders prägnante, sachbezogene Zitate aus Lauths Vorlesungen in den erklärenden Anmerkungen angeführt. Diese Zugabe verdanken wir Herrn Friedrich Bechmann, der mit großer Zuwendung sich der Aufgabe der Aufbewahrung von Lauths Vorlesungen gewidmet hat, seine Handschriften bzw. Aufnahmen samt der von ihm verfertigten Transkriptionen im Archiv der Bayerischen Staatsbibliothek, Abteilung https://doi.org/10.1515/9783110629200-001

2

Vorwort

für Nachlässe, Handschriften und Autographen deponiert hat, und mit zahlreichen Verweisen auf Vorlesungen uns bei dieser Ausgabe unterstützt hat. Die vorliegende, neue Auflage der Theorie des philosophischen Arguments enthält – wie bereits angedeutet – auch einen Anhang mit vier „Philosophischen Aufsätzen“: „Kausalität“, „Die Sistenz“, „Das cogito“ und „Philosophie und Religion“. Sie wurden von Reinhard Lauth in seinen letzten Lebensjahren verfasst. Der Aufsatz über Kausalität trägt das Datum 2004, derjenige über die Sistenz (auch: Konsistenz) wird 2004/2005 datiert. Die anderen gehören zum selben Zeitabschnitt. Alle sind bislang auf deutsch unveröffentlicht geblieben; nur „Philosophie und Religion“ wurde von Marco Ivaldo in einer italienischen Ausgabe im Annuario filosofico (Mursia, Turin 2005/21, 27–36) veröffentlicht. Wir wollen uns auch bei Herrn Hans Georg von Manz bedanken, der in Lauths letzten Jahren eng mit ihm zusammenarbeitete und uns sehr freundlicherweise sein ganzes Material zur Verfügung gestellt hat. Für die sorgfältige Revision sind wir Fabrice Radrizzani sehr zu Dank verpflichtet. Ferner möchten wir Frau Sarah Bernard-Granger und Frau Angela Renzi für ihre Hilfe bei erklärenden Anmerkungen danken. Ein besonderer Dank gilt noch Bernhard Lauth, ohne dessen Unterstützung das ganze Unternehmen nicht hätte zustande kommen können und der uns stets zur Seite gestanden hat. Marco Ivaldo Ives Radrizzani

Rom/München im Oktober 2021

Theorie des philosophischen Arguments Teil I: Der Ausgangspunkt und seine Bedingungen

Zur Einleitung Die folgende Darlegung verfolgt die Absicht, das Argument, dessen wir uns in der Philosophie ständig notwendig bedienen, als ein Gedankengebilde, das aussagt, was wahr und was falsch ist (und nicht als ein Sprachgebilde, das Wirkungen im Hörenden erzielen will), in den in ihm beschlossenen Voraussetzungen zu verstehen. Trotz des ähnlichen Titels handelt also diese Arbeit nicht wie der „Traité de l’argumentation“ von Chaim Perelman und Lucie Olbrechts-TytecaA von der rhetorischen, sondern ausschließlich von der erkenntnistheoretischen Seite des Arguments. Zwar spielt das argumentierende Ich auch als individuelles Ich auch in den philosophisch relevanten Wissensaussagen eine bestimmte Rolle – und daraus ergibt sich, wie zu zeigen sein wird, eine interpersonale Bedeutung des Arguments; aber unsere Frage wird nicht sein, wovon und wie das Argument andere überreden und überzeugen will bzw. soll, sondern was es als wahr behauptet, bezweifelt oder verwirft.1 Gleicherweise ist die folgende Darlegung keine psychologische. Wenn z. B. eine Aussageform wie die Lüge behandelt wird, so wird ganz beiseite bleiben, wie dieselbe psychologisch zu verstehen ist, ob sie etwa und wie sie einer Person zu imputieren sei. Oder wenn der Forderungscharakter der Wahrheit aufgewiesen wird, so wird der Begriff der Forderung immer im rein philosophischen Sinne verwandt, und es bleibt ganz dahingestellt, ob man psychologisch (oder rhetorisch) derartiges nicht etwa anders zum Ausdruck bringen würde. Eines der Resultate dieser Arbeit wird sein, daß man bisher den voluntativdoxischen Anteil an der Konstitution des Arguments weithin verkannt und fast allgemein unterschätzt hat. Diese Seite der Sache ist deshalb überall da, wo sie im Spiele ist, von mir besonders herausgehoben worden. Es könnte aber eben der Eindruck entstehen, als solle die Aussage nunmehr so verstanden werden, als wäre sie in das willkürliche Belieben des Aussagenden gestellt. Ich muß deshalb den Leser, der es so empfinden sollte, bitten, den Ausführungen über die Gesetzlichkeit, die das Argument bestimmt, die entsprechende Aufmerksamkeit zu schenken. Die Aussage ist allerdings, und zwar wesentlich, durch Willensakte und doxische Funktionen mit konstituiert, aber keineswegs nur. Dem Gewicht der voluntativ-doxischen Komponenten entspricht das Gewicht

A Paris 1958; 2. Aufl., Bruxelles 1970. 1 Vgl. Lauth, Reinhard: „Die Bedingungen der Philosophie in ihrer Vollständigkeit.“ [= Bedingungen der Philosophie.] NS 1990. Bl. 4v: „In jedem Fall machen wir eine Aussage unter dem Anspruch, daß es Wahrheit gibt.“ https://doi.org/10.1515/9783110629200-002

6

Teil I

der theoretisch-gesetzlichen. Allerdings soll die vorliegende Analyse die These Descartes’ erhärten, „que la volonté aussi bien que l’entendement est requise pour juger“ (Principia I, 34). Die Intention ist nicht nur äußeres Agens der Aussage, sondern inneres Konstitutivmoment.2 Da es um die Voraussetzungen des Arguments als solchen geht, ist die Grundstruktur der Aussage (und deren Elemente und Momente) von Wichtigkeit, nicht die Möglichkeit, von dieser ausgehend komplexe Argumente aufzubauen. In der nachfolgenden Darlegung soll reflektierend durchdrungen werden, was in jedem Argument seinem bloßen Charakter als Argument zufolge investiert ist. Es wird sich zeigen, daß unsere Aussagen Enthymeme sind, die stillschweigend Behauptungen in sich schließen, die gewöhnlich nicht gedanklich oder sprachlich artikuliert werden. Bei der Vielfältigkeit der Bedeutung, die heute dem Worte Wahrheit zuerkannt wird, wird es nicht überflüssig sein, an dieser Stelle vorweg darauf hinzuweisen, daß dieses Wort im folgenden nicht im geläufigen Sinne bestimmter philosophischer Richtungen der Gegenwart, z. B. nicht im Sinne von Verifizierbarkeit genommen wird. Vielmehr wird Wahrheit aus Gründen, die aus der durchgeführten Untersuchung erhellen, eine bestimmte, der philosophischen Allgemeinheit nicht geläufige, wohl aber seit Descartes in Sicht gekommene transzendentale Bedeutung zuerkannt werden müssen. Es ist mir ein Hauptanliegen, nachzuweisen, daß die gewöhnliche Konzeption der Wahrheit als Adaequation von Bild und Sein das Wesen der Wahrheit nicht sieht. Die Übereinstimmung des Seins im Bilde mit dem Sein selbst muß nicht nur gegeben, sie muß auch gewußt sein, und dieses Wissen muß sich durch etwas über es Hinausliegendes als Erkenntnis bewähren. Wahrheit wird sich als dies Sichbewährende erweisen, durch das die Adaequation allein authentisch sein kann. Auch bitte ich zu beachten, daß wir umgangssprachlich wie in wissenschaftlichen Darlegungen zwar vielfältig von Wahrheiten sprechen, daß aber in unserer Überlegung die Eine Wahrheit in aller einzelnen Wahrheit, also die Wahrheit als Wahrheit, thematisch ist. Allein schon die Besinnung darauf, wie es möglich ist, daß wir nicht nur Aussagen über Faktisches, sondern auch praktischen (doxischen) Aussagen Wahrheit zuerkennen, muß über die Adaequationstheorie hinausführen. Die Sichbewährung der Wahrheit als Wahrheit wird sich als die höchste Voraussetzung jedes Arguments erweisen, das seinerseits wesensnotwendig Wahrheit zu realisieren trachtet.

2 Vgl. Lauth, Reinhard: „Die transzendentale Methode.“ [= Transzendentale Methode.] NS 1987. Bl. 10r: „Es gehört eine praktische Tätigkeit dazu, daß wir willentlich Bezug auf Wahrheit nehmen (auch beim Zweifel).“

Zur Einleitung

7

Diese Arbeit schließt mit dem Aufweis jener Voraussetzung und der Klärung ihrer Bedeutung ab. Wird diese Voraussetzung jedoch als legitime gesichert, so stellt sich eine zweite, nicht weniger schwierige Aufgabe, nämlich das Argument von diesem gerechtfertigten Grundmoment aus selber zu rechtfertigen, sowohl in seinen allgemeinen formalen Implikationen als auch in seinen besonderen materialen Gehalten. Die Durchführung dieser rückläufigen Sicherung muß einer besonderen Darlegung vorbehalten bleiben. Die durchgeführte Argumentenlehre kann ihrerseits den Zugang zu einer transzendentalen Begründung des Wissens eröffnen. Ich möchte diese Bemerkungen zur Einleitung nicht abschließen, ohne Herrn Gerd Umhauer und Herrn Peter Schneider freundlichst dafür zu danken, daß ich mit ihnen die vorliegenden Ausführungen durchsprechen und vor ihrer endgültigen Fassung auf eventuelle Verständnisschwierigkeiten für die Leser durchleuchten konnte. Ihre Hinweise haben mir geholfen, an den bedürftigen Stellen Anmerkungen einzufügen oder wünschenswerte Präzisierungen vorzunehmen. Reinhard Lauth

I. Das philosophische Argument als Gegenstand dieser Untersuchung 1. Diese Untersuchung soll von einem Standpunkt aus begonnen werden, auf den sich jeder, der philosophiert, allein schon durch sein Philosophieren notwendig stellt. Wir gewinnen auf diese Weise eine gemeinsame Ausgangsposition mit jedem, der an den Erörterungen der Philosophie teilnimmt, unangesehen alles dessen, was er im übrigen aussagt oder bekundet.

2. Das, was jeder, der philosophiert, durch sein bloßes Philosophieren schon immer vorbringt, ist das philosophische Argument selbst. Ob der Philosophierende nun aussagt, seinen Willen bekundet oder etwas fordert, in jedem Falle argumentiert er. Argumentiert er nicht oder nicht mehr, so stellt alles, was er dann noch bekunden oder tun mag, nichts Philosophisches mehr dar. Die gesamte Philosophie besteht, formal angesehen, nur aus Argumenten. Was immer material in ihr vorkommt, kann nur als Inhalt eines Arguments und in der Form eines Argumentes vorkommen. Dem Argumente als objektivem Faktum entspricht auf der subjektiven Seite der Akt des Argumentierens mit dem Argumente in actu.

3. Es könnte sich herausstellen, daß durch das philosophische Argument und Argumentieren bloß als solches, und mit demselben ein Ganzes von Voraussetzungen gemacht wird, die der philosophisch Argumentierende ipso facto damit zugleich als geltend ansetzt und denen er sich nicht entziehen kann, ohne aufzuhören, zu philosophieren. Da alles, was Philosophie sein soll, stets in Argumenten auftritt, so wäre durch den bloßen Umstand, daß philosophisch argumentiert wird, jenes Ganze an Voraussetzungen schon gemacht und zugestanden. Indem die Philosophie aus dem Umkreis des Arguments und Argumentierens nicht herausgehen kann, befindet sie sich unaufhebbar in einem Gebiet, wo jene impliziten Voraussetzungen Geltung beanspruchen. Die folgenden Untersuchungen sollen darlegen, daß es in der Tat so ist. https://doi.org/10.1515/9783110629200-003

I. Das philosophische Argument

9

4. Die Argumente, die in philosophischen Erörterungen vorgebracht werden und diese ausmachen, sind Argumente der Philosophie. Die Philosophie ist kein wesens- oder naturnotwendiges Faktum; sie ist nicht etwas, das im Geiste mit dessen Dasein von selbst gegeben wäre. Sie ist vielmehr eine freie Verwirklichung reflektierender diskursiver Vernunft. Philosophische Argumente sind keine Bildungen der spontan bildenden Einbildungskraft, durch welche sich der Geist allererst als wirklich konstituiert; sie sind vielmehr Bildungen der vollbewußt und frei gestaltenden Urteilskraft. Nur der argumentiert philosophisch, der es mit bewußter Freiheit tut. Eben deshalb müssen wir im philosophischen Argumentieren aber auch wissen, was wir in ihm willentlich ansetzen. Dies gilt sowohl von der philosophischen Aussage als auch von der philosophischen Manifestation von Intentionen.B

5. Eine Theorie des philosophischen Arguments soll in systematischer Einheit dasjenige zu philosophischer Erkenntnis bringen, was in einem derartigen Argument als solchem an geltenden Bestimmungen angesetzt ist und was das Argumentieren als Argumentieren dabei vollzieht. Dies zu erkennen ist möglich, weil das philosophische Argument (nach § 4) ein Gebilde der vollreflektierenden Urteilskraft ist, in welchem, soweit es philosophisch ist, nur das in Ansatz gebracht ist, was durch einen freien Akt vollreflektierenden Bewußtseins dazu bestimmt worden ist.3

6. Philosophische Argumente können wissenschaftliche oder wissenschaftlich unhaltbare Argumente sein. Beide Arten philosophischer Argumente haben das B Wird unreflektiert behauptet, so wird eben insofern nicht philosophisch argumentiert. – Unter Philosophie wird in dieser Arbeit nicht einfachhin Erkenntnis des Prinzipiellen, sondern Erkenntnis der Erstprinzipien als solcher (in ihrem Einheitsgefüge) verstanden. Vgl. des Verfassers Veröffentlichung: „Begriff, Begründung und Rechtfertigung der Philosophie“, München 1967. 3 Vgl. „Theorie des Arguments.“ NS 1988/89. Bl. 3v: „Genetische Erkenntnis: durch den Vollzug einer Erkenntnisleistung, den Vollzug der Einheit von Bewußtsein und Sein zu erfassen.“

10

Teil I

miteinander gemein, daß in ihnen nur frei Angesetztes und Vollreflektiertes vorgebracht wird. Wissenschaftlich sind von diesen philosophischen Argumenten nur diejenigen, die alles, was in ihnen angesetzt wird, effektiv legitimieren.

II. Das Argument als Einheit von Grundsynthesis und Geltungserhebung 7. Wir wollen in der reflexiven Erfassung des philosophischen Arguments als solchenC von einer Wesenseigenschaft desselben ausgehen, um von dieser her in sein Grundwesen einzudringen: Das Argument stellt eine Synthesis dar, d. i. eine im Vollzug eines geistigen Aktes und durch diesen sich ergebende Verbindung von vorgestellten Elementen zu einer vorgestellten Beziehungseinheit. Diese Synthesis wird nachfolgend die Grundsynthesis des Arguments genannt.

8. Liegt keine derartige Synthesis vor, so ist auch kein Argument gegeben, somit nichts, was als Philosophisches relevant wäre. Dann sind auch die Elemente, die andernfalls die Grundsynthesis bilden und in ihr auftreten würden, nicht im Spiele; sie sind vom Geiste in keine Beziehungseinheit gefaßt, somit auch nicht argumentierend vorgestellt. In diesem Falle haben wir es mit einem NichtArgument (non argumentum) zu tun. Es ist dann weder eine Synthesis, noch sind Elemente vorgestellt. Das Nicht-Argument ist natürlich gedanklich sorgfältig von jener spezifischen Form des Arguments zu unterscheiden, die wir Negation nennen. In der Negation liegt eine bestimmte Form der Synthesis, nämlich der bestimmte Ausschluß eines bestimmten Bezuges eines Elementes zu einem anderen (z. B. der Weiterbestimmung an einer Grundbestimmung) vor.

9. In der dem Argument eigentümlichen Grundsynthesis sind die in derselben befaßten Elemente in ein Verhältnis, nämlich in eine bestimmte Beziehung zuei-

C Wir handeln im folgenden, wie in der Einleitung ausgeführt, immer nur von dem gedanklichen Gebilde, nicht von dem sprachlichen; und das gedankliche Gebilde beschäftigt uns als wissenschaftliche, nicht als rhetorische Aussage. https://doi.org/10.1515/9783110629200-004

12

Teil I

nander gebracht. Sie sind in dieser Synthesis in ein und demselben geistigen Akte (Vorstellen und Wollen), als subjektiver Einheit (cogitatio), und auf Grund dieses Aktes verbunden, d. i. bestimmend aufeinander in einer objektiven Vorstellungseinheit (cogitatum) bezogen. Dieser Bezug ist wesensnotwendig für das Argument und folglich invariabel gegeben, wo ein Argument gegeben ist; seine Aufhebung vernichtete das Argument als solches.

10. Das Verhältnis in einem Argument, das die Elemente zu einer objektiven Einheit verbindet, die Grundsynthesis, stellt als solches allein noch kein Argument dar. Zu der bestimmenden Beziehung der Elemente aufeinander und zu ihrer Verbindung in einer Beziehungseinheit kommt es nur, wenn noch etwas Weiteres hinzutritt, nämlich die Erhebung einer Geltung dieser Beziehungseinheit. Von der das Argument bildenden Synthesis wird ausgesagt, daß ihr Geltung positiv zukomme, oder es wird von ihr ausgesagt, daß ihr Geltungswert noch nicht sichergestellt sei, sondern zweifelhaft sei. Wird keine Geltung, weder eine feste noch eine schwankende d. i. zweifelhafte, zugestellt, so kommt es zu keinem Argument. Eine primäre Aberkennung der Geltung ist demnach unmöglich. Nur eine schon ins Auge gefaßte Geltung kann aberkannt werden. Ein solches Aberkennen ist ein höherstufiger Akt, der auf unterer Stufe eine Geltungserhebung voraussetzt.

11. Erst durch die Geltungserhebung, d. i., wie sich zeigen wird, durch die Konzeption der Grundsynthesis in bezug auf Wahrheit, wird die Grundsynthesis zur Synthesis im Argument.4 Erst ihre Verbindung mit der Geltungsaussage macht sie erkenntnisrelevant. Die argumentative Synthesis kann gar nicht formiert werden, ohne daß sie mittels einer Geltungserhebung zustande gebracht wird. Im Argument wird ja das Bestehen einer derartigen Beziehung der Elemente aufeinander (problematisch oder assertorisch) angesetzt. Ein derartiges Bestehen einer Beziehung von

4 Vgl. Lauth, Reinhard: „Die Theorie des Arguments als Weg zur Wissenslehre.“ [= Theorie des Arguments.] NS 1988/89. Bl. 13v: „Geltung zu erheben, macht die Synthesis aus, d. h. wir sagen im Grunde, es ist wahr.“

II. Einheit von Grundsynthesis und Geltungserhebung

13

Elementen in einer Vorstellungseinheit ergibt sich aber nicht von selbst durch das bloße Zusammenstellen von Elementen, sondern muß gedanklich eigens konstituiert werden. Dieses Bestehen wird mit gedanklichem Bezug auf ein denkbares Nichtbestehen konzipiert und mit der Bildung der Grundsynthesis frei angesetzt, eben im Erheben zur Geltung.

12. Da die Grundsynthesis bestimmter Elemente im Argument ineins mit einer Geltungserhebung vollzogen werden muß, läßt die Unterlassung der Geltungserhebung kein Argument zustandekommen. Es wäre dies ein Nichthinstellen des Bestehens, d. i. ein Nichtvollzug der argumentativen Synthesis, somit aber (nach § 8) ein Nicht-Argument. Selbst dort, wo wir argumentative Synthesen als bloße Meinungen (Figmente) hinstellen und uns vorhalten (vgl. später: Kap. XXVII), müssen diese Meinungen selbst stets als Synthesen mit einer mit ihnen verknüpften Geltungsaussage angesetzt werden. Nur wird in diesen Fällen die Anerkennung dieser ersten Geltungserhebung noch versagt. Eine solche Zurückhaltung der Anerkennung ist jedoch nur höherstufig möglich.

13. Insofern das Argument mittels einer Geltungserhebung eine Grundsynthesis erstellt, bekundet resp. manifestiert es. Diese Manifestation kann von zweierlei Art sein: Manifestation einer Aussage oder Manifestation einer IntentionD bezüglich solcher Aussagen. Aussagen sind entweder Behauptungen oder Probleme; argumentative Intentionen sind entweder Forderungen oder Willensbekundungen, die sich (letztendlich) auf Aussagen beziehen.

D Unter Intention wird hier nicht die bloße Bezogenheit eines Bewußtseins als Subjekt auf ein Objekt, sondern ein Wollen bzw. Beabsichtigen verstanden.

III. Das aussagende Argument als Behauptung oder Problem 14. Aussagen konstituieren eine Vorstellung respektive ein Bild, und zwar das Bild eines Seins (im weitesten Sinne des Wortes Sein). Die Behauptung ist jene Form der Aussage, die eine bestimmte Relationseinheit bestimmter Elemente als einfachhin bestehend hinstellt (assertio).

15. Stellt eine Aussage eine bestimmte Relationseinheit bestimmter Elemente nicht als einfachhin bestehend, sondern als nur möglicherweise bestehend hin, schwankt sie also in Bezug auf deren positive Geltung, so stellt sie ein Problem (problema) dar. Das Problem entsteht, ebenso wie die Behauptung, durch Formation einer bestimmten Synthesis. Da (nach § 10) eine argumentative Synthesis nur mittels einer Geltungserhebung zustandekommt, so wird auch im Problem eine Geltung erhoben. Soll nun durch diese Geltungserhebung die Synthesis nicht einfachhin festgestellt werden, so muß die betreffende Geltung von anderer Art als die in der Behauptung angesetzte Geltung sein. Ein Ansatz einer Synthesis in der Form eines einfachen Abhaltens der Geltung scheidet (nach § 12) aus. Um nun doch positiv eine Geltung zu erheben, ohne daß diese den Inhalt einfachhin festsetzt, wird alternativ zu der zu formierenden Synthesis eine entgegengesetzte konzipiert: die des bestimmten Ausschlusses der positiven Relation jener Elemente, welche die erstkonzipierte Synthesis als geltend hinstellen würde, zugunsten einer negativen Relation. Die Geltung wird jedoch nicht einer von beiden Alternativsynthesen einfachhin zuerkannt, sondern als alternativ einer von beiden zukommend, bei gleichzeitigem jeweiligen Ausschluß der entgegengesetzten Synthese. Einer und nur einer von beiden Synthesen kommt Geltung zu, wird ausgesagt; es bleibt nur dahingestellt, welcher. Die prinzipiell zu vollziehende eindeutige Geltungserhebung bleibt insofern suspendiert.

16. Problematisch kann nur immer eine bestimmte Weise des Verhältnisses zwischen angesetzten Elementen sein, nicht aber das Verhältnis bzw. die Verhälthttps://doi.org/10.1515/9783110629200-005

III. Das aussagende Argument als Behauptung oder Problem

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nisse zwischen solchen Elementen, die angesetzt, und solchen, die nicht angesetzt sind. Die Problematizität setzt voraus, daß bestimmte Elemente und bestimmte Verhältnisse derselben zueinander, konzipiert sind. Das Problem bedarf, um überhaupt zu bestehen, des Hinstellens der Einheit bestimmter Elemente und damit – wie sich noch ergeben wird – ineins der intentionalen Beziehung auf Wahrheit. Das Problem statuiert mit Bezug auf die in Betracht gezogene Wahrheit, daß sie den miteinander konkurrierenden Synthesen und dem in ihnen jeweils Hingestellten nicht einfachhin positiv zuzuerkennen sei, weil keine derselben vor der anderen als bewährt anzusehen sei. Dennoch müsse einer von ihnen Wahrheit zukommen.

17. Die Behauptung (assertio) ist diejenige Form der Aussage, in der eine bestimmte Relation bestimmter Elemente als einfachhin bestehend hingestellt wird. Das von der Behauptung ausgesagte bestimmte Verhältnis kann positiv oder negativ sein, je nachdem eine bestimmte Weise des Ineinandergreifens oder einander Ausschließens der Elemente angesetzt wird.

18. Die ein bestimmtes Verhältnis bestimmter Elemente einfachhin negierende, deren Ineinandergreifen ihnen absprechende und deren Sichausschließen bestimmt verneinende Behauptung (negatio) setzt den Entwurf und versuchsweisen Ansatz einer positiven Behauptung (positio) voraus. Das in dieser vorausgesetzter Position ausgesagte Ineinandergreifen der Elemente zu einer bestimmten sie verbindenden Einheit wird in dieser Negation ausgeschlossen, indem das Nichtineinandergreifen derselben zu einer Einheit, ausgesagt wird. Die Negation stellt nicht etwa bloß die Aufhebung des Bestehens einer bestimmten positiven Synthese dar, sondern sie konstituiert ihrerseits ein bestimmtes Verhältnis ebendieser Elemente als bestehend, nämlich das des gegenseitigen Ausschlusses bezüglich einer bestimmten Synthese, die als deren Verbindung hätte positiv angesetzt werden können. In ihrer sprachlichen Form („non est“) ist die negative Behauptung (negatio) oft nicht von der blossen Aberkennung der Geltung („non valet“) zu unterscheiden. Hier kommt es überall nicht auf die sprachliche Form, die sich in vielfacher Hinsicht als defizient

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Teil I

erweisen wird, sondern auf die verschiedenen gedanklichen Bildungen an, denen allerdings jeweils sprachliche Differenzierungen entsprechen sollten.

Eine primäre Negation, d. i. eine Negation, die auf kein zuvor versuchtes Hinstellen des Bestehens einer positiven Synthesis bezogen wäre, ist nicht möglich. Eine solche Negation schlösse keine Relation aus. Sie käme damit einer NichtBehauptung (non argumentum) gleich (nach § 8). Ohne Argument liegt jedoch nichts philosophisch Relevantes vor.

19. Im Begriff von sich selbst setzt das Problem die Behauptung als zu realisierende geistige Gestalt voraus. Es entsteht erst dadurch, daß bestimmten Elementen kein bestimmtes Verhältnis einfachhin zuerkannt werden kann, weder das eines positiven Ineinandergreifens zu einer Einheit noch das eines negativen sich davon Ausschließens.

20. Die Synthesis, die jedem Argument notwendig zugrundeliegt, kann problematisch oder assertorisch angesetzt sein. Sie muß aber immer auf die eine oder die andere Weise gesetzt sein und kann nicht nicht gesetzt sein, wenn ein Argument vorliegen soll. Das Problem setzt die Möglichkeit sowohl der positiven als auch der negativen Behauptung voraus. Die konzeptuell allen anderen vorangehende Form des Arguments ist die positive Behauptung. Die Negation setzt konzeptuell eine Position, das Problem setzt konzeptuell die Behauptung überhaupt, sowohl in ihrer positiven als auch negativen Form, voraus.

IV. Das Argument als argumentative Intention 21. Außer der Aussage kann (nach § 13) das Argument auch eine Intention manifestieren. Derartige Intentionen können Forderungen oder Willensbekundungen darstellen. Die Willensbekundung manifestiert eine von einem Willen (oder, im Falle der Konstitution eines gemeinsamen Willens: von mehreren Willen) ausgehende Intention, die Forderung zugleich eine an einen Willen (oder mehrere) ergehende Intention. Doch nur unter der Bedingung, daß die bekundeten Intentionen letztendlich auf das aussagende Argument bezogen sind, stellen sie ihrerseits eine Art von Argumenten dar.

22. Die argumentativen IntentionenE betreffen entweder die Realität oder den Wert aussagender oder anderer intentionaler Argumente.

23. Die auf die Realität eines aussagenden Arguments bezogene Willensbekundung verneint oder bejaht diese Realität willentlich.5 Da philosophische Argumente freie Realisierungen reflektierender Vernunft sind, kommen sie nur durch einen Akt der Freiheit zustande (nach § 4). Sie stellen also schon in sich eine Willensmanifestation dar. Wer philosophisch argumentiert, der will auch philosophisch argumentieren. Diese Willensbekundung wird aber gewöhnlich sprachlich nicht artikuliert. Es kann dies freilich besonders geschehen, indem ausgesagt wird: „Ich will aussagen, daß …“.

E Was den sprachlichen Ausdruck derartiger argumentativer Intentionen anbelangt, so ist darauf zu achten, daß diese (inadaequat) durch scheinbar bloß aussagende Sätze (ist-Sätze) statt (adaequat) durch Heische-, Bewertungs- oder intentionsbekundende Sätze (soll- oder will-Sätze) ausgedrückt werden können. Die grammatische Form muß sorgfältig von der gedanklichen abgehoben werden.

5 Vgl. „Theorie des Arguments.“ NS 1988/89. Bl. 15v: „Unser geistiges Sein ist ständiges Bemühen um Wahrheit, weil es dabei um unsere Existenz geht. Innere Intentionalität: es soll sein!“ https://doi.org/10.1515/9783110629200-006

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Teil I

Wird hingegen die Realität eines aussagenden Arguments nicht gewollt (willentlich negiert), so wird dies gewöhnlich sprachlich artikuliert: „Ich will nichts aussagen“ oder: „Ich will nicht aussagen, daß …“.

24. Die argumentative Willensbekundung kann aber auch den Wert einer Aussage betreffen. Eine Aussage kann als wertvoll, nützlich; wertlos, unnütz; wertwidrig oder schädlich u. s. w. bezeichnet werden. Eine solche Bewertung ist philosophisch-wissenschaftlich nur dann von Belang, wenn sie den wissenschaftlichen Mittel- oder Selbstwert der Aussage betrifft.

25. Die auf die Realität einer Aussage bezogene Forderung verlangt, daß gewisse Aussagen gebildet oder nicht gebildet werden. Da die Aussagen komponierte Gebilde darstellen, kann als Vorstufe zu ihrer Bildung der Ansatz bzw. Nichtansatz bestimmter Komponenten, nämlich der Elemente und Momente von Aussagen, gefordert werden. Die Forderung, bestimmte Elemente oder Momente anzusetzen, und die Forderung, bestimmte Aussagen zu machen, bezeichnet man auch als Postulat. Eine andere Form der Forderung manifestiert sich in der Frage. Diese beinhaltet nämlich die Intention, ein Problem in eine Behauptung überzuführen.

26. Die den Wert einer Aussage betreffende Forderung verlangt eine gewisse Qualität der Aussage, die letztere ganz allgemein oder in einem gewissen Gebiete wissenschaftlich relevant macht. Als negative Forderung verwirft sie die entgegengesetzte Qualität. Natürlich kann, wegen der Freiheit der Forderung, auch wissenschaftswidrig (vgl. § 6) gefordert werden.

27. Argumentative Intentionen können höherstufig auch andere, niederstufige argumentative Intentionen betreffen.

IV. Das Argument als argumentative Intention

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So kann gefordert werden, daß gefordert bzw. daß nicht gefordert werde; so kann eine Willensbekundung sich auf eine vorausgehende Willensbekundung erstrecken. Auch können Willensbekundungen gefordert und Willensbekundungen auf Forderungen bezogen werden. Argumentativen Charakter haben derartige höherstufige Intentionen immer nur dadurch, daß die von ihnen betroffenen niederstufigen Intentionen sich letztendlich auf aussagende Argumente beziehen.

28. Argumentative Intentionen beziehen sich aber nicht nur auf aussagende Argumente, sie stellen auch ihrerseits Aussagen dar. Denn Aussagen müssen nicht nur immer konstatierend, sie können auch energische Willenssetzungen sein. a soll sein stellt ebenso eine Behauptung dar wie a ist. In beiden Fällen wird eine bestimmte Relation als wahr hingestellt, d. i. geltendgemacht. a soll sein verwirft a soll nicht sein; so wie a ist verwirft, daß a nicht ist. Wertungen und Willenssetzungen fallen insofern ebenso wie Konstatationen in den Bereich der aussagenden Argumente. Sie sind aber außerdem argumentative Intentionen, weil sie sich intentional auf bloß aussagende Argumente beziehen. Die Manifestation einer Intention ist originär eine energische willentliche Geltendsetzung. Da aber auch diese energische willentliche Geltendsetzung ein Faktum darstellt, kann sie auch als Tatsache verstanden werden. So manifestiert z. B. die Bekundung „Ich will nicht argumentieren“ zum einen ein energisches willentliches Geltendsetzen, zum anderen aber ineins damit die Tatsache, daß eine solche energische willentliche Geltendsetzung statthat. In letzterer Hinsicht wird die argumentative Intention als argumentative Konstatation genommen.

29. Intentionen können ihrerseits – was wenig beachtet wird – nicht nur assertorisch, sondern auch problematisch angesetzt werden. Das energische willentliche Geltendsetzen kann als ein vielleicht so setzendes aufgestellt werden. Wo das geschieht, manifestiert sich der Wille als ambivalenter. („Vielleicht soll es sein, vielleicht aber auch nicht.“)

30. Wir haben im vorhergehenden (in § 23) gesehen, daß die sprachliche Manifestation des Arguments nicht immer alle gedanklichen Momente desselben zum

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Ausdruck bringt. Ja, es wird sich zeigen, daß der sprachliche Ausdruck aus Gründen der Ökonomie, aber auch aus Mangel an Reflexion das gedankliche Gebilde, das er repräsentiert, meist nur unvollständig artikuliert. Natürlich kann diese mangelhafte Artikulation auch daher rühren, daß der Sprechende gewisse gedankliche Teilinhalte gar nicht artikulieren will, obwohl er sie reflektiert.

V. Das Argument als Einheit des Sichbehauptens und einfachen Behauptens 31. Da die dem Argument zugrundeliegende Synthesis (nach § 20) immer auf eine der möglichen Weisen desselben, nämlich entweder als Behauptung oder als Problem, angesetzt werden muß (vgl. auch § 29), wenn sie Synthesis eines Arguments sein soll, so kann nicht das Argument überhaupt, es kann nur immer eine bestimmte Weise des Arguments – sei es die Behauptung oder sei es das Problem – in Ansatz gebracht werden. Diese Weise des Arguments ist in jedem wirklichen Argumente stets kategorisch bestimmt (und niemals bloß problematisch). Eine argumentative Synthesis ist ein Problem oder sie ist eine Behauptung. Diese kategorische Basis stellt einen invariablen Charakterzug dar. Es gibt Fälle, in denen wir fragen, ob etwas ein Argument sein soll. Solche Fragen beinhalten das Problem, ob etwas in einem Vorstellen Vorkommendes ein Argument sein soll. Dieses (in der Frage liegende) Problem ist aber seinerseits nur ein Problem, wenn es kategorisch eine problematische Synthesis darstellt. Das, worauf sich dieses Problem bezieht, ist nur ein in diesem Problem Vorkommendes. Wir können auch fragen, ob etwas ein Problem oder eine Behauptung sein soll. Aber auch in diesem Falle beinhaltet eine solche Frage ein Problem, nämlich das Problem, ob dieses Etwas ein Problem oder eine Behauptung sein soll. Abermals ist das in dieser Frage sich bekundende Problem kategorisch Problem (und keine Behauptung); es bezieht sich auf ein X, von dem es problematisch ist, ob es P (Problem) oder B (Behauptung) ist.

32. Da philosophische Argumente (nach § 4) stets frei reflektierend erstellte Gebilde sind, so ist ein philosophisches Argument nur da, wo eine Grundsynthesis mit Geltungserhebung in Ansatz gebracht ist, die frei reflektierend erstellt bzw. gehalten ist. Wird das Angesetzte nicht willentlich aufrechterhalten, so erlischt das Argument. In gleicher Weise hängt auch von dem freien Ansatz ab, ob das erstellte Argument ein Problem oder eine Behauptung ist. Nur wenn bewußt und willentlich eine dieser Weisen in Ansatz gebracht wird, besteht ein philosophisches Argument. Wir können zwar ein Problem in eine Behauptung und eine Behauptung in ein Problem verwandeln, aber nicht aufheben, daß das angesetzte philosophische Argument in jedem Falle eine uns bewußte und von uns gewollte Form hat. https://doi.org/10.1515/9783110629200-007

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Darin liegt beschlossen, daß das bestimmte Argument (das Problem, die Behauptung), indem in ihm eine Synthesis als bestehend und geltend hingestellt wird, stets auch als solches behauptet werden muß. Dies kann im philosophischen Argument nicht unbemerkt der Fall sein, weil dieses (nach §§ 4 u. 5) vollbewußt vollzogen wird. Das Argument behauptet demnach hier zunächst von sich selber, daß es ein Argument und zwar eine Behauptung oder ein Problem ist; es behauptet sich selber und in sich etwas einfachhin Angesetztes. Dies zeigt sich z. B. deutlich darin, daß man nicht sagen kann: „Ich argumentiere nicht“, ohne dies in einem Argumente zu sagen. Die Synthesis und Geltungserhebung „Ich argumentiere nicht“ ist selbst ein Argument. – Man kann auch nicht sagen oder ausdrücken: „Es ist zweifelhaft, ob ich argumentiere“, ohne dies in einem bestimmten, als solches behaupteten Argument (nämlich hier in einem Probleme) zu tun und sich dieses Tatbestands bewußt zu sein. Wird in der Reaktion auf diese Implikation die Anwendung von Sätzen auf sich selbst verboten, so verschwinden Widersprüche der erwähnten Art nur scheinbar. Denn auf der damit bestimmten Geltungsebene muß das Verbieten selbst als Argument angesetzt und durchgehalten werden.

33. Das Argument ist kein Gebilde, das bloß objektiv für sich Bestand haben könnte, sondern es ist als solches nur im Akte eines argumentierenden Geistes gegeben. Das Argument besteht nur im Vollzug eines geistigen Handelns, das dasselbe als seine geistige Bildung realisiert. Wo von einem Argument gesprochen wird, als ob es ein für sich bestehendes bloß objektives Gebilde wäre, da wird der sprachliche Ausdruck des Arguments mit diesem selber verwechselt. Dieser sprachliche Ausdruck stellte nur ein materielles Gebilde dar, das nichts als Materie wäre, wenn es nicht von einem geistigen Handeln als Ausdruck aufgefaßt würde; erst durch ein derartiges Auffassen (Denken) wird die Materie zum Zeichen eines geistigen Gebildes. Der Ausdruck ist als solcher also immer nur im Verständnis seiner als Ausdruck da. In diesem Verständnis wird er als Zeichen, d. i. als ein Gebilde verstanden, das einem bestimmten geistigen Gebilde zugeordnet ist; natürlich nicht, ohne daß das geistige Gebilde, dessen Zeichen er sein soll, als solches im Geiste gesetzt und darauf bezogen wird. Wenn das materielle Gebilde in einem gewissen Verstehen (d. i. in einer Behauptung) als Ausdruck eines Arguments verstanden wird, ist dieses Argument im Geiste schon vorgestellt, d. i. in einem geistigen Akte vollzogen. Erst unter dieser Voraussetzung kann das bestimmte materielle Gebilde als Ausdruck desselben verstanden werden; und erst durch ein solches (konstituierendes) Verständnis wird das bestimmte materielle Gebilde zum Zeichen. Dieses doppelte vorhergehende Denken ist die Bedingung dafür, daß etwas ein sprachlicher Ausdruck und als solcher da ist.

V. Einheit des Sichbehauptens und einfachen Behauptens

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34. Das Argument besteht (nach § 32) nur, wenn es als solches im Geiste angesetzt wird. Es kann (nach § 31) nur als eine bestimmte Art von Argument wirklich angesetzt werden. Es wird aber nicht nur als Argument und darin als ein bestimmtes Argument (als Behauptung, als Problem) überhaupt angesetzt, sondern als bestimmtes Argument, in dem ein bestimmter einfacher Gehalt angesetzt und gehalten wird. Wird das Argument nicht auf eine bestimmte Weise überhaupt (also als Behauptung bzw. als Problem) angesetzt, so wird auch nichts einfachhin angesetzt. Es muß erst überhaupt behauptet bzw. bezweifelt werden, auf daß etwas in ebendiesen Formen des Arguments einfachhin angesetzt wird. Wird andererseits in einem Argument nichts einfachhin (d. i. als einfacher Gehalt des Arguments) angesetzt, so wird auch kein Argument vollzogen. Es wird dann nichts behauptet bzw. bezweifelt. Damit überhaupt etwas argumentativ ins Spiel gebracht wird, muß etwas (einfachhin Angesetztes) behauptet bzw. bezweifelt werden. Zwar kann durch Akte der Abstraktion das im Argumente unvollständige Teilmoment „einfaches Argument“ von dem im Argumente unvollständigen Teilmoment „(bestimmtes) Argument als solches“ gedanklich getrennt werden; man darf aber dabei nicht vergessen, daß dies abstrahierte Teilmoment niemals für sich allein sein, sondern immer nur mit dem andern Teilmoment, von dem es abstrahiert wurde, verbunden vorkommen kann. Auch wird der abstrahierte Teil seinerseits als einfacher Inhalt in einem vollen Argumente (d. i. in einem sich selber und einen Inhalt ansetzenden Argument) angesetzt. Alle sprachlichen Ausdrücke, die bloß ein einfachhin Behauptetes hinstellen, sind demnach inadäquate und insofern leicht irreführende Kurzformen einer vollständigen gedanklichen Gegebenheit, in der die Sichbehauptung des Arguments als solchen und das einfachhin Behauptete bzw. Bezweifelte synthetisch vereinigt sind. Der einfache sprachliche Ausdruck z. B. „Die Sonne scheint“ steht als Kurzform für die (in dieser Hinsicht) vollständige Aussage „Ich behaupte, die Sonne scheint“.

35. Unter Berücksichtigung der (in §§ 31–34) herausanalysierten Momente kann zusammenfassend formuliert werden: Das Argument ist ein Gebilde des Geistes in actu, in welchem zum einen das Argument formal a l s s o l c h e s (d. i. als Behauptung, als Problem) behauptet und zum andern in dieser Sichbehauptung material etwas Bestimmtes einfachhin behauptet bzw. bezweifelt wird.

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Teil I

In jedem Argument nimmt der Geist auf das Argument als solches statuierend Bezug, noch bevor er etwas einfachhin aussagt oder bekundet.

36. In jedem Argument wird zuvörderst die argumentative Synthesis mitsamt der Geltungserhebung konstituiert. Dieses Gebilde als solches wird als Argument überhaupt behauptet. Erst innerhalb dieser Assertion wird das Argument als Problem oder als Behauptung asseriert; und erst innerhalb dieser bestimmten Form (d. i. der Form der Behauptung bzw. des Zweifels) kann ein einfacher Argumentationsgehalt ausgesagt werden. Mit dem Ansatz des Arguments als solchen ist noch nicht entschieden, ob es eine Behauptung oder ein Problem sein wird. Mit dem Ansatz als Behauptung bzw. als Problem ist noch nicht präjudiziert, welcher einfache Argumentationsgehalt darin ausgesagt wird. Die Form des Arguments ist: Behauptung des Arguments als solchen O Problem S T mit dem einfachen Inhalt a ͜ b. d. i. als Q R Behauptung U

37. Da jedem Argument eine Behauptung seiner als Argument (d. i. als Behauptung, als Problem) wesenseigentümlich ist, erweist sich das Behaupten in dieser Hinsicht als vor dem Zweifeln vorrangiges Wesenselement des Arguments insgesamt. Ein Vorrang der Behauptung im Argument hat sich auch insofern bereits gezeigt, als das In-der-Schwebe-Lassen der positiven Geltung im Problem eine Präkonzeption der positiven Behauptung als des Endzwecks der Argumentation zur Voraussetzung hat. Es ist deshalb nicht unberechtigt, das Argument in einer Kurzform einfach als Behauptung zu bezeichnen, da jedem Argument die Behauptung als Argument grundwesentlich und da in jedem Argument die positive Behauptung Endzweck ist.

38. Die Behauptung des Arguments als solche (in seiner bestimmten Form) und die Behauptung bzw. Anzweiflung des einfachhin Ausgesagten hängen, wie schon

V. Einheit des Sichbehauptens und einfachen Behauptens

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(in § 34) erkannt, in der Weise notwendig miteinander zusammen, daß das eine Teilmoment nicht ohne das andere, und das andere nicht ohne das eine sein kann. Die Sichbehauptung ohne einfachen Inhalt wäre leer und eben deshalb kein Argument; der einfache Gehalt wäre ohne Sichbehauptung des Arguments gar nicht Gehalt eines Arguments, d. i. geltensollende argumentative Synthesis, folglich geistig gar nicht vorhanden. Wenn wir kurz sagen „Ich behaupte“ oder „Ich zweifle“, so ist das nur die sprachliche Kurzform für das geistige Gebilde „Ich behaupte, daß ich behaupte“ bzw. „Ich behaupte, daß ich zweifle.“

Wollte man den einfachen Gehalt eines Arguments ohne die Form des Arguments als solchen ansetzen, so stellte er keine Synthesis mehr dar. Es fehlte dann die erst durch die konstituierende Tätigkeit Eines Subjekts (d. i. durch die subjektive Einheit) verwirklichte objektive gedankliche Einheit, die für jede argumentative Synthesis (nach § 9) wesensnotwendig ist. Es läge dann allenfalls noch ein bloßes objektives Beisammenstehen der Elemente, d. i. eine bloße Systasis derselben und ihrer Relation vor ohne weiteren Bezug dieser Bausteine zueinander. Die Verkennung dieses Tatbestands, daß jede einfache Synthesis als argumentative nur in der Form des Sichbehauptens des Arguments als solchen vorkommen kann, hat dazu geführt, daß man Systasen für Synthesen hält. Dabei wird übersehen, daß in der Systasis das Zusammenstehende nicht durch sich selbst, sondern nur durch den Akt des argumentativ beziehenden Geistes in eine synthetische Einheit gebracht wird, in der immer auf Wahrheit Bezug genommen ist. Schwarze Flecken auf dem Papier z. B. oder Töne eines Funkgeräts beziehen sich nicht selbst vorstellend aufeinander; sie müssen vom Geiste als Zeichen verstanden, die ihnen entsprechenden geistigen Elemente und Momente müssen synthetisch vereinigt, an dieser Synthesis muß die Geltungsfunktion vollzogen werden, soll das Zusammenstehende einen Bedeutungsgehalt erhalten.

39. Die Sichbehauptung setzt nicht ihrerseits wieder eine Sichbehauptung und so in infinitum voraus, eben weil sie Sichbehauptung und nicht Behauptung eines einfachen Inhalts ist. Es gehört zum Wesen des Arguments, daß es nur als Behauptung seiner auftreten kann. Als Sichbehauptung ist diese Behauptung des Arguments mit dem in ihr Behaupteten Ein und dasselbe. Das Behauptete ist in diesem Falle das Behaupten selbst. Bei derartigen Reflexformen hebt das Urteil die durch die Objektivierung erfolgende Zweiung (in Subjekt und Objekt) im Vorstellen intelligierend wieder auf.

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Teil I

Auch bei der Sichbehauptung des Arguments als eines Problems wird zunächst Behaupten behauptet, nur ist dieses Behaupten weiterbestimmt als Behaupten eines Problems. Eben darum ist das Problem nie bloß Problem, sondern immer Problem auf der Basis einer (behaupteten) Behauptung, nämlich der Behauptung, daß dies ein Argument (als Problem) sei. Hierin dokumentiert sich der schon (in § 37) aufgezeigte Vorrang der Behauptung vor dem Problem im Argument.

40. Das in die Sichbehauptung des Arguments gefaßte einfach Hingestellte erhält durch diese Fassung nicht nur den Charakter des argumentativen Gehalts, vielmehr bezieht sich die Behauptung in der Sichbehauptung auch noch auf eine andere Weise auf die sich ausdrücklich oder implizit im einfachen Argument vorfindende Behauptung. Sowohl die Behauptung in der Sichbehauptung des Arguments als Argument als auch die Behauptung im einfachhin Behaupteten bzw. Bezweifelten (in welch letzterem immer eine implizite Behauptung mit darin liegt) sind B e h a u p t u n g ü b e r h a u p t . Da beide in demselben Gesamtbehaupten Eines Geistes als solche hingestellt werden, sind beide zugleich in diesem Geiste vorgestellt, also aufeinander bezogen. In dieser Beziehung wird sowohl das sie Unterscheidende (nämlich einerseits Sichbehauptung andererseits einfache Behauptung zu sein) als auch ihr gemeinsames Wesen (nämlich überhaupt Behauptung zu sein) gesehen. Ungleichartig an beiden ist, daß die Sichbehauptung nur als ein einfach Hingestelltes in sich befassend und nur als auf sich reflexiv bezogen vorkommen kann, daß das einfache Argument hingegen ohne Rückbezug auf sich ist und nur in der Sichbehauptung befaßt angesetzt werden kann. (Den Sonderfall, daß die Sichbehauptung im Behaupteten auch einfachhin thematisiert wird, lassen wir hier noch außer Acht. Vgl. dazu § 43.) Gleichartig an beiden ist dasselbe Wesen von Behauptung, das ihnen zukommt. Beide Arten der Behauptung sind infolge dessen, daß sie gleichen Wesens (als Behauptung) sind, auch an dasselbe Wesensgesetz gebunden. Keine kann die Geltung dieses Gesetzes infrangieren, ohne sich und die andere, synthetisch mit ihr verbundene Behauptung aufzuheben.

41. Eine das Wesensgesetz der Behauptung in seiner Geltung betreffende Aussage betrifft nicht nur das Wesen der Behauptung überhaupt, sondern auch den Cha-

V. Einheit des Sichbehauptens und einfachen Behauptens

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rakter der Behauptung in den zuvor aufgezeigten spezifischen Modi dieses Wesens und in allen unter diesen befaßten Fällen. Wird z. B. in einer einfachen Behauptung verneint, daß irgendeine Behauptung wahre Geltung hat, so wird ineins damit verneint, daß diese Aussage, die ja selbst eine Behauptung ist, wahre Geltung hat. Wer sagt: „Ich weiß, daß nichts gewußt werden kann“, leugnet mit dieser einfachen Behauptung, daß er selbst dies wisse, hebt also seine Behauptung als Behauptung in ihrer Geltung auf (vgl. § 32.)

42. Daß das Argument sich als Argument behauptet, stellt keine Verdoppelung des Arguments in dem Sinne dar, als ob dadurch zwei (von einander getrennte) Argumente aufträten. Vielmehr ergibt sich der das Argument als solches erst ermöglichende Bezug auf sich selbst, dessen reflexive Erfassung notwendig zu der (nach § 4) erforderlichen Vollbewußtheit des philosophischen Arguments gehört, aus dem Grundgesetz des Geistes, als Reflex ein Sein als Sichsehen (in seiner Bestimmung) zu sein. Sich sehen kann der Geist nur, wenn Sehender und Gesehenes in ihm als Eins angesehen und erkannt werden. Ohne fundamentale Identität, die als solche erkannt wird, blieben Sehender und Gesehener voneinander geschieden. Allenfalls würde ein anderer Sichsehender gesehen (ein Du), wobei sich aber die Frage stellte, wie denn das ein Du sehende Ich zur Vorstellung eines Sichsehens im Du kommen sollte, wenn es selbst nicht fähig wäre, ein Sichsehen zu vollziehen.

43. Der sich unmittelbar helle Reflex im Sichbehaupten kann seinerseits in einer einfachhin erfolgenden Behauptung ausgesagt werden. Er wird dann eigens thematisiert. Das Behaupten (als ein Sichbehaupten) dieses Arguments („Ich behaupte, …“) wird in diesem Falle von dem einfachhin Behaupteten unterschieden und in dem letzteren ausgesagt („… daß ich behaupte“). Schaut man nur auf das in diesem Falle im geistigen Akte wie im objektivierten Gehalte gleiche „ich behaupte“, ohne Rücksicht auf ihre zusätzliche Bestimmtheit als Behaupten und Behauptetes, so besagt dieses „ich behaupte“ in beiden Fällen, daß die Behauptung für sich selber sie selbst ist.

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Teil I

Wir können das subjektive Sichbehaupten nur deshalb für identisch mit dem objektivierten Sichbehaupten nehmen, weil wir sie beide als Modi und Bezugsmomente desselben Genus und Seins des „ich behaupte“ ansehen und ihre existentielle Einheit einsehen. Wir beziehen sie auf ein dem thematisierten subjektiven und dem thematisierten objektiven Sichbehaupten zugrundeliegendes übersubjektives und überobjektives Sichbehaupten schlechthin. Im thematisierten Sichbehaupten wird also notwendig dieses zugrundeliegende subjektobjektive Sichbehaupten gesehen und mitbehauptet. Bliebe die Reflexeinheit im thematisierten Sichbehaupten unerkannt, so könnten das thematisierte subjektive Sichbehaupten und objektive Sichbehaupten niemals als ein Sichbehaupten, d. i. als ein Behaupten seiner in Identität, gedacht werden. Die dann notwendigerweise immer hinter die Objektivierung in die Unerkennbarkeit zurückweichende Identität mit dem subjektiven Sichbehaupten vollzöge sich in einem Regreß in infinitum, ohne daß sie ausgesagt werden könnte. Durch welchen spezifischen Akt der Reflex thematisiert werden kann, ohne im Erkennen seine subjekt-objektive Identität zu verlieren, braucht in diesem Zusammenhang nicht dargelegt zu werden. Wäre die Erkenntnis dieser Identität unmöglich, so könnte das Sichbehaupten nicht in seinem Sein erfaßt werden, die Sichbehauptung wäre unmöglich und eine Theorie des Arguments wäre wissenschaftlich nicht zu leisten.

44. Das Argument setzt sich nicht nur stets als bestimmtes Argument, es setzt sich auch immer als Argument eines Geistes. Das Argument stellt eine Einheit dar, die als Reflexeinheit den Vollzug des Rückbezugs auf sich selber zur Bedingung hat. Durch diesen Rückbezug auf sich ist das (sich vollziehende) Argument sich Argument; das heißt aber: das Argument ist Argument eines sich auf sich Beziehenden, d. i. eines Ichs bzw. Geistes. Da Argumente ihrerseits aufeinander bezogen und zu einem höheren Argument vereinigt werden, muß der Geist als identischer über den verschiedenen Argumenten fortbestehen. Das Ich ist im Sichbehaupten das Aussagende und das Ausgesagte, das Sehende und das gesehene Sein; als solches ist es der gedanklich abzuhebende Träger des Arguments. Wie sich noch zeigen wird (vgl. §§ 68 ff.), wird das Argument nicht nur stets von einem Ich getragen, sondern sagt es auch etwas über das es vollziehende Ich (bzw. den Geist) aus (z. B. „Ich weiß“ oder „Ich zweifle“). Dieses argumentierende Ich wird sich einerseits als existierendes individuelles Subjektobjekt des geistigen Handelns im Argumentieren, andererseits als überindividuelles Subjekt-Objekt (reine Vernunft) erweisen.

VI. Das unmittelbar Gesehene als Baustoff des Arguments 45. In der im einfachen Gehalt des Arguments (auf der Basis des Sichbehauptens) hingestellten Synthesis müssen die Elemente aufeinander bezogen sein, sonst liegt (wie in § 38 gezeigt) lediglich eine Systasis ohne verbindende Einheit vor. In dieser Beziehung sind die Elemente nicht nur in Einem Bewußtsein zugleich angesetzt, sondern auch auf eine objektive Einheit bezogen. Die Elemente werden stets voneinander unterschieden und miteinander in der sie befassenden Synthesis vorgestellt. Die Beziehung der Elemente in einer Einheit kann allerdings verschiedener Art sein; sie kann z. B. implizierender, apponierender, kausierender Art sein. Immer aber muß eine Relation angesetzt sein, welche die Elemente zur Einheit verbindet. In der Assertion wird nur Eine Relation als geltend aufgestellt, im Problem werden mehrere Relationen entworfen, aber die mit diesen Relationen zu verbindende Geltungssetzung wird zurückgehalten.

46. Das Argument setzt die es konstituierenden Elemente und Momente als solche bestimmte voraus, und es setzt sie als solche in sich an. Es setzt a als a, R (die Relation) als R, G (die Geltung) als G. Dies ist im philosophischen Argument auch reflexiv bewußt. Infolge dieser Verwendung der Elemente und Momente als solcher ist demnach im Argument implizit gedacht, daß jedes Element es selbst ist, und ebenso jedes Moment. Dies, daß das Argument alles in ihm Angesetzte als das nimmt, als was es dasselbe ansieht, soll in dieser Abhandlung als die unmittelbare Meinung bzw. das Bewußte (visum immediatum) bezeichnet werden. Jedes Argument baut sich mittels solcher unmittelbarer Meinungen auf und enthält solche in sich. Wie sich versteht, gilt dies auch vom Problem. Das Problem setzt bestimmte Elemente (a, b, R …), die für eine Behauptung infragekommen, in bestimmten Synthesen. Diese Elemente sind dabei unmittelbar gemeint, d. i. als solche angesetzt. Im Problem ist ferner stets das Moment der Geltung (G) in Ansatz gebracht; nur läßt die Geltungserhebung dahingestellt, welcher der entworfenen Synthesen diese Geltung zukommen wird; die Geltung als solche ist aber als ein bestimmtes Moment angesetzt. https://doi.org/10.1515/9783110629200-008

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Die Sprache pflegt die unmittelbare Meinung im Argument nicht eigens zu artikulieren, gibt also auch in dieser Hinsicht den gedanklichen Gehalt des Arguments nur verkürzt wieder. Meinung als visum immediatum ist von Meinung als opinio gedanklich verschieden. In Fällen möglichen Mißverständnisses wird das Wort deshalb in dieser Abhandlung besonders gekennzeichnet werden.

47. In einem Argument kann aufgrund des (in § 46) dargelegten Tatbestandes nichts vorkommen, das nicht durch das unmittelbare Meinen als eben es selbst genommen wäre, d. i. dem nicht für das argumentierende Ich eine gewisse Bestimmung gegeben wäre. Diese Sobestimmtheit der Elemente und Momente des Arguments ist stets kategorisch behauptet. In diesem behauptenden Meinen manifestiert sich erneut ein gewisser Vorrang der Assertion vor dem Problem. Ein Problem ist nur dann konstituiert, wenn die es ausmachenden Elemente und Momente als solche gemeint und in diesem Meinen als solche behauptet sind. Jedes Problem impliziert demnach meinende Basisbehauptungen.

48. Die durch die unmittelbare Meinung des Arguments behauptete bestimmte Dieselbigkeit der Konstitutiva kann in besonderen Fällen thematisiert, d. i. zum Inhalt einer einfachen Behauptung gemacht werden. Doch wird dann – entsprechend wie im Falle der Thematisierung der Sichbehauptung (vgl. § 43) – nur das im ursprünglichen meinenden Setzen des argumentierenden Geistes schon Enthaltene eigens reflexiv objektiviert.

49. Die Assertion der Selbigkeit findet sich aber nicht nur an den Elementen und Momenten des Arguments, sie findet sich auch am Argument als Behauptung bzw. als Problem selber. Das Argument wird als Argument, die Behauptung als Behauptung, das Problem als Problem gesetzt, ebenso wie die Synthesis als Synthesis und die Geltung als Geltung.

VI. Das unmittelbar Gesehene als Baustoff des Arguments

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50. Ganz allgemein kann also im Argument nichts angesetzt werden – einschließlich des Arguments selber in seiner spezifischen Beschaffenheit –, was nicht unmittelbar als solches gemeint bzw. bewußt ist. Indem das Betreffende unmittelbar als solches bewußt und gemeint ist (videtur), wird es ineins damit als solches behauptet (asseritur).

51. Während es dem Argumentierenden freisteht, was er als besonderen Inhalt, und diesbezüglich, welche Elemente und Momente er im Argumente ansetzt, steht es ihm nicht frei, etwas im Argument auch nicht meinend anzusetzen (und darin nicht als Gemeintes zu behaupten). Das Argument kann weder an sich verneinen noch auch unbestimmt lassen, daß es als Argument und in ihm seine Elemente und Momente als solche gemeint sind; es muß sich folglich als Argument behaupten. Wie noch dargelegt werden wird (vgl. § 53 u. Kap. VIII), erschöpft diese Meinung des Arguments als Argument aber nicht das Wesen des Sichbehauptens.

52. Das unmittelbar Gemeinte wird in dieser Abhandlung auch das phänomenal Unmittelbare genannt werden. Wir sind uns im Argumente etwas als etwas unmittelbar bewußt, mittels dessen wir ein Wissen zu konstituieren versuchen. Die unmittelbar gemeinten Elemente und Momente des Arguments wie auch die unmittelbare Meinung des Arguments als Arguments bedingen dasjenige, was über sie hinaus im Argument angesetzt wird.

53. Das Argument erschöpft sich jedoch nicht darin, bloß Meinungen anzusetzen, sondern es ist ihm wesentlich, daß in ihm etwas statuiert wird, das über den Bereich der Meinungen hinausliegt. Es greift über die in ihm angesetzten bloßen Meinungen hinaus; es will ein über das phänomenal Unmittelbare hinausgehendes transphänomenales Verhältnis bekunden. Unmittelbare Meinungen al-

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Teil I

lein ergeben noch kein Argument; sie stellen nur dessen Bauzeug dar. Zwar müssen auch sie (nach §§ 47–50), um überhaupt als Meinungen im Argument fungieren zu können, als solche in ihrer Bestimmtheit behauptet werden; aber derlei Behauptungen ihrer selbst als solcher haben für den Hauptzweck des Arguments nur eine vorbereitende Funktion. Sie erfolgen, um auf dieser Grundlage eine Aussage zu machen bzw. Intention zu bekunden, die nicht mehr das Gemeinte, sondern ein jenseits desselben Liegendes (nämlich ein geltendes Sein) betrifft.

54. Die Notwendigkeit unmittelbarer Meinungen im Argument hat zur Folge, daß niemand argumentieren kann, ohne unmittelbar zu meinen. Da aber Meinen bedeutet, daß etwas als etwas gedacht wird, so ist dieses meinende Behaupten Bedingung aller transphänomenalen Bekundungen des Arguments. Die dem Argument zugrundeliegende Meinung kann immer nur das in ihr Angesetzte als wahrhaft es selber ansetzen (womit freilich noch nichts über den Rechtsgrund dieser Annahme ausgemacht ist). Man kann also nicht argumentieren und zugleich von sich behaupten, man „meine nicht“. Wer argumentiert, meint auch etwas und setzt damit alles das an, was die Meinung als solche in Ansatz bringt.

55. Man kann argumentierend ebensowenig behaupten, man „meine ja nur“ – soll heißen: meine, ohne dabei zu behaupten und insofern im Vollsinn des Wortes zu argumentieren. Das unmittelbar Gemeinte kann im Argument nur in der Weise vorkommen, daß es als solches behauptet wird. Schon dadurch vollzieht sich ineins mit dem unmittelbaren Meinen auch ein Behaupten. Darüber hinaus aber kommt das Ganze der (als solche behaupteten) Meinungen im Argument ja nie allein, sondern immer nur als Baumaterial der sich mittels dessen konstituierenden transphänomenalen Bekundung vor.

56. Wer aussagt, er „meine nichts“ oder er „meine ja nur“, behauptet von sich, daß er das wirklich tue. Er realisiert eben damit mehr als nur Meinen. Er urteilt über sein Meinen, was nicht dasselbe wie das Meinen selbst ist. Nur durch derartige

VI. Das unmittelbar Gesehene als Baustoff des Arguments

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das Meinen betreffende Argumente hat das Meinen philosophische Relevanz. Könnte er wirklich (ohne alle transphänomenale Bekundung) bloß meinen, so wäre ein solches Meinen gar nicht gegeben, solange es nicht in einem Transphänomenales bekundenden Argumente thematisiert würde. Aus alledem folgt, daß man im Argumentieren auf keinen Fall auf das bloße unmittelbare Meinen allein zurückweichen kann, da es als für sich allein Bestehendes in unserem Bewußtsein gar nicht vorzukommen vermag.

57. Die Meinung, die das Argument mitkonstituiert, ist sich selber immer absolut unmittelbar. Wer argumentiert, meint unmittelbar, was er an die Bekundung Bildendem ansetzt. Wird das unmittelbar Gemeinte zum Objekt eines sich darauf beziehenden Arguments gemacht, so ist auch dieses Argument durch unmittelbare Meinungen konstituiert, die nur in secundo thematisiert werden können. Diese faktische Sichunmittelbarkeit der Meinung legitimiert das meinende Behaupten freilich noch nicht.

VII. Die Realisation von Wissen im Argument 58. Daß es bei der Bildung von Argumenten nicht bloß um das unmittelbare Bewußtsein des Angesetzten als so gemeinten, sondern um mehr geht, wird am deutlichsten am Problem erkennbar. Wer sagt: „b kommt vielleicht a zu, vielleicht auch nicht“, der schwankt nicht hinsichtlich der in diesem Problem angesetzten unmittelbaren Meinungen (a als a; b als b; Zukommen als Zukommen; Nichtzukommen als Nichtzukommen; Geltung als Geltung; Problematizität als Problematizität), sondern hinsichtlich einer diese Meinungen gar nicht mehr bezielenden, jenseits ihrer liegenden Bestimmung. Die problematische Aussage „b kommt vielleicht a zu“ darf natürlich nicht mit der Assertion „b vermag an a zu sein“ verwechselt werden. In dieser letzteren Assertion wird behauptet, daß a der Bestimmung durch b fakultativ eröffnet ist.

Das unentschiedene Hin- und Hergehen im Problem betrifft gar kein Unbestimmtsein der Meinungen, sondern etwas über die unmittelbare Phänomenalität hinaus zu Realisierendes, das jenseits ihrer als zu realisierendes Ziel vorschwebt, nämlich ein bestimmtes Wissen und dessen wahre Geltung. Dieses Wissen bezieht sich nicht auf die Gemeintheit des Gemeinten (obwohl auch diese, sofern sie behauptet wird, (nach § 50) gewußt sein soll), sondern auf ein Sein, welches in ihm in seiner Wahrheit gegeben sein soll.6 Wir behaupten bzw. bezweifeln, daß etwas in Wahrheit so ist, wie wir es (mittels unmittelbarer Meinungen) bilden. Eben damit konstituiert sich aber mehr als bloßes Bewußtsein, nämlich Wissen.

59. Hiermit enthüllt sich ein neuer wesentlicher Charakter des Arguments: Das Argument will Wissen realisieren. Erst durch diese Relevanz wird das Argument zum Argument. Das Problem zielt ein solches Wissen an, enthält jedoch zugleich das Geständnis von sich, daß es kein Wissen zu bieten vermag, daß ihm vielmehr das Wissen noch fehlt, auf das es abzielt und für das es infragekommende Synthesen skizziert. Das Problem ist nur durch seinen Hinblick und sein

6 Vgl. Lauth, Reinhard: „Transzendentale Methode.“ NS 1987. Bl. 21v: „Wissen und Sein weisen immer aufeinander zurück.“ https://doi.org/10.1515/9783110629200-009

VII. Die Realisation von Wissen im Argument

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Abzielen auf Wissen Problem. Nur durch diesen Bezug auf das Wissen und nur in ihm ist die dem Problem eigentümliche, der einfachen positiven Geltung entbehrende Synthesis eine argumentative Synthesis. Die Behauptung stellt hingegen eine bestimmte Synthesis als im Sein gegeben hin; in ihr wird ein Wissen realisiert; und ohne das wäre sie keine Behauptung. Auch die (behauptende) Intentionsbekundung will sagen, daß die Intention, die bekundet wird, tatsächlich besteht, d. i. daß das Gebildete realiter gewollt oder gefordert wird oder daß eine bestimmte Wertbeschaffenheit eines Arguments wirklich gegeben ist.

60. Das Wissen ist mehr als die Bewußtheit des unmittelbar Phänomenalen. Es stellt uns nicht nur das vor (und nicht nur das als das hin), was wir unmittelbar meinen; es will mittels dieses Gemeinten die Verwirklichung von etwas sein, das mehr als Bewußtheit im Meinen ist, nämlich Erhelltheit von etwas, das ist. Das Argument will, über jene Bewußtheit hinaus, als Wissen wahres Bild (imago, forma) eines Seins (esse) sein. Der Terminus Sein wird dabei uneingeschränkt für alles das verwendet, was im Bilde als Transphänomenales hell und licht sein soll. Er darf also nicht auf Faktizität, Existenz, gar materielle Existenz oder dergleichen eingeschränkt werden. Auch das Verhältnis zwischen Begriffsmomenten und auch die Forderung und das Wertgelten sind in diesem Sinne ein Sein.

61. Damit ist etwas für das Argument Entscheidendes und Grundwesentliches erkannt: Im Argument wird etwas über das Verhältnis zwischen einem Bild (im laxen Sprachgebrauch auch genannt: Wissen) und einem Sein (einem im Bilde erhellten Eigenwesen) ausgesagt. Das Argument ist Entwurf eines Wissens, d. i. eines Verhältnisses zwischen Bild und Sein unter Bezugnahme auf ein Erkenntnis gewährendes Prinzip (nämlich: Wahrheit).

62. Um der Prägnanz willen wird im nun folgenden an der Behauptung herausgestellt, daß sie dieses Bild-Sein-Verhältnis konstituiert. Vom Problem gilt allemal,

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Teil I

daß es sich in der Intention, Behauptung zu realisieren, d. i. mit Bezug auf Wissen, bildet. Abgesehen davon ist das Problem schon als Sichbehauptung (als Problem) auch selbst Behauptung. Zunächst muß festgestellt werden, daß das Argument grundwesentlich (und deshalb ausnahmslos) die Differenz von Bild und Sein aufreißt, zugleich aber deren Einheit realisieren will. Das gilt auch in dem Fall, wo der Behauptung zufolge keinerlei Differenz von Bild und Sein, sondern die diese Differenz erst ermöglichende völlige Identität (Licht) sein soll. Denn auch diese differenzlose Einheit des Lichtes wird von uns nur mit Hilfe der gedanklich eröffneten Unterscheidung von Bild und Sein und deren Verneinung erreicht.

63. Die Voraussetzung der Differenz von Bild und Sein beinhaltet: 1. Das Bild ist als Bild nicht ipso facto – Bild des Seins, das es in sich gebildet haben will. 2. Das Sein ist nicht ipso facto – Sein in jenem bestimmten Bilde. Das Sein kann in jenem Bilde, das Bild von ihm sein will, sein; jenes Bild kann in dem Sein, das es als Sein bildet, das Sein selbst gebildet haben. Das Bild bildet als „Wissensbild“ zwar immer Sein, und die Behauptung nimmt von diesem gebildeten Sein an, daß es das Sein selber sei; aber dieses putative Sein kann etwas anderes als das Sein selbst sein. Es gibt zwar kein Sein selbst, das nicht gebildet wäre – ein bildloses Sein ist ohne Widerspruch nicht denkbar –, aber es ist nicht in jedem Bilde gebildet, das dieses Sein zu bilden vermeint.

64. Zugleich mit der gedanklichen Unterscheidung von Bild und Sein wird von der Behauptung ein Verhältnis beider konstituiert. Beide sind zwar zufolge ihres Angesetztseins in Einer Behauptung Eines Behauptenden voneinander unterschieden; beide sind aber auch durch den sie in ihrer wesentlichen Beziehung statuierenden Ansatz der Behauptung in Einer objektiven Beziehung zueinander angesetzt. Dieses positive Verhältnis von Bild und Sein ist dasjenige möglicher (und laut der Behauptung: wirklicher) Nichtdifferenz (Identität) des gebildeten Seins

VII. Die Realisation von Wissen im Argument

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(esse imaginatum) und des Seins selbst (esse ipsum), die, sofern sie gegeben ist, Erkenntnis ermöglicht (welche die Behauptung zu geben erklärt). Diese Nichtdifferenz kann aber auch nicht gegeben sein; dann ist das sich manifestierende Wissen kein wahres Wissen (kein Wissen im strengen Wortsinne), d. i. keine Erkenntnis.

65. Das Verhältnis zwischen Bild und Sein kann demnach folgendes sein: 1. Das Bild (imago, forma) kann Bild des Seins selber (des esse ipsum) sein. Dann ist es wahres Bild bzw. Bild des wahren Seins, Wissen im strengen Wortsinne, Erkenntnis. 2. Das Bild kann aber auch bloß vermeintes Bild des wahren Seins, tatsächlich aber Bild eines nur putativen Seins und insofern bar des wahren Seins sein. Dann ist es ein falsches Bild, lediglich Wissen (im laxen Wortsinne), keine Erkenntnis. 3. Das transphänomenale Sein selbst (esse ipsum) kann in einem bestimmten Bilde erhellt sein; dann wird es wahrhaft gewußt, ist erhellt und in der Erhellung „offenbar“. 4. Das Sein selbst kann aber auch in einem Bilde von ihm nicht erhellt, dunkel geblieben sein; dann wird es nicht erkannt, nicht im strengen Wortsinne gewußt, sondern ist „verborgen“. 5. Die Behauptung deklariert, ein Bild des Seins selbst, also Erkenntnis des wahren Seins (wie in Punkt 1. u. 3. bestimmt) zu sein. Das Problem kann dies nicht von sich erklären; es muß die Entscheidung darüber, ob das, was es als Verhältnis von Bild und Sein selbst, hinstellt, wahr oder falsch ist, offenlassen. Aber das, was das Problem in dieser Hinsicht präsentiert, ist stets in Hinsicht auf die Verwirklichung von Erkenntnis, als dem intentional Bezielten, konstituiert. Von diesem Ziele muß das Problem freilich erklären, daß es dasselbe nicht realisiert. Das Problem schwankt, was als Erkenntnis anzusetzen ist.

VIII. Die Bezugnahme des Arguments auf Wahrheit 66. Wenn es wesensnotwendig ist, daß das Argument eine wissensrelevante Aussage vollzieht (vgl. §§ 58 u. 59), das Wissen aber wahres Bild des Seins zu sein erklärt (nach § 60), so ist das Argument wesensgemäß auf Wahrheit bezogen. Ohne diese Bezugnahme konstituierte das Argument kein Wissen; d. h. aber, es wäre dann kein Argument.

67. Jedem Argument liegt infolge seines Wesens dieser Bezug auf Wahrheit zugrunde. Der Behauptende erkennt der von ihm vertretenen Grundsynthesis immer wahre Geltung zu; er behauptet ein Wissen, d. i. die Wahrheit des Bildes des Seins. Das wird besonders an der Behauptung deutlich, die jemand macht, daß er nichts wisse. Denn selbst indem er behauptet, daß er nichts wisse, behauptet er eben, daß dies in Wahrheit so sei, d. i. daß es wahr sei, daß er nichts wisse. Der Zweifelnde geht in seinem Zweifeln in einem ihm bewußten und von ihm gewußten Nichtwissen zwischen möglichen Synthesen hin und her und erwägt, ob dieser oder jener Synthese wahre Geltung zukomme, d. i. ob in ihr das wahre Sein gebildet sei. Er setzt damit schon in diesem Akte des Zweifelns Wahrheit voraus. Wer irrtümlich behauptet, vermeint doch behauptend, wahrhaft zu wissen. Selbst der Lügner kann nicht umhin, in seiner lügenhaften Aussage Wahrheit für das Behauptete zu beanspruchen. Auch kann er nur lügen, wenn er die Wahrheit schon weiß oder zu wissen vermeint. Er bezieht sich innerhalb seines Lügens immer auf Wahrheit als solche. Wer leugnet, daß es überhaupt Wahrheit gibt, muß für diese Negation Wahrheit beanspruchen; er setzt folglich im Akte des Leugnens ihr Sein und ihre Valenz voraus. Wer auch nur leugnet, daß eine bestehende Wahrheit erkannt werden könne, beansprucht in dieser Aussage für das von ihm Behauptete Wahrheit und deren Erkanntsein durch ihn. Wer keine Wahrheit will, muß in diesem Akte wenigstens behauptend ansetzen, daß er in Wahrheit keine Wahrheit will weil sonst sein Wollen nicht es selbst, folglich nicht wäre. Er setzt eben damit Wahrheit und deren Valenz vohttps://doi.org/10.1515/9783110629200-010

VIII. Die Bezugnahme des Arguments auf Wahrheit

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raus; und insofern er sein Wollen will, will er auch das wahre Sein seines Wollens erkennend fassen. Auch die auf aussagende Argumente (bzw. deren Elemente oder Momente) bezogenen intentionalen Bekundungen (vgl. §§ 21 f.) sowie die auf die Intentionen dieser Bekundungen bezogenen intentionalen Bekundungen höherer Stufe (vgl. § 27) sind, eben schon deshalb, weil sie sich auf aussagende Argumente und die Bildung derselben beziehen, diese letzteren aber immer Wahrheit voraussetzen, stets auf Wahrheit bezogen. Doch auch schon, indem sie Intention bekunden, setzen sie das wahre Bestehen dieser Intention in ihnen und die Erkenntnis dieses Bestehens voraus.

68. Die Bezugnahme auf Wahrheit, die dadurch gegeben ist, daß im Argumente seinem Wesen nach Wissen konstituiert wird, findet sich im Argumente nicht nur als einfachem Argumente, sie findet sich schon in der Sichbehauptung des Argumentes als solchen. Indem das Argument als Argument (die Behauptung als Behauptung; das Problem als Problem) aufgestellt wird, erfolgt in ihm die Aussage, daß das sich Präsentierende in Wahrheit ein Argument (als Behauptung, als Problem) sei. Nun ist die Sichbehauptung dem Argument (nach §§ 31 f.) wesentlich. Folglich nimmt jedes Argument schon in seiner Sichbehauptung notwendig auf Wahrheit bezug. Der Argumentierende kann sich nicht als argumentierend ansetzen, ohne zu setzen, daß er in Wahrheit argumentiert. Auch das argumentierende Ich, das zugleich mit dem Argumente (nach § 44) notwendig angesetzt werden muß, wird demnach als in Wahrheit sich behauptend angesetzt. Erst die Konzeption von Wahrheit ermöglicht also die Konstitution des Arguments als solchen.

69. Da sich (nach §§ 45 f.) das Argument nur mittels unmittelbarer Meinungen zu bilden vermag, müssen diese Meinungen als wahrhaft solche angenommen werden, wenn das Argument das konstituieren können soll, was seinerseits wahres Bild des Seins sein (oder sein können) soll. Die Elemente sind dieser Voraussetzung nach eben wahrhaft diese (a ist a; b ist b; R ist R), die Synthesen sind diese (S1 ist S1 etc.), die Geltungserhebung ist diese (ist ist ist; ist vielleicht ist ist vielleicht): nur dann ist das Argument dieses. Das unmittelbar Gemeinte ist

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Teil I

als in Wahrheit solches im Argumente angesetzt und ineins damit aussagend artikuliert.

70. Darüber hinaus stellt das Argument (nach §§ 58 ff.) eine Bezugnahme des Bildes in ihm auf das Sein dar. Daß diese Bezugnahme vom Bilde aufs Sein erfolgt, kann im philosophischen Argument nicht ungewußt sein, weil das philosophische Argument (nach § 4) vollbewußtes Argument ist. Diese Bezugnahme auf das Sein wird also gleichfalls in jedem philosophischen Argument als bestehend behauptet.

71. Die spezifische Geltung der Grundsynthesis des philosophischen Arguments ist immer eine in die Wahl seiner freien Entscheidung gestellte und aus ihr hervorgegangene. Daß dies der Fall ist, läßt die Struktur des Problems indirekt erkennen. Das Problem stellt ja Alternativen zur Annahme auf, von denen die eine erst durch einen freien Bestimmungsakt zur Behauptung promoviert werden soll; es selbst enthält sich der Behauptung. Im Gegensatz dazu sieht man es der Behauptung in ihrer sprachlichen Form nicht ohne weiteres an, daß sie eine freie Geltendsetzung einer bestimmten Grundsynthesis darstellt. Niemand muß jedoch philosophisch etwas behaupten; er kann es nur. Ist das Wissen aber eine freie Erstellung und ist das philosophische Argument sich des in ihm vollziehenden Setzens und vollzogenwerdenden Angesetzten reflexiv bewußt, so muß es auch über diese bestimmende Freiheit etwas aussagen. Und das ist tatsächlich auch der Fall. Im Problem wird nämlich statuiert, daß die Geltung einer Synthese, die es beinhaltet, einem bestimmten frei Urteilenden zweifelhaft ist. In der Behauptung wird statuiert, daß deren Synthesis von einem bestimmten sie frei in Geltung Setzenden als wahr aufgestellt wird. Ich (bzw. Wir) zweifle(n), daß a b ist; Ich (bzw. Wir) behaupte(n), daß a b ist. Auch dann, wenn die frei angesetzte Behauptung Behauptung der Vernunft selbst ist, ist sie doch immer zugleich auch Behauptung eines bestimmten frei Behauptenden (bzw. mehrerer). In dieser Aussage ist das Ich bzw. Wir als in Wahrheit auf solche Weise argumentierendes behauptend angesetzt. In dieser Behauptung wird ein Wissen artikuliert, nämlich, daß die Behauptung bzw. der Zweifel in Wahrheit in einer Handlung eines bestimmten freien Ichs erfolge.

