Theoretische Perspektiven und Gegenstände der Buchforschung: Ein interdisziplinäres Handbuch 9783110745030, 9783110744972

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Theoretische Perspektiven und Gegenstände der Buchforschung: Ein interdisziplinäres Handbuch
 9783110745030, 9783110744972

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I Buchforschung
Theoretische Perspektiven und Gegenstände
II Buchartefakte
II.1 Materielle Semantiken
II.2 Gestaltung
II.3 Typisierung
III Buchnutzung
III.1 Lesen
III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung
III.3 Kulturelle Praktiken des Buchgebrauchs
IV Bücher im Medienkontext
IV.1 Intermedialität
IV.2 Mediensysteme
IV.3 Medienwandel
V Organisation und Strukturen der Buchkommunikation
V.1 Buchökonomie
V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel
V.3 Verbände, Vereine und Organisationen des Buchhandels
V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung
VI Institutionalisierung des Buchs
VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik
VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen
VI.3 Stützungssysteme
VII Soziokulturelle Leistungen von Büchern
VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe
VII.2 Vergemeinschaftung
VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis
VIII Makroskopische Perspektiven der Buchforschung
VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation
VIII.2 Transformation und Kontinuität in Buch- und Lesekulturen
VIII.3 Internationale Vergleiche von Buchund Lesekulturen
Autor*innen
Register
Gegenstände der Buchforschung
Theoretische Perspektiven der Buchforschung
Begriffe aus der Buchforschung
Personen

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Theoretische Perspektiven und Gegenstände der Buchforschung

Theoretische Perspektiven und Gegenstände der Buchforschung Ein interdisziplinäres Handbuch Herausgegeben von Axel Kuhn und Ute Schneider

ISBN 978-3-11-074497-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-074503-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-074513-9   Library of Congress Control Number: 2023936811   Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.   © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston   Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck   www.degruyter.com

Vorwort Bücher gelten für viele Menschen als kulturell wertvoll und sind vielfältig in ihre Lebenswelten eingebunden, sei es in der Kindererziehung, der Aus- und Weiterbildung, der tagtäglichen Arbeit, im Zusammenhang mit unterschiedlichen Hobbies oder zum Zeitvertreib. Bücher sind bereits in den antiken Hochkulturen ein wesentlicher Bestandteil von komplexen Gesellschaften und Elemente ihrer hervorgebrachten Strukturen, Praktiken und Lebensweisen. In der Buchgeschichte gibt es deshalb kleine und große Bücher, dünne und dicke Bücher, leichte und schwere Bücher, handgeschriebene, gedruckte oder programmierte Bücher, Fach- und Sachbücher, Romane, Biografien, Kinder- und Jugendbücher, wissenschaftliche Handbücher, Tontafeln, Buchrollen, Kodizes, E-Books, Buch-Apps und vieles mehr, was unter den Begriff ‚Buch‘ subsummiert werden kann. Sicher ist, dass Bücher in all ihren Formen immer eine Bedeutung im Leben von Menschen hatten und haben, obwohl sie heute, z.  B. im Vergleich zu Fernsehen, Videostreaming, Games, Podcasts oder Social Media, individuell und in gesellschaftlichen Debatten inzwischen weitgehend unreflektiert und ‚selbstverständlich‘ sind. Dabei durchziehen Literalität, Lesen und Bücher als sogenannte ‚Totalphänomene‘ heute alle gesellschaftlichen und kulturellen Teilbereiche und sind eine Grundlage der modernen Gesellschaft, auch und gerade im Kontext der zunehmenden Globalisierung, Digitalisierung und Mediatisierung unserer Lebenswelten. Buchforschung ist in diesen Zusammenhängen ein komplexes und transdisziplinäres Feld, das in vielfältigen wissenschaftlichen Disziplinen, wie z.  B. den Geschichtswissenschaften, den Literaturwissenschaften, den Medien- und Kommunikationswissenschaften, in Psychologie und Pädagogik sowie den Wirtschaftswissenschaften und der Soziologie, reduziert auf einzelne Phänomene und über in sich geschlossene theoretische Perspektiven, bearbeitet wird. Dabei fehlt es bis heute an einem konstruktiven und diskursiven, interdisziplinären Austausch über die Nützlichkeit der verschiedenen und teils konkurrierenden theoretischen Ansätze und Gegenstandsbestimmungen, und damit an einem forschungsleitenden Rahmen zur Verknüpfung der unterschiedlichen disziplinären Ergebnisse und Erkenntnisse. Der buchwissenschaftliche Ursprung dieses Handbuchs, welches das komplexe interdisziplinäre Feld der Buchforschung erstmals gegenstandsbezogen systematisiert und die jeweiligen theoretischen Perspektiven in ihrem Nutzen für einzelne Fragestellungen aufzeigt und diskutiert, liegt im gegenüber den Herausgeber*innen vielfach geäußerten Wunsch von Buchforschenden nach einer gemeinsamen Ausgangsbasis für kooperative Forschung über Disziplingrenzen hinweg. Den Anspruch eines Handbuchs erfüllt der vorliegende Band dabei nur zum Teil, denn ‚gesichertes‘ Wissen der Buchforschung steht neben theoretischen und https://doi.org/10.1515/9783110745030-201

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 Vorwort

gegenstandsbezogenen Desideraten, die in Zukunft gemeinsam bearbeitet werden müssten. Gerade hier liegt somit auch das Potenzial des Handbuchs, denn es bietet als transdisziplinäre Schnittstelle nicht nur theoretische Ansätze einer kollaborativen Buchforschung und damit Ansatzpunkte für detailliertere Erkenntnisse zu literalen Kulturen, sondern auch eine gegenstandsbezogene Übersicht zu offenen Fragestellungen und theoretischen Konturierungen, die nur in interdisziplinärer Zusammenarbeit gelöst werden können. Dieses Handbuch richtet sich als Werkzeug deshalb übergreifend und disziplinär unabhängig an alle Studierenden, Lehrenden und Forschenden, die etwas über Bücher und literale Kulturen wissen oder die mit ihnen verbundenen Phänomene erforschen wollen. Mit der theoretischen Perspektivierung ist es darüber hinaus für alle theoretisch arbeitenden Medien- und Kommunikationsforscher interessant, da es anhand von Büchern Theorien und Gegenstände expliziert sowie in ihren Möglichkeiten und Grenzen konturiert. Das Handbuch ist in acht Sektionen unterteilt, die nach einer Einführung in die theoretischen Perspektiven und Gegenstände der Buchforschung einer groben Erweiterung von mikro- zu makroskopischen Forschungsfeldern folgt. Die einzelnen Beiträge der Sektionen folgen einerseits den klassischen Themen der Buchforschung, andererseits werden aber auch weniger beleuchtete Felder diskutiert. Deren Berücksichtigung soll zugleich Richtungen und Entwicklungen aufzeigen, in die die aktuelle Buchforschung tendiert. Alle Beiträge folgen dabei einer gemeinsamen Grundstruktur: Zunächst wird der Gegenstandsbereich über die dort erforschten Themen und wichtigsten Fragestellungen konturiert. Diese werden exemplarisch über beispielhafte Forschung und vorliegende Ergebnisse veranschaulicht. Anschließend werden relevante theoretische Perspektiven in ihren Grundideen, zentralen Begriffen und Konzepten im Zusammenhang mit dem jeweiligen Forschungsfeld diskutiert. Zum Schluss folgt eine kritische Einschätzung bereits genutzter oder potenzieller theoretischer Perspektiven im jeweiligen Forschungsfeld, insbesondere auch im Hinblick auf ihre interdisziplinäre Anschlussfähigkeit und die Erschließung zentraler Desiderate. Da sich die einzelnen Forschungsfelder in ihrer historischen Entwicklung, ihrer disziplinären Berücksichtigung, ihrer bisherigen theoretischen Unterfütterung, ihrer empirischen Erforschung sowie in ihren Gegenstandsdimensionen teilweise stark unterscheiden, sind Beiträge nicht nur unterschiedlich lang, sondern setzen auch auf unterschiedlichen Ebenen von Theorien und Gegenstandsbestimmungen an. Dies stellt indes kein Manko dar, sondern zeigt vielmehr den notwendigen Diskurs der Buchforschung um deren Perspektivierungen und Desiderate auf. Um den hohen Anspruch an die Qualität eines solch komplexen Handbuchs zu erfüllen, haben wir unseren Autor*innen und uns selbst einiges zugemutet: vorbereitende gemeinsame Workshops Ende 2021, mehrfach zu überarbeitende strukturelle Konzeptpapiere, umfassende kritische Durchsichten der Konzeptpapiere

Vorwort 

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und Beitragsentwürfe durch andere Autor*innen sowie teilweise pedantische Überarbeitungs- und Aktualisierungswünsche durch uns selbst. Für die Bereitschaft, Begeisterung und Geduld unserer Autor*innen, sich der schwierigen Aufgabe der interdisziplinären theoretischen Perspektivierung und den damit verbundenen Ansprüchen zu stellen, möchten wir uns herzlich bedanken, auch weil wir hierdurch selbst viele Erkenntnisse hinzugewinnen konnten. Darüber hinaus gilt unser Dank dem De Gruyter Verlag, der dieses Handbuch vom ersten Gespräch an ideell und finanziell unterstützt hat, Dr. Anja-Simone Michalski und Dr. Julie Miess, die den Herausgeber*innen jederzeit mit Rat und Tat zur Seite standen und das Handbuch organisiert und gestaltet haben, sowie Anna-Lena Roll, JGU Mainz, die einen Großteil des sprachlichen und formalen Korrektorats alleine gemeistert hat. Wir hoffen mit diesem Handbuch ein nützliches Werkzeug für die Buchforschung in ihren interdisziplinären Kooperationen bereitstellen zu können und freuen uns auf den davon ausgehenden transdisziplinären Austausch. Erlangen und Mainz im März 2023, Axel Kuhn und Ute Schneider

Inhaltsverzeichnis Vorwort 

 V

I  Buchforschung

Theoretische Perspektiven und Gegenstände (Axel Kuhn und Ute Schneider)   3

II

Buchartefakte

II.1 Materielle Semantiken (Katharina Walter)   49 II.2 Gestaltung (Nikolaus Weichselbaumer)   68 II.3 Typisierung (Christoph Benjamin Schulz)   84

III

Buchnutzung

III.1 Lesen (Gerhard Lauer)   109 III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung (Axel Kuhn und Ute Schneider)   134 III.3 Kulturelle Praktiken des Buchgebrauchs (Sandra Rühr) 

IV

 162

Bücher im Medienkontext

IV.1 Intermedialität (Irina Rajewsky)   187 IV.2 Mediensysteme (Svenja Hagenhoff)   208 IV.3 Medienwandel (Peter Gentzel)   229

V

Organisation und Strukturen der Buchkommunikation

V.1 Buchökonomie (Heiko Hartmann)   251 V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel (Ute Schneider)   279 V.3 Verbände, Vereine und Organisationen des Buchhandels (Marco Thomas Bosshard)   298 V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung (Christian Meierhofer)   314

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VI

 Inhaltsverzeichnis

Institutionalisierung des Buchs

VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik (Philip Ajouri)  VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen (Claas Friedrich Germelmann und Jan Eichelberger)   351 VI.3 Stützungssysteme (Ina Brendel-Kepser)   385

VII

Soziokulturelle Leistungen von Büchern

VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe (Heinz Bonfadelli)  VII.2 Vergemeinschaftung (Axel Kuhn und Sandra Rühr)  VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis (Petra Feuerstein-Herz)   464

VIII

 335

 405  428

Makroskopische Perspektiven der Buchforschung

VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation (Svenja Hagenhoff)   493 VIII.2 Transformation und Kontinuität in Buch- und Lesekulturen (Ute Schneider)   528 VIII.3 Internationale Vergleiche von Buch- und Lesekulturen (Christoph Bläsi und Dörthe Fröhlich)   556 Autor*innen 

 584

Register Gegenstände der Buchforschung   591 Theoretische Perspektiven der Buchforschung  Begriffe aus der Buchforschung   610 Personen   618

 604

I Buchforschung

Theoretische Perspektiven und Gegenstände Axel Kuhn und Ute Schneider 1 Problemstellung Theoretische Perspektiven auf bestimmte Gegenstände sind immer dann notwendig, wenn beobachtbare Phänomene so komplex werden, dass sie über alltägliche Sprache nicht mehr im Detail und ihren Zusammenhängen dargestellt oder erklärt werden können. Hierzu bilden sie deren empirische Wirklichkeit abstrahiert und konsistent als formal-sprachliche Modelle aus Begriffen und Beziehungen ab, um diese übergreifend und vergleichbar zu erfassen und allgemein gültige Erklärungen zu erzeugen. Komplexe Begriffe und Sprachkonstruktionen (‚Eigenkomplexität‘) werden dabei zu Werkzeugen von Erkenntnishorizonten, denn zu starke Vereinfachungen führen nur zu oberflächlichen Erkenntnissen, z.  B. dass Lesen wichtig oder ‚das‘ Buch kulturell wertvoll ist. Ein Handbuch zu theoretischen Perspektiven verweist somit auf jenen Teilbereich der Buchforschung, der sich mit ihren theoretischen, modellbildenden Fragestellungen beschäftigt und diskutiert hierzu Begriffe, Modelle und Paradigmen. Gleichzeitig konturiert und systematisiert dieses Handbuch damit auch die (abstrahierten) Gegenstände der Buchforschung in ihren relationalen Beziehungen, bietet aber keine eigenen Analysen der mit ihnen verknüpften empirischen Phänomene (Balzer und Brendel 2019: 3). Buchforschung ist dabei mitnichten durch ‚das Buch‘ als Ding oder Medium bestimmt, sondern durch all jene geschichts- oder gegenwartsbezogenen Fragen, Phänomene und Beobachtungen, die im Zusammenhang mit einem weiten Buchbegriff bzw. einer literalen Kultur (siehe Abschnitte 3.1 und 4.1) als erklärungsbedürftig oder problematisch wahrgenommen und als Gegenstände der Forschung ausgewählt wurden und werden. Da diese wiederum nicht so ideell isoliert und distinktiv sind, als dass eine wissenschaftliche Disziplin sie allein ihr Eigen nennen kann (allgemein zur Unmöglichkeit disziplinärer Gegenstandsabgrenzung Bourdieu 1975: 32), bietet sich der offene Begriff der Buchforschung an, der es ermöglicht, alle an sie angrenzenden Formulierungen von Gegenständen als Teilbereiche unterzuordnen und damit auch disziplinär unabhängig zu definieren (Finger 1987: 591). Theoretische Perspektiven und Gegenstandsbereiche bestimmen in ihren jeweiligen historischen Ausprägungen zusammen nicht nur die Art und Aussagekraft der in der Buchforschung erhobenen empirischen Daten, sondern vor allem ihre Interpretationen in den alltäglichen Forschungs- und Lehrpraktiken verschiedener Disziplinen sowie der Buchwissenschaft selbst (zu letzterer siehe Abschnitte 2.4 und https://doi.org/10.1515/9783110745030-001

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 Theoretische Perspektiven und Gegenstände

4.2). Sie können in ihrer Entwicklung selbst theoretisch über Wissenschaftstheorie und -geschichte modelliert werden: Während erstere hilft, Buchforschung in ihren Voraussetzungen und Erkenntnisformen abstrakt zu beschreiben und ihre Abhängigkeiten zu verstehen, hilft zweitere insbesondere beim Verständnis der Entwicklung von akzeptierten Theorien und Gegenständen unter dem Einfluss historischer Normen, Diskurse, Strukturen und der daraus folgenden Wissensproduktion. Die für dieses Handbuch und seine Konzeption von Buchforschung wesentlichen wissenschaftstheoretischen Paradigmen entstanden spätestens mit der von der Soziologie ausgehenden konstruktivistischen Wende der 1960er und 1970er Jahre zum konstruktiven (statt ‚wahrem‘) Charakter von Erkenntnis. Bereits Émile Durkheim hatte früh begründet dargestellt, dass jegliche Wahrnehmung von Raum, Zeit oder Kausalität sozialen Einflüssen unterliegt und sich daher nur abhängig von vorherrschenden sozialen Strukturen vollziehen kann. Ludwik Fleck (1980 [1935]: 146–189) stellte unter dieser Prämisse die positivistische und realistische Betrachtung der linearen Erkenntniserweiterung bereits 1935 in Frage, als er Denkstile und Denkkollektive als wesentliche Einflussfaktoren der wissenschaftlichen Genese von Erkenntnissen untersuchte. Er kam zum Schluss, dass wissenschaftliche Gemeinschaften und ihre spezifischen Strukturen bestimmte wissenschaftliche Perspektiven hervorbringen, welche Erkenntnisformen ermöglichen, einschränken oder verhindern können. Auch die bekannteren soziologischen Betrachtungen des Wissenschaftsbetriebs unter dem Einfluss institutioneller Voraussetzungen von Robert  K. Merton (1973 [1942]) bestätigten, dass wissenschaftliche Erkenntnisse davon abhängen, wie bestimmte Disziplinen in soziale Ordnungen eingebettet sind. Pierre Bourdieu (1975: 19) stellt in diesen Zusammenhängen letztlich fest, dass konkrete Forschungspraktiken immer ein Produkt ihrer Umwelt und der jeweils geltenden Strukturen, Funktionsweisen und Machtverteilungen der Wissenschaft sind. Theoretische Perspektiven und Gegenstände der Buchforschung sind somit soziale Konstruktionen und daher weder universell wahr noch zeitlos relevant. Daraus folgt weiterhin, dass theoretische Perspektiven und Gegenstände der Buchforschung stets historische Konstruktionen sind, die nur für bestimmte Zeiträume beschrieben werden und von Diskontinuitäten geprägt sein können. Die diachrone Wissenschaftsphilosophie (bzw. der konsequente Historismus) von Thomas S. Kuhn (1988), die den lange vorherrschenden logischen Empirismus von Karl Popper (2007 [1934]) ablöste, wird somit zur Grundlage jedweder Bestandsaufnahme und Analyse der Buchforschung: Nach Kuhn sind theoretische und methodische Perspektiven bestimmter Wissenschaften immer nur in ihren historischen Dimensionen zu verstehen (Historisierung), und somit über die Rekonstruktion ihrer jeweilig spezifischen Wissenschaftsgeschichte. Die Entwicklung von Forschungsfeldern und -programmen sowie wissenschaftlichen Disziplinen folgen hierbei einem zyklischen Phasenmodell, in dem normale Phasen durch Anomalien

2 Geschichte der Buchforschung 

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herausgefordert werden und sich dann verändern oder aufhören zu existieren. Buchforschung lässt sich deshalb nicht als evolutionäre Erweiterung ihrer Erkenntnisse beschreiben, sondern nur als ständige Reformulierung ihrer Wissensbestände und Erkenntnisziele (Hoyningen-Huene und Lohse 2012: 74), die über Selektionen von Gegenständen und theoretischen Perspektiven konturiert werden. Buchforschung unterliegt daher generationalen Perspektiven genauso wie temporären Moden: In bestimmten Zeitspannen sind bestimmte Annahmen, Gegenstände, theoretische Perspektiven und Methoden maßgeblich für ihre Leistungen. Zusammen mit allgemeinen wissenschaftlichen Normen bilden sie grundlegende zeithistorische Paradigmen, z.  B. in Form begrenzter Symbolsysteme des Buchs (‚Bücher sind immer Artefakte‘), der eingeschränkten Modellierung ihres Gegenstands (‚Buch = Kodex‘), einflussreicher Werthaltungen zu ihrem Gegenstand (‚Das Buch ist ein Kulturgut‘) oder typischer und nicht hinterfragter Grundlagen (‚Produktion, Distribution und Rezeption bilden die Wertschöpfungskette des Buchhandels‘), auch wenn diese nicht (mehr) die empirische Realität erfassen. Zusammen bestimmen Paradigmen jedoch, was in bestimmten Zeitspannen im Zusammenhang mit Büchern zu untersuchen ist und wie dies zu erfolgen hat. Dieses Handbuch ist somit allein durch seine Existenz und die Beschreibung der Gegenstände und Perspektiven Teil der Konstruktion der gerade aktuellen und akzeptierten Buchforschung.

2 Geschichte der Buchforschung Buchforschung in ihren theoretischen Perspektiven und Gegenständen ist mit diesen Prämissen das Ergebnis ihrer historischen Entwicklung und Institutionalisierung im Wissenschaftssystem, welche unterschiedliche Forschungspraktiken hervorgebracht hat und bringt. Eine wissenschaftssoziologisch bzw. wissenschaftstheoretisch fundierte historische Analyse der Buchforschung mit ihren relevanten Akteuren, Praktiken und Machtstrukturen steht nach wie vor aus, chronologische Überblicksdarstellungen ihrer Wissenschaftsgeschichte finden sich bei Rautenberg (2010) und Füssel (2014b). Im Folgenden wird darauf aufbauend ein Überblick über verschiedene historische Phasen der Buchforschung gegeben, immer im Hinblick auf dort relevante theoretische Perspektiven und Gegenstände.

2.1 Von der Bücherkenntnis zur Buchkunde Betrachtet man Buchforschung in der Entwicklung der Wissensgesellschaft (zu Konzept und Kritik Böschen 2017), ist sie in der Frühen Neuzeit durch die Etablierung als eigenständige wissenschaftliche Wertsphäre mit autonomen (religiös und

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 Theoretische Perspektiven und Gegenstände

politisch unabhängigen) Referenzprinzipien, zum Beispiel allgemein akzeptierte Theorien und abgeschlossene wissenschaftliche Leistungen, zur Validierung ihrer Erkenntnisse geprägt. Dies lässt sich entlang ihrer Begrifflichkeiten nachvollziehen, die auf erste gegenständliche und theoretische Konturierungen hindeuten (zur vorherigen gelehrten, aber nicht autonomen Diskussion des Buchdrucks Füssel 2014b). Historische Linien der Buchforschung finden sich spätestens ab dem 17. Jahrhundert unter den Begriffen ‚Bücherkenntnis‘ oder ‚Bücherkunde‘ in Buchtiteln der Aufklärung. Ihre Definitionen entstanden als erste Kritik an scholastischen Traditionen im Rahmen der Vorläufer des späteren Historischen Positivismus und dessen Forderung, dass die sinnliche Wahrnehmung die Grundlage von Philosophie und Wissenschaft sein müsse. Der Wiener Bibliothekar Michael Denis definierte beispielsweise in seiner Einleitung in die Bücherkunde (1795) die Geschichte und äußere Gestalt eines Buchs sowie die kritische Beurteilung seines Inhalts als ‚Bücherkenntnis‘, ohne die weder die Kompilation des Tradierten noch die Erarbeitung neuer Wissensbestände möglich sei. Bücherkenntnis beschreibt hier mit einer quantitativ wachsenden Druckproduktion die Anforderung an die Gelehrten, in ihren wissenschaftlichen Arbeiten auf bereits vorhandene Arbeiten Bezug zu nehmen sowie in deren Kontext gegenseitig Bewertungen wissenschaftlicher Werke zur Orientierung zu verfassen. Beides wurde in der modernen Wissenschaft in Form von Rezensionen und Reviews ein formales Merkmal wissenschaftlicher Praxis. Einen qualitativen Sprung der theoretischen Konturierung der Buchforschung formuliert der Braunschweiger Professor für Gelehrtengeschichte, Dichtkunst und Beredsamkeit Johann Joachim Eschenburg, der etwa zur gleichen Zeit eine ganz ähnliche Definition der Bücherkunde vorlegte: In seinem Vorlesungsmanuskript Grundriß einer Anleitung zur Bücherkunde (1792; zitiert aus der Edition von Graf 1992) weist er darauf hin, dass das Wissen um die Geschichte eines Buchs auch immer die „summarische Bekanntschaft mit seinem Inhalt, mit dem Verhältnisse, womit die Bearbeitung seiner Materie zu der ganzen Wissenschaft steht, wozu es gehört; […] mit dem Grade des Einflusses, des es auf die Literatur und das Publikum gehabt hat“, einschließen muss (Graf 1992: 44). Er weist einer allgemeinen Bücherkunde damit erstmals theoretische Autonomie zu, denn diese „lässt sich […] auch im Allgemeinen abhandeln, ohne auf die besondern Schriften jeden Fachs Rücksicht zu nehmen; und nur in dieser Allgemeinheit ist sie unser gegenwärtiger Zweck“ (Graf 1992: 21). Er führt weiter aus, dass sich Bücherkunde sowohl „mit dem Äußern der Bücher, ihrer Entstehung, ihrer Einrichtung, Umstände und Schicksale, oder mit ihrem Innern, u. dem Werthe – der in ihnen enthaltenen Gegenstände und deren Behandlungsart beschäfftigen“ sollte (Graf 1992: 21). Die äußere Bücherkenntnis (heute: Materialität und / oder Medialität) begründete er damit, dass sie stets mit der inneren (Inhalt) verknüpft sei und letztere deshalb befördere. Die historische

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Kenntnis der Bücher, die bis dahin den praktischen Kenntnissen der Buchhändler zugeschrieben wurde, wird von Eschenburg somit in eine profunde, theoretisch fundierte Bücherkenntnis integriert, die von der Analyse des singulären Buchs Abschied nimmt und sich der Analyse des Buchs als Publikationsform und ihrer Geschichte zuwendet. Darüber hinaus formulierte er mit der Wirkungsgeschichte einen weiteren Gegenstandsbereich der Buchforschung, der neben Historia und Kritik Beachtung finden solle. Zu untersuchen sei für das Buch die „Aufnahme, die es bei seiner ersten Erscheinung sowohl, als in der Folge, gefunden hat“ und der „Grade des Einflusses, den es auf die Literatur und das Publikum gehabt hat“ (Graf 1992: 42). Die hier erstmals als autonom verstandene, wissenschaftliche Bücherkunde wird somit über die Integration historischen und materiellen Faktenwissens, kritischem Urteilsvermögen und Analyse der Wirkungen von Büchern auf Leser*innen und die Gesellschaft begründet. Mit dieser theoretischen Perspektivierung des Buchs als soziokulturelles Publikationsformat stellte Eschenburg die Weichen für die Konstruktion einer unabhängigen Buchforschung. Dabei finden sich in Eschenburgs Vorlesung noch weitere wesentliche Gegenstände ihrer späteren Konturierung: So differenzierte er statt der zwei traditionellen methodischen und erkenntnistheoretischen Zugangsweisen vier analytische Kategorien zur Einteilung von Studien zur Bücherkunde (Graf 1992: 26): Unter der ‚historischen‘ Kategorie subsummiert er Studien zur Wirkungsgeschichte von Büchern und zur Entstehung und Geschichte des Bücherwesens insgesamt. Eine ‚technische‘ Kategorie bezieht sich auf die Erforschung der Drucktechnik sowie der buchkünstlerischen Gestaltung von Hand- und Druckschriften. Die ‚charakteristische‘ Kategorie erfasst Merkmale und Kriterien zur Beurteilung des Inhalts und der äußeren Gestalt von Büchern. Studien der ‚bibliothekarischen‘ Kategorie berichten schließlich historisch und aktuell über die Anlage und Einrichtung von Büchersammlungen. Bücherkenntnis und Bücherkunde werden im 20. Jahrhundert durch den häufiger verwendeten Begriff ‚Buchkunde‘ abgelöst, um Buchforschung und ihre Gegenstände zu umschreiben. In der ersten Auflage des Lexikons des gesamten Buchwesens von 1935 schreibt Georg Schneider (1935: 287) noch: „Buchkunde, auch Bücherkunde genannt“ umfasse „das gesamte Wissen vom Buch“, und meinte damit „Buchwesen oder […] Bibliographie im weiteren Sinne“: Buchgewerbe, Bibliothekswesen, Bibliophilie, Urkundenlehre, Literaturgeschichte. Die ab 1959 über 40 Jahre hinweg mehrfach aufgelegte Buchkunde von Fritz Funke wurde in der ersten Auflage als Lehrbuch für den Nachwuchs an wissenschaftlichen Bibliotheken (1959) konzipiert, in der sechsten Auflage dann als Überblick über die Geschichte des Buchs (1999). Funke (1959: 5) versteht Buchkunde als „eine historisch darstellende wissenschaftliche Disziplin […], die den das Buch betreffenden Wissensstoff umfaßt“ (Vorwort). Hierzu gehören „die Schriftgeschichte, die Geschichte der Beschreib­stoffe, der Schreib-

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 Theoretische Perspektiven und Gegenstände

werkzeuge und der Schreiber selbst; ferner die Geschichte des Buchdrucks und der dazugehörigen Gewerbe und Erfindungen […]; schließlich die Geschichte der Formen und der Ausstattung des Buches.“ „‚Buchkunden‘ umfassen im Einzelnen die Handschriften-, Papier-, Wasserzeichen- und Einbandkunde, die Makulaturforschung, Paläografie und Typenkunde sowie die Bibliografie. Ziel dieser, heute auch mit digitalen Methoden betriebenen (Digital Humanities), Forschungen am Material ist es, Handschriften, Bücher, Einblattmedien etc. zu beschreiben, zu datieren und mit Entstehungsort oder Produzenten zu verbinden; auf dieser Basis erstellte Repertorien und Kataloge dienen der Ordnung der Sammlung und dem Wiederfinden der Objekte“ (Rautenberg 2018: 147). Buchkunde wird dabei als Grundlage der materiellen Geschichte der literarischen Überlieferung verstanden (siehe VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis in diesem Band). Eine theoretische Weiterentwicklung, was Buchforschung ausmacht, bleibt mit den Begriffen ‚Buchkunde‘ und ‚Buchwesen‘ jedoch völlig aus. Dies zeigt sich auch an den deskriptiven Diskussionen und Aufzählungen typischer Themengebiete zu Ungunsten einer medialen oder funktionalen Reflexion des Buchs, und dem gänzlichen Fehlen wesentlicher Forschungsdimensionen wie Distribution und Rezeption oder Ökonomie des Buchs.

2.2 Buchforschung als Hilfswissenschaft Mit dem Begriff der Buchkunde etabliert sich deshalb zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Verständnis der Buchforschung als (weitgehend theorielose) Hilfswissenschaft, wie sie bereits historisch in verschiedenen Zweigen der Gelehrsamkeit der Frühen Neuzeit formuliert wurde. Im Mittelpunkt stand immer das Materialobjekt Buch, beginnend mit Fragen nach dem Erfinder der Druckkunst und den ersten Drucken. Ein erstes Feld dieser Art der Buchforschung ist die Bibliografie der Inkunabeln, begründet durch Bernhard von Mallinckrodt (1640), die bis zum 31.12.1500 gedruckt und verbreitet wurden. Neben Fragen zur technischen Herstellung, der Gestaltung und den besonderen materiellen Eigenschaften der Inkunabeln ist Buchforschung hier durch ein grundsätzlich historisches Interesse an Fragen der (europäischen) Überlieferung von gelehrtem und religiösem Wissen und editionsphilologischen Problemen geprägt. Der Humanismus brachte dabei ein Interesse an Problemen der Textüberlieferung in Handschriften seit der Antike hervor. Theoretische Perspektiven bietet die Frühdruckforschung lange Zeit nicht, jedoch etablierte sie als Bibliografie die strikte Trennung von Werkinhalt und formalen Dimensionen der Buchforschung, denn sie ordnete Inkunabeln nach Druckjahr oder Druckort (Panzer 1793–1803). Einen einzelnen Schwerpunkt bilden zudem

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prosopografische Studien zu Johannes Gutenberg und der Technik seiner Erfindung (im Überblick Füssel 2000) sowie zur 42zeiligen Bibel (B42) (exemplarisch Ruppel 1947; Presser 1967; Kapr 1986; Bechtel 1992). Erste theoretische Perspektiven wurden schließlich in den 1990er Jahren entwickelt, besonders einflussreich war Michael Giesecke (1991), der den typografischen Informationskreislauf der Frühen Neuzeit systemtheoretisch konturierte (siehe Abschnitt 3.2). In der Folge wurde die Druckforschung stärker theoretisch in die Schrift-, Buchhandels- und Wissensgeschichte integriert. Mit der Wirkungsgeschichte des Buchdrucks (Füssel 1999a und 1999b) sowie seiner medienwissenschaftlichen Reflexion als Referenzfigur der Medienund Kommunikationsgeschichte (Grampp 2009) etablierten sich zudem neue theoretische Positionen. Die Frühdruckforschung ist gleichzeitig bis heute europäisch und damit international vernetzt organisiert, erweitert um die Erforschung der aus der Frühdruckzeit hervorgehenden europäischen Netzwerke der Verbreitung und des Handels von Materialien (Papier), Technologien und Drucken in der Frühen Neuzeit (z.  B. Bellingradt 2020), wobei zumindest tendenziell auch auf Netzwerktheorien bzw. die Akteur-Netzwerk-Theorie zurückgegriffen wird. Ein zweites Feld der Buchforschung als Hilfswissenschaft ist die Historia literaria (Literärgeschichte): 1704 nahm Burkhard Gotthelf Struve in I­ntroductio in notitiam rei litterariae et usum bibliothecarum erstmals eine theoretische Unterscheidung zwischen historischer (‚librorum notitia historica‘) und kritischer (‚librorum notitia critica‘) Kenntnis eines Buchs vor (Żbikowska-Migoń 1994). Historische Bücherkenntnis wurde als explizite Faktenkenntnis bisher den Buchhändlern zugeschrieben, die den praktischen Umgang mit Büchern pflegten und den materiellen Wert von Büchern kannten. Gegen die praktische Kenntnis der formalen Aspekte eines Buchs grenzte sich die kritische Kenntnis als philologische Textkritik und Geschichte der Textüberlieferung sowie später auch als wissenschaftliche Bewertung des Buchinhalts ab. Hiermit wurde zugleich erstmals eine theoretische Hierarchisierung von Erkenntnis etabliert, denn der historischen Kenntnis wurde lediglich eine propädeutische Funktion als Fundament der kritischen Kenntnis zugewiesen. Dabei verblieb die Historia für Gelehrte des frühen 18. Jahrhunderts zunächst die Kenntnis zu einzelnen Büchern, ihrer Beschreibung und Einordnung. Erst 1752 publizierte Johann Andreas Fabricius Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit, dessen zwölftes Kapitel mit ‚Von den Büchern überhaupt‘ überschrieben ist. Hierin siedelt er die gelehrte Bücherkenntnis sowohl in der Geschichte der einzelnen Disziplinen als auch in einer allgemeinen Gelehrtengeschichte an. Dabei unterscheidet er weiterhin die historische Kenntnis von der gelehrten Kenntnis, erweitert letztere jedoch vom einzelnen Buch auf Bücher im Allgemeinen. Diese definierte er als Wissen über die wichtigsten Werke verschiedener Disziplinen, ihrer Autor*innen und chronologischen Abfolge, und als Fundament jeder Gelehrsamkeit, denn nur so konnten eigene Werke in Form von

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 Theoretische Perspektiven und Gegenstände

Kompilationen oder kritischer Beurteilung publiziert werden. Gegen Ende des 18.  Jahrhunderts wurde das Buch schließlich auch theoretisch übergreifend als Kombination von Inhalt und Form verstanden und Artefakt und Werk als zusammengehörig erforscht. Immer häufiger finden sich Untersuchungen zum Buch als Publikationsformat, seiner Geschichte und Bedeutung in der Überlieferung. Der Gegenstand einer so konturierten Buchforschung stellt zwar weiterhin den Wert der durch Bücher vermittelten Texte in den Mittelpunkt, erkennt sie jedoch als Trägermedien mit Bedeutung für deren Überlieferung an. Folgenreich war und ist allerdings die mit der wissenschaftlichen (und später literarischen) Kritik verbundene Konnotation von Büchern als Träger ‚wahren Wissens‘ und ‚wertvoller Literatur‘, die sich im 20. Jahrhundert fortsetzt: „Die neuzeitliche Überfrachtung des Buchbegriffs mit diffusen Vorstellungen über den ‚Wert‘ von Texten und der Lektüre“ wird zum Horizont „einer Buchnutzungsforschung im Interesse ökonomischer und kulturpolitischer Vorstellungen“ (Rautenberg und Wetzel 2001: 7) (siehe III.1 Lesen und III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung in diesem Band) sowie kultureller Werthaltungen und damit verknüpfter Praktiken gegenüber dem Buch (siehe III.3 Kulturelle Praktiken des Buchgebrauchs in diesem Band). Diese ‚vornormale‘ Phase der Buchforschung ist in der Terminologie von Thomas  S. Kuhn geprägt durch einen fehlenden Konsens über ihre Grundlagen und sie konnte auch deshalb leicht von verschiedenen Disziplinen ‚kannibalisiert‘ werden. So erweiterte die Bibliothekskunde die Buchforschung um theoretische Überlegungen zu geeigneten Aufstellungssystematiken, zur Kategorisierung und Katalogisierung von Hand- und Druckschriften sowie Informationssystemen, die bis heute als Herausforderung gelten (siehe II.3 Typisierung in diesem Band). Aus den Bibliothekswissenschaften hervorgegangen ist auch die Kodikologie (Handschriftenkunde), die sich der Materialität von Handschriften (Beschreibstoffe, Farben, Tinte, Einbände, Buchschmuck etc.), dem Aufbau und der Struktur der Textseite und der gesamten Handschrift sowie deren Inhalt widmet (siehe II.1 Materielle Semantiken in diesem Band). Als Hilfswissenschaft ist diese Buchforschung sowie die Papier- und Wasserzeichenkunde, bis heute auch in der Mediävistik und Kunstgeschichte von Bedeutung, ohne jedoch deren theoretische Perspektiven zu prägen. Eng verwandt hierzu ist auch die Schriftgeschichte, die als Teilgebiet der ­Paläografie auf Schriftsysteme und Schriftformen ausgerichtet ist (siehe II.2 Gestaltung in diesem Band), und bereits mit der Herausbildung der Germanistik zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowie in den Geschichtswissenschaften zur Klärung editionsphilologischer, textkritischer und anderer literaturwissenschaftlicher Fragestellungen zu Handschriften genutzt wurde. Diese Verortung der Buchforschung und ihr Mangel an theoretischen Perspektiven und eindeutigen Gegenständen ist ab dem Ende des 18. Jahrhunderts nur im Kontext des allgemeinen Wandels des Wissenschaftssystems, seiner wichtigsten

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Institutionen und grundlegenden Werte zu verstehen, denn von da ab wurden Aufgaben wissenschaftlicher Forschung, ihre organisatorische Verankerung an Universitäten sowie ihre Bezüge zum Staat und den sich ausdifferenzierenden Systemen der modernen Gesellschaft neu geregelt (Müller-Wille et al. 2017: 12). Die inneren Ausdifferenzierungen der Wissenschaft korrespondierten dabei mit der Differenzierung weiterer gesellschaftlicher Funktionssysteme und wissenschaftliches Wissen jeder Art gewann rapide an Bedeutung (Böschen 2017: 328). Wissen zu Büchern bot hierzu erstens Differenzierungslinien an, mit denen sich Disziplinen voneinander abgrenzen und begründen konnten. Zweitens war es ab der Spätaufklärung zwingend erforderlich, sich von der Autorität überlieferter Texte zu lösen und mit neuen Publikationen den Wissensfortschritt voranzutreiben. Dies setzte wiederum Kenntnisse über Bücher und deren Herstellung, Verbreitung und Archivierung voraus. Drittens diente Bücherwissen den entstehenden Rollen von Intellektuellen, Experten oder Kritikern (Füssel 2017: 281), welche die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft hervorbrachte. Eine transdisziplinäre Aufwertung der Buchforschung erfolgte somit, weil sie sich mit grundlegenden Aspekten einer solchen, als modern verstandenen Gesellschaft auseinandersetzte, die halfen diese zu verstehen, zu analysieren und zu steuern.

2.3 Außeruniversitäre Buchforschung Buchforschung als Hilfswissenschaft wurde als Bibliothekswissenschaft 1886 an der Universität Göttingen institutionalisiert (siehe zum Anteil der Biblio­theks­wis­ sen­schaft an der Buchforschung Koppitz 1989). Ihre folgende Institutionalisierung ist durch das Paradoxon geprägt, dass ihre Formen und Nutzungsweisen an sozialer und wissenschaftlicher Bedeutung gewonnen haben, ihre spezifische Expertise aber gerade aufgrund dieser Expansion immer umstrittener wird (hierzu allgemein Böschen 2017: 328–329). Die besonders in den 1960er bis 1980er Jahren geführten Diskussionen um Buchforschung und -wissenschaft (siehe Abschnitt 2.4, erneut aufflammend in der Gegenwart, siehe Abschnitt  4.2), richten sich entsprechend selten auf die konsensuale Konturierung ihrer Gegenstände oder theoretischen Perspektiven, sondern auf die gewünschte, weil machtvolle Positionierung der Buchforschung in der Gesellschaft und ihre Verankerung in bestimmten außeruniversitären Organisationen, die Buchforschung in unterschiedlichem Interesse betrieben haben (und heute noch betreiben). Ein Beispiel ist das Deutsche Bucharchiv in München, dessen ehemaliger Leiter Ludwig Delp auch deshalb vehement gegen eine autonome Buchwissenschaft argumentierte (z.  B. 1989), weil dessen Gründung damit beworben wurde, die Buchforschung aufgrund der ‚Bedeutung‘ der Buchkultur dort zu bündeln und nicht in objektive (und damit

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diesen Werthaltungen gegebenenfalls widersprechende) akademische Disziplinen auszulagern. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels als Interessenverband von Verlagen und Buchhandlungen hatte ebenfalls bereits früh die Erforschung der (nationalen) Buchhandelsgeschichte zu einem zentralen Gegenstand der Buchforschung gemacht (im Überblick zur Buchforschung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels Staub 1989). Zur traditionsreichen außeruniversitären Buchforschung gehören vor allem die buchhandelshistorischen Arbeiten der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels: 1876 in Leipzig gegründet, hatte sie sich auf Vorschlag des Verlegers Eduard Brockhaus für die Publikation der Geschichte des Deutschen Buchhandels ausgesprochen. Von 1879 bis 1930 entstanden nicht nur zahlreiche Bände des Archivs für die Geschichte des deutschen Buchhandels, sondern auch die kulturwissenschaftlich geprägte vierbändige Geschichte des deutschen Buchhandels (1886–1913) von Friedrich Kapp und Johann Goldfriedrich, die in reicher Detailfülle die nationale Buchhandelsgeschichte von den Anfängen des Buchdrucks und seiner Vorgeschichte bis zur Einführung des festen Ladenpreises 1889 nachvollzieht. Das fast 100  Jahre später verwirklichte Nachfolgewerk, die Geschichte des Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert (seit 2001), ebenfalls in der Verantwortung der Historischen Kommission herausgegeben, ist noch nicht abgeschlossen und soll für den Berichtszeitraum bis 1989 / 90 fortgeführt werden. Die Anlage der neuen Bände folgt der Idee, die Leistungen des Buchhandels sozial- und kulturgeschichtlich darzustellen (Estermann und Jäger 2001: 11). Dabei wird besonderes Gewicht auf die Vermittlungsfunktion des Buchhandels zwischen Autor*innen und Lesepublikum gelegt. Der langwierige Prozess dieses Großprojekts hat jedoch dazu geführt, dass das inhaltliche Konzept einer modernen und theoretisch fundierten Handelsgeschichte kaum noch Genüge leistet: Die relevanten Fragestellungen nach Buchmärkten und ihrer Organisation, nach den Strukturen des nationalen und internationalen Handels, den Akteuren und ihren sozialen Netzwerken, den kaufmännischen Praktiken und Wettbewerbsstrategien, den genutzten Informationssystemen und Kommunikationsmedien sowie den Handelswaren als Teil einer Konsumgeschichte werden hier nicht zwingend genug deutlich (Kategorien nach Häberlein und Jeggle 2010: 15–37). Auch das die Buchhandelsgeschichte flankierende Periodikum Archiv für Geschichte des Buchwesens, seit 1958 ebenfalls von der Historischen Kommission herausgegeben, hat aufgrund seiner vorwiegenden Fokussierung auf deskriptive historische Einzelstudien keine übergreifend gültige theoretisch-konzeptionelle Struktur der Buchforschung hervorbringen können. Ähnlich verhält es sich mit der durch den Börsenverein des Deutschen Buchhandels institutionalisierten statistischen Buchmarktforschung (im Überblick Muth 1993): Von 1966 bis 1988 organisierte der eingerichtete Ausschuss für Buchmarktforschung unter Ludwig Muth gemeinsam mit dem Institut für

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Demoskopie Allensbach unter Leitung von Elisabeth Noelle-Neumann zahlreiche statistische Erhebungen von Buchmarkt- und Buchkäuferdaten. Erfasst wurden weiterhin Einstellungen zu Büchern, Motivationen des Buchkaufs und Buchnutzungsweisen sowie deren Auswirkungen, insbesondere wertend im Vergleich zum populärer werdenden Fernsehen. Zwar argumentierten die Studien grundsätzlich in den theoretischen Perspektiven der in dieser Zeit populären Mediennutzungsforschung (insbesondere des Uses & Gratifications Approach), nicht aber in deren komplexeren Modellen und psychologischen Auslegungen als Medienwirkungsforschung. Bis heute erfolgt die Buchmarktforschung des Börsenvereins deshalb als reine Erhebung statistischer Daten (Buch und Buchhandel in Zahlen). Bibliotheken und Archive betrieben und forderten dagegen eine Buchforschung, die keinen Brancheninteressen folgen müsse, aber ihren eigenen Interessen entsprechen sollte. Von der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel wurde ab Ende der 1960er Jahre unter der Direktion von Paul Raabe eine historische Buchforschung ohne nationale Grenzen etabliert. Ausgehend von den Beständen wurden grundlegende Studien zum Buch der Frühen Neuzeit angeregt, u.  a. die ‚Analytische Druckforschung‘ von Martin Boghardt. Darüber hinaus wurden mit der Wolfenbütteler Bibliographie zur Geschichte des Buchwesens im deutschsprachigen Raum 1840–1980 (1990–1999, seit 2006 auch als Datenbank) wichtige Forschungswerkzeuge entwickelt. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach als Sammlungsort zur deutschen Literaturgeschichte der Moderne, der auch zahlreiche wissenschaftliche Nachlässe mit Korrespondenzen, Archive literarischer Verlage und andere Zeugnisse des deutschen Literaturbetriebs der Moderne bewahrt, vollzieht seit Jahrzehnten Buchforschung an der Schnittstelle zur Literaturgeschichte. Theoretische Perspektivierungen der Buchforschung blieben auch hier jedoch lange Zeit weitgehend aus, da methodische Fragen im Kontext des Sammlungs- und Überlieferungsauftrags überwogen. Die außeruniversitäre Buchforschung ist darüber hinaus durch das Engagement bibliophiler Gesellschaften bereichert, die bibliophile Drucke nicht nur gefördert und initiiert haben, sondern auch mit Nachschlagewerken, Bibliografien, Werkausgaben und Periodika Traditionen der theorielosen Buchkunde fortgesetzt haben. Die Gesellschaft der Bibliophilen, gegründet 1899, brachte beispielsweise schon kurz nach ihrer Gründung das siebenbändige Deutsche Anonymen-Lexikon von Michael Holzmann und Hanns Bohatta (1902–1928) heraus, außerdem Imprimatur: Ein Jahrbuch für Bücherfreunde, das bis heute existiert (Überblick über alle Publikationen bei Neumann 1999: 177–200). Die Maximilian-Gesellschaft in Hamburg dagegen widmet sich vor allem dem künstlerisch gestalteten Buch über die Jahrhunderte und erweitert die Quellenlage dabei maßgeblich, trägt jedoch ebenfalls nichts zur Konturierung der Gegenstände und theoretischen Perspektive der Buchforschung bei.

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1987 bemängelte Georg Jäger, dass „die am Material orientierten Historiker […] die Problematisierungs- und Strukturierungsangebote von Theorien nur selten“ (485) nutzen und noch 2004 (113) stellt Ulrich Saxer in dieser Tradition einen wesentlich größeren Anteil historisch-deskriptiver im Vergleich zu systematisch-theoretisch fundierter Buchforschung fest. Mit der Verweigerung einer theoretischen Fundierung ihrer Forschung (am Beispiel der systemtheoretischen Überlegungen Gieseckes z.  B. Cahn 1994: B33; allgemein Saxer 2010: 73) stellen die vielfachen außeruniversitären Interessen, Forschungstraditionen und Träger der Buchforschung ein Problem ihrer Anerkennung dar: So sind vor allem partikulare institutionelle Interessen, die Einfluss auf die inhaltlichen Fragestellungen der Buchforschung genommen haben und immer noch nehmen, problematisch für die akademische Legitimation einer autonomen und wissenschaftlich interdisziplinär akzeptierten Buchforschung, fordert diese doch unbedingte Objektivität von Forschungsergebnissen sowie differenzierte Gegenstände und theoretische Perspektiven zur Sicherstellung der Vergleichbarkeit von Ergebnissen. Hierzu trägt andererseits auch das immer noch ungeklärte Verhältnis der akademischen Buchforschung zur Ausbildungsorganisation des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (Mediacampus, ehemals Deutsche Buchhändlerschule) sowie den buchbezogenen Hochschulstudiengängen für berufspraktische Gestaltung und Ökonomie (Hochschule der Medien Stuttgart, Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig) bei. Deren anwendungsbezogene Forschungsfelder könnten die Gegenstände und theoretischen Perspektiven der akademischen Buchforschung durch den Blick auf die hierfür notwendigen Technik-, Gestaltungs- und Wirtschaftstheorien (siehe II.2 Gestaltung und V.1 Buchökonomie in diesem Band) konturieren, wurden aber als bedeutender Teil der Theoriebildung in den universitären Disziplinen kaum wahrgenommen oder bewusst ignoriert.

2.4 Buchforschung als Buchwissenschaft Die Buchforschung erfolgte ohne disziplinäre Engführung bis nach dem Zweiten Weltkrieg somit in unterschiedlichen Disziplinen als Hilfswissenschaft, als öffentliche Aufgabe in Bibliotheken und Archiven sowie als Auftragsforschung aus dem Umfeld des Buchhandels. Die damit verbundene Heterogenität ohne gemeinsam definierte Gegenstände, theoretische Perspektiven und Methoden führte zu ersten Forderungen eines eigenständigen wissenschaftlichen Forschungsfeldes bzw. einer autonomen wissenschaftlichen Disziplin zur Koordinierung der anwachsenden Forschungsergebnisse (z.  B. Schmidt 1955; Sichelschmidt 1963; Grundmann 1966; Corsten 1987; Cahn 1994), begründet allerdings nur mit ihrer praktischen Notwendigkeit für einen funktionierenden Buchhandel und der Tradierung der als

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wertvoll erachteten bürgerlichen Buchkultur. Es entwickelte sich ausgehend von einer im November 1963 publizierten Einleitung der Bertelsmann Briefe mit dem Titel ‚Über eine Wissenschaft vom Buch und vom Buchhandel‘ eine anhaltende Diskussion zur Frage, was Buchwissenschaft sein könne oder ist, ob sie als autonome Disziplin existieren könne und was ihr Gegenstand sei. Diese frühen Diskussionen gerade jener oben genannten Akteure, die jeweils ein bestimmtes Eigeninteresse an der Gestaltung einer spezifisch institutionalisierten Buchforschung hatten, müssen hier nicht wiederholt werden, tragen sie doch mit ihren deskriptiv-historischen und institutionell geprägten Vorstellungen kaum etwas zur Konturierung der Gegenstände und theoretischen Perspektiven der Buchforschung bei (die Nachzeichnung der Diskussionen detailliert und zusammenfassend in Rautenberg 2010: 21–47). Die außeruniversitären Initiativen waren jedoch maßgeblich dafür verantwortlich, dass unter verschiedenen Denominationen schließlich Professuren für Buchwissenschaft an Universitäten (Mainz, Leipzig, Erlangen, München, Münster) eingerichtet wurden. Hierzu nutzten sie die historisch entwickelten Wertzuschreibungen an das Buch bzw. der Schriftpublizistik (Literatur, Kodex) als Kulturobjekt und nationales Gut (siehe VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik in diesem Band). Mit der ersten akademischen Verankerung der Buchforschung lösten sich die Diskussionen um ein eigenständiges Forschungsfeld und institutionalisiertes Fach zunehmend von Bibliotheken und dem Buchhandel und verlagerten sich stärker auf die universitären Akteure. Mit der konstruktivistischen Wende der allgemeinen Wissenschaftstheorie entwickelte sich die entstehende akademische Buchwissenschaft gleichzeitig als interpretative, hermeneutische Wissenschaft und erreichte schließlich die ‚normale‘ Phase der wissenschaftlichen Entwicklung nach Thomas S. Kuhn: Im Mittelpunkt theoretischer Perspektiven steht ab hier die Erkenntnis, dass diese so zu konstruieren sind, dass sie Buchwissenschaft im Kanon der Wissenschaften stabilisiert, legitimiert und naturalisiert (Hofmann und Hirschauer 2012: 85). Wesentliche Grundsatzfragen und Gegenstände waren dabei mehr oder weniger gelöst, und es folgte eine Diskussion um gemeinsame Perspektivierungen und die Etablierung einer spezifischen Forschungstradition (‚Paradigmen‘ in Kuhns Terminologie). Die Kennzeichnung als Wissenschaft forderte dabei, das in heterogener Form vorliegende Buchwissen in eine vereinheitlichende und spezielle Form zu bringen (Balzer und Brendel 2019: 2). Hans-Joachim Koppitz (1989) in Mainz beispielsweise sah in der seit der Frühen Neuzeit üblichen Dreiteilung der historischen Buchforschung in Produktion, Distribution und Rezeption von Büchern bereits eine grundlegende theoretische Perspektive und wesentliche Gegenstände, die ausgebaut und konturiert werden könnten, und folgerte daraus eine Perspektivierung der Buchals historische Kulturwissenschaft. Die in den 1970er Jahren auch in Deutschland rezipierten theoretischen Perspektiven der Cultural Studies wurden dabei trotz

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wiederkehrender Ankündigung (Füssel 2014b: 35) allerdings wenig reflektiert und genutzt: Die im anglo-amerikanischen Raum zur Buchforschung gehörenden politischen Dimensionen sowie die mit der Dekonstruktion verknüpften marxistischen, feministischen oder postkolonialen Perspektiven haben in der deutschen Buchforschung nur wenig Resonanz erzeugt (Norrick-Rühl 2014: 43–44). Alfred Świerk (1989) in Erlangen verstand Buchwissenschaft dagegen als synthetische Wissenschaft, die das gesamte Buchwesen umfasst und die Resultate anderer Disziplinen zu verarbeiten, zu ordnen und zu integrieren hat. Seine Überlegungen basierten auf den systemtheoretischen Fundierungen der Buch- und Bibliothekswissenschaft in Polen und der Sowjetunion (im Überblick Migoń 1989 und 1990; zur Kritik an der sozialistischen Perspektive Jäger 1994: 276): Buchgeschichte war in der Tradition der polnischen Bibliologie nur ein Teil der Buchforschung, die stattdessen als Gesellschaftswissenschaft definiert war (hierzu Jäger 1994a: 275–276; ausführlich Rautenberg 2010: 21–30). Bücher wurden als Einheit materieller, inhaltlicher und funktionaler Aspekte begriffen, die innerhalb eines sozialen Buchsystems betrachtet wurden. Sie sind somit Teil der sie umgebenden Gesellschaft und Kultur, und stehen mit diesen über das Lesen in Beziehung. Der Gegenstandsbereich der Buchwissenschaft „sind die gesellschaftlichen Bedingungen und Faktoren der Produktion, Distribution und Konsumtion von literarischen Dokumenten. Sie erforscht die Genese und Eigenschaften des Buches als Mittler sozialer Kommunikation“ (Riese 1974: 357–358). Die theoretische Perspektivierung der historischen wie gegenwartsbezogenen Buchforschung erfolgte somit über die sozialen Leistungen des Buchs, was einen stärkeren Gegenwartsbezug der Buchforschung sowie eine Komplexitätssteigerung ihrer Gegenstände hin zu sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Fragestellungen erforderte. Die systemtheoretische Konturierung der Buchforschung wurde von Georg Jäger schließlich in der Münchener Buchwissenschaft aufgegriffen und dort zeitweise als theoretische Perspektive buchhandelsgeschichtlicher Studien etabliert (siehe auch Abschnitt 3.2). Ein allgemein gültiges, konsistent theoretisch untermauertes Forschungsmodell der Buchwissenschaft entstand über die einzelnen Perspektiven jedoch nicht (Rautenberg 2010: 14), denn es fehlte nach wie vor an einer fundierten medientheoretischen Auseinandersetzung mit dem Buch als Publikationsformat. Medientheorien erweisen sich dabei trotz ihrer teils prominent platzierten Bezüge zum Buch (z.  B. Die Gutenberg-Galaxis, Der Buchdruck als historiographische Referenzfigur in der Medienbranche) als wenig anschlussfähig. Sven Grampp (2010: 125–126) führt dies darauf zurück, dass Medientheorien Buch nur als uneigentlichen Begriff bzw. als rhetorische Figur benutzen, um dessen Komplexität radikal zu reduzieren und somit nicht bestimmen zu müssen. Gleichzeitig betonen Medientheorien die Immaterialität von Medien, die von Menschen hervorgebracht werden und die als Konfiguration oder Konstellation vor allem in Diskursen sichtbar wird. In diesem

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Zusammenhang schaffte es die materiell ausgelegte Buchwissenschaft nicht, deren allgemeinere theoretische Entwicklungen über Einzelstudien hinaus zu integrieren. Leerstellen sind, um nur ein paar wenige prominente Beispiele zu nennen, die kritischen Theorien der Frankfurter Schule zu Medien, Literatur und Kulturindustrie, poststrukturalistische Theorien wie Michel Foucaults Archäologie des Wissens oder Friedrich Kittlers medientechnisches Apriori. Als besonders schwerwiegend erweist sich im Rückblick die weitgehende Absenz der Diskursanalyse (im Überblick Sarasin 2017), die hätte helfen können, Zuschreibungen an die Gegenstände der Buchforschung, ihre Perspektiven und ihre Relevanz in Aushandlungsprozessen von Wissen und Macht besser zu verstehen und zu harmonisieren (Verdicchio 2012: 102). Einen eigenständigen Status der Buchforschung im Wissenschaftssystem erreichte die Buchwissenschaft somit nur an ihren jeweiligen Universitäten, jedoch mit teilweise grundverschiedenen Motivationen, Gegenständen und theoretischen Perspektivierungen (im Überblick Rautenberg 2010: 18–21; für einzelne Bestimmungen z.  B. Świerk 1989, Giesecke 1992; Füssel 1997; Schneider 1997; Mix 1998; für die Standorte jeweils zusammenfassend Titel, Keiderling und Lokatis, Füssel sowie Haug und Mayer 2010). Die fehlenden Anstrengungen ihrer übergreifenden akademischen Legitimation nach innen und außen führen bis heute zu Problemen ihrer Anerkennung (siehe Abschnitt 4.2). Mit den durch ökonomische und politische Akteure formulierten Anforderungen einer stärker gegenwartsbezogenen Buchforschung, insbesondere zur Buchwirtschaft und zum Lesen als Bildungsgrundlage sowie einer stärken berufspraktischen Ausrichtung folgten um die Jahrtausendwende auch deshalb eine Abkehr von phänomenologischen Sichtweisen und (zu) eng geführte Annäherungsversuche der Buch- an die Kommunikationswissenschaft (Rautenberg und Wetzel 2001: 1; Rautenberg 2015: 100) (siehe zu frühen kommunikationswissenschaftlichen Perspektivierungen Abschnitt 3.2). Im Mittelpunkt stand das Medienmodell von Ulrich Saxer (1999: 6): „Medien sind komplexe institutionalisierte Systeme um organisierte Kommunikationskanäle von spezifischem Leistungsvermögen.“ Diese stark formalisierte Konturierung des Buchs als Medium aus der Makroperspektive eines sozialen Kommunikationssystems ermöglicht es, Bücher in ihrer sozialen Organisation, Institutionalisierung und Funktionalität zu betrachten und somit beispielsweise in übergreifenden Betrachtungen des Mediensystems (siehe Sektion  IV Bücher im Medienkontext in diesem Band) oder den Leistungen für Gesellschaften (siehe Sektion VII Soziokulturelle Leistungen von Büchern in diesem Band) integrativ zu betrachten. Seine Grenzen zeigen sich dagegen in der für die Buchforschung notwendigen Verknüpfung von Kommunikationsprozessen und sozialen Handlungen, die bisher nicht zufriedenstellend gelöst worden ist. Bereits Hornung (1983: 22), Corsten (1987: 638–639) und Finger (1987: 591) kritisierten,

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dass die Kommunikationswissenschaft das breite Spektrum der Buchforschung nicht abzudecken vermag (und Bücher deshalb als Gegenstand auch konsequent bis heute ignoriert), auch weil die materiellen und ästhetischen Dimensionen des Buchs in ihren Konsequenzen für kommunikatives Handeln von ihr nicht erfasst werden können (hierzu auch Rautenberg 2018: 148). Ihre Modellierungen buchbezogener Phänomene allein über kommunikations- und systemtheoretische Perspektiven bleiben ohne Verknüpfungen mit anderen theoretischen Perspektiven deshalb weitgehend inhaltsleer, undifferenziert und abstrakt. Die theoretischen Perspektiven der Kommunikationswissenschaft bieten somit zwar notwendige, aber keineswegs hinreichende Erklärungen zum Verständnis der kommunikativen und sozialen Positionierung von Büchern sowie deren Wandel. Dies zeigt sich auch aktuell, wenn dort eindimensional von digitalen Publikationskulturen, literarischem Prosuming und datengetriebener Buchökonomie gesprochen wird, der historisch begründete gegenläufige Wandel (siehe IV.1 Intermedialität in diesem Band) zu mehr materieller Wertzuschreibung (siehe II.1 Materielle Semantiken in diesem Band), physischer Vergemeinschaftung (siehe VII.2 Vergemeinschaftung in diesem Band) und künstlerischer Gestaltung (siehe II.2 Gestaltung in diesem Band) und Produktion aber nicht einmal zur Kenntnis genommen wird.

3 Buchforschung der Gegenwart Die historischen Grundlagen der Buchforschung liegen somit traditionell in den geisteswissenschaftlichen Fächern und nicht wie die der Publizistik in den Sozialwissenschaften (Rautenberg 2010: 21). Mit der kulturalistischen Wende der 1980er Jahre vollzieht sie sich heute in kulturwissenschaftlichen Perspektiven, allerdings ohne deren international üblichen Bezüge zu Cultural, Gender, Postcolonial oder New Media Studies, sondern stattdessen mit ausgewählten Ergänzungen aus Kommunikations- und Wirtschaftswissenschaften. Buchforschung beschreibt somit ein Forschungsfeld, „das das Zusammenleben von Menschen unter dem Aspekt des von Menschen in lebenspraktischer, unterhaltender oder künstlerischer Absicht gestaltet Hervorgebrachten [‚des Buchs‘] in interpretativer, geschichtlicher, rezeptiver, tradierender oder kritischer Hinsicht untersucht und systematisiert“ (Kornmesser und Büttemeyer 2020: 159). Sie ergründet somit kulturelle Vergangenheit, erklärt aus ihr die gewordene Gegenwart und setzt sich mit dieser kritisch auseinander.

3 Buchforschung der Gegenwart 

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3.1 Gegenstände Die historischen Stränge der Buchforschung führten aufgrund ihrer heterogenen und transdisziplinären Wurzeln (siehe Abschnitt 2) zunächst nur zu einem impliziten Konsens ihrer Gegenstände in Form des unreflektierten Materialobjekts Buch (Rolle, Kodex), der eng geführten und meist durch einen bürgerlichen Kulturhorizont konturierten Buchhandels- und Verlagsgeschichte sowie der mit dem Buch verknüpften Vermittlung und Überlieferung von ‚wertvoller‘ Literatur. Mit der Validierung und Tradierung des Buchs sowie ihrer Alltäglichkeit in Lebenswelten sind Bücher für Menschen deshalb teilweise bis heute kulturell wertvolle Artefakte aus bedruckten Papierlagen, die gebunden als Kodex gelesen werden und bestimmte (oft literarisch verstandene) Inhalte zur Bildung und Unterhaltung vermitteln (‚Buch = Kodex = Literatur = wertvolles Kulturgut‘). Alfred Świerk kritisierte noch 1989 (B64), dass eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Buchbegriff in den Diskussionen um Buchforschung fehlt. Eine Verkürzung der Buchforschung auf einen wie oben konturierten Gegenstand verbietet sich dabei aufgrund der Komplexität, Historizität und Reichweite der mit Büchern assoziierten Phänomene und Problemlagen, die in den historischen Konstruktionen der Buchforschung zumindest in Annäherungen bereits deutlich werden. Świerk (1989: B65) beantwortete die Frage nach dem Gegenstand der Buchforschung daher übergreifend mit der „Erhaltung, Überlieferung und Verbreitung geistiger Inhalte“, die über zeit- und funktionsabhänge Erscheinungsformen des Buchs erbracht werden (Rautenberg und Wetzel 2001: 1). Die Gegenstände der Buchforschung beschreiben in theoretischer Abstraktion dabei die Gesamtheit ihrer voneinander differenzierten Elemente (z.  B. Materialität, Format, Produktion, Lesen etc.), ihrer Beziehungen untereinander sowie die damit verbundenen Auswirkungen. Sie sind somit nur als System denkbar, in denen stringent differenzierte Elemente in ihren vielfältigen und variablen Beziehungen und Interaktionen mit anderen Elementen stehen (oder auch nicht), und die in sich verändernden Zusammenhängen mit ihrer sozialen Umwelt stehen. Mit dieser allgemeinen Fokussierung der sozialen und kulturellen Leistungen wird deshalb ein komplexer Buchbegriff benötigt, um die damit verknüpften (und disziplinär fokussierten) Gegenstände ordnen zu können, dabei finden sich erste Annäherungen in den historischen Konstruktionen der Wissenschaftsgeschichte der Buchforschung: Bücher sind demnach materielle und mediale Objekte, die in historisch-kulturellen Kontexten als sozial reale und ideelle Entitäten hervorgebracht (unterschiedlich hergestellt, gestaltet, verbreitet, genutzt) werden. Als Artefakte ist ihre jeweilige (körperliche und technische) Handhabung (ein performanter) Teil der materiellen Kultur und damit sichtbarer (symbolischer) Teil der Lebenswelten von Menschen. Als visuelle Medien, die (zwischenmenschliche) Kommunikation über dominant

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bedeutungstragende (Schrift- und Bild-)Zeichen in bestimmter Weise ermöglichen, sind sie Auslöser und / oder Teil des individuellen und sozialen Handelns sowie von sozialen Beziehungen und erbringen individuelle Leistungen zu deren alltäglicher Bewältigung. In diesen Zusammenhängen unterliegen sie vielfältigen zeitspezifischen Organisationsleistungen, Institutionen sowie Wissensordnungen. So abstrahiert auf soziale Gruppen und Gemeinschaften erbringen Bücher (funktional wie dysfunktional) zeitspezifische kulturelle Leistungen in sozialen Funktionsbereichen wie z.  B. Bildung, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik oder Erziehung. Mit einem solchen historisierten Buchbegriff lassen sich bestimmte Engführungen der Buchforschung vermeiden: Während Bücher häufig auf bestimmte materielle Formate (Tontafel, Rolle, Kodex) bzw. auf eine Funktion als Speicher- und Trägermedium eingegrenzt wurden, sind sie eigentlich flexible (in ihren historischen Bedingungen hervorgebrachte) materielle und mediale Formate der schriftlichen Kommunikation sehr unterschiedlicher Inhalte, mit variierenden Funktionen sowie Nutzungspraktiken und Rezeptionsweisen, deren Leistungsfähigkeit von ihnen beeinflusst, aber nicht ursächlich durch sie entfaltet wird. Eine Eingrenzung auf bestimmte Herstellungsverfahren (Buchdruck) wird über ihre jeweils zeitspezifischen Bedingungen damit genauso hinfällig wie negative Abgrenzungen zu periodischen Nachrichtenmedien (die ebenfalls Bücher sein können), ein bestimmter Umfang einer nichtperiodischen Publikation (besonders skurril nach wie vor die UNESCO mit einem willkürlich definierten Mindestumfang von 49 Seiten), oder die Eingrenzung auf bestimmte universell definierte Öffentlichkeiten. Die wissenschaftstheoretische und -geschichtliche Skizzierung der Buchforschung zeigt für die Gegenwart dabei eine deutliche Ausweitung ihrer Forschungsfelder. Mit der kulturwissenschaftlich relevanten Materialitätsforschung (Material Turn) des 20.  Jahrhunderts werden materielle Semantiken (siehe II.1 Materielle Semantiken in diesem Band), Gestaltungsformen (siehe II.2 Gestaltung in diesem Band) und Formate des Buchs (siehe II.3 Typisierung in diesem Band) zu zentralen Gegenständen der Buchforschung (Rautenberg 2018: 144). Im Mittelpunkt stehen hier Bücher als Artefakte (z.  B. Handschriften, Inkunabeln, Druckschriften, E-Books) und medienspezifische Zeichensysteme, und somit ihre variierenden materiellen und / oder medialen Formate und deren Eigenschaften. Im Zusammenhang mit ihrer Herstellung, Gestaltung (z.  B. Design, Layout, Typografie) und Vervielfältigung werden Materialien, Technologien (z.  B. Werkzeuge, Apparaturen, Maschinen) und Techniken (z.  B. Druck, Softwaredesign), sowie beteiligte Akteure (z.  B. Drucker*innen, Gestalter*innen, Programmierer*innen), ihre Netzwerke (z.  B. soziale Bewegungen), Wissensordnungen und Werthaltungen (z.  B. Konventionen, Traditionen, Ordnungssysteme) genauso zu zentralen Forschungsgegenständen wie die mit verschiedenen Formaten verbundene Wahrnehmung von Materialität (z.  B. Haptik) und Symbolik, immer im Spannungsfeld von Ästhetik und Pragmatik (z.  B. Lesbarkeit).

3 Buchforschung der Gegenwart 

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Mit der sozialwissenschaftlichen Anerkennung von Medien als relevante Dimension für vielfältige soziale Funktionsbereiche (Media Turn) werden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Lesen und die Leser*innen (siehe III.1 Lesen in diesem Band) und die Buchnutzung (siehe III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung und III.3 Kulturelle Praktiken des Buchgebrauchs in diesem Band) als bedeutende Forschungsfelder hinzugefügt. Im Mittelpunkt stehen kollektive Praktiken (z.  B. Handlungen, Interaktionen, Verhalten, Routinen) der Nutzung verschiedener Buchformate (z.  B. Lesen, Konsumieren, Sammeln, Schenken, Bibliophilie) sowie die damit verbundenen Motivationen (z.  B. Bedürfnisse, Werthaltungen, Symbolik) sowie Erfahrungen und Wirkungen (z.  B. Affekte, Stimmungen, Atmosphären, ästhetischer und sinnlicher Genuss). In Verbindung damit werden Sozialisationsprozesse (z.  B. Lesesozialisation, Bewertungen des Lesens und von Buchformaten) betrachtet, welche sich auf bestimmte Kompetenzen im Umgang mit Büchern (z.  B. Lesefähigkeiten) und Erfahrungen von Büchern (z.  B. Materialität, Kunst) im Alltag auswirken. Wechselseitig hierzu werden individuelle Funktionen (z.  B. Identitäten, Anschlusskommunikation, Wissen) und soziale Leistungen (z.  B. Lebenswelten, Vergemeinschaftung, Bildung) erforscht. Diese werden in der Regel differenziert (z.  B. über Milieus, Lebensstile) als soziale Ungleichheit interpretiert. Seit der Jahrtausendwende wird der Fokus erweitert und Bücher und Lesen nicht mehr nur isoliert, sondern auch in ihren intermedialen Verflechtungen (siehe IV.1 Intermedialität in diesem Band), als Bestandteile eines übergreifenden Mediensystems (siehe IV.2 Mediensysteme in diesem Band) und in dessen übergreifendem Wandel untersucht (siehe IV.3 Medienwandel in diesem Band). Im Mittelpunkt stehen Buchformate als Teil zeithistorischer medialer Konstellationen (z.  B. als Kommunikations-, Medien-, Literatursysteme im Kontext von Medienvergleich, Medienverbund und Medienkonvergenz) und wie sich diese auf buchbezogene Praktiken (z.  B. Handlungen, Kommunikation, Routinen, Konsum, Lesen) sowie soziale Leistungen von Büchern (z.  B. in Politik, Wissenschaft, Bildung) auswirken. Hierbei stehen einerseits Organisationen (z.  B. Verbände, Verlage) und veränderte Organisationsformen im Fokus, andererseits die mit ihnen in Wechselwirkung stehenden Strukturen (z.  B. Buchhandel, Medienökonomie, Normen, Technologien, Diskurse). Ein wesentlicher Gegenstand der Buchforschung ist in diesen Zusammenhängen von jeher die strukturelle Organisiertheit der Buchkultur und damit die ökonomischen Hintergründe des Buchhandels (z.  B. Verlags-, Zwischen- und Sortimentsbuchhandel) und der Buchmärkte (siehe V.1 Buchökonomie in diesem Band), die professionellen Rollen menschlicher Akteure der Buchbranche (siehe V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel in diesem Band), ihre Verbände und Vereine (siehe V.3 Verbände, Vereine und Organisationen des Buchhandels in diesem Band) sowie traditionell die Organisationen literarischer Vermittlung und Kultur

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(siehe V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung in diesem Band). Im Mittelpunkt stehen somit Organisationen (z.  B. Agenturen, Intermediäre, Verlage, Druckwerkstätten, Messen, Verbände, Bibliotheken) und deren menschliche Akteure in ihren organisationsspezifischen Rollen (z.  B. Autor*innen, Buchhändler*innen, Gestalter*innen, Lektor*innen, Verleger*innen, Drucker*innen, Veranstalter*innen), die zusammen die Wertschöpfung (z.  B. Akquise, Herstellung, Distribution) und Leistungen von Buchformaten (hier auch als Produkt, Dienstleistung oder Service) im Hinblick auf Zielgruppen (z.  B. Käufer- und Leser*innen) und Funktionen (z.  B. Bildung, Unterhaltung) organisieren (z.  B. über Management, Marketing, Geschäftsmodelle). Zu den relevanten Gegenständen gehören somit auch der Wettbewerb verschiedener Organisationen auf Märkten (z.  B. Buchmärkte, Medienmärkte), die auf diesen Einfluss nehmenden Institutionen zur Orientierung und Bewertung (z.  B. Literaturkritik, Literaturvermittlung, Literaturveranstaltungen, Literaturpreise) sowie das für beide Bereiche notwendige professionelle Handeln in buchbezogenen Berufen und deren Ausbildung. Die unterschiedlichen Institutionalisierungen von Büchern in Form von kollektiven Werthaltungen (siehe VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik in diesem Band), auf sie bezogene Gesetze (siehe VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen in diesem Band) sowie damit verknüpfte Förderinstitutionen (siehe VI.3 Stützungssysteme in diesem Band) stellen makroskopische Forschungsgegenstände dar. Im Mittelpunkt steht die kollektive Wahrnehmung und Bewertung (z.  B. in Diskursen) von Büchern, von buchbezogenen Akteuren und Organisationen sowie von Buchund Lesekulturen (z.  B. Wissen, Normen, Traditionen, Wertzuschreibungen), die in ihrer jeweiligen Institutionalisierung (z.  B. Symbolik und Wert von Büchern, Grundrechte und buchbezogene Berufe bzw. organisierte Prozesse der Herstellung und Distribution, Bücher als Kunst, Förderung) in historisch-kulturellen Gesellschaftsformationen (z.  B. Bildung, Wissenschaft) sichtbar werden. Institutionalisierungen weisen zuletzt bereits auf die Leistungen von Büchern in Gesellschaft und Kultur hin, die in makroskopischer Perspektive erst in jüngerer Zeit systematisch als Gegenstand der Buchforschung konturiert werden (Kuhn 2018: 20–21). Dabei steht die Bedeutung von Büchern für Formen der sozialen Integration (siehe VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe in diesem Band), als Grundlage von Gemeinschaften (siehe VII.2 Vergemeinschaftung in diesem Band) sowie als Einfluss auf die kulturelle Überlieferung (siehe VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis in diesem Band) im Mittelpunkt. Forschungsgegenstände sind somit die sozialen Funktionen und Leistungen von Büchern bzw. der Kulturtechniken Lesen und Schreiben in alltäglichen Lebenswelten (z.  B. Bildung, Meinungsbildung, Demokratie, Öffentlichkeit, Vergemeinschaftung) und kulturgeschichtlichen Dimensionen (Wertzuschreibungen, Normen, Traditionen, Wissensordnungen, Identitäten, Gemeinschaften).