VIII. Die Bezugnahme des Arguments auf Wahrheit

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72. Doch offenbart sich hier ein wesentlicher Unterschied zwischen Problem und Behauptung. Das Behaupten manifestiert nämlich niemals bloß eine bestimmende Freiheit, es statuiert auch immer eine transsubjektive Geltung, d. i. eine objektive Gültigkeit des Behaupteten in der Vernunft selbst. Die bestimmende Freiheit will im Behaupten niemals bloß sich selbst positiv manifestieren, sondern sie überschreitet eben durch die gewählte Form der Behauptung den Bereich des bloß subjektiven Geltendmachens in Richtung auf objektive Gültigkeit. Damit ist freilich die objektive Gültigkeit des Behaupteten noch nicht gewährleistet, aber sie ist mit Wesensnotwendigkeit immer vorausgesetzt. Umgekehrt kann alle objektive Gültigkeit ihrerseits nur in einem freien subjektiven Geltendmachen argumentativ erscheinen. Jede objektive Wahrheit muß in einem subjektiven Akte des Behauptens als geltend hingestellt werden, um in einem philosophischen Argument vorfindlich zu sein. Selbst dann, wenn wir emphatisch sagen: „Ich behaupte, daß a b ist“ und damit die subjektive Seite der Behauptung hervorheben, können wir damit niemals nur das subjektive Geltendmachen für angesetzt erklären. Denn das behauptende Geltendmachen selbst besagt ja eben, daß die Geltung als auch unabhängig von der sie erhebenden jeweiligen subjektiven Handlung bestehend statuiert wird. Einzig wenn die Behauptung fallengelassen wird, erfolgt keine Beanspruchung objektiver Gültigkeit mehr. Die emphatische Aussage „Ich behaupte, daß u. s. w.“ ist in vielen Fällen schon eine beurteilende Aussage (siehe Kap. XXVII). Sie soll besagen, daß an der Behauptung eines objektiv Geltensollenden ein subjektives Geltendmachen konstitutiv beteiligt ist, das als solches nicht notwendig mit einer in Wahrheit bestehenden objektiven Geltung zusammenfallen muß.

73. Hingegen wird im Problem niemals ein objektives Gelten, sondern stets nur eine subjektive Geltungsaussage statuiert. Es versteht sich, daß das Problem, eben weil es Problem ist, kein Bestehen der Geltung des einfachhin Ausgesagten in der Weise des Behauptens aufstellt. Aber auch von der Problematizität selber kann immer nur ausgesagt werden, daß sie subjektiv bestehe, niemals aber, daß sie objektiv einem Sein selbst zuzusprechen sei. Einzig, daß das Problem Problem ist (– aber eben das wird ja im Problem auch behauptet, und nicht nur als problematisch hingestellt; siehe § 31 –), soll objektiv gültig sein.

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Teil I

Die Problematik kann also niemals objektive Problematik sein. Nur scheinbar gibt es auch objektive Probleme. So sagt man freilich: „Es ist problematisch“ und meint damit, daß es nicht nur dem dieses Problem formulierenden Subjekte, sondern „vielen“ oder gar „allen“ problematisch sei. Aber diese „alle“ sind stets nur eine Vielzahl, vielleicht „alle Menschen“, aber niemals die Allheit der Aussage. Es kann nicht etwas objektiv ungewiß sein. Die reine Vernunft selber ist nicht ungewiß. Im Problem wird ausgesagt, daß einer bestimmten Synthesis von bestimmten Subjekten keine Geltung zugesprochen werden, d. i. daß diese Synthesis als Bild nicht für das wahre Bild des darin gebildenten Seins erklärt werden kann. Darin ist jedoch schon vorgebildet, daß es jenseits dieses unsicheren Bildes ein Sein gibt, das bestimmt ist, und da Sein immer gebildetes Sein ist (vgl. § 63), daß es da ein bestimmtes gebildetes Sein gibt. Nur ist eben dieses wahre Bild nicht ausgemacht und darum in der Aussage, die eben deshalb Problem ist, nicht behauptet. Das Problem setzt also immer voraus, daß jenseits seiner eine objektive Gültigkeit gegeben ist. Andernfalls könnte es nicht aussagen „a ist vielleicht b“. Ein Schwanken zwischen Synthesen, was ihre Geltung betrifft, die gar nicht als objektives Seinsbild infragekommen, wäre kein Argument mehr. Es könnte nur noch ein Spiel mit möglichen Systasen sein; dann aber handelte es sich nicht mehr um Argumente. Dem Problemansatz zufolge gibt es eine objektive Gültigkeit jenseits seiner – nur wird diese im Problem nicht subjektiv realisiert. Deshalb sagt das Problem nur etwas über den subjektiven Status der Geltung des in ihm angesetzten Bildes aus. Den Schritt hinüber zur objektiven Geltung vermag es nicht zu vollziehen, es setzt sie allerdings kategorisch als bestehend voraus.

74. Während das Problem stets nur etwas über den subjektiven Wissensstand, niemals aber etwas als objektiv problematisch statuieren kann, vermag umgekehrt die Behauptung keine bloß subjektive Aussage zu machen. Sie kann aber auch keine objektive Gültigkeit aussagen, ohne implizit die subjektive Einsicht in diese objektive Gültigkeit mitzubehaupten, sei diese Einsicht nun mittelbar oder sei sie unmittelbar. Natürlich kann der Anspruch auf diese Einsicht in die objektive Geltung ungegründet sein; nur kann er niemals unterlassen werden.

75. Argumentative Willensbekundungen oder Forderungen, mögen sie nun die Realität oder den Wert aussagender (oder intentionaler) Argumente betreffen, be-

VIII. Die Bezugnahme des Arguments auf Wahrheit

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haupten von sich, objektiv zu bestehen, unbeschadet dessen, daß sie subjektive Manifestationen sind, es sei denn, daß sie selbst (nach § 29) problematisch vorgebracht werden. In letzterem Falle statuieren sie nur etwas über das von ihnen aussagende Subjekt (das in diesem Falle mit sich als intentional schwankendem Subjekt zusammenfällt), daß es nämlich nicht mit Sicherheit sagen kann, was gewollt (werden) bzw. wertgehalten wird. Nur daß eine problematische Intentionalität besteht, ist objektiv gewiß.

76. In der Behauptung wird eben dadurch, daß sie als Behauptung und nicht als Problem auftritt, etwas über den subjektiven Status des Behauptenden und den objektiven Status des Behaupteten statuiert. Von diesem Unterschied zwischen dem subjektiven und objektiven Status wird im philosophischen Argumentieren (nach der Generalbestimmung in § 4) gewußt; er wird also als solcher (implizit) mitbehauptet. Das vom behauptenden Ich formierte Bild eines bestimmten Seins ist nicht schon ohne weiteres auch wahres Bild dieses Seins. In dieser Differenz zwischen dem objektiven und dem subjektiven Status drückt sich der durch das Argument als solches gemachte Unterschied zwischen dem Bilde des Bildes bloß von sich und von dem in ihm Gebildeten bloß als Gebildeten – und dem Bilde von sich als Bildes des Seins selbst aus.

IX. Die Behauptung als Beanspruchung von Wahrheit 77. Die gedankliche Differenz, die der Behauptende zwischen der Behauptung als seiner Behauptung und als objektivgeltender Behauptung macht, läßt erkennen, daß der Behauptung, insofern sie bloß Akt und Setzung des Behauptenden ist, noch keine objektive Gültigkeit zuzuerkennen ist. Die im Subjekt konstituierte Behauptung kann gültig sein, aber sie muß es nicht sein. Das bedeutet, daß eine Behauptung nicht schon deshalb wahr ist, weil ein behauptendes Subjekt sie aufstellt. Was der individuell oder kollektiv Behauptende asseriert, hat durch sein subjektives Behaupten allein noch keine Wahrheit. Andererseits spricht das behauptende Subjekt dem von ihm Behaupteten allein schon durch die Form des Behauptens (statt Problematischsetzens) wahre Gültigkeit zu. Aber dieser Zuspruch macht die Behauptung nicht wahr.

78. Der Zweifelnde steht, eben durch die gewählte Form des Problems, von einem solchen Zuspruch des Geltens ab; aber er kann seinen Zweifel nur mit Bezug auf die gesehene und in Betracht gezogene Differenz des subjektiven und objektiven Status der argumentativen Synthesis und ihrer Geltung artikulieren. Er setzt also ebenso wie der Behauptende voraus, daß ein subjektiv formiertes Bild nicht schon ipso facto ein objektiv gültiges Bild des in ihm prädizierten Seins ist. Er zweifelt ja eben deshalb, weil er einsieht, daß die ihm mögliche subjektive Konstitution einer Behauptung dieser noch keine objektive Gültigkeit verliehe. Damit bekundet auch der Zweifel die Differenz zwischen bloßer subjektiver Geltendsetzung eines Seinsbildes und dessen Authentizität.

79. Das aussagende Argument kann Behauptung, es kann Problem sein. Was von beiden es ist, hängt von der Form ab, die das argumentierende Subjekt ihm gibt. Der Argumentierende weiß um die Differenz von objektivem und subjektivem Status des Behaupteten. Er kann in bloß subjektivem Statuieren verbleiben und den Schritt zum objektiv bedeutsamen Geltendmachen unterlassen; dann https://doi.org/10.1515/9783110629200-011

IX. Die Behauptung als Beanspruchung von Wahrheit

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formuliert er nur ein Problem. Er kann aber ebensowohl die Problematizität zugunsten einer Assertion zurückstellen. Da es sich im Falle des philosophischen Arguments (nach § 4) um ein vollbewußtes, freiwillentliches Bilden handelt, muß dem philosophisch Argumentierenden auch die mit jener konzipierten Differenz eröffnete Freiheit des Bildens (vgl. auch §§ 11 u. 32) bewußt sein. Dasjenige Argument, das er aufstellt, ist ein freiwillentlich aus dem Bereich möglicher Formierungen ausgewähltes. Das Subjekt macht mit bewußter Freiheit das von ihm gewählte bestimmte Argument als solches geltend. Es erkennt der formierten Synthesis Wahrheit zu oder steht von einer solchen Zuerkenntnis ab. Das bestimmte Argument ist nur durch den es zu dieser Bestimmtheit formierenden freien Willen dieses bestimmte Argument.

80. Da die Behauptung die Differenz des subjektiven und objektiven Status der Geltung der formierten Synthesis wesensnotwendig konzeptuell ansetzt, wenn sie die Koinzidenz beider aussagt, so ergibt sich ein Wesenssachverhalt, der in der Lehre vom Urteil bis in die jüngste Zeit fast vollständig übersehen worden ist: Die Behauptung, so reintheoretisch sie auch scheinen mag, beansprucht (kontendiert), wahr zu sein. In jeder Behauptung ist ineins mit der in ihr formierten Synthesis freiwillentlich und bewußt deren objektive Geltung angesetzt; sie mißt sich zu, transsubjektive Gültigkeit zu manifestieren. Aber sie beansprucht dies auch nur! Diese willentliche Zuerkennung der Geltung verleiht der formierten Synthesis von sich aus nicht den Charakter, wahre Synthesis zu sein. Die Behauptung versichert (assecurat) zwar, Wahrheit auszusagen, aber sie macht damit noch keineswegs fest (non vere affirmat), daß das Behauptete wahr ist.

81. Die Behauptung bloß als solche ist demzufolge gar kein bloß theoretischer Akt und gar kein bloß theoretisches Gebilde, sondern sie ist wesentlich willentliche Setzung. Die Behauptung bloß als solche b e a n s p r u c h t n u r (mere contendit), wahr zu sein. Die bloße Assertion ist nur eine K o n t e n t i o n , keine wahre A f f i r m a t i o n . Allerdings wird eine Synthesis ausschließend durch eine derartige willentliche Beanspruchung von Wahrheit zur Behauptung.

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Teil I

82. Es versteht sich (nach §§ 45 f.), daß dieser auf dem Hintergrunde des Wissens um die Differenz zwischen subjektivem und objektivem Status der Behauptung sich in der letzteren manifestierende Anspruch seinerseits, wie alle anderen Momente des philosophischen Arguments, als solcher gemeint und in dieser Meinung behauptet sein muß.

83. Indem zwischen dem subjektiven und dem objektiven Status der im Argument geltendgemachten Synthesis unterschieden wird, wird zwischen für wahr (oder für vielleicht wahr) gehaltenem Bild und wahrem Bild des Seins selbst unterschieden. Diese Unterscheidung ist aber nur möglich, weil das Verhältnis von Bild und Sein in Bezug auf Wahrheit gesehen wird. Mit dem Argument als solchem wird also wesensnotwendig Wahrheit als solche konzeptuell vorausgesetzt, und zwar im philosophischen Argumente reflexiv bewußt vorausgesetzt.

84. Das Argument realisiert sich nur in intentionaler Ausgerichtetheit auf Wahrheit. Für die Behauptung wurd dies schon (in § 80) dargelegt. Der Zweifel (das Schwanken) stellt seinerseits ein Oszillieren dar, das ebenso intentional auf das, was wahr sein soll, ausgerichtet ist und um dessentwillen statthat. Versucht man, diese Intentionalität aus dem Zweifel wegzudenken, so bleibt er nicht mehr Zweifel. – Die Frage ist nur deshalb Frage, weil sie eine Entscheidung bezüglich der Wahrheit des in ihr artikulierten Problems verlangt. Wer wirklich fragt, wünscht eine in Wahrheit gesicherte Behauptung anstelle eines bloßen Problems. Ohne auf Wahrheit zu dringen, wäre die Frage keine Frage. Aus diesem Grunde stellt die Frage, ob es denn Wahrheit überhaupt gebe, einen direkten Widerspruch auf. Sie negiert nämlich erneut, was sie schon implizite realisiert, nämlich die Behauptung, daß es Wahrheit gibt. Sie setzt durch ihr bloßes Sein als Frage als ausgemacht voraus, was sie in ihrem einfachen Gehalt als unausgemacht hinstellt. Sie hebt damit sich und das in ihr problematisch Hingestellte (nach § 39) auf.

IX. Die Behauptung als Beanspruchung von Wahrheit

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85. Die Behauptung bloß als solche ist im Beanspruchen von Wahrheit in doppelter Weise willentlich auf Wahrheit gerichtet. Sie ist Resultat des Willens, Wahrheit zu realisieren, und sie manifestiert die Prätention, daß das in ihr Ausgesagte wahr sei.

86. Sowohl der Wille, Wahrheit zu realisieren, als auch die Prätention, dies zu tun, müssen im philosophischen Argumente reflexiv bewußt sein. Die Prätention ist außerdem durch einen besonderen freien Akt (nach § 79) manifestiert. Der Argumentierende hätte ja auch bloß einen Zweifel bekunden können;F statt dessen hat er eine feste Behauptung gewählt. Wer philosophisch behauptet, ist sich also des willentlichen Statuierens des Geltungsanspruches für die von ihm formierte Synthesis reflexiv bewußt.

87. Der in der Behauptung sich manifestierende doppelte Wille wird, wie alle das Argument konstituierenden Momente, selbst zum einen gemeint, zum anderen als diese Meinung behauptet. Die Behauptung dieses Willens muß notwendig wahr sein, weil Wille sich überhaupt nur in Erkenntnis seiner selbst vollzieht, der Wille sich selbst also wirklich wissen muß. Meinte der Argumentierende nur, daß er wollte, ohne wirklich zu wollen, so wollte er in Wirklichkeit gar nicht. Es wird überhaupt nur dann gewollt, wenn ineins damit erkannt wird, daß gewollt wird. Das Bild eines Wollens, das wirklich Bild eines Wollens ist, ist notwendigerweise ein zutreffendes Bild, weil ein solches Bild von sich, Kondition des Wollens als solchen ist. Ein Scheinbild des eigenen Wollens im Wollen ist ohne Widerspruch nicht denkbar, denn es hebt den Begriff des Wollens auf.

88. Die Behauptung beansprucht zwar, wahr zu sein, aber sie realisiert mit diesem Anspruch noch nicht ihr Wahrsein. F Man lasse nicht außer acht, daß hier immer vom philosophischen, und das ist von einem vollbewußt und aus freiem Willen angesetzten Argument die Rede ist.

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Teil I

Wäre die bloße Behauptung allein schon dadurch, daß sie als solche aufgestellt wird, auch wahr, so wäre alles, was behauptet wird, auch wahr. Eine derartige Annahme enthält jedoch einen unaufhebbaren Widerspruch. Denn es kann ja auch behauptet werden: „Nichts, was behauptet wird, ist wahr“. Diese Behauptung wäre dann nach der gemachten Voraussetzung mit ihrem bloßen Vollzug auch wahr. Es stünden dann die Aussage (1) „Was behauptet wird, ist wahr“ und die Aussage (2) „Nichts, was behauptet wird, ist wahr“ einander gegenüber. Es müßte dann (3) zugleich wahr sein, „daß, was behauptet wird, wahr ist“ und „daß nichts, was behauptet wird, wahr ist“. Diese dritte These stellt ihrerseits abermals eine Behauptung dar, zu der nach der zweiten These das ihr Widersprechende behauptet werden muß. Nach der ersten These ist alles, was behauptet wird, wahr. Die dritte These ist eine Behauptung, folglich auch wahr. Nach der zweiten These aber ist These (3) nicht wahr. Statt ihrer müßte es vielmehr heißen, „daß es nicht wahr ist, daß alles, was behauptet wird, zugleich mit nichts, was behauptet wird, wahr ist“. Man sieht, daß auf diese Weise keine Behauptung mehr ohne Widerspruch als wahr ausgezeichnet werden kann. Hier ist alles wahr und ineins damit nicht wahr.

89. Die These „Jede Behauptung ist als solche schon wahr“ scheint den Vorteil zu bieten, daß sie der schwierigen Problematik des in einem Bilde sich erhellten Seins und des kein Sein erhellenden (bloßen) Bildes entkommt. Nach ihr fallen Bild und Sein immer zusammen. Wäre die Behauptung aber schon als solche gültiges Bild des Seins, so ließe sich nicht einmal verstehen, was ein Problem oder eine Frage sein soll. Das Problem könnte in Bezug auf die Geltung gar nicht oszillieren, denn die ins Auge gefaßten Synthesen wären durch ihre bloße Formierung auch schon ipso facto wahr. Das Problem setzt aber statt dessen voraus, daß anstelle der einen Synthese auch die andere wahr sein könnte. Die Frage zielt auf die Entscheidung, daß nur die eine von beiden konzipierten Synthesen gilt. Durch die Frage will das Subjekt aus der Ungewißheit des Problems herauskommen. Wo aber keine Ungewißheit ist, da ist auch keine aufzuhebende Problematizität. Mit der These „Jede Behauptung ist als solche schon wahr“ werden Problem und Frage denkunmöglich.

90. Wenn die Behauptung nicht schon durch ihr bloßes Behaupten wahr ist, obwohl sie wesensnotwendig wahr zu sein beansprucht, so können wir zwar keine

IX. Die Behauptung als Beanspruchung von Wahrheit

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Behauptung machen, die nicht Wahrheit intendiert; aber wir können ebensowohl Behauptungen machen, die nicht wahr sind, als Behauptungen, die wahr sind. Wir können dies, heißt, wir sind frei, es zu tun; wir müssen keines von beiden.G Durch das Behaupten allein ist also das Behauptete noch nicht gesichert. Wir sind von unserem Wesen her nicht schon unaufhebbar in der Wahrheit geborgen.

91. Die Behauptung manifestiert sich demnach eben dadurch als ungesichert, daß sie eine bestimmte Wahrheit durch ihr Hervortreten erst versichert. Die Behauptung steht in der grundsätzlichen Möglichkeit der Differenz des Bildens als bloßen Bildens zum Bilden als wahren Bildens (Erkennens).7 Nicht bloß das Problem (und die Frage), schon die Behauptung dokumentiert durch ihr Wesen, daß es eine Verschiedenheit des (vermeinten) Seins im Bilde und des wahren Seins geben kann und daß eben deshalb nicht alles Wissen Erkennen ist. Wäre die bloße Behauptung als solche sichere Wahrheit, so risse sie gar nicht in ihrer Eigenschaft als Behauptung d a s P r o b l e m des Verhältnisses des gebildeten Seins zum Sein selbst auf. Bild und Sein fielen dann schon immer ineinander, und das Bild wäre schon als solches die Erhellung des wahren Seins. Daß die Behauptung bloß als solche aber wesensmäßig ungesichert ist, bedeutet, daß sie im Wissen um die Problematizität des Bildes vom Sein konzipiert ist.

92. Da die Behauptung bloß als solche trotz ihres Anspruchs auf Wahrheit nicht ipso facto durch Erkenntnisdignität ausgezeichnet ist, muß sie etwas anderes herbeizuführen suchen, um sich als wahr zu präsentieren. Sie tut das im Erheben des Anspruchs, indem sie der formierten Synthesis Wahrheit unterstellt. Die

G Es sei abermals daran erinnert, daß hier immer nur vom philosophischen, d. i. einem vollbewußten und frei angesetzten Argument die Rede ist. 7 Vgl. „Transzendentale Methode.“ NS 1987. Bl. 23r: „Im Bilden erfassen wir ein absolutes Bilden, durch das das andere Bilden erst bewährt wird. […] Bilden in seinem höchsten Sein ist möglich, aber unser Wissen ist immer vermittelt.“

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Teil I

Behauptung ist insofern wesentlich Supposition (suppositio, hypothesis). Läßt sie diese Unterstellung fallen, so hört sie auf, Behauptung zu sein. Wir sagen dann etwa: „Ich nehme meine Behauptung zurück“, „Ich vertrete meine Behauptung nicht mehr“, „Ich gebe meine Behauptung auf“, „Ich kann meine Behauptung nicht aufrechterhalten“. Mit einer solchen Zurücknahme der Unterstellung differenzieren wir in einem neuerlichen, zur erstgemachten Behauptung Stellung nehmenden Urteilsakt zwischen der Synthesis und der Geltungsbehauptung. Erst durch diese sekundäre Differenzierung können wir die Verbindung von Synthesis und Geltungserhebung, die in primo allein das Argument (als Behauptung) konstituiert, lösen und die zuerkannte Geltung wieder aberkennen (vgl. §§ 10–12). Erst in der Stellungnahme zur primären Behauptung wird die Geltungserhebung von der Synthesis abhebbar. Daß wir aber zum Anspruch der (primären) Behauptung Stellung nehmen können, ist nur dadurch möglich, daß die Behauptung nicht schon bloß als solche auch notwendig wahr ist, sondern sich durch einen freien Willensakt Wahrheit arrogiert hat.8 So notwendig es für die Behauptung ist, daß sie Wahrheit beansprucht; so frei ist sie doch darin, für was sie Wahrheit beansprucht; und so notwendig es für das Argument ist, daß es Wahrheit intendiert, so frei ist es doch darin, sich zur Behauptung oder zum Problem zu formieren.

93. Wir befinden uns hier vor einer dreifachen Freiheit des argumentierenden Willens: 1. Der Wille ist frei, überhaupt zu argumentieren; 2. Der Wille ist frei, argumentierend zu behaupten oder zu bezweifeln; 3. Der Wille ist frei, etwas Bestimmtes (statt eines anderen Bestimmten) zu behaupten bzw. zu bezweifeln.H Wer sich nicht zum Argumentieren entschließt, nimmt nicht als Argumentierender an der philosophischen Erörterung teil und schließt sich damit für alles

H Von der Seite, daß das zu Erkennende für das bestimmte Argument eine Rolle spielt, wird an dieser Stelle unserer Erörterung abstrahiert, um die voluntative Seite im Argument deutlich herauszustellen. 8 Vgl. „Theorie des Arguments.“ NS 1988/89. Bl. 14r: „Die Behauptung ist wesentlich ein Willensakt – d. h. es ist nicht nur eine theoretische Aussage, sondern die Beanspruchung, daß das gelten soll.“

IX. Die Behauptung als Beanspruchung von Wahrheit

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daraus sich Ergebende aus. Es ist im Bereich der Philosophie allerdings möglich, gar nicht zu argumentieren; im Leben hingegen ist dies unmöglich, und insofern dieses lebende Argumentieren ein Argumentieren ist, gelten für dasselbe seiner eigenen Voraussetzung nach auch alle das Argument schlechthin bestimmenden Gesetze. Argumentieren wir aber auf Grund eines freien Willensentschlusses in der Philosophie, so sind wir an alle Gesetze, die das Wesen des Argumentes bestimmen, unaufhebbar gebunden. Wir müssen dann Wahrheit intendieren.9 Aber wir bleiben innerhalb dieser Wesensgesetzlichkeit dennoch frei, 1. zu behaupten oder nur zu bezweifeln, und 2. eben gerade das Bestimmte zu behaupten bzw. zu bezweifeln, das wir gegebenenfalls behaupten oder bezweifeln.

9 Vgl. „Theorie des Arguments.“ NS 1988/89. Bl. 14r: „Es muß Bezug auf Wahrheit genommen werden. Die Unterlassung der Geltungserhebung läßt keine Synthesis zustande kommen.“

X. Wahrheit als bestimmender Wert des Arguments 94. Der freie Wille, der diese oder jene Synthesis zur Behauptung erhebt, d. i. ihr Gültigkeit zustellt, bezieht sich nur scheinbar unmittelbar auf den faktischen Gehalt der Behauptung. Vielmehr erfolgt jede solche Entscheidung primär in Bezug auf einen Wert.10 Erst sekundär erstreckt sie sich auch auf das Sein. Denn dieses wird nur deshalb gewählt, weil es wählenswert ist, d. i. jenen Wert zu realisieren vermag. In der argumentativen Supposition ist der Wert der Wahrheit bestimmend. Nur unter dem Gesichtspunkt, daß Wahrheit ein im Argumente zu realisierender Wert ist, wird einer bestimmten Behauptung Geltung zuerkannt, d. i. wird sie als eine Formation genommen, die diesen Wert realisiert. Unter demselben Wertgesichtspunkt wird im Zweifel von einer Realisation desselben Abstand genommen; denn es ist nicht sicher, daß die anvisierte Synthesis auch Wahrheit realisiert. Da Wahrheit sein soll, soll Unwahrheit nicht sein, muß also vermieden werden, daß Unwahrheit realisiert werde. Damit ist offenbar, daß es in aller Argumentation um Wahrheit als den bestimmenden Wert geht.

95. Diese zum Zustandekommen des Arguments notwendige Bezogenheit des die Argumentation tragenden Willens auf den Wert der Wahrheit präjudiziert jedoch nichts hinsichtlich der freien Entscheidung, die bezüglich dieses Wertes getroffen wird. Vielmehr bleibt diese frei und sogar notwendig frei, weil Wahrheit als Wert wie jeder Wert ein für eine Entscheidungsfreiheit eröffnetes und sich an sie richtendes Quale darstellt. Wir können diese Wahrheit, um die als Wert es freilich notwendig geht, als Wert annehmen oder verwerfen, bejahen oder verneinen, sie gelten lassen oder sie abweisen.

10 Vgl. „Theorie des Arguments.“ NS 1988/89. Bl. 12v: „Wertforderung und formale Freiheit sind als Elemente des Willensvollzuges ineinander verschlungen.“ https://doi.org/10.1515/9783110629200-012

X. Wahrheit als bestimmender Wert des Arguments

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96. Wir bejahen oder verneinen in einer solchen freien Entscheidung zunächst den für uns pertinenten Wert der Wahrheit als solchen. Diese Entscheidung bestimmt sodann in der Konsequenz unser argumentatives Wollen und Handeln. Wir wollen auf Grund der vorgängigen Entscheidung zum Werte diesen Wert verwirklichen oder nicht verwirklichen, die Wahrheit aussagen oder sie nicht aussagen. Auf Grund dieses Wollens realisieren wir ein bestimmtes Argument.

97. Das voluntative Konstitutivmoment des Arguments stellt sich damit als noch weiter gehend heraus, als es bisher (nach §§ 84–86) schon erkannt wurde. Das Argument ist überhaupt keine bloße faktische Gegebenheit; es besteht erst als Freiheitsprodukt, als freier Vollzug einer bestimmten Aufgabe. Nur indem das ein bestimmtes Argument realisieren-wollende Ich die Aufgabe, Wahrheit vorstellend zu realisieren, bewältigt, kommt es zum Argumente, wobei dieses jeweils in seiner besonderen Bestimmung so ausfällt, wie der sich frei bestimmende Wille sich faßt (allerdings auch, was hier noch unberücksichtigt bleibt, von der sachlichen Seite her sich fassen kann).

98. Eben weil das Argument kein bloßes Faktum, sondern Produkt einer es tragenden Entscheidung ist, ist es immer ein zweckhaftes Gebilde, ein Artefakt. Das Argument ist ohne den es konstituierenden Willen gar nicht da; und zwar ist dies nicht in dem Sinne zu verstehen, daß der Wille als äußerer Motor das – in sich dann doch rein theoretische – Argument herbeiführt, sondern in dem Sinne, daß Willensmomente innere konstitutive Charaktere des Argumentes selbst darstellen.

99. Da im philosophischen Argument (nach § 4) nichts angesetzt ist, was nicht willentlich und wissentlich angesetzt ist, so muß dieser Willensanteil am Argumente auch reflexiv gewußt sein. Wer philosophisch argumentiert, muß wissen, daß er in diesem Argumente will und was er in ihm will.

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Teil I

100. Bei der Formation des Arguments als Verwirklichung einer bestimmten Willensentscheidung zur Wahrheit fällt der höchst merkwürdige Umstand auf, daß wir im Argumente, insofern es Behauptung ist, das Behauptete immer als wahr hinstellen müssen, und zwar gleichgültig, ob wir Wahrheit realisieren wollen oder nicht und folglich die Wahrheit sagen oder nicht sagen. Auch der Lügner muß seine Lüge als Wahrheit präsentieren. Wir können an einer argumentativen Synthesis nicht unterlassen, ihr Gelten zu beanspruchen – erst dadurch wird sie überhaupt eine argumentative Synthesis – und damit alle jene Willensakte konstitutiv werden zu lassen, die dazu erforderlich sind. (Nur in einer erneuten Beziehung auf das erstformierte Argument können wir mittels bestimmter Abstraktionen die Geltungserhebung von der Synthesis wieder ablösen und ihr aberkennen, sei es zu Recht oder zu Unrecht.) Nur in der synthetischen Vereinigung der faktischen Synthesis mit der doxischen Kontention wird ein Argument zustandegebracht. Die Geltungsaussage, so sehen wir jetzt, ist der sich vollziehende Wille zu einer bestimmten Realisation des Wertes der Wahrheit. Die Pertinenz der Wahrheit für den Argumentierenden und sein Argument wie auch dessen freie Entscheidung und Prätention machen freilich noch nicht, daß das im Argumente behauptend Hingestellte auch wirklich wahr ist. Dazu muß noch etwas Weiteres hinzukommen, das erst hinreichend zur Konstitution einer Wahrheitsrealisation ist.

101. Halten wir an dieser Stelle als ein Ergebnis der bisherigen Untersuchung fest, daß willentliche Intentionen wesensgesetzlich für das Argument konstitutiv sind, wobei die Ausrichtung des freien Willens auf zu realisierende Wahrheit und die Pertinenz des Wertes der Wahrheit für das Argumentieren wechselweise im Spiel sind. Nur so kommt es zur Supposition. Obwohl der Wille darin gebunden ist, daß es ihm um die Wahrheit gehen muß, d. i. daß sie pertinent für ihn ist, ist er doch zugleich frei darin, ob er sich für oder gegen die Wahrheit entscheidet, Wahrheit oder Unwahrheit realisiert. Es ist auch freigestellt, für was Wahrsein im Argumente beansprucht wird.

102. Im Problem wird allerdings davon Abstand genommen, einer bestimmten Synthesis oder deren Gegenteil Wahrheitswert zuzuerkennen. Das geschieht aber

X. Wahrheit als bestimmender Wert des Arguments

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auch hier in einem freiwillentlichen Akte. Wenn der Argumentierende demnach solchen Abstand nimmt, so muß er Gründe dafür haben. Das Problem sagt zwar nichts behauptend über die Gültigkeit derjenigen Synthesis aus, auf die sich seine Geltungserhebung bezieht, aber es sagt etwas über den subjektiven Status des Zweifelnden aus. Da die Konstitution des Argumentes zum Zweifel (und nicht zur Behauptung) der Freiheit überlassen ist, besagt das, daß der Argumentierende sich in einer bestimmten Entscheidung bezüglich der Realisation von Wahrheit zu dieser problematischen Aussage entschlossen hat. Auch der Zweifel ist folglich nur konstituiert, wenn doxische Momente an seiner Bildung beteiligt sind. Darüber hinaus enthält jeder Zweifel auch eine Behauptung bezüglich seines problematischen Argumentseins und bezüglich des argumentativen Status des Zweifelnden (nach §§ 36 u. 44). In dieser Behauptung ist natürlich alles das im Spiel, was an voluntativen Konstitutiven in jeder Behauptung im Spiele ist.

XI. Die Idee der zu realisierenden Bewährung 103. Die grundsätzliche Bezogenheit auf Wahrheit als den Wert, um den es im Argumentieren geht, wie auch das (sogar im Problem stets zu findende) Kontendieren bewirken allein noch nicht, daß die damit entstehende Behauptung wahre Behauptung ist. Es fehlt noch etwas, das erst hinzutreten muß, damit die Behauptung zur wahren Behauptung wird. Dieses bislang noch Unbekannte, das hinzukommen muß, ist das, was die Behauptung bewährt. Der Kontendierende spricht zwar (frei) dem von ihm Behaupteten eine derartige Bewährtheit zu – ein Zuspruch, den er, wie wir eingesehen haben (vgl. § 94), gar nicht unterlassen kann –, aber dieser Zuspruch als solcher gibt diese Bewährung nicht. Die Affirmation ist ein Moment sui generis, das erforderlich ist, damit eine Behauptung sich wirklich bewährt.

104. Der Anspruch in jeder Behauptung, wahr zu sein, und der im Akte dieses Kontendierens erfolgende Zuspruch der Bewährung für die jeweils formierte Synthesis hat zur Bedingung, daß der Kontendierende eine Idee der Bewährung hat, ohne die seine Kontention gar nicht möglich wäre. Wird im Angesicht dieser Idee der Bewährung eine gewisse Kontention freiwillentlich gesetzt, so muß die Möglichkeit eines bewährten Behauptens gegenüber der Möglichkeit eines nichtbewährten Behauptens, und die Möglichkeit eines Bewährung in Anspruch nehmenden Behauptens überhaupt gegenüber der Möglichkeit eines Nichtbehauptens (etwa eines bloßen Zweifelns) gesehen worden sein. Da nun die Wahrheit in ihrer spezifischen Relevanz für das Argument ein Wert ist, so vollzieht sich mit dem willentlichen Ansatz einer solchen Beanspruchung eine Entscheidung gegenüber dem Wert der Wahrheit mit Bezug auf eben diese Beanspruchung. Die Idee der Bewährung ist also keineswegs eine bloß theoretische Idee. Wahrheit ist ein Wert, heißt: Wahrheit fordert ihre Realisation, wo diese möglich ist. Der dem Wahrheitswert (so wie jedem Wert) immanente Wille geht auf die Verwirklichung der Wahrheit in der Bewährung aus. Die Bewährung wird als dergestalt der Forderung entsprechende geforderte Bewährung konzipiert. Die spezifische Art der Argumentation, der Ansatz als Problem oder als Behauptung, erfolgt mit willentlichem Bezug auf die geforderte Bewährung als ein Entsprechen oder Nichtentsprechen, immer aber so, daß im Falle des dahttps://doi.org/10.1515/9783110629200-013

XI. Die Idee der zu realisierenden Bewährung

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raus resultierenden Behauptens der Anspruch auf Bewährtheit des Supponierten notwendig erhoben wird. Das Wort fordern wird hier ausschließlich nur in philosophischer Bedeutung verwendet. Der psychologische oder rhetorische Sinn des Wortes ist abzuhalten. Psychologisch könnte man z. B. etwa von nahelegen oder anmuten sprechen. Formal ist fordern ein Ergehenlassen von Wille an Willen. In der Wahrheit manifestiert sich ein in ihr gelegener (d. i. immanenter) Wille, der ausdrückt, sie sei zu bejahen, der also insofern einen Willen praesupponiert, der dadurch aufgefordert ist. Wert ist innerliches willentliches Sichbejahen aus sich, das in diesem seinem Sichbejahendsein erfüllt. Gerechtigkeit z. B. setzt aus sich selbst, daß sie sein soll, und manifestiert sich für ein entsprechendes Wollen als erfüllend. Insofern ein Wert eine Forderung darstellt, ist der ihm immanente Wille an einen Willen gerichtet. Weil er an einen Willen gerichtet ist, wird er nicht notwendig (infolge seines Forderns) bejaht, sondern stets nur frei. Die freie Bejahung seitens des aufgeforderten Willens stellt die Verwirklichung der Forderung dar, die aus dem Werte ausgeht.11 Der verwirklichende Wille erhält durch die Verwirklichung des ihm angemuteten Wertes selbst Wert, d. i. er bejaht sich eben deshalb willentlich aus sich und erfüllt mit diesem Sichbejahen. Dieser Realisationswert muß gedanklich von dem Wert, der primär verwirklicht wurde, unterschieden werden.

105. Der Forderung der Bewährung wird in zwei aufeinander folgenden Akten entsprochen, 1. durch einen Akt prinzipiellen Wollens und 2. durch einen aus diesem folgenden, unter bestimmten Umständen eine Behauptung realisierenden Akt bestimmten Wollens. Im prinzipiellen Willensentscheid wird die aus der Wahrheit als Wert kommende Forderung der Bewährung als solche bejaht oder verneint. Dadurch gibt sich der Wille einen Grundsatz bzw. eine Maxime. Demgemäß wird der konkrete Wille aktiv, wenn die, nicht allein von ihm abhängenden, Umstände es möglich machen, daß ein bestimmtes Argument gebildet wird. Auch bei bestehendem prinzipiellem Willen kann es zu keiner entsprechenden konkreten Realisation kommen, wenn sich diese als unmöglich erweist. Der Argumentierende will dann etwa ein bewährtes Urteil fällen, aber es gelingt ihm nicht. In jedem Argumente ist auch etwas über den Argumentierenden behauptet (vgl. § 44). Im vorliegenden Falle ist dies, daß sich ihm etwas bewähre oder nicht bewähre. Gelingt die Bewährung nicht, so kann wahrheitsgemäß nur gesagt werden, daß dies der Fall sei. Das eben besagt aber der Zweifel. Die geforderte Bewährung findet unter diesen Umständen ihre adaequate Realisation nur

11 Vgl. „Theorie des Arguments.“ NS 1988/89. Bl. 16v: „Freiheit ist so gefordert, daß sie sich in der Forderung mit der Erfüllung eint.“

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im Problem. Doch behauptet das Problem zugleich stets etwas über das zweifelnde Ich. Diese Behauptung im Problem ist ihrerseits nur dann der Forderung der Bewährung adaequat, wenn sie wahrhaft bewährt ist.

106. Zu allen Akten des Argumentierens, die nicht notwendig sind, sondern zur freien Disposition stehen, kann aufgefordert werden (vgl. §§ 25 u. 26). Die zu Anfang dieser Abhandlung konstatierten fordernden Argumente erklären sich hier. Man kann auffordern, zu zweifeln, zu kontendieren oder zu affirmieren. Man kann auffordern, von einer Weise des Arguments zu einer andern überzugehen. So stellt z. B. die Frage eine Aufforderung dar, aus der Problematizität zur Assertion fortzugehen. Wir können jedoch ebensowohl auffordern, aus einer Assertion in bloße Problematizität zurückzugehen, d. i. etwas zunächst einmal nur als möglicherweise wahr hinzustellen. Solche fordernden Argumente sind nur auf Grund des Bezuges auf Wahrheit als Wert im Argumente möglich. Ohne die Idee der Pertinenz der Wahrheit hätten sie keinen Sinn. Fordernde Argumente können aber ihrerseits ebensowohl zurecht fordernde als bloß und ohne Rechtsgrund fordernde Argumente sein. Dies offenbart, daß sie selbst in ihrer Eigenschaft als Argumente unter der Forderung der Bewährung stehen. Sie sagen, daß eine bestimmte Art von aussagendem (oder seinerseits forderndem) Argument gesetzt oder unterlassen werden soll. Für diesen Anspruch müssen sie selbst Bewährung ausweisen, wenn er nicht bloße Manifestation einer Willkür sein soll. Auch in diesen fordernden Argumenten manifestiert sich eine willentliche Entscheidung bezüglich der aus der Wahrheit ergehenden Forderung. Eine besondere Mittelfunktion kommt in diesem Bereich den Postulaten zu, insofern in ihnen der vorbereitende Ansatz von Elementen oder Momenten der Supposition gefordert wird. Ihre Bedeutung wird erst im folgenden vollauf geklärt werden.

XII. Der Vorbegriff von Erkenntnis im Argumente 107. Wenn wir nicht argumentieren können, ohne uns der möglichen Differenz unserer bloß beanspruchenden Behauptung von der objektiv gültigen, affirmierenden Behauptung und damit der Idee der Bewährung bewußt zu sein, so schließt das ein, daß wir in allem Argumentieren schon immer ein Wissen davon mitbringen, was Erkenntnis ihrem Wesen nach ist. Hätten wir keinen solchen unmittelbaren Wesensbegriff von Erkenntnis, so könnten wir die Relevanz des Unterschiedes des putativen Seins im Bilde vom Sein selbst für die Wahrheit gar nicht konzipieren, folglich aber auch gar keinen Wahrheitsanspruch geltend machen und also gar kein Wissen konzipieren. Dann wäre das Argument aber nicht mehr Argument; die Behauptung wäre nicht mehr Behauptung, und der Zweifel wäre nicht mehr durch die Intention, zu einer festen Behauptung zu kommen, konstituiert.

108. Wir können aus diesem Grunde auch gar nicht behaupten, daß wir (etwas oder überhaupt) nicht erkennen, ohne uns auf einen für wahr gehaltenen Vorbegriff vom Wesen der Erkenntnis zu beziehen. Wer sagt, „daß er nichts wisse“ (d. i. „nichts erkenne“), muß doch, wenn es so sein soll, dabei in richtiger Weise konzipiert haben, was „wissen“ („erkennen“) ist. Er muß also, seiner Voraussetzung nach, schon erkannt haben, was Erkenntnis ist. Wäre das nicht der Fall, so träfe das, was er von sich aussagt, nicht zu, ja, wäre gar nicht vorstellbar.

109. In allen Akten des Zweifelns und Behauptens wird dieser Vorbegriff vom Wesen der Erkenntnis stets als gültig angewandt. Was wir behaupten, soll erkannt sein; was wir bezweifeln, dem haben wir keine behauptende Geltung zugestellt, weil wir es, eben dieser unserer Aussage nach, nicht in Erkenntnis bewährt haben oder bewährt zu haben vermeinen. Aber nicht nur in dem einfachhin Behaupteten bzw. Bezweifelten, schon in der Sichbehauptung der Behauptung bzw. des Zweifels als solcher bringen wir den Vorbegriff von Erkenntnis ins Spiel. Die Behauptung soll als Behauphttps://doi.org/10.1515/9783110629200-014

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tung nicht nur behauptet, sondern als solche erkannt sein, und gleicherweise der Zweifel.

110. Die Tatsache, daß im Argument wesensnotwendig mit einem vorausgesetzten Erkenntnisbegriff operiert wird, besagt für das philosophische Argument zugleich, daß dieser Erkenntnisbegriff auch als solcher reflektiert ist. Das bedeutet allerdings nicht, daß der Vorbegriff von Erkenntnis ohne weiteres mit dem in philosophischer Reflexion erzeugten Begriff von Erkenntnis identisch wäre. Auch im nichtphilosophischen Argumente bedient sich der Argumentierende übrigens dieses Vorbegriffs, nur ohne ihn philosophisch zu reflektieren. Philosophisch wird dieser Vorbegriff abstrahierend herausgehoben und eigens thematisiert.

111. Ob der Begriff vom Wesen der Erkenntnis nun aber auch philosophisch reflektiert ist oder nicht, so kann er nur dann gewiß sein, wenn in ihm e r k a n n t wird, was Erkenntnis als solche ist. Wahre Erkenntnis ist deshalb notwendig immer Erkenntniserkenntnis, d. i. Erkenntnis der Erkenntnis als Erkenntnis. Was sich als Erkenntnis ausgibt, will ein Wissen sein, das um seine Wahrheit, d. i. um sein Erkenntnissein weiß, d. i. es erkennt.

112. Die Erkenntnis der Erkenntnis als Erkenntnis kann in aller Erkenntnis nicht unerkannt außerhalb des in diesem Falle Erkannten, und das ist hier: der Erkenntnis als Erkenntnis, bleiben, sondern ist mit ihm Eins, Bild von sich als wahrem Bilde des Seins, und eben deshalb: wahres Bild von sich. Nur durch dieses Einssein des erkennenden Erkenntnisbildes mit dem erkannten Bilde der Erkenntnis konstituiert sich überhaupt Erkenntnis. Sonach ist die Erkenntnis ihrem Wesen nach transzendental. Bliebe das wissende Bild in diesem Falle unreflektiert außerhalb des Gewußten, so könnte im Akte des Wissens von dem Gewußten gar nicht befunden werden, daß es erkannt sei – d. i. aber: das Argument könnte nicht wahrhaft Argument sein.

XII. Der Vorbegriff von Erkenntnis im Argumente

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113. Diese unmittelbare Gewißheit der Erkenntnis von sich als Erkenntnis darf nicht mit der Unmittelbarkeit des Meinens (vgl. §§ 45 f.) verwechselt werden. Daß das Vorgestellte (visum immediatum) ohne Geltenlassen eines trennenden Hiatus als es selbst genommen wird, ist nicht dem gleichzusetzen, daß mit Hilfe eines solchen unmittelbaren Sehens (Bewußtseins) im Wissen etwas als etwas erkannt wird. Wo Erkenntnis in Ansatz kommt, muß Beziehung auf die Geltung des Bildes vom Sein und deren Authentizität genommen, also Wissen als Wissen konstituiert sein. Schon das Gemeinte wird im Wissen thematisiert, indem es als solches genommen und behauptet wird. Damit ist ein Bezug von der reinen Vorstellung von ihm auf sein Sein selbst genommen. Das Wissen ist im Argumente nur dann Wissen, wenn es ist, als was es vorgestellt wird, und dazu bedarf es der Erkenntnis, für welche es der Erkenntniserkenntnis bedarf.

114. Da das philosophische Argument durchweg Reflexionsprodukt ist, kann der Begriff von Erkenntnis, dessen es sich reflexiv bedient, ein Fehlbegriff sein; denn er kann das Produkt einer dazwischen getretenen irregegangenen Reflexion sein. So kann man z. B. meinen, erkannt sei dasjenige, das sich im Vorstellen als notwendig miteinander verbunden erweist. Man legt dann irrtümlich die Erkenntnisdignität in die Denknotwendigkeit. Auf diese Weise wird dem Argumentieren ein Fehlbegriff von Erkenntnis zugrundegelegt, der das Ergebnis einer bestimmten philosophischen Reflexion ist. In Wahrheit kann die Denknotwendigkeit nichts bewähren, wie noch gezeigt werden wird. Dieser Erkenntnisbegriff kann darum auch keine Gewißheit der Erkenntniserkenntnis in sich haben.

Doch auch ein solcher Fehlbegriff kann seinerseits nur von einem ursprünglichen, vorphilosophischen Vorbegriff von Erkenntnis her gewonnen sein. Erst die philosophische Reflexion über diesen ursprünglichen Vorbegriff hat ihn so gedeutet. Wir brauchen an dieser Stelle derartige Verirrungen nicht weiter zu verfolgen. Wichtig ist in unserem Zusammenhange nur, daß die Idee von Erkenntnis ursprünglich konstituierend im Spiele ist, wenn irgendein Argument vorgebracht wird, und daß es von der Dignität dieser Idee abhängt, ob das Argument Rechenschaft von sich geben kann oder nicht, daß diese Dignität aber formal nur in Erkenntniserkenntnis gegeben sein kann.

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Teil I

115. Weil allein ein ursprünglicher Vorbegriff von Erkenntnis als Erkenntnis die Konstitution des Argumentes als solchen ermöglicht, dieser Vorbegriff aber ein Begriff ist, der von der Sekundärreflexion fehlkonzipiert und als verfälschter angewandt werden kann, darum muß der Begriff von Erkenntnis, den die Sekundärreflexion ins Spiel bringt, nicht notwendig ein Begriff sein, der Gewißheit von sich mit sich bringt, daß diese „Erkenntnis“ in Wahrheit erkannt ist. Die noch in ihrem ganzen Ausmaß darzulegende grundsätzliche Problematizität des Wissens zwingt uns nicht nur zu einer Klärung des als Wissen Hingestellten, sie zwingt uns auch zu einer Klärung und Sicherung dessen, was Erkenntnis ist. Mit dem Ansatz eines philosophischen Sekundärbegriffs von Erkenntnis tritt etwas zwischen den ursprünglichen Vorbegriff von Erkenntnis und das jeweils in Ansatz Gebrachte, das in seiner Auswirkung in Anschlag gebracht werden muß. Fehlt dem Reflexionsbegriff die innere Gewißheit, daß Erkenntnis wahrhaft das ist, als was er sie faßt, so wird im weiteren Verlauf bei seiner Verwendung für alles in Argumenten Ausgesagte oder intentional Bekundete eine Dignität in Anspruch genommen, die keine ist. Es ist das Gewöhnliche selbst unter Wissenschaftlern, daß sie etwas als Erkenntnis hinstellen, während sie zugleich keinen reflektierten Erkenntnisbegriff, geschweige denn Gewißheit haben, daß das, was sie unter Erkenntnis verstehen, auch wahrhaft Erkenntnis ist.

116. Von der ja nur bei vollem Bewußtsein ihrer Aussagen gegebenen philosophischen Reflexion wird, soll sie wissenschaftlich sein, verlangt, daß der in ihr verwendete Erkenntnisbegriff ihr einsichtig der wahre Begriff von Erkenntnis, also die in ihr erfaßte Erkenntnis wahrhaft Erkenntnis ist. Indem die philosophischwissenschaftliche Reflexion reflexive Gewißheit vom Wesen der Erkenntnis erlangt, wird sie fähig, den falschen Schein gewisser Erkenntnisbegriffe der nichtwissenschaftlichen Reflexion aufzudecken. Die philosophische Reflexion des Erkenntnisbegriffs erzeugt freilich dessen innere Gewißheit nicht, sondern erhebt diese nur auf ihre Reflexionsstufe. Soll es Gewißheit über Erkenntnis als solche geben, so muß diese Gewißheit schon in einem ursprünglichen Erkennen hervortreten, mit dessen Hilfe allein alle andere Reflexion, auch die philosophische, zu Erkenntnissen gelangen kann. Die philosophische Reflexion macht diese Gewißheit der Erkenntnis nur formal deutlich.

XII. Der Vorbegriff von Erkenntnis im Argumente

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117. Sekundäre Fehlbegriffe von Erkenntnis sind deshalb möglich, weil das sekundäre Argumentieren in dem, was es geltend macht, frei ist. Genötigt ist es nur darin, daß es einen Erkenntnisbegriff ansetzt und zur Anwendung bringt.

XIII. Die Voraussetzung der Idee der Bewährtheit 118. Die Forderung der Bewährung des Behaupteten im Argumente entdeckte uns den Vorbegriff von Erkenntnis, der das Argument als solches erst ermöglicht. Der Begriff von Erkenntnis ist selbst ein Bild, das wahr oder falsch sein kann. Auch an diesem Bilde haben wir also ein Bild (nämlich das Bild der Erkenntnis), welches Bild wahren Seins oder nur vermeintlich wahren Seins sein kann. Wahres Bild ist das Bild von der Erkenntnis nur dann, wenn sich in diesem Bilde die in ihm gebildete Erkenntnis in ihrem wahren Sein ausweist, d. i. bewährt. Alle Bewährung des Wissens erfolgt (auf dessen Seite) zu allererst im Erkennen des Erkennens als solchen. Das Bild der Erkenntnis kann sich deshalb nur als wahres Bild ausweisen, wenn darin die Erkenntnis der Erkenntnis statthat. Wahre Erkenntnis ist nur als Erkenntniserkenntnis gegeben.

119. Somit setzt alle Argumentation wesensnotwendig die Möglichkeit wahrer Erkenntnis und darin die Erkenntniserkenntnis voraus. Jeder Argumentierende besitzt, der Voraussetzung seines Arguments zufolge, Erkenntnis der wahren Erkenntnis als solcher.

120. Das vorausgesetzte Bild vom Wesen der Erkenntnis ist wahr, weil es selbst ein Erkenntnis gewährendes Bild ist. In diesem Bilde ist für jeden Erkennenden ein Fall, und zwar der exemplarische Fall von Erkenntnis realisiert. Der Erkennende weiß durch diese exemplarische Erkenntnis, daß die gewußte Gegebenheit, nämlich die Erkenntnis, in diesem sie wissenden Wissen, nämlich dem Erkennen derselben, selbst hell und somit das Bild derselben bewährt ist.

121. In der Erkenntnis ist die als möglich vorausgesetzte Differenz zwischen dem (putativen) Sein, das gebildet ist, und dem Sein selbst zugunsten ihrer tatsächlihttps://doi.org/10.1515/9783110629200-015

XIII. Die Voraussetzung der Idee der Bewährtheit

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chen Einheit ausgeschlossen. Formal bestimmt ist Erkenntnis die Ununterschiedenheit von gebildetem Sein und Sein selbst. Nur ein Wissen, dessen Gegenstand diesen formalen Charakter hat, kann ein erkennendes Wissen sein. Daß dies so sei, setzt das Argument schon als solches notwendig voraus.

122. Weil aber Erkenntnis zugleich Erkenntnis ihrer als Erkenntnis ist, muß die in ihr gegebene Nichtdifferenz von gebildetem Sein und Sein selbst zugleich damit, daß sie gegeben ist, auch als solche h e l l sein. Wird irgendein Bild gesehen, so wird in ihm die Bildform und das in dieser gebildete Sein gesehen. Jedes derartige Bild wird mit dem Wesensbild der Erkenntnis verglichen. Nach dem Wesensbilde muß das erkennende Bild Bild der als solche gesehenen Nichtdifferenz von gebildetem Sein und Sein selbst sein. Soll das bestimmte Bild also als Erkenntnis anerkannt werden, so muß es ein Bild von diesem Charakter sein: in ihm müssen gebildetes Sein und Sein selbst als nichtdifferent erhellt sein. Nach dem Urbilde der Erkenntnis in der Erkenntniserkenntnis bestimmt sich das jeweilige Wissen als Erkenntnis.

123. Die Nichtdifferenz von gebildetem Sein und Sein selbst ist als solche hell, wenn sie selber, allen Zweifel rechtskräftig vernichtend, licht ist und mit diesem Lichte erhellt. Diese Erhellung durch das Lichtsein stellt die Bewährung dar. Wir bezeichnen dieses Hellsein durch das Licht als Evidenz. Erkannt wird nur, wenn die Nichtdifferenz von gebildetem Sein und Sein selbst evidiert wird.

124. Das Argument kann keinen Begriff von Erkenntnis als gültig voraussetzen, ohne Erkenntniserkenntnis und darin Licht und Evidenz vorauszusetzen.12 Es kann kein bloß objektiv bestehendes, subjektiv nicht gewußtes Sein der Wahrheit in

12 Vgl. „Transzendentale Methode.“ NS 1987. Bl. 21v: „Descartes hatte beschrieben, daß wir eine Evidenz brauchen, von der die Gewißheitskette abgeleitet wird.“

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Teil I

dem Gewußten als einsichtig bestehend annehmen, ohne sich zu widersprechen. Wahrheit kann nur als manifeste Wahrheit affirmiert werden. Hieraus erklärt sich, warum der Behauptende als Kontendierender nicht kontendieren kann, ohne für das Beanspruchte objektive Gültigkeit vorauszusetzen. Wird auf manifeste Wahrheit – und anders als manifest ist Wahrheit als solche nicht konzipierbar – Bezug genommen, so muß sie als solche erkannt sein. In jedem Argument kommen Behauptungen vor, d. i. Aussagen, daß das Behauptete wahr sei. Eine solche Wahrheit behaupten, heißt, sie als gesehene und erkannte behaupten. Wer argumentiert, behauptet auch dann bereits, wenn er nur zweifelt, daß er erkennend wisse, was Erkenntnis ist (und daß er solche Erkenntnis für die ihm vorschwebende Synthesis nicht besitze). Er beansprucht also eine Erkenntnis der Erkenntnis zu haben, und darin nicht nur die Vorstellung eines gebildeten Seins, das vom Sein selbst nicht different ist, sondern auch die Einsicht in diese Nichtdifferenz. Das Bestehen von Wahrheit (oder einer Wahrheit) behaupten, die als solche gar nicht eingesehen würde, hieße also geradezu das Behauptete nicht behaupten, welches sich widerspricht. Jede Behauptung, inklusive der Behauptung im Zweifel, rekurriert demnach auf diese Evidenz.

125. Wäre ein Seinsbild ohne Erhelltheit der Nichtdifferenz des in ihm gebildeten Seins vom Sein selbst, so könnte es nicht erkennend aussagen, daß diese Nichtdifferenz gegeben sei. Dies wäre dann notwendigerweise ein dubiöses Bild, in dem nicht klar wäre, ob das in ihm gebildete Sein jenes Sein selbst ist, das es zu bilden intendiert. Insbesondere kann es kein solches Bild von der Erkenntnis als Erkenntnis anders denn als wahres Bild geben. Das Bild von der wahren Erkenntnis muß evident, d. i. die Erkenntnis muß in ihm selbst licht sein. Das bedeutet keinen Zirkel im Denken! Erkenntnis ist die (transzendentale) Lichtheit und Helligkeit ihrer selbst, nämlich das Bild von sich als des Bildes authentisch sich bewährender Nichtdifferenz.

126. Erkenntnis ist das Bild von sich als bewährten Bildes einer als solchen gesehenen authentischen Nichtdifferenz von gebildetem Sein und Sein selbst. Sie ist damit Manifestation der Wahrheit, d. i. lichten Es-selbst-Seins. Sonach ist mit der Vorausssetzung von Erkenntnis im Argumente auch Wahrheit als solche vorausgesetzt.

XIII. Die Voraussetzung der Idee der Bewährtheit

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Wahrheit ist authentische Lichtheit. In diesem Lichtsein kon- und affirmiert sich das Sein in sichI selber. Wahrheit ist Selbstrechtfertigung des lichten Seins. Diese Legitimation ihrer selbst benimmt jedem Zweifel an ihr sein Recht. Die Erkenntnis der Wahrheit gewährt der Behauptung eine Dignität, die ganz und gar über das bloße Beanspruchen hinausgeht, da sie qualitativ anderer Art ist als die Dignität der Kontention; sie gewährt Affirmativität.

127. Erst im Erhelltsein der Wahrheit ist der Charakter der Erkenntnis vollständig gegeben. Mit den angegebenen Bestimmungen ist der formale Charakter der Erkenntnis eruiert. Worin diese Affirmativität materialiter gründet, ist damit freilich von uns noch nicht erkannt. Auch ist nur nachgewiesen, daß all und jedes Argument Erkenntnis und Wahrheit voraussetzen muß; ob aber diese Voraussetzung zurecht gemacht wird, kann sich nur durch materiale Einsicht der Wahrheit entscheiden.

128. Das Argument konstituiert sich nur in intentionaler Ausrichtung auf die Wahrheit und deren Verwirklichung in der Erkenntnis und durch sie. (vgl. §§ 84 f.) Weil dieser Bezug auf Wahrheit wesentlich ist und sich als Voraussetzung von Erkenntnis der Wahrheit im Argumente manifestiert, darum kann das Argument nicht Wahrheit als solche negieren oder infragestellen, ohne deren Bestehen und Erkanntsein vorauszusetzen, also sich zu widersprechen.13 Wer z. B. fragt: „Was ist Wahrheit?“, gibt im Stande dieses Fragens vor, nicht zu wissen, was Wahrheit ist, während er doch ineins damit durch seine Frage als solche schon beansprucht, erkannt zu haben, was Wahrheit ist. Analoges gilt von denjenigen, die aussagen, es gäbe keine Wahrheit oder es sei zweifelhaft, ob es Wahrheit gäbe.

I Dieses Insich ist als identisches Lichtsein, nicht als das Sichbewußtsein der Reflexion zu verstehen. 13 Vgl. „Transzendentale Methode.“ NS 1987. Bl. 7v: „Es wird immer zugleich Wahrheit und Erkenntnis der Wahrheit angestrebt. Frage nach dem Gemeinsamen der praktischen und theoretischen Aussage. Ein totaler hiatus zwischen beiden ist hinfällig. Rein spekulative Philosophie ist ebenfalls unmöglich, weil die Philosophie das, was sie aussagt, im Wissen bewähren muß.“

XIV. Die Voraussetzung wenigstens eines Minimums an Erkenntnissen im Argumente 129. Wir setzen (nach den Ausführungen in Kap. XIII) in allem Argumentieren voraus, daß wir schon eine ursprüngliche Gewißheit von dem haben, was Wahrheit und Erkenntnis ist. D. h. wir setzen im Argumentieren stets voraus, daß wir Erkenntnis haben. Aber wir setzen nicht voraus, daß wir alle Erkenntnis haben. Das Argument setzt vielmehr das Erkanntsein der Erkenntnis als solcher und der Wahrheit als solcher in Bezug auf die grundsätzliche Problematizität des in ihm formierten Bildes des Seins (siehe § 91) zu dem Zweck an, bestimmte Erkenntnisse bestimmter Wahrheiten zu ermöglichen. Eben aber weil das Argument dazu ansetzt, sind diese bestimmten Erkenntnisse nicht schon von sich aus gegeben; sie müssen erst durch freie Akte verwirklicht werden. In der Behauptung führt dieser Ansatz des Arguments zumindest bis zur Kontention von Wahrheit für das in ihm einfachhin Ausgesagte, im Idealfalle zur Affirmation. Im Problem wird die Ausführung des Ansatzes für nicht gelungen erklärt: der Argumentierende konnte die intendierte Wahrheit nicht erreichen. Der Ansatz selbst wird dabei nicht geleugnet.

130. Obwohl sich das Kontendieren notwendig auf Erkenntnis von der Erkenntnis und der Wahrheit beruft und notwendig Erkenntnisdignität für das Behauptete beansprucht, fallen Kontendieren und Affirmieren nicht zusammen. Weil sie verschieden sind, können sie auch voneinander unterschieden und gelöst werden. Wer kontendiert, kann sich von der ineins damit erfolgenden Bezugnahme auf Affirmation und von der Inanspruchnahme derselben dennoch in der Weise lösen, daß er das Affirmieren selbst willentlich zurückweist. Er stellt dann eben das, was er kontendiert, bloß kontendierend als affirmiert hin.

131. Der Argumentierende und sein Argument nehmen immer ein gewisses Ausmaß an Erkenntnissen in Anspruch: Erkenntnis der Wahrheit als Wahrheit; Erkennthttps://doi.org/10.1515/9783110629200-016

XIV. Das Minimum an Erkenntnissen im Argumente

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nis der Erkenntnis u. s. w. u. s. w. Der Umkreis aller dieser mit dem Argumentieren als solchen notwendig in Anspruch genommenen Erkenntnisse soll im folgenden als das Minimum von Erkenntnis bezeichnet werden, das das Argument als solches als bestehend ansetzt. Der Argumentierende befindet sich also seinem eigenen Argumente nach (d. i. nach dem, was dieses impliziert) niemals im Zustande vollkommener, sondern höchstens partialer Erkenntnislosigkeit.

XV. Die Voraussetzung der Existenz von Erkenntnis im Argument 132. Soweit im Argumente behauptet wird, erfolgt aber noch mehr als die Inanspruchnahme der Erkenntnis vom Wesen der Erkenntnis und der Wahrheit. Im Behaupten wird der Wesensbegriff von Erkenntnis und Wahrheit auf bestimmte Fälle appliziert. Es wird von etwas Bestimmtem ausgesagt, daß es wirklich erkannt werde und wahr sei. Um dies zurecht aussagen zu können, muß zuerst erkannt sein, daß das Wesen von Erkenntnis und Wahrheit in diesen bestimmten Fällen realisiert, Erkenntnis und Wahrheit also in ihnen existent ist. Der Argumentierende kann gar nicht Erkenntnis in Anspruch nehmen, ohne Erkenntniserkenntnis in Anspruch zu nehmen. Erkenntniserkenntnis kann aber nicht sein, ohne zu existieren. Das Wesen der Erkenntnis muß hier in existierender Erkenntnis da sein, da sonst keine Erkenntniserkenntnis, damit aber auch keine Bezugnahme auf dieselbe, vorläge. In der Existenz einer Erkenntnis ist das Wesen der Erkenntnis appliziert. Eine solche Applikation setzt sowohl Applizierbarkeit als auch Appliziertheit voraus. Erkenntnis muß in der Erkenntniserkenntnis so beschaffen sein, daß sie existent sein kann und existent (geworden) ist. Nennen wir Applizierbarkeit und Appliziertheit zusammen Applikabilität, so setzt die Erkenntniserkenntnis solche Applikabilität und deren Erkanntsein voraus. Dasselbe gilt für den Fall der Erkenntnis einer bestimmten Wahrheit. Soll etwas Bestimmtes erkannt sein, so muß dessen Erkenntnis als solche erkannt sein. Dann aber ist das Wesen von Erkenntnis in dieser bestimmten Erkenntnis realisiert. Ist es realisiert, so ist ineins damit Applikabilität gegeben und als solche erkannt.

133. Erkenntnis kann nicht als wahrhaft solche konzipiert werden, ohne als existierende konzipiert zu werden. Entsprechend kann Wahrheit nicht ohne Dasein der Wahrheit konzipiert werden. In jeder solchen Existenz von Wahrheit und Erkenntnis realisiert sich das absolute Sein von Wahrheit und Erkenntnis, die transkasuelle authentische Lichtheit. In jeder Erkenntnis behaupten wir ineins mit der Existenz derselben als solcher auch deren gegebene Applikabilität in diesem bestimmten Wissen. https://doi.org/10.1515/9783110629200-017

XV. Die Voraussetzung der Existenz von Erkenntnis im Argument

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Wahre Erkenntnis kann nicht gedacht werden, ohne auch zu sein. Sie kann nicht sein, ohne daß ihre Applikabilität gegeben und erkannt ist.

134. Das Problem kann im Unterschiede zur Behauptung dem in ihm Synthetisierten keine Wahrheit zuerkennen. Um dies auszusagen, muß das Problem ebenso wie die Behauptung voraussetzen, daß das Wesen der Wahrheit und der Erkenntnis, sowie deren Applikabilität erkannt ist. Nur kann das Problem nicht behaupten, daß in den von ihm einfachhin formierten Synthesen Wahrheit und Erkenntnis fallweise realisiert seien. Dieses Nichtkönnen kann darin begründet sein, daß der Argumentierende bezüglich dieser Synthesen keine Evidenz zu erlangen vermochte. Es kann aber auch darin seinen Grund haben, daß der Argumentierende den Akt, durch den allein die Wahrheit evidiert werden könnte, nicht vollziehen wollte, und daß es deshalb bei der Problematizität blieb. Endlich kann der problematisch Argumentierende auch gegen besseres Wissen etwas als problematisch hinstellen, weil er die – sehr wohl evidierte – Wahrheit nicht aussagen will. Um zurecht affirmieren zu können, muß also zweierlei gegeben sein: 1. eine Manifestation der Authentizität des (gebildeten) Seins in der Evidenz; und 2. der Wille, diese Manifestation im eigenen Geiste auch statthaben zu lassen, ein Wille, der sich im Akte des Evidierens realisiert. Sind beide Bedingungen erfüllt, so vollzieht sich die Affirmation im Geiste des Argumentierenden. Dennoch bleibt er frei, diese Affirmation auch in einer objektivierenden Behauptung auszusagen. Wir haben es hier mit einer weiteren Konstitutivfunktion des Willens im Argumentieren zu tun. Zur philosophischen Evidenz gelangt nur der, der evidieren will und in diesem Wollen bestimmte Akte initiiert.

XVI. Der der Freiheit offenstehende Bereich der Aussage 135. Es ist nach dem Vorhergehenden deutlich geworden, daß das Behaupten in mannigfaltiger Hinsicht behauptet. Doch auch das Zweifeln muß in mehrfacher Hinsicht behaupten: Es muß sich als Problem behaupten, mit allem, was dies impliziert. Es muß die in ihm angesetzten unmittelbaren Gesichte als wahrhaft diese seiend behaupten; es muß sich als wissensrelevant behaupten. Darin muß die mögliche Differenz bzw. Nichtdifferenz des gebildeten Seins vom Sein selbst erkannt und in Bezug auf diese geurteilt worden sein. In all diesen Akten nimmt der Zweifel Erkenntnis und die mit dieser notwendig angesetzten Vorbegriffe für sich in Anspruch. Das Argument kann deshalb niemals von sich statuieren, es sei nur und ausschließlich ein erkenntnisfreies Wähnen, ohne sich aufzuheben. Schon die Form einer derartigen Aussage verrät den Widerspruch. Würde wirklich nur gewähnt, so könnte gar nicht gesagt werden, daß gewähnt werde. Auf diese Weise behauptete sich das Argument nicht einmal als solches, wäre also gar nicht da. Man kann auch nicht dahingehend ausweichen, daß man nur zu wähnen wähne; wähne zu wähnen, daß man wähne, etc. in infinitum. Das alles tragende erste Wähnen dieser Potenzierungen muß immer ein Wähnen sein, also sich behaupten – mit allem, was dies einschließt. An dieser Stelle wirkt sich der unaufhebbare Zusammenhang zwischen einfachhin Ausgesagtem und Sichbehauptung (vgl. § 40) aus.

136. Erst oberhalb dieser Basis eines Minimums von Erkenntnissen, das behauptet werden muß, steht es dem Argumentierenden frei, das Nichtvorhandensein von Erkenntnis auszusagen, nämlich bezüglich des von ihm einfachhin Ausgesagten. Von hier an kann er ohne Widerspruch etwas als bloß problematisch hinstellen, nämlich sofern es nicht das bloß in einfacher Aussage thematisierte Minimum der Erkenntnis selbst ist. Die Problematik basiert auf einem Fundament unumgänglicher Assertionen. Daß die formierte Synthesis in diesem zweiten Bereiche nicht notwendig mit der Behauptung verbunden ist, sondern auch mittels einer problematischen Geltung konstituiert werden kann, ist deshalb möglich, weil das in der Aussage https://doi.org/10.1515/9783110629200-018

XVI. Der der Freiheit offenstehende Bereich der Aussage

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formierte Bild zwar immer notwendig Bild eines Seins, aber nicht notwendig und ipso facto Bild des wahren Seins ist. In dem, was das Wissen überhaupt erst zum Wissen macht, ist es an Erkenntnisse gebunden. In dem, wodurch es eben gerade Wissen – mit dem diesem eigentümlichen Wesen – ist, ist es der doppelten Möglichkeit eröffnet, Bild eines bloß vermeinten Seins oder Bild des wahren Seins sein zu können. Dabei ist die in ihm formierte Synthesis disjunktiv mit dem problematischen oder dem assertorischen Geltungsanspruch verknüpfbar. Eben darum kann aber auch der bestimmte Geltungsanspruch von der formierten Synthesis abgehoben werden, ohne daß deshalb auch der Geltungsanspruch überhaupt von ihr zu dissoziieren wäre.

137. In allem, was die Behauptung nicht als in Wahrheit geltend voraussetzen muß, um überhaupt Behauptung zu sein, kann sie, eben weil die Alternative des bloßen Zweifelns freisteht, auch da Wahrheit behaupten, wo keine ist. Desgleichen kann im Problem jenseits des unantastbaren, es allererst als Problem konstituierenden Minimums als ungesichert hingestellt werden, was doch sicher ist. Das objektivierte Argument kommt erst durch einen besonderen Willensakt zur völligen Ablösung vom subjektiven Argumente.

138. Das das Argument konstituierende unmittelbar Gemeinte (visum immediatum) kann im Argumente niemals ausschließend nur unmittelbar Gemeintes sein (nach §§ 46 u. 47); es ist vielmehr als solches nur dadurch da, daß es zugleich darüber hinaus als Bild eines in ihm Gebildeten genommen wird (nach §§ 53 u. 58). Durch diese Konzeption als Bild ist aber die phänomenale Unmittelbarkeit des Bewußtseins in Richtung auf die transphänomenale Relevanz des Wissens überschritten. Das mittels unmittelbarer Meinungen formierte Bild ist jedoch durch sein Bildsein nicht schon ipso facto Bild wahren Seins; vielmehr steht es grundsätzlich frei, ob es dies oder nur Bild vermeintlich wahren Seins ist. Wie zuvor die Synthesis nicht einfach an die asserierende Kontention, so ist hier die Kontention nicht einfach an die Affirmation gekoppelt. Es ist in die Freiheit des Behauptenden gestellt, ob er in dem jenseits des Erkenntnisminimums liegenden Bereich bloß kontendiert oder ob er affirmiert.

XVII. Die als solche gesehene Differenz von Meinung und Erkenntnis im Argument 139. In dem durch das Minimum notwendiger Voraussetzungen freigelassenen Bereich des Wissens ist es nicht selbstverständlich so, daß das gebildete Sein das Sein selber ist. Hier besteht die Möglichkeit eines Hiatus zwischen dem Bild des vermeinten Seins und dem Sein selber. Nicht als könnte das Bild gar nicht die Helligkeit des in ihm Gebildeten selber sein! Im Gegenteil wird vielmehr vorausgesetzt, daß das Wissen das Sein selbst erhellen kann. Anders hätte die Formation von Wissen keinen Sinn. Wissen wird ja deshalb konstituiert, weil ein wahres Bild, d. i. ein Bild des Seins selber erstellt werden soll. Aber dies geschieht eben nicht von selbst mit der bloßen Formation von Wissen. Das Bild kann mit dem von ihm als Sein Vermeinten auch das wahre Sein verfehlen. Das Bild wird im Argumente immer aus der möglichen Differenz des Bildseins vermeinten Seins zu dem Bildsein des wahren Seins verstanden, mag auch in einem bestimmten Wissen tatsächlich Nichtdifferenz des gebildeten Seins vom Sein selber gegeben sein.

140. Die ipso facto mit der Bildung des unmittelbar Gemeinten supponierte Wahrheit des unmittelbar Gesehenen als solchen wird also gegen eine nicht ipso facto gegebene und deshalb nicht ohne Weiteres mit Recht anzunehmende Wahrheit des Bildes vom Sein (als desjenigen vom Sein selber) abgesetzt. Das Argument ist nur insofern eine Gestalt des Wissens, als in ihm die mögliche Wahrheit und Unwahrheit des Bildes vom Sein gesehen wird. Im Argumente ist mögliche Erkenntnis gegen mögliche bloße Meinung (opinio) abgehoben, folglich aber auch Meinung als Meinung (opinio ut opinio) angesetzt. Wissen kann zurecht nur als solches bestimmt werden, wenn das Wähnen zurecht als solches bestimmt ist. Wer argumentiert, muß also seiner Voraussetzung nach erkannt haben, was Meinung (opinio) im Gegensatz zu Erkenntnis ist; er muß Meinung als Meinung erkannt haben. Der der freien Bildung offenstehende Bereich möglichen bloßen Meinens oder Erkennens wird aber nicht bloß als solcher gesehen; er ist ineins damit Gegenstand einer Forderung und Intention, durch die das Argument erst es selbst ist: die Meinung soll nicht realisiert, die Erkenntnis soll realisiert werden. https://doi.org/10.1515/9783110629200-019

XVII. Die Differenz von Meinung und Erkenntnis

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Das Argument ist eine im Wissen um die Differenz von Meinung und Erkenntnis sich realisierende Bemühung um Erkenntnis, freilich eine freie Bemühung, d. i. eine solche, die auf der Basis ihrer intentionalen Gegebenheit infolge freiwillentlicher Bestimmung sich gegen die ursprüngliche Intention realisieren kann.

141. Erst durch die konzeptuelle Verschiedenheit der Meinung (visum immediatum) vom Wissen wird die phänomenale Unmittelbarkeit der Meinung (einschließlich der ihr eigentümlichen Voraussetzung des wahren Selbstseins derselben) von der transphänomenalen Relevanz des Wissens und dessen nur möglicher, aber nicht notwendiger Erkenntnisdignität abhebbar und abgehoben. Konzipierte das Argument – per impossibile gesprochen – gar kein Wissen, so wüßte der Argumentierende auch gar nichts vom unmittelbaren Meinen und seiner Differenz zum Wissen; er wüßte dann auch nichts von der Verschiedenheit des bloßen Wähnens (opinari) und des Erkennens. Erst diese Differenzen und das Wissen um sie ermöglichen das Sein des Arguments. Es versteht sich (nach § 4), daß diese Differenzen und das Wissen um sie im Argumente überhaupt, im philosophischen Argumente ausdrücklich reflektiert sind.

XVIII. Die als solche gesehene Differenz des Bildes von sich, als Bildes des Bildes des Seins und des Seins selbst, sowie der doppelten Konzeption des gebildeten Seins 142. Um im Wissen Bild und Sein aufeinander beziehen zu können, müssen vom Argumentierenden zum Zwecke der Formation des Arguments beide konzeptuell getrennt voneinander vorgestellt werden. Das bedeutet, daß wir als Argumentierende für die Vorstellung des Wissens als solchen einen Begriff des Bildes (als Bildes eines Seins) und einen Begriff des Seins haben müssen. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung ist die Sachlage die, daß mit der Konzeption von Wissen nicht einfach von Bild und Sein ausgegangen wird, sondern schon transzendental vom Bilde des Bildes (eines Seins) im Gegensatz zu dem Bilde des Seins. Beide Bilder sind in Einem Bilden aufeinander bezogen. In jedem Argument ist also implizit das Bild dieses Verhältnisses in Einem Bilden angesetzt.

143. Das Bild des Bildes ist darin das Bild, das das Bild ursprünglich von sich selbst hat. Soll dieses Bild des Bildes wirklich Bild von sich selbst sein und nicht von etwas anderem, so muß es das einfache Bildsein im Reflex sein. Das Bild des Bildes ist dieser Reflex nach dem Grundgesetze des Geistes, Sehen als Sichsehen zu sein (vgl. § 42). Damit das subjektive Bild sich selbst im gesehenen Bilde sehen kann, muß das objektiv gesehene Bild resp. Bilden als identisch das subjektiv sehende Bild resp. Bilden seiend gesehen sein. Ohne das Sehen dieser Identität könnte sich das Bild nicht als Bild seiner selbst erfassen. Wir haben es in diesem Falle mit dem Reflexsein des Ichs zu tun, in welchem durch die für das Selbstbewußtsein notwendige Objektivierung hindurch durch Vernichtung der Ansichgültigkeit des (bloß) objektiven Seins die vorobjektive und vorsubjektive subjekt-objektive Einheit gesehen wird. Die Thematisierung des Bildes als Bildes ermöglicht zugleich, das (gebildete) Bild gegen das (gebildete) Sein selbst zu halten und mit diesem zu vergleichen und zu bestimmen. Das Bild ist für sich Bild und nicht Sein. Dieses Bildsein wird zunächst phänomenal unmittelbar angesetzt, ineins damit behauptend thematisiert (als esse imaginis) und darin als wahres Sein (esse verum imaginis) vorausgesetzt. https://doi.org/10.1515/9783110629200-020

XVIII. Die doppelte Konzeption des gebildeten Seins

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144. Ganz anders verhält es sich mit dem Gegenbilde zum Bilde des Bildes von sich selbst, mit dem Bilde des Seins selbst. Dieses Sein selbst wird nicht als Reflexeinheit gesehen, sondern es wird als distanzlos zu sich und ohne Rückbezug auf sich einfachhin es selbst seiend konzipiert. Unbeschadet dessen, daß es in einem bestimmten Bilde gebildet ist, ist das Sein (laut Konzept von ihm) in sich, was es ist. Dieser Charakter des Seins sei in dieser Abhandlung seine ontische Unmittelbarkeit genannt.

145. Nach der Konzeption von Wissen, die das Argument in sich schließt, besteht zwischen dem Bilde von sich und dem Bilde vom Sein die grundsätzliche Beziehung, daß das Bild Bild des Seins selbst zu sein vermag; daß es aber auch Bild eines Seins zu sein vermag, welches in ihm wohl für das Sein selbst gehalten wird, aber dies in Wahrheit nicht ist. Daß das Bild Bild des Seins selber zu sein vermag, heißt andererseits, daß das Sein selber als solches in einem Bilde zu sein vermag, das es erhellt.

146. Das Sein selbst ist im Wissen nur als gebildetes Sein (im Gegensatz zum gebildeten Bilde); von ihm kann überhaupt nicht anders gewußt werden, denn als gebildet. Wir haben es immer nur mit einem Bilde des Seins zu tun, niemals mit einem schlechthin bildlosen Sein (vgl. § 142). In einem solchen Gebildetsein darf aber, soll wirklich das Sein selbst gebildet sein, dessen Esselbigkeit in seinem Sein nicht verloren sein. Wäre das gebildete Sein nicht (mehr) das Sein selbst in seiner Esselbigkeit, so wäre nicht das Sein selbst gebildet, sondern etwas anderes. Da das Bild in dem im Argument beabzielten Wissen Bild des Seins selbst sein soll, hätte es mit dem Bilden von etwas, das nicht das wahre Sein selbst wäre, sein Ziel verfehlt; es könnte dann kein Erkennen ermöglichen.

147. Das wahrhafte Bild des Seins selbst muß so beschaffen sein, daß es dem Sein seine ontisch unmittelbare Esselbigkeit nicht nimmt, sondern diese vielmehr

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Teil I

erhellt. Die Esselbigkeit des Seins muß, ohne zugrundezugehen, im erhellenden Bilde sein können. Man kann das auch so ausdrücken, daß man sagt, das Bild müsse der Esselbigkeit des Seins anliegen, sie durchdringen, in sie getaucht sein, oder wie immer man dieses Verhältnis, für das die bisherige Sprache keinen ganz angemessenen Ausdruck hat, bezeichnen will. Ein derartiges dem Sein in seiner unmittelbaren Esselbigkeit helles Innesein macht einen Wesenszug des wahren Bildes des Seins aus. Das Sein ist in diesem Falle eingeschaut (intuiert) (und es ist, wie sich noch zeigen wird, als wahres Bild in einem mit diesem Intuitus intelligiert).

148. Wäre das Sein selbst in seiner Esselbigkeit das einzige, was in einem Bilde gebildet sein könnte, so gäbe es nur Bilder des Seins selbst. Das Argument als solches setzt jedoch, wie wir gesehen haben (vgl. § 83), voraus, daß das Bild durch sein bloßes Bildsein nicht schon ipso facto Bild des Seins selbst ist. Das Bild muß also noch etwas anderes als das Bild des wahren Seins sein können. Dieses mögliche Anderssein betrifft nicht das Sein des Bildes (esse imaginis) als solchen. Denn dieses Bildsein von sich ist sowohl beim Bilden wahren Seins als auch beim Bilden vermeintlichen Seins gegeben. Die Alternative zum Bildsein wahren Seins stellt vielmehr ein Bildsein dar, in dem das Sein selbst in seiner unmittelbaren Esselbigkeit nicht erhellt wird; dennoch bezieht sich auch dieses, keine Wahrheit gebende Bild auf ein Sein jenseits seines Bildseins (jenseits des esse imaginis), also auf ein transphänomenales Sein (das nicht das Sein des Bildes ist). Das Bild im Wissen kann sich gar nicht konstituieren, ohne etwas zu bilden, das ein transphänomenales Sein sein soll. Es ist niemals nur Bild seines eigenen Seins in phänomenaler Unmittelbarkeit. Das in ihm mit seinem eigenen Bildsein (esse imaginis) ineins gebildete transphänomenale Sein (esse imaginatum) muß aber nicht das Sein selbst, es kann auch etwas sein, das als transphänomenal nur supponiert wird, wobei es aber immer etwas anderes als die bloße Phänomenalität als solche sein muß.

149. Ein Bild kann auch ein Sein bilden, von dem es gar nicht aussagt, daß es wahrhaft ein transphänomenales Sein sei, sondern welches es der eigenen Aussage nach nur als von ihm geschaffen erkennt, aber, ohne Grund im Sein selbst,

XVIII. Die doppelte Konzeption des gebildeten Seins

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willkürlich so nimmt, als ob es ein transphänomenales Sein sei. Es handelt sich dann um ein wissentlich b l o ß i m a g i n i e r t e s Sein (esse imaginativum) als solches. Aber ein solches bloß imaginiertes Sein soll auch kein Sein selbst erhellen. Das als solches kreierte bloße Einbildungsbild gilt dem Vorstellenden niemals als Bild i n e i n e m W i s s e n . Vielmehr weiß er sehr wohl, daß er in diesem Bild durch kein Sein selbst bestimmt ist.

150. Wir haben in jedem Wissensbilde einen von der Bildform unterscheidbaren Bildgehalt, den das Bild eben bildet. Von diesem Gehalt sagt das Bild aus, daß er etwas anderes als die ihn bildende Bildform sei. Das gilt auch für den Fall, daß der spezifische Bildgehalt die Bildform selbst ist. Denn in diesem Falle wird dieser Gehalt (nämlich die Bildform) als das in einer Bildform (in diesem Falle: in sich selbst als Bildform) Gefaßte im (gedanklichen) Gegensatz zu dieser Bildform genommen (auch wenn diese Unterscheidung ineins damit, daß sie gemacht wird, wieder zugunsten der Sicht der Einheit von ontischer und phänomenaler Form und von gesehener und sehender Bildform zurückgenommen wird).

Dieses Andere wird stets als ein Sein genommen, d. i. ihm wird der Charakter eines Seins zuerkannt. Nur wenn dies geschieht, wird gesetzt, was zum Gesamtsetzen des Wissens unbedingt erforderlich ist: das Bild eines Seins. Grundsätzlich kann in einem Bilden das Sein dem Gehalte in der Überzeugung, daß es wirklich das Sein selbst ist, zuerkannt sein, oder in dem Wissen, daß es nur im Bilde angesetzt, in Wirklichkeit aber nicht gegeben ist. Im letztern Falle handelt es sich um ein hinphantasiertes Sein (esse mere imaginativum) als solches. Dann ist aber das Bild niemals Bild eines Wissens! Falls das Sein in der Überzeugung zuerkannt wird, daß es wahrhaftes Sein ist, kann diese Überzeugung doch irrig sein. In diesem Falle wird nur ein putatives Sein gebildet (esse imaginatum ut esse verum, sed vere non verum). Der Modus des Zuerkenntnisses im Wissen des philosophischen Arguments ist in die Freiheit des Argumentierenden gestellt.

151. Aus dem Dargelegten ergibt sich ein für die Konzeption von Wissen wesentlicher Tatbestand: ein Bild ist erst dann und nur dann Wissensbild, wenn es Bild eines für transphänomenal angesehenen Seins ist, also Bild eines Gehalts, dem

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das Sein nicht nur wissentlich anphantasiert ist, sondern der das Bilden von sich aus bestimmt. Wissen konstituiert sich nur dann, wenn eine solche Bestimmung des Bildes durch das Sein, vom Sein her als in Wahrheit statthabend vorausgesetzt wird. Mit dieser Voraussetzung eines Seinsbildes muß aber eine weitere verknüpft werden: das gebildete Sein muß für es selbst gehalten werden; nur dann kann das Bild dieses Seins für dessen Bild gehalten werden. Selbst bei der Minimalannahme, daß das Gebildete überhaupt ein transphänomenales Sein ist, ohne weitere Aussage darüber, ob es im übrigen so oder so beschaffen ist, muß wenigstens die Bestimmung des Seins (im Bilde) als in Wahrheit transphänomenalen Seins wahr sein. Die Zuerkenntnis transphänomenalen Seins und Soseins erfolgt im philosophischen Argumente aber niemals zwangsläufig, sondern immer frei; sie ist also ein Akt des freien Willens, der von einem ihn bestimmenden Wert, in diesem Falle dem Wert der Erkenntnis, geleitet ist. Der Urteilende erkennt etwas für ein transphänomenales Sein, weil er dem Bilde von ihm Erkenntnisdignität zuerkennt. Die Aussage lediglich des transphänomenalen Seins (nicht Soseins) gründet sich darauf, daß dem Bilde des Bestimmtseins seiner durch ein dem Bilde Jenseitiges Erkenntnisdignität zuerkannt wird. Als Kriterium dieser Zuerkennung fungiert der leitende Erkenntnisbegriff.

XIX. Voraussetzung der möglichen Gelöstheit des Seinsbildes vom Sein selbst 152. Die Konzeption eines transphänomenalen Seins im Wissensbilde erfolgt aber noch unter einer anderen wesensgesetzlichen Voraussetzung, die für das Wesen des Arguments von höchster Relevanz ist: Es wird nämlich immer vorausgesetzt, daß das Bild, welches das transphänomenale Sein bildet, wahres oder irriges Bild dieses Seins sein könne. Wäre das Bild schon ipso facto Bild wahren Seins, so wäre das Argument (als unbestimmte, erst Bestimmtheit schaffende Alternative zwischen Zweifel und Behauptung) überflüssig. Eben deshalb ist auch das Argument überhaupt nicht schon ein wirkliches Gebilde, sondern bedarf es der Weiterbestimmung, sei es zum Zweifel, sei es zur Behauptung. Die Möglichkeit, so oder so zu bestimmen, die der Freiheit des Argumentierenden eröffnet ist und von der er durch einen Akt des Sichentscheidens zu der einen oder der andern Alternative Gebrauch gemacht haben muß, wenn er argumentiert, ist nur der Ausdruck dieser Gelöstheit des Seinsbildes von dem in ihm gebildeten Sein. Erst durch den Status der Abgelöstheit des Bildes vom Sein (status solutionis) ergibt sich die Notwendigkeit, durch einen besonderen Akt das wahre Bildsein zu statuieren. Dieser Akt ist Manifestation des Willens, der in ihm zwar immer intentional auf ein Bild des Seins ausgeht und dieses zu realisieren sucht, aber frei entscheidet, was er als wahrhaft gebildet hinstellt. Weil das Bild nicht schon durch sein bloßes Bildsein Bild transphänomenalen Seins ist, wird es erst dadurch zum Wissensbild, daß es sich auf ein wirkliches transphänomenales Sein bezieht. Dies tut es aber auch nur dadurch, daß es (in Freiheit) bestimmt, was transphänomenal gegeben ist.

153. Da das Wissensbild nicht notwendig Bild des wahren Seins ist, gibt der Akt des Bildens (im Wissen) als solcher allein zwar immer ein transphänomenales Sein im Bilde (esse formatum); man kann aber nicht sagen, daß dieses Sein das wahre Sein sein müsse. Vielmehr bleibt mit der bloßen Bildung, soweit gesehen, noch dahingestellt, ob das gebildete Sein ein bloß wähnend hingestelltes Sein (esse mere putativum) oder das Sein selbst (esse ipsum) ist. Dem Bilde als Wissensbilde ist es nur notwendig, daß es ein transphänomenales Sein als in ihm gebildet voraussetzt; es führt durch sein Bildsein stets ein esse formatum mit sich. Die Valenz dieses formierten Seins ist dadurch allein noch nicht bestimmt. https://doi.org/10.1515/9783110629200-021

XX. Voraussetzung des wahren Seins des Bildseins als solchen im Argumente 154. Wir haben (in §§ 142 u. 143) dargelegt, daß im Wissen das Bild als Bild selbst objektiviert und zu diesem Zwecke thematisiert sein muß, um dem (Bilde vom) Sein selbst entgegengesetzt und darauf bezogen zu werden. Als thematisiertes hat jedoch auch das Bild als solches für sich ein bestimmtes Sein (esse imaginis), das aber von dem in ihm gebildeten transimaginativen Sein (esse formatum resp. imaginatum – nicht: imaginativum) wohl zu unterscheiden ist. Von diesem Sein des Bildes selbst (esse imaginis) muß im Konzept des Wissens immer vorausgesetzt werden, daß es wahres Sein ist. Indem im Bilde des Bildes von sich selbst sein Sein behauptend thematisiert ist, wird seine phänomenale Unmittelbarkeit als ontische Unmittelbarkeit besonderer Art genommen. Das ist nur dadurch möglich, daß die im Bilden seiner sich realisierende Distanz zu sich (subjektives Bild seiner als objektiven Bildes) als zugunsten seiner Identität aufgehoben gesehen wird: Das formierte (Bild)Sein ist das Bild selbst, und eben deshalb mit ihm (jenseits der SubjektObjekt-Differenz) identisch. Der Rückbezug auf sich ist hier selbst distanzlos als er selber genommen (vgl. § 144). Die Voraussetzung der Wahrheit des Bildseins (des esse ipsum imaginis) besagt freilich nichts für die Wahrheit des in diesem seienden Bilde hingestellten Seins selbst (esse formatum).

155. Wird das Bildsein (esse imaginis) in einem besonderen Argumente thematisch als esse formatum, d. i. als das im Bilde von sich gebildete Sein genommen, so kann es als solches esse obiectivum zwar infragegestellt werden, aber nur unter der Voraussetzung, daß ineins damit das esse imaginis des infragestellenden Bildes für ein in Wahrheit erkanntes genommen wird. Will das Bild bezweifeln, daß das Bild, das es (thematisiert) von sich selbst hat, ein wahres Bild ist, so muß es ineins damit überzeugt sein, daß es selbst in Wahrheit dieses Bild hat. Insofern bricht die Infragestellung, soweit sie den Gesamtansatz betreffen soll, notwendig in sich zusammen.

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XX. Das wahre Seins des Bildseins

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156. Da das Wissensbild nur wirklich Wissensbild ist, wenn es sich sieht, wie es in Wahrheit ist; zum Wissensbilde aber auch gehört, daß es ein transimaginatives Sein bildet, so muß in ihm auch erkannt sein, daß es Bild eines transimaginativen Seins ist, insofern es Wissensbild ist. Das Wissensbild muß demnach als wahres Bild seiner selbst wahrhaft sehen, daß es ein transimaginatives Sein bildet.

XXI. Die Voraussetzung der Gelöstheit des Wissensbildes von sich selbst im Argumentieren 157. Erst indem das Bild sich selbst als Bild eines in ihm gebildeten transimaginativen Seins sieht, wird es zum Wissensbilde. Das überaus merkwürdige und für das Wesen des Wissensbildes entscheidende Faktum ist dabei jedoch, daß es sich gar nicht als einfachhin, so wie es ausfällt, gebildetes Seinsbild zu sehen vermag, sondern nur als ein in Hinsicht auf seine Valenz als Seinsbild frei durch sich selbst bestimmtes Bild. In der Formierung des Bildes zum Wissensbild vermag der Argumentierende diese freie Selbstbestimmung gar nicht zu unterlassen; ihr Vollzug ist vielmehr conditio sine qua non des Zustandekommens des Wissensbildes. In das Wissensbild geht also der freie Willensakt der Bestimmung der Valenz immer mit ein, und im philosophischen Wissen wird er als solcher gesehen.

158. Diese Validisierung wird von der Seite des Willens durch drei Faktoren bestimmt. Das Wissensbild entsteht überhaupt erst durch und in der Grundintention, das Sein in seiner Wahrheit zu sehen. Das Sein selbst soll erhellt werden. Indem aber das Sein gar nicht nur als solches, d. i. indem es nicht nur als einfaches transimaginatives Korrelat der Bildform angesetzt werden kann, sondern immer nur sub specie veritatis, d. i. unter Bestimmung seiner Valenz, kann sich die Grundintention, das Sein selbst zu erhellen, nur vor dem Horizont der absoluten Gefordertheit der Wahrheit konstituieren.14 Das aus der Wahrheit als Wert hervortretende, ihre positive Werthaltung und Verwirklichung kategorisch fordernde Soll ist Ermöglichungsgrund der Konstitution der Grundintention, die deshalb auch gar nicht nur auf Bildung transimaginativen Seins überhaupt, sondern stets auf Bildung wahren Seins ausgeht.

14 Vgl. „Theorie des Arguments.“ NS 1988/89. Bl. 16r: „Nur wenn ich mir die Wahrheit als Zweck (in freiem Bezug) setze, kann Wahrheit überhaupt stattfinden. (Bewußtsein ist nur in Realisierung eines Zweckgebildes vorhanden.)“ https://doi.org/10.1515/9783110629200-023

XXI. Die Gelöstheit des Wissensbildes von sich selbst

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Da aber die Grundintention, das Sein zu erhellen, keine volldeterminierte, sondern bezüglich der Realisation des Geforderten auf einen zusätzlichen freien Willensakt angewiesen ist, formiert und performiert sie sich nur, wenn ein solcher freier Willensakt erfolgt, durch den es erst zur Valenzbestimmung des in Bildung begriffenen Seins kommt. Nur durch das Ineinandergreifen aller drei Willensmomente, der Grundintention, des kategorischen Solls und der freien Willensbestimmung, kommt es zur Konstitution des Wissensbildes als eines Bildes einer bestimmten Valenz des gebildeten Seins.

159. Das Wissensbild muß transimaginatives Sein bilden, um überhaupt zu sein; es kann aber dieses Sein nur als ein in seiner Valenz bestimmtes Sein bilden. Wiederum stellt sich diese Valenz niemals einfach von selbst ein; sie kommt nur durch Vollzug eines Willensaktes zustande. Die Valenzbestimmung des gebildeten Seins ist nicht einfachhin gegeben, sondern sie realisiert sich immer nur als Ergebnis der freien Lösung ihres Aufgegebenseins.

160. Der bedingende Grund dieses Umstandes, daß die Valenz des gebildeten Seins im Wissensbilde nur in freier Lösung einer gestellten Aufgabe bestimmt zu werden vermag, liegt in der Präkonzeption der möglichen Gelöstheit des Seinsbildes vom Sein selbst und der aus dieser Gelöstheit resultierenden Gelöstheit des Bildes von sich selbst. Das Wissensbild nimmt sich im Bilde von sich selbst niemals einfachhin als unproblematisches Seinsbild, sondern immer nur als Bild, das sowohl Bild des Seins selbst in seiner Wahrheit als auch nur putatives Seinsbild sein kann. Das Wissensbild konzipiert sich selber im Argumente als initial problematisch. Indem es aber in dieser anfänglichen Problematik gar nicht verbleiben kann, sondern ineins mit dieser zur Bestimmung seiner selbst als einer bestimmten Aussage über die Valenz des Seins sich fortreißt und so überhaupt erst zustandekommt, bewegt es sich aus dieser anhebenden Problematik zwar immer heraus, aber es kann dies auf zweierlei Weise tun, nur kontendierend oder affirmierend. Es konstitutiert sich in seiner Bestimmtheit jedenfalls immer durch einen freien Bestimmungsakt, der als Bewältigung der durch die Initialproblematik gestellten Aufgabe in Ansatz kommt. Das entstehende Seinsbild weiß sich als Antwort auf eine bezüglich seiner aufgetretene Problematik; es weiß also von der doppelten Möglichkeit, Bild eines nur putativen oder Bild des wahren Seins sein zu können.

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Teil I

161. Das Bild des Wissenbildes von sich selbst ist demnach nicht nur ein reflexes Bild in dem Sinne, daß es sich sieht, es ist auch reflexives Bild in dem anderen, mit dem ersten synthetisch vereinten Sinne, daß es sich als Bestimmung seiner selbst sieht, nämlich als Bestimmung zu einer gewissen, in seine Freiheit gestellten Bewältigung einer ihm initial gestellten Aufgabe. Die in dieser Aufgabe sich skizzierende Problematik der Valenz des ins Bild zu fassenden Seins manifestiert sich als eine solche, die (nach Grundintention der Wissensbildung, kategorischer Gefordertheit aus der Wahrheit und freiem Willen) durch einen Willensakt ergriffen und gelöst werden soll und nur in dieser tätigen Lösung selbst manifest ist. Das Bild des Wissensbildes von sich selbst ist nur im gesehenen Akte der Bestimmung seiner selbst zum Bilde einer gewissen Valenz des gebildeten Seins.

162. Das mit der Reflektiertheit des Bildes von sich gesehene anhebende und sich vollendende Bild muß dieses in Wahrheit sein, wenn sich das Bild überhaupt als solches in seinem wahren Sein (esse verum imaginis) erfassen können soll. Wird diese Wahrheit des Reflexionsbildes des Bildes in einem neuerlich sich darauf beziehenden Bilde infragegestellt, d. i. initialproblematisch angesetzt, so kann dies seinerseits nur in der Voraussetzung der Wahrheit dieses Bildes vom wahren Sein des Bildes qua Reflexionsbildes erfolgen. Die Annahme dieser Wahrheit des esse imaginis ist also unhintergehbar; sie kann nicht unterlassen werden. Freilich besagt diese Notwendigkeit noch nichts über die Berechtigung dieser Annahme.

163. Eben weil der Sichvollzug des Bildes aus einer initialen Problematik conditio sine qua non der Sichkonzeption des Bildes als Wissensbildes ist, kann das Argument nur ein freier Vollzug sein, nämlich eine freie Sichbestimmung auf Grund der sich mit der Initialproblematik stellenden Aufgabe. Das Wissensbild konstituiert sich in einem Akte des Geistes, in welchem dieser sich Einsicht in das wahre Sein aufgibt. Eine Aufgabe konstituiert sich hierbei deshalb, weil das Wissensbild gar nicht einfachhin bestimmt dasein

XXI. Die Gelöstheit des Wissensbildes von sich selbst

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kann, sondern nur als Freiheitsprodukt ist. Der Wille muß sich also in seiner Freiheit vollziehen, damit ein Wissensbild entsteht. Das Sich-Aufgeben erfolgt in wechselseitiger Beziehung und Bedingung durch das ursprüngliche Intendieren wahren Wissens von Seiten des sich allererst zum Wissen aufschließenden geistigen Seins und die dieses Aufschließen ermöglichende Forderung der Anerkennung und Realisierung der Wahrheit selbst. Dieses Reflexionsbild des Wissens von sich selbst kann sich aber gar nicht anders als unter Annahme jenes Minimums von Wahrheiten konstituieren, das im vorhergehenden (in Kap. XIV) bestimmt worden ist. Die der Aufgabe korrespondierende Lösung der Initialproblematik im Wissensbilde erfolgt in der doppelten Beziehung auf die Bestimmung der Wahrheit seiner selbst als Bildes (determinatio veri esse imaginis) und die Bestimmung der Wahrheit des Seinsbildes (determinatio esse imaginati veri). Im Sichbilden bestimmt das Wissensbild sich und sein ihm eigentümliches Bildsein und das in ihm gebildete Sein.

164. Der Argumentierende kann die mit dem Projekt des Wissens sich auftuende Initialproblematik gar nicht konzipieren, ohne ineins damit auch schon die gestellte Aufgabe realisierend zu lösen. Mit dem Verständnis des Projekts als solchen erfolgt auch notwendig dessen Verwirklichung. Wir sind in diesem Falle nicht mehr frei, die Antwort auch nicht zu geben. Wir sehen hier die verschiedenen das Argument konstituierenden Faktoren auf eine bestimmte Weise ineinandergreifen. Das Wissensprojekt entsteht mit Bezug auf die Initialproblematik der Valenz des Seins; es wird gebildet ineins mit bestimmten Forderungen, die aus der Wahrheit als Wert hervorgehen. Die Konzeption des Projekts als solchen führt notwendig eine gewisse Weise der Beantwortung herbei, nämlich ein geistiges Handeln, das zwar als Lösung der Initialproblematik erfolgen muß, in der Weise der Lösung aber innerhalb eines gewissen Spielraums frei ist.

165. Alle diejenigen Voraussetzungen, welche erst das Wissensbild zu einem solchen machen, sind hierbei notwendige Voraussetzungen. Daß sie in Wahrheit wirksam sind, gehört zum Minimum an Erkenntnis, das nach den vorhergehenden Ausführungen (in Kap. XIV) angesetzt werden muß. Zu diesen Voraussetzungen

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Teil I

ist, wie wir zuletzt gesehen haben, auch die Aussage des Wissensbildes von sich selbst (esse verum imaginis) zu rechnen, nicht jedoch die Aussage über das Sein, das einfachhin gebildet ist. Eben diese bleibt frei. Wir ersehen demnach hier einen wesentlichen Unterschied in den Teilbildern des Wissensbildes. Konstituiert sich das Wissensbild, so muß es sich selbst kategorisch als wahrhaft so seiend, wie es sich in der Selbstreflexion hat, ansetzen und kann dies nicht nicht tun. Es kann aber hinsichtlich des einfachhin Ausgesagten sich zur Behauptung oder zum Problem, und als Behauptung zur bloßen Kontention oder zur Affirmation formieren.

166. Die Voraussetzung des Wissensbildes von sich, daß es wahrhaft so sei, wie es sich sieht (esse verum imaginis) kann somit nicht in der Problematik belassen, sondern muß kategorisch vollzogen werden. Andererseits soll das philosophische Argument nichts beinhalten, was nicht vollbewußt und freiwillig angesetzt ist. Das philosophische Interesse verlangt deshalb, es nicht einfachhin bei der notwendig erfolgenden Voraussetzung der Wahrheit des Wissensbildes bewenden zu lassen, es verlangt eine Legitimation dieser Voraussetzung. Diese kann aber nur in der Weise erfolgen, daß die Behauptung des Bildes von sich zunächst einmal im Bilde einfachhin thematisch wird. Eben aus diesem Grunde verlangt die philosophische Absicht unabdingbar eine transzendentale Reflexion. Es stellt sich hierbei die besondere Frage, ob und, falls ja, wie eine solche transzendentale Reflexion möglich ist. Denn auch in transzendentalen Argumenten erfolgt deren Sichbehauptung unter notwendigen Voraussetzungen, die auf der anderen Seite im einfachhin Hingestellten (in diesem Falle im transzendentalen Gegenstande, nämlich dem Wissensbilde) frei infragegestellt werden.

XXII. Die Differenz von sich praeformierendem und performiertem Argument und die dadurch bedingte Zurückkunft des Argumentierenden auf die Praeformation der Aussage 167. Ob das Bild des Wissensbildes von sich selbst zurecht als wahres Bild angesetzt werden darf, hängt davon ab, ob es Evidenz von sich erlangt und sich dadurch bewährt.15 Desgleichen hängt auch die Valenz des Bildes vom Sein von einer solchen Bewährung ab. Da das Bild des Wissensbildes von sich nun gar nicht anders denn als (der Voraussetzung nach) wahres Bild angesetzt werden kann, hängt die Gültigkeit dieser Voraussetzung davon ab, ob im Momente seiner Bildung Evidenz vorhanden ist. Auch die Wahrheit des Bildes vom Sein hängt davon ab, ob dieses Bild sich in Evidenz bewährt. Nur steht das Argumentieren hier nicht unter einem Zugzwang wie in seinem Sichbilden. Stellt sich keine Evidenz ein, so kann das Sein im Bilde nur problematisch geltendgemacht werden.

168. Weil die Geltungserhebung für das Seinsbild in die freie Entscheidung des Argumentierenden gestellt ist, hängt es von seinem freien Willen ab, in welcher Form er sie vollzieht. Er kann das Evidierte als nur problematisch, er kann auch das nur Problematische als in Wahrheit bestehend hinstellen. Sein Kontendieren ist in dieser Rücksicht frei. Doch kann eine solche unbegründete Kontention nur in Abhebung von dem sich praeformierenden Argumente erfolgen. Der zu Unrecht Kontendierende stellt eine aus seiner Willkür hervorgehende Gestalt des Arguments gegen dessen Gestalt in statu nascendi. Im Performieren des Arguments vollzieht sich

15 Vgl. „Theorie des Arguments.“ NS 1988/89. Bl. 6r: „Wahrheit kann ich gar nicht anders haben, als sich selbst zu legitimieren. System der Erkenntnis der Sache, d. h. die Erkenntnisseite ist von der Sache nicht ,abziehbar‘.“ https://doi.org/10.1515/9783110629200-024

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eine Spaltung zwischen dem originär sich bildenden Argument und derjenigen Bildung, die es durch die Dazwischenkunft der Willkür erhält. Durch ein hinzutretendes freies Dekret sagt das performierte Argument in diesem Falle etwas anderes aus, als es sich in statu nascendi auszusagen anschickte.

169. Die Differenz des entstehenden vom performierten Argument findet ihre Entsprechung in der Differenz des sich vollziehenden und des abgeschlossenen, objektiven Arguments. Nur im sich vollziehenden Argument tritt Evidenz ein. Nur in ihm vollzieht sich unter Umständen mittels eines freien Dekretierens etwas anderes, als sich ohne dieses Dekret vollzogen hätte. Hingegen enthält das objektivierte Argument in seiner abgeschlossenen Form nur noch das Resultat dieses Aktes. Eben deshalb aber erscheint in ihm das Evidieren nicht. Man kann es ihm nicht ansehen, ob es unbegründet kontendiert oder einsichtig affirmiert. Das objektivierte Argument enthält keine Evidenz; es enthält nur eine Synthesis, oder besser: eine Synthesis von Synthesen, und den diesen zugesellten Geltungskoeffizienten. Die Synthesis gibt das Bild von einem Sein (sei es Bildsein oder transimaginatives Sein); der Geltungskoeffizient gibt Kategorizität oder Problematizität; und da alle jene Aussagen, die Bedingung des Wissensbildes als solchen sind, gar nicht problematisch gemacht werden können, so finden sich auch in den problematischen Argumenten immer kategorische Koeffizienten. Über die Legitimation der Aussagen aber vermag das objektivierte Argument nichts zu offenbaren; und so bleibt auch unerhellt, wer der Träger des Geltungskoeffizienten ist – die Vernunft selbst oder nur der Argumentierende.

170. Die Spannweite zwischen initialer Praeformation und sich objektivierendem Durchvollzug des Arguments eröffnet den Raum für das zum Zustandekommen des Arguments notwendige Zusammenwirken objektiver und subjektiver Faktoren. Das Eintreten von Evidenz ist an gewisse subjektive Vollzüge im Argumentierenden gebunden, die ihrerseits wieder durch dessen Freiheitsentscheidungen mitbestimmt werden. Die Evidenz im Argumente ist jeweils Evidenz eines bestimmten Wissensbildes. Dazu bedarf es der Formation eben dieses bestimmten Bildes, die ihrerseits u. a. von gewissen freien Akten des Argumentierenden abhängt. Das aussagen-

XXII. Die Differenz von Praeformation und Performation

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de Ich muß den sich ihm objektiv manifestierenden Wert der Wahrheit und dessen Forderung, realisiert zu werden, wertend und wollend bejahen; und das Ich muß in vielen Fällen das Bild, das evident werden soll, erst willkürlich formieren. Erst dadurch ermöglicht es das Eintreten der Evidenz. Da aber der Wert der Wahrheit und die aus der Wahrheit hervorgehende Forderung auch verneint werden können, kann das argumentierende Ich auch gewisse Formationen des Wissensbildes unterlassen und damit verhindern, daß dadurch der Eintritt von Evidenz herbeigeführt wird. Es kann also willentlich die Evidenz vermeiden. Eine derartige Willenseinstellung wird dann dafür bestimmend werden, welcher Geltungsanspruch schließlich erhoben wird.

171. Eben der Umstand, daß die Formation des Arguments im Wissen um die initiale Praeformation und die Notwendigkeit einer sich darauf beziehenden Performation des Arguments vollzogen wird, macht es unmöglich, daß die Kontention ohne Rücksicht auf die Wahrheitsdignität des Auszusagenden erhoben wird. Wer ohne Evidenz kontendiert, der weiß stets, daß er für etwas Wahrheit beansprucht, das keine hat. Er kann stets nur in Abhebung von einer im Sichpraeformieren sich vollziehenden Einsicht kontendieren. Das praeformierte Argument steht dann in Widerspruch zu dem zuerst in Bildung Begriffenen.

172. Der Kontendierende kann, eben weil die Kontention frei ist, eine unberechtigte Geltungsaussage machen. Er kann etwas Nichtevidentes als wahr (und das heißt auch immer: als evident) hinstellen. Er kann umgekehrt etwas ihm Evidentes als problematisch behaupten. Man muß hierbei zwischen formaler und materialer Unwahrheit unterscheiden, je nachdem, ob vom ausgesagten Inhalt positiv gewußt wird, daß er nicht das ist, als was er hingestellt wird, oder ob dies nur nicht mit Sicherheit gewußt wird. Im zweiten Falle könnte dieser Inhalt für ein ihn evidierendes Ich auch wahr sein; für das ohne Evidenz ihn behauptende Ich aber ist er in Wahrheit problematisch – und eben das hätte es aussagen müssen. Die Kontention, wie sie sich im wahrheitswidrigen Argumente ausdrückt, sagt also in ungerechtfertigter Beimessung etwas über den Gegenstand des Arguments aus, während sie tatsächlich nur etwas über das argumentierende Ich

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aussagt. Dies wird im objektivierten Argumente jedoch nicht erkenntlich. Wohl aber weiß der Argumentierende davon im Vollzug seines Argumentierens.

173. Die für den Argumentierenden sich ergebende Spannung zwischen Initialproblematik und Vollzug und der sich damit ineins ergebende mögliche Gegensatz zwischen sich praeformierendem und performiertem Argument bewirkt eine gedankliche Abhebung der Praeformation von der Performation im Argumente, die speziell im philosophischen Argumente reflexiv gewußt sein muß. Die initiale Problematik der Valenz des esse formandum bringt in Bezug auf die der Willkürfreiheit eröffneten Möglichkeiten zu argumentieren mit sich, daß das Argument nicht performiert wird, ohne daß der Performierende auf die in der Praeformation sich skizzierende Aussage zurückkommt. Erst in einem solchen Zurückkommen auf die erste Aussage im Sichpraeformieren, wird das Argument vollendet.

XXIII. Die als solche im Argument angesetzte Differenz von Wissens- und Erkenntnisbild. (Der methodische Zweifel) 174. Das im Akte des Argumentierens zu Bildende ist das Wissensbild, d. i. ein Bild von etwas, das selbst sein soll.16 Infolge der grundsätzlich als möglich angesetzten Gelöstheit des Bildes vom Sein selbst, die von der Art ist, daß es etwas als transimaginatives Sein ansetzen könnte, was nicht das wahre Sein ist, liegt es an der Art der Wissensbildung, wie dieses Bild des Seins jeweils ausfällt.17 Weil aber das Bild vom Sein selbst, gelöst ist, und zwar auf Grund der Art und Weise, wie es sich frei formiert, ist das Bild von sich selbst gelöst. Es sieht sich nur als das, wozu es sich (in ebendemselben Akte) macht. Dies hat aber wiederum die Abhebung der Initialformation von der Performation des Arguments zur Folge. Die Praeformation steht in der Weise unter der Initialproblematik, daß das Argumentieren im Vollzug seiner selbst auf sie zurückkommt. Die Initialformation ist keineswegs von der Art, daß die Praeformation im Argumente immer etwas Problematisches vorstellen müßte. Vielmehr kann sie auch etwas vorstellen, was gewiß ist. Nur stellt das Argument rein als solches, in Anbetracht der grundsätzlichen Gelöstheit des Bildes von sich selbst, das Sichpraeformierende grundsätzlich in Zweifel. Das bloße Gebildetsein verbürgt dem Argumentierenden noch nicht die Authentizität des gebildeten Seins. Mit dem bloßen Gebildetsein des Seins ist erst ein Wissen konstituiert. Das Wissen selbst als solches wird jedoch im Argument in grundsätzlicher Weise in ein Verhältnis zum Erkennen gesetzt. Der Argumentierende fragt, ob das Wissensbild vom Sein auch ein Erkenntnisbild vom Sein ist. Transphänomenale Bedeutung beansprucht das Wissensbild stets; aber die Legitimität dieses Anspruchs thematisiert das Argument erst in der Erkenntnisfrage.

16 Vgl. „Transzendentale Methode.“ NS 1987. Bl. 10r: „[D]as Wissen muß sich in sich erst ausbilden zu dem, was es sein soll. Es geht um das Wissen vom Wissen.“ 17 Vgl. „Transzendentale Methode.“ NS 1987. Bl. 9v: „Das grundsätzliche Verhältnis von Wissen und Wahrheit muß durchschaut werden und bestimmt alles weitere, was den Wissenschaftscharakter von Philosophie ausmacht.“ https://doi.org/10.1515/9783110629200-025

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175. Aus dem Dargelegten resultiert, daß im Argumente nichts gesetzt werden kann, das nicht dem methodischen Zweifel unterzogen wäre. Indem das skizzierte Seinsbild im Argumente, in Abhebung von ihm, als Praeformation genommen wird, erhält diese letztere die Bedeutung eines vorläufigen Aussagemoments, dessen Geltung methodisch suspendiert ist, um methodisch auf seine fragliche Valenz hin überprüft und je nach dem Ergebnis dieser Überprüfung bestätigt oder verworfen zu werden. Die Geltung der Wahrheitsaussage der Praeformation wird, wohlverstanden, durch den methodischen Zweifel nicht einfachhin verworfen (ebensowenig wie sie einfachhin akzeptiert wird), sondern sie wird überprüft. Das sich skizzierende Wissensbild hat demnach sub specie des methodischen Zweifels grundsätzlich die Möglichkeit, sich zu legitimieren.

176. Indem der methodische Zweifel wesensgesetzlich das im Sichpraeformieren skizzierte Wissensbild zur imago incerta macht, d. i. zu einem Bilde, dessen Erkenntniskraft noch erst zu bestimmen ist, bezieht sich das Argument in grundlegender Weise auf die Vorbegriffe von Erkenntnis und Wahrheit. Es kann gar kein bloßes Wissensbild konzipieren, sondern bestimmt dieses sogleich in seinem Wert als Erkenntnisbild. Diese Bestimmung erfolgt notwendig, weil sich das Argument angesichts von Wahrheit, die ihre Realisierung in Erkenntnis fordert, und gemäß der es selbst grundlegend konstituierenden Intention formieren muß. Sie erfolgt aber auch notwendigerweise frei, weil das Argument nur aus freier Sichbestimmung gegenüber der Forderung der Wahrheit resultiert. Die Voraussetzung aus-sich-legitimierter Wahrheit ist gar nicht ins Belieben des Arguments gestellt, sondern eine notwendige Bedingung für dessen Zustandekommen. Freilich ist diese Voraussetzung bloß als solche nicht die Legitimation selbst, von deren Vorhandensein doch schließlich alle andere Geltung, also auch die der Bestimmungen des Arguments als solchen abhängt.

XXIV. Die Distanz zum Sein selbst im philosophischen Argumente 177. Die das Argument als solches erstellende Intention, das in ihm in Ansatz kommende Wissensbild auf seine Erkenntnisdignität hin zu bestimmen, bewirkt, daß der Argumentierende im Ansatz des Arguments auf Evidenz ausgeht. Um Evidenz zu erlangen, ist es notwendig, daß das Bild das Sein selbst erreicht, in sich zu fassen und zu erhellen vermag. Der ursprünglichen Intention nach geht das Argument auf das Sein selbst aus. Nur wenn das Sein selbst evidiert wird, darf der Argumentierende der gebildeten Synthesis jenen Geltungskoeffizienten zugesellen, der sie zur Behauptung erhebt. Kommt es zu keiner Evidenz, so muß die Aussage problematisch ausfallen. Da das Argument aber nur durch den hinzukommenden Freiheitsentscheid zur Behauptung oder zum Problem formiert wird, kann auch eine Aussage gemacht werden, die dem Status der Evidenz nicht entspricht.

178. Das Sein selbst, das das Argument nach der es ursprünglich konstituierenden Intention zu erhellen strebt, ist auf Grund der Gelöstheit des Bildes vom Sein und der Rückbeziehung des Bildes auf sich selbst ein zweifaches: das einfachhin zu bildende transimaginative Sein selbst einerseits, das Sein selbst des Bildes (esse ipsum imaginis) andererseits. Es hat sich uns schon (in § 162) entdeckt, daß das Argument im Bilde des Wissensbildes immer dessen wahres Sein und Sosein voraussetzen muß; das einfachhin zu bildende Sein hingegen muß nicht kategorisch bestimmt, es kann auch problematisch zweifelhaft hingestellt werden. Das Argument setzt in seinem Entstehen notwendig das Bild von sich selbst als wahres Bild an; es setzt hingegen das Bild des Seins, über das es einfachhin aussagt, frei entweder problematisch oder assertorisch an.

179. Durch dieses verschiedenartige Verhältnis zum Sein selbst, je nachdem, ob es sich um das Sein selbst des (bildenden) Bildes oder das Sein selbst, das da https://doi.org/10.1515/9783110629200-026

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einfachhin gebildet wird, handelt, unterscheidet sich das philosophische Argument sowohl von dem primären als auch dem spezifisch transzendentalen Argument. Im primären Argument muß auch das einfachhin gebildete Sein stets dann assertorisch ausgesagt werden, wenn in bezug auf dasselbe praktisch gehandelt wird. Im Handeln nimmt der Handelnde in seinem Geiste das Sein stets kategorisch. Indem er auf etwas als ein Bestimmtes hin handelt, behandelt er es als dieses Bestimmte. Indem er seinen Willen angesichts bestimmter Werte und der mit ihnen auftretenden Forderungen und Tendenzen bestimmt, nimmt er die betreffenden Werte samt ihren Forderungen und Tendenzen als wahre an. Der philosophisch Argumentierende ist von diesem unmittelbaren Handelnszwange befreit. Sein Urteil geht nicht unmittelbar in ein Handeln mit ein, sondern bleibt vor diesem draußen davor.18 Nur dadurch ist es ihm möglich, etwas als problematisch hinzustellen und stehenzulassen. Auch die primäre Reflexion bleibt als theoretische manchmal im Zweifel hängen, weil sie keinen zureichenden Grund der Seinsbestimmung, um die es ihr ausschließlich geht, finden kann. Aber dieses ursprüngliche Schwanken in der Seinsbestimmung kann nicht aufhalten, daß das Hingestellte im Moment des Übergehens in die Praxis kategorisch genommen wird, und sei es auch nur durch einen Akt grundloser Willkür.

180. Es ist bereits (in § 162) einsichtig geworden, daß auch dem philosophischen Argumente als einer Art des sekundären Arguments hinsichtlich der Aussage über das Sein selbst des in ihm bildenden Bildes keine Freiheit gelassen ist. Hier wird der Grund dafür offenbar: Das Bilden stellt selbst ein es selbst erst in seinem Sein erstellendes Handeln dar. Das Argument wird zu seiner Bestimmtheit handelnd formiert – es ist nicht einfach bloß da. Handeln verlangt Eindeutigkeit des Seins. Indem das Argument sich formiert, handelt es in Bezug auf sich und nimmt es sich in diesem Handeln kategorisch als dieses Bestimmte. Täte es das nicht, so käme es erst gar nicht zu einem Argumente. Aus demselben Grunde nimmt auch das Argument in der Formation seiner selbst den Wert der Wahrheit (und die mit diesem gegebene Forderung) stets für einen wahren Wert (und eine wahre Forderung).

18 Vgl. „Theorie des Arguments.“ NS 1988/89. Bl. 15r: „Die Frage richtet sich auf die konstituierende Rolle des ,Willens‘ in einem Urteil.“

XXIV. Die Distanz zum Sein selbst im philosophischen Argumente

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181. Fiele die Aussage des Arguments von sich mit seiner Aussage vom Sein selbst, das in ihm einfachhin gebildet ist, zusammen, so könnte es im Argumentierenden kein Wissen um die mögliche Differenz des Wissensbildes und des Erkenntnisbildes vom esse imaginis geben. Nur durch den Umstand, daß Bild und Sein voneinander abgehoben und das Sein des Bildes unterschieden vom Sein des einfachhin Gebildeten konzipiert wird, kann im Argument thematisch werden, ob das Sein des (bildenden) Bildes auch tatsächlich wahres Sein ist. Im transzendentalen Argumente ist das Sein des (bildenden) Bildes (esse imaginis), das in allem argumentierenden Bilden (also auch im transzendentalen Bilden) in dessen Bilde von sich als erkanntes angesetzt ist, zugleich der Gegenstand dieses Bildes, der einfachhin prädiziert wird. Erst auf diese Weise vermag das Sein des Bildes problematisch zu werden. Der transzendentale Blick sieht bildendes und gebildetes Bilden zugleich und als ein und dasselbe Bilden.

182. Dem philosophischen Argument ist es eigentümlich, sich des in ihm in Ansatz Kommenden vollbewußt zu sein. Das philosophische Argument beinhaltet also auch das Wissen um die Differenz des Wissens- und des Erkenntnisbildes, und zwar sowohl bezüglich des Bildes vom Sein seiner selbst (des esse imaginis) als auch des Bildes vom einfachhin zu prädizierenden Sein (des esse imaginatum). Das philosophische Argument ist aus dem ersteren Grunde notwendig transzendental. Als wissenschaftliches Argument muß es eine bewährte Antwort auf die transzendentale Frage geben. Es kann diesbezüglich nicht in der Problematik verharren, weil schon die problematische Aussage die Wahrheit ihrer selbst, als Aussage, voraussetzen muß. Diese Voraussetzung kann nur wissenschaftlich sein, wenn sie gerechtfertigt ist.

XXV. Die Freiheit der Konsideration im philosophischen Argument 183. Das philosophische Argument ist als sekundäres Argument dem primären Argument gegenüber in doppelter Weise frei: 1. Es ist nicht unmittelbar praxisbezogen, muß also in dieser Rücksicht nicht zur Kategorizität gelangen. Dadurch kann es sich frei zum Problem formieren und in der Problematik verharren. 2. Es fällt nicht in den Bereich der unmittelbaren und ursprünglichen Vorstellungsbildung, die spontan erfolgt; vielmehr kommt es zum philosophischen Argument nur durch einen besonderen Entschluß und Akt der Freiheit. Diese Freiheit erstreckt sich nicht nur darauf, daß überhaupt philosophisch argumentiert wird, sie erstreckt sich auch darauf, was philosophisch thematisch gemacht wird. Erst dadurch, daß mit freiem Willen etwas philosophisch in Betracht gezogen wird, wird es Gegenstand des philosophischen Arguments. Wir haben es hier mit einem spezifischen Akt der Attention, nämlich mit der freien Konsideration zu tun.

184. Da das philosophische Argument (nach § 4) ein vollbewußtes ist, muß in ihm reflexiv gewußt sein, daß etwas Bestimmtes in Konsideration gezogen ist. Ineins damit ist anderes außer Betracht gelassen. Diese Selektion muß erkannt sein. Die Selektion des in Betracht gezogenen Gegenstandes bewirkt das Einseitige der Reflexion. Die Reflektiertheit dieser Einseitigkeit verhindert jedoch zugleich, daß das unter Abstraktion von anderem in Betracht Gezogene im wissenschaftlichen Argumentieren in Vergessenheit dieses Vorganges für das Ganze genommen wird, das thematisch werden kann. Insbesondere werden in diesem Falle partielle Evidenzen nicht als universelle Evidenzen angesehen.

185. Da die Bildung von Argumenten insgesamt nur in intentionalem Ausgerichtetsein auf die Verwirklichung von Wahrheit erfolgt, muß auch die Konsideration von dieser Intention getragen sein. Wir ziehen etwas Bestimmtes willentlich in Betracht, weil wir Wahrheit und letztlich die ganze Wahrheit erkennen wollen. https://doi.org/10.1515/9783110629200-027

XXV. Die Freiheit der Konsideration im philosophischen Argument

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Wenn wir in dieser Absicht jeweils vorzüglich auf etwas Bestimmtes reflektieren, so in ursprünglicher Intention deshalb, weil wir das Ganze des zu Erkennenden nicht auf einmal erkennen können. Der Argumentierende wird aus diesem Grunde eine bestimmte Ordnung des Vorgehens entwerfen, um aus dem Status relativer Unwissenheit in den Stand vollkommenerer Erkenntnis zu gelangen. In diesem Projekt wird bestimmt, was jeweils in Betracht zu ziehen ist. Der Geist versucht mittels bestimmter Akte methodischer Abstraktion, denen Akte selegierender Konsideration entsprechen, das Erkenntnisziel zu erreichen. In dem die einzelnen Akte bestimmenden methodischen Plane wird das zunächst außer Betracht Gelassene für die später folgende Konsideration vorgemerkt. Dieses Programm darf im Vollzug des philosophischen Argumentierens nicht aus der Acht gelassen werden.

186. Die wissenschaftliche methodische Konsideration unterscheidet sich von der unwissenschaftlichen dadurch, daß sie das vorläufig außer Betracht Gesetzte nicht außer Acht läßt und in der Folge in Betracht zu ziehen versucht. Da die Konsideration aber nicht nur durch die das philosophische Argumentieren tragende Grundintention, sondern auch durch die freie Willkür bestimmt wird, kann im philosophischen (aber dann freilich nicht wissenschaftlichen) Argumentieren auch Vieles mit der Absicht außer Acht gelassen werden, es auch später nicht zu konsiderieren, sondern von der Erhellung auszuschließen. Ist eine solche Absicht im Spiele, so entstehen einseitige Aussagen, die im philosophischen Argumentieren als solche bewußt sind. Nur die Unphilosophie bemerkt gar nicht, daß sie in ihren Resultaten das Opfer einer unkritischen Selektion ist.

187. Wird im philosophischen Argumentieren wissentlich eine durch Konsiderationen einseitiger Art bedingte Teilerkenntnis für das Ganze der Erkenntnis hingestellt, so handelt es sich um eine besondere Art der Unwahrhaftigkeit. Diese besteht in der unstatthaften Deklaration des erkannten Teilmomentes für das Ganze des Gegenstandes. Nicht selten wird eine solche Behauptung mit den Erfordernissen der gewählten Methode zu rechtfertigen versucht, die zuvor ihrerseits durch eine unzulässige Verabsolutierung zur einzig möglichen oder statthaften promoviert worden ist.

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188. Die Gelöstheit von dem Zwang, zu handeln, und dem mit diesem verbundenen anderen Zwang, den einfachen Argumentationsgehalt kategorisch zu bestimmen, gibt dem philosophischen Argument auch noch eine andere Freiheit betreffs dessen, was es in Betracht zieht. Der philosophisch Argumentierende kann, mit der Praeformation anhebend, auf Evidenz attendieren oder auch die mögliche Evidenz außer Acht lassen. Indem willentlich oder aus Achtlosigkeit nicht darauf attendiert wird, ob das Bild des Seins sich in Evidenz bewährt oder nicht, kann die in der Performation ausgesagte Problematizität eine selbstverursachte sein. Dem fertigen Argumente sieht man dies freilich nicht an.

XXVI. Die wissentlich unwahre Aussage 189. Das Bild eines Seins, von dem gewußt wird, daß es nicht das Bild des Seins selber ist, kann nicht Ziel der ursprünglichen Intention sein, die zur Bildung des Argumentes führt. Zum reflektierten und gewollten Ansatz eines solchen Bildes kommt es im Argumente erst auf Grund der zu dieser Intention hinzukommenden willentlichen Entscheidung, dieser Intention entgegen zu argumentieren. Strebt der philosophisch Argumentierende ein Sein zu bilden, das er für das Sein selbst erklärt, obwohl es seiner Einsicht nach ein nur eingebildetes Sein ist, so ist er sich notwendigerweise seiner Absicht bewußt. Er realisiert dann seinem eigenen Wissen nach das bildliche Sein, das kein Sein selbst ist, wenngleich er es für das Sein selbst erklärt. Hierdurch gerät er zu sich selbst in Widerstreit: er weiß, daß das für das Sein selbst deklarierte Sein seines Wissensbildes ein lediglich von ihm eingebildetes Sein ist; aber er beansprucht, daß es das Sein selbst sei. Dem verobjektivierten Argument sieht man allerdings diesen Widerspruch nicht an.

190. Da das philosophische Argument eine vollbewußte Reflexion ist, kann es dem Argumentierenden, sofern er philosophisch argumentiert, nicht unbekannt sein, daß sein unwahres Argument dem Status seines Einsehens widerstreitet. Er ist sich also der Unwissenschaftlichkeit (wie im entegengesetzten Falle auch der Wissenschaftlichkeit) seines Argumentes immer bewußt. Daß der Argumentierende in diesen Fällen die Unwahrheit nicht schlicht und einfach ohne gleichzeitiges Wissen von seiner Unwahrhaftigkeit sagen kann, kommt daher, daß er in den Entscheidungen seines formalfreien Willens immer an die grundlegende, das Argument hervortreibende Intention und die dieser entsprechende absolute Forderung, die Wahrheit zu sagen, rückgebunden bleibt. Diese Grundintention, ein wahres Bild des Seins zu realisieren, wirkt sich in dieser Situation in zweierlei Weise aus: zum einen kann der Argumentierende nie umhin, für seine Aussage Wahrheit zu beanspruchen und damit auch auf Wahrheit bezogen zu sein und von ihr zu wissen. Zum andern muß auch der unwahrhaftig Argumentierende in aller Aufrichtigkeit die Wahrheit seines eigenen Tuns, nämlich, daß er so argumentiert, wie er argumentiert, nämlich unhttps://doi.org/10.1515/9783110629200-028

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wahrhaftig, voraussetzen. Die Performation des Arguments ist immer die gemeinsame Resultante der Grundintention und der willentlichen Entscheidung.

191. Der Widerstreit zwischen besserem Wissen und behauptetem Wissen beruht also auf mehreren Faktoren: Der Behauptende kann wissentlich behaupten, obwohl ihm das Sein nicht evident ist oder obwohl ihm das Gegenteil des Behaupteten evident ist. Er kann also kontendieren, wo er seinen Zweifel bekunden müßte, weil er nicht erkennt, und er kann etwas nur kontendierend behaupten, obwohl er erkennt, daß es nicht wahr ist. Der Mangel an Evidenz seinerseits kann entweder darauf beruhen, daß Evidenz trotz des Bemühens um sie nicht erreicht werden konnte, oder darauf, daß auf mögliche Evidenz willentlich nicht attendiert wurde. Bei einer komplexeren Gegebenheit kann bei vorhandener Evidenz in einem gewissen Bereiche infolge mangelnder Attention auf die Grenzen dieser Evidenz auch von damit verbundenem Nichtevidenten behauptet werden, daß es (evidiert und) wahr sei.

192. Das willentliche Abhalten des Evidierens erhält den Geist künstlich im Zustande des Schwankens, d. i. der Problematizität. Diese künstliche Problematizität darf aber weder mit der initialen Problematizität im Momente des Sichpraeformierens des Arguments noch mit der trotz willentlicher Bemühung um Erkenntnis verbliebenen Problematizität im performierten Argumente verwechselt werden.

XXVII. Die Beurteilung mittels Vorstellens einer Aussage als Meinung und Fiktion 193. Die Gelöstheit des Bildes von sich selbst im Argumente und die damit verbundene Abhebung der initialproblematischen, unter den methodischen Zweifel gestellten Praeformation von der sich vollziehenden Performation (die ihrerseits nur mit Rückbezug auf die Praeformation zustandekommt) ermöglicht es dem Argumentierenden, das, was ursprünglich im Akte des Argumentierens nur als unselbständiges Moment vorkommt, reflexiv zu fixieren und abgelöst zu objektivieren, obwohl es realiter nie als für sich Bestehendes vorkommen kann. Auf Grund der Gelöstheit des Wissensbildes von sich selbst kann die relative Unabhängigkeit der das Argument bildenden Momente, der Grundsynthesis und der Geltungserhebung, erkannt werden. Da es in die Freiheit des Argumentierenden gestellt ist, welche Art von Geltung er für die ihm vorschwebende Grundsynthesis erhebt, kann er die Bedingtheit der Geltungsaussage gegenüber der Grundsynthesis, an der sie vollzogen wird, erkennen. Rein denkend kann die bestimmte Art der Geltungsaussage an einer Grundsynthesis von einer anderen möglichen Art der Geltungsaussage an ihr abgehoben werden. Da Geltungsaussagen in Bezug auf Wahrheit gesehen und erst von dieser her in eine Erkenntnisdignität gehoben sind, auf der anderen Seite aber auch durch einen Akt der Freiheit erfolgen, kann von dem zwar immer erfolgenden Behaupten (sei es als Kontention oder als Affirmation) Abstand genommen werden. Der Argumentierende als freies Individuum kann kontendieren, was er als reine Vernunft nicht affirmiert; er kann in reiner Vernunft affirmieren, was er als freies Ich nicht kontendiert. Während hier jeweils das eine (das Affirmieren bzw. das Kontendieren) energisch vollzogen wird, wird das andere (das Kontendieren bzw. das Affirmieren) nicht energisch vollzogen, sondern dessen energischer Vollzug nur als entgegengesetzte Möglichkeit konzipiert, d. h. aber nur objektiv vorgestellt, nicht energisch vollzogen.

194. Wir stehen damit vor der Tatsache, daß der Geist infolge der von ihm erblickten Differenz des bloßen Wissens- vom Erkenntnisbilde sich zu dem in allem Argumentieren geltendgemachten Seinsbilde in doppelter Weise verhalten kann: https://doi.org/10.1515/9783110629200-029

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Teil I

entweder energisch die Aussage vollziehend oder die Geltungserhebung nur als Tatsache vorstellend. Im zweiten Falle wird der energische Geltungsvollzug suspendiert und die notwendig in jedem Argumente vorhandene Geltungsaussage bloß als faktische Aussage genommen, die erst noch durch einen energischen Vollzug in energische Geltung zu setzen ist. Wir nehmen dann die Aussage, die wir, wie gesagt, nur faktisch vorstellen, als Meinung (primum dictum), über die noch erst in einem energischen Vollziehen von Geltung zu entscheiden ist.

195. Wir können aber nicht nur schon konzipierte Aussagen als Meinungen (prima dicta) nehmen, wir können auch Meinungen künstlich bilden, d. i. fingieren. Dieser Bildung von Fiktionen kommt, wie im folgenden dargelegt werden soll, eine erhebliche Bedeutung im Argumentieren zu. Das Wort Fiktion wird in dieser Abhandlung immer in seinem ursprünglichen Sinne von „reiner Bildung“ bloß faktisch genommener Aussagen verwendet. Fiktionen sind also von „fiktiven Hypothesen“ zu unterscheiden. Fiktive Hypothesen werden zwar auch willkürlich gebildet, aber immer zu dem Zweck, durch sie bestimmte Gegebenheiten zu erklären, wobei vorausgesetzt wird, daß diese Hypothesen nicht wahr (sondern nur effizient) sind. Bei der Verwendung des Terminus Fiktion wird in dieser Arbeit noch ganz unentschieden gelassen, ob eine solche „reine Bildung“ sich in einer Erkenntnis bewähren kann oder nicht. Für den begrifflichen Gehalt, den wir hier dem Wort Fiktion geben, ist nur bestimmend, daß eine Aussage rein faktisch, unter Abhaltung der energischen Geltungserhebung, erstellt und vorgestellt wird.

196. Das philosophische Argument ist weithin ein Argument w i e d e r h o l t e r Reflexion. Seine spezifische Aufgabe ist es, schon vorliegende Wissensbilder auf ihre gnoseologische Dignität hin zu untersuchen. Es rekurriert dabei auf Argumente ihm vorausliegender Reflexionen. Diese können ihrerseits sowohl primäre als auch sekundäre Reflexionen sein, und als diese letzteren wiederum gewöhnliche oder wissenschaftliche Reflexionen. Die primäre Reflexion ist im Erstellen von bestimmtem Sein tätig. Die sekundäre Reflexion verarbeitet dieses Sein in Richtung auf eine über es hinausliegende systematische Einheit. Die sekundäre Reflexion verfährt wissenschaftlich, wenn sie dabei auf Erkenntnis ausgeht. Wird die Möglichkeit von Erkenntnis und deren Sicherung hierbei selbst thematisch, so handelt es sich um eine wissenschaftlich-philosophische Reflexion.

XXVII. Die Beurteilung mittels Meinung und Fiktion

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Um ihren Zweck zu erreichen, muß die philosophische Reflexion die aus der sonstigen sekundären oder primären Reflexion ihr zukommenden Argumente als Meinungen (prima dicta) nehmen, deren Geltungsanspruch sie zu überprüfen hat. Im Vollzug dieser Überprüfung erstellt die philosophische Reflexion eigene, nur ihr eigentümliche Argumente, die sie nicht als schon vorkonzipierte aufnimmt, sondern selbst hervorbringt. Infolge ihres generellen Überprüfungsanspruches muß die philosophische Reflexion aber auch diese ihr eigentümlichen Argumente in methodischen Zweifel ziehen und vor diesem bewähren. Dieser alles betreffende methodische Zweifel bewirkt, daß in dieser philosophischen Reflexion alle ihr vorkommenden Argumente zunächst (noch einmal) in den Status von Meinungen (prima dicta) versetzt werden, um sie zu beurteilen.

197. Mit dem Ansatz bestimmter Argumente zur Beurteilung findet eine (provisorische) Inversion der vorhergehenden Erkenntnisbemühung statt. Diese ging auf das Sein selbst im Bilde, und zwar als wahres Sein. Die Beurteilung hingegen prüft, ob das vorgebliche Bild des Seins selbst auch ein wahres Bild ist. Sie geht deshalb zunächst darauf aus, das Bild bloß als solches zu nehmen, um später von dieser Ausgangsposition aus seine Authentizität zu bestimmen. Dazu muß die Aussage des zu beurteilenden Wissensbildes zunächst in faktischer Supposition genommen werden, damit in Bezug auf diese die energische Geltungserhebung erfolge. Das Bild als Bild wird hinsichtlich seiner Leistungsfunktion thematisiert.

198. Wenn nun aber auch die in Wissensbildern sich manifestierenden Argumente als bloße Meinungen (prima dicta) genommen bzw. gebildet werden, so geschieht das im philosophischen Reflektieren doch niemals grundlos oder als ein bloßes Spiel, sondern immer im Dienste der Erkenntnisbemühung. Die herangezogenen Meinungen, selbst als Fiktionen, sollen als Mittel der Erkenntnis dienen. Meinungen werden dazu an- und aufgenommen, um mittels ihrer beurteilen zu können.

199. Es versteht sich, daß die Inversion, durch welche ein Argument als bloße Meinung genommen wird, im philosophischen Reflektieren stets vollbewußt und

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Teil I

willentlich vollzogen wird. Der Argumentierende statuiert dies auch durch die Art der Aussage dieser Meinung. Er sagt: „Ich halte mir als Meinung vor“ oder „ich fingiere“. Damit stellt er fest, daß er eine Aussage ansetzt, von deren Geltungserhebung er sich distanziert.

200. Diese Vorstellung eines Arguments als Meinung darf nicht mit der historischen Feststellung verwechselt werden. Die Aussage „Ich halte mir dies als Meinung vor“ bzw. „ich fingiere dies“ kann allerdings auch als historische Aussage verstanden werden. Sie sagt dann etwas darüber aus, was der Argumentierende tut; er hält sich eine Meinung vor, wie er sonst zweifelt oder behauptet. Es geht aber nicht um diesen historischen Befund, wenn ein Argument zur Meinung invertiert wird, sondern um den Modus, in dem das Argument samt seiner Geltungserhebung genommen wird: Die Geltung ist nicht energisch angesetzt, und das Argument stellt deshalb eine noch zu beurteilende Materie dar. Durch das bloß faktische Hinstellen wird das Argument zum terminus a quo einer erst zu vollziehenden Beurteilung.

201. Man erkennt an dieser Stelle erneut die immense, nämlich wesenkonstituierende Rolle praktischer Faktoren im Argumentieren. Erst der energische Vollzug des Geltendmachens macht das Argument zum Argument. Erst durch den energischen Vollzug kommt es zur philosophischen Beurteilung: Wird keine Geltungserhebung suspendiert und zugleich damit nichts energisch in bezug darauf geltend gemacht, so kommt keine Beurteilung zustande. Umgekehrt führt erst die willkürliche Suspension der Geltung zur Inversion.

202. Erst die zur Beurteilung führende methodische Distanz zur Aussage in einem zur Meinung invertierten Argument, das damit als terminus a quo dienen kann, macht es auch möglich, daß das Argument zum Medium interpersonaler Erörterung wird. In der dialogischen Argumentation werden im Akte des jeweiligen Verstehens die übermittelten Argumente stets zunächst als Meinungen (prima dicta) vorgestellt, auf die sich der Vernehmende erst beurteilend beziehen will.

XXVII. Die Beurteilung mittels Meinung und Fiktion

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Hierbei sind die Präsentation von Meinung und die Beurteilung an jeweils verschiedene Subjekte verteilt, wobei aber sowohl der Gebende als der Aufnehmende jeweils beide Funktionen des (Sich)Präsentierens und des (Be)Urteilens vollziehen muß. Der Vernehmende muß die ihm übermittelte Aussage erst als Meinung erstellen, bevor er in bezug auf sie urteilt. Derjenige, der seine Aussage dem Anderen mitteilt, muß dessen Beurteilung vernehmend zur Meinung invertieren, um sie seinerseits zu beurteilen und zu energischer Geltung kommen zu lassen.

203. Der freie Ansatz von Meinungen, u. U. sogar durch freies Fingieren, ermöglicht es der philosophischen Reflexion, Wissensbilder erst einmal losgelöst von der unmittelbaren Bemühung um Seinserhellung anzusetzen. Der philosophisch Argumentierende kann sich auf diese Weise die sich in solchen Meinungen aussprechenden Aussagen erst einmal vergegenwärtigen, ohne sie sich ineins damit auch schon durch energische Geltungserhebung zu eigen zu machen. Auf diese Weise können in ihrer Geltungskraft suspendierte Aussagen konstruiert werden, mittels deren das selbständige Eintreten von Evidenz ermöglicht wird. Indem sich der philosophisch Reflektierende von dem ihm (anfänglich allein) möglichen Kontendieren zurückhält, kann er erwarten, ob sich in seinem Geiste Bewährung einstellt, durch die ihm eine Affirmation ermöglicht wird.

204. Vorgestellte Meinungen erfüllen auf diese Weise eine analoge Funktion wie die Praeformationen. Der Unterschied ist, daß letztere unmittelbar mit ihrem Sichbilden ineins in eine Geltung überführt werden müssen, also nur als unselbständige Momente der Argumentbildung auftreten, während die vorgestellten Meinungen, eben weil sie schon eine (freilich wieder suspendierte) Geltungserhebung beinhalten, beliebig lang als solche belassen werden können, da das beurteilende Ingeltungsetzen nicht notwendig mit ihnen konnektiert ist.

XXVIII. Ansatz von Elementen oder Momenten des Arguments als Hilfshandlung zur Bildung von Meinungen 205. So wie wir Fiktionen zu bilden vermögen, können wir auch die zu den zu bildenden Meinungen selbst notwendigen Elemente und Momente gedanklich abgesondert ansetzen bzw. einen derartigen Ansatz postulieren. Diese Elemente und Momente stellen Meinungen im Sinne unmittelbarer Gesichte (visa immediata) dar. Wie schon (in § 53) erkannt, können solche Elemente und Momente niemals für sich allein, sondern immer nur in Argumenten vorkommen. Auch in der hier erwähnten gedanklichen Absonderung erscheinen sie nur in Argumenten, nämlich in sie hinstellenden Aussagen. So sagt man etwa: „Ich setze a an“. Von solchen angesetzten Elementen und Momenten kann dann weiterhin frei konstruierend zur Bildung von Fiktionen fortgegangen bzw. zu einem solchen Fortgang aufgefordert werden.

206. Der Ansatz von Elementen und Momenten und deren Verbindung zu Fiktionen, sowie die Aufforderung zu solchem Ansatz und solcher Verbindung erfolgen im philosophischen Argumentieren immer nur zum Zwecke der Ermöglichung der Geltungserhebung in Argumenten. Sie sind also niemals Selbstzweck. Wäre das letztere, so würden nur wissenschaftlich irrelevante Spiele durchgeführt, deren Ergebnis irgendwelche Ansätze und Kombinationen ohne Erkenntnisrelevanz wäre.

207. Da auch Fiktionen und aufgenommene Meinungen immer Geltungsaussagen beinhalten, wenngleich diese für den Zweck ihrer Beurteilung suspendiert sind, so können auch diese Meinungen nicht gebildet werden, ohne daß ineins damit auf Wahrheit und deren absolute Geltung wie auch auf Erkenntnis Bezug genommen würde. Außerdem müssen Meinungen als Meinungen genommen werden. Man kann also nicht Meinungen erstellen oder aufnehmen, ohne Wahrheit und Erkenntnis https://doi.org/10.1515/9783110629200-030

XXVIII. Ansatz von Elementen oder Momenten

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in Anspruch zu nehmen; ebensowenig, wie man „nur fragen“ kann, kann man „nur fingieren“ oder sich „nur Meinungen vorhalten“.

208. Daß Meinungen fingiert bzw. Elemente und Momente zu solchen Fiktionen angesetzt werden, kann gefordert werden. Diese Postulate sind im philosophischen Argument vollbewußt und willentlich angesetzt. Es werden mit solchen Forderungen nicht nur Ansätze derartiger Elemente und Momente postuliert, sondern auch bestimmte Verfahrensweisen des Geistes: Ansetzen und Verbinden; ferner Rekognoszieren, Schließen u. s. w.

209. Im Verfahren der Aussagenbildung solcher Art müssen die postulierten Elemente, Momente und Verfahrensweisen reproduziert und rekognosziert werden. Das als Element angesetzte a und das als Moment angesetzte b müssen in der nachfolgenden Operation mit ihnen, als dasselbe wiedererkannt werden. Andernfalls könnte auch ein c, d u. s. w. für a bzw. b genommen werden (wobei selbst in diesem Falle eine, wenn auch irrige, Identifizierung stattfände). Auch axiomatisch angesetzte Verfahrensweisen müssen in den nachfolgenden Operationen als ebensolche rekognosziert, also c in der Regel, mit c in der Anwendung identifiziert werden. Auch muß c als Regel (und nicht als einmaliger Individualfall) angesetzt werden.

210. Da Fiktionen nur gegen die ursprüngliche Ausgerichtetheit des Geistes auf Erfassung des Seins selbst formiert und als wissensrelevante bloße Bilder genommen werden, so muß diese Inversion auf einer Absicht beruhen, die im philosophischen Argumentieren nur als vollbewußte und frei gefaßte vorhanden sein kann. Ein solcher freier Ansatz steht wie alles freie Wollen unter Zweck- und Wertansätzen, deren Natur darüber entscheidet, ob sie zu rechtfertigen sind oder nicht. Argumentative Bedeutung erhält er nur dann, wenn er im Dienste der das Argument konstituierenden Grundabsicht steht, Erkenntnis zu realisieren.

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211. Wird gefragt, welches der spezifische Zweck des Ansatzes von Fiktionen und der dazu notwendigen Elemente und Momente sowie Verfahrensweisen ist, so kann man schon vorweg sagen, daß dieser Zweck ein argumentativer Zweck sein muß. Fiktionen müssen dazu dienen, Erkenntnis zu verwirklichen (vgl. § 198). Nun hängt das Zustandekommen von Erkenntnis davon ab, daß Evidenz einzutreten vermag; die Evidenz setzt aber ganz bestimmte Weisen des Bildens von Sein voraus. In der ursprünglichen Ausrichtung wird das Bilden durch das Sein selbst bestimmt, auf dessen Bilden ausgegangen wird. Dabei ist das Bilden nicht völlig frei. Wird durch Inversion primär auf ein Bilden ausgegangen, um dieses erst sodann an das Sein zu bringen, so ist ein solches Bilden nicht durch das bereits bestimmende Sein gebunden. Auf diese Weise erlaubt das Fingieren gedankliche Experimente, die der Wahrheitsfindung dienlich sein können. Die Fiktionen ermöglichen es, gedankliche Alternativen zu erstellen. Dergestalt wird das Aggregat des problematisch zu Nehmenden bereichert. Die Fiktion formiert vielleicht gerade jenes Bild, das den Eintritt der Evidenz ermöglicht. Dadurch erweist sich das Fingieren als geeignetes Mittel der Wahrheitsfindung. Allerdings ist es argumentativ immer nur solange relevant, als es zu dem Zwecke erfolgt, die Fiktion auf das Sein selbst zu beziehen.

XXIX. Das Scheinargument 212. Die Möglichkeit von Fiktionen beruht auf der Fähigkeit des argumentierenden Geistes, willkürlich Elemente und Momente zu verbinden und Argumente zu bilden, noch bevor die Wahrheitsfrage zureichend gelöst ist. Dieselbe Fähigkeit ermöglicht es aber auch dem Geiste, vorstellungsmäßig Unverbindbares bloß zusammenzustellen und durch Hinzufügung der Geltungsaussage als ein Ganzes hinzustellen. Der Geist kann Scheinargumente bilden.

213. In jedem Argument muß das Argument als Argument, müssen seine Elemente und Momente als ebendiese genommen werden. Was immer an Meinung auftritt, ist als es selber genommen. Nun sind aber die aufgenommenen Elemente und Momente keineswegs gegen die Synthesis, in die sie gebracht werden sollen, indifferent. Sie lassen vielmehr nur ganz bestimmte Verbindungen zu. Werden sie aber gegen das, was sie ausschließen, angehend vereinigt, so erweist es sich, daß eine solche Vereinigung nur als Systasis möglich, als Synthesis aber unmöglich ist und gedanklich nicht vollzogen werden kann. Da die Verbindung willkürlich ist, können allerdings Elemente und Momente mit einer Geltungserhebung zusammengestellt werden, ohne daß sie aber eine Synthesis zu bilden vermöchten. Die Geltungserhebung kann nur an Synthesen vollzogen werden; hier aber ist sie nur mit separaten Elementen zusammengestellt. Mag das erstellte Gebilde sprachlich ununterscheidbar vom echten Argument auftreten, eine derartige Verbindung ist kein Argument, sondern nur das Produkt einer Intention, mittels der ins Spiel gebrachten Faktoren ein Argument zu erstellen, die sie nicht realisieren konnte.

214. Im philosophischen Argumentieren tritt bei dem Versuch, eine Synthesis in Geltung zu setzen, die die Elemente und Momente nicht erlauben, die Unmöglichkeit hervor, ihm zu entsprechen, und diese Unmöglichkeit wird auch als solche erkannt. Wird dennoch mit solchen Systasen operiert, so weiß der Argumentierende, daß er gar nicht argumentiert bzw. es mit keinem Argument zu tun hat. https://doi.org/10.1515/9783110629200-031

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Werden aber in der philosophischen Argumentation primäre, vorphilosophische Verbindungen zunächst als Meinungen (prima dicta) aufgenommen, um als solche noch eigens beurteilt zu werden, so können Scheinargumente unbesehen für Argumente angenommen werden. Das in seiner Geltung suspendierte Gebilde wird zum Zwecke der Beurteilung vorgestellt. Da die Geltungserhebung hierbei noch nicht energisch vollzogen ist, wird sie mit Aufnahme der primären Verbindung nur faktisch als vorliegend angenommen. Erst bei dem Versuch, die aufgenommene Geltungserhebung nun auch an der Grundlage zu vollziehen, stellt sich heraus, daß dies unmöglich ist und daß die aufgenommene Verbindung nur eine Systasis darstellt. Nehmen wir zum Beispiel an, jemand argumentiere gegen uns „Die Behauptung nimmt keinen Bezug auf Wahrheit“, so bietet er uns eine „Synthese“ an, mit der eine Geltungserhebung vereint ist. Als Diskussionspartner müssen wir diese Mitteilung zunächst verstehen, was uns nur gelingt, wenn wir die Elemente und Momente in einer geltensollenden Synthesis vereinigen können. Nun läßt sich aber „die Behauptung“ mit „Bezuglosigkeit auf Wahrheit“ gar nicht gedanklich zu einer Synthesis verbinden, folglich auch keine derartige Geltung erheben. Die Geltung ist also hier den Elementen nur zugestellt (Systasis!), nicht mit ihnen synthetisch verknüpft.

215. Die Elemente und Momente einer solchen Verbindung, die ein bloßes Aggregat ist, stellen ihrerseits immer Meinungen (visa immediata) dar, die als solche genommen, d. i. in Identitätsbehauptungen angesetzt sind. Aber diese Identitätsbehauptungen sind nicht mit der Aussage zu verwechseln, welche das Aggregat darstellen soll. Es erweist sich vielmehr, daß die Elemente kraft ihrer bestimmten Eigenart in die intendierte Verbindung nicht so eingehen können, daß sie eine Aussage bildeten.

216. Das Fingieren, inwiefern es ein Bilden von Scheinargumenten ist, kann bis zu der äußersten Grenze gehen, die ihm die Bedingungen des Zusammenstellens als solchen ziehen. Was nicht einmal mehr eine Zusammenstellung von Elementen, Momenten und Geltungserhebung ist, kann sich auch nicht einmal als Scheinargument präsentieren.

XXIX. Das Scheinargument

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217. Da das Fingieren ein Akt der Freiheit ist, das freie Wollen aber durch Wertentscheidungen bestimmt ist, kann das Fingieren auch durch die Entscheidung, die Unwahrheit zu sagen, bestimmt sein. Dann wird die willkürliche Bildung in den Dienst der Lüge gestellt. Das kann in der Weise geschehen, daß Scheinargumente gebildet, aber als Argumente hingestellt werden. Die Prädizierung eines Figments als Argument stellt hierbei selbst eine Scheinverbindung dar. Ein jede Synthesis ausschließendes Aggregat von Bildelementen und Geltungserhebung kann gar nicht legitim als Argument bestimmt werden.

218. Daß die zum Ansatz kommenden Elemente und Momente keine Synthesis zulassen, kommt daher, daß sie virtuell schon bestimmte Möglichkeiten zu Synthesen enthalten. Sobald über die Intention der Synthesis jener Elemente und Momente zu ihrer Verwirklichung hinausgegangen wird, wirken sich diese Virtualitäten aus. Es tritt dann heraus, was schon immer in den Elementen und Momenten beschlossen lag. Freilich bleibt der Bereich möglicher Synthesen ein größerer als der Bereich dessen, was als wahr bewährt werden kann. Aber dies letztere muß immer im Bereich möglicher Synthesen und kann niemals im Bereich bloßer Aggregate liegen.

219. Sobald das, was bloß als Meinung aufgenommen worden ist, zur Beurteilung gelangt, erweist es sich, ob es eine Aussage, und sei diese auch nur eine Fiktion, oder ein Scheinargument ist. Die energische Geltungserhebung kann nur an Synthesen erfolgen. Tritt bei überlegtem Vereinigen der Elemente und Momente die positive Möglichkeit ihrer Verbindung zu Synthesen hervor, so kann die Geltungserhebung an der Verbindung vollzogen werden. Selbstverständlich muß der Argumentierende dabei die Elemente und Momente als solche geistig selbst realisieren und nicht nur mit ihren Zeichen operieren. Gelingen Argumente, so bleibt natürlich immer noch zu entscheiden, ob sie seinsgerecht sind oder nicht.

XXX. Die Möglichkeit universellen Bezweifelns 220. Die Fähigkeit, zu beurteilen und zu bezweifeln, gibt dem Geiste mittelbar eine Freiheit, die er unmittelbar nicht hat und auch gar nicht haben kann, weil sie als unmittelbare das geistige Sein unmöglich machen würde. Das bestimmte Argument erwies sich zwar nicht als mit einfacher Notwendigkeit gegeben; vielmehr ist es in die Freiheit gestellt, in welcher Weise das Argument sich realisiert. Doch im Realisieren wird das Argument unmittelbar vom Sichpraeformieren zur Performation fortgerissen, und es kann sich diesem Übergang nicht entziehen. Die Freiheit muß sich angesichts der sich ihr stellenden Aufgabe vollziehen (wenn es ihr auch freigestellt bleibt, als welche Aussage sie sich realisiert). Doch der Spielraum, der der Realisation freibleibt und dem die Spannweite zwischen Prae- und Performation entspricht, entdeckt dem Geiste zugleich die Differenz zwischen Grundsynthesis und Geltungserhebung, deren relative Selbständigkeit gegeneinander und die Möglichkeit verschiedenartiger Kombinationen. Im Beurteilen und Bezweifeln wird die Freiheit, die im ersten Aussagevollzug nur momentweise aufspringt und aufleuchtet, um sogleich in die Notwendigkeit des Performierens hineingerissen zu werden, perennierend. Die zwar im ersten Aussagen schon vollzogene Geltungserhebung wird im Bewußtsein der Freiheit, sie auch anders ansetzen zu können, wieder suspendiert, und es wird an einen erneuten Vollzug derselben verwiesen. Durch dieses Verfahren wird ein universelles Bezweifeln ermöglicht. Dieses darf freilich nicht mit der Möglichkeit eines universellen Zweifelns verwechselt werden. Der universelle Beurteilungszweifel muß sich nämlich immer auf einen primären argumentativen Vollzug zurückbeziehen. In diesem ersten Aussagevollzug sind jedoch, wie wir schon wissen, stets Behauptungen beschlossen. Jene Aussagen können nicht ausschließlich nur aus Problematischem bestehen. Alle Bezweiflung, folglich auch die universelle, bleibt an primäre Behauptungen rückgebunden; sie ist nur dadurch möglich, daß diese Behauptungen schon vollzogen sind. Könnte die Bezweiflung die primäre Behauptung schlechthin aufheben, so verschwände das Argument als solches. So setzt auch die Bezweiflung jenes Minimum an Erkenntnissen (im primären Behaupten) voraus, ohne das kein Argument existieren kann. Ein alles Behaupten ausschließendes Bezweifeln ist unmöglich. Aber das primär Behauptete – und das ist die andere Seite – kann eben bezweifelt werden. Sekundär und mittelbar trifft dann der Zweifel im Bezweifeln alles Behauptete. Darin liegt die weitreichende Macht des Bezweifelns. Was dem https://doi.org/10.1515/9783110629200-032

XXX. Die Möglichkeit universellen Bezweifelns

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Zweifel gar nicht möglich war, da er sich nur mittels bestimmter unerschütterlicher Behauptungen konstituieren konnte, das ist dem Bezweifeln möglich – nämlich die Erschütterung aller primären Behauptung. Das Bezweifeln betrifft die gesamte Primärkonstitution.

221. Es kann dagegen mit Recht auf den Umstand hingewiesen werden, daß sich auch das Bezweifeln selbst primär konstituiert und insofern das schon aufgewiesene Minimum an Behauptungen in sich als Bezweifeln fraglos einschließt. Das ist selbst dann der Fall, wenn das Bezweifeln sich selbst einfachhin thematisch macht und sich auf sich selbst richtet. Das transzendentale Bezweifeln des (objektivierten) Bezweifelns muß in sich immer auch ein naives Behaupten sein.