3 Buchforschung der Gegenwart 

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Quer zu allen Gegenständen formieren sich in der Gegenwart dazu Themen, welche ihre wesentlichen Bedingtheiten als Gegenstände der Buchforschung konturieren: Hierbei wird betont, das Technologien in ihrer sozialen Kontextualisierung (siehe VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation in diesem Band), Art und Form der Konstruktion von Transformationen (siehe VIII.2 Transformation und Kontinuität in Buch- und Lesekulturen in diesem Band) sowie kulturelle Differenzierungen (siehe VIII.3 Internationale Vergleiche von Buch- und Lesekulturen in diesem Band) wesentlich für die jeweiligen Gegenstandsbestimmungen jeglicher Buchforschung sind. Durch ihre makroskopische Perspektive werden Praktiken, Organisationen und Institutionen hier als komplexe Systeme (z.  B. Wertschöpfungssysteme, literale Kulturen) verstanden, die bestimmte Artefakte (z.  B. Buchformate, Nutzungsobjekte), Techniken (z.  B. Herstellung, Distribution, Mediennutzung) und Handlungsmuster (z.  B. Kommunikation, Rezeption) hervorbringen. Eine detailliertere Darstellung der relevanten typischen Gegenstände der Buchforschung findet sich in der Verschlagwortung der in diesem Handbuch versammelten Beiträge (siehe Register Gegenstände der Buchforschung in diesem Band). Die typischen Gegenstände der Buchforschung stehen dort jedoch wie oben erklärt nie für sich, sondern sind immer in Relation zu den genannten Forschungsfeldern und damit als Netzwerke von einander bedingenden Elementen zu verstehen.

3.2 Theoretische Perspektiven Die in diesem Handbuch vorgestellten theoretischen Perspektiven sind keine abgeschlossenen, universell gültigen Theorie-Modelle für die jeweiligen Gegenstände und Fragestellungen der Buchforschung, sondern sind als begründete Vorschläge ihrer Thematisierung und Analyse zu verstehen. Als (historisierte) Darstellungsformen des Buchs und seiner verschiedenen Kontexte sind sie veränderbar, in ihrer Nützlichkeit kritisierbar, können sich in veränderten historischen Bedingungen auch als falsch erweisen (Balzer und Brendel 2019: 20) oder erst mit der Entwicklung von bestimmten Phänomenen sinnvoll sein. So werden theoretische Perspektiven der Volks- und Betriebswirtschaftslehre, der Publizistik und der Technikwissenschaften beispielsweise erst gefordert (Strauß 1975: 333), als sich die Buchmarktforschung zwischen den 1960er und 1980er Jahren als relevant empfundener Teil der Buchforschung etablierte. An diesem Beispiel lässt sich eine weitere Problematik der Theoretisierung der Buchforschung illustrieren: Disziplinäre Theorieangebote sind meist nicht direkt auf das Buch anwendbar oder direkt interdisziplinär zu vermitteln. Stattdessen müssen sie mit viel Aufwand an die Gegenstandsbereiche der Buchforschung angepasst und für weitere Disziplinen ‚übersetzt‘ werden (Rautenberg und Wetzel 2001: 10). Eine

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 Theoretische Perspektiven und Gegenstände

besondere Schwierigkeit zeigt sich hier in der notwendigen Balance zwischen allgemeiner Gültigkeit der Theorien und der Eigenlogik der betrachteten Gegenstände (Schülein und Reitze 2021: 216). Dies erklärt auch, dass bestimmte theoretische Ausweitungen von Gegenstandsbereichen und Methoden (Cultural Turns) in der Buchforschung entweder gar keine Wirkung entfalteten (z.  B. Performative, Postcolonial, Visual, Spatial, Affective Turn) oder nur sehr verspätet berücksichtigt wurden (z.  B. Linguistic, Practice Turn). Dennoch lassen sich einige wesentliche theoretische Ansätze beschreiben, die bis heute (siehe unten) nachwirken: Die frühe Konzeption der Buchforschung als historische Forschung (siehe Abschnitt  2) führte zunächst zur stärkeren Berücksichtigung geschichtstheoretischer Konzepte. Die aus der Literaturwissenschaft stammenden Konzepte von Rezeptionsgeschichte und -ästhetik (z.  B. Ingarden 1931; Jauß 1970; Iser 1976) wurden in der Buchforschung beispielsweise hinsichtlich der Bedeutung des Materialobjekts im Rezeptionsprozess literarischer Werke aufgegriffen. Die theoretische Perspektive, dass Texte erst durch ihre Konkretisierung beim Lesen zu Werken werden und die damit einhergehenden Verschiebungen der Betrachtungen vom Autor, Text und Artefakt auf deren Wahrnehmung durch den ‚impliziten Leser‘ sind bis heute grundlegende Konzepte der Lese- und Leserforschung (siehe III.1 Lesen in diesem Band). Büchern als historischen Artefakten (oder sogar Kunstwerken) wird hier über Konzepte der Geistes- oder Ideengeschichte darüber hinaus eine Bedeutung für das Verstehen bestimmter Zeitabschnitte der Geschichte zugewiesen, denn ihre Alltags-, Produktions- und Rezeptionsästhetik verweisen auf die sie umgebenden Kulturen und deren Werthaltungen. Noch einflussreicher zeigten sich Impulse aus der gegen Ende der 1920er Jahre entstehenden französischen Mentalitätsgeschichte (Schule der Annales), die einer problemorientierten und analytischen Alltagsgeschichte verpflichtet war (im Überblick Burke 1991) und die dominante synchrone Ereignisgeschichte kritisierte. Zu ihren Gegenständen gehörte auch die Alphabetisierung und Buchgeschichte (z.  B. Febvre und Martin 1958). Die Schule der Annales und die sich ihr anschließende Sozialgeschichte in Deutschland verstanden Bücher dabei als Entitäten in alltäg­ lichen Lebenswelten und untersuchten deshalb insbesondere die gesellschaftlichen Kontexte ihrer Herstellung, Verbreitung und Nutzung. Roger Chartier und HenriJean Martin (1983) konzipierten in diesen Zusammenhängen Lesen und Schreiben z.  B. als komplexe kulturell geprägte Praxis und beeinflussten damit vor allem die theoretischen Konzeptionen der deutschen Lese- und Lesergeschichte (z.  B. Schön 1987). Mit der kulturalistischen Wende der 1980er Jahre wurde die Sozialgeschichte zunehmend durch die heute noch dominante Kulturgeschichtsschreibung fast vollständig abgelöst, die Betonung sozialer Konstruktionen des Buchs und seiner Funktionen gelten aber bis heute als theoretisches Paradigma jeglicher Buchforschung.

3 Buchforschung der Gegenwart 

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Bis heute immer wieder neu konzipiert und erweitert (im Überblick Belle und Hosington 2017) ist in diesem Zusammenhang Robert Darntons ‚Communication Circuit‘ (1982), der sich an der Schule der Annales orientiert. Darnton entwarf an der Schnittstelle von Geschichte, Ökonomie und Kommunikation ein allgemeines Modell des Publizierens, welches, fokussiert auf das gedruckte Buch, ein übergreifendes Schema bereitstellt, wie Bücher entstehen und in Gesellschaften diffundieren. Über verschiedene Agenten (author, publisher, printer, supplier, shipper, bookseller, reader) der ‚publishing value chain‘ sowie soziale, politische und ökonomische Einflüsse sollen historisch vergleichbare Forschungen erzeugt werden. In kritischer Perspektive (z.  B. Barker und Adams 1993; Duguid 1996) wurde das Modell inzwischen dahingehend erweitert, Bücher selbst als handlungsmächtige Agenten (agency) zu begreifen, was wiederum eine Verknüpfung zu Wissenschafts- und Techniktheorien der jüngeren Vergangenheit herstellt (siehe unten). Die Grundidee des ‚communication circuit‘ wird inzwischen auch auf übergreifende (‚The digital publishing communication circuit‘) oder einzelne digitale Phänomene des Publizierens (Selfpublishing) angewendet (Murray und Squires 2013). Sozial- und Kulturgeschichte des Buchs orientieren sich in ihren theoretischen Perspektiven an soziologischen Grundlagen, die für die Buchforschung einen besonderen Stellenwert einnehmen: Früh bedeutsam wurde zunächst die Literatursoziologie, die sich mit den gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen der Produktion, Distribution und Rezeption von Literatur (Literaturbetrieb) beschäftigt. Robert Escarpit (1977 [1958] und 1967 [1965]) lenkte den Blick auf soziale Bedingtheiten des Buchs, erweiterte die Definition von Literatur auf populäre und nicht-fiktionale Texte und betonte, dass der Erfolg von Literatur von der Passung des Angebots zur Nachfrage der Leser*innen abhängt und weniger von abstrakter literarischer ‚Qualität‘. Diese frühen theoretischen Konturierungen wurden zur Untersuchung des Leseverhaltens bestimmter historischer Leser*innengruppen, der historischen Formen der Leserlenkung und Leseförderung durch Buchhandel und Bibliotheken, der Etablierung schulischer Lektürekanones sowie der Betrachtung staatlicher Alphabetisierungsbemühungen aufgegriffen (Schneider 1999: 585–586). Einflussreich ist bis heute auch das literaturwissenschaftliche Konzept der Paratexte (grundlegend Genette 1987, angewandt auf das Buch Stanitzek 2010), welches von verschiedenen literaturtheoretischen, insbesondere intertextuellen Ansätzen aufgegriffen und häufig zur Erklärung der Medialität von Büchern herangezogen wird. Es bietet den ehemals rein mental konzipierten Literaturwissenschaften einen eingängigen Zugang zur materiellen Organisation von Texten und damit der Materialität der literarischen Kommunikation. Die Buchforschung wiederum nutzt diese theoretische Perspektive, um Aspekte wie Materialität und Gestaltung als bedeutungstragende kommunikative Elemente jeden Inhalts in ihren Leistungen zu hinterfragen. Sie ist weiterhin ein Grundbestandteil intermedialer Perspektiven

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 Theoretische Perspektiven und Gegenstände

auf das Buch, übersetzen doch Paratexte die verschiedenen Medienlogiken untereinander (siehe IV.1 Intermedialität in diesem Band). Noch weiter führte die allgemeinere Kultursoziologie, zunächst vor allem in Form der Arbeiten von Pierre Bourdieu. Mit La Distinction (1982 [1979]) erarbeitete Bourdieu ein Modell kultureller Geschmacksbildung sozialer Klassen, das auf ästhetischen Dispositionen hinsichtlich bestimmter kultureller Formen beruhte. Für die Buchforschung ergaben sich hieraus Differenzierungen ihres Gegenstands Buch zwischen Hochkultur, Populärkultur und Kunst. Les règles de l’art: Genèse et structure du champ litteraire (1999 [1992]) dagegen widmete sich direkt dem literarischen Feld und definierte die Regeln seiner kulturellen Produktion durch Macht, Hierarchisierung und Konsekration. Die hierfür verwendeten Konzepte Feld, Habitus und Kapitalien sind bis heute Standard des theoretischen Vokabulars der Buchforschung. Während die Geschmacksbildung sozialer Klassen und die Feldtheorie in der Buchforschung inzwischen weniger stark rezipiert werden, legte Bourdieu mit Esquisse d’une théorie de la pratique: Précédé de Trois études d’ethnologie kabyle (1979 [1972]) auch die Grundlagen einer praxeologischen Konzeption der Buchforschung, die bis heute angewendet und im Kontext der modernen Praxistheorien aktuell ausgebaut wird (siehe unten). Die ebenfalls aus der Soziologie stammende Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann (u.  a. 1984 und 1988), bzw. vor allem die darin entworfenen theoretischen Konzepte von Medien und Kommunikation (Luhmann 1996) führten dagegen zu intensiven Diskussionen ihres Nutzens für die Buchforschung, die Thomas Keiderling (2007) in Wieviel Systemtheorie braucht die Buchwissenschaft? zusammenfasst. Systemtheoretische Perspektiven lösen verschiedene Probleme der Buchforschung, insbesondere deren historisch-phänomenologische Fokussierung auf ein ‚Wesen‘ ‚des‘ Buchs, das durch konkrete Leistungen von Büchern in gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen ersetzt wird. Bücher sind hier weder materielle Trägermedien noch wertüberhöhte Kulturgüter, sondern stellen ein gesellschaftliches Kommunikationssystem dar, welches Gesellschaften und ihre Teilsysteme mit Informationen (auch als Irritationen) für Anschlusskommunikation versorgt und somit deren Eigenrealität mit erzeugt. Aufgrund ihrer hohen Eigenkomplexität und schwierigen Umsetzbarkeit in empirische Analysen fand die Systemtheorie jedoch zunächst nur bei Georg Jäger (1994) in einer Theorie des Buchverlags und daran anschließenden Studien der Buchwissenschaft in München (Scheidt 1994; Gruschka 1995; Holl 1996), als Überlegung einer anderen Form der Verlagsgeschichtsschreibung (Kuhn 2012), als alternative (und kontrovers diskutierte, siehe z.  B. Jäger 1993; Müller 1993) historische Darstellung des Buchdrucks und seiner Folgen (Giesecke 1991) sowie der Evolution von Schriftmediensystemen am Beispiel der Zeitschrift (Kuhn 2018) Anwendung. Letzterer machte in diesem Zusammenhang einen erneuten Versuch, den Gegenstand der Buchforschung als

3 Buchforschung der Gegenwart 

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System schriftlicher Kommunikation und der sich in ihm konstituierenden kulturellen Öffentlichkeiten zu bestimmen. Dies brächte spezifische Problemlösungskompetenzen der „historischen und gegenwärtigen Analyse schriftbasierter Kommunikation [mit sich], die für Gemeinschaften, kulturelle Öffentlichkeiten und damit für Gesellschaft spezifische sinnstiftende Leistungen erbringt“ (Kuhn 2018: 27). Theoretische Einzelkonzepte der Systemtheorie wie die Trennung von Medium und Form, Evolutionsmodelle sozialer Systeme im Kontext des Medienwandels oder funktionale Differenzierungen der über Bücher realisierten Kommunikationen sind dagegen transdisziplinärer Bestandteil des theoretischen Kanons der Buchforschung geworden. Die mit der Entstehung der Kommunikationswissenschaft ab den 1950er Jahren aufkommenden, konkreter auf Medien bezogenen sozialwissenschaftlichen, funktionalistischen Theorien und Modelle mittlerer Reichweite entfalteten dagegen lediglich punktuelle Wirkung in der Buchforschung, auch wenn ihre Integration von verschiedener Seite gefordert wurde (z.  B. Rühl 1979; Świerk 1981). Ursächlich für die fehlende Anschlussfähigkeit vieler Konzepte waren die frühen kommunikationstheoretischen Verengungen auf Journalismus, politische Kommunikation, Öffentlichkeit und Massenmedien, die für Bücher in ihren pluralen Formaten, Funktionen und Nutzergruppen nicht anschlussfähig waren und sind. In ihren Abstraktionen schließen kommunikationstheoretische Perspektiven darüber hinaus bis heute die Betrachtung von Büchern als kulturelle Nutzungsobjekte und somit wesentliche Elemente der Buchforschung wie Materialität, Ästhetik, Affekte und Performativität aus (zur Ablehnung einer rein kommunikationswissenschaftlichen Buchforschung siehe auch Abschnitt 2.4). Eine Ausnahme ihrer Integration in die Buchforschung bilden die Mediennutzungs- und Medienwirkungstheorien, die vor allem durch die ehemalige Anbindung der Buchwissenschaft an die Kommunikationswissenschaft an der Universität Leipzig durch Dietrich Kerlen (2000) vorangetrieben wurde, der über sie ein kommunikationstheoretisches, psychologisches und medientheoretisches Buchforschungsprogramm begründen wollte. Insgesamt verblieben die Versuche jedoch bei einer pragmatischen Anwendung einfacher Ansätze des Nutzen- und Belohnungsansatzes in der Buchmarkt- und vor allem Lese- und Leserforschung der 1960er bis 2000er Jahre, auch weil diese Theorien inzwischen in der Kommunikationswissenschaft selbst in Frage gestellt werden. Eine eigenständige Buchnutzungs- und Buchwirkungstheorie steht deshalb bis heute aus (siehe hierzu ausführlich III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung in diesem Band). Die heterogenen historischen Entwicklungslinien der Buchforschung führen somit nicht nur zu einem relativ großen Gegenstandsbereich, sondern auch zu einem theoretischen Pluralismus (hierzu bereits Hornung 1983: 23–26). In den Beiträgen dieses Bandes zeigen sich jedoch an die früheren theoretischen Konturie-

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 Theoretische Perspektiven und Gegenstände

rungen anschließende theoretische Fluchtpunkte der Buchforschung, die als übergreifende Perspektiven inzwischen transdisziplinär anerkannt sind (siehe Register Theoretische Perspektiven der Buchforschung in diesem Band). (1) Eine erste metatheoretische und grundlegende Perspektive vieler Forschungsfelder und Gegenstandsbetrachtungen bilden Zeichentheorien (Semiotik), welche Bücher als komplexe materielle und / oder kommunikative (Schrift-)Zeichensysteme konstruieren, insbesondere Ansätze der Kultursemiotik sowie Theorien zu Typografie (II.1 Materielle Semantiken, II.2 Gestaltung, III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung; V.3 Verbände, Vereine und Organisationen des Buchhandels; V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung; VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik; VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation). Bücher als historisch, kulturell und funktional variierende (Schrift-)Zeichensysteme zu verstehen ermöglicht die Konzeption ihrer materiellen, medialen, kommunikativen und symbolischen Konnotationen als wesentliche Erklärungsmomente literaler Phänomene der Gestaltung, Nutzung, Organisation und Institutionalisierung von Buchformaten in zeithistorischen Kontexten. Zeichentheorien gewinnen mit den durch digitale Technologien möglichen flexiblen Relationen unterschiedlicher Zeichensysteme in der aktuellen Buchforschung auch als Analyseinstrument wieder an Bedeutung. (2) Eine zweite metatheoretische Perspektive bilden Handlungstheorien, die Bücher als alltägliche oder außergewöhnliche, technische Nutzungsobjekte verorten (II.3 Kulturelle Praktiken des Buchgebrauchs; VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation). Dabei zeigen sich zwei unterschiedliche Perspektivierungen. Als besonders relevant erscheint übergeordnet erstens der Symbolische Interaktionismus (III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung; III.3 Kulturelle Praktiken des Buchgebrauchs; VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik; VII.2 Vergemeinschaftung), der Bücher im Zusammenhang mit ihrer Zeichenhaftigkeit und damit über die Verknüpfung mit Zeichentheorien im alltäglichen sozialen Handeln und der damit verbundenen Interaktion von Menschen als symbolisch bedeutsame Objekte verortet. Bücher sind hier nicht nur rationale Nutzungsobjekte oder kommunikative Hilfsmittel (Trägermedien), sondern konstitutive und bedeutungsvolle Objekte für soziale Beziehungen und ihre Ausgestaltung. Der symbolische Interaktionismus bildet somit die Grundlage für die Verortung von Büchern als kulturelle Objekte (siehe 3). Häufig als Referenz genutzt wird zweitens die (eigentlich widerlegte) Theorie der rationalen Entscheidung, die buchbezogene Phänomene auf (bewusste und rationale) Bedürfnisorientierungen von Menschen zurückführt (III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung; IV.3 Medienwandel). Sie bildet durch ihren systematischen und vereinfachten Zugang der Selektion buchbezogener Handlungen häufig die Basis zur funktionalen Verortung von Büchern in sozialen Strukturen und Systemen (siehe 4). Interaktionen und Bedürfnisorientierungen

3 Buchforschung der Gegenwart 

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verweisen gleichzeitig auf spezifische psychologische Theorien, um Lesen, Buchnutzung und ihre Institutionalisierung zu verstehen (III.1 Lesen; III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung; III.3 Kulturelle Praktiken des Buchgebrauchs; VI.3 Stützungssysteme; VII.2 Vergemeinschaftung). In diesem Zusammenhang werden Handlungstheorien stets dann mit auf Buchinhalte fokussierte Rezeptionstheorien verknüpft, wenn ihre kommunikativen Funktionen analysiert werden und die mit dem Buchgebrauch verknüpften Praktiken ins Blickfeld rücken (III.1 Lesen; III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung). Handlungs- und Rezeptionstheorien werden darauf aufbauend meist im Zusammenhang mit Identitäts-, Rollen- und Sozialisationstheorien genutzt, um die Funktionen von Büchern in literalen Kulturen erklären zu können (III.1 Lesen; III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung; V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel; VI.3 Stützungssysteme; VII.2 Vergemeinschaftung). (3) Als dritte und breiteste metatheoretische Perspektive sind Kulturtheorien anzusehen, die Buchforschung als Kulturwissenschaft verorten. Buchforschung ist dabei übergreifend in den theoretischen Perspektiven der Kultursoziologie verankert. Neben buchkulturellen Konzepten von Kulturtechniken (II.1 Materielle Semantiken; VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation), dem kulturellen Gedächtnis (V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung; VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis) und der Mediatisierung (IV.3 Medienwandel; VII.2 Vergemeinschaftung) sind insbesondere auch theoretische Perspektiven der Literatursoziologie ein Ausgangspunkt der Buchforschung. Produktions- und Rezeptionsästhetik sowie die empirische Literaturwissenschaft bieten sowohl theoretische Perspektiven auf Literaturvermittlung (V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung) als auch auf Materialität, Gestaltung und Diskurse und die von ihnen erzeugten Semantiken durch Paratexte und Textkritik (II.1 Materielle Semantiken; II.2 Gestaltung, VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik). Kultur- und literatursoziologische Theorien konturieren die Analyse materieller Kultur (II.1 Materielle Semantiken; III.2 Typisierung; III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung; IV.3 Medienwandel; VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis). Medientheorien dienen der Erklärung von intermedialen Relationen, Medienkonvergenz, Mediengemeinschaften und Medienvergleichen (IV.1 Intermedialität; IV.2 Mediensysteme; IV.3 Medienwandel; VII.2 Vergemeinschaftung). Schließlich ist die Diskursanalyse (VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik; VI.3 Stützungssysteme; VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis) inzwischen häufiger ein theoretisches Angebot. Aus der kultursoziologischen Perspektivierung ergeben sich auch entsprechende Formen der Geschichtsschreibung von der Geistes- und Ideengeschichte (VI. Wertzuschreibungen und Symbolik) über die Sozialgeschichte (II.1 Materielle Semantiken; II.2 Gestaltung; III.1 Lesen; III.  Kollektive Funktionen der Buchnutzung; V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel; VII.2

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 Theoretische Perspektiven und Gegenstände

Vergemeinschaftung; VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis) bis zur Kulturgeschichte (III.3 Typisierung). (4) Eine vierte metatheoretische Perspektivierung der Buchforschung bilden Struktur- und Systemtheorien, die literale Kulturphänomene um ein kompatibles Gesellschaftsverständnis erweitern und Gegenstände der Buchforschung in größere soziale Zusammenhänge einordnen können, die in handlungs- und kulturtheoretischen Perspektiven sonst nicht sichtbar sind (Kuhn 2018: 445). Darüber hinaus helfen sie buchbezogene Phänomene in ihren sozialen Dimensionen zu differenzieren. An der Schnittstelle zur Kulturtheorie erweisen sich z.  B. die Feldtheorie von Pierre Bourdieu (V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel; V.3 Verbände, Vereine und Organisationen des Buchhandels; V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung), Differenzierungs- und Ungleichheitstheorien (III.1 Lesen; III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung; VI.3 Stützungssysteme; VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe; VIII.3 Internationale Vergleiche von Buch- und Lesekulturen) sowie Netzwerktheorien (V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel; V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung; VII.2 Vergemeinschaftung) als unerlässlich, um die strukturellen Einbettungen von Büchern in die Gesellschaft zu analysieren. Systemtheorien im engeren Sinne (IV.2 Mediensysteme; IV.3 Medienwandel; V.1 Buchökonomie; V.3 Verbände, Vereine und Organisationen des Buchhandels; VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik; VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe; VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis) sind zuletzt immer dann unerlässlich, wenn makroskopische soziale Zusammenhänge untersucht werden, die mit Büchern emergent werden oder für die Bücher eine Rolle spielen. Besonders relevant sind dabei ökonomische Aspekte des Buchhandels und der Buchmärkte. Theoretische Perspektiven der Medien- (z.  B. Medienmanagement, Plattformökonomie) und Informationsökonomie (IV.3 Medienwandel; V.1 Buchökonomie; V.3 Verbände, Vereine und Organisationen des Buchhandels; V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung; VI.3 Stützungssysteme; VII.2 Vergemeinschaftung; VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation; VIII.3 Internationale Vergleiche von Buch- und Lesekulturen) liefern dabei detaillierte Modelle für die differenzierte Organisiertheit und Institutionalisierung von Büchern und literalen Praktiken in einer Gesellschaft. (5) Der große Gegenstandsbereich der Buchforschung führt über diese vier Linien hinaus zur Integration verschiedener spezifischer theoretischer Perspektiven, die für bestimmte Fragestellungen situativ verwendet werden. So werden z.  B. Gestaltungs- und Kunsttheorien für die Betrachtung von Büchern als Artefakte oder Medienobjekte hinzugezogen (II.2 Gestaltung; III.3 Typisierung). Sprachtheorien der Linguistik sowie Modelle der Kognitions- und Neurowissenschaften werden dagegen relevant, wenn es um die Gestaltung von Texten und Büchern sowie das Lesen geht (II.2 Gestaltung; III.1 Lesen). Für letzteres sind dann auch Mediennut-

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zungs- und Medienwirkungstheorien anwendbar, die Buchnutzung und Lesen in deren Gratifikationen und soziotechnischen Dimensionen abbilden können (III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung; VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation). Theorien aus den Didaktiken und der Bildungsforschung sind in diesen Zusammenhängen schließlich hilfreich, wenn es um Lesesozialisation oder Bücher als Bildungsmedien geht (V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung; VI.3 Stützungssysteme). Organisationstheorien werden dagegen genutzt, um bestimmte Organisationsformen mit relevantem Buchbezug zu untersuchen (V.3 Verbände, Vereine und Organisationen des Buchhandels; VII.2 Vergemeinschaftung), während die Betriebswirtschaftslehre zur Konturierung der buchhändlerischen Praxis und Ausbildung (V.1 Buchökonomie) herangezogen werden muss. Zur Beschreibung der formellen Institutionalisierung von Büchern werden schließlich rechtswissenschaftliche Systematisierungen (VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen) genauso benötigt wie (öffentlichkeitsbezogene) Kommunikationstheorien (IV.2 Mediensysteme; VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe). Die notwendigen Einzelperspektiven spiegeln sich dann teilweise auch in erweiterten Formen der Geschichtsschreibung literaler Phänomene (z.  B. als Organisations- oder Unternehmensgeschichte, Mikrogeschichte, Problemgeschichte oder Wissensgeschichte). Über die meisten Beiträge dieses Handbuchs hinweg werden über diese Linien und domänenspezifischen Einzeltheorien zwei potenzielle theoretische Metaperspektiven sichtbar, welche eine umfassendere Integration ermöglichen könnten oder bereits Anwendung finden. Besonders einflussreich zeigt sich ausgehend von den vielfältig verwendeten Arbeiten Pierre Bourdieus erstens eine übergreifend praxeologische Perspektivierung der Buchforschung (aktueller Überblick bei Rautenberg und Schneider 2023) (II.1 Materielle Semantiken; II.2 Gestaltung; III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung; III.3 Kulturelle Praktiken des Buchgebrauchs; IV.3 Medienwandel; V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel; V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung; VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik; VI.3 Stützungssysteme). Diese verweist auf einen Kulturbegriff, der auf Praktiken, Praxis und Praxisformationen als soziale Entitäten referiert und über diese Materialität, Körperlichkeit, Akteure, Ideen, Handlungen, Strukturen und Institutionen in Netzwerken ihrer Emergenz und Performanz zusammenhängend abbildet. Die mit dem Practice Turn verknüpfte Wissenschafts- und Technikforschung (Science & Technology Studies) (im Überblick Bauer 2017) wird zweitens häufig als bisher zu wenig genutzte theoretische Perspektive der Buchforschung genannt (IV.2 Mediensysteme; IV.3 Medienwandel; VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation). Auch in ihr werden Materialität, Praktiken und Diskurse sowie die daraus entstehenden Wissensordnungen, Strukturen und Systeme integrativ betrachtet. Ihre Ansätze ermöglichen daher einerseits eine theoretische Perspektivierung

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 Theoretische Perspektiven und Gegenstände

buchbezogener Praktiken der Produktion, Distribution und Rezeption, andererseits die Reflexion von Nutzungs- und Kommunikationspraktiken, von Diffusionsund Adoptionsprozessen von Büchern, von differenzierten Publikationskulturen oder der Institutionalisierung literaler Praktiken in wissenschaftlichen, politischen, ökonomischen oder kulturellen Systembereichen. Prominent gefordert wird hier die seit der Jahrtausendwende populäre Akteur-Netzwerk-Theorie (II.1 Materielle Semantiken; II.2 Gestaltung; III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung; V.3 Verbände, Vereine und Organisationen des Buchhandels; V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung; VI.3 Stützungssysteme), die in den letzten Jahren in den Kultur- und Medienwissenschaften immer mehr an Relevanz gewonnen hat. Sie ermöglicht die Analyse von Praktiken über Handlungs- und Wirkungsketten in einem Netzwerk von Aktanten, die auch Bücher sein können, die soziale Relationen hervorbringen und in Kraft setzen (grundlegend Latour 2007). Dieses Konzept verteilter Handlungs- und Wirkungsmacht (agency) könnte Büchern eine benennbare Rolle in der Emergenz literaler Praktiken und Kultur zuweisen, die sie weder randständig in Strukturen noch im Zentrum der sie umgebenden Phänomene verortet, sondern die Entstehung ihrer sozialen Leistungen aus Netzwerken mit vielfältigen anderen Elementen ableitet, und gerade dadurch einen integrativen Rahmen der Gegenstände der Buchforschung bietet. Bücher, Schriftmedien, Schreiben, Lesen usw. sind hier oft typische Beispiele, die jedoch in den grundlegenden wissenschaftsbezogenen Studien zu Biochemie (Latour und Woolgar 1979; Knorr-Cetina 1991 [1984]) oder Physik (Knorr-Cetina 1999) nur oberflächlich thematisiert werden.

4 Buchforschung als institutionalisierte Wissenschaft Die gegenwärtigen Gegenstände und theoretischen Perspektiven der Buchforschung weisen in ihrer Ausdehnung und ihrer transdisziplinären Bearbeitung auf ein makroskopisches Forschungsfeld hin, das für Gesellschaft und Kultur von großer Bedeutung ist. Es ist gerade deshalb durch sehr unterschiedliche (disziplinäre) Forschungspraktiken und -strukturen bestimmt, die auf seine Wahrnehmung und wahrgenommenen Leistungen nach innen (Wissenschaft) und außen (Gesellschaft) zurückwirken (Bourdieu 1975: 20). Eine interdisziplinäre Community der Buchforschung als spezifische Wissenskultur, deren gemeinsame Ziele die anschlussfähige Wissensproduktion zum Buch, in ihren Ergebnissen vergleichbare Forschungspraktiken und gemeinsame Lehrhorizonte sind, existiert auch deshalb bis heute nicht. Eine Wissenschaft, die versucht dieses breite Feld abzubilden und zu institutionalisieren, wurde früh als „Monsterwissenschaft“ (Glotz und Langenbucher 1965: 310) bezeichnet, die auf Dauer wissenschaftlich, hochschulpolitisch und im Praxisbezug scheitern müsse. In derartigen diskursiven Aussagen zeigt sich jedoch nur

4 Buchforschung als institutionalisierte Wissenschaft 

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die Irrationalität wissenschaftlicher Selbstbeschreibungen im Kontext historischer Werthaltungen, Praktiken und Machtverhältnisse (siehe Abschnitt 2.4), denn sinnvoller wäre es (gewesen), die spezifische (zeithistorische) Wissenskultur (Wissenssysteme, Werthaltungen) als Hintergrund einer solchen Wissenschaft konstruktiv zu konturieren und sie darin zu verorten (Müller-Wille et al. 2017: 6). Stattdessen kam es durch den Diskurs um die institutionelle Deutungshoheit einer ‚Buchwissenschaft‘ zu drei folgenschweren Missverständnissen: Erstens wurde und wird einer solchen Wissenschaft häufig vorgeworfen, sie sei nicht bereit, sich mit den buchbezogenen Perspektiven anderer Disziplinen auseinanderzusetzen (z.  B. Rühl 1979: 45; Giesecke 1992; Cahn 1994: B33; Saxer 2010: 72–73). Derartige Aussagen sind auch im Hinblick der hier gezeigten theoretischen Fundierung (siehe Abschnitt  3.2) bemerkenswert, denn Bücher wurden in jenen Fächern, aus denen diese Vorwürfe stammen und die sich meist selbst noch mit ihrer theoretischen Profilierung beschäftigen, lange Zeit gar nicht thematisiert (Kommunikationswissenschaft), als selbstverständliche und nicht hinterfragte Kommunikationsmittel vorausgesetzt (Literaturwissenschaft) oder als Referenzmedium für audiovisuelle oder digitale Medien stilisiert (Medienwissenschaft). Theoretische Perspektiven zu den komplexen Gegenständen der Buchforschung liegen dort somit entweder gar nicht oder nur sehr eingeschränkt für einzelne Gegenstände vor (Kuhn 2018: 22). Die Frage, was Bücher eigentlich sind und welche kulturellen Leistungen sie in modernen Gesellschaften erbringen, kann auch deshalb keine der genannten Disziplinen selbst beantworten. Eine institutionalisierte Buchforschung wird zweitens (auch aufgrund ihrer womöglich verfrühten Bezeichnung als ‚Buchwissenschaft‘) häufig als Einzelmedienwissenschaft eingeordnet, deren Relevanz mit der zunehmenden digitalen Trennung von Inhalten (Content) und Formaten verschwindet, da, so die wiederholte Begründung, sich ihre einzelnen (materiell bedingten) Forschungsgegenstände (‚Kodex‘) auflösen. Eine institutionalisierte Buchforschung bezieht sich allerdings trotz ihres Namens gar nicht auf ein klar abgegrenztes Einzelmedium Buch, sondern auf das übergeordnete Phänomen literaler Kulturen, die heute noch die Basis moderner Gesellschaften sind und bleiben werden (siehe Abschnitt 3.1). Sie ist somit eine übergreifende Kultur- und Sozialwissenschaft (hierzu bereits Migoń 1989: 705), die sich deshalb eher der Kultur-, Medien- und Literatursoziologie sowie der Kulturanthropologie zuordnen lässt als der wesentlich enger geführten Medienund Kommunikationswissenschaft. Ihr primärer Gegenstand ist nicht ‚das (Medium) Buch‘, sondern die mit vielfältigen Formen von Schriftmedien und -artefakten verknüpften historischen und gegenwärtigen soziokulturellen literalen Praktiken. Im Zusammenhang mit den ersten beiden Fehleinschätzungen wird drittens häufig unterstellt, eine institutionalisierte Buchforschung hätte kein reflektiertes Formalobjekt (hierzu Rautenberg 2010: 15) und könne deshalb auch formal keine

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eigenständige wissenschaftliche Disziplin sein. Was eine Disziplin jedoch ausmacht, ist bis heute umstritten und weder wissenschaftlich noch hochschulpolitisch definiert. Häufig zitiert wird Rudolf Stichweh (1994), der einen homogenen Kommunikationszusammenhang, einen akzeptierten Korpus an grundlegendem Wissen, ein spezifisches Set von Fragestellungen, Forschungsmethoden und Problemlösungsperspektiven (siehe Abschnitt 4.1) sowie einen berufspraktischen Zusammenhang voraussetzt. Begriffe, Theorien oder Methoden definieren Disziplinen jedoch nicht allein (Lauer 2022: 175), relevant sind stattdessen zusätzlich rationale Begründungen ihrer Leistungen, eine übergeordnete Forschungsperspektive und eine konsensfähige Forschungsgemeinschaft (siehe Abschnitt 4.2).

4.1 Formalobjekt Eine wissenschaftlich institutionalisierte Buchforschung hat die Aufgabe, literale Kulturen und ihre Phänomene transdisziplinär und integrativ zu konzipieren (Rautenberg 2018: 144). Hierzu benötigt sie ein grundlegendes theoretisches Konzept (Saxer 2004: 114). Ihre komplexen Gegenstände (siehe Abschnitt  3.1) können im Kontext domänenspezifischer theoretischer Modelle (siehe Abschnitt  3.2) allerdings nicht über eine einheitliche Theorie des Buchs beschrieben werden. Hierzu trägt auch die bereits mehrfach benannte Doppelperspektive der Buchforschung als historische Kultur- und empirische Sozialwissenschaft bei, die zu einem gleichberechtigten Nebeneinander bzw. der Integration der in anderen Fächern getrennten Dimensionen Materialität, Medialität und Kommunikation und dort betonten zeichen-, kommunikations-, handlungs- und strukturtheoretischen Perspektiven führt (hierzu auch Kuhn 2018: 443–449). Gerhard Lauer (2022: 174) beschreibt die aktuelle Buchforschung in diesem Zusammenhang als „Bricolage“, deren Gegenstandsfeld eine große Nähe zur Ethnologie aufweist und daher von Zufällen und aktuellen Interessen geprägt ist. Die Entscheidung für oder gegen die Nutzung bestimmter theoretischer Perspektiven ist somit nicht paradigmatisch geregelt, sondern erfolgt im Kontext ihrer Selektion und Anpassung an konkrete Gegenstände und Fragestellungen vor allem nutzen- und wertorientiert (zur Nützlichkeit einer solchen Herangehensweise Schülein und Reitze 2021: 217). Das Formalobjekt einer institutionalisierten Buchforschung lässt sich in diesen Zusammenhängen über das Theorienetz (zum Konzept Balzer und Sneed 1977 und 1978) der Buchforschung beschreiben (siehe Abschnitt  3.2), auch weil derartige Netze immer zusammen mit anderen Disziplinen konstruiert werden. Theorienetze sind durch ihre historisierte Entstehung weder beliebige (Saxer 2010: 74) noch additive (Kocka 1977: 98) Zusammenstellungen, sondern in ihren Selektionen und Auslegungen reflektierte intertheoretische Konstruktionen, deren Nützlichkeit

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durch wiederholte Anwendung, potenzielle Anwendbarkeit oder logische Zusammenhänge begründet ist. Die Gegenstände der Buchforschung werden gerade durch dieses historisch entwickelte Theorienetz daher zu einem anerkannten Formalobjekt, da dieses über seinen systematischen Begründungszusammenhang generalisierende Aussagen der gesammelten, beschriebenen und klassifizierten empirischen Ausprägungen ermöglicht. Zugrunde liegt ein offener Buchbegriff (z.  B. Schriftmedien, Leseobjekte, literale Kulturartefakte), über den unterschiedliche Fragestellungen und Gegenstände zusammengeführt, kombiniert und erforscht werden können (Rautenberg 2010: 24). Bücher sind hierzu weit als kulturelle und kommunikative Objekte definiert, die je nach historischer Kontextualisierung unterschiedliche materielle wie immaterielle Formate hervorbringen, mit denen bestimmte Praktiken, Organisationsformen, Institutionen und Werthaltungen einhergehen (Cahn 1994: B34). Diese erbringen zusammen wiederum spezifische soziale Leistungen in den sie integrierenden Medienkonstellationen. Der Gegenstand einer institutionalisierten Buchforschung definiert sich in Anlehnung an die interdisziplinäre Buchforschung (siehe Abschnitt 3) daher durch verschiedene miteinander verknüpfte theoretische Dimensionen, die zusammen ihr Formalobjekt abbilden: (1) Bücher sind historisch bedingte, gestaltete und differenzierbare Kombinationen der Materialität und Medialität schriftcodierter Inhalte (Formate), die über Techniken (als soziale Konstruktion verfügbarer Technologien) realisiert werden (z.  B. Tontafeln mit Gesetzen, Buchrollen religiöser Überlieferung, klösterliche Handschriften, Frühdrucke der Bibel, Gelehrtenkodizes, Journale und Zeitschriften, Romantaschenbücher, Hardcover-Sachbücher, E-Books und E-Zines, digitale Fachinformationsportale, Blogs oder Websites uvm.). Sie sind somit vielfältige lebensweltliche Artefakte und Kommunikationsmedien jeder literalen Kultur. (2) Bücher bringen in ihren jeweiligen Formaten spezifische Nutzungstechniken (Handlungen) und Kommunikationsformen (Rezeptionsweisen) hervor. Nutzung und Rezeption kumulieren in der sozialen Praxis des (differenzierten) Lesens als Zugang zur jeweiligen literalen Kultur. Lesen ist hierbei als komplexe kulturelle Praxisformation definiert, die Leseprozesse in ihren technischen, körperlichen und räumlichen Dimensionen unterscheidet und untersucht. (3) Formate, Nutzungstechniken und Kommunikationsformen bringen ein Geflecht bestimmter materiell-körperlicher, mentaler und sozialer Praktiken und Repräsentationen der Produktion, Distribution und Nutzung von Büchern hervor und werden durch dieses hervorgebracht. Mit diesen rücken zeithistorische Akteure, Technologien, Handlungen, Strukturen, Netzwerke und Systeme in den Fokus, die mit der Produktion, Distribution und Nutzung von Büchern zusammenhängen oder deren Ursprung Bücher sind. Praktiken wie Repräsentationen von Büchern sind inhärent und a-historisch immer technisch konstituiert.

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(4) Buchbezogene Praktiken der Produktion, Distribution und Nutzung sind mit der Überlieferung, Aktualisierung und Vermittlung von Wissen verbunden, wobei Bücher als plurale nicht-menschliche Akteure bzw. Rollenträger auftreten können. Sie sind somit Teil der gesellschaftlichen bzw. kulturhistorischen Wissensproduktion und -vermittlung, die bestimmte Praktiken ermöglicht (hierzu auch Brandt 2017: 96). Wissensordnungen literaler Kulturen bringen wechselseitig zu buchbezogenen Praktiken bestimmte Werthaltungen gegenüber Formaten, Nutzungspraktiken und Lesen hervor, die wiederum Auslöser und Folge der Ausbildung und Gestaltung sozialer Strukturen (z.  B. Institutionen, Organisationen, Märkte) sind. (5) Wissensordnungen, Werthaltungen und Strukturen mit Bezug zu Büchern verweisen auf ihre jeweilige zeithistorische Bedeutung für soziale Systeme (z.  B. Bildung, Wissenschaft, Politik, Erziehung, Kultur), mit der kollektive Bedeutungskonstruktionen, und damit Leistungen und Funktionen in den soziokulturellen Bereichen Überlieferung und Geschichte, Bildung und Erziehung, Wissenschaft und Fortschritt, Kunst und Literatur, politische (demokratische) Kultur und soziale Teilhabe sowie der individuellen Gestaltung menschlicher Lebenswelten emergent werden (ähnlich bereits Raabe 1984: 1; Rautenberg 2018: 144). (Appendix) Ein so definiertes Formalobjekt ist aufgrund seiner Historizität und Ausrichtung auf kulturelle und soziale Phänomene, die mit Büchern verknüpft sind, inter- bzw. transdisziplinär. Es erstreckt sich daher unter anderem in die Medienwissenschaft (z.  B. Hörbuch, Social Media), die Kommunikationswissenschaft (z.  B. Journalismus, Periodische Presse, Mediennutzung, politische Kommunikation), die Literaturwissenschaft (z.  B. Literaturbetrieb, Autorschaft, Editionen) oder in die Wirtschaftswissenschaft (z.  B. Medienmärkte, Betriebslehre), aber ohne in deren Formalobjekten aufzugehen. Mit dem skizzierten weiten Buchbegriff fächert sich das Formalobjekt einer institutionalisierten Buchforschung somit im Kontext gesamtkultureller und -gesellschaftlicher Fragestellungen auf (Füssel 2014b: 8), weshalb ein reflektiertes und universelles Kultur- und Gesellschaftsverständnis notwendig wird, das nach Ulrich Saxer (2010: 81) nur soziologisch fundiert sein kann (siehe zur Bedeutung soziologischer Perspektiven Abschnitt 3.2), und die ständige Transformation ihrer Gegenstände durch Kulturtechniken untersucht. Dabei ergänzen und konturieren sich kultur- und sozialwissenschaftliche Gegenstände (Frietsch 2014: 39) und frühere Gegenüberstellungen geschichts- und gegenwartsbezogener Buchforschung (siehe Abschnitt 2.4) werden hinfällig.

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4.2 Buchwissenschaft Ulrich Saxer (2010: 94) beschreibt die inter- und transdisziplinäre theoretische Konzeption und Anschlussfähigkeit als konstituierende Merkmale einer institutionalisierten Buchforschung, deren Leistungsvermögen durch die intertheoretischen Relationen bzw. die Übersetzung, Vermittlung und Verknüpfung von disziplinären Perspektiven und Ergebnissen charakterisiert ist: Buchwissenschaft verbindet und erweitert die Ergebnisse und Perspektiven aus verschiedenen Disziplinen, erzeugt damit komplexe interdisziplinäre Erklärungsmodelle für buchbezogene Phänomene, und nutzt diese für eigene Forschung mit detaillierteren Erkenntnissen. Auch Ernst Fischer (2000: 29) betont, dass die Widersprüche der verteilten Buchforschung durch ihre Institutionalisierung nicht eingeebnet werden dürfen, stellen die daraus hervorgebrachten Debatten und Synthesen doch ihre wesentliche Produktivkraft im Wissenschaftssystem dar. Diese Syntheseleistungen, die daran anschließenden Erkenntnisse sowie der Theorie- und Wissensexport in andere Disziplinen stellen somit die genuine Problemlösungskompetenz einer Buchwissenschaft dar, die auch im Wissenschaftssystem anerkannt ist (Hochschulrektorenkonferenz 2008: 5). 4.2.1 Legitimation Die inhaltliche Relevanz einer Buchwissenschaft wird in den Gegenständen und theoretischen Perspektiven in diesem Handbuch deutlich, deren resultierendes Formalobjekt keine wissenschaftliche Disziplin allein abdecken kann. Ihre Erkenntnisse sind für gesellschaftliche Teilbereiche wie Überlieferung und Geschichte, Wissenschaft, Bildung und Erziehung, Politik und Ökonomie sowie übergreifend für soziale Integration handlungsbefähigend und -leitend, und damit notwendig für dortige Entscheidungen und Entwicklungen. Der integrative Charakter einer Buchwissenschaft entspricht dabei bereits den Anforderungen jener interdisziplinären Schnittstellen, wie sie gegenwärtig hochschulpolitisch an den meisten Universitäten gefordert und gefördert werden: Ihre Gegenstände bedingen sowohl transdisziplinäre Kenntnisse der verteilten Buchforschung als auch interdisziplinäre Zusammenarbeit, um die wachsende Komplexität der buchbezogenen Gegenstände verarbeiten zu können. Ihr damit verbundenes spezifisches Problemlösungspotenzial, ihr detailliertes Gegenstandswissen und ihre theoretisch integrative Perspektive auf Buchformate und die mit ihnen verknüpften literalen Phänomene sind in Zeiten einflussreicher Metatrends wie Globalisierung, Digitalisierung, Kommerzialisierung und Mediatisierung gleichzeitig wichtiger denn je, denn gerade mit diesen treten vielfältige neue Probleme im Zusammenhang mit Schrift- und Lesemedien zu Tage, welche die Grundlage der

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digitalen Wissensgesellschaft und die in ihr angestrebten kulturellen und sozialen Entwicklungen gefährden. Mit ihrer kulturwissenschaftlichen Perspektivierung sind buchwissenschaftliche Forschung und Lehre dabei in den literalen Grundlagen der (post-)modernen Gesellschaft und Kultur verortet, und werden ihre Bedeutung daher auch nie verlieren (Fischer 2000: 29): Sie fokussieren mit Literalität verbundene Gegenstände wie soziale Ungleichheit, Wissensentwicklung und -vermittlung, politische Information und Meinungsbildung oder die Gestaltung individueller Lebenswelten, zeigen Konsequenzen ihrer Veränderungen auf und bieten Kompetenzen zur Lösung damit verbundener Probleme (Frietsch 2014: 32). Als realweltliche Wissenschaft arbeitet Buchwissenschaft gleichzeitig bestimmten sozialen Systemen direkt zu, z.  B. dem Bildungssystem, der Wissenschaftskommunikation, dem Buchhandel oder der Kulturbranche (Füssel 2014a: 8). Als Schnittstellenforschung ist sie zudem ein Ort des ‚riskanten Denkens‘ (Hans Ulrich Gumbrecht), welche die Komplexität literaler Phänomene überhaupt erst sichtbar macht und durch innovative Ansätze dazu beiträgt, vorschnelle Entscheidungen und Bewertungen ihrer Gestaltung zu verhindern. Ihre multiperspektivischen Ansätze helfen Prognosen zu treffen und Utopien / Dystopien mit Bezug zu ihren Gegenständen zu vermeiden, was einzelne Disziplinen aufgrund fehlendem oder nicht integriertem Spezialwissen nicht in dieser Form leisten können (hierzu Kuhn 1967: 45). Einer Buchwissenschaft fehlt es entsprechend weder an soziokultureller Relevanz noch an Adressaten ihrer Ergebnisse, ihr wissenschaftliches Profil als Schnittstellenwissenschaft trägt zudem wesentlich zur Wettbewerbsfähigkeit von Hochschulen bei (Hochschulrektorenkonferenz 2008: 5), und fördert in ihrer selbstverständlichen Vernetzung in die Gesellschaft und interdisziplinären Prägung die Anerkennung und Leistungsfähigkeit des Wissenschaftssystems selbst (Schmitt 2014: 52). 4.2.2 Positionierung Die Legitimation einer Buchwissenschaft hängt gleichzeitig von ihrer Positionierung in der akademischen Umwelt ab. Bereits Robert  K. Merton (1973 [1942]: 267) betonte, dass Wissenschaften trotz ihrer Relevanz nicht immun gegen das Absprechen ihres Nutzens sowie ihre machtmotivierte Beschränkung und Verdrängung sind (hierzu wissenschaftssoziologisch im Überblick Weingart 2003). Wissenschafts- und hochschulpolitisch ist Buchwissenschaft als sogenanntes Kleines Fach dabei gegenwärtig „[…] zu wenig exotisch, um wenigstens als Orchideenfach Aufmerksamkeit für sich zu beanspruchen“ (Lauer 2022: 173). Sie weist wenige ausgewiesene Professuren sowie generell eine geringe personelle Ausstat-

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tung auf und ist nur an vier Universitäten (Mainz, Erlangen, München, Münster) vertreten. Eine buchwissenschaftliche Fachcommunity wurde aufgrund einzelner Fachinterpretationen an verschiedenen Standorten nie vollständig erreicht (siehe Abschnitt 2.4), weshalb auch der Aufbau einer gemeinsamen wissenschaftlichen Fachgesellschaft und einschlägiger Publikationsorgane bisher ausgeblieben ist. In Verbindung mit der zunehmenden Steuerung und Regulierung der Forschung durch politische Interessen, die sich in einer zunehmenden Überlagerung wissenschaftlicher und ökonomischer Handlungsrationalität zeigt (hierzu Böschen 2017: 330), können die inzwischen weitgehend auf quantifizierbaren Kennzahlen basierten, durch digitale Datenerhebungen und -auswertungen noch potenzierten Anforderungen der Hochschulpolitik deshalb kaum erfüllt werden. In Rankings taucht Buchwissenschaft als (zu) kleines Fach nicht auf. Ihre kaum mögliche disziplinäre Zuordnung führt zu Problemen in Begutachtungsverfahren von Förderorganisationen, in denen sie keine autonomen Fachvertreter*innen hat, sowie den angrenzenden disziplinären Fachgesellschaften und -publikationen. Ihre Internationalisierung erweist sich aufgrund ihrer Spezifik und Größe als schwierig und ist vom individuellen Engagement der wenigen Professor*innen abhängig. Gleichzeitig wirkt die Wahrnehmung von Büchern auf wissenschaftliche, hochschulpolitische und öffentliche Diskurse um eine Buchwissenschaft zurück: Mit der exponentiellen Zunahme und Zugänglichkeit von Informationen über digitale Netzwerke ist dabei die zunehmende Verdrängung institutionalisierten Fachwissens zugunsten populären Alltagswissen zu beobachten, das ersteres, trotz hoher Ungenauigkeit, nicht nur herausfordert, sondern teilweise grundsätzlich in Frage stellt (hierzu Azzouni 2017: 336–337). Die Buchforschung ist hier in besonderem Maße betroffen, denn Bücher gelten im Alltagswissen als Gegenstände, über die alles bekannt bzw. sichtbar ist. Bücher scheinen inzwischen so selbstverständliche Alltagsphänomene zu sein, dass ein eigenes Fach dafür kaum notwendig erscheint (kritisch hierzu Lauer 2022: 173). Zu dieser falschen Bewertung haben zwei Aspekte beigetragen: Folgenschwer ist erstens die historische Verengung der Buchforschung auf die Materialobjekte Rolle und Kodex. In der Wahrnehmung des Buchs als ‚altem‘ Medium in Form des Kodex, das zudem vom ‚Aussterben‘ bedroht sei (im Überblick Kuhn 2013), wird schnell und unbegründet der Verdacht einer veralteten, für aktuelle Fragen nicht mehr relevanten Wissenschaft vom Buch geäußert, die kein neues Wissen mehr produzieren könne (Bahlmann 2014: 72). Hinzu kommt zweitens, dass buchbezogenes Wissen nicht mehr alleinige Legitimationsquelle für Kunst, Kultur, Politik und Wissenschaft ist: War Buchforschung im 20. Jahrhundert noch eine wesentliche institutionelle Form wissenschaftlicher Beratung zur Entscheidungsregulierung, insbesondere für politische Meinungsbildung, Bildungspolitik, Geschichtsschreibung und Informationsvermittlung, hat sie aufgrund der wachsenden Bedeutung anderer Medien und digitaler Technologien an Relevanz

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eingebüßt, ohne jedoch obsolet zu werden. Hierzu trägt auch der Zustand ihres sozialen Referenzbereichs (Buchhandel, Bibliotheken und Archive, Bildungseinrichtungen, Literarisches Feld) bei (Müller-Wille et al. 2017: 3). Verlieren Teile dieses Bereichs wie in der Gegenwart an Bedeutung, wirkt das auch auf die Wahrnehmung der Buchforschung und der Relevanz einer Buchwissenschaft zurück. 4.2.3 Prognose Mit Thomas  S. Kuhns Phasenmodell befindet sich Buchwissenschaft somit trotz ihrer wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit und Relevanz in einer Krise und ihre Institutionalisierung als autonome wissenschaftliche Struktur erweist sich aufgrund ihrer Wissenschaftsgeschichte, ihrer integrativ-interdisziplinären Ausrichtung (zu diesen beiden Problemen bereits Saxer 2010: 76) sowie der falschen öffentlichen Wahrnehmung ihres Gegenstands (hierzu auch Lauer 2022) als instabil. Für ihre Stabilisierung erscheint der Einsatz ihrer Agenten (Wissenschaftler*innen, andere Disziplinen, Berufs- und Interessenverbände, Unternehmen, Förderorganisationen und kulturpolitische Institutionen) und standortübergreifenden buchwissenschaftlichen Community in diesem Licht wichtiger als der wissenschaftliche Gewinn durch ihre Forschung (hierzu bereits Bourdieu 1975: 20). Der Nutzen ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse wird in diesen Zusammenhängen in Zukunft daran gemessen werden, ob ihre Gegenstände als „qualifizierter Reflexion bedürftig und zugänglich wahrgenommen werden“ (Saxer 2004: 111). Es erscheint daher dringlich, die nur scheinbar randständigen und selbstverständlichen buchbezogenen Phänomene literaler Kultur so aufzubereiten, dass ihre Erforschung abseits anschaulicher, temporärer und vereinfachter Ausschnitte (aktuell z.  B. E-Book, Wattpad) in der Öffentlichkeit als notwendig anerkannt wird (Schmitt 2014: 52). Hierzu müssen Bücher und vor allem die über sie hervorgebrachten literalen Kulturen als zeitlos relevanter und problembehafteter Gegenstand vermittelt werden. Hierzu leistet dieses Handbuch durch die Bestimmung ihrer Gegenstandsdimensionen und theoretischen Perspektivierungen einen Beitrag. Notwendig wäre darüber hinaus aber auch eine gemeinsame und zukunftsträchtige methodische Perspektivierung, deren Erweiterung durch digitale Methoden (Lauer 2022) nicht nur neue Erkenntnisse erzeugen, sondern auch Gegenstände addieren oder, ganz im Sinne ihres integrativen Charakters, neu interpretieren wird.

Literatur 

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 Theoretische Perspektiven und Gegenstände

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 Theoretische Perspektiven und Gegenstände

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II Buchartefakte

II.1 Materielle Semantiken Katharina Walter

1 Gegenstandsbereich Die Frage, was ein ‚Buch‘ ist, ist für die Buchforschung existenziell. Welche signifikanten Erscheinungsmerkmale ihren Forschungsgegenstand auszeichnen, ist mittlerweile eine begriffliche Herausforderung in Anbetracht der phänomenalen Spannweite ihrer Objekte. Aus diesem Grund setzt heute jede buchbezogene Forschung die Präzisierung ihres Buchbegriffs unbedingt voraus. Das Aufkommen digitaler Buchformate vor der Jahrtausendwende hat die Erosion des ‚klassischen‘ Phänotypus der Fach- und Alltagssprache längst eingeleitet. Das Buch ist nicht mehr nur ein aus einer großen Anzahl von leeren, handbeschriebenen oder bedruckten und teils illustrierten Seiten bestehendes und in Lagen geheftetes Objekt, geschützt von einem Einband und einem zusätzlichen Schutzumschlag. Diese Eigenschaften des Materialobjekts werden bis dato noch als Standard in einschlägigen Lexika und Wörterbüchern der Buchbranche definiert (Hiller und Füssel 2006: 61; Grebe 2017). Jedoch hat sich in der Forschung als Reaktion auf digitale Technologien und die Synchronie gedruckter und digitaler Buchformate ein medientheoretisch gewichteter Buchbegriff ausgebreitet, der nicht zuletzt die zunehmende Profilierung der Buchforschung als ein kommunikations- und medienwissenschaftliches Untersuchungsfeld widerspiegelt (Saxer 2010; Keiderling 2016). Bücher werden als ‚Buchmedien‘ mit einem polymorphen Erscheinungsbild konzeptualisiert (Rautenberg und Wetzel 2001: 4; Rautenberg 2013), wodurch das immanente Wechselverhältnis zwischen Medialität und Materialität stärker in den Fokus rückt. Speicherkapazitäten und Zeichensysteme des Buchs werden mit den jeweiligen Trägereigenschaften und Schreibmaterialien strukturell eng verknüpft (Rautenberg 2015: 65; Rautenberg 2018: 146–147). Die historische Persistenz des Buchs als Speichermedium wird auf diese Weise nicht mit unbedingter materieller Formbeständigkeit assoziiert, sondern mit einem hohen Grad an materieller und technologischer Anpassungsfähigkeit an wechselnde gesellschaftliche Anforderungen. Allerdings gelten herstellungstechnische Faktoren nach wie vor in der Geschichts- und Gegenwartsforschung als wichtige Ordnungskriterien. Im Allgemeinen werden die sumerischen, teils gebündelten Tontafeln des 3. Jahrtausends v. Chr. als Vor- oder Ursprungsformen bezeichnet. Die daran anschließenden zentralen Entwicklungsstufen sind die antike, mit Rohrfeder beschriebene Papyrusrolle, der spätantike und mittelalterliche Kodex mit in Lagen gehefteten Pergamentblättern, das mit beweglichen Lettern auf Papier gedruckte Buch der Neuzeit und schließlich https://doi.org/10.1515/9783110745030-002

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 II.1 Materielle Semantiken

die digitalen Lesegeräte des 21. Jahrhunderts. Diese Genealogie strukturiert bislang die geläufigen Überblicksdarstellungen, wodurch sich die Geschichte des Buchs als ein lineares Fortschreiten hin zu materiell und technisch komplexeren Systemen darstellt (Janzin und Güntner 2007; Hilz 2019). Nicht nur die materielle Diversität ihres Forschungsgegenstandes, sondern auch ihr interdisziplinäres Selbstverständnis fordert die aktuelle Buchforschung heraus. In ihrer Abkehr von einer ausschließlich phänomenologischen Sichtweise behandelt sie das Buch inzwischen als „Formalobjekt wissenschaftlicher Disziplinierung […], dessen alltagsweltliche Komplexität disziplinenspezifisch reduziert wird“ (Rautenberg und Wetzel 2001: 1). Infolgedessen ist das, was unter der Materialität des Buchs verstanden und beforscht wird, abhängig von den jeweiligen theoretischen Grundlagen des Fachs sowie dem jeweils zur Verfügung stehenden methodischen und terminologischen Instrumentarium. Die dem Buch gewidmeten Fachdiskurse konstruieren auf diese Weise unterschiedliche Materialitäten des Buchs mit den ihnen eigenen Semantiken. Der folgende Überblick wird versuchen, die für die Buchforschung wichtigsten, teils fächerübergreifenden Materialitätskonzepte sowie ihre theoretischen Ansätze und Methoden sowohl historisch als auch systematisch darzustellen. Die daran beteiligten Disziplinen wie die Buchwissenschaft, Bibliotheks- und Informationswissenschaft, Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft, Kulturwissenschaft und die Naturwissenschaften beweisen das breite interdisziplinäre Forschungsinteresse am Buch als Materialobjekt. Es werden sowohl neuere Konzepte angesprochen, die sich ausdrücklich mit Materialitätsfragen – nicht zuletzt im Zuge des Material Turn  – auseinandersetzen, als auch implizite Konzepte, das heißt empirisch am Buchartefakt ausgebildete Wahrnehmungs-, Beschreibungs- und Deutungsmuster, wie sie insbesondere den Beginn der historischen Buchforschung kennzeichnen.

2 Theoretische Perspektiven 2.1 Materialität und Identifikation – Bibliografische und buchkundliche Perspektiven Bücher werden in erster Linie als Artefakte wahrgenommen. Als solche unterliegen sie stofflichen, herstellungstechnischen, gestaltungspraktischen und klimatischen Bedingungen. Indirekt geben Buchartefakte Auskunft über die Gewinnung und Verarbeitung von Materialien, die Erfindung und Verwendung von Werkzeugen, Apparaten und Maschinen, über Aufzeichnungstechnologien und -techniken sowie über die Strukturierung von Arbeitsprozessen zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten geografischen Raum. Insofern kann jedes Buchartefakt auch als ein

2 Theoretische Perspektiven 

 51

Zeichensystem interpretiert werden, das ein materielles Buchwissen verschlüsselt und einen identifikatorischen Sinn erfüllt. Diese im Materialobjekt verborgenen Indizien nach allgemein verbindlichen Kriterien und Methoden zu bestimmen, zu beschreiben und zu deuten, bildet einen Schwerpunkt der historischen Buchforschung, in der die Inkunabelkunde das früheste und bis heute eines der zentralen Forschungsfelder darstellt. Ihre Anfänge reichen bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurück, als sich der Domherr und Bibliothekar Bernhard von Mallinckrodt zum Ziel setzte, die Frühdrucke bis 1500 erstmals vollständig zu katalogisieren, und für sie die Bezeichnung ‚Inkunabeln‘ einführte. Aufgrund von oft fehlenden oder unvollständigen Datierungen und Firmierungen setzte die Autopsie dieser Werke gleichermaßen literarische wie druckgeschichtliche Interessen voraus. Die geregelte Aufnahme von Daten und Informationen zur Geschichte einer Publikation, sei es anhand des gedruckten Artefakts selbst oder durch ergänzende Textquellen, entwickelte sich zur bibliografischen Kernaufgabe. Nur auf diese Weise konnte eine Vergleichbarkeit von Exemplaren ermöglicht werden sowie zeitliche und geografische Übereinstimmungen und Zuordnungen zu Personen und / oder Druckwerkstätten bestenfalls gelingen. Das Entwerfen früher buchgeschichtlicher Entwicklungslinien und die Einrichtung eines bibliothekarischen Ordnungssystems wurden auf diese Weise methodisch enggeführt. Im 18.  Jahrhundert leitete die Aufklärung die Verwissenschaftlichung der Bibliografie ein und damit die Entstehung einer historisch-systematischen Buchkunde. Einen wichtigen Grundstein dieser frühen Buchforschung legte Michael Denis mit seiner Einleitung in die Bücherkunde, die 1777 und 1778 in zwei Bänden erschienen ist. Im ersten Band zur ‚Bibliographie‘ werden neben textkritischen Fähigkeiten und Kenntnissen in der Bibliotheks- und Schriftgeschichte auch ein quellenbasiertes Wissen über Trägermaterialien, Verarbeitungsmethoden, Schreibwerkzeuge, Tinten, Farben und Schreibpraktiken vermittelt, das nun den gesamten Zeitraum von der antiken und mittelalterlichen Manuskriptkultur bis zum zeitgenössischen Buchdruck umfasste. Dieser umfangreiche Wissensbestand war für Denis die Grundlage, um notwendige Kenntnisse über ein Buch sowohl historisch als auch kritisch zu gewinnen (Denis 1777: 224–230). Mit dem Aufblühen der Geschichtswissenschaft, der Altertumswissenschaften und der Archäologie im 19. Jahrhundert differenzierten sich nach und nach weitere ‚Buchkunden‘ als historische Hilfswissenschaften mit unterschiedlichen fachlichen Anschlüssen, Beschreibungs- und Analysemethoden aus. Insgesamt umfassen sie bis heute ein vielfältiges Methodenspektrum an historisch-hermeneutischen, empirisch-analytischen, quellenkritischen und statistischen Verfahren. Ihrer fachsystematischen Aufstellung unterliegt ein materielles Strukturmodell, welches das Buch bis heute phänomenal in drei Ebenen gliedert, die physisch und funktionell ineinandergreifen: Träger, Aufzeichnung und Konstruktion (Rautenberg 2015: 65).

52 

 II.1 Materielle Semantiken

Als Träger werden allgemein die zeichentragenden Oberflächen in ihren stofflichen und produktionstechnischen Eigenschaften adressiert. Dem Papier kommt dabei aufgrund seiner druckhistorischen Bedeutung ein besonderer Stellenwert zu. In der Papier- und Wasserzeichenkunde werden anhand von Bearbeitungsund Verarbeitungsspuren Rückschlüsse auf verwendete Stoffe und Techniken der Papierherstellung gezogen. Ergänzende Quellen wie Handbücher, Werkzeuge, Maschinen und bauliche Einrichtungen dienen der Analyse. Wasserzeichen sind vor allem bei der Zuordnung von unfirmierten oder undatierten Drucken hilfreich und in einer von Gerard Piccard 1956 zusammengetragenen und mittlerweile digitalisierten Wasserzeichenkartei verfügbar. Dieses ausgesprochen interdisziplinäre Forschungsgebiet integriert gleichermaßen historische und technisch-naturwissenschaftliche Aspekte und Methoden (Tschudin 2012: 3). Die übrigen Trägermaterialien wie Papyrus und Pergament werden weitestgehend in den Fachdisziplinen der altertumswissenschaftlichen Papyrologie, der Byzantistik und der Kodikologie behandelt. Die zweite Ebene der Aufzeichnung steht in einem physisch unmittelbaren Wechselverhältnis zur Trägerebene. Schrift- und Bildzeichen, seien sie nun handschriftlich unter Einsatz von Schreibwerkzeugen oder maschinell erzeugt, gehen mit dem jeweiligen Träger eine meist dauerhafte stoffliche Verbindung ein. Diesem komplexen, überwiegend schriftgeschichtlichen Forschungsfeld nimmt sich einerseits die Kodikologie (Handschriftenkunde) an, welche die handwerklich-technischen Herstellungsverfahren, den Aufbau, die Form und die Aufbewahrung von Kodizes in der spätantiken und mittelalterlichen Manuskriptkultur untersucht. Hier ergeben sich Schnittmengen mit der Paläographie, die sich mit den schriftgeschichtlichen Entwicklungsphasen der Manuskriptkultur im Vorderen Orient und in Europa vorwiegend komparatistisch und genealogisch befasst. Erforscht werden die Genese der einzelnen Schriftformen, ihrer Schreibwerkzeuge (Griffel, Rohrfeder, Federkiele) und der Trägermaterialien (Papyrus, Pergament, Papier) (Kluge 2019). Äquivalent dazu beschäftigt sich die Paläotypie mit dem Zeitalter der Druckschriften, ihrer zeitlichen Fixierung und Zuordnung zu Druckern*innen und Druckwerkstätten, bevorzugt im Rahmen der Inkunabelkunde (Mazal 1984). Dafür hat insbesondere die Typenkunde seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine historischempirische und statistische Methodik zur systematischen Sammlung und Klassifizierung von Inkunabelschriften entwickelt (Haebler 1925). Unter der Annahme, dass jede Druckwerkstatt ein individuelles Typeninventar besessen hatte, da Stempelschnitt, Matrizenfertigung und Letternguss im 15. Jahrhundert noch vollständig in deren Händen lagen, wurde mittels Formanalysen von Drucktypen in datierten und firmierten Frühdrucken ein Vergleichssystem erarbeitet. Mit dessen Hilfe wurden die Drucktypen unfirmierter Ausgaben abgeglichen und diese bestenfalls datiert und einer Druckwerkstatt zugeordnet. Um 1870 legte Henry Bradshaw erstmalig

2 Theoretische Perspektiven 

 53

eine wissenschaftlich exakte Methode zur systematischen Erfassung von Typenformen vor, wodurch die Inkunabeln weniger nach literarischen, als vielmehr nach geografisch-chronologischen Kriterien geordnet wurden. Darüber hinaus führte Robert Proctor in den 1890er Jahren die Methode der 20-Zeilenmessung ein, mit der die Kegelhöhe von Typen ermittelt werden konnte. Konrad Haebler entwickelte im Anschluss das Klassifikationssystem von Typenformen weiter, woraus sein berühmtes, zwischen 1905 und 1924 in fünf Bänden erschienenes Typenrepertorium der Wiegendrucke hervorgegangen ist. Im Rahmen der Digital Humanities wird dieses Forschungsfeld mithilfe computerbasierter Analyse- und Darstellungsverfahren für eine automatische Schriftarterkennung für OCR-D methodisch weiter ausgebaut (Weichselbaumer et al. 2020). Die dritte Beschreibungs- und Deutungsebene bezieht sich auf die Konstruktion. Das Funktionieren als zugleich mobiler und in sich beweglicher Raumkörper bildet – im Gegensatz zum Träger und der Aufzeichnung – das eigentliche buchspezifische Element. Die jeweilige Form der physischen Verbindung und des mechanischen Zusammenspiels seiner Elemente – Lagen, Buchblock, Einband – determiniert und gestaltet die als buchtypisch geltenden Medienprozesse des Öffnens, Blätterns und Schließens, die das Lesen als Kulturtechnik substantiiert. Die Einbandkunde liefert dafür die notwendigen Informationen zu historischen Buchbinde- und Einbandtechniken sowie stilistischen Entwicklungen. Sie dient als Unterstützung bei Fragen zur Datierung von Einbänden und der Lokalisierung von Produzenten, vorzugsweise in der Inkunabelforschung (Mazal 1997; Schmidt-Künsemüller 1987). Die der Einbandkunde untergeordnete Makulaturforschung analysiert wiederum die gebräuchliche Einbindung von makuliertem Material wie fragmentierten Handschriften, überzähligen Druckbögen oder Fehldrucken. Ergänzt werden diese buchkundlichen Perspektiven durch einen technikgeschichtlichen Forschungszweig der Buchforschung, der sich mit den Entwicklungen im Bereich der Schriftherstellung, des Schriftsatzes und der Drucktechnik bis ins 20. Jahrhundert befasst. Erste Darstellungen entstanden ab dem 18. Jahrhundert durch Buchdrucker wie Johann Gottlob Breitkopf mit seinem Werk Über die Geschichte der Erfindung der Buchdruckerkunst (1779). Nach dem handwerklichen Pressendruck bilden insbesondere die revolutionären Umwälzungen durch die Mechanisierung des Setzens und Druckens im 19. Jahrhundert sowie die Durchsetzung des Fotosatzes und Offset-Drucks um die Mitte des 20. Jahrhunderts die zentralen Themen (Gerhardt 1975; Imiela 1993; Reske 2000; Wilkes et al. 2010). Neben material- und technikgeschichtlichen Entwicklungsstufen, die anhand von Abbildungen aus Patenten, Fachbüchern, Fachzeitschriften und Werbematerial nachgezeichnet werden (Wilkes 2004), werden auch wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte wie die Berufsausbildung, die Arbeitsorganisation sowie Betriebs- und Personalstrukturen beleuchtet (Robak 1996; Estermann und Schmidt 2016).

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 II.1 Materielle Semantiken

Mittlerweile werden zur Identifizierung von historischen Buchartefakten auch naturwissenschaftliche und soziologische Methoden unter Zuhilfenahme computerbasierter Analyseverfahren herangezogen. Neben der Röntgenspektroskopie und der softwareunterstützten Bildanalyse werden für die Vergleichsanalyse von Drucktypen auch evolutionsbiologische Methoden und Auswertungsinstrumente der soziologischen Netzwerkforschung erprobt (Reske 2017).

2.2 Materialität und Originalität – Text- und editionstheoretische Perspektiven Bücher sind Artefakte, die Texte enthalten. Mit dieser Akzentverschiebung rückt das Problem der Beziehung zwischen Materialität und Textualität in den Fokus der Buchbetrachtung. Materielle Indizien können Aussagen über den Entstehungsprozess eines Textes und die an ihm beteiligten Akteure unterstützen oder verwerfen. Jede Übertragung eines literarischen Werks, sei es vom Manuskript zum gedruckten Buch wie auch von Ausgabe zu Ausgabe, kann Variationen, Korrekturen und Streichungen bedingen und damit sichtbare Effekte auf die Textfassung haben. Vor allem in editionsgeschichtlichen Deutungskontexten wird eine Vielfalt von deskriptiven, komparatistischen, historisch-analytischen und hermeneutischen Methoden aufgewendet, um die technische Herstellungsgeschichte von Werken zu rekonstruieren und Rückschlüsse auf literarische Entwicklungsprozesse zu ziehen. Die Phänomenologie bildet so einen zentralen theoretischen Ansatz, um Originalität herzustellen und den eventuellen Verdacht der Korrumpierung von Druckausgaben evidenzbasiert auszuräumen. Diese textkritische Semantisierung von herstellungstechnischen Merkmalen, wie sie im Erscheinungsbild sichtbar hervortreten, hat ihren Ursprung Anfang des 20. Jahrhunderts in einem neuen bibliografischen Konzept, das der Buchforschung erstmals ein theoretisches Gerüst verliehen hat. Das Bibliografieren, wie es noch im Rahmen der Inkunabelkunde vor allem Katalogisierungszwecken diente, wird systematisch zu einem analytischen Werkzeug für literaturwissenschaftliche Belange ausgebaut. Dieser text- und editionstheoretische Zweig der Buchforschung wurde als Analytical Bibliography im angelsächsischen Raum von Ronald B. McKerrow, Walter W. Greg, Alfred W. Pollard und Fredson Bowers ab den 1910er Jahren entwickelt. Die ‚New Bibliography School‘ suchte zunächst nach einer Systematik der Beschreibungsmethoden, die 1949 von Bowers in seinem Grundlagenwerk Principals of Bibliographical Description niedergelegt wurde. Merkmale und Besonderheiten der satz- und drucktechnischen Herstellung sowie des Buchartefakts (z.  B. Format, Signatur, Titel, Kolophon, typografisches Layout, Paginierung, Papier, Wasserzeichen, Bildtafeln) wurden beschrieben und zum Autoren-Manuskript in Relation gesetzt. Gleichzeitig wurden Bibliografie und Textkritik von Beginn an konzeptionell enggeführt, was auch zu dem Parallel-

2 Theoretische Perspektiven 

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begriff der Critical Bibliography führte (Greg 1913: 48). Dennoch grenzten sich in den 1950er Jahren die Analytical Bibliography, die sich auf drucktechnische Aspekte konzentriert, und die Textual Bibliography, die jene wiederum mit den Fragen der Textkritik verknüpft, fachlich voneinander ab (Bowers 1964: Kapitel 4 und 5). In seinem Standardwerk A New Introduction to Bibliography von 1972 weitete Philipp Gaskell den bibliografischen Gegenstandsbereich über die Handpressendrucke auf literarische und nicht-literarische Werke des Maschinenzeitalters ab dem 19. Jahrhundert aus (Gaskell 1972: 1). In Deutschland knüpfte die Analytische Druckforschung unter der konzeptionellen Federführung des Bibliothekars Martin Boghardt ab Mitte der 1970er Jahre an die englische ‚New Bibliography School‘ an. Boghardt entwickelte ein dreistufiges phänomenologisches Analysemodell, mit dem er archäologische Akzente in der buchwissenschaftlichen Methodik setzte. In der „bibliographischen Erfassung“ wird zunächst eine angemessene Zahl von (scheinbar oder tatsächlich) satzidentischen Druckexemplaren hinsichtlich ihres typografischen Erscheinungsbildes vergleichend beschrieben. Anschließend fasst die „bibliogenetische Erklärung“ die Ergebnisse aus der Analyse der handwerklich-technischen Herstellungsweise zusammen. Abschließend erfolgt die „textbezogene Deutung“, die die Ergebnisse auf ihre textlichen Implikationen hermeneutisch untersucht (Boghardt 1977: 18). Jedes Buchartefakt spiegelte für Boghardt einen ‚Typografischen Kreislauf‘ wider, in dem die iterativen Praktiken des Textsetzens, Druckens und Textablegens regelmäßig aufeinanderfolgen (Boghardt 2008). Unter der Prämisse eines derart abstrakten Regelmechanismus sind Abweichungen im Erscheinungsbild der Druckexemplare als Störphänomene im Herstellungsprozess genauestens lokalisierbar und identifizierbar. Im Anschluss an Boghardt wurde geprüft, inwiefern sich seine Untersuchungsmethoden auf eine Analytische Handschriftenforschung übertragen lassen (Bockelkamp 1982). Innerhalb der historischen Buchforschung hält die Analytische Druckforschung insgesamt eines der elaboriertesten empirischen Methodenkontingente mit eigenen technischen Instrumenten bereit. So wurden ab den 1940er Jahren zahlreiche Hilfsapparaturen wie der Hinman-Collator, der Lindstrand-Comparator und der McLeod Portable Collator zur optischen Überlagerung von Satzbildern entwickelt, um damit gesicherte Aussagen über die Satzidentität oder die satzinterne Varianz zu gewinnen. Heutzutage beherrschen Digitalisierungstechnologien und computergestützte Vergleichsverfahren diesen Arbeitsbereich (Starnes 2003). Ende der 1960er Jahre wurde eine stärkere sozial-, wirtschafts- und kulturhistorische Ausrichtung der Analytical Bibliography eingefordert. Vorreiter war der neuseeländische Bibliograf Donald F. McKenzie mit seinem 1969 erschienenen Essay Printers of the Mind: Some Notes on Bibliographical Theories and Printing-house Practices, der vorschlug, die Analyse um Quellen wie historische Geschäftsbücher,

56 

 II.1 Materielle Semantiken

Korrespondenzen und Druckkataloge zu erweitern. Das Paradigma der ‚Soziologie des Textes‘ (McKenzie 1999) veränderte nachhaltig text- und editionstheoretische Konzepte. Insbesondere die von Jerome  J. McGann propagierte Unterscheidung zwischen einem ‚linguistic code‘ und einem ‚bibliographical code‘ wurde führend (McGann 1991: 60). Nach Ansicht des Textwissenschaftlers sind Texte nicht nur sprachlich durch die Autor*in codiert, sondern verschlüsseln in ihren materiellen Gestaltungsformen gleichfalls Informationen über soziokulturelle Kontexte sowie über die Akteure und Modalitäten ihrer Herstellung und ihres Vertriebs. Im Zuge des Material Turn der Geisteswissenschaften trat die explizite Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Materialität und Textualität wieder stärker in den editionswissenschaftlichen Fokus, was allerdings bislang kaum theoretische Konsequenzen nach sich gezogen hat (Schubert 2010: 2–3). Neben dem zunehmenden Einsatz naturwissenschaftlicher Analyseverfahren (Hahn 2010) konzentriert sich der Fachdiskurs vor allem darauf, den editionsphilologischen Materialitätsbegriff zu schärfen und die Zwecke einer editorischen Materialitätsanalyse pragmatisch zu eruieren (Röcken 2008).