222. Treten jedoch das Bezweifeln und das Bezweifelte in der Weise auf, daß der bezweifelnde Geist nicht mit dem Geiste identisch ist, dessen Aussage er bezweifelt, so muß zwar ein Minimum wahrhaft geltender Behauptungen im Bezweifeln angenommen werden, nicht aber im Bezweifelten. Grade das Argument als solches wird ja im Bezweifelten bezweifelt, wenn der beurteilende Zweifel radikal ist. Das heißt, es wird infragegestellt, ob das Bezweifelte überhaupt Argument ist.

223. Umgekehrt behauptet die positive Beurteilung (Billigung) nicht nur sich und die in ihr beschlossenen Behauptungen, sondern zugleich auch die beurteilte Behauptung; sie bestätigt.

224. Im Interpersonalverkehr eröffnet diese mögliche Verschiedenheit von beurteilender bzw. bezweifelnder und beurteilter bzw. bezweifelter Vernunft extreme Möglichkeiten vernünftigen Seins, die bei Identität der primär aussagenden

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und sekundär bezweifelnden bzw. beurteilenden Vernunft nicht gegeben sind. Beurteilung und Bezweiflung reichen viel weiter als die einfache Aussage über sich selbst. Auch kann im Beurteilen im Suspens belassen werden, was die primäre Aussage jedenfalls nicht ungelöst dastehen lassen kann – und das Beurteilen ist ja in dem hier anvisierten Falle existentiell von der primären Aussage verschieden.

XXXI. Die grundlegende Situation des Arguments 225. Die gesamte Bewegung des Geistes vom unmittelbaren Bewußtsein von Meinungen (der visa immediata) über das Sichpraeformieren von Wissensbildern und von dort über den Prozeß der Rückwendung des Wissensbildes auf sich selbst bis zum zur Wahrheitsfrage aussagenden Argument (in der Performation) entdeckt uns einen grundlegenden Tatbestand: der Geist ist nicht einfachhin sein Wissen; er ist nicht einmal einfachhin Bewußtsein seiner unmittelbaren Gesichte, weil diese nur im Wissen thematisiert in ihm vorkommen können, sondern er ist ein bestimmtes Wissen nur auf Grund von und im Vollzug einer freien Entscheidung. Schlösse sich – per impossibile dictum – der Geist bereits im Praeformieren als Gesamtformation ab, so gäbe es keinen Zweifel an der Wahrheit des Bildes des Seins. Das gebildete Sein wäre ohne jede Problematik, damit aber eben auch überhaupt nicht mehr Sein im Sinne des Arguments, nämlich wahres Sein. Eine Beziehung wie die zuletzt skizzierte zwischen Bild und Sein ist dem Geiste jedoch wesensgemäß unmöglich, weil das Bild allein schon durch sein Wesen vom Sein abgehoben und deshalb etwas das Sein möglicherweise nicht Erhellendes ist. Der Geist kann nur bilden, indem er Wissen erstellt, das seinerseits nur im Bewußtsein der Möglichkeit von Wahrheit und Irrtum ist, was es ist. Wir sind nicht einfachhin unser Wissen, denn schon das Wissensbild ist wesensgemäß von sich abgehoben, sondern wir sind unser Wissen nur in einem Performieren, das sich nicht ohne diesbezügliche Entscheidung unsererseits vollzieht. Obwohl der Geist seinem Wesen nach nur im Bilden transphänomenalen Seins existiert, kann er sich doch nur zum Wissen formieren, indem er, aus der vorargumentativen Problematik im Sichpraeformieren noch unentschieden hervorgehend, in Freiheit zur entschiedenen Performation übergeht. Der Geist ist in seiner Praeformation prinzipiell nicht sicher. Diese Praeformation ist nie in sich abgeschlossen und vollendet, sondern etwas, das der Geist erst stellungnehmend bestimmen muß. Die Praeformation ist ganz und gar auf ihre Überführung und den Übergang in die freibestimmte Performation hin angelegt: Wir existieren niemals nur praeformierend, sondern immer nur in freien Stellungnahmen und Bestimmungen des Performierens mit Bezug auf das erstansetzende Bilden. Daher die Spannung zwischen der Spontaneität im ersten Bilden und der Freiheit im Argumentieren. Das Argumentieren vollzieht sich vor der Alternative von Wahrheit und Unwahrheit als dem freien Geiste gleichermaßen möglichen Realisierungen. Eine https://doi.org/10.1515/9783110629200-033

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solche Alternative ist dem Geist deshalb grundsätzlich eröffnet, weil ihm Freiheit in Bezug auf die aus der Wahrheit als Wert hervorgehende Forderung der Annahme und Verwirklichung dieses Wertes gegeben ist. Eben weil es dem Geiste seinem Wesen nach um Wahrheit geht und weil er von der Wahrheit her unter die Forderung ihrer Verwirklichung gestellt ist, ist er seiner Natur nach nicht durchdeterminiert, sondern nur vor eine Aufgabe gestellt, die, weil sie Aufgabe und nicht schlichte Gegebenheit ist, nur in einem und für ein zur Lösung schreitendes Aufgreifen da ist.19 Erst im Vollzug der freigestellten Entscheidung und Lösung der gestellten Aufgabe wird der Geist zur bestimmten Argumentation. Der freie Geist ist das und nur das, wozu er sich argumentierend macht.20 Alles nur Bewußte und selbst alles im ersten Praeformieren sich Bildende dient nur dieser freien Selbstbestimmung. Die Reihe der Argumente, die wir selber sind, sind wir – abgesehen von dem wesensnotwendigen Minimum an Voraussetzungen – nur auf Grund unseres eigenen Freiheitsentschlusses. Niemand kann sich für seine philosophischen Argumente auf eine faktische Determiniertheit herausreden.J Das transphänomenale Sein bildet sich in unseren Argumenten nicht von selbst. Die Gebundenheit seiner ursprünglichen Tendenz an Wahrheit fesselt das Argumentieren nicht in dem, was es statuiert. Und obwohl die Praeformation die Performation erzwingt, wird doch nur durch einen freien Akt performiert. Unsere gesamte Existenz ist eine Existenz der Entscheidung für oder gegen Wahrheit.

226. Im vorhergehenden wurde nachgewiesen, daß die unmittelbaren Elemente in ihrer Grundsynthesis und die Geltungserhebung, mittels deren wir ein Argument bilden, notwendig das sein müssen, als was sie gesehen werden, wenn das Argument wahrhaft ein Argument sein soll. Wir müssen demzufolge im unmittelbaren Sehen von Bildelementen und -momenten diese als das sehen, was

J Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei an dieser Stelle angemerkt, daß mit dem Gesagten die interpersonale und geschichtliche Konstellierung der Freiheit natürlich nicht geleugnet wird. Es geht nur darum, daß diese mitbedingenden Momente sich in der freien Setzung niemals einfach determinierend auswirken können. 19 Vgl. „Theorie des Arguments.“ NS 1988/89. Bl. 12v: „Das geistige Wesen ist nur in Lösung einer Aufgabe, d. h. es ist vor eine Aufgabe gestellt, die es lösen soll. Charakter der Beanspruchung hat zuerst Descartes gesehen.“ 20 Vgl. „Transzendentale Methode.“ NS 1987. Bl. 18r: „Der geistige Akt kann nur in seiner intentionalen Konstituiertheit verstanden werden.“

XXXI. Die grundlegende Situation des Arguments

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sie in Wahrheit sind, d. i. wir müssen sie erkennen, wenn das Argument wahrhaft Argument sein soll. Auch das Argument als Ganzes und die bestimmte Weise desselben (Problem, behauptende Aussage, Intention, Meinung u. s. w.) müssen unter dieser Bedingung als solche gesehen, d. i. als das erkannt werden, was sie sind. Schon als Kontention muß die Aussage wahrhaft Kontention sein. Wir müssen wissen – im strengen Sinne des Terminus wissen –, wenn wir wollen, sollen wir überhaupt wirklich wollen und nicht nur zu wollen wähnen, zu wähnen wähnen u. s. w. in infinitum, also tatsächlich nicht wollen. Wenn wir etwas behaupten, sei dies unmittelbar in der Assertion oder implizit im Zweifel, so sprechen wir ihm Wahrheit zu. Dies können wir nur, weil wir die Konzepte von Wahrheit, Erkenntnis, Applikabilität und Bewährung sowie von Bild und Sein als solchen haben. Wir beziehen das im Argumente Behauptete auf diese Ideen als wahre und bewähren es an ihnen. Um zurecht etwas transimaginativ Seiendes zu behaupten, müssen wir mit Hilfe der Wesensbilder von Bild und Sein die Authentizität eines Seinsbildes erkennen, d. h. wir müssen eine sich als solche ausweisende Nichtdifferenz von gebildetem Sein und Sein selbst evidieren. Daß wir alle diese Voraussetzungen mit Notwendigkeit erfüllen müssen, wenn wir wirklich etwas als wahr behaupten sollen, daran kann nach allem Dargelegten nicht gerüttelt werden. Aber es bleibt noch die Frage aufzuwerfen und zu beantworten, ob diese Voraussetzungen denn auch wahrhaft gegeben sind oder ob sie von uns durch den Akt des Argumentierens bloß beanspruchend als wahrhaft gegeben eingeführt werden.

227. Der Umstand, daß wir, nach dem, wie es sich uns darstellt, in allem Behaupten und Argumentieren diese Voraussetzungen als erfüllt ansetzen, impliziert zwar, daß sie auch immer und überall gemacht werden, wo argumentiert wird, so daß man demjenigen, der dies leugnen wollte, stets nachweisen kann, daß er eben dies selbst positiv annimmt. Damit ist aber nur die Notwendigkeit dieser Annahme gezeigt, dort nämlich, wo wir überhaupt vorgeben, etwas zu erkennen; keineswegs ist damit auch schon erwiesen, daß effektiv solche Erkenntnis statthat.

XXXII. Metaphysische Bezweiflung 228. Im Anschluß an Descartes (III. Meditation: raison de douter métaphysique) sei der sich in dieser Überlegung anmeldende Zweifel an der Erkenntnisdignität der als Erkenntnisse vorausgesetzten Einsichten, und damit an der Effektivität des Erkennens im Vollzug des Argumentes, der metaphysische Zweifel, oder, terminologisch richtiger: das metaphysische Bezweifeln, genannt.

229. Es hat sich (§§ 84 f.) gezeigt, daß der Geist in der das Argumentieren ursprünglich ermöglichenden und tragenden Intention, Seinswissen zu erlangen, auf Wahrheit ausgerichtet ist. Da jedoch die Voraussetzung der Wahrheit bestimmter Annahmen, auch wenn sie mit Notwendigkeit erfolgt, durch diese ihre Notwendigkeit noch keine Wahrheit verbürgt, so unterliegen diese als gesichert vorausgesetzten, jedes wahre Urteil erst ermöglichenden Einsichten (vom Wesen der Wahrheit, von der Bewährung, von der Erkenntnis u. s. w. u. s. w.) selbst einer metaphysischen Bezweiflung. Wir begnügen uns, wenn wir Wahrheit in der Erkenntnis realisieren wollen, keineswegs mit der Tatsache, daß wir die Authentizität jenes Minimums von Erkenntnissen, das wir als erforderlich herausgestellt haben, um überhaupt argumentieren zu können, notwendig annehmen müssen; wir wollen vielmehr energisch erkennen, daß diese Authentizität wahrhaft statthat und wir unsere Annahmen zurecht gemacht haben.

230. Eine solche energisch erkannte Authentizität muß auch für die unmittelbaren Meinungen (visa immediata) als solche gegeben sein. Nähmen wir nicht zurecht an, daß das, was wir unmittelbar meinen, auch wahrhaft das ist, als was wir es meinen, so könnten wir garnichts wissen und erkennen. Wir wären dann nicht mehr Wir, die Elemente nicht die Elemente, die Synthesis nicht die Synthesis, die Geltung nicht Geltung; ja, deren Nicht-es-selbst-sein wäre nicht deren Nichtes-selbst-sein. Wiederum ist mit dieser Überlegung zunächst nur die Notwendigkeit des tatsächlichen Voraussetzens dieser Authentizität konstatiert, keineswegs der Rechtsnachweis für die Annahme der Meinungen als solcher erbracht. https://doi.org/10.1515/9783110629200-034

XXXII. Metaphysische Bezweiflung

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Der Aufweis der Rechtsgültigkeit dieser Voraussetzung von Authentizität steht in allen diesen Fällen aus. Diese Voraussetzung bleibt soweit nur von der – freilich mit dem Argumentieren notwendig erfolgenden – Annahme getragen, daß das notwendig Anzunehmende auch in Wahrheit gegeben sei.

231. Ja, selbst das metaphysische Bezweifeln artikuliert sich selbst in unmittelbaren Meinungen, Voraussetzungen und Folgerungen aus einem präsumtiv Wahrheit entdeckenden notwendigen Denken. Es könnte also selber nicht statthaben, wenn jene Annahmen nicht wahr wären. Aber eben alle diese Annahmen erweisen sich als ungesichert. Es steht also noch aus, daß erst energisch erkannt werde, daß hier überhaupt auf Grund dieser oder jener argumentativen Gegebenheiten ein metaphysisches Bezweifeln erfolgt. Der metaphysische Zweifel setzt selber nur t a t s ä c h l i c h voraus, was ihn als solchen ermöglicht, kann sich also nicht einmal selbst rechtskräftig sichern.

XXXIII. Provisorische Gültigkeit 232. Alle Behauptungen über das Argument, seine Elemente und seine Bedingungen, die wir in dieser Abhandlung gemacht haben, können sich letztendlich nur auf die Bewährung der sich im Argumentieren als notwendig erweisenden Voraussetzung der Wahrheit gewisser Annahmen gründen. Die Ausführungen unserer Theorie des philosophischen Arguments sind somit durch den metaphysischen Zweifel selbst infragegestellt. Sie bedürfen noch erst der Legitimation. Wir können von alledem, was sich bisher als unmittelbar phänomenal gewiß dargestellt und als notwendig zu denkende Bedingung erwiesen hat, noch nichts als in Wahrheit bewährt gelten lassen. Alles bisher als wahr Angenommene kann, da ihm seine Geltung nicht legitimerweise zugestellt ist, nur als provisorisch gültig zugelassen werden, und das solange, bis es sich in seinem Geltungsanspruch vor dem metaphysischen Bezweifeln und dem in letzterem indirekt wirksamen Anspruch der Wahrheit als definitiv gültig erweisen wird. Wir operieren dabei mit dem provisorisch Gültigen in der Hoffnung, mittels seiner zu einem definitiv Gültigen zu gelangen, das jenes Provisorium zugunsten einer reinen Affirmation auf- und ablösen wird.

233. In den letzten Überlegungen hat sich gezeigt, daß die bloße Faktizität der Annahme von Authentizität, selbst insofern sie sich als für alles Argumentieren notwendige Faktizität erwiesen hat, nach Maßgabe der sich im metaphysischen Bezweifeln bekundenden Idee von Wahrheit nichts zu bewähren vermag. D. h. wir erkennen im Lichte dieser Idee auch der faktischen Notwendigkeit dieser Annahme keine Legitimationskraft zu. Wir verlangen vielmehr erst einen energischen Evidenzvollzug aus etwas anderem als Faktizität und Notwendigkeit. Dabei bestimmt uns eine Idee von Wahrheit und Bewährung, die über die phänomenale Unmittelbarkeit und Denknotwendigkeit hinauszielt.

234. Das metaphysische Bezweifeln erweist sich dadurch, daß es mit einer Idee von Wahrheit und Bewährung operiert, die über die Idee faktischer Denknotwenhttps://doi.org/10.1515/9783110629200-035

XXXIII. Provisorische Gültigkeit

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digkeit noch hinausliegt, als selbst von der Idee einer solchen transzendentalen Wahrheit ermöglicht und delegiert. Es ist nur mittels des Anspruchs dieser Idee von Wahrheit und durch ihn wirksam, und nicht bloße Problematizität. Ob diese Delegation eine legitime und für uns legitimierbare ist, muß sich erst noch in dem geforderten energischen Evidenzvollzug erweisen.

235. Es wurde früher (in § 180) dargetan, daß dem philosophischen Argumente betreffs seiner Aussage über das Sein selbst des Bildes (esse ipsum imaginis) keine Freiheit gelassen ist, dieses Bildsein so oder anders anzusetzen, weil das Bild und dessen Sein in einem geistigen Handeln erstellt wird, das nur statthat, wenn der Geist eindeutig ist. Die phänomenale Unmittelbarkeit des Bildes selbst wird auch immer als ontische Unmittelbarkeit genommen (§ 154). Wird – was möglich ist – diese phänomenale und ineins ontische Unmittelbarkeit in einem erneut sich darauf beziehenden Bilde infragegestellt, so doch immer nur so, daß das infragestellende Bild seinerseits als phänomenal und ineins damit ontisch unmittelbar angesetzt wird (§ 155). Dadurch ergab sich ein Widerspruch in diesem Infragestellen, der seine Möglichkeit im Bereich eines nur mit faktischer und apodiktischer Einsicht operierenden Erkennens vernichtete. Es ist von großem Wert, einzusehen, wie es zu dieser Synthesis von phänomenaler und ontischer Unmittelbarkeit im Sein des Bildes kommt. Es ist Bedingung des Seins des Arguments sine qua non, daß ein Wissensbild gebildet wird, d. i. ein Bild eines Seins selbst. Dieses Bild wird dabei stets als Bild angesetzt, und das ist: als Bild seiner selbst. Bild seiner selbst ist das Bild aber nur, wenn sehendes und gesehenes Bild identisch dasselbe Bild sind. Dieses Bild mit seiner Bildidentität (in sehendem und gesehenem Bilde) wird phänomenal und ontisch unmittelbar angesetzt. Der Wesenscharakter des Bildes nötigt sowohl zur Entfaltung desselben in Sehendes und Gesehenes wie auch zum Ansatz der beidem zugrundeliegenden Identität. Das zugrundeliegende spezifische visum immediatum erzwingt jene Setzungen. Das phänomenal Unmittelbare läßt in diesem Falle nur Eine Weise der Synthesis zu. Die hierbei vorwaltende Notwendigkeit wird nicht als faktisch je und je immer wieder sich erweisende erfahren, sondern als eine d a s W e s e n des Bildes von sich begleitende eingesehen. Faktizität der Meinung (visum immediatum) und Notwendigkeit des Denkens sind dabei ineinander verschränkt. Zu der es allererst konstituierenden Grundwesenheit des Bildes von sich (in seiner phänomenalen und ineins damit ontischen Unmittelbarkeit) in ihrer notwendigen Identität mit sich selbst fügt sich die notwendige inhaltliche Be-

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Teil I

stimmtheit aller der Konsequenzen, die wir im Vorhergehenden verfolgt haben. Wir sehen also hier eine sich aus der Identität mit sich ergebende Notwendigkeit des Esselbstseins des Wissensbildes ineins mit einer sich daraus ergebenden Notwendigkeit von Folgen.

236. Dennoch ist mit dem in seiner Verschränkung von Faktizität und Notwendigkeit, phänomenaler und ontischer Unmittelbarkeit eingesehenen Sein des Bildes (in seinem Gebildetsein in sich) noch nicht die Authentizität dieses Seins erkannt. Das Bild weiß sich im Bilde von sich unmittelbar als solches. Aber ist es in Wahrheit auch, als was es sich im Setzen seiner selbst unaufhebbar weiß? Könnte es nicht durch einen unüberwindlichen Hiatus von seinem wahren Sein, also von sich selber getrennt sein? Wendet man gegen diese metaphysische Infragestellung ein, sie erfolge selbst (wie in § 231 gezeigt) in einem Bilden, setzte also schon wieder die Wahrheit des Bildes, die das Bild als solches von sich hat, in eben diesem Bezweifeln voraus, so ist dies zuzugeben, aber als ein neuerlicher Verweis auf Faktizität in ihrer Verschränktheit mit Notwendigkeit wegen der Ineffizienz dieser Art von Sicht als für die Wahrheitsbewährung nicht befriedigend abzuweisen, resp. nur provisorisch zuzulassen.

237. Es ergibt sich aus dieser Sachlage zugleich, daß sich das metaphysische Bezweifeln primär gar nicht auf das Sein, das im Argumente behauptet wird, bezieht, sondern auf die Bewährung desselben. Der Aufweis der wesensnotwendigen Seinsunmittelbarkeit im Bild des Bildes von sich kann diesen Zweifel deshalb nicht beheben; denn der Zweifel geht auf deren Bewährtheit. Das effektiv Bewährende muß nicht bloß das Sein (des Bildes) selbst, es muß auch – und zuvor – sein eigenes Bewährendsein bewähren.

238. Es wurden schon im Vorhergehenden bestimmte formale Merkmale herausgestellt, die dem sich Bewährenden zukommen. Das gebildete Sein darf (nach § 121) vom Sein selbst, das es bildet, nicht different sein, soll das Wissensbild ein Er-

XXXIII. Provisorische Gültigkeit

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kenntnisbild sein. Diese Nichtdifferenz des gebildeten Seins vom Sein selbst muß (nach §§ 122 u. 123) als solche eingesehen und, um eingesehen werden zu können, licht sein. Licht kann sie nur sein, wenn sie sich in diesem Eingesehenwerden in ihrer Authentizität kon- und affirmiert (nach §§ 124–126). Es fragt sich eben, wodurch eine solche Selbstlegitimation eintritt. Die aufgezeigten Merkmale verweisen als formale Merkmale auf ein über sie hinaus liegendes Moment, durch das sie erfüllt werden. Solange dieses eigentlich erfüllende Moment nicht eintritt, bleibt alles Behauptete nur provisorisch gültig. Wir haben mit Hilfe faktischer und apodiktischer ‚Evidenz‘ Bedingungen des philosophischen Arguments aufgezeigt, aber wir haben nicht erkannt, ob diese Bedingungen auch wahrhaft anzusetzende sind.

XXXIV. Die faktisch begründete Denknotwendigkeit als zur Begründung von Evidenz unzureichende 239. Die Denknotwendigkeit s c h e i n t eine zureichende Begründung der Evidenz zu sein. Aber sie ist es nicht. Sie scheint es zu sein, weil ineins mit ihr die faktische Unmöglichkeit, das Gegenteil zu denken, gegeben ist, so daß als allein mögliches Denken das Denken des Denknotwendigen übrigbleibt; und da es sich hier um dasjenige Denken handelt, durch das das Argument als solches ist, so scheint nur das Denken des Arguments als möglich übrigzubleiben. Wo immer argumentiert wird, muß das für das Sein des Arguments Notwendige angesetzt sein; es kann aber gar nicht anders als nur auf Eine Weise gesetzt sein, weil die andere Weise denkunmöglich, also gar nicht möglich ist.

240. Aber mit der Alternative eines anderen Denkens des Arguments und seiner Voraussetzungen ist nur dieses andere Denken, nicht aber das Nichtsein des Denkens überhaupt ausgeschlossen. Es bleibt die Möglichkeit, daß gar nicht argumentiert und somit gar nicht gedacht wird. Das Argumentieren kann überhaupt gar nicht erfolgen. Zwar wird diese Möglichkeit, daß nämlich überhaupt nicht argumentiert wird, ihrerseits hier wieder in einem Argumente angesetzt (und insofern wird im Widerspruch zum einfachhin Behaupteten in dem Behaupten desselben doch argumentiert); aber dieses höhere Argument wie das Argument überhaupt muß ja nicht (in Wahrheit) vollzogen sein. Soweit wir hier sehen, erweist sich kein Argument als unbedingt notwendig, vielmehr nur als bedingt oder faktisch notwendig. Man wird einwenden: aber ein solches überhaupt nicht Argumentieren können wir uns nicht denken, eben weil in einem solchen Denken schon wieder gedacht und argumentiert wird. Allerdings wird das absolute Nichts auch nicht gedacht. Wir können uns einem solchen schlechthinnigen Nichtdenken, dem Nichts, aber durch eine bestimmte Operation, durch die ein Grenzbegriff erzeugt wird, annähern. Unter einem Grenzbegriff wird hier ein Vorzustellendes verstanden, dem wir uns in der Vorstellung nur annähern können. Das Nichtargumentieren wird gedacht durch Negation des Argumentierens. In dieser Negation ist gedanklich das Argumentieren, das negiert wird, als dasjenige, in Bezug auf welches die https://doi.org/10.1515/9783110629200-036

XXXIV. Die unzureichende faktische Denknotwendigkeit

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Negation sich vollzieht und dessen sie zu diesem Zwecke bedarf, vorausgesetzt. Versucht man sich vorzustellen, daß die Negation ohne Bedürfnis eines zu Negierenden und ohne Beziehung auf es sei, daß sie also nicht Negation, sondern Nichts sei, so nähert man sich der hier im Grenzbegriff gemeinten gänzlichen Nichtargumentation. Im Ansatz dieses Grenzbegriffes wird dieser seinerseits in einem Argumente angesetzt („Es gibt eine Nichtargumentation“). Versucht man nun zu denken, diese höhere (die gänzliche Nichtargumentation ansetzende) Argumentation sei ihrerseits nicht, dennoch aber sei die gänzliche Nichtargumentation (als Nichts), so nähert man sich der gänzlichen Nichtargumentation. Zweifellos erfolgt dieser neue Ansatz wiederum in einer noch höheren Argumentation. Der Versuch führt also in einen unendlichen Regreß, bei dem sich auf jeder neuen Stufe wieder herausstellt, daß doch argumentiert wird. Logisch gesehen begehen wir mit der Annahme völliger Nichtargumentation einen Widerspruch. Aber dabei ist die Gültigkeit der Aussage, daß argumentiert wird, schon vorausgesetzt. Stellt man aber die Frage so, daß man fragt, ob in unserem putativen Argumentieren wahre Gültigkeit gegeben sein müsse, so sieht man, daß dies nicht der Fall zu sein braucht. Ohne wahre Gültigkeit fallen aber die Aussagen über das Wesen des Arguments und dessen notwendige Implikationen dahin.

241. Die Möglichkeit, das Gegenteil dessen, was notwendig gedacht werden muß, in einer Scheinbehauptung zu formulieren, könnte an dieser Stelle irreleiten. Es wurde aber bereits dargelegt (§§ 212 u. 213), daß Scheinbehauptungen garkeine Behauptungen, sondern bloße Systasen von Elementen und Momenten sind, die sich nicht zur Einheit eines Arguments vereinigen lassen. Der Aufforderung zu einer Bildung, die angeblich ein Argument sein soll, in Wahrheit aber eine Scheinbehauptung darstellt, läßt sich nicht nachkommen, denn sie verlangt, was unmöglich ist.

242. Im vorphilosophischen Bereich würde der im philosophischen Bereich angesetzten völligen Nichtargumentation ein völliges Nichtsein entsprechen, ein Nichtsich-Identifizieren mit irgendetwas.

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Teil I

243. Durch die Nichtnotwendigkeit des Gegebenseins von Gültigkeit (§ 240) wird nicht nur der grundfaktische Ansatz des Arguments infragegestellt; es werden auch alle Implikate desselben suspendiert. Das Argument wird dadurch bis in seine letzte, es tragende Voraussetzung, daß nämlich Wahrheit evident sei, vernichtet.

244. Die bedingte Notwendigkeit des Komplexes des am Argumente Denknotwendigen beruht als Notwendigkeit in sich auf zwei verschiedenen Faktoren. Mit dem bloßen Ansatz von Etwas als Etwas treten die logischen Prinzipien der Identität und (eventuell) des Ausschlusses des Widersprechenden in Funktion. Hier besagt die Denknotwendigkeit nur die Identität mit sich selbst und (eventuell) die Nichtidentität mit dem Verschiedenen. Darüber hinaus tritt aber mit dem Ansatz von Etwas als einem bestimmten Etwas noch eine andere Notwendigkeit in Funktion, nämlich die Notwendigkeit, alles das als gegeben und geltend zu denken, was durch das grundlegend material Angesetzte in jenem bestimmten Etwas mitgedacht werden muß (d. i. die inhaltlichen Folgen). Das zugrundeliegende Etwas ist in diesem Ansatz jedoch immer nur faktisch angesetzt.

245. Es ist dabei aber zu beachten, daß wir nicht erst dem mit dem Ansatz eines bestimmten Etwas (als Etwas überhaupt und als bestimmtes Etwas) Denknotwendigen Wahrheit zuerkennen müssen, sondern auch dem grundlegend faktisch Angesetzten. Wir gehen also immer von einer apodiktischen und einer faktischen Wahrheit aus. Im Vorhergehenden (§ 235) wurde gezeigt, daß im Sichsetzen des Argumentes als selbst seienden Seinsbildes (als imago ens) Faktizität und Notwendigkeit ineinander verschränkt sind: das Argument kann sich nicht phänomenal gegeben sein, ohne sich als ontisch unmittelbar anzusetzen. In dieser Verschränkung in der Grundwesenheit sind alle anderen Implikate begründet. Diejenige Denknotwendigkeit, die uns in diesem Zusammenhang insbesondere interessiert, ist die der Voraussetzung der Authentizität der Annahme.

XXXV. Die grundlegende Hypothese der Authentizität und ihre Ineffizienz, sich aus sich zu bewähren 246. Eine der mit der grundwesentlich notwendigen Faktizität sich als inhaltliche Konsequenz einstellenden Notwendigkeiten, und zwar die in dem jetzigen Untersuchungszusammenhange entscheidende Konsequenz, ist diejenige der vorauszusetzenden Authentizität des Argumentseins selbst. Soll das in Ansatz Gebrachte ein Argument sein, so muß sein (Argument)Sein an und in ihm bewährt sein. Das faktisch Angesetzte (nämlich das Argumentsein), das in dem hier behandelten Falle des philosophischen Ansatzes durch einen freien Akt des Geistes angesetzt ist („Soll etwas derartiges gesetzt sein …“), führt, unaufhebbar mit dem faktisch angesetzten Grundwesen verknüpft, die Notwendigkeit mit sich, bewährt sein zu sollen. Wer ansetzt, daß ein Argument sei, setzt notwendig ineins damit an, daß dies wahrhaft ein Argument, also daß das Angesetzte (Argument) als Argument bewährt sei („… so muß es wahrhaft etwas derartiges sein, d. i. als derartiges bewährt sein“).

247. Die Bewährtheit des Angesetzten als Argument wird hierbei aus dem Grundwesen des Angesetzten gefolgert, und zwar wird sie notwendig mit dem Angesetzten mitgedacht. Der Berechtigungsgrund für die Annahme, daß wahrhaft so gedacht werde, wird hierbei aber aus der notwendigen Grundfaktizität genommen. Eben darum ist die Evidenz der Authentizität des Ansatzes nicht energisch realisiert.

248. Der Ansatz eines Arguments inklusive seiner Authentizität resultiert im Falle des philosophischen Arguments aus einem freien Entschluß. Da im philosophischen Argument nichts angesetzt wird, was nicht vollbewußt ist, so sind wir uns in seinem Falle des freien Ansetzens bewußt; wir intuieren den freien Wilhttps://doi.org/10.1515/9783110629200-037

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Teil I

len, der den Ansatz des Arguments als wahrhaft Argument vollzieht und der es als solches hält. Wir intuieren auch, daß von dieser Seite her nur der freie Wille das Argument als solches hält.

249. Die sich mit dem faktischen Ansatz des Arguments manifestierende notwendige (faktische) Grundwesenheit einschließlich ihrer inhaltlichen und formalen Konsequenzen (und unter diesen auch einschließlich der Konsequenz des Wahrhaftseins) ergreift die im faktischen Ansetzen handelnde Freiheit als ein sie bindender Zwang, der im Vollzug des Ansetzens als solcher erfaßt wird. Die Freiheit muß nicht handeln; aber wenn sie handelt, so kann sie nur so handeln. Das lateinische Wort necessitas bringt durch seinen Zusammenhang mit dem Verbum necare (vernichten, töten) diesen Charakter der Denknotwendigkeit noch besser zum Ausdruck als das deutsche Wort Notwendigkeit. Das necessarium ist Bedingung des Seins selbst des freien Ansatzes, für den es deshalb seinskonstituierend und für den sein Fortfall seinsaufhebend bzw. -verhindernd ist.

250. Das Freisein im Ansetzen und Halten ebenso wie das Gezwungensein in der Weise des Ansetzens werden als modi des Willens ebenso wie dieser selbst einbzw. angeschaut. Freisein und Gezwungensein sind voluntative Komponenten des Arguments, und zwar wesentliche Konstitutiva desselben. Nur durch die Vereinigung des Setzen- und Haltenwollens und des dieses treffenden Zwanges ist das philosophische Argument als solches gegeben.

251. Das verschränkt faktisch und notwendig erfolgende Ineinandergreifen der beiden Konstitutivfaktoren Freiheit und Zwang artikuliert sich in der grundlegenden Hypothese des Arguments wie folgt: Soll (Ausdruck der Freiheit!) das Angesetzte Argument sein, so muß (Ausdruck des Zwanges!) es evident als solches bewährt sein. Diese Hypothese liegt in der Notwendigkeit des Faktums beschlossen, daß die Freiheit sich nur in der Wesenheit des Argumentes ansetzen kann.

XXXV. Die insuffiziente Hypothese der Authentizität

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252. Wir haben bereits erkannt, daß der Intuitus des Zwanges und die eingesehene Notwendigkeit nichts zu legitimieren vermag. Da aber das philosophische Argument auch durch einen Akt der Freiheit in Ansatz kommt, so fragt sich, ob es nicht von der Freiheit her legitimiert werden kann. Der Zwang manifestiert sich ja niemals substantiell, sondern immer nur an der sich setzenden Freiheit; und insofern ist die Denknotwendigkeit selbst von der ansetzenden Freiheit getragen. Wir sind uns unseres Willensaktes durch Einschauung faktisch bewußt. Dies gilt auch für den Modus des Genötigtseins, in den er sich im Vollzug seiner als Arguments versetzt sieht. Zu dieser Nötigung gehört auch der Zwang, Authentizität des Angesetzten annehmen zu müssen. Der Wille unterliegt diesem Zwange nur faktisch, wenn es sich auch bei dieser Faktizität um eine notwendige handelt. Die Einsicht einer Faktizität aber vermag nichts zu legitimieren.

253. So gewiß sich also phänomenal und ineins damit ontisch unmittelbar im Ansatz des Arguments als solchen der Ansatz seiner wahren Authentizität vollzieht, wo immer argumentiert wird, so vermag doch weder die Einsicht in die Notwendigkeit in diesem Vollzuge noch die in seinen freien Ansatz etwas zur Legitimation desselben beizubringen.

254. Es ist wertvoll, einzusehen, warum sich bloß vom Ansatz der Grundhypothese her keine Einsicht in deren Legitimität ergeben kann. Wir haben in dem zuvor Dargelegten zwei Arten der Einsicht: die Einsicht in den eigenen freien Ansatz und die Einsicht in die mit diesem sich einstellende und ihn ergreifende und zwingende Notwendigkeit. Diese Notwendigkeit ist ihrerseits wiederum eine doppelte: die Notwendigkeit eben dieses Faktums (daß das Argument als Seinsbild und darin Bild seiner selbst angesetzt wird) und die Notwendigkeit, die sich aus der Bestimmtheit dieses Faktums ergibt (u. a. – und hier wesentlich! – daß das in Ansatz Gebrachte für authentisch es selber angesehen werden muß).

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Teil I

255. Im Falle des freien Ansetzens wird das geistige Handeln selbst in dem, was es aus sich setzt, eingeschaut. (In unserem Falle ist das Gesetzte eben gerade dieses geistige Handeln selbst, als einfachhin Behauptetes in seinem Behaupten.) In diesem Intuitus geht das Schauen mit dem Akte zu seinem Produkt über; wir sehen also das Hervorgehen des Kausierten aus dem Kausierenden. d. i. wir sehen ein Sichbegründen.21 Nichtsdestoweniger ist dies Sehen nur das Sehen eines Faktums. Das Begründete ist nur faktisch begründet, d. i. durch den faktischen Willen hingestellt und gehalten. Ein Sehen eines solchen Kausierens, Hinstellens und Haltens ist nur Sehen eines Faktums, aus dem keine Legitimation gewonnen werden kann.

256. Wir schauen uns ineins mit dem freien Ansetzen als von der Notwendigkeit, so und nur so anzusetzen, gezwungen ein und schauen das Nötigende an. Der Unterschied zum Einschauen des freien Aktes ist dabei der, daß wir den Zwang und das sich in ihm Manifestierende wohl eintreten sehen, eine Ursache dafür aber nicht zu sehen vermögen. Das sich aufnötigende Faktum seinerseits führt für unsere Einsicht notwendige Konsequenzen mit sich. Auch darin wird die Freiheit genötigt, aber nicht zu einer Wirkung, zu der keine Ursache gesehen werden kann, sondern zum Fortgang aus dem Grunde zu den in ihm beschlossenen Folgen. Mit A sind B, C, D usw. gesetzt, und zwar so gesetzt, daß das Einsehen mit dem Ansatz von A ohne Hiatus in dessen Konsequenzen übergeht. Der Zwang, einsichtig überzugehen (– immer unter Voraussetzung der ansetzenwollenden Freiheit –), ist hierbei seinerseits ebenso ein in seiner Ursache uneinsichtiges notwendiges Faktum wie im Falle des faktischen Grundansatzes. Wir sind zum sich ergebenden Zusammenhang gezwungen ineins damit, daß wir im Erschauen des Zwanges zu einer Zusammenhanglosigkeit (desselben) gezwungen sind.

21 Vgl. „Transzendentale Methode.“ NS 1987. Bl. 13r: „Das Analysierte und Rekonstruierte darf nicht als objektives geistiges Gebilde verstanden werden, sondern im Akte des Vollzugs (Konstitutionsakt). Dazu gehören in hohem Maß subjektive Konstitutionsmomente.“

XXXV. Die insuffiziente Hypothese der Authentizität

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257. Die Basis des Ganzen bleibt auf der einen Seite ein faktisches Wollen, auf der anderen Seite das Faktum der Notwendigkeit. Das Faktum bloß als solches gibt aber nicht zu erkennen, ob es in Wahrheit ist, wie es sich präsentiert. Es kann also mit allem, was es mit sich bringt, keine energische Evidenz gewähren.

XXXVI. Die unmittelbare Selbstbewährung der Wahrheit 258. Es ist außer dem Vollzug der Freiheit in einem kausierenden Akte und der doppelten, damit einsetzenden Notwendigkeit noch etwas weiteres im Spiele, nämlich der die sich entscheidende Freiheit betreffende Wert.22 Das freie Sichbestimmen erfolgt ja immer mit Bezug auf einen Wert,K in unserem Falle auf den Wert der Wahrheit. Dieser Wert der Wahrheit ist seinerseits eine praktische Komponente des Arguments. Jeder Wert – und so auch der Wert der Wahrheit – ist von einem immanenten WillenL konstituiert. Das in ihm sich manifestierende Quale soll sein – sein im Sinne des Gehens und Bejahtwerdens. Dieser wertimmanente Wille manifestiert sich nach außen, d. i. für eine auf ihn eröffnete formale Freiheit, als Forderung des Anerkennens. Der Wert will von der auf ihn bezogenen Freiheit anerkannt werden, er soll nicht gleichgültig sein oder verworfen werden. Die betreffende Freiheit soll ihn bejahen; sie soll ihn positiv annehmen. Durch diese Manifestation nach außen wird der Wert zugleich zur Forderung der Realisierung. Denn die Anerkennung durch die formale Freiheit, der er sich manifestiert, kann nicht energisch erfolgen, ohne auch faktisch zu erfolgen. Sie soll aber erfolgen; sie soll also auch faktisch erfolgen. Damit erweist sich die vom Wert emanierende Forderung nicht nur als Geltungs-, sondern auch als Realisierungsforderung. In unserem Falle fordert die Wahrheit mit ihrem Erscheinen im Wissen realisierenden Ich nicht nur ihre wertmäßige Bejahung, sondern ineins damit auch ihre faktische Bejahung, d. i. ihre Realisierung im sie erfassenden wissenbegründenden Ich.

K D. h. es geht uns im Aussagen darum, Wahrheit zu realisieren; die Verwirklichung der Wahrheit ist uns angelegen, sie soll erfolgen. Das, was hier sein soll, was uns ein Anliegen ist, um das es uns geht, ist der Wert. L Anders ausgedrückt: dem Wert ist eine Tendenz immanent, eine Bejahung seiner selbst, ein willentliches Bekunden, daß er gelten und sein soll. Werte sind nur Werte, weil ihnen ein solcher Wille immanent ist. Sie sind keine gleichgültigen bloß faktischen Gebilde.

22 Vgl. „Theorie des Arguments.“ NS 1988/89. Bl. 2v: „Freiheit ist immer nur in Bezug auf Forderungen oder Werte gegeben. Freiheit ist nicht apodiktisch, sondern durch sich selber gerechtfertigt.“ https://doi.org/10.1515/9783110629200-038

XXXVI. Die unmittelbare Selbstbewährung der Wahrheit

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259. Jeder Wert fordert, aber nicht jeder Wert rechtfertigt und bewährt seine Forderung. Nur ausgezeichnete Werte tun dies. Der Wert der Wahrheit gehört zu den letzteren; er fordert nicht nur, er rechtfertigt auch aus seinem Sein diese Forderung. Er ist selbstbewährend; und darin liegt seine spezifische erkenntnistheoretische Relevanz. Wahrheit als Wahrheit offenbart unmittelbar aus und an ihr selbst ihr absolutes Recht. Die Absolutheit dieses Rechts besagt, daß es durch nichts rechtmäßig aufgehoben werden kann. Ihr Wertquale ist vollkommen rechtgebend. Das Recht der Geltung kann weder rechtmäßig bezweifelt noch erschüttert werden.

260. Da diese Absolutheit im qualitativen Wesen und Sein der Wahrheit gegeben ist, so kann sie auch nur durch Erfassung des qualitativen Wesens der Wahrheit erkannt werden. Formal läßt sich nur soviel einsehen und als notwendigerweise in allem Argumentieren als geltend angesetzt nachweisen, daß Affirmativität nur mit der Bewährung eines gebildeten Seins als Sein selbst gegeben sein kann. Daß aber etwas auf diese Weise bewährend ist und was es ist, das sich dergestalt bewährt, bleibt dem bloß formalen Denken verschlossen. Diese Qualität muß von demjenigen, der zur Einsicht des Wesens der Wahrheit kommen soll, selbst evidiert werden; und diese qualitative Evidenz kann die Philosophie von ihrer nur formalen Seite her nicht geben. Mit dem Aufgang dieser qualitativen Evidenz aber wird die zuvor nie erreichte, sondern immer nur faktisch und in dieser Faktizität notwendig angesetzte Wahrheit gewonnen. Die Wahrheit ist in ihrem Quale in und aus sich selbst wahr – diese Erkenntnis wird mit dem Eintreten der qualitativen Einsicht der Wahrheit energisch vollzogen.

261. Formal läßt sich darauf hinweisen, daß die Authentizität von Wahrheit als Wahrheit in dem ihr immanenten Willen liegt. Das Quale dieses Willens ist in ihm selbst in seinem absoluten Rechte licht. Diese Lichtheit ist untrüglich, weil jener immanente Wille der Wille zu sich selbst und damit kein Wille zum Trug ist, und weil er eben aus seinem qualitativen Sein heraus und in diesem licht

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Teil I

ist. Dieses Licht ist im energischen Evidieren der Wahrheit (in ihrer Qualität) hell und einsichtig und gewährt vollwertige Erkenntnis.

262. Die qualitative Wesenheit des absoluten Recht- und Lichtseins ist der Grund des quantitativen Charakters der Unwandelbarkeit der Wahrheit als Wahrheit. Der immanente Wille der Wahrheit ist ein sich absolut haltender und eben darum in allen Fällen, wo Wahrheit als Wahrheit vorhanden ist, unabänderlicher und unerschütterlicher. Dieser Wille ist zwar Wille, aber nicht Willkürwille, d. i. kein Wille, der sich ständig die Freiheit des Andersentscheidens vorbehält. Er ist vielmehr im Gegensatz dazu ein Wille, der sich so vollkommen bejaht, daß er alle anderen Möglichkeiten ein für alle Mal verwirft – eine absolut in ihrem Quale sich bejahende Freiheit. Die aus sich erfolgende Sichbegründung und die sich in ihrer Selbstbejahung bewährende Qualität sind hier nicht voneinander geschieden, sondern eine Einheit, die nicht zertrennt wird. Diese doxische Einheit besitzt ineins mit ihrer inneren Absolutheit äußere Unerschütterlichkeit. Es kann überhaupt nichts Rechtkräftiges gegen sie rechtens eingewendet werden, und sie wird in sich niemals ihre Rechtlichkeit beheben. Es ist ein vollkommen in sich geschlossener, sichbejahender Wille.

263. Mit der energischen Evidenz der Wahrheit in ihrem qualitativen Wahrsein ist eine erste, unmittelbare und de iure unanfechtbare Erkenntnis gewonnen. Von ihr aus muß das Argument als solches und die Seinsaussage im Argument gerechtfertigt werden. Gelingt dies, so werden die in faktischer und apodiktischer Evidenz erstellten Aussagen des Arguments, die bisher nur provisorisch gelten konnten, bewährt, und es wird ein Fundament gefunden, das alle weiteren Wahrheitsaussagen zu tragen vermag.

Theorie des philosophischen Arguments Teil II: [Seine Rechtfertigung und seine formalen und materialen Implikationen]

I. Wahrheit als erste Gewißheit 1. Mit der in ihrem Wahrsein eingesehenen Wahrheit ist in energischer Evidenz eine erste, unmittelbare und unanfechtbare Erkenntnis gewonnen. Uns interessiert nun, ob von der als solcher evidierten Wahrheit aus das Argument als Argument und im Argumente das, was es über das Sein selbst aussagt, bewährt werden kann. Unsere zuletzt (in I, Kap. XXXIV) gewonnene Grundhypothese lautete: Soll ein Argument wahrhaft angesetzt sein, so muß es selbst in seinem (angesetzten) Sein bewährt sein. Diese Authentizität des Arguments ist jedoch noch nicht gesichert. Alle unsere Aussagen über das Argument als solches sind immer noch nur erst provisorisch gültig. Bisher ist nur die Wahrheit der Wahrheit evident. Es stellt sich also die Frage, ob von der als solcher gesicherten Wahrheit aus eine Bewährung des Arguments in seinem Sein möglich sein wird.

2. Es hat sich (in I, Kap. XXXIV) herausgestellt, daß die Authentizität des Arguments nicht durch den nur hypothetischen Schluß auf die notwendig mit dem Sichformieren des Arguments anzunhemende Gegebenheit ebendieser Authentizität gesichert werden kann, da dieser Schluß von einem nur faktisch evident Angesetzten („Falls ich argumentiere …“) mittels apodiktischer Evidenz gezogen wird, beide Weisen der Evidenz, die faktische wie die apodiktische, aber aus sich keine Erkenntnis zu vermitteln vermögen. Wir müssen also alles, was wir provisorisch vom Argumente denken, als noch ungesichert von unserer energischen Erkenntnis der Wahrheit als Wahrheit abziehen.

3. Es ist deshalb gut, das Wesen der Wahrheit als Wahrheit zuvörderst rein herauszustellen. Wahrheit in sich ist eine relationslose Einheit und negationsloses Sein. In ihr ist kein Hiatus zwischen Bild und Sein; sie ist vielmehr die Einheit jenseits beider, nicht synthetischer, sondern thetischer Art, die wir mit dem Terminus Licht bezeichnen wollen. (Diese Bezeichnung nimmt auf eine Analogie zum physischen Lichte Bezug. Wie das physische Licht nämlich nicht eines Lichtes https://doi.org/10.1515/9783110629200-039

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von außen bedarf, um hell zu sein, sondern seine eigene Helligkeit ist, so bedarf das Licht als Wahrheit keines hinzukommenden Bildes, sondern ist In-sich-Helligkeit.) Licht ist die Wahrheit in ihrer Qualität. Die Helligkeit ihrer selbst besteht aber nicht nur im Lichtsein in Form der Nichtdifferenz von Bild und Sein, sondern als vollkommene Helligkeit auch in der ineins damit sich aktuierenden absoluten (rechtlichen) Bewährung ihrer selbst (Selbstlegitimation). Die Wahrheit bezeugt als Wahrheit sich selbst und verbürgt sich selbst. Sie ist absolut selbstbegründend und -bewährend, substantiell frei. Es ist in ihr weder ein Hiatus noch eine bloß synthetische Einheit formalen Wollens und wertimmanenten Wollens; beider Differenz ist vielmehr in der Wahrheit in einer vollkommenen Einheit vernichtet. In dieser Einheit wandelt die Wahrheit sich nicht und hebt sie sich nicht auf. Wenn wir sagen, die Wahrheit sei frei, und dabei denken, sie könnte sich auch anders setzen, tue dies aber aus sich nicht, so haben wir schon unsern Begriff einer Differenz des formalfreien Willens vom wertimmanenten Willen in sie hineingetragen, um diese Differenz dann freilich sogleich wieder in ihrer Gültigkeit zu vernichten. Dasselbe ist der Fall, wenn wir sagen, die Wahrheit sei Prinzip ihrer selbst (causa sui). Auch da wird nur der von außen herangetragene Unterschied von Prinzip und Prinzipiat in seiner Gültigkeit negiert. Daß wir die Charaktere der Identität, des Seins, der Einheit, des Prinzipseins und der Freiheit am Lichte unterscheiden, kommt nur davon, daß wir Verhältnisse des Bildens in die Wahrheit hineintragen, um diese Bestimmungen dann freilich an ihr in ihrer Differenz aufzuheben. Identität, Sein, Einheit, Prinzipsein und Freiheit sind im Lichte nicht geschieden, sondern es ist das Eine Licht selbst. Jeder innere Unterschied und jede Relation nach außen sind Weisen, wie das Licht notwendig ins synthetische Denken gefaßt wird, nicht Unterschiede und Relationen im thetischen Lichte und am Lichte selber. Das Licht selbst ist innerlich und äußerlich relationslos.

4. Diese Wahrheit ist nunmehr von uns evidiert. Aber dieser Evidenz kann vorerst rechtmäßig nur die Erkenntnis des wahren Seins der Wahrheit selbst entnommen werden, nicht die Erkenntnis des eigenen Wesens und Seins der Evidenz als Evidenz. Ob wir von der Wahrheit als Wahrheit erkennend zu irgend etwas anderem gelangen können, muß sich erst noch erweisen.

II. Unsere Erkenntnis der Wahrheit 5. Das Licht können wir auch als innere Erkenntnis ihrer selbst[,] der Wahrheit[,] bezeichnen, wenn wir nur den eminenten Begriff von Erkenntnis, wie er von der Wahrheit in sich gilt, nicht mit dem Begriff von Erkenntnis intern im Argument, verwechseln. Wo nun Wahrheit als Wahrheit erkannt wird, da ist diese innere Erkenntnis der Wahrheit natürlich in actu. Zugleich aber sei, so behaupten wir provisorisch, auch diese Erkenntnis in uns; und unsere Erkenntnis ist nach dem vorhergehenden (I, § 111) immer Erkenntniserkenntnis. Das Wesen der Erkenntnis kann nicht erkannt sein, ohne daß diese Erkenntnis existiert (nach I, § 132). Die Wahrheit als Erkenntnis existierte sonach in unserem Erkennen. Es fragt sich, ob wir schließen dürfen, daß unsere Erkenntnis (dieser inneren Wahrheitserkenntnis) existiert.

6. Der Schluß kann jedenfalls nicht so erfolgen, daß wir argumentieren: Wir erkennen die Wahrheit (– vorauszusetzendes Faktum!). Nun ist jede Erkenntnis Erkenntniserkenntnis und als solche wirklich (nach I, § 132) (– Apodiktischer Nexus!). Also existiert diese Erkenntnis auch (in uns). Denn dann schlössen wir aus etwas, das wir im faktischen Ansatz des Arguments notwendig denken müssen. Weder ist aber das, was wir faktisch ansetzen, noch das, was notwendig im Argument gedacht werden muß, dadurch, daß es sich faktisch bzw. apodiktisch ergibt, legitimiert. Die Wahrheit könnte in ihrer Authentizität licht sein, und doch könnte das Seinsbild, in dem sie manifest ist (besser: zu sein scheint), lediglich als Seinsbild genommen (nicht sein Inhalt!), nicht wahrhaft das sein, für was es sich nimmt. Zwar müssen wir denken, daß die innere Erkenntnis (in der Wahrheit) in uns als Erkenntnis da ist, daß also die Identität in ihrer Selbstrechtfertigung gebildet ist, aber dieser Ansatz des in uns Gebildetseins des Lichtes in seiner inneren authentischen Identität stellt nichts anderes als das notwendige Sichsetzen des Bildes in seiner phänomenal-ontischen Unmittelbarkeit dar, dessen wahre Gültigkeit aber noch nicht verbürgt ist.

7. Wir stehen also vor der Möglichkeit, daß in der Wahrheit zwar authentisches Sein erkannt ist, daß wir aber in diesem authentischen Sein blockiert bleiben. https://doi.org/10.1515/9783110629200-040

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Nur falls sich die Möglichkeit einer legitimen Ausweitung der Erkenntnis zeigt, können wir hoffen, zu weiterer Einsicht zu gelangen. Nun läßt sich nach allem zuvor Dargelegten schon vorweg einsehen, daß das Mittel einer solchen Ausweitung nicht der Rekurs auf die grundwesentliche Phänomenalität oder die Denknotwendigkeiten in derselben sein kann, eben weil aus Faktizität und Apodiktizität allein nichts legitimiert werden kann. Die Frage ist, ob es noch ein anderes Mittel gibt.

III. Wahrheit als absolute Forderung ihrer selbst 8. Die Wahrheit bewährt sich (nach I, § 257) selbst. Sie stellt nicht nur eine absolute (Rechts)Forderung ihrer selbst, sondern i n e i n s damit eine Erfüllung dieser Forderung, d. i. eine absolute (rechtliche) Selbstbewährung dar. In dieser Weise manifestiert sie sich auch der Evidenz, die sie erfaßt. Auch die Differenz von Bewährung und Forderung ist nicht in der Wahrheit, sondern eine Unterscheidung, die aus dem synthetischen Erkennen von uns an die Wahrheit herangetragen wird, um zu erkennen, daß sie in ihr nicht gegeben ist, vielmehr nur eine höhere thetische Einheit. Indem die Wahrheit als solche erfaßt wird, wird die in ihr liegende absolute Forderung miterfaßt. Diese Forderung bezieht sich aber nicht nur auf das innere Gesolltsein der Wahrheit in sich (das in der Wahrheit ja auch immer schon erfüllt ist), sondern sie nimmt im Evidiertwerden eine Wendung nach außen und manifestiert sich als Forderung an den Evidierenden, er solle Wahrheit als Wahrheit erfüllen, d. h. aber in sich anerkennen und realisieren. In dem die Wahrheit Bildenden ist aber diese Annahme und Verwirklichung derselben nicht einfachhin da, sondern nur durch einen Akt sich vollziehender Freiheit.1 Die Wahrheit fordert von dem sie Bildenden diesen Vollzug.

9. Das im Erscheinen der Wahrheit emanierende Sollen unterscheidet sich wesentlich von dem hypothetischen Sollen der aufgestellten Grundhypothese des Arguments durch den Charakter absoluter Kategorizität. Das Soll der Grundhypothese ist zunächst hypothetischer Natur: „Falls ein Argument sein soll …“. Es wird lediglich durch einen Akt des formalfreien Bestimmens kategorisch gemacht: „Nun soll ein Argument sein …“. Doch diese Kategorizität ist keine absolute, sondern nur eine bedingte. Sie besteht nur dann (und nur solange), falls (und wie) sie durch einen freien Akt des Kontendierens angesetzt und gehalten wird. (Hier wäre also in Wahrheit eine durch freie Willkür bedingte Kategorizität.) Das aus der Wahrheit emanierende absolute Soll fordert hingegen, durch nichts anderes getragen, unwandelbar und ohne sich

1 Vgl. „Theorie des Arguments.“ NS 1988/89. Bl. 16r: „Nur wenn ich mir die Wahrheit als Zweck (in freiem Bezug) setze, kann Wahrheit überhaupt stattfinden.“ https://doi.org/10.1515/9783110629200-041

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je aufzuheben, weil es nicht (erst) durch einen freien Willen aufgestellt, sondern die Wahrheit selbst ist. Die Absolutheit dieses Sollens wird sich auch darin erweisen, daß es, im Gegensatz zu dem bloß faktisch-kategorischen Sollen, zu bewähren vermag.

10. Das erscheinende Soll der Wahrheit ist, eben weil erscheinend, rein formal bestimmt: ein Wille, der sich an einen Willen richtet: nämlich an den (hypothetisch angesetzten) Willen dessen, der die Wahrheit und sich als unerfüllt bildet. Das absolut kategorische Soll ist nichts anderes als der der Wahrheit als Wert innerliche Wille,2 der hier im Erscheinen emanent wird. Während aber dieser innerliche Wille der Wahrheit in der Weise immanent ist, daß er mit dem erfüllenden Willen eine absolute thetische Einheit ist, tritt er als emanenter dergestalt heraus, daß seine Erfüllung in der (immer noch hypothetisch angesetzten) Erscheinung nicht ist, vielmehr freigelassen ist, und zwar faktisch frei. Nur durch die faktische bejahende Annahme seitens des Bildenden kann es zur doxischen Erfüllung des aus der Wahrheit Geforderten kommen. „Eminent“ ist die (unerfüllte) Forderung als Erscheinung für den, dem sie sich stellt, nicht von Seiten der Wahrheit in sich.

11. Um durch das Wort „emanieren“ nicht irrezuführen, kann man das hier angesprochene Verhältnis auch so formulieren, daß man sagt: im Erscheinenden trete eine unerfüllte absolute Forderung auf und werde als absolute verstanden. Es ist, so gesehen, ein der Erscheinung immanentes Moment besonderer Art, nämlich ein absolut kategorisches.

12. Bei den Überlegungen, die wir an dieser Stelle vollziehen, ist niemals außer Acht zu lassen, daß ein wahrhaft Erkanntes (nämlich die Wahrheit und die ihr

2 Vgl. „Theorie des Arguments.“ NS 1988/89. Bl. 15v: „Wahrheit als Wahrheit liegt in dem in ihr liegenden Willen.“

III. Wahrheit als absolute Forderung ihrer selbst

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innere Forderung) mit einem nur provisorisch für gültig Angenommenen vermittelt wird. Solange kein dies letztere schlechthin Legitimierendes ins Spiel gebracht werden kann, bleibt abzuwarten, ob das provisorisch Angenommene gerechtfertigt werden wird, um alsdann als wahrhaft Gültiges legitim verarbeitet zu werden.

13. Nun ist nach der Konzeption, die wir vom argumentierenden Bilden notwendig haben müssen, das Freigelassensein des Bildes (und insofern seine Freiheit) durch die absolute Forderung aus der Wahrheit keineswegs akzidentell, sondern wesenskonstitutiv (I, § 63). Das Argument ist nur als solches da, sofern es Bezug auf die Wahrheit nimmt und darin deren Forderung und sein Freigelassensein durch diese konzipiert. Dies findet seinen Ausdruck in dem Wesensmerkmal des Arguments, Realisation von Wahrheit sein zu wollen. Diese Intention ist freilich frei, d. i. es bleibt zugleich ihrer Selbstbestimmung überlassen, dies forderungskonform zu tun oder nicht.3

13a Jedenfalls kann gar keine unerfüllte Forderung auftreten, ohne daß die Unerfülltheit als solche perzipiert und erlebt, d. h. aber, erlitten wird. Der Charakter der Unerfülltheit manifestiert sich als Erlebnis des Mangels, als Fehlen von etwas, um das es geht.

14. Die aus der Wahrheit kommende Forderung besagt: „Wahrheit soll gelten!“ In der Wahrheit ist diese Forderung immanent schlechthin eins mit ihrer Erfüllung. Nicht so in unserem Argumentieren: Das Argument muß sich angesichts

3 Vgl. „Bedingungen der Philosophie.“ NS 1990. Bl. 8r: „Wahrheit soll sein – zu dieser Forderung entscheiden wir uns positiv oder negativ (Wahrheit wollen oder tun). Wir sind nur im Realisieren (als aktiver Vollzug) einer Aufgabe, der wir entsprechen können oder nicht. Sie setzt frei zur Stellungnahme und macht in dieser Entscheidung die eigene Position deutlich, in Bezug auf die ursprüngliche ,Intention‘ (Aufruf).“

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der ihm gestellten Aufgabe erst in einer gewissen Weise vollziehen, damit die Forderung faktisch (und ineins damit auf eine noch genauer zu bestimmende Weise doxisch) tatsächlich erfüllt wird.

15. Eine Forderung ist, bloß formal als Forderung genommen, nicht dadurch, daß sie Forderung ist, in dem, was sie fordert, auch schon gerechtfertigt. Dies gilt aber nicht für die aus der Wahrheit hervortretende Forderung. Vielmehr ist diese, als Forderung (in) der Wahrheit, in sich selbst als Forderung gerechtfertigt. Sie bringt als zurecht erhobene Forderung ihre Bewährung unmittelbar mit sich. Sie wird deshalb auch zurecht als gültige Forderung angenommen. Tatsächlich ist diese Wahrheit der emanierenden absoluten Forderung nichts anderes als die Wahrheit der (erscheinenden) immanenten Forderung in der Wahrheit selbst, die sich in dieser freilich ineins erfüllt, anders als in ihrer erscheinenden Form.

16. Man könnte an dieser Stelle einwenden, die absolute Forderung sei doch in ihrem Erscheinen für das Argumentieren ein Faktum; was aber nur faktisch evident sei, sei insofern nicht schon legitimiert. Dieser Einwand hält aber nicht stand, wenn bedacht wird, daß die absolute Forderung ja als energische Forderung (vgl. I, § 258) hervortritt, und nur mitlaufend als Faktum erscheint. Das in sich Gerechtfertigte ist die Forderung in ihrem energischen Soll, und durch die Legitimität dieses Soll ist auch seine Faktizität bewährt.

17. Weil die Forderung aus der Wahrheit recht und gültig ist und ihre Rechtheit im Evidieren der Wahrheit mitevidiert wird, wird nun nicht nur das innere Wesen der Wahrheit, sondern auch die aus ihm heraustretende Forderung, daß Wahrheit angenommen werden soll, als absolut wahr und recht erkannt. Diese (emanierende) Forderung bezieht sich aber hier in ihrem Fordern auf das Argument. I n i h m soll Wahrheit angenommen werden. Das nur faktisch-apodiktisch und eben deshalb nur provisorisch angenommene Argument wird von der absoluten Forderung in deren Fordern betroffen. Das Argument erweist sich als absolut gefordert.

IV. Die Annahme der absoluten Forderung 18. Wie sich früher (als provisorisch gültig) ergeben hatte, ist das Argument ein Sichbilden mit Beziehung auf Wahrheit, in dem wesensnotwendig auch Wahrheit als solche gebildet wird. (I, Kap. IX u. X) Auch stellte es sich heraus, daß das Sichbilden (nicht das einfache Bilden!) nur unter Annahme der Wahrheit stattfinden kann (I, § 154). Diese Annahme der Wahrheit bedeutet ineins das Manifestwerden der Wahrheit selbst und der aus ihr emanierenden Forderung. Wir können also insofern garnicht argumentieren, ohne die Wahrheit und deren Forderung zu erblicken, und zwar beide als in sich gerechtfertigt. Diese Annahme ist Behaupten, das sich seinerseits nur in Form des Sichbildens bildet.

19. Die positive Annahme der Wahrheit erfolgt nicht notwendig, sondern in einem freien Vollzug, der sich von der erscheinenden Forderung her als solcher versteht. Diese Forderung stellt sich als solche nur als eine Aufgabe dar. Die positive Annahme ist die Lösung dieser Aufgabe. Die Lösung ist in zweifacher Hinsicht als frei anzusehen: sie muß überhaupt nicht erfolgen, sondern kommt nur zustande, wenn sich das anhebende Argumentieren in freier Eröffnung der Forderung zuwendet. Geschieht das, so muß zwar eine Stellungnahme bezüglich der aus der Wahrheit emanierenden absoluten Forderung erfolgen; doch sie kann annehmend oder abweisend erfolgen. Zwar muß das Argument, indem es sich zur Stellungnahme formiert, im Sichbilden stets Wahrheit für sich in Anspruch nehmen („Ich bin Argument“), aber dies braucht nicht affirmierend, es kann auch nur kontendierend erfolgen. Die in der Evidenz aufleuchtende Wahrheit und deren Forderung können in der Weise abgewiesen werden, daß sie im Sichbehaupten eben nur kontendiert werden.

20. Die grundwesentliche Notwendigkeit, insoweit Wahrheit anzunehmen, bedeutet also nicht die Notwendigkeit, die Wahrheit auch wirklich zu affirmieren. Vielmehr kann sehr wohl ein non serviam dazwischentreten und die allerdings notwendige Annahme zu einer nur faktisch kontendierten werden lassen. https://doi.org/10.1515/9783110629200-042

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Müßte die Annahme aber auch – was nicht der Fall ist! – notwendig affirmiert werden, so könnte doch d i e s e Notwendigkeit der Affirmation die Annahme nicht rechtfertigen. Zur Legitimation der Annahme als einer wahren bedarf es eines anderen als eines notwendigen Grundes, nämlich der freien doxischen Bejahung.

21. Die Annahme ist von Seiten des Arguments immer nur eine faktische. Ich muß, soll wahre Erkenntnis eintreten, das hypothetische Geltensollen meiner Annahme aus seiner anfänglichen Problematizität herausführen können. Nur durch ein freies derartiges Tun kommt die authentische kategorische Annahme zustande. Allerdings muß eine Erhebung in die Kategorizität erfolgen, wenn überhaupt eine Behauptung sein soll. Doch diese Kategorizität ist soweit nur erst eine faktische, und ihre Faktizität vermag diese Kategorizität nicht als absolute zu rechtfertigen.

22. Wahrheit in sich ist, wie erkannt (II, § 3), nicht nur absolut fordernd, sondern ineins auch absolut bewährend. Nun gilt das, soweit wir bisher einsehen konnten, nur von der Wahrheit in sich. Insofern die absolute Forderung aber im Erscheinen hervortritt, erfüllt sie, was außerhalb ihrer gesetzt ist, (nach II, § 10) nicht ipso facto ineins mit ihrem Erscheinen. Bewährt zeigt sich nur ihr absoluter Rechtsanspruch (nach II, § 13). Vielmehr läßt die Forderung frei; sie manifestiert sich lediglich als Aufgabe.

23. Der Wille, an den sich das Postulat richtet, erfaßt sich ipso facto als einen solchen, der argumentieren soll, und zwar um das im Argumentieren vorerst nur Geforderte zu realisieren. (Wäre er schon erfüllt, so wäre er nicht das der bloßen Forderung entsprechende Unerfüllte.) Es liegt im Willen als Aufgeforderten, was er auf Grund der Aufgabe vollzieht. Nimmt er durch eine bestimmte Weise seines Sichsetzens die Wahrheit an, so setzt er die Wahrheit ihrer Forderung gemäß in sich faktisch an.

IV. Die Annahme der absoluten Forderung

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24. Allein von seiner Seite her gesehen, setzt das Argument rein faktisch das Gelten der Wahrheit und ihrer Forderung. Aber synthetisch ineins mit dieser Annahme vollzieht das Argument als solches, was von der Wahrheit her als fundierend gefordert ist. Das absolut Geforderte und das in der Annahme Realisierte als solches sind dasselbe; sie sind, wie wir uns terminologisch ausdrücken wollen, deckungsgleich. Ist ein derart Angenommenes mit einem absolut Geforderten deckungsgleich, so ist es, weil es dies ist, von der Wahrheit her bezeichnet und bezeugt, d. i. als gerechtfertigt erhellt. Damit erhält das der absoluten Forderung entsprechend Realisierte von Seiten der Wahrheit seine Bewährung. Es ist wahrhaft dies. Die Wahrheit macht das, was von der Seite des Arguments allein her nur faktisch angesetzt und in nur faktischer – und, wie sich noch zeigen wird, in diesem Falle auch apodiktischer – Evidenz erblickt wäre, genetisch evident und damit energisch geltend wahr.

25. Die Wahrheit hat die Kraft, dasjenige zu genetisieren, was, wenn es gesetzt wird, ihrem Postulat entspricht und somit in seinem Inhalte mit dem Gehalt der Forderung deckungsgleich ist. Das Geltensollen der Annahme (Supposition), das sonst nur durch Hypothese kategorisch wäre, nimmt in der Supposition absolut kategorischen Charakter an (Akzeptation). Die Annahme ist dadurch nicht nur der Kontention nach, sondern affirmativ wahr. Die Bezeichnung und Bezeugung[,] d. i. die Bewahrheitung durch die absolute Wahrheit darf nicht als eine äußerliche Zubestimmung angesehen werden, so als ob das (gebildete) Sein seinerseits unerhelltes Faktum (für sich) bliebe. Sie ist vielmehr dessen inneres lichtwerden. Das dergestalt Erhellte wird in unmittelbar genetischer Erkenntnis als „wahr bezeugt“ eingesehen (nicht etwa nur geglaubt).

V. Die Struktur der Annahme 26. Die im vorhergehenden herausgestellte Annahme ist als die Grundlage alles Argumentierens anzusehen, und, insofern sie gerechtfertigt ist, als die Grundlage alles philosophisch-wissenschaftlich zu bezeichnenden Argumentierens. Die Annahme stellt den Vollzug einer Aufgabe dar, die dem Geiste als Geist gestellt ist. Der in der Aufgabe angehobene Sinn (das Anzunehmende) wird in der Akzeptation vollendet, d. i. so genommen und gestellt, wie aufgegeben, und insoweit vollendet.

27. Die Annahme kommt nie als ursprünglich fertiges Faktum vor, sondern ist nur als Akt (fiens), durch den es erst (in der Folge) zu einem abgeschlossenen Faktum kommt. Deshalb kommt es nur dann zu ihr, wenn ein Akt vollzogen wird. Die Annahme ist nicht fertighin, sondern sie bringt sich selbst zustande. Sie ist nur im Sichselbstbilden da.

28. Die Aufgabe ist durch drei verschiedene Momente konstituiert, die synthetisch verschränkt sind: durch die Forderung, die Grundintention und die freie Zuwendung. Die Aufgabe, Wahrheit zu bejahen, tritt aus der erscheinenden Wahrheit als Forderung hervor (die ihrerseits deshalb, weil sie Forderung der Wahrheit, als Forderung der Wahrheit gerechtfertigt ist). Diese Forderung, da nur Forderung (und nicht Erfüllung ineins), ist als solche nur da für einen Willen4 (Intention), der sich erfüllen will. Sie führt aber ihre Erfüllung im Aufgeforderten nicht schon ineins mit ihrem bloßen Erscheinen von sich aus herbei. Da die Forderung für das Grundwesen des Arguments als solchen konstitutiv ist, entspricht ihr (als wesensgemäß an Willen gerichtet) im Argumentierenden eine ihm eigene Grundintention. Dies besagt, daß sich die Annahme garnicht bildet, wenn nicht bezogen auf die der Forderung eigene Intention im Modus der möglichen (freien) vollen oder teilweisen Verwirklichung dieser Forderung.

4 Vgl. „Theorie des Arguments.“ NS 1988/89. Bl. 16v: „Wahrheit als Wahrheit. Forderung – Erfüllung. Freiheit ist so gefordert, daß sie sich in der Forderung mit der Erfüllung eint.“ https://doi.org/10.1515/9783110629200-043

V. Die Struktur der Annahme

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Die Grundintention ist auf das Projekt der Bejahung der Wahrheit, der Forderung gemäß, gerichtet. Aber weil sie nur Intention, d. i. nur Tendenz und nicht schon Vollzug ist, realisiert sie allein noch nicht; sondern sie ist ihrerseits nur ein Sich-Aufgeben eines solchen Projekts, dessen Vollzug auf ein entsprechendes Begehren und eine Verwirklichung im freien Wollen angewiesen bleibt. Sie kann sich nur ineins mit einem Akt dieses freien Willens, der betreffs des Projekts entscheidet, konstituieren. Grundintention und Entscheidung kommen ihrerseits gleichfalls nur im synthetischen Nexus vor. Wird die Forderung vernommen, so ist auch ineins damit die Grundintention im Spiele. Zu diesem Verhältnis muß, hat es sich einmal konstituiert, eine Entscheidung treten. Frei ist an dieser Entscheidung nicht, daß sie fällt, sondern wie sie ausfällt. Es ist jedoch unter der genannten Bedingung unmöglich, daß keine Entscheidung fällt, da es uns grundwesentlich um Wahrheit geht. Die Entscheidung besteht in einer bestimmten Willensbildung mit Bezug auf das sich Fordernde. Die erscheinende Forderung und die ihr notwendig korrespondierende Grundintentionalität sind niemals nur für sich allein (d. i. ohne Entscheidung) da; sie sind nur als Momente einer anhebenden Figuration, d. h. sie bilden einen präformierenden Horizont, zu dem ineins damit eine sich realisierende Performation tritt, eben die (auf der Grundlage des Begehrens) freie Entscheidung. Nur die Formation aus allen drei Elementen bildet das Argument. (Daß hernach in abstrahierender Reflexion diese Momente für sich zum Inhalt von Argumenten gemacht werden können, ändert nichts an ihrem Status im Sichbilden selber.)

29. Die Freiheit ist als Spontaneität indes schon anbahnend in der Formation der Aufgabe im Spiel, indem es nur durch eine Zuwendung zum Erscheinen der Forderung und zur Klärung der Grundintention kommt. Im Akte der Attention (im Falle der vollbewußten Reflexion: des Inbetrachtziehens) wird die Aufgabe bewußt. Diese Bestimmung zur Konzeption der Aufgabe ist noch nicht mit der Entscheidung bezüglich dieser Aufgabe identisch. Sie bedeutet lediglich ein grundwesentliches Sicheinlassen auf [eine] Forderung überhaupt, das zur Konstitution der Annahme zwar notwendig, aber nicht hinreichend ist.

30. Das Ineinandergreifen der Attention einerseits und der Forderung andererseits in der sich konstituierenden Grundintention bedeutet, daß das anhebende Ar-

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gument ein Sich-Aufgeben darstellt. Der Geist gibt sich die Aufgabe, durch die er sich allererst zum Argument formieren kann, und dies wiederum nur, indem er zugleich damit eine Entscheidung bezüglich dieser sich gegebenen Aufgabe fällt. Alle genannten Momente tendieren insofern auf dasselbe, nämlich die Konstitution einer freien Annahme. Dies ist besonders bei der Attention zu unterstreichen. Das Attendieren geht auf das Vernehmen der Aufgabe als solcher aus. Die Aufgabe kann aber nicht vernommen werden, ohne daß zugleich eine Entscheidung mit Bezug auf sie fällt. Freilich ist dadurch nicht vorbestimmt, in welchem Sinne die Entscheidung gefällt wird.

31. Durch das Sicheinlassen in der Attention auf die Forderung, daß Wahrheit gelten solle, eröffnet der Geist sich der Wahrheit, durch die er sodann in allem, was er sein wird, mitbestimmt, ja mitkonstituiert sein wird. So ist das Argument von Anfang an grundwesentlich in den Horizont geforderter Wahrheit gestellt. Indem es sich formiert, kann es diese Frage nicht mehr eliminieren, weil sie sein Sein bedingt.

32. Mit der so skizzierten Aufgabe verbindet sich synthetisch die eigentliche Entscheidung als Lösung derselben. Diese Entscheidung ist das Korrelat zur sich in der Forderung manifestierenden Wahrheit; sie ist ein Bilden, und zwar, weil sie ohne Freiheit gar nicht sein könnte, ein Bilden zunächst als Sichbilden zu dem, was das Argument dadurch ist.5 Dieses Sichbilden erfolgt als ein Ingeltungsetzen, zunächst des Arguments formal als solchen selbst, sodann des in ihm einfachhin Angesetzten bezüglich der inhaltlichen Forderung der Wahrheit.

33. Die auf diese Weise konstituierte Annahme ist somit wesentlich ein Willensvollzug.A Nur indem willentlich gehandelt wird, kann das Argument realisiert werA Vgl. Descartes’ „Principia philosophiae.“ I, Nr. 34. 5 Vgl. „Transzendentale Methode.“ NS 1987. Bl. 21r: „Bilden ist ein praktischer Akt, in dem es um Wahrheit geht, und daß sie sich bewährt. Sie bildet sich nur in der praktischen Intention.“

V. Die Struktur der Annahme

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den. Man beachte an dieser Stelle insbesondere, daß diese praktische Erstellung nicht nur durch die freie Entscheidung, sondern – damit schon konnektiert – durch die präludierende Attention und ein bestimmtes Ineinandergreifen der Forderung und einer eigenen Intentionalität zustandekommt. Erst unter der Gegebenheit dieser Voraussetzung kommt es zum wirklichen geistigen Aktvollzug, der dann in einem handlungsinitiierenden Vollzug seine Fortsetzung finden mag.

VI. Das Gesamtbild in seinem Aufbau 34. In der Annahme ist nicht nur die Wahrheit als solche gesetzt, auch nicht nur die mit der Wahrheit hervortretende Forderung, sondern, ineins damit, die Annahme als Annahme selbst, eben als Annahme der Wahrheit in einem tatsächlichen Geltendmachen, das ja nur im Bilde seiner selbst sich realisiert. In der Annahme wird also nicht nur die (fordernde) Wahrheit als solche hell, sondern es wird auch das Bilden dieser Wahrheit in der Form des Geltendmachens seiner selbst vollzogen. Die Wahrheit als solche kann nicht gebildet werden, ohne daß zugleich damit auch das Bilden (als ein Geltendmachen) sich selbst als seiend bildet.

35. Dieses Bilden ist seinem Wesen nach eine in spontaner Attention eingeleitete formale Synthesis aus absoluter Forderung und (durch eine Grundintention getragene), formal-freier Stellungnahme. Es ist diese Synthesis aber nur im Bilde seiner selbst, eben weil es nie nur einfachhin faktisch ist, sondern nur das ist, zu was es sich macht, dies Machen aber ein Vollzug der Freiheit ist. Geltendgemacht wird also stets notwendig auch das eigene freie Bilden, als dieses synthetische Geltendmachen. Die Annahme ist stets Bilden ihrer selbst als authentisch Annahme. Im nun folgenden sei das Bilden der Wahrheit selbst und das der aus ihr hervorgehenden Forderung das obere Bild genannt, dem als ein ihm zugrundeliegendes das Bild dieses Bildens selbst notwendig beigesellt erscheint. Da dieses gebildete Bilden seinerseits als ein selbst sein (esse ipsum) transimaginativer Art gebildet wird, also sein authentisches Sein aussagt, soll dieses Bild von sich als mittleres Bild bezeichnet werden. Das transimaginative Sein aber, das es als authentisch setzt, wollen wir das untere Bild nennen.

36. Das mittlere Bild (des Bildens selbst) zerfällt seinerseits notwendig in zwei Teile, die wir ihrerseits als die apodiktische und die faktische Gegebenheit bezeichnen können, indem es notwendig Bild dessen, was es seinem Wesen als Bild https://doi.org/10.1515/9783110629200-044

VI. Das Gesamtbild in seinem Aufbau

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nach immer ist, und Bild dessen, was es als Argument aufgrund seines Freiheitsvollzuges in bestimmter Bestimmung ist, ist.

37. Die Annahme des unteren Bildes wird dadurch als berechtigt erwiesen, daß gesichert werden kann, daß das Bild in dem, was es in seiner besonderen Bestimmung real ist, notwendig Bild eines transimaginativen Seins ist, das eben im Falle einer solchen Absicherung bezeichnet, d. i. dessen Annahme absolut gefordert ist. Als solches Bild ist es mehr als nur Bild seines eigenen Bildseins und zwar Bild eines in ihm gebildeten transimaginativen Seins, nämlich Bild eines authentischen Seins selbst.

38. Wir haben im ersten Teil dieser Abhandlung (I, § 10) provisorisch erkannt, daß die Geltungserhebung der eine (allerdings nicht unabhängig von dem anderen Teile, der Grundsynthesis) als wesensnotwendig erscheinende Teil des Arguments ist. Das Argument setzt immer in Geltung. Das, was inhaltlich in Geltung gesetzt wird, kann die Wahrheit selbst, es kann das Bild selbst und was zu diesem gehört, es kann endlich ein Sein transimaginativer Art sein. Die Geltungserhebung ist ein freier Akt. Der formale freie Wille geht in diesem Akte eine Synthesis mit der fordernden Tendenz (aus der Wahrheit) ein. Die Forderung (aus der Wahrheit) postuliert kategorisch die Wahrheit[,] und sie selbst, als das aus dieser emanierende Prinzip[,] soll gelten. Diese Forderung ist nicht die in der Wahrheit absolut erfüllte Forderung, sondern eine Forderung, daß durch ein Geltendmachen durch die formale Freiheit im Bilde das, was sie fordert, realisiert werde.

39. Nun tritt die Wahrheitsforderung nicht emanierend hervor, ohne daß nicht auch die Geltungserhebung im Argument erfolgt. Das obere Bild (vgl. II, § 35) erscheint also nur, indem eine Geltungserhebung im Bilde, welche das gültige Sein des Bildes selbst betrifft, erfolgt, also immer im Nexus mit dem mittleren Bilde. Dieses Geltendsetzen ist vom oberen Bilde absolut gefordert; erfolgt es positiv, so erfolgt, was absolut gefordert ist. Es tritt Deckungsgleichheit ein

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Teil II

(nach II, § 20). Das Geltungserheben manifestiert sich demnach nicht nur unmittelbar phänomenal, sondern es erscheint auch ineins insofern als insoweit gerechtfertigt, als es von der Wahrheit gefordert und im Falle der Forderungserfüllung bewährt ist. Das Bild der Wahrheit zuförderst formal als solches formales Bild erweist sich als forderungsentsprechend erfüllend und somit verifiziert, damit aber als authentisch.

40. Die Geltungserhebung als solche wird (nach II, § 25) durch ein ursprüngliches Attendieren und Erwägung eingeleitet. Darin tritt die absolute Forderung erst aus der Wahrheit in den Bereich des (sich formierenden) Bildes ein. Tritt sie ein, so wird sie notwendig als Aufgabe skizziert und wiederum in der Weise, daß von der Skizze ausgehend eine Geltungserhebung vollzogen wird, die als Lösung der Aufgabe fungiert. Die Wahrheitsforderung (als oberes Bild) erscheint als ein Teilmoment im sich realisierenden Argumente, eben dadurch, daß sie gebildet wird, also das Bilden sie und sich ineins bildet. Die Wahrheit und die aus ihr hervortretende Forderung erscheinen in einem als solchem gesehenen Bild authentisch präsent. Dieses Bild als solches, abstrahiert von seinem Gehalte, ist in nuce authentisches Geltendmachen. Im Bilde wird in dessen Zentrum ausgesprochen: „es gelte“ – und zwar (konform mit dem „es gelte“ aus der absoluten Forderung) von Seiten des Bildes ausgesprochen. Dieses Geltendmachen ist im (philosophischen) Argument notwendig als ein solches Geltendmachen gefaßt.

41. Das vom Bild selbst angesetzte und das Bild selbst betreffende „es gelte“ ist gedanklich scharf von dem „es gelte“ zu trennen, das von Seiten der Wahrheitsforderung ins Spiel gebracht ist und diese selbst und die Wahrheit als Wahrheit betrifft. Dieses letztere „es gelte“ erscheint als ein bestimmter Inhalt des bildlichen, aus dem Bilde selbst kommenden und das Bild betreffenden Geltungserhebens, da das Bild (außer sich selbst) ja die absolute Forderung und die Wahrheit selbst bildet. Das bildliche Geltendsetzen sagt in Bezug auf sich selbst: „es gelte jenes absolut-kategorische ,es gelte‘ in mir“.

VI. Das Gesamtbild in seinem Aufbau

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Das bildliche Setzen sagt in Bezug auf sich selbst: „Es gelte jenes absolutkategorische ,Es gelte‘ in mir“. Wir wenden uns im nun folgenden zunächst diesem das Bild selbst betreffenden, im und vom Bilde erhobenen Ingeltungsetzen zu, um seine Struktur genau zu erfassen.

VII. Das vom Bilden vollzogene, das Bild selbst betreffende Geltendmachen 42. Jedes bildliche Geltendsetzen ist prima facie ein Sichsetzen, das als solches eine doppelte Seinsweise hat. Es ist einerseits ein bloß faktischer Vollzug; und man könnte irrtümlich meinen, es sei nichts als ein solcher, eben ein faktisches Erheben zu etwas. Aber ein Geltendsetzen wird niemals bloß faktisch vollzogen, denn es wird ja als Geltendsetzen vollzogen, das ist aber als energisches Geltendmachen. Freilich, das energische Vollziehen ist zugleich auch immer ein faktisches, aber es ist selbst niemals nur Faktum, sondern stets darüber hinaus energischer Vollzug. Der bloß faktische Vollzug wäre nur das faktische Vorstellen eines Faktums, welches hier eben das Faktum des Geltendmachens wäre (nicht das energische Erheben selbst), das aber eben deshalb gar nicht ohne energischen Vollzug gesetzt werden kann, weil es das Faktum eines Geltendmachens ist. In der gegenwärtigen Untersuchung stehen wir im Zentrum der Sichkonstitution des Arguments, in der energischen Geltungserhebung als solcher, durch die das Argument erst zustandekommt.

43. Das uns hier spezifisch beschäftigende energische Geltendmachen ist das des Bildes als Bildes (nicht das aus der Wahrheit sich fordernd ankündigende obere, das in diesem Bilde auch gebildet wird). Das Bild allein kann jedoch nichts aus sich bewahrheiten; es realisiert nur das Phänomen. Was das „Bilden aus sich“ als geltend setzt, ist solange nur immer zwar energisch, aber bloß faktisch-kategorisch in Geltung gesetzt, wie das Bild bloß kraft freier Willensbestimmung es setzt und hält. In unserem Falle ist das Ingeltungsetzen (des Bildes) selbst immer nur solange faktisch-kategorisch angesetzt, als es sich selber in der Tat setzt und hält. Allerdings wäre mit einem Nichtsetzen oder Außergeltungsetzen das Bild als solches nicht (mehr) da, denn dieses Ingeltungsetzen (seines eigenen Ingeltungsetzens) ist wesenskonstitutiv. Aber das bildlich in Geltung Gesetzte ist auf Grund dieses Setzens und seiner Notwendigkeit noch nicht wahr. Zur Affirmation promoviert diese Assertion erst dadurch, daß das bildliche Ingeltungsetzen aus der Wahrheit gefordert und von der Wahrheit bewährt wird und sich darin als deckungsgleich mit dem wahren Sein und somit als gerechtfertigt erweist. – Die absolut-kategorische Forderung stellt ein „Es https://doi.org/10.1515/9783110629200-045

VII. Das vom Bilden vollzogene Geltendmachen

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gelte“ dar, das seinerseits „nicht nur faktisch-kategorisch“, sondern das aus sich absolut ist. Erst von ihm her wird das zunächst auf der Seite des Bildens nur faktisch-kategorische „Es gelte“ genetisiert.

44. Im bildlichen Ingeltungsetzen des absoluten, aus der Wahrheit hervorgehenden „Es gelte“ manifestiert und offenbart sich die Wahrheit (im Bilde) als aus sich selbst gerechtfertigt. Sie wird „als Wahrheit erkannt“. Sie kann aber nicht im Bilde erkannt werden, ohne daß Erkenntnis für sich wirklich ist. Die bildliche Erkenntnis der absoluten Forderung ist sich selbst wirklich Erkenntnis. Das bedeutet für das Bild, das die Erkenntnis auf diese Weise von sich selber hat, daß das in ihm Gebildete, nämlich bildliche Erkenntnis (der Wahrheit und ihrer Forderung) in seinem (gebildeten) Sein deckungsgleich mit dem absolut geforderten Sein ist. Durch das in Form des Bewährens erfolgende Eingreifen der Wahrheit (über das manifeste absolute Gefordertsein) in das Bild wird dieses Bild als Bild sich selbst genetisch evident. Die das Bild betreffende bildliche Geltungserhebung ist bewährte bildliche Geltungserhebung, und zwar, weil ihr Inhalt ihr selbst die Erfüllung ihres Anspruchs bringt, der, bestünde er nur von ihrer Seite, nur kontendiert wäre. Ineins damit rechtfertigt sich das gebildete absolute Soll (in diesem Bilde) aus sich selbst.

45. Die Geltungserhebung ist von Seiten des Bildens ein Willensakt. Dabei wird der eigene Wille in einem Sichbilden konstituiert bzw. das Bilden durch freies Wollen vollzogen. Dieser Wille ist, falls er der absoluten Forderung von sich Geltung verleiht, als wahrhafter Wille gerechtfertigt. Das Ich ist sich in diesem Wollen seiner selbst gewiß; es evidiert sein Sein. Das Sichbilden ist in diesem seinem Wollen wahrhaft es selbst.

VIII. Die Behauptung der Wahrheit des Ingeltungsetzens als Option für die Wahrheit 46. Nun kommt es aber keineswegs immer zu diesem stets notwendigen Bilden gemäß der absoluten Forderung; vielmehr praeformiert sich ein solches forderungsgemäßes Bilden nur als Skizze zu der mit ihr notwendig konnektierten Performation, nämlich der willentlichen Setzung im Bilde ihrer selbst. Der Wille bestimmt sich in Freiheit vor der sich derart abzeichnenden Aufgabe für oder wider diese. Die Aufgabe wird frei bejaht oder verneint.

47. Als Aufgabe muß die Forderung gebildet werden, nachdem auf die Wahrheit attendiert worden ist, und insofern kann nicht unterbleiben, daß sie gebildet wird. In diesem Bilden der Aufgabe erfolgt auch insoweit stets ein Eingehen auf sie, als sie in irgend einer Weise gelöst wird. Bilden der Aufgabe und der Lösung sind zugleich auch stets Bilden dieses Bildens selbst. Im Bilden der Aufgabe erfolgt insoweit ein Bilden, wie es absolut gefordert ist, und insofern ein wahres Bilden. Dies betrifft dabei auch das Bilden, das sich hierin selber bildet. Dieses Bilden ist für sich als wahres, d. i. der Forderung entsprechendes und dadurch bezeichnetes Bilden gebildet. Anders verhält es sich mit dem, was die spezifische Lösung der Aufgabe betrifft. Diese Lösung steht dem Bilden zwar nicht hinsichtlich dessen, daß sie überhaupt gebildet wird, aber hinsichtlich dessen, was in ihr gebildet wird, frei. Das sich selbst in Geltung setzende Argument ist eben kein fertiges Faktum, sondern existiert nur im freien Bilden seiner selbst zu etwas von ihm Bestimmtem. Dies kann generell eben sowohl eine Behauptung als ein Problem sein; jedoch das Argument besteht nur als bestimmtes.

48. Wäre es möglich, daß in der Lösung der Aufgabe nichts als Problematizität gesetzt würde, so wäre es nicht einmal bestimmt, ob diese Lösung selbst ein Prohttps://doi.org/10.1515/9783110629200-046

VIII. Die Behauptung der Wahrheit des Ingeltungsetzens

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blem ist oder nicht. Wir wissen aber schon (nach I, § 3l), daß auch das Problem sich selbst stets als Problem behaupten muß. Dennoch wird mit dem Ansatz eines Problems ja nicht nur das Problem als solches, sondern auch der in ihm einfachhin als zweifelhaft hingestellte Inhalt statuiert. Sehen wir von der Komponente des Sichbehauptens des Problems als solchen ab und schauen wir nur auf den einfachen Inhalt, so ist festzustellen, daß ein Zweifel an der Wahrheit und ihrer Forderung nicht dem entspräche, was realisert werden soll. Der Zweifel besagt ja, daß es fraglich ist, ob Wahrheit Wahrheit und die absolute Forderung wirklich absolute, aus sich gerechtfertigte Forderung ist. Der Zweifel kann sogar in secundo soweit getrieben werden, daß bezweifelt wird, daß das im Problem Angesetzte ein Problem ist. Freilich setzt das Bezweifeln seinerseits sich dabei wiederum kategorisch. Die angesetzte Problematizität ist also auf jeden Fall etwas, das insofern der absoluten Forderung widerstreitet; sie könnte eben deshalb nicht evident, sondern nur bloß kontendiert sein.

49. Eine derartige Lichtlosigkeit in einem forderungswidrigen Ansatz kann aber nie eine völlige sein. Denn die betreffende Aussage bringt sich ja selbst immer kategorisch in Ansatz (nach I, § 34); und diese Kategorizität entspricht der absoluten Forderung und erscheint insofern als bewährt. Diese Kategorizität kann höchstens in secundo bezweifelt (aber auch dann nicht geleugnet) werden. Der Selbstansatz erfolgt im Argument stets in gewußtem Bezug zur absoluten Forderung aus der Wahrheit, die folglich gebildet sein muß. In deren Bildung aber stellt sich immer Evidenz ein. Die Lichtlosigkeit des angesetzten Inhalts einer forderungswidrigen Aussage bleibt somit mit dem Licht des wahren Seins der Wahrheit und ihrer Forderung im Bilde, stets konnektiert. Im Lichte eben dieser Wahrheit wird auch die kategorische Sichsetzung des Arguments (sei es auch nur eines Problems) als – wenn auch nur teilweise – Erfüllung im Sinne der Forderung erkannt. Das bildliche Sichgeltendsetzen kann also nicht nicht eingesehen sein.

50. Die in einem forderungswidrigen Argument inhaltlich angesetzte Problematizität hat übrigens eine nicht nur faktische, sondern auch voluntative Seite. In voluntativer Hinsicht bedeutet sie ein Schwanken des Willens („es gelte vielleicht“). Da das Sichsetzen der Aussage aber immer kategorisch erfolgt, steht

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Teil II

das Schwanken des Willens, falls es sich auf das gesamte Angesetzte beziehen soll, in Widerstreit zur Entschiedenheit des Willens im Sichansetzen. Dadurch wird eine solche Aussage sich widerstreitend. Die synthetische Vereinigung der Supposition, als Option, mit der Konfirmation aus der Wahrheit (der Adoption) promoviert die anfänglich bloße Kontention zur Affirmation.

51. Der sich im für die Wahrheit optierenden Supponieren manifestierende und vollziehende Wille wird dadurch wahrhaft akzeptiert. Der Geist vollzieht im Konstituieren der Affirmation einen medialen Akt. Die Option vollzieht die positive Annahme des absolut Geforderten in sich und wird dadurch befähigt, die bis dahin zurückgehaltene Bewährung in sich vollziehen zu lassen. Diese Bewährung erfolgt nur als aktive Annahme der optierenden Supposition von Seiten der Wahrheit.

52. Die Promotion der Supposition zur Affirmation darf keinesfalls in dem Sinne verstanden werden, als stellte der Akt, mit dem einer Forderung der Wahrheit, die als solche evident ist, entsprochen wird, einen bloßen Fiduzialakt dar, d. i. als wäre er ein Fürwahrsetzen von etwas, das in sich uneinsichtig bleibt, im Vertrauen darauf, daß das absolut Geforderte, wenn es realisiert wird, als Bild auch authentisch sein werde. Die Wahrheit des Sichgeltendsetzens wird n i c h t etwa ohne Einsicht n u r g l a u b e n d für wahr gehalten, sondern dank der Erleuchtung, welche die Wahrheit selbst dem in ihrem Sinne Gesetzten zuteilwerden läßt, a l s w a h r e v i d i e r t . Wir sehen in Evidenz ein, daß das gebildete Sein wahrhaft so ist, wie es gebildet ist, und ist, wie es sein soll. In dem ineins mit der positiven Annahme herausbrechenden Lichte wird die Authentizität des Sichgeltendsetzens eingesehen.

53. Die Wahrheit selbst und die aus ihr hervortretende Forderung sind in ihrem Erscheinen für uns unmittelbar evident. Nennen wir das Evidentmachen eines zunächst nicht aus sich Evidenten, wie hier der Selbstgeltung, Genetisieren, so

VIII. Die Behauptung der Wahrheit des Ingeltungsetzens

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können wir uns so ausdrücken, daß wir sagen: die Supposition wird genetisiert. Durch diese Genetisierung wird die Sichsetzung mittelbar genetisch evident.

54. Der innere Grund dieser Genetisierung ist, daß der sich im Selbstgeltendsetzen konstituierende Wille nicht nur formal freier Wille ist, sondern sich auch material mit dem der (Forderung der) Wahrheit immanenten Willen vereinigt, d. i. synthetisch eins wird. Ein und derselbe Wille realisiert sich in diesem Falle in der Wahrheit selbst und im formal-freien Wollen derselben, ein Wille, der durch sein Quale Rechtfertigung seiner selbst ist.

55. Wird in der Performation, d. i. in der reflektierten Sichsetzung die Selbstgeltung zwar positiv behauptet, aber ohne den Willen, der absoluten Forderung zu entsprechen, wird also bloß kontendierend inhaltlich angesetzt, so kann die Bewährung insofern nicht erfolgen, und die Behauptung gewinnt keine Evidenz. Das Gesetzte verliert seine bloße (unbewährte) Phänomenalität nicht. Das phänomenal unmittelbare Sein der Sichgeltendsetzung, welches in der transzendentalen Sicht des cogito als ontisch ebendas Sein gesehen wird, das im Sichsetzen ist (esse imaginis est esse imaginis), wird eben nur dann evident, wenn es als forderungsgemäß eingesehen gesetzt wird. Nicht die Denknotwendigkeit der ontischen Unmittelbarkeit des phänomenal unmittelbaren Fürsichseins des Bildes macht dieses evident, sondern nur seine angenommene Rechtfertigung aus der Wahrheit.

IX. Die Behauptung der Wahrheit des Sichgeltendsetzens als Bezugnahme auf das Absolute 56. Wie schon im Ersten Teile (vgl. I, Kap. VIII) deutlich gemacht, ist das Geltendsetzen nur in Bezug auf Wahrheit möglich. Geltendsetzen heißt ja, setzen, daß etwas wahr sei. Dieses Bezugnehmen besteht darin, daß von etwas mit Bezug auf die Wahrheit gesetzt wird, es sei wahr, d. h. habe das Sein der Wahrheit.

57. A b e r s o g e n o m m e n , s c h e i n t d i e W a h r h e i t b z w. d a s W a h r s e i n dessen, was als wahr angesetzt wird, identisch mit dem Wahrsein der absoluten Wahrheit selbst zu sein. In diesem Fal1e wäre jedoch keine Relation gegeben. Dieser Schein wird behoben, wenn man einsieht, daß das Wahrsein der Wahrheit selbst ihr unerschütterliches, durch sie selbst absolut-kategoris c h e s W e s e n i s t ; das Wahrsein d e r W a h r h e i t des Sichgeltendsetzens h i n g e g e n ist kontingent, d a e s durch einen synthetischen Akt mit bedingt i s t . Das Sichgeltendsetzen ist nicht aus sich selbst wahr, sondern nur durch seine mittelbare Genetisierung (II, § 53). Es ist nicht rein absolut-kategorisch sein Sein, sondern wird nur durch mitwirkende faktische willentliche Erhebung in die geforderte Kategorizität zum Adoptierten und mittelbar Genetischen. D i e s e Mittelbarkeit zeigt sich darin, daß das Siehgeltendsetzen auch nicht erfolgen könnte. Es ist nicht absolut, sondern erst unter Bedingung des Zustandekommens des synthetischen Aktes und der in ihm erfolgenden Option / Adoption.

58. Im Setzen des von einer Seite nur bedingt Wahren als solchen wird demnach stets eine als selbst wahr angesetzte Relation auf das absolut aus sich Wahre genommen. Erst mit dieser (wahren) Bezugnahme wird das bedingt Wahre es selbst. Das b e d i n g t W a h r e ist in seinem n i c h t a b s o l u t e n S e i n (n o n https://doi.org/10.1515/9783110629200-047

IX. Die Bezugnahme auf das Absolute

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e s s e a b s o l u t u m ) doch zugleich wahres Sein seines Nichtabsolutseins (est vere esse n o n a b s o l u t u m ).

59. Die Beziehung des Nichtabsoluten in seinem Nichtabsolutsein auf das absolut Wahre ist ihm wesentlich, d. i. es ist wahrhaft ein Sein, das nicht das absolute Sein ist. Das Relatum ist hier nicht vor der Relation, sondern nur in ihr gegeben. Relation und Relatum verlieren zwar nicht ihre Relativität, werden aber in dieser als absolut wahr vermittelt.

60. Diese Relation und das durch sie ermöglichte Relatum sind selbst nicht aus sich absolut; sie könnten auch nicht sein und sind nur durch eine freie Synthesis. Unbeschadet dieses synthetischen (und insofern relativen Seins) aber sind sie kraft Bezeichnung durch die absolute Wahrheit selbst insofern absolut wahr, als sie sich als zur absoluten Wahrheit gehörig erweisen.

61. Die Relation, die das bedingt Wahre auf die absolute Wahrheit nimmt, ist dabei eine im Bilden des bedingt Wahren erstellte. Sie ist als solche nicht etwas, das der absoluten Wahrheit in sich zukäme, sondern nur ein Verhältnis, in welchem nicht nur das Bild, sondern auch das absolut Wahre im Bilde gedacht wird. Das Bild dieser Relation wird durch Genetisierung mittelbar legitimiert – aber nur, als zum bedingt-wahren Sein des Bildes gehörig, nicht als dem absolut Wahren in sich zukommend. Das absolute Sein ist relationslos und wird durch die gedachte Relation nicht beschränkt.

62. Die Nichtabsolutheit des Seins des Sichgeltendsetzens bezeugt sich darin, daß das Geltendsetzen aus sich selbst nur im Setzen und Halten seiner selbst durch sich und nicht schlechthin sein Sein ist. Das Bild des Geltens ist nicht, es ergrei-

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fe sich denn selbst. Dieses Sichergreifen und -bestimmen kommt nur in einem Akt zustande, in dem nicht nur ein Verhältnis auf das absolute Sein, sondern ineins damit auch ein Verhältnis zu sich selbst genommen wird. Dieses letztere Verhältnis ist komplexer Natur und soll mit Bezug auf seine Legitimierung im folgenden erhellt werden.

X. Die absolute Pertinenz des Geltendmachens und seine Bewährung 63. Wir haben schon im Ersten Teil (I, Kap. VIII) erkannt, daß es dem Geltendmachen unaufhebbar darum geht, Wahrheit für sich zu beanspruchen. Es ist durch dies Verhältnis zur Wahrheit grundwesentlich bestimmt, weshalb die auf Wahrheit gehende Intention sich auch als Grundintention (I, § 101) bestimmen ließ. Die einseitige Konsideration dieses Tatbestands könnte nun aber darüber hinwegsehen lassen, daß es dem Geltendmachen ebenso sehr, ja in einem gewissen, noch näher zu bestimmenden Sinne sogar noch mehr um sich selbst, d. i. um sein eigenes Sein als Geltendmachen geht. Das Gelten ist sich selber pertinent, und zwar absolut pertinent. Das Geltendmachen ist ein Willensakt (I, §§ 79 u. 80); das Wesen des Willens besteht aber darin, daß es ihm um das, was er will, geht (Pertinenz). Im gegebenen Falle bezieht sich der Wille auf sich selbst, es geht ihm also in diesem energischen doxischen Setzen um ihn qua Geltungswillen als solchen – noch ganz unangesehen dessen, was er sonst in sich in Geltung setzt. Diese Sichpertinenz ist dabei Grundbedingung aller übrigen, das im Sichgeltendsetzen außerdem Geltendgesetzte betreffenden Pertinenz. Ohne diese Grundpertinenz wäre keinerlei Pertinenz.

64. Es geht dem geltendmachenden Willen zugleich immer um die Wahrheit, die er für das von ihm Gesetzte in Anspruch nimmt. Doch zeigte sich (II, § 17), daß die Wahrheit in ihrem in Anspruch genommen werden entweder in der ihr eigentümlichen Intention oder in einer bloß willkürlichen Intention des Geltendmachens, d. i. in einem bloßen Kontendieren, gewollt werden kann. Der Geltungswille kann hingegen im Wollen seiner selbst sich nur als wahrhaft er selbst wollen, weil er andernfalls gar nicht wäre.

65. Das Bewußtsein von Wille im Sichgeltendsetzen ist Bewußtsein von dessen Realität. Da der Wille sich hier selbst will, ist das Bewußtsein seiner selbst das Bewußtsein seiner sich als solche wollenden Realität. Dieser Geltungswille will https://doi.org/10.1515/9783110629200-048

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Teil II

distanzlos sich selber, ohne mögliche Ausnahme oder Einschränkung, und deshalb ist hier Bewußtsein absoluter Realität.

66. Und doch ist dieses Bewußtsein bedingungslos gewollter Eigenrealität nicht legitimiert, trotz seiner faktischen Absolutheit. Das Bewußtsein des eigenen Seins des Bildes (des esse imaginis) ist nach dem im Ersten Teil Erkannten (vgl. I, Kap. XX) notwendig ineins unmittelbar phänomenal und ontisch. Das Gelten kann sich also nicht bilden, ohne sein Sein anzusetzen. Die willentliche Annahme seiner selbst ist bei aller ihrer Grundwesentlichkeit, faktischen Absolutheit und Ausschließlichkeit doch nicht legitimiert, d. h. nicht dadurch legitimiert. Ließe sich kein höheres rechtfertigendes Moment ausweisen, so wäre das Geltendmachen nur in einem freilich in ihm unaufhebbaren Wahn seines wahren Selbstseins befangen. Es könnte dann legitimerweise nichts anderes als eben das von ihm gesagt werden.

67. Nun aber ist das Sichsetzen des Bildes in seiner Geltung (zum Zweck der Realisierung der Wahrheit) absolut aus der Wahrheit als solcher gefordert. Wird es im Sinne dieser Forderung vollzogen, so erfolgt die Bewährung aus der Wahrheit. Die Sichannahme wird in ihrer Absolutheit genetisiert und kann in mittelbar genetischer Evidenz erkannt werden. Geschieht dies, so ist die Sichannahme in ihr selbst gerechtfertigt.

68. Gerechtfertigt wird in diesem Falle nicht nur das Setzen des Seins überhaupt des Geltendsetzens (das bloße esse, unangesehen seiner spezifischen Beschaffenheit), sondern auch insbesondere das energische doxische Sein dieses Sichgeltendsetzens, der Wille in dem, was er willentlich als geltend ansetzt. Es ist nicht nur wahr, daß der Wille in dem, was er will, (und darin in seinem Wesen) existiert; sondern, was er will, ist auch wahrhaft recht, d. i. sein spezifischer Gehalt ist als doxischer gerechtfertigt.

XI. Das Sichgeltendmachen als transzendentale Synthesis 69. Das Geltendmachen bezieht sich notwendig auf sich selbst und kann nur in einem solchen Bezug auf sich selbst gedacht und realisiert werden. Es erhebt zur Geltung, daß es selbst faktisches Geltendmachen ist, und zwar, daß es dies in Wahrheit ist und daß sein faktisches Geltendmachen energisch gilt. Wie wir (in II, § 67) gesehen haben, ist das faktische Sein des Geltendmachens durch die mit der Erfüllung der absoluten Forderung von Seiten der Wahrheit her eintretende Bewährung affirmiert und nicht mehr nur kontendiert. Es wird in Wahrheit faktisch geltend gemacht. Doch geht es nicht nur um das authentische Faktum des Geltendmachens, sondern auch um die Bewährung des energisch in Geltung Gesetzten. Energisch geltend gemacht wird – außer der absoluten Forderung, welches uns hier aber nicht weiter beschäftigt – das Wissensbilden selbst. Von diesem wird nunmehr affirmiert, daß es ist, als was es sich energisch geltend macht.

70. Hierdurch kommt es zur eigentlichen Selbstgewißheit des sich im Geltendmachen manifestierenden Willens; nicht nur zum faktisch-absoluten Sichpertinentsein, welches, wie wir (in II, § 66) gesehen haben, nichts zu bewähren vermag, sondern zu einer Bewährung des geltendgemachten Wissensseins und des in diesem sich vollziehenden Geltendsetzens.

71. Der Grundcharakter dieses Sichgeltendmachens ist Selbstbestimmung, d. i. eine transzendentale Grundsynthesis, die sich als Reflexionseinheit artikuliert. Ein nicht absolutes Sein bestimmt sich in Freiheit zu einem bestimmten Bilden, und zwar so, daß es sein tätiges Sichbestimmen ineins mit dem Vollzuge desselben in seinem Sichvorstellen weiß. Dieses reflexive Sichbestimmen erfolgt als Tathandlung, d. i. als ein geistiges Handeln, das dergestalt in einem abgeschlossenen Produkte (der Tat) endet, daß es sich unbeschadet dieses Abschlusses nicht als Freiheit aufhebt, sondern ständig erneuert. Das Handeln vollzieht sich dabei https://doi.org/10.1515/9783110629200-049

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fortwährend so, daß es sich sowohl auf sich selbst im vorhergehenden Bestimmen als auch auf dessen Produkt entscheidend zurückbezieht, zugleich aber auch aus sich als vorausgehendem Handeln heraus im erneuten Handeln dergestalt aktiv wird, daß es dieses mitbestimmt. Die Unerfülltheit der sich äußernden absoluten Forderung im Attendieren auf sie bedeutet ineins die Pertinenz der Lösung, d. i. aber eine ursprüngliche Eröffnetheit auf eine zweite Setzung, in der das Erwägen sich in einem Kontendieren abschließt.

72. Die transzendentale Grundsynthesis des Handelns stellt eine spezifische Synthesis zwischen der auf Wahrheit gerichteten Grundintention und der mit der aus der Wahrheit kommenden absoluten Forderung konfrontierten formalen Freiheit dar. In diese Synthesis geht die Entscheidung der formalen Freiheit ebenso wie die in der Grundintention sich manifestierende Tendenz ein. Beide wirken sich in ihr spezifisch aus. Die Freiheitsentscheidung ist dabei in der (in II, § 71) geklärten Weise mit vorangegangenen Entscheidungen konnektiert.

73. In der transzendentalen Grundsynthesis kann sich das Wissensbild infolge der Verschränkung von Notwendigkeit und Faktizität, die in ihm besteht, nicht bilden, ohne mit seiner wirklichen E x i s t e n z ( e x i s t o ) seine Wesenheit als Wissensbild (esse cogitans) zu realisieren. Das cogito ist stets ein s u m c o g i t a n s / existo.

XII. Das transzendentale Sein des Bildes als Reflex- und Reflexionseinheit 74. Das Wissensbild tritt (nach I, § 157) nie als etwas schon fertig Bestehendes auf. Es existiert vielmehr immer nur durch freie Selbstbestimmung; es muß sich zu seinem Sein machen. Dies geschieht, wie wir (in II, Kap. VIII) gesehen haben, durch ein Sichgeltendmachen im Vollzug eines Sichaufgegebenseins. Infolgedessen enthält das Wissensbild notwendig einen B e z u g a u f s i c h s e l b s t , wenn es ist.

75. Wir sehen an dieser Stelle noch von den weiteren Bedingungen, unter denen ein Sichgeltendmachen als Wissensbild allein möglich ist, ab und konzentrieren uns allein auf das G e l t e n d m a c h e n , als den Kern des Ganzen. Dieses Geltendmachen ist auf Grund des im vorigen Paragraphen Ausgeführten stets ein Sichgeltendmachen, d. i. ein Geltendmachen seiner als Geltendmachen („es gelte: es gelte“). An dieser Stelle soll die Struktur dieses Sichgeltendmachens als Reflexions- und Reflexeinheit erhellt werden.

76. Das Sichgeltendmachen ist immer nur in einer bestimmten Weise wirklich, sei es als zweifelndes, sei es als behauptendes. Wie (in II, § 45) eingesehen, kann das ursprüngliche Sichgeltendmachen nur kategorisch erfolgen. In die Freiheit gestellt erwies sich nur, ob es überhaupt erfolgte, was letztlich an der Attention auf die sich von der Wahrheit her stellende Aufgabe lag. Das Sichgeltendmachen kann (nach II, § 55) entweder bloß kontendierend oder affirmierend erfolgen. Dies hat, wie sich im folgenden zeigen wird, ganz bestimmte Konsequenzen für das Sichgeltendsetzen.

77. Das ursprüngliche kategorische Sichgeltendsetzen erfolgt in der Weise, daß ein Wissensbild angesetzt wird. In diesem wird im vorliegenden Falle ein behttps://doi.org/10.1515/9783110629200-050

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stimmtes Wesenssein und eine bestimmte Existenz eines Bildes abgebildet, das Sein nämlich des Geltendmachens. Dieses gebildete Sein (esse imaginis) soll – nach der Grundkonstitution des Bildes von sich – wahrhaft mit dem Sein selbst des Bildens identisch sein. Das phänomenal Unmittelbare (das Selbstsein im Bilde) wird als das zugleich ontisch Unmittelbare (das Selbstsein selbst in seinem Sein) gedacht. Das gesehene Geltendmachen ist das wirklich sehende Geltendmachen. Dabei findet eine doppelte Identifizierung statt. Zum einen wird der bildende Akt (des Geltendmachens) als mit dem gebildeten Akt (des Geltendmachens) identisch seiend gesetzt: dies ist die Reflexionseinheit. Damit aber diese Identität als solche evident sei, muß sie zum andern als ein energisches Sichansetzen gesehen werden, das mit der absoluten Forderung aus der Wahrheit dasselbe ansetzt. Das vonseiten der Reflexionsform nur kontendierte „Es gelte“ muß eben jenes „Es gelte“ sein (und als solches eingesehen werden), das auch von der Seite der Wahrheit her genetisch evident gefordert ist.

78. Ist die Reflexionsidentität wirklich Identität, so muß diese strikte Identität in dem (dem Bilde von sich zufolge) Nichtdifferenten – d. i. dem gebildeten Sein und dem Sein selbst – gesehen und erkannt werden. Es muß evidiert werden, daß das im Geltendmachen als wahr angesetzte (putative) Sein (eben dieses Geltendmachens) eben das Sein selbst (esse ipsum) desselben ist. Anders ausgedrückt: D a s S e i n s e l b s t d e s B i l d s e i n s i s t e v i d e n t e r m a ß e n i m B i l d e v o n i h m a l s [ B i l d ] d i e s e s S e i n s g e b i l d e t . Diese strikte Identität bezeichnen wir als Reflexeinheit, und zwar deshalb, weil sie kein bloßer synthetischer Zusammenhang, sondern das diesen ermöglichende Prinzip ist.

79. Evidiert wird diese Identität natürlich nur dann, wenn der absoluten Forderung aus der Wahrheit, ihr gemäß zu bilden, auch entsprochen, wenn also nicht bloß kontendiert, sondern affirmiert wird. Geschähe dies nicht, so könnte die zweite Identifizierung von eigener Forderung und Forderung aus der Wahrheit nicht vollzogen und nicht evidiert werden.

XII. Das transzendentale Sein des Bildes

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80. Die Reflexeinheit wird nur mit der Reflexion realisiert. Es muß zur Reflexion kommen, damit es zum Selbstbewußtsein (des Bildes von sich) kommt, das immer nur das Bewußtsein eines bestimmten Seins zu sein vermag. In der Reflexion auf sich wird die angehobene Bildung einer selbständigen Zweiheit von bildendem und gebildetem Bilde im Vollzug an ihrer Verwirklichung gehindert, ihr Zustandekommen wird unterbunden und die skizzierte selbständige Verschiedenheit zugunsten der realisierten Reflexidentität in der Reflexion aufgehoben. Die Reflexion verwirklicht statt der versuchten selbständigen Zweiheit eine synthetische Einheit auf der Basis der Reflexeinheit des Seinsbildens selbst. Andererseits stellt die Reflexion in dem vorliegenden Falle der Selbstreflexion etwas anderes als eine einfache, bloß objektive Einheit dar, nämlich den Sichvollzug der transzendentalen Einheit auf der Basis der Reflexeinheit, die Sicheinheit, Helligkeit ihrer selbst, Licht ihres eigenen Lichtseins ist. An die realisierte Einheit als Reflexionseinheit lagern sich mit ihrem Gesetztwerden Differenzen an, die im folgenden herausgestellt werden sollen.

81. Wird die Sichidentität eigens in einem im Behaupten einfachhin Gebildeten thematisiert, so muß das einfachhin gebildete „Ich mache mich geltend“ noch besonders mit dem transzendentalen Sichgeltendmachen als dem Träger dieser einfachen Setzung identifiziert werden. Das thematisch objektivierte Sichgeltendmachen wird im Akte dieses Identifizierens als nichtdifferent von dem es ermöglichenden transzendentalen Sichgeltendmachen erkannt.

XIII. Sichbestimmung als Tathandlung 82. Wie in I, § 32 nachgewiesen, existiert das Argument nur durch freie Selbstbestimmung. Erst indem die Freiheit sich als Argument zum Problem oder zur Behauptung macht, existiert ein bestimmtes Argument. Das Argument kann aber nur als bestimmtes existieren. Diese Sichbestimmung ist ein komplexer Akt. Der Grundvorgang ist, daß sich die freie Agilität aus dem Vermögen, sich so oder anders zu bestimmen, zu einer einzigen Bestimmung konstringiert und damit selbst bestimmt. Es findet ein Übergang von Unbestimmtheit zu Bestimmtheit statt.

83. Dieser Übergang ist als freier kein bloß objektiver, sachlicher Vorgang. Er vollzieht sich als ein aktives Kausieren. Unbestimmtheit und Bestimmtheit werden nicht nur nach einer Regel zusammengestellt, sondern die Agilität wird aus sich Ursache einer Wirkung im Sein des Sichbestimmenden.

84. Das Kausieren unterscheidet sich vom Implizieren dadurch, daß mit dem Verursachenden nicht notwendig ineins die Wirkung gesetzt ist, wie mit dem Grund die Folge. Vielmehr bringt der kausierende Akt die Wirkung frei hervor. Die Wirkung liegt also nicht schon notwendig im Verursachenden, hier: der Freiheit, beschlossen, sondern wird erst durch einen besonderen A k t herbeigeführt. Die Agilität ist nicht schon als solche notwendig Grund der aus ihr hervorgehenden Bestimmung, sondern sie macht sich erst zu deren Ursache; und erst so kommt es zur Selbstbestimmung als Wirkung dieser Ursache.

85. Was nicht implizit notwendig mit einer Setzung mitgesetzt ist, wird apponiert. Auch die Wirkung wird demnach dem Verursachenden apponiert. Da es sich jedoch um eine freie Kausation handelt, werden die beiden Apponenda nicht https://doi.org/10.1515/9783110629200-051

XIII. Sichbestimmung als Tathandlung

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bloß (ohne Übergang) einander zugesellt, sondern es wird a u s d e m E i n e n , dem Verursachenden, zu dem anderen, d e m B e w i r k t e n , ü b e r g e l e i t e t u n d übergegangen, u n d z w a r einsichtig übergeleitet und übergegangen. Das Bewirken ist sich in diesem Falle bis in die Wirkung hinein selbst hell; und nur dadurch, daß es sich derart selbst hell ist, ist es ein freies Bewirken. Andernfalls träte nur ein (nicht durch Bewirken herbeigeführtes) Folgen auf, dessen Prinzip unbekannt wäre. Eines Bewirkens in mir selbst muß ich mir, wenn es ein freies, wirklich durch mich erfolgendes Bewirken sein soll – und nur dann ist es eine freie Selbstbestimmung –, bewußt sein. Ich muß mich zur Ursache bestimmen und dabei die Wirkung wissentlich durch mein Kausieren herbeiführen. Wo ein Bewirken im Bewirkenden erfolgt, geht diese Helligkeit in diesem Bewirken von der Ursache zur Wirkung mit.

86. Ein solches bewußtes freies Bewirken verlangt aber, daß im Übergange des Bewirkens wenigstens momentweise das Bewirken und das Bewirkte gleichzeitig bewußt sind, wenn allerdings auch nicht in der Form eines Sichimplizierens.

87. Dieses gleichzeitige Bewußtsein kann aber nur dadurch realisiert werden, daß die Helligkeit des Bewußtseins nicht einfachhin mit dem Bewirken in das Bewirkte abfließt, sondern trotz des Übergangs ins Bewirkte das Bewirkende momentweise mit umfaßt, und zwar als durch das freie Bewirken vereint.

88. Um auf diese Weise in einer Einheit befaßt werden zu können, dürfen Bewirkendes und Bewirktes nicht zwei substantiell voneinander Verschiedene und folglich Getrennte sein. Das die Wirkung Empfangende ist hier vielmehr das Bewirkende selbst. Nur unter diese[r] Voraussetzung findet eine f r e i e S e l b s t bestimmung statt. Das Bewirkende macht s i c h zum Bewirkten. Unbeschadet ihres Wesensunterschiedes als spezifisch Bewirkendes und Bewirktes müssen also Bewirkendes und Bewirktes ein und dasselbe Sein sein. Ihr Unterschied wird als verschiedene Setzung an diesem Einen Sein angesehen.

176

Teil II

89. Dem Bewirken ist die Helligkeit in der Weise einer Bewußtheit der Aktivität inne. Des Wollens und seines Vollzugs sind wir uns unmittelbar bewußt, indem wir es einschauen (intuieren). Das bewußte Vorstellen ist selbst eine (ideale) Aktivität, die der (realen) Aktivität des Wollens geeint ist.

90. Im Bewirkten erlischt die (reale) Aktivität des Wollens, indem eine Bestimmung heraustritt, die der Agilität entzogen wird. Das Vorstellen des Bewirkten seinerseits, bloß als (ideales) Vorstellen (also ohne seinen Inhalt genommen), bleibt aber ein aktives. Da seine Aktivität freie Aktivität ist, kann sie zur Vorstellung machen, was sie will; sie kann sich also auch frei dem realen Produkt des Bewirkens anschmiegen und es auf diese Weise vorstellen. Wo die Freiheit der realen Aktivität des Bewirkens endet, kann die Freiheit der idealen Aktivität des Vorstellens noch tätig sein. Nur dadurch ist es möglich, daß das wollende Ich sich vom freien Verursachen bis in die Wirkung gleichzeitig helle ist.

91. Das im Sichbestimmen mit sich identische Ich sieht sich also im Übergang vom freien Bewirken zum Bestimmtsein durch sich. Wenn wir oben (in II, § 77) sagten, das Sichbestimmen sehe sein eigenes Sein, so muß das hier dahingehend präzisiert werden, daß es dieses sein Sein bei grundlegender Identität im Übergehen vom freien Handeln (Kausieren) zur abgeschlossenen geistigen Tat in sich (als Wirkung) sieht. Wir können im Anschluß an den transzendentalen Sprachgebrauch dieses Übergehen in sich als Tathandlung bezeichnen, d. i. als ein aktives Handeln, das sich in einer bestimmten Tat so abschließt, daß das Handeln darin erlischt. Das Sichbestimmen weiß sich als solche Tathandlung. Es sieht seine über der Veränderung liegende und von dieser nicht betroffene Identität ineins mit der im Übergehen erfolgenden Veränderung und den beiden Modi des bestimmenden Agierens und des in dessen Wirkung Bestimmtseins.6

6 Vgl. „Transzendentale Methode.“ NS 1987. Bl. 15r: „An den sich nicht implizierenden Setzungen muß die Identität durchgehalten werden, z. B. der Nicht-Lügner, der jetzt Lügner wird. Das Ich ist die einzige Identität, die ein solches Durchhalten leistet!“

XIII. Sichbestimmung als Tathandlung

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92. Käme es nicht zum Bewirken, so wäre kein freies Wollen gesetzt. Ohne Freiheitsvollzug aber kein wirkliches Argument. Käme es nicht zur abschließenden Tat, so käme es zu keiner Bestimmung der Freiheit; die Freiheit bliebe unbestimmte Agilität, d. h. sie verwirklichte sich nicht. Abermals käme es dann nicht zu einem bestimmten Argument. Beide Momente sind also wesentlich, wenn ein wirkliches Argument dasein soll.

93. Wir sehen hier abermals, wie die Wesensnotwendigkeit in den Vollzug der Freiheit eingreift und mit ihr verschränkt erst deren Wirklichkeit ermöglicht. Die Freiheit ist keine absolute Freiheit, sondern Freiheit unter einem bestimmten Gesetze ihres Vollzugs. Sie ist notwendig Bilda der Wahrheit und der aus dieser emanierenden absoluten Forderung; sie ist notwendig Attention auf diese Forderung und zugleich damit Entscheidung in Bezug auf dieselbe. Sie ist notwendig vollbewußter Vollzug ihrer selbst im Übergehen aus der kausierenden Agilität zur bewirkten abgeschlossenen Bestimmtheit in der Tat.

a Ende von M; ab hier folgt der Text von I.

XIV. Die Legitimation des Sichbestimmens im Sichgeltendmachen 94. Die Verwirklichung der Wahrheit ist aus ihr selbst absolut gefordert. Wie wir schon (in II, Kap. VIII) eingesehen haben, wird, was auf diese Weise gefordert ist, bewährt, wenn der Forderung entsprochen wird. Nun kann der absoluten Forderung nur dann entsprochen werden, wenn auf sie attendiert, wenn sie gebildet und in ihrem Bilden als einer Aufgabe, eben dieser Aufgabe forderungsgemäß zugestimmt wird. Dieser Satz drückt eine Notwendigkeit aus, und zwar eine Wesensnotwendigkeit. Er besagt, daß die Aufgabe nur in dieser grundsätzlichen Weise der Lösung realisiert werden kann. Denknotwendigkeit bewährt aber nichts. In unserem Falle erstreckt sich jedoch die absolute Forderung auf dieses notwendige Denken. Sie, und sie allein, legitimiert es dadurch. Das bedeutet, daß das mit Notwendigkeit zu Denkende durch die fordernde Wahrheit bezeichnet und als wahr bewährt wird.

95. Zu diesem mit Notwendigkeit zu Denkenden in der Lösung der Aufgabe gehört sowohl der Freiheitsvollzug als solcher als auch die Gesetzlichkeit, mit der er verschränkt ist. Die Freiheit kann sich nur als Geltendmachen in der Reflexion auf sich selbst unter Wahrung der Reflexeinheit; sie kann sich nur als Tathandlung und sie kann sich nur als reales geistiges Wirken in einem idealen Vorstellen verwirklichen. Da alles dies Bedingung der Realisierung der absoluten Forderung und somit von dieser indiziert ist und da es im Falle des Erfolgens bewährt wird, so erweist es sich als wahr.

96. Man beachte, daß zu dem notwendig Anzusetzenden (notwendig, damit überhaupt gesetzt werde) auch der Freiheitsvollzug als solcher gehört. Es ist also wahr, daß wir frei handeln, denn ein solches freies Handeln allein trägt zur https://doi.org/10.1515/9783110629200-052

XIV. Die Legitimation des Sichbestimmens

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Erfüllung dessen bei, was absolut gefordert ist. An dieser Stelle wird die Freiheit sich selbst authentisch. Die unmittelbare Intuition des freien Handelns macht dieses zwar phänomenal und ontisch unmittelbar; sie gewährt aber noch keine genetische Evidenz. Die Einschauung7 wird erst dadurch genetisiert, daß sie von der absoluten Forderung her indiziert ist und als bezeichnet intelligiert wird.

97. Diese Genetisierung betrifft jedoch soweit nur die Freiheitshandlung überhaupt, nicht die spezifische Weise, in der sich die Freiheit realisiert. Aber erst die Realisierung der möglichen – und nicht notwendigen – spezifischen Weise bringt die Freiheit zur Existenz. Zwar gilt auch generell, daß sich die Freiheit, um zu existieren, immer spezifisch realisieren muß, aber die bestimmte Weise dieser notwendigen spezifischen Verwirklichung b l e i b t f r e i .

98. Da sich die Freiheit nicht bloß generell, sondern stets nur in bestimmter spezifischer Weise realisieren kann, ist auch eine solche spezifische Weise überhaupt absolut gefordert. Auch die grundsätzliche Spezifizität der Verwirklichung der Freiheit wird also bewährt. Nicht jedoch wird ohne weiteres die bestimmte Weise dieser spezifischen Verwirklichung bewährt. Diese kann nämlich eine der absoluten Forderung entsprechende oder ihr widerstreitende sein. Nur wenn sie der Forderung entspricht, wird sie von der Wahrheit bezeichnet und legitimiert. Wird hingegen zwar frei gebildet, aber nur kontendierend und nicht affirmierend, so wird dieses spezifische Kontendieren als nicht der Forderung entsprechend nicht bewährt. Wir kommen dann, was die Wahrheit unseres bloßen Kontendierens anbelangt, zu keiner Erkenntnis.

7 Zur Einschauung vgl. Lauth, R.: Ethik in ihrer Grundlage aus Prinzipien entfaltet, Stuttgart/ Berlin/Köhl/Mainz 1969. S. 23: „Die Anschauung kann ihrerseits entweder äussere Anschauung (im engeren Sinne dieses Terminus) oder innere Einschauung (Intuitus) sein.“ Vgl. auch „Theorie des Arguments.“ NS 1988/89. Bl. 15r: „Wir sind uns unseres Willensaktes durch Einschauung faktisch bewußt.“

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Teil II

99. Wir sind uns nach dem damit (in II, §§ 96–98) Eingesehenen des grundlegenden existentiellen Vollzugs des cogito, der ja stets durch spezifische Verwirklichung der Freiheit erfolgt, erkennend bewußt (cogito/existo). Denn dieser existentielle Vollzug als solcher erfolgt immer forderungsgemäß.

100. In diesem existentiellen Vollzug (existo) realisieren wir wirkend und unser Wirken vorstellend das Wesen des Wissens (sum); und daß dies das Wesen des Wissens ist und daß wir eben dieses Wesen im Vollzug unseres Argumentierens realisieren (applico), erkennen wir. Das Wissen kann sich nicht setzen, ohne sich in seinem Wesenssein und in seinem (prinzipiellen) Existentsein zu erkennen (cogito: sum / existo). Wir wissen schon im primären Vollzuge, was Wissen ist, und wir erkennen es wirklich in diesem Wissen. Das ist auch dann der Fall, wenn wir diese Erkenntnis im sekundären Reflektieren wieder fallen lassen.

101. Da das Wissen in seinem inneren Wesen Willensvollzug ist, wissen wir auch immer, daß wir ein Wollen vollziehen, d. i. daß das Wesen des Wollens in dieser unserer geistigen Handlung sich realisiert, und zwar wissen wir auch das immer erkennend.

102. Das auf bestimmte spezifische Weise in diesem Willensvollzug Gesetzte kann hingegen erkennend gewußt, es kann aber auch nur gewußt, und nicht erkannt sein. Wir können uns eines solchen frei kontendierend in Geltung Gesetzten nicht gewiß sein, wenn es forderungswidrig ist. Wird diese Unerkanntheit nicht erkannt, so tritt Verblendung ein, e i n W ä h n e n u n d F ü r w a h r n e h m e n , das keine Legitimation für sich beibringen kann.

103. Eine solche Verblendung bedeutet aber niemals eine totale Blindheit des Geltendmachens, was dessen Erkenntnis anbelangt, da ja auch der verblendet Set-

XIV. Die Legitimation des Sichbestimmens

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zende erkennend sein Existieren als Bilden erfaßt. Auch weiß er erkennend um die absolute Forderung aus der Wahrheit; und da diese in seinem Wissen in Beziehung auf sein verblendetes Wähnen steht, so w e i ß er, insofern er sich selbst reflektiert, in seinem reflexiven Wissen darum, daß sein lichtloses Setzen wahrheitswidrig ist. Daß dieses reflexive Wissen ein erkennendes ist, soll im folgenden nachgewiesen werden. Nur durch willentliche Abstraktion von seinem reflexiven Wissen vermag der Verblendete in seinem verblendeten Fürwahrhalten zu verweilen. Er unterdrückt fortwährend wahre Erkenntnis in sich.

XV. Die Erkenntnis der spezifischen Weise des Sichbestimmens 104. Das wesentliche Bilden und ineins mit diesem das existentielle Bilden kann durch die sich auf das Bilden erstreckende und es zur Bezeichnung durch die Wahrheit bringende Forderung als solches erkannt werden. Der Grund für das Zustandekommen dieser Erkenntnis ist, daß nicht nur kontendiert, sondern affirmiert wird. Wir müssen aber erkennen, daß wir geistig handeln, sonst handeln wir in Wirklichkeit nicht. In diesem geistigen Handeln setzen wir nun spezifische Bilder des Seins selbst als wahr an, die sich jedoch nur in Erkenntnis bewähren, falls das in ihnen Gebildete dem Wahrheitsanspruch entspricht und als der absoluten Forderung entsprechend erkannt wird. Wir können in ihnen aber auch geltend machen, was nicht gefordert ist, und damit ein Wissen erstellen, das ein bloßes Wissen ist und keine Erkenntnisdignität besitzt.

105. Wir wissen nicht nur etwas, wir wissen ineins damit auch stets, d a ß wir es wissen. Wir wissen also in dem uns hier beschäftigenden Falle, daß wir ein Bild bilden, das wahr sein soll, aber durch nichts bewährt wird. Dieses Wissen von unserem Wissen wird in jedem Falle, wo es zu einem Wissensbilde kommt, realisiert. Die Frage ist, ob es stets als Erkenntnis realisiert wird.

106. Die Grundtendenz in uns und die absolute Forderung verlangen e i n w i r k l i c h e s B i l d e n . Nun m u ß dieses Bilden s e i n e r s e l b s t g e w i ß s e i n k ö n n e n . Nur wenn ein solches Wissen von sich a l s B i l d e i n e r k e n n e n d e s W i s s e n i s t , kommt es z u e i n e m w i r k l i c h e n B i l d e n . In einer solchen Erkenntnis wird nicht nur der existenzielle Vollzug und die grundsätzliche Wesenheit des Bildes wahrheitsgemäß erfaßt, sondern auch die jeweilige spezifische Weise. Andernfalls könnte der Argumentierende zwar die Existenz des Bildes und seine Wesenheit als Bild mit Gewißheit erkennen, nicht aber, was er spezifisch setzt. Dann aber erfaßte er kein w i r k l i c h e s B i l d und damit nicht https://doi.org/10.1515/9783110629200-053

XV. Die Erkenntnis des Sichbestimmens

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das, was von der Wahrheit her gefordert ist. Die Wahrheit fordert ja nicht einen existentiellen Vollzug des Bildes überhaupt, die bloße Gewißheit des daß, die auch primär als solches Abstractum gar nicht möglich ist; sondern sie fordert ein spezifisches, nämlich das ihrer Forderung gemäße Bild. Nur wenn wir die spezifische Weise unseres Bildens und seines Bildes erkennen können, können wir also ein wirkliches Bildsein vollziehen.

107. Das Argument ist, wie wir schon wissen, keine bloße faktische Begebenheit, sondern wesentlich Willensvollzug. Ich weiß nur, daß ich auf eine bestimmte Art bilde, indem ich weiß, daß ich in diesem Bilden willentlich so setze. Ich muß mir also meines spezifischen Wollens gewiß sein, um wirklich zu wollen.

108. Es kann also nicht nur, sondern es muß in jedem Bilden wahrheitsgemäß und mit Gewißheit gewußt werden, daß gebildet, daß gebildet und daß auf diese bestimmte Weise gebildet wird. Das erkannte Wissensbilden kann selbst, in dem, was es aussagt, ein bloßes Wissen, d. i. Bildung eines Nichtgeforderten und damit ohne Erkenntniskraft sein. Aber sein Wissen um sich selbst, d. i. um seine spezifische Existenz (seinen Vollzug und dessen Weise) muß Erkenntniskraft haben, sonst vollzöge sich gar kein Wissen.

109. Wir wissen in einem solchen Wissen von sich als einem Wissen, das bloß kontendiert, stets mit Gewißheit, daß wir wissen und was es ist, das wir wissen, und dies trotz der Lichtlosigkeit des (gewußten) Wissens selbst (vgl. I, §§ 160– 165). Was wir in diesem Wissen, dessen spezifischen existentiellen Vollzug wir erkennen, dann weiterhin als selbst seiend in Ansatz bringen, braucht nicht in Wahrheit zu sein und so zu sein, wie wir es annehmen. Nur ist stets erkannt, daß wir es so angesetzt haben.

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Teil II

110. Freilich können wir in einem erneuten Urteil leugnen, daß wir so angesetzt und in Wahrheit so angesetzt haben. Doch ist dies seinerseits immer nur in einem Ansetzen möglich, das sich wirklich vollzieht und als solches erkannt wird.

XVI. Das Sichbestimmen als ständiges auf sich Zurückkommen 111. Die Art und Weise, wie wir uns frei bestimmen, ist darin von der wandellosen Bestimmung in und aus der Wahrheit verschieden, daß erst unsere Bestimmung sie herbeiführt und daß diese Bestimmung nur solange besteht, als wir sie frei durchhalten. Wir sind in freier Selbstbestimmung nur etwas, solange wir uns darin erhalten.

112. Unsere Freiheit setzt nämlich im Akte ihres Vollzuges zwar ihr bestimmtes Sein, aber sie zieht sich auch immer ineins damit in ihre Unbestimmtheit zurück, um sich, falls sie fortbesteht, sogleich wieder von neuem zu bestimmen.

113. Jede Selbstbestimmung ist (nach II, § 91) eine Handlung, die sich in einer Tat abschließt. D i e T a t i s t d a s s p e z i f i s c h e S e i n , d a s s i c h d i e F r e i h e i t mit ihrer Entscheidung zu einer bestimmten Weise ihrer Existenz gibt. Mit dem Setzen der Tat zieht sich jedoch die Freiheit zugleich als formale wieder aus der Bestimmtheit in die Unbestimmtheit zurück, um sich aus dieser Unbestimmtheit sogleich wieder neu zu bestimmen. Die formale Freiheit realisiert sich demnach in jedem Momente ihres Vollzugs in doppelter Weise: als bestimmtes Sein (Tat) und als erneute Unbestimmtheit (Handelnsmöglichkeit), die zu einem weiteren Handeln anhebt.

114. Die Freiheit muß, soll sie eine und dieselbe Freiheit sein, mit sich im Vollzuge ihrer selbst identisch bleiben; das heißt aber: sich mit sich identisch setzen. Sie muß sich nach dem zuvor Gesagten zugleich als anders (bestimmt aus einer https://doi.org/10.1515/9783110629200-054

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Teil II

Unbestimmtheit) und doch als dieselbe in diesem Anderssein ( u n bestimmt und b e s t i m m u n g s f ä h i g aus Bestimmtheit) setzen. Andererseits kann ihr bestimmtes Sein nicht schon in ihrer Bestimmtheit notwendig impliziert sein, weil sonst kein Freiheitsvollzug statthätte. N u r durch ein Kausieren aus sich wird die Freiheit zu der spezifisch bestimmten Freiheit, zu der sie sich jeweils macht. Soll sich die Freiheit als bestimmt und zugleich als erneut unbestimmt setzen, so muß sie in einer Weise zugleich setzen können, die von der Weise der Implikation verschieden ist.

115. Diese Weise ist dadurch ausgezeichnet, daß im Werden zwei aufeinanderfolgende Elementarpartien desselben nicht nur apponiert, sondern daß im Kausieren und dem in diesem mitgehenden Intuitus beide Elementarpartien zugleich gesetzt und auf einen identischen Träger (das Ich) bezogen werden. Die Freiheit, die von Unbestimmtheit zu Bestimmtheit übergeht, ist in beiden Partien ihres Werdens mit sich identisch, d. i. zugleich gesetzt und als substantiell eine gesetzt. Nur deshalb kann angesetzt werden: das, was bestimmt wird (resp. ist), ist dasselbe, welches aus seiner Unbestimmtheit herausgeht; aber zugleich: das, was unbestimmt wird (resp. ist), ist dasselbe wie das, was in seine Bestimmtheit eintritt. Die Unbestimmtheit ist (resp. wird) auch im Momente der Bestimmtheit, so wie die Bestimmtheit auch im Momente der Unbestimmtheit ist (resp. wird). Im Schema:

.... h

t h

t ....

116. Das Sichbestimmen im gegenwärtigen Momente ist in jedem Augenblick des Werdens ein sich in die Unbestimmtheit Zurückziehen und ein sich Erneuern zu einer erneuten Selbstbestimmung. Da es aber ein und dieselbe Freiheit ist, die sich in erneute Unbestimmtheit zurückzieht und sich aus einer vorherigen Unbestimmtheit bestimmt, v e r h a l t e n s i c h B e s t i m m t h e i t u n d U n b e s t i m m t h e i t in ihr als ein und derselben z u e i n a n d e r .

XVI. Das Sichbestimmen als auf sich Zurückkommen

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117. Dieses Zueinander ist nun nicht ein einfaches Gegebenes, sondern es ist ein v o l u n t a t i v e s . Die Bestimmung aus der Unbestimmtheit ist eine willentliche. Die Freiheit bestimmt sich, wie sie sich bestimmt, weil sie dies will, und nur im Wollen dieses. Zugleich zieht sie sich in erneute Unbestimmtheit nur aus sich, d. i. aus einer durch sich willentlichen Bestimmtheit, zurück. Die erneute Unbestimmtheit geht, als identisch mit sich in ihrem vorhergehenden Sein, in erneute Bestimmung über. Da sie hierbei mit dem Vorhergehenden in synthetischer Einheit ist, bedeutet dies, daß die erneute Bestimmung in dynamisch-voluntativem Wechselbezug mit dem Vorhergehenden steht. Ich will in einem solchen erneuten Michbestimmen etwas in Bezug auf mein eigenes vorhergehendes Wollen; und das vorhergehende Wollen ist voluntativ präsent in meinem jetzigen Wollen.

118. Dieser Bezug des Wollens auf sich selbst in einem und demselben sich als Freiheit vollziehenden Ich bedeutet demnach ein Zweifaches: 1. Mein erneutes Wollen verhält sich willentlich zu meinem vorhergehenden Wollen. Ich entscheide mich bezüglich meiner vorhergehenden, mir pertinenten Entscheidungen und kann dies nicht unterlassen, ohne daß meine Identität aufgehoben wäre. 2. Mein vorhergehendes Wollen wird nicht als bloßes, mich in meinem nunmehrigen Wollen nichts mehr angehendes Faktum erinnert, sondern ist als Wollen mit seiner dynamisch-voluntativen Kraft in actu, wenn ich erneut will. Das frühere Wollen ist im gegenwärtigen Wollen als synthetisches Teilmoment desselben wirksam und entscheidet mit. Zweifellos entscheidet das vorhergehende Wollen nicht allein, denn das Ich hat sich aus seiner damaligen Entscheidung schon in erneute Unbestimmtheit zurückgezogen, wenn es neu entscheidet; aber es entscheidet mit. Es geht eine synthetische Verbindung mit demjenigen, den gegenwärtigen Willen bestimmenden Momente ein, das jetzt eine erneute Entscheidung herbeiführt. Natürlich entscheidet dieser neue Wille in seiner gegenwärtigen Komponente selbst, aber nur, indem er den vorhergehenden Willen in sich integriert. Dies geschieht in einer dynamischen Vermittlung von Willensmoment zu Willensmoment. Das vorhergehende Wollen wird in ihm innerlich (er-innert) und zu seinem eignen (er-eignet) und gewinnt so eine ganz bestimmte Bedeutung, sei es, daß ihm beigepflichtet, sei es, daß es zurückgedrängt wird.

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Teil II

119. Wenn wir nun aber uns in unserm gegenwärtigen geistigen Handeln auf unser vorhergehendes geistiges Handeln zurückbeziehen und in synthetischer Vermittlung stehen, können wir dann sicher sein, daß wir es so erkennen, wie es in Wahrheit ist? Könnte nicht unser Wissen in der Gegenwart durch eine Erinnerungsverwandlung sich auf ein nur putatives Sein des vorhergehenden Wollens beziehen, das vom Sein selbst desselben verschieden ist? Anders gesagt: können wir uns vergewissern, daß wir nicht einer Erinnerungstäuschung unterliegen?

120. Um diese Frage in jeder Hinsicht eindeutig zu beantworten, müssen wir auf den Umstand achten, daß wir uns auf zweierlei Weise des Vorhergehenden bewußt sind. Im durch freies Kausieren herbeigeführten Übergehen muß das geistig handelnde Ich, um sich als übergehend zu setzen, in seinem Werden jeweils zwei Grundpartien desselben auf nichtimplizierende Weise zugleich befassen (nach II, §§ 114 f.).8 Im Schema:

a .... I

b

c

d

b

c

d

II

e

....

III

Allein dies, daß wir auf solche Weise zugleich einzusehen vermögen, ermöglicht das Auffassen eines Werdens. Das erste Werden in seiner Elementarpartie b (von

8 Vgl. Lauth, Reinhard: „Jacobi in der Auseinandersetzung mit Lessing (Spinozastreit), Goethe (Allwill), Kant und Fichte.“ [= Jacobi.] NS 1990/91. Bl. 75r: Es wird als „das Geniale von Fichte“ bezeichnet, daß dieser Veränderungen an einer Person z. B. einen „Übergang von einem wahrsagenden Menschen zu einem Lügner“ aufgezeigt, und gefragt habe, „wie sei denn nun das verbunden“? Dies sei nicht als Grund-Folge Verhältnis des Denkens zu erklären, sondern durch ein Schweben der ursprünglich produzierenden Einbildungskraft, die die beiden „vertauscht“. R. Lauth würdigt dies als genial Neues, im Grunde die „Lösung einer Nichtlösung innerhalb der Philosophie von zweieinhalb tausend Jahren“.

XVI. Das Sichbestimmen als auf sich Zurückkommen

189

a) ist bereits das zweite Werden in seiner Elementarpartie b (nach c). In be findet allerdings ein Umschlag statt; a wird aus der Zugleichsicht entlassen und c darin aufgenommen. Die Präsenz von b im Werden von b zu c ist im Status c dann eine ebensolche, wie die von a im Werden von a zu b war und die von c im Werden zu d sein wird.

121. Anders ist das Vorhergehende bewußt, wenn eine Elementarpartie des Werdens aus der Co-Intuition entlassen ist. Dann wird sie nur noch einbildend erinnert, wenngleich sie im nunmehrigen geistigen Handeln in der oben (II, § 118) dargelegten doppelten Weise in actu ist. Die hier bloß reproduzierend imaginierte Realität des Vorhergegangenen ist nicht von der gleichen Art wie die der cointuierten Elementarpartie jenes Werdens, aus der ich gerade herausgehe. Die erinnerte Realität hat für unser Wissen nicht die gleiche Bedeutung wie die gegenwärtig intuierte bzw. co-intuierte.

122. Die co-intuierte Realität des (vorhergehenden) geistigen Handelns, von der ausgegangen wird, wenn zu dem Sein übergegangen wird, das daraus erfolgt, ist in der gleichen Weise wie das Erfolgende präsent. Von ihr gilt also auch hinsichtlich ihrer Erkenntnisdignität dasselbe wie vom jetzt statthabenden Vollzug. Wir müssen ein wahres Bewußtsein desselben haben, um in einem geistigen Handeln der absoluten Forderung entsprechen zu können. Sie ist infolgedessen von der Wahrheit bezeichnet und ihre Einschauung legitimiert.

123. Anders verhält es sich hingegen mit dem nur Erinnerten, dem reproduzierend Imaginierten. Das, was da erinnert wird, ist außerdem, wie gezeigt, im gegenwärtigen geistigen Vollzug dynamisch in actu; und dies genügt, damit wir identisch mit uns selbst wollen. Seine richtige Erinnerung stellt keine notwendige Bedingung des von uns geforderten geistigen Handelns dar. Auch wenn wir uns über unsere Vorvergangenheit täuschen, können wir uns zu dem, woraus wir unmittelbar geistig handelnd werden und das wir co-intuieren, der Wirklichkeit entsprechend verhalten.

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Teil II

124. Dennoch führt eine Täuschung im reproduzierenden Erinnern uns dazu, uns in einer unangemessenen Weise zu uns zu verhalten. Denn das richtige oder falsche Reproduktionsbild des vergangenen Handelns und der Produkte desselben kann seinerseits mitbestimmend in das gegenwärtige Handeln eingehen. Das Erinnerungsbild wird selbst zum willens(mit)bestimmenden Faktor. Leitet uns dabei ein Trugbild, so verhalten wir uns nicht mehr zu uns selbst, wie wir wirklich handelten, bestimmen uns also nicht völlig, wie wir uns bestimmen sollten und können auf diese Weise der absoluten Forderung insofern nicht entsprechen. Da wir aber über keine Möglichkeit verfügen, das Erinnerungsbild gegen eine Täuschung zureichend abzusichern, andererseits in weiten Bereichen für unser Wollen auf Erinnerungen angewiesen sind, so finden wir uns berechtigt, unserer Erinnerung, bei Wahrung der gebotenen Sorgfalt, zu vertrauen. Durch ein solches Vertrauen wird allerdings das Erinnerte nicht mittelbar genetisiert. Es kommt zu keiner Einsicht in die Deckungsgleichheit des Erinnerungsbildes mit der erinnerten Realität. Alles, was wir erreichen können, ist ein begründeter Glaube (fides) an die Wahrheit des Erinnerten, den wir durch einen entsprechenden Glaubensakt (Fiduzialakt) aufbringen. Dieser Glaube (das „Erinnerungsvertrauen“) ist auf Grund des allgemeinen Realisierungsmandats von Seiten der Wahrheit gefordert und dadurch auch legitimiert.

125. Es sei an dieser Stelle nur schon vorweg bemerkt, daß diese Sachlage moralisches Handeln nicht unmöglich macht. Wenn nur der Glaube begründet ist, so beziehen wir uns sinnvoll und vernünftig auf Wirklichkeit. Die Vernunft hat dann einen Grund, das Wirkliche so und nicht anders aufzufassen, wenn auch ein Unsicherheitskoeffizient bleibt.9 Das Wesentliche der moralischen Handlung besteht im übrigen nicht in den äußeren Zwecken, die wir uns setzen, sondern in der Willenseinstellung, die wir beziehen; die ist aber unmittelbar eine moralische oder unsittliche, gleichgültig ob wir uns hinsichtlich der Realität, auf die wir uns beziehen, (ungewollt) täuschen oder nicht.

9 Vgl. Lauth, Reinhard: „Fichte, Wissenschaftslehre 1804.“ NS 1984/85. Bl. 49r: „Unsere Freiheit ist nur, indem sie zugleich das Dasein der absoluten Vernunft ist. Aber die Freiheit ist die Ermöglichung, daß Vernunft sich realisieren kann.“

XVII. Die Erkenntnis des Ineinandergreifens der logischen Struktur und der Kausalstruktur im Sichsetzen des Arguments 126. Das Ich kann sich nie als auf spezifische Weise existentiell sich vollziehendes setzen, ohne frei zu kausieren. Wie sich ergeben hat (II, § 119), wird das Kausierte in der Weise apponiert, daß zu ihm in der Helligkeit des Ursache und Bewirktes ineins befassenden Einschauens übergegangen wird. D a s I c h k a n n zu nichts in sich übergehen, was nicht in ihm logisch möglich ist. Es muß, als Grundbestimmung, jede spezielle Bestimmung, die es sich gibt oder die ihm wird, als eine ihm mögliche Fortbestimmung in sich beschließen. Jedes bestimmte Argument ist eines der dem Argumentierenden möglichen Argumente in Beziehung auf die einmalige bestimmte Reihe von Argumenten, die es insgesamt vollzieht.

127. Aus dieser Sachlage ergibt sich eine doppelte Folge. Zum einen kann das argumentierende Ich immer nur so ansetzen, daß es der Möglichkeit nach in ihm gelegene Argumente durch Weiterbestimmung in sich zur Realität erhebt. Da die Weiterbestimmung mehrstufig sein kann, kann eine solche Bestimmung auch in mehreren Schritten erfolgen. Dies ergibt das grundsätzliche Verhältnis der D i s k u r s i v i t ä t . Wir schreiten in der Zeit fort, indem wir uns weiterbestimmen, d. i. logisch in unserem geistigen Sein implizierte Möglichkeiten sukzessive realisieren.

128. Zum anderen ist jede argumentative Setzung eine neue in der vorhergehenden nicht durch Implikation beschlossene Setzung, die durch die Implikationsordnung noch nicht in ihrem spezifischen Sein bestimmt ist. Doch jede neue Setzung kann nur in Bezug auf die anderen freien Setzungen, die wir vollzogen haben, erfolgen, nämlich so, daß es uns in unserem gegenwärtigen Setzen um diese früheren Setzungen geht und diese in ihm wirksam sind. https://doi.org/10.1515/9783110629200-055

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Teil II

Die vergangenen freien Setzungen bestimmen das gegenwärtige freie Kausieren zum einen dadurch, daß sie dessen freie Mitursache werden, zum anderen dadurch, daß es dem identisch bleibenden Ich, was sie betrifft, um etwas geht, das für sein Wollen relevant ist. Wir inkarnieren uns auf diese Weise schrittweise und realisieren uns als freie Kausalität im Prozesse einer solchen Selbstwerdung. Es entsteht in uns eine uns spezifisch eigentümliche „Natur“ geistiger Art, die eine Seinsgestalt realisiert, die zwar zu den logisch möglichen gehört, a b e r n u r d u r c h l o g i s c h u n a b l e i t b a r e F r e i h e i t s a k t e , die auf die beschriebene Weise ineinandergreifen, wirklich wird.

129. In jedem Argument setzt der Argumentierende sich und sein Argument. Sein Argument setzt sich und seinen einfachen Inhalt. Der Argumentierende kann in mehreren derartigen Setzungen logisch konsequent weiterbestimmen, er kann aber auch d e n k o n s e q u e n t e n F o r t g a n g u n t e r b r e c h e n und abbrechen. Ineins mit der Weiterbestimmung einer Grundbestimmung setzt der Argumentierende in jedem Argument ein allein durch seine Freiheit bestimmtes S p e z i f i s c h e s , das in unaufhebbarem Nexus mit seinen übrigen freien Setzungen steht und so eine Inkarnation schafft, durch die eine geistige Natur realisiert wird. Diskursivität und Inkarnation greifen auf diese Weise gesetzmäßig ineinander. Ohne Diskursivität bestünde logische Unmöglichkeit. Ohne Inkarnation wäre Reflexion, die ja ein Zurückkommen auf sich ist, unmöglich. Das Ineinandergreifen beider ist demnach notwendige Bedingung des geistigen Aktes, der als solcher absolut gefordert ist.

130. Der diskursive Fortgang als auch der inkarnierende Akt sind Bedingungen der Möglichkeit des Arguments. Ist das Argument unbedingt gefordert, so sind auch sie in ihrem spezifischen Ineinandergreifen absolut gefordert. Damit zugleich werden sie, wenn sie vollzogen werden, von der Wahrheit her bezeichnet, also nicht nur gewußt, sondern auch in ihrer Wahrheit erkannt. Das Bild von ihnen ist mit ihrem Sein deckungsgleich. Wir erkennen, daß wir in jedem Argument diskursiv fortschreiten und unsere Freiheit bestimmen.

XVIII. Das Problem der Wahrheit des Bildes vom transimaginären Sein 131. Wir haben in den vorhergehenden Untersuchungen die Wahrheit des Bildes sichern können, die das Bild von seinem eigenen Wesen und Sein hat (esse imaginis). Es verbleibt aber noch der weite Bereich dessen, was in jedem Wissen als das jenseits des Bildes und seines Seins liegende transimaginäre Sein selbst angesetzt wird. In den Bereich dieses Seins selbst fallen nicht nur sachliche Gegebenheiten, sondern auch fremde Personen und deren Manifestationen sowie durch personales Handeln geschaffene objektiv-geistige Gebilde, wie Institute und Artefakte. Wir müssen uns jetzt der Frage zuwenden, ob wir deren Sein wahrhaft erkennen können.

132. Das Wissensbild hat wesensmäßig ein Verhältnis zur Wahrheit und der aus dieser emanierenden absoluten Forderung; es erkennt auch notwendig sein eigenes Wesen und die bestimmte tatsächliche Stellungnahme, die es der (Forderung der) Wahrheit gegenüber bezieht. Aber diese Bezüge erschöpfen das Wissensbild nicht. Denn in ihm geht es um die Erfassung eines transimaginären Seins selbst. Ginge es nicht darum, so verhielte das Argumentieren sich nur zu sich selbst, d. i. zum Sein des Bildes. Das Wissen führt jedoch ein Bild eines ,Seins‘ mit sich, das nicht nur Phantasiebild sein soll, sondern Offenbarung eines wirklichen Seins jenseits des bloßen Bildseins.

133. Es ist an dieser Stelle besonders darauf aufzumerken, daß das transimaginäre Sein selbst als solches enthüllt sein soll. Ein Substitut desselben, etwa eine von ihm verschiedene Übersetzung, die ihm nur in gewisser Weise entspräche, genügte nicht, um von wahrer Erkenntnis des Seins selbst zu sprechen. Die Übersetzung (z. B. die Note) ist nicht das Sein selbst (der lebendige Ton), mag auch eine funktionale Entsprechung zum Sein selbst bestehen. https://doi.org/10.1515/9783110629200-056

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134. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht außer Acht lassen, daß e s k e i n S e i n a u ß e r i n e i n e m B i l d e g i b t (vgl. I, § 6 3 ). Das besagt freilich noch nicht, daß jedes Bild auch Bild des wahren Seins ist. In einem bestimmten Bild kann das wahre Sein nicht gesehen sein. Wenn wir ein Bild des wahren Seins selbst anstreben, so geht es nicht um das Bilden von etwas, das vor diesem Bilden vorher noch gar kein Gebildetes war, sondern es geht um ein Bilden, das ineins dasjenige Bilden ist, das das wahre Sein selbst bildet.

XIX. Das Sein selbst als ein das Bilden hemmendes Sein 135. Wenn wir uns die Frage stellen, was wir in jedem Wissen mit dem Ansatz „transimaginäres Sein“ meinen, so finden wir, daß dies ein Sein sein soll, das nicht in dem vom vorstellenden Bilden gebildeten „Sein“ aufgeht, sondern mehr als nur Vorgestelltes ist. Dieses Sein soll zwar gebildet sein – es selbst, wie es ist –, aber es soll nicht nur kraft der Aktivität dieses Bildens sein.

136. Dennoch soll das transimaginäre Sein selbst in die Vorstellung von ihm eingehen können; es soll als es selbst vorgestellt werden können. Damit dies erfolge, muß das Sein vom Vorstellen in der Vorstellung erstellt werden, also insofern aus dessen aktivem Gestalten als (hier) vorgestelltes erstehen und nur solange (hier) vorgestellt sein, als dieses aktive Gestalten währt. Andererseits aber darf das Sein, soll es Sein selbst sein, nicht in seinem Sein nichts anderes als jenes aktive Gestalten und dessen Produkt sein; denn dann wäre es nur das vorgestellte „S e i n “ im Bilde, nicht aber das transimaginäre Sein selbst. Das Vorgestelltsein des Seins selbst ist darum nur so zu denken, daß das Sein selbst zwar durch das aktive Bilden zum (hier) vorgestellten Sein wird, aber nur, indem es selbst dieses Bilden, das ja in freier Aktivität erfolgt, auf eine gewisse Weise zu der anfallenden Gestaltung bestimmt.

137. Im Bilden des eigenen Wollens geht die Aktivität des Bildens mit dem realen Wollen, d. i. mit dessen Bilden ineins. Es ist ein und dieselbe freie Aktivität, die sich zu einem bestimmten Wollen und dem Bilde dieses Wollens formiert. Der Intuitus ist in diesem Falle dem Wollen geeint und innerlich. Dennoch ist auch hier das Bilden des Wollens (das reale Bilden) nicht bloß das Bilden (das ideale Bilden) im Vorstellen desselben. Das reale Bilden geht über das ideale Bilden hinaus, wird zwar in letzterem gebildet, aber ist mehr als nur das Produkt seines vorgestellt werdens. Ideales und reales Bilden sind hier https://doi.org/10.1515/9783110629200-057

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in Einer Aktivität vereint, aber nicht schlechthin identisch. Darum erfassen wir auch unser Wollen als reales Wollen.

138. Im vorstellenden Bilden eines Seins, das transimaginär und nicht das Sein des eigenen Wollens oder idealen Bildens sein soll, verläuft das ideale Bilden nicht in einschauender Einheit mit der eigenen Realität, sondern so, daß es als freie Aktivität zu einer gewissen Gestaltung genötigt wird. Es kommt zu einer Vorstellung, die nicht nur Produkt und Ausdruck des eigenen Bildens und Wollens ist, sondern aus einer andersartigen Bestimmung hervorgeht.

139. Wohl gemerkt bleibt das Vorstellen auch in diesem letzteren Falle frei. Ohne freie Aktivität des idealen Bildens von der Einen Seite kommt es zu keiner Vorstellung transimaginären fremden Seins; denn es wäre nichts da, was bestimmt werden könnte. Die freie Aktivität des idealen Bildens ist in diesem Falle an etwas hingegeben, das sie begrenzt, das sich ihr aufnötigt und sie hemmt. Der Vorstellende findet da sein Bilden in seiner Freiheit durch etwas, das nicht aus dem eigenen Wollen kommt, bestimmt.

140. Keine derartige von außen kommende Bestimmung, die wir im folgenden Hemmung nennen wollen, kann einfach bloß als solche in der Vorstellung auftreten. Sie kann immer nur als Akzidenz an einer Aktivität, die sie substantiell trägt, hervortreten, nämlich an der Aktivität des bildenden Subjekts. Der Vorstellende erfaßt die Hemmung also immer nur, indem er die eigene Aktivität des (idealen und realen) Bildens erfaßt. Diese Aktivität ist in dem hier gegebenen Falle nicht einfachhin nur selbstbestimmend, folglich auch ihr Produkt nicht nur das, was aus ihr hervorging, sondern sie wird, indem sie sich selbst bestimmt, z u g l e i c h d u r c h e t w a s i h r F r e m d e s b e s t i m m t . Bildende A k t i v i t ä t und fremde H e m m u n g müssen ineinandergreifen, damit

XIX. Das Sein als hemmendes Sein

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das Bild eines Hemmenden, und das ist eines transimaginären äußeren Seins, entstehen kann.10

141. Der eigene Wille ist, genau so wie das äußere Sein, ein Reales des vorstellenden Bildes. Nur ist dieser Wille, solange und sofern er nur aus sich selbst ist, was er ist, eine Realität, die zugleich die Realität des ihn einschauenden Bildes ist. Das Vorstellungsbild bildet insofern sich nur in seinem eigenen Sein.