2.3 Materialität und Wissen – Epistemologische Perspektiven Bücher aktivieren und formen Erkenntnisprozesse. Einerseits dient das Buch der schriftlichen und bildlichen Wissensrepräsentation, andererseits konstruiert es als Ding manifeste Formen der perzeptiven wie rezeptiven Aneignung von Wissen. Die Materialität des Buchs epistemologisch zu untersuchen heißt, die kognitiven Effekte seiner phänomenalen Eigenschaften zu analysieren, die dem Buchlesen vorangehen und sie begleiten. Eine ‚Epistemologie der Buchgestaltung‘ bezieht insofern Praktiken mit ein, die das Buch als einen graphisch-visuellen, haptischen und performativen Erkenntnisraum konstituieren und operationalisieren (Windgätter 2010: 15). In diesem Sinne stellen Buchartefakte keine sinnfreie Rahmung von Erkenntnisprozessen dar, sondern greifen sinnbildend in diese ein. Epistemologische Betrachtungsweisen sind im Wesentlichen unter dem Einfluss der poststrukturalistischen Literaturtheorie entstanden, die die Deutungshoheit über den Text von den Autor*innen auf die Leser*innen verschoben hat. Dadurch wurden soziokulturelle und semiotische Aspekte des Lesens in der Literatur- und Buchforschung gestärkt (siehe III.1 Lesen in diesem Band). In der historischen Analyse von Leserdispositionen, Leseweisen und Rezeptionsmustern gewannen buchgestalterische Kriterien zunehmend an Bedeutung. In Gérard Genettes Konzept des ‚Paratextes‘ von 1987 gehören typografische Elemente zum rezeptionsbedingenden „Beiwerk des Buches“, mit dem es sich der Leseöffentlichkeit präsentiert (Genette 1992: 10–14). Roger Chartier adaptierte in den 1980er Jahren

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Foucaults diskursanalytisches Theorem für sein Konzept des ‚typographischen Dispositivs‘, mit dem er die Aufmerksamkeit auf das gedruckte Erscheinungsbild von Texten lenkte, weil sich darin kulturell tradierte Gebrauchsweisen und diskursiv verfestigte Erwartungshaltungen einer Leserschaft reflektieren würden (Chartier 1990: 50). In der Folge haben semiotische Arbeiten zur Typografie Chartiers Konzept methodisch wie terminologisch nachgeschärft (Wehde 2000: 119–126). Ab den 1990er Jahren hat sich insbesondere die Wissens- und Wissenschaftsgeschichte den außertextuellen Kriterien des Lesens konzeptionell angenommen. Unter dem Einfluss der französischen Historischen Epistemologie, die jede Form der Erkenntnis als in der Empirie tief veranlagt begreift, wird das Buch vermehrt als phänomenaler Ausdruck des Wissens wahrgenommen und interpretiert. Denn im Sinne Foucaults wirken in Büchern ‚Episteme‘ als epochale Strukturen des Denkens, die analytisch freigelegt werden können (Foucault 1974: 24–25). Dementsprechend stellen Bücher materialisierte Organisationen des Wissens dar, deren historische Erscheinungsformen erkenntnissteuernde Qualitäten besitzen. Typografische Ordnungen setzen und regulieren die kognitiven Rahmenbedingungen, in denen sich das Lesen und Verstehen von Inhalten vollziehen (Enenkel und Neuber 2005). Der Wissenschaftshistoriker Michael Cahn kritisiert in diesem Zusammenhang die wissenschaftlich unterschätzte „Rhetorik des Drucks“, die kein dem oder der Autor*in dienliches Instrument darstelle, sondern immer eine konventionalisierte „Struktur des Mediums“ ist, das die Ausdrucksmöglichkeiten einschränke (Cahn 1991: 51–52). Die Wissenschaft negiere die semantischen Implikationen ihres eigenen Mediums (Cahn 1991: 32). Doch wird nicht nur dem typografischen Layout ein epistemischer Sinn zugesprochen, sondern auch der gesamten Buchpräsentation im privaten und öffentlichen Raum – in Schaufenstern, auf Bibliotheksregalen, in Lesesälen, privaten Arbeitszimmern, in der Gestaltung von Verlagseinbänden oder in der Werbung (Windgätter 2010 und 2016) (siehe II.2 Gestaltung in diesem Band). Allerdings fokussieren epistemologische Buchbetrachtungen nach wie vor nur auf gedruckte Formate, während Digitalisate und digitale Buchformate bislang ausgeblendet werden. So fehlt beispielsweise der Anschluss an aktuelle ‚objekt­ epistemologische‘ Diskurse zu neuen Möglichkeiten der Erkenntnis- und Wissensproduktion durch computergestützte Visualisierungs-, Analyse- sowie kollaborative Annotations- und Vernetzungsverfahren, wie sie in den virtuellen Forschungsumgebungen und -infrastrukturen, vor allem im Rahmen der Digital Humanities seit Längerem erprobt und angewendet werden (Bender et al. 2018).

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 II.1 Materielle Semantiken

2.4 Materialität und Medialität – Informations- und medientheoretische Perspektiven Das Buch ist zugleich Artefakt und Medium. Seine Formgebung steht in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zu seiner Funktion als Speichermedium von schriftlichen und bildlichen Informationen. Einerseits ist nur das dauerhaft vermittelbar, was sich in der spezifischen materiellen Konstellation eines Buchs darstellen lässt. Andererseits haben sich buchspezifische Materialien und Techniken erst unter der Anforderung von literalen Kulturen nach raum- und zeitungebundener Textüberlieferung herausgebildet. Die Wechselbeziehung zwischen der Materialität und der Medialität des Buchs ist daher niemals rein formal, sondern immer auch semantisch. Trotz seiner kultur- und medienhistorischen Bedeutung spielt das Buch in der Medientheorie bislang nur eine Nebenrolle. Ein medientheoretischer Begriff oder ein Medienmodell des Buchs bilden nach wie vor ein Desiderat, ebenso eine allgemeine Mediengeschichte des Buchs. Nach Sven Grampp werde das Buch in der Medientheorie höchstens als tropische Figur verwendet, in den meisten Fällen als eine Metapher für ‚Buchdruck‘ oder für ‚Buchzeitalter‘. Es werde als historiografische Referenzfigur gebraucht, um eine bestimmte kulturgeschichtliche Medienkonstellation zu fassen (Grampp 2010). Tatsächlich war es weniger das Buch als vielmehr der Buchdruck, der die frühe Medientheorie ab den 1960er Jahren konzeptionell dominierte, nicht zuletzt durch McLuhans paradigmatisches Werk The Gutenberg Galaxy: The Making of Typographic Man von 1962. Die Arbeiten der Kanadischen Schule, zu der neben McLuhan auch Harold A. Innis, Eric A. Havelock und Walter J. Ong zählen, waren durch anthropologische, ethnologische und philologische Sichtweisen geprägt. Aufbauend auf einem sprach- und schriftzentrierten Medienbegriff drehten sich ihre Überlegungen überwiegend um die Frage nach dem wechselseitigen Zusammenhang zwischen kommunikationstechnologischen Umwälzungen und den soziokulturellen Zäsuren in einer Gesellschaft. In diesem kulturtheoretischen Zuschnitt der Medientheorie wurde der Buchdruck als epochale Schlüsseltechnologie der Neuzeit interpretiert. Die massenhafte Reproduktion und verdichtete Verbreitung von identischen Informationen wurden als fundamentale Voraussetzungen für die gesellschaftliche Durchsetzung eines modernen Weltbildes gewertet (Eisenstein 1979). Daneben übten die Informationstheorie und die Kybernetik ab den 1980er Jahren einen nicht geringen Einfluss auf medien- und kommunikationswissenschaftliche Buchkonzepte aus, die das Buch weniger als reales, sondern vielmehr als intentionales Objekt behandelten. Es wurde zum zentralen Motiv eines koordinierten Zusammenspiels von künstlerischen, technischen, wirtschaftlichen und sozialen Akteuren. In Robert Darntons Analysemodell des ‚Communications Circuit‘

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fungiert es als der Antrieb eines schaltkreisähnlichen Kommunikationsnetzwerks, in dem Herstellung, Distribution und Konsumption strukturell verkoppelt sind (Darnton 1982). In Michael Gieseckes historischer Studie zum Buchdruck wird das Buch als konzeptioneller Nukleus eines informationstheoretischen Modells gedeutet, in dem „Autoren, Typographeum, Buchhandel und Leser als hochgradig normierte bzw. hochtechnisierte Elemente in komplexen Informations- und / oder Kommunikationssystemen“ in seinem Namen in Beziehung treten (Giesecke 1994 [1991]: 23). Diese Immaterialisierung des Buchbegriffs wurde gleichzeitig durch die tiefgreifenden Veränderungen verstärkt, die sich mit der Einrichtung digitaler Bibliotheken seit dem ‚Project Gutenberg‘ im Jahre 1971 in der bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Praxis vollzogen. Die physische Identität des Buchmediums wurde um eine digitale erweitert, die es technisch wie strukturell mit Bild- und Audiomedien auf die gleiche Stufe stellte. Denn als digitale Objekte basieren nun alle unterschiedslos auf der gleichen Grundstruktur einer aus 0 und 1 codierten Signalfolge (Coy 2005: 11–12). Dieses abstrakt-funktionale Verständnis von Objekten als Daten und Metadaten wird mittlerweile jedoch von technikphilosophischer Seite in Frage gestellt. Digitale Objekte seien durchaus als materielle Konstruktionen zu verstehen, weil sie in lebensweltliche Handlungszusammenhänge eingebunden sind, in denen sie ständig mit anderen Akteuren konkret interagieren (Hui 2012). Vor diesem Hintergrund ließen sich durchaus – in Form einer konzeptionellen Rückkopplung  – neue Spielräume der Interpretation von digitalen Buchformaten als Materialobjekte vorstellen. Das geisteswissenschaftliche Materialitätsparadigma knüpfte in den 1980er Jahren wiederum an die These vom Bedeutungsverlust der Alphabetschrift und des Buchdrucks als ehemaligen Medienregimen abendländischer Kulturentwicklung an. Mit der Betonung der historischen Diversifizierung von Aufzeichnungstechniken seit dem 19. Jahrhundert durch die Erfindung der Fotografie, der Kinematografie, der Phonografie und zuletzt des Computers rückte die Korrelation zwischen Materialität und Semantik ins Zentrum eines zunächst philologisch geführten Diskurses. Selbstkritisch wurde die hermeneutische Freilegung von Textsinn hinterfragt, weil sie die materiellen, praktischen und situativen Voraussetzungen der Sinn-Genese, die Materialität der Kommunikation, völlig ignoriere (Gumbrecht und Pfeiffer 1988). Akzentuiert wurde nun das simultane Hin- und Herpendeln zwischen Präsenz- und Sinneffekten, wodurch die semantische Bedeutung von materiellen Eigenschaften, nicht zuletzt von typografischen Aspekten, aufgewertet wurden (Gumbrecht 2004: 130). In diesem Zusammenhang wurde der ‚Körper des Buchs‘ in seiner epistemi­ schen Funktion eines Textspeichers adressiert, der durch seine neuzeitliche Transformation vom handgeschriebenen zum gedruckten Objekt neue Begriffe von Zeit und Dauer, Text und Tradition hervorgebracht habe (Müller 1995: 204).

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 II.1 Materielle Semantiken

Als Taktgeber dieses Materialitätsdiskurses gilt der Literatur- und Medienwissenschaftler Friedrich Kittler mit seinem radikal materialistischen und anti-hermeneutischen Konzept der ‚Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften‘ (Kittler 1980). Gegen McLuhans These von den Medien als Fortsetzungen des Körpers setzte er ein Mediales Apriori, womit er die unbedingte Vorgängigkeit von Medien vor jeder menschlichen Wahrnehmung und Erkenntnis betonte. Medien im Sinne von Medientechniken seien keine bloßen Instrumente, sondern selbst schon sinnstiftende Konfigurationen (Kittler 1986: 5). Geistesgeschichte wurde bei Kittler zu einer Mediengeschichte der ‚Aufschreibesysteme‘. Funktionalistisch wurden damit technische und institutionelle Netzwerke angesprochen, die es einer Kultur gewährleisten, Daten zu adressieren, zu speichern und zu verarbeiten (Kittler 2003: 501). Der Buchdruck, dessen Ende als Speichermonopol alphabetischer Codes in der Medientheorie als besiegelt galt (Flusser 1992: 7; Kittler 2003: 277–278), wurde von Kittler in die Geschichte digitaler Informationsmedien integriert. Der Schriftsatz als ein Schema aus Typen und Spatien sei die medientechnologische Weiterentwicklung eines kombinatorischen Systems von standardisierten, diskreten Elementen, wie es in der Alphabetschrift von Beginn an angelegt gewesen sei (Kittler 2000: 20). Medientechnologien des Schreibens rückten ab den 1990er Jahren auch ins Zentrum literaturgeschichtlicher Forschung. Rüdiger Campes Modell der ‚Schreibszene‘, welches das Schreiben sowohl in seiner sprachlich-semiotischen Dimension als auch in seiner instrumentell-technologischen und körperlich-gestischen konzipiert (Campe 1991: 759–760), wurde methodisch leitgebend für das von Martin Stingelin geleitete Schweizer Forschungsprojekt Zur Genealogie des Schreibens: Die Literaturgeschichte der Schreibszene von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart (2001–2007). In diesem Rahmen wurden die selbstreflexiven Auseinandersetzungen von Literaten mit den Voraussetzungen des eigenen Schreibens in den drei epochalen Medienumbrüchen untersucht – dem Buchdruck (Vervielfältigung), der Schreibmaschine (Mechanisierung) und des Computers (Digitalisierung). Innerhalb dieses medien- und literaturtheoretischen Materialitätsdiskurses wird das Buch damit hauptsächlich als Ergebnis medientechnischer Konstellationen des Schreibens wahrgenommen.

2.5 Materialität und symbolische Praktiken – Kultur- und praxistheoretische Perspektiven Das Buch ist ein Artefakt, das technische und symbolische Praktiken verschränkt. Bücher dienen nicht allein dem physischen Schutz von symbolischen Welten, die sie gegen andere symbolische Außenwelten räumlich und sinnneutral abschließen. Vielmehr fungieren sie als Operationsräume, in denen Herstellungs- und Darstel-

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lungspraktiken in einer wechselseitigen Beziehung stehen. So bleibt das technische Kontinuum der Seiten und das symbolische Kontinuum des Textes dennoch in einem räumlich und zeitlich manipulierbaren System des Blätterns und Kommentierens aufeinander bezogen. Materielle und symbolische Eigenschaften und Funktionen des Buchs verbünden sich in den verschiedenen Formen von Buchpraktiken. Allerdings wurde ihre kulturtechnische Bedeutung bislang im Rahmen der Kulturtechnikforschung, die sich ab der Jahrtausendwende im deutschsprachigen Raum als interdisziplinärer Forschungsverbund konsolidiert und die Basismedien Bild, Schrift und Zahl untersucht hat (Krämer und Bredekamp 2003), kaum thematisiert. Diesen kulturwissenschaftlichen Forschungszweig vereint weder eine verbindliche Theorie noch Methodik, sondern lediglich der Anspruch, das Wechselverhältnis zwischen Symbolischem und Technischem in seinen medialen, epistemischen und praktischen Implikationen zu beschreiben und zu analysieren. Überproportional beforscht wird vor allem die Kulturtechnik der Schrift (Gumbrecht und Pfeiffer 1993; Koch und Krämer 1997; Greber et al. 2002), wobei Sybille Krämers Konzept der ‚Schriftbildlichkeit‘ hier als richtungsweisend gilt (Krämer 2003). Schrift wird nicht mehr als ein Sekundärmedium der Sprache, sondern als ein zweidimensionaler Operationsraum begriffen, in dem kognitive Prozesse durch Schriftmedien, wie u.  a. Lautschrift, Notenschrift oder Formelschrift, gleichzeitig erzeugt und visualisiert werden können (Krämer 2005). Die Typografie als eine Kulturtechnik in ihrer hybriden Funktion von Herstellen und Darstellen zu untersuchen, bildet in diesem Rahmen ein Desiderat. Die Kulturtechnikforschung schließt nicht zuletzt auch an einen sozialtheoretischen Materialitätsdiskurs an, der den Austausch zwischen Menschen und Dingen in ritualisierten Alltagspraktiken auf seinen soziokulturellen Stellenwert hinterfragt (Reckwitz 2003). Die Praxeologie hat sich ab den 1990er Jahren unter dem Eindruck der anthropologisch und archäologisch geprägten Material Culture Studies entwickelt (Hicks und Beaudry 2010), die insgesamt einen geistes- und kulturwissenschaftlichen Material Turn in den letzten drei Jahrzehnten befördert haben. Hauptsächlich die Science and Technology Studies und die daraus hervorgegangene Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), die jede Mensch-Ding-Beziehung als ein Netzwerk aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren ausschließlich beschreibend untersucht (Belliger und Krieger 2006), lieferten den Anstoß zu einer epistemologischen Neuorientierung der historischen Philologien hin zu einer stärkeren Problematisierung von Materialität. Im Rahmen des interdisziplinären Heidelberger DFG-Sonderforschungsbereichs Materiale Textkulturen wird seit 2011 eine neue Texttheorie gesucht, die über die Textinhalte hinaus materielle und topologische Merkmale von schrifttragenden Artefakten in die hermeneutische Analyse integriert. Hierbei wird die Rolle und Funktion von ‚Nicht-Texten‘ – weiteren Artefakten und handelnden Subjekten – als Akteure betont, die an den sozialen Rezep-

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 II.1 Materielle Semantiken

tionspraktiken beteiligt sind (Hilgert 2016: 255–256). Allerdings beschränken sich die historischen Textwissenschaften auf non-typografische Textkulturen, was alle handbeschriebenen Artefakte, aber auch schrifttragenden Objekte wie architektonische Elemente einschließt. Hingegen bildet eine praxeologische Perspektive auf das gedruckte Buch nach wie vor die Ausnahme. In der Literaturwissenschaft gibt es nur wenige Arbeiten, die sich der Verknüpfung von Philologie und historischer Buchforschung unter praxistheoretischen Vorzeichen widmen (Martus und Spoerhase 2013; Benne und Spoerhase 2019). Carlos Spoerhases ‚Philologie des Formats‘ definiert die Materialität des Buchs nicht mehr als die Gesamtheit medientechnischer und medienästhetischer Buchformatierungen, sondern im Begriff eines historischen ‚Gebrauchsformats‘, das auf soziale Umgangspraktiken verweist, die es zu rekonstruieren gilt (Spoerhase 2018: 46–48).

3 Desiderate Materielle Eigenschaften des Buchs zu semantisieren sind von Beginn an für die analytische Argumentation der historischen Buchforschung essenziell gewesen. Dennoch fehlt ein strategisch-projektierter Forschungsanschluss an die aktuelle Materialitätsdebatte, die bislang hauptsächlich philologisch dominiert wird. Modelle, Konzepte oder Theorien zur Materialität des Buchs müssen daher als zukünftige Herausforderungen betrachtet werden, die sich zunächst zwei grundsätzlichen Problemlagen – gegenständlich wie methodisch – stellen müssen. Die Entwicklung digitaler Buchformate, in denen die Praktiken des manuellen Aufschlagens, Blätterns und Schließens auf minimale haptische Reize und visuelle Simulationen reduziert worden sind, hat in den letzten Jahrzehnten einen tiefgreifenden Umbruch im allgemeinen Verständnis des Buchs bewirkt (Bickenbach 2019). Die Dissoziation von Hardware und Software, das heißt die Entkoppelung von physischen Komponenten und Zeichencodierung, hat die Assoziation von buchspezifischen Inhalten mit einer bestimmten Form von Buchkörperlichkeit und -performativität zunehmend aufgelöst. Dennoch fehlt eine nahtlose Historiografie dieser buchtechnologischen Transformation, die das gesamte 20. Jahrhundert durchzogen hat und weiter fortschreitet. Es mangelt an einer quellenbasierten Aufarbeitung von wegweisenden Erfindungen wie den optomechanischen und optoelektronischen Systemen des Fotosatzes, den computergestützten Satz- und Drucktechnologien, und nicht zuletzt dem Elektronischen Papier, die alle das heutige E-Book antizipierten. Bislang ist dies nur in vereinzelten Forschungsarbeiten erfolgt (Münch 1997; Reske 2000; Marshall 2003; Walter 2019). Die Konzeptualisierung einer Buchgeschichte als Mediengeschichte muss nicht nur diese enorme material- und

3 Desiderate 

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technikgeschichtliche Dimension erschließen, sondern zudem auch historische Konvergenzen von Text-, Bild- und Audiomedien zu Buchformaten thematisieren, wofür sich auch medienarchäologische Methoden anbieten. Eine materialitätsbezogene Modellierung des Buchs im 21. Jahrhundert muss zwingend durch eine solche umfassende medien- und buchtechnologische Aufarbeitung abgesichert sein. Darüber hinaus bleibt das Forschungsverhältnis zu den Fächern der Schriftund Buchgestaltung, deren historiografische Arbeiten seit einigen Jahren in universitären Designkontexten eingebettet sind, nach wie vor ungeklärt. Die Phänomenalität des Buchs ist immer Ausdruck von entwurfstheoretischen Prinzipien, heuristisch-analytischen Methoden und symbolischen Praktiken. Insofern generiert jede Buchgestaltung nicht nur materielle Semantiken, sondern baut gleichermaßen immer auch auf bestehenden auf. Die Erforschung historischer Materialitäten des Buches lassen sich damit nicht ausschließlich auf einen Gegenstand geistes- und kulturwissenschaftlicher Analyse reduzieren, sondern sollten auch die radikal positivistischen Betrachtungs- und Interpretationsweisen von Gestalter*innen aus Kunst und Design integrieren (Schäffner 2010). Effizient wäre eine solche interdisziplinäre Zusammenarbeit vor allem im Bereich der quellenkritischen Analyse von Handbüchern, Fachartikeln, Betriebs- und Agenturprotokollen, Musterbüchern und Bildmaterial. Insgesamt würden gestaltungspraktische Perspektiven einer evidenzbasierten Epistemologie des Buchs, wie sie in Ansätzen schon entwickelt worden ist, enormen Vorschub leisten. Ein epistemologischer Buchbegriff, von Theorie und Praxis getragen, würde einen neuen Forschungsrahmen eröffnen, in dem das Buch als ‚epistemisches Ding‘ begreifbar und behandelbar wäre. Es würde als ein Erkenntnisgegenstand wahrgenommen, der im steten Wechsel von technisch stabilen ­Experimentalsystemen in seinen referenziellen Bezügen grundsätzlich prekär bliebe. Das Buch würde sich in einem andauernden historischen „Prozess des operationalen Umdefinierens“ zeigen (Rheinberger 2001: 24–25). Dass ein experimentalgeschichtliches Interesse am Buch derzeit Konjunktur hat, zeigt nicht zuletzt die Künstlerbuch-Forschung der letzten Jahre, die das Buch als epistemisches Objekt in künstlerischen Experimentalanordnungen stark in den Fokus gerückt hat (Ernst und Gramatzki 2015; Hildebrand-Schat et al. 2021). Eine historisch-epistemologische Forschung würde eine Geschichte des Buchs schreiben, die seine dekonstruierbare Materialität und ihre semantische Unabschließbarkeit konzeptionell in den Mittelpunkt rückt.

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 II.1 Materielle Semantiken

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 II.1 Materielle Semantiken

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II.2 Gestaltung

Nikolaus Weichselbaumer 1 Gegenstandsbereich Buchgestaltung wird in engem Zusammenhang mit der Entwicklung ihrer technologischen Voraussetzungen (siehe II.1Materielle Semantiken in diesem Band) erforscht. Zentrale Aspekte sind die Entwicklung von Schrift und Layout, Lesbarkeit und Bedeutungszuschreibungen sowie die Frage nach den Akteuren des Designbetriebs. Die Begriffe Gestaltung und Design werden oft synonym verwendet. Im Kontext der Designtheorie hat sich die Verwendung von Gestaltung als Begriff für übergeordnete abstrakte Prozesse der Wissensfindung und von Design als anwendungsbezogener Formgebung etabliert (Schäffner 2010: 40). In der übrigen Forschung werden Design und Gestaltung weitgehend synonym verwendet und als deutsche bzw. englische Entsprechung von Gestaltung als Prozess und Ergebnis der Formgebung angesehen. Fragen zur Buchgestaltung richten sich zuerst auf die Gestaltung von Schrift und ihre Anordnung zum Layout. Davon abgeleitet sind Fragen zur Lesbarkeit und den mit Buchgestaltung verbundenen Bedeutungszuschreibungen. Ebenfalls in das Themengebiet fallen Buchgestalter*innen, deren Organisation, Konkurrenz und individuelle Positionierung den Gestaltungsprozess maßgeblich beeinflussen.

1.1 Schrift Die Entwicklung der Schriftformen wird in der Paläographie und Paläotypie bearbeitet, deren Forschungsinteresse zunächst auf die Frage nach der Datierung und Lokalisierung von Büchern zielt (Bischoff 2009), bei Drucken (Schmitz 2018) kommt noch die Firmierung hinzu. Folglich sind die Bestimmung und möglichst genaue Zuweisung von Schriften zu Skriptorien oder Druckwerkstätten bzw. Schriftgießereien die zentralen Arbeitsfelder, die eng mit Fragen nach der übergreifenden Entwicklung von Schriftformen, der Herausbildung von regionalen Stilen und Besonderheiten verbunden sind. Für Drucke ab dem 16. Jahrhundert wird es zunehmend schwieriger von der Schrift auf den Entstehungskontext eines Drucks zurückzuschließen. Die exponentiell ansteigende Druckproduktion erschwert den Überblick – Referenzwerke für die Schriftgeschichte des 16. Jahrhunderts sind noch Desiderat. Durch den aufkommenden Schriftenhandel werden nahezu identische Schriften von unterschiedlichen Druckwerkstätten verwendet, was die Aufgabe weiter erschwert. Daher fokushttps://doi.org/10.1515/9783110745030-003

1 Gegenstandsbereich 

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siert die Schriftgeschichtsschreibung ab dieser Zeit auf Schriften mit erheblicher Nachwirkung in der Schriftgestaltung, beispielsweise die Entwürfe Claude Garamonds (Mosley 2006), ergänzt um Studien zu typografischen Einzelphänomenen wie dem Aldusblatt (Vervliet 2012). In der Auseinandersetzung mit der Schriftgestaltung des 18. Jahrhunderts und noch stärker ab der Wende zum 20. Jahrhundert beschäftigt sich ein großer Teil der Forschung zu Schriften vor allem mit den programmatischen Aussagen einzelner Schriftgestalter wie Jan Tschichold (Burke 2007), Hermann Zapf (Weichselbaumer 2015) und Otl Aicher (Moser 2011) oder von Bewegungen wie z.  B. dem Internationalen Typographischen Stil (Hollis 2006). Insbesondere im Kontext der rapiden Veränderungen der Satztechnologie im 20. Jahrhundert nimmt die Schriftgeschichte wieder verstärkt die Abhängigkeit von Gestaltungsentscheidungen von der jeweils verwendeten Satztechnologie in den Blick (Reynolds 2020: Kapitel 7). Trotz fortschreitender Digitalisierung von bibliothekarischen Altbeständen (Fieseler 2016) und anhaltender Bemühungen um OCR (Optical Character Recognition) bleibt die Etablierung einer umfassenden Datenbasis für textbasierte Analysen weiterhin ein Desiderat (Hahn 2018). Durch Ansätze, die gescannte Buchseiten mithilfe von Mustererkennungsalgorithmen direkt auf Fragen der Schriftgeschichte hin auswerten, sind jedoch quantitative Studien zur Schriftgeschichte möglich, die z.  B. die Auswirkungen des Antiqua-Fraktur-Streits auf die Schriftwahl in der Breite der Druckproduktion analysieren (Weichselbaumer 2022).

1.2 Layout Ein zentraler Aspekt der Erforschung des Buchlayouts sind strukturelle Veränderungen beim Übergang von Rolle zu Kodex, von Handschrift zu Buchdruck und von Druck zu digitalen Buchformaten. Besondere Aufmerksamkeit haben hier komplexe Layouts erfahren, etwa die scholastischen Kommentarwerke (Rouse und Rouse 1991) und deren Überführung in den Buchdruck (Duntze 2005). Daran schließen Untersuchungen zur Wissensorganisation über Verweissysteme innerhalb des Buchs und über die Grenzen des einzelnen Buchs hinweg an (Blair 2010), für die Aufbau, Funktion und Gebrauch von z.  B. Fußnoten oder Indizes zentrale Untersuchungsgegenstände sind (Duncan und Smyth 2019; Duncan 2021). Mit der Untersuchung der Navigations- und Verweisstrukturen in digitalen Buchformaten (Kuhn und Hagenhoff 2019) setzt sich diese Traditionslinie in der Forschung zu aktuellen Buchformaten fort. Eng verwandt ist die Forschung zu Bild-Text-Bezügen (Glauch und Green 2010: Kapitel 5.2), wobei die buchhistorische Forschung hier vor allem die strukturierende Funktion von Abbildungen und die Referenzsysteme zwischen z.  B. Bildlegende

70 

 II.2 Gestaltung

und Abbildung untersucht, während die literaturwissenschaftliche Forschung zu Bild-Text-Bezügen vorrangig an Bild und Layout als zusätzlichem Interpretament interessiert ist (Beck 2019). Quantitative Zugänge zu Layoutfragen sind möglich, kann Layout doch vermessen und auf dieser Basis verglichen und statistisch untersucht werden. Bedingt durch den enormen Zeitaufwand, den autoptische Vermessungen großer Korpora mit sich bringen, steht dieser Forschungszweig jedoch noch in den Anfängen. Proots wegweisende Studie über die Entwicklung der Größe und Proportionen von Satzspiegel und Seitenformat in der Handpressenzeit in den südlichen Niederlanden (Proot 2020) demonstriert jedoch das Potenzial dieses Ansatzes, der Veränderungen in der ‚longue durée‘ auf guter Quellenbasis untersuchen kann ohne einzelne Beispiele für exemplarisch erklären zu müssen. Weitere gegebenenfalls mit digitalen Methoden unterstützte Forschung in dieser Richtung ist für die kommenden Jahre zu erwarten und verspricht deutlich größere Korpora in den Blick zu nehmen.

1.3 Lesbarkeit Nachdem Lesbarkeit als Argument für gute Typografie von beinahe jeder typografischen Strömung seit Bodonis Manuale Tipografico (1818) ins Feld geführt wird, ist die Erforschung der gestalterischen Rahmenbedingungen, die für gute Lesbarkeit sorgen sollen, ein wichtiges Desiderat der Buchforschung (Rautenberg 2022). In der Gestaltungspraxis wird die dahingehende Forschung jedoch nur sehr lückenhaft rezipiert. Viele mit Lesbarkeit begründete Gestaltungsentscheidungen basieren auf bestenfalls anekdotisch belegbaren Annahmen, wie etwa die wenig zielführenden Versuche der Elementaren Typographie Schriften besonders lesbar zu gestalten, indem sie aus einfachen Formen wie Kreis und Linie aufgebaut werden (Burke 2008). Jüngere Gestaltungsrichtungen haben aber begonnen Erkenntnisse aus der Leseforschung für Gestaltung nutzbar zu machen und etwa Gestaltung für verschiedene Lesemodi zu differenzieren (de Jong 2015). Empirische Studien zur Lesbarkeit sind komplex (Zachrisson 1965), weil außergewöhnlich viele Variablen zu berücksichtigen sind: von der Auswahl und den Lesegewohnheiten der Probanden über Schriftart und -größe, Beschreibstoff, Layout, Textinhalt und Lesesituation bis zur gewählten Überprüfungsmethodik. Dieser Umstand bedingt, das methodisch saubere Studien nur sehr spezifische Lesesituationen untersuchen können und damit begrenzt zu verallgemeinern sind. Die Verwendung von Eyetracking-Technologie (Franken et al. 2015; Nedeljković et al. 2020) hat in den letzten Jahrzehnten methodische Fortschritte gebracht, jedoch ohne das Grundproblem der vielen externen Faktoren eliminieren zu können. Die vielversprechendsten Ansätze verfolgen hier sehr eng konturierte Fragestellun-

1 Gegenstandsbereich 

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gen, wie etwa die nach der Bedeutung von Serifen für die Lesbarkeit (Richardson 2022). Der Begriff der Lesbarkeit ist auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung gebräuchlich. Dabei wird meist auf ein komplexes Theoriekonstrukt Bezug genommen, das auf Curtius’ Schrift- und Buchmetaphorik in der Weltliteratur (1942) und Blumenbergs Konzept der Lesbarkeit der Welt (1986) zurückgeht. Das Buch wird hier zwar zentral erwähnt – die Bucherfahrung im Gegensatz zur Welterfahrung ist eine Grundmetapher in Blumenbergs Ansatz –, doch ist Lesbarkeit hier mit Fragen nach dem phänomenologischen Konzept des Buchs der Natur und der grundsätzlichen (Un-)Möglichkeit von Erkenntnis verbunden (Waszynski 2020: Kapitel 3). Ein leicht anderes Verständnis von (Un-)Lesbarkeit vertritt – aufbauend auf Derrida – Paul de Man (1993: 185–230), der sich für die Möglichkeiten und Grenzen der Interpretierbarkeit von Literatur interessiert, dabei aber ebenfalls nicht auf die typografische Lesbarkeit abzielt, sondern nach der Sinnkonstitution in Lesepraktiken fragt (Aeberhardt 2018). Eine Anwendung für die Buchforschung ist weder bei Blumenberg noch bei de Man naheliegend.

1.4 Bedeutungszuschreibung Der Material Turn hat in den Philologien für ein verstärktes Interesse an Aspekten der Buchgestaltung gesorgt, das vorrangig auf die Bedeutung zielt, die Buchgestaltung jenseits der reinen Text- und Bildinformation tragen kann (Gutjahr und Benton 2010). Spoerhase stellt in dieser Hinsicht gerade die Dreidimensionalität des Buchkörpers als bedeutungstragendes Element in den Mittelpunkt (Spoerhase 2016). In der Buchforschung ist diese Frage nach der bedeutungstragenden Funktion von Typografie schon länger von Interesse, etwa im Kontext der Erforschung des Antiqua-Fraktur-Streits (Lühmann 1981; Killius 1999). Einen maßgeblichen Beitrag zur Operationalisierung hat hier Susanne Wehde mit ihrem Konzept des typographischen Dispositivs geleistet (Wehde 2000), das sich als vielfältig fruchtbar erwiesen hat. Ein Schwerpunkt der jüngeren Forschung liegt auf Autor*innen, deren markanter Einsatz typografischer Mittel die Interpretation dieser Bedeutungsebene nahelegt, wie etwa bei Laurence Sterne und Arno Schmidt (Metz 2007) oder Stefan George (Kurz 2007). Mit eigener Zielsetzung beschäftigt sich die Editionsphilologie mit Bedeutungszuschreibungen an typografische Gestaltung, wenn sie diskutiert, in welchem Ausmaß eine Edition typografische Besonderheiten einer Vorlage dokumentieren, kommentieren oder gar nachahmen sollte, um eine angemessene Rezeption und Interpretation des Werks auf Basis der Edition zu ermöglichen (Falk 2006; Reuß 2006).

72 

 II.2 Gestaltung

1.5 Buchgestalter Neben den Schrift- und Buchgestaltungen selbst und vielen prosopografischen, beinahe hagiografischen Beiträgen zu berühmten Gestalter*innen ist zunehmend ein Interesse an der Sozialgeschichte der Gestaltung zu erkennen, das sich mit Fragen nach der sozialen Organisation von Gestaltungsrichtungen, nach Legitimationsinstanzen und aus Konkurrenzsituationen erklärbaren Programmatiken sowie teils auch einzelnen Gestaltungsentscheidungen beschäftigt. Wegweisend ist hier Julia Meers Studie über die Neue Typographie und die Professionalisierung des Grafikdesigns im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (Meer 2015).

2 Theoretische Ansätze Die Erforschung der Buchgestaltung hat sich lange auf umfassende positivistische Beschreibung konzentriert. Seit der Jahrtausendwende etablieren sich zunehmend theoriegestützte Zugänge. Eine integrierte umfassende Theorie zur Buchgestaltung existiert dennoch ebenso wenig wie eine Basis, auf der die Ergebnisse verschiedener theoretischer Zugänge regelhaft miteinander in Beziehung gesetzt werden könnten. Der Theorienpluralismus spiegelt dabei die Vielfalt der Fragen, die an das Themenfeld herangetragen werden.

2.1 Paratexte Gérard Genettes Paratexttheorie (2001) ist vor allem durch ihre systematisierende Terminologie einflussreich geworden, die es ermöglicht, die Phänomene neben dem vermeintlich reinen Text zu fassen, darunter auch Elemente und Aspekte der Buchgestaltung, wie Titelei, Impressum und Klappentext oder Schriftwahl, Papier und Seitenformat. Gerade für den Austausch zwischen Buchforschung und Literaturwissenschaft stellt sie damit Anschlussfähigkeit her. Leider erschöpft sich ihre Fruchtbarkeit jenseits dieser Leistung schnell, da auf der Paratexttheorie keine Methode aufbaut. Genauso wenig lässt sich aus der Paratexttheorie eine Gruppe von Leitfragen ableiten, die in der Auseinandersetzung mit Phänomenen der Buchgestaltung immer zu stellen wären. Auch ist die dichotomische Teilung aller Peri- und Epitexte in autorikale und verlegerische unglücklich, da sie die Komplexität des Gestaltungsprozesses verkürzt. Trotzdem ist es ein bleibender Verdienst Genettes, die materielle Bedingtheit von Texten in den Literaturwissenschaften zum Thema gemacht zu haben. In der Editionsphilologie wurden die Paratexte mit Blick auf die Frage rezipiert, ob Typo-

2 Theoretische Ansätze 

 73

grafie Teil des Texts, relevantes Interpretament im Umfeld des Texts oder gar nicht Gegenstand der Betrachtung sein solle (Nutt-Kofoth 2004; Rahn 2006). Mit Blick auf Buchgestaltung wird die Paratexttheorie im Kontext der Wissenschaftsgeschichte genutzt, weil hier stark auf die Entwicklung der Elemente des Buchs und ihrer Funktionen u.  a. zur Erkenntnissteuerung abgehoben wird (Enenkel und Neuber 2005). Auch Stanitzek demonstriert, wie ein paratexttheoretischer Ansatz an Typografie es erlaubt, medienkomparativ Titelei und Filmvorspann in den Blick zu nehmen (Stanitzek 2010). Das zentrale Interesse der Paratexttheorie ist jedoch nicht auf Buchgestaltung gerichtet, sondern auf den Text und in Ableitung auf den Einfluss von unter anderem Buchgestaltung auf diesen. Folglich können Paratexte fruchtbar für die Verknüpfung von Erkenntnissen unterschiedlicher Forschungsansätze sein, aber nur sehr begrenzt als theoretische Basis für die Untersuchung von Buchgestaltung per se dienen.

2.2 Designtheorie Designtheorie  – verstanden als die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Design und nicht als die Theorie genannte Programmatik einer Designschule  – könnte ein wertvoller Zugang zur Erforschung von Buchgestaltung sein. Doch beschäftigt sich diese Theorierichtung primär mit dem Prozess des Designs und abstrahiert diesen von konkreten Arbeitsfeldern. Design wird in diesem Kontext als „dritte Kultur“ des Wissens (Mareis 2011:174) neben Wissenschaft und Kunst begriffen. Während diese Ansätze zu einer – bisher nicht vorliegenden – grundlegenden theoriegestützten Betrachtung von Buchgestaltung als Disziplin und Tätigkeit fruchtbar sein könnten, sind sie für die oben skizzierten, konkreten Arbeitsfelder nicht anwendbar.

2.3 Kunstgeschichte / Kunsttheorie Da Buchgestaltung ein ästhetisches Phänomen ist, liegt der Rekurs auf die Zugänge der Kunstgeschichte nahe. Doch ist das Buch – außer als Trägermedium von Buchmalerei – nur in seltenen Fällen Gegenstand der Kunstgeschichte und die zweckorientierte, auf kommerzielle Reproduzierbarkeit ausgerichtete Buchgestaltung nicht in deren Fokus. Die meiste Buchgestaltung ist nicht Kunst, da sie das von modernen Kunstdefinitionen in der Regel geforderte Kriterium der Zweckfreiheit (Ullrich 2011) a priori nicht erfüllt. Buchgestaltung wird aber auch von Künstlern betrieben und mit typografischen Mitteln wird auch Kunst gemacht. In diesen Fällen ist Buch-

74 

 II.2 Gestaltung

gestaltung Gegenstand der Kunstgeschichte, etwa in Dunja Schneiders Auseinandersetzung mit der Typografie in der Conceptual Art (Schneider 2011). Kunsthistorische Zugänge zur Buchgestaltung nehmen aber entweder den Bildcharakter des Buchs bzw. einzelner Bestandteile zum Gegenstand oder aber sie thematisieren die „besondere Ästhetik von typographischem Material“ (Richter 2022: 299). Diese kann als Ausgangspunkt für künstlerische Gestaltung dienen, wird dabei in der Regel aber vom Anspruch der Lesbarkeit und den ökonomisch-medialen Funktionen des Buchs gelöst, um Kunst zu werden.

2.4 Linguistische Ansätze Die Schriftlinguistik setzt sich mit Buchgestaltung vor allem auf der Ebene der Meso- und Mikrotypografie auseinander und betrachtet das Verhältnis von Typografie zu u.  a. Orthografie und Textsegmentierung (Meletis 2020). Insbesondere in historischer Dimension sind Studien zur Bedeutung von Setzern für die Entwicklung regional standardisierter Orthografie (Fujii 2006) oder zur Nutzung typografischer Auszeichnungen für die Kodierung von Sprachen im Satz (Spitzmüller und Bunčić 2016) hervorzuheben. Auch wenn bisher zumeist Erkenntnisse der Druckgeschichte die Forschung der Linguistik unterstützt haben, etwa wenn es um Details wie die Frage nach der gesteigerten Nutzung orthografischer Varianten in der Bogenmitte geht (Voeste 2015), könnten die Konzepte und Ergebnisse der Schriftlinguistik doch gerade für die Erforschung der Praktiken des Setzens sehr fruchtbar sein, da mit dem Instrumentarium der historischen Schriftlinguistik Informationen zugänglich werden, die mit rein medien- und technikhistorischen Ansätzen nicht greifbar sind (Rautenberg und Künast 2023).

2.5 Semiotik Sehr produktiv für Fragen zur Buchgestaltung haben sich semiotische Ansätze erwiesen, für die Susanne Wehde mit ihrer Studie Typographische Kultur (2000) den Grundstein gelegt hat. Aufbauend auf zeichentheoretischen Begriffen und Theoremen von Peirce (1983) und Eco (1987) entwickelt sie eine semiotisch fundierte Theorie von Typografie. Wehde begreift Typografie als konnotatives Zeichensystem, das sich unabhängig von den denotativen Systemen lexikalischer Zeichen und kultureller Inhalte entwickelt. Ergänzt wird die Theoriebildung in Wehdes Studie durch zwei typografiehistorische Fallstudien zum Antiqua-Fraktur-Streit und zur Avantgarde-Typographie des frühen 20.  Jahrhunderts. Hier beweist sie, wie fruchtbar ihr theoretischer

2 Theoretische Ansätze 

 75

Ansatz bei der Erforschung von Konfliktsituationen in der Typografiegeschichte ist. In beiden Fällen werden Diskurse untersucht, die sich mit der Frage beschäftigen, welche Aufgaben Typografie erfüllen und welche Informationen sie – neben dem ‚reinen Text‘ – transportieren kann und soll. Die detaillierte Analyse der Konnotationen bestimmter typografischer Elemente ist dabei zielführend. In den letzten Jahren hat vor allem Wehdes Konzept des typographischen Dispositivs die Forschung beeinflusst. Dabei handelt es sich um ein „makrotypographisches Kompositionsschema, das als syntagmatisch gestalthaftes ‚Superzeichen‘ jeweils Textsorten konnotiert“ (Wehde 2000: 119). Der makrotypografische Aufbau beispielsweise eines Gedichts vermittelt demnach dem Betrachter, der noch nicht zu lesen begonnen hat, schon die Information, um welche Textsorte es sich handelt. Dieses Konzept diente als Ausgangsbasis für Studien zur Typografiegeschichte bestimmter Textsorten, etwa zur Entstehung des Titelblatts (Rautenberg 2008) oder zum Wandel des Layouts juristischer Kommentare in der frühen Neuzeit (Duntze 2005). Auch für Studien zu moderner Typografie wird das typographische Dispositiv angewendet, etwa in Schöpfs Analyse zur Typografie von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels (Schöpf 2022) oder in Buschs Studie zur wechselhaften (Konnotations-)Geschichte der Unger-Fraktur von ihrer Entstehung über die Wiederentdeckung für Werkausgaben von Thomas Mann und Hermann Hesse bis zu zeitgenössischer Verwendung bei Max Goldt (Busch 2019). Die Stärke dieses Ansatzes ist die Untersuchung der Entwicklung basaler Gestaltungselemente sowie die stark divergierender Konnotationen, wie sie etwa beim Antiqua-Fraktur-Streit vorliegen. Bei weniger grundlegenden Entwicklungen und Phänomenen kommt das Konzept des typographischen Dispositivs an seine Grenzen. Dieses semiotische Verständnis von Typografie wurde auch für Fragen der Editionsphilologie aufgegriffen (Nutt-Kofoth 2004), vor allem mit Blick auf ein Konzept, das unter dem Begriff der Typographischen Mimesis (Forssman und Rahn 2016) bekannt geworden ist, also der gezielten Nachahmung einiger als relevant identifizierter Elemente der ursprünglichen Buchgestaltung in Editionen. Hagemann entwickelt das Konzept des Typographischen Dispositivs weiter und beobachtet die Dispositivität von Schrift, also ihre grundsätzliche Eigenschaft der Zuschreibbarkeit. Diese wird entweder  – wie etwa im Fall der Verwendung von Fraktur auf Bieretiketten – zum Dispositiv realisiert, oder bleibt für viele Rezipienten unrealisiert, wie das bei vielen weniger deutlichen Fällen geschieht. Der für die Forschungspraxis hilfreiche Schritt ist die Öffnung der Frage, ob eine typografische Gestaltung Dispositivcharakter hat, die jetzt nicht mehr absolut entschieden werden muss, sondern kontextabhängig wird (Hagemann 2013). Buchgestaltung wird in sozialen Kontexten geschaffen, genutzt und bewertet. Um diese Aspekte zu operationalisieren sind Theorieübernahmen aus der Soziolo-

76 

 II.2 Gestaltung

gie zielführend. Der semiotische Ansatz nach Wehde erwähnt die soziale Bedingtheit von mit Buchgestaltung verbundenen Konnotationen zwar, liefert aber kein Instrumentarium zu ihrer Erforschung, so dass dieser Aspekt in Studien, die auf dem Typographischen Dispositiv aufbauen, oft ausgeklammert wird.

2.6 Praxeologie Einer der schwer operationalisierbaren Aspekte von Buchgestaltung ist die Bedeutung von sozialen und technologischen Aspekten für ihre Entstehung und Rezeption (siehe VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation in diesem Band). Ohne Schreib- oder Drucktechnologie sowie davon abgeleiteter Techniken kann Buchgestaltung nicht entstehen. Technologien stecken den Rahmen des Gestaltbaren ab und legen bestimmte Gestaltungsformen nahe, weil diese z.  B. einfacher oder kostengünstiger zu realisieren sind als andere. Beispielsweise macht die Verwendung von Fotosatzgeräten es für Gestalter*innen deutlich einfacher, eng spationierten und überlappenden Text zu setzen. Im Bleisatz wären vergleichbare Gestaltungen ebenfalls realisierbar, aber mit signifikant höherem Aufwand. Eine Folge davon ist, dass diese Elemente in der Buchgestaltung der 1960er und 1970er Jahre deutlich häufiger zu finden sind als davor und danach. Gleichzeitig ist Buchgestaltung  – wie auch andere technologisch bedingte Kulturtechniken (Maye 2010)  – keineswegs durch Technologie prädeterminiert. Traditionen und Normen, Abgrenzungsstrategien und Gruppendynamiken prägen sie ebenso und teils gegenläufig zu technologisch naheliegenden Entwicklungen. Dieses Spannungsfeld zu operationalisieren ist eine Herausforderung, für die vor allem die Praxeologie erfolgversprechend zu sein scheint, die in den letzten Jahren für Fragen der Buchgestaltung vermehrt genutzt wurde. Es handelt sich um eine u.  a. auf der Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2007) aufbauende pragmatische Forschungsrichtung, die aus der Wissenschafts- und Technikforschung entstanden ist, sich explizit von stark textorientierter Forschung abwendet und materielle Aspekte in den Blick nimmt. Dabei wird versucht, weder Technologie und Materialität als Beiwerk abzuwerten noch Technologie als den einzigen legitimen Untersuchungsgegenstand zu konzipieren. Vielmehr werden Dinge aus dem Blickwinkel ihres routinierten Gebrauchs untersucht und so gleichermaßen in den Mittelpunkt gerückt und sozial gefasst (Reckwitz 2003). Der Fokus auf das medienverwendende Subjekt als Akteur medialer Praktiken wurde zunächst vor allem für die Leseforschung genutzt, doch ist diese Perspektive auch für Fragen nach Gestaltungspraktiken und der Nutzung von Buchgestaltung fruchtbar. Dabei werden – aufbauend auf den Arbeiten Bruno Latours auch NichtMenschen, wie Tiere oder Maschinen, als Akteure beschrieben und verstanden.

2 Theoretische Ansätze 

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Latour beschreibt etwa, wie ein mechanischer Türschließer Menschen implizit vorschreibt, wie schnell und in welchem Abstand sie durch die Tür zu gehen haben, wenn sie nicht von dieser getroffen werden wollen. Die Technologie diskriminiert darüber hinaus Personen, die ihren impliziten Vorschriften nicht folgen können. In Latours Beispiel sind das Alte und Kinder, die zu schwach sind, die Feder zu überwinden; außerdem Personen, die Pakete tragen müssen (Johnson [d.  i. Latour] 1988). Dieses Prinzip lässt sich auf jegliche Technologie übertragen, auch auf Leseräder, Linotype-Maschinen oder E-Reader. Gerade im Kontext der Buchgestaltung kann es wertvoll sein, z.  B. die Setzmaschine als Akteur zu begreifen, der an der Gestaltung teilhat. Netzwerke im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie entstehen durch Interaktion, Aushandlung und Vermittlung. Sie sind nicht strukturell vorgegeben, sondern entstehen aus der Praxis (Kneer 2009). Die Wiederholung von Praktiken stabilisiert damit verbundene materielle Arrangements, Äußerungen und Wertzuschreibungen ohne graduelle Differenzen zwischen den einzelnen Wiederholungen auszuschließen. Dadurch ist dieser Ansatz besser geeignet, den Prozess der Entstehung, Entwicklung und langsamen Veränderung sozialer Praktiken abzubilden, als das z.  B. Bourdieus Habituskonzept zu leisten vermag, das im Vergleich eher statisch ist (Schäfer 2016). Ahrens und Busch nutzen diesen Ansatz z.  B. für eine Analyse der Gestaltung der kritischen Edition von Mein Kampf (Hartmann et al. 2016), in der sie die Aushandlung der Gestaltung zwischen Herausgeber*innen und Gestalter*innen unter Berücksichtigung historischer Inszenierungspraktiken, aber auch technologischer Faktoren, wie der begrenzten Belastbarkeit von broschierten Pappbänden, analysieren und so die teils herbe Kritik an der als zu inszenierend wahrgenommenen Ausgabe in Kontext setzen (Ahrens und Busch 2018). Winnerling zeigt mit seiner Studie zu frühneuzeitlichen Kräuterbüchern, dass die Praxeologie auch hier fruchtbar sein kann, in dem er über Größe, Gewicht, Material, Anmerkungen, Verschleißspuren etc. – und unter Verwendung konventioneller Methodik der analytischen Druckforschung – die impliziten Handlungsoptionen und die erkennbar mit den vorliegenden Exemplaren verbundenen Praktiken rekonstruiert (Winnerling 2014).

2.7 Soziolinguistik Eng verwandt ist ein vor allem von Spitzmüller für die Themen Typografie und Buchgestaltung gangbar gemachter Ansatz der Soziolinguistik. Dieser nimmt Typografie als eine Materialisierung kommunikativer sozialer Praxis in den Fokus. Dabei liegt der Fokus nicht auf der angenommen intentionalen Kodierung von Bedeutung,

78 

 II.2 Gestaltung

sondern auf der bewussten oder unbewussten Wahrnehmung und Interpretation von z.  B. typografischen oder auch orthografischen Variationen. Diese sind um so besser geeignet, interpretiert zu werden, wenn sie das Verstehen des Texts nicht verhindern. Versehentliche Fehlschreibungen, als unpassend wahrgenommene Schriftwahl (etwa Comic Sans für Todesanzeigen) oder Schreibungen, die auf Lebensalter oder soziodemografischen Kontext hinweisen (Photographie vs. Fotografie) können entsprechend interpretiert werden, wobei die Wahrscheinlichkeit bestimmte Phänomene mit bestimmten Werturteilen zu verbinden in sogenannten Graphie-Ideologien verankert ist. Der Vorteil dieses Ansatzes liegt darin, dass der Fokus vom Objekt und einer oft angenommen intentionalen und absoluten Kodierung von Bedeutungen auf die Rezeption verschoben wird und sich dafür öffnet, dass ein und dieselbe Gestaltung von unterschiedlichen Rezipienten ganz unterschiedlich wahrgenommen werden kann, ohne dass eine Interpretation inhärent falsch oder schlechter wäre als die andere (Spitzmüller 2013 und 2022). Forschungspraktisch stellt sich – gerade in historischer Dimension – die Herausforderung, Quellen zu sowohl einzelnen Interpretationsakten als auch zu den ihnen zugrundeliegenden Wissensbeständen, Annahmen, Einstellungen und Ideologien zu finden. Das sollte aber nicht davon ablenken, dass dieser Ansatz großes Potenzial hat und den Blick auf hochrelevante Fragen richtet, auch wenn diese nicht in jedem Fall zu beantworten sein werden.

2.8 Feldtheorie Für Fragen nach Biografien und Strategien von Gestalter*innen sowie der strukturellen Entwicklung des sozialen Kontexts, in dem Gestaltung entsteht, hat sich die Feldtheorie als sehr produktiv erwiesen. Die Grundidee der polaren sozialen Felder, auf denen stets ein arrivierter, als legitim angesehener Pol mit einem vergleichsweise neu auf das Feld eingetretenen Avantgarde-Pol konkurriert, ist für die Untersuchung von Gestaltungsströmungen gut geeignet. Der durch die Etablierung neuer Manifeste, Stile und Werte ausgetragene Konkurrenzkampf ist in diesem Kontext gut dokumentiert (Bourdieu 2001). Bourdieus Konzept des symbolischen Kapitals, also des operationalisierten Prestiges, erlaubt es, dieses schwer greifbare Phänomen in den Blick zu nehmen, das für Gestalter*innen von so großer Bedeutung ist, und – ohne Werturteile über gute und schlechte Gestaltung fällen zu müssen – die sozialen Einflüsse zu untersuchen, in denen einige Gestalter*innen Ansehen und Anerkennung erlangen, während andere diese nicht oder erst stark zeitverzögert gewinnen. Sehr produktiv ist hier das Konzept der Legitimationsinstanzen, die etwa Schulen, Preise, oder

3 Desiderate 

 79

Zeitschriften sind, die sich über die Zeit mit dem symbolischen Kapital ihrer ehemaligen Schüler*innen und Lehrer*innen, Preisträger*innen, Autor*innen und Redakteur*innen gewissermaßen aufladen und dieses Ansehen dann anderen Akteuren, die mit ihnen in Kontakt kommen, weitergeben können (Bourdieu 2001; Weichselbaumer 2015: 28–29). Die für die Buchgestaltung so grundlegende Technologie bzw. die individuellen Gestaltungstechniken sind bei Bourdieu als Teil des Habitus mitgedacht und können in ihrem sozialen Kontext verstanden werden. Dabei sind sowohl vereinzelte Techniken, wie etwa eine bestimmte Art Lettern zu schneiden oder eine Seite aufzuteilen, als Teil des inkorporierten kulturellen Kapitals konzeptionalisiert, als auch gesamtgesellschaftlich wahrgenommene und mit Wertzuschreibungen verbundene Technologien, wie etwa die Fotografie (Bourdieu 2014). Der praxeologische Ansatz ist hier durch sein Modell der wiederholten Praktiken Bourdieu überlegen, dessen Habitus starrer ist. Zwar sieht auch Bourdieu vor, dass der Habitus eines Akteurs sich sehr träge als Folge seiner Handlungen ändert, doch beschreibt er – im Gegensatz zur Praxeologie – nicht wie diese Änderung geschehen soll.

3 Desiderate Der Materialreichtum der Forschung zur Buchgestaltung bedingt einen Schwerpunkt auf positivistischer Erschließungsarbeit, die wenig Bedarf an Theorie zu haben scheint, weil viele Phänomene trivial zu erklären sind. Für Forschung, die auf dieser Grundlagenarbeit aufbaut, ist eine solide theoretische Fundierung aber zentral, gerade um zu vermeiden, dass durch die relative Nähe der Buchgestaltungsforschung zur Buchgestaltung selbst kanonische Werturteile, etwa über die vermeintlich minderwertige Buchgestaltung des 19. Jahrhunderts, fortgeschrieben werden. Das hier skizzierte Theorieangebot ermöglicht es, zu großen Teilen dieses Arbeitsgebiets theoretisch fundierte Studien zu konzipieren und so auch Fragen zu stellen, die in rein positivistischer Arbeit nie aufgekommen wären. Da viele der Ansätze und Theorien auf diesem Feld entweder insgesamt eher jung, oder doch erst in den letzten zwei Jahrzehnten auf Buchgestaltung angewandt worden sind, stellt sich bei vielen Ansätzen die Frage nach adäquaten Quellen und Methoden, um die wohlkonturierten neuen Fragen an die Buchgestaltung nicht unbeantwortet zu lassen.

80 

 II.2 Gestaltung

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Literatur 

 81

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82 

 II.2 Gestaltung

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Literatur 

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II.3 Typisierung

Christoph Benjamin Schulz 1 Gegenstandsbereich In den Verschlagwortungen von Bibliothekskatalogen genauso wie in den Warengruppen des Buchhandels spiegelt sich ein Primat des Inhalts über die Materialität des (Buch-)Formats wider (Umlauf 1999; Bramann et al. 2011). Zugrunde liegen in der Regel thematische Zuordnungen, gegebenenfalls auch die Funktionen (wie Lehrbücher, Ratgeber, Nachschlagewerke) – aber nicht materielle Eigenschaften und Qualitäten von Publikationen (siehe II.1 Materielle Semantiken in diesem Band), deren Geschichte, Entwicklung und Signifikanz. Hintergrund einer diesbezüglich stärker erkenntnisgenerierenden Typisierung von Publikationen ist der Material Turn in den Geistes- und Kulturwissenschaften sowie die Forschung zur Materialität von Kommunikation und zu den materiellen Bedingungen der Speicherung und Tradierung von Wissen, die viele akademische Disziplinen in den letzten Dekaden auf sehr grundsätzliche Weise geprägt haben. Das könnte der Anlass sein, auch grundlegende Klassifizierungen von Büchern nach ihrer Materialität und Ausstattung vorzunehmen, sodass detailliertere Aussagen zu unterschiedlichen materiell unkonventionellen Buchformaten, ihrer Entstehung und Entwicklung (mitunter über Jahrhunderte) sowie Veränderung bezüglich ihrer Nutzung getroffen werden können. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sind die Erfahrungen im Rahmen eines Projekts zur Geschichte des Daumenkinos in den Jahren 2003 bis 2005 (Schulz und Gethmann 2005; Fouché 2021). Daumenkinos sind kleine Bücher, die beim schnellen Abblättern der Seiten sequenzielle Bildfolgen in eine filmische Bewegung versetzen. In einer historischen Perspektive gehören sie in den Kontext der sogenannten vorfilmischen Animationsverfahren des 19. Jahrhunderts. Hier galten sie als ‚philosophical toys‘, weil sie neben ihrer spielerischen Natur philosophische Fragen aufwerfen konnten, vor allem wahrnehmungsphysiologischer und erkenntnistheoretischer Art, wie sie die Forschung zur Optik im 19. Jahrhundert untersuchte. Für die Recherchen wurde das Internet zu einem unerlässlichen Hilfsmittel, da Daumenkinos in den meisten Bibliotheks- und Archivkatalogen nicht verschlagwortet und insofern unauffindbar waren. Einen ähnlichen blinden Fleck der Buchgeschichte stellten bis zum Erscheinen eines einschlägigen Bandes 2019 Leporellos und gefaltete Bücher dar. Obwohl das Format des zickzack-gefalteten Buchs auch denen geläufig ist, die sich nicht professionell mit Büchern beschäftigen, war selbst in buchwissenschaftlichen Nachschlagewerken nicht mehr über sie bekannt, als dass sich die Bezeichnung auf die Figur des Dieners in Mozarts Oper Don Giovanni (1787) bezieht und es sich in den frühen südamerikanischen Hochkulturen und in vielen asiatischen Kulturen um ein https://doi.org/10.1515/9783110745030-004

1 Gegenstandsbereich 

 85

konventionalisiertes Buchformat handelt(e) (Schulz 2019). Darüber, seit wann das Leporello in den okzidentalen Kulturen existiert, in welchen Kontexten es entstand und ob es für bestimmte Inhalte verwendet wurde, gab es so gut wie keine Erkenntnisse. Auch von vielen anderen Buchphänomenen ist im Grunde genommen wenig bekannt. Hierzu gehören, um nur wenige Beispiele zu nennen, auch so populäre Gattungen wie Telefonbücher, Malbücher und Fotoalben (Shea 2014; Maas 1975). Die Möglichkeiten der digitalen Suche im World Wide Web sind nach wie vor ein Gewinn, da die Websites und Blogs ambitionierter Sammler*innen, Archive, Antiquariate und Auktionshäuser, und im zeitgenössischen Bereich zudem von Illustrator*innen und Verlagen Material zum Vorschein bringen, das man aus vielen digitalen Bibliothekskatalogen nicht herausfiltern kann. Zu den renommierten Forscher*innen der Buchgeschichte, die in ihren Blogs, bei Twitter und Instagram immer wieder in materieller Hinsicht bemerkenswerte historische Bücher vorstellen, gehören u.  a. Erik Kwakkel und Suzanne Karr Schmidt. Auch wenn mittlerweile gerade im angloamerikanischen Raum einige Bibliotheken, wie u.  a. die Newberry Library (Chicago), ihre Social-Media-Kanäle dazu nutzen, in unterschiedlicher Hinsicht besonderes Material aus ihren Beständen zu präsentieren, bleibt das, was gezeigt wird, eine punktuelle Entdeckung und ermöglicht der Forschung kein konsequentes Erschließen von Beständen. Da die Verschlagwortung in Bibliothekskatalogen lediglich thematischen und mitunter funktionalen Aspekten folgt, materielle Auffälligkeiten und Eigenschaften jedoch weitestgehend außer Acht lässt, ist sie gerade bei der Erforschung materiell unkonventioneller Bücher und Buchformate unbefriedigend. Ähnlich verhält es sich mit den Warengruppen des Buchhandels, die ebenfalls auf Inhalte und Zielgruppen (z.  B. Kinderbücher) sowie nach Funktionen (z.  B. Sachbuch, Lehrbuch, Ratgeber) geordnet sind. Was kein gewöhnliches gebundenes Buch ist, wird in Bibliothekskatalogen meist als ‚besonderer Datensatz‘ oder ‚Medientyp‘ geführt  – findet aber keine ausreichende Spezifizierung, die einen gezielten Zugriff erlauben würde. Vor diesem Hintergrund besteht, wie im Folgenden an in materieller Hinsicht unkonventionellen historischen Büchern, an Kinderbüchern und an Künstlerbüchern gezeigt werden soll, hinsichtlich einer differenzierten Verschlagwortung Nachholbedarf. Die skizzierten Überlegungen sollen andeuten, welchen Gewinn eine Erweiterung der Verschlagwortung für die Buchforschung hätte. In diesem Sinne nehmen sie sich die Freiheit heraus, nicht (schon) auf Fragen der konkreten Umsetzung wie der Hierarchisierung von Informationen einzugehen, die aus pragmatischen oder ökonomischen Gründen in vielen Details Herausforderungen mit sich bringen. Dass solches Material aus Bibliotheken und Buchsammlungen gehoben werden kann, stellt in vielerlei Hinsicht eine Voraussetzung dafür dar, um entsprechende Typologien herauskristallisieren und Buchgattungen definieren zu können. Anzustreben sind dabei nicht simple additive, genealogische oder teleologische Geschichtsschrei-

86 

 II.3 Typisierung

bungen, sondern diachrone und disziplinenübergreifende Herangehensweisen, die literatur- und kunstgeschichtliche Aspekte, (druck-)technologische Entwicklungen, sowie historische und soziale Kontexte miteinander verknüpfen. Hierzu gehört auch die Betrachtung des Verhältnisses zwischen Traditionsbildungen und Gattungskonventionen einerseits und Brüchen, wie sie künstlerische und innovative Fortschreibungen darstellen, andererseits.

2 Buchformen In dem 2001 von Ursula Rautenberg und Dirk Wetzel vorgelegten Band Buch steht ein bemerkenswerter Satz zu lesen (Rautenberg und Wetzel 2001: 15): „Es scheint, als sei das Buch als Alltagsgegenstand ein zu vertrauter und mit wenig Störeigenschaften behaftetes Objekt, als dass ihm über die Buchgeschichte und die traditionell historische Forschung hinaus ein Platz in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zugewiesen würde.“ Der Kodex ist als gebundenes Buch ein so konventionalisiertes Buchformat geworden, dass seine Betrachtung eine Herausforderung darstellt. Auch wenn, wie die Autoren konstatieren, es kaum möglich sein dürfte, „in der historischen Deskription eine klare Grenze zwischen Text- und Buchfunktionen zu ziehen“, verböte es sich „aus methodisch-systematischen Gründen, Textfunktionen unreflektiert mit Buchfunktionen gleichzusetzen“ (Rautenberg und Wetzel 2001: 42). Gerade die Betrachtung unkonventioneller Buchformate und Gattungen kann dabei helfen, auch medienspezifische Eigenschaften des Kodex sichtbar zu machen, die sonst durch die Funktionen, den Nutzen und die Nutzung des Buchs als Speicherund Verbreitungsmedium in einem übertragenen Sinne unsichtbar werden.

2.1 Vorantike und antike Textträger Wichtige Impulse für die Erforschung von vorantiken und antiken Trägermedien und Prozessen des Schreibens kamen in der deutschen Forschungslandschaft von dem 2011 an der Universität Heidelberg begründeten und von der DFG geförderten Sonderforschungsbereich 933 Materiale Textkulturen. In interdisziplinären Kooperations- und Einzelprojekten werden nicht-typografische Schriftarten auf und Schriftstücke aus so unterschiedlichen Materialien wie Stein, Putz, Ton, Metall, Papyrus, Leder, Pergament, Papier, Wachs, Holz, Textilien und Haut sowie Praktiken der Bearbeitung wie Auftragen, Malen / Zeichnen, Mosaizieren, Meißeln, Ritzen, Gießen, Siegeln / Stempeln / Prägen und Einweben / Aufnähen differenziert untersucht (Ott et al. 2015). „Der SFB 933 untersucht Texte, die auf Dinge geschrieben sind. Texte auf Säulen, Portalen, Grabsteinen, Tontafeln, Tonscherben, Amuletten, Rollen,

2 Buchformen 

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auf Papyrus, Pergament, Papier etc. Das Interesse richtet sich dabei auf die spezifische materiale Beschaffenheit und die dadurch evozierte Präsenz der beschrifteten Artefakte und des Geschriebenen selbst. Die beteiligten Forscher*innen stellen eine Vielzahl von Fragen an diese Artefakte: Wie und unter welchen Bedingungen wurden sie hergestellt? In welchem räumlichen Arrangement befanden sie sich? Wer hatte Zugang zu ihnen? Was wurde mit ihnen gemacht bzw. welchen Handlungen wurden an ihnen vollzogen? Welche Handlungen lösten sie aus? Der Leitgedanke ist, dass Schrift, Schriftträger und darauf bezogene Praktiken eine unlösbare wechselseitige Verbindung eingehen, deren Berücksichtigung für das Verständnis der überlieferten Texte und ihrer kulturellen Umgebung hohe Erklärungskraft besitzt“ (https://www.materiale-textkulturen.de/artikel.php?s=2). Auch wenn es sich bei den hier aufgeführten Gegenständen in vielen Fällen nicht um Bücher handelt und sie daher nicht im engeren Sinne Gegenstand der Buchforschung sein mögen, können sie das Bewusstsein dafür schärfen, dass auch der Kodex eine durch historische Kontexte bestimmte materielle Struktur der Tradierung von Aufzeichnungen darstellt. Sie können daher für die Betrachtung von Büchern wichtige Grundlagen liefern, um das Spezifische im vermeintlich Gewöhnlichen zu erkennen und im Buch auch eine Eroberung materieller sowie struktureller Gegebenheiten zu sehen.

2.2 Buchrolle: Volumen und Rotulus Über die Erforschung der Buchrolle als historisches Buchformat hinaus wird das Format der Rolle gerade dann zu einem interessanten Phänomen, nachdem der Kodex die Rolle in der Spätantike abzulösen begonnen hatte. Die Weiterverwendung eines ‚überwundenen‘ Formats ist in vielerlei Hinsicht signifikant. Ein Beispiel mag in diesem Zusammenhang der Albrecht Altdorfer und seiner Werkstatt zugeschriebene Triumphzug für Kaiser Maximilian I (1512–15) sein. Die Umzugsdarstellung, die ursprünglich aus 109 zusammengeklebten Teilen bestand, stellt über eine Länge von gut 100 Metern wichtige Stationen des kaiserlichen Lebens und Wirkens dar. Das immense und unkonventionelle Format, das auch als eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem in einem ‚normalen‘, gebundenen Buch Möglichen verstanden werden kann, diente dazu, das Gedächtnis an den Herrscher schon zu Lebzeiten zu manifestieren. „Zudem wirkte die Wiederaufnahme des klassischen Rotulus antikisierend, könnte also für den Triumphzug als dem antikenbezogenen Inhalt angepasste ‚antike‘ Form bewusst gewählt worden sein“ (Michel 2012: 62). Dieses Beispiel ist weder der erste und bei weitem nicht der letzte Beleg für das Fortleben der Buchrolle. Im Zusammenhang mit der Digitalisierung und digitalen Möglichkeiten der Textpräsentation erlebt auch das Format der Rolle eine Renaissance, die sogar zu zwei Verlagsgründungen mit Fokus auf dieses spezifische Format zur

88 

 II.3 Typisierung

Folge hatte (Rollbuch, Round not Square). Gleichzeitig begegnet man der mit dem Lesen einer Buchrolle verbundenen Geste des (Ent-)Rollens in virtueller Form im Scrollen auf Touchscreens wieder, mit dem viele digitale Bücher als Apps oder in einem PDF-Format bedient werden müssen.

2.3 Gefaltete Bücher 2.3.1 Gefaltete Seiten Obwohl in der Buchgeschichte mindestens seit der Frühen Neuzeit spektakuläre Beispiele von teils auf mehrere Meter entfaltbaren panoramatischen und diagrammatischen Darstellungen oder Bildtafeln bekannt sind, sind Faltungen bisher kaum Gegenstand der Buchforschung. Ein eindrucksvolles Beispiel, dass diese Lücke exemplarisch belegt und ein Indiz dafür liefert, dass es bei Faltungen nicht nur pragmatisch darum geht, große Seitenformate in kleine Buchblöcke unterzubringen, ist das berühmte Voynich Manuskript, das sich in der Sammlung der Yale University befindet: Ein rätselhaftes Buch aus dem frühen 15. Jahrhundert, geschrieben in einer bis heute nicht entschlüsselten Sprache und fremden Schriftzeichen, das allem Anschein nach von einer fiktiven Welt handelt, von deren Menschen, ihrer Weltanschauung und ihren Gebräuchen (Beinecke Rare Book and Manuscript Library MS 408; Manu­ scrito Voynich 2018). Der Kodex verfügt über auffallend viele entfaltbare Darstellungen, wobei der Umstand, dass diese in falttechnischer Hinsicht sehr unterschiedlich angelegt sind, nahelegt, dass die damit verbundenen ‚Überraschungseffekte‘ über die Notwendigkeit der Reduktion auf die Größe des Buchs hinaus auf einer ästhetischen und performativen Ebene eine Rolle spielen sollten. Gefaltete Seitenfolgen werden bis heute in vielen Publikationen eingesetzt, u.  a. auch in der experimentellen Poesie, in Kinderbüchern und Künstlerbüchern (Schulz 2019 und 2020). 2.3.2 Leporellos Das Leporello stellt eine spezifische und sicher das bekannteste Format des gefalteten Buchs dar. Es greift auf ein materielles Dispositiv zurück, dessen mediale Beschaffenheit und Struktur andere Formen der Darstellung im Allgemeinen und des Erzählens im Speziellen erlaubt  – und somit auch andere Leseerfahrungen als der Kodex ermöglicht. Wie eingangs angedeutet ist die Verschlagwortung von Leporellos in den meisten Bibliothekskatalogen ein Desiderat. Einige angloamerikanische Institutionen haben den Begriff ‚folded panorama‘ als Kategorie in ihren Suchmaschinen verankert, sodass man sich entsprechende Titel anzeigen lassen kann. In deutschsprachigen Ländern scheint dies bisher noch eine Ausnahme zu sein. Grundsätzlich kann zwar nach dem Begriff ‚Leporello‘ gesucht werden, als

2 Buchformen 

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Resultate erhält man aber in erster Linie Bücher, bei denen das Wort im Titel vorkommt, wie z.  B. eine Schulbuchreihe für den Grundschulunterricht oder Bücher, die in dem in Krefeld ansässigen Leporello-Verlag erschienen sind, sowie musikwissenschaftliche Literatur. Entsprechend gefaltete Publikationen werden hingegen nicht so zuverlässig und so konsequent gefunden, wie es für eine gezielte Betrachtung dieses Buchformats notwendig wäre. 2.3.3 Faltbücher und Harlequinaden Nicht nur Leporellos belegen, dass Faltungen eigentümliche Buchgattungen hervorgebracht haben. Unter Faltbüchern versteht man eine mittelalterliche Form des Buchs, die vor allem für Almanache und Kalender verwendet wurde (Gumbert 1994 und 2016; Carey 2003 und 2004). Die Seiten wurden auf ein kleineres Format gefaltet, an einem Ring befestigt und mit einer Schnur zusammengebunden (Abb.  1). Zum Lesen mussten die Seiten einzeln aufgefaltet und im Grunde auch wieder

Abb. 1: Faltbuch mit Almanach aus dem 15. Jahrhundert (Wellcome Library, London: MS 8932).