142. Wir intuieren aber nicht unseren gesamten Willen auf einmal, sondern immer nur jenes bestimmte Wollen in und aus ihm, das sich gerade verwirklicht. Deshalb ist der Wille, von dem momentanen Wollen abgesehen, allerdings eine für das eigene Vorstellen uneinschaubare Realität. Allerdings können wir im Intuitus des momentanen Wollens zugleich das unveränderliche Grundwesen des Willens mitintuieren. Aber unser übriges Wollen bleibt uneinschaubar. Es bestimmt das momentane Wollen, von dessen Einschauung her gesehen, von außen, als eine ihm fremde Realität. Nur weil wir aus vorhergehendem Einschauen wissen, daß diese fremde Realität ihrerseits eigene Realität war, können wir sie zu uns rechnen. Unser Gesamtwille erscheint objektiv als ein nicht intuiertes, sondern nur vorgestelltes Sein jenseits des momentanen Bildseins.

143. Die akzidentell in der bildenden Aktivität sich manifestierende Hemmung aber wird überhaupt nicht eingeschaut. Eingeschaut wird unmittelbar nur das aktuelle Wollen. Insofern dieses von fremder Seite bestimmt wird, wird auch das ideale Bilden betroffen. Dieses ist dem Wollen und dessen Aktivität innerlich. Es wird

10 Vgl. „Jacobi und Fichte.“ NS 1991/92. Bl. 41r: „Das erfährt in der Transzendentalphilosophie eine besondere Steigerung, insofern die Hemmungen grundsätzlich von zweierlei Arten sind. Die einfachen Hemmungen, die einfach nur hemmen, aber ihrerseits nicht intendieren, und die intentionalen Hemmungen, die wir immer dann erleben, wenn wir ,Fremdpersonales‘ erleben. Dann hemmt uns nicht etwas, sondern dann kommt fremde Intention auf uns zu.“

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mit ihm von etwas betroffen, das nicht es, also ihm äußerlich ist. Diese Hemmung wird in ihrem eigenen Sein nicht e i n - , sondern nur a n geschaut.

144. Die Anschauung unterscheidet sich von der Einschauung (dem Intuitus) dadurch, daß sie nicht mit einer freien Verursachung zu deren Wirkung übergeht, sondern bei diesem Übergehen in der Wirkung etwas erhellt, was nicht Bewirktes der freien Ursache ist, gleichwohl aber mit diesem zusammen auftritt. Während die Einschauung vor dieser fremden Wirkung erlischt, bildet es die Anschauung. Weil aber die letztere etwas bildet, dessen Seinsgrund nicht im geistigen Handeln liegt, darum stellt sie es als etwas dar, das gesehen, aber nicht eingeschaut wird.

XX. Die Hemmung als Vorgestelltes, das mehr als nur Vorgestelltes ist 145. Die Hemmung als solche, obwohl sie nicht eingeschaut, sondern nur angeschaut wird, gehört qua akzidentelle Bestimmung des freien geistigen Handelns (das in seiner Verwirklichung eingeschaut wird) zum Sein des geistig Handelnden selbst. Dieser sieht sich in seinem Gehemmtsein. Das ist nur möglich, weil die Hemmung nicht völlig außerhalb des geistigen Handelns liegt, sondern durch das Vorstellen als eine Modifikation der geistigen Tätigkeit gebildet wird, obgleich sie nicht aus einer willentlichen Bestimmung des Ich hervorgeht.

146. Wir sind uns im Falle des Gehemmtseins unserer als Gehemmter bewußt. Die Hemmung und deren Realität gehört zu unserer Realität als geistig Handelnde. Die Realität der Hemmung wird also nicht erschlossen, sie wird auch nicht außerhalb des geistigen Seins wahrgenommen, s o n d e r n i s t Realität in uns, d. i. ein Teil der Realität unseres eigenen Realseins.

147. Diese Realität der Hemmung unterscheidet sich jedoch von der übrigen Realität unseres Seins, d. i. von der Realität unseres eigenen willentlichen Handelns dadurch, daß sie nicht einfachhin Bewirktes unseres freien Wollens, sondern zugleich mit dem Bewirken dieses Wollens als Wirkung Auftretendes ist. Die Wirkung unseres Wollens erscheint deshalb als eine Synthesis aus von uns Bewirktem und von uns Nichtbewirktem, gleichwohl aber sich in der Wirkung als real Manifestierendem.

a₁

a₂ h₁

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148. Insofern wir diese Hemmung im Anschauen bilden, ist sie von uns Bewirktes, n ä m l i c h d u r c h u n s e r B i l d e n G e b i l d e t e s . Insofern diese Hemmung aber gegen unser Wollen und nicht als dessen Bewirktes auftritt, ist sie nicht von uns Bewirktes, dennoch aber Wirkung. Als Wirkung ist die Hemmung Bestimmung dessen, was „als real sich ergebend“ vorgestellt wird, nämlich Bestimmung des Wollens in dessen Produkt. Nennen wir das Bestimmende eines Bildes das Reale, so ist das Hemmende ebenso real wie das bestimmende Wollen des (zugleich) vorstellenden Ich. Das Sein im Bilde wird deshalb als aus dem Wollen Bewirktes dem Bilden; als das das Wollen Bestimmende nicht dem Bilden zugerechnet. Wir bekommen ein esse imaginis und ein esse alii, ein esse non solum imaginis bzw. praeter imaginem quatenus imago est velle se ipse efficiens. Dieses letztere esse aber ist insofern auch ein esse imaginis, als es durch ein Bilden vorgestellt, d. i. idealiter konstituiert wird.

149. Ineins mit der Hemmung des Wollens erfolgt ein neuerliches S i c h f a s s e n des Wollens (nach II, Kap. XVI). Nun faßt sich hier aber der Wille nicht nur insofern neu, als er zu seiner eigenen Verursachung und deren Bewirktem Stellung nimmt, sondern auch insofern, als er das in der Wirkung Aufgetretene bejaht oder verneint. Dies letztere ist als Hemmung ja etwas, das den Willen als Willen betrifft und ihn bindet, indem es bestimmt, was als Wirkung auf dessen Wollen hin und mit ihm verbunden auftritt. Die Bindung wird als Akzidenz des Wollens erschaut und auf sie erinnernd Bezug genommen, wenn das Wollen erneut etwas bewirkt. Das Wollen wollte sich als etwas Bestimmtes setzen, nämlich als ausschließlich das, als was es sich kausierte; es findet sich aber im Ich etwas anderes gesetzt, als das Ich setzen wollte. Dieses Andere hat als Akzidenz des Wollens selber voluntative Relevanz, d. i. es ist etwas, um das es uns geht, das für unser Wollen pertinent ist und zu diesem in dynamischer Spannung steht. Es kann also gar nicht auftreten, ohne daß sich der Wille mit ihm auseinandersetzt und zu ihm Stellung bezieht. Es erscheint niemals als bloßes, für den Willen nicht relevantes Faktum, sondern immer mit einem Wertakzente.

150. Die Hemmung tritt ihrerseits nicht nur mit dem Auftreten der Wirkung in die Gegenwart ein, sie rückt auch ineins damit wie das vom Willen selbst Bewirkte

XX. Die Hemmung

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in die Vergangenheit. Aus der Hemmung in actu wird das vergangene Faktum der Hemmung. Die Hemmung versteinert in der Erinnerung. Ungleich dem Wollen geht sie nicht als wirkender Wille in die nächste Setzung über, sondern bleibt, als was sie aufgetreten ist, – ein abgerissenes Faktum. Wir können im nächsten Augenblick zwar erneut gehemmt werden, aber nicht durch die in diesen neuen Augenblick übergehende ehemalige Hemmung, s o n d e r n n u r d u r c h e i n e neuerlich auftretende, grundlose Hemmung.

151. Etwas anderes ist, daß wir uns im Erinnern auf ehemalige Hemmungen zurückbeziehen und es uns insofern im gegenwärtigen Wollen um diese ehemaligen Hemmungen gehen kann. Aber dann geht es uns um diese Hemmungen nur insofern, als sie rein vergangen und nicht als Wille in die Gegenwart hineinwirkend sind wie das vergangene Wollen. Wir können wollen, daß eine Hemmung in der Vergangenheit anders gewesen wäre; niemals aber kann diese Hemmung als wirkender Wille die Gegenwart mitbestimmen.

152. Frühere Hemmungen werden allerdings indirekt in der Gegenwart eines Wollenden wirksam. Sie haben, als sie selbst gegenwärtig auftraten, dem Willen, den sie damals hemmten, zu einer Modifikation Veranlassung gegeben. Er hat sich etwa erhöht oder er hat resigniert. Dieser veränderte Wille, der aber immer nur sich selbst zur Ursache hatte, geht als Wille wie alles vergangene Wollen integrierend in das gegenwärtige Wollen mit ein.

153. Nach II, Kap. XIII ist es Konstituens des Arguments, daß es durch Freiheit vollzogen wird. Diese Freiheit kann sich (nach II, §§ 91 u. 92) nur im Übergehen zur Selbstbestimmung vollziehen. Was notwendige Bedingung des Arguments ist, ist durch den Anspruch aus der Wahrheit, realisiert zu werden, notifiziert. Die Freiheit in ihrem Selbstbestimmen ist dadurch (vgl. II, 96) sich selbst authentisch. Da die Freiheit sich nur in einer konkreten spezifischen Weise realisieren kann, ist auch diese bestimmte Weise der Selbstbestimmung (nach II, §§ 97 u. 98) als

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solche in ihrer Existenz bewährt.11 Wir wissen wahrhaft, daß wir das und das setzen – freilich nicht (sondern nur, wenn wir affirmieren unbedingt), ob das von uns Gesetzte auch wahr ist. Da wir (nach II, § 105) aber immer, wenn wir etwas wissen, auch wissen, daß wir wissen, so erkennen wir in jedem Fall, daß wir auf die jeweilige bestimmte konkrete Weise bilden (nach II, § 108). Das Bilden erfolgt aber im Übergang, und darin wird dann das Bilden und sein Produkt zugleich gesehen. Das Produkt des Bildens ist aber nicht einfachhin das, was gewollt wird, sondern ineins mit dem Wollen eine Bestimmung desselben von außen, die wir als Hemmung charakterisiert haben. Läßt sich nun nachweisen, daß es ohne eine solche Fremdbestimmung zu keinem Bestimmen der Freiheit und somit zu keinem Bilden kommen kann, so gehört eine von außen eintretende Hemmung notwendig zum Sichbestimmen im Argumentieren, wenigstens sofern das Argumentieren unmittelbar in der Form des primären Vorstellens auftritt. Was jedoch notwendig zum Argumentieren als solchen gehört, ist mit dem Argumentieren selbst gefordert, von der Wahrheit bezeichnet und also für uns bewährt.

154. Es kann, vom primären Vorstellen ausgehend, höherstufig argumentiert werden. Aber dieses höherstufige Argumentieren setzt den Bezug auf das primäre Argumentieren voraus. Insofern ist in jedem Argumentieren auch das b e d i n gende Moment der Hemmung vorausgesetzt. Der im Bilden geistig Handelnde nimmt sich im Bilden kategorisch als sein konkretes Bilden und dessen Bestimmung. Gehört zu dieser Bestimmung das zugleich eintretende Bestimmtwerden von außen, so kann der Bildende sich nicht anders als gehemmt nehmen. Die Hemmung wird nicht erschlossen, sondern in der konkreten Existenz des geistig Handelnden wahrgenommen. Die Hemmung (nicht der zu ihr erschlossene Grund) muß deshalb evident sein. Es ist für unseren Zweck nicht notwendig, die Frage zu entscheiden, ob die Hemmung von außen wesensnotwendiges Konstituens des primären geistigen Bildens ist. Es genügt die Aussage: Ist sie es, so muß sie auch gefordert und bezeichnet sein, also dem Bildenden evident.

11 Vgl. „Jacobi und Fichte.“ NS 1991/92. Bl. 23r: „Eine solche Idealisation erfolgt mit Bezug auf die vorhergegangenen konkreten Geschichtsbestimmungen, und sie erfolgt nur dann effizient, wenn diese soweit in ihr in actu sind, daß sie in ihr mitbestimmend sind.“

XXI. Hemmende äußere Substanzen als erschlossene Ursache der Hemmung 155. Die in uns angeschaute Hemmung ist zwar eine durch aktives Vorstellen als solche gebildete, aber keine durch unser Wollen prinzipiierte Realität. Sie ist insofern eine zugleich zu uns gehörende und nicht zu uns gehörende Realität; sie wird angeschaut, aber nicht eingeschaut. Das esse im Bilde ist quoad repraesentationem ein esse imaginis, aber quoad actum generantem kein esse repraesentantis, sondern ein esse transimaginativum.

156. Sofern die Hemmung nicht durch unser willentliches Bilden prinzipiiert ist, ist sie eine Realität, von der keine Ursache eingeschaut wird (wie das im Gegensatze in unserem eigenen Wollen der Fall ist). Die Hemmung wird auch ihrerseits ursprünglich nicht als Ursache des in uns Vorgestellten, sondern nur als – weder Ursache noch Bewirktes seiendes – abgerissenes Faktum vorgestellt. Da wir aber alles, was ist, als in seinem Sein begründet denken müssen, hinterstellen wir diesem abgerissenen Faktum rein aus unserem Denken eine Ursache. Wir schließen nach Analogie unseres Prinzipseins im Wollen, daß da ein Sein ist, das seinerseits Ursache der Hemmungen ist und diese bewirkt. Damit wird die Hemmung als Wirkung einer Substanz aufgefaßt und insofern als etwas, das selbständig ist, d. i. jenseits des Bildens des Bildenden als Bewirktes transimaginäre Existenz hat.

157. Die Hemmung wird durch ihr Verständnis von einem Hemmenden her in Gegensatz zum Bilden gebracht. Wir setzen auf diese Weise uns, als real Wollende und mit unserem Wollen Effiziierende, einem uns äußerlichen ebenfalls R e a l e n , eben dem uns Hemmenden gegenüber.

158. Wiederholte Hemmungen erleben wir als mehrere, untereinander durch kein Begründungsverhältnis verbundene Momente in unserem Bewußtsein. Wir inhttps://doi.org/10.1515/9783110629200-059

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terpretieren jede von ihnen gleicherweise als Bewirktes eines Hemmenden. Analog zu unserem mit sich identischen Willen im mehrfachen Wollen können wir diese Hemmenden zu einer Einheit zusammenfassen. Ein und dieselbe Substanz wird dann als Ursache mehrerer Hemmungen aufgefaßt. Mehrere hemmenden Substanzen werden ihrerseits als miteinander in einem bestimmten Verhältnis stehend gedacht. Dies ergibt die Grundvorstellung einer A u ß e n w e l t .

159. Das freie Wollen, das im Effizieren des von ihm Gewollten gehemmt wird, erreicht nicht das, was es erreichen wollte. Sein Produkt fällt anders aus, als es sollte. Das Nichtrealisierte, aber Gewollte wird zwar nicht erreicht, aber es bleibt ideal entworfen und vorgestellt. Ineins mit den Hemmungen werden uns deshalb Wollensziele als nicht realisierte (und deshalb weiterhin gewollte) bewußt. Das den Hemmungen hinterstellte Hemmende wird deshalb nicht nur seinerseits als Realität aufgefaßt, sondern auch in Bezug auf unsere Willensziele bewertet: es ist nicht, wie dasjenige sein soll, das wir woll(t)en; oder es ist teilweise das, was wir wollten. Das Hemmende hat für uns nicht nur eine objektive, sondern auch eine durch die Beziehung auf unser Wollen subjektive Seite, die eine Wertseite ist. Es wird als genehm oder nichtgenehm bewertet. Was von der einen Seite E m p f i n d u n g ist, ist von der anderen (subjektiven) G e f ü h l .

160. Die sich im Zusammenhang unserer Untersuchung entscheidende Frage bezüglich der Auffassung der Hemmungen ist, mit welchem Rechtsgrunde wir die Hemmungen als eigenständige Realität mit einem Wertaspekt ansetzen. Wir schließen auf ein selbständiges Real- und Wertsein, aber q u o j u r e ?

XXII. Intentionale Hemmungen 161. Die Hemmung, deren Realität der Gehemmte anschaut, kann von zweierlei Art sein. Entweder stellt sie eine einfache Begrenzung der Intention des seinen Willen zu realisieren Suchenden dar, ohne Eigenintentionalität; sie verhindert dann, daß der Wille, den sie betrifft, sich ganz so realisiert, wie er sich zu realisieren anschickte, und bewirkt ein Resultat, das anders ist, als es ohne sie geworden wäre. Oder die Hemmung grenzt nicht nur auf einen gewissen Effekt ein, sondern manifestiert sich ineins damit ihrerseits als Wille, der auf ein bestimmtes Ergebnis im Sichverwirklichen des von ihr betroffenen Willens ausgeht. In diesem Falle manifestiert sich die Hemmung ihrerseits als Intention, und zwar als dem von ihr Betroffenen fremde Intention, im Gegensatz zur Hemmung der anderen Art, die intentionsfrei und lediglich begrenzend ist.

162. Trägt die Hemmung fremdintentionalen Charakter, so wird sie von dem durch sie Gehemmten als Wirkung eines fremden Willens interpretiert (so wie die bloße Hemmung als Wirkung einer faktischen Substanz interpretiert wurde). Sie wird als etwas nicht aus unserem Willen Kausiertes, also unabhängig davon sich Effizierendes, Objektives vorgestellt; denn Intention führen wir auf einen Intendierenden zurück. Jede Manifestation von Wille, auch die fremde, ist Kundgebung einer Pertinenz; d. h. daß es einem solchen Willen da um etwas geht. Dieser fremde pertinente Wille darf auch nicht indirekt aus dem eigenen Willen des von ihm Gehemmten hervorgegangen sein; er muß sich vom Trieb in ihm durch ein bestimmtes Merkmal unterscheiden. D i e s e r U n t e r s c h i e d i s t d a d u r c h gegeben, daß die Modifikationen der Fremdmanifestation auf ein fremdes freies Kausationsprinzip (Ich des Anderen) zurückgeführt werden müssen.

163. Eine perzipierte Intention muß auf einen fremden Willen zurückgeführt werden, wenn sie sich nicht nur als zweckgerichhttps://doi.org/10.1515/9783110629200-060

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tet überhaupt, sondern als zweckgerichtet auf die Manifes t a t i o n fremder Freiheit a u s g e r i c h t e t e r w e i s t . D e r i n t e n d i e r t e Z w e c k m u ß v o n s o l c h e r A r t s e i n , d a ß e r n u r durch f r e i e A u s r i c h t u n g eines dieses Beabzweckte perzipierenden fremden Willens u n d d u r c h dessen zweckgerichtetes Mitwirken realisiert werden kann. Nur eine solche Intention, die auf Bekundung einer F r e i h e i t a b z w e c k t , d i e i h r e r e i t s una b h ä n g i g a n d e m p r o p o n i e r t e n Sinn u n d Z w e c k m i t w i r k t , u m i h n d a d u r c h z u r e a l i s i e r e n , k ö n n e n w i r a l s fremdpersonale Intention a n s e h e n .

164. Nun bauen wir auf der Wahrnehmung einer solchen, freie Mitwirkung an dem von ihr gesetzten Zweck beabzweckenden, Intention durch Schluß auf eine fremde Freiheitsentscheidung und deren Prinzip (das Du) unsere Überzeugung von der Existenz fremder Personen auf.12 Wir gehen mit diesen Personen Gemeinschaftsverbindungen ein, von deren Realität wir uns überzeugt halten. Wir gründen durch Vereinbarung und Vertrag mit ihnen Institute, die für uns Realitäten sind.

165. Vorausgesetzt ist dabei immer, daß fremde Personen uns und wir sie wirklich vernehmen, d. i. daß das, was der eine vorstellt und intendiert, wahrhaft, in seinem Sein selbst, vom Anderen gewußt werden kann. Nur unter dieser Voraussetzung besteht reale Gemeinschaft und haben Institute reale Bedeutung. Im umgekehrten Falle befänden wir uns in einer solipsistischen Verschlossenheit, und alle Fremdmanifestation, fremde Person und Verbindung zu ihr in objektivierten Beziehungsformen (Sprache, Abgrenzung und Austausch, Vereinigung und Feindschaft u. s. w.), wäre nur ein Geschöpf unserer Phantasie, etwa wie die Romanpersonen und deren Verhältnisse Schöpfungen des Dichters sind.

12 Vgl. „Transzendentale Methode.“ NS 1987. Bl. 13r: „Die andere Frage, ob wir ein Organ zur Erfassung dessen haben, was außer uns liegt. Für die nicht-personale Welt ausschließlich die Empfindung (Farbe, Laut usw.). Für die personale Seite ist es die unmittelbare Wahrnehmung einer Fremdintention.“

XXIII. Die Realität des Universums 166. Die Voraussetzung der wahren Realität fremder Personen und ihrer Beziehungen zu uns steht nicht für sich allein; sie ist mit der Voraussetzung einer objektiven physischen Welt in der Weise verbunden, daß wir voraussetzen, alle über den Perzeptionsnexus erschlossenen Personen hätten mit uns ein und dieselbe Welt.13 Indem wir und sie notwendig auf objektives impersonales Sein bezogen sind, nie Gebildetes realisieren, ohne daß in dieses ein uns fremder Faktor mitbestimmend eingeht, ja, indem wir und sie für unsere äußere Anschauung selbst als Leib in unserer Außenwelt vorkommen, sie und wir in unserer, und wir und sie in ihrer, schließen wir auf eine gemeinsame objektive Welt. Auf diese gemeinsame Objekte- und Institutionen-Welt erstrecken sich ihre und unsere Intentionen. Wir und sie können über diese Dinge ebensowohl in Konflikt geraten als auch sie gemeinsam gestalten.

167. Durch diese Gemeinsamkeit gewinnt die objektive Welt interpersonale Bedeutung. Es geht uns um sie, weil es uns um unser interpersonales Verhältnis geht. Die Welt ist nicht nur Gegenstand der Erfahrung solipsistischer Begrenzung und der durch sie offenstehenden Möglichkeiten, sondern gemeinsamer uns interessierender Gegenstand, Sphäre gemeinsamen Handelns. Diese Realität im interpersonalen Sinne fügt sich zur Realität für das bloß eigene Ich hinzu. Das Universum in seiner Realität für uns ist gar kein nur physischer, sondern ein interpersonaler Begriff.

168. Zu diesem Universum im Vollsinn des Wortes sind wir nur dadurch gelangt, daß wir die rein faktischen und fremdintentionalen Hemmungen in dem genannten Sinne interpretierten. Wir fügten zum abgerissenen Faktum durch unser Denken den unwahrnehmbaren Grund desselben hinzu.

13 Zum Weltbezug vgl. u. a. „Theorie des Arguments.“ NS 1988/89. Bl. 6r: „Verfahren des Geistes, das seine Verfahrensgesetzlichkeit hat. Überindividuelle Verfahrensweise überall, wo überhaupt ,gebildet‘ wird, die wir in unserem individuellen Bewußtsein haben.“ https://doi.org/10.1515/9783110629200-061

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169. Dieses Vorgehen steht unter einem grundlegenden Gesetz: d e m Ve r s t ä n d n i s a l l e s s i c h u n s a l s S e i n s e l b s t D a r b i e t e n d e n nach Analogie unseres eigenen Tuns. So wie wir frei urteilen und zweifeln, d. i. Argumente realisieren und dabei auf uns selbst zurückkommen, so suchen wir auch die fremde Realität zu verstehen. Es liegt natürlich an dieser und ihrer von uns nicht gemachten und machbaren Eigenrealität, ob und wieweit wir sie als fremdes Behaupten und Sichbehaupten, Urteilen und Beurteilen, Zweifeln und Bezweifeln auffassen können. Ist die erfahrende Hemmung intentionslos, so ist es unmöglich; ist sie aber Manifestation eigenständiger Intention, so gelingt es. Von den beiden Setzungen ,Fremdperson‘ und ,Sache‘ her verstehen wir dann mittelbar und stets p a r t i e l l den Rest (z. B. die Organismen und die Zeichen).

170. Es fragt sich, warum wir alles sich uns als eigene Realität Darbietende nach Analogie unseres eigenen Tuns zu verstehen suchen. Warum sucht unsere Vernunft unablässig Vernunft außer sich. Ist dies nicht ein ganz willkürliches, vor einem uninteressierten Verstehen unlegitimiertes Vorgehen. Oder liegt es in der Natur des Sichgeltendmachens begründet? Wir fragen hier ersichtlich noch nicht nach der Legitimation aus der Wahrheit, sondern nach einem, hier zunächst provisorisch erkennbaren faktischen Zusammenhang mit der grundlegenden Konstitution des Arguments als solchen.

XXIV. Induktion als Mittel des Sichgeltendmachens 171. Wir haben zuvor (in II, § 63) herausgearbeitet, daß alles Geltendmachen als zugleich ein Sichgeltendmachen durch ein Wollen vollzogen wird, dem es darin absolut um sich selbst geht. Das Argument will als Argument gelten. Eben dadurch besitzt das Argument für sich (nach II, § 65) absolute Realität.

172. D a s A r g u m e n t a l s Bilden i s t n u n a b e r , e b e n w e i l e i n W i s s e n g e b i l d e t w i r d , n i c h t n u r K o n s t i t u t i o n d e r E i g e n r e a l i t ä t ( esse i m a g i n i s ) , s o n d e r n i n e i n s d a m i t Enthüllung fremder Realität (des Seins selbst ). Diese fremde Realität beschränkt und bestimmt das Produkt des Bildens.

173. Diese Beschränkung und Hemmung ist Einschränkung der je eigenen Spontaneität und Freiheit des jeweiligen Bildens in seinem ursprünglichen Vollzug, und zwar in zweierlei Weise: 1. Die bloße faktische Hemmung konfrontiert uns mit einem an uns auftretenden, aber nicht von uns kausierten Akzidenz unseres Wollens, das eben als Akzidenz dieses Wollens (nach II, § 149) selbst voluntativ relevant ist und zu dem unser Wollen in dynamischer Spannung steht. Ebendarum hat dieses Faktum auch Wertrelevanz, wird (nach II, 159) gefühlt und als genehm oder nicht genehm bewertet. Immer aber geht die Bewertung hierbei nur vom gehemmten Subjekt aus. 2. Die fremdintentionale Hemmung hingegen beschränkt und bestimmt unser Wollen nicht nur bloß faktisch, sondern bezieht sich ihrerseits intentional auf unser Wollen. Der Andere will etwas von mir. Insofern wir von der fremden Intention betroffen werden, m ü s s e n w i r u n s a l s O b j e k t d e r s e l ben auffassen. Wir können dieses unser Objektsein aber nur so konzipieren, daß wir uns als Gegenstand eines fremden Wissens und (darin) Wollens ansehen. Das bedeutet https://doi.org/10.1515/9783110629200-062

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aber, daß sich nach der Weise, wie wir das fremde Wollen interpretieren müssen, unser eigenes Sein durch einen Anderen beurteilt findet (vgl. I, §§ 203 u. 224). Dieses Fremdurteil bezieht sich aber nicht nur theoretisch auf uns, sondern ineins damit auch wertend. Wir sind als Hemmende für den Anderen von ihm wertnegativ oder wertpositiv beurteilt. Dieses Beurteiltwerden betrifft uns dynamisch, und das heißt, es erfolgt nur ineins mit einer antwortenden Stellungnahme unsererseits, durch die wir den dynamischen Schock der uns treffenden Beurteilung regulieren.

174. Eben weil jede Hemmung eine dynamische Einwirkung darstellt, kann sie nicht anders als mit einer dynamischen Rückwirkung beantwortet werden. Wir stellen uns in jedem Falle auf die Einwirkung ein, d. i. wir mobilisieren geistige Aktivität gegen dieselbe (das ,gegen‘ hier nicht ausschließlich im feindlichen Sinne genommen, sondern sowohl als ob wie als contra!).

175. Eine solche Einstellung bedeutet, daß wir erneut geistig handeln und im Handeln realisieren. Natürlich braucht diese Realisation nicht immer bis zu einem äußeren Akt zu führen; oft begnügen wir uns mit einer inneren Regelung. Jede geistige Handlung geht auf ein zu realisierendes Produkt, von dem wir aus der Erfahrung wissen können, daß es nicht ausschließlich durch unsere Aktivität bestimmt sein wird. Wir rechnen also damit, daß fremde Hemmung das Resultat unseres Handelns mitbestimmen wird.

176. Nun ist jede Hemmung absolut kontingent. Sie ist ja in ihrer S p e z i f i z i t ä t n i c h t w e s e n s n o t w e n d i g; sie wird aber auch nicht aus unserem Willen durch ein Kausieren von unserer Seite herbeigeführt. Die Hemmung ist also nicht ableitbar und kann nicht kausiert werden. Wir haben stets von neuem zu erwarten, wie sie ausfallen wird, und sind bezüglich ihrer rein auf Erfahrung a n g e w i e s e n .

XXIV. Induktion als Mittel des Sichgeltendmachens

211

177. Dennoch können wir gar nicht anders als uns auf sie einstellen, wenn sie eintritt. Wir müssen auf den durch sie erfolgenden dynamischen Schock reagieren und ihn dadurch regulieren. Noch deutlicher gesagt: der Schock wird in uns ineins mit unserer dynamischen Reaktion realisiert. Wir befinden uns in einem ständigen Uns-Einstellen auf ihn.

178. Die Gründe hierfür sind durchsichtig. Unser Geltendmachen will sich (nach II, §§ 63 u. 171) selber behaupten. Das in und mit ihm erfolgende Bilden wird aber zu einem Produkt genötigt, das diesen Willen modifiziert. So wahr der Wille will, was er will, bedeutet dies, daß er in seinem Wollen beschränkt, im Extremfall sogar unterdrückt wird. Dies läuft gegen den Willen und wird insofern willentlich verneint. Der Wille, der ja mit sich in jedem erneuten Setzen identisch bleibt, muß durch seine Antwort auf jene eintretende Beschränkung reagieren. Dabei kann er sich freilich selbst modifizieren; nur kann er auf keinen Fall nicht reagieren.

179. Die Immediatreaktion bedeutet aber nicht nur eine Neufassung unseres Willens in Bezug auf diesen selbst. Sie bedeutet auch eine Neufassung gegenüber dem Faktor Hemmung: vor allem gegenüber der erneut zu erwartenden Hemmung. Denn die Hemmung wird uns erneut beschränken, ja, nicht nur das, sie kann uns völlig unterdrücken.

180. Die bloß faktische intentionsfreie Hemmung kann so stark werden, daß sie schließlich all unser Handeln unterdrückt, sogar das Argumentieren als solches. Da es aber dem Argumentieren um es selbst geht, so läuft diese mögliche Wirkung der Hemmung dem Willen des Gehemmtwerdenden entgegen. Wir verwerfen diese Unterdrückung willentlich und gehen gegen sie als unsere physische Vernichtung an.

212

Teil II

181. Die fremdintentionale Hemmung bedroht unsere faktischen Handlungsmöglichkeiten nicht. Aber mit ihr trifft uns eine Beurteilung, über die wir nicht zu verfügen vermögen. Wir bleiben in unserem Urteilen und Zweifeln physisch frei; aber es wird durch Wertungen und Zwecksetzungen betroffen, die außerhalb unserer Kausierungsmöglichkeiten liegen und über deren Rechtlichkeit wir nichts vermögen. Insofern s c h r ä n k e n fremde Intentionsäußerungen u n s m o r a l i s c h e i n , ja, sie können uns im Extremfall moralisch vernichten. Wenn mir etwas zugesprochen wird, dem ich rechtens nichts mehr zu erwidern vermag, dann bin ich moralisch gültig beurteilt, und das kann in einem bestimmten Falle heißen: verurteilt. Aber auch davon abgesehen hebt jede durch Perzeption in uns auftretende (Fremd)Intention unser willentliches Gleichgewicht auf. Wir müssen uns damit auseinandersetzen; nicht nur, daß wir unser eigenes Wollen neu zu formulieren gezwungen sind, wir müssen uns auch auf erneute Manifestationen von fremder Intention einstellen.

182. Da die Hemmung ein Faktor ist, mit dem wir ständig leben müssen, und da sie bis zu unserer physischen Vernichtung und moralischen (rechtsgültigen) Verurteilung gehen kann, es uns aber um unsere kontinuierliche Existenz geht, so ist es nur folgerichtig, daß wir uns auf ihre zukünftige Manifestation einzustellen versuchen.

183. Wir rechnen damit, daß sich erneut Hemmung ereignen wird. Wir rechnen darüber hinaus aber auch mit einem bestimmten Charakter dieser Hemmungen. Nun ist aber jede Hemmung absolut kontingent (vgl. II, § 176). Der Wille der anderen Person ist frei; ich kann niemals mit Sicherheit wissen, wie sie sich im nächsten Augenblick und in der ferneren Zukunft äußern wird. Die bloß faktische Hemmung ist zwar intentionslos, aber auch sie ist unvorhersehbar. Wir bewältigen sie niemals durch Einsicht in einen notwendigen Grund, mit dem sie zusammenhinge und aus dem sie folgte, sondern immer nur d u r c h Ve r g l e i c h e i n z e l n e r F o l g e n m i t e i n a n d e r , wobei wir regelmäßige Zusam-

XXIV. Induktion als Mittel des Sichgeltendmachens

213

menhänge festzustellen versuchen und nach deren Eruierung im Vertrauen darauf, daß dieser Nexus auch in der Zukunft gegeben sein wird, für entsprechende Manifestationen entsprechende Folgemanifestationen vorhersehen. Im Falle fremdpersonaler Äußerung hinterstellen wir eine e i n h e i t l i c h e Motivierung, mit deren Kontinuität wir rechnen.

184. Rein theoretisch haben wir gar keinen berechtigten Grund zu der Annahme, daß regelmäßige Folgen in der Vergangenheit auch in der Zukunft zu erwarten sind bzw. daß die Motivation, die eine Person in der Vergangenheit bestimmt hat, sie auch in der Zukunft bestimmen wird. Nur wenn wir zu den rein die Vergangenheit betreffenden Regelmäßigkeiten das praktische Vertrauen hinzufügen, daß die Wirklichkeit auch in der Zukunft einen der eruierten Regel entsprechenden Verlauf nehmen wird, hat es Sinn, mit Ereignissen nach dieser Regel zu rechnen.

185. Dieses praktische Vertrauen basiert auf der Annahme einer positiven Sinnhaftigkeit des wirklichen Geschehens. Diese Annahme erfolgt auf zwei Stufen. Auf der niedrigeren Stufe des spontanen Verhaltens erfolgt sie allein schon dadurch, daß wir realitätsbezogen wollen, uns (wie in II, § 174 dargelegt) auf jede hemmende Einwirkung einstellen und unsere Existenz neu projektieren.14 Nur bei einer Selbstaufgabe des Willens könnten wir von solchem ununterbrochen spontan erfolgenden Einstellen und Regulieren uns lösen. Gerade weil wir uns ununterbrochen auf die Einwirkung einstellen, können wir uns von der induktiven Bewältigung der Fremdmanifestation nicht völlig lösen. Auf der höheren Stufe durchschauen wir zwar das rein theoretisch Unberechtigte der spontanen Induktionsschlüsse und der daraus abge‹leit›eten Verhaltensweisen; wir erkennen die Rolle des Vertrauens in ein sinnhaftes Geschehen. Aber eben dadurch werden wir gezwungen, uns bezüglich der Rechtsgültigkeit dieser Sinnvoraussetzung zu entscheiden.

14 Zum Begriff des Wollens als Realitätsbezug vgl. u. a. „Jacobi.“ NS 1990/91. Bl. 28r: „Fichte: nicht, daß wir handeln, sondern daß wir wollen ist entscheidend!“

XXV. Konzeption der Gestaltung der Wirklichkeit als geforderter Aufgabe 186. Negieren wir die Berechtigung der Sinnvoraussetzung, so berauben wir uns eines wesentlichen Teils unserer Wirklichkeit. Wir können dann keine sinnvolle Einstellung mehr zum Sein selbst außer uns beziehen. Jede Handlungsweise wird quoad effectum g l e i c h w e r t i g . Begeben wir uns unseres Erinnerungsvertrauens, so kappen wir uns in ähnlicher Weise auch noch von der Vergangenheit ab, sowohl der fremden als auch der eigenen. Wir können uns dann auch nicht mehr sinnhaft auf vergangene Entscheidungen zurückbeziehen.

187. Alles, was dann noch bliebe, wäre eine sinnhafte Einstellung zu unserem gegenwärtigen Wollen soweit dieses sich selbst angeht. Fremde Personen und Außenwelt, ja unser eigenes vergangenes Denken und Wollen verlören ihre Realitätsbedeutung; sie wären als Erdichtungen anzusehen, zu denen wir uns eben wie zu Erdichtungen verhalten könnten, was unser sie angehendes Wollen betrifft.

188. Wir haben (in II, § 160) die Frage aufgeworfen, mit welchem Rechtsgrund wir die uns betreffenden Hemmungen als eigenständige Realität mit einem ihnen zukommenden Wertsein ansetzen. Es hat sich insbesondere gezeigt, daß wir unablässig die uns betreffenden Hemmungen daraufhin absuchen, ob wir sie als Manifestation fremder, eigenständiger Vernünftigkeit ansehen können (vgl. II, § 170). In II, Kap. XXIV erwies sich die Verwendung des Mittels, mit Hilfe dessen wir die Hemmungen verstehend interpretieren, der Induktion, unter Voraussetzung eines Daseinssinns als das Verfahren, einen dynamischen Schock unmittelbar zu regulieren. So spontan wir nun aber auch auf diese Weise verfahren, so ist doch mit dieser Tatsache noch nichts über den Rechtsgrund seiner Verwendung entschieden. https://doi.org/10.1515/9783110629200-063

XXV. Gestaltung der Wirklichkeit als Aufgabe

215

189. Es sind zwei Gründe, die uns zu der beschriebenen Auffassung der Außenwelt bestimmen. Zum einen ist es das (von uns absolut geforderte) Sichgeltendmachen in der Aussage, zum anderen die Hemmung, von der wir hypothetisch (in II, § 153) angenommen haben, daß sie Bedingung der Möglichkeit des Bildens überhaupt ist.15

190. Selbst wenn wir die Hemmung nicht als wesensnotwendig für das Sichbilden ansehen, bleibt bestehen, daß sie einen dynamischen Schock darstellt, den wir nur verarbeitend bilden. Bilden einer Hemmung bedeutet in jedem Falle: s i c h e i n s t e l l e n a u f d i e H e m m u n g . Die Hemmung ist in uns Realität, mit der wir uns auf eine bestimmte Art in unserem Unsformieren auseinandersetzen.

191. Alles Argumentieren geht in seinem Grundansatz von Beanspruchung von Wahrheit aus. Dieser Grundintention korrespondiert ein grundwesentliches von der Wahrheit in Anspruch genommen sein. Wir müssen uns mit Bezug auf die Wahrheit formulieren; allerdings bleibt die Formierung selbst in einem gewissen Rahmen frei. Dieser einschränkende Rahmen ist, wie sich nunmehr gezeigt hat, durch zwei Faktoren gegeben: zum einen durch das, was wir wesensnotwendig s e i n m ü s s e n , um überhaupt Argument zu sein; zum anderen durch die f a k t i sche Beschränkung unserer Freiheit in Form der sich manifest i e r e n d e n H e m m u n g e n . Die letzteren erzwingen, wenn sie auftreten, eine Selbstmodifikation unserer Freiheit, eben jene Auseinandersetzung, die wir im Verfolge unseres Grundinteresses nicht unterlassen können.

15 Zur bildenden Rolle der Hemmung vgl. u. a. „Bedingungen der Philosophie.“ NS 1990. Bl. 7v: „Durch eine ursprüngliche Hemmung kommen wir zum Setzen unserer Selbst, d. h. wir sind ständig in der Arbeit an der Hemmung begriffen.“

216

Teil II

192. Wir sind zum Unsbilden und -formulieren durch die aus der Wahrheit emanierende absolute Forderung angehalten. Indem das, was kategorisch gefordert ist, realisiert wird, wird es zugleich von der Wahrheit bezeichnet und legitimiert. Insofern ist nun, was unsere Frage der Außenwirklichkeit betrifft, d i e A n n a h m e d e r R e a l i t ä t d e r H e m m u n g in uns g e r e c h t f e r t i g t .

193. Zu dieser faktisch notwendigen Annahme der Realität der Hemmung tritt aber, als ebenfalls notwendig, obwohl in ihrem Modus frei, die Reaktion der Freiheit auf den dynamischen Schock, den die Hemmung erzwingt. Daß wir reagieren, muß ebenfalls gerechtfertigt sein, denn es ist notwendig, wenn wir überhaupt bilden und dabei von Hemmungen betroffen werden; bilden aber sollen wir. Es ist also wahr, daß sich aus unserem Freiheitsvollzug und der ihn bestimmenden Hemmung e i n r e a g i e r e n d e s Ve r h a l t e n a b l e i t e t .

194. D i e s e Bewältigung d e s S c h o c k s d e r H e m m u n g i s t a b e r n i c h t n u r eine resultierende Tatsache, s o n d e r n s i e s t e l l t a u c h e i n e b e stimmte, aus unserer freien Entscheidung hervorgehende w e r t e n d e Stellungnahme d a r . E s f r a g t s i c h , i s t d i e s e w e r t e n d e Stellungnahme und die aus ihr resultierende reale Handlung auch gerechtfertigt?

195. Die wertende Stellungnahme zum einwirkenden Hemmnis und die aus ihr erfolgende Handlung resultieren keineswegs nur aus dem factum brutum der Hemmungen, sondern ineins damit aus der Art und Weise, wie wir die Hemmungen interpretieren. Wie aufgewiesen, sprechen wir den Hemmungen über die Realität in uns hinaus e i n e E i g e n r e a l i t ä t z u und i n t e r p r e t i e r e n w i r d i e s e m i t t e l s d e r I n d u k t i o n . Ist das, so fragt sich, berechtigt?

XXV. Gestaltung der Wirklichkeit als Aufgabe

217

196. A l l e B e r e c h t i g u n g k o m m t a u s d e r W a h r h e i t . Die zuletzt aufgeworfene Frage kann also auch so formuliert werden: Ist von uns gefordert, daß wir den Hemmungen eine Eigenrealität hinterstellen und zwar eine ganz bestimmte, durch Induktion erschlossene Eigenrealität? Ist uns das aufgegeben? Nur wenn dieses angenommen werden darf, ist es legitimiert.

XXVI. Der letzte Grund des Ansatzes der Differenz von Bild und Sein im Wissen 197. Wie sich (II, Kap. XI) gezeigt hat, ist die Realität des Bildes (das esse imaginis) dadurch gesichert, daß das Sichkonstituieren des Arguments gefordert ist und nur in der Weise eines existierenden Bildes verwirklicht werden kann (vgl. II, Kap. XIV). Es ist dem Argument eigentümlich, nicht nur Bewußtsein zu sein, sondern ein Wissen zu formieren. Jedes Wissen verweist aber (nach Teil I, Kap. VII) auf ein Sein selbst jenseits des gebildeten ,Seins‘, ein Sein, das vielleicht nicht vom gebildeten Sein verschieden ist, das aber als Sein selbst und nicht als bloß gebildetes Sein angesetzt ist. Es fragt sich aber, warum das anvisierte Sein selbst nicht nur das Sein des Bildes (esse imaginis) sein soll. Es wäre doch denkbar, daß das Bild im Wissen zwar ein Sein selbst, aber immer nur das seiner selbst als Bildes, zu realisieren trachtete. Wir müssen sogar die prinzipielle Möglichkeit offen lassen, daß einer durchblickenden Philosophie sich das scheinbar transzendente reale Sein jenseits des Seins des Bildes als e i n S e i n enthüllt, das nur verkannt wird, wo nicht transzendental reflektiert wird, und das in Wahrheit nichts anderes als das Sein des Bildes ist. Es müßte dann gesagt werden: in allem scheinbar äußeren Sein sieht das Bild immer nur sein eigenes Sein.

198. Nun ist aber auffällig, daß das Argument im normalen Falle nicht auf das Sein bloß seiner selbst als Bildes, sondern auf ein Sein selbst ü b e r sein eigenes Bildsein hinaus geht.16 Handelt es sich da, so müssen wir uns fragen, nur um eine Täuschung, in der das naive Ansetzen befangen ist, die aber mittels durchgeführter Reflexion behoben werden kann, oder liegt dem mehr zugrunde?

199. Wir können diese Frage auf Grund des im I. Teil Erkannten verhältnismäßig leicht beantworten.

16 Vgl. „Transzendentale Methode.“ NS 1987. Bl. 6v: „Bloßer Objektivismus ist nicht möglich, sondern das Bewußtsein konstituiert wesentlich das Seiende.“ https://doi.org/10.1515/9783110629200-064

XXVI. Differenz von Bild und Sein

219

Mit der Konstitution von Wissen ging die Beanspruchung von Wahrheit Hand in Hand. Wahrheit erwies sich aber als etwas, das nicht faktisch begründet ist, sondern selbst genetischer Natur ist. Wahrheit ist Grund ihrer selbst in ihrem Rechtsein und Sein. Eben dadurch ist sie auch licht und in absoluter Evidenz sich bewährend. Dieses absolute Sein der Wahrheit kann eben deshalb nicht in einem Faktum begründet sein, sei dieses auch das höchste Faktum des Sichkonstituierens des Wissensbildes. Denn im Wissensbild stellt der Bildende aufgrund der Gelöstheit des Bildes von sich selbst dieses Bild grundsätzlich in methodischen Zweifel (vgl. I, § 174 ff.). Das Wissensbild ist insofern imago incerta, d. h. ein Bild, dessen Erkenntniskraft erst zu sichern ist. Die dies frei bestimmende Argumentation vermag aber allein von sich aus keine Wahrheit zu konstituieren, sondern ist dafür auf Bewährung seitens der Wahrheit selbst angewiesen. Die Wahrheit selbst hingegen ist wesentlich Licht, d. i. Nichtdifferenz von Bild und Sein (vgl. II, § 3), Einheit eines sich selbst bewährenden Wollens – im Gegensatz zu dem defizienten Wollen, das das Argument konstitutiert, und in dem dem Anspruch keine Bewährung entspricht.

200. D i e Wahrheit s e l b s t i s t a l s o n i c h t a u s d e m B i l d e n ; s i e i s t k e i n E x p o n e n t d e s s e l b e n . S o n d e r n s i e ist aus sich selbst, d a m i t a b e r ein Sein, d a s jenseits des bloßen Bildseins u n d d e s i n d i e s e m g e b i l d e t e n , t r a n s i m a g i n ä r e n S e i n s ‘ l i e g t . 17 Die Wahrheit ist nur durch sich selbst.

201. D i e s e Wahrheit a l l e i n s c h o n , d i e j a i n j e d e m W i s s e n s b i l d e n i n A n s p r u c h g e n o m m e n w i r d , bestimmt das Wissen, über sich selbst hinauszugehen. Durch das Anwesen der Wahrheit, das, wie wir wissen, für das Sein des Wissensbildes konstitutiv ist, transzendiert das Wissen sein eigenes Sein und bezieht es sich auf ein transimaginäres Sein. Schon von daher ist dem-

17 Vgl. „Theorie des Arguments.“ NS 1988/89. Bl. 6r: „Erfassung der Verfahrensweise des Geistes beruht nicht auf Erfahrung, sondern auf Wesenseinsicht. Der Blick richtet sich auf die geistigen Akte in ihrer Einheit! Frage: Wie kann diese Selbsterkenntnis legitimiert werden – in Beziehung, [um] wahres Sein zu erreichen?“

220

Teil II

nach das Wissensbild wesensmäßig auf ein Sein selbst jenseits seines Bildseins ausgerichtet. Dies ist der Grund, warum das Bild als Wissensbild auf ein Sein selbst jenseits seines Bildseins bezogen ist.

202. Die Wahrheit als transimaginäres Prinzip ist in ihrem vollkommenen Sichselbstbewähren licht und in unserem Erkennen evident. Erst im Lichte dieser Evidenz und von ihm aus erfaßt das Wissen seine eigene Natur alsb nichtbewährend und nichtgenetisch. Das Wissen bedarf der mittelbaren Genetisierung, um Wahrheit zu realisieren; die Wahrheit bedarf deren nicht. Vielmehr gewährt die transimaginäre Wahrheit dem Bilde erst sein wahres Sein. Nur im evidierten Lichte der Wahrheit selbst evidieren wir unser Lichtsein.

203. Die Emanenz der Wahrheit macht es unmöglich, daß das Wissensbild rein immanent ist. Sie konstituiert das Transzendieren des Wissensbildes zu einem Sein selbst außer ihm, dessen Vollkommenheit der Unvollkommenheit des Wissens erst Abhilfe schafft. D e r B e z u g a u f W a h r h e i t i s t d a m i t i n e i n s Enthüllung der Endlichkeit des Wissens f ü r d i e s e s l e t z t e r e s e l b s t .

204. Diese Endlichkeit und Begrenztheit innerhalb eines Anderen des Bildes dokumentiert sich außerdem bloß faktisch in dem Gehemmtsein der Freiheit im Erstellen dessen, was sie will. Diese Faktizität kann allerdings nichts aus sich evident machen; sie bedarf der mittelbaren Genetisierung, um sich als wahr zu legitimieren.

b I: ist.

XXVII. Die Gefordertheit gewisser energischer Bejahungen 205. Jede mittelbare Genetisierung hat ihren Ausgang von der Wahrheit selbst. Sie erfolgt, wie wir erkannt haben (II, Kap. III), dadurch, daß sich die Wahrheit als absolute Forderung auf ein sich aufgegebenes Sein, das Sein des Arguments, erstreckt. Dieses Sein soll angenommen werden. Geschieht das, so bezeichnet die Wahrheit das Angenommene und erhellt es als deckungsgleich mit dem Sein selbst.

206. Nun ist das Argument aber nicht nur etwas faktisch sich Vollziehendes, sondern es ist auch freie energische Geltungserhebung. Mit anderen Worten gesagt: wir sind nicht nur etwas, sondern wir werten und wollen auch frei. Wir müssen uns jetzt speziell der Sachlage zuwenden, daß auch dieses freie W e r t e n u n d W o l l e n , das energische Geltendsetzen, v o n d e r F o r d e r u n g a u s d e r Wahrheit betroffen ist.

207. Die aus der Wahrheit hervorgehende absolute Forderung bezeichnet das freie Werten und Wollen in seinem energischen Vollzug in spezifischer Weise. Sofern dieses Werten und Wollen sich faktisch vollzieht, wird seine wahre Wirklichkeit notifiziert. Doch darum geht es nunmehr nicht. Wir fragen vielmehr, ob und wie auch die energische Geltungserhebung bezeichnet wird.

208. Die Bezeichnung einer energischen Geltungserhebung betrifft die Gültigkeit der Forderungen, die wir erheben. Eine solche Bezeichnung macht evident, daß das in Wahrheit sein soll, was wir als willentlich bejaht setzen. Bejahen wir etwas von uns aus energisch (sagen wir z. B.: Wahrhaftigkeit soll sein), so kann dies zurecht geschehen, aber es kann auch zu unrecht geschehen (wie wenn wir z. B. https://doi.org/10.1515/9783110629200-065

222

Teil II

willentlich ansetzen: Wahrhaftigkeit soll nicht sein). Auch in diesem energischen willentlichen Bejahen beanspruchen wir bloß, ohne von uns aus bewähren zu können. Erst die aus der absoluten Forderung erfolgende Bezeichnung bewährt das energisch Geforderte und Gewertete.

209. Indem sich die aus der Wahrheit kommende absolute Forderung auf das in unserem willentlichen Unsgeltendmachen sich vollziehende energische Geltungserheben bezieht, betrifft sie nicht nur das Faktum des Argumentierens als Willensvollzug, sondern auch die energischen Geltungserhebungen selbst in ihrer Energeia. Unser Annehmen ist (nach II, § 29) wesentlich Willensvollzug. Jeder Willensvollzug ist wesentlich energische Geltungserhebung. W i r b e j a h e n auf diese Weise z. B. e n e r g i s c h , d a ß a r g u m e n t i e r t w e r d e , wenn von uns argumentiert wird, und wir nehmen energisch unser eigenes Bildsein an, wenn wir es in freiem Willensvollzug realisieren.

210. D i e a u s d e r W a h r h e i t k o m m e n d e absolute Forderung legitimiert a l s o n i c h t n u r d i e A n n a h m e v o n F a k t e n , s o n d e r n a u c h energische Bejahungen. So legitimiert sie den energischen Ansatz, daß das Bildsein sein soll. Es ist demzufolge nicht nur wahr, daß wir sind; es ist auch wahr, daß wir sein sollen. Der positive Wertansatz, in den sich das Bilden bringt, stellt keine unlegitimierte Willkürsetzung dar, sondern wird von der Wahrheit her als in Wahrheit sein sollend bezeichnet und erhellt.

211. Auf diese Weise ist ein ganzer Bereich von Geltungen eröffnet, die nicht die Wahrheit der Faktizität, sondern die Wahrheit der willentlichen Bejahung in ihrer Energeia betreffen. Unsere Wertungen und Wollungen, d. i. unsere doxischen Urteile ebenso wie unser Schwanken, unsere argumentativen Intentionen und Forderungen sind wesenhaft wahrheitsbezogen. Eben dadurch haben sie moralische Relevanz. Es geht in jedem Falle darum, ob sie recht oder unrecht, ob sie doxisch wahr oder falsch sind.

XXVII. Die Gefordertheit energischer Bejahungen

223

212. Aus der Wahrheit werden also willentliche Bejahungen selektiv als gefordert bezeichnet und insofern moralisch validiert. Sie erhellen als Forderungen der Wahrheit selbst, und nicht nur von bloßem kontingentem Annehmen getragene Willkürerhebungen. Gewisse willentliche Bejahungen (und hier ist jedesmal zu ergänzen: diesen entsprechende Verneinungen) erweisen sich im Lichte der Wahrheit als moralische (bzw. widersittliche).

XXVIII. Die Gefordertheit unserer Selbstbejahung 213. Wir haben in allen vorausgehenden Darlegungen erkannt – und es wurde dies, mit Rücksicht auf die habituelle Blindheit nach dieser Seite, nachdrücklich unterstrichen –, daß das Argument ein W i l l e n s a k t ist. Zu einem Willensakt gehört aber nicht nur der faktische Vollzug des Wollens, sondern auch eine dieses Wollen in seinem Wesenssein ermöglichende energische Geltungserhebung, ein energisches willentliches Bejahen.

214. Das energisch Gewollte im Argumentieren ist grundlegend das Sein des Argumentes selbst. Wir argumentieren nur, indem wir ineins wollen, daß wir argumentieren. Das Argument bejaht sich energisch selbst. Dies ist kein äußerer akzessorischer Bestandteil des Argumentes, sondern inneres Wesenskonstitutivum.

215. Das Argument erwies sich durch das Inerscheinungtreten der Wahrheit von dieser aus absolut gefordert. Das hieß zum einen, daß das Sein selbst des Arguments in seiner Faktizität angenommen werden soll und deshalb auch zurecht angenommen wird. Es heißt aber, wie wir nunmehr sehen, zum anderen auch, daß das Argument in seinem energischen Sichbejahen sein soll, daß dieses Sichbejahen gerechtfertigt, weil absolut gesollt ist. Die Selbstverwirklichung des Arguments ist moralisch gefordert und hierdurch legitimiert.

216. Wenn wir tun, was von uns absolut gefordert ist, so handeln w i r m o r a l i s c h , d. h. o b j e k t i v g u t . Nun ist von uns gefordert, daß wir uns argumentierend realisieren. Diese Forderung kann sich an garnichts anderes wenden als an den Willen des Aufgeforderten. Erst dessen willentliche Antwort, die mit dem Vernehhttps://doi.org/10.1515/9783110629200-066

XXVIII. Die Gefordertheit unserer Selbstbejahung

225

men der absoluten Forderung allerdings notwendig verbunden ist, macht ihn zum Argumentierenden. Das Argumentieren entspringt also einer solchen willentlichen Antwort. Nun kann diese Antwort bejahend oder verneinend ausfallen; darin sind wir frei. Wie immer sie aber auch ausfällt, sie stellt eine Antwort auf die absolute, aus der Wahrheit emanierende Forderung dar, also eine moralische (d. i. unter die Sphäre des Moralisch-Relevanten fallende) Antwort dar. Das erste, was also bezeichnet wird, ist nicht das Faktum unseres Argumentierens, sondern das energische Sichbejahen, durch das das faktische Argumentieren erst konstituiert wird. Die Sphäre der moralischen Realität wird transzendentallogisch noch vor der Sphäre der faktischen Realität eröffnet.

217. Fällt unsere willentliche Antwort der absoluten Forderung entsprechend bejahend aus, so ist die in ihr beschlossene energische Geltungserhebung („Das Argument soll wahrheitsentsprechend sein“) von der Wahrheit bezeichnet und damit für den Argumentierenden in Evidenz erhellt. Fällt unsere willentliche Antwort verneinend aus, so argumentieren wir wahrheitsfremd oder gar wahrheitswidrig. Dann können wir insofern keine Evidenz über die moralische Dignität unserer willentlichen Setzung erlangen. Nur daß wir überhaupt energisch vollziehen, wird evident, die energische Bejahung selbst in ihrer Energeia bleibt dunkel.

218. Unbeschadet der möglichen Dunkelheit der moralischen Dignität unseres eigenen argumentkonstituierenden Wollens erhellt, wie früher dargelegt, die absolute Forderung aus sich selbst. I n s o f e r n g i b t e s k e i n B e w u ß t s e i n , d a s nicht Bewußtsein der Wahrheit als absoluter moralrelevanter Forderung wäre.

XXIX. Das Problem des Gefordertseins der fremden Selbstbejahung 219. Wenn wir auf Grund einer intentionalen Hemmung uns durch eine fremde Person beurteilt und aufgefordert vorstellen, konzipieren wir diese fremde Person immer als ihrerseits Argumentierende. Für deren Argumentieren gilt aber dasselbe, was für unser Argumentieren gilt, weil es nämlich für das Argumentieren schlechthin gilt: es erfolgt in Bezug auf Wahrheit, ist absolut zur Wahrheit aufgefordert, ist damit selbst in seiner Existenz absolut gefordert und darin in seinem argumentkonstituierenden willentlichen Bejahen. Sein der Forderung entsprechendes geistiges Handeln manifestiert sich in seinem faktischen wie in seinem energischen Part von der Wahrheit bezeichnet und dadurch als wahr erwiesen.

220. Wir können also gar keine fremde Intention vorstellen, ohne von ihr anzunehmen, daß sie in ihrem forderungskonformen Handeln wahrhaft fremde Intention ist. Mit der Erfassung fremder Intention erweitert sich somit die wahre Realität des Bildens über das Bilden des eigenen Ichs hinaus. Wir konzipieren ein ganzes Reich des Bildens und Argumentierens, das wahrhaft wirklich ist.

221. Die wahrgenommene fremde Intention ist keine bloße Hemmung, sondern als Intention Manifestation von Freiheit. Sie ist aber andererseits als intentionale Hemmung eben auch einfache Hemmung. Als solche steht sie für uns in einem Nexus mit anderen einfachen Hemmungen. Die fremden Argumentierenden erscheinen in einem Umkreis bloß objektiver Wirklichkeit eingebettet, und dies nicht nur faktisch, sondern auch durch den Umstand, daß sich ihre Intentionen ebenso auf dieselben bloßen Faktizitäten beziehen können wie die unsrigen.

222. Wir beziehen uns aber nicht nur konstatierend auf fremdes Argumentieren in seinem faktischen Sein und seinem energischen Konstatieren, wir sind durch https://doi.org/10.1515/9783110629200-067

XXIX. Das Gefordertsein der fremden Selbstbejahung

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die fremde, uns treffende Intention zugleich in unserem Wollen und Werten betroffen. Das fremde Argument, das auf uns zukommt, fordert uns, und das bedeutet, es wird notwendig als uns gestellte Aufgabe betrachtet, die nicht vorgestellt werden kann, ohne daß wir sie (frei) beantworten. Wir sind durch das perzipierte fremde Argument aufgefordert; und wir können keine Aufforderung skizzieren, ohne ihr durch eine (in ihrem Modus freilich in unsere Freiheit gestellte) Antwort zu entsprechen. Diese unsere Antwort ist stets ein willentliches Bejahen bzw. Verneinen. Wir werten und wollen unsrerseits mit Bezug auf das fremde Werten und Wollen.

223. Dieses unser respondierendes Werten und Wollen steht wie all unser willentliches Bejahen und Verneinen u n t e r der sich auf es erstreckenden absoluten Forderung, die aus der Wahrheit kommt. Es fragt sich, ob diese Forderung in Bezug auf dieses unser willentliches Bejahen bzw. Verneinen des fremden Argumentierens eine spezifische Gestalt annimmt. Sollte sich dies als gegeben erweisen, so erhielte unser Verhalten zur fremden Intention und dem sich in diesem manifestierenden Argumentieren noch eine ganz andere Bedeutung.

XXX. Die absolute Forderung der Vernünftigkeit 224. Die Wahrheit e n t l ä ß t aus sich, mit ihrem bloßen Erscheinen, so haben wir erkannt, die absolute Forderung nach ihrer Realisierung. Diese Forderung beinhaltet aber nicht nur, d a ß die Wahrheit a b s o l u t s e i n s o l l , s o n d e r n a u c h z u g l e i c h , d a ß s i e a b s o l u t sein s o l l . S i e b e z i e h t s i c h i n s o f e r n a u c h a u f das Argument als solches (vgl. II, § 14). Das Argument als solches ist aber nicht nur eine faktische Erscheinung, sondern auch energische Geltungserhebung. Die absolute Forderung bezieht sich auch auf diese. Die Geltungserhebung soll im Sinne der Wahrheit erfolgen. Nur dadurch konnte übrigens die Wahrheit als bestimmender Wert des Arguments (vgl. I, § 4 f.) erscheinen. Das erste, was von der absoluten Forderung betroffen wird, ist das energische willentliche Bejahen bzw. Verneinen im Argument (vgl. II, § 216). Das Argument ist auf Grund dieses Umstandes wesentlich A r t e f a k t (vgl. I, § 98).

225. Was fordert die Wahrheit vom willentlichen Bejahen im Argument? Sie verlangt zunächst die willentliche Annahme (als Wertbejahung und als Entscheidung) der Verwirklichung der Wahrheit. Anders ausgedrückt heißt das, die Verwirklichung der Wahrheit soll, wo sie gefordert ist – und das ist überall da der Fall, wo die Wahrheit ein Argument durch ihr Erscheinen in Anspruch nimmt –, auch willentlich bejaht werden.

226. Zunächst einmal sollen wir demnach die Verwirklichung der Wahrheit in uns willentlich bejahen und auf Grund dieser Bejahung realisieren. Unsere Verwirklichung der Wahrheit gibt uns selbst einen moralischen Wert; denn die Wahrheit bewährt, was sie bezeichnet, hier aber bezeichnet sie unser Bejahen. Wir selbst in unserem energischen wahrheitskonformen Geltendmachen sollen schlechthin sein und sind in ihm bewährt, und das heißt hier: selbst wertvoll.

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XXX. Die absolute Forderung der Vernünftigkeit

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227. Ebenso wie unser willentliches Bejahen im Argumentieren betrifft die absolute Forderung aber auch das willentliche Bejahen im fremden Argumentieren u n d d a s d a r a u s f o l g e n d e f r e m d e A r g u m e n t i e r e n in seiner Faktizität. Dies bedeutet zunächst einmal, das fremde Argumentieren kann gar nicht anders als unter der Anforderung der Wahrheit stehend gedacht werden und wird für sich selbst durch wahrheitskonformes Bejahen bewährt. Es bedeutet aber darüber hinaus noch mehr, nämlich daß das fremde Bejahen von uns, d i e w i r e s a u s A n l a ß b e s t i m m t e r H e m m u n g s w a h r n e h m u n g e n k o n z i p i e r e n m ü s s e n , von uns willentlich bejaht werden soll. Die aus der Wahrheit emanierende absolute Forderung forderte ihre Realisation überall da, wo ein Argument durch das Inerscheinungtreten der Wahrheit i n Anspruch genommen ist. Nun wird die Wahrheit notwendig gedacht als ein Prinzip, das im fremden Argumentieren, eben weil dies ein Argumentieren ist, in Erscheinung getreten ist. Dieses fremde Argumentieren soll also in seinem wahrheitsgemäßen Handeln bejaht werden, von uns ebensowohl wie von dem fremden Wollen.

228. Wir finden uns also absolut aufgefordert, das fremde Argumentieren als Verwirklichung der Wahrheitsforderung willentlich zu bejahen. Dies bedeutet aber zweierlei: 1. Wir sollen die fremde Manifestation von Vernunft in ihrem eigenen willentlichen Bejahen werthalten und wollen; und 2. Wir sollen das fremde vernünftige Argumentieren in seiner Faktizität als wahres Argumentieren anerkennen.

229. Anerkennen wir aber das fremde Argumentieren als wahr, so bedeutet das, daß wir der fremden Person Realität zuerkennen. Die Zurückführung der fremdintentionalen Hemmung auf eine selbständige freie Kausation (II, § 163) erweist s i c h d a m i t a l s l e g i t i m .c c Der Text bricht hier ab.

Philosophische Aufsätze

Kausalität I. Die Kausalität ist keine Kategorie, d. i. keine notwendige Denkform eines gegebenen Objekts. Auf der durch Kant herbeigeführten Fehlannahme, es sei so,1 basiert eine fast ubiquitäre Fehlkonzeption der physischen Welt. Kants Begründung seiner Behauptung, daß die Kategorie der Kausalität notwendig sei, um eine „Natur“ zu denken, lautet: Endliche Vernunftwesen könnten ohne diese Denkform keine Erfahrung machen2 (Erfahrung war ihm nach den „Erfolgen“ der Naturwissenschaften eine Erkenntnisweise, die nicht geleugnet werden könne und für das gesamtmenschliche Erkennen wesentlich sei). Der vorgebliche Kausalnexus in der Natur sollte dadurch vorhanden sein, daß eine bestimmte Erscheinung (a) einer bestimmten anderen Erscheinung (b) ihre bestimmte Nachbarstelle im zeitlichen Werden bestimme, und zwar so, daß ihr Auftreten (a) in jedem Falle zeitlicher Entwicklung das bestimmte Auftreten der Erscheinung b „bewirke“. Nur unter dieser Bedingung gäbe es eine geordnete Naturerscheinung in der Zeit, und wiederum sei nur dadurch Empirie möglich. Ich entsinne mich eines Buches von Alain, in dem der Verfasser „Conversations au bord de la mer“ referierte, und zwar auf dem Weg entlang einer zerklüfteten Felsenküste, gegen die das Meer anbrandete. In der Brandung konnte man keinerlei Ordnung der Bewegungen des Wassers erblicken. Wäre die Natur, die wir wahrnehmen, von dieser Art, so vermöchten wir freilich keinerlei Ordnung in ihr festzustellen, wir hätten dann keine geordnete Gegebenheit und könnten sie so auch nicht haben. Wenn uns nicht andere Möglichkeiten der Erfassung zur Verfügung ständen, hätten wir keine „Natur“, und folglich gäbe es dann auch keine Empirie.3 Der Schluß ist richtig; aber wo ist gesagt, daß Empirie notwendig sein muß? Wir haben auch geistige Erfahrung, die nicht die Struktur

1 Vgl. Kant, I.: KrV, B 106 (AA III, S. 93). In der „Tafel der Kategorien“ ist die Kausalität die zweite der Kategorien der Relation. 2 Vgl. Kant, I.: KrV, insbes. B 146–148 (AA III, S. 116 f.). 3 Alain [Pseudonym für Emile-Auguste Chartier], Entretiens au bord de la mer – Recherche de l’entendement, Gallimard, Paris 1931, vgl. S. 131 f.: „[…] il n’y a point de raison des formes naturelles, mais plutôt des causes, c’est-à-dire mille chocs de particules dansantes, brassées, heurtées, frottées, usées, sans aucun retour ni recommencement. Selon nos pensées, c’est la vague qui entraîne la goutte d’eau; mais, selon l’existence, chaque gouttelette ignore la vague et s’échappe, et glisse et se heurte. Cela fait un chaos que la main n’imite point si elle n’est heurtée elle-même ou menacée. La nature brise nos idées comme elle brise nos actions. On peut penser la droite, on ne peut la parcourir. Le monde est sans loi.“ https://doi.org/10.1515/9783110629200-069

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geordneter Naturerfahrung aufweist; und selbst wenn wir diese nicht hätten und nicht haben könnten, wäre dies in der Gesamtwirklichkeit nur eine faktische Situation, die dadurch gegeben wäre, daß die Feststellung einer diesbezüglichen Ordnung nicht möglich ist. Wo aber ist gesagt, daß Empirie sein muß? Nun lassen sich die Bewegungen des brandenden Meeres, wie wir eruieren können, doch als geordnete zeitliche Bestimmungsfolgen verstehen. Die herausgefundene Ordnung erlaubt es, gewisse ständig gleichmäßige Sequenzen unter der Voraussetzung, daß jene Ordnung auch in der Zukunft angenommen werden darf, zu erwarten. Können wir, eine solche Gleichmäßigkeit bestimmter Folgen und Antezedentien in der Zeit gegeben, das Werden der „Natur“ aus einer fundierenden „Gesetzlichkeit“ rechtmäßig erklären? Wir haben soweit nur die Gleichmäßigkeit bestimmter Folgen in der Zeit, aber muß diese „gesetzlich“ sein? Nein! Die sich manifestierende Gleichmäßigkeit besagter Art stellt soweit nichts anderes als ein Muster dar. Wir haben nur das Datum der bestimmten Gleichmäßigkeit, aber kein „Gesetz“. Das Muster, soweit erkannt, kann bloß gegeben, es kann aber auch denknotwendig sein. Wir können dieses Auftreten desselben Musters in der Zeit durch eine Funktion beschreiben. Voraussetzung bleibt, daß wir jenes Muster permanent in der zeitlichen Folge unverändert vorfinden. Wir bezeichnen dies Walten der Funktion als „gesetzmäßig“; doch es bleibt dabei genau zu beachten, daß ein derartiges „Gesetz“ nur per analogiam „Gesetz“ genannt wird und nicht den Charakter der Denknotwendigkeit aufweist.

II. Wir haben es in der uns gegebenen Natur nicht mit einer einzigen Reihe, sondern mit ineinander eingreifenden Reihen zu tun. (Nur die zeitliche Sequenz ist einsinnig, und so eine einzige.) Kant bezeichnet dieses Verhältnis als das der „Gemeinschaft“, die er gemäß seiner Voraussetzung der denknotwendigen Kausalität auch Wechselwirkung nennt.4 Wir können aber tatsächlich immer nur von einer bestimmten Wechselordnung sprechen. Das uns sich darbietende Muster ist also nicht einseitig linear zu denken. Aber auch dann bleibt es, unterstellt man nicht subreptiv Kausalität im Kantischen Sinne, immer nur Muster; freilich ein unvergleichlich komplizierteres

4 Vgl. Kant, I.: KrV, B183 f. (AA III, S. 138).

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Muster, aber doch Muster. Die bemühte Kausalität ist eine der sich anbietenden Vorstellungen, das Muster zu interpretieren, im gegebenen Falle durch „Gemeinschaft“ (im Kantischen Sinn), aber sie ist damit nicht denknotwendig, es sei denn, man kann den Rechtsgrund dafür beibringen. Von der vorgefundenen Gemeinschaftsordnung in der Form eines Musters wird nach dem Postulat des auszuweisenden zureichenden Grundes fortgegangen zu einer Kausalerklärung (als Wechselwirkung) derselben. Diese Kategorie ist als solche aber ohnehin schon in Anspruch genommen. Was tun wir aber eigentlich, wenn wir ein Muster konzipieren? Wir stellen immer wieder historisch fest, daß die Erscheinung b (in t2) die gleiche Folge (Sequenz) einer Erscheinung a (in t1) ist. Wir können jedoch, da die Erscheinung der Gleichmäßigkeit der Sequenzen nur historisch erfaßt wird, nicht ausschließen, daß es in den aufgetretenen Fällen auch anders hätte sein können. Je nach dem Ausmaße, in dem das der Fall wäre, gäbe es dann keine strikte Ordnung mehr. (Es wäre also auch für eine mögliche Praxis keine zureichende Naturordnung mehr gegeben.)

III. Der Grund, warum es unmöglich ist, eine kausalgesetzlich bestimmte Sequenz zu erkennen, ist, daß die vorgebliche „ursächliche Wirkung“ sich in dem zeitlichen Fortgang vollziehen müßte. Jede zeitliche Setzung ist jedoch von jeder anderen zeitlichen Setzung – wie schon Descartes klar erkannte5 – durch einen Hiatus dergestalt getrennt, daß ein logisches Grund-Folge-Verhältnis zwischen den Inhalten der beiden Setzungen nicht gedacht werden kann. Der Zustand b in t2 ist keine logische Konsequenz aus dem Zustande a in t1. Schon die bloße formale zeitliche Setzung b kann nicht als logische Folge aus der zeitlichen Setzung a gedacht werden, folglich auch nicht als reale Wirkung aus der Ursache a. Das Verhältnis der beiden Setzungen t1 und t2 (und damit auch ihrer möglichen Inhalte a und b) ist ein grundsätzlich anderes als das des Grundes und seiner Folge bzw. der Ursache und ihrer Wirkung, nämlich das einer Apperzeptionsfolge. t2 ist nach der die mögliche Form der Zeit bestimmenden Regel als Nachfolger von t1 zu setzen.

5 Vgl. Lauth, R.: Descartes’ Konzeption des Systems der Philosophie, Stuttgart 1998, S. 128 f.

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IV. Wir haben soweit zwei Verhältnisbegriffe herangezogen, um die regelmäßige zeitlich bestimmte Folge zu verstehen: 1. das Grund-Folge- (bzw. Grund-Weiterbestimmungs-)Verhältnis und 2. das ante- und post-hoc-Verhältnis. Beide Verhältnisse setzen eine Mehrzahl voraus, die Mehrzahl der in der Sequenz- bzw. Konsequenz stehenden Momente. Die spezifische geistige Leistung ist in beiden Fällen, das Verhältnis mehrerer (elementar: zweier) Momente zueinander zu denken. Die zeitliche Sequenz war nicht als Implikation zu fassen, weil die Implikation immer das Zugleichsein und in diesem auch das Gleichzeitigsein erfordert. Umgekehrt kann eine Sequenz nur da gegeben sein, wo nicht eine Implikation ausschließend herrscht, besser noch gesagt: wo die notwendige Implikation nicht alles determiniert. Die Sequenz ergibt sich eben an der Stelle, wo jede mögliche bestimmte logische Folge ausfällt, d. i. in dem jeweiligen Glied einer logischen Disjunktion. Es ist das Wesen einer Disjunktion, das Obwalten einer der durch sie eröffneten Folgen nicht zu bestimmen, sondern nur das Obwaltenkönnen. Die Sequenz ist aber nicht die einzige Weise, wie wir eine solche (eröffnete) Mehrheit denken können. Es ist auch eine gänzlich ungeordnete Mehrheit denkbar. Doch müssen wir a und b (etc.) auch in diesem Falle in einer Beziehung aufeinander, wie auch immer, denken. Die Sequenz ist nur Eine der möglichen Weisen, die Mehrheit zu konzipieren. Da die Sequenz aber die in der hier zur Debatte stehenden Kausalität doch die beanspruchte ist, können wir differierende Modelle der Mehrheit hier aus dem Spiele lassen. Die Ordnung der mehrheitlichen Momente ist in der spezifisch zeitlichen Konzeption diejenige der Imposition, die ihrerseits eine bestimmte Weise der Apposition ist.6 Die Momente der Zeit folgen in einer solchen Ordnung nach einer Regel aufeinander, angefangen von einer ausgezeichneten Setzung (*), mit der zusätzlichen Bestimmung, daß in der Sequenz jede Nachfolgesetzung nur Einen unaustauschbaren Vorgänger haben kann. Im Falle des zeitlichen Werdens hat diese Form der Apposition den Charakter einer Imposition. n2 ist, indem es sich aus n1 nach der Regel ergibt, zugleich und ineins dasjenige Glied, aus dem sich n3 ergibt usw.

6 Zum Begriff der Apposition vgl. Lauth, R.: „Die Konstitution der Zeit im Bewußtsein“, Hamburg 1981, S. 5: „Ich nenne diese von der implikationslogischen Synthesis grundlegend verschiedene Art der Synthesis Apposition und verstehe darunter eine Synthesis, in der verschiedene implikationslogisch fakultative und disjunktive Weiterbestimmungen einander beigeordnet werden.“ Zur Imposition vgl. ebd., S. 24.

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Durch dieses Gesetz der Sequenz in Form einer Imposition ist die Zeitreihe als solche konstituiert, nicht aber der jeweilige bestimmte Inhalt der jeweiligen Zeitmomente. Dieser ergibt sich gerade nicht aus dem formalen Verhältnis der zeitlichen Momente zueinander. Bei der Frage, was Kants „Naturkausalität“ sein soll, geht es um das Verhältnis von Zeitinhalten zueinander, nicht nur um die gesetzliche Stelle eines Moments und ihren Charakter in der formal-zeitlichen Position. Vergleichen wir die inhaltliche Ordnung (angebliche Kausalordnung) mit der formalen Ordnung der Imposition, so ist zwar in beiden Fällen eine Mehrzahl von Momenten in einem bestimmten Verhältnis zueinander gesehen, aber in einer je anderen Art. Vergleichen wir diese Arten miteinander, so entdeckt sich uns folgendes: Die logische Implikation kann ihrerseits eine strikt notwendige, sie kann aber auch nur eine fakultative sein. (Man beachte dabei, daß auch die fakultative Implikation kraft des Gesetzes der Disjunktion ihrerseits eine strikt notwendige Alternative ist.) Bei der strikt notwendigen Implikation ist das scheinbar in der Mehrzahl stehende Moment immer nur ein Element der Identität. „Das Dreieck ist ein Dreiseiter“ besagt, daß diese Art der Eckigkeit bzw. Seitigkeit nur ein Moment der besagten Figur ist. Bei der fakultativen Gegebenheit hingegen ist die Folge zwar als Ein Moment der Disjunktion notwendig, aber diese insoweit notwendige Folge ist nicht als in der Implikation vorrangig gegeben bestimmt. Sie schließt die Alternative zu sich nur faktisch aus. Notwendig ist nur, daß Eine der Alternativen folgt, nicht aber, daß es eben diese sein muß. Beide Fakultäten stehen also jeweils als solche nicht im Verhältnis der einfach strikt notwendigen Konsequenz zu ihrem Grunde. Eine der Fakultäten muß aber erfüllt sein, andernfalls ist der Disjunktionsgrund gar nicht gegeben. Ein Triangel, der weder spitzwinklig, noch recht-, noch stumpfwinklig ist, kann nicht sein. Wir haben hier also das merkwürdige Verhältnis des Gegebenseins Einer Alternative, soll hier überhaupt ein Implikationsverhältnis gegeben sein. Wo immer solche fakultativen Implikationen auftauchen, ist das ganze notwendige Implikationensverhältnis nicht vorhanden, wenn nicht eine der Alternativen gesetzt ist. Das Implikationsverhältnis ist also in einem solchen Falle eines faktischen Moments bedürftig, um überhaupt obzuwalten.

V. Man hat versucht, die regelmäßige Veränderung des Physischen, d. i. das Muster in der Zeit, schlüssig zu erklären, ohne Wirkkausalität in der Zeit heranzuzie-

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hen. Spinoza, der die reale Zeit leugnet,7 versucht an ihrer Stelle, eine gesetzmäßige Ordnung zu denken, in der jene scheinbare zeitliche Sequenz bestimmter Inhalte zeitlos gedacht werden kann. Zu der primären logischen Konsequenz der Modi (Akzidentien) aus den Substanzen nimmt er noch eine andere, jedoch gleichfalls unzeitliche logische Konsequenzenreihe an, und zwar eine solche, wo sich aus dem Gegebensein eines bestimmten Modus (aus diesem, nicht aus dessen Grund) ein eindeutig bestimmter anderer bestimmter Modus notwendig ergibt. Er nennt solche Folgemodi „sekundäre Modi“.8 Jeder mögliche bestimmte Modus einer Substanz soll in Sonderheit einen anderen derartigen bestimmten sekundären Modus zur Folge haben, und dieser wiederum den seinen und so ad infinitum. Dadurch ergäbe sich, daß neben dem ersten logischen Konsequenzverhältnis ein zweites obwalten würde und daß durch das Gesamtverhältnis alle denkbaren Modi überhaupt überzeitlich erfüllt würden, indem jeder sekundäre Modus zwar ein nur alternativer Modus der primären logischen Folge sein kann, aber durch das Gesetz, das sekundär obwaltet, in irgendeinem Falle realisiert wäre. Fragt man, wie Spinoza denn das Gesetz der Kette der sekundären Modi versteht, so findet man sich bei ihm auf eine „potentia“ verwiesen, die die bestimmte Folge der bestimmten Modi erzwingt.9 Wie aber ist dieser Zwang zu denken? Die logische Folge der primären Konsequenzen kann es nicht sein, denn diese läßt gerade Alternativen bestehen. Die Sequenz der sekundären Modi kann also nicht aus der logischen Konsequenz verstanden werden. Der Gebrauch der Vokabel „potentia“ läßt vermuten, daß in dieser Potenz das UrsacheWirkungs-Verhältnis (nur komprimiert) gedacht ist. Dann aber erhielten wir nur die schon abgewiesene Kausalordnung zurück. Soll aber die befragte Ordnung keine kausale sein, so bleibt sie unverständlich, und dann bekommen wir nur das wieder, was wir schon herausgefunden hatten: eine Ordnung (im Muster), für die wir kein sie erklärendes Prinzip finden können. Einen andersartigen Versuch, die geordnete Reihe der Sequenzen in der Zeitfolge zu erklären, hat Fichte unternommen. Ihm war die Unmöglichkeit einer logischen Erklärung der angeblichen Kausalfolge schon früh klargeworden.

7 Vgl. Spinoza, B. de: Ethica, Pars II, Prop. 44 („Opera“, hg. v. C. Gebhart, Heidelberg 1925, S. 125). 8 Vgl. Spinoza, B. de: Ethica, Pars I, Prop. 29, Demonstratio („Opera“, hg. v. C. Gebhart, Heidelberg 1925, S. 70 f.). Vgl. ferner Lauth, R.: Descartes’ Konzeption des Systems der Philosophie, Stuttgart 1998, S. 25 f. 9 Vgl. Spinoza, Ethica, Pars IV, Prop. 4, Demonstratio („Opera“, hg. v. C. Gebhart, Heidelberg 1925, S. 213).

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Um die Gleichförmigkeit der inhaltlichen Sequenzen in der Zeitreihe zu erklären, setzt er einen „überzeitlichen Akt“ an, der im Prozeß des Erkennens erst verzeitlicht wird.10 Sodann erkläre sich die Sequenz, die wir im Erkenntnisprozeß konstatieren, aus Einem actus purus. Es ist klar, daß dieser actus purus dann aber eine andere Konsistenz haben muß als bloß die des logischen Grund-Folge-Verhältnisses. Das hinzukommende Moment wäre dann ein (Willens)Akt, und zwar eben ein überzeitlicher. Im Grunde genommen ist dann die Kausalität nur in höherer Potenz (zeitüberhoben) wieder im Spiele. Auch Kant denkt in dieser Richtung, wenn er die „Kausalität aus Freiheit“, die doch keine kategoriale Kausalität sein soll, in Ansatz bringt.

VI. Es ist also festzuhalten, daß ein Verständnis der „Ursache und der Wirkung“ nach der Art des Grund-Folge-Verhältnisses nicht möglich ist, weil diese „Ursache“ und diese „Wirkung“ in zwei verschiedene Zeitmomente fallen, das zeitliche Sein aber keine Grund-Folge-Erklärung zuläßt. Jacobi hat dies in seinem „David Hume“ präzise festgehalten: „Wenn der Begriff von Ursache und Wirkung, und die Vorstellung der Succession, zwei ganz verschiedene Dinge sind, so kann jener Begriff eben so wenig aus dieser Vorstellung sich entwickelt haben, als diese Vorstellung aus jenem Begriffe sich hat erklären lassen. Auf diese Weise aber sehe ich den Begriff von Ursache und Würkung, als Principium fiendi, generationis, ganz vor mir verschwinden, und es bleibt mir nichts als die Verwunderung übrig, wie nur diese Worte mögen in die Sprache gekommen seyn.“ Jacobis Erklärung dieses Rätsels lautet: „In die Sprache von Wesen, die nur anschauen und urtheilen könnten, würden sie auch nicht gekommen seyn. Sind wir aber solche Wesen? […] wir können ja auch handeln!“ 11 Wenn Kant erklärend sagt, „es werde durch Etwas etwas Anderes gesetzt“, oder daß durch ein Drittes (ein bestimmendes Prinzip) bestimmt werde, was inhaltlich jeweils einander vorhergehen oder zeitlich folgen müsse,12 so ist da-

10 Der Ausdruck läßt sich in dieser Form bei Fichte nicht belegen. 11 Jacobi, F. H.: „David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch“, Breslau 1787, S. 101/102 (ders., Werke, hg. v. W. Jaeschke et alii, Bd. 2,1, Meiner/frommann holzboog, Hamburg 2004, S. 53). 12 [Kant, I.]: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, Königsberg 1766, S. 121 (AA II, S. 370).

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mit nichts gewonnen, denn das Vorhergehende kann, weil in der Zeit seiend, das Nachfolgende nicht bestimmen: ein übergeordnetes Prinzip aber erklärt nur dann etwas, wenn man den Modus seines Prinzipiierens einsehen kann. Kants apagogische Begründung der Naturkausalität, wir könnten nämlich ohne Naturkausalität keine Erfahrung machen, zieht nicht. Es ist nicht notwendig, daß der eingeschränkte Verstand (des Menschen) Erfahrung mache. Auch wenn für einen eingeschränkten (menschlichen) Verstand ohne einsichtige Wirkkausalität Erfahrung nicht möglich wäre, könnte doch das Verhältnis inhaltlich geordneter zeitlicher Folge walten und als solches erkannt werden, aber dieses wäre ohne kausale Begründung. Und auf der gegenüberliegenden Seite ist es nicht notwendig, daß ein endlicher Verstand Erfahrung mache. Bei der „Kausalität aus Freiheit“ nimmt Kant selbst an, daß in ihrem Falle der Wille als Ursache „auf eine … unerklärliche Art den Grund (der Wirkung) enthält.“ 13 Wenn Kant richtig hervorhebt, daß die Kausalreihe immer einsinnig („abwärts“) geht,14 so liegt das daran, daß die einzelnen Setzungen der Voraussetzung nach immer in der laufenden Zeit liegen, die ihrerseits unumkehrbar ist.

VII. Wenn wir, wie es scheint, etwas durch die Tat in der Natur bewirken, so rechnen wir dabei auf die gleichförmige Art der Wirkung. Aber können wir sagen, daß unser Verursachen, dieses einmal als tatsächlich gegeben, sich in der zeitlich folgenden Wirkung erschöpft? Würde die Natur sich im Zeitpunkt unseres Wirkens plötzlich ändern und nicht mehr nach der alten Ordnung gleichmäßige Sequenzen zeitigen, so bewirkten wir auch in der Natur etwas anderes als das sonst immer Gleiche in den vorhergehenden Sequenzen. Wenn bei einem Erdstoß ein Beben erfolgt, sitzt möglicherweise der Zappelphilipp richtig (in dem Sinne, daß sein letztgewählter Stand gerade „bewirkt“, daß er nicht vom Stuhle fällt), während die ordentlich Sitzenden falsch „verursachen“ und zu Boden fallen.15

13 Kant, I.: KdU, B LV, Anm. (AA V, S. 136, A.). 14 Kant, I.: KdU, B 289 (AA V, S. 372). 15 Anspielung auf eine Geschichte aus dem bekannten Kinderbuch „Struwwelpeter“ (1845) vom Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann (1809–1894). Die Geschichte vom Zappel-Philipp handelt von einem kleinen Kind (Philipp), der am Tisch nicht still sitzen kann, mit dem Stuhl schaukelt, und mit Tischdecke und Mahlzeit auf den Boden fällt.

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Analoges gilt auch, wenn die „Natur“ mit ihrem gleichförmigen Verhalten im Prinzipiellen sich nach einer anderen Gesetzmäßigkeit des Prinzipiierens jeweils zu einem Anderen verhält, das etwas anderes als sie ist (z. B. zum Geist). Dann „bewirkt“ zwar das Tun gemäß der Kausal„erfahrung“ in ihr die (auf der Basis der Gleichmäßigkeit) erwartete „Wirkung“; das aber ist möglicherweise etwas ganz anderes und zwar nach dem Prinzip, nach dem sie mit jenem Anderen in gesetzmäßiger Verbindung steht. Damit aber müssen wir immer rechnen!! Es ist also illizit, von dem erfahrungskonform erzielten Erfolg in der bloßen (anorganischen) Natur auf das Nichtvorhandensein ganz anderer Konsequenzen in der Gesamtwirklichkeit zu schließen.

VIII. Unser Ergebnis lautet, daß wir den „gesetzmäßigen“ Nexus in der zeitlichen Folge von bestimmten Erscheinungen weder nach dem Grund-Folge-Prinzip noch aus dem zeitlichen Werden, noch aus einem ursächlichen „Wirken“ erklären können. Bei der letztgenannten „Erklärung“ hinterstellen wir immer einen Effekt aus seinem Gewolltwerden – wenn nicht aus unserem, dann aus einem fremden Wollen, aber dann eben aus diesem. Die Annahme einer solchen Wirkkausalität wäre also die Annahme von so etwas wie „Gott“ oder doch wenigstens eines unseren Möglichkeiten überlegenen Prinzips, das wir jedoch nur hypothetisch ansetzen, nicht aber in seiner Funktion verstehen könnten. Die Annahme einer „Kausalität“ erfolgt von der Erfahrung ausgehend, daß die zeitliche Folge des Wirklichen eine Regelmäßigkeit aufweist, und zwar eine bestimmte Regelmäßigkeit. Diese jedoch ist insoweit nur im Modus eines Musters (échantillon, nicht mostra, Probeexemplar). Voraussetzung eines solchen Musters ist jene formale geordnete Folge, die wir als zeitliche Folge kennen. (Das Muster wird für uns, als praktische Wesen, Veranlassung eines zum Ziel führenden praktischen Verfahrens. Aber das betrifft die rein faktische Gegebenheit nicht.) Nun muß aber jede einzelne zeitliche bestimmte Setzung qua Setzung ein Grund-Folge-Verhältnis in sich, dieser Setzung, konstituieren. Hierbei gilt zu beachten, daß es nicht nur exklusiv-notwendige Folge-Verhältnisse gibt, sondern auch fakultative, in denen gerade nicht bestimmt ist, welche von den disjunktiven Möglichkeiten gesetzt ist, a (non-b) oder b (non-a). Jedes fakultative Verhältnis läßt also offen, was ist, sagt vielmehr nur, was sein kann. Zur Existenz bedarf es hier eines weiteren Faktors, der durch das logische Verhältnis aber nicht gegeben ist.

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Nun ist in jeder „Kausal“setzung bzw. in jeder Setzung in einem Muster eine Alternative der logischen Fakultät realisiert; anders könnte in der zeitlichen Ordnung nichts existent sein und folglich diese selbst nicht sein. Logische und formal-zeitliche Ordnung verweisen also im Falle der Existenz aufeinander. Ein logisches fakultatives Verhältnis kann nur durch Bestimmung zu einer Alternative Realität gewinnen; während jede formalzeitliche bestimmte Existenz einer der möglichen Arten logischen Setzens bedarf, um überhaupt zu sein. Jede reale Setzung ist also eine kombinierte aus bestimmter zeitlicher und logischer Setzung. Dieses Gesetz besagt aber noch nichts über eine bestimmte Ordnung inhaltlich bestimmter Setzungen. Eine regelmäßige Bestimmtheit bedeutet auf jeden Fall das Auftreten eines Musters (das dann – was aber in eine ganz andere Region gehört – zu einem Verfahrensmuster Anlaß geben kann). Bei dem Muster verlassen uns beim Versuch des Erklärens alle zwingenden Möglichkeiten. Die Reflexionsideen Spinozas und Fichtes (Notwendigkeit sekundärer Modalität bzw. überzeitlicher Akt) sind Hypothesen, die aus der Erklärungskrise heraushelfen sollen. Bei Spinoza wird die Wirkkausalität zur logischen Notwendigkeit besonderer Art promoviert; bei Fichte wird die faktische Notwendigkeit zu einem Grenzmodus des Freiheitsaktes.

IX. Beachten wir aber vor allem, daß die Praktikabilität einer Erklärung die theoretische Forschung gar nichts angeht. Für sie bestehen nur logische und zeitliche Folge sowie faktisches Muster. Diese drei aber ergeben aus sich niemals Realität. Es bedeutet für und in der faktischen Beschaffenheit nichts, daß etwas praktikabel sei. Der Begriff der Praktikabilität kann in dieser Sphäre gar nicht auftreten. Noch wichtiger aber ist: Bis zu diesem Punkt ist noch nirgends so etwas wie Realität (Existenz) in Sicht. Logisch-zeitliche Gegebenheit eines Musters findet sich ebensowohl im nur Essentiellen wie im Reell-Existenten. Die Frage ist: wie kommt es denn allererst zum Auftreten von so etwas wie Realität?

X. Hier sind wir an derjenigen Stelle der Problematik angekommen, die Descartes und Fichte so intensiv beleuchtet haben. Alle bisher erörterten formalen Grundelemente erweisen gar keine Existenz, ja können eine solche gar nicht erweisen.

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Die Existenz erleben wir allererst im cogito, im Handeln (des Ich) und erst daher abkünftig etwa auch im Bereich des logisch-zeitlich Formalen, d. i. im logisch ansetzenden, zeitigenden und eine bestimmte Ordnung setzenden cogito (pendo). Wie aber kommt die Vorstellung von der Eigenexistenz zur angeblichen Existenz des beschriebenen Formalen hinüber? Und wenn wir im Reflektieren Wirkursächlichkeit ansetzen, quo iure? Es zeigt sich das besonders deutlich am Seele-Leib-Verhältnis. Wir „wissen“ aus Erfahrung, daß der Geist den Körper wirkursächlich bewegt und schließen auf ein analoges umgekehrtes Verhältnis: der Körper „bewegt“ den Geist. Descartes hat mit allem Nachdruck darauf hingewiesen und es einsichtig gemacht,16 daß wir zwar diese Notion der wechselweisen Wirkursächlichkeit permanent strapazieren, aber nicht wirklich denken können. Er nannte deshalb die Notionengruppe dieses Bereiches eine praktikable (moralis sciendi modus). Bei Kant erscheint dasselbe wieder in Darlegung der Wirkkausalität des Geistes in der Natur. Wir denken entweder, so Descartes, die geistige Ursache im Commerzium von Seele und Leib als geistige; aber dann kann sie nur geistige Wirkungen haben; oder wir denken sie als körperliche, dann jedoch sind ihre Wirkungen immer nur körperliche. Den Übergang von Geist zu Körper und Körper zu Geist können wir nicht denken, nämlich was „verursachen“ in jedem der beiden Fälle sein soll.

XI. Wenn wir rechtmäßig eine rein faktische Begebenheit nicht mittels der Wirkursächlichkeit verstehen können, so verbleibt nur, daß wir ein objektiv gegebenes Muster mathematisch-funktional und logisch in einer bestimmten Weise – aber nichts weiter! – lesen können. Mit Einbeziehung wahren zeitlichen Werdens ergibt sich darüber hinaus, daß wir einen Vorgang auch mittels bestimmter Funktionen bestimmen können. Es muß jedoch hierbei strengstens darauf geachtet werden, daß damit noch keine Aussage darüber gewonnen ist, warum denn die vorliegende Figuration ist, wie sie ist, und ob sie oder ob sie nicht mit weiteren Gesetzlichkeiten, die wir nicht erfassen (können), in einem notwendigen Nexus steht. Im Gegenteil müssen wir (unter Beachtung des Satzes vom zureichenden Grunde) annehmen, daß für das vorliegende Muster und dessen praktikable Seite noch weitere (uns unbekannte) Prinzipien im Spiele sind – eben weil die uns einsichtigen Prinzipien und deren Gesetzlichkeit zur Erklärung gerade eines solchen Musters nicht ausreichen.

16 Vgl. Lauth, R.: Descartes’ Konzeption des Systems der Philosophie, Stuttgart 1998, S. 160 ff.

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Ich möchte das mittels eines Vorganges, von dem Ariost in seinem „Orlando furioso“ berichtet, per Analogie recht deutlich machen. Im Reich der Zauberin Alcina, das an einem Meeresbusen liegt, gerät Astolfo, eine der Hauptpersonen in Ariosts Poem, auf eine „Insel“, deren wahres Wesen er zunächst nicht erkennt: Es ist der Rücken eines kolossalen Walfischs (la maggiore che mai per tutto il mar veduta fosse). Dieser Walfischrücken erscheint ihm und seinen Begleitern als eine feste Insel. Caschiamo tutti insieme in uno errore, perch’era ferma e che mai non si scosse: ch’ella sia una isoletta ci credemo, cosi distante ha l’un da l’altro estremo. … E ci mostrò quella maggior balena che, come io dissi, una isoletta pare.17

Die scheinbar feste Fläche, die Astolf und seine Begleiter betreten, ist das Muster, das sie korrekt logisch, mathematisch und funktional lesen. Die „Insel“ ist wirklich ein Körper von der und der Erstreckung und zwar sich regelmäßig im zeitlichen Werden so präsentierend. Der Fehler der Besucher bestand darin, daß sie gar nicht daran dachten, daß das Gebilde noch zusätzlich nach einem anderen Prinzip so gestaltet sein könnte. Selbst wenn der Walfisch sich in der Folge nicht bewegt und damit ihre Hypothese invalidiert hätte, hätte ihnen klar sein müssen, daß sie das vorliegende Ganze nicht für zureichend erklärt nehmen durften. Die von ihnen angenommene „Gesetzlichkeit“ war eben nur eine per inductionem an das Vorliegende herangetragene, eine – trotz Implikation apriorischer Gesetze – nur empirische „Gesetzlichkeit“. Der empirische Ansatz der Beschaffenheit der Insel ist jedoch möglich nur dadurch, daß „festgestellt“ wird, daß etwas wirklich Seiendes (Existierendes) wahrgenommen werde, dem man sodann eben diese „Gesetzlichkeit“ zusprechen könne.

XII. Und damit stoßen wir auf ein entscheidendes Faktum: Mit dem Combinat aus logischer, mathematischer und funktionaler Gesetzlichkeit ist so etwas wie Sein überhaupt noch nicht gegeben. Wir haben bis dato nur ein Gedankending, eine

17 Ariosto, L.: „Orlando Furioso“ (Ferrara 1516), Sechster Gesang, 37 u. 40 (Orlando Furioso: secondo la ,Princeps‘ del 1516, hg. v. M. Dorigatti, Firenze 2006, S. 118 f.).

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excogitatio von etwas im Reiche der möglichen Wesenheiten, kein Indiz hingegen für ein Existierendes. Da dabei die Funktion eine konstituierende Rolle spielt, diese aber zeitübergreifend konzipiert ist, setzt die angenommene existentielle Gültigkeit dieser Funktion jedoch voraus, daß wir zeitlich Distinktes in reinem Funktionieren nach einem (über das formale Zeitgesetz hinausliegenden) apriorischen Gesetz denken können. Das aber ist gerade nicht der Fall. Die bestimmte herausgefundene Funktion interpretiert die im Muster vorliegende Gegebenheit so, als ob eine die atomaren Zeitpunkte übergreifende Gesetzlichkeit in Bezug auf diese in ihrem Wie denkbar wäre. Und das ist sie eben nicht.

XIII. Daß wir im Falle der „Erfahrung“ ein vorgestelltes Muster logisch, mathematisch und funktionell lesen, steht nach den vorhergehenden Ausführungen soweit fest. Wie aber kommen wir dazu zu behaupten, daß ein Wirkliches solchen Charakters existiert? Wenn wir die Mittel, die wir bisher ins Spiel gebracht haben, rein abgezogen als solche nehmen, so ergeben sich aus ihnen zwar Figurationen einer Grundfiguration, aber nichts, das auf so etwas wie Existenz leitete. Wo kommt dieser Übergang zur Existenz her? Man wird antworten, daß sich uns diese Konfiguration aufzwinge, d. h. das Muster, das ja nur dieses Muster ist, weil es in der bestimmten Ausdeutung verstanden wird. Aber so etwas wie aufzwingen, nötigen etc. ergibt sich weder aus dem Muster allein noch aus seiner Lesart. Man könnte an dieser Stelle zur Erklärung die Empfindungen ins Spiel bringen. Temperatur, Gefühlsqualität, Licht und Farbe, Geschmack und Geruch sowie Ton sind solche Qualitäten, doch auch sie ergeben, rein als derartige Qualitäten genommen, kein Sein. Man muß nur gedanklich alle genannten bloßen Qualitäten von dem Druckerlebnis rein abtrennen. Dies fällt uns deshalb sehr schwer, weil die reinen Qualitäten faktisch immer mit dem Druckerlebnis verschmolzen auftreten. Weich, rauh, gleitend etc. sind Qualitäten, die wir immer nur zugleich mit einem Druck (Eindruck) perzipieren.A Man kann sich die zuvor entwickelte Figuration zusammen mit in ihr gegebenen solchen Empfindungen denken, ohne deshalb etwas anderes als ein „Ge-

A Nehmen wir als Beispiel den Duft einer Himalaya-Orchidee. Es ist eine „ganze Welt“ von Empfindungsqualität. Wenn er auch nur an der Stelle einer Impression auftritt, so ist er doch wesensmäßig von einer solchen verschieden. Der Druck rein als solcher gibt keine Qualität.

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dankending“ zu haben. Wodurch wird Descartes’ vorgestelltes Wachs, in allen seinen Veränderungen genommen, ein wirkliches Wachs?18 Antwortet man: „Es nötigt sich uns auf!“, so ist damit das Problem nicht gelöst. Das Muster nötigte uns auch, wenn logisch-mathematisch angesehen, gerade diejenige Lesart auf, die wir beim Herantragen entfalten konnten. An dieser Stelle muß es deutlich werden, daß wir mit dem Prädikat Existenz etwas ganz Andersartiges und Neues ins Spiel bringen. Die Existenz ergibt sich nicht aus der quantitativ-qualitativen Figuration, sondern da finden wir nur eine bestimmte Wesenheit, die sich freilich von der einen Seite wesensgesetzlich, von der anderen Seite – aber wodurch? durch die Beeindruckung oder durch bloße Gedankenbildung? – empirisch ergibt. Es muß erst zu dem soweit entfalteten Komplex der Wesenseigenschaften etwas aus ihnen sich nie und nimmer Ergebendes, etwas insofern von außen Kommendes (von außerhalb des bestimmten Wesens) herangeführt werden, wobei sich natürlich fragt, mit welchem Rechtsgrund es herangeführt wird und ob es überhaupt mit dem zuvor Entwickelten in Konnex gebracht werden kann.

XIV. Aus allem soweit Ausgeführten ergibt sich, daß wir so etwas wie Existenz weder im logischen Grund-Folge-Verhältnis, noch in den mathematischen Gestalten, noch in den reinen Empfindungen antreffen, ja auch nur antreffen könnten. Wir hatten das neue, hierzu erforderliche Moment vorläufig mit dem Wort „Druck“ bezeichnet. Es versteht sich, daß dieser Druck und seine Wahrnehmung nicht mit dem, was in der Physik Druck bzw. Kraft genannt wird, verwechselt werden darf; letztere ist nur eine funktionale Gegebenheit, von der jede realistische Ausdeutung uns bis jetzt unerlaubt ist. Exakt müssen wir hier vom Gegen-Stand sprechen. Das, was wir antreffen, ist etwas, das unserem Wollen-in-actu entgegensteht. Ich mache zunächst darauf aufmerksam, daß ein derartiger Gegen-Stand nicht notwendig physisch sein muß. Auch das fremde Wollen, das wir „wahrnehmen“, hat seinen Gegen-Stand gegen unser davon betroffenes eigenes Wollen. Da die Philosophie bisher völlig unberechtigt immer von der „physischen Gegebenheit“ aus ihren Anfang nehmen zu müssen glaubte, so wurde die fremde Intention als Gegen-Stand so gut wie gänzlich übersehen, und zwar um

18 Vgl. Descartes, R.: Les meditations metaphysiques, Paris 1647, Méditation seconde, S. 26–31 (AT IX, 23–26).

Kausalität

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so selbstverständlicher, als man davon ausgehen zu können sich für berechtigt hielt, daß wir von fremdpersonaler Intention nur mittels des Umweges über die Sinne, nicht aber unmittelbar geistig wüßten. Die spezifische Weise des fremdintentionalen Gegen-Standes ist die der Freilassung. Nur wenn wir freigelassen werden (uns die Aufgabe gestellt wird) und ineins freilassen, d. i. die Intention als freigestellte (aufgegebene) konzipieren und dementsprechend reagieren, entsteht für uns so etwas wie eine interpersonale Verbindung, wobei es hierbei gleichgültig ist, ob sie direkt oder via physischen Eindrucks in uns auftritt.

XV. Es empfiehlt sich, den Brief Reinholds vom 14. Februar 1797 an Fichte zu durchdenken, um das hier obwaltende Verhältnis ganz zu fassen. Er habe, schreibt Reinhold, unberechtigterweise einen objektiv existierenden Stoff angenommen, den wir empfänden, „Dasjenige, wodurch die Vernunft genöthiget würde, außer dem Subjekte ein solches Noumen zu denken, war mir nichts anderes als die äußere Empfindung als Thatsache, bei der ich still stand und stehen bleiben mußte, um ein Ganzes zu haben … Auf einmal entdeckte ich nun, daß diese Empfindung im Grunde das eigentliche Fundament, der einzige Träger meiner ganzen Transcendental-Philosophie“ war.19 Das Sein, die Existenz wird eben nicht empfunden und kann gar nicht empfunden werden! Die Empfindung erfaßt nur Qualitäten, aber kein solches von diesen ganz Verschiedenes wie die Existenz. Ich kann das Sein weder riechen noch schmecken, sehen noch fühlen, hören noch als Temperatur empfinden. Das objektive Sein ist ein rein Gedachtes. Logische und mathematisch-funktionale Gestalt sowie qualitative Empfindungen ergeben allein als solche immer nur eine Vorstellung, aber in dieser nichts dergleichen wie eine Existenz. Ich habe mit ihnen – wenn man mir diesen Vergleich erlauben will – ein Ölgemälde, von dem ich alle genannten Empfindungen haben kann – und sodann zwar mehr als nur eine Zeichnung, aber nichts Existierendes. Die offen gebliebene Frage ist: Wie kommen wir von dort zu einem existierenden Gegenstande? Analoges gilt auch von einem rein geistigen Gegenstande: das Erlebnis eines existentiell Gegen-Stehenden kommt nicht aus den Anmutungen, die ich fühle, sondern aus einer ganz anderen Quelle. Wir müssen also ein erneutes Mal primär ansetzen, um berechtigt Existenz auszusagen, und wenn wir dasjenige Moment finden, das uns das erlaubt, müs-

19 K. L. Reinhold an J. G. Fichte v. 14. 2. 1797, in: GA III/3, S. 49.

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sen wir uns fragen, wie es darüber hinaus dann zu den Bestimmungen der Empfindung und der logisch-mathematischen „Form“ kommt.

XVI. Es ist aber durchaus nötig, damit wir in der Folge nicht wieder in alte Konkreszenzen zurückfallen, den Ertrag des bislang versuchten Ansatzes zu bestimmen. Bei der „Kausalität“ handelt es sich nicht um eine „Kategorie“, d. i. um eine zu allem Denken notwendige Form desselben, sondern um eine versuchte Ausdeutung des logisch-mathematisch-funktional Gegebenen. Die diesbezüglichen Descartesschen Erkenntnisse belehrten uns, daß hier gar keine Kategorie, d. i. nichts notwendig zu Denkendes zugrunde liegt, sondern eine Reflexionsidee. Diese besagt in unserem Falle, daß die Veränderung in der Physis als ein „Bewirken“ interpretiert wird analog dem Bewirken im Falle des (geistigen) Handelns. Diese Idee jedoch ist abzuweisen, weil es in dem erstellten Combinat so etwas wie ein (geistiges) Handeln gar nicht geben kann. Das Combinat müßte dann ganz etwas anderes, nämlich selbst ein geistiges Gebilde sein – was es ja laut Voraussetzung nicht sein soll –, während es als Combinat seiner Art die Vorstellung eines „Wirkens“ garnicht zuläßt. Wir stehen hier zudem noch vor dem skurrilen Tatbestand, daß genau das, was eliminiert werden sollte, ein „Wirken“ menschlicher oder göttlicher Art, mit der vorgeblichen Kategorie der Kausalität subreptiv wieder eingeführt ist. Die scheinbar rein objektive Form erweist sich als ein offensichtlicher Anthropomorphismus. Auch die aufgeführten Versuche Spinozas und Fichtes, die Kausalität in der Natur als Potentia bzw. überzeitlichen Akt zu verstehen, erwiesen sich als verschleiernde Restitutionen des (nur scheinbar umgangenen) Wirk-Schemas. Man kann an dieser Stelle von dem Verfechter der Wirkkausalität mit Goethes Mephisto sagen: Er scheint mir, mit Verlaub von Euer Gnaden, Wie eine der langbeinigen Zikaden, Die immer fliegt und fliegend springt und gleich im Gras ihr altes Liedchen singt.20

20 Goethe, J. W. v.: Faust. Eine Tragödie, Tübingen 1808, „Prolog im Himmel“, V. 287–290.

Die Sistenz I. Es erscheint angebracht, die Verfahren zu überprüfen, die bei dem versuchten Ansatz von Naturkausalität im Spiele sind. Da haben wir zunächst das Grund-Folge-Verhältnis. Schon in ihm wird eine Vielzahl angesetzt. (Beispiele: die Linie ist entweder gerade oder gekrümmt. Eine Fläche kann von drei Geraden umschlossen sein, dann ist sie ein Triangel.) Grund und Folge sind jedoch hier stets zugleich gegeben. Alle im Grund-Folge-Verhältnis stehenden Gegebenheiten sind aber dergestalt, daß in der Weiterbestimmung Disjunktionen auftreten, die ausschließen, daß sie an der bestimmten Stelle des Grund-Folge-Verhältnisses beide zugleich realisiert sind. Die eine als real gesetzte Disjunktionsgegebenheit schließt ihre Alternative von der Realität aus. Insofern erweist sich das logische Grund-Folge-Verhältnis als ein solches, das zur Realisation einer seiner Alternativen stets eines außerhalb seiner liegenden realisierenden Faktors bedarf, der jedoch seinerseits ineins damit die Alternative von der Realität ausschließt. (Wird z. B. ein gleichseitiges Dreieck realisiert, so ist in eins damit die mögliche Ungleichseitigkeit von dieser Realität ausgeschlossen.)

II. Der die Alternative realisierende Faktor kann aber seinerseits nur ins Spiel kommen, wenn eine Mehrzahl von Sequenzsetzungen möglich ist, denn zugleich können die Alternativen nicht real sein. Diese erforderliche Mehrzahl von Setzungen wird durch die ordinale Reihe ermöglicht. Alternative-1 und Alternative-2 können nicht zugleich real sein. Ist aber eine ordinale Reihe im Spiel, so können beide Alternativen in Einem Glied der Ordnungsreihe (= A1) und zugleich in einem zweiten Gliede (= A2) derselben real sein. Der Zusammenhang beider Realisierungen ist durch das Gesetz der Sequenz ermöglicht. A1 ist neben A2 real. Es bleibt nur genau zu beachten, daß dieser Zusammenhang stets durch ein übergeordnetes gestaltendes Moment (die spezifische Einheit dieser Zweiheit) ermöglicht ist.

https://doi.org/10.1515/9783110629200-070

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III. Unser Denken muß von der einen zur anderen realen Alternative übergehen können und tatsächlich übergehen. Andernfalls wäre keine Relation zwischen A1 und A2 möglich, A1 soll in einer bestimmten Setzung real sein, und das schließt A2 in dieser aus. A2 kann außer A1 auch realisiert sein. Doch das kann man nur aussagen, wenn man beide in eins erfaßt. Dieses Zugleichsein erfordert ein Miteinandersein, das nur in einer ihm übergeordneten Einheit dieses Miteinander gefaßt werden kann (neben; vor/nach).

IV. Das Ergebnis unserer Untersuchung über die „Naturkausalität“ 1 war, daß im Vorstellen der Gegebenheiten (unter Ausschluß der Qualitäten) nur ein Muster vorgestellt wird; eine Wirkursache wird nicht wahrgenommen, sondern soweit nur unrechtlich hinterstellt. Die generellen Konstitutiva des Musters waren das logische Grund-Folge-Verhältnis, die Verteilung im Raume und das Auftreten in der Zeit. Die ordnenden Faktoren (bestimmte Verteilung im Raume und bestimmte Funktion in der Zeit) setzen voraus, daß im Vorstellen Raum und Zeit und die Bestimmungen derselben vorgestellt werden können und auch tatsächlich vorgestellt werden.

V. Es ist aus dem im Kapitel „Naturkausalität“ Erkannten strikt festzuhalten, daß weder die bestimmte Verteilung im Raume noch die bestimmte Funktion des Wahrgenommenen in der Zeit uns berechtigen, auf dessen objektiv-reales Sein zu schließen. Wir können soweit weder eine reale räumliche Ausgedehntheit wahrnehmen, noch ein reales Bewirken und Bewirktwerden in der Zeit, sondern nur eine Sequenz atomarer Gegebenheiten, die ihrerseits eine Gesetzmäßigkeit aufweist, die wir (in ihren Verhältnissen) feststellen, nicht aber kausal erklären können. Auch von dem (allein) festgestellten Muster gilt, daß eine reale Existenz sich in ihm (als Muster allein) nicht offenbart. Die bestimmte Aufteilung im Räume und die bestimmte Sequenz in der Zeit ließ sich nur an Empfindungen erfassen, die jedoch ihrerseits wiederum kein

1 Verweis auf den vorhergehenden Aufsatz („Kausalität“).

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reales Sein außer ihnen offenbaren. Man kann an dieser Stelle nicht mit dem Argument operieren, originäre Qualitäten hätten wir nur in der Sinnesempfindung und diese als Reales empfindenden. Das eidetische Vermögen zeigt das Gegenteil: Auch in der Phantasie sind farbige, tonliche Qualitäten, Geruchsqualitäten u. s. w. möglich, in bestimmten Fällen sogar mit höherer Intensität als in der sinnlichen Wahrnehmung. Weder die sinnlich wahrgenommenen noch die eidetisch erfaßten Qualitäten aber erweisen von sich aus selbständige Realität des Perzipierten. Sie könnten „subjektiven“ „Bildungen“ zugeschrieben werden.

VI. An dieser Stelle ist darauf aufmerksam zu machen, daß alles bisher in Ansatz Gebrachte: logische Implikationen, räumliche (und zeitliche) Gegebenheiten, mathematisch erfaßte Funktionen, vorgestellte Verhältnisse sind, wobei die konstituierende Weise ihres Vorgestelltseins bislang noch gänzlich unerörtert ist. Es stellt sich die grundsätzliche Frage, was die Vorstellung bei ihrer Konstitution leistet und ob diese Vorstellungsleistung von den vorgeblich sächlichen Gegebenheiten überhaupt abgezogen werden kann. Es sei dies an der Zeitlichkeit erläutert: Wenn wir nur je atomare Gegebenheiten erfassen, aber keine wirkursächlichen Zusammenhänge wahrnehmen, ja diese nicht einmal denken können, so müssen wir die Zusammenhänge, deren Vorhandensein wir vorstellen, zunächst auf Investitionen des reinen Anschauens und Denkens zurückführen. Denn ihr Vorgestelltsein ist sicher, ihre selbständige Realität aber zweifelhaft. Das „wirkliche“ Sein dieser Investitionen, besser gesagt ihr reales Obwalten ist soweit noch nicht gesichert; und wenn es gesichert werden soll und wird, so fragt sich, ob reale Faktoren und welche diesen Anschauungs- und Denkformen entsprechen könnten. Mit jeder gedanklichen Erklärung geht der Vorstellende von der sinnlichen Perzeption auf Gründe derselben zurück, die eben nicht sinnlich perzeptibel sind, sondern nur durch Gedanken „erfaßt werden“ können. Die Dinge selbst denken nicht; sie befinden sich auch nicht. Wir finden diese und jene (von uns gedanklich erstellten) Verhältnisse, die an ihnen obwalten sollen. Ohne das bleibt ihr Sein rein atomar. Die Zeitlichkeit des Empfundenen z. B. ist nur als ein allaugenblickliches Heraustreten und Wiederverfallen, aus dem Nichts und in das Nichts, gegeben. Wenn es mehr sein soll als das, so muß ein positives Verhältnis zwischen dem jeweils atomar Aufblitzenden und Verlöschenden obwalten. Gedanklich erstellen wir in diesem Falle ein Ordnungsgefüge, durch das wir sie plural und funktional verbinden. Aber können wir eine solche ordinale Vermittlung auch als eine

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objektiv-reale denken – können wir denken, daß sie real obwaltet, und zuverläßlich angeben, auf welche Weise – etwa kausal? – dies zu denken ist? Wir haben schon bemerkt, daß das bloße Vorgestelltwerden eines präsumtiv Realen eine Dimension eröffnet, ein Verhältnis bestimmter Art zwischen diesem präsumtiv Realen und seinem Vorgestelltwerden, das im real Seienden, dieses lediglich in seiner eigenen, faktischen Realität genommen, gar nicht vorkommt. Was geht, so könnte man fragen, die Sonne an, daß sie und ihre Gegebenheiten vorgestellt werden? Im „real Seienden“ ist kein reales Sein, das ja soweit nur im Gedachtwerden, und zwar im Gegensatz zum bloßen Vorgestelltsein, angesetzt ist.

VII. Allein schon durch sein Vorgestelltsein und Vorgestelltsein-Können steht das Muster in einer Beziehung, die sich von ihm allein aus nicht ergibt und auch nicht ergeben kann. Ich meine hier nicht nur, daß seine Ordnung erfaßt wird, sondern darüber hinaus, daß dieses Erfaßtwerden vom bloßen Gegebensein in der Anschauung bis zur rekonstruierten logischen, räumlichen und funktionellen Ordnung geht. Damit ist aber die Sachlage bei weitem noch nicht erschöpft. Das vorgestellte Muster mutet an (in den Sinnesqualitäten) und hat in diesem Anmuten Bezug auf einen Willen-in-actu. Diese Seiten lassen wir zunächst auf sich gestellt. Wir wollen erwarten, ob sie sich bei Lösung der Frage nach der Realität nicht von selbst zurückmelden werden.

VIII. Wir haben bisher eine Seite der wirklichen Wahrnehmung unberücksichtigt gelassen, nämlich die, daß das Muster in seinen einzelnen Momenten immer nur dadurch gegeben ist, daß es auf uns „wirkt“. Wir empfangen Eindrücke, d. h. wir finden uns in einem dynamischen Verhältnis zu den Gegebenheiten des Musters vor. Das Muster manifestiert sich im Vorstellen als gegen-ständig (obsistent) (wobei das „stehen“ dynamisch zu nehmen ist – wie eben in dem Worte „widerstehen“) d. i. in unserem sinnlichen Sein dynamisch „wirksam“. Man bemerke zunächst, daß hier zum ersten Mal in unserem Konstruktionsgang das „Wirken“ auftritt. Im (angeblichen) bloßen Objekte konnten wir kein Wirken wahrnehmen. Hier, im Verhältnis des Objekts zum (vorstellenden und

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wollenden) Subjekt ist der Wirkzusammenhang schlechthin konstitutiv. Kein Wirkzusammenhang, keine Wahrnehmung! Der Wirkzusammenhang setzt voraus, daß es ein Wirkendes (Bewirkendes) und ein Bewirktes gibt, die in einem Wechselbedingen zueinander stehen. Das Wirkende ist hier nur Wirkendes, wenn seine Wirkung ein Bewirktwerden eines anderen (hier: der Vorstellung und darin des passiven Willenseffekts) konstituiert; wie umgekehrt ein Bewirktwerden ein Wirken dieses Bewirkens impliziert.

IX. Dieser Wirkzusammenhang ist fundamental ein Verhältnis im Willensbereich, ein Verhältnis im Wollens-in-actu. Nur im Wollen kann so etwas wie Gewirktwerden statthaben. Selbst da, wo das Wollen-in-actu scheinbar in Ruhe ist, ist es in der Tat wirkend und das heißt wirklich. Die „Ruhe“ ist hier ein bestimmter Grenzfall der Aktivität/Passivität. Das bedeutet aber: Wir haben es in allem Wahrnehmen mit dem Bewußtsein von einem Willensverhältnis zu tun und in diesem mit einem Bewirken/ Gewirktwerden. Und dessen sind wir uns bewußt, wenn immer wir vorstellen. Selbst im bloßen Vorstellen von etwas, schreiben wir uns tätige Erstellung (also Wirken) oder wir supponieren eine Einbildungskraft, die ein solches Vorstellen bewirkt. Da es schon dort so ist, kann überhaupt nichts vorgestellt werden, ohne daß ein solcher Wirkzusammenhang erstellt wird.

X. Es sei an dieser Stelle und von ihr an deutlich zwischen 1.) der Wirkung, 2.) ihrem Erwirken und 3.) dem aktiven Setzen einer Wirkung (Bewirken) unterschieden. Etwas kann Wirkung haben (wie z. B. das Widerstehende) ohne selbst aktiv seine Wirkung zu erzeugen. Es kann im von der Wirkung Betroffenen etwas Bewirken, ohne selbständig Erwirkendes zu sein. Dem Widerstehenden schreibt der Betroffene in jedem Falle zu, daß es in ihm etwas bewirkt. Aber nur der fremdintentionalen Wirkung wird zugeschrieben, daß sie erwirkend initiiert ist. Das Wort „Bewirken“ ist hier jedoch doppeldeutig, je nachdem ob der bloße Effekt, oder die erwirkende Initiierung gemeint ist. Die Sprache hat die Glieder des an dieser Stelle erörterten Verhältnisses sehr wohl bezeichnet. Das Widerstehende wird, eben weil kein Erwirken seines Widerstandes perzipiert wird, „Ur-Sache“ genannt. Es selbst „verursacht“, eben

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weil es nicht selbst erwirkt. Das Wort „verursachen“ ist, sprachlich angesehen, ein Unwort. Es verrät jedoch, daß man das Erwirken nicht ausdrücken wollte. Wir wollen unsererseits, um Konfusionen zu vermeiden, das aktive, wirkende Herbeiführen von … „erwirken“ nennen. Das spezifische Bewirken, das von einer UrSache aus erfolgt, nennt man am besten „verursachen“, das dann aber gedanklich scharf vom „erwirken“ und „bewirken“ zu unterscheiden ist. Mit dieser Präzision ausgedrückt: Das Widerstehende, d. i. die UrSache, verursacht einen Effekt. Der fremde Wille hingegen, wenn perzipiert, „bewirkt“ und „erwirkt“ seinen Effekt im Vorstellenden, Wollenden.

XI. In jedem Erleiden manifestiert sich ein Einwirken auf den Willen-in-actu. Ein Erleiden kann es nur sein, wenn es eine intendierte Realisation des Willens-inactu im besagten Falle verhindert. Es steht der Realisation des Willens-in-actu entgegen (obstat). Das Behindernde widersteht einem Erstrebten. Zugleich bedeutet das aber auch, daß der Wille-in-actu in dieser Situation seinerseits dem Widerstande entgegensteht. Er tendiert auf etwas, dessen Realisation vom Faktisch-Widerstehenden widerstanden wird. Hier steht Widerstehen gegen Widerstehen. Zu bemerken ist jedoch, daß dabei der subjektive Widerstand durch den objektiven Widerstand in seiner Realität fundiert wird. Andererseits ist zuzugeben, daß der objektive Widerstand nur durch das subjektive Streben für das Bewußtsein vorhanden ist. Aber das subjektive Streben setzt den objektiven Widerstand nicht in seiner ursprünglichen Intention, sondern gerade als gegen seine Intention vorhandenen. Das objektiv Widerstehende ist Widerstehendens nur für das Streben des Willens-in-actu, aber es ist Widerstehendes aus sich, nicht etwa allein deshalb, weil es (zugleich) subjektiv nicht Gewolltes ist. Wir werden diese merkwürdige Eigenschaft des Einwirkenden auf das Subjekt seine Sistenz nennen. (Man könnte auch das Wort Konsistenz benutzen, wenn man nur dieser Eigenschaft kein eigenständig angesetztes Bewirken gedanklich unterstellte.) Das Sistente übt einen ganz bestimmten Effekt im Wollen-in-actu aus und muß als ein dergestalt Wirkendes d. i. als Verursachendes aufgefaßt werden. Es darf aber um Himmels willen kein aktives Wirken (keine Wirkursächlichkeit) seinerseits hinterstellt werden. Wir haben es hier mit einem kausalen „Wirken“ d. i. mit einem „verursachen“ zu tun! Wie Fichte es ausdrückt: das Sistente „ist, ist nicht nicht“ und „nötigt“ das Wollen-in-actu; aber diese Nötigung ist ihrerseits nicht der Effekt einer objektiv agierenden Wirkursache, die Obsistenz für das Subjekt seinerseits aktiv erwirkte.

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XII. Die Sistenz ist nach dem Gang unserer Untersuchung die erste Realität (auch) jenseits der Vorstellung, der wir begegnen. Sie ist streng sowohl von dem ursächlichen Fremdbewirken zu unterscheiden wie auch vom eigenen Wirken des Vorstellenden. (NB.: Der Terminus „Existenz“ wird in der Folge nur für die eigentümliche Weise der Realität des Bewußtseins verwendet, nicht aber als gleichbedeutend mit dem Terminus „Sistenz“.)

XIII. Stellen wir jetzt die Frage nach der tatsächlichen realen Existenz des derart Vorgestellten! Wir sagen, daß eine „Einwirkung“ auf uns geschieht, daß etwas in Bezug auf uns „getan“ d. i. uns angetan wird (Affection). Wir setzen also dabei etwas voraus, nämlich uns, in dem die Einwirkung als Wirkung erfolgt. Die Einwirkung ist also nur im Rezipiertwerden einer Wirkung bewußt, d. h. wir haben es mit dem Erlebnis eines von und durch die „Einwirkung“ Betroffenseins zu tun. Welcher Art ist dieses Erlebnis? Bloße Vorstellung kann es nicht sein, denn diese indiziert als solche nicht so etwas wie Bewirktwerden. Es ist vielmehr unser Wille-in-actu, der betroffen ist: ihm widerfährt die Affektion. Damit dies der Fall sein könne, muß der Wille-in-actu selbst etwas erstrebend sein. Nur wo Wille-in-actu mit seinem Streben ist, kann Einwirkung erfolgen, d. h. Gegenständlichkeit als Wirkung erfahren werden. Der Wille erlebt sich als solcher, dessen Vollzuge etwas entgegensteht d. i. – wirkt (obstat). Das heißt nun, dem eigenen Wirken des Willens-in-actu widerfährt etwas, er erleidet etwas, er erfährt etwas, das ihm angetan wird. Es findet sich ein fremdes Wirken in seinem Tun (Wirken), dieses letztere in dem intendierten Vollzug hemmendes, das ihm Eintrag tut. Würde keine solche Beeinträchtigung erfahren, so wäre auch für das Bewußtsein kein „Wirkendes“, Verursachendes da. Hier wird demnach von einem zuerst bewußten konstituierenden eigenen Wollen und Wirken ausgegangen und die Erfahrung gewonnen, daß diesem eigenen Wollen etwas entgegensteht, und zwar in der Weise eines seinerseitigen Wirkens, nämlich Kausierens. Das eigene Wirken ist fremdes Wirken erleidend. Wir haben hier das eigenartige Verhältnis, daß die Fremdwirkung Akzidens des eigenen Wirkens ist, diese Akzidenz aber als Wirken, Kausieren ihrerseits eigenständig = sub-stans, ist.

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XIV. Realisieren wir zuvörderst, daß die „Einwirkung“ in (auf) das eigene Wollen nicht (wie überall in der Philosophie stillschweigend vorausgesetzt wird) immer ein lediglich faktisches, seinerseits intentionsfreies Kausieren sein muß, sondern auch eine intentionale Einwirkung sein kann. Ein fremder Wille, der als solcher etwas von mir Wollendem und in ihm intendiert, hat ganz die gleiche Wesenheit des im Perzipierenden Wirkenden wie auch das bloß faktische, intentionslose fremde Einwirken (das Verursachen). Es darf dabei nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, daß die fremde Intention nur über das rein faktische Wirken (des Körpers) erfahren wird. Das wäre eine metaphysische Vorannahme. Auch ohne Zurhilfenahme einer solchen Hypothese steht die Wirklichkeit intentionaler Einwirkungen außer Zweifel. (Man lese nur einmal die Revolutionsflugschrift „Le Siège de Lyon“ (von 1793),2 um sich dies konkret-anschaulich vorzuführen!) Es muß ein Rechtsgrund aufgewiesen werden, einem gewissen faktischen Erleiden und Angetanwerden ein fremdes real seiendes Bewirken zu hinterstellen. Das Erleiden bloß als solches ist Faktum; und wie in jedem andern Falle erhebt sich die Frage nach dem Grunde desselben. Nicht ohne weiteres berechtigt ist jedoch die Annahme, dieser Grund sei ein Einwirken eines real Selbständigen.

XV. Man könnte die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Voraussetzung stellen, in jedem Bewußtsein sei Wille-in-actu bewußt. Gibt es nicht vielmehr auch ein reines unengagiertes Vorstellen? Die Antwort darauf muß lauten: nein! Das Vorstellen geht seinem Wesen nach auf objektives Sein (sei es auch nur Wesenssein) aus. Es geht aus, d. h. es ist wesentlich intentional; es geht ihm um wahres Sein. Selbst bei dem bloß Imaginierten intendiert dessen Vorstellung, daß es in der Tat ein solches „bloß Phantasiertes“ und zwar von der und der Art sei und dies in Wahrheit gesehen werde. Es gibt keine Vorstellung ohne diese Intention aufs wahre Sein. Ich bin mir auch im (Vorstellendes) Phantasieren der Intention, mein wahres Tun zu erfassen, bewußt. Nur scheinbar geht die Frage nach Konsequenzverhältnissen nicht auf objektives Sein. Wo immer eine Konsequenz gegeben ist und als bestehend behauptet

2 Vgl. Couthon, [G.]: Rapport sur le siège de Commune-affranchie, ci-devant Lyon, Paris [1793].

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wird, will die Aussage dieser Gegebenheit konstatieren, nämlich daß sie in Wahrheit besteht, sei es im Ontischen, sei es im Erkennen, sei es zugleich in beiden. Der Erkennende, seine Erkenntnis Behauptende sagt aus, daß die Folge tatsächlich im Grunde prinzipiiert ist, sei es nun in der Realität oder im formalen Denken; daß die Sequenz wirklich in der reinen Anschauung fundiert ist, sei nun die ordinale Ordnung eine bloß vorgestellte oder eine reale.

XVI. Unsere Frage ist die nach der Berechtigung der Annahme eines realen Seins im Falle des Affiziertwerdens. Wir gehen dabei von uns und unserem Erleiden zu der Annahme eines Bewirkenden bzw. Verursachenden fort. Das Verhältnis Affiziert-Sein und Affizierendes, das sich uns aus diesem Anlaß erstellt, ist als Verhältnis der Ursache zur Wirkung bzw. der Wirkung zur Ursache gedacht. Wir kennen so etwas wie Einwirkung aus dem Erleiden als einen bestimmten Modus, in dem sich unser Wollen erfährt. Eben weil dieser Modus der einer Wirkung, d. h. der eines Werdens besonderer Art ist, wird er notwendig als das Entsprechende zu einer Ur-Sache bzw. zu einem Erwirken gedacht. Es handelt sich nicht um eine notwendige logische Folge; es handelt sich auch nicht um eine konsequente Sequenz in einem ordinalen System, sondern um eine „Folge“ eigener Art. Ein gewisses Phänomen ist nur unter Voraussetzung der Wirksamkeit des Ur-Sache-Wirkungs-Verhältnisses, nämlich der des Erwirken/BewirkenVerhältnisses. Es ist klar, daß darin Ur-Sache (Bewirken) und Wirkung sich stets notwendig entsprechen.

XVII. Die nächste Frage ist, ob die Ursache notwendig als der Wirkung äußere Ursache angesehen werden muß. Nun ist es aber so, daß wir auch inneres Wirken kennen, nämlich im unseren eigenen freien, aktiven Wollen. Angesichts dieser Gegebenheit ergibt sich die Frage, ob denn das reale Sein der Ursache in der Tat im eigenen Wollen oder ob es in fremdem Ursache-Sein zu suchen ist.

XVIII. Wir stehen vor der sonderbaren Tatsache, daß Wirkung und Ursache als Konzepte aufeinander verweisen. Es kann keine Wirkung gedacht werden, außer

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als von einer Ur-sache (oder fremdintentional) Bewirktem; keine Ursache ohne ihr entsprechendes Bewirken (Kausieren). Wenn man wie Fichte im Falle des Triebes von einem Verursachen ohne Wirkung spricht, so bedeutet das nur, daß eine gewisse Art der Wirkung nicht auftritt, nicht aber, daß ein Bewirken als solches mit seiner Folge, dem Gesetztsein seiner Wirkung, nicht ineins gesetzt wäre.

XIX. Das Gewirktsein wird, wie gesagt, immer auf ein Wirkendes zurückbezogen. Das Wirken jedoch kann niemals auf ein nicht Bewirkendes zurückgeführt werden. Die Frage, die sich also an dieser Stelle erhebt, ist die, ob eine bloße „Naturursache“ überhaupt gedacht werden kann. Wir stehen hier wieder vor der schon oben aufgeworfenen Frage: nicht nur, „darf“, sondern „kann“ überhaupt ein Wirkendes gedacht werden, ohne wahrhaft von sich aus Bewirkendes zu sein? Früher hatten wir das Verhältnis, daß das in der Zeit folgende Wirkliche nicht als von einem in der Zeit Vorausgehenden verursacht gedacht werden konnte, weil die bloße zeitliche Folge keine Annahme einer Wirkfolge erlaubte. Jetzt geht es um die Frage, ob die in einem und demselben Zeitmoment auftretende Wirkung mit einem sie Wirkenden gedacht werden kann, das selbst kein Erwirkendes sein soll – ein Afficiertsein ohne ein Afficierendes. Wo keine Aktivität des Wirkens, da auch keine Wirkung von ihm aus. Jede Aktivität des Wirkens (Verursachen) jedoch ist immer als wahrhaft ein Bewirken seiend gedacht, d. i. als positiv intentionales Bewirken. Nun setzen wir aber doch, so scheint es, im Gedanken der Natur-„Ursache“, ein solches Wirken an, das nicht positiv intentional sein soll, und doch ein Wirken. Der Gedanke der Natur-„Ursache“ erweist sich hier als ausgehöhlt: Ursache, die nicht Ursache ist und doch Ursache sein soll.

XX. Ein Vergleich mit dem von uns erfahrenen intentionalen Bewirken, wie es im Falle der fremdpersonalen Einwirkung gegeben ist, hilft, weiter zu differenzieren. Dieses Bewirken wird ganz grundlegend anders erfahren und verstanden als das der Natur. Wir erleben, daß der Gegen-Stand hier eine uns treffende fremde Intention ist, die als solche etwas in uns bewirkt. Nämlich: Wir erstellen notwendigerweise eine unsere Intention als diese treffende fremde Intention – andernfalls wäre kein Erlebnis dieser Art da.

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Ganz anders bei der Natur„ursache“. Da erleben wir keine unsere Intention betreffende Fremdintention, sondern ein pures Hemmnis. Der Gegen-Stand steht, wie es ja auch das Wort sagt; er intendiert seinerseits nichts. Einer solchen Natur„ursache“ dürfen wir keinerlei ihr eigene Intention hinterstellen, sonst ist sie ipso facto eine fremdpersonale Ursache. Wenn wir dem vorgeblichen Bewirken der Naturursache jedoch keine Intention hinterstellen dürfen, so fragt sich, welcher Art ihr vorgebliches „Wirken“ dann noch sein mag. Daß wir einen nichtintentionalen Gegen-Stand auf unserer subjektiven Seite erleben, steht außer Zweifel. Aber was investieren wir, um ihn als „Ursache“ interpretieren zu können – und wenn dies ein nichtintentionales Wirken sein soll, investieren wir zurecht? Daß die Versuchung übergroß ist, das Natur-„Wirken“ stillschweigend als fremdintentionales Wirken eigener Art zu interpretieren, wird nicht geleugnet. Doch die Frage ist: quo iure? Kann ein nichtintentionales Wirken überhaupt rechtmäßig gedacht werden? Auch, daß das Wirken der Natur„ursache“ dynamisch erfahren wird, darf mit dem Spezifischen der fremdintentionalen Dynamik nicht verwechselt werden. Im Falle fremdpersonaler Einwirkung muß ich der Einwirkung als einer ihrerseits intentionalen begegnen; im Falle der dynamischen Naturwirkung darf ich das nicht, wenn ich ihr nicht den Charakter der Naturwirkung, des Effekts, nehmen soll.

XXI. Was die Vorstellung der Ursache als Ursache betrifft, so baue ich sie zweifellos von der Gegebenheit aus auf, daß ich jedenfalls selbst intendiere. Ich übertrage diesen Begriff der Intention auf das Wider-Stehende als fremde Wirk„ursache“. Bei einer solchen Übertragung werde ich die Vorstellung des Bewirkens von der mir vertrauten Vorstellung meines Bewirkens ausgehend übertragen. Im Falle der fremdpersonalen Ursache wird deren Bewirken in gleicher Weise wie mein Bewirken gedacht. Wie aber im Falle der Natur„ursache“? Da muß ich ja geradezu die Intentionalität von der „Ursache“ abziehen. Was jedoch bleibt dann? Eine Ursache, die nicht Ursache ist, und da sie doch da ist, ein Gegen-Stand, der jedoch ohne Erwirkendsein gedacht sein soll: ein hölzernes Eisen oder ein viereckiger Kreis.

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XXII. Nehmen wir den Fall, wo eine Natur„ursache“ dynamisch einzuwirken scheint. (Der Fall ist von Hume gut analysiert.)3 Wir haben zuvor schon erkannt, daß die Natur im physikalischen Sinne nichts als raum-zeitliche Verhältnisse präsentiert. Was die Physik „Kraft“ nennt, hat mit Kraft in unserem geistigen Erlebnis nichts zu tun. Man kann nun darauf hinweisen, daß gewisse Kraft-Erlebnisse in uns qua körperbegabte Wesen gewissen „Kraft“manifestationen in der Natur entsprechen,B aber daraus folgt nicht, daß die sich hier äußernde Natur„kraft“ als etwas anderes anzusehen ist als eine bestimmte Funktion in der Zeit in der Konstitution des Musters im Raume. Die physikalisch sog. Naturkraft wird nur durch Analogieschluß von unserer persönlichen Kraft und dem ihr entsprechenden Wider-Stand her als „Kraft“ verstanden, aber ohne Rechtsgrund. Wenn wir nicht eine unerlaubte Übertragung vornehmen, bleibt die Natur, was sie rein als datum ist, ein logisch-mathematisch-funktional zu verstehendes Muster.

XXIII. Wir verstünden also einen funktionalen Zusammenhang, aber in ihm keinen Gegen-Stand, und schon gar nicht eine Fremd„ursache“. Wenn wir nicht eine μεταβασις εις αλλο γενος vollziehen, die nicht statthaft ist, so bleibt die bloße Gegen-Ständlichkeit unverstanden, bzw. nur subjektiv verstanden. Wir schließen aus unserer Kenntnis der Natur des Bewirkens, die von uns selbst hergenommen ist, unstatthaft auf ein „Bewirken“ der Natur. An der Stelle, wo wir Körper sind, also an der Insertionsstelle von Sensorik und Motorik, wirkt die physikalische „Kraft“, was sie notwendig wirken muß, auf diese Stelle als Körper und damit verbunden auf „unsern“ Körper und die gesamte Körperwelt. Doch inwiefern ich Körper bin, wirkt nur Körper auf Körper, physische „Kraft“ auf physische „Kraft“; es ist also lediglich eine Funktion im Spiele.

B Diese Annahme der körperlichen Herkunft eines Bewußtseienden müßte natürlich selbst legitimiert werden, wovon wir an dieser Stelle weit entfernt sind.

3 Vgl. etwa Hume, D.: Philosophical Essays, 1748, „Essay VII“: „Of the Idea of Power or Necessary Connexion“, S. 99–128.

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XXIV. Es sei an dieser Stelle darauf aufmerksam gemacht, daß hier die Natur„ursache“ (im Gegensatz zur fremdintentionalen Ursache) spezifisch unverständlich bleibt. Wenn man die „Kausalität“ als die entscheidende Seite der „Natur“ ansieht, so muß gesagt werden: Die Natur ist uns unverständlich gegeben. Das heißt aber, sie ist kein Erkenntnisgegenstand, sondern Gegenstand des bestimmenden Erwägens. Dürfen wir voraussetzen, daß die originär gegebene Unverstandenheit notwendig Gegenstand einer Bemühung um Erkenntnis dessen, was darin vorliegt, ist, so stellt die Natur für uns ein „x“ dar, dessen Gegebensein uns die Aufgabe gibt, zu erkennen, was es in Wahrheit ist. Ebendarum habe ich in einem früheren Vortrag dieser Reihe4 die Natur als „Gespenst des Lebens“ bezeichnet, „dem alle Anfänge und Ausgänge abhanden gekommen sind“ – nämlich in unserem Ansatz, sie zu verstehen. Nichtsdestoweniger aber ist dieses Gespenst in uns real präsent als Aufgabe für das cogito, es in seinen wirklichen Sein zu erfassen, sei es als subjektive Selbstaffektion oder wie auch immer.

XXV. Kehren wir zunächst dahin zurück, daß der Natur-Gegen-Stand in bloßer Gegenständlichkeit in unserem Wollen-in-actu auftritt. Er ist kein Bewirkender. Was aber ist er denn? Fragen wir uns zunächst, ob Gegen-Ständlichkeit überhaupt (d. i. einschließlich der fremdpersonalen) dem Wollen-in-actu gegeben sein kann, ohne daß das Wollen-in-actu darüber hinaus will, d. i. mehr intendiert, als ihm der bloße Gegen-Stand, d. i. das Gebiet, wo er nicht hindert, zu realisieren erlaubt. Die Antwort muß lauten: So ist es. Es kommt aber sehr darauf an, daß man diese Formel richtig versteht.

4 Es ist nicht bekannt, zu welcher Reihe dieser zunächst als Vortrag verfasster Text hingehört. Beim Thema des Gespensts des Lebens bezieht sich Lauth auf Dostojewski: „Ich leide, aber trotzdem lebe ich nicht. Ich bin das X in einer unbestimmten Gleichung, ich bin eine Art Gespenst des Lebens, das alle Ende und Anfänge verloren hat“ (Dostojewski, Fjodor Michailowitsch: Brüder Karamasow (1879), Elftes Buch: „Ein Fiebertraum des Iwan Karamazow“; vgl. Lauth, Reinhard, Con Fichte, oltre Fichte, hg. v. Marco Ivaldo, Trauben, Torino 2004, S. 60).

262

Philosophische Aufsätze

XXVI. Betrachten wir dieses „mehr intendieren“ zunächst in sich selber. Es bedeutet nicht etwa nur, daß wir eine andere Gegenständlichkeit gesetzt haben wollen; denn an dieser anderen Gegenständlichkeit ergäbe sich das an Gegenständlichkeit qua Gegenständlichkeit Fehlende in eben der Weise. Es ist die Frage, was die Gegenständlichkeit als solche ist, gleichviel in welcher spezifischen Weise sie sich manifestiert. Gehen wir einmal von der fremdpersonalen Gegenständlichkeit aus. Hier ist mehr als nur Gegen-Stand qua Wider-Stand. Mit der fremdpersonalen Intention kommt uns eine Intention, die nicht die unsere ist, entgegen (versus). Das über die bloße Gegenständlichkeit hinaus Liegende ist eine auf den sie Vorstellenden gerichtete Intention. Wodurch wird diese im Vorstellenden gegenwärtig? Das Vorstellen muß über die Gegenständlichkeit als solche hinaus etwas (als zum mindesten möglich) erwartet haben! Wäre die bloße Gegenständlichkeit alles Intendierte, so erfüllte sie ja vollständig die Erwartung des Intendierenden und hemmte nicht. Hier stoßen wir wieder auf die Frage nach dem Grunde! Wir erwarteten als Betroffene vom Gegen-Stande mehr als seine bloße Gegenständlichkeit, nämlich die Offenbarung eines Grundes desselben. Hier, im jetzt angesprochenen Falle, ist es die fremde Intention, die sich offenbart. Sie wirkt diese GegenStändlichkeit für mich. (Natürlich kann ich nun wiederum fragen: „Warum ist diese? Welches ist ihr Grund?“ – davon aber hernach.) Die Erwartung, die wir aufgeführt haben, muß aber auch negativ verstanden werden: das ihr Entsprechende soll auch etwas nicht sein: nämlich es soll nicht bloße Gegenständlichkeit sein. Andernfalls wäre kein über die bloße Gegenständlichkeit hinaus Erwartetes. Wir wären mit der bloßen Gegenständlichkeit befriedigt, das hieße aber, wir hätten im Ansetzen der Gegenständlichkeit eben alles, was wir wollten: Es wäre keine Erwartung darüber hinaus. Dieses Wollen wäre kein Wollen mehr. Aber eben dadurch, daß das Wollen-in-actu etwas darüber hinaus (plus ultra) erwartend intendiert, ist bloße Gegen-Ständlichkeit als defiziente Erscheinung möglich. Der bloße GegenStand als solcher steht gegen diese Intention, erfüllt sie nicht, und er ist in seinem contra bloßer Gegenstand. Unsere Erwartung bleibt insofern unerfüllt.

XXVII. Wir müssen jedoch darüber hinaus noch ein weiteres mögliches Verhältnis ins Auge fassen. Die Fremdintention kann gegen die Intention des Perzipierenden gerichtet sein. Dann ist sie zugleich versus und contra den Perzpierenden ge-

Die Sistenz

263

richtet. Der radikalste Fall im Bereich des Erkennens ist, daß die Fremdintention nicht als ihrerseits Intention seiend erfaßt werden soll. Geschähe das wirklich, so träte sie im Perzipierenden jedoch als nichts anderes auf als eine grundlose Begrenzung – und damit wäre nichts gewonnen. Die Fremdintention muß also zugleich als bloß gegenständlich und doch nicht bloß gegenständlich, also als „ungewiß“, „rätselhaft“, in dieser Hinsicht „unbestimmbar“ erscheinen wollen und im Erfolgsfall erscheinen. Das Rätsel, das die bloße Gegenständlichkeit gab, daß nämlich in ihr sich kein Grund ihrer manifestierte, ist jetzt gewissermaßen verdoppelt. Es ist ungewiß, ob da kein Grund ist oder ob einer ist. Hier ist das plus ultra vorausgesetzt, aber nicht sicher bestimmbar. Wenn der Vorstellende nun von der Fremdintention als möglichem Grunde einer Gegen-Ständlichkeit weiß, so muß er grundsätzlich bei einer sich manifestierenden Gegenständlichkeit erwarten, daß sie eben jenen dargelegten Charakter des Fremd-gewollten, Unerklärlichen oder den der simplen grundlosen Gegenständlichkeit haben kann.

XXVIII. Bemerken wir an dieser Stelle, daß die Erwartung eine Aufgabe bedeutet. Das faktische Sein ist uns niemals nur einfachhin gegeben, sondern im Gegebensein stets aufgegeben, nämlich es von seinem Grunde her zu erfassen. Der GegenStand tritt nur im Postuliertsein auf. Der Perzipierende intendiert vom Perzipierten, daß es in seinem Sosein sich begründe und das heißt: zum einen nicht grundlos sich manifestiere, und zum anderen, daß es als zureichend begründet sich manifestiere. Manifestiert es sich nicht zureichend, so bleibt es ein Rätsel – und ein Rätsel, wie wir eingesehen haben, das in verschiedener Potenz auftreten kann. Nur wenn man in ihm seinen Grund sehen kann, hat es sicheren Selbststand.

XXIX. Die Fremdintention wird als solche gedanklich aufgebaut, indem sie ein intentionales Bewirken mit Bezug auf das Intendieren des sie Vorstellenden und Erlebenden ist. Sagt man, diese Fremdintention könne möglicherweise nur vom von ihr Betroffenen vorgestellt sein, so muß man zumindest einräumen, daß ein Vorstellendes und Erlebendes zur Erstellung einer solchen es und seine Intention betreffenden Intention führe. Der Wille des Erlebenden ist dann fähig, sich in sich selbst zu dirimieren und seine Eine Intention durch eine zweite zu be-

264

Philosophische Aufsätze

treffen, also zumindest sich selbst Gegen-Stand zu sein. Ich setze mich mit mir selbst doxisch-praktisch auseinander. In jedem Falle darf dann aber die antagonistische Intention nicht die von ihr betroffene spezifische Intention sein, sonst bestünde kein Gegensatz, und was ich soll, wäre nicht verschieden von dem, was ich will. Ganz abgesehen davon stellt sich die Frage, quo iure ich die Fremdintention überhaupt als Fremdintention und nicht nur als eigene antagonistische Intention ansehe. Im Moment brauchen wir diese Problematik nicht weiter zu verfolgen. An der Stelle der grundsätzlichen Überlegung, an der wir stehen, genügt es, feststellen zu können, daß wir eine Fremdintention, die uns betrifft, jedenfalls überhaupt denken können.

XXX. Wie aber ist es mit dem bloßen Gegen-Stand als bloß Seiendem? Wir haben bereits erkannt, daß wir ihm keine „Ursache“ hinterstellen dürfen, weil wir dann die „Natur“ bloß so konzipieren, was keine Erkenntnisleistung ist. Die Natur ist uns dann Problem und Rätsel, aber insofern nichts Bestimmtes. Nehmen wir also das fremde „Verursachen“ weg, was bleibt dann? Ein Pendant, das ein gewisses Verhältnis meiner Kraft – ich darf nicht sagen: „auslöst“, denn dann hätte ich die Fremdursache wieder heimlich installiert, sondern konstelliert. Einmal in der Terminologie Fichtes ausgedrückt, würde das heißen: Das Ich setzt nicht das Nichtich; es erfährt aber auch keine Einwirkung von Seiten des Nichtich; sondern es ist nur durch einen bestimmten Stand konstelliert, und zwar dergestalt, daß seine Kraft in einem bestimmten Modus ihm entspricht. Wir erfahren bloß unser Konstelliert-Sein durch X.

XXXI. Sagen wir, der Gegen-Stand als bloßer Gegen-Stand manifestiert Kraft, so muß genau bestimmt werden, was mit diesem Krafthaben ausgesagt wird. Diese Kraft kann kein eigenständiges Bewirken sein, wie schon dargelegt. Sagen wir: Sie kann das Pendant unserer Intention im Angehen ihrer sein, was sagen wir denn aber dann? Daß der Perzipierende analog zu seiner perzipierenden Kraft sie gleichfalls als Kraft erstellt, ist nicht zu leugnen. Aber er darf diese gegenständlliche Kraft nicht als seine eigene auffassen, denn dann verlöre sie ihre spezifisch Gegen-

Die Sistenz

265

Ständlichkeit. Er darf ihr aber auch keine ihr Eigentümlichkeit hinterstellen, denn dann machte er sie wiederum zum Bewirkenden, was illizit ist. Die bloße Natur-Gegen-Ständlichkeit erhält so den ambivalenten Wert eines Etwas, das nicht bewirkend selbständig noch nicht-selbständig sein soll. Es kann nicht bloß Produkt des Perzipierenden sein, es kann aber auch nicht selbständige Kraft sein, weil dazu eigene Kraft gehörte, die gerade hier eben nicht unterstellt sein darf. Wir stehen erneut vor dem „Gespenst des Lebens“, das alle Anfänge und Ausgänge verloren hat. Bloße Halluzination? Nein. Wenn aber Eigenständigkeit? Worin?

XXXII. Soll die Gegen-Ständlichkeit in der Zeit dauern – und das muß sie, wenn sie nicht bloß ein momentaner „Blitz“ sein soll –, so gölte von ihr all das, was zuvor über das Sein in der Zeit ausgeführt worden ist. Der Gegen-Stand kann nicht selbst bewirken, daß er im nächsten Zeitmoment ist. Wir bekämen also wie im Falle der angeblichen Naturkausalität nur einen allaugenblicklichen „atomaren“ Verfall, wollen wir nicht wie Descartes eine „creatio continua Dei“ supplieren. Wir befinden uns also noch immer, den Gedanken der „Kausalität“ ausgeschlossen, in einer Gegebenheit, die allaugenblicklich aus dem Nichts auftaucht und ins Nicht zerfällt. Eine solche kann für den Perzipierenden nicht in der Weise gegenständlich sein, daß er ein wahrhaft währendes Gegenüber hätte. Sowohl die zeitliche wie die sachliche Selbständigkeit eines Währenden ist nicht eingesehen.

XXXIII. Bei der fremdpersonalen Intention ist es anders. Es genügt, daß diese auch nur in Einem Moment erfahren wird, um im Erinnern ihrer von gegenständlicher Bedeutung zu bleiben und zu werden. Zwar wäre die Fremdintention im nächsten Zeitmoment nicht mehr real gegenständlich gegeben; aber sie bliebe auch in diesem Falle bleibend thematisch, gleichgültig ob sekundär reflektiert oder nicht.

XXXIV. Kehren wir an dieser Stelle noch einmal zu der objektiven Gegebenheit in der Außenwelt zurück.

266

Philosophische Aufsätze

Wir hatten, den Naturwissenschaftlern um 1600 folgend, die objektiven Qualitäten aus dem Naturbild ausgeblendet. Konnten wir das, und taten wir es zurecht? Da ist zunächst auf den Tatbestand aufmerksam zu machen, daß wir niemals nur vom Druck/Stoß/Zug allein affiziert werden, sondern stets ineins darin es mit einer sinnlichen Qualität zu tun haben. Was wir z. B. sehen, ist immer auf eine bestimmte Weise hell/dunkel und farbig. Nimmt man diese Qualitäten weg, so wird auch nicht gesehen. Gleicherweise ist es mit dem Fühlen, Schmecken, Riechen, Attraktion/Repulsion-Empfinden und dem Hören und Temperaturempfinden. Es fragt sich, warum das so ist. Wir wissen jetzt schon, daß das Affizierende gegen-ständlich ist, weil es im Wollen-in-actu als Moment von dessen Hemmung auftritt. Betrachten wir die Qualitäten nun daraufhin, so wird einsichtig, daß sie unser Wollen-in-actu betreffende Erscheinungen sind, also (zum mindesten auch) von daher mit aufgebaut werden. Ziehen wir aber auch alles ab, was auf das „Gemüt“ zu beziehen ist (das sog. „Subjektive“), so bleibt an den Qualitäten doch ein rein objektives Moment. Andernfalls wären sie reine Anmutungen im Geiste des Perzipierenden.

XXXV. Die Qualität ist gedanklich stets reinlich von der Perzeption der Attraktion und Repulsion zu trennen, auch wenn sie de facto in jedem Moment des Empfindens zugleich mitgegeben ist. Natürlich stellt sich die Frage, warum beide stets gemeinsam auftreten. Die Qualitäten sind ganz eigene Beschaffenheiten, die nichts über den Druck/Zug-Stand rein als solchen aussagen. Ich erinnere noch einmal an den Duft der Himalaya-Orchidee. Wollte man im Ernste sagen, dieser Druck/Zug habe diesen Duft? Ich gebe noch ein zweites Beispiel: den Klang des Shofar. Sollte die dynamische Perzeption rein als solche diese höchst eigenartige Qualität erzeugen? Das zu denken wäre absurd. Es müßte dann einsichtig gemacht werden, wie der Druck/Zug solche bzw. entsprechende Qualitäten haben könne.

XXXVI. Die dynamische Gegen-Ständlichkeit bloß als solche kann also nicht substantieller Träger solcher Qualitäten sein. Sie sind von ihr aus nicht zu erklären.

Die Sistenz

267

Nun sind diese Qualitäten aber objektiv gegenständlich gegeben. Was ist dann diese ihre Gegebenheit? Will man sagen: sie sind vergegenständlichte Anmutungen, so stellt sich die Frage, ob und auf welche Weise denn Anmutungen vergegenständlicht werden können und warum in jedem Falle der Sinneswahrnehmung Qualität vergegenständlicht sein muß. Wir können offenbar nicht „leer“ d. i. qualitätslos perzipieren. Das bloße Sein von Druck/Zug, so scheint es, erfordert sie nicht. Von der subjektiven Seite her ist festzuhalten, daß die Empfindungen Konstellationen des Willens-in-actu sind. Dieser Wille ist, unaufhörlich, überhaupt gegen-ständlich konstelliert. Es liegt der Gedanke nahe, daß er folglich auch ein gewohnheitsgemäßes Angemutetsein aufweist. Aber die dynamische Gegebenheit kann nicht als solche allein die Ursache dieser spezifischen Angemutetheit sein. Kann man dann aber davon ausgehen, daß die Ursache dieser Angemutetheit in der spezifischen Weise des Wollens zu suchen ist? Diese könnte „objektiv gegeben“ auftreten, da der natürliche Gegen-Stand objektiv gegeben ist und in dieser seiner objektiven Gegebenheit das spezifische Angemutetsein für das Subjekt ergäbe, was aber einen spezifischen Willen im Subjekte voraussetzte. Da es sich hierbei um eine generelle Befindlichkeit handelte, träte diese auch jedesmal mit dem spezifischen Wollen-in-actu auf. Sie wäre aber grundsätzlich vom Subjekt her erzeugt.

XXXVII. Die Qualität wäre dann aber von der subjektiven Seite her auf die Gegenständlichkeit daraufgelegt. Diese Vermutung gibt uns Anlaß zu untersuchen, wie der Aufbau der Empfindung grundsätzlich zu verstehen ist.

Das cogito I. 1.

Nach dem Beweis, daß „Naturkausalität“ ein Ungedanke ist, müssen wir noch einmal von vorne ansetzen. 2. Es sei angemerkt, daß auch Descartes strikt an der Unmöglichkeit einer Kausalität in der Natur festhält. Er nimmt zur Erklärung der Regelmäßigkeit (im zeitlichen Werden) der Natur eine creatio continua Dei an, sieht allerdings auch damit das Phänomen als selbständiges an. 3. Unser erster Satz muß nunmehr lauten: Wir kennen als Realität überhaupt nur die Existenz (Ek-Sistenz), das Aus-sich-Heraus-gehen, besser gesagt die Rückbezüglichkeit in sich. 4. Gleichbedeutend mit Eksistenz bezeichnen wir deren Rückbezüglichkeit auch als Bewußtsein. (Man wird gebeten, diese Reflektion im folgenden sorgfältig von „Reflexion“ zu unterscheiden!) 5. Diese Ek-Sistenz (Rückbezüglichkeit, Bewußtsein) ist ineins immer „Setzung“ (im Fichteschen Sinne), d. i. frei in sich. (Freiheit vom bloßen Natursein, Freiheit zur Reflektionsidee, Freiheit in der Rückbezüglichkeit.) 6. Der Terminus „Reflexion“ wird im folgenden genau im Sinne Kants verwendet. Zu bemerken ist aber, daß Kant das reflektierende Urteil insofern einseitig sieht, als er die in ihm liegende schöpferische Leistung (der „Ideen“) nicht als eigenständigen Akt heraushebt. Auch fehlt bei Kant die Sicht der analogen Leistung der „Einbildungskraft“, wovon später. 7. Die weiland „Naturkausalität“ kommt in Wahrheit nur indirekt als Realität im Bewußtsein vor, nämlich insofern die Ek-Sistenz sich in ihrem Ursprung als Bewirkte erfährt und von der Art dieser Wirkung auf eine wahrhafte Kausalität der Natur in ihr selbst falsch zurückschließt, wie zu zeigen sein wird. Das Bewirktsein ist nur ein Moment in ihr selbst, keineswegs ein „Wirken“ einer objektiv-realen Natur außer ihr. (Wir „verursachen“ falsch, wie schon das Wort verrät).

II. 1.

Das Reflektionsurteil (zugleich, wie sich zeigen wird, Reflexionsurteil) ist basal cogitatio (im Sinne Descartes’), keineswegs schon ipso facto cognitio, was zunächst dahingestellt bleiben muß. Die cognitio schließt den „Zweifel“ (das du-bium) aus, d. i. das Zweifeln/Schwanken/Wähnen.

https://doi.org/10.1515/9783110629200-071

Das cogito

269

2.

Cognitio ist die cogitatio nur in dem, daß sie sich unaufhebbar evident als cogitatio versteht und denkt („penso“). Im Akte des cogito weiß dieses cogito, daß es „Zweifel“ wahrhaft ist. Das cogito als cogito weiß sich (cognoscit) als dubium (cognitio dubii). 3. Die Zweiheit im dubium ist anderer Art als die zuvor aufgewiesene des Rückbezugs des Bewußtseins („sieht sich sehend“). 4. Eine dritte Zweiheit haben wir darin zu sehen, daß schon das cogito als solches wegen der doppelten Möglichkeit, cognitio oder dubium zu sein, sich selbst stets als das erste oder das zweite (im Unterschied zum je anderen) sieht. (Problematik des „sich als“.) 5. Das cogito ist cogito seiner selbst. Dies ist seine basale Wesenheit im Reiche der Wesenheiten, das intransgressibel ist.