90 

 II.3 Typisierung

zusammengefaltet werden, ehe man die nächste Seite öffnen konnte, damit die zuvor entfalteten Seiten nicht beschädigt wurden. Da die Handhabung aufgrund der fragilen Anlage relativ umständlich ist, hat dieses Buchformat vor allen Dingen dazu gedient, das Buch leicht transportierbar zu halten und es, wie ein Beutelbuch, an einem Gürtel zu befestigen. Mit Blick auf das Leporello ist vor allem eine spezifische Form der Faltmontage zu nennen, die als Turn-up oder Harlequinade bekannt geworden ist (Muir 1984: 204–210; Reid-Walsh 2006; Speaight und Alderson 2008). Die Gattungsbezeichnung Harlequinade erklärt sich aus dem Bezug zum englischen Theater der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wo der Begriff den Teil populärer Bühnenspektakel bezeichnet, in dem der Harlekin eine zentrale Rolle spielt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden die Harlequinaden durch Verleger und Drucker wie Robert Sayer, Benjamin Tabart und William Tringham populär. Das älteste Beispiel dieser Art mit dem Titel The Beginning, Progress and End of Man datiert aus dem Jahr 1650 (The British Library, General Reference Collection: 669.f.15.(34)). Dieser Typ der Faltmontage besteht aus einem horizontal ausgerichteten, rechteckigen Papier, dessen obere und untere Kanten nach vorne zur Blattmitte hin geknickt und in gleichmäßigen Abständen bis an die obere und die untere Falz eingeschnitten sind, sodass oben und unten bewegliche, flügelartige Klappen entstehen. Auf der Höhe dieser Schnittstellen weisen sie eine vertikale Zickzackfaltung auf und sind wie ein Leporello zu einem der Länge nach entfaltbaren Heftchen zusammengelegt (Abb. 2 und 3).

2.4 Sonderformen des Buchs in der Buchgeschichte Die Buchgeschichte der okzidentalen Kulturen ist reich an Kuriositäten, die sich durch ungewöhnliche buchbinderische Formate auszeichnen. Über die Darstellung des kunsthandwerklichen Könnens hinaus dienten sie oft dem Zweck der Repräsentation, der Inszenierung des Geschmacks ihrer Besitzer und der Darstellung von sozialem Prestige. Gerade solche ästhetischen Spielformen des Buchs erschöpfen sich aber nicht darin, lediglich etwas Besonderes darzustellen. Sie können auch als Reflexionen über die Standardisierung und die Konventionalität des Buchs als Speicher- und Verbreitungsmedium von Texten verstanden werden, wie sie sich infolge des Buchdrucks und der Entwicklung des Buchs zu einem zunehmend industriell gefertigten Massenmedium eingestellt hat. Viele solcher historischen Spielformen des Buchs werden seit dem 19. Jahrhundert sowohl im Bereich des Kinderbuchs als auch in dem des Künstlerbuchs aufgegriffen.

2 Buchformen 

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Abb. 2 und 3: Robert Sayer: Harlequin Skeleton (London 1772). Fotos: Sammlung Werner Nekes.

2.4.1 Mehrlingsbücher und Mehrfachbände Unter Mehrfachbänden und Mehrlingsbüchern versteht man eine buchbinderische Extravaganz, bei der mehrere Buchblöcke kunstvoll zu einem Buchobjekt zusammengebunden werden (Köster 1974; Schulz 2015: 136–140). In Frankreich sind sie unter dem Begriff ‚reliure à surprise‘ oder ‚reliure jumelle‘ bekannt, in England als ‚puzzle books‘ oder ‚tease books‘. Aufgrund ihrer materiell und strukturell komplexen Anlage stellen sie gleichsam eine ‚Vervielfachung‘ des Buchs dar. Auch wenn Mehrfachbände und Mehrlingsbücher über unterschiedliche Anlagen verfügen, frappierten beide ihre Leser damit, dass sie in unterschiedliche Richtungen aufgeschlagen und geblättert werden konnten. Bei Mehrlingsbüchern stellt die Verdoppelung, die Kombination von zwei Buchblöcken zu einem Zwillingsbuch, die kleinste einer solchen Vervielfachung dar. Dafür werden zwei Bücher des gleichen Formats ‚überzwerch‘ zusammengebunden, und zwar so, „daß der Rücken des einen neben dem Vorderschnitt des anderen zu liegen kommt, der Hinterdeckel des ersten also zugleich den Hinterdeckel des im Gegensinne mit ihm verbundenen zweiten Bandes bildet“ (Köster 1974: 1880). Es handelt sich somit um eine Form der Zickzack-Bindung, eine Buchreihe, die

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 II.3 Typisierung

sich durch die versetzt angeordneten Buchrücken in die eine und in die entgegengesetzte Richtung aufschlagen und blättern lässt. Bekannt sind auch Drillings-, Vierlings-, oder Fünflingsbände (Abb. 4).

Abb. 4: Mehrlingsband aus fünf zusammengebundenen Werken (1736–38), 8 × 5 × 3,5 cm. Foto: Ketterer Kunst.

Im Unterschied dazu erwecken die Mehrfachbände den Anschein, als läge ein Stapel loser Blätter zwischen zwei augenscheinlich unverbundenen Buchdeckeln (Abb. 5).

Abb. 5: Mehrfachband mit acht Drucken aus dem Zeitraum 1574–1617 in geschlossenem Zustand (Stadtbibliothek Nürnberg, Signatur Amb. 236.8° = Einbd. 332), 10,8 × 15,6 × 49 cm. Foto: Stadtbibliothek Nürnberg.

2 Buchformen 

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Der Buchrücken läuft versteckt mittig durch das geschichtete Papier, sodass der (vermeintliche) Stapel von links und von rechts geöffnet und geblättert werden kann. Eine Steigerung dieser Bindung ist dadurch erreicht worden, dass die Mehrfachbände zusätzlich in eine obere und eine untere Ebene getrennt wurden, sodass man in sechs verschiedenen Buchblöcken blättern kann (Abb. 6).

Abb. 6: Mehrfachband mit sechs religiösen Erbauungsbüchern, gedruckt bei Crispinus Scharffenberg (Breslau 1571–75), in geöffnetem Zustand. Foto: Deutsche Staatsbibliothek Berlin.

Anlässlich der Vorstellung eines solchen Sechsfachbandes hat Franz Paul Schmidt die Bindung wie folgt beschrieben: „Sie vereinigen zwei Bücher gleichen Formats mit vier weiteren von genau halb so großem Format in folgender Weise zu einem Buchgefüge. Die beiden ganzformatigen Bücher werden so aneinander gebracht, daß der Vorderschnitt des einen neben den Rücken des anderen zum liegen kommt. Ein zwischen beide geschaltetes Pappblatt, auf das ihr letztes Blatt aufgeklebt ist, vereinigt sie. Vor dem ersten Blatt dieser beiden Teile vollen Formats ist wiederum je eine Pappe statt eines Blattes angebracht, auf deren Mitte jeweils zwei mit dem Rücken aneinander gebundene Büchlein halben Formats durch überklebte Heftung befestigt sind. Jeder der einmal gebrochenen Deckel schließt demzufolge zwei Büchlein; und zwar muß man das rechte aufschlagen, um linksherum Blättern zu können“ (Schmidt 1936: 154). Über diese strukturell komplexe Anlage hinaus verblüffen einige dieser Bände zudem mit ungewöhnlichen Formaten. Aus der Werkstatt des Buchbinders Caspar Meuser, einem der bekanntesten Protagonisten dieser Kunst, sind kreisrunde Mehrfachbände bekannt, wie auch ein herzförmiger Band

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 II.3 Typisierung

aus zwei am Rücken miteinander verbundenen Erbauungsbüchlein für die Bibliothek der Kurfürstin Anna von Sachsen, der sich heute in der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden befindet (Köster 1974: 1886; Schmidt 1923: 194–198 und Tafel 66; Pabel 2007). 2.4.2 Figurative Bücher, Miniaturbücher, Riesenbücher In der Buchgeschichte lassen sich zahlreiche weitere Bücher mit ungewöhnlichen Formaten finden. Dazu gehören u.  a. kreisförmige und herzförmige Bücher (Jager 2001) oder das in der Bibliothèque Municipale in Amiens verwahrte Buch in Form einer stilisierten Lilie (Abb. 7).

Abb. 7: Neben dem Exemplar aus der Bibliothèque Municipale in Amiens (Fonds l’Escalopier 501) das einzige weitere bekannte Buch in Form einer Lilie. Es enthält ein Stundenbuch (verm. Paris um 1553), 18 × 8 cm. Ehem. Cornelius J. Hauck Collection. Foto: Christies.

Solche Bücher, deren Silhouette(n) Gegenstände zeigen, sind seit dem 19. Jahrhundert insbesondere im Bereich des Kinderbuchs entstanden. Während wenigstens zwei Publikationen zu Miniaturbüchern vorliegen (Bondy 1981; Bromer und Edison 2007), scheinen einschlägige Studien zum Phänomen übergroßer Bücher bisher gänzlich zu fehlen.

2 Buchformen 

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2.4.3 Vexierbücher Vexierbücher sind vielleicht die kuriosesten Kuriositäten der Buchgeschichte. Wie Vexierbilder in der bildenden Kunst, die die sich überlagernden oder ineinandergreifenden Darstellungen mehrerer Gegenstände zu einer das Auge täuschenden Komposition kombinieren und meist eine offensichtlich unverfängliche mit einer erst auf den zweiten Blick ersichtlichen entlarvenden Ebene zusammenbringen, heißen sie Vexierbücher, weil sie ihrer äußeren Erscheinung nach zwar wie Bücher aussehen, tatsächlich aber keine Bücher sind. Vielmehr handelt es sich um Gebrauchsgegenstände, die die äußere Form von Büchern zitieren. Gleichwohl sind sie mit Blick auf die Buchgeschichte und für die Buchforschung relevant, weil sie als Kommentare zur symbolischen Rolle und Funktion von ‚echten‘ Büchern zu verstehen sind. Nachdem Kurt Köster dem Phänomen in den 1970er Jahren zwei Aufsätze gewidmet hat (Köster 1975 und 1979), haben Vexierbücher in den letzten Jahren das Interesse vonseiten der Erforschung der Kulturgeschichte des Blätterns und vor dem Hintergrund der Digitalisierung auch mit Blick auf Ästhetiken analoger Bookishness auf sich gezogen, wie sie u.  a. von Jessica Pressman lanciert wurde (Schulz 2015: 127–141; Pressman 2020; Cordez und Saviello 2020). Darüber hinaus sind Überblickswerke und Publikationen zu Privatsammlungen erschienen (Dubansky 2016; Müller 2020). 2.4.4 Bücher als digitale Medienkombinationen Infolge der Digitalisierung sind in den frühen 1990er Jahren die ersten E-Reader auf den Markt gekommen und seitdem kontinuierlich technisch weiterentwickelt worden. Das Lesen auf digitalen Lesemedien ist von der Forschung verschiedentlich untersucht worden (Kuhn und Hagenhoff 2015; Kuhn und Hagenhoff 2017; Böck 2017). Im Unterschied zu den E-Readern wie Kindle oder Tolino, bei denen man zwar verschiedene Funktionen, wie das Markieren von Textpassagen, unterschiedliche Helligkeiten, das Einfügen von Notizen oder Stichwortsuchen, aktivieren und sich den Text in unterschiedlichen Typografien anzeigen lassen kann, deren technisches und ästhetisches Potenzial damit allerdings weitgehend ausgeschöpft zu sein scheint, eröffnen Multifunktionsgeräte wie Tablets und Smartphones einen viel größeren Spielraum – und zwar sowohl auf der Ebene der Textkonzeption als auch auf denen der Darstellung und der Rezeption. Dazu gehören Text-Bild-, respektive Text-Filmkombinationen, Animationen von Texten, Soundtracks, die Vernetzung von hypertextuellen Ebenen und interaktive narrative Strukturen sowie Bedienungsfunktionen, die sie zu interessanteren und vielleicht auch zukunftsweisenderen Lesemaschinen machen. Für solche in technischer und ästhetischer Hinsicht anspruchsvollen Anwendungen für Smartphones und Tablets werden meist Apps programmiert oder ‚enhanced PDFs‘ verwendet (siehe auch IV.1 Intermedialität in diesem Band).

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 II.3 Typisierung

Entgegen der Annahme, dass digitale Medien wie E-Reader, Tablets und Smartphones gedruckte Bücher ablösen werden, ist dabei ein Trend zu verzeichnen, in dessen Folge gedruckte Bücher und digitale Interfaces im Sinne von Medienverbünden kombiniert werden. Die Bandbreite reicht von digitalen Pop-Up-Büchern über interaktive Reiseführer, bei denen sich auf Touchscreens das Gedruckte ergänzende Informationen zeigen, bis hin zu experimentellen literarischen Werken (Schulz 2021). Auch für diese Phänomene werden neben Lösungen, die die Archivierung der digitalen Techniken betreffen, geeignete Begrifflichkeiten für die Verschlagwortung zu finden sein.

3 Spielbilderbücher 3.1 Gattungen des Spielbilderbuchs Im Verlauf des 19.  Jahrhunderts entstehen Kinderbücher mit interaktiven Elementen, die mit Blick auf Texte und Bilder nicht nur gelesen respektive betrachtet, sondern auch ‚bedient‘ werden müssen, um unterschiedliche Formen von Bewegungen und Animationen auszulösen. Zur Bezeichnung kursieren verschiedene Sammelbegriffe wie ‚Verwandlungsbilderbücher‘, ‚Movable Books‘ und ‚Livres animés‘. Vor dem Hintergrund des Material Turns hat das wissenschaftliche Interesse an diesem Phänomen der Buchgeschichte deutlich zugenommen. Gleichwohl steckt die Forschung hier noch in den sprichwörtlichen Kinderschuhen (zu im engeren Sinne wissenschaftlichen Titeln aus dem deutschsprachigen Raum gehören Starost 2005; Al Chammas 2012). Oft gehen die Ansätze nicht über Überblicksdarstellungen hinaus, die der Bandbreite aber gerade in einer historischen Perspektive nicht gerecht werden können. Viele der hier verwendeten Bildtypen, interaktiven Elemente und Stilmittel entstehen nicht erst im 19.  Jahrhundert, und sie entstehen nicht für die Unterhaltung von Kindern: So lassen sich Volvellen als drehbare Diagramme bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen und dienten zunächst dazu, Dynamiken zwischen festen und variablen Parametern, die alternativ in Tabellen vergleichsweise umständlich dargestellt werden mussten, auf diese Weise leichter nachvollziehbar zu machen (Lindberg 1979; Gingerich 1993; Helfand 2002; Kanas 2007; Rieger 1997: 100–126). Sie fanden Verwendung in Werken der Astronomie und der Astrologie, zur Visualisierung von Planetenbewegungen und Berechnungen, der Nautik und der Navigation, sowie in der Kryptografie zum Kodieren und Dekodieren verschlüsselter Nachrichten. Seit dem 16. Jahrhundert findet man sie auch in Los- und Orakelbüchern um eine Passage in einem inhaltlich entsprechend aufgebauten Buch zu ermitteln und eine vermeintliche Weissagung zu erhalten.

3 Spielbilderbücher 

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Darstellungen mit sukzessive aufklappbaren Ebenen kennt man von anatomischen Darstellungen bereits seit der Frühen Neuzeit (Carlino 1999). Ein Grund dafür, dass gezielte Forschungen zu den verschiedenen Gattungen des Spielbilderbuchs fehlen, ist auch hier die unzureichende Verschlagwortung, die ungeachtet der jeweils verwendeten, vollkommen unterschiedlichen interaktiven Stilmittel und der damit verbundenen Gesten, Bewegungen und Effekte irreführenderweise oft mit Sammelbegriffen zusammengefasst werden. Exemplarisch sei hier auf die Universitätsbibliothek Braunschweig hingewiesen, die ab etwa 2010 digitale Präsentationen von fünfzehn historischen Spielbilderbüchern entwickelt hat, wobei diese lediglich als Ziehbilderbücher klassifiziert werden. Das gilt für Lothar Meggendorfers Der Internationale Zirkus (Esslingen 1887), ein kulissenartig aufstellbares Leporello mit Pop-Up-Elementen, genauso wie für dessen Mix-and-Match-Buch Lustige Zoologie (Esslingen 1901), bei dem durch horizontale Einschnitte der Seiten Kopf, Rumpf und Unterleib unterschiedlicher Figuren miteinander kombiniert werden können. In beiden Titeln gibt es keine durch Ziehen zu bewegenden Elemente. Für wissenschaftliche Untersuchungen bräuchte es deutlich detaillierterer Kategorien und einer gezielten Differenzierung von Spielbuchgattungen wie Steckalben, Pop-Up-Büchern (solche, bei denen sich Figuren von Hand aufstellen lassen und so genannte selferecting Pop-Ups, die sich durch das Aufschlagen der Seiten von selber aufstellen), Lift-the-Flap-Büchern (mit Klappen, die sich öffnen lassen), Aufstellbüchern, Karussellbüchern, Tunnelbüchern, Topsy-Turvy-Büchern (die man auch auf den Kopf gestellt lesen kann) und Wendebüchern (die man von vorne wie von hinten lesen kann), den oben angesprochenen Mix-and-Match-Büchern, figurativen Büchern (deren Silhouetten die Form eines Gegenstandes aufweisen) und Büchern mit marionettenartig beweglichen flachmechanischen Figuren (Tab. 1). Tab. 1: Bekannte Gattungen interaktiver Spielbilderbücher. Aufstellbuch Daumenkino Entfaltbares Buch Einsteckalbum Faltbilderbuch Folien-Bilderbuch Gatefold-Buch Jalousienbilderbuch

Karussellbuch Klangbilderbuch Kulissenbilder-Buch Laser-Cut-Scherenschnitt-Buch Lentikular-Bilderbuch Leporello Leuchtbilderbuch Lift-the-Flap-Buch

Lochbilderbuch Mix-and-Match-Buch Moiré-Bilderbuch Myriorama Pop-Up Buch Schablonen-Bilderbuch Silhouetten-Bilderbuch

Tastbuch Topsy-Turvy-Buch Transparenzbilderbuch Tunnelbuch Vexier-Bilderbuch Volvellen-Bilderbuch Wendebuch Ziehbilderbuch

98 

 II.3 Typisierung

3.2 Bildtypen und buchgestalterische Stilmittel Hilfreich wäre die ergänzende Aufnahme unterschiedlicher interaktiver Bildtypen, buchgestalterischer Stilmittel und Buchbeigaben (Tab. 2). Hier sind mit Blick auf die Bildtypen Volvellen, Lammellenbilder, Jalousiebilder, Bienenkorbbilder, Schablonenstanzungen und Laser-Cut-Scherenschnitte, gefaltete Bilder und flachmechanische Figuren zu berücksichtigen – und Stilmittel wie Laschen, Ausstanzungen, Registerschnitte, Prägungen, beschnittene Seiten, transparente Seiten oder der Wechsel von Papierqualitäten sowie der Einsatz von festem Karton, Stoff oder Plastik. Tab. 2: Beispiele interaktiver Bildtypen, buchgestalterischer Stilmittel und von Buchbeigaben als Suchparameter. Bildtypen

3D-Bild Bienenkorbbild Faltbild Flachmechanisches Bild Jalousiebild Klappbild

Kulissenbild Lammellenbild Lasercut-Scherenschnitt Lentikularbild Moirébild Pop-Up-Bild

Schablonenstanzung Sequenzielle Bildfolge Steckbild Tastbild Tunnelbild Volvelle

Stilmittel

Ausstanzung beschnittene Seite entfaltbares Element fluoreszierende Farbe Folie horizontale Bindung

Klangelement klappbares Element Lasche Leuchtelement Prägung Registerschnitt

Stoff Transparentpapier Pappe Plastik Taste (Akustik) wechselnde Papierqualität

Beigaben

Brillen Lupen

Folien Schablonen

   

Viele dieser Bildtypen und Stilmittel sind auch über den Kontext von Spielbilderbüchern für die Kunst- und Buchgeschichte relevant und beispielsweise auf interaktiven Einblattdrucken zu finden (Münkner 2008; Karr Schmidt und Nichols 2011; Karr Schmidt 2018). Könnte man gezielt danach suchen, ließe sich in disziplinenübergreifenden und diachronen Perspektiven nachvollziehen, in welchen inhaltlichen Zusammenhängen und zu welchem Zweck sie verwendet wurden.

3 Spielbilderbücher 

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3.3 Praktiken der Manipulation Um der Komplexität der interaktiven Strukturen in einer historischen Perspektive und mit Blick auf den Facettenreichtum der zeitgenössischen Buchproduktion Rechnung tragen zu können, ist nicht zuletzt an eine Differenzierung von haptischen Prozessen der Manipulation zu denken, wie Aufstellen, Falten, Klappen, Drehen, Ziehen, Blättern oder Tasten. Diese ist notwendig, weil es sich um unterschiedliche performative Strategien respektive Praktiken handelt, die nicht nur unterschiedliche visuelle Effekte hervorrufen können, sondern auch eigene ästhetische Traditionslinien mit eigenen Semantiken (auch im Sinne von Erkenntnispotenzialen) darstellen (Tab. 3). Tab. 3: Beispiele für verschiedene Manipulationen interaktiver Buchstrukturen als Suchparameter. Anheben (Auf-)Klappen Aufstellen Aufbauen

Abdecken (bei Schablonen) Filtern (bei Folien) Kombinieren (bei Mix-and-Match-Büchern) Bewegungen auslösendes Blättern

Drehen Drücken (bei Tasten) (Ent-)Falten Fühlen

Ziehen Wenden    

3.4 Digitale Spielbilderbücher Auch im Bereich des Spielbilderbuchs sind zunehmend Publikationen zu beobachten, in denen das gedruckte Buch als Augmented Reality gefasst wird. Das gilt z.  B. für Publikationen, die mit Hörstiften vorgelesen werden können, sowie für gedruckte Publikationen, die mit Smartphones und Tablets gescannt werden können, um auf den Touchscreens Animationen und / oder eine akustische Ebene zu aktivieren. Um die Bandbreite dessen, was hier aktuell entwickelt wird, wenigstens anzudeuten, seien zwei Beispiele angesprochen. In den Laboren von Disney wird aktuell an einem Malbuch gearbeitet, bei dem man die auf dem Papier gedruckten Figuren, ähnlich wie bei digitalen Pop-Up-Büchern, auf einem Tablet als 3-dimensionale Modelle sehen kann, und zwar in Echtzeit, also während sie auf dem Papier ausgemalt werden. Bemerkenswert ist auch HideOut: A Mobile Projector Interaction with tangible objects and surfaces: Ein Miniaturprojektor, der u.  a. animierte Figuren in gedruckte Bücher projiziert. Darüber hinaus sind im Internet Präsentationen zahlreicher Technologien zu finden, die sich teils noch in der Entwicklung befinden, teils bereits – aber eben bisher auch nur – als Prototypen realisiert wurden. Manche bedürfen komplexer technischer Aufbauten oder ergänzenden Equipments, sodass sie noch nicht markt- und alltagstauglich sind. Aber auch diese Beispiele belegen, dass in den letzten Jahren von vielen Seiten und mit

100 

 II.3 Typisierung

unterschiedlichen Motivationen ein hohes Maß an Energie in die Entwicklung von Technologien investiert wurde, die Interaktionen zwischen gedruckten Büchern und digitalen Medien ermöglichen.

4 Künstlerbücher Das dritte Feld, in dem sich zeigt, dass die Klassifizierung von materiellen Eigenschaften und Stilmitteln der Buchgestaltung in besonderer Weise sinnvoll ist, stellen sogenannte Künstlerbücher dar. Der Begriff Künstlerbuch fand zunächst Anwendung für Publikationen von bildenden Künstler*innen aus den Feldern von Concept Art, Minimal Art und Fluxus zu Beginn der 1960er Jahre, die in vergleichsweise hohen Stückzahlen produziert wurden. Großzügigere Definitionen gehen in dem Versuch, historische Vorläufer zu finden und historiografisch eine Entwicklung zu verfolgen, unterschiedlich weit in der Kunst- respektive Buchgeschichte zurück: bis zu den sogenannten Malerbüchern (Livres de peintres) und Mappenwerken der Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts oder den illuminierten Büchern William Blakes und der bibliophilen Editionskultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie man sie von der Arts and Crafts Bewegung oder den Wiener Werkstätten kennt. Wie weit und zu welchem Zweck die Genese des Künstlerbuchs zurückverfolgt wird, hängt dabei von den jeweiligen Fragestellungen ab. Auch Pressendrucke, Unikate und Kleinstauflagen sowie Buchobjekte können als eine Facette des Künstlerbuchs verstanden werden. Ulises Carrión (2008) versuchte das Phänomen bereits in den 1970er Jahren zu konturieren. Der Umstand, dass der oder die Autor*in bildende*r Künstler*in ist, ist für ihn dabei weniger relevant, als dass ein Künstlerbuch eine Art Gesamtkunstwerk darstellt, bei dem sonst übliche gestalterische und herstellungsbedingte Kontingenzen auf dem Weg von Konzeption zu Realisierung eines Buchs zu aufeinander abgestimmten, künstlerisch motivierten Entscheidungen werden. Das Buch sollte nicht nur Speicher- und Verbreitungsmedium sein, sondern auch als spezifische materielle Form verstanden werden, deren Struktur mit dem Inhalt koordiniert werden sollte. Die Beschaffenheiten unterschiedlicher Buchformate, die sequenzielle Struktur des Kodex und die damit einhergehende Fragmentierung der Inhalte, wurden als medienspezifische Besonderheiten des Buchs gesehen, die nicht in Konkurrenz zu einer geschlossenen inhaltlichen Darstellung im Sinne einer immateriellen Form stehen. Vielmehr werden sie als deren materielle Voraussetzungen verstanden, die diesen Inhalt erst hervorbringen und daher bestimmen, wie dessen Vermittlung und Rezeption vonstattengehen kann. Meist reflektiert der Inhalt in Künstlerbüchern also explizit ein Bewusstsein davon, dass das Buch seine Inhalte nicht nur einem auf das Publizieren des Buchs bezogenen Prozess der Vor- und Aufbereitung

4 Künstlerbücher 

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unterwirft, sondern auch eine ganz spezifische Form der Rezeption ermöglicht, die maßgeblich prägt, wie sich Leser*innen diesen Inhalt aneignen können. In diesem Sinne verbinden Künstlerbücher im Falle eines Kodex die materielle Form des Buchs und die sequenzielle Struktur mit der Art der Darstellung ihres Inhalts zu einer konzeptuell untrennbaren Einheit: Der Inhalt existiert nicht als autonomes Werk im Sinne einer inhaltlich motivierten und immateriellen Form. Das Charakteristische an Künstlerbüchern ist demnach weniger, dass Künstler*innen ihre Bücher mit anderen Themen füllen als Schriftsteller*innen, sondern dass ihnen die Reflexion des Umstands, dass es sich um ein Werk in Buchform handelt, immanent ist und somit einen zentralen Aspekt ihrer Semantiken darstellt. In diesem Sinne unterscheidet der Dichter Eugen Gomringer in einem literarischen Zusammenhang bereits 1966 in einer vergleichbaren Art und Weise zwischen Gedichtbüchern als Anthologien thematisch verwandter Gedichte, Anthologien von Gedichten eines oder einer Autor*in und dem Gedicht als Buch. Hierbei wird ein Text mit Blick auf die typografische Gestaltung, seine Verteilung auf den Seiten und letztlich auch die Komposition von Seitenfolgen als Buch konzipiert (Gomringer 1997). Die offene(n) definitorische(n) Klassifizierung(en) haben dazu geführt, dass schon die Aufnahme des Schlagworts ‚Künstlerbuch‘ in vielen Bibliothekskatalogen bis Anfang der 2000er Jahre auf sich warten ließ und sich die Verschlagwortung inhaltlicher und materieller Eigenschaften bisher noch weniger durchgesetzt hat. „Erst durch die Einführung von Resource Description Access (RDA), einem Regelwerk, das 2011 publik wird und 2015 auf breiter Ebene zur Verfügung steht, werden Eigenschaften erfasst, die bislang nur bei Kunstwerken Erwähnung fanden“ (Hildebrand-Schat 2021: 25). Einschlägige Sammlungen haben hier ambitioniert erste Schritte unternommen (Thurmann-Jajes und Vögtle 2010; Chappell 2003; Joosten 2017; Grünangerl 2019). Einen komplexen Ansatz zur bibliothekarischen Klassifikation von Künstlerpublikationen haben Anne Thurmann-Jajes, die Leiterin des Zentrums für Künstlerpublikationen am Weserburg Museum für moderne Kunst in Bremen und Susanne Vögtle 2010 mit dem Manual für Künstlerpublikationen vorgelegt. Die Künstlerbuchsammlung der Universitätsbibliothek der Bauhaus-Universität Weimar hat inhaltliche und konzeptuelle Unterscheidungen verschlagwortet, wie ‚Künstlerbücher als Dokumentation von Aktionskunst / Performance‘, ‚Künstlerbuch als Tagebuch‘, ‚Künstlerbücher, die Lyrik, Gedichte, Poesie oder Wortspiele enthalten‘ oder ‚Ausstellungsbegleitende Künstlerbücher‘ aufgenommen (Rudolf und Koglin 2015). Besonders relevant wären dabei auch inhaltliche Klassifizierungen, die Anknüpfungspunkte zu traditionsreichen Gattungen der Buchgeschichte eröffnen (Tab. 4), denn hier sind immer wieder Bezugnahmen zu beobachten und die historische Kontextualisierung kann zum Verständnis zeitgenössischer Künstlerbuchproduktionen einen wichtigen Beitrag leisten.

102 

 II.3 Typisierung

Tab. 4: Beispiele für die Rezeption historischer Gattungen im Feld des Künstlerbuchs. Album Almanach Alphabet- und ABC-Buch Anatomiebuch Ars Moriendi Astronomiebuch Astrologiebuch Atlas Bestiarium und Tierbuch Brevier

Chronik Daumenkino Emblembuch Fechtbuch Flickbuch Fotoalbum Gebetbuch Herbarium und Pflanzenbuch Kochbuch Kalender

Lapidarium Liederbuch Los- und Orakelbuch Malbuch Musterbuch Partitur Psalter Schreibmeisterbuch Scrapbook Skizzenbuch

Stammbuch Stundenbuch Tagebuch Tanzbuch Totentanz Trachtenbuch Vexierbuch Wappenbuch    

Tab. 5: Verschlagwortung von materiellen Eigenschaften auf der Website der Bibliothek des ­Massachusetts College of Art and Design. Book Type

Altered Book Carousel Book Flip Book

Gatefold Book Playing Cards Pop-Up Book

Scroll Tunnel Book Wordless Book

Binding Type

Accordion Adhesive Case Concertina Coptic

Dos-á-dos Flag Book French Link-stitched Loose-leaf Mechanical

Perfect Spiral Stab Staple Unbound Works

Print Type

Digital prints Engravings Ink-jet prints Intaglio prints Laser prints Letterpress prints

Linocuts Lithographs Offsett prints Photocopy art Photopolymer prints Planographic prints

Relief prints Screen prints Stamp prints Woodcuts    

Other features

Belly bands Boxes Clamshell boxes Braile Collage

Debossing Die cuts Embossing Envelopes Handwriting

Needleworking Saddle stitch Slipcases Watercolors Wrappers

Die Website der Künstlerbuchsammlung am Massachusetts College of Art and Design sei aus zwei Gründen angeführt (Tab. 5). Zum einen, weil der Bestand nach Buchgattungen und Typen, unterschiedlichen Bindungen, Stilmitteln und Drucktechniken mit Blick auf materielle Eigenschaften vorbildlich über Metadaten verschlagwortet ist. Und zum anderen, weil diese Kategorien auch auf den ersten Blick

5 Desiderate 

 103

einsichtig und nachvollziehbar sind. Auf der Website wird neben der Option, nach einzelnen Künstler*innen zu suchen, die Funktion ‚Browse by attributes‘ angeboten: Die Schlagworte werden aufgelistet und damit nachvollziehbar gemacht, nach welchen Kategorien gesucht werden kann. Zudem sind die Begriffe durch Hyperlinks mit Fotos exemplarischer Beispiele aus der Sammlung hinterlegt.

5 Desiderate Wenn in den vorangegangenen Überlegungen von historischen Sonderformen oder Kuriositäten der Buchgeschichte die Rede war, von Kinderbüchern und Künstlerbüchern, soll das nicht einer Marginalisierung Vorschub leisten, die sowohl den Facettenreichtum übersieht als auch, dass hier über die Jahrhunderte eine relevante Masse entstanden ist. Dass der eingangs angesprochene Material Turn und das damit einhergehende Interesse an sowie das Bewusstsein für die Signifikanz von Materialität(en) in den letzten Dekaden eine so große Bedeutung angenommen hat, ist vor dem Hintergrund der mit der zunehmenden Digitalisierung aller Lebensbereiche einhergehenden Tendenz zur Immaterialität zu verstehen. Mit Blick auf das Buch als Massenmedium ist in diesem Zusammenhang ein anhaltender und sogar zunehmender Trend zu verzeichnen, in dessen Folge aufwändig gestaltete gedruckte Bücher eine Konjunktur erleben – auch jenseits von Kinderbüchern und Künstlerbüchern. In Bibliothekskatalogen gezielt nach materiellen Eigenschaften und Stilmitteln der Buchgestaltung suchen zu können, böte der Buchforschung die Möglichkeit, sowohl mit Blick auf die Buchgeschichte als auch hinsichtlich aktueller Buchproduktion auf sehr grundsätzliche Weise neue Felder zu erschließen. Dabei könnte konsequent aufgearbeitet werden, was bisher im Verborgenen lag. Es könnten Kontinuitäten im Einsatz materieller Stilmittel aufgezeigt und Brüche untersucht werden. Die in der sogenannten Gemeinsamen Normdatei (GND) zulässigen Verschlagwortungen bedürfen, so sie materielle Eigenschaften von Publikationen betreffen, der Ergänzung und der terminologischen Klärung, denn sie sind, wenn sie überhaupt vorgesehen sind, in vielen Fällen missverständlich. Das betrifft, um nur ein Beispiel zu nennen, den Begriff des Klappens: Die oben angesprochenen Mixand-Match-Bücher können den Vorgaben entsprechend als Klappbilderbücher verschlagwortet werden  – obwohl der Begriff für das Bewegen eines auf einem (Bild-)Träger angebrachten Elements (oft innerhalb einer Illustration) Verwendung finden müsste. Darüber hinaus wäre zwischen Klappen und Falten (im Sinne des Entfaltens einer einheitlichen Papierfläche) zu differenzieren. Und mit Blick auf das Falten wäre zwischen Faltbilderbüchern zu unterscheiden, die entsprechende entfaltbare Illustrationen enthalten  – und entfaltbaren Büchern, die sich durch

104 

 II.3 Typisierung

das Entfalten in ihrer Gesamtheit auflösen. Eine solche Grundlagenarbeit zur Vorbereitung einer Revision der Möglichkeiten von der Verschlagwortung materieller Bucheigenschaften und Stilmittel der Buchgestaltung fände idealerweise in einem Dialog zwischen Buchforschung und bibliothekarischer Praxis statt.

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Literatur 

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 II.3 Typisierung

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III Buchnutzung

III.1 Lesen Gerhard Lauer

1 Gegenstandsbereich Idealtypisch ordnen Theorien die Phänomene eines wissenschaftlichen Sachbereichs. Sie versuchen Muster in den Beziehungen zwischen diesen Phänomenen begrifflich zu erfassen und Prinzipien in deren Beziehungen aufzufinden (Thiel 2018). So gewinnen Wissenschaften aus einer endlichen Menge von Beobachtungen Erklärungen, die auch noch nicht untersuchte Sachverhalte benennen oder sogar voraussagen können. Lesen als primäre Form der Buchnutzung umreißt einen solchen Sachbereich, dessen Phänomene theoretisch erfasst werden können. Doch was unter Lesen insgesamt und unter seinen Phänomenen theoretisch verstanden wird, entspricht nur bedingt der idealtypischen Vorstellung der Wissenschaftstheorie: Theorien der Leseforschung sind vielfach eher induktiv denn deduktiv angelegt, oft nur implizit denn explizit ausformuliert, lassen nur bedingt analytische Formalisierungen zu und sind selten axiomatisch konzipiert. Die Gegenstände der Theorien sind zudem heterogen. Theorien müssen daher das Lesen als Prozess wie als Praktik erfassen, unterschiedliche Medien integrieren und divergierende Vorstellungen und Wertungen des Lesens zu einer Familienähnlichkeit der Phänomene zusammenführen, um ein gemeinsames Untersuchungsfeld herzustellen. Der Hauptgrund aber für die Heterogenität der Leseforschung ist, dass sie kaum als eigenständige Disziplin betrieben wird, sondern als Subdisziplin unterschiedlicher Fächer. Deren Praxis, disziplinäre Zielsetzung und Methodik entscheiden jeweils, wie Lesen in seiner Extension und Intension überhaupt erst umrissen wird und welche Theorien in Anschlag gebracht werden. Entsprechend gibt es zurzeit keine die verschiedenen disziplinären Ansätze integrierenden Theorien des Lesens und seiner Phänomene. Vielmehr sind für die Leseforschung die jeweils übergeordneten disziplinären Paradigmen leitend. Forschungsgeschichtlich werden theoretische Perspektiven auf das Lesen und seine Phänomene dort jeweils verschieden unter Fragen der Methodik mitverhandelt. Sie sind daher auch kein eigenständiger Gegenstand der Handbücher zur Leseforschung (Franzmann et al. 1999; Marshall et al. 2021; Pearson et al. 2020; Pollatsek und Treimann 2014; Rautenberg und Schneider 2015; Snowling et al. 2005). Entsprechend der disziplinären Vielfalt reicht das Spektrum der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Lesen von antitheoretischen Ansätzen, die eine wissenschaftliche Erforschung des Lesens als dem Phänomen unangemessen ablehnen, bis zu axiomatischen Ansätzen, die formal generalisierende Theorien über das Lesen aufstellen. Den einen Pol markiert die Auffassung von der Unverfügbarkeit https://doi.org/10.1515/9783110745030-005

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 III.1 Lesen

besonders ästhetischer Erfahrungen beim Lesen von Literatur, die einer wissenschaftlichen Erklärung daher unzugänglich seien (z.  B. Derrida 1983), während der andere Pol durch eine szientifische Auffassung beschrieben wird, nach der das Lesen von Büchern als Teil genereller wahrnehmungspsychologischer Prozesse zu verstehen sei (z.  B. Dehaene 2010). Zwischen diesen Extremen können in erster Näherung Theorien nach den Hauptgruppen der wissenschaftlichen Disziplinen klassifiziert werden, in denen Leseforschung betrieben wird. Dies sind geisteswissenschaftliche, sozialwissenschaftliche und kognitionspsychologische bzw. neurowissenschaftliche Disziplinen. Die dortigen Theorien des Lesens sind übergreifend durch eine Reihe von Konventionen überformt. Zu nennen ist zuerst die hohe Wertschätzung von Buch und Lesen (siehe VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik in diesem Band). Sie verleitet vielfach dazu, Lesen mit dem Lesen von Büchern gleichzusetzen. Nur wenige theoretische Zugriffe auf das Phänomen Lesen nehmen auch andere Formen des Lesens in den Blick. Dabei wird zweitens unter Buch vor allem das hochkulturelle, literarische Buch verstanden und die Anstrengung seiner angemessenen Deutung betont, nicht so sehr das Lesen im Alltag oder in Freizeitkontexten. Gerade die vielfältigen Formen des populären Lesens, die für den Buchmarkt schon immer bestimmend waren und sind, kommen nur in den sozialwissenschaftlichen Untersuchungen wie den PISA-Studien und ihrem allgemeiner gefassten Lesebegriff in den Blick. Drittens tendieren Lesetheorien dazu, das sozial isolierte, leise Lesen des Einzelnen in den Mittelpunkt zu stellen, nicht das sozial eingebundene, laute Lesen in Gruppen, wie es in der Globalgeschichte des Lesens dominant war (Cavallo und Chartier 2003; Eliot und Rose 2009; Suarez und Woudhuysen 2014). Diese Vorannahmen beeinflussen mal mehr, mal weniger auch die Theoriebildung über das Lesen. Transdisziplinär wurde Lesen zudem wiederholt als Totalphänomen im Sinne Émile Durkheims und Marcel Mauss bezeichnet (Saxer 1995: 264), um sowohl die Komplexität des Gegenstandsfeldes wie die Schwierigkeiten seiner angemessenen Erfassung auszudrücken. In totalen gesellschaftlichen Phänomenen kommen nach Durkheim und Mauss „alle Arten von Institutionen gleichzeitig und mit einem Schlag zum Ausdruck: religiöse, rechtliche und moralische – sie betreffen Familie und Politik zugleich; ökonomische – diese setzen besondere Formen der Produktion und Konsumption oder vielmehr der Leistungen und Verteilung voraus; ganz zu schweigen von den ästhetischen Phänomenen, die sich in diesen Institutionen offenbaren“ (Mauss 1968: 17–18). In diesem Sinn ist Lesen ein totales gesellschaftliches Phänomen, dessen Bestandteile und deren Beziehungen von den verschiedenen Zugängen unterschiedlich implizit oder auch explizit theoretisch geordnet werden.

2 Theoretische Perspektiven 

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2 Theoretische Perspektiven 2.1 Lesetheorien in historisch-hermeneutischen Perspektiven Lesen wurde jahrhundertelang nur implizit als Erkenntnisgegenstand behandelt. Fragen danach, ob und wer überhaupt lesen sollte und was gelesen werden durfte, basierten vor allem auf Annahmen einer moralischen Wirkung des Lesens bzw. des Gelesenen. Dabei wurde ein direkter kausaler Zusammenhang zwischen dem Inhalt des Gelesenen und seiner Wirkung auf die Moral des Lesers behauptet. Vorbildliche Stoffe und Leseweisen wurden entsprechend gefördert und ihre Angemessenheit für verschiedene gesellschaftliche Gruppen danach bewertet, inwieweit sie für intendierte Lesergruppen Vorbilder sein können. Als unangemessen oder gefährlich bewertete Lesestoffe wurden dagegen zensiert oder auch vernichtet, um vermuteten Schaden von der Gesellschaft abzuwenden. Auch die affektive Wirkung des Stils von Texten wurde in Grammatiken und Rhetoriken wiederholt auf ihre moralische Bedeutung hin systematisiert und bewertet und so das Wissen über Lesestrategien für die formale Anlage der Texte genutzt (Enenkel und Neuber 2005). Schließlich gehört auch der Leseerwerb zu den implizit theoretisch verhandelten Gegenständen vormoderner Gesellschaften (Velten 2012; Habermann 2013). Leitend war dabei die Vorstellung, dass Lese- und Schriftspracherwerb nicht notwendigerweise zusammen erlernt werden müssen, dass Lesen laut oder murmelnd in öffentlichen und nur selten in privaten Kontexten erfolgt, dass ein verstehendes und Sinn entnehmendes Lesen weniger wichtig ist als die Praxis des Lesens selbst und nur wenige über die Fähigkeit verfügen müssen, umfangreiche oder auch unbekannte Texte lesen zu können. Hier von einer Theorie zu sprechen, wird dem gesellschaftsmoralischen Anspruch der Leseauffassungen nicht-moderner Gesellschaft kaum gerecht. Expliziter und damit dann durchaus im Sinne einer systematisierenden Abstraktion von Praktiken des Lesens finden sich Theorien des Lesens dagegen überall dort, wo rhetorische und grammatische Techniken der Auslegung kanonischer Texte thematisiert wurden, also in allen Buchreligionen, in der Staatspolitik und den Philosophien (Ebeling 1986). Hier wurden Praktiken des Lese- und Schriftspracherwerbs in Schulen institutionalisiert, und Regeln der Grammatik und Stilistik, dann auch Regeln der angemessenen Auslegung und Fragen des Verhältnisses von Lesen und selbsttätigem Nachdenken so weit systematisiert, dass verschiedene Lesetechniken, Typen und Modi des Lesens unterschieden und das Lesen komplexer, kanonischer Texte ein Ideal war (Goody 1968; Baumann 1986). Der äthiopische Kämmerer in der Apostelgeschichte (8,26–40) ist ein Beispiel für das vormoderne Lesen kanonischer Texte und dem Bedürfnis, dass Lesen eine Anleitung braucht, um das Gelesene verstehen zu können. Ein anderes sind die antiken Rhetorikschulen für Kinder

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 III.1 Lesen

und Erwachsene und die jahrhundertlange Überhöhung Ciceros zum Ideal für die Fähigkeit, Reden und Lesen so einzuüben, dass auch über komplexe und neue Gegenstände gehandelt werden kann. Dabei wurde Reden, Lesen und Schreiben ganz selbstverständlich als Schulung des Charakters und Erziehung zur Tugend verstanden (Fuhrmann 2011). Unterschieden wurden in der rhetorischen Tradition das Leseverstehen des logischen Aussagenzusammenhangs eines Textes von seiner rhetorischen und stilistischen Form. Die Verstehensleistungen beim Lesen wurden als hierarchisch verschieden aufgefasst, beginnend bei der wörtlichen Bedeutung eines zu lesenden Textes bis zum Erfassen von übertragenen, oft allegorischen, wenn nicht sogar esoterischen Bedeutungen. Fragen nach dem Nutzen des Lesens für den Einzelnen wurden mit der Frage nach dem Nutzen des Lesens für die Gesellschaft gleichgesetzt, so etwa in der Poetik des Aristoteles (Fuhrmann 2003) oder in den Analekten des Konfuzius (Tabery 2006). Die Erfahrung des Nachahmens von Handlungen beim Lesen oder Hören von Geschichten bereite dem Menschen Freude und belehre ihn, so argumentierte man in der Nachfolge Aristoteles. Die topische Wendung des „prodesse et delectare“ des Horaz‘ (Ars Poetica: V. 333–334), wonach die Dichter mit ihren Werken entweder nützen oder unterhalten oder beides wollen, fasst die vormoderne Auffassung des Lesers als einem moralischen Wesen eingebunden in die Gesellschaft nicht nur für die römische Gesellschaft zusammen. Lesen als eigenständiger Erkenntnisgegenstand blieb ungeachtet dieser impliziten Annahmen und ihrer mehr oder minder ausgeprägten Systematisierungen jahrhundertelang ein Randthema und seine Theoretisierung wurde kaum ausformuliert (Schneider 2015). Wichtiger waren dagegen jahrhundertelang Techniken des Auswendiglernens und der daraus erwachsenden moralisch-sittlichen Erbauung, denn Lesen wurde als Mittel zu Erfüllung sozialer Normen aufgefasst. Man kann daher für die vormodernen Gesellschaften am ehesten von einer moralischen Korrespondenztheorie des Lesens sprechen, da ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Gelesenen und seinem moralischen Nutzen für die Gesellschaft im Mittelpunkt der Auffassung des Lesens stand. Dem entsprach dann auch die Zensurpraxis in den meisten Kulturen über viele Jahrhunderte (Fischer 1999). Mit der beginnenden Individualisierung des Lesens in den europäischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts wurden Fragen nach dem Nutzen des Lesens für den Einzelnen auch jenseits der Gesellschaft virulent. Anleitungen wie die seit 1764 immer wieder aufgelegte Vrais principes de la lecture von Nicolais-Antoine Viard folgen zwar noch erkennbar der spirituell-moralischen Funktion des Lesens älterer Instruktionen, verstehen aber das Lesen nicht mehr als mechanisches Entziffern von Wörtern, sondern als eine aktive Konstruktion des Intellekts, der sich bei Kindern allmählich entfaltet und durch das Lesen geformt wird. Das individuelle Nachdenken und das freundschaftlich-empfindsame Gespräch über Bücher

2 Theoretische Perspektiven 

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wurden spätestens seit dem 18. Jahrhundert als Teil des Leseprozesses aufgefasst und individualitätssemantisch beschrieben. Spirituelle Lesepraktiken früherer Zeiten wurden säkular gewendet und zwischen dem Buch und seinen Lesern eine parasoziale Beziehung inszeniert (Schön 1987), eine Auffassung des Lesens, wie sie dann auch später der Konstruktivismus in der sozialpsychologischen Leseforschung aufgreifen wird (Kuhn 2015). Besonders Vorreden zu Romanen reflektierten den Wandel in der Auffassung des Lesens und verstanden das ‚Buch als Freund‘, wie Goethe es in seiner Vorrede zu den Leiden des jungen Werthers paradigmatisch formuliert hat (Mellmann 2006). Bücher wie Rousseaus Julie ou La Nouvelle Héloïse von 1761 intendieren Leser*innen als individuelle Persönlichkeiten im bewussten Gegensatz zu den gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit (Darnton 1998). Nur wenige Vorläufer besonders in autobiografischen Schriften deuten auf vergleichbare individualisierte Auffassungen des Lesens auch in vormodernen Gesellschaften hin. Mit der Emanzipation der Pädagogik von der Theologie Ende des 18.  Jahrhunderts und der Verbürgerlichung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert wurden explizite Theorien des Lesens vor allem zur Institutionalisierung der schulischen Bildung formuliert. Lesen wird als universelle Fähigkeit des Menschen als Bürger aufgefasst und politisch eingefordert. Der Schriftspracherwerb besonders durch die Lautiermethode, wie sie bereits seit der Reformation durch Grammatiker wie Valentin Ickelsamer empfohlen worden war, und nun von Schulreformern wie Heinrich Stephani in seinem Elementarbuch zum Lesenlernen nach der Lautiermethode 1802 aufgegriffen wurde (Düppe 2001), rückte in den Mittelpunkt der theoretischen Bemühungen, das Lesenlernen systematisch zu erfassen, kindgerecht zu gestalten und als allgemeines Recht auf Bildung politisch durchzusetzen. Eine explizite theoretische Fundierung des Lesens und eine disziplinäre Forschung jenseits der praktischen Notwendigkeiten für die Bildung entstand erst allmählich in den sich ausdifferenzierenden Wissenschaften des 19. Jahrhunderts. In den Nationalphilologien blieb das Lesen ein Randthema, da sich diese Fächer vor allem als Geschichte der literarischen Werke verstanden. Erst der Positivismus und die Versuche, ein Fach Literaturwissenschaft in Konkurrenz zur Literaturgeschichte zu etablieren, rückten gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Lesen in den Fokus der Wissenschaften. Dabei spielt für die positivistischen Ansätze der Literaturwissenschaft im Unterschied zur Literaturgeschichte die Orientierung an der empirischen Psychologie eine wichtige Rolle, denn um die Jahrhundertwende entwickelten zeitgleich Psychologen wie Wilhelm Wundt in Deutschland oder auch Edmund B. Huey in den USA ein systematisches Interesse am Lesen als kognitiv-affektiven Prozess. Wundts Kritik der tachistoskopischen Methode von 1900 oder Hueys Psychology and Pedagogy of Reading von 1908 unterstützten die Konzeption einer Allgemeine Literaturwissenschaft etwa bei Ernst Elster (1897 / 1911), einem Schüler Wundts.

114 

 III.1 Lesen

Doch gelang es nicht, die wahrnehmungspsychologischen Einsichten mit den höherstufigen Prozessen der Bedeutungsbildung beim Lesen zusammenzuführen, wie es für Fächer wie die Literaturwissenschaft notwendig gewesen wäre, damit psychologische Modelle Teil dieses entstehenden Fachs hätten werden können. Lesen blieb ein internes Forschungsthema der Wahrnehmungspsychologie, fokussiert auf Probleme der Apperzeption, das außerhalb des Faches kaum Beachtung gefunden hat. Mit der Verdrängung und der bis heute andauernden Abwertung des Positivismus war daher die Verbindung von Lesepsychologie und Literaturwissenschaft für die Geisteswissenschaften nur eine Episode. Ähnlich blieben auch die Ansätze des Russischen Formalismus vereinzelt, die formalistische Verfremdung und die daraus erwachsende entschleunigte Wahrnehmung literarischer Texte zu einer Theorie des Lesens zu verdichten, wie sie erst im Strukturalismus in Bezug vor allem auf den Spracherwerb und die Funktionen der poetischen Sprache versucht wurde. Insofern ist es keine Übertreibung zu sagen, dass Theorien des Lesens nach dem Ersten Weltkrieg bis in die 1960er Jahre in den geisteswissenschaftlichen Fächern keine größere Rolle gespielt haben. Unter Rückgriff auf die Formalisten und die Phänomenologie begann sich in den 1960er Jahren die Rezeptionsästhetik dem Leser gerade auch theoretisch zuzuwenden. Der Begriff der Unbestimmtheitsstelle, wie ihn Roman Ingarden schon in den 1930er Jahren entfaltet hatte, gibt der „mitschöpferischen Tätigkeit des Lesers“ (Ingarden 1968: 49) eine zentrale Funktion im Prozess des Verstehens literarischer Kunstwerke. Die Annahme, dass literarische Texte Unbestimmtheitsstellen enthalten, die mit der eigenen Einbildungskraft des Lesers aufzufüllen seien, wurde zum Grundmodell für eine hermeneutisch angeleitete Theorie des Lesens. In einer um den Leser erweiterten Hermeneutik haben Hans Robert Jauß (1967) und Wolfgang Iser (1970) den Leser theoretisch als impliziten Leser modelliert. Den durch die ästhetische Erfahrung im Leser ausgelösten Wandel seines Erwartungshorizonts und die sich dadurch verändernde literarische Hermeneutik fassen ihn als bildungsfähiges Subjekt, das seinerseits dann als Autor neue Schreibweisen in die Literatur einbringt. Das theoretische Interesse der Rezeptionstheorie galt jedoch nicht dem historischen, sondern einer idealtypischen Konstruktion des impliziten Lesers, den jeder literarisch-fiktionale Text voraussetze. Nicht die konkrete und subjektive Konstruktionsleistung des Lesers steht daher im Mittelpunkt der Rezeptionsästhetik, sondern der im fiktionalen Text vorausgesetzte, idealtypisch gedachte Leser der hermeneutischen Theorie des Verstehens. Über den Leser kann die Rezeptionsästhetik daher nur sehr generell aussagen, dass er eine subjektivierende Aktualisierung des Gelesenen vornehme. Historisch wird entsprechend allgemein nur angenommen, dass mit dem Aufstieg des Romans zur Leitgattung der Literatur im 18. Jahrhundert fiktionale Texte unbestimmter würden und entsprechend des Anteils des Lesers an der Sinnbildung zunehme. Die Rezeptionsästhetik folgt daher für ihre Theorie des

2 Theoretische Perspektiven 

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Lesens weitgehend der antiempirischen Ausrichtung der Phänomenologie. Ein Forschungsprogramm einer Wirkungsgeschichte der ästhetischen Erfahrung konnte aus dieser allgemein gehaltenen Konzeption des Lesens nicht abgeleitet werden, so dass Lesen weder theoretisch noch als Forschungsprogramm im Rahmen der historisch-hermeneutischen Disziplinen wie der Literaturwissenschaft weiterverfolgt wurde (Waldmann 1981). Der Platz des realen Lesers in der Rezeptionsästhetik ist leer. Anders als in der Rezeptionsästhetik haben der Strukturalismus und die Sozialgeschichte der Literatur den Leser theoretisch so genau modelliert, dass konkrete Forschungsprogramme daraus erwachsen konnten. Theoretisch wird ein idealer Leser als ein interpretationsrelevantes Konstrukt vorausgesetzt und dabei der wissenschaftlich-objektivierende Leser von der historisch zufälligen Rezeption unterschieden (Titzmann 1991), eine Unterscheidung, die schon in der älteren Hermeneutik etwa bei Friedrich Schleiermacher zu finden ist. Während der Strukturalismus den idealen Leser als objektivierende Instanz für die Interpretation hervorgehoben hat und von ihm aus die Struktur des literarischen Textes objektiv zu analysieren suchte, adressierte die Sozialgeschichte den realen Leser, gerade auch den populärer Stoffe. Historisch galt das Hauptaugenmerk dem 18. Jahrhundert und dem Prozess der Verbürgerlichung des Lesers, so schon in Leo Balets und Eberhard Gerhards Studie zur Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur, und Musik im 18. Jahrhundert von 1936. Die vieldiskutierte Unterscheidung in intensive und extensive Lektüre durch Rolf Engelsing (1974) und Rudolf Schendas Untersuchung zu den populären Lesestoffen (1970) haben ihrerseits die Lesespuren der Leser*innen des 18. Jahrhunderts systematisch ausgewertet und zu Modellen der Lesegeschichte als Geschichte seiner Modernisierung und Verbürgerlichung verdichtet. Auch die französische Annales-Schule Marc Blochs und Lucien Febvres haben inspiriert von der damals jungen Soziologie versucht, die soziale und historische Vielfalt der Leseerfahrungen zu rekonstruieren und Grundlinien der historischen Entwicklung des Lesens herauszupräparieren (Burke 1991). Unterscheidungen zwischen dem Lesen der einfachen Leute von dem bürgerlichen Lesen, dem intensiven, wiederholenden Lesen versus dem extensiven, modernen Lesen des immer Neuen, die Unterscheidung in Mehr- und Einmedienbenutzer, den verschiedenen Leserevolutionen und besonders die Konstruktion von Epochen entlang von gesellschaft­ lichen Umbrüchen wie der Aufklärung haben zu konkreten Forschungsergebnissen geführt (Schneider 1999). Umfangreiche Literaturgeschichten sind daraus hervorgegangen (Schneider 2004). Die Buchwissenschaft und historische Leseforschung verdanken ihre disziplinäre Etablierung nicht unwesentlich dieser immer auch lesehistorisch argumentierenden Sozialgeschichte (Jäger 1987). Als philologisches, quellenbasiertes Unterfangen sind die sozialgeschichtlichen Ansätze zweifellos die produktivste Konzeptualisierung des Lesers innerhalb der geisteswissenschaftli-

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 III.1 Lesen

chen Fächergruppe. Von theoretischer Bedeutung sind dabei die Versuche, Kultur und Gesellschaft nicht gleichzusetzen und aus der sozialen Position des Lesers nicht auf die semiotische Bedeutung der Bücher direkt zu schließen, eine Trennung, die gleichwohl nur bedingt gelungen ist (Ort 1992) und zur Schwäche des theoretischen Modells beigetragen hat (Huber und Lauer 2000). Poststrukturalistische Ansätze betonten programmatisch unter dem Schlagwort vom ‚Tod des Autors‘ die Befreiung des Lesers und arbeiteten damit einem subjektivistischen Modell des Lesers vor. Stellvertretend für die subjektivistischen Wende des Poststrukturalismus sind Roland Barthes Essays, die Literatur gegen Geschichte und den Leser gegen den Autor stellen (Barthes 1960 und 1967). Sie modellieren den Leser wiederum nur im Sinne einer heuristischen Befreiungsprogrammatik, die dem Text einen quasi-magischen Anspruch zuschreibt, unendliche Bedeutungen zu generieren, die von keiner Wissenschaft eingeholt werden könnten. Die Kultivierung des seltenen Sinns in einer betont komplexen, die neoromantische Kategorie der Unverständlichkeit anvisierenden Sprache kehrt das Versprechen einer systematischen Theorie des Lesers in ihr Gegenteil. In dieser Linie einer subjektivistischen Lesertheorie wurden und werden in den poststrukturalistischen Literatur- und Medienwissenschaften die Folgen der digitalen Gesellschaft auf ein posthumanes Subjekt hochgerechnet (Hayles 1999). Angenommen wird dabei, dass es ein direktes Verhältnis zwischen der Algorithmisierung der Medien und der Virtualisierung des Lesers gäbe. In der Summe bleibt festzuhalten, dass in den Kontexten der geisteswissenschaftlichen Disziplinen mit Ausnahme der sozialgeschichtlichen Ansätze und dem Strukturalismus dem Leser und dem Lesen kein systematischer Ort zukommt (Willand 2014), und das ungeachtet der vielfachen programmatischen Bekundungen zur Bedeutung des Lesers und des Lesens. Noch hat die Leseforschung in dieser Fächergruppe derzeit keinen festen Platz. Von einer allgemein akzeptierten Theorie des Lesers noch des Lesens kann daher keine Rede sein. Doch es gibt einige wenige theoretische Konzepte, die nicht zufällig an die sozialgeschichtlichen und strukturalistischen Ansätze anschließen und in systematischer Absicht zeigen, warum dem Leser eine zentrale Funktion für die Bedeutungsermittlung von Texten zukommt. Nach ihnen ist die Varianz der Bedeutung von Texten nicht beliebig, sondern hängt von den Verstehensleistungen historischer Leser*innen und ihren Positionen im sozialen Feld ab. Deren jeweiliges Verständnis eines Textes ist der Maßstab für die Variationsbreite, die Textbedeutungen annehmen können. Philologisch ist daher die literarische Kommunikation (Harth 1982) und damit auch die soziale und historische Rolle des Lesers jeweils zu rekonstruieren und quellennah seine Rolle zu verbürgen (Mellmann und Willand 2013). In solchen und ähnlichen Ansätzen kommt dann dem Leser tatsächlich eine zentrale Funktion für die Bedeutungsermittlung zu. Die Ausnahmen bestätigen jedoch nur, dass von einem Konsens über

2 Theoretische Perspektiven 

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Theorien zur Funktion und Bedeutung des Lesers in den geisteswissenschaftlichen Fächern nicht die Rede sein kann und eine systematisch angelegte Leseforschung noch immer eine Notwendigkeit für die Zukunft ist.

2.2 Lesetheorien in sozialwissenschaftlichen Perspektiven Anders als in den geisteswissenschaftlichen Fächern verbinden sich in den Sozial­ wissenschaften Theorie, Empirie und Methodik der Leseforschung, da Lesen in diesen Fächern basal als soziales Handeln aufgefasst wird. Fragen, warum und wie Menschen lesen gehören zu den selbstverständlichen sozialwissenschaftlichen Zugängen zur Gesellschaft. Schon in der frühen Soziologie etwa in Hippolyte Taines fünfbändiger Histoire de la littérature anglaise von 1863 oder dann auch in der um die Jahrhundertwende entstehenden Kultursoziologie Georg Simmels und seines Schülers Georg Lukács‘ wurden die gesellschaftlichen Faktoren, die die Produktion und Rezeption der Kultur bedingen, systematisch untersucht, ohne dabei ein direktes Abbildungsverhältnis zwischen der gesellschaftlichen Struktur und der kulturellen Hervorbringung anzunehmen. Die positivistischen und materialistischen Positionen wie beispielsweise Wilhelm Scherers Poetik von 1888 nehmen ausdrücklich die Produktions- und Rezeptionsfaktoren in den Blick und betonen den Warencharakter, Tauschwert und die soziale Komplexität des Literaturbetriebs und greifen so immer wieder auf den Leser als soziale Größe zurück. Levin ­Schückings Shakespeare im literarischen Urteil seiner Zeit von 1908 oder seine Soziologie der literarischen Geschmacksbildung von 1923 sind Beispiele wie früh und selbstverständlich in den Sozialwissenschaften Fragen nach der Funktion des Lesers für die kulturelle Bedeutungsbildung gestellt wurden. Theoretisch unterschieden wurde und wird dabei, ob der Leser oder das Lesen auf der Mikro-, Meso- oder Makroebene untersucht wird, ob eher die Handlungen oder eher die Normen und Werte der Akteure im Mittelpunkt stehen. Theoretisch wie forschungspraktisch werden die sozialen Funktionen des Lesens für das Rollenverständnis und die Identität von Akteuren und Gruppen untersucht, auch der Einfluss von Institutionen auf das Lesen oder generellere Fragen der Funktionen des Lesens für die kulturelle Vergesellschaftung (siehe VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe und VII.2 Vergemeinschaftung in diesem Band). Gerade auf der Ebene genereller Gesellschaftstheorien gehören Fragen nach der Funktion des Lesens für soziale Differenzierungen und Integration und damit für Modernisierungsprozesse in Gesellschaften zu den selbstverständlichen Forschungsanliegen sozialwissenschaftlicher Fächer. Qualitative und quantitative Methoden ergänzen sich hierbei bzw. treffen im Methodenstreit der Sozialwissenschaften auch grundsätzlicher aufeinander (Jung und Müller-Dohm 1993; Kneer und Moebius 2010).

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 III.1 Lesen

Eine herausgehobene Rolle für die sozialwissenschaftlichen Lesetheorien spielt die demoskopische Buchmarktforschung seit den 1950er Jahren des 20. Jahrhunderts (Bonfadelli 2015a). Das erste deutsche Meinungsforschungsinstitut, das Institut für Demoskopie Allensbach, begann 1961 nach amerikanischen Vorbildern das Buchkaufverhalten durch Fragebögen zu erfassen und eine Typologie der Käufergruppen zu erstellen (Fröhner 1961). Die Studien wurden in der Folgezeit auf das Leseverhalten ausgedehnt und mit sozialen Positionen in verschiedenen Milieus verknüpft (Noelle-Neumann und Schulz 1987). Langzeitstudien dehnen das Untersuchungsfeld noch einmal weiter aus, jetzt auf die Massenkommunikation (Ridder und Engel 2010). Lesen und Leser*innen werden dabei vor allem als individuelle Konsumenten modelliert. Abgefragt werden die Häufigkeiten des Buchkaufs und Buchbesitzes, die Frequenz und Länge des Lesens und das Verhältnis zu anderen Medien, bevor die Leser*innen dann nach sozialen Gruppen und Milieus typisiert werden. Leseanlässe und -kontexte wie Freizeit und Beruf, aber auch subjektive Bewertungen des Gelesenen und die Interaktion über das Gelesene kommen nur am Rande solcher und ähnlicher Untersuchungen wie etwa dem ‚European Cultural Values-Eurobarometer‘ vor. Die Theoriebildung erfolgt hier vor allem induktiv. Die Ergebnisse der Studien zeigen sehr stabile Muster in den deutschsprachigen Ländern seit den 1980er Jahren mit etwa einem Drittel Vielleser auf der einen Seite und etwa 20 Prozent Nichtlesern auf der anderen Seite des Spektrums. Die große Unterschiedlichkeit in der theoretischen Unterfütterung der Befragungen, in der Methodik der Erhebung und der Fragebogenkonstruktion erschwert bis heute eine vergleichende Auswertung der Erhebungen und ihre Verbindung mit anderen großen sozialwissenschaftlichen Erhebungen. Studien zu den verschiedenen Lebensstilen in der Gesellschaft (Otte 2004), zu verschiedenen Milieus wie in den Sinus-Studien (Sinus-Institut 2021) erheben die Werthaltungen, Lebensziele, Lifestyles, dabei immer auch die Mediennutzung, Kommunikationspräferenzen und Bildungsprogramme, um so unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen genauer identifizieren zu können. Während hierbei das Lesen vor allem als Indikator für den sozialen Status fungiert, erhebt die Stiftung Lesen Angaben zum (Vor-)Leseverhalten, zur Lesekompetenz, zur Alphabetisierung und Grundbildung in der Absicht, besonders die außerschulische Leseförderung zu verbessern (Stiftung Lesen 2018). Noch feingranularer erfassen in der empirischen Bildungsforschung in den letzten beiden Dekaden verschiedene Panelstudien wie die PIRLS / IGLU in regelmäßigen Abständen das Lesen besonders von Kindern und Jugendlichen. Dabei wird Lesen als das Zusammenwirken von individueller Lesemotivation, Unterrichtsstrategien, Schultypen und familiären Umfeld begriffen (McElvany et al. 2021). Die medialen Kontexte, in denen das Lesen um Aufmerksamkeit und Zeit der Kinder und Jugendlichen konkurriert, erfassen jährlich die JIM- und KIM- bzw. JAMES- und MIKEStudien, erweitert neuerdings auch die neueren FIM- und SIM-Studien, die das

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Mediennutzungsverhalten in Familien und in der älteren Generation analysieren (Rathgeb und Behrens 2016). Theoretisch wird damit Lesen vor allem als Bildungsund Medienkompetenz konzeptualisiert. Mit den PISA-Studien liegen erstmals global erhobene Daten über einen größeren Zeitraum zu den Lese-Leistungen von Fünfzehnjährigen vor, die vor allem auf das Konzept einer gestuften Lesekompetenz abheben, aber auch Lesemotivation, Selbstkonzepte und Lernmöglichkeiten als Variablen mit einbeziehen (Reiss et al. 2019). Vor allem durch die Frequenz einer alle drei Jahre wiederholten Erhebung entstehen durch die Pisa-Studien langfristig angelegte Studien. Die zunächst auf die Kompetenzen der Schüler abgestellte Erhebung hat in den letzten Jahren eine Reihe von sozialen Hintergrundvariablen integriert und erhebt auch motivationale Orien­tierungen und Einstellungen der Schüler. Lesefähigkeit (Literacy) wird dabei als funktionale Grundbildung aufgefasst, funktional deshalb, weil es um die Abschätzung der Fähigkeit geht, inwieweit Fünfzehnjährige die Lesefähigkeit auf andere als schulische Praxisfelder übertragen können (Sälzer und Reiss 2016). Die Ausdehnung des Untersuchungsdesigns auch auf Eltern, Lehrer und Schulleitungen versteht nun Lesefähigkeit als ein soziales Zusammenspiel dieser Akteure. In dem die PISA-Studien inzwischen auch die sozioökonomische Positionierung der Familie, den Zuwanderungshintergrund, die Lernkontexte in der jeweiligen Schule, die unterschiedlichen Einstellungen, Lesemotivation und Lernstrategien abfragen, wird Lesen als ein komplexer sozialer Lernprozess konzeptualisiert, an dessen Gelingen nicht nur die individuelle Lernfähigkeit der Schüler*innen beteiligt ist. Die Lesekompetenz wird dabei gestuft verstanden: als Fähigkeit relevante Informationen aus Texten herauszusuchen, Texte zu verstehen, Texte zu nutzen und schließlich auch über sie zu reflektieren zu können. Dazu werden Texte unterschiedlicher Art präsentiert, auch in digitalen Formaten, um die Lesefähigkeit der Jugendlichen abschätzen zu können und näherungsweise zu wissen, inwieweit Kinder und Jugendliche Inhalte, Absichten und Formen des Gelesenen und seiner Kontexte unterscheiden und interpretieren können. Im Unterschied zu den anwendungsorientierten Ansätzen der Buchmarktund empirischen Bildungsforschung spielt in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen die betont theoretisch orientierte Grundlagenforschung eine große Rolle. Handlungstheoretische Sozialstrukturanalysen und variablensoziologische Untersuchungen von Lebensstilen und Werthaltungen sind auch für die Untersuchung des Lesers zentral und werden zur Kultursoziologie gezählt (Schmidt-Lux et al. 2016). Dabei wird von Häufigkeitsverteilungen auf der individuellen Ebene wie auf höherstufigen Ebenen der sozialen Organisiertheit ausgegangen mit dem epistemischen Ziel, Ordnungsmuster im Umgang mit dem Lesen aufzufinden. Unter Ordnungsmuster können solche gemeint sein, die den Wandel der lesenden Welterschließung erklären wollen, solche, die die Konflikte um und über das Lesen

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 III.1 Lesen

analysieren, solche, die die Lesepraktiken untersuchen, oder solche, die das Leseverhalten in unterschiedlichen Kulturen vergleichen möchten (siehe VIII.3 Internationale Vergleiche von Buch- und Lesekulturen in diesem Band). Studien zu solchen Fragen entstehen bisher noch nicht zu unterschiedlichen Lesemilieus, sondern zumeist im Kontext von Studien zu unterschiedlichen Lernmilieus (Baumann et al. 2006). Dies geschieht in der Annahme, dass sich hinter sozialen Kategorien Strukturbezüge oder Großgruppen mit gemeinsamen Denk- und Handlungslogiken verbergen, ähnlich wie sie auch in Milieu-Studien ermittelt werden. Solche Logiken werden in Abhängigkeit von ökonomischem und kulturellem Kapital analysiert, von raum-zeitlichen Opportunitäten, von Sozialisation und sozialer Identität wie Bildung, Geschlecht und Alter und den sich daraus ergebenen Pfadabhängigkeiten. Dazu kommt noch die Einbettung in mehr oder minder homogene Netzwerke wie etwa Anregungen und Vorbilder für das jeweils eigene Lesen. Wie schon diese abstrakte Liste zeigt, wird in den sozialwissenschaftlichen Fächern das Lesen nicht nur in Abhängigkeit von objektiven Lagemerkmalen in der Gesellschaft kategorisiert, sondern auch im Zusammenhang mit eher subjektiven Lebensstilen. In der Regel gehen die sozialwissenschaftlichen Ansätze daher nicht von einem monokausalen Ressourcenmechanismus aus, sondern von einem mehrfaktoriellen Zusammenhang zwischen verschiedenen sozialen Mechanismen und dem Lesen. Interindividuelle Variationen von Einstellungen und Verhaltensweisen, warum z.  B. manche täglich und andere nie lesen, können nicht in direkter Linie aus einem sozialen Wirkungsmechanismus abgeleitet werden. Pierre Bourdieus Unterscheidung von ökonomisch bedingter Klassenlage und relationaler Klassenstellung ist für diese in den Sozialwissenschaften wichtige Differenzierung ein Beispiel (Bourdieu 1974). Mit seiner Unterscheidung versteht Bourdieu die Klassenstellung als Zusammenwirken der ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitalsorten, die nicht mit der ökonomischen Klassenlage identisch sein muss. Entsprechend der multivariat angelegten Theorie ist auch die Theorie des Lesers in den sozialwissenschaftlichen Fächern komplex und eine angemessene empirische Methodik bedarf notwendigerweise komplexer statistischer Modelle. Auf der Mikroebene wird theoretisch modelliert, wie sich aufgrund welcher Wirkungsmechanismen Subjekte und Gruppen einem bestimmten Lesen zuwenden, welche Entscheidungen sie dafür treffen und welche Distinktionsgewinne sie daraus ziehen. Auf dieser Ebene wird auch gefragt, wie Subjekte und Gruppen das Lesen in ihr Leben einbauen, ihre Stimmung und affektiven Bedürfnisse regulieren und welche sinnstiftenden Anschlusskommunikationen sie durchführen. Zur Mikroebene gehören schließlich auch Fragen nach der Wirkung des Lesens auf Subjekte und Gruppen, welche Themen dadurch für sie relevant werden, welches Wissen erworben und welche Weltsichten dadurch geprägt werden (Bonfadelli und Friemel 2011). Auf der Mesoebene der Institutionen und Organisationen sind

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insbesondere Theorien zur Sozialisation von Kindern und Jugendlichen relevant (Hurrelmann et al. 2006; Graf 2007; Philipp 2011), damit auch bildungspolitische Fragen, dann auch Konstruktionen von Mediengenerationen und der Einfluss von Sozialisationsinstanzen wie Familie, Schule und Peers, Ausbildung und jugendliche Fankulturen (Groeben und Hurrelmann 2004; Clark et al. 2008). Diese mittlere Ebene ist derzeit das am besten beforschte Gegenstandsfeld der sozialwissenschaftlichen Leseforschung, auch Dank großangelegter Panelstudien. Dabei werden Fragen einer evidenzbasierten Leseförderung fast immer mitverhandelt. Auf der Makroebene werden schließlich längerfristige Wandlungen in der kulturellen Vergesellschaftung untersucht und ihr Zusammenhang mit der Mediatisierung und Globalisierung von Gesellschaft, Buchmärkten und Lesekulturen analysiert (Bonfadelli 2015b). Gesamtgesellschaftliche Diagnosen zum Strukturwandel moderner Gesellschaften hin zu einer individualisierten Vergesellschaftung argumentieren theoretisch auf der Makroebene die Folgen eines veränderten Umgangs mit der Kultur (Reckwitz 2017). Der Grad der Theoretisierung des Lesers ist in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen besonders hoch, ihre Methodik darf als differenziert gelten und ihre empirischen Daten sind besonders reich. Der Leser wird als komplexes, soziales Wesen in seinen wechselnden Bezügen erfasst. Gesamtdeutungen der Gesellschaft etwa als Erlebnisgesellschaft (Schulze 1992; Delhey und Schneickert 2022) gewinnen dabei eine ordnende Funktion für die Erklärungen auch im Verhalten der Leser. Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass wenn Leseforschung derzeit einen Platz unter den Fakultäten hat, dann am ehesten unter den sozialwissenschaftlichen Fächern. Doch fällt auf, dass die demoskopisch, an der Buchmarktforschung ausgelegte Leseforschung weit hinter der Komplexität hochdimensionaler Datensätze und ihrer multivariaten statistischen Auswertung der Kultursoziologie zurückbleibt. Auch die bildungspolitisch motivierten Langfrist- und Panel-Studien sind zwar umfangreich angelegt, aber weniger differenziert als es im engeren Sinne kultursoziologische Studien sind (Otte et al. 2022). Derzeit spielen wichtige theoretische Differenzierungen der Kultursoziologie wie etwa die zwischen Sozialstrukturanalysen und Lebensstilanalysen für die Leseforschung noch keine Rolle. Auch nutzentheoretische Modellierungen noch die variablenspezifischen Interaktionseffekte zwischen Einstellung und Opportunitätskosten (Otte 2018) sind für die Leseforschung von größerer Bedeutung. Viel spricht deshalb dafür, dass die Theorie, Empirie und Methodik der Leseforschung wesentlich von der Kultursoziologie lernen könnten.

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 III.1 Lesen

2.3 Lesetheorien in psychologischen Perspektiven Die Geschichte der Psychologie war in ihren Anfängen eng mit der Erforschung des Lesens verbunden, eine Verbindung, die sich mit der disziplinären Ausdifferenzierung der Psychologie aber wieder verloren hat. Dass die psychologische Leseforschung zu den ältesten Perspektiven zählt, hat mit ihrer Ausrichtung als Psychologie der Wahrnehmung zu tun. Schon in den psychophysiologischen Arbeiten von Hermann Helmholtz dienten Buchstaben und Worte als Stimuli für Untersuchungen zur visuellen Wahrnehmung (Günther 1996). Der Helmholtz-Schüler Wilhelm Wundt und andere hatten diese Linie verlängert und begonnen, die Augenbewegung beim Buchstabieren mit teils abenteuerlichen Messmethoden zu untersuchen, um dicht an die unmittelbare Erfahrung von Lesern zu kommen, wie sie sich subjektiv im Bewusstsein darstellt. Schnell zeigte sich, was dann als Wortüberlegenheitseffekt bezeichnet wurde (Cattell 1885), nämlich dass Leser*innen nicht buchstabieren. Vielmehr nehmen wir als Leser Buchstaben in größere Einheiten wie in Worten schneller wahr als in einer isolierten Darbietung. Das deutet auf den konstruktiven Charakter des Lesens hin. Der konstruktive Charakter der bewussten wie der unbewussten Wahrnehmung war schon vor der Jahrhundertwende zwischen Wundt (1900) und Erdmann und Dodge (1898) Gegenstand von Kontroversen, aber damit auch schon grundsätzlich akzeptiert. Spätere Theorien haben ihn systematisch ausgebaut. Details der sinnlichen Wahrnehmung von Texten, hier des Auges und seiner Bewegungen beim Lesen, wurden intensiv diskutiert. Im historischen Rückblick auf die Fachgeschichte wird deutlich, wie zentral die experimentelle Leseforschung und ihre Orientierung an Mustern des Wechsels von Fixation und Sakkaden für die frühe Psychologie war. Ihr theoretisches Grundmodell ist der Wahrnehmungspsychologie bis heute verpflichtet und versucht zu modellieren, wie aus sinnlicher Wahrnehmung subjektive Erlebnisse werden. Die Mechanismen von den neuronalen Grundlagen bis zu subjektiven Effekten des Lesens umreißen die Forschungsprogramme auch gegenwärtig in den psychologischen und neurowissenschaft­ lichen Fächern. Ungeachtet vieler Kontroversen wurde schon früh in der Psychologie klar, dass es ein fokussiertes, apperzeptives Lesen gibt, bei der sich Leser aktiv auf Details der Sinneseindrücke konzentrieren und ein schweifendes, assimilatives Lesen, so Wundts Terminologie (1911), bei dem eher passiv die eingehenden Sinneseindrücke konstruktive Prozesse im Gedächtnis des Wahrnehmenden auslösen. Erst aus beiden Prozessen entsteht ein ganzheitlicher Eindruck einer Wahrnehmung, so dass auch unscharf wahrgenommene Eindrücke als scharf wahrgenommen werden und so ein Gesamtverständnis größerer Einheiten eines Wortes und Satzes entsteht. Diese Linie der Forschung wurde erst in den 1960er Jahren wesentlich ergänzt durch neue Einsichten in den doppelten, sowohl visuellen wie phonologi-

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schen Zugang zum mentalen Lexikon beim Lesen. Das bis heute für die Lesepsychologie Konsens gewordene Zwei-Wege-Modell geht davon aus, dass es einen direkten, visuellen Zugriff für die Zuordnung von Lauten und Buchstaben gibt und einen indirekten Zugriff, bei dem die visuellen Repräsentationen zunächst in phonologische überführt werden, von denen dann erst ein lexikalischer Zugriff erfolgen kann. Diese Zwei-Wege-Theorie ist dann auch die Grundlage, warum die Leseförderung so sehr auf die phonologische Bewusstheit abhebt (Schneider 2019) und diese mit Trainingsprogrammen wie „Hören, Lauschen, Lesen“ (Küspert und Schneider 2018) fördert. Die lange dominierende psychophysiologisch bestimmte Sichtweise der Wahrnehmungspsychologie ist nicht zuletzt durch verbesserte experimentelle Methoden des Eyetracking, der Elektroenzephalografie und funktionellen Magnetresonanztomografie wesentlich dahingehend differenziert worden, dass die einzelnen Schritte der neurokognitiven Verarbeitung deutlicher erfasst werden konnten. Genauer messbar wurden die unbewusst im Millisekunden-Bereich ablaufenden Prozesse der visuellen Wahrnehmung, der orthografischen, phonologischen, dann auch semantischen und schließlich auch syntaktischen Verarbeitung (Friederici 2017). Die Befunde haben zu Revisionen in der Theoriebildung geführt, weil plausibel ist, dass der konstruktive Anteil des Gehirns größer als ursprünglich angenommen ist. Das bewusste Leseerleben kann gar nicht ohne neurokognitive Prozesse im Lesenden angemessen verstanden werden. Genauer noch setzt die konstruktive Leistung des Gehirns schon vor der eigentlichen Wahrnehmung des Gelesenen ein. Inzwischen sind neurowissenschaftliche Methoden noch weiter bis auf die Einzelzellenableitungen vorgedrungen, um die neuronalen Grundlagen des Lesens aufzuschlüsseln. Ihre Ergebnisse belegen, wie sehr die neuronale Struktur des Gehirns erst sinnverstehendes Lesen ermöglicht. Sie bestätigen und differenzieren damit die Konstruktivitätstheorie des Lesens. Laurent Cohen und Stanislas Dehaene konnten schließlich zeigen, dass das Hirnareal, das für die visuelle Wahrnehmung genutzt wird, bei allen Menschen, gleich welche Schrift sie erlernen, immer das gleiche ist und für die visuelle Verarbeitung des Gelesenen umgenutzt wird (Cohen et al. 2002; Cohen und Dehaene 2004). Diese Visual Word Form Area bildet im komplexen Zusammenspiel mit anderen Hirnregionen ein funktionelles Netzwerk, das visuelle Wahrnehmung, Phonologie, Semantik, Syntax und Sprachmotorik zu einem psychologischen Ganzen zusammenschaltet (Dehaene 2010). Dieser neuronale Bereich ist universale Bedingung für gelingendes Lesen. Zugleich revidieren diese Befunde bisherige Theorien über das Bewusstsein, genauer ob die komplexe Umsetzung aus visuellen Reizen grafischer Gebilde in bewusst erlebtes Wissen in fast gleichzeitiger Interaktion der Hirnareale erfolgt oder sequenziell über zusammenwirkende, aber eigenständige Teilsysteme abläuft (Bader 2015). Konkurrierende Theoriemodelle des Bewusstseins wie etwa Global Workspace Theory oder

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 III.1 Lesen

Integration Information Theory versuchen die neuen Befunde zu ordnen, ohne dass es derzeit einen Konsens über das adäquatere Modell gibt (Seth und Bayne 2022). Die Grundsätze der kognitiven Konstruktivität der Text-Leser-Interaktion gelten auch für die Integration des Vorwissens von Lesern über Welt und Sprache und damit für die Bildung höherstufiger Leseprozesse (Christmann und Groeben 1999). Doch sind sie von den Theorien des Bewusstseins, wie sie in der Neuropsychologie eine prominente Rolle spielen, weitgehend abgekoppelt. Unterschieden werden in den kognitionspsychologischen und neurolinguistischen Modellen die Ebenen des Wortes, Satzes und Textes, auf denen sich überall ein deutlicher Effekt des Kontextwissens auf die Wahrnehmung zeigt und plausibel wird, warum die semantische Verarbeitung der Satzbedeutung in Form von propositionalen Einheiten erfolgt. Lexikalische und syntaktische Strukturen stützen beim Lesen den Aufbau von Propositionen bis hin zur Inferenz von Situationsmodellen, bei denen die Elemente eines Textes in einem mentalen Modell simuliert werden (Johnson-Laird 2010). Das Propositionsmodell bzw. Konstruktion-Integrationsmodell von Teun van Dijk und Walter Kintsch (1983) ist in diesem Forschungsbereich eines der einflussreichsten theoretischen Modelle, um die höherstufige Bedeutungskonstruktion beim Lesen zu modellieren, ohne dabei seinerseits auf neurowissenschaftliche Befunde zu rekurrieren. Das Modell besagt, dass beim Lesen von Texten zunächst kleinere Propositionen gebildet werden, in dem die notwendigerweise immer unvollständigen Textinformationen durch Assoziationen und Wissenselaboration zu weiterreichenden Propositionen ergänzt und dann zu einem vom Leser als kohärent empfundenem Ganzen zusammengesetzt werden. Hierarchiehöhere Propositionen werden nach diesem Modell schneller als niedere verarbeitet und auch besser behalten. Im Leseprozess wird daher vom Text als orthografisch-syntaktischer Reiz abstrahiert. Die Anreicherung der Textbasis durch das Wissen des Lesers bildet nach dieser Theorie das höherstufige Situationsmodell (Zwaan 2008). Die Theorie schlägt für diesen Transformationsprozess aus Mikro- in Makropropositionen bestimmte Regeln der Abstraktion vor, solche der Selektion der relevanten Propositionen, ihre Generalisierung und Anreicherungen durch Analogiebildung. Theoretisch virulent wird dabei die Frage, wie weit diese Regeln nach wahrscheinlichkeitstheoretischen Prinzipien ablaufen (Doya 2006). Die Diskussion um das sogenannte Bayessche Gehirn gehört in diesen Diskussionszusammenhang. Die theoretischen Zugänge zum Lesen in den Kognitions- und Neurowissenschaften, der kognitiven Psychologie und der Neurolinguistik sind nur lose miteinander verbunden, ohne dass es ein spezifischeres integrierendes Modell über die verschiedenen Zugänge hinweg gäbe. Das gilt auch für die Sozialpsychologie, die sich intensiv mit der Wirkung des Gelesenen auf Leser auseinandersetzt. Das sind insbesondere Fragen der sozialen Effekte des Gelesenen auf die Leser*innen, Prozesse der Identifikation mit Figuren, der Immersion, Flow und Absorption in die

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gelesenen Welten, der Veränderung von Überzeugungen und Selbsteinschätzungen, der Empathie und des Mitleids, der prosozialen Wirkungen besonders des Lesens von Literatur, auch der Effekte auf parasoziale Verhaltensweisen etwa in der Fankultur und auf Stimmung und mentales Wohlfühlen von Subjekten oder Gruppen (Bortolussi und Dixon 2003; Kuiken und Jacobs 2021). Gegenwärtig spielen auch Fragen nach dem Effekt der Digitalisierung auf das Lesen eine wachsende Rolle in der sozialpsychologischen Forschung, also die Frage, ob auf digitalen Geräten ebenso flüssig gelesen werden kann wie in gedruckten Formaten (Kuhn und Hagenhoff 2015; Schwabe et al. 2020). Theoretisch schließt diese Richtung der psychologischen Forschung an die kognitionspsychologischen Einsichten in den Aufbau mentaler Modelle an, betont aber vor allem die sozialkognitiven Effekte des Lesens (Miall 2006; Oately 2011). Kontrovers sind hierbei theoretische Modellierungen, wie Absorption in das Gelesene, Empathie, Flow und Mitleid, wie kurz- und langfristige Verlagerungen von Persönlichkeitsmerkmalen durch das Lesen bewirkt und gemessen werden können und auch generell, wie Lesen die Lebenszufriedenheit beeinflusst. Dazu gibt es zwar Interventionsstudien, die zumeist auf Fragebögen beruhen, bislang aber keine Langfriststudien (Eekhof et al. 2022). Drei Modelle konkurrieren in der theoretischen Debatte um eine Grundlegung einer Sozialpsychologie des Lesens: die Theory of Mind, auch Theory-Theory, die Simulationstheorie und die Interaktionstheorie. Ausgangspunkt sind Befunde, dass die Wahrnehmung der eigenen Perspektive auf anderen neuronalen Prozessen aufruht als die Wahrnehmung der Bewusstseinszustände anderer (Vogeley et al. 2001). Umstritten ist in den konkurrierenden Theorien, ob das Verstehen des anderen entweder auf volkspsychologischen Prinzipien der Beobachtung anderer beruht, die zu einer Theorie der anderen und ihres Verhaltens verdichtet werden, oder auf interner Simulation, bei der wir das Verhalten anderer innerlich nachahmen, oder auf soziale Interaktion zurückzuführen sei, in der die lebenslange Interaktion mit anderen uns verstehen lehrt, was die mentalen Zustände anderer bedeuten. Von größerer Bedeutung in dieser theoretischen Debatte sind Einsichten der Entwicklungspsychologie. Verschiedene False-Belief-Tests haben seit den 1980er Jahren gezeigt, wie früh Kinder schon ihre eigenen mentalen Zustände von denen anderer unterscheiden können und zwischen beiden differenzierte Schlussfolgerungen ziehen können (Wimmer und Perner 1983). Experimentell belegt werden konnte auch, dass Kinder über ein angeborenes Kernwissen über andere als soziale Agenten verfügen (Spelke 2022) und früh beginnen Intersubjektivität auszubilden (Trevathen 1979). Ihre Fähigkeit zur Herstellung gemeinsamer Aufmerksamkeit und zur geteilten Intentionalität (Tomasello 2019) könnte die sozialpsychologische Forschung zur Textwirkung theoretisch fundieren und besser erklären helfen, wie Menschen anderen Menschen komplexe mentale Zustände zuschreiben können,

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 III.1 Lesen

eine der Grundvoraussetzungen, um Gelesenes angemessen zu verstehen. In dieser Linie einer anthropologisch fundierten Theorie des Verstehens sind Menschen von Geburt an alterozentrische Wesen, nicht egozentrische Wesen, die das Soziale des anderen erst erlernen müssten, wie noch Jean Piaget angenommen hat. Das erklärt, warum es Menschen möglich ist, durch das Lesen die eigene Identität zu befragen und andere als nur die eigene Perspektive auf die Welt zu entwickeln. Einschränkend ist freilich festzuhalten, dass die theoretischen Kontroversen um die Verstehensbedingungen anderer Bewusstseine (Hyslop 2019) nur selten zur systematischen Grundlegung einer sozialpsychologischen Leseforschung genutzt werden. Eher kommen hier Ansätze der Embodied Cognition zum Tragen, die auf die leibliche Verortung beim Lesen, das Agieren und Ausdehnen der Wahrnehmung beim individuellen Lesen abheben (Caracciolio und Kukkonen 2021). Einmal mehr zeigt sich, dass es für das Lesen keine zentralen Referenztheorien gibt und die Parzellierung der Modelle entsprechend hoch ist. Derzeit jedenfalls divergieren die theoretischen Erörterungen der Gründe für die Wirkungen des Lesens und deren empirische Erforschung noch vielfach. Eine integrierende Theorie auch nur innerhalb der sozialpsychologischen Leseforschung gibt es nicht. Zudem gibt es zwischen den sozialpsychologischen, kognitionspsychologischen und neurowissenschaftlichen Zugängen zum Lesen nur lose Verbindungen. Lesepsychologie ist daher ein sehr viel kleineres Forschungsfeld als die Psychologie des Sprach- und Schriftspracherwerbs. Dennoch lassen sich Gemeinsamkeiten in der Theoretisierung des Lesens zwischen den unterschiedlichen psychologischen Zugängen ausmachen. In den psychologischen Zugängen gibt es einen Konsens über die wichtigsten neuronalen Mechanismen, die am Zustandekommen des Lesens beteiligt sind. Das Visual Word Form Area und das Zwei-Wege-Modell der Enkodierung beim Lesen und damit verbunden auch die Bedeutung der phonologischen Bewusstheit sind wenig kontrovers. Geteilt wird außerdem die Auffassung, dass Lesen ein mehrstufiges Zusammenwirken von visuellen, orthografischen, phonologischen, semantischen und syntaktischen Wahrnehmungsleistungen ist. Begrifflich undeutlicher und geringer in ihrem Informationsgehalt sind Annahmen über die Inferenz höherstufiger Bedeutungen. Hier konkurrieren verschiedene Auffassungen darüber, wie Leser ihr Wissen in den Verstehensprozess so einbauen, dass aus Mikropropositionen Situationsmodelle entstehen. Noch weniger existiert ein konsensuelles Modell für die sozialpsychologischen Prozesse, die der Grund sind, warum Menschen überhaupt lesen. Trotz der losen Enden in der Theoriebildung besteht jedoch ein reiches Set an experimentellen Methodiken und eine ausgefeilte Methodologie. Es ist von verführerischer Kraft sich vorzustellen, die Psychologie des Lesens würde wieder wie in den Anfängen des Fachs eine größere Bedeutung gewinnen. Warum sie es nicht tut, hat weniger mit der parzellierten Forschungslandschaft zu tun als vielmehr mit der

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Dynamik der Kognitions- und Neurowissenschaften sowie anderer Fächer, deren jeweilige Komplexität schon jetzt kaum noch zusammenzuführen ist. Schließlich beschränkt das Anwendungsinteresse in der angelsächsischen und skandinavischen Forschungslandschaft und das Fehlen einer eigenständigen Leseforschung in den deutschsprachigen Ländern eine grundsätzlichere, auch theoretisch informierte Leseforschung über den Erwerb der Schriftsprache hinaus.

3 Desiderate Theorien können unterschiedlich bewertet werden, beispielsweise aufgrund ihrer Ordnungsleistung für ein bestimmtes Gegenstandsfeld oder aufgrund ihrer Generalisierungsleistungen oder auch ihrer Fähigkeit, Disziplinen zu organisieren (Opp 1999). Einige der Gütekriterien für wissenschaftliche Theorien sind erstens ihre Leistung, wie präzise sie Begriffe ermöglichen und wie eindeutig sie erlauben, Strukturmodelle für die Beziehung der Phänomene zu formulieren. Theorien müssen zweitens einen möglichst hohen Informationsgehalt haben und im gelingenden Fall Wenn-dann-Aussagen ermöglichen, die einen größeren Geltungsbereich vorauszusagen erlauben. Ihre empirische Bewährung in methodisch kontrollierten Experimenten gehört drittens zu den Bewertungsmaßstäben für wissenschaftliche Theorien. Das ist keine vollständige Liste, aber sie gibt Richtwerte, um zu be­urtei­ len, dass das Lesen in einer Reihe von disziplinären Zugängen theoretisch hinreichend, wenn auch für das Totalphänomen Lesen nicht integrativ erfasst ist. Vor allem die sozialwissenschaftlichen und psychologischen Fächer verfügen über so präzise Begriffe, dass daraus Forschungsdesigns abgeleitet werden können. In den geisteswissenschaftlichen Fächern gibt es aus der sozialgeschichtlichen Tradition Modelle, die es in einem Forschungsprogramm allerdings erst noch zu entfalten gilt. Der Informationsgehalt der Lesetheorien ist in den Geisteswissenschaften bislang deshalb eher programmatisch, während die sozialwissenschaftlichen und psychologischen Fächer über teilweise hochspezialisierte Theorien für bestimmte Untersuchungsbereiche verfügen, die Voraussagen im Sinne einer Wenn-dann-Relation ermöglichen und damit konkrete Forschungsdesigns beeinflussen. Empirisch überprüfbar sind in allen drei Fächergruppen die theoretischen Modelle, ob eher mit philologischen Methoden, solchen der Sozialwissenschaft oder solchen der Psychologie. In der Summe gilt es festzuhalten, dass die Erforschung des Lesens nur in verschiedenen Subdisziplinen übergeordneter Fächer erfolgt und einen eigenständigen theoretischen Anspruch nicht erhebt, zumindest nicht derzeit. Für eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Lesen ist daher immer zuerst danach zu fragen, in welchem disziplinären Kontext Theorien des Lesens diskutiert werden.

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 III.1 Lesen

Ihre jeweiligen Einsichten, Modelle und Theorien liegen vielfach auf unterschiedlichen Ebenen des Phänomens Lesen und informieren sich daher nur bedingt gegenseitig. Ob es zu einer Konvergenz der unterschiedlichen Forschungsrichtungen in Sachen Lesen kommt, hängt daher davon ab, ob wir Neugierde für die jeweils anderen Fächer und ihre Einsichten aufbringen, um voneinander zu lernen, auch wenn dafür keine zwingende Notwendigkeit besteht.

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Literatur 

 129

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130 

 III.1 Lesen

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 III.1 Lesen

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Literatur 

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III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung Axel Kuhn und Ute Schneider 1 Gegenstandsbereich Bücher sind mediale Objekte und / oder materielle Artefakte, die im Alltag auch jenseits des Lesens (siehe III.1 Lesen in diesem Band) genutzt werden. Ihre zusätzlichen Funktionen entstehen aus Erfahrungen mit und Interpretationen von Büchern im Alltag (Csíkszentmihályi und Rochberg-Halton 1989: 39), die in kollektiven Gewohnheiten und Wiederholungen, Routinen und Ritualen sowie einem standardisierten Umgang zum Tragen kommen (Liessmann 2010: 12). Bücher sind in diesem Zusammenhang als Gebrauchsobjekte zum Lesen definiert, die gleichzeitig in einem zweiten Signifikanzbereich symbolisch in der Lebenswelt verortet werden (Baudrillard 2007: 15; Bosch 2010: 14). Dabei können individuelle und soziale Funktionen differenziert werden (Baudrillard 2007: 17). Bücher erzeugen im Alltag zunächst psychische Effekte (Habermas 1996): Diese beginnen beim ästhetischen Genuss ihrer sinnlichen Präsenz und Benutzung, oft verknüpft mit ihrer materiellen oder medialen Semantik. Darüber hinaus geht das emotionale Erleben, das über assoziative Erinnerungen an bestimmte Buchnutzungssituationen und -kontexte sowie Wunschvorstellungen entsteht. Weiterhin tragen Bücher im Alltag zur Stimmungsregulation bei, indem sie das Befinden von Individuen beeinflussen, angenehme Umgebungen erzeugen oder Flow-Erleben von Alltagshandlungen ermöglichen. Die individuell wahrgenommenen Funktionen sind sozial überformt und werden kollektiviert gelebt, da Bücher Bestandteil der individuellen Identitätskonstruktion und -inszenierung sind (Bosch 2014): Sie sind deshalb geeignete Instrumente zur sozialen Distinktion, denn sie offenbaren Geschmack, intellektuelles Vermögen, Status, Macht und Prestige ihrer Nutzer. Damit sind Bücher und der mit ihnen verknüpfte Umgang Teil der Inszenierung und Zuschreibung von Zugehörigkeit zu Interpretationsgemeinschaften, sozialen Milieus und Kulturräumen.

2 Forschungsüberblick 2.1 Mentalitäts-, sozial- und kulturgeschichtliche Buchforschung Im 20.  Jahrhundert integrieren drei Forschungsrichtungen eine Buchforschung, die über die Buch- und Bibliothekskunde hinausgeht. Einflussreich wird in den https://doi.org/10.1515/9783110745030-006

2 Forschungsüberblick 

 135

1980er Jahren die bereits etablierte französische Mentalitätsgeschichte (Schule der Annales), als Henri-Jean Martin zusammen mit Roger Chartier eine opulente Geschichte des Buchs in Frankreich veröffentlichte (1983). Chartier beleuchtete im Anschluss in der Geschichte des privaten Lebens (Ariès und Duby 1986, dt. 1991) ausführlich die Formen der Privatheit, darunter auch die Wohnverhältnisse sowie die Praktiken des Lesens und Schreibens in der Frühen Neuzeit. Die Buchnutzung wird von Chartier nicht nur auf den Leseprozess reduziert, sondern in Anlehnung an Pierre Bourdieu (1976) als alltägliche Praxis verstanden, die sich vorwiegend auf das Aneignen und die Organisation von Texten bezieht. Chartier beschreibt exemplarisch die Aneignung des Buchs durch die routinierte und ritualisierte Aufstellung in der Privatbibliothek bis hin zu spezifischen Gebärden im Umgang mit dem Buchbesitz (Chartier 1990, Chartier und Guglielmo 1999). In Deutschland entstehen in dieser Tradition weitere Arbeiten, die über den Lesebegriff hinausgehen und die Buchnutzung im Alltag zumindest andeuten (z.  B. Schön 1987). Mit dem Aufkommen der Sozialgeschichte als vorherrschender historischer Perspektive sowie der Literatursoziologie innerhalb der Literaturwissenschaft (Escarpit 1966; Fügen 1964), wendete sich die Buchforschung stärker dem alltäglichen Lesen und dem Lesepublikum vergangener Jahrhunderte zu, vor allem während der Aufklärung und der Industrialisierung. Mit Blick auf die Buchnutzung wurde auch untersucht, wer über ausreichend Bildung und Geld verfügt, um an der Buchkultur zu partizipieren, wie sich das Lesepublikum soziodemografisch zusammensetzte und welche Rolle der Buchbesitz dabei spielte. Von besonderer Bedeutung war die sozialgeschichtliche Bürgertumsforschung zum 18. und 19. Jahrhundert (Engelsing 1970, 1973 und 1974; Kocka 1988, Gall 1993, Lundgreen 2000): Im Lebensentwurf und im Werteverständnis war das Bürgertum des 19. Jahrhunderts ein sozialer Raum, in dem umfangreicher Buchbesitz eine wichtige Dimension der sozialen Distinktion war, denn das akademisch gebildete Bildungsbürgertum leitete aus seinem kulturellen Habitus sozialen und politischen Einfluss ab. Die Identifikationsangebote im Bürgertum umfassten ein ganzes Ensemble alltäglicher Praktiken, in dem die Pflege der bürgerlichen Buchkultur einerseits die inhaltliche Kenntnis des klassischen Kanons voraussetzte, und in denen andererseits Bücher als Mittel und Ausdruck der Selbstvergewisserung dienten. Die Lesesozialisation umfasste somit auch den richtigen Umgang mit dem Buch und die Kultivierung seiner ästhetischen Werte. Trotz sozialer Differenzierungen innerhalb des Bürgertums waren die Aneignungsprozesse und der Umgang mit dem Buch vom Konsum bis zur Rezitation weitgehend standardisiert und bildeten vielfältige Aspekte der Buchnutzung kollektiv ab. Die Funktionen von Büchern abseits des Lesens sind bisher für keine andere soziale Gruppe so detailliert beschrieben und untersucht worden. In den 1990er Jahren gerieten strukturelle, machtpolitische und ökonomische Aspekte, und damit die in der Sozialgeschichte prominent verhandelten Ursachen

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 III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung

sozialer Ungleichheit wieder aus dem Blick. Das Interesse richtete sich nun vor allem auf die mit den Handlungen verbundenen Werthaltungen. An die internationale Geschichtswissenschaft der 1960er Jahre, insbesondere der Toronto School, knüpfte die historisch vergleichende Perspektive einer medienorientierten Kulturwissenschaft an (Assmann 2006: 22). Diese geht davon aus, dass Kulturen durch die Kapazität ihrer Medien (Aufzeichnungs-, Übertragungs- und Speicherungstechnologien) definiert sind. Mit diesem Ansatz wurden „bislang nebensächliche Dinge“ (Assmann 2006: 23) wie Schriftsysteme, Kommunikationsformen, Transmissionskanäle von Nachrichten sowie die Speicherungstechnologien von Wissen in den Fokus genommen. Die daraus entstandene kulturhistorische Gedächtnisforschung verknüpft Medien mit dem kulturellen Gedächtnis als wesentlichem Element kollektiver Identitätskonstruktionen, was eine zentrale Funktion der Buchnutzung darstellt. Die verschiedenen Modelle lieferten trotz einzelner Studien aber nur wenige theoretische Impulse für die Buchforschung, obwohl das Medium Buch durch seine Leistungen als Instrument für Sozialisations- und kollektive Identifikationsprozesse (an)erkannt wurde. Insgesamt wurden deshalb nur wenige Aspekte und Funktionen der Buchnutzung abseits des Lesens untersucht.

2.2 Empirische Buchforschung Im 20.  Jahrhundert entsteht parallel zur historischen Buchforschung ein gegenwartorientiertes, sozialwissenschaftlich und empirisch konturiertes Forschungsfeld, das Lesen (teilweise bis heute) synonym zu Buchnutzung versteht (Bonfadelli 2015). Eine Abgrenzung zwischen dem Lesen und den Leseobjekten (Buch, Zeitschrift, Zeitung) fand in der Regel nicht statt, gleichwohl lassen sich verschiedene Aussagen mit Bezug zur Buchnutzung finden. Mit der konstruktivistischen Wende der 1960er Jahre entstehen in der psychologischen Forschung ab den 1980er Jahren stärker kontextualisierte Untersuchungen zur Bedeutung von Dingen im Alltag, die Bücher zwar nicht in den Mittelpunkt stellen, aber zumindest thematisieren: Csíkszentmihályi und Rochberg-Halton (1989: 86–88) weisen z.  B. nach, dass Bücher besondere Objekte darstellen, die Werthaltungen und Leistungsideale repräsentieren, der Inszenierung von beruflicher Identität dienen, und deshalb allein über ihre physische Präsenz als sinnstiftend erlebt werden. Tilmann Habermas (1996) benennt in der bis dahin weitreichendsten psychologischen Arbeit zu Dingen unter anderem Bücher als ‚bedeutungsvolle‘ Objekte, die über ihre Vertrautheit das Selbsterleben von Menschen beeinflussen. Die statistische Buchmarktforschung ab den 1950er Jahren untersuchte dagegen den alltäglichen Buchkonsum (im Überblick: Fischer 2000; Kollmannsberger 2000).

2 Forschungsüberblick 

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Mit der 1958 über den Bertelsmann Verlag realisierten Studie Das Buch in der Gegenwart (Fröhner 1961) wurden erstmals Einstellungen gegenüber Büchern und deren Bedeutung im Alltag empirisch erfasst. Die von 1966 bis 1988 vom Ausschuss für Buchmarktforschung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und Institut für Demoskopie Allensbach organisierten Studien (im Überblick: Muth 1993) definierten Bücher insbesondere im Gegensatz zum Fernsehen als Objekte, die in den alltäglichen Lebenswelten der Menschen nicht nur Bildung ermöglichen, sondern sich auch auf Status, Prestige und Identität auswirken. Bereits die erste Studie Wie kann der Buchmarkt wachsen? (Schmidtchen 1967) hatte z.  B. auch das Ziel, die gesellschaftlichen Wertvorstellungen von Büchern zu ermitteln und Bücher nicht nur als Mittel zum Lesen, sondern in ihrer Bedeutung im Alltag verschiedener Bevölkerungsgruppen zu bestimmen. Als wichtige Funktionen von Büchern werden hier deren Präsenz in der Wohnumgebung sowie der Besitz und damit verbundene Praktiken wie das Verschenken als reizvolle Kaufmotive bestimmt. In der Studie Typologie der Käufer und Leser  – Eine Wertanalyse des Buches in der Mediengesellschaft (Noelle-Neumann 1987) fand die Berücksichtigung der Einstellungen von Menschen unterschiedlicher sozialer Milieus gegenüber Büchern einen vorläufigen Höhepunkt: Bereits im Vorwort weist Ludwig Muth darauf hin, dass „ein Buch mehr Nutzungsangebote [enthält], als man auf den ersten Blick meint“ (Noelle-Neumann 1987: W2164). Die von ihm als Multifunktionalität der Ware Buch beschriebenen Nutzungsweisen umfassen Bücher als Geschenk, Reservegedächtnis, Ausstellungsstück, Vorrat oder Konsumgut. Erstmals werden Nutzungsweisen mit Werthaltungen gegenüber dem Buch und nicht dem Lesen begründet und daraus Nutzertypologien mit verschiedenen Wertvorstellungen zur Funktion von Büchern im Alltag abgeleitet. Diese Wertvorstellungen umfassen z.  B. den Einfluss von Büchern auf die Behaglichkeit des Wohnraums, ihre Bedeutung für die eigene Identität und Identitätszuschreibungen an andere oder die Freude an ihrer Präsenz in der Umgebung (Noelle-Neumann 1987: W2172–W2177). Aussagen zur Bedeutung von Büchern im Alltag finden sich auch in der modernen Lese- und Leserforschung (im Überblick Kuhn und Rühr 2010: 565–597) (siehe hierzu auch III.1 Lesen in diesem Band), die neben quantitativer Statistik auch qualitative Fragestellungen zu den Hintergründen des Lesens und der Buchnutzung aufgreift. In der Studie Leseverhalten in Deutschland 1992 / 93 (Stiftung Lesen 1993) steht z.  B. das Lesen von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften als kontextualisierte Handlung und alltägliche Praxis im Mittelpunkt. Gefordert wurde zur Einschätzung der Bedeutung von Büchern unter anderem die Berücksichtigung der zugrunde liegenden Lebensstile und situativen Kontexte der Buchnutzung (Fritz 1991). Die aus der Buchmarkt-- und Leseforschung etablierte Praxis der Bildung von Typen schlägt sich in der Folge in Studien zur Bedeutung von Buch und Buchkauf (z.  B. Dehm et al. 2005) und im Vergleich des Buchs zu anderen Medien in den Sinus-Milieus nieder

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 III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung

(z.  B. Kochhan und Schengbier 2007; Börsenverein des deutschen Buchhandels 2005, 2008 und 2015). Bücher erreichen vor allem in den gesellschaftlichen Leitmilieus eine hohe emotionale Bedeutung und werden als Mittel sozialer Distinktion genutzt und verstanden. In der Studie Leseverhalten in Deutschland 2008 (Stiftung Lesen 2008) wurde stärker nach dem Umgang mit Büchern gefragt, wobei für die Buchnutzung insbesondere deren Motive und die Bewertungen relevant sind. Die Erlebnisdimensionen ‚Ausgleich‘ und ‚soziales Erleben‘ charakterisieren z.  B. die über das Lesen hinausgehende Buchnutzung als persönlich beruhigend und bedeutsam für Anlässe sozialer Interaktion und Zugehörigkeit. Die ermittelte Diskrepanz zwischen der hohen Wichtigkeit von Büchern im Alltag und der tatsächlichen Lesehäufigkeit deutet zudem darauf hin, dass Bücher für Menschen auch ohne sie zu lesen von großer Relevanz sind. Konkreter den Buchmedien zugewandt sind pädagogische Studien zur Lesesozialisation von Kindern und Jugendlichen (Groeben und Hurrelmann 2004), welche Bücher als relevante Variablen einer gelingenden Lese- und Mediensozialisation begreifen. Dazu gehört auch, welche Bedeutung die alltägliche Beschäftigung mit und Wahrnehmung von Büchern für Kinder und Jugendliche hat, wie z.  B. der Buchbesitz der Eltern (Mahling 2016; Sikora et al. 2019). Bücher werden hier tendenziell bereits unabhängig vom Lesen als wichtige Projektionsflächen für die Entwicklung von Identitätskonstruktionen, der Zugehörigkeit zu sozialen Milieus und Gemeinschaften oder der Aneignung von spezifischen Lebensstilen beschrieben. Vereinzelte empirische Zugänge zur Buchnutzung in Form von Buchzeichen (Rautenberg 2005) oder dem Phänomen ungelesener Bücher (Zeckert 2007) konnten dagegen bis heute keine weiterführende Forschung begründen, liefern aber über qualitative Analysen Einsichten in Funktionen von Büchern als symbolische Objekte im Alltag, welche mit Prestige, Emotionen, sozialer Interaktion, Erinnerungen, Besitzdenken, Mode und Geschmack, Inszenierung von persönlichen Eigenschaften oder Genuss assoziiert werden. Die verschiedenen empirischen Daten zur Bedeutung von Besitz oder Konsum sowie zu Einstellungen gegenüber Büchern sind Hinweise auf die Persistenz oder den Wandel der Funktionen von Büchern im Kontext der technologisch-medialen Entwicklung. Allerdings entwickelte sich die empirische Forschung stark praxisbezogen und politisch motiviert: Theoretische Grundlagen über die (frühe) Mediennutzungsforschung aus der Kommunikationswissenschaft und einfache soziologische Modelle von Milieus hinaus wurden kaum genutzt.

3 Theoretische Perspektiven 

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3 Theoretische Perspektiven 3.1 Funktionen von Büchern Eine erste grundlegende Perspektive auf die Buchnutzung jenseits des Lesens bieten funktionalistische Ansätze aus der dispositionalen (psychologischen) und normativen (soziologischen) Medienforschung zu individuellen und kollektiven Effekten der Mediennutzung (Schenk 2007: 652). Die Leistungen von Büchern für verschiedene Gruppen werden hier einerseits als individuelle Bedürfnisse und Einstellungen, andererseits kollektiviert als soziale Ungleichheit interpretiert, und dazu genutzt, die Bedeutung von Büchern in sozialen Milieus, Gemeinschaften oder Lebensstilen zu charakterisieren. 3.1.1 Bedürfnisse und Gratifikationen Auch wenn die Mediennutzungsforschung hauptsächlich die Nutzung der medial vermittelten Inhalte fokussiert, können einzelne Aspekte auch zur Erforschung des Handelns mit Büchern abseits des Lesens verwendet werden (Kerlen 2000: 99; Schweiger 2007: 16). Ihre gegenwärtigen Ansätze definieren Mediennutzung über Nutzungsepisoden, Nutzungsmuster und Bewertungen von Individuen, Gruppen oder Publika (Schweiger 2007: 32). Von besonderer Relevanz sind alltägliche Nutzungsroutinen, in denen Subjekte intuitiv und unbewusst mit und über Bücher handeln. Das konstruktivistische Handlungsmodell der Mediennutzung verweist darauf, dass sich Menschen Büchern aktiv und zielorientiert zuwenden, um bestimmte kognitive, affektive und soziale Bedürfnisse zu befriedigen (Bonfadelli 2013: 167). Die Wirkung von Büchern auf ihre Nutzer werden deshalb nicht mehr kausal aus den Objekten und Inhalten heraus erklärt, sondern als komplexe, situationsgebundene Bedeutungskonstruktionen von Individuen im Kontext ihrer Erfahrungen und Wissensbestände. Als Konsequenz nehmen Menschen Bücher in bestimmten Situationen wahr oder nutzen diese selektiv in Abhängigkeit von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen, ihrem sozialen Umfeld und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Effekte der Buchnutzung sind somit nur im Zusammenhang mit Bewertungen, Nutzungsmustern und der konkreten Nutzungsepisode zu verstehen (Schweiger 2007: 32). Das zugrunde liegende Paradigma jeder Beschäftigung mit Buch- als Mediennutzung bildet der Nutzen- und Belohnungsansatz (ausgehend von Katz et al. 1973). Dieser postuliert verschiedene Grundannahmen, die für jede Art der Mediennutzung gelten (Schenk 2007: 685): Erstens basiert Mediennutzung auf menschlichen Bedürfnissen. Hier findet sich das funktionale Kalkül der gesamten Perspektive, denn ohne mindestens einen subjektiven Grund findet keine Mediennutzung statt. Zweitens

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 III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung

erfolgt Mediennutzung immer eigeninitiativ in Form der aktiven Zuwendung eines Individuums zu einem bestimmten Medium. Und drittens sind Medien immer Alternativen zu anderen funktionalen Mitteln der Bedürfnisbefriedigung und müssen deshalb in Relation zu diesen ausgewählt werden (für verschiedene Auslegungen siehe auch Rosengren 1974; McLeod und Becker 1981). Die Buchnutzung ist unter diesen Annahmen die bewusste oder unbewusste Zuwendung zu Büchern, die in wiederholten alltäglichen Nutzungssituationen relativ dauerhaft in gleicher Art und Weise ausgewählt werden, um bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen. Bedürfnisse sind kollektiv anerkannte und erlernte Mittel zum Zweck, die im situativen Handeln bestimmte Bedeutungskonstruktionen, und damit erwartbares kognitives und affektives Erleben ermöglichen. Bücher ‚funktionieren‘ deshalb im komplexen, sinnhaften Handeln (Schön 2000: 119). Dieses Handeln, und damit die Funktion von Büchern, wird von verschiedenen Rahmenbedingungen beeinflusst (Schweiger 2007: 30): Hierzu zählt zunächst das soziale System, in dem der Nutzer lebt. Damit verknüpft sind u.  a. verschiedene Institutionen wie Gesetze, Traditionen, Wirtschaftsordnungen oder akzeptierte öffentliche Meinungen, welche die Nutzung von Büchern im Alltag ermöglichen und begrenzen (siehe auch VI Institutionalisierung des Buchs in diesem Band). Sie ist z.  B. gerahmt durch marktwirtschaftliche Zugänge zu einer Vielzahl an möglichen Objekten (2019: 70.400 Neuerscheinungen), den privaten Raum des eigenen Heims hinsichtlich ihrer Inszenierung, die Tradition der Aufbewahrung von Büchern in Bücherregalen oder die kollektive Akzeptanz von Büchern als Geschenke (siehe auch III.3 Kulturelle Praktiken des Buchgebrauchs in diesem Band). Weiterhin spielt das soziale Umfeld eine Rolle, denn die Funktionen der Buchnutzung werden während des Aufwachsens und im Erwachsenenleben durch direkte persönliche Beziehungen in der Familie, zu Freunden, Nachbarn, Berufskollegen und anderen Bekannten erlernt und bewusst oder unbewusst (re-) konstruiert. Damit einhergehen schließlich auch Eigenschaften des Individuums als Faktoren der Funktionalität von Büchern, hierzu zählen Wissensbestände zu Buchgeschichte und -gestaltung, Einstellungen zu und Wertvorstellungen von Büchern, Persönlichkeitsmerkmale, Interesse an Büchern und Buchkultur oder Ressourcen zur Nutzung von Büchern. Da der Nutzen- und Belohnungsansatz selbst keine Theorie, sondern ein Paradigma darstellt (zur Diskussion siehe Schenk 2007: 688–690), ist der Diskurs um seine Weiterentwicklung weitgehend zum Erliegen gekommen. Stattdessen wird er als Grundlage für unterschiedliche Theorien und Modelle verwendet, um bestimmte Aspekte der Mediennutzung zu untersuchen.

3 Theoretische Perspektiven 

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Funktionale Theorien Funktionale Theorien der Mediennutzung befassen sich mit Ursachen und Motivationen, und somit mit Präferenzen für bestimmte Medien und mit ihnen verbundene typische Handlungen. Sie versuchen unterschiedliche Bedürfnisse als Motivationen zu identifizieren, miteinander in Beziehung zu setzen und darüber kollektive Nutzungsmuster zu erklären. Bedürfnisse werden als dynamische Konstruktionen der Auseinandersetzung von Personen, sozialer Umwelt und Medien betrachtet. Eng in Verbindung mit den Bedürfnissen stehen im GS / GO-Modell (Gratifications sought / Gratifications obtained) die erhaltenen Gratifikationen, die typischerweise in kognitive, affektive, identitätsstiftende und soziale Effekte unterteilt werden (früh z.  B. McGuire 1974). Die Passung von Bedürfnissen und erhaltenen Gratifikationen bestimmt schließlich die Funktionalität der Medien und ihre Wirksamkeit für bestimmte Personen oder Personengruppen. Zu den einzelnen Bedürfnis- und Gratifikationsclustern liegen sehr heterogene und unterschiedlich stark differenzierte theoretische Modelle vor, die oft mit psychologischen und soziologischen Theorien typologisch verknüpft sind (Bonfadelli und Friemel 2017: 77). So können affektive Bedürfnisse mit Bezug zu Büchern z.  B. mit dem Erreichen bestimmter emotionaler Zustände oder mit der Aufrechterhaltung bestimmter als angenehm empfundener Zustände beschrieben werden, die als Gratifikationen Entspannung, Erholung, Ablenkung, Bekämpfung von Langeweile oder Erregung bieten. Besondere Beachtung finden in dieser Hinsicht z.  B. Theorien zum Flow-Erleben (ausgehend von Csíkszentmihályi 1975) oder zum Mood-Management (ausgehend von Zillmann 1988). Identitätsbezogene Bedürfnisse orientieren sich an der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Bücher können hier Gratifikationen des positiven Erlebens der eigenen Rolle(n) oder der Bestärkung eigener Werthaltungen ermöglichen und bieten eine Vergleichsmöglichkeit zu anderen Personen und deren Gefühlen, Werthaltungen und Verhaltensweisen (Schemer 2006). Soziale Gratifikationen der Buchnutzung beschränken sich dagegen auf das Ermöglichen von Anschlusskommunikation (Sommer 2010). Eine theoretisch fundierte und empirisch geprüfte Kategorisierung von Bedürfnissen der Mediennutzung liegt allerdings bisher nicht vor, da diese vielfältig, situativ bedingt und miteinander verknüpft sind. Auch für die Buchnutzung können diese deshalb nicht umfänglich dargestellt und abgefragt werden, sondern erschöpfen sich meist in Einzelaussagen in empirischen Studien der Buchmarkt- und Leseforschung, zum Beispiel wenn Bücher im privaten Raum aus ästhetischen Bedürfnissen heraus aufgestellt werden. In allen Einzeltheorien anerkannt ist jedoch, dass Bedürfnisse nie singulär, sondern in Form von Bedürfnisketten oder -netzwerken vorliegen. Bedürfnisse beziehen sich außerdem immer zum Teil auf das Selbst des Nutzers und zum Teil auf die Beziehungen des Nutzers zu anderen (Rosengren 1974).

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 III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung

Prozessuale Theorien Prozessuale Theorien der Mediennutzung befassen sich mit den Modalitäten des individuellen Medienumgangs, und somit mit dem Ablauf der Interaktion mit und den Wirkungen von Medien (auch: Medienwirkungsforschung, Rezeptionstheorie). Mit ihnen wird versucht darzustellen, wie die Relation von Bedürfnissen und Gratifikationen während konkreter Mediennutzungsepisoden erlebt wird, wie Erlebnisqualität bestimmt werden kann, welche positiven Effekte während der Nutzung entstehen oder warum diese ausbleiben. Mit dem zugrunde liegenden Konzept des ‚Erlebens‘ von Medien stehen kognitions- und emotionspsychologische Modelle zur Wahrnehmung und kognitiven Verarbeitung während der Mediennutzung im Mittelpunkt. Die bisher ausgearbeiteten theoretischen Prozessmodelle (z.  B. Involvement, Presence, Transportation) beziehen sich hauptsächlich auf die Interaktion von Individuen und Medieninhalten und kaum auf die genutzten Objekte, so dass eine Übertragung auf die Buchnutzung schwierig ist. Eine Ausnahme bilden jene theoretischen Modelle, die sich mit Entscheidungen für oder gegen die Nutzung eines bestimmten Mediums in einer bestimmten Situation befassen (z.  B. die ‚Selective Exposure‘-Hypothese auf der Grundlage theoretischer Modelle kognitiver Dissonanz). Basierend auf Modellen der Spieltheorie (im Überblick Diekmann 2009) oder der Theorie der rationalen Entscheidung (im Überblick Kroneberg und Kalter 2012) wird die Aufmerksamkeit auf und die Selektion von bestimmten Medien in spezifischen Situationen untersucht. Bücher sind in dieser Perspektive Umweltreize, denen Menschen Aufmerksamkeit schenken und mit denen sie selektiv interagieren können. Ob sie Aufmerksamkeit erhalten, hängt wiederum von ihrer Beschaffenheit (materielle Präsenz, Gestaltung), von der konkreten Situation, sowie von Einstellungen, Motivationen und Emotionen der wahrnehmenden Person ab. Die Wirkung von Büchern hängt von Selektion, Aufmerksamkeit und Involvement genauso ab wie von Vermeidung, Ablenkung und Skepsis (Kim und Rubin 1997). Sie ist nicht nur positiv zu deuten, sondern kann auch negativ konnotiert sein. Damit wird weiterhin deutlich, dass Bücher auch in der peripheren Wahrnehmung wirksam sein können: Die Buchnutzung basiert dann vor allem auf unbewusster Aufmerksamkeit auf Bücher während anderer Tätigkeiten und befriedigt deshalb affektive Bedürfnisse, z.  B. nach Stimmungsregulation, Ausgleich und Entspannung durch eine als angenehm empfundene Umgebung.

Strukturelle Theorien Strukturelle Theorien der Mediennutzung schließlich nutzen die Ergebnisse funktionaler und prozessualer Perspektiven, um in Verbindung mit strukturellen (sozialen) Kontexten typische Nutzungsmuster differenzierter Gruppen zu identifizieren, zu beschreiben und zu analysieren. Mediennutzungsmuster werden hier

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als wiederholt auftretende Typen bestimmter Nutzungsepisoden bestimmt, die aus Gewohnheit im Alltag habituell und routiniert erfolgen, und die das Verhalten von Individuen beim Zusammentreffen mit Medien (Media Exposure / ErwartungsBewertungsansatz im Überblick Schenk 2007: 692–694) prognostizierbar machen. Gewohnheiten im Verhalten entwickeln sich im Kontext von individuell entwickelten stabilen Bedürfnisstrukturen, der sozialen Lebenssituation und übergreifenden Institutionen. Auf der individuellen Ebene ist hier auch das Konzept der Medienbindung relevant, welches aus (positiven) Erfahrungen heraus unbewusste und bewusste Präferenzen für bestimmte Medien und Medienobjekte im Alltag und der Lebenswelt erzeugt, die sich in Verhaltensgewohnheiten niederschlagen. Ein wichtiges, aber in der Mediennutzungsforschung bisher unzureichend theoretisch ausgearbeitetes Konzept für die Ableitung von Mediennutzungsmustern bilden Medienbewertungen, die jenseits der eigentlichen Nutzungshandlungen liegen und alle kognitiven und affektiven Einstellungen von Menschen gegenüber bestimmten Medien beinhalten (Schweiger 2007: 247). Medienbewertungen entstehen mehrdimensional aus Einstellungen zu Mediensystem (Buchbranche), Einzelmedium (Buchmedium), Medienobjekt (Buch), Medienformat (z.  B. gedruckt / digital; Hardcover / Taschenbuch), Gattungen / Genres (Inhalte) und zu Akteuren (z.  B. Autor*innen, Lektor*innen, Verlage, Buchhandlungen) hinter den Medien. Sie werden als rational-kognitive Wertzuweisungen und affektive Konnotationen sichtbar. Quellen, aus denen sich Medienbewertungen speisen sind in erster Linie persönliche Nutzungserfahrungen, aber auch die Berichterstattung über und die Darstellung von Büchern in anderen Medien, die Aushandlung in interpersonaler Kommunikation oder die Beobachtung des Umgangs mit Büchern im Alltag. Die so entstehenden Buchimages werden als diffuse Vorstellung von Büchern erinnert, sind besonders stark emotional aufgeladen und von Stereotypen abhängig. Ihre Entstehung kann von Menschen in der Regel nicht mehr rekonstruiert werden, sie materialisieren sich jedoch als kollektiv stabile Bewertungen in sozialen Gruppen. Der Schwerpunkt struktureller Theorien der Mediennutzung liegt jedoch in der Typisierung und Differenzierung bestimmter Nutzergruppen. Dominant ist die Publikumsforschung, wobei das Publikum als hypothetische Konstruktion einer sozialen Gruppe zu verstehen ist, dem bestimmte kollektive Merkmale zugeschrieben werden (im Überblick Bonfadelli und Friemel 2017: 48–57). Zur Konstruktion von bestimmten Publika werden typische Handlungsmuster mit Medien aggregiert und zu ähnlichen Determinanten der Nutzer in Beziehung gesetzt. Diese umfassen ähnliche Lebenswelten, Eigenschaften der Nutzer (soziodemografisch und psychografisch), vergleichbare Medienbewertungen und Möglichkeiten der Mediennutzung (z.  B. Medienzugang) (Schweiger 2007: 231). Typische Modelle der Ausbildung ähnlicher Mediennutzung sind der Zweistufenfluss der Kommunikation (Two-StepFlow ausgehend von Lazarsfeld et al. 1944) und die auf ihm aufbauenden Modelle

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 III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung

der Meinungsführerschaft (im Überblick Dressler und Telle 2009). Darüber hinaus werden aus der Soziologie stammende Konzepte der Segmentierung von Bevölkerungsgruppen über Wertorientierungen, Stilpräferenzen, Zukunftserwartungen und Konsumverhalten (z.  B. SINUS-Milieu) oder Lebensstile als symbolische Inszenierung der Mediennutzung und Ausbildung intersubjektiver Medienhandlungsmuster (siehe Abschnitt 3.1.2) genutzt. Die Mediennutzungsforschung und der Nutzen- und Belohnungsansatz sind in ihrer Konzeption und Anwendung nicht unumstritten: Obwohl aus der Mediennutzungssituation heraus argumentiert wird, bleibt diese medienzentriert und versucht Medien bestimmte Leistungspotenziale zuzuschreiben. Weiterhin wird bemängelt, dass Nutzer als weitgehend rational charakterisiert werden und Mediennutzung aufgrund kognitiver Abwägungen gestalten. Dies würde aber ein Bewusstsein für Bedürfnisse erfordern, dass gar nicht vorhanden ist. Hinzu kommt, dass es bisher nicht gelungen ist, eine notwendige Theorie zur Identifikation, Systematisierung und Beschreibung von Bedürfnissen vorzulegen, und die Gründe für bestimmte Nutzungsformen deshalb nicht präzise erfasst werden können. Eine Systematisierung von Bedürfnissen, Gratifikationen, Nutzungsmustern und Nutzertypen wird zudem aus kulturwissenschaftlicher Sicht oft als reduktionistisch bemängelt, weil z.  B. soziale Interaktionen und Einbettungen der Mediennutzung nicht ausreichend berücksichtigt werden. 3.1.2 Soziale Ungleichheit – Lebensstilanalysen Modelle sozialer Ungleichheit beschreiben Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Menschen, die in verschiedenen sozialen Positionen in einer Gesellschaft leben. Diese sozialen Positionen sind mit unterschiedlichen Werten behaftet. „‚Soziale Ungleichheit‘ liegt dann vor, wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den ‚wertvollen Gütern‘ einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten.“ (Hradil und Schiener 2005: 30.) Traditionelle Basisdimensionen sozialer Ungleichheit sind materieller Wohlstand, Macht, Prestige und Bildung; hinzu kommen in der Moderne weitere Dimensionen wie Arbeits-, Wohn-, Umwelt- und Freizeitbedingungen (Hradil und Schiener 2005: 31). Zurückgehend auf den von Max Weber geprägten Begriff der ‚Lebensführung‘ (1904 / 1905, dazu Müller 2016) als ein charakteristisches Merkmal eines sozialen Standes gehen Theorien der sozialen Ungleichheit davon aus, dass Stände, Klassen, Schichten und Milieus gemeinsame Werthaltungen haben, die sich z.  B. im Konsumund Freizeitverhalten, Kleidungsstil, Wohnungseinrichtung und Habitus ausdrücken. Eine gemeinsame oder ähnliche Lebensführung von sozialen Ständen etc. lässt sich bis in feudale Ursprünge verfolgen und ist keine Erscheinung der Moderne (Burzan 2011: 89).

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Wie Lebensstile, verstanden als „regelmäßig wiederkehrender Gesamtzusammenhang von Verhaltensweisen, Interaktionen, Meinungen, Wissensbeständen und bewertenden Einstellungen eines Menschen“ (Hradil und Schiener 2005: 437), zustande kommen und welche sozialen Leistungen ihnen immanent sind, wird in der Literatur unterschiedlich erklärt. Entweder werden Lebensstile aus der sozialen Integration von Menschen hergeleitet, und damit als Anpassungsprozesse sozialer Gruppen an ‚objektive‘ Gegebenheiten der Sozialstruktur bestimmt, oder Lebensstil wird als ‚rationales Wahlverhalten‘ für die zweckmäßigste Form des Alltagslebens bezeichnet. Darüber hinaus sind Prozesse der sozialen Identitätskonstruktion in Selbstzuordnung wie auch Abgrenzung identifiziert worden (Hradil und Schiener 2005: 442). Eine assoziierte Ästhetisierung des Alltags ist eine der zentralen Thesen der Lebensstilanalyse (Rössel 2006: 458), die auch eine Anknüpfungsmöglichkeit an ästhetische Praktiken des Buchgebrauchs bietet (siehe Abschnitt 3.2.2). Mit der konsensualen Standardisierung von Verhaltensmustern und sozialen Handlungen bzw. der Herausbildung eines spezifischen kollektiven Habitus ist sowohl das Ziel der sozialen Integration als auch das Ziel der sozialen Distinktion verbunden. Georg Simmel sprach vom ‚Stil des Lebens‘ (1996, zuerst 1900), den das Individuum mit Anbruch der Moderne zunehmend als Möglichkeit, seine Identität zu finden und auszudrücken, nutzt. Simmel zufolge hat der moderne Mensch Wahlmöglichkeiten des Lebensstils, womit eine Gefährdung der Identität verbunden ist. Zum Lebensstil gehören Konsummuster, die sich auch im Buchkonsum niederschlagen. Der britische Nationalökonom Adam Smith deutete Bücher im 18. Jahrhundert bereits als Zeichen für Wohlstand und Kultur, als dekorativ und ornamental. Eine eindrucksvolle private Bibliothek sei ein Symbol finanzieller Macht (Rommel 2008). Ähnlich wie Smith führt hundert Jahre später der amerikanische Soziologe Thorstein Veblen den Buchbesitz als ein geeignetes soziales Distinktionsmerkmal an (The Theory of the Leisure Class 1899, dt. Theorie der feinen Leute, 1958). Die empirische Zuordnung der Buchnutzung zu spezifischen Lebensstilen oder Milieus wird in der soziologischen Literatur zwar traditionell häufig vorgenommen, jedoch in der Regel bezogen auf Lesestoffe, die meist nach Hochkultur, Populärkultur etc. differenziert werden (z.  B. bei Georg 1996). Gerhard Schulze (2005) geht in der von ihm konzeptualisierten Alltagsästhetik über die Lektüreinteressen als Teil allgemeinen Kulturinteresses und milieuspezifisches Merkmal ebenfalls nur wenig hinaus. Im ‚Niveaumilieu‘, das als Nachfolgemilieu des Bürgertums interpretiert wird und sein alltagsästhetisches Schema auf das Hochkulturschema ausrichtet, erkennt er ‚anspruchsvolle‘ Bücher in der Regalwand (Schulze 2005: 284) und eine konventionalisierte Standardisierung des physischen Habitus, z.  B. in der Konzentration und erhöhten körperlichen Grundspannung eines Lesers oder Konzertbesuchers (Schulze 2005: 287). Das Niveaumilieu konsumiert in und partizipiert

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 III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung

obligatorisch an der Hochkulturszene, was immer noch ein Zeichen für die Milieuzugehörigkeit ist. Für die Hochkulturszene gelangt Schulze allerdings zu dem Fazit, dass die Signifikanz dieses Zeichens abnimmt, da man nicht mehr vom Zeichen auf das Milieu und umgekehrt schließen kann, sondern nur noch in eine Richtung: von der Zugehörigkeit zum Milieu auf das Zeichen, nicht mehr umgekehrt. Bestsellerromane und das Lesen populärer Zeitschriften verortet er im ‚Harmoniemilieu‘, Trivialliteratur im ‚Integrationsmilieu‘, die meisten Leser mit deutlicher Distanz zum Fernsehkonsum im ‚Selbstverwirklichungsmilieu‘, was einen vorsichtigen Rückschluss auf die kollektiven Funktionen der Buchnutzung im Hinblick auf die Identitätskonstruktionen zulässt. Für die Buchnutzung ergeben sich aus der Lebensstilanalyse auf mehreren Ebenen Ansätze, die theoretisch modelliert werden können. Die unterschiedlichen Theorien sozialer Ungleichheit lassen den Schluss zu, dass Büchern eine Rolle in der Konstitution von kollektiven Lebensstilen zugesprochen werden kann, die nicht auf den reinen Buchbesitz oder auf das Buch als semantisch komplexes Zeichensystem beschränkt bleiben. Neben der Frage nach dem ökonomischen und dem intellektuellen Wert eines Buchs muss ein weiterer Aspekt berücksichtigt werden: In empirischen Studien Ende der 1970er Jahre ist deutlich geworden, dass nicht allein der Besitz von Gütern ein Statussymbol für einen spezifischen Lebensstil darstellt (in deren Rangfolge das Buch damals den vierten Platz einnahm), sondern die Art der Nutzung bestimmter Güter als Statussymbol fungieren kann (Hradil und Schiener 2005: 297). Normierungen und Standardisierung im Umgang mit dem Buch lassen sich z.  B. anhand der Buchaufbewahrung (Regal, Bücherschrank, Bibliothekszimmer, oder auch Lesemöbel wie Sofa oder Sessel) und anderen Praktiken nachvollziehen. Dabei werden Funktionen der Buchnutzung angedeutet, die sich als soziale Aussagen bestimmen lassen. Theorien sozialer Ungleichheit haben für die Buchforschung den Vorteil, dass sie viele Anknüpfungspunkte zu anderen theoretischen Modellen bieten, die sich mit den Funktionen von Büchern auseinandersetzen. Da die Erforschung der Regelhaftigkeit des sozialen Handelns im Lebensstil mit praxeologischen Theorien vernetzt ist und des Weiteren Wertzuschreibungen an das Medium Buch, auch an seine Materialsemantik, zum Lebensstil gehören, können Bücher als Auslöser und Instrument sozialen Handelns konturiert werden. Wenn z.  B. schon seit dem 19. Jahrhundert eine Korrelation zwischen Teilhabe an der Hochkultur und Milieuzugehörigkeit erkennbar ist, lohnt sich ein Blick auf die Resilienz der Hochkultur gegenüber populärkulturellen Einflüssen, die auch Funktionen der Buchnutzung Stabilität verleiht. Damit wäre eine Anknüpfung an die aus der Psychologie und Soziologie stammende Resilienzforschung möglich, die insbesondere für den kollektiven Umgang mit dem Buch in medialen Umbruchszeiten aufschlussreich wäre. Die Verortung von Büchern in räumlichen Konstellationen (siehe Abschnitt 3.2.3)

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bietet zudem die Möglichkeit, den öffentlichen Raum als Ort des distinktiven Kulturkonsums (Dangschat 1996: 107) zu bestimmen, in dem eine facettenreiche Buchnutzung soziale Ungleichheit sichtbar macht und zugleich verhandelt.

3.2 Bücher als alltägliche Gegenstände Zur Analyse und Interpretation der Buchnutzung im Alltag eignen sich grundlegend auch kulturalistische Perspektiven. Medien und ihre Objekte werden hier weniger über ihren rational begründeten und normierten Nutzen für bestimmte Ziele definiert, sondern über ihre impliziten symbolischen Bedeutungsangebote im sozialen Handeln sowie ihre inhärente Wirkmächtigkeit in Praktiken oder räumlichen Konstellationen. Im Fokus stehen jene Bedeutungsebenen, die direkt mit Büchern als materielle Artefakte verknüpft sind: Als komplexe, permanente Objektzeichen werden Bücher in der menschlichen Wahrnehmung sinnlich präsent und erzeugen dadurch Aufmerksamkeit und Wirkungen. Bereits Walter Benjamin (1935) beschreibt diesen Effekt als spürbare Aura, der sich Menschen nicht entziehen können und die deshalb unbewusst Einfluss auf ihre Handlungen nimmt. 3.2.1 Bücher als machtvolle Artefakte Eine erste Annäherung bietet die Kultursemiotik, die Artefakte als Ergebnis absichtsvollen menschlichen Verhaltens und Trägermedium von Zeichensystemen allgemeiner als ‚Texte‘ versteht (Posner 1991, 2008). In strukturalistischer Perspektive ausgehend von Claude Lévi-Strauss’ Anthropologie structurale (1958) werden Bücher als Bedeutungsträger bestimmt und ihr Zeichensystem als kulturelles Kommunikationssystem definiert (Bräunlein 2012). Die darauf aufbauenden Ansätze konturieren die Zeichenhaftigkeit von Materialobjekten als Addition zum eigentlichen Zweck. Jean Baudrillard entwarf in seiner Dissertation Das System der Dinge (1968) z.  B. eine Bestimmung der Dinge (Dispersionsfeld), die er als kombinatorische Varianten von technischen (zweckgebundenen) und praktischen (wertgebundenen) Variablen definierte. Letztere entstehen über gesellschaftliche Strukturierung und kulturelle Institutionalisierung und wirken sich auf das Verhältnis von funktionaler Zweckbindung, symbolischer Konnotation und organisierter Nutzung, und somit auf die Bedeutungszuweisung im Alltag aus. Wohnräume definiert Baudrillard in diesem Zusammenhang z.  B. als Sozialstruktur, in denen Objekte aufgrund ihrer symbolischen Repräsentation von Wertvorstellungen und Machtverhältnissen ausgewählt und angeordnet werden. Bücher werden hier folglich als komplexe, permanente Objektzeichen verstanden, die eine spezifische, bestimmten Regeln unterworfene und tradierte ‚Sprache‘

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 III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung

sowie symbolische soziale Macht (Bosch 2010: 24) aufweisen: Als emergente Ergebnisse menschlichen Verhaltens verkörpern sie inkorporierte soziale Bedeutungen und Sinnzusammenhänge, die über Zeichenprozesse (Semiose) symbolisch die selektive Wahrnehmung von Realität organisieren, individuelles Verhalten konditionieren und soziales Handeln normieren (Ort 2008: 31). Funktionen der Buchnutzung werden somit über institutionalisierte semantische Zuschreibungen (Codes), formale Konventionen der Verwendung und Positionierung von Büchern sowie pragmatische Assoziationen zur primären Nutzungshandlung des Lesens erklärbar, weil diese als mentale Modelle, Konzepte oder Schemata erlernt bzw. sozialisiert werden. Besonders im Zusammenhang mit der routinierten und damit oft unbewussten Wahrnehmung der Buchzeichen im Alltag sind ihre Erzeugung von Aufmerksamkeit und die Intensität ihrer Effekte abgeschwächt (Liessmann 2010: 25–26). Sie unterliegen daher in besonderer Weise der Ereignishaftigkeit der Semiose. Das heißt, Bücher erhalten nur im Moment ihrer individuellen Verwendung oder Wahrnehmung eine Bedeutung und diese ist deshalb von spezifischen situationsbedingten Kontexten, Motivationen und Handlungen abhängig. Erfahrungen, Stimmungen und Wissen der beteiligten Personen wirken sich dabei genauso aus wie die konkrete Handlungssituation und die genutzten Kommunikationskanäle. Die Ereignishaftigkeit erklärt darüber hinaus, wieso Bücher in bestimmten Situationen Bedeutung haben oder auch nicht (semiotische Schwelle) oder wie sie in einem bestimmten Augenblick emotional bewertet werden. Die kultursemiotischen Modelle der Addition sekundärer Zeichenhaftigkeit zum primären Verwendungszweck von Dingen und ihre Auffassung als ‚Texte‘, die von außen eingebrachte kulturelle Bedeutungen spiegeln, wurden im Kontext der Materialitätsforschung stark kritisiert. Diese verweist darauf, dass Dinge nicht nur Informationsträger eingebrachter Bedeutungen sind, sondern selbst eine spezifische ‚Anmutung‘ oder einen ‚Eigensinn‘ aufweisen. In dieser Hinsicht haben Buchartefakte z.  B. mehr Eigenschaften, als mit ihrer Formgebung oder Konstruktion intendiert sind (Hahn 2013: 21). Sie repräsentieren deshalb nicht nur bestimmte Bedeutungen, sondern produzieren diese über ihre performative Präsenz in Form eines bestimmten Wahrnehmungs- und / oder Handlungsverhältnisses von Buch und Subjekt. Der kultursemiotischen Vorstellung dessen, was Menschen mit Dingen machen, wird in der materiellen Kulturforschung (im Überblick Hahn 2014) deshalb wechselseitig zur Seite gestellt, was Dinge mit Menschen machen (Hahn 2013: 18–19). Buchartefakte weisen in dieser Perspektive einen Angebotscharakter für den Umgang mit ihnen auf, der gleichzeitig Macht auf ihre Benutzer und Besitzer ausübt: Sie fordern zu bestimmten Handlungen auf (Lesen, Durchblättern, Ansehen, Erinnern etc.), nehmen diese über Erwartungen vorweg (Entspannung, emotionales Erleben

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etc.) oder schließen diese aus. Beziehungen zwischen Büchern und Menschen sind demnach von ständiger Konfrontation und Auseinandersetzung geprägt, die über wiederholte Wahrnehmungs- und Nutzungshandlungen von Unsicherheit zu Vertrautheit transformiert werden. Dabei ‚verschwinden‘ vertraute Bücher zunehmend aus der bewussten Aufmerksamkeit und wirken stattdessen über einen routinierten Umgang. Dieser Prozess der Aneignung (siehe Abschnitt 3.2.2) erklärt auch, wieso Bücher erst nach einer gewissen Zeit geschätzt werden, nämlich sobald ihr Gebrauch erwartungskonform erfolgt und mit persönlicher Erfahrung positiv bewertet wird. Besonders seit den 1990er Jahren ist darüber hinaus in Deutschland die Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2007) in den Fokus der Materialitätsforschung gerückt, da diese die Bedeutung nichtmenschlicher Entitäten für gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge nochmals deutlich hervorhebt. Buchartefakte erhalten hier den Status von handlungsmächtigen Aktanten, die durch ihr gleichberechtigtes Zusammenwirken mit Menschen und anderen Dingen Handlungszusammenhänge erzeugen. Soziale Entitäten wie der private Haushalt oder die Reise in einem Fahrzeug werden hierzu als materiell-semiotische Netzwerke beschrieben, in denen vorhandene Buchartefakte einen erkennbaren Unterschied für den Ablauf von bestimmten Handlungen und Prozessen sowie für deren Ergebnisse darstellen (Grampp 2016: 218). 3.2.2 Identität, Domestizierung, Aneignung: Bücher im alltäglichen Handeln Das Verhältnis von Büchern und Subjekten steht im Fokus theoretischer Perspektiven, die ausgehend von Max Weber (1956) das soziale Handeln und Konzeptionen von Identität in den Mittelpunkt stellen. Eine übergreifende theoretische Grundlage bietet der symbolische Interaktionismus, der von Herbert Blumer (1969) nach Überlegungen von George Herbert Mead (1934) ausformuliert wurde: Menschen handeln Büchern gegenüber somit auf der Grundlage der Bedeutungen, die diese für sie besitzen. Diese Bedeutungen wiederum entstehen und verändern sich durch ihre Einbindung in soziale Interaktion. Bücher ‚wirken‘ demnach nicht statisch als Entitäten mit bestimmten Bedeutungen auf Menschen, sondern die mit ihnen verknüpften Effekte werden erst in situativen, symbolisch vermittelten Interaktionen wirksam. Die situativen Einflüsse auf die Bedeutungshorizonte von Objekten hat Erving Goffman (1969, 1977) als Frames und Rollenzuweisungen an die handelnden Subjekte bestimmt, ohne die Handlungen nicht interpretierbar sind (siehe auch Krotz 2001). Sie bestimmen das bewusste und unbewusste Verstehen des jeweils anderen (gegebenfalls. auch nur vorgestellten) Subjekts und ermöglichen die Abstimmung von Handeln und Handlungserwartung. Bücher befinden sich somit immer im

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 III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung

Grenzbereich individueller und kollektiver Bedeutungen. Damit wird Identität zum zentralen Konzept, denn die Nutzung von Büchern erklärt sich aus den wechselseitigen Mechanismen der Inszenierung und Zuschreibung von Identität bzw. Rollen durch Bücher in bestimmten Handlungssituationen. Unter diesem Paradigma entwickeln sich theoretische Perspektiven zur Analyse der Bedeutung von Büchern im Alltag wechselseitig in der Kultursoziologie und den Kulturwissenschaften. Während erstere vor allem dispositionale (Identität als kommunikative Leistung bei Krappmann 1988; Identität als Konstruktion bei Keupp et al. 1999) und normative (Identität und Individualisierung bei Beck 1986; Identität als Erlebnis bei Schulze 2005) Perspektiven sozialer Differenzierung entwickelt haben, wurde ein kulturbezogener Identitätsbegriff mit Bezug zu Alltag, Konsum (-Kritik) und Medien vor allem in den Cultural Studies fruchtbar gemacht (z.  B. Hall 1994 und 1999; Winter et al. 2003). Mit dem für ausdifferenzierte, multioptionale Gesellschaften der Spätmoderne typischen Verlust einer stabilen Selbstwahrnehmung wird Identität hier zum stetigen Prozess, in dem die Selektion und der Konsum von Dingen als ständige Vergewisserung der eigenen Identität und der Vergemeinschaftung mit anderen Identitäten notwendig ist: Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Handeln mit Dingen erzeugen ein Gefühl der Integration in und Distinktion zu vielfältigen Gemeinschaften, und damit Möglichkeiten an deren kulturellen Selbstbildern im Alltag zu partizipieren. Hierzu sind mit bestimmten symbolischen Qualitäten aufgeladene Objekte wie Bücher notwendig (Bosch 2010: 9): Diese sind Repräsentanten bestimmter kultureller Werte, Bedeutungen und Überzeugungen einzelner Gemeinschaften, drücken gleichartige Erfahrungen und übereinstimmende kulturelle Codierungen ihrer Nutzer aus und erzeugen deshalb einen kontinuierlichen Rahmen der identitätsstiftenden Alltagswahrnehmung der eigenen Lebenswelt. Die alltägliche Nutzung von Büchern im Kontext individueller und kultureller Identität wird mit Hilfe der Konzepte Domestizierung und Aneignung erklärbar (ausgehend von Silverstone und Hirsch 1992; im Überblick Röser 2007), die sich auf die kulturelle Bedeutung und Präsenz von Dingen in häuslichen Routinen spätindustrieller Gesellschaften beziehen. Während geolokale Kulturräume und nationale Wertvorstellungen an Bedeutung für soziale Distinktion und kulturelle Diversität verlieren, gewinnt das Handeln im Rahmen von Konsummöglichkeiten an Bedeutung (Hahn 2016: 53). Das ‚Domestizieren‘ von bestimmten materiellen und immateriellen Konsumgütern wie Büchern in der privaten Lebenswelt dient dazu, eine bestimmte Bewertung des eigenen Handelns und der eigenen Identität zu erhalten (Hahn 2016: 49). Der Prozess der Domestizierung von Medien erfolgt in drei verknüpften Dimensionen (Hartmann 2013: 21–23): (1) Kommodifizierung von Medieninhalten und Medienobjekten, (2) Aneignung der Medieninhalte und Medienobjekte durch den alltäglichen Umgang mit ihnen, (3) Umwandlung durch

3 Theoretische Perspektiven 

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zerstörerische oder kreative Aktivitäten, die Spuren hinterlassen und persönliche Bedeutungen erzeugen. Während die Kommodifizierung erklärt, wieso Bücher überhaupt zu Identitäten beitragen können und die Umwandlung durch das „Nach-außen-Tragen der Nutzung“ (Hartmann 2013: 23) ihre symbolische Rolle im Alltag einzelner Menschen begründet, ist der Aneignungsprozess die entscheidende Dimension zur Erklärung ihrer vergemeinschaftenden Funktionen. Aneignung beschreibt dabei den Übergang anonymer, massenhaft produzierter Konsumgüter hin zu persönlichen Gegenständen der privaten Lebenswelt. Soziale und kulturelle Bedeutungen entstehen dabei durch die teilweise nur in Nuancen vollzogene Veränderung der ursprünglichen Beziehung (Erwerb / Konsum) zwischen dem Objekt und der handelnden Person, indem das Objekt im Umgang mit weiteren Bedeutungen und Kontexten versehen, dadurch transformiert und als Bestandteil der eigenen Lebenswelt neu erschaffen wird. Die Aneignung von Büchern beschreibt somit die Veränderung ihrer Funktionen, ihrer verknüpften Handlungspraktiken und ihrer Gegenstände selbst. Ähnlich wie Igor Kopytoff (1986) betont, wandeln sich Bücher durch ihre Nutzung somit stetig durch die Zuweisung neuer Bedeutungen im zeitlichen Verlauf (Hahn 2016: 55). Letztlich erzeugt kulturelle Aneignung somit die ihr inhärenten unterschiedlichen Möglichkeiten der Differenzen von Identitäten und Gemeinschaften, indem fremde Objekte zu identitätsstiftenden Gegenständen geformt werden. Identität, Domestizierung und Aneignung sind in der allgemeinen Medienforschung gängige Konzepte. Umso erstaunlicher ist es, dass diese für das Lesen und die Buchnutzung bisher kaum genutzt wurden (Kuhn 2015), obwohl ihr Potenzial zur Analyse der alltäglichen Nutzung von Büchern (von der Anschaffung bis zur Aufbewahrung) offensichtlich erscheint. 3.2.3 Bücher als Gegenstände alltäglicher Praxis Der Begriff der Praxis wurde wiederholt in verschiedenen sozialphilosophischen Theorietraditionen (im Überblick Schmidt 2016) erörtert und zur Definition von menschlichen Handlungen genutzt. Besonders wegweisend waren die Arbeiten Pierre Bourdieus (1976), der eine erste praxeologische Erkenntnismethode entwickelte: Über Konzepte von Habitus, Kapitalien und Feldern werden Strukturen und Handlungen als einheitlich gedacht und z.  B. zur Analyse von Lebensstilen genutzt (Bourdieu 1974, 1982). Das darauf aufbauende praxeologische Forschungsprogramm (grundlegend: Reckwitz 2003; Schäfer 2016; zur praxeologischen Buchforschung Rautenberg und Schneider 2023) beruht auf einem grundsätzlich modifizierten Verständnis von buchbezogenem Handeln, buchnutzenden Subjekten und Buchartefakten. Praktiken sind hier als übergreifende, vorstrukturierte Muster von Aktivitäten, als

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 III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung

Handlungs- und Verhaltensweisen sowie als Interaktionsformen definiert und konzipieren Handlungen von Subjekten in komplexen relationalen Arrangements aus Körpern, Dingen und symbolischen Bedeutungen (Hirschauer 2016: 46). Sie beruhen auf alltäglichen Verhaltensweisen, die nicht im Bewusstsein eines Entwurfs, Ziels oder Plans entstanden sind, sondern präreflexiv eingeübt und auf der Grundlage dieses impliziten, körperlich verankerten Wissens weitgehend unbewusst, unreflektiert und automatisiert vollzogen werden. Praktiken der Buchnutzung beschreiben somit gewohnheitsmäßige körperliche Handlungen mit Buchartefakten in spezifischen Situationen, damit verbundene weitere materielle Artefakte sowie assoziierte Wahrnehmungen und unbewusste Wirkungen. Als kleinste soziale Einheiten lassen sich Praktiken dann als konkrete Ereignisse, als Verkettung von regelmäßigen Ereignissen und als Formationen von mehreren Praktiken differenzieren (Hillebrandt 2014: 59). Über ihre relationalen Konstellationen erzeugen Praktiken ihre eigene Ermöglichung sowie Begrenzung gleichermaßen und bringen differenzierte Arrangements ihrer Elemente hervor, benutzen vorhandene Arrangements von Elementen, transformieren diese oder werden durch diese transformiert. Kultur wird deshalb als kollektiviertes, praktisches und implizites Wissen in Verhaltensroutinen und nicht als kognitiv konstruierte und symbolisch codierte Schemata begriffen. Funktionen der Buchnutzung sind hier kein Symbolsystem von Erwartungen und Zuschreibungen, sondern vollziehen sich stetig und automatisiert in der impliziten und informellen Logik von Wahrnehmung und sozialer Interaktion, deren Körperlichkeit, Materialität und Symbolik kollektiv und im Zusammenspiel konstitutiv wirken. Andreas Reckwitz hat die Schreib- und Lesepraxis der Moderne z.  B. als bürgerliche ‚Techniken des Selbst‘ (Reckwitz 2010: 155–175), als „spezialisierte und zugleich routinisierte Komplexe von Alltagstechniken“ (Reckwitz 2010: 58) beschrieben, in denen Subjekte ein Verhältnis zu sich selbst herstellen bzw. mediale Praktiken „bestimmte ‚innere‘ Kompetenzen und Dispositionen aufbauen“ (Reckwitz 2010: 105–106). Diese werden durch routinierte, bisweilen ritualisierte Praktiken des Buchgebrauchs erreicht. Das heißt, nicht nur die Aneignung der Inhalte von Büchern, sondern auch der Umgang mit den Buchartefakten weist diese Praktiken kulturell aus. Reckwitz hat darüber hinaus darauf hingewiesen, dass sich Praktiken immer im Zusammenhang mit sinnlichen Wahrnehmungen vollziehen (Reckwitz 2015: 24). Wenn diese Handlungen dominieren, entstehen ästhetische Praktiken, in deren Zentrum das Erleben steht (Reckwitz 2015: 26). Die Buchnutzung ist z.  B. durch die Medialität und Materialität des Buchs in mehrfacher Hinsicht eine sinnlich stark beeinflusste Praxis, weshalb sie für die Ästhetisierung des Alltagslebens über Konsum und Freizeit relevant wird (Rössel 2006: 459). Buchnutzung als ästhetische Praxis zu betrachten, bietet die Möglichkeit, ihre Bedeutung in historischen Ästheti-

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sierungsschüben der Moderne zu untersuchen, die Reckwitz in drei Phasen einteilt (Reckwitz 2015: 31–42): Erstens in der Exklusivästhetisierung des Bürgertums, die Ende des 18. Jahrhunderts als Gegensphäre zur industriellen Rationalisierung einsetzte und z.  B. in der Arts-and-Crafts-Bewegung ihren Ausdruck fand. Zweitens in der ab 1900 einsetzenden Inklusivästhetisierung, die Fragen nach den ästhetischen Praktiken der Hochkultur in Abgrenzung und Ablehnung von Massenkultur und der „Passivästhetisierung der Kulturindustrie“ (Reckwitz 2015: 37) aufwirft. Drittens im Kontext der zeitgenössischen Digitalisierung, in der das hypermoderne Subjekt selbst zu einem „kulturell-ästhetischen Performer“ wird (Reckwitz 2015: 40). 3.2.4 Bücher in räumlichen Konstellationen Eng mit dem praxeologischen Forschungsprogramm verknüpft sind raumbezogene Theorien (Werlen 2008; Dörfler 2013: 33; Reckwitz 2016: 165), die Räume nicht als Container, sondern als relationale Modelle prozesshafter Differenzierung definieren (grundlegend siehe Löw 2001; Günzel 2012). Sie werden entsprechend nicht als Kontext oder Produkt von Handlungen mit Dingen verstanden, sondern als soziokulturelle Konstruktionen, die gleichzeitig, vielfach und sich überlagernd von Subjekten im Alltag erzeugt und erlebt werden. Spezifische Räume werden in ihren jeweiligen Konstellationen von Subjekten und Objekten als implizites Raumwissen im Subjekt verankert (Borsò 2007: 292), in Praktiken körperlich und materiell wahrnehmbar hervorgebracht sowie von zeitlich übergreifenden, machtvollen Wissensordnungen, Subjektdispositionen und physischen Umwelten beeinflusst. Die Bedeutung von Objekten in räumlichen Konstellationen hängt dabei von ihren kollektiven und individuellen Wertzuschreibungen ab, die durch die ‚Nähe‘ von Objekt und Subjekt sowie durch die emotionale Bewertung ihrer Beziehung geprägt sind (Habermas 1996: 79). Räume können im Zusammenhang mit Büchern somit über ihre konstituierenden Praktiken beschrieben werden, die nach Löw (2001) als (An)Ordnung (Spacing) und Synthese körperlicher Handlungen mit Büchern, materieller Konstellationen von Büchern, Büchern als sozialen Gütern und Büchern als symbolischen Gütern bestimmt sind. Diese Dimensionen verdichten sich zu wahrnehmbaren Orten, die sich als konkrete physische Konstellationen der verschiedenen buchbezogenen Räume manifestieren. Die Buchnutzung ist in dieser Perspektive eine differenzierbare kollektive Raumpraxis, die spezifische (An)Ordnungen der Buchnutzer, weiterer Personen, Büchern und anderen Artefakten hervorbringt, deren symbolische Markierungen über implizites Wissen kollektiv ihre Struktur bestimmen und in der Wahrnehmung rekonstruiert werden. Damit lassen sich dann auch die individuellen und sozialen Funktionen der Nutzung von Büchern bestimmen, denn ihre räumliche (An)Ordnung auf der Basis gemeinsamen Raumwissens ermöglicht und begrenzt

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 III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung

ihre praxisbezogene Aneignung, symbolische Bedeutungskonstruktion und ihr Erleben. Insbesondere letzteres ist für die Buchnutzung besonders wichtig, denn die räumliche Wahrnehmung von Büchern erfolgt vor allem als sinnliches Erleben, welches mit raumassoziierten Atmosphären einhergeht oder diese hervorbringt (Löw 2001: 210). Prominente theoretische Konzepte für Atmosphären liegen in der Phänomenologie der leiblichen Erfahrung von Hermann Schmitz (z.  B. 2016) und der ökologischen Naturästhetik von Gernot Böhme (z.  B. 2001 und 2017) vor. Atmosphären werden hier als Erfahrung räumlicher Konstellationen von Objekten und Subjekten bestimmt (Böhme 2017: 30). Sie beschreiben somit etwas, was als Relation von Objekten und Subjekten entsteht, subjektiv erfahren wird und meist affektive Wirkungen erzeugt (Böhme 2001: 54). Sie lassen sich deshalb auch nicht auf wirksame Eigenschaften, zeichenhafte Bedeutungen von Dingen oder subjektiv projizierte Stimmungen reduzieren, sondern liegen zwischen diesen. Böhme (2017: 34) definiert Atmosphären deshalb als die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen. Hermann Schmitz (2016) bestimmt Atmosphären zunächst aus ihrer subjektiven Wahrnehmung heraus als nicht lokalisierbare, ergreifende und gefühlsmächtige Träger von Stimmungen, die spezifische räumliche Relationen aus Objekten und Subjekten voraussetzen. Sie werden daher nicht als kognitive symbolische Zuschreibungen oder ausgelöste Emotionen wirksam, sondern über diffuse Stimmungen. Die Wahrnehmung von Büchern trägt zur Atmosphäre deshalb durch das „leibliche Spüren ihrer Anwesenheit“ bei (Böhme 2001: 45). Die mit ihnen assoziierte Wahrnehmungsqualität lässt sich aber nicht auf sie selbst reduzieren, sondern entsteht räumlich ganzheitlich durch ineinandergreifende Sinneseindrücke (Rauh 2012: 81) ihrer Relation zu anderen Objekten und Subjekten, die den Menschen ergreift und subjektiv betroffen macht (Julmi 2018: 107). Insbesondere in alltäglichen räumlichen Konstellationen werden Bücher in eine gewohnte und damit unscharf erfasste Umgebung eingebettet (Liessmann 2010: 26), und bleiben deshalb unsichtbar, solange die mit ihnen verknüpfte Atmosphäre nicht mit Stimmungserwartungen kollidiert. Gerade dadurch tragen sie aber dazu bei, das persönliche Umfeld als entspannend, anregend, wohlgefühlt etc. zu erleben. Gernot Böhme erweitert die subjektive Wahrnehmung durch die intersubjektive Produktion von Atmosphären. Diese haben demzufolge einen objektiven und benennbaren Charakter, weil sie kollektiv ausgehandelte Bedeutungsebenen enthalten und damit bestimmte Wahrnehmungsweisen und Wirkungen implizieren (Böhme 2017: 102). Menschen ‚erlernen‘, bestimmte Atmosphären (z.  B. festlich, traurig, angespannt) anhand der räumlichen Konstellationen zu identifizieren, zu benennen und somit auch (un)bewusst in der alltäglichen Lebenswelt zu erschaffen. Julmi (2018: 107) beschreibt den objektiv herstellbaren Charakter von Atmosphä-

4 Desiderate 

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ren deshalb als Einigkeit hinsichtlich der assoziativen Wahrnehmungserwartung bestimmter räumlicher Konstellationen, die aber subjektiv (und gegebenenfalls auch abweichend) erfahren wird. Die Funktionen von Büchern für bestimmte Atmosphären basieren somit auf kollektivierten affektiven Regelungen, die mit bestimmten räumlichen Konstellationen wie dem Wohnzimmer, dem Zuhause oder den öffentlichen Verkehrsmitteln assoziiert werden und Erwartungen an Bücher in ihren Relationen zu den beteiligten Subjekten beinhalten. Bücher spielen somit eine wesentliche Rolle für Atmosphären, denn sie wirken zunächst diffus und unbestimmt performativ auf diese ein. Bücher sind in dieser Hinsicht „dingliche Konstituentien“ (Böhme 2001: 54), die „aus sich heraustreten“, in den Raum hinein „strahlen“, somit ihre Eigenschaften und Bedeutungen unbewusst räumlich wahrnehmbar machen (Böhme 2017: 32–33) und durch ihre räumliche Anwesenheit mit ihnen verknüpfte Praktiken suggerieren. Die Spuren ihres Erlebens wiederum bleiben an den Buchartefakten haften und verbinden sich unbewusst mit der räumlichen Umgebung zu angenehmen (oder unangenehmen) Atmosphären (Liessmann 2010). Ihre Effekte auf die Atmosphäre sind umso spürbarer, je mehr Bedeutung wahrnehmende Subjekte dem Buch im Allgemeinen oder bestimmten Büchern beimessen, sei es durch ihre internalisierten kollektiven Bedeutungen für Lebensstile oder als persönliche Erinnerung an Personen oder Situationen. Mit der historischen Kultivierung kollektiv geteilter, positiver Assoziationen zu Büchern zwischen dem 18. und 20.  Jahrhundert sind Bücher zur Herstellung angenehmer Atmosphären darüber hinaus bis heute besonders geeignet (Rauh 2012: 76).

4 Desiderate Buchnutzung abseits des Lesens vollzieht sich in heterogenen, kollektivierten Umgangsweisen mit Büchern, die sich im historischen Verlauf stetig ändern und sich zusätzlich in ihrer Gestaltung und Bedeutung in unterschiedlichen Kulturräumen, sozialen Milieus und Erfahrungsgemeinschaften unterscheiden. Ihre Erforschung ist deshalb auf interdisziplinäre und integrierende theoretische Perspektiven angewiesen, weshalb bisher kaum Erkenntnisse vorliegen. Mit den skizzierten theoretischen Perspektiven wurden verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt, mit denen man sich kollektiven Phänomenen der Buchnutzung in Zukunft dezidiert nähern könnte. Funktionalistische Perspektiven können helfen, die zugrunde liegenden Bedürfnisse der Nutzung von Büchern im Alltag zu identifizieren und in ihrer kollektiven Reichweite und Funktionalität zu belegen. Kulturalistische Perspektiven können helfen, die Wirkungsweise von Büchern im Alltag zu verstehen: Zeichen-

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 III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung

und Materialitätstheorien weisen Büchern spezifische Bedeutungen zu, Handlungsund Kulturtheorien verorten Bücher als symbolische Komponenten in differenzierbaren Handlungen und Gemeinschaften. Praxis- und Raumtheorien bieten dagegen integrative Zugänge, indem sie verschiedene Aspekte der anderen theoretischen Ansätze zusammenführen, dabei aber deren zentrale Aspekte wie Wirkung, strukturelle Differenzierung, Macht, psychologische Disposition oder ökonomische Einflüsse nicht mehr detailliert hervorheben können. Die Anwendung verschiedener theoretischer Perspektiven zur Erklärung kollektiver Funktionen von Büchern scheitert bisher aber auch übergreifend an einer fehlenden Differenzierung unterschiedlicher Praktiken der alltäglichen Buchnutzung, die meist nur intuitiv und willkürlich benannt, aber nicht stringent klassifiziert worden sind. Die Identifizierung, Differenzierung und Analyse kollektiver Funktionen der Buchnutzung stellt deshalb bereits grundsätzlich ein potenziell fruchtbares Feld der Buchforschung dar.

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 III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung

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Literatur 

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III.3 Kulturelle Praktiken des Buchgebrauchs Sandra Rühr

1 Gegenstandsbereich Kulturelle Praktiken des Buchgebrauchs wie Bibliophilie, Sammeln und Schenken sind institutionalisierte Umgangsweisen mit Büchern, die auf den historisch tradierten Wertzuschreibungen des ‚Besonderen‘ und ‚Schönen‘ beruhen. Sie manifestieren sich in persönlichen Einstellungen und in der Interaktion mit anderen. Obwohl das Buch wesentlicher Begleiter des alltäglichen Lebens ist, tritt es aus der Riege an Alltagsgegenständen heraus und nimmt häufig eine Sonderstellung ein. Zwar gilt auch bei Büchern, die aufgrund spezifischen Geschmacks in den persönlichen Besitz übergegangen sind, „Ich nenne mein eigen, also bin ich“ (Benjamin 1991 [1931]: 396), doch durch ihren Sonderstatus als Kulturgüter tragen Bücher auf besondere Weise zur Identitätskonstruktion bei (zu kollektiven Funktionen der Buchnutzung siehe III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung in diesem Band). Nicht nur das einzelne Buch, sondern besonders das Buch als Teil eines größeren Ganzen wird dabei gerne sinnlich wahrgenommen und zur Schau gestellt. So wird es einem Personenkreis aus Gleichgesinnten des näheren privaten Umfelds oder einer lokalen Gemeinschaft präsentiert und dient damit der Vergewisserung geteilter Werthaltungen und Anschauungen.

2 Forschungsüberblick Bibliophilie und Sammeln stehen in einem so engen Zusammenhang, dass es auf den ersten Blick schwerfällt, sie getrennt voneinander zu betrachten. Verstanden als symbolische Praktiken, die „Akte des Erkennens und Anerkennens“ (Bourdieu 2014b: 197) voraussetzen, was Bourdieu (2014b: 189–195) aus seinen Überlegungen zur Gabe ableitete, wird hier noch das Schenken als kulturelle Praxis ergänzt.

2.1 Bibliophilie Bibliophilie wird als besondere Wertschätzung dem Buch gegenüber gefasst (Rautenberg 2015: 48). Allerdings zeigt sich, dass ein wissenschaftlicher Zugang zu diesem Feld schwierig ist, weil die Beschäftigung mit Bibliophilie vorrangig aus dem https://doi.org/10.1515/9783110745030-007

2 Forschungsüberblick 

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Kreis derjenigen heraus stattfindet, die ihm zugehörig sind wie Büchersammelnde und Mitglieder von Bibliophilen Gesellschaften. Zudem wird Bibliophilie häufig aus der Perspektive Sammelnder betrachtet. Daneben finden sich in erster Linie Artikel beschreibender Art in Lexika mit Buchfokus (Hiller und Füssel 2006b; Marwinski 1988; Rautenberg 2015; Redaktion 1987; Strauch und Rehm 2007; Wilpert 2001). Bogeng (1984 [1931]: 21), oft als grundlegend zitiert (Marwinski 1988: 47; Redaktion 1987: 377; Wilpert 2001: 85), erachtete Bibliophilie nicht als Wissenschaft und formulierte seine Überlegungen aus der Sicht des Sammlers in einem Band, der Teil der Reihe Buchkundliche Arbeiten ist. ‚Buchkunde‘ umschreibt die Frühphase buchwissenschaftlicher Fachgeschichte (Rautenberg 2013: 16) und ist nach Acker (2008: 26) notwendige Voraussetzung zur sachkundigen Einordnung von Büchern. Auch aktuellere Veröffentlichungen zur Bibliophilie sind aus der Perspektive der sammelnden Person formuliert, wobei besonders der Unikatcharakter einzelner Bücher zentral ist (Eco 2009: 48; Lucius 2012: 19). Acker (2008: 19–22) stellte in ihrer knappen Auswertung von Definitionen den Zusammenhang zwischen Bibliophilie und Sammeln her. Dieser wurde bereits deutlich früher diskutiert (Steude 1976: 19). Noch bei Schauer (1961 / 62: 77) wurde Bibliophilie weiter gefasst, indem das Erkennen und Anerkennen des ‚schönen‘ Buchs seiner Meinung nach auch durch Personen erfolgen könne, die keine entsprechenden Büchersammlungen vorweisen können. Die früheste Auseinandersetzung über Bibliophilie fand 1896 bei Mühlbrecht statt. Er betrachtete die ‚Bücherliebhaberei‘ im Zusammenhang mit der Erfindung des Buchdrucks und verwies auf die buchgestalterischen Leistungen aus England, Frankreich und Holland. So verortet zeichnet das bibliophile Buch sich durch eine besondere, weil hochwertige, Ausstattung aus (Mühlbrecht 1898: Kapitel 2). Mühlbrechts Publikation fällt mit der Gründung bibliophiler Vereinigungen zusammen, deren Ansinnen es war, die Verbreitung der Buchkunst zu fördern (Rodenberg 1959: 36–39; Steude 1976: 19; Strauch und Rehm 2007: 50). Die damit einhergehende Buchkunstbewegung führte gemäß Lange (1936: 223) notwendigerweise zur Bibliophilie und läutete nach Meinung des Literaturwissenschaftlers Benne (2007: 199) eine moderne Form derselben ein. Die erste deutsche bibliophile Gemeinschaft, die 1899 gegründete und bis heute bestehende Gesellschaft der Bibliophilen e. V., und ihr Verbandsorgan, Imprimatur: Jahrbuch für Bücherfreunde, verdeutlichen ein enges Beziehungsgefüge zwischen Bibliophilie, Sammeln und Buchkunst: Sondheim (1933: 9–10) stellte in seiner 1932 bei der Jahresversammlung der Bibliophilen e. V. gehaltenen Rede die drei Ausprägungen von Bibliophilen in Form der buchkünstlerisch Tätigen, der Sammelnden und der durch Kennerschaft Ausgewiesenen vor.  1967 fand sich in Imprimatur eine eigene Sektion ‚Bibliophilie, Verlagswesen und Buchkunst im zwanzigsten Jahrhundert‘, ab 1968 / 69 gab es die Bereiche ‚Bibliophilie und Sammeln / Sammler‘ bzw. ‚Buchkunst und Verlagswesen‘. Besonders im Rahmen

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 Kulturelle Praktiken des Buchgebrauchs

der zahlreicher werdenden Gründungen der bibliophilen Vereinigungen und Ortsverbände bis in die 1930er Jahre und auch 30 Jahre später kristallisierte sich allmählich ein Hinterfragen dessen heraus, was als bibliophil anzusehen ist (Lange 1936: 225; Schauer 1961 / 62: 76; Steude 1976: 22). Steude (1976: 14) stellte in seinem Rückblick auf die Gesellschaft der Bibliophilen unter Einbezug weiterer Gründungen bibliophiler Gesellschaften die Relevanz der Sammlerpersönlichkeiten für die Bibliophilie heraus. Aus dieser Perspektive ist sein Beitrag in Form einer Huldigung der herausragenden Persönlichkeiten der Bibliophilen-Gesellschaft geschrieben. Aufgrund dieser Zusammenhänge wurde Bibliophilie in den meisten Fällen vor allem historisch betrachtet, indem sie (auch) als Bibliotheks-, Auktions- und Antiquariatsgeschichte geschrieben wurde sowie Sammlerpersönlichkeiten fokussierte (Marwinksi 1988: 46).

2.2 Sammeln Sammeln, das auch krankhafte Ausprägungen haben kann, wird vor allem in seiner positiv gerichteten Form verstärkt seit den 1980er Jahren innerhalb verschiedener Disziplinen beleuchtet: aus (kultur-)soziologischer (Boltanski und Esquerre 2018; Hahn 1984; Stagl 1998), museumswissenschaftlicher (Pearce 1995), ethnologischer mit psychoanalytischer Ausprägung (Muensterberger 1999) und philosophischer (Sommer 2002, 2014) Perspektive. Dabei lassen sich zwei Zugänge ausmachen. Einmal geht es darum, das Sammeln als Phänomen zu ergründen und dessen Dimensionen von den Anfängen an nachzuzeichnen (Sommer 2002 und stärker zugespitzt in Form von Beiträgen bei Hahn 1984; Sommer 2014; Stagl 1998). Hier spielen dann auch die Auswirkungen des Sammelns auf die sammelnde Person eine Rolle. Ein andermal stehen in erster Linie die sammelnden Personen oder Sammlungen im Fokus (Assmann et al. 1998; Muensterberger 1999). In der Regel steht in diesen Ausführungen buchbezogenes Sammeln nicht im Fokus, sondern Bücher werden beispielhaft zur Verdeutlichung einzelner Aspekte herangezogen. Ausnahme ist Sommer (2011), der seine philosophischen Überlegungen auf das Büchersammeln übertrug. Ähnlich wie bei Bibliophilie kann es sein, dass sammelnde Personen, teilweise mit wissenschaftlichem Hintergrund, sich des Themas annehmen (Muensterberger 1999). Boltanski und Esquerre (2018) betrachten das Sammeln im Rahmen des von ihnen entwickelten Ansatzes der Bereicherungsökonomie. Anschlussfähig sind dabei die grundlegenden Annahmen einer Bereicherung des Lebens durch Objekte und die Bereicherung einer um weitere Sammelgegenstände ergänzten Sammlung (Boltanski und Esquerre 2018: 16). Sie (2018: 205–211) stellen ein Modell auf, das eine ökonomische Wertachse zur Ermittlung des finanziellen Werts eines Objekts

2 Forschungsüberblick 

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enthält und eine, innerhalb derer sich Gegenstände hinsichtlich ihrer Unterschiede und ihrer Zuordenbarkeit zu Ereignissen und / oder Personen einsortieren lassen. Daraus leiten sie vier Formen, eine davon die ‚Sammlerform‘, ab. „Jede Form stellt ein Hilfsmittel dar, auf das alle Bezug nehmen können, wenn sie sich in der Welt der Objekte oder Dinge aneinander annähern, sie in eine Rangordnung bringen, sie verkaufen und kaufen müssen“ (Boltanski und Esquerre 2018: 205). Pearce (1995: 291–294) definierte bereits vor Boltanski und Esquerre Wertachsen, womit sich annähernd alle Objekte ihrem Wert entsprechend erfassen lassen. Die Pole der Wertachsen sind ‚authentisch‘ und ‚unnatürlich‘ sowie ‚Meisterwerk‘ und ‚Objekt‘ und erlauben Zuschreibungen, wie beispielsweise ‚Kennerschaft‘ (authentisches Meisterwerk), ‚Kitsch‘ (unnatürliches Meisterwerk) oder ‚Schein‘ (unnatürliches Objekt). Da Pearce das Sammeln untersuchte, wendete sie ihre Wertachsen ausschließlich hierauf an. Allerdings lassen sich auch Bibliophilie und Schenken entsprechend einordnen. Eine soziologische Abschlussarbeit (Erler 2005) ging auf den mit dem Sammeln einhergehenden Aspekt des Zur-Schau-Stellens ein. Sammeln spielte hier vor allem im Zusammenhang mit dem Kriterium des Anhäufens und Präsentierens von gleichartigen Objekten, vorrangig in Form von Büchern, eine Rolle. Aufbauend auf Veblens Ansatz des demonstrativen Konsums, Goffmans interaktionistischem Zugriff und Bourdieus Kultursoziologie mit dem Fokus auf Habitus und sozialem Kapital (Erler 2005: Kapitel 1–3 des ersten Abschnitts) ging es darum, die Qualitäten des Buchs als soziales Symbol herauszuarbeiten. Ergänzt um eine Inhaltsanalyse von Pressefotografien, welchen ein hoher Inszenierungsgrad attestiert wurde (Erler 2005: 128), konnte gezeigt werden, dass Bücher „dem Ausdruck der eigenen Identität [dienen]“ (Erler 2005: 196).

2.3 Schenken Die Auseinandersetzung mit Schenken, Geschenk oder Gabe findet in erster Linie innerhalb der Soziologie statt, wobei auf Marcel Maussʼ 1925 erschienenen Essay zur Gabe bei indigenen Kulturen aus LʼAnnée Sociologique (1923 / 24) verwiesen wird (Bourdieu 2014b: 189; Habermas 1996: 187; Hahn 2014: 95; Schmied 1996: 12; Schwaiger 2011: 15; Quadflieg 2014: 121). Mauss legte den Grundstein für eine Differenzierung zwischen Ware und Gabe und der damit einhergehenden wissenschaftlichen Beschäftigung entweder aus ökonomischer oder ethnologischer Perspektive (Hahn 2014: 95). Hahn (2014: 94–98) ebenso wie Hillebrandt (2009: 15) plädierten dafür, Ware und Gabe nicht als strikte Gegensätze zu fassen, sondern als fließendes Nebeneinander. Hillebrandt (2009: Kapitel 3.3) zeichnete die wissenschaftliche Rezeption von Maussʼ Gaben-Essay nach und offenbart damit, dass es sich wie bei Bibliophilie

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 Kulturelle Praktiken des Buchgebrauchs

und Sammeln um eine übergeordnete Praxis handelt, die weitere soziale Praktiken nach sich zieht (Hillebrandt 2009: 128 und 139). Bourdieu (2014b: 188), dessen Ausführungen für die theoretischen Fundierungen grundlegend sind, verstand die Gabe als einen eigenen Regeln folgendem Teilbereich innerhalb der Ökonomie, den er als die „Ökonomie des symbolischen Tauschs“ (Bourdieu 2014b: 190) bezeichnete. In neueren Arbeiten wurde die eher marginale Beschäftigung mit dem Aspekt des Schenkens kritisiert (Schmied 1996: 11–12; Schwaiger 2011: 13–15 und 145–147). Theoretische Zugänge speziell zum Buch als Geschenk finden sich kaum. Ausnahme ist der Sammelband der beiden Buchwissenschaftlerinnen Müller-Oberhäuser und Meyer-Bialk (2019). Sie untersuchten die mit dem Buchschenken in Verbindung stehenden kulturellen Netzwerken des 14. und 16. Jahrhunderts. Ansonsten wurden Rückschlüsse aus Buchmarktstudien, die in der Regel Buchkauf und Lesen zusammendachten, gezogen. Schmied (1996: Kapitel 6) ging anhand von typischen Geschenkbeispielen der Differenzierung von konventionellen gegenüber persönlichen Gaben nach. Darunter fand sich auch das Buch, das beide Pole repräsentieren kann. Ein Buchgeschenk, das auf die Vorlieben der beschenkten Person eingeht und / oder solche der schenkenden Person zum Ausgangspunkt des Schenkens nimmt, wird zum persönlichen Geschenk und kann etwas über beide Identitäten preisgeben. Allerdings gab Schmied (1996: 131–133) hier lediglich ausgewählte Ergebnisse einer Studie wieder, die 1982 im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und dessen Ausschuss für Buchmarktforschung in Zusammenarbeit mit dem Institut für Demoskopie Allensbach durchgeführt worden war. Sowohl der Initiator, der Börsenverein als Dachverband der Buchbranche, als auch der Untertitel der Studie, Marktreserven für den Buchmarkt, verdeutlichen, dass hier in erster Linie ökonomische Fragestellungen leitend waren. In den 1980er Jahren sollten neue Marktsegmente erschlossen werden (Schulz 1983: W 1660, W 1665). Ähnlich gelagert war eine im Jahr 2001 gemeinsam von Stiftung Lesen und Spiegel-Verlag durchgeführte quantitative Befragung zum Lesen in Deutschland im neuen Jahrtausend, wobei hier das Schenken von Büchern nur im Zusammenhang mit dem Bucherwerb thematisiert wurde. Auffällig war dabei, dass diejenigen Personen, die sich Bücher nicht selbst kauften, sondern diese in erster Linie geschenkt bekamen, eher selten lasen bzw. die Bücher überhaupt nur lasen, weil sie sie als Geschenk erhalten hatten (Rojan und Schroth 2001: 96).

3 Theoretische Perspektiven Nach Habermas (1996: 177–180) und Sommer (2011: 140–142) lässt sich das Buch als ein Kulturgegenstand fassen, da es von Menschenhand geschaffen wurde und ihm eine spezifische kulturelle Bedeutung eingeschrieben ist. Es ist einerseits ein

3 Theoretische Perspektiven 

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Gebrauchsgegenstand, der zum konkreten Umgang mit ihm einlädt, und andererseits ein symbolisches Objekt, da es mit Hilfe von Schrift- und Bildzeichen Bedeutung evoziert. Weiterhin wird es mit symbolischen Bedeutungen aufgeladen, die sich zum einen auf das Buch als Objekt selbst beziehen. Zum anderen übertragen diese sich auf die Person, an die das Objekt, hier das Buch, gebunden ist, so dass sich etwas über deren Status aussagen lässt (Habermas 1996: 185). Unklar ist jedoch, weshalb das Buch hier einen solch besonderen Stellenwert einnimmt, da dies auch bei anderen Alltagsdingen der Fall ist (Hadler 2016: 44). Dieser sich in den spezifischen Praktiken des Buchgebrauchs niederschlagende Sonderstatus ist mit Hadler (2016: 44–45) und Coers (2016: 239) allerdings zu hinterfragen, weil durch den auch Büchern innewohnenden Massencharakter und eine zunehmende Ausdifferenzierung von Gegenständen jeglicher Art ehemals kostspielige (und unikale) Statussymbole sich durch kostengünstigere und ubiquitär verfügbare ersetzen lassen. Eine mögliche Erklärung findet sich in Habermasʼ Klassifikation der Funktion per­sön­licher Objekte (1996: 381–393). Obwohl er darin nicht explizit auf Bücher eingegangen ist, können sie alle von ihm benannten Funktionen übernehmen, ohne dass dies seither genauer untersucht worden wäre. Die bislang unsystematisch aufgearbeitete theoretische Beschäftigung mit Bibliophilie, Sammeln und Schenken wird daher im Folgenden anhand von Funktionen strukturiert. Leitend hierfür sind Bourdieus kultursoziologische Ansätze. Seine Überlegungen zu symbolischen Auseinandersetzungen (Bourdieu 2014a: 378–399) helfen dabei nachzuvollziehen, dass der Wert von Kultur sich nur über Wechselbeziehungen erfassen lässt. Somit muss es neben einer ‚reinen‘ Ausprägung immer auch eine Art von Imitation derselben geben. Demzufolge drücken sich die Werthaltungen und damit einhergehenden Praktiken des Buchgebrauchs ebenfalls in solchen Gegenseitigkeiten aus. Gleichzeitig folgen symbolische Güter eigenen Prinzipien mit dem vorrangigen Ziel der Akkumulation symbolischen Kapitals (Bourdieu 2014b: 187–202). Alle drei kulturellen Praktiken weisen die grundlegenden Merkmale des Erkennens und Anerkennens auf.

3.1 Bibliophilie 3.1.1 (An-)Erkennen Bibliophilie wird in der Regel in einem ersten Schritt, mit Bezug auf die griechische Wortherkunft, mit der nicht ökonomisch konnotierten Liebe zu Büchern übersetzt (Marwinski 1988: 46–47). Diese Liebe kann sich entweder auf rein materielle Aspekte des Buchs beziehen oder, wie bei Sondheim (1933: 6–7), inhaltsbezogene Kriterien damit in Zusammenhang bringen. Teilweise wird diese Liebe konkreter als die Liebe zum ‚schönen‘ und seltenen Buch gefasst (Eco 2009: 32; Mühlbrecht 1898: 4;

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 Kulturelle Praktiken des Buchgebrauchs

Schauer 1961 / 62: 76–77; Steude 1976: 29; Wilpert 2001: 85). Das ‚schöne‘ Buch ist dabei nicht allein äußerlich hübsch anzusehen, wie Mühlbrechts (1898: 117–119) Differenzierungen zwischen Bibliomanie, einer auf die äußeren Merkmale bezogenen Leidenschaft für Bücher, und Bibliophilie, der Ehrerbietung gegenüber den in schöner Typografie präsentierten Inhalten in einem Buch, zeigen. Zweiteres erachtete man als in erster Linie in Form der Pressendrucke realisiert, die Inhalt und Form bestmöglich zu verbinden in der Lage waren (Schauer 1961 / 62: 76). Bogeng fasste unter Bibliophilie eine Aneignungsform aus Gründen des Besitzen-Wollens. Diese resultiert aus bildungsbezogenen Ansprüchen oder anderen Aspekten, wobei rationale wie irrationale Momente gleichermaßen zum Tragen kommen (Bogeng 1984 [1931]: 3–4). Überwiegen irrationale Aspekte, kann Bibliophilie in die krankhafte Ausprägung, die Bibliomanie (Hiller und Füssel 2006a: 48; Marwinski 1988: 46), übergehen. Worin die ‚anderen Aspekte‘ bestehen können, deutet Luciusʼ Formulierung von der „Freude am schönen Objekt“ (2000: 11) an. Im Fokus steht hier das Buch als Kunstwerk oder -objekt, das Ergebnis eines Schaffensprozesses ist. Diese Sichtweise findet sich bereits deutlich früher bei Umbreit (1843: 114), der in der Bibliophilie eine Form der Anerkennung kultureller Schöpfungen erkannte. Segeth (1989: 67) sah darin den Grund, weshalb die Bücherliebe ein besonders weit verbreitetes Phänomen ist: Das Buch wird zum Stellvertreter derjenigen Person, die ein kulturelles Erzeugnis geschaffen hat, wodurch sich ihr die das Buch besitzende Person näher fühlen kann. Beides, die Wertschätzung des kulturellen Erzeugnisses und die Anerkennung derjenigen Person, die es geschaffen hat, setzt voraus, dass jemand in der Lage ist, den Wert überhaupt zu erkennen und anzuerkennen. Personen, die ‚Freude am schönen Objekt‘ äußern können, verraten somit mit dieser Haltung etwas über sich selbst (Csíkszentmihályi und Rochberg-Halton 1981: 14–15). Neben der Kennerschaft markiert die ‚Freude am schönen Buch‘ Status, denn sie ist der Anreiz für und das Ergebnis von Buchbesitz. Das ‚schöne‘ Buch zeichnet sich durch Seltenheit und (finanziellen) Aufwand in Bezug auf seine Beschaffung aus. Personen, die in der Lage sind, dieses seltene Gut aufzuspüren und es sich leisten zu können, verfügen nach Csíkszentmihályi und Rochberg-Halton (1981: 30) über einen spezifischen Status. 3.1.2 Bewahren und Erhalten Das Leistungspotential von Bibliophilie, gefasst als „richtigste Buchverwertung“ (Bogeng 1984 [1931]: 6), wird im Bewahren und Erhalten gesehen. Indem Bücher als kulturelle Güter anerkannt und als Ausdruck dieser Anerkennung zusammengetragen werden, bleibt ihnen das Schicksal des Verloren-Gehens und Vergessen-Werdens eher erspart und sie können die Spuren der sie ehemals besitzenden Personen (weiter-)tragen (Lucius 2000: 11, 48). Diese Funktion lässt sich am besten mit Hilfe

3 Theoretische Perspektiven 

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von Bibliotheken realisieren, weshalb Bogeng (1984 [1931]: 12) zwischen privater und institutioneller Bibliophilie unterschied. Erstere geht vom einzelnen Buch aus, um eine Sammlung aufzubauen, zweitere sieht ‚das große Ganze‘ an vorhandener Literatur, um daraus das Bewahrenswerte herauszufiltern und entsprechend zu sammeln. Dieser Aspekt erklärt den Befund, weshalb Bibliophilie sehr häufig aus einem bibliothekarischen und bibliothekswissenschaftlichen Blickwinkel betrachtet wird. Bibliophilie, verstanden als soziales Handeln (Rautenberg 2015: 48), lässt sich als Praxisformation fassen. Hierunter fallen das Erwerben bei Antiquariaten oder im Rahmen von Auktionen, das Zeigen und Zur-Schau-Stellen im Zusammenhang mit Ausstellungen, das Informieren innerhalb von entsprechenden Katalogen und Zeitschriften oder das Sich-Austauschen, beispielsweise im Kontext von Tagungen, innerhalb spezifischer Gemeinschaften, jeweils befördert durch das Aufkommen der bibliophilen Gesellschaften (Acker 2008: 194–195; Hiller und Füssel 2006b: 49; Rautenberg 2015: 48–49; Wilpert 2001: 85). Mit diesem Zugang wird einerseits an die oben dargelegte traditionelle Sichtweise auf den Gegenstand angeknüpft und eine Verbindung zwischen Bibliophilie und Sammeln hergestellt. Andererseits wird der Fokus zugleich geweitet, ohne diese Richtung bislang weitergeführt zu haben.

3.2 Sammeln Bibliophilie und Sammeln lassen sich einerseits sehr gut getrennt voneinander betrachten und erfassen. Dann ist Sammeln etwas Grundsätzliches, das jede Person mit jeglichem Gegenstand tun kann (Sommer 2002: 7) und Bibliophilie die besondere Wertschätzung gegenüber dem Buch. Andererseits ist das eine nicht ohne das andere zu fassen. So verstanden setzt das auf das Buch bezogene Sammeln dessen Wertschätzung voraus und diese wiederum kann im Sammeln münden. Buchbezogenes Sammeln erfährt ähnliche Konnotationen wie Bibliophilie. Das ‚richtige‘ Sammeln der ‚richtigen‘ Bücher erfolgt aus der Absicht des Sammelns (Sommer 2002: 73), trägt damit zum Bewahren und Erhalten bei und fügt beidem mit dem Zur-Schau-Stellen noch eine weitere Facette hinzu. Gleichzeitig kommen mit der Identitätskonstruktion und der Vergemeinschaftung zwei Aspekte zum Ausdruck, die, auch durch den besonderen Stellenwert des Buchs, eine Gegenüberstellung von ‚Ich und Welt‘ und eine Auseinandersetzung mit diesen beiden Polen ermöglichen (siehe VII.2 Vergemeinschaftung in diesem Band). Beim Sammeln wird ebenfalls die Facette des ‚Schönen‘ thematisiert. Schönheit ergibt sich dabei aus der Schnittstelle des einzigartigen Charakters eines Gegenstands und seiner Einfügung in eine Sammlung, wo er seine Besonderheiten im richtigen Maß aus Zugehörigkeit und Abgrenzung unter Beweis stellen muss (Boltanski und Esquerre 2018: 335).

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 Kulturelle Praktiken des Buchgebrauchs

Bücher sind aber besonders durch ihre materiellen Eigenschaften in der Lage, ‚an sich schön‘ zu sein, was ihre Sonderstellung als Sammelgegenstand begründen kann. Des Weiteren wohnt Büchern durch ihre von vorne herein inhärente Wertschätzung ein besonderer Status inne. Der sogenannte intrinsische Wert der Sache überwiegt ihren Marktwert, so dass die von Boltanski und Esquerre (2018: 351) beschriebene Spannung zwischen beiden Werten, Bewertung des Marktwerts und Wertschätzung des intrinsischen Werts, nicht oder weniger stark zum Tragen kommt. 3.2.1 (An-)Erkennen Beim Einschätzen des Gesammelten ist dessen Wert relevant. Bedingt durch die dem Sammelgegenstand innewohnende Differenz in Relation zu den anderen Teilen der Sammlung und die Narration in Bezug auf in Beziehung zu ihm stehenden Personen, spielt das Beziehungsgefüge zwischen Einzigartigkeit und Erinnerungsgehalt eine Rolle (Boltanski und Esquerre 2018: 97, 222, 329 und 365). Boltanski und Esquerre (2018: 364–370) gingen bei ihren Beispielen vor allem auf Kunstgegenstände und solche von herausragendem kulturellem Wert wie einem Stück der Berliner Mauer ein. Gesammelte Bücher lassen sich hinsichtlich ihrer Einzigartigkeit, gemessen daran, ob es sich um ein einzelnes Exemplar handelt oder ob es mehrere Exemplare eines Prototyps gibt, variabel einordnen: Das ‚richtige‘ Buch, das bibliophilen Merkmalen entspricht, hätte eher Unikatcharakter als das einzelne Exemplar einer Taschenbuchreihensammlung. Im Hinblick auf den Erinnerungsgehalt würden Bücher mit Boltanski und Esquerre (2018: 369) am Pol mit geringem Erinnerungsgehalt einzuordnen sein, „weil das, was sie heraufbeschwören, nur für eine begrenzte Zahl von Personen bzw. sogar nur für eine Person von Bedeutung ist.“ Diese Überlegung ist jedoch mit Blick auf soziale Buchphänomene wie Harry Potter nicht universell gültig. Beim Sammeln kommt es zu einer funktionalen Differenzierung und inhaltlichen Hierarchisierung. Damit ließe sich in Anlehnung an Sommer (2002: 30) fragen, ob Menschen bestimmten Objekten einen höheren Stellenwert als Sammelgegenstände einräumen als anderen, weil diese es ‚aus sich selbst heraus‘ oder aufgrund ihrer inhärenten Merkmale stärker herausfordern als andere. Obwohl Sommer diese Annahme nicht teilt, scheint sie unter bibliophilen Sammelnden verbreitet zu sein. Es wird allgemein zwischen Sammeln aus notwendiger Vorratshaltung und ästhetischem Sammeln, Sammeln zum Selbstzweck, unterschieden (Hahn 1984: 11; Sommer 2002: 15). Die Sammelgegenstände werden einmal stärker wertgeschätzt und als „privilegiert[…]“ (Assmann 2008: 346) erachtet, ein andermal negativ konnotiert als Erzeugnisse der Massenproduktion gesehen. Bücher werden üblicherweise ersterem zugeordnet und sind eher sammelnswerte Gegenstände als

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beispielsweise Bierdeckel oder Aufkleber (Assmann 2008: 346; Moist und Banash 2013: 8). Gleichzeitig wird wiederum nicht jedes Buch gleichermaßen für wert befunden, zur Bewahrung gesammelt zu werden (Galle 2003: 170 und 186; Lucius 2000: 13). Bibliophile Sammelnde grenzen das bibliophile Sammeln, beispielsweise von Luxusdrucken und Künstlerbüchern, vom hedonistischen Sammeln individuell für schön empfundener Bücher ab (Lucius 2000: 15 und 20–21). Im Falle des Gebrauchsbuchs zeigt sich eine Annäherung beider Pole. Marwinksi (1988: 47) erachtete das Gebrauchsbuch als ein mögliches Sammelgebiet neben Einzelstück, Sonderfall, Kuriosum und Pressendruck. Es hatte eine Sonderstellung innerhalb des gesammelten Buchs inne, indem es eine gehobene Ausstattung aufwies und zugleich tendenziell ‚gebraucht‘, also gelesen werden konnte (Friedsam 2008: 11). Schmitz-Emans (2019: 607–613) fasste das Gebrauchsbuch im eher wörtlichen Sinne, indem sie auf Praktiken des Interagierens zwischen Buch und der es gebrauchenden Person einging wie Blättern, Notieren, Skizzieren oder Selbst-Gestalten. Eine weitere Ausdehnung dessen, was als ‚schönes‘ Buch als sammelnswert erachtet wird, kann anhand von Ackers Beispielen ausgemacht werden. Gegenstände des Sammelns können aus ihrer Perspektive auch sein: ‚Die schönsten Bücher‘ des Wettbewerbs der schönsten deutschen Bücher, Bücher von Buchgemeinschaften wie der Büchergilde Gutenberg oder besonders gestaltete Buchreihen wie Die andere Bibliothek (Acker 2008: 21–22 und 201–210). Daran zeigt sich, dass Diskussionen um das ‚schöne‘ und daher besonders sammelnswerte Buch nicht zielführend sind. Stattdessen wird offenkundig, dass sich das Verständnis dessen, was ein Buch ist, sowie seine Funktionen ausdifferenziert haben. Damit entstehen neue Sammelbereiche: Es ‚muss‘ nicht mehr einzig das bibliophile Buch gesammelt werden, sondern auch das Gebrauchsbuch oder Trivialliteratur können zum Gegenstand des Sammelns werden. Des Weiteren bleibt das Buch, anders als vereinzelt befürchtet (Lucius 2000: 16), als sozial anerkanntes Kulturgut auf der „Ebene des Sozialen“ (Reckwitz 2003: 289) innerhalb der objektivierten Form des Geschmacks weiterhin bedeutsam. Hinzu kommt jedoch eine stärker auf individuelle Vorlieben ausgerichtete Wertschätzung spezifischer Inhalte und Formate des Buchs, die in entsprechenden privaten Sammlungen zum Ausdruck gebracht wird. Der inkorporierte Geschmack in Form der individuellen Wertschätzung des Buchs entkoppelt sich von sozialen Zuschreibungen. Relevant wird stattdessen „eine Sensibilisierung [des] ‚inneren‘ Erlebens“ (Reckwitz 2008: 305). 3.2.2 Bewahren und Erhalten Kernelemente des Sammelns sind das Zusammentragen und das Anschauen-Wollen, das den Wunsch des Bewahrens gleicher, aber in sich variierender Objekte als ästhetische Funktion voraussetzt (Hahn 1984: 13; Sommer 2002: 8 und 28). Die

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Praxisformation Sammeln beinhaltet das Suchen, Auswählen, Erwerben, Zusammentragen und Aufbewahren, Studieren und Erkennen von Gemeinsamkeiten bzw. Erforschen der Genese des Gesammelten, Vervollständigen und Ausstellen der Gegenstände, die einzeln und innerhalb der Sammlung einen spezifischen, teils emotionalen Wert für die sammelnde Person haben, ohne zwangsläufig besonders kostbar oder kostspielig sein zu müssen. Die Sammlung kann entweder im Geheimen aufbewahrt oder auf unterschiedliche Weise zur Schau gestellt werden (Acker 2008: 28; Lucius 2000: 18–19; Marwinski 1988: 47; Muensterberger 1999: 20 und 25; Vechinski 2013: 22). Nach Assmann (2008: 347) enthebt sie als sichtbares Arrangement und geordnetes Ganzes das einzelne Objekt seiner ursprünglichen Bedeutung, um es im Zusammenhang der Sammlung in neue Bedeutungszusammenhänge zu überführen. Gleichzeitig erhält das Objekt im Moment des Einordnens in die Sammlung gemäß Baudrillard (1991: 111) seine Objekthaftigkeit zurück, weil es nicht mehr seine ursprüngliche ihm zugedachte Funktion erfüllt, sondern stattdessen eine Position zum Subjekt, hier der sammelnden Person, einnimmt, indem es in deren Besitz übergeht. Hieraus resultiert die weit verbreitete Annahme, dass der Büchersammler sich an seinen Büchern erfreut, indem er sie besitzt, sie aber nicht benutzt (Hahn 1984: 14; Sondheim 1933: 11). Dies wird noch durch die Voraussetzung verstärkt, dass Sammelgegenstände allein solch dinghafter Natur sein können, indem sie eine klar abgegrenzte Kontur haben und sich über Zeit und Raum erstrecken (Sommer 2002: 104–106 und 112; Sommer 2014: 110–111). Nach Boltanski und Esquerre (2018: 329) sind die sammelbezogenen Handlungen nur mit Hilfe materieller Objekte vollziehbar. Damit ließen sich Bücher allein aufgrund äußerer Merkmale, nicht aber wegen ihrer Inhalte sammeln. Dieser Ansicht wird aus der dingbezogenen Sicht und der Perspektive des bibliophilen Sammelns widersprochen (Sommer 2002: 111 und 117; Sommer 2011: 143; Sondheim 1933: 16) und ist auch für digitale Buchformate und Sammlungen nicht haltbar. 3.2.3 Zur-Schau-Stellen Wesentliche Voraussetzung für das Zur-Schau-Stellen des Gesammelten ist zunächst das absichtsvolle Sammeln. Ohne diese Absicht haben wir es nicht mit einer Sammlung, sondern einer Ansammlung zu tun. Vielleser, die das Gelesene aufbewahren und in Regalen zeigen, sind so betrachtet noch keine Sammler. Die solchermaßen dem Sammeln verpflichteten zusammengetragenen Gegenstände gilt es in der Nähe der sammelnden Person zu verorten. Für sie ist wiederum der Wunsch, das Gesammelte anderen zeigen und, noch kategorischer, es ihnen aufzwingen zu wollen, unabdingbar (Sommer 2002: 58–61, 72 und 2011: 135–136). Die enge Beziehung, die zwischen sammelnder Person und Sammelgegenstand besteht, wird im Aspekt des Zur-Schau-Stellens noch deutlicher: Indem die sammelnde Person etwas

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als für andere zeigenswert erachtet, stellt sie sich damit gleichermaßen selbst zur Schau. Sie bezeugt gewissermaßen, dass sie in der Lage ist, korrekt einzuschätzen, inwieweit das Ausgestellte für sie selbst und das Gegenüber in gleichem Maße ausstellenswert ist. Ist ihr dies gelungen, erhält sie Reputation (Sommer 2002: 64–65). Erler (2005: 196) erkannte im Zur-Schau-Stellen von Büchern eine hohe identitätsbildende Funktion. Unklar bleibt jedoch, weshalb Bücher diesen besonderen Stellenwert haben. Obwohl Erler (2005: 147) bei seinen Analysen von Pressefotografien auch die einzelnen Bildkomponenten berücksichtigte, blieb er in den zusammenfassenden Analysen (Erler 2005: 148–149) eindimensional, indem er das Buch ohne Bezug zur besitzenden Personen fokussierte. Dies ist einerseits bedingt durch seine Fragestellung und Theoriefundierung, andererseits durch die Limitationen des methodischen Zugriffs. Nach Sommer (2002: 64–65) geht es beim Zur-Schau-Stellen darum, „sinnliche Neugierde zu befriedigen, visuelles Vergnügen zu bereiten, optische Lust zu verschaffen – dank der Ungewöhnlichkeit, Sonderbarkeit, Faszinationskraft der gezeigten und angeschauten Sache.“ Das Zur-Schau-Stellen ist dann besonders erfolgreich, wenn das Gezeigte aus dem Grunde hergestellt wurde, um die ‚optische Lust‘ zu stillen. Dies gelingt nach Sommer (2002: 83) ausschließlich bei Kunstwerken. Dieser Logik folgend ließen sich Bücher nur dann zur Schau stellen, wenn sie über ein ansprechendes Äußeres verfügen, was Sammeln wieder in den Bereich der Bibliophilie rückt. Gleichwohl kann das Zur-Schau-Stellen auch ohne dieses eine gewisse Wirkkraft erzielen, wenn die Sammlung kunstvoll oder ungewöhnlich arrangiert und gegebenenfalls mit zusätzlichen Objekten angereichert wurde. Sommer (2002: 231–233) und Acker (2008: 28) verankerten das Zur-Schau-Stellen ausschließlich im institutionellen Kontext des musealen Sammelns und Präsentierens bzw. bibliophilen Sammelns und Ausstellens im Rahmen bibliophiler Gesellschaften. Jedoch ist das Zur-Schau-Stellen auch außerhalb dieses Zusammenhangs möglich. Jegliche Büchersammlung, egal, ob sie als thematische Sammlung (Lucius 2000: 20) auf inhaltlichen Gemeinsamkeiten aufbaut, oder in Form der Sammlung, die ästhetischen Kriterien verpflichtet ist, folgt zwei Grundprinzipien: Zum einem spielen vorher festgelegte Ordnungskriterien eine wesentliche Rolle (Lucius 2000: 26–35; Sommer 2002: 223–226), zum anderen ist das Zeigen-Wollen inhärent. Gerade dieser Aspekt sollte vertieft werden, da er bislang in erster Linie in historischer Perspektive entlang von Sammlerpersönlichkeiten und -gegenständen allgemein untersucht wurde (Assmann et al. 1998: Sektion  II). Dies ist möglicherweise mit dem hohen „Eigengewicht“ (Bosch 2014: 77), das dem institutionell Gesammelten aufgrund seines gewichtigen kulturellen Stellenwerts innewohnt, zu begründen. Weiterhin vermittelt das Gesammelte und / oder Zur-Schau-Gestellte „einen spezifischen Ausschnitt der jeweiligen literarischen und gesellschaftlichen Trends“ (Rössler 2003: 204). Zur-Schau-Stellen und Arrangieren sind für Stagl (1998: 43)

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wesentliche Anreize für sammelnde Personen. Sie wollen damit sowohl sich selbst daran erfreuen als auch bei anderen Personen Eindruck machen. Rautenberg (2005: 18) sah gerade letzteren Aspekt dann kritisch, wenn das Zeigen, beispielsweise in Form von ‚Büchertapeten‘, das geordnete Zusammenstellen dominiert. Gegenwärtig lässt sich diese Tendenz an Coffeetable-Books erkennen. Hier steht die dekorativ arrangierte Büchersammlung gleichwertig neben der kostbaren Ausstattung des Mobiliars. 3.2.4 Identitätskonstruktionen Sammeln lässt sich nicht losgelöst von der sammelnden Person betrachten. Sie ist es, die in der Lage ist, Dinge mit ihren Sinnen zu erfassen, für sammelnswert zu erachten und sammelnd zusammenzutragen (Sommer 2014: 111). Mit Baudrillard (1991: 116) und Benjamin (1991 [1931]: 395) ist sie es außerdem, die eine Sammlung vervollständigt. Dabei ist nicht jede Person gleichermaßen für das Sammeln und das damit einhergehende Erkennen des Besonderen eines potenziellen Sammelgegenstands empfänglich. Voraussetzung sind nach Sommer (2002: 55 und 431–432) eine spezifische Disposition und ein innerer Antrieb zum Sammeln, die nur solchen Akteuren innewohnen, die ein „‚bürgerliches Leben‘“ (Reckwitz 2003: 293) führen und sich demzufolge anhand eines bestimmten Habitus auszeichnen. Muensterberger (1999: 20 und 23–24) fasste dies als Neigung, die auch in suchtartiges Verhalten umschlagen kann, Sondheim (1933: 14) als Lust: Dabei „werden die Lustgefühle um so stärker sein, je stärker der ästhetische und der intellektuelle Einschlag sind.“ Beides ist seiner Meinung nach bei Büchern ideal miteinander verbunden. Eine ebenso bedeutsame Rolle kommt beim Sammeln den Dingen selbst zu. Diese sind, auch ohne dass sie eine größere geordnete Ansammlung um eine Person bilden müssen, grundsätzlich wichtig für deren Identitätskonstruktionen (Bosch 2014: 70–71). Manchen Dingen wie denjenigen des eigenen Wohnraums oder den sogenannten persönlichen Dingen wurde dabei ein besonderer Stellenwert zugestanden (Csíkszentmihályi und Rochberg-Halton 1981; Habermas 1996). Habermas (1996: 231) führte all jene Gegenstände, die räumlich eng mit dem Individuum verbunden sind, und dabei explizit auch Bücher, als geeignet an, identitätsrepräsentierend zu sein. Solche „Identitätssymbole sind die standardisierten Teile dessen, was den ersten Eindruck von einer Person ausmacht“ (Habermas 1996: 233). Bestimmte Gegenstände sind dabei besonders in der Lage, die Person, der sie gehören, als stellvertretend für eine achtenswerte Gruppe zu kennzeichnen. Habermas (1996: 234) nannte hier wiederum das umfangreich ausgestattete Bücherregal. Obwohl er nicht auf eine geordnete Sammlung einging, ist zu vermuten, dass diese den gewünschten Eindruck noch verstärken kann. Eine erste Bestätigung in diese Richtung vermitteln die Umfrageergebnisse von Kaiser und Quandt (2016: 356). Sie konnten einen

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Zusammenhang herstellen zwischen sowohl viellesenden bzw. Bücher häufig nutzenden Personen (beispielsweise unter bibliophilen Aspekten oder hinsichtlich des Sammelns von Büchern, siehe Kaiser und Quandt 2016: 357–358) als auch solchen, die viele Bücher besitzen, und dem Wunsch, die Bücher als Ausdrucksmittel der Inszenierung der eigenen Identität zu nutzen. Dies ist nach Kaiser und Quandt (2016: 359–360) ein den Büchern innewohnender Zusatznutzen, ein so genannter FetischWert, der sowohl integrative (als Kennzeichnung einer Gruppenzugehörigkeit) als auch differenzierende (als Abhebung innerhalb einer Gruppe sowie Distinktion von einer anderen Gruppe) Funktionen haben kann (siehe VII.2 Vergemeinschaftung in diesem Band). Kaiser und Quandt (2016: 365) sahen Bezüge zwischen introvertierten Personen und solchen, die viele Bücher besitzen. Bücher übernehmen so eine Schutzfunktion und dienen als Sprachrohr (Kaiser und Quandt 2016: 367). Obwohl Kaiser und Quandt (2016: 358) unter starkem Buchgebrauch auch Bibliophilie und Sammeln fassen, lassen ihre Ergebnisse sich nicht eindeutig darauf beziehen, da die Fragenkomplexe in erster Linie Vielleser und viele Bücher Besitzende thematisieren. Sammeln ist als etwas zu fassen, „das gattungsgeschichtlich einmal nützlich, ja notwendig gewesen sei, heute aber jeden Sinnes und Zweckes entbehre“ (Sommer 2002: 94). Damit steht es im Zusammenhang mit dem einstigen überlebensnotwendigen Jagd- und Sammeltrieb des frühgeschichtlichen Menschen (Sommer 2002: 87–94; Sondheim 1933: 12). So betrachtet übernimmt Sammeln gegenwärtig andere Zwecke (Sommer 2002: 96–97). Muensterberger (1999: 29–30) ging mit Bezug auf Winnicotts psychologischen Ansatz zu kindlichen Übergangsmomenten und -phänomenen davon aus, dass Sammeln ein Akt der Kompensation ist: „tief im Innern besteht ihre Funktion [d. s. die Objekte] darin, Selbstzweifel und unverarbeitete Erinnerungen zuzudecken“ (Muensterberger 1999: 33). Galle ging auf diesen Aspekt am Beispiel der Trivialliteratur ein. Auch wenn er das Ziel verfolgte, den Beitrag von Sammlungen und Nachlässen dieser Art von Literatur für die Literatur- und Verlagsgeschichte herauszustellen, zeigt sich noch etwas Weiteres: Das Sammeln solcher Buchreihen stellt eine Rückbesinnung auf schöne Jugenderinnerungen dar (Galle 2003: 170) und ist positiv konnotiert. Es geht nicht mehr um das Kompensieren negativer Erfahrungen, sondern um das Zurückholen positiver. Diesen Punkt nannte auch Rössler (2003: 192) im Zusammenhang mit Taschenbuchreihen. Hier sind die kultursoziologischen Überlegungen Stagls anschlussfähig. Er sieht im Sammeln eine Orientierungsfunktion, indem die geordnete Sammlung Schutz vor der chaotischen Außenwelt eröffnet (Stagl 1998: 38). Dies gelingt mit solchen Dingen, die über eine physische und / oder sinnliche Stabilität verfügen bzw. diese aufweisen und Kulturgütern, umso besser (Bosch 2014: 74). Bücher werden an dieser Stelle nicht angeführt, weisen aber alle drei Aspekte auf. Sammeln dient der Identitätskonstruktion und -inszenierung, wobei die Sammlung eine Erweiterung

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des Selbst darstellt (Vechinski 2013: 29) und dieses sogar noch erhöhen bzw. idealisieren kann (Baudrillard 1991: 113, 115). Nach Assmann (2008: 346) hilft Sammeln bei der Individualisierung, weil jede sammelnde Person ihren je eigenen Blick auf das zu Sammelnde wirft und es entsprechend auswählt. 3.2.5 Vergemeinschaftung Bislang lässt sich der Vergemeinschaftungsaspekt beim Sammeln in erster Linie über konstruktivistische Ansätze erfassen. Die gemeinschaftsstiftende Praxis des Sammelns hingegen blieb noch unberücksichtigt. Sammeln wird durch das Wissen um Gleichgesinnte, die „Sammelgemeinde“ (Lucius 2000: 17), bestätigt (Hahn 1984: 15). Bereits Sondheim (1933: 23) sprach, allerdings im Zusammenhang mit Bibliophilie, von den geteilten Zeichen der Gemeinschaft. Dinge repräsentieren und bringen Gruppenzugehörigkeiten hervor (Bosch 2014: 75). Inwieweit dieser Aspekt sich verstärkt, wenn es sich um eine geordnete Ansammlung von Dingen und dabei konkret um Bücher handelt, wäre zu untersuchen. Das Gesammelte sagt zunächst etwas über die Persönlichkeit, den Geschmack und den Lebensstil der sammelnden Person aus und eröffnet zugleich die Möglichkeit zur Distinktion (Lucius 2000: 16; Lucius 2012: 19; Muensterberger 1999: 20–21, 26). Distinktion bedeutet nach Csíkszentmihályi und Rochberg-Halton (1981: 38), die eigene Einzigartigkeit herauszustellen oder, mit Bezug auf Bourdieu, „sich durch Geschmacksvorlieben positiv von anderen Schichten, Gruppen oder Klassen abzuheben“ (Jurt 2016: 22). Mit Hilfe der gesammelten Gegenstände kann einerseits auf individuelle Merkmale, Eigenschaften und Werthaltungen der sammelnden Person rückgeschlossen werden. Andererseits sind darüber deren Gruppenzugehörigkeit und ihr sozialer Status ableitbar (Dittmar 1992: 88–90). Das Zur-Schau-Stellen von (gelesenen) Büchern innerhalb eines größeren Ganzen, der Sammlung, präsentiert Gleichgesinnten die „Inszenierung einer Leseidentität“ (Knipp 2017: 184) und ermöglicht die „Repräsentation von Leseerlebnissen“ (Schneider 2018: 116). Von Relevanz ist es, welche Funktion die Bücher innerhalb der Biografie der Person einnehmen, beispielsweise in Form von Büchern, die in bestimmten Zeitabschnitten gelesen, aufbewahrt und zusammen gruppiert wurden (Benjamin 1991 [1931]: 396). Sie sind als „magische[…] Enzyklopädie“ (Benjamin 1991 [1931]: 389) Zeugen vergangener Rezeptionsprozesse und wurden offenkundig für wert befunden, als Bürgen der eigenen Biografie gesammelt zu werden (Vechinski 2013: 29). Auch die Zuschreibung, die Personen ihren präsentierten Büchern verleihen, spielen eine Rolle. Es kommt zu einem Sichtbar-Werden geteilter Zeichen auf mehreren Ebenen: Die Wertschätzung für Bücher, die mit dem Wunsch einher geht, diese planvoll und idealerweise dauerhaft zusammenzutragen sowie zu zeigen. Allerdings wurde bislang noch nicht hinreichend unter-

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sucht, warum sammelnde Personen ihre Bücher teilweise auf eine solch besondere Weise zur Schau stellen, dass dies dekorierende Züge bekommen kann. Habermas (1996: 131–135) liefert mit seinen Überlegungen zur (personalisierenden) Aneignung von Dingen zur Kennzeichnung des persönlichen Wohnraums Anreize, dies weiterzudenken. Coers (2016: 234–235) setzte Bücher mit Verweis auf deren ideelle und ästhetische Ausdruckskraft mit dem Mobiliar gleich, um zu begründen, warum sie als zierende Elemente, besonders auch in Bildbänden zum Leben mit Büchern, in Szene gesetzt werden.

3.3 Schenken 3.3.1 Wechselseitige Bezugnahme Schenken, verstanden als wechselseitige Bezugnahme, lässt sich auf den ersten Blick in der Tradition des sozialen Handelns von Max Weber verorten (Schmied 1996: 11). Dabei gehorcht es eigenen Regeln, die sich nach Bourdieu (2014b: 190–201; siehe auch die sechs Phasen des Gabentauschs bei Hillebrandt 2009: 154) besonders im Täuschen und Impliziten ausdrücken. Die beschenkte Person täuscht sich selbst, indem sie vorgibt, nicht zu wissen, dass die Gabe eine Gegengabe erforderlich macht. Die schenkende Person hingegen würde diese Tatsache genauso wenig aussprechen wie diejenige, dass sich hinter der Gabe ein ökonomischer Wert verbirgt. Damit lässt sich möglicherweise das Paradox der Gabe auflösen, die eigentlich, um ihrem Kern zu entsprechen, ohne Gegengabe auskommen müsste (Hillebrandt 2009: 141). Mit Bezug auf sein Konzept des Habitus löste Bourdieu sich davon, dass Handeln stets eine Intention haben müsse. Seiner Meinung nach beruhte Handeln auf der Illusio, dem Glauben an das Spiel, der Kenntnis der Spielregeln und deren Verinnerlichung. Beim wechselseitigen Geben ist die Voraussetzung ein gemeinsames Set an Wahrnehmungs- und Bewertungsmechanismen, wobei das symbolische Kapital als ‚Währung‘ dient. Diese haftet der Gabe an. Es kommt zu einer „Vermischung von Person und Sache“ (Quadflieg 2014: 121), so dass, mit Bezug auf Mauss, beim Schenken eine Akkumulation stattfindet, indem die schenkende Person einen Teil ihrer selbst mitschenkt. Beim Zurückschenken gibt die beschenkte Person etwas von sich zurück, was einen verstärkenden Charakter hat, weil die ursprünglich gebende Person nach wie vor präsent ist. Schwaiger (2011: 125 und 136–137) sah diesen Aspekt beim modernen Geschenk nicht mehr gegeben, hielt sie aber bei Buchgeschenken für nachweisbar. Einen konkreten Beleg dafür erbrachte er nicht, sondern nutzte die Möglichkeit des Sekundärzitats der bei Schmied (1996) angeführten Studie (Schulz 1983). Greift man den Akkumulationsgedanken nochmals auf, erscheint es naheliegend, dass auf ein Buchgeschenk als Gegengeschenk erneut eine Buchgabe erfolgt. Diese Annahme, allerdings bezogen auf die 1980er

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Jahre, konnte Schulz (1983: W 1669) erhärten. Die Gabe bekommt einen besonderen Stellenwert (Hahn 2014: 95; Quadflieg 2014: 122). Zugleich erlaubt sie Rückschlüsse auf die gebende Person, was nicht nur für die beschenkte Person, sondern auch die schenkende selbst von Belang ist (Quadflieg 2014: 124). Einen anderen Aspekt, ebenfalls mit Bezug auf Mauss, gab Schwaiger (2011: 28) mit dem Schenken als Totalphänomen an, das „mit emotionalen, ökonomischen, psychologischen, sozialen usw. und nicht zuletzt kommunikativen Aspekten aufgeladen“ ist. 3.3.2 (An-)Erkennen In engem Zusammenhang mit der wechselseitigen Bezugnahme kann Ricœrs Lesart der Gabe als wechselseitige Form der Anerkennung gesehen werden. Diese kommt besonders bei Freundschaften zum Ausdruck, um jene zu stabilisieren (Hillebrandt 2009: 136). Eine Studie aus den 1980er Jahren verdeutlicht dies. Dort konnte gezeigt werden, dass Buchgeschenke vor allem unter einander nahestehenden Personen zirkulierten (Noelle-Neumann und Schulz 1984: W 1824). Das Geschenk bestimmte Hillebrandt (2009: 215) als exklusiven und wechselseitigen Tausch, wobei die Sozialdimension sehr stark ausgeprägt ist. Die Beschaffenheit des Geschenks spielt hierbei eine entscheidende Rolle, „weil die Art des Geschenks anzeigen soll, welche Gefühle und Gedanken der Schenkende über den Beschenkten hat. Das Innere des Schenkenden wird im Schenken teilweise entäußert […]“ (Hillebrandt 2009: 147). Noelle-Neumann und Schulz (1984: W 1828, W 1837 und W 1862) attestierten regelmäßig lesenden Schenkenden ein hohes Einfühlungsvermögen in ihr zu beschenkendes Gegenüber. Zudem war es ihnen wichtig, positive Leseerlebnisse an andere weiterzugeben. Auch Gross (2001: 185) stellte beim Auswerten von Interviews zum Leseverhalten (Pfarr und Schenk 2001; Stiftung Lesen und Spiegel-Verlag 2001: 339– 357) in Bezug auf Buchgeschenke, allerdings ohne nähere Begründung, fest: Bücher „zirkulieren im Rahmen der sozialen Praxis ‚Geschenkeaustausch‘, sie stehen in der Regel sichtbar in Regalen, sie sind für Schenkende wie Beschenkte affektiv besetzt und mit der Schenksituation verbunden, und sie machen in diesem Rahmen Aussagen über Schenkende und Beschenkte.“ Gleichzeitig „bringt das Geschenk in der Funktion eines Souvenirs weiterhin die mit ihm verbundenen Kommunikationsinhalte des Schenkens […] z.  B. die Selbstdarstellung […] in Erinnerung“ (Schwaiger 2011: 136–137). Ob dieser Befund gleichermaßen für andere gegenständliche Geschenke gilt, ist unklar. Dabei scheint das Buchgeschenk einen besonderen Stellenwert zu haben, obwohl es ‚das‘ Geschenk, auch aufgrund seiner Vielgestaltigkeit und seines Eingebundenseins in verschiedene Kontexte, nicht geben kann (Komter 2007: 104). Beim Buchgeschenk lässt sich ein Spannungsgefüge zwischen Marktwert und intrinsischem Wert ausmachen. So belegte eine Studie aus den 1980er Jahren, dass Bücher zwar grundsätzlich gerne verschenkt, diese jedoch nicht als kostbares

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Geschenk eingestuft würden (Schulz 1983: W 1683). Eine andere aus dem Folgejahr ordnete Bücher aufgrund ihrer individuellen Passung für unterschiedlichste Personen als besondere Geschenke ein (Noelle-Neumann und Schulz 1984: W 1862).

4 Desiderate Es wurde deutlich, dass die theoretische Basis zu den hier behandelten Praktiken des Buchgebrauchs unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Einerseits fehlt teilweise die wissenschaftliche Fundierung wie bei Bibliophilie und, stärker noch, besonders bei Sammeln und Schenken sind Erkenntnisse aus anderen Disziplinen vorhanden, ohne dass diese bislang auf das Buch übertragen worden wären. Andererseits werden oftmals buchbezogene Zuschreibungen getroffen und der Sonderstatus des Buchs betont, ohne dass dies begründet oder hinterfragt würde. Dieser ‚Überhöhung‘ des Buchs (siehe VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik in diesem Band) konnte unter Zuhilfenahme von Bourdieus kultursoziologischen Ansätzen begegnet werden, indem die kulturellen Praktiken in differierenden Ausprägungen berücksichtigt wurden. Besonders durch die starke Verzahnung von Bibliophilie und Sammeln und um weitere Praktiken des Buchgebrauchs berücksichtigen zu können, war es gewinnbringend, in diesem Beitrag nach deren Leistungen zu fragen. Dies erwies sich einerseits als sinnvoll, weil damit neben allen gemeinsamen Merkmalen des Erkennens und Anerkennens weitere identifiziert werden konnten. Andererseits ist der Fokus auf diese hilfreich, weil so die Vielfalt des Buchs und die damit einhergehenden variablen Praktiken eingefangen werden können. Es zeigte sich weiterhin, dass häufig eine einseitige Perspektive eingenommen wurde. Der Akzent lag entweder auf Akteuren, Dingen oder der Praxis. Eine umfassende Betrachtung aller Elemente wäre zielführender. Für Bibliophilie, Sammeln und Schenken konnte aufgedeckt werden, dass sie sich alle als Praxisformationen fassen lassen. Eine tiefergehende Beschäftigung würde die Praktiken des Buchgebrauchs besser erschließen. Dabei wäre ein praxistheoretischer Zugang fruchtbar. Die Frage, was Menschen mit Büchern machen, ließe sich ausdehnen darauf, was sie mit Hilfe ihrer Bücher zeigen und darstellen (wollen), welches Verständnis von Büchern sie teilen, welche Zwecke und Zielsetzungen sie mit dem buchbezogenen Umgang oder Gebrauch verfolgen, wodurch dieser reglementiert wird und was er wiederum in den beteiligten Menschen auslöst (Hirschauer 2016: 58; Schatzki 2016: 33). Die Freude am und Liebe zum Buch, verstanden als ästhetische Praxis (Reckwitz 2008: 302–308), könnte so umfassender nachvollzogen werden: Sie lenkt die Wahrnehmungsprozesse, setzt kreative Akte frei, die den Umgang mit Büchern ermöglichen, folgt einem Motto, das lauten könnte ‚Ich liebe Bücher, also werde ich‘

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und löst positive Emotionen aus, ohne in erster Linie dem Nützlichen verschrieben sein zu müssen. Da Praktiken einem Bedeutungswandel unterworfen sind (Reckwitz 2003: 294), lassen sie sich werturteilsfrei und im zeitlichen Verlauf erfassen.

Literatur Acker, Kristina. Bücherlust und -nutz: Begriff, Geschichte und Bedeutung von Bibliophilie: Eine Befragung bibliophiler Gesellschaften und ihrer Mitglieder. Saarbrücken 2008. Assmann, Aleida. „Sammeln – Sammlungen – Sammler.“ Erleben, Erleiden, Erfahren: Die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft. Hrsg. von Kay Junge, Daniel Šuber und Gernot Gerber. Bielefeld 2008: 345–353. Assmann, Aleida; Gomille, Monika, und Gabriele Rippl (Hrsg.). Sammler – Bibliophile – Exzentriker. Tübingen 1998. Baudrillard, Jean. Das System der Dinge: Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Frankfurt am Main 1991. Benjamin, Walter. „Ich packe meine Bibliothek aus.“ Gesammelte Schriften. Band 4.1. Hrsg. von Tillman Rexroth. Frankfurt am Main 1991 [1931]: 388–396. Benne, Christian. „Ästhetik der verpassten Chancen: Georg Witkowski zwischen Philologie und Bibliophilie.“ Ästhetische Erfahrung und Edition. Hrsg. von Rainer Falk und Gert Mattenklott. Tübingen 2007: 199–211. Bogeng, Gustav Adolf Erich. Einführung in die Bibliophilie. Hildesheim, Zürich, New York 1984 [1931]. Boltanski, Luc, und Arnaud Esquerre. Bereicherung: Eine Kritik der Ware. Berlin 2018. Bosch, Aida. „Identität und Dinge.“ Handbuch Materielle Kultur: Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Hrsg. von Stefanie Samida, Manfred K.H. Eggert und Hans Peter Hahn. Stuttgart und Weimar 2014: 70–77. Bourdieu, Pierre. Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 24. Aufl. Frankfurt am Main 2014a. Bourdieu, Pierre. Kunst und Kultur: Zur Ökonomie symbolischer Güter. Berlin 2014b. Coers, Albert. „‚… statt Lesen‘ – künstlerische Zweckentfremdungen des Buches: Lesbarkeit und Lebenswelt – Funktionen des Buches.“ Zweckentfremdung: ‚Unsachgemäßer‘ Gebrauch als kulturelle Praxis. Hrsg. von David Keller und Maria Dillschnitter. Paderborn 2016: 233–252. Csíkszentmihályi, Mihaly, und Eugene Rochberg-Halton. The Meaning of Things: Domestic Symbols and the Self. Cambridge 1981. Dittmar, Helga. The Social Psychology of Material Possessions. Exeter 1992. Eco, Umberto. Die Kunst des Bücherliebens. München 2009. Erler, Ingolf. Das Buch als soziales Kapital: Die Umwandlung von objektiviertem kulturellem Kapital in symbolisches Kapital. Norderstedt 2005. Friedsam, Britta. Das illustrierte literarische Gebrauchsbuch bei der Büchergilde Gutenberg. urn:nbn:de:bvb:29-opus4-58521. Erlangen: OPUS FAU 2008 (8. März 2022). Galle, Heinz J. „Groschenhefte, Reihen und Serien als Sammelgebiete.“ Imprimatur: Ein Jahrbuch für Bücherfreunde. Neue Folge 18 (2003): 167–188. Gross, Sabine. „Das Buch in der Hand: Zum situativ-affektiven Umgang mit Texten.“ Leseverhalten in Deutschland im neuen Jahrtausend: Eine Studie der Stiftung Lesen. Hrsg. von Stiftung Lesen und Spiegel-Verlag. Mainz, Hamburg 2001: 175–197.

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IV Bücher im Medienkontext

IV.1 Intermedialität Irina Rajewsky

1 Gegenstandsbereich „No medium today, and certainly no single media event“, so Jay David Bolter und Richard Grusin (2000 [1999]: 15) in ihrem einflussreichen Band Remediation: Understanding New Media, „seems to do its cultural work in isolation from other media, any more than it works in isolation from other social and economic forces.“ Bolter und Grusin bringen einen grundlegenden Tatbestand auf den Punkt, der mit dem digitalen Wandel und den hiermit einhergehenden, tiefgreifenden Veränderungsprozessen zunehmend offensichtlicher geworden, von der Sache her aber keineswegs auf die gegenwärtige Medienkultur und -praxis beschränkt ist, eben die Tatsache, dass Medien nicht isoliert voneinander operieren, sondern immer schon aufeinander bezogen sind und bezogen werden (Schröter 1998: 129): Medienkulturen sind immer dynamische mediale Relationsgefüge, in denen mediale Kontexte zusammenwirken und ineinandergreifen, komplexe Austausch-, Adaptions- und Transformationsprozesse, mediale Interaktionen und Interferenzen stattfinden, und nicht zuletzt mediale Grenzen und Differenzen fortwährend verschoben und beständig (neu-)ausgehandelt werden. Ebenso offenkundig ist, dass an der Basis jeder Medienerkenntnis und mithin unserer historisch wandelbaren Auffassungen ‚einzelner Medien‘ (so auch des Buchs) stets und notwendigerweise ein Zueinander-In-Beziehung-Setzen unterschiedlicher Medien bzw. je spezifischer medialer Formate, Konstellationen und Nutzungszusammenhänge steht; ein Umstand, der auch in Zeiten digital vernetzter Medien, medialer Verbundsysteme und fortlaufender Remediatisierungsprozesse nicht an Relevanz verliert (aus filmwissenschaftlicher Perspektive z.  B. Ruchatz 2021 [2018]).

2 Forschungsübersicht 2.1 Inter- und Transmedialität Zur Analyse medialer Relationen sind in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Begriffe, Kategorien und Konzepte eingeführt worden, die auch in der Buchforschung eine zentrale Rolle spielen. Als besonders einflussreich haben sich dabei die Konzepte Intermedialität (seit den 1980er / 1990er Jahren) und Transmedialität (seit Anfang / Mitte der 2000er Jahre) erwiesen, die die einschlägigen Debatten wie auch grundlegende Entwicklungen innerhalb des literatur- bzw. allgemein geisteshttps://doi.org/10.1515/9783110745030-008

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 IV.1 Intermedialität

und medienkulturwissenschaftlichen Feldes (siehe zur Herausbildung der ‚Medienkulturwissenschaft‘ Ruf et al. 2022, insb. Kapitel 2) in entscheidendem Maße geprägt haben. Hier ist zu berücksichtigen, dass in traditionell literaturwissenschaftlich verankerten Forschungsfeldern wie der Erzähl- oder der Fiktionstheorie Fragen des Mediums oder der Medialität bis weit in die 1990er Jahre hinein (und teilweise darüber hinaus) noch kaum eine Rolle spielten. Erst um 2004 / 2005 entwickelt sich im Kontext der ‚post-klassischen‘ Erzähltheorie z.  B. der Zweig der ‚transmedialen Narratologie‘ (transmedial narratology); später das größere Feld der ‚Transmedialitätsforschung‘ (transmediality studies) im Allgemeinen. In diesen, vorwiegend auf der Grundlage ‚traditioneller Medien‘ entwickelten Ansätzen geht es darum, bereits vorhandene Forschungsfelder in Richtung anderer Künste und Medien zu öffnen und somit ‚transmedial‘ zu erweitern, die für sie relevanten Gegenstände (eben z.  B. das Erzählen oder bestimmte Erzählverfahren und -strukturen) also aus einer medienübergreifenden und -vergleichenden Perspektive und folglich ‚across media‘ in den Blick zu nehmen (zur transmedialen Narratologie Ryan 2004 und 2005; Wolf 2011; Kuhn 2011; Rajewsky 2013; Thon 2016; zur Fiktionstheorie Klauk und Köppe 2014; Enderwitz und Rajewsky 2016). Mit dem in etwa zeitgleich entstehenden internationalen Feld der ‚transmedia studies‘ ist dagegen ein etwas anders gelagertes Verständnis von Transmedialität aufgerufen, das sich aufbauend auf dem von Henry Jenkins eingeführten Konzept des ‚transmedia storytelling‘ und damit eng verkoppelt mit Fragen der Medienkonvergenz im Zeitalter des Digitalen herausgebildet hat (Jenkins 2003, 2008 [2006] und 2007). Der Fokus lag hier von Anfang an auf der gegenwärtigen Medienkultur und den digitalen Transformationen von Kultur und Gesellschaft. Damit verbindet sich ein breites Spektrum von Fragestellungen, die im Kontext digitaler bzw. digital vernetzter Medien und Medienverbünde relevant werden (‚convergence culture‘, ‚participatory culture‘, ‚networked culture‘ usw.) – und dies inzwischen auch weit über Praktiken des ‚transmedia storytelling‘ hinaus (‚transmedia branding‘, ‚transmedia journalism‘, ‚learning / education‘, ‚play‘, ‚activism‘ usw.; hierzu Herr-Stephenson et al. 2013: 13–15; Freeman und Rampazzo Gambarato 2019). Zum gemeinsamen Bezugspunkt der verschiedenen Ansätze wird der für die heutige Medienpraxis ebenso grundlegende wie weitreichende Befund, dass „[a]round the globe, people now engage with media content across multiple platforms, following stories, characters, worlds, brands and other information across a spectrum of media channels“ (Freeman und Rampazzo Gambarato 2019: Klappentext). Der Begriff Transmedialität dient in diesem Feld dementsprechend zur Bezeichnung einer globalen Strategie und Praxis der gegenwärtigen Medienkultur, als „important concept for understanding the fundamental shifts that digital media technologies have wrought on the media industries and their audiences“ (Freeman und Rampazzo Gambarato

2 Forschungsübersicht 

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2019: 2), oder auch als Begriff, „[which] foregrounds a major operational logic of culture that has become especially explicit in this era of new media developments“ (Sütiste und Giannakopolou 2020). Der Begriff der Transmedialität gehört inzwischen zu den meistbeachteten der aktuellen Debatten. Entgegen mancher Vorhersage (z.  B. Meyer et al. 2006; Zwernemann 2007) hat dies dem nachhaltigen Erfolg des Intermedialitätsbegriffs allerdings keinen Abbruch getan. Vielmehr haben sich ‚Inter-‘ und ‚Transmedialität‘ in weiten Teilen der Forschung über die letzten Jahre hinweg als zwei eigenständige Forschungsparadigmen etabliert, die nebeneinander Bestand haben (Poppe 2010; Thon 2015; Ritzer und Schulze 2016; Jakobi 2020). In diesem Sinne sind Inter- und Transmedialität als zwar eng miteinander verwandte und sich überlagernde, aus heuristischer Sicht aber gleichwohl als voneinander abzugrenzende Kategorien gefasst worden (Rajewsky 2002), das heißt als einander beigeordnete, komplementäre Konzepte, mit denen unterschiedliche Perspektiven auf (je einschlägige) mediale Praktiken und mithin unterschiedliche Zielrichtungen und Erkenntnisinteressen der jeweiligen Ansätze ins Spiel kommen (siehe Rajewsky 2013, in etwas anderem Verständnis und konkret auf die Buchforschung bezogen auch Schanze 2010: 150–152). Mit seiner Einführung in den frühen 1980er Jahren (zunächst mit eher vereinzelten Ansätzen im Bereich der deutschsprachigen Literatur- und Medienwissenschaft, zuerst Hansen-Löve 1983; siehe auch Heller 1986) steht der Intermedialitätsbegriff paradigmatisch für ein in diesen Jahren einsetzendes und in der Folge stetig anwachsendes Interesse an medialen Relationen, Interaktionen und Interferenzen. Bereits in Hansen-Löves Aufsatz Intermedialität und Intertextualität: Probleme der Korrelation von Wort- und Bildkunst von 1983 werden die mediale Differenz zwischen den Künsten sowie eine Komplementärstellung der Konzepte Intertextualität und Intermedialität betont (siehe auch Rajewsky 2014), womit Hansen-Löve entscheidende Ansatzpunkte für die nachfolgende Forschung geliefert hat. Eingeläutet wurde damit zugleich eine grundlegende Aufmerksamkeitsverschiebung auf Fragen der Medialität und Materialität künstlerischer und allgemein kultureller Praktiken und mithin auf medien(kultur)wissenschaftlich und medialitätstheoretisch verankerte Fragestellungen innerhalb der literatur- bzw. kunst- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Mit Blick auf Fragen der Intermedialität im Zusammenhang mit Büchern, auf die sich dieser Beitrag im Folgenden konzentrieren wird, lässt sich in diesem Zusammenhang beispielhaft auf Helmut Schanze verweisen, der bereits 2010 (150–151) darauf hingewiesen hat, dass „[e]in Großteil der gegenwärtigen Buchforschung“ de facto „Intermedialitätsforschung“ sei, und zwar gerade auch im Sinne einer enger gefassten Intermedialitätskonzeption: „Der Prozess der Intermedialität“, so Schanze, stellt das Buch nicht nur „in den Kontext der anderen Medien“ – womit

190 

 IV.1 Intermedialität

er zunächst auf ein weit gefasstes Intermedialitätsverständnis, das heißt auf „Relationen zwischen den Medien im Sinne einer immer gegebenen Intermedialität“ abhebt –, sondern sei „höchst prominent […] auch ‚im Buch‘ selber“ zu beobachten und zu erforschen. Mit Letzterem scheint Schanze auf ein spezifischer gefasstes Intermedialitätsverständnis zu zielen, nämlich, so interpretiert ihn Ulrike Felsing (2021: 73), auf „Intermedialität, die sich auf die Kombination von Texten und Bildern in Büchern“ bezieht. Damit rücken Text-Bild-Relationen in den Vordergrund, die im Rahmen der (literaturzentrierten) Intermedialitätsforschung von Anfang an eine herausgehobene Stellung eingenommen haben (etwa im Kontext der Emblematik, sogenannter Foto-Texte oder auch von Comics oder Graphic Novels). Hervorzuheben ist allerdings zugleich, dass sich herkömmliche Intermedialitätsansätze in diesem Kontext kaum je mit dem ‚Buch‘ oder mit buchwissenschaftlich relevanten Fragestellungen auseinandergesetzt haben, hier also die Tatsache, dass entsprechende Text-BildRelationen (zumindest im Kontext der Printkultur) in aller Regel ‚in einem Buch‘ in Erscheinung treten, kaum Beachtung gefunden hat. Hier ergeben sich insofern offene Fragen und Diskussionspunkte, und dies tatsächlich nicht erst, wie Schanze (2010: 151) argumentiert, in Bezug auf den „gegenwärtige[n] Medienumbruch“, den digitalen Wandel und die hiermit einhergehende grundlegende Repositionierung des Buchs im medialen Gesamtgefüge. Fragen dieser Art können im Rahmen dieses Beitrags nicht umfassend diskutiert, aber doch zumindest in ihren Implikationen angedeutet werden.

2.2 Intermedialität im Kontext der Buchforschung Fragt man nach dem Stand der Intermedialitätsforschung speziell in Bezug auf den Bereich der Buchforschung, ist zunächst einmal der Tatsache Rechnung zu tragen, dass sich literaturwissenschaftlich verankerte Intermedialitätsansätze  – wie ja auch überhaupt die Literaturwissenschaft – lange Zeit nur sehr bedingt für das Buch, sondern so gut wie ausschließlich für den Text interessiert haben. Dementsprechend sind auch Ansätze, wie sie im Kontext der Buchforschung bzw. der ‚textual studies‘ oder ‚bibliography‘ bereits seit den 1980er Jahren u.  a. von Jerome McGann vorangetrieben worden sind (McGann 1991; siehe auch Darnton 2002 [1982]; Chartier 1992; McKenzie 2002 [1986] und 1999; Bornstein und Tinkle 1998), in der Literaturwissenschaft lange Zeit unbeachtet geblieben, und sind z.  B. auch intermedialitätstheoretisch relevante Kategorien wie die der Medienkombination, des Medienwechsels oder der intermedialen Bezugnahme (siehe Abschnitt  3) in den einschlägigen Ansätzen gedanklich auf der Grundlage des (literarischen) Textes entwickelt und konzipiert worden. Speziell buchbezogene Fragestellungen

2 Forschungsübersicht 

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haben in den hier einschlägigen Ansätzen und Untersuchungen (sieht man einmal von Spezialfeldern wie der Kinder- bzw. Bilderbuch-Forschung oder Studien zu illuminierten Handschriften ab) bisher kaum eine Rolle gespielt. An der traditionsreichen „Buchvergessenheit“ der Literaturwissenschaft (Spoerhase 2016: 49) hat insofern auch die innerhalb der literatur- und allgemein kunstwissenschaftlichen Disziplinen seit Aufkommen der Intermedialitätsdebatte immer gezielter vorangetriebene ‚media awareness‘ zunächst einmal nichts geändert. Wie verdeutlicht, sind hiermit zwar ganz dezidiert Fragen der Medialität und Materialität der jeweiligen Gegenstände, die zentrale Relevanz medialer Relationen, Interaktionen und Interferenzen und nicht zuletzt das heuristische Potential medienkulturwissenschaftlicher und insbesondere medienkomparatistischer Zugangsweisen in den Fokus der Forschung gerückt, der Kategorie und dem Medium ‚des Buchs‘ ist in diesem Zusammenhang aber dennoch kaum Aufmerksamkeit gezollt worden. Die Hinwendung zu Fragen der Medialität und Materialität und ganz allgemein „zur Kultur- und Medienforschung, die in den letzten Jahrzehnten als wirkungsmächtiger turn für viele Problemstellungen und Gegenstandsbildungen der Literaturwissenschaft maßgeblich wurde,“ ist, wie es Georg Stanitzek (2013: 158) gefasst hat, „bezogen auf die Kategorie des Buchs“ vielmehr „signifikant folgenlos geblieben.“ Im Zentrum der einschlägigen Überlegungen, Theorien und Modellbildungen stand der Text, das heißt das sprachliche und genauer schriftsprachliche Artefakt, nicht auch (oder zumindest nicht explizit auch) das (gedruckte) Buch als dessen Trägermedium. Fragt man nach dem Forschungsstand zum Problemkomplex der ‚Intermedialität von / in Büchern‘, muss insofern konstatiert werden, dass dieser – zumindest aus Sicht bestehender Intermedialitätsansätze – bisher im Grunde so gut wie inexistent ist. In den letzten Jahren sind in diesem Zusammenhang allerdings auch signifikante Veränderungen zu verzeichnen. Wenn sich dies bisher auch noch kaum in der Theoriebildung niederschlägt, kann beim heutigen Stand der Dinge von einer ‚Buchvergessenheit‘ der Literaturwissenschaft doch nicht mehr die Rede sein. Vielmehr ist innerhalb der literaturwissenschaftlichen Disziplinen, nach eher vereinzelten Beiträgen in den 2000er Jahren (z.  B. Wehde 2000, Hayles 2002 und 2004), ungefähr seit 2010 ein bemerkenswerter Aufmerksamkeitsschub für die Medialität und Materialität speziell des Buchs festzustellen, was sich in einer Vielzahl einschlägiger Publikationen niedergeschlagen hat (verwiesen sei hier z.  B. auf das von Monika Schmitz-Emans [2019] vorangetriebene ‚Großprojekt‘ zu Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst: Ein Kompendium, auf zahlreiche rezente Beiträge im Kontext sog. ‚bookish books‘ oder auch auf neu entstandene Buch-Reihen, wie etwa die 2013 gegründete Reihe Ästhetik des Buches des Wallstein-Verlags, in der u.  a. themenrelevante Beiträge von Spoerhase [2016] und Boyken [2020] erschienen sind). Damit einhergehend sind nicht nur ganz allgemein die Relevanz der medial-

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 IV.1 Intermedialität

materiellen, physischen Erscheinungsform literarischer Texte (wie auch von TextBild-Relationen usw.), sondern gerade auch Fragen nach deren bedeutungsstiftender oder, mit Tore Rye Andersen (2013: 112), nach deren „co-authoring function“ in den Fokus gerückt (so nicht nur im Bereich der Literaturwissenschaft, sondern z.  B. auch in den ‚translation studies‘, z.  B. Kaindl 2013; zum Konzept einer ‚materiellen Übersetzung‘ Sørensen 2023) (siehe auch II.1 Materielle Semantiken in diesem Band). In Anbetracht des Zeitpunkts, an dem diese Entwicklung eingesetzt hat, lässt sich dies nicht anders als im Sinne eines Rückkoppelungseffekts des Digitalen interpretieren, das heißt als eine Entwicklung, die in direktem Zusammenhang mit der digitalen Transformation unserer Kultur und Gesellschaft und den damit einhergehenden tiefgreifenden Veränderungsprozessen steht bzw. auf diese reagiert (Hayles 2002 und 2004; Andersen 2013). Dementsprechend ist der Literaturwissenschaft ihre traditionelle Ausblendung des Buchs in seiner materiellen, physischen Gestalt auch erst in diesen Jahren überhaupt zu einem – kritisch zu reflektierenden – Thema geworden, wie sich dies dann auch in (polemisch gehaltenen) Einlassungen wie derjenigen Georg Stanitzeks zeigt: „Literaturwissenschaftler“, so Stanitzek (2013: 158), „verstehen meist wenig von Büchern“, ein Umstand, der „[i]n der gegenwärtigen Lage einer neuartigen Repräsentation oder sogar Transposition der klassischen biblionomen Sphäre ins Digitalmedium“ besonders auffalle, „wäre jetzt doch ein Wissen über das bis dato genuine Medium der Literatur gefragt.“ Eine entsprechende Entwicklung zeigt sich bezeichnenderweise auch innerhalb des literarischen Feldes selbst. Auch hier ist seit der Jahrtausendwende ein deutlich gesteigertes Interesse an den Trägermedien literarischer Texte zu beobachten, und zwar – allen im Kontext der Digitalisierung neu aufgeflammten ‚death of the book‘-Diskursen zum Trotz (zu historischen Traditionslinien dieser Diskurse Spoerhase 2016; Lauer 2020) – gerade am Medium des Buchs. So sind zunehmend „[literary] works“ zu verzeichnen, „[which] experiment with the possibilities of book form, playing with the graphic dimensions of text, incorporating images, and testing the limits of the book as a physical and tactile object“ (Gibbons 2012: 420). Ein Phänomen, ja regelrechter „trend in novels published since 2000“ (Pressman 2009: 465), der in der Forschung als „Wiederentdeckung des Buches im Roman“ (Boyken 2020) umschrieben worden ist, aber auch unter den Begriffen der Intermedialität und Multimodalität bzw. der ‚multimodal novel‘ verhandelt wird (Hallet 2014; Gibbons 2010 und 2012; Nørgaard 2009 und 2010). Jessica Pressman hat ihn auf den Nenner einer (im digitalen Zeitalter in neuartiger Weise zutage tretenden) „aesthetic of bookishness“ gebracht (Pressman 2009; siehe zum Konzept der ‚­bookishness‘, hier allerdings deutlich weiter gefasst, auch Pressman 2020). Angefangen mit Mark Z. Danielewskis berühmt gewordenem Roman House of Leaves von 2000, der schon auf den ersten Blick durch seine typografischen und layouttechnischen Besonderheiten auffällt, sind in den folgenden Jahren international

2 Forschungsübersicht 

 193

immer mehr literarische Werke, insbesondere Romane erschienen (siehe aber auch Anne Carsons Nox, 2010), die nicht nur ganz bewusst als gedruckte (und häufig aufwändig produzierte) Bücher publiziert worden sind, sondern gerade auch ihre eigene ‚Buchhaftigkeit‘ ostentativ und selbstreflexiv zur Schau stellen. In der Traditionslinie Laurence Sternes (Tristram Shandy, 1759–1767) und Lewis Carrolls (Alice in Wonderland, 1865) und zugleich deutlich geprägt durch experimentelle Verfahren der Moderne (von Mallarmé über die historischen Avantgarden und die Konkrete Poesie bis hin zum experimentellen Roman wie auch zum Künstlerbuch der 1960er und 1970er Jahre) experimentieren diese ‚Texte‘ in zum Teil überaus auffälliger Weise mit ihrer materiellen, visuell und haptisch erfahrbaren Gestaltung (angefangen mit Typografie, Layout und (foto)grafischen Elementen, aber auch weit hierüber hinaus, z.  B. J. J. Abrams’ und Doug Dorsts S. von 2013) (siehe auch II.2 Gestaltung in diesem Band) – und lassen ihre materielle Dimension und Buchgestalt dabei ganz gezielt zu einem integralen Bestandteil des jeweiligen Werks, seiner Narrativität, Bedeutungskonstitution und Sinnstiftung werden. Damit wird das lange Zeit in der Latenz verbliebene Trägermedium der Literatur, wird also das Buch ‚als Buch‘ ins Bewusstsein gehoben und über verschiedenste Verfahren metamedial als solches reflektiert und ausgestellt. Ins Bewusstsein rückt es damit zugleich in seiner konkreten physischen Präsenz: als materieller Träger des ‚Textes‘ wie auch als physisches, sinnlich erfahrbares Objekt, als kulturelles ‚Ding‘ in eigenem Recht. Wie in der Forschung bereits ausführlich diskutiert, ist auch das Phänomen einer solchen ‚new bookishness‘ im größeren Kontext des digitalen Zeitalters zu sehen (Pressman 2009; Hayles 2013; Plate 2015). Die (ihrerseits durchweg digital produzierten) ‚bookish books‘ sind mithin auf der Folie der heutigen radikal veränderten medialen Gesamtsituation (inklusive einschlägiger Produktionsprozesse und Distributionsstrukturen) zu betrachten, durch die sie bestimmt und auf die sie bezogen sind und auf die sie in aller Regel auch ganz explizit Bezug nehmen (womit erneut intermediale Relationen, hier speziell Verfahren der intermedialen Bezugnahme und insbesondere auch Fragen der Analog/Digital-Differenz ins Spiel kommen). Auch für das Phänomen der ‚new bookishness‘ kommt insofern der grundlegend veränderten ‚Stellung‘ des gedruckten Buchs im medialen Gesamtgefüge und mithin der Tatsache Relevanz zu, dass das Buch heute nurmehr als eine von vielen Optionen aufzufassen ist, über die (literarische) Texte vermittelt, verbreitet und rezipiert werden: Das Buch „hat seinen Status als Dominanzmedium verloren. Es ist ein Medium unter anderen geworden“ (Schanze 2010: 151). Eben hieraus ergibt sich  – nur scheinbar paradoxerweise  – aber auch die ‚neue Relevanz‘ des Buchs. Hier ist zum einen der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Veränderungsprozesse der digitalen Transformation sämtliche Bereiche unserer Kultur und Gesellschaft betreffen, das heißt nicht nur die digitalen Medien und Technologien selbst, nicht nur die sogenannten ‚neuen‘ Medien, sondern auch

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 IV.1 Intermedialität

unseren Umgang mit und unsere Wahrnehmung der sogenannten ‚alten‘. Wie es Peter Weibel bereits 2005 (10) kurz und knapp gefasst hat: „Mit den Erfahrungen der neuen Medien werfen wir einen anderen Blick auch auf die alten Medien“ – oder mit Karin Littau (2019: 169), hier nun speziell auf das Buch bezogen: „If the digital sphere has prompted us to rethink writing and translation, it has also prompted us to rethink the book medium.“ Wie sich dies in Littaus ‚rethinking the book medium‘ bereits andeutet, wird zum anderen aber auch relevant, dass die traditionellen ‚Analog-Medien‘ heute nicht nur anders wahrgenommen werden, sondern auch in andere ‚Systemstellen‘, Produktions- und Nutzungszusammenhänge innerhalb eines veränderten medialen Relationsgefüges eingerückt, also auch ihrerseits ganz dezidiert im Kontext des Digitalen verortet und zu denken sind und gerade auf dieser Grundlage neu in den Blick rücken. „Faced with alternative technologies,“ so z.  B. auch John T. Hamilton (2018: 33) in einem kritischen Beitrag zur verbreiteten ‚Endzeitstimmung‘ bezüglich des Buchs und der Buchkultur im Zeitalter des Digitalen „the givenness of the book as an object of consciousness, the phenomenology of the codex, comes into stronger relief precisely as that which is presumed to go missing in our traffic with electronic formats. The presence of the screen or tablet invites a reassessment of the form and function of the physical library.“ Dementsprechend sind die ‚bookish books‘ mit ihrer besonderen Hervorhebung des Buchs in seiner konkreten, materiell-physischen, ‚analogen‘ Gestalt gerade im Kontext digital vernetzter Medien und einer digital geprägten Kultur und Gesellschaft zu sehen und von hier aus zu reflektieren – bzw. wird das Medium des Buchs im Zeitalter des Digitalen, wie diese Werke mit aller Deutlichkeit vor Augen führen, von hier aus wahrgenommen, reflektiert, genutzt und dabei gerade auch physisch-materiell produktiv gemacht.

3 Theoretische Perspektivierung Gehört der Intermedialitätsbegriff inzwischen längst zum festen Inventar der geistes-, kultur- und medienwissenschaftlichen Disziplinen, so ist dies zugleich mit einer Vielzahl heterogener Ansätze und Begriffsverwendungen verbunden. Der Gegenstandsbereich der Intermedialitätsforschung ist unterschiedlich definiert, das Intermediale selbst mit immer wieder anderen Zuschreibungen und Eingrenzungen belegt worden, und insgesamt liegt eine Fülle unterschiedlicher Herangehensweisen und Forschungsperspektiven vor. Bedenkt man die allgemeine Wortbedeutung und Herleitung des Begriffs, ist dies auch nicht weiter erstaunlich: In Anlehnung an Konzepte der Intertextualität (‚Beziehungen zwischen Texten‘) und in Erweiterung des ‚interart‘-Begriffs (‚Beziehungen zwischen Künsten‘) bezeichnet Intermedialität zunächst einmal im weitesten Sinne ‚Beziehungen zwischen

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Medien‘, potenziell also jegliche Art der Interrelation. Dementsprechend ist die Frage, welche Arten von medialen Relationen, Interdependenzen, Interaktionen oder Verflechtungen zwischen Medien mit dem Begriff der Intermedialität erfasst werden sollen und wie diese im Einzelnen zu definieren sind, seit Aufkommen der Intermedialitätsdebatte in immer wieder anderer Weise beantwortet worden. Etabliert hat sich der Intermedialitätsbegriff folglich als ein Sammelbegriff, der immer wieder unterschiedlich (und nicht selten recht vage) gebraucht, mit unterschiedlichen Theorieentwürfen belegt und unter den schon in den 1990er Jahren eine Vielzahl heterogener Gegenstände und Fragestellungen subsumiert worden ist. Nach einer Phase der Entwicklung intermedialer Forschungsperspektiven und diversen Versuchen (wie auch Forderungen nach) einer „terminologischen und konzeptionellen Präzisierung“ (Helbig 1998: 9; frühe Forschungsüberblicke bieten Mertens 2000; Rajewsky 2002), hat sich die Intermedialitätsdebatte seit Anfang / Mitte der 2000er Jahre – auch theoretisch-methodisch – nochmals erheblich weiterentwickelt und ausdifferenziert. Insgesamt betrachtet ist insofern nicht nur unterschiedlich gelagerten Ansätzen und Begriffsauffassungen, sondern längst auch verschiedenen historischen Stadien und je aktuellen Entwicklungen der Intermedialitätsforschung Rechnung zu tragen (für eine Bestandsaufnahme Rippl 2015; Pethő 2018). Die Herausbildung neuer Medien und ganz allgemein medienhistorische Entwicklungen und Umbruchsituationen, Fragen der Medienerkenntnis oder der grundlegenden Funktionslogik von Medien sind ebenso Gegenstand der Intermedialitätsforschung wie die Untersuchung konkreter künstlerischer und allgemein kultureller intermedialer Praktiken. Dies führt zurück zu weiter und enger gefassten Intermedialitätsbegriffen, womit zunächst zwei grundsätzlich voneinander zu differenzierende Auffassungen von Intermedialität in den Blick kommen, wie sich dies bereits in den obigen Ausführungen zu Schanze (2010) angedeutet hatte. Zum einen sind Ansätze zu verzeichnen, die Intermedialität als eine allgemeine Größe der Medienkultur, das heißt als kulturelles bzw. mediales Basisphänomen veranschlagen, mit dem Intermedialitätsbegriff also auf „Relationen zwischen Medien im Sinne einer immer gegebenen Intermedialität“ zielen (Schanze 2010: 150). Bei allen Unterschieden, die sich dann – je nach Ausrichtung und (fach-)spezifischem Erkenntnisinteresse – zwischen den einzelnen Ansätzen und Modellbildungen ergeben mögen: In der einen oder anderen Weise geht es ihnen doch allen um den eingangs angesprochenen, grundlegenden Sachverhalt, dass Medien, synchron wie diachron, in komplexen medialen Relationsgefügen stehen, also durch ihr Verhältnis zu anderen Medien bestimmt sind und auch stets in Relation zu anderen Medien wahrgenommen bzw. konzeptualisiert und theoretisiert werden. Überlegungen dieser Art spielen für allgemeine Fragen der Medienerkenntnis wie auch der Herausbildung, Ausdifferenzierung und grundlegenden Funk-

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 IV.1 Intermedialität

tionslogik von Medien eine wesentliche Rolle. Dementsprechend wird ein solches Intermedialitätsverständnis vorwiegend in Ansätzen vertreten, denen es um übergreifende medientheoretische, medienphilosophische, medienhistorische bzw. -genealogische oder mediensoziologische Fragestellungen geht. So ist Intermedialität aus medienphilosophischer Perspektive als „eine epistemische Bedingung der Medienerkenntnis“ ausgewiesen worden (Krämer 2003: 82). Ganz ähnlich sprechen André Gaudreault und Philippe Marion (2002: 15–16) aus mediengenealogischer Sicht davon, dass „[a] good understanding of a medium […] entails understanding its relationship to other media: it is through intermediality […] that a medium is understood“, und gehen davon aus, dass „intermediality [is] found in any process of cultural production.“ In ihrer Studie zu Prozessen der Remediatisierung gelangen auch Jay David Bolter und Richard Grusin (2000) zu dem Ergebnis, dass „all mediation is remediation“ (55) und dass mithin „a medium is that which remediates“ (65), wobei sich ‚remediation‘ mit Bolter (2005: 13) zugleich als eine „particular form of intermediality“ fassen lässt. Aus der Warte anderer, insbesondere auch literaturwissenschaftlich fundierter Ansätze erweist sich ein solches Begriffsverständnis dagegen kaum als hilfreich: Wird Intermedialität zur Bezeichnung von Beziehungen zwischen Medien im weitesten Sinne, das heißt im Sinne des generellen ‚Aufeinanderbezogen-Seins‘ bzw. einer stets anzusetzenden ‚interrelatedness‘ von Medien herangezogen und somit als mediales Basisphänomen konzipiert, verliert der Begriff in logischer Konsequenz jegliche Trennschärfe und mithin an analytischer Aussagekraft. Denn dann ist folglich kein Medium und keine mediale Praxis nicht von Intermedialität bestimmt, ist Intermedialität kein besonderes Merkmal bestimmter medialer Konfigurationen oder ‚Mediengattungen‘, sondern mit der Medialität bzw. mit jeder Medialisierung bereits gegeben (siehe im Kontext der Intertextualitätsdebatte ähnlich bereits Pfister 1985: 8). Genau hierauf, das heißt auf eine grundsätzlich anzusetzende Funktionslogik von Medien zielen Ansätze wie etwa derjenige Bolters und Grusins (Rajewsky 2005). In der Konsequenz werden damit allerdings Besonderheiten einzelner Verfahren und Differenzen zwischen diesen ausgeblendet, denen aus Sicht anderer Ansätze und speziell aus Sicht der literatur- und allgemein kunstbezogenen Analysepraxis gerade entscheidende Relevanz zukommt. Damit rückt das zweite Feld von Ansätzen in den Vordergrund. Diese unterscheiden sich zunächst einmal grundsätzlich dadurch von den erstgenannten, dass der Intermedialitätsbegriff hier nicht im oben genannten ‚weitesten Sinne‘ veranschlagt, sondern  – dies je nach Ansatz in unterschiedlicher, zum Teil auch deutlich voneinander abweichender Weise – in einem spezifischeren Sinne Verwendung findet. Intermedialität wird hier folglich auch nicht als etwas betrachtet, das ‚immer gegeben‘ ist. Ziel ist es vielmehr, den Intermedialitätsbegriff nutzbar zu machen, um Praktiken oder Strategien, Verfahren und Prozesse, denen eine Quali-

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tät des Intermedialen zuzuschreiben ist, von anderen unterscheiden und in ihren je spezifischen Formen und (bedeutungsstiftenden) Funktionen adäquat beschreiben und analysieren zu können (z.  B. intra-, also etwa intertextuelle, vs. intermediale Bezüge, bei denen es im Unterschied zu ersteren zu einer Überschreitung von Mediengrenzen kommt). Gemeinsamer Nenner der (meisten der) hier einschlägigen Ansätze ist es, Intermedialität als Analysekategorie nutzbar zu machen, das heißt als Kategorie für die konkrete Analyse und Interpretation einzelner medialer Konfigurationen (Texte, Filme, Performances, Gemälde, Comics, Computerspiele, aber z.  B. auch Firmenlogos, Blogs usw.), deren spezifische Verfasstheit (oder Entstehungsprozess) auf Strategien oder Konstitutionsprinzipien intermedialen Charakters schließen lässt. Diesem Bereich, dem auch für das Buch und die Buchforschung besonderes Gewicht zukommt, ist die Mehrzahl literaturwissenschaftlich fundierter Intermedialitätsansätze zuzuordnen (aber z.  B. auch bestimmte Ansätze film- bzw. medienwissenschaftlicher Provenienz). Dem Gegenstandsbereich und Erkenntnisinteresse der literatur- und allgemein kunstwissenschaftlichen Disziplinen gemäß verschiebt sich das Augenmerk hier auf konkrete mediale Praktiken (oder auch auf bestimmte Gattungen oder künst­ lerische Strömungen), die in ihren je spezifischen historischen, diskursiven, ­sozialen, kulturellen, politisch-ökonomischen, epistemologischen und medialen Zusammenhängen, aber vor allem auch in ihrer je eigenen Verfasstheit und Ästhetik und in ihrem jeweiligen Wirk- und Erlebenspotential in den Blick genommen werden. Dementsprechend werden für Ansätze dieser Art gerade auch Differenzen zwischen unterschiedlichen Formen wie auch unterschiedliche Funktionen intermedialer Strategien und deren Rolle für die (Bedeutungs-)Konstitution der jeweiligen medialen Konfiguration relevant (für Bücher siehe auch VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik in diesem Band). Um den Bogen zurück zu Ansätzen wie demjenigen Bolters und Grusins zu schlagen, ist aus dieser Perspektive insofern schon grundlegend zwischen generell anzusetzenden und Einzelkonfigurations-spezifischen intermedialen Relationen bzw. Remediatisierungsprozessen zu unterscheiden. Dies wird deutlich, führt man sich z.  B. Filme vor Augen, die – über eine für den Film grundsätzlich anzusetzende ‚remediation‘ von Fotografie und Theater hinaus – im Sinne eines zusätzlichen, fakultativen Verfahrens auf die Fotografie oder auf theatrale Elemente und Strukturen rekurrieren; so bezogen auf die Fotografie besonders prominent etwa in Michelangelo Antonionis Blow-Up ­(Großbritannien 1966), bezogen auf das Theater (wie auch bestimmte literarische Erzählverfahren) in Lars von Triers Dogville (Dänemark 2003). Hier geraten die involvierten Medien „in Reibung“ (Mahler 2012: 259), werden mediale Differenzen ins Bewusstsein gehoben und eröffnen sich zusätzliche, nicht zuletzt komplexe metamediale Bedeutungsdimensionen.

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 IV.1 Intermedialität

Auch im Kontext dieses zweiten Felds bleibt dann heterogenen Begriffsauffassungen und Modellbildungen Rechnung zu tragen, wobei nicht zuletzt die Frage, welche Art von Phänomenen nun eigentlich mit ‚Intermedialität‘ erfasst werden soll, unterschiedlich beantwortet worden ist (und wird). Dabei wird zum Teil zwischen ‚starken‘ und ‚schwachen‘ Intermedialitätskonzepten (Paech 2002) oder auch zwischen verschiedenen „Intermedialitätsstufen“ unterschieden (Wirth 2013 [2007]: 262). In anderen Ansätzen wird der Begriff von vornherein in einem (je) enger gefassten Verständnis veranschlagt, das heißt für ganz bestimmte Phänomene oder Phänomengruppen und mithin für eine bestimmte Konzeption (oder auch Funktion, siehe Mahler 2012) ‚des Intermedialen‘ reserviert. Hier werden z.  B. Ansätze relevant, die zwischen multimedialen (im Sinne eines ‚bloßen‘ Nebeneinanders) und intermedialen Konfigurationen (im Sinne der Verschmelzung, Fusion oder wechselseitigen Durchdringung medialer Formen) oder auch zwischen Inter-, Multi- und Transmedialität (‚Transmedialität‘ hier dann zumeist als Medienwechsel konzipiert, siehe unten) unterscheiden (Rajewsky 2014: 201–202). Insbesondere in literaturwissenschaftlich verankerten Ansätzen (aber z.  T. auch in medienwissenschaftlichen, z.  B. Schröter 1998 und 2008) ist dagegen ein begriffliches Zwei-Ebenen-Modell eingeführt worden, das es erlaubt, unterschiedliche Manifestationsformen von Intermedialität zu erfassen und zugleich zu einer Präzisierung einzelner, voneinander abzugrenzender Phänomenbereiche zu gelangen, in denen ein Moment des Intermedialen in je spezifischer Weise zum Tragen kommt. In Ansätzen dieser Art wird ‚Intermedialität‘ dementsprechend auf übergeordneter Ebene zunächst in einem weit gefassten Verständnis angesetzt (das gleichwohl von dem oben genannten ‚weitesten‘ zu differenzieren bleibt), das heißt als ein „flexible [term] that can be applied, in a broad sense, to any phenomenon involving more than one medium“ (Wolf 1999: 40–41). Auf untergeordneter Ebene werden sodann verschiedene, je spezifischer gefasste Intermedialitätsbegriffe voneinander abgegrenzt. Ausgehend von verschiedenen Erscheinungsformen intermedialer Verfahren, mit denen man es in der konkreten Analysepraxis immer wieder zu tun hat, ist in diesem Kontext eine Differenzierung zwischen drei (Rajewsky) bzw. vier (Wolf) Phänomenbereichen vorgeschlagen worden. Dabei ist hervorzuheben, dass es hier nicht um eine ausschließende Kategorisierung einzelner medialer Konfigurationen geht, dem jeweiligen Untersuchungsgegenstand, wie sich dies z.  B. anhand von Literaturverfilmungen zeigen ließe, vielmehr in mehrfacher Hinsicht Qualitäten des Intermedialen zuzuschreiben sein können: (1) Intermedialität i.  e. S. des Medienwechsels (Rajewsky 2002, passim) bzw. der ‚intermedial transposition‘ (Wolf 2005: 254), worunter Literaturverfilmungen, ‚novelizations‘ oder andere Formen der Adapt(at)ion fallen, soweit mit diesen eine Überschreitung von Mediengrenzen einhergeht. Hier kommt ein produktionsästhetischer, ‚genetischer‘ Intermedialitätsbegriff zum Tragen, der auf den

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Entstehungs- bzw. Produktionsprozess der jeweiligen medialen Konfiguration, eben z.  B. einer Literaturverfilmung zielt, was sich häufig (aber nicht notwendigerweise) mit Formen der intermedialen Bezugnahme (siehe unten) auf den jeweiligen ‚Ausgangstext‘ verbindet. (2) Intermedialität i.  e. S. der Medienkombination bzw. der Multi- oder Plurimedialität, wie sie z.  B. in illuminierten Handschriften, Emblemen, Performances, Klangkunst und Installationskunst, Foto-Texten, Comics oder Graphic Novels, von ihrer Grundstruktur her aber ebenso im Lied, im Theater, der Oper oder im Film zutage tritt. Zum entscheidenden Faktor wird hier das Zusammenspiel und somit eine ‚Kopräsenz‘ (Wolf 2005: 254) verschiedener Medien bzw. medialer Formen und Formate (Texte, statische oder bewegte Bilder, Animationen, Töne usw.), die in ihrem Zusammenwirken eine solchermaßen multi- oder plurimediale Konstellation entstehen lassen. Dabei hat die konkrete Analysepraxis unterschiedlichen Formen, Funktionen und ‚Intensitätsgraden‘ (wie auch Prozessen der Habitualisierung und Konventionalisierung) medialer Zusammenspiele oder Mischformen Rechnung zu tragen (siehe auch unten). (3) Intermedialität i.  e. S. intermedialer Bezüge, worunter z.  B. Bezüge eines literarischen Textes auf einen bestimmten Film (Einzelreferenz), ein filmisches Genre und / oder auf den Film qua mediales System (Systemreferenz) fallen, etwa in Form der sprachlichen Evokation oder Simulation bestimmter filmischer Techniken (z.  B. Zoom- oder Überblendungsverfahren); entsprechend eines Films auf die Malerei, eines Gemäldes auf die Fotografie usw. Demgemäß sind dieser Kategorie Phänomene zuzuordnen, die auch mit Termini wie filmische Schreibweise, Musikalisierung der Literatur, Literarisierung des Films, Ekphrasis oder ‚transposition d’art‘ bezeichnet werden, ebenso z.  B. ‚tableaux vivants‘ oder fotorealistische Malerei. In diesen Fällen kommt es nicht zu einer Kopräsenz (Kombination) unterschiedlicher Medien bzw. medialer Artikulationsformen innerhalb einer gegebenen Konfiguration, das intermediale Moment dieser Art des Verfahrens liegt vielmehr in der Mediengrenzen überschreitenden Qualität der Bezugnahme begründet (zum Funktionsmechanismus entsprechender Verfahren Rajewsky 2014 und 2019). (4) Bei Wolf kommt als vierte Kategorie die der Transmedialität (im eingangs erläuterten Begriffsverständnis der transmedialen Narratologie / Transmedialitätsforschung) hinzu, die von Wolf (2005: 253), neben der ‚intermedial transposition‘ (Medienwechsel), als eine Form der „extracompositional intermediality“ gefasst und somit unter den von ihm veranschlagten weit gefassten Intermedialitätsbegriff subsumiert wird. Rajewsky versteht Transmedialität dagegen als eine der Intermedialität beigeordnete, komplementäre Kategorie, zielt mit diesen Begriffen im größeren Kontext medialer Relationen und Relationsgefüge also auf eine Binnendifferenzierung medienkomparatistischer Zugangsweisen,

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 IV.1 Intermedialität

wobei sich in Bezug auf bestimmte Phänomene auch eine Verkoppelung interund transmedialer Forschungsperspektiven als sinnvoll und gewinnbringend erweisen kann (z.  B. Poppe 2010; siehe auch Rajewsky 2013). Wie sich schon der weit gefassten Intermedialitätsdefinition Werner Wolfs entnehmen lässt („any phenomenon involving more than one medium“), setzen Ansätze dieser Art eine Abgrenzbarkeit von ‚Einzelmedien‘ voraus (womit auch per se pluri­ medial strukturierte Medien wie der Film intendiert sind). Diese Prämisse, auf der letztlich sämtliche Intermedialitätskonzepte und bereits die Begriffsbildung selbst aufbauen, ist im Rahmen einer Mitte der 2000er Jahre einsetzenden, im Theoriehorizont W. J. T. Mitchells („all media are mixed media“ [1994: 5]) breit geführten Debatte zum Teil radikal in Frage gestellt worden (siehe z.  B. Voßkamp und Weingart 2005; zur Debatte Rajewsky 2010). Damit einhergehend hat sich zunehmend die Tendenz gezeigt, Annahmen medialer Differenzen zu ‚dekonstruieren‘ (Elleström 2010: 11). Zugleich hat diese Debatte auf Seiten der Intermedialitätsforschung zu einer „Revision der Konzepte ‚distinkter‘ Medien“ (Müller 2010: 35) geführt, die auch für die Buchforschung besonders relevant sind. In diesem Zusammenhang ist zum einen eine Verkoppelung der Kategorien der Intermedialität und der Multimodalität stark gemacht worden (Elleström 2010 und 2021; Bruhn und Schirrmacher 2022). Zum anderen hat sich die von Wolf bereits 1996 vertretene Auffassung von Medien als „konventionell als distinkt angesehene[n] Kommunikationsmittel[n]“ (87, Fn. 4) bzw., hierauf aufbauend, das Konzept „konventionell als distinkt wahrgenommene[r] Medien“ (Rajewsky 2002: 13) als anschlussfähig erwiesen (Müller 2010; Rajewsky 2010; Thon 2014). Auf dieser Basis lässt sich die Funktionslogik intermedialer Verfahren und Prozesse auf wandelbare Auffassungen oder ‚Vorstellungen‘ einzelner Medien und deren Abgrenzbarkeit von anderen beziehen, die sich, wie es Bertolt Brecht bereits 1931 andeutet (Heller 1986), auf der Grundlage historischsubjektiver Medienerfahrung, konventioneller Zuschreibungen und zudem stets in Abhängigkeit des zu einem spezifischen Zeitpunkt gegebenen medialen Relationsgefüges herausbilden bzw. konstruiert werden. Dies impliziert ein dynamisches Konzept medialer Grenzziehungen (Rajewsky 2010), das diese als historisch wandelbare, nicht nur medial-materiell, sondern immer auch sozial und diskursiv bedingte, beobachterabhängige Konstrukte begreifbar werden lässt, die sich gerade auf dieser Grundlage in „inter-medialen Konfigurationen entfalten“ können (Müller 2010: 25; siehe für eine hierzu ähnliche Bestimmung des Buchs I Theoretische Perspektiven und Gegenstände, Abschnitt 3.1, in diesem Band). Sie können also, wie es konkrete mediale Praktiken wieder und wieder vorführen, im Zuge intermedialer Strategien und Prozesse umspielt, reflektiert und ausgestellt (z.  B. Fotorealismus in der Malerei) oder auch unterlaufen, aufgelöst, modifiziert und verschoben werden (Rajewsky 2010). In diachroner Perspektive geht mit dieser Dynamik  – etwa auf

4 Desiderate 

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der Grundlage technologischen Wandels oder einer regelmäßigen Verwendung bestimmter medialer Mischformen (Wolf 2005: 254) und mithin auf der Grundlage von Prozessen der Konventionalisierung und Habitualisierung – häufig eine Ausdifferenzierung bestehender (z.  B. Stumm- vs. Tonfilm) oder auch die Herausbildung ‚neuer‘, das heißt ihrerseits zu einem gegebenen Zeitpunkt konventionell als distinkt wahrgenommener Kunst- bzw. Mediengattungen einher (z.  B. Comics, Klangkunst).

4 Desiderate In den literaturwissenschaftlichen Disziplinen hat das Phänomen der ‚new bookishness‘ in den letzten Jahren breite Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wobei gerade auch die intermedialen Dimensionen der hier einschlägigen Werke hervorgehoben worden sind. „Literary works“, so etwa Sara Tanderup Linkis (2019: 1), „increasingly make use of intermedial strategies to emphasize the visual and material aspects of literature“, womit – in Verkoppelung der „intermediality studies“ mit einer „materialist literary analysis“ (3) – nun auch „intermedial book objects“ (7) in den Fokus rücken. Studien dieser Art haben bisher allerdings noch nicht zu einer genaueren Auseinandersetzung mit der Frage geführt, was für Implikationen sich aus der spezifischen Anlage der ‚bookish books‘ für bestehende intermedialitätstheoretische Ansätze und Modellbildungen ergeben, das heißt ob oder inwiefern diese hier an Grenzen stoßen und ggf. zu überdenken sind. Damit sind erneut die ‚Buchvergessenheit‘ und mithin mediale wie auch konzeptionelle Blindstellen herkömmlicher Intermedialitätskonzeptionen aufgerufen, die mit den ‚bookish books‘ in besonders augenfälliger Weise hervortreten. In ihrer spezifischen Anlage und (ästhetischen) Verfasstheit fordern diese Bücher ganz offenkundig eine Verkoppelung dessen heraus, was Jerome McGann als ‚linguistic‘ und ‚bibliographical code‘ bezeichnet hat (McGann 1991; hierzu auch Bornstein und Tinkle 1998; Eggert 2010; Andersen 2013). Die Berücksichtigung ihrer materiellen Dimension und visuellen wie auch haptisch erfahrbaren Gestaltung (angefangen mit Format, Papierqualität, Typografie, Layout, Weißraum usw., siehe hierzu auch II.2 Gestaltung in diesem Band) wird hier also zu einer notwendigen Voraussetzung für ein adäquates Verständnis dieser Werke. Andersherum hat auch die Buchforschung bisher kaum Anstrengungen unternommen, die in der Intermedialitätsforschung vorangetriebenen Ansätze mit Blick auf ihren eigenen Gegenstandsbereich kritisch zu diskutieren bzw. für ihre Zwecke in spezifischer Weise nutzbar zu machen oder modifizierend zu erweitern. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass mit dem Buch und ganz allgemein mit der derzeit zu beobachtenden neuen Relevanz ‚des Trägermediums‘ im Vergleich zu

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 IV.1 Intermedialität

bestehenden Intermedialitätsansätzen eine zusätzliche mediale Ebene oder Dimension ins Spiel kommt. Es ist insofern auch nicht damit getan, an Stellen, an denen in herkömmlichen Ansätzen vom Medium ‚des Textes‘ (oder auch ‚der Literatur‘, siehe z.  B. Wolf 2005; so auch noch in Rajewsky 2002) die Rede gewesen ist, den Begriff des Textes (oder der Literatur) einfach mit dem des Buchs zu ‚ersetzen‘. In diesem Sinne erweisen sich z.  B. Aussagen zu einem „Prozess der Intermedialisierung“, der u.  a. „zwischen Theater, Film und Buch“ (Schanze 2010: 151) zu beobachten und zu untersuchen sei, als wenig hilfreich, liegen die hier verwendeten (Medien-)Begriffe (Theater, Film und Buch) doch auf unterschiedlichen Ebenen. In diesem Gesamtzusammenhang könnte sich für die zukünftige Forschung eine Verkoppelung intermedialitätstheoretischer Modellbildungen mit Ansätzen der Multimodalitätsforschung als hilfreich erweisen. Dabei ist dann allerdings auch der komplexen Forschungslage in beiden Bereichen Rechnung zu tragen, und zwar insbesondere, was die gleichermaßen ‚schwierigen‘ Begriffe ‚Medium‘ und ‚mode‘/‚modality‘ und vor allem deren Verhältnis zueinander angeht. „[T]he terms ‚medium‘ and ‚mode‘,“ so z.  B. Ruth Page (2010: 5), „are notoriously slippery and ambiguous“ (siehe auch Gibbons 2010; Klug und Stöckl 2016; Wildfeuer et al. 2020). Zu berücksichtigen ist hier zum einen, dass das, was im Kontext multimodal ausgerichteter Ansätze unter ‚modes‘ und / oder ‚modalities‘ gefasst wird, in Teilen mit dem zusammenfällt, was im Kontext intermedial ausgerichteter Ansätze unter Fragen des ‚Mediums‘ / der ‚Medialität‘ verhandelt wird (z.  B. „gesprochene und geschriebene Sprache, stehendes und bewegtes Bild“ bei Schmitz 2016: 331; siehe auch Bateman 2016), zum anderen, dass nicht nur nach wie vor umstritten ist, was genau nun eigentlich unter ‚modes‘ / ‚modalities‘ zu verstehen ist, sondern diese Umstrittenheit gerade Aspekte wie Typografie, Layout oder z.  B. Farbe betrifft. Diese werden mal als eigenständige ‚modes‘ neben anderen (Hallet 2014), mal als ‚submodes‘ (Kaindl 2013: 259; siehe auch Stöckl 2004) und in wieder anderen Fällen nicht als ‚modes‘ in Betracht gezogen (Schmitz 2016). Damit rücken letztlich auch erneut Fragen nach sich wandelnden medialen Relationsgefügen in den Vordergrund, speziell danach, wie Medienkonvergenz bzw. Medienwandel generell und mit ihnen sich fortlaufend verändernde Formen der Produktion, Distribution und Mediennutzung auf Medien- bzw. Buchkulturen zurückwirken und zu Verschiebungs-, Ausdifferenzierungs- und Emergenzprozessen innerhalb des medialen Gesamtfeldes führen (siehe hierzu auch VIII.2 Transformation und Kontinuität in Buch- und Lesekulturen in diesem Band). Anmerkung: Teile dieses Beitrags zur Inter- und Transmedialitätsforschung im Allgemeinen und zu den von der Verfasserin etablierten theoretischen Konzepten von Intermedialität greifen ihre vorgängigen Publikationen auf und stimmen partiell mit diesen überein, siehe Rajewsky 2002, 2005, 2014 und 2019.

Literatur 

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204 

 IV.1 Intermedialität

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IV.2 Mediensysteme Svenja Hagenhoff

1 Gegenstandsbereich In modernen Gesellschaften entsteht eine gewünschte gesellschaftliche Öffentlichkeit durch intermediäre Kommunikationssysteme (Gerhards und Neidhardt 1990: 12). Diese Kommunikationssysteme müssen spezifische Eigenschaften aufweisen, wenn Themen und Bedeutungen für die Öffentlichkeit Relevanz erlangen und gewünschte Funktionen in Bezug auf politische, kulturelle und ökonomische Beteiligung erfüllt werden sollen (Jarren 2008: 330 und 2016: 381). Ein solcher Inklusionsanspruch wird prinzipiell durch Medien erfüllt (siehe VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe in diesem Band), die durch Verfügbarkeit und Offenheit im Sinne allgemeiner Zugänglichkeit gekennzeichnet sind (Gerhards und Neidhardt 1990: 16), sich an ein prinzipiell unabgeschlossenes Publikum wenden und somit von jedermann durch Lesen, Anhören oder Anschauen wahrgenommen werden können. Medien in diesem Sinne stellen Wirklichkeitsentwürfe bereit, die unbekannte Effekte auf Wissen, Einstellungen und Verhalten der sie rezipierenden Menschen besitzen (Jäger und Ort 2012: 5; Merten 1999: 402). Als System wird in den Gesellschaftswissenschaften eine Ganzheit verstanden, die aus verschiedenen Elementen und deren gestalteten, also nicht beliebigen Beziehungen oder Interaktionen besteht. Zurückgeführt werden kann die Grundinterpretation eines Systems – komplex interagierender, heterogener Elemente – auf den Biologen Ludwig von Bertalanffy: „A system can be defined as a set of elements standing in interrelations. This means that elements, p, stand in relations, R, so that the behaviour of an element p in R is different from its behaviour in another relation, R’“ (Bertalanffy 1971: 55; erstes Werk Bertalanffy 1932). Offene Systeme reagieren auf Umwelteinflüsse, in dem sie ihre Zustände angemessen ändern, nicht jedoch ihre grundsätzlichen Systemstrukturen. Gestaltbare Parameter dabei sind die Redundanz und die Varietät (hierzu Hinterhuber 1996: 93). Die Redundanz beschreibt die Gleichartigkeit von Prozessen mittels Vorstrukturierung und führt zu Stabilität. Diese wiederum ist in der Lage, Unsicherheit zu absorbieren, die in der Regel bei der Interaktion von Akteuren und in Entscheidungssituationen entsteht. Die Varietät wird bestimmt durch die Anzahl der möglichen Zustände des Systems und die Anzahl der möglichen Beziehungen und deren Verschiedenartigkeit. Sie sagt etwas über die Flexibilität aus, mit der das System auf Umwelteinflüsse zu reagieren in der Lage ist oder über die Freiheitsgrade des konkreten Arrangements. Die Medien- und Kommunikationsforschung versteht unter einem medienbasierten Kommunikationssystem eine Gesamtheit des sozialen Handelns (Beck 2018: 9 https://doi.org/10.1515/9783110745030-009

2 Arten von Systemen 

 209

und 30) zum Zweck der medial vermittelten öffentlichen Kommunikation sowie die Bedingtheiten dieser Handlungen, also Strukturen, rechtliche (siehe VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen in diesem Band) und ökonomische (siehe V.1 Buchökonomie in diesem Band) Verfasstheit, Freiheiten und Schranken, Kultur und Traditionen (Blum 2014: 18). Der Fokus ist also aktivitätsorientiert (Kommunikationsprozess), Medien werden als Kanäle oder Gattungen analysiert. Vor diesem Hintergrund entsteht die Frage nach der Relevanz des Mediums Buch bzw. der Buchkommunikation in der Forschung sowie nach der Position beider in einem realweltlichen Medien- oder Kommunikationssystem. Der Beitrag stellt die verschiedenen Ausprägungen der Systemforschung dar und identifiziert Desiderate und weitere Forschungsaufgaben.

2 Arten von Systemen 2.1 Mediensystem Mediensysteme werden in der Kommunikationswissenschaft vor allem in Beziehung zum politischen System verhandelt (Mihelj und Huxtable 2018: 2). Öffentlichkeit wird als politische Öffentlichkeit verstanden (Jarren et al. 2019: 422). Der Fokus der Arbeiten liegt entsprechend auf der politischen Kommunikation und dem Wechselverhältnis von medienbasierter öffentlicher Kommunikation und politikbezogenem Handeln  – Politikerhandeln, Bürgerhandeln, Wählerhandeln, gegenwarts- und aktualitätsbezogene, ständige informierte Meinungsbildung. Betrachtete Medien als Artefakte oder Gattungen sind solche mit Aktualitätsbezug, wie Zeitung, Zeitschrift, Rundfunk und ‚Online‘, die Kommunikate sind journalistische, universelle und aktuelle Inhalte, die Leistungen dieser Medien und Kommunikationsangebote gelten als demokratiepolitisch besonders relevant (Jarren 2016: 374). Dem Buch wird in den so konturierten Beiträgen häufig die Eigenschaft aberkannt, ein publizistisches Medium zu sein (z.  B. Wilke 2015: 10; kritisch dazu Müller 2014: 256). Andere Systembereiche, wie Wissenschaft, Kultur und Kunst, bzw. andere Funktionen von Kommunikation und Mediennutzung, wie Zeitvertreib, Unterhaltung, ästhetische Erfahrung, Denken in Möglichkeiten und anderen (modellhaften) Welten, sind, so wird zumindest implizit unterstellt, nicht geeignet, relevante Wirkungen auf Gesellschaft zu entfalten. Konsequenterweise wird die Buchkommunikation und das Buch als mediales Objekt in der Mediensystemforschung selten behandelt. Kritik an der geschilderten Engführung äußern Mihelj und Huxtable (2018: 6), die vorschlagen, den Begriff ‚Media System‘ durch den Begriff ‚Media Culture‘ abzulösen. Sie weiten das Spektrum von Genres und Kommunikationsformen und betrachten z.  B. auch Fiktion und Unterhaltung. Die Internationale Buchwissen-

210 

 IV.2 Mediensysteme

schaftliche Gesellschaft setzte sich bereits 2010 zur Aufgabe, „das Medium Buch im Mediensystem [zu] positionieren“ und es nicht mehr isoliert, sondern im Kontext der gesamten Medienkultur zu begreifen und zu erforschen, „um seine Formen und Funktionen im Hinblick auf die anderen Medien präziser zu erkennen und zu erfassen“ (Schmitz 2010: 795). Eine Hinwendung der Buchforschung zur Medienforschung in Zusammenarbeit mit der Kommunikations- und Medienwissenschaft sowie eine Attrahierung der Wissenschaftler dieser Bereiche für die Buchforschung wurde als Vision formuliert, die nach wie vor nicht zur Realität geworden ist. In der Kommunikationswissenschaft übt Jarren (2019: 365) vor dem Hintergrund des Aufkommens Sozialer Medien inzwischen Kritik am üblicherweise genutzten Begriff Mediensystem. Er regt an, stärker „auf verbreitete wie genutzte Inhalte“ abzuheben. Fokussiert die Kommunikationswissenschaft jedoch weiterhin ausschließlich auf Kommunikate mit Bezug zu aktuellen Gegebenheiten, so bleibt die Umtaufe des Analysegegenstands hinter ihrem Potenzial zurück. Auch der als DreiEbenen-Modell des Kommunikations- und Mediensystems konkreter ausgearbeitete Vorschlag von Donges und Jarren (2020) dehnt das bisherige Verständnis von öffentlicher Kommunikation (aktuelle, universelle journalistische Medien, Ebene 3) lediglich um nicht aktuelle, aber dennoch fachjournalistisch geprägte spezialisierte Medien (insbesondere Fachzeitschriften, aber auch Fernsehsendungen, Ebene 2) sowie Social-Media-Plattformen als nicht publizistische Kommunikationssysteme (Ebene 1, ‚Besorgungsdienstleister‘).

2.2 Literatursystem Mit dem Begriff Literatursystem (auch: Literaturbetrieb) ist die Idee verbunden, Literatur nicht aus einer inhaltsanalytischen Perspektive zu betrachten, sondern als kommunikatives Handeln (Jahraus 2007: 454), das eine konkrete Relation ausformt, nämlich die Beziehung zwischen Literatur und Gesellschaft. Exemplarisch hierzu formuliert Gilbert (2018: 14, auch die dort zitierte Literatur), dass die Werkwerdung nicht allein auf den Handlungen des Vervielfältigens, Publizierens und Distribuierens fuße, sondern substanziell von einer literarischen Praxis und Öffentlichkeit abhänge, „in der die Texte als literarische Werke eingebettet und wirksam werden können.“ Diese Praktiken wurden für den deutschen Literaturbetrieb jüngst umfänglich dargestellt in Amlinger (2021a). Analog findet sich auch bei Jarren (2008: 330) in Bezug auf die Kommunikation aktualitätsbezogener Inhalte, dass Themen dann Relevanz erlangen, wenn sie zu bestimmten sozialen Bedingungen bereitgestellt werden. Der Ursprung dieser Sichtweise auf Literatur wird im deutschsprachigen Raum den Arbeiten zur empirischen Literaturwissenschaft (zur Übersicht: Magerski 2021)

2 Arten von Systemen 

 211

sowie in der Literatursoziologie (zur Übersicht: Dörner und Vogt 2013; Amlinger 2021b) zugeschrieben. Diese Perspektiven sind allerdings insofern enggeführt, als dass Literatur oft auf schöngeistige (Fiktion, Belletristik) sowie (rein) schriftcodierte Literatur reduziert wird. Literatur wird oftmals als Kunst und ästhetisches Objekt verhandelt. Formen von Literatur, die nicht den etablierten Apparat der Buchherstellung, -distribution und -rezeption durchlaufen, gelten als empirisch (nach wie vor) nicht existent (Kreuzer 1975: 65; Gilbert 2018: 29). Dieses mag dem Untersuchungsobjekt ‚Buch und Buchkommunikation‘ einer Buchforschung entgegenkommen, gleichwohl verbleibt die Fassung der Spezifika und der Grenzen des empirisch vorliegenden medialen Objekts Buch und der Buchkommunikation unbefriedigend. Reale Veränderungen in der Systemkonfiguration (Variabilität) durch neue Akteure in etablierten Funktionen und die Auswirkungen auf und Anforderungen an Institutionen können in dieser Engführung nicht differenziert genug zum Analysegegenstand werden. Beobachtbare Veränderungen sind u.  a. Publikations- und Literaturplattformen als neue Akteure, andersartige Ausprägungen von Leistungs- bzw. Handlungsrollen, wie z.  B. hochgradig kollaborative Autorschaft (z.  B. Ernst 2014) oder Formveränderungen, wie z.  B. Literatur als vorläufig unabgeschlossenes Phänomen (von Gehlen 2013). Vor diesem Hintergrund erweist sich das Übersichtswerk zur Literatursoziologie von Magerski und Karpenstein-Eßbach (2019) als fruchtbar. Die Autorinnen wählen vier große Bereiche für die Analyse des Literatursystems: die Soziologie der literarischen Form (ästhetische Funktion und ästhetische Norm), die Soziologie des literarischen Geschmacks (Geschmacksbildung, Geschmack als soziale Tatsache), die Soziologie der literarischen Institution (Ordnungen und Organisiertheit) und Literatur als Gesellschaftskritik (Funktion und Wirkung von Literatur). Wenngleich damit noch kein System beschrieben ist und die Arbeit ebenfalls nur das Medium Buch als Manifestation von Literatur nennt, ist zumindest ein abstrakt-theoretischer Zugang zu den sich nahezu beliebig verändernden empirischen Gegenständen möglich.

2.3 System der Wissenschaftskommunikation Das System der Wissenschaftskommunikation ist dazu da, Forschungsergebnisse von wissenschaftlichen Autor*innen zu primär wissenschaftlichen Rezipient*innen zu kommunizieren, wodurch wissenschaftliche Erkenntnisse potenziell zur Zirkulation gelangen. „Ein reibungslos funktionierendes wissenschaftliches Publikationswesen als internes Kommunikationssystem und damit als grundlegende Struktur einer wissenschaftlichen Disziplin gilt in der modernen westlichen Welt als eine Selbstverständlichkeit: als lautloser Dienstleister der jeweiligen Disziplin“ (Remmert und Schneider 2010: 10). Dieses spezifische publikationsorientierte Kom-

212 

 IV.2 Mediensysteme

munikationssystem kann gefasst werden als „the totality of publications, facilities, occasions, institutional arrangements, and customs which affect the direct or indirect transmission of scientific messages among scientists“ (Menzel 1958 zitiert in Walker und Hurt 1990: xi). Der Erkenntnisgegenstand ‚Wissenschaftskommunikation‘ ist auf zahlreiche Disziplinen verteilt und mit begründet kontextualisierenden und ordnenden Arbeiten nur wenig unterfüttert. Arbeiten beschäftigen sich oftmals (detailreich) mit einzelnen Phänomenen und weniger mit der grundlegenden Funktionsweise bzw. Funktionstüchtigkeit des Systems. Behandelt werden z.  B. der Akteur Wissenschaftsverlag (z.  B. Seemann 2017; Hagenhoff 2017; Blaschke 2010; Remmert und Schneider 2008; Estermann und Schneider 2007), das mediale Objekt selbst (z.  B. Kuhn und Hagenhoff 2019; Hirschi und Spoerhase 2015a und 2015b) sowie das Publikationsund Kommunikationswesen spezifischer Epochen bzw. im historischen Abriss (z.  B. Vickery 2000), dies stärker deskriptiv denn analytisch. In etlichen Arbeiten nimmt das Medium Buch und die Buchkommunikation durchaus eine prominente Rolle ein, dies oftmals geschuldet den historiografischen Zugängen der jeweiligen Forschung. Arbeiten, die stärker auf veränderte Möglichkeiten durch gegenwartsbezogene neue Technologien abheben (z.  B. Open Access oder Alternative Metriken, zur Literaturübersicht Hagenhoff 2022a) fokussieren deutlich auf das Publikationsformat Journal bzw. ‚kürzere Texte‘. In jüngerer Zeit werden im Zusammenhang mit der Diskussion um Open Access neben der Transformation des Journalwesens stärker auch das bisher eher vernachlässigte Format Buch bzw. spezifischer Monografien oder ‚Lange Texte‘ als Transformationsgegenstand behandelt, dies stärker aus wissenschaftspolitischer oder pragmatischer denn aus erkenntnistheoretischer Perspektive (z.  B. Eve und Cond 2021; Graf et al. 2020; Schober 2018). Der Open Access Monitor Deutschland erfasst jedoch nach wie vor keine Bücher (Mittermaier 2021). Thompson (2013) beschreibt die (digitale) Transformation des Publizierens von Büchern im UK und in den USA datengestützt entlang von empirisch beobachtbaren Phänomenen wie Zunahme ökonomischer Konzentration, Globalisierung oder Rückgang der Bedeutung von Monografien. Disziplinär werden die oben genannten Themen von der Bibliotheks- und Informationswissenschaft, der Soziologie mit dem Funktionsbereich Wissenschaftssoziologie und in Teilen von der (Wissenschafts-)Geschichte und der Buchwissenschaft bearbeitet. Die deutschsprachige Kommunikationswissenschaft fokussiert stärker auf die journalistische Kommunikation über Wissenschaft sowie die externe Wissenschaftskommunikation, verstanden als Vermittlung von Wissenschaft an die breite Öffentlichkeit. Das Medium Buch wird hierbei nicht untersucht, obwohl sogenannte Crossover-Bücher (Hirschi 2018) zahlreich im Sortimentsbuchhandel angeboten werden. Einen sehr kurzen Überblick über die

3 Ansätze der systemorientierten Forschung 

 213

Hochkonjunktur populärwissenschaftlicher Bücher gibt jedoch Bauer (2017), ausführlicher und differenzierter äußern sich Bell und Turney (2014). Allgaier (2017: 245) stellt spezifisch fest, dass in der populären Aufbereitung wissenschaftlichen Wissens das potenzialreiche Erzählformat Comic / Graphic Novel weitgehend unerforscht sei, ohne sich dabei allerdings festzulegen, dass dieses Zeichensystem buchförmig in Erscheinung treten müsste. Buchförmige Comics / Graphic Novels behandeln aber Tatalovic (2009) sowie Jonsson und Grafström (2021) in ihren Arbeiten. Eine zentrale – aber eher selten genutzte – Arbeit zur theoretisch-abstrakten Beschreibung und Analyse des Systems der internen Wissenschaftskommunikation haben Roosedaal et al. vorgelegt (z.  B. Kircz und Roosendaal 1996, zur Übersicht Hagenhoff 2022a). Sie nennen mit der Zertifizierung, der Registrierung, der Archivierung und der Wahrnehmung vier Funktionen, die ein System der Wissenschaftskommunikation zu seiner Funktionstüchtigkeit bedienen muss, diese werden auch bei Walker und Hurt (1990: 17–18 und 46) als abgeleitete Funktionen des Publikationsformats Journal genannt. Roosendaal et al. selber haben die Funktionen in ihren Arbeiten nur spärlich konkretisiert und kaum die vorhandenen und denkbaren Realisierungsmöglichkeiten gegeneinander abgewogen (Redundanz und Variabilität). Umfänglicher diskutiert und (teils) konkretisiert werden die Funktionen bei Edmond (2020), Hagenhoff (2007 und 2017) oder Hagenhoff et al. (2007). Roosendaal et al. (2001) behandeln zudem vier Kräfte, die im System wirken. Diese sind ‚Access­ ibility‘ (availability, retrievability), ‚Applicability‘ (science / technology), ‚Content‘ (questions, answers) und ‚Actors‘ (authors, readers). Die Kräfte werden allerdings nicht bzw. nur sparsam mit den Funktionen zusammengebracht und teils auch nicht gut beschrieben. Dennoch sind die Arbeiten des Autorenkollektivs für eine Durchdringung des Systems der Wissenschaftskommunikation auf theoretisch-ab­ straktem Level als zentral zu bezeichnen.

3 Ansätze der systemorientierten Forschung 3.1 Bildung von Systemtypen Die typenbildende Forschung untersucht Mediensysteme anhand von begründeten Dimensionen bzw. Kriterien komparativ (Kleinsteuber 2005: 277) mit dem Zweck, durch Ordnungs- und Gruppierungsleistung die Detailfülle der Realität zu reduzieren. Ein solcher Vergleich ist lohnenswert, weil hierdurch „nationale Autostereotypen (über deutsche Verleger als ‚Kulturschaffende‘, über das Wunderwerk Börsenverein) und Heterostereotypen (amerikanischer Bestsellerwahn) kritisch modifiziert werden können“ (Blaschke 2007: 181).

214 

 IV.2 Mediensysteme

Typologien (im Folgenden Kuckartz 2010) erfordern es, dass für einen Gegenstandsbereich ein n-dimensionaler Merkmalsraum aufgespannt wird, dessen mögliche Merkmalsausprägungen zu mindestens zwei divergenten Typen führen. Typen sind zueinander unähnlich, sie sind voneinander unterscheidbar. Objekte oder Fälle innerhalb eines Typs sind zueinander ähnlich. Eine Typologie strukturiert einen Gegenstandsbereich also in Bezug auf Distanzen und Ähnlichkeiten bzw. Heterogenität und Homogenität. Mediensysteme werden in diesem Ansatz in ihren Zuständen erfasst und als etwas statisches betrachtet (Studer 2016: 32). Annahme dabei ist es, dass die konkrete Ausgestaltung eines Mediensystems durch exogene Faktoren beeinflusst wird (Studer 2016: 32). Die vorliegenden Typisierungen ziehen ihre Dimensionen insbesondere aus dem politischen System mit Kriterien wie Objektivität der Berichterstattung, Werthaltungen und Professionalisierungsgrad von Journalisten oder Grundausrichtung des politischen Systems, davon ausgehend, dass insbesondere die politischen Bedingungen innerhalb eines geografischen Raums erheblichen Einfluss darauf haben, wie medial vermittelte öffentliche Kommunikation stattfinden kann (Blum 2006). Eine umfänglichere Übersicht über Typologien der Mediensystemforschung findet sich bei Blum (2014: Kapitel 1.4). Da der Fokus der Arbeiten und die begründet abgeleiteten Dimensionen enggeführt auf der periodischen publizistischen Arbeit und Kommunikation liegen, kommt die Buchkommunikation in der (empirischen) typologisierenden Systemforschung nicht vor. Die in der Literatur anzutreffenden Typisierungen der Mediensysteme bilden Realtypen oder Idealtypen aus. Realtypen sind empirisch anzutreffen, sie sind empirisch begründet, da sie aus dem empirischen Material herausdestilliert werden (Kovrig 1955: 13). Eine vielzitierte Arbeit dieser Art ist Hallin und Mancini (2004), die ihren ersten Ansatz in Hallin und Mancini (2012, 2017) weiterverarbeitet haben. Sie unterscheiden drei Realtypen: ‚Das North / Central European or Democratic Corporatist Model‘, das ‚Mediterranean or Polarized Pluralist Model‘ und das ‚North Atlantic or Liberal Model‘. Realtypen können falsch sein (Kuckartz 2010: 556), da die Grenzziehung zwischen den Typen oder die Zuordnung der Fälle zu den Typen unscharf bzw. uneindeutig sein kann. Idealtypen hingegen sind eine rein theoretische Konstruktion (‚Constructed Types‘, Becker 1950). Sie entstehen, indem einzelne Aspekte eines Merkmalsraums als besonders relevant bewusst hervorgehoben und andere bewusst vernachlässigt werden (Kuckartz 2010: 556). Saxer (2002) als Beispiel für eine solche Typologie nutzt politische Grundordnungen (Demokratie vs. Nicht-Demokratie) und unterscheidet mithilfe des herausgegriffenen Kriteriums ‚Kontrolle‘ die vier Typen Autoritäre, Totalitäre, Demokratisch kontrollierte und Liberale Institutionalisierung von Mediensystemen. Idealtypen können nicht falsch sein, sondern nur unbrauchbar, und sie können Typen hervorbringen, die keine Fälle enthalten, würde man die Realität in die Typologie einsortieren. Die Typologie

3 Ansätze der systemorientierten Forschung 

 215

von Saxer ist abstrakt genug, um darin auch das Untersuchungsobjekt der Buchkommunikation und die daran angelegte oder nicht angelegte Kommunikationskontrolle anhand von Beispielen (hierzu Hagenhoff 2020b: 7–9) zu diskutieren.

3.2 Funktionslogiken gattungsorientierter Subsysteme Mediensysteme werden als Gesamtgefüge untersucht, in dem Akteure, Tätigkeiten und Bedingungen zu einem Zeitpunkt oder deren Veränderung im Zeitablauf (siehe IV.3 Medienwandel in diesem Band) in den Fokus genommen werden. Chadwick (2013: 4) bezeichnet dieses Gesamtgefüge als Logik eines Systems. Das formale Erkenntnisziel ist zunächst die reine Deskription der konkreten und abstrakten Elemente des Systems (Bestandteile) und in Teilen ihr (vermutetes) Zusammenwirken, dies aber nicht zwingend in Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Das Medien- und Kommunikationssystem wird in diesen Ansätzen in Subsysteme untergliedert, dieses kategorial in der Regel nicht begründet und damit in der gewählten Grenzziehung nur implizit nachvollziehbar. Die Subsysteme sind an Objekten (Buch, Zeitung) und / oder Technologien (Print, Rundfunk, Online) bzw. einer Mischung daraus orientiert. Geschuldet ist dies der historischen Entwicklung von Medien bzw. Technologien, den hieraus resultierenden real existierenden Branchen mit ihren Interessenverbänden und Statistiken, die auch im Rahmen akademisch motivierter Analysen genutzt werden. Vowe (2020) unterteilt z.  B. in Presse, Fernsehen, internetbasierte Medien; Thomaß (2020) in Print (Presse), Rundfunk und Online; Beck (2018) in Buch, Periodische Presse, Film und Rundfunk. Die empirische Vollständigkeit der Untergliederung in Subsysteme wird in der Regel erreicht durch Eingrenzung des gesamten Medien- und Kommunikationssystems, z.  B. durch Beschränkung des Verständnisses von Öffentlichkeit auf die politische Öffentlichkeit und daraus folgend die Begrenzung des Untersuchungsgegenstands auf aktualitätsbezogene Kommunikation. Eine auffällige Ausnahme für die Beschreibung des Mediensystems Deutschlands ist Beck (2018). Er analysiert als einer der wenigen Kommunikationswissenschaftler auch das Subsystem ‚Buch‘ als Bestandteil der publizistischen Medien. Er beschreibt die verschiedenen Mediensubsysteme strukturiert anhand der Parameter ‚technisch basiertes Zeichensystem‘, ‚Organisiertheit‘ sowie ‚Institutionalisierung‘ und ermöglicht damit einen Vergleich der Funktionslogiken der Subsysteme. Ähnlich ist Saxer (1975) vorgegangen, der als Beschreibungs- und Analysekategorien ‚Strukturpositionen‘ sowie ‚Qualitäten‘ von Mediensystemen erarbeitet hat und damit Mediensubsysteme (ebenfalls jedoch kategorial erklärungsbedürftig) vergleichend charakterisiert. Arnold und Donges (2020) argumentieren auf der Basis von Chadwick (2013), dass sich die Grenzen so verstandener Mediensubsystemen aufgrund technischer

216 

 IV.2 Mediensysteme

Konvergenz (siehe IV.1 Intermedialität in diesem Band) auflösen und dies erhebliche Auswirkungen auf die inhaltlichen Analysegegenstände wie auch die empirische Realität habe, was auch Jarren (2019) und Donges und Jarren (2020) zu ihrem Vorschlag veranlasst hat, statt gattungsbezogenen Subsystemen eines Mediensystems das Kommunikationssystem funktionsbezogen zu untersuchen. Eine an Funktionen oder Zwecken orientierte Subsumierung ist in der kommunikationswissenschaftlich dominierten Literatur bisher allerdings selten zu finden. Meckel und Scholl (2002: 156) unterscheiden Journalismus, Unterhaltung, Bildung, Public Relations und Werbung, aber auch das ist empirisch nicht vollständig: Werke der Debattenliteratur (z.  B. Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab, hierzu Werner 2012, gefolgt von Feindliche Übernahme) beispielsweise sind reine Meinungsäußerungen, die weder eine journalistische Leistung noch eine Leistung der Art Bildung darstellen, gleichwohl können solche medialen Kommunikate einen effektvollen Wirklichkeitsentwurf (siehe oben) darstellen. Das genannte Sarrazin-Werk hat sich als Hardcover über 1,5  Millionen Mal verkauft und in Folge der Diskussion ist das Wort ‚Wutbürger‘ entstanden (Krieger 2012). Auch jenseits solch singulär spektakulärer Effekte können Bücher bzw. ihre Inhalte hinreichend relevante aktualitätsbezogene Funktionen für die Gesellschaft haben. Positiv sieht man dies z.  B. an dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch des österreichischen KarlRenner-Instituts oder an dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der für die Verwirklichung des Friedensgedankens und der Völkerverständigung verliehen wird. Negativ ist dies erkennbar an den regelmäßigen Diskussionen um die Teilnahme von rechten Gesinnungsverlagen (Begriff bei Blaschke 2007: 188) an den Buchmessen.

3.3 Gattungsorientierte Medienvergleiche Die medienvergleichende Forschung (Inter-Media-Vergleiche, Schulz 2008: 21) ist eine Rezeptions-, Nutzungs-, Aufmerksamkeits-, Besitz-, Kauf-, Absatz- oder Umsatzforschung, die danach fragt, wie Geld, Zeit oder Aufmerksamkeit auf verschiedene mediale Angebote aufgeteilt wird. Das System ergibt sich additiv aus den verschiedenen, differenzierbaren Medien, die eine Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt kennt und in verschiedenen Kombinationen in einem Medienverbund nutzt (z.  B. Bellingradt 2020: 523–524). Medien bzw. Gattungen stehen mit anderen Medien in der Regel in einer quantifizierbaren, häufig konkurrenzierenden Beziehung (Kuhn und Rautenberg 2015: 260; Magerski und Karpenstein-Eßbach 2019: 194; Saxer 1975: 208). Der Zuwachs in Bezug auf die interessierenden Parameter (z.  B. Nutzungsdauer oder Haushaltsausgaben pro Zeiteinheit) bei dem einen Medium führt in der Logik der Konkurrenz der Teilsysteme innerhalb des gesamten

4 Synopse und Desiderate 

 217

geschlossenen Systems kausal zu einem Verlust bei einem anderen, bedingt durch die Knappheit an Geld, Zeit oder Aufmerksamkeit. Die medienvergleichende Forschung ist eine empirische Forschung, für die umfängliche Statistiken benötigt werden. Nicht alle dieser Statistiken werden mit einem wissenschaftlichen Erkenntnisziel erhoben, sondern von Branchenverbänden, weiteren Unternehmen oder Meinungsforschungsinstituten zusammengestellt. Als umfängliche Dokumentation der Teilmedienbranchen im Deutschen Mediensystem als Fallbeispiel für eine relativ gute Datenlage ist der German Media and Entertainment Outlook von PWC zu nennen (PWC 2018). Auf Basis dieser Daten kann z.  B. der Umsatz mit traditionellen Schrift- und Lesemedien mit dem Umsatz audiovisueller Medien verglichen werden. Zu erkennen ist ein seit Jahren klares Aufstreben der audiovisuellen Medien bei rückläufiger Umsatzentwicklung der Schrift- und Lesemedien, dieses geschuldet den periodischen Medien, während der Buchumsatz im Zeitablauf stabil verläuft (differenzierter zu den Statistiken Hagenhoff 2022b). Einen Fokus auf die Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen legen seit 1998 die KIM- bzw. JIM-Studien (Feierabend et al. 2020) des Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwests. Im Zeitablauf seit 2010 zu erkennen ist eine leicht ansteigende Buchnutzung (Print + E-Book) bei klarem Rückgang der Nutzung der Lesemedien Zeitung und Zeitschrift (Print + Online) sowie ein Anstieg der Handynutzung. Problematisch an der JIM-Studie ist die oben bereits benannte kategoriale Inhomogenität der abgefragten Entitäten. In der Studie werden Geräte (Smartphone, Tablet) mit medialen Artefakten bzw. Kommunikationskonzepten (Zeitung, Buch) und Übertragungstechnologien (Videos im Internet, Videos im Stream, Videos auf Trägermedien) vermischt, teils fehlen den Items Verben, die die Mediennutzungsform (lesen, hören) charakterisieren würden. Die Aussagekraft der dargebotenen Daten ist damit sehr beschränkt, denn sie geben z.  B. keine Auskunft darüber, was Personen auf den Geräten (Tablet, Smartphone) konkret tun (Bücher lesen, Musik hören, Bewegtbild gucken).

4 Synopse und Desiderate 4.1 Konvergenz und Hybridität oder Differenzierung und Spezifität Die zahlreich vorgebrachte Kritik an der Medienorientierung der Mediensystemforschung muss allerdings differenzierter behandelt werden. Sie ist richtig formuliert, fokussiert man ausschließlich auf die unter den Kommunikaten liegende Basistechnologie. Sie ermöglicht und standardisiert die Übertragbarkeit und Speicherbarkeit von nun durchgängig binärkodierten Signalen und macht eine Differenzierung von

218 

 IV.2 Mediensysteme

Medien oder Kanälen in flüchtig (Rundfunk) vs. nicht flüchtig (Print) oder elektronisch (Radio, TV, Internet) vs. print (Buch, Zeitung, Zeitschrift) obsolet. Auch ist nachvollziehbar, dass das Medien- bzw. Kommunikationssystem einer Gesellschaft als Gesamtheit hybrid ist bzw. schon immer war (Chadwick 2013: Kapitel 2). Andererseits weisen Zeichensysteme unabhängig von aktueller Produktionsoder Distributionstechnologie kommunikativ divergente Leistungsfähigkeiten auf. Schrift lässt sich querlesen, während Audio sequenziell rezipiert werden muss, Schrift kann Abstrakta ausdrücken, Bilder stellen konkrete Signifikate dar. Zeichensysteme weisen divergente und mächtige kulturelle Zuschreibungen auf (siehe VI. Wertzuschreibung und Symbolik in diesem Band) – Lesen vs. Bilder gucken vs. Musik hören  – und mediale Artefakte sind ihrerseits eigene Zeichensysteme (Rautenberg 2005; siehe II.1 Materielle Semantiken in diesem Band). Sie sind mit positiven (Belesenheit, Intellektualität) wie auch negativen (anstrengend, kulturelle Pflichterfüllung, Zeitverschwendung) Images als Ergebnis öffentlicher Deutungsprozesse belegt. Sie erlauben oder erfordern divergente Praktiken in der Nutzung im Alltag und sind situationsspezifisch mehr oder weniger gebrauchstaugliche Rezeptions- und Nutzungsobjekte (Kuhn und Hagenhoff 2019). Ebenfalls sind die Kompetenzen von Menschen in zu erlernenden Berufen weiterhin nicht beliebig (siehe V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel in diesem Band), sondern divergent (Texte redigieren vs. Filme drehen) ausgeprägt. Verschiedene materielle Manifestationen benötigen nach wie vor divergente Systemleistungen in Form von Ressourcen (z.  B. Papier oder Strom) oder technische Infrastrukturen (z.  B. Wegesysteme und Transportvehikel vs. Kabel), die durchaus auch an ihre Grenzen kommen können, wie der Kapazitätsengpass US-amerikanischer Druckereien im Fall der Obama-Biografie gezeigt hat (Denkler 2020). Hybridität und Konvergenz führen also nicht automatisch zu völliger Ununterscheidbarkeit von konkreten medialen Formaten und medienspezifischen Logiken. Allerdings ist es für analytische Zwecke nicht sinnvoll das Medien- und Kommunikationssystem in fix definierte und zudem immer zeitpunktbezogene Untermengen entlang in der Tat hinterfragenswerter Gattungen (Buch vs. Internet vs. TV) zu subsumieren. Sinnvoller ist es stattdessen, nach kommunikativen Funktionen, Handlungspraktiken oder Einflussgrößen auf interessierende Aspekte zu subsumieren. Herauszuarbeiten gilt es jeweils, welches die stabilen Systemelemente sind (Redundanz, Vorstrukturiertheit, Verfasstheit) und welche Varietäten situationsspezifisch ausgeprägt und mit welchen Beweggründen (im Zeitablauf) wie verändert werden.

4 Synopse und Desiderate 

 219

4.2 Präzisierte Forschungsansätze 4.2.1 Systemlogiken Medienvermittelte öffentliche Kommunikation findet nicht willkürlich und spontan statt. Damit Kommunikate vom Sender zum Empfänger gelangen können und eine Chance haben, individuelle oder kollektive Wirkungen zu entfalten, ist ein System aus Elementen erforderlich, die miteinander verwoben sind und ein komplexes Gefüge oder eine Logik ausprägen (Abb. 1). Institutionen: Regeln, Normen, Kulturen

Erlebnisse Ereignisse Vorstellung

Veredeln Bündeln Bereitstellen

Kreieren

Autor, Übersetzer, Fotograf, Illustrator, …

Lektor, Redakteur, Gestalter, …

Reputation

Rechte

Distribuieren

Konsumieren

Logistische & akquisitorische Distribution

Rezipieren Schenken Regalstellen

Pressehandel, Buchhandel, Bibliothek, Verlage, Literaturvermittler, …

Software

Kreativität Marke

Leser, Hörer, Zuschauer

Geräte Immobilien

Material

Akteure in Leistungsrollen

Produzieren

Funkonen und Prozesse

Zusammenhänge der Nutzung und Verwendung: Artefakte Infrastrukturen

Ressourcen

Zusammenhänge der Entwicklung, Herstellung und Distribution: Organisationsleistungen (Spezialisierung, Koordination) Infrastrukturen

Abb. 1: Kommunikations- und Mediensystem als Funktionslogik.

Das System der medial vermittelten öffentlichen Kommunikation besteht aus organisiertem und institutionalisiertem sozialem Handeln (Beck 2018: 9 und 30) und kann entsprechend mit Organisationstheorien und / oder Ansätzen der Institutionenökonomie konturiert werden. Die Handlungen werden von Akteuren ausgeführt. Diese können Individuen, wie z.  B. selbstständige Lektor*innen oder Fotograf*innen, oder Organisationen, wie z.  B. Verlage oder Bibliotheken, sein. Unter Organisationen sind Zusammenschlüsse von mehreren Personen zu verstehen, die bestimmte gemeinsame Interessen durchsetzen wollen, was jede einzelne Person allein nicht würde erreichen können (Abraham und Büschges 2009: 20). Akteure sind abstrahierend Träger von funktionsbezogenen Leistungs- oder Handlungsrollen (Gerhards und Neidhardt 1990: 24; Jarren 2008, 330 und 332–333; Volkmann 2010). Das Handeln der Akteure und die Übernahme einer Leistungsrolle sind auf Dauer ausgelegt. Organisationsleistungen gestalten die systemrelevanten, arbeitsteilig strukturierten Handlungen bzw. Prozesse in Bezug auf die zu wählenden Spezialisie-

220 

 IV.2 Mediensysteme

rungsarten und Koordinationsformen. Spezialisierung widmet sich der Frage, wie eine Leistung am sinnvollsten arbeitsteilig erstellt werden kann und fokussiert auf die Ausdifferenzierung oder Zusammenführung von Leistungsrollen im Laufe der Zeit (z.  B. Verleger*in, Drucker*in, Buchhändler*in vs. Druckerverleger). Koordination beschäftigt sich mit der Frage, wie arbeitsteilige Prozesse wieder sinnvoll zusammengefügt werden können. Als Arrangements kommen Markt, Hierarchie (Unternehmen als Organisationseinheit) oder Kooperation in Frage (Coase 1937; Williamson 1985). Anders formuliert fragt die Koordinationsleistung nach der Leistungstiefe einzelner Organisationeinheiten oder den Grenzen zwischen den verschiedenen Organisationseinheiten in einem arbeitsteiligen Handlungssystem. Arbeitsteilung durch Spezialisierung erfordert somit Koordination, Koordination ist entbehrlich ohne Spezialisierung (Schewe 2010). Die organisatorische Ausgestaltung des Systems der medienvermittelten öffentlichen Kommunikation beeinflusst die Entscheidungen und Handlungen von Akteuren und Akteursgruppen sowie deren Positionierung innerhalb des Systemgefüges. Institutionen sind menschengemachte Beschränkungen menschlicher Interaktion (North 1992: 3). Sie fördern oder limitieren die Verhaltensweisen der handelnden Akteure und beeinflussen damit maßgeblich die spezifische Funktionstüchtigkeit eines konkreten Kommunikationssystems vor dem Hintergrund seines spezifischen Zwecks, wie z. B Kontrolle des Politikhandelns, Erhöhen des Grades an Aufklärung und Bildung oder Verbreiten von Botschaften der Herrschaftseliten. Institutionen sind in Form von Regeln, Normen oder Werten ausgeprägt (Scott 2014: 47–71). Sie sind formell (schriftlich) oder informell gefasst. Sie sind extern eingesetzt, also aus einem übergeordneten Umsystem stammend und von z.  B. Staat oder Herrschaftselite formuliert, oder innerhalb des betrachteten Systems (intern) ausgehandelt (North 1992: 43). Unterschieden werden können weiterhin direkt und indirekt wirkende Institutionen (Hagenhoff 2020a). Das Objekt der Beeinflussung direkt wirkender Institutionen ist das eigentliche Kommunikat oder der Inhalt, die zentrale Frage ist, was kommuniziert werden soll oder darf (siehe VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen in diesem Band). Das Objekt der Beeinflussung indirekt wirkender Institutionen sind die Handlungen, die der Erzeugung und Zirkulation medialer Objekte dienlich sind. Diese Handlungen erfordern Optionenräume (z.  B. Besitzmöglichkeiten, Markteintrittsmöglichkeiten, Finanzierungsmöglichkeiten), deren Beschaffenheit wiederum darauf wirkt, ob und wie medial vermittelte öffentliche Kommunikation stattfinden kann (siehe VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe in diesem Band). Gewählte Organisationsformen und Institutionen beeinflussen die Systemeigenschaften der Redundanz und Variabilität: Stabilität zur Reduktion von Unsicherheit in den Beziehungen wird durch Institutionen erreicht. Beispiele für eine solche Vorstrukturierung oder Regelhaftigkeit sind die als intern-formelle Institution umgesetzte Verkehrsordnung für den Buchhandel oder der definierte Prozess

4 Synopse und Desiderate 

 221

der Lieferung von Titeln binnen in der Regel 24 Stunden, wenn diese im Verzeichnis lieferbarer Bücher gelistet sind, als Norm. Auf die Varietät (Reagibilität, Flexibilität) wirkt die Struktur des Akteurgefüges in Bezug auf deren Anzahl und der Menge der ausgestaltbaren Beziehungen. Im deutschen Buchhandel ist die Stufe des Zwischenbuchhandels z.  B. durch eine oligopolistische Struktur gekennzeichnet, in der als Barsortimente nur drei Akteure positioniert sind. Die Insolvenz von KNV und der temporäre Ausfall dieses Akteurs im Jahr 2019 hat die Fragilität des Systems verdeutlicht (Jordan 2019). Des Weiteren sind in einem System der medienvermittelten Kommunikation tangible (z.  B. Lettern oder Software) bzw. intangible (z.  B. Rechte oder Reputation) Ressourcen und gegebenenfalls inhaltstragende Artefakte (z.  B. kodexförmige Bücher, Zeitungen, Flugblätter) nötig. Die Zirkulation von Kommunikaten erfordert zudem zwingend technische Infrastrukturen (siehe VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation in diesem Band). Hierunter werden Technologien verstanden, die der Versorgung von etwas mit etwas in der Fläche dienen. „Infrastruktur könnte man definieren als alles Stabile, das notwendig ist, um Mobilität und einen Austausch von Menschen, Gütern und Ideen zu ermöglichen“ (van Laak 2018: Kapitel ‚Jenseits des Alltäglichen‘). Osterhammel (2011: Kapitel 5) spricht von der ‚Verkabelung der Welt‘ in Bezug auf die elektrische Telegrafie im 19. Jahrhundert und verdeutlicht damit die Notwendigkeit der Vernetzung von Akteuren, damit Kommunikation überhaupt stattfinden kann. Technische Infrastrukturen entfalten ihre Funktion nur durch geeignete begleitende Organisationsleistungen (hierzu Behringer 2003 für die Frühe Neuzeit; Übersicht zum Infrastruktur- und Netzwerkaspekt von Kommunikation bei Hagenhoff 2020c: 12). Das medienbasierte Kommunikationssystem einer Gesellschaft bewegt sich „zwischen den Polen Fremdsteuerung (Allopoesis) durch Politik (Staat, Parteien, Militär), Wirtschaft (Unternehmen, Markt, Börse, Werbung) oder Gesellschaft (Kirche, Gewerkschaften, Verbände) und Selbstorganisation (Autopoiesis)“ (Beck 2018: 9). Es kann in Subsysteme untergliedert werden in Abhängigkeit der konkreten Funktionen, die medienvermittelte Kommunikation als Problemlöser bedienen soll: Fiktionale Erzählungen als Angebot zu Entspannung und Zeitvertreib, Denken in Möglichkeiten oder kultureller Orientierung erfordert eine andere Logik als die auf Zertifizierung, Registrierung, Archivierung und Wahrnehmung angewiesene Kommunikation wissenschaftlicher Inhalte und diese andere als die auf Kritik und Kontrolle angelegte Berichterstattung über Politikhandeln. 4.2.2 Systemarten Eine typen- oder indexbildende Forschung ist der Versuch, eine Anzahl an Parametern auf methodisch verschiedene Arten zu einer Spitzenaussage zu verdichten.

222 

 IV.2 Mediensysteme

Unterstellt wird dabei, dass die Parameter auf den gewählten Erkenntnisgegenstand Einfluss haben. Neben der oben beschriebenen Typenbildung kann hierzu auch eine Indexbildung angestrebt werden. Ein Index liefert Abstufungen auf einer normierten Skala (wie z.  B. der Index der Pressefreiheit), auf der sich zur Gruppenbildung (eher willkürliche) Cut-Off-Levels definieren ließen. Die oben vorgestellten Systemtypen zielen alle auf die institutionellen Bedingungen der medialen Kommunikation ab, verstanden vor allem als Möglichkeitsraum der journalistischen Arbeit. Der Ansatz kann ausgedehnt werden auf die Untersuchung der Möglichkeiten der Kommunikation und Rezeption im Sinne des Sprechenkönnens (Síthigh 2013) und sich Informierenkönnens. Hierauf wirken u.  a. die Zugangsmöglichkeiten zu Ressourcen oder die Zugangsmöglichkeiten zu medialen Objekten. Für einen spezifischen Fokus einer Indexbildung auf eine Buch- und Lesekultur könnten zur Operationalisierung Kennzahlen herangezogen werden wie die historisch frühe Literalität und Lesequote (Hallin und Mancini 2004: 22–30 und 146–150), die Menge bzw. Dichte etablierter Akteure (Verlage, Buchhandlungen, Bibliotheken in Relation zur Einwohnerzahl und Fläche, z.  B. Emrich 2011), kulturelle Praktiken wie Regalstellen oder Nicht-Wegwerfen, das Vorhandensein einer Buchpreisbindung (siehe VIII.3 Internationale Vergleiche von Buch- und Lesekulturen in diesem Band) oder die Sichtbarkeit von Büchern im Alltag. 4.2.3 Quantitative Vergleiche Die medienvergleichende Forschung zeichnet sich dadurch aus, dass sie Medien innerhalb eines Verbunds in Bezug auf einzelne Parameter quantitativ erfasst. Diese Art von Forschung müsste so verändert werden, dass der interessierende Sachverhalt präziser herausgearbeitet und benannt wird. In Studien zum medienbezogenen Freizeitverhalten junger Leute müsste z.  B. präziser die eigentliche Handlung erfragt werden, man würde dann ‚fiktionale Texte lesen‘ von ‚Musik hören‘ unterscheiden und hiermit die kritisierte Gattungs- oder Artefaktorientierung aufbrechen. Damit wäre aber auch eine methodisch anspruchsvollere Datenerhebung nötig, da nicht simplifizierend die Dingbenutzung gemessen werden könnte, sondern der Zweck der jeweiligen Dingbenutzung differenziert erfasst werden müsste. Zudem müsste die Differenzierung in konkrete Handlungen theoriegeleitet begründet werden. Auch die Medienmarktforschung ließe sich verbessern, würden nicht lediglich etablierte und naheliegende Akteure, wie z.  B. Buchverlage und Buchhandlungen, im Fokus stehen. Zahlreiche andere Akteure eines Literatursystems, wie Freiberufler*innen, Übersetzer*innen oder Illustrator*innen, Agent*innen im Lizenzhandel,

Literatur 

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Literaturfestivals (LitCologne, Erlanger Poetenfest, Leipzig Liest) oder Literaturvermittler (Literaturhäuser, Social-Reading-Plattformen), sind nicht oder nur teilweise (z.  B. in Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2021) erfasst, der Untersuchungsgegenstand ‚Medienmarkt‘ oder ‚Literatursystem‘ ist gar nicht vollständig abgebildet. Seufert und Sattelberger (2015) zeigen mit ihrer Studie zur volkswirtschaftlichen Bedeutung von Musikunternehmen, wie ein strukturell anderer Blick auf den Gegenstand ‚Musikwirtschaft‘ aussehen kann.

Literatur Abraham, Martin, und Günter Büschges. Einführung in die Organisationssoziologie. 4. Aufl. Wiesbaden 2009. Allgaier, Joachim. „Wissenschaft und Populärkultur.“ Forschungsfeld Wissenschaftskommunikation. Hrsg. von Heinz Bonfadelli, Birte Fähnrich, Corinna Lüthje, Jutta Milde, Markus Rhomberg und Mike S. Schäfer. Wiesbaden 2017: 239–250. Amlinger, Carolin. Schreiben: Eine Soziologie literarischer Arbeit. Berlin 2021a. Amlinger, Carolin. „Wozu Literatursoziologie?“ Merkur 75.868 (2021b): 85–93. Arnold, Dirk, und Patrick Donges. „Medienpolitik in hybriden Mediensystemen.“ Handbuch Medienökonomie. Hrsg. von Jan Krone und Tassilo Pellegrini. Berlin 2020: 1–19. Bauer, Martin W. „Kritische Beobachtungen zur Geschichte der Wissenschaftskommunikation.“ Forschungsfeld Wissenschaftskommunikation. Hrsg. von Heinz Bonfadelli, Birte Fähnrich, Corinna Lüthje, Jutta Milde, Markus Rhomberg und Mike S. Schäfer. Wiesbaden 2017: 17–40. Beck, Klaus. Das Mediensystem Deutschlands: Strukturen, Märkte, Regulierung. 2. Aufl. Berlin 2018. Becker, Howard. Through Values to Social Interpretation: Essays on Social Contexts, Actions, Types, and Prospects. Durham, NC 1950. Behringer, Wolfgang. Im Zeichen des Merkur: Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2003. Bell, Alice, und Jon Turney. „Popular Science Books: From Public Education to Science Bestsellers.“ Routledge Handbook of Public Communication of Science and Technology. Hrsg. von Massimiano Bucchi und Brian Trench. 2. Aufl. Abingdon, Oxon, New York 2014: 5–26. Bellingradt, Daniel. „Das Flugblatt im Medienverbund der Frühen Neuzeit: Bildtragendes Mediengut und Recycling-Produkt.“ Daphnis 48.4 (2020): 516–538. Bertalanffy, Ludwig von. Theoretische Biologie. Berlin 1932. Bertalanffy, Ludwig von. General System Theory: Foundations, Development, Applications. London 1971. Blaschke, Olaf. „Sind deutsche Verlage anders? Ein überfälliges Plädoyer für den Einzug der internationalen Komparatistik in die Buchhandelsgeschichte.“ Wissenschaftsverlage zwischen Professionalisierung und Popularisierung. Hrsg. von Monika Estermann und Ute Schneider. Wiesbaden 2007: 179–197. Blaschke, Olaf. Verleger machen Geschichte: Buchhandel und Historiker seit 1945 im deutsch-britischen Vergleich. Göttingen 2010. Blum, Roger. „Mediensysteme gehorchen der Politik.“ Neue Zürcher Zeitung (27. Oktober 2006). https:// www.nzz.ch/articledooqb-1.70897. (11.11.2021).

224 

 IV.2 Mediensysteme

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Literatur 

 225

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IV.3 Medienwandel Peter Gentzel

1 Gegenstandsbereich Medienwandel ist ein eigentümlicher Untersuchungsgegenstand der Kommunikations- und Medienanalyse, weil er gleichzeitig viel bearbeitet, nahezu omnipräsent und dennoch unbestimmt ist. Einerseits kommt kaum eine Studie ohne die Frage nach dem Neuen, der Veränderung oder dem Geworden-Sein aus, findet sich in der jüngeren Vergangenheit kaum ein Konferenztitel, der nicht wenigstens einen der Begriffe Wandel, Transformation oder eine Form von ‚-isierung‘ (z.  B. Digitalisierung, Mediatisierung, Datafizierung) enthält. Auf der anderen Seite leiten die Einführungen und Überblicke zum Medienwandel nahezu geschlossen mit dem Verweis auf Vielfältigkeit, Unübersichtlichkeit und folglich einem hohen Maß an Unbestimmtheit ein (z.  B. Behmer et al. 2003; Latzer 2013; Kinnebrock et al. 2015a). Angesichts dieser paradoxen Situation eines mehr oder weniger unklaren „Totalphänomens“ (Wilke 2015: 29) stellt sich die Frage, ob es überhaupt ein „Forschungsfeld ‚Medienwandel‘ gibt oder geben kann, das sich konturieren und sinnvoll von anderen Feldern […] abgrenzen lässt“ (Kinnebrock et al. 2015b: 18) oder, so lässt sich ergänzen, ob man es hier nicht grundsätzlich mit einem Querschnittsthema zu tun hat, das je nach Erkenntnisinteresse spezifisch theoretisiert und empirisch bearbeitet werden muss. Die Unterscheidung in Forschungsfeld und -thema lässt sich heuristisch nutzen, um die Umrisse einer gegenwartsbezogenen Analyseperspektive auf Medienwandel in theoretischer und empirischer Hinsicht zu konturieren. Hierfür ist es zielführend Medienwandel als Thema einer Kommunikations- und Medienforschung zunächst noch im Hintergrund zu belassen und zuerst auf solche Arbeiten zu schauen, deren Erkenntnisziel dezidiert die Konzeption und Analyse von Medienwandel ist. Hierbei sind insbesondere drei Merkmale augenfällig: Historisierung, Innovationsfokus und konzeptioneller Dualismus. Aufgerufen sind damit zunächst historische Studien zum Medienwandel. National wie international sind diverse Publikationen zur Geschichte einzelner Medien wie Buch, Fernsehen, Zeitung, Internet oder zum Wandel nationaler Systeme der Kommunikationssteuerung zu finden. Eine Schlussfolgerung für ein Forschungsfeld Medienwandel aus diesen Arbeiten ist die Orientierung auf Prozesse und Genealogien. Medienwandel ist in dieser Perspektive – und das ist ein relevanter Befund auch für synchrone Forschungsvorhaben – nicht alternativlos, keine Einbahnstraße, sondern basiert auf dem jeweils konkreten Zusammenspiel unterschiedlicher technischer, sozialer und kultureller Prozesse (siehe die Beiträge in Abschnitt VIII Makroskopische Perspektiven der Buchforschung in diesem Band). https://doi.org/10.1515/9783110745030-010

230 

 IV.3 Medienwandel

Ein zweiter Korpus von Studien zum Medienwandel setzt sich aus synchronen Arbeiten zusammen. Schon ein flüchtiger Blick zeigt, dass Medienwandel und Gegenwart häufig durch die Rede von ‚alten‘ und ‚neuen‘ Medien verknüpft werden (z.  B. Gitelmann und Pingree 2003; Park et al. 2011; Stöber 2012; Balbi 2015). Das ‚Neue‘, zumeist in Form von Innovationen und Technologien, ist Topos unzähliger kommunikations- und medienwissenschaftlicher Studien. Diese Analysen konzentrieren sich mehrheitlich auf ein einzelnes Phänomen bzw. einen konkreten Nutzungszusammenhang zu einem definierten Zeitpunkt. Die eben beschriebene ‚historische‘ Erkenntnis alternativer Entwicklungen, die systematische Rekonstruktion der Voraussetzungen für Innovationen  – z.  B. unter Berücksichtigung gescheiterter technischer Entwicklungen oder des Ausbleibens breiter sozialer Aneignung – spielt dabei allerdings kaum eine Rolle (Deacon und Stanyer 2014). Insgesamt zerfällt das Feld der empirischen Studien zum Medienwandel – zugespitzt formuliert – in historische Rekonstruktionen von Einzelmedienentwicklungen und gegenwartsbezogene Analysen des ‚Neuen‘. Schließlich gibt es eine Vielzahl primär an theoretischen Argumenten und konzeptionellen Entwicklungen interessierter Arbeiten zum Medienwandel, die sich aufgrund unterschiedlicher epistemologischer Positionen und Grundbegriffe in ihrer Gesamtheit allerdings nicht zu einem stimmigen Bild zusammenfügen lassen. Die größte Schwierigkeit besteht darin, theoretische Perspektiven in einen produktiven Dialog zu bringen, die von Triebkräften für Wandel bzw. Mechanismen der Veränderung ausgehen, die selbst abgeschlossen, ahistorisch und im Vergleich untereinander verschieden sind. Beispiele hierfür sind Konkurrenz und Anpassungsdruck (evolutionstheoretische Perspektive), funktionale Differenzierungen (systemtheoretische Perspektive) oder Mängelbeseitigung (anthropologische Perspektive), die zeitgleich als Auslöser und Erklärung für Medienwandel herangezogen werden. Medialer Wandel ist in diesen Perspektiven eine unendliche Abfolge aus Reaktionen auf verschiedene äußerliche Faktoren, etwa wenn Medien als ‚extensions of men‘ (McLuhan 1964) Kommunikation von immer mehr Grenzen befreien, sie sich an historische Entwicklungen und gesellschaftlichen Wandel anpassen oder im ökonomischen Wettbewerb überleben müssen (für eine detaillierte Typologie siehe u.  a. Wilke 2015). Zu diesem Typus gehört auch der äußerst prominente Ansatz, Medienwandel mit der gesellschaftlichen Diffusion von Innovationen gleichzusetzen (Rogers 2003). Wandel ist hier die Verbreitung des Neuen, sei es eine Technologie, eine Dienstleistung oder eine Idee. Auch diese theoretische Position beruht auf einer Reihe ahistorischer, a priori gesetzter Annahmen, etwa indem sie mit der Innovation beginnt und entsprechende technische Vorläufer oder Modifikationen von Ideen im Laufe des Diffusionsprozesses ebenso außenvorlässt, wie die Möglichkeit einer grundlegenden Veränderung des gesellschaftlichen Diffusionsprozesses selbst (z.  B. durch neue Formen von Interaktion, Öffentlichkeit

1 Gegenstandsbereich 

 231

und Erreichbarkeit, Prozesse sozialer Beschleunigung oder fortschreitender Ökonomisierung). Auch wenn sich die genannten Argumentationstypen in der Frage, worauf Wandel letztlich zurückzuführen ist (z.  B. technische Innovation, Menschen als Mängelwesen, Konkurrenz oder Anpassungsdruck), grundlegend unterscheiden, besteht ihre Gemeinsamkeit in einer dualistischen Ontologie. Also einer vorab gesetzten Unterscheidung in mediale und nicht mediale Faktoren (z.  B. Medien und Umwelt, Medien und Gesellschaft, Medien und Menschen), deren Beziehung zueinander meist einseitig gedacht ist. Eine Entscheidung, welche dieser Vorstellungen von Medienwandel angemessen oder ‚die richtige‘ ist, hängt vom jeweiligen Forschungsthema ab und kann nicht a priori unter Absehung der konkreten Erkenntnisinteressen getroffen werden. Um möglichst vielfältige Anknüpfungspunkte für eine gegenwartsbezogene Erforschung von Medienwandel zu offerieren, wird in der Folge deshalb auf solche Konzeptionen gesetzt, die von einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis ausgehen, das heißt Medien als etwas begreifen, das sich in menschlichen Praktiken und Kommunikationsprozessen konstituiert und diese gleichzeitig formt. Aus der bisherigen Betrachtung von Studien, die sich explizit auf Wandel beziehen – im Sinne unserer heuristischen Unterscheidung also einem Forschungsfeld zuzurechnen sind – lassen sich dennoch bereits einige wertvolle Hinweise für die gegenwartsbezogene Analyse von Medienwandel ableiten. Der Ansatz der Historisierung, also der systematischen historischen Rekonstruktion oder zumindest Kontextualisierung, bereichert synchrone Studien durch Sensibilität für Alternativen und damit einem kritischen Hinterfragen vermeintlich technologischer, ökonomischer oder sachlicher Zwänge. Synchrone Studien zur Digitalisierung von Medien und Kommunikation haben demgegenüber gezeigt (dazu unten mehr), dass die Erforschung einzelner Medien ihre Grenzen hat. Insofern bieten sich auch für die historische Forschung Fragen an, die das Zusammenspiel unterschiedlicher Medien und Prozesse in den Mittelpunkt rücken. In theoretischer Hinsicht lässt sich mit dem Verständnis von Medienwandel als Reaktion auf bestimmte externe Phänomene oder als gesellschaftliche Verbreitung von Innovation ebenfalls nach spezifischen Aspekten medialen Wandels fragen (z.  B. nach ökonomischen Konkurrenzverhältnissen oder der strategischen Steuerung von Diffusionsprozessen). Beide Positionen haben, wie angedeutet, allerdings ihre Schwächen, die auf ihren grundlegend dualistischen Aufbau zurückzuführen sind. Der Blick auf Gestalt und Bedeutung von digitalen Medien in der Gegenwart vermag die bis hierhin allenfalls angedeuteten Schwachstellen der Konzepte von Medienwandel deutlicher aufzuzeigen und, positiv gewendet, Anschlussmöglichkeiten für deren Weiterentwicklung offerieren. Dieser oberflächliche Blick auf Medienwandel als Forschungsfeld oder Forschungsthema ließe sich nun durch typologische und selektive Betrachtungen

232 

 IV.3 Medienwandel

oder dem Versuch einer synthetischen Positionierung fortführen (Ansätze hierzu finden sich u.  a. in Kinnebrock et al. 2015a; Behmer et al. 2003). Den referenzierten Herausgeberbänden ist in Breite und Tiefe der diskutierten Theorien, Themen und Befunde zum Medienwandel im Rahmen eines überblickshaften Einzelbeitrags in dieser Hinsicht kaum ein Mehrwert beizusteuern. Die Argumentationsstrategie ist deshalb eine andere: Zunächst wird die Gegenwart digitaler Kommunikation und Medien beleuchtet, um allgemeine empirische Befunde zu Medienwandel als Forschungsthema im 21. Jahrhundert herauszuarbeiten. Orientierungspunkte sind dabei der Medienbegriff selbst und die damit verknüpfte, grundlegend gewandelte Gestalt und Bedeutung von Medien in bzw. für alltägliche Kommunikationspraktiken. Ziel ist es, erstens, Anknüpfungspunkte für die Analyse digitaler Schrift- und Lesemedien zu explorieren, indem Merkmale digitaler Medien aus einer kontextuellen Perspektive herausarbeiten werden. Die Konzentration liegt hierbei auf jenen Phänomenen, die für digitale Medien im Allgemeinen, für deren Nutzung und Aneignung insgesamt charakteristisch sind. Im zweiten Schritt werden aus diesen empirischen Beobachtungen Argumente abgeleitet und gesammelt, mit deren Hilfe Medienwandel als relationaler Prozess verstehbar wird; das heißt insbesondere Medienwandel nicht als Reaktion auf äußere Faktoren oder als bloße Verbreitung von etwas technisch oder ideell Neuem konzipiert ist. Medienwandel lässt sich für die Gegenwart besser als eine Dimension des Zusammenspiels technischer und ökonomischer, sozialer und kultureller Prozesse und deren Wechselwirkungen fassen. Die Frage, was Medien sind und wie sie sich wandeln, ist damit eine nach ihrer Bedeutung für bestimmte Praktiken – sowohl im Sinne ihres Einflusses, etwa ihrer ‚Prägekraft‘ (Hepp 2012), als auch im Hinblick auf ihr geprägt werden durch spezifische Handlungsmuster und Aneignungsweisen. Anders formuliert: Medien konstituieren sich in sozialen und kulturellen Kontexten und gleichzeitig prägen sie die soziale Praxis und Alltagskultur. Abschließend wird die Argumentation zu Eckpunkten für die Entwicklung eines konzeptionellen Rahmens zum Studium medialen Wandels verdichtet.

2 Digitale Medien: Konturen gegenwärtiger Kommunikationskulturen Für die Gegenwart des 21. Jahrhunderts hat die internationale Kommunikationsund Medienforschung einige – im historischen Vergleich – grundlegende Veränderungen diagnostiziert. In der Folge werden ausgewählte Befunde zum Wandel des alltagspraktischen Umgangs der Menschen mit Medien und dessen Bedeutung für Wirklichkeitskonstruktionen vorgestellt. Ziel ist es, herauszuarbeiten, worin sich die Aneignung digitaler Medien und ihre Bedeutung für das alltägliche Tun und

2 Digitale Medien: Konturen gegenwärtiger Kommunikationskulturen 

 233

Kommunizieren von früheren Mediennutzungsweisen unterscheiden. Im zweiten Schritt werden Verständnisse bzw. Begriffe und analytische Instrumente von Medien reflektiert, die in Diskursen und der gegenwartsbezogenen Forschung allgegenwärtig, bei der theoretischen Konzeption von Medienwandel allerdings noch unberücksichtigt sind. Die folgenden zentralen Befunde unterschiedlicher internationaler Studien werden unter dem Dach der Mediatisierungsforschung zusammengezogen (u.  a. Hepp 2021; Krotz 2018; Livingstone 2009). In diesen empirischen Studien werden zwei Verständnisse digitaler Medien konturiert, Medien als Plattformen und Infrastrukturen (u.  a. Gillespie 2018; van Dijck et al. 2018; Plantin et al. 2018), die im zweiten Schritt reflektiert werden.

2.1 Mediatisierung des Alltags Mediennutzung im 21.  Jahrhundert unterscheidet sich zu vorherigen Epochen durch die grundlegende, nicht zu entwirrende Verflechtung mit Alltagspraktiken. So ist aus historisch vergleichender Perspektive Mediennutzung in der Gegenwart keine distinkte ‚Sinnprovinz‘ des Alltags, das heißt kein räumlich, zeitlich, sozial und sinnbezogen abgrenzbarer Handlungstypus (Krotz 2001: 29; Gentzel und Koenen 2012). Peter Vorderer und Kolleg*innen sprechen in diesem Zusammenhang etwa von einem vollständig ‚mediatisierten Lebenswandel‘ (2015), Nick Couldry und Andreas Hepp von einer ‚mediatisierten Konstruktion der Wirklichkeit‘ (2017) und Sonja Livingstone prägnant von einer ‚mediation of everything‘ (2009). Bezogen auf die Konzeption von Medienwandel ist es wichtig zu betonen, dass Alltag in diesen Argumentationen einen „primären Handlungsmodus“ meint, der als Grundlage für alle weiteren sozialen Praktiken bzw. als „Bezugsrahmen“ für sämtliche Tätigkeiten dient (Thomas und Krotz 2008: 33). Medien sind demnach nicht nur dann relevant, wenn sie genutzt werden um Inhalte zu produzieren oder zu rezipieren, wenn es um die technische Inszenierung und Verbreitung von Symbolen, Texten und Bildern geht. In den mediatisierten Alltagswelten des 21. Jahrhunderts formen und beeinflussen Medien jegliche Handlungsoptionen, Wissenszugänge, Interaktionsmöglichkeiten und Erwartungen, weil sie als ubiquitäre Ressourcen und Potentiale omnipräsent, das heißt zu jeder Zeit und an jedem Ort verfügbar sind. Allerdings bedarf es zur Ausdifferenzierung dieses Befundes weiterer asynchroner Studien: Die Umstellung der Orientierung auf den ‚Alltag als Handlungsmodus‘ und damit dem Fragen nach ‚Bedeutung‘, wie sie in der Mediatisierungsforschung oder den Cultural Studies zu beobachten ist, ist für die historische Rekonstruktion, das Erzählen von Kommunikations- und Mediengeschichte folgenreich. Denn obwohl sich die Zeitungskunde in den 1920er Jahren in einem kulturwissenschaftlichen Milieu etablierte (Gentzel und Koenen 2012),

234 

 IV.3 Medienwandel

institutionalisierte sich die Kommunikationswissenschaft mit der ‚sozialwissenschaftlichen Wende‘ (Löblich 2010) als vornehmlich quantitative, eher an Mediennutzungssituationen und -motiven interessierte Disziplin. Fragen nach Bedeutungen lassen sich wiederum mit akkumulierten Daten zu Nutzungshäufigkeiten und situativen, kurzfristigen Wirkungen nicht beantworten. Schlechterdings werden diachrone Analysen in der Mediatisierungsforschung allerdings noch immer arg vernachlässigt. So bestehen gute Gründe zur Annahme, dass auch die Verbreitung von Symbolen auf bzw. in Höhlenwänden, Tontafeln oder Papyrus eng mit dem alltäglichen Handlungsmodus, dem Wissen und Tun der Menschen in den jeweiligen Epochen verbunden war. Die Omnipräsenz von Medien lässt sich für subkulturelle Praktiken wie Streetart und Skating (Encheva et al. 2013), für die Konstitution sozialer Bewegungen und Mobilisierung von Protest (Mattoni und Treré 2014) oder den Börsenhandel (KnorrCetina und Reichmann 2015) ebenso nachzeichnen, wie für den Wandel politischer Kommunikation (Kepplinger 2008; Driessens et al. 2010), die journalistische Nachrichtenproduktion (Deuze und Witschge 2019) und deren routinemäßigen Konsum „from the barbecue to the sauna“ (Boczkowski et al. 2021). Diese kontingente Auswahl an Beispielen verdeutlicht, dass Medienwandel als analytisches Thema eine massive Expansion erfahren hat und sich, statt auf die Produktion und Rezeption von Medieninhalten oder die Ebene der Repräsentation in Form von Texten, Bildern und Tönen beschränkt, auf soziale Alltagspraktiken bezieht. Die Mediatisierung von Lebensweise, Wirklichkeit und ‚everything‘ bedeutet für die Konzeption von Medienwandel daher notwendig die Einnahme einer relationalen Perspektive, denn die Omnipräsenz von Medien ist nicht gleichbedeutend mit inhaltlicher, funktionaler oder ästhetischer Homogenität. Gleichwohl es einige allgemeingültige Merkmale gibt, ist die Art und Weise der Mediennutzung, sind die Akteure und kulturellen Aneignungskontexte doch sehr verschieden. Es ist ein Merkmal digitaler Medien, ganz unterschiedliche soziale Praktiken sinnvoll erweitern, bereichern, vereinfachen oder effizienter gestalten zu können, indem sie sich mit den Nutzungsweisen und Kontexten weiterentwickeln und diese reproduzieren bzw. zu stabilisieren versuchen. Medien sind also nicht nur immer und überall vorhanden oder zumindest potenziell verfügbar und prägen auf diese Weise soziale Praktiken und kulturelle Kontexte, sondern entwickeln sich durch ihre Verwendung permanent weiter. Diesen Aspekt von Relationalität und Unabgeschlossenheit gilt es für eine Konzeption von Medienwandel im Blick zu behalten.

2 Digitale Medien: Konturen gegenwärtiger Kommunikationskulturen 

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2.2 Konvergenz Eine weitere, aus historischer Perspektive bemerkenswerte, Eigenschaft der gegenwärtigen Medienlandschaft und -kommunikation ist das „Zusammenwachsen vormals getrennter Medien“ (Neuberger und Quandt 2010: 66). Dieses Zusammenwachsen hat dabei nicht den Charakter einer Verschmelzung von schrift-, ton- und bildbasierten Medien zu einem einzigen Universalmedium, sondern der „Entkopplung und Rekombination“ (Beckert und Riem 2013: 46) bzw. „Differenzierung und Konnektivität“ (Hepp 2021: 71) von Medienleistungen, -formaten, -inhalten sowie ihrer Herstellungs- und Nutzungspraktiken. Im Anschluss an die Ausführungen zur Mediatisierung des Alltags liegt das Augenmerk hier weniger auf den Einzelmedien, ihren spezifischen Eigenschaften und deren Wandel (siehe IV.1 Intermedialität und IV.2 Mediensysteme in diesem Band), sondern auf den gewandelten zunehmend cross-, transmedialen und multimodalen Herstellungs- und Nutzungspraktiken. Ein instruktiver Ausgangspunkt ist hierbei der von Henry Jenkins geprägte Begriff der Konvergenzkultur, der auf das „Zusammenstoßen alter und neuer Medien“ (2006) als crossmediale Herstellungs- und Nutzungspraxis zielt. Für die Produktionsseite haben beispielsweise eine Reihe von Studien gezeigt, dass journalistische Inhalte nicht mehr für Print- oder Onlinezeitungen, Fernseh- oder Radionachrichten einzeln aufbereitet werden, sondern deren Produktion im Sinne einer „newsroom convergence“ (Garcia-Aviles et al. 2014) die Distribution über unterschiedliche Medien berücksichtigt, wobei unterschiedliche journalistische Arbeitsroutinen und -kulturen, Strukturen und Berufsbilder zusammentreffen und neu ausgehandelt werden müssen (Neuberger und Quandt 2010). Diese produktionsseitigen Konvergenzprozesse lassen sich mühelos auch für ökonomische Zusammenhänge abbilden, in denen die Bündelung von Serviceangeboten zusammen mit der Vervielfachung von Distributions- und Partizipationsmöglichkeiten (Netzwerken) zu einer Reorganisation von Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodellen führt (Song und Park 2015). Im Management- und Marketingbereich werden solche Entwicklungen beispielsweise anhand von Begriffen wie ‚crossmedialem Storytelling‘ oder ‚360-Grad-Marketing‘ sichtbar. Ein weiteres Beispiel ist die bereits angedeutete Mobilisierung von Protest und die Organisation sozialer Bewegungen, bei denen gezielt unterschiedliche Medien wie Twitter, Facebook, Blogs und Mailinglisten miteinander kombiniert werden, um die jeweils spezifischen Potentiale zur Information, für Austausch, Mobilisierung und Dokumentation zu nutzen (Mattoni und Treré 2014). Diese Beispiele für konvergente Medienproduktion in journalistischen, ökonomischen und zivilgesellschaftlichen Kontexten verweisen bereits deutlich auf korrespondierende Rezeptionspraktiken. Mediennutzer*innen rezipieren und konsumieren Inhalte und Themen über mehrere Medien hinweg, entsprechend

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 IV.3 Medienwandel

der jeweiligen Interessen, medialen Funktionalitäten und Situationen. Wie bereits erwähnt werden Nachrichten in unterschiedlichen Alltagssituationen über unterschiedliche, jeweils situativ passende Medien en passant abgerufen und auch die Nutzung sozialer Medien erfolgt konvergent, insofern beispielsweise unterschiedliche Profile für eine Plattform angelegt oder unterschiedliche Plattformen für differente Zwecke genutzt werden (van Dijck 2013; Costa 2018). Maren Würfel hat in einer Langzeitstudie gezeigt, dass die differenzierte und kombinierte Mediennutzung von Jugendlichen praktiziert wird, um den sich im Laufe des Heranwachsens verändernden Informations-, Unterhaltungs- und Ausdrucksbedürfnissen rund um ein Thema, in diesem Fall die Harry Potter und Twilight Reihen, Rechnung zu tragen (Würfel 2014). Schließlich, und damit lässt sich wieder an Henry Jenkins anknüpfen, ist mit Konvergenz nicht nur die cross- oder transmediale Herstellung und Aneignung von Medieninhalten verbunden, sondern auch die Kombination von Herstellungs- und Aneignungspraktiken. Begriffe wie Prosuming, Produtzung und Partizipationskultur zielen auf die Kombination von Praktiken der Produktion und Konsumption von Medieninhalten; die eher technische Bezeichnung Web 2.0 erklärt das ‚Mitmachen‘, die Kooperation zum zentralen Entwicklungsschritt des Internets (O’Reilly 2005). Schon ein flüchtiger Blick auf grundlegende Theorien, Begriffe und Modelle der Kommunikations- und Medienforschung im 20. Jahrhundert (z.  B. zu Massenkommunikation und Massenmedien, Öffentlichkeit und Publikum, Sender und Empfänger) lässt erahnen, welch weitreichende Folgen das kooperative Gestalten von Medieninhalten, die konvergente Produktion und Nutzung, das Verschmelzen von Akteursrollen hat. Bezugnehmend auf die bereits angeführten Beispiele lässt sich in empirischer Hinsicht die Neubewertung und Aushandlung journalistischer Praktiken und Akteure zwischen Professionalisierung und Laientum (Deuze und Witschge 2019), für strategische Kommunikation und Marketing die Einbindung unterschiedlichster Partizipationsmöglichkeiten (Song und Park 2015) und für Sozialisationsprozesse die aktive Gestaltung und Weiterentwicklung fiktionaler Buch- und Filminhalte (Würfel 2014) nennen. Für die Konzeption von Medienwandel ist aus diesen empirischen Befunden abzuleiten, dass Medien- und Kommunikationsanalyse nicht a priori auf die Analyse von Einzelmedien fokussiert werden kann, sondern die Gesamtheit der für Produktion, Rezeption und Prosuming genutzten Medien berücksichtigen muss (siehe IV.1 Intermedialität in diesem Band). Anders ausgedrückt: Die gewandelte Bedeutung eines Mediums lässt sich nur beschreiben, wenn man es im Verbund mit anderen Medien analysiert. Diese Aspekte werden unter dem Begriff der ‚dezentralen Medienanalyse‘ (Morley 2009) nochmals aufgegriffen.

2 Digitale Medien: Konturen gegenwärtiger Kommunikationskulturen 

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2.3 Datafizierung Digitale Medien und digitale Kommunikation sind softwarebasiert und beruhen auf dem Austausch von Daten, die nahezu instantan erfasst, verarbeitet und gespeichert werden. Digitale Daten können in mehr oder weniger alle Zeichensysteme (Ton, Schrift, Audio) umgewandelt und, insofern die notwendige technische Infrastruktur vorhanden ist, ohne größere zeitliche und räumliche Einschränkungen verbreitet, bearbeitet sowie in schier endlosem Umfang gespeichert werden. Diese Veränderung der Technologie und Materialität von Medien ist mit weitreichenden gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozessen verzahnt. Datafizierung (oder auch Big Data) bezeichnet den expansiven Prozess der Datengenerierung, -erfassung und -verarbeitung. Datafizierung ist dabei nicht exklusiv auf mediale Kommunikation beschränkt in dem Sinne, dass allein Medieninhalte berührt sind. Das im Entstehen begriffene Internet of Things, also u.  a. die Ausstattung von Städten mit Sensoren zur Erfassung der Anzahl von Fußgängern in Einkaufsstraßen, von Verkehrsflüssen und Umweltdaten, das Vermessen individueller sportlicher Aktivitäten oder von Schlafqualitäten mittels Trackern und Wearables, oder die zunehmend digitale Steuerung ‚autonomer‘ Autos und von Geräten in Industrie und Haushalt, sind Beispiele für Ubiquität und Omnipräsenz der Datafizierung. Der genuin expansive Charakter des Prozesses ist in quantitativer und qualitativer Hinsicht beobachtbar. Genaue Zahlen sind nicht verfügbar und Schätzungen variieren stark. So werden für den Beginn der 2020er Jahre beispielsweise zwischen 18 und 50 Milliarden Geräte im Internet of Things angenommen (Ericsson 2019; Townsend 2013: 3), der weltweite Datenaustausch für diesen Zeitpunkt insgesamt auf deutlich über 10.000 Exabyte pro Jahr geschätzt (Hepp 2021: 82–83). Die Triebkräfte dieses Prozesses sind dabei nicht nur ökonomischer, sondern auch ideeller Natur. Datafizierung und Big Data stehen für das Bestreben einer allumfassenden Quantifizierung und damit Erklärung, Überwachung und Steuerung der Welt (Cukier und Mayer-Schoenberger 2013). Sie gelten daher als Versprechen, technische Lösungen für Probleme wie Umweltverschmutzung und Kriminalität zu sein oder dysfunktionale Effekte von Bevölkerungswachstum und Globalisierung durch Effizienz- und Steuerungsgewinne zu kompensieren. Ein Versprechen, dessen strategische und ökonomische Motivierung gut belegt ist, an dessen Sinnhaftigkeit und Verwirklichungspotential jedoch von Beginn an Zweifel bestehen (Boyd und Crawford 2012). Wichtiger als die quantitative Bezeugung des Prozesses sind hier die qualitativen Veränderungen der Medienkommunikation. Aus der historisch vergleichenden Perspektive ist diesbezüglich der Umstand bedeutsam, dass jene Datenströme in zwei Richtungen fließen: Von den Anbietern digitaler Medien werden Kommunikationsstrukturen (z.  B. Plattformen) meist kostenlos bereitgestellt, wofür sie im Aus-

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 IV.3 Medienwandel

tausch Daten von Nutzer*innen (weit über die jeweilige Nutzungssequenz hinaus) erfassen und diese  – je nach Medienorganisation und Geschäftsmodell  – unterschiedlich ökonomisch verwerten, z.  B. indem sie sie weiterverkaufen, mediale Angebote individualisieren oder direkt für werbliche Zwecke selbst einsetzen. Was Menschen schreiben, posten, tweeten, welche Informationen ihnen zugänglich sind und welche Filme, Bücher, Lieder ihnen über Empfehlungssysteme prominent zum Konsum angeboten werden, beruht auf der automatisierten und manuellen Auswertung ihres Verhaltens, von Interessen, Geschmack und sozialen Beziehungen. Die Mediatisierung des Alltags, die Konvergenz von Medien samt Herstellungs- und Nutzungspraktiken basiert damit auf und beeinflusst gleichsam Errichtung, Design und Weiterentwicklung der globalen digitalen Infrastruktur der Datenerfassung, -distribution und -verarbeitung. Die Materialität von Medien, ihr Design und ihre Inhalte, Leistungsmerkmale und Bereitstellungsqualität sind also eng mit ihrer Nutzung verzahnt, beeinflusst sie und werden von ihr beeinflusst. Dualistische Konzeptionen von Medienwandel als reaktiven Prozess oder bloßer gesellschaftlicher Verbreitung einer Innovation scheinen mit Blick auf diese enge Verzahnung von Technologieentwicklung und Alltagspraktiken erneut wenig adäquat. Anknüpfend an die bereits weiter oben angeführte Beobachtung, dass es der Mediatisierungsforschung bislang an systematischen diachronen Studien fehlt, lässt sich aus der datenbasierten, engen Verzahnung von Technologie und kommunikativer Praxis die Relevanz einer systematischen Berücksichtigung medialer Materialität auch für asynchrone Studien herausheben. Materialität wurde in historischen Arbeiten dabei oftmals auf die Rolle als Ermöglichungsbedingung oder Hinderungsgrund (z.  B. Anzahl von Kanälen, Reichweite von Sendern, Störungsanfälligkeit) reduziert. Aber auch Größe, Gewicht und Design, Möglichkeiten physischer und ästhetischer Gestaltbarkeit, angelegte Affordanzen und vorgegebene Skripte sind bedeutsam, wie sich für die Entwicklungen des Transistorradios (Weber 2008), Walkmans (du Gay et al. 1997) und Mobiltelefone (Gentzel 2015) gezeigt wurde.

2.4 Medien als Plattformen und Infrastrukturen Medienwandel lässt sich auch an der Rede über Medien ablesen. Beispielsweise haben Diskursanalysen um sogenannte „sociotechnical imaginaries“ (Flychi 1999; Jasanoff und Kim 2015) gezeigt, dass der Wandel von Medien, insbesondere das Entstehen vermeintlich ‚neuer‘ Medien, nicht einfach mit einer Idee oder technischen Innovation quasi über Nacht beginnt. Vielmehr gilt: „[…] the forms chosen for new media are not based on the technology; they correspond to the designers’ representations of uses, and to the strategies they perceive to be most effective for marketing the product. In other words, these choices are social rather than technical“ (Flychi

2 Digitale Medien: Konturen gegenwärtiger Kommunikationskulturen 

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1999: 34). Auch für diese Ebene der Diskurse als kommunikative, medial vermittelte Elemente von Institutionalisierungsprozessen, das heißt der gesellschaftlichen Stabilisierung von Ideen, Normen und Praktiken mit und um Medien, ist demnach ein komplexes Zusammenspiel von technologischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Aspekten entscheidend. Nicht zuletzt dokumentieren die Befunde aus diesem Forschungsfeld nochmals eindrücklich, welche Strategien und Entscheidungen einer Innovation vorangehen und schließlich deren gesellschaftliche Diffusion begleiten und zu steuern suchen. Die Bezeichnungen von Medien als Infrastrukturen und Plattformen sind allerdings nicht nur relevant aufgrund ihrer diskursiven Indizierung von Wandel und Innovation, sondern auch weil sie mit konzeptionellen, analytischen Überlegungen verbunden sind. Infrastructure Studies (z.  B. Edwards et al. 2009; Plantin et al. 2018) nehmen sowohl auf die informationstechnische Gestaltung von Medien Bezug, insbesondere deren Vernetzung durch Endgeräte und Protokolle zum Datenaustausch im Internet sowie Fragen der Standardisierung durch technisches Design und Datenformate, als auch auf die durch die Verquickung dieser Technologien mit Alltagspraktiken entstehenden sozialen und kulturellen Effekte, wie z.  B. neue Formen von Abhängigkeit und Arbeit (Star und Ruhleder 1996; Plantin et al. 2018). Digitale Medien haben für den ‚Handlungsmodus Alltag‘ den Status einer technischen Infrastruktur erlangt, weil die durch sie offerierten Kommunikationsmöglichkeiten (z.  B. Wissenszugang, Nachrichtenaustausch, Informationsabfrage) für das gewohnte, reibungslose Tun einer Vielzahl an Tagesroutinen konstitutiv geworden sind. Eine Störung oder ein Ausfall bedeutet demgemäß einen Zusammenbruch von Informationsströmen, Wissenszugängen, Kommunikationsräumen und all den damit zusammenhängenden selbstverständlichen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten sowie unhinterfragten und wenig bewussten Routinen. Sie bilden einen „invisible background“ (Star und Ruhleder 1996: 112) für gesellschaftliches und kulturelles Leben, soziale Interaktion und individuelle Kommunikationspraktiken oder, wie Wendy Chun es pointiert formuliert, „[…] our media matter most when they seem not to matter at all.“ (2016: 1). Während die Konzeption von digitalen Medien als technische Infrastrukturen aus alltagsweltlicher Perspektive adäquat scheint, ist sie es aus Perspektive der Steuerung, Wartung und Regulierung nicht. Bezogen auf das Entwicklungs-, Geschäfts- und Wirtschaftsmodell digitaler Medien reüssieren Konzeptionen von Medien als ‚Plattformen‘ (u.  a. Srnicek 2017; Gillespie 2018; van Dijck et al. 2018; Plantin et al. 2018). Damit ist gemeint, dass Inhalte, Funktionsfähigkeit und Weiterentwicklung sowie das Geschäftsmodell jener Medien bzw. Konzerne maßgeblich durch die Inhaltsproduktion und Nutzungsweisen der Nutzer*innen selbst getragen werden. In technischer Hinsicht, weil gestaltbare Elemente über Schnittstellen (APIs) mit den Produkten und Daten-

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 IV.3 Medienwandel

beständen großer Technologiekonzerne direkt verbunden sind und somit, zumindest in gewissen Grenzen, individuelles Design und die passgenaue Entwicklung medialer Produkte ermöglichen (und damit von Netzwerkeffekten profitieren). Die mit der Nutzung jener Medien anfallenden Daten stehen wiederum im Dienst der Plattformbetreiber und ihrer Interessen. Die Interessen der Technologiekonzerne bestehen in der Maximierung von Profit, der primär auf dem Werbemarkt erzielt wird. Shoshana Zuboff fasst dieses Wirtschaftsmodell mit dem Begriff des Überwachungskapitalismus und reflektiert dessen gesellschaftliche und ökonomische Auswirkungen kritisch (2019). Demnach beruht das traditionellen Massenmedien überlegene Werbemodell der Plattformen auf frei skalierbarer Verhaltensbeobachtung und -manipulation. Das dominierende Prinzip der Datenfilterung folgt dabei dem Motto „gleich und gleich gesellt sich gern“, das heißt individuelle Mediennutzungsweisen werden granular analysiert und die weiteren medialen Inhalte, seien es Produktinformationen, Dienstleistungsofferten, politische Nachrichten, Buch-, Film- oder Songempfehlungen, an bisherige Weltsicht, Meinung, Geschmack, Routine und Verbindungen in sozialen Netzwerken angepasst. Was Menschen lesen, sehen und hören, hängt damit maßgeblich von vergangenem Verhalten oder einstmals getroffenen Verkaufsentscheidungen ab. Anders formuliert: „the central commodity platforms sell is meant to draw users in and keep them on the platform, in exchange for advertising and personal data“ (Gillespie 2018: 41). Empirisch gut dokumentiert sind damit einhergehende negative und dysfunktionalen Folgen wie z.  B. Echo-Kammer-Effekte, Filterblasen oder ‚nudging‘ (Yeoung 2017). Die Schlussfolgerungen, die sich aus diesen analytischen Befunden zu digitalen Medien als technische Infrastrukturen und Plattformen ziehen lassen sind auf zwei Ebenen angesiedelt. Zunächst ist die ‚Rede über Medien‘, sind die ‚sociotechnical imagniaries‘ als analytische Kategorie systematisch zu etablieren. Was Medien sind und was nicht, welche Aneignungs- und Funktionsweisen privilegiert und welche exkludiert werden, wie Menschen sie wahrnehmen und welche Visionen sie mit ihnen verknüpfen ist diskursiv vorgeprägt. Analysen von ‚Plattformen‘ (Gillespie 2010) oder ‚Smart Cities‘ (Sadowski und Bendor 2019) haben gezeigt, inwiefern der Wandel von Medien mittels solcher imaginaries strategisch inszeniert und kuratiert wird. Beispielsweise wird das mit der Rede von Plattformen assoziierte Verständnis einer neutralen und egalitären (technischen) Offerte für frei gestaltbare, individuelle Kommunikation zwar konsequent kommunikationsstrategisch gegenüber Werbekunden, Öffentlichkeit, Politik und Justiz genutzt, entspricht aber weder ihrem technischem Design noch der unternehmerischen Praxis (Gillespie 2010), da Inhalte und Nutzer*innen auf Plattformen nicht gleichberechtigt behandelt, sondern im Hinblick auf ihr Potential zur Daten- bzw. Profitmaximierung privilegiert oder exkludiert werden.

3 Desiderate 

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Neben dieser empirischen Analysedimension weist die analytische Wendung von Plattformen und Infrastrukturen auf grundlegende Veränderungen der strukturellen Dimension von Medien hin. Die Organisationsform, Institutionalisierung, Geschäfts- und das damit verbundene Wirtschaftsmodell haben sich im Zuge von Digitalisierungsprozessen ebenso gewandelt wie deren gesellschaftliche und kulturelle Wirkmechanismen. Gleich einem Myzelium wird aktive und passive Mediennutzung, werden bewusst und unbewusst gegebene Daten für die Nutzer*innen ‚unsichtbar‘ zusammengeführt, nach privatwirtschaftlichen Interessen filtriert und in Form individualisierter medialer Inhalte (z.  B. Nachrichtenselektion, Werbung, Buchempfehlungen) an die Nutzer*innen zurückgespielt. Das Verhältnis von Mediennutzung zu Gesellschaftsstrukturen und -dynamiken, Machtverteilung und Wissenszugang ist folglich neu auszuloten.

3 Desiderate: Eckpunkte eines konzeptionellen Rahmens für die Erforschung von Schriftmedienkultur im Wandel Die Forschung zu Medienwandel ist gleichzeitig omnipräsent und unterbestimmt. Dies lässt sich anhand der heuristischen Unterscheidung in Forschungsthema und Forschungsgegenstand näher erläutern: Studien mit dem dezidierten Erkenntnisziel ‚Medienwandel‘ weisen insgesamt drei Schwerpunkte auf: historische Kontextualisierung, die Fokussierung auf Innovationen bzw. das Neue sowie konzeptionellen Dualismus. Dualismus meint dabei die Trennung von Medien und Umwelt, wodurch Wandel dann als Folge von Medieninnovationen oder als Reaktion auf veränderte Umweltbedingungen (z.  B. ökonomischer Konkurrenzdruck oder evolutionäre Anpassung) bestimmt wird. Damit verbunden sind in den tradierten Konzepten zudem unterschiedliche Ansichten darüber, ob Wandel als technische oder soziokulturelle Kategorie zu bestimmen ist (siehe auch VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation in diesem Band). Zur Konturierung einer historisch sensiblen, gleichwohl gegenwartsbezogenen Forschungsperspektive auf Medienwandel wurden anschließend einige zentrale Befunde digitaler Kommunikation und digitaler Medien – Mediatisierung des Alltags, Konvergenz, Datafizierung – vorgestellt. Zudem sind mit technischen Infrastrukturen und Plattformen zwei jüngere Konzepte zur Analyse digitaler Medienkommunikation diskutiert worden. Aus diesen Befunden lassen sich nun vier Eckpunkte ableiten und auf das Materialobjekt Schrift- und Lesemedien beziehen: (1) Relationalität der Medien: Medienwandel lässt sich nicht als Reaktion auf äußere Faktoren begreifen, sondern ist eng mit gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen verzahnt. Medien prägen Kultur und Gesellschaft und werden durch diese geprägt. Das Verhältnis von medialem Wandel zu gesellschaftli-

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 IV.3 Medienwandel

chen und kulturellen Prozessen ist, noch einmal anders formuliert, wechselseitig zu konzipieren. Theorien, die Menschen und Medien, Gesellschaft, Kultur und Technologie als getrennte Entitäten behandeln, beispielsweise Medien als Kanäle, Verbreitungs- oder Vermittlungsinstanzen definieren, greifen deshalb zu kurz. Prozesse der Datafizierung zeigen dies für die Gegenwart medialer Infrastrukturen und Plattformen nochmals deutlich. Es ist gewissermaßen das Betriebssystem dieser softwarebasierten Medien, dass sie eng mit ihrer Nutzung verzahnt sind – bezogen auf Inhalte, technisches Design und Funktionalität. Jeweils unterschiedlich akzentuierte Ansätze zur Entwicklung eines Medienbegriffs, in dessen Zentrum die Relationen zwischen Akteuren, Praktiken, Materialitäten und Institutionalisierungsprozessen stehen, liegen etwa in Form von ‚liquid media‘ (Deuze 2007), ‚Medien als Durchgangspunkten‘ (Göttlich 2010) oder ‚Medien als Prozessen‘ (Hepp 2021) vor. In diesem Zusammenhang ergibt sich beispielsweise die Frage, wie die Produktion, der Zugang und die Nutzung von Wissen, von Diderot und d’Alembert zu Wikipedia, kultureller und gesellschaftlicher Entwicklung verzahnt sind, etwa welchem Bedeutungswandel enzyklopädisches Wissen unterliegt oder wie sich der gesellschaftliche Platz und die Gestalt von Bibliotheken verändert hat. (2) Wandel als Normalzustand: Medienwandel findet permanent statt. Es sind in der Regel nicht bahnbrechende neue Ideen oder technologische Innovationen, die zu einem distinkten Zeitpunkt beginnen, durch Kultur und Gesellschaft zu diffundieren, sondern die alltäglichen Kommunikationspraktiken und diskursiven Aushandlungen, die Medien in einen kontinuierlichen Veränderungsprozess versetzen. Medienwandel findet auch ohne Innovationen statt und auf manche Innovationen erfolgt auch kein Medienwandel (siehe auch VIII.2 Transformation und Kontinuität von Buch- und Lesekulturen in diesem Band). Im Sinne einer räumlich, zeitlich, sozial und kulturell unterschiedlichen Produktion und Nutzung von Medien, gewissermaßen dem Wandel des Mediums je nach Kontext, mag dies schon länger offenkundig sein. Dies gilt in der Gegenwart allerdings offensichtlich auch für die vermeintlich stabilere materielle oder technologische Verfasstheit, die durch datengetriebene (Weiter-)Entwicklungen beschleunigt erfolgt. Digitale Medien sind daher auch materiell, wie es Gina Neff und David Stark oder Lev Manovich pointiert bezeichnen, in einem andauernden ‚Beta-Stadium‘ (Neff und Stark 2003; Manovich 2013). Zahlreiche diachrone Studien haben gezeigt, dass die Entwicklung menschlicher Kultur und Gesellschaft maßgeblich durch Mediatisierungsprozesse geprägt ist. Die Form wie Menschen kommunizieren, mit welcher Reichweite, Beständigkeit oder Geschwindigkeit Symbole und Wissen ausgetauscht werden können, verweist immer auch auf Materialität. Mit Ton und Papyrus, beweglichen Lettern aus Metall, Rotationsdruckmaschinen oder digitalen Endgeräten gehen unter-

3 Desiderate 

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schiedliche Schriftmedien, soziale Praktiken und soziokulturelle Zeitregime einher. Diese Zusammenhänge sind, wie bereits angedeutet, auch für diachrone Studien längst nicht dicht beschrieben. Für die synchrone Analyse bietet es sich beispielsweise an, die Formen der Verzahnung von digitalen Schriftmedien und Praktiken mit Blick auf Innovationszyklen und basal auf Persistenz und Performanz, Reproduktion und Veränderung zu untersuchen. Aussichtsreich wäre etwa die Frage nach den Unterschieden zwischen verschiedenen Genres von Schriftmedien – manche Bücher scheinen die Kodexform auch im 21. Jahrhundert zu verlangen, Briefe einen neuen Stellenwert erhalten zu haben und Praktiken digitaler Tagebuchführung sich von ihren analogen Pendants grundlegend zu unterscheiden (Rettberg 2020; Gentzel et al. 2021). (3) Dezentrierung von Medienanalysen: Die Bedeutung eines Mediums ergibt sich im Kontext der konvergenten Produktion und Nutzung von Medien, wobei die datenbasierte Distribution von Inhalten es digitalen Endgeräten ermöglicht, mehrere Zeichensysteme bzw. mehrere Einzelmedien miteinander zu kombinieren. Der Wandel eines Mediums ist zudem immer im Kontext der Gesamtheit aller in einer Gesellschaft, sozialen Gruppe oder für ein Individuum verfügbaren Medien zu rekonstruieren (Morley 2009). Analytische Konzepte stehen hierfür beispielsweise in Form von ‚polymedia‘ (Madianou und Miller 2013), der ‚Medienumgebungen‘ (Makroebene der Gesamtheit aller gesellschaftlich verfügbaren Medien), ‚Medienensembles‘ (Mesoebene der Gesamtheit von Medien, die von einer bestimmten sozialen Gruppe genutzt werden) und