III. 1.

2.

3.

Das cogito ist für sich selbst cogito innerhalb der (stillschweigenden) praktischen Voraussetzung, daß Gerechtigkeit (sedaka) sein soll. Sedaka nicht nur im epistemologischen Bereiche, sondern auch im praktischen, d. i. Willens-Bereiche. Die praktische sedaka hat den absoluten Vorrang vor der theoretischen, weil im cogito das cogito wissen will, was „wirklich ist“. Das „wirkliche Sein“ ist, wie wir noch sehen werden, das „Sein“ und dieses das Handeln, und zwar das freie Handeln des Bewußtseins. Auch wenn das cogito gegen die Wahrheit der sedaka will, muß es sich seines Wollens und von dessen Ziele richtig bewußt sein.

IV. 1.

Insofern die cogitatio cognitio ihrer selbst als cogitatio innerhalb des Wollens der Wahrheit (zunächst der Wahrheit seiner selbst) ist, erkennt sie ihr eigenes Wesen. Dieses Wesen hat eine formale und eine materiale Seite. 2. Wir wenden uns zunächst der formalen Seite zu (ohne zu vergessen, daß wir die materiale Seite vorläufig eliminiert haben). 3. Wir haben in diesem formalen Sein ein Umfassendes von Bestimmungen in Form eines Systems. Ohne System zu sein, könnte es keine formale Wesenheit geben. Es muß noch dahingestellt bleiben, ob das Materiale als solches, unbeschadet seiner Materialität, nicht auch eine spezifische Wesenheit hat. Dies wird sich in der Tat herausstellen; doch davon später.

270

Philosophische Aufsätze

4. Das Begriffssystem ist infolge der in ihm durchgehend obwaltenden Disjunktion (aut/aut/aut) ein System, in dem nichts alternativlos gesetzt werden kann. 5. Nehmen wir den höchsten Fall: das basale Sein/Nichtsein. Es kann kein Sein allein gesetzt werden, sondern nur ineins mit seiner Negation. Ob diese Negation nun nur eine Setzung anderer Gattung oder des Seins selbst ausschließt – sie ist und bleibt eine alternative Setzung. Auch da, wo man noch hinter das Nichtsein auf das Nichts zurückgeht, kann im Denken die Alternative „Sein“ nicht wegfallen, denn die Position bleibt immer Position, auch als Position des Nichts. 6. Daß die Position des Nichts sich selbst aufhebt, bleibt ein Tatbestand in ihr selbst, der seinerseits wiederum in seiner positionalen Bedeutung poniert werden kann. Diese letztere Position der Nichtposition bleibt aber ein Problem innerhalb des Systems der Position überhaupt für dieses. 7. Die Unaufhebbarkeit der Alternative in der Position bedeutet jedoch, daß das eine nie ohne das andere angesetzt werden kann, also nie nur für sich allein, sondern nur im Verein mit der Alternative. Alternativen müssen also immer zugleich gesetzt und als möglich gesetzt werden. Das impliziert aber, daß stets eine Mehrzahl (et/et) angesetzt und aus dieser Mehrzahl Eins als wahrhaft seiend gesetzt wird.

IVa. 1. Das im cogito Gefaßte kann unklar (dunkel) oder klar sein. 2. Wir können die Leibnizsche Unterscheidung in obskur, konfus, klar und deutlich hier aufnehmen. 3. Es sind aber hier zwei verschiedene Arten von „unklar/klar“ zu unterscheiden: die basale und die reflexive. Die basale Unklarheit kann entweder eine nicht-explizierte sein („Gefühl“) oder eine Unklarheit in der Explikation. Die Unklarheit in der Reflexion hingegen kann von intendiertem Abgehen von der Wahrheit getragen sein. 4. Man bleibt am besten bei der Unterscheidung, einerseits von dunkel und klar, andererseits von konfus und klar, das erste für den Status der richtigen Einsicht, das zweite für den Unterschied von bloßer Meinung (Pretention) und Wahrheitserfassung.

Das cogito

271

V. 1. 2.

3.

4.

5. 6.

7.

Gehen wir von dem denkbaren Fall aus, daß als Mehrzahl nur eine Zweizahl angesetzt wird. Aber der Ansatz einer Zweizahl bedeutete schon, daß dann das Zweite neben dem Ersten gesetzt würde und gesetzt werden können muß, und da beide nicht identisch sind bzw. sein dürfen, soll eine Zweizahl angesetzt werden, so bleibt, daß schon im Ansatz wiederholt gesetzt werden muß, wenn überhaupt Zweizahl angesetzt wird. Der Setzungsakt ist als solcher ein Akt der Addition und Multiplikation. (Der Ausdruck „Multiplikation“ ist nicht ganz korrekt, es müßte hier „Vermehrfältigung“ heißen.) Im Falle der Vermehrfältigung muß sowohl vom einen zum anderen, als auch vom anderen zum einen übergegangen werden, sonst bestünde immer nur eine Setzung für sich, quod non. Wir können nur nebeneinander setzen, indem wir wiederholt, d. i. aber nicht in Einer Setzung, sondern nacheinander setzen. Für das Mehrfachsetzen ist es gleichgültig, was als erstes und was als zweites gesetzt wird; es muß zunächst einmal nur wiederholt gesetzt werden, und dadurch ergibt sich die Anzahl überhaupt. Das Setzen des Generellen setzt die Anzahl und das mögliche einsinnige Fortgehen voraus. Es läßt indifferent, von welchem Ersten zum zweiten Anderen fortgegangen wird. Die Indifferenz der Anzahl kann nur in einer prinzipiell möglichen Setzbarkeit einer Unzahl gedacht werden. Mit dem Denken der Zweizahl ist also schon das potentielle Setzen der Allzahl und auch deren tatsächlicher Ansatz mitgedacht. Wir setzen also mit dem Setzen der Zweizahl wegen der Indifferenz der Zeitfolge, aber wegen der Notwendigkeit der Zeitfolge überhaupt immer notwendig eine Allzahl. Da aber Eine der beiden Setzungen wegen des zeitlichen Nacheinander notwendig als erste gesetzt werden muß, in Bezug auf die die andere Setzung Nachfolger ist, bekommen wir stets eine Nachfolge-Ordnung. Offengelassen ist dabei, welche Setzung welcher anderen folgt bzw. vorhergeht. Die Multiplikation beruht auf der Addition (Kardinalzahlensystem); die Addition setzt einen Ausgangspunkt voraus, der jedoch insoweit noch nicht bestimmt ist. Nur sekundär kann der Gedanke einer Indifferenz des Vorher und Nachher überhaupt erdacht werden.

VI. 1.

Um Raum zu erstellen, mußte von Einem zum Anderen übergegangen werden, da sonst a nicht mehr seiend gesetzt wird, wenn b gesetzt wird.

272

Philosophische Aufsätze

2.

Je nachdem, welcher als seiend gesetzt wird, ist er seiend präsent, der nächste aber ist dann nicht seiend präsent. (Zur Problematik „Punkt“ und „Nächstsein“. Kann zwischen zwei Punkten keinerlei Distanz gedacht werden, dann sind sie nur Ein Punkt; es kann aber auch unendlich unterteilbare Distanz gedacht werden. Der Grund warum der „Punkt“ immer als gänzlich undistant wie auch und zugleich als in unendlich unterteilbarer Distanz zum nächsten Raumpunkt gedacht werden muß.) 3. Jeder Raumpunkt bzw. jede Distanz kann nur als seiend entgegengesetzt zu einem nicht als seiend gedachten Punkt bzw. zu einer nicht als seiend gedachten Distanz gesetzt werden. Sollten je beide Art Punkte identisch sein, so wären sie als solche eben identisch; es wäre nur Ein Punkt. 4. Dieser Kalamität entgeht man, wenn man: „als seiend gedacht“ von: „als nicht seiend gedacht“, und das heißt als „nur gedacht“ im Denken umfassen kann. Das hebt dann nach dem in III. dargelegten Setzungsgesetz die generelle „nicht als seiend gedachte“ „seiende“ Verfaßtheit ab. In der Totalität wird von einem „als seiend“ verfaßten Moment zu allen weiteren „nicht als seiend“ verfaßten Momenten unterschieden. Die erfüllte Gegenwart wird von der von „Sein“ unerfüllten Zeitlichkeit (Zukunft, Vergangenheit) getrennt. 5. Das Vorstellen muß in der Zeit ständig vom als seiend Vorgestellten zum „bloß Gedachten, Seinslosen“ in der Zeit übergehen. 6. Über „die Konstitution der Zeit im Bewußtsein“ vergl. mein diese behandelndes Buch (Meiner, Hamburg 1981) dazu. 7. Auch der zeitliche Übergang ergibt kein „Sein“ des Vorgestellten, da das „Seiende“ nur als in unvermittelter Folge Erscheinendes gesetzt ist. Wirkliches Sein unmittelbar haben wir nur in der Existenz selbst.

VII. 1.

2.

Die Zeitlichkeit eröffnet die Linie des historischen und geschichtlichen Werdens. Es treten Teilmomente nacheinander auf. Hat das Folgen für die Natur, wie sie sich in der Erfahrung des Bewußtseins (Eksistenz) manifestiert und, wenn ja, welche? Ich erinnere noch einmal daran, daß wir unmittelbar nichts anderes als eine Wirkung im Bewußtsein kennen, die wir nicht einer Naturursache zuschreiben dürfen, von der wir wissen, daß sie nicht sein kann. Unser Bewußtsein erfährt sich als Bewirktes, das ist alles, was wir sagen können. Mit dieser Wirkung in uns aber und in ihr entsteht eine Reihe zeitlichen Werdens, und in dieser sind die Inhalte der verschiedenen Zeitmomente ihrerseits verschieden.

Das cogito

273

3.

Die Zeitreihe eröffnet demnach eine bestimmte inhaltliche Folge. Diese könnte generell uniform sein; die Erfahrung lehrt uns aber, daß sie multiform ist. Wie verhalten sich die verschiedenen Zeitinhalte zueinander? 4. Die Zeitinhalte offenbaren ein bestimmtes Muster. Daß dieses im zeitlichen Fortgang uniform ist, lehrt nur die Erfahrung. Sie könnten auch einen Wechsel in der Folge offenbaren. Die Erfahrung lehrt aber, daß auf zA (AInhalt) generell zB (B-Inhalt) folgt, wie sich der Induktion enthüllt. Das Muster offenbart sich also hier als „Gesetz“ des inhaltlich zeitlich Werdenden. Diese Gesetzmäßigkeit läßt sich in einem System fassen. (Man nehme der Einfachheit halber das Newton/Keplersche System.) Dieses „Gesetz“ bestimmt, eben weil seine Unterlage so im Bewußtsein ankommt, eine beständige (inhaltliche) Folge. Auf zA folgt eben immer zB und nicht zC oder ein anderes. Diese Gesetzmäßigkeit des Bewirktseins bildet dann für das Bewußtsein eine Konstante. 5. Es ist nicht auszuschließen, daß sich dieses bestimmte Gesetz als nur eine Teilkomponente des im Bewußtsein Bewirkten erweist oder daß das Muster in seinem zeitlichen Erscheinungsbild Unregelmäßigkeiten mit aufweist. Damit ist jederzeit zu rechnen und es muß dann hingenommen werden, d. h. es verändert die Einstellung zur Naturerscheinung. Die Materie bleibt generell eine Konstante im Bewußtsein, aber konkret kann ihr Charakter sich verändern. 6. Bliebe keine Konstante im Objekt des Bewußtseins, so müßte sich dies mit einem Chaos begnügen, aus dem kein rationales Objekt aufzubauen wäre. 7. Da von der „Gesetzmäßigkeit“ des Inhalts der Zeitfolge in der Materie nur empirische Gewißheit zu erlangen ist, müssen wir sie an dieser Stelle zunächst dahin sein lassen. Was die Konstante der objektiven Einwirkung im Bewußtsein bedeutet, kann sich erst bei der Analyse des Bewußtseins zeigen. 8. Auch die Frage, ob Einheit des Bewußtseins noch möglich ist, wenn das Bewußtsein es inhaltlich bei der Einwirkung auf es mit einem Chaos zu tun hat, bleibt vorläufig dahingestellt.

VIII. 1.

Das Bewußtsein muß also im gegebenen Fall ununterbrochen mit einer generell konstanten Materie rechnen, und zwar nicht nur erkenntnis-, sondern seinsmäßig. Dies ist das „objektive Sein“, mit dem sich der Wille-inactu ununterbrochen und unabhebbar auseinandersetzt, da diese Materie es ist, die seinen willentlichen Freiraum begrenzt (verengt, erweitert, aufhebt). Gegen sie ist der Wille in Form des Triebes gerichtet.

274 2.

3.

Philosophische Aufsätze

Nennen wir diesen Trieb Lebenstrieb. Er ist jedoch nicht das einzige Element des Willens. Andere Triebe, Wünsche und dergleichen, vor allem aber das selbstgewählte Wollen gehören gleichfalls zum Gesamtwillen. Wie der Wille sich im Bewußtsein aufbaut, soll bei der Darlegung dieses ausgeführt werden. Auf jeden Fall darf die Komponente Materie und deren Bedeutung in der Eksistenz nicht mit der falschen Erklärung aus einer Naturursache verfehlt werden. Die Materie muß aus dem Bewußtsein erklärt, nicht aber das Bewußtsein aus der Materie „erklärt“ werden.

IX. 1.

2.

3.

4.

5.

Die sinnliche Wahrnehmung wird völlig falsch gesehen, wenn man davon ausgeht, daß eine Vielzahl von Sinneseindrücken vor allem Bewußtsein besteht und dann erst von diesem verarbeitet wird. Vielmehr entfaltet das Bewußtsein alle einzelnen sinnlichen Setzungen erst aus sich. Dieser Weg verläuft genau umgekehrt zu dem üblicherweise angenommenen. Das Bewußtsein entfaltet eine Vielzahl von Sinnesdaten, die es im Entfalten zugleich als Denkbestimmungen ansetzt. Diese Daten werden dann zu und in einer Einheit (Bewußtseinseinheit plus Totalität) verarbeitet. Hier, an dieser Stelle, geschieht nun immer derselbe Fehlschluß. Weil wir, reflektierend, abstrahieren und isolieren, wird fälschlich angenommen, daß die Vielzahl der Setzungen vor der Einheit/Totalität sei. Die Reflexion wird mißverstanden; sie zerlegt nur, was von Anfang an in einer Einheit im Bewußtsein ist. Und ihr künstliches Sammelmodell muß erst als das, was es ist, verstanden werden. Das Operationsergebnis muß als ein solches verstanden und als Reflexionsergebnis abgezogen werden. Es muß reintegriert werden. Das Bewußtsein ist eine ursprüngliche und nie aufhebbare Einheit, eine Sichbezüglichkeit, die nicht etwa erst wird, sondern vor allem weiteren besteht. „Sich!“ Daß das nicht gesehen wird, beruht vielfach auf der falschen Kategorientafel von Kant. Die Relationen sind, weil Kant Kausalität (nämlich die unter Naturkausalität gedachte Kausalität) für eine Kategorie hielt, falsch entfaltet. Es geht aber darum, wie Teilmomente von vornherein ineinander eingreifen.

Das cogito

275

6. Nehmen wir folgendes Modell:

7.

a₁

a₂

b₁

b₂

t₁

t₂

a1 verwandelt sich im nächsten Zeitmoment in a2; b1 verwandelt sich ebenfalls im nächsten Zeitmoment in b2. Nun aber soll a1 auch b2 herbeiführen; so besteht Wechselung, „Gemeinschaft“. Jedes führt jedes herbei. Dies kann aus der Isolation heraus erfolgen. Dann treffen sich zwei zuvor unabhängige Wirkungen. Oder aber die Wechselung erfolgt von Anfang an in Einheit, dann bestimmt die Einheit ebensowohl die Zweiheit wie die Zweiheit die Einheit. Das Ganze bestimmt die Ganzheit. Dies letztere ist das Modell des Bewußtseins. Es ist eine sich dirimierende Einheit, die gerade im Dirimieren Einheit ist und bleibt, unbeschadet dessen, daß sie sich dirimiert. Die Wechselung als Einheit dieser Art kann ihrerseits wiederum einfache Wechselungen als höhere Einheit dirimieren, ohne dabei aufzuhören, Einheit zu bleiben. Im einen Falle sind alle Effekte in der „Ursache“, im anderen Falle sind sie teils in der Ursache, teils nicht, aber beide wiederum in der höheren Bewußtseinseinheit.

X. 1. 2.

3.

Alle Sinnesempfindungen präsentieren sich mit einer Qualität; ohne solche Qualität ist keine Sinnesempfindung da. Wie ist das zu erklären? Die Qualität ist, mit Kant gesprochen, im Sinnenobjekt, insofern es nicht auf die Sache, sondern aufs Bewußtsein bezogen wird; sie ist subjektives Gefühl. Dieses subjektive Gefühl ist deshalb ständig und überall dabei, weil die Empfindung Empfindung im Bewußtsein ist. Das gilt für alle Arten von Empfindungen, auch für Druck/Zug-Empfindungen. Das Bewußtsein interpretiert sie als vom Außenobjekt her kommend, weil sie in ihm nur einwirkend sind, und bezieht sie auf Formierungen in der Materie. (Druck physikalisch = Druck sensorisch). Warum das so ist, werden wir erst sehen, wenn wir den Aufbau des Bewußtseins darlegen. Dort werden wir den Widerstand des Außenobjekts in ganz anderer Weise

276

Philosophische Aufsätze

wieder antreffen, nämlich als konstitutives Bewußtseinsmoment, das infolge der Struktur des Bewußtseins immer gegeben sein muß und ist, aber eben als Komponente des Bewußtseins.

Nebenblatt zur Terminologie Bewußtsein; Existenz; Sichbezüglichkeit. Bewußtsein (conscientia) – darf nicht einseitig verstanden werden: Die Szienz ist nicht früher als das Con. Das Be- ist nicht früher als das Wissen, auf das es sich bezieht. Es ist eine beidseitige Rückbezogenheit. Nur indem das Wissen bewußt wird, ist es. Und nur, indem das Wissen originär da ist, kann es bewußt werden. Es ist immer eine distributive Einheit. Existenz: ist keine vorgängige Sistenz, die dann aus sich heraustritt; sondern sie ist nur als herausgetretene Sistenz, für die das gleiche gilt wie für das Bewußtsein. In dem Wort ist stärker geachtet auf das Heraussein aus sich, nämlich der geistigen Sistenz.

XI. 1.

2.

3.

4. 5.

6.

Auch wenn a) das Muster in der Zeit erst erscheinend gedacht wird, und b) die zeitliche Gestalt als eine geordnete sich präsentiert, nämlich α) im Disjunktionsnetz und β) darin in zeitlicher Folge, so kann in diesem Produkt des Konstituierens noch keinerlei Existenz gefunden werden oder in dasselbe hineingelegt werden; denn Eksistenz erfassen wir erst und erstmalig in der Eksistenz des Bewußtseins. Wohl aber ist durch die Setzung in der Zeit das dergestalt Zeitliche ein besonderes Konstitutivum, eben weil es in der Reihe der Disjunktionskonstitution etwas Neues ist. Die Zeit eröffnet eine historische und eine Geschichtsreihe. Das eigentümliche der historischen Reihe ist die Folge in einer Konstitutionsreihe. Das Eigentümliche der Zeitreihe ist die einsinnige Folge, wobei diese Einsinnigkeit jedes gesetzte Moment in der Zeit bestimmt. Die zeitliche Einmaligkeit jeder Setzung kann ihrerseits nur in der Disjunktionsordnung gedacht werden. Durch die Aufgenommenheit der Zeitlichkeit in die Disjunktionsordnung erweitert sich diese Disjunktionsordnung ins Unendliche durch die damit virtuell gesetzten formalen und inhaltlichen Möglichkeiten. Doch aber ist auch damit noch keine Eksistenz gesetzt. Das Ganze ist insofern nur ein anschaulich-gedankliches Modell.

Philosophie und Religion Die Frage, die hier zur Beantwortung steht, ist diese: Ist zur wahren Religion Philosophie erforderlich? Die Antwort muß lauten: Wenn zur Religion prinzipielle Erkenntnis notwendig ist, so muß es zur wahren Religion eine richtige prinzipielle Erkenntnis geben. Nun kann freilich die Religion auf solcher prinzipiellen Erkenntnis fußen, ohne dies wieder besonders zu reflektieren. Dann beschließt sie zwar solche Erkenntnis ein, aber ohne diese wiederum in Prinzipien zu erfassen. Und so ist es in der Regel. Die Beantwortung unsrer Eingangsfrage wäre eine solche, und zwar zum Nachweis eines positiven Anteils der Philosophie an der Religion. Historisch ist anzumerken, daß es bis heute eine Vielzahl von Gedankengebäuden gibt, die beanspruchen, aber auch nur beanspruchen, Philosophie zu sein, ohne sich wissenschaftlich ausweisen zu können. Soll dies nicht so stehen bleiben, so muß es eine Entscheidungsmöglichkeit geben, welches Gedankengebäude allein sich als wissenschaftlich fundiert bewähren kann. Nach der Sachdefinition ist die Philosophie Bemühung um Erkenntnis der Wirklichkeit aus einem Prinzipiengefüge und dessen letzter Einheit, und zwar einem Prinzipiengefüge, das als solches und nicht nur mitlaufend, aber seinerseits unreflektiert, in der Konkretion der Wirklichkeit erfaßt wird, wie es z. B. in der großen Dichtung der Fall ist. Es blieb im Laufe der jahrtausendelangen Bemühung um Philosophie nicht verborgen, daß die gesuchten Prinzipien untereinander organisch verbunden sind, so daß die Suche nach ihnen die Suche nach ihrem Gefüge wurde. Die höchste Frage, die sich stellte, war dann aber, ob dessen Erstprinzip erreicht und aufgestellt sei. Philosophie bestimmte sich dieserart als Erkenntnis des Ganzen der Wirklichkeit aus einem kompletten Prinzipiengefüge und dessen letztem Einheitsgrund. Die Transzendentalphilosophie beansprucht nun und erbringt den Nachweis, dies geleistet zu haben, und damit die prinzipielle Erkenntnis, die in der Religion erforderlich ist, nachweisen zu können. Laut Nominaldefinition nun aber ist die Philosophie Philo-sophie, das ist Bemühung um jene vollendete Erkenntnis der Prinzipien. Damit wird nicht nur ein historischer Tatbestand ausgesagt, sondern ein Wesenscharakter der Philosophie bezeichnet. Das Wißtum (Sophia) ist nicht sogleich vollendet vorhanden, sondern will als solches erst gefunden werden. Es ist wesenhaft praktischdoxischer Natur; es ist als Ziel gefordert und kann nur in seiner bewährenden Kraft als erfüllend befunden werden. Alles also dreht sich in der Philosophie darum, ob es in einer bewährenden Kraft als erfüllend gefunden wird. Die Philosophie hat historisch dieses Ziel verfolgt und sich von ungenügender faktischer und apodiktischer Evidenz zur genetischen Einsicht erhoben. Da sich dieser https://doi.org/10.1515/9783110629200-072

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Aufstieg zur Erreichung des Ziels als notwendig erwies, konnte die Philosophie in keinem Falle davon ausgehen, daß sie reflexiv im anfänglichen Besitze wahrer prinzipieller Erkenntnis war, sondern mußte wesensgemäß Durchgang zu ihr sein. Eben eingedenk dieser Sachlage beginnt die Philosophie – und gerade hiermit wird sie Transzendentalphilosophie – mit der Bemühung um die erstrebte Erkenntnis; sie beginnt mit dem cogito. Cogito, nicht cognosco! Wir sind nicht ipso facto im rechten Wissen und rechten Streben, sondern wir bemühen uns darum: wir erwägen (penso = pendo!). Im Erwägen und aus dem Erwägen heraus stoßen wir unter Ausschluß alles dessen, was ungenügend ist, auf das Höchste und Letzte, was sich in sich bewährt und allem Ableitbaren aus sich Gewißheit gibt – und das ist: sich in genetischer Evidenz erschließt; erst von da aus und von da an kann Philosophie zurecht sagen, daß sie Weisheit, d. i. wahre Erkenntnis ist. Sie werden unter diesen Ausführungen schon erraten haben, daß ich von der Philosophie, wie sie zuerst Descartes erfaßt hat, spreche, er, der wahre Begründer der Transzendentalphilosophie, wie ich in meinem Buche über seinen Philosophiebegriff nachgewiesen habe.1 Kant und Fichte sind die wichtigsten Nachfolger auf diesem Wege, von welch beiden Fichte Descartes ausdrücklich als seinen ersten Vorgänger nennt.2 Man muß aber darauf hinweisen, daß dieser Zugang auf eine (freilich nicht abstrakte) Letztbegründung schon von Anfang an in der Religion zu erblicken ist und daß er und der sich ihm erschließende Fund wahre Religion, und das heißt, Religion überhaupt ermöglicht hat. Im Buch Genesis wird diese Letztbewährung als „Schwur Gottes bei Seinem Namen“ bezeichnet,3 und im Koran ist Gott der mumîn.4 Nur hat die Religion diese Erkenntnis nicht erneut abstrakt reflektiert, und zwar, weil sie nicht, wie die Philosophie, vom Streben nach Bewährung allein ihren Ausgang nahm, sondern eben von der Letztbewährung selber, von Gott, der spricht. Man darf annehmen, daß diese Sachlage Descartes bewußt war; sein philosophischer Fachausdruck dafür ist die veracitas Dei.5 Der exegetische Hinweis,6 den er ausnahmsweise zur Erhellung gibt, verweist auf

1 Lauth, R.: Descartes’ Konzeption des Systems der Philosophie, Stuttgart 1998. 2 Fichte, J. G.: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, Leipzig 1794. Erster Teil, Erster Grundsatz (GA I/2, S. 262). 3 Gen. XXII,6; Hebr. VI,13. 4 Koran, LIX, 23. 5 Vgl. u. a. Descartes, R.: Les Meditations Metaphysiques, Paris 1647, Méditation quatrième: „Du vray & du faux“, S. 60–74 (AT IX, 42–50). Vgl. ferner: Lauth, R.: Descartes’ Konzeption des Systems der Philosophie, Stuttgart 1998: „Die Wahrhaftigkeit Gottes als der Wahrheit“, S. 86–90. 6 Vgl. Lauth, R.: Descartes’ Konzeption des Systems der Philosophie, Stuttgart 1998, „Exkurs: Schriftexegese“, S. 90–92.

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zwei Stellen beim Evangelisten Johannes, wo der Theologe die erkennende Liebe als den Ort dieser einzigartigen Erkenntnis aufweist.7 Lassen wir aber diese philosophiegeschichtliche Erhellung zunächst liegen und kehren wir zum Problem des Versuchs einer Lösung zurück. Das Bewähren in der Philosophie geht von der Ungewißheit des Erklärers und von der wesentlichen Zielsetzung absoluter Erkenntnis aus, welche letztere nicht etwa nur ein willkürlicher Ansatz ist, sondern dem Zweifel (dubium) als solchem zugrunde liegt. Sie ist das die Verfahrensweise bestimmende Postulat. Wir haben es demnach mit einem doxisch fundierten Verfahren, und das heißt: praktischem Handeln zu tun. Die Tendenz geht aber nicht nur auf ein letztbegründendes Prinzip, sondern auf eine Behebung der Ungewißheit des Erwägens, und das ist, wie zuvor dargelegt, auf eine Genesis der gesamten Wirklichkeit in einem System von Prinzipien – in prinzipieller Erkenntnis. Hierbei kann der Prozeß der Erkenntnissicherung nur von der Ungewißheit zur Gewißheit, katôthen, d. i. auf dem Weg einer Reduktion erfolgen. Fichte nennt das den hypothetischen Weg: „soll, so muß“,8 welchem Soll man sofort ansieht, daß es eine praktische Zielsetzung erhebt. Vergessen wir das zuvor Gesagte nicht, daß nicht nur die Letztbegründung gesucht ist, sondern deren spezifische Leistung der Bewährung des Einzelnen in seinen Prinzipien und dieser Prinzipien in einem allumfassenden System. Es war nun eine besondere Denkleistung Descartes’, daß er erkannte, daß das System aller abgeleiteten Gegebenheiten ein organisches System sein müsse, indem die einzelnen Momente nicht nur im Abstieg vom Allgemeinsten zum Vollkonkreten, sondern auch im Durchgang durch die wechselweise Bedingung/Bedingtheit der einzelnen Momente unter sich, d. i. in durchgeführter Organizität zu erfassen seien. Es ist – entgegen der weitverbreiteten Vorannahme, daß dies einschließe, daß wir im Falle des Nachweises organischer Prinzipienerkenntnis alles erkennen müßten – eine besondere Denkleistung Descartes’, nachgewiesen zu haben daß dies nicht der Fall sein müsse. Unsere Erkenntnis kann, wenn sie selbst nur letztbegründet ist, sehr wohl ein organisches System des Wissens aufleuchten lassen, ohne daß dieses bei all seiner epistemologischen Geschlossenheit schlechthin ausschließend sein muß. Unsre „sagesse humaine“ kann sehr wohl aus sich auf Begründungsmodi verweisen, die sie nicht zu erfassen vermag, z. B. die Einheit der wirksamen Güte und Allmacht Gottes. Die „sagesse humaine“ ist dann unbeschadet ihrer Einheit und der in derselben gegebenen Letztbegründetheit nur ein Ausschnitt aus der „sagesse divine“. So betrachtet auch die

7 1 Jo. II, u. IV,7. 8 Fichte, J. G.: „Wissenschaftslehre 1804“, XVI. Vortrag (GA II/8, S. 242 f.).

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Religion die Weisheit Gottes als Mysterium, das zu erkennen dem Menschen verwehrt ist. Kehren wir zu unserem prinzipiellen Gedankengang zurück! Eben weil unser philosophisches Erkennen von einem Erwägen anhebt, in dem insofern die Erkenntnis aus Einem höchsten Prinzip nicht vollzogen ist, sucht es erst das alles begründende Letztprinzip. Es ist – wenn Sie erlauben wollen, diesen Ausdruck aus der Religion hierherzuziehen – im Stand des Heidentums. Ihm fehlt noch Gott als der Einzige, dem nichts gleichsteht. Nun ist es von höchster Bedeutung, daß es eben deswegen aus sich allein als bloßem Erwägen die geforderte Einsicht nicht erreichen kann. Es gleicht einer Baustelle, auf der die Bauleute Steine für den Bau sachgerecht bearbeiten, aber den Schlußstein nicht haben, der allein einen haltbaren Bau ermöglicht. Mit dem Evangelium zu sprechen: „Der Stein, den die Bauleute (achtlos oder intentional) verworfen haben, erwies sich als Eckstein“.9 Kein Stein kann in dieser spezifischer Qualität als geeignet erarbeitet werden, wenn nicht die Idee desselben zu seiner Entdeckung leitet. Diese Idee ist nun, cartesisch gesprochen, die idea Dei,10 Offenbarerin Gottes selber. „Sans elle les bâtisseurs ne remarqueraient pas ce rapport, comme le révèle cette proposition: je suis, donc Dieu existe“,11 – eine Beziehung, die übrigens unilateral ist, denn ich kann auch nach Erkenntnis derselben nicht schließen: Dieu est, donc j’existe“. Zu dieser Erkenntnis: sum/Deus est, bedarf es der wirklichen Religion. Unser menschliches Erkennen mag uns immer bis zu der Erkenntnis führen, daß es ein absolutes Prinzip unseres Wollens und Erkennens geben müsse, die „Sache selbst“ liefert nur die Erkenntnis Gottes als des Allgütigen im religiösen Vollzug. Und erst, wenn wir Gott selbst derart konkret fundiert erkennen, vermögen wir alle andere Erkenntnis aus ihm zu deduzieren, dies sogar einschließlich jenes göttlichen Wissens, das für uns unerkennbar bleibt. Das Postulat solcher Erkenntnis kommt, wie sich nun zeigt, aus Gott selbst, und unser Erwägen ist Sein Antrieb in uns, Bemühung um Lösung einer Aufgabe. Wenn die transzendentale Überlegung sagen konnte, daß die Religion allein den Schlußstein der systematischen Begründung geben kann, so ist zunächst zu fragen, ob hier schon von Religion in geschichtlicher Erscheinung die Rede ist. Und das ist zu verneinen. Angesprochen ist vielmehr die prinzipielle Religio-

9 Matth. XXI,42–44. 10 Vgl. u. a. Descartes, R.: Les Meditations Metaphysiques, Paris 1647, Méditation troisième: „De Dieu; qu’il existe“, insbes. S. 48–59 (AT IX, 35–42). Vgl. ferner: Lauth, R.: Descartes’ Konzeption des Systems der Philosophie, Stuttgart 1998, Kap. 3: „Gott als das höchste Prinzip“, S. 51 ff. 11 Vgl. Descartes, R.: Regulae ad directionem ingenii, Regula XII, in: AT X, 421.

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sität des menschlichen Geistes, mit Fichte gesprochen: die mit dem Streben nach vollkommener Erkenntnis und Güte gegebene Eingeschlossenheit in eine ordo ordinans: das Streben geht auf vollkommene Erfüllung;12 es sucht id quo melius cogitari nequit, um mit Anselm von Aosta zu sprechen.13 Eben weil sowohl das Erkennen als der Wille-in-actu letztlich auf Erfüllung ausgerichtet ist, kann es sich mit nichts anderem beruhigen als mit Gott – anders ausgesprochen: im mumîn. Es ist also Streben nach Gott. Seine Erfüllung findet es im Wollen und Wahrheit-Erfassen in und aus Gott. Diese Erfüllung nötigt sich nicht auf, Gott determiniert uns nicht, sondern Sein Leben wird ineins unser freies Leben. Vergessen wir also, an dieser Stelle angekommen, nicht, daß dies die prinzipielle Situation ist. Wir mußten reflektieren und abstrahieren, um in ihr zu diesem Resultat zu kommen. Das Prinzipielle ist jedoch in dieser Erkenntnissituation stets nur der Unterbau der konkreten Wirklichkeit, wie diese freilich ihrerseits der notwendig vorhanden sein müssende Bereich des Konkreten ist. Wo abstrahiert und generalisiert wurde, da muß diese Abstraktion und Fassung im Prinzipiellen auch wieder rückgängig gemacht und in ihrer Einseitigkeit aufgehoben werden, auf daß die ganze Wirklichkeit erreicht werde. Haben wir Philosophie als Bemühung um Erkenntnis der Wirklichkeit aus und in Prinzipien definiert, so muß die Philosophie sich an ihrem Ende durch Reflexion auf das Wesen der Reflexion, zur Konkretheit – und zwar zu einer Konkretheit, in der das Prinzipielle als solches wirkend sichtbar wird, zurückbewegen. Eine solche Erfassung des Prinzipiellen im Konkreten vollziehen die Kunst und die wirkliche Religion. Die Kunst kann dies nun aber ihrerseits auch unter Außerachtlassung des realen Geschichtsbezugs tun. Oder aber sie zieht denselben in ihre Gestaltung mit ein. Beispiel: Ödipus im für die Letztentscheidung der Griechen bestimmenden geschichtlichen Augenblick! Nimmt die Kunst diesen konkret-geschichtlichen Bezug auf und sieht sie das in ihr dargestellte Geschehen aus diesem Gesichtspunkte, so wird sie Realisierung einer Gestalt der Religion. In der Transzendentalphilosophie ist die hier angesprochene Dimension der konkreten geschichtlichen Entscheidung zuerst von Fichte gekannt worden. Die Erscheinung, so erkannte er, entfaltet sich nicht nur in der prinzipiellen „Fünffachheit“, sondern ineins in der „Unendlichkeit“ freier Entscheidungen in der

12 Vgl. Fichte, J. G.: „Aus einem Privatschreiben (im Jänner 1800)“, in: GA I/6, S. 374. 13 Anselm von Canterbury, Proslogion, hg. v. F. S. Schmitt, lateinisch-deutsche Ausgabe, Frommann, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962, S. 136. Etwa: „etwas, über dem nichts beßeres gedacht werden kann“. Der Text trägt „maius“ statt „melius“. Es handelt sich offensichtlich um einen absichtlichen „Fehler“. Lauths Absicht ist vermutlich, die doxische Bedeutung des Begriffs hervorzuheben.

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Zeit, und das ist: geschichtlicher Entscheidungen.C Die Geschichte ist nicht bloß wie bei Kant und Hegel die Stufenfolge des Prinzipiellen in der zeitlichen Folge, sondern Entscheidung bezüglich und angesichts der höchsten Werthaltung, ineins damit stets und notwendig Entscheidung zu Entscheidung. Denn das Ich der Erwägung, das ego des cogito ist Reflexion, d. i. sich wissendes Wissen und sich kritisierendes Wollen. Wissen und Bewußtsein, Wille und Gegenwille sind gleicherweise wahr; und das heißt in der Konsequenz: Es gibt keinen Vorrang des Ich vor dem Du; die Philosophie kann nur vom Ich/Du bzw. Du/Ich anheben. Die volle Konkretheit kommt nämlich nur dadurch zustande, daß in der Irreversibilität des zeitlichen Augenblicks sich interpersonale Entscheidungen vollziehen, die vorwärts und rückwärts, in Beziehung auf das Vergangene wie auf das Zukünftige, einmalige Kompetenz besitzen. Wir hatten konstatiert: das Prinzipielle ist nur die Eine Seite der vollen Wirklichkeit, deren andere Seite das Vollkonkrete ist. Die prinzipielle Religion verwies also auf die konkrete Religion zurück.14 Diese letztere aber ist eine geschichtliche: die wahre Religion ist eine ganz bestimmte, einmalig in der Geschichte auftretende Religion. Diese Einzigkeit ergibt sich daraus, daß hier „die Sache selbst“ das alles generierende Erstprinzip ist: Deus in der idea Dei: das alles weitere generierende Prinzip der absoluten Güte und die Fülle der Wirklichkeit, das plerôma,15 in ihr. Wir müssen demzufolge die konkrete Religion in der Geschichte aufsuchen und dort finden können – und hierin schließen Philosophie und Religion voll ineinander. Ich sagte: „aufsuchen“, und das ist, uns bemühen, das Konkrete zu finden. Diese Bemühung um das Gesuchte wird jedoch, eben weil Bemühung, erst im Finden ihres Wesens klar bewußt, wenngleich es aus einem dunklen Streben entstammt. Die Menschheit mag sich immer in einem dunklen Streben nach der Wahrheit (sidq)16 befunden haben, so konnte ihr dies vor dem Eintritt der idea Dei nicht deutlich werden. Wenn wir noch ein letztes Mal vom Prinzipiellen einseitig an die Sache herangehen, so bedeutet das, daß wir, was unsere eigne geschichtliche Situation betrifft, noch als Suchende uns auch in einer Lage befinden könnten, in der die geschichtliche Erscheinung der Religion noch nicht oder nicht mehr gegeben wäre. Einzusehen, daß die wahre Religion geschicht-

C Fichte, J. G.: „Vorarbeiten zur Anweisung zum seeligen Leben.“ (GA II/9, S. 324). 14 Fichte, J. G.: Anweisung zum seeligen Leben, oder auch die Religionslehre, Realschulbuchhandlung, Berlin 1806 (GA I/9). 15 πληρωμα, griechisches Wort für „Fülle“. 16 Sidq, arabisches Wort, heißt etwa „Wahrheit“,„Richtigkeit“,„Aufrichtigkeit“.

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lich da ist, ermöglicht uns Philosophen aber erst die gewonnene prinzipielle Sicht der Religion; – wie Fichte einmal gesagt hat: Wäre der konkrete Jesus nicht „im Fleische“D erschienen, so wäre es nicht zur Transzendentalphilosophie und in dieser zu der Einsicht, was Religion prinzipiell und konkret ist, gekommen. Hier ist der Knotenpunkt der Inversion: Ist die konkrete wahre Religion geschichtlich da, so muß und wird sie ihrerseits dem prinzipiellen Ansatz, einschließlich dem, was er als Konkretum fordert, entsprechen. Blicken wir jetzt auf die Offenbarungsreligion als Abrahams Religion. Wir sagen, daß wir in dieser Religion Abrahams eben diese gesuchte einzigartige, der prinzipiellen Forderung entsprechende Religion erkennen. Zur Begründung unserer These sei gesagt: Man kann sachlich nicht leugnen, daß mit der hervortretenden Forderung Gottes an Abraham, vollkommen gerecht vor Seinem Antlitz zu wandeln, in der Menschheitsgeschichte etwas völlig Neues und Einzigartiges hervorgetreten ist. Der Versuch eines Vergleichs mit der Lehre Buddhas oder Lao-tses, vom Heidentum ganz zu schweigen, macht dies klar. Doch auch das allein genügt nicht! Es wäre da eben eine andere „Religion“ neben den genannten vorhanden; aber ihr bedingungsloser Vorrang, richtiger gesagt: ihre im Prinzip liegende Ausschließlichkeit wäre soweit nicht ersichtlich. Bemerken wir, daß wir bis zu dieser Stelle unserer Untersuchung den Terminus „Religion“ als Begriffshof mehrerer unvereinbarer Bedeutungsgehalte benutzt haben. Der geschichtliche Gautama Buddha und auch Lao-tse haben übrigens auch ihre Lehre gar nicht als „Religion“ im konventionellen Sinne verstanden! Nur die milla Ibrahim17 weist sich als Religion, und zwar als einzig wahre Religion aus. Diese ihre spezifische Einzigartigkeit liegt in ihrem Erstprinzip begründet, dem Prinzip der göttlichen sedaka.18 In philosophischer Erkenntnis ergibt sich diese Einzigartigkeit aus der Koinzidenz des Prinzipiellen mit dem Konkreten in der in sich lichten Forderung und dem von ihr Generierten.

D Fichte ist der Durchbruch zur Erkenntnis Jesu als Gottmenschen erstmals in der Anweisung zum seeligen Leben gelungen. Vgl. Sechste Vorlesung und Beilage zu der Sechsten Vorlesung (GA I/9, S. 115 ff. u. S. 188 ff.). Er sieht im Erscheinen Jesu in der Geschichte die Geburtsstunde der „wahren Religion“. Fichte verweist aber darauf, daß nach Jesu Worten schon Abraham diese „wahre Religion“ gelebt und verkündet habe, erklärt das aber daraus, daß Abraham durch Melchisedek „eingeweiht“ worden sei (S. 124).

17 Etwa die „Gemeinschaft Abrahams“. An mehreren Koranstellen findet sich die Aufforderung, der milla Ibraîm, der Religion Abrahams zu folgen (insbes. Sure 2,130 u. 4,125). Vgl. dazu Lauth, R.: Abraham und die Kinder seines Bundes mit Gott, München 2003, S. 107. 18 Zedaka, hebräisches Wort, heißt etwa „Gerechtigkeit“ oder „Wohltätigkeit“. Vgl. dazu Lauth, R.: Abraham und die Kinder seines Bundes mit Gott, München 2003, S. 376 ff.

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(Für den Christen ergibt sich an dieser Stelle die Aufgabe, Jesu Erneuerung des Bundes Gottes mit Abraham in Seinem Blute richtig zu verstehen. Jesus erfüllte das angehobene Opfer Abrahams im Vergießen seines Blutes am Kreuze zur Vergebung der Sünde aller, die gerettet werden können. Jesu Tat erfüllt das angehobene Opfer Abrahams.) Wenn im Abraham-Bericht gesagt wird, sein Gott sei derjenige, der Himmel und Erde erschaffen habe,19 so drückt sich die absolute Genesis des göttlichen Erstprinzips darin nicht nur auf der Seite der Forderung, sondern zugleich auf der Seite des faktischen Seins aus. Gott ist nicht wie einer der Götter; Er ist auch nicht als El Elyon20 der höchste dieser Götter und deren unbestreitbarer Herr, selbst wenn gesagt wird, daß Er, dem Sirius vergleichbar, unwandelbar während über dem Gang der Planeten stehe,21 so sagt dies nur Seine Allmacht aus, nicht aber Seine Allgüte. Gesagt soll mit dem rational unverständlichen Wort „Schöpfer“ werden, daß Gott das genetische Prinzip auch alles Faktischen ist, so wie Seiner Güte, und zwar dieser letzteren entsprechend – wie es in einem deutschen Kirchenlied heißt: „Was Gott tut, das ist wohlgetan!“ – wohlgetan, wie wir zuvor sagten, vorwärts und rückwärts. Gott tritt nicht nur aus der Zukunft in die Gegenwart, sondern in voller Wirksamkeit auch aus der Gegenwart in die Vergangenheit, in der Er letztendlich alles gut macht, so wie er die Hinschlachtung Isaaks in der moralischen und physischen Erhebung Abrahams gut gemacht hat. Verehrte Hörer!22 Dies ist alles andere als selbstverständlich! Wir treffen in der Geschichte der Menschheit, d. i. endlicher Vernunftwesen, auf eine Gestalt in ihrer zeitlichen Ausbildung, die der geforderten Rückkehr des Prinzipiellen in die Konkretheit tatsächlich entspricht. Die Geschichte Abrahams kommt uns aus der ältesten Überlieferung, tausend Jahre vor allem Vergleichbaren mündlich und eintausend Jahre später schriftlich fixiert. Angesichts der enormen Erweiterung unseres historischen Wissens erscheint dieses Faktum in heutiger Sicht wie ein Wunder. Diese einzige Religion tritt hervor aus dem wirren Gemisch ganz sinnlicher sogenannter Religionen, nicht etwa ableitbar aus diesen, sondern abrupt als etwas gänzlich Anderes und Neues. Um richtig zu verstehen, muß man nur nicht von dem Cliché der naturalistischen Entwicklungstheorie ausgehen. Es gibt keine derartige „Deszendenz“, weil diese undenkbar ist. Sie ist nichts anderes als ein materialistisches Vorurteil des Empirismus. Was ge-

19 Gen 1,6. 20 Gottesname, vom hebräischen; bezeichnet den höchsten, oder allerhöchsten Gott. 21 In der Antike war Sirius als Fixstern gesehen, im Gegensatz zu den Wandelsternen, den Planeten. 22 Offensichtlich ist der Aufsatz zuerst als Vortrag konzipiert worden.

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schichtlich auftritt, geht in einer sich gestaltenden Einheit vor und kann nur von deren Prinzip her in seiner Entfaltung verstanden werden. Sodann: die gänzlich neue Gestalt, die mit und in der die milla Ibrahim hervortritt, hat den, alles andere als selbstverständlichen Charakter eines Dramas, d. h. eines Handlungsgefüges, in welchem die beschlossenen Personen mit ihren Entscheidungen und Taten in organischer Einheit verknüpft sind. Diese freie Organizität ermöglicht erst die Erkenntnis der zu dem wahren religiösen Geschehen schlechthin zugehörige Analepsis und der in ihr erkennbaren Gutmachung Gottes, d. i. das Sichwandeln Seiner Übermacht in Seine höchste Güte, die Anselm von Aosta in seiner Schrift „Cur Deus homo?“ so prägnant herausgearbeitet hat.23 Historisch wäre doch alles andere als das Auftreten einer solchen vollkommenen Gestalt eines (bis dahin unbekannten) Höchsten Prinzips zu erwarten gewesen. Fichte, und später in Frankreich Bergson, haben das Wesen der Geschichte philosophisch erstmalig erkannt. Ihre Wesenszüge sind 1.) das sog. „Gesetz der geistigen Natur“, das immer nur von erarbeiteten Voraussetzungen her weitere schöpferische Schritte erlaubt; 2.) der Fortgang in Entscheidungen zu Entscheidungen in einmaliger Folge; und 3.) ein durch diese Eigentümlichkeiten ermöglichter schöpferischer Durchbruch zu Gott. Die Historie stellt nur einen Fortgang und Vollzug im Prinzipiellen auf, kommt aber damit allein unmöglich zur Geschichte als einmaligem und einzigartigem Drama, und somit gerade nicht zum Vollkonkreten. Das allgemein Gesetzliche offenbart keine Geschichte, weil es die „Reflexion der Reflexion“ unterläßt. Abrahams Tat, das Opfer Isaaks und seines Lebens in diesem, ist eine einmalige konkrete Tat in sich, nicht nur ein allgemeiner gesetzlicher Vorgang, wie die Legislation des Moses. Als solche ist sie bis an die Grenzen der Erde bekannt geworden und erfaßt worden, und provozierte notwendig eine Entscheidung für oder wider. Darin kommt zum Ausdruck, daß diese Individuierung universelle Relevanz besitzt. Die Inversion ins Konkrete bestimmt eine zweite Inversion wieder ins Universelle zurück. Prinzipielle und konkrete Geschichtstat fordern sich gegenseitig. Alle anderen sog. „Religionen“ kennen kein sich dergestalt rechtfertigendes und erfüllendes Prinzip. Die milla Ibrahim steht völlig einzigartig da. Die geschichtliche Entwicklung der Menschheit hat unübersehbar ihre Bestimmung, Zeichen des Falles und der Auferstehung derer, auf die sie trifft, zu sein.

23 Anselm von Canterbury, Cur Deus homo. Warum Gott Mensch geworden, hg. v. F. S. Schmitt, lateinisch-deutsche Ausgabe, 3. Aufl., Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1970; vgl. insbes. Kap. 1,19: „Daß der Mensch ohne Genugtuung für die Sünde nicht gerettet werden kann“, S. 67–71, u. Kap. 1,25: „Daß der Mensch notwendig durch Christus gerettet wird“, S. 87–89.

Bibliographie Im Band zitierte Bücher von Reinhard Lauth Die Frage nach dem Sinn des Daseins, Barth, München 1953. „Ich habe die Wahrheit gesehen“. Die Philosophie Dostojewskis. In systematischer Darstellung, Piper, München 1961. Zur Idee der Transzendentalphilosophie, Pustet, München 1965. Begriff, Begründung und Rechtfertigung der Philosophie, Pustet, München 1967. Ethik in ihrer Grundlage aus Prinzipien entfaltet, Kohlhammer, Stuttgart/Berlin/Köhl/Mainz 1969. Theorie des philosophischen Arguments. Der Ausgangspunkt und seine Bedingungen, De Gruyter, Berlin/New York 1979. Die Konstitution der Zeit im Bewusstsein, Meiner, Hamburg 1981. Hegel vor der Wissenschaftslehre, Franz Steiner, Mainz 1987. Transzendentale Entwicklungslinien von Descartes bis zu Marx und Dostojewski, Meiner, Hamburg 1989. Vernünftige Durchdringung der Wirklichkeit. Fichte und sein Umkreis, Ars Una, München Neuried 1994. Descartes’ Konzeption des Systems der Philosophie, frommann-holzboog, Stuttgart 1998. Abraham und die Kinder seines Bundes mit Gott, Christian Jerrentrup Verlag, München 2003. Schelling vor der Wissenschaftslehre, Christian Jerrentrup Verlag, München 2004. Con Fichte, oltre Fichte, hg. v. Marco Ivaldo, Trauben, Torino 2004.

Im Band angeführte Kollegnachschriften von Friedrich Bechmann zu Vorlesungen von Reinhard Lauth, in der Transkription von Friedrich Bechmann „Fichte, Wissenschaftslehre 1804.“ WS 1984/85. „Die transzendentale Methode.“ [= Transzendentale Methode.] SS 1987. Transkription 2020. „Die Theorie des Arguments als Weg zur Wissenslehre.“ [= Theorie des Arguments.] WS 1988/89. Transkription 2019. „Die Bedingungen der Philosophie in ihrer Vollständigkeit.“ [= Bedingungen der Philosophie.] SS 1990. Transkription 2020. „Jacobi in der Auseinandersetzung mit Lessing (Spinozastreit), Goethe (Allwill), Kant und Fichte.“ [= Jacobi.] WS 1990/91. Transkription 2012. „Jacobi und Fichte.“ WS 1991/92. Transkription 2012.

Im Band zitierte Literatur Alain [Pseudonym für Emile-Auguste Chartier]: Entretiens au bord de la mer – Recherche de l’entendement, Gallimard, Paris 1931. Anselm von Canterbury, Proslogion, hg. v. Franciscus Salesius Schmitt, lateinisch-deutsche Ausgabe, Frommann, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962. https://doi.org/10.1515/9783110629200-073

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Bibliographie Bibliographie Reinhard Lauth, zusammengestellt von Christian Jerrentrup, Christian Jerrentrup Verlag, München 2002.

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Namenregister Abraham 283–285 Alain 233 Anselm von Aosta 281, 285 Ariosto, L. 244 Bergson, H. 285 Buddha 283 Descartes, R. 6, 65, 118, 120, 152, 235, 242 f., 246, 248, 265, 268, 278–280 Dostojewski, F. M. 261 Fichte, J. G. 213, 238 f., 242, 247, 254, 258, 278 f., 281–283, 285 Goethe, J. W. 248 Hegel, G. W. F. 282 Hume, D. 260 Isaak 284 f. Jacobi, F. H. 239

https://doi.org/10.1515/9783110629200-074

Jesus 283 f. Johannes, Apostel 279 Kant, I. 233–235, 237, 239 f., 243, 268, 274 f., 278, 282 Kepler, J. 273 Lao-Tse 283 Leibniz, G. W. 270 Melchisedek 283 Moses 285 Newton, I. 273 Ödipus 281 Olbrechts-Tyteca, L. 5 Perelman, C. 5 Reinhold, K. L. 247 Spinoza, B. 238, 242

Sachregister cogitatio 12, 268 f. cogito 163, 170, 180, 243, 268–270, 278, 282 cognitio 268 f. creatio continua 265, 268 dubium (siehe auch: Zweifel) 269, 279 esse imaginis (siehe auch: Bildsein, Bild des Seins) 76, 78, 82, 86 f., 97, 163, 168, 172, 193, 200, 203, 209, 218 esse transimaginativum (siehe auch: transimaginäres Sein) 203 existo 180 fides (siehe auch: Glaube) 190 idea Dei 282 intuitus (siehe auch Einschauung) 78, 131 f., 179, 186, 195, 197 f. ordo ordinans 281 pendo 243, 278 penso 269, 278 veracitas Dei 278, 280 sagesse (siehe auch: Weisheit) 279 Aberkennen der Geltung 12, 15 Abstraktion 23, 98 f., 181, 281 Adäquation 6 Adoption 162 Affirmation 56, 68, 71, 73, 88, 103, 107, 122, 148, 158, 162 Aggregat 110, 112 f. Akzeptation 149 f. Akt, geistiger 118, 129 Akt, Fiduzial- 162, 190 Aktivität 176, 195–197, 210, 253, 258 Alternative 73, 81, 117 f., 237, 242, 249 f., 270 Allmacht 279, 284 Analogie 139, 203, 208, 244 Anerkennung 13, 87, 134 Anmutung 247, 266 f. Annahme 40, 118, 121, 128 f., 144, 147–152, 154 f., 162, 168, 213, 228, 241, 257 Ansatz des Arguments 24, 56, 68, 95, 128, 130 f., 141 Anschauung 179, 198, 207, 252, 257 Anspruch 46 f., 56, 58, 122, 219 https://doi.org/10.1515/9783110629200-075

Antwort 87, 211, 224 f., 227 Applikabilität 70 f., 119 Apposition, apponieren 174, 186, 191, 236 Argument passim –, als Sprachgebilde 5 –, objektives, objektiviertes 22, 73, 90, 92, 101 –, (speziell) philosophisches 104, 108 f., 129 –, primäres 96, 98, 114, 202 –, Sein des 75, 123, 126, 221 –, sekundäres 63, 96 –, transzendentales 96 –, überhaupt 21, 24, 81, 126 Argumentation 24, 52, 56, 64, 106, 112, 127 Artefakt (siehe: Zweckgebilde) 53, 193 Assertion 24, 29 f., 34, 45, 58, 119, 158 Attention 98, 102, 151–154, 171, 177 Aufforderung 58, 108, 127, 227 Aufgabe 53, 85–87, 114, 118, 145–148, 150– 152, 156, 160, 171, 178, 214, 227, 247, 261 Aufruf 145 Ausdruck 17, 20, 22 f., 78 Ausgangsposition 8 Aussage 9, 11, 13–15, 17 f., 26 f., 34, 38, 41 f., 50, 67, 72, 88 f., 97, 101, 103–107, 113, 116, 119, 161 f. Außenwelt 207, 214 f., 265 Ausschließen 15 f. Authentizität 44, 61, 71, 93, 105, 119–122, 124 f., 128 f., 131, 135, 139, 141, 162 Beanspruchung von Wahrheit 44 f., 47, 56, 215, 219 Behauptung 14–16, 21–27, 30, 35 f., 40 f., 44–50, 55 f., 59, 66, 71, 73, 81, 112, 115 Bejahung 57, 134, 148, 151, 222 f., 228 –, energische 221, 225 Bekundung 19, 32 f., 206 Bemühung um Erkenntnis 75, 102, 261, 277 f., 281 Berechtigung 86, 214, 257 Bestätigung 94, 115 Bestimmtheit 45, 81, 85, 96, 131, 174, 177, 185–187, 242

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Sachregister

Bestimmung 34, 84, 86 f., 155, 174, 177, 185, 187, 191, 196, 199 f., 202 –, Fremd- 202 Beurteilung 103, 105–108, 112 f., 115 f., 210, 212 Bewährung (siehe auch: Legitimation) 56– 58, 64 f., 89, 107, 119 f., 122, 124, 135, 139 f., 143, 146, 149, 162 f., 168 f., 219, 278 f. –, Idee der 56, 59 Bewältigung einer Aufgabe 85 f. Bewertung 17 f., 209 Bewirken (siehe auch Erwirken, Wirken) 175–177, 199, 248, 250, 253 f., 257–260 Bewirkendes/Bewirktes 175, 253, 258 Bewusstsein 9, 29, 34, 84, 117, 167 f., 218, 256, 268, 272–276, 282 Bewusstseinseinheit 274 f. Beziehung (siehe: Relation) 11 f., 29, 36, 87, 165 –, intentionale 15 Beziehungseinheit 11 f. Bezugnahme auf Wahrheit 35, 38 f., 164 Bezweiflung, Bezweifeln 114–116, 120, 161, 208 –, metaphysische 120–122, 124 –, transzendentale 115 –, universelle 114 Bild 6, 35–37, 42, 44, 64 f., 73, 76–79, 81 f., 84, 86, 158 f., 194 –, anhebendes 86 –, dubiöses 66 –, falsches, irriges 37, 64, 81 –, des Bildes, seiner selbst, von sich selbst 76, 95, 123 f., 131 –, des Seins 14, 35–39, 46, 60, 73 f., 77–81, 83, 85, 90, 93, 95, 100 f., 105, 123, 155 –, des wahren Seins 49, 73, 78, 81, 85, 194 –, mittleres 154 –, oberes 154–156 –, Phantasie~ 193 –, reflexes / reflexives 86 –, u. Sein 6, 35–37, 46, 48 f., 74, 76–80, 95, 97, 117, 119, 139 f., 218–220 –, unteres 154 f. –, wahres 37–39, 42 f., 46, 60, 64, 66, 74, 78, 81–83, 89, 95, 105

–, Wissens~ 36, 79, 81, 83–89, 93–95, 117, 123 f., 170 f., 193, 219 f. Bilden 45, 49, 56, 96 f., 110, 147, 152, 154, 156, 160, 182 f., 194 f., 202, 209, 226 –, ideales 195–197 –, reales 195 f. Bildform 65, 79, 84 Bildgehalt 79 Bildsein (siehe auch: esse imaginis) 73 f., 76, 78, 81 f., 87, 90, 123, 183, 218, 222 Billigung 115 Chaos 233, 273 Co-Intuition 189 Dekret, freies 90 Denknotwendigkeit 61, 122, 126, 128, 130 f., 163, 178, 234 Determiniertheit 118 dialogisch 106 Differenz –, von Bild und Sein 36, 140, 218 –, von Meinung und Erkenntnis 74 f. –, des objektiven und subjektiven Status 43–46 –, von Prae- und Performation 89 f. –, des Wissens- und Erkenntnisbildes 93, 97, 103 Diskursivität 192 Distanz zum Sein selbst 47, 95 doxisch 5 f., 54, 144, 146, 148, 167, 222, 264, 279 Druck 245 f., 266 f., 275 Du 22, 206, 282 effizient 104, 202 Einbildungskraft 9, 188, 253, 268 Eindeutigkeit 96 Einheit 15 f., 28 f., 36, 139 f., 249 f., 273– 275, 277, 279, 285 –, distributive 276 –, doxische 136 –, existentielle 28 –, objektive 12, 25, 29, 76, 173 –, organische 285 –, subjektive 12, 25, 76 –, systematische 9, 104 –, synthetische 25, 140, 173, 187

Sachregister

–, thetische 143 f. –, transzendentale 173 –, vollkommene 140 Einschauung, einschauen (siehe auch intuitus) 131 f., 179, 189, 191, 196–198 Einseitigkeit 93, 281 Einwirkung (siehe auch Wirkung) 210, 213, 255–259, 264, 273 Element 6, 11–15, 29–31, 108–113, 120, 122, 242 Empfindung 206, 245–248, 267, 275 Empirismus 284 energisch 19, 103 f., 106, 133, 158, 168 f., 221 f., 224 f., 228 Enthymem 6 Entscheidung 37, 40, 48, 52–55, 89, 101 f., 113, 117 f., 151–153, 170, 187, 228, 281 f., 285 –, der Wahrheitsfrage 46, 56, 58, 177 Entsprechung 193 Entwicklungstheorie 284 Erfahrung 207, 210, 219, 233, 240 f., 243, 245, 272 f. Erfüllung 57, 143–145, 150, 159, 281 Erinnerung 188–190, 201, 214 Erkenntnis 35, 37, 47, 59–62, 64–72, 74 f., 80, 99, 104 f., 110, 119 f., 136, 141, 159, 182, 280 –, absolute 279 –, energische 139 –, Existenz der 70 –, Fehlbegriff von 61, 63 –, genetische 9, 149 –, philosophische 9, 283 –, prinzipielle 9, 277–279 –, vollkommene 99, 281 –, wahre 60, 64, 66, 71, 148, 181, 193, 278 Erkenntniserkenntnis 60 f., 64 f., 70, 141 Erkenntnislosigkeit 69 erkenntnistheoretisch 5, 135 Erscheinung 144, 228, 233, 235, 262, 280– 282 Erstprinzip 9, 277, 282–284 Erwägen 156, 170, 261, 278 f., 280 f. Erwirken (siehe auch Bewirken, Wirken) 253 f., 257 Esselbigkeit 77 f.

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Existenz (Ek-Sistenz) 118, 172, 179, 183, 202 f., 212, 241–243, 245–247, 255, 268, 272, 274, 276 Experiment, gedankliches 110 Evidenz, evident 65, 71, 89–91, 95, 102, 110, 126, 140, 161, 220 –, absolute 219 –, apodiktische 125, 136, 139, 149, 277 –, faktische 125, 136, 139, 277 –, energische 129, 133, 136, 139 –, genetische 149, 168, 179, 278 –, philosophische 71 –, qualitative 135

Faktizität, faktisch 6, 35, 104, 122–124, 126, 128–135, 139, 141 f., 144, 146, 148 f., 158, 169 f., 220, 222, 224, 229, 242, 254, 256, 284 fakultativ 34, 236 f., 241 f. Feststellung 106, 234 Figment 13, 113 Fiktion 103–105, 108–111, 113 Forderung 5, 17 f., 35, 56–58, 74, 96, 134 f., 143, 146, 148, 150 f., 155, 160, 283 –, absolute 101, 143–149, 154, 156, 159–161, 163, 169 f., 172, 177–179, 181 f., 189 f., 193, 216, 221 f., 224, 227–229 –, emanierende 146 f., 177, 193, 225 –, der Realisierung, Verwirklichung 118, 134 –, energische 146 –, immanente 146 Frage 18, 21, 46, 48 f., 58, 97 Freigelassensein 145 Freiheit 9, 17, 41, 50, 52, 57, 98, 114, 118, 130–132, 134, 140, 150 f., 155, 170, 174, 176 f., 179, 185–187, 190, 201, 226, 239, 268 Freiheitsakt 242 Freiheitsvollzug 154, 177 f., 186, 216 Fremdintention fremdintentional 205–207, 229, 247, 253, 259, 261–265 Fünffachheit 281 Gebilde 9, 11, 18, 20–25, 45, 53, 81, 111 f., 132, 134, 193, 248 Gebildetsein 77, 93, 124, 145 Gefühl 270, 275

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Sachregister

Gegen-Stand, Gegen-Ständlichkeit 246 f., 252, 258–267 Gegenwart 188, 200 f., 272, 284 Gehalt, einfacher 23, 25, 29, 46 Geist 9, 22–28, 99, 102 f., 111, 115, 117 f., 120, 123, 150, 152, 241, 243 Gelöstheit –, vom Handlungszwang 100 –, des Seinsbildes vom Sein selbst 81, 85, 93, 95, 103, 219 –, des Wissensbildes von sich 84, 103 Geltendmachen 41, 106, 154–156, 158, 167– 169, 171 f., 178, 180, 209, 211, 228 Geltendsetzen 19, 155 f., 158, 164 f., 168 f., 221 Geltung 12, 14 f., 26 f., 29 f., 34, 38, 40–42, 44 f., 48, 50, 52, 59, 61, 72, 94, 103 f., 106–108, 111 f., 122, 135, 155, 158 Geltungsanspruch 73, 91, 105, 122 Geltungserhebung 11–14, 21 f., 24, 29, 39, 50 f., 54 f., 89, 103 f., 106–108, 111–114, 118, 155 f., 158 f., 221, 228 –, energische 104 f., 222, 224 f., 228 Geltungssuspension 14, 94, 106, 108, 114 Gemeinschaft 206, 234 f., 275, 283 Genesis, genetisch 9, 149, 159, 163 f., 168, 172, 219, 277–279, 284 Genetisieren, Genetisierung 149, 162–165, 179, 220 f. Gerechtigkeit (sedaka) 57, 269, 283 Geschichte, Geschichtlichkeit, geschichtlich 118, 202, 272, 276, 280–285 Gesetz 234, 245, 273, 285 Gesetzlichkeit 5, 234, 243–245 Gesetzmässigkeit 241, 250, 273 Gespenst des Lebens 261, 265 Gewißheit 61 f., 139, 182 f., 278 f. –, empirische 273 –, reflexive 62 –, ursprüngliche 68 Glaube 190 Gott 241, 278–285 Grenzbegriff 126 f. Grund 96, 174, 188, 207, 212, 235 f., 239– 241, 246, 249 f., 256, 263 Grundsatz 57 Grundintention 84–86, 99, 101 f., 150 f., 154, 167, 170, 215

Grundpertinenz 167 Grundsynthesis 11–13, 21, 38, 40, 103, 114, 118, 155, 169 f. Gültigkeit 127 –, objektive 41 f., 44, 66 –, provisorische 122 Güte 279, 281 f., 284 f. Handeln 53, 96, 170, 176, 269 –, geistiges 22, 87, 123, 132, 169, 182, 188 f., 198, 210, 226, 248 –, moralisches 190, 224 –, praktisches 279 Handelnszwang 96 Handlungsmöglichkeit 185, 212 Helligkeit 66, 140, 173 Hemmung 196–203, 205, 208–212, 215 f., 226, 266 –, fremde, fremdintentionale, intentionale 196, 205, 209 f., 212, 226, 229 Hypothese 149 –, Grund- des Arguments 130 f., 139, 143 Ich 5, 27 f., 134, 159, 176, 186–188, 191 f., 200, 264, 282 Idee 56, 280 Identifizierung, Identifizieren 109, 172 f. Identität 27 f., 76, 128, 140 f., 172, 237 –, des Ich 176, 187 –, von Bild und Sein 36, 82, 123, 172 Implikation 22, 186, 191, 236 f., 244 Imposition 236 f. Induktion 209, 213 f., 216 f., 273 Ineinandergreifen 15, 85, 130, 151, 153, 192, 196 Initialproblematik 85–87, 92 f. Inkarnation 192 Innesein, helles 78 Insich 67 Institut 193, 206 Intelligieren 25, 78, 179 Intention 6, 13, 17–19, 35, 39, 74 f., 94 f., 101, 119, 145, 150–152, 167, 205, 259, 263 f. –, fremde, fremdpersonale, Fremdintention 197, 205 f., 208 f., 212, 226 f., 246 f., 256, 258 f., 262–265 Interesse, philosophisches 88

Sachregister

Interpersonalität, interpersonal 5, 106, 118, 207, 247, 282 Inversion 105 f., 109 f., 283, 205 Irrtum 117 Kategorie 233, 235, 248, 274 Kategorizität 90, 98, 143, 148, 161, 164 Kausalerklärung 235 Kausalität 233–241, 248, 250, 261, 265, 268, 274 Kausation 174, 229 Kausieren 174–176, 186, 188, 191 f., 210, 255 f., 258 Konkretheit 281, 284 Konsideration 98 f., 167 Konstitutionsmoment 132 Kontention (siehe: Beanspruchung) 54, 56, 67 f., 71, 88 f., 91, 103, 119, 149, 162 Kunst 281 Leben 51, 281–283 Lebenstrieb 274 Legitimation 67, 89 f., 94, 122, 131 f., 148, 178, 208 Leib 207, 243 Letztbegründung 278 f. Licht 35 f., 65 f., 125, 135 f., 139–141, 161, 173, 219 f., 245 Lichtheit 66 f., 70, 135 Logisch, logisch-mathematisch 127, 191 f., 242–246, 248 Lösung (der Aufgabe) 85–87, 111, 118, 147, 152, 156, 160, 170, 178, 188, 252, 279 f. Lüge 5, 54, 113 Manifestation 9, 13, 19, 58, 66, 71, 81, 134, 205, 208, 212, 214, 226, 229 Materie 22, 106, 273–275 Maxime 57 Meinung –, (opinio) 30, 74 –, (Pretention) 270 –, (primum dictum) 194 –, (visum immediatum) 29 f., 61, 73, 123 Methode 99 Minimum an Behauptung 115 –, von Erkenntnissen (an Voraussetzungen) 69, 74, 87, 114, 116, 118

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Modus 79, 106, 131, 150, 216, 227, 238, 240 f., 243, 257, 264 Moment 29, 56, 104, 109, 125, 144, 168, 237, 239, 246 f., 249, 265 f., 268, 272, 276 Moralisch 212, 223–225 Muster 234 f., 237 f., 241–246, 250, 252, 260, 273, 276 Natur 109, 118, 141, 166, 192, 208, 219 f., 232–234, 240 f., 243, 248, 258–261, 264, 266, 268, 272, 277, 285 Naturkausalität 257, 260, 269 f., 285, 288, 294 Negation 31, 35 f., 58, 146 f., 290 Nicht-Argument 31, 33 Nichts 38, 43, 50, 52, 58, 68, 73, 79, 95, 106, 146 f., 267, 271, 273, 279, 285, 290, 300 f. Nichtsein 146 f., 290 Nichtwissen 58 Notwendigkeit 101, 106, 111, 134, 139, 140, 142, 144, 148–154, 167 f., 178, 190, 198, 262, 291 Offenbarung 193, 262, 283 Organizität 279, 285 Performation 91–93, 100, 102 f., 114, 117 f., 151, 160, 163 Person 5, 188, 206 Pertinenz 54, 58, 167, 170, 205 Phantasie 193, 206, 251 Philosophie, 5, 8 f., 51, 67, 93, 135, 188, 218, 246 f., 256, 277– 279, 181 f. Plan, methodischer 99 Position 145, 237, 270 Postulat 18, 148 f., 235, 279 f. Präformation 89–94, 100, 103, 117 f. Prinzip 35, 140, 155, 172, 175, 206, 220, 238–241, 244, 279, 282–285 –, absolutes 280 –, höchstes 280 Prinzipsein 140, 203 Problem 14–16, 18, 21–24, 26, 29 f., 34–42, 44, 48–50, 54–56, 58, 68, 71–73, 88, 95, 99, 119, 160 f., 174, 193, 226, 246, 264, 270, 279

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Sachregister

Problematizität 15, 34, 41, 45, 48 f., 62, 68, 71, 90, 100, 102, 123, 148, 160 f. Projekt 87, 99, 151 Qualität 18, 135 f., 149, 245, 266 f., 275 Raum 90, 259 f., 271 Realisationswert 57 Reales 178, 195–197, 250–252 Realisation 34, 52, 54–57, 114, 145, 210, 241, 249, 254 Rechtfertigung (siehe: Legitimation) 137, 163 Rechtmäßigkeit 255 Rechtsein 219 Reduktion 279 Reflektiertheit freie 86, 98 Reflektion 268 Reflex 27 f., 76, 171 Reflexeinheit 28, 77, 171–173 Reflexion 62, 107, 192, 281 f. –, transzendentale 88 Reflexionseinheit 169, 171–173 Regreß in infinitum 28 Rekognoszieren 109 Relation 14, 16, 19, 25, 29, 140, 164 f., 233, 250 Religion 277 f., 280–284 –, wahre 283 Reproduzierend 189 f. Rückbezüglichkeit 268 Schein 62 Scheinargument 111–113 Schock, dynamischer 210 f., 214–216 Schwanken 42, 46, 96, 161 f., 222, 268 Sedaka (siehe Gerechtigkeit) Sein 76–82, 95–97, 171–173, 193–198, 217– 220, 249–267 –, bloß imaginiertes 79 –, objektives 256 –, putatives 79, 188 –, transimaginäres, transimaginatives, transphänomenales 78–81, 83, 85, 91, 93, 195, 219 –, wahres 76, 82, 95, 97, 105, 117, 165, 219 f., 256 Sein im Bilde 61, 69, 180

Sein selbst (= Sein in sich selbst) 6, 36 f., 41, 49, 59, 61, 64–66, 74, 76–79, 81 f., 84 f., 93, 95–97, 101, 105, 110, 119, 123– 125, 135, 139, 172, 188, 193–195, 206, 214, 218, 220, 224 Seinsbild 42, 66, 84 f., 89, 94, 131, 141 Selbstbestimmung 84, 118, 145, 169, 171, 174 f., 185–187, 201 Selbstbewusstsein 76, 173 Selbstlegitimation 125, 140 Selektion 98 f. Setzung 44 f., 118, 160, 170, 173–175, 191, 225, 235 f., 241 f., 250, 268, 270 f., 276 –, willentliche 160 Sichbehauptung 23, 25 f., 28, 30, 36, 39, 59, 72, 88 Sichbilden 87, 89, 107, 147, 151 f., 159, 215 Sichbegründen 132, 136 Sicheinlassen 151 f. Sichgeltendmachen 165, 169, 171, 173, 178 Sichgeltendsetzen 161, 164, 167, 171 Sichsehen 27, 76 Sinneseindruck 274 Sistenz 254 f., 268, 276 solipsistisch 206 f. Sollen, das 143 f., 146, 159, 265, 279 –, Geltensollen 25, 41, 148 f. Soll 130, 139, 143 f. Spontaneität 117, 151, 209 Sprache 30, 78, 206, 239, 253 Status 42–46, 55, 81, 95, 99, 101, 105, 151, 189, 270 Stellungnahme 50, 145, 147, 154, 193, 210, 216 Subjekt-Objekt 28, 76, 82 Supposition (Hypothesis) 50, 52, 54, 58, 105, 149, 162 f. Suspension 106 Synthesis 11–14, 16, 21 f., 24 f., 29 f., 35, 40, 42, 44–47, 49–52, 54–56, 66, 72 f., 95, 111–113, 120, 123, 154 f., 165, 169 Systasis 25, 29, 111 f. System 89, 257, 269–271, 273, 279 Tat 169, 176 f., 185, 240, 284 f. Tathandlung 169, 174, 176, 178 Täuschung 190, 218 Teilerkenntnis 99

Sachregister

Totalität 272, 274 Transzendentalphilosophie 197, 247, 277 f., 281, 283 Trieb 205, 274 Übergang 114, 117, 174–176, 188, 202, 243, 245, 272 Überprüfung 94, 105 Überzeugung 79, 206 Unbestimmtheit 174, 185–187 Ungewissheit 48, 279 Universum 207 Unmittelbarkeit 61, 73, 75, 78, 82, 122–124, 141, 163 Unterstellung 50 Unverbindbare 111 Unwandelbarkeit 136 Unwahrheit 52, 54, 74, 91, 101, 113, 117 Ursache/Wirkung 132, 174 f., 191, 198, 201, 203 f., 235, 238–240, 243, 254, 257– 261, 264, 267, 275 Urteil 25, 45, 57, 96 Urteilskraft 8 f. Valenz 38, 81, 84–87, 89, 92, 94 Verfahrensweise 207, 219, 279 Vergangenheit 201, 213 f., 272, 284 Verhältnis 11 f., 14–16, 31, 35–37, 46, 78, 93, 95, 144, 151, 165–167, 191, 193, 203 f., 206 f., 234, 237, 239, 241, 250– 253, 255–258, 260, 262, 264 –, Ante- und post-hoc-~ 236 –, Grund-Folge-~ 188, 235 f., 239, 241, 246, 249 f. –, Implikations~ 237 –, Seele-Leib-V~ 243 –, Ursache-Wirkung-~ 238 f., 257 Verifizierbarkeit 6 Verneinung 36 Vernunft, 40 f., 90, 115 f., 190, 208, 229, 247 –, reine 42, 103 Verschränkung von Faktizität und Notwendigkeit 124 Verständnis 22, 87, 203, 239 Verwirklichung (siehe auch: Realisation) 9, 35, 37, 54, 56 f., 67, 84, 87, 98, 113, 118, 134, 143, 150 f., 173, 178–180, 199, 228 f.

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Vollzug, freier 53, 86 –, des Arguments 90 Vorbegriff 59–62, 64, 72, 94 Vorstellen 21, 25, 61, 93, 104, 158, 176, 178, 195–197, 199, 202 f., 226, 250–253, 256, 262. Vorstellung 12–14, 27, 61, 66, 76, 98, 106, 111, 126, 176, 195–197, 204, 235, 239, 242, 247 f., 251, 253, 255 f., 259 Wähnen 72, 74, 119, 180 f. Wahrheit 8–17, 38–55, 134–136, 139–146, 160–166, 193 f. –, Emanenz der 220 –, Voraussetzung der 82, 86, 88, 120, 122 – als Wert 52, 57 f., 84, 87, 118, 144 Wahrnehmung 206, 246, 253 –, sinnliche 251, 274 Wahrsein 47, 54, 136, 139 Weisheit (siehe: sagesse) 279 Welt 206 f., 233, 245 –, Außen- 207, 214 f., 265 –, gemeinsame objektive 207 Werden 188 f., 196, 236, 243, 257, 268, 272 Wert, Werten 17 f., 42, 52 f., 56–58, 64, 80, 84, 87, 91, 96, 118, 123, 134 f., 144, 221, 227–229, 265 Wertung 17–19, 209, 212, 222 Wesenheit 130, 136, 170, 182, 232, 245 f., 256, 269 Widerspruch 46–48, 72, 91, 101, 123, 126 f. Widerstreit 101 f., 162 Wille 19, 47, 50, 52–54, 56 f., 71, 85, 130 f., 134–136, 144, 148, 155, 159 f., 162 f., 167 f., 187, 197, 200 f., 205, 212, 240, 254–256, 263, 267, 273 f., 281 f. –, fremder 256 –, wertimmanenter 134, 140 Wille-in-actu 254–256, 281 Willensakt 5, 50, 54, 73, 84 f., 131, 159, 167, 179, 224 Willensbekundung 13, 17–19, 42 Willensbildung 151 Willkür 58, 89 f., 96, 99, 143 Wirken (siehe auch Bewirken, Erwirken) 113, 170, 178, 180, 241, 248, 252–260, 268 Wirklichkeit 47, 79, 177, 182, 189 f., 213 f., 221, 226, 256, 277, 279, 281 f.

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Sachregister

Wirkzusammenhang 253 Wirkung (siehe auch Einwirkung) 132, 174– 176, 198–200, 203, 205, 211, 240 f., 253, 255, 257 f., 268, 272 Wissen, das 34 f., 38, 40, 61, 73 f., 93, 97, 180, 193, 219 f., 276 Wissensbild 36, 79, 81, 83–88, 93–95, 117, 123 f., 170 f., 193, 219 f. Wissenschaftlichkeit 101 Wollen 11–13, 38 f., 47, 53 f., 57, 71, 98, 109, 113, 119 f., 133, 139, 145, 149, 151, 154, 159, 163, 167, 177, 180, 183, 187, 189 f., 192, 195–197, 200–204, 209–214, 219, 221, 224, 227, 229, 241, 246, 252–257, 261 f., 265–267, 274, 280–282 –, reales 196

Zeichen 22, 25, 113, 208, 285 Zeit 45, 191, 233–238, 240, 250 f., 258, 260, 265, 268, 271–273, 275 f., 282, 284 Zeitfolge 238, 271, 273 Zirkel im Denken 66 Zukunft 212 f., 234, 272, 284 Zusprechen 244 Zurücknahme 50 Zuwendung 150 f. Zwang 100, 130–132, 238 Zweck 68, 84, 104 f., 108–110, 143, 168, 202, 206 Zweckgebilde 84 Zweifel (siehe auch Problem) 6, 44, 46 f., 52, 55, 57, 59 f., 66 f., 72, 81, 93 f., 96, 102 f., 105, 114 f., 117, 119–122, 124, 161, 219, 256, 259, 268 f., 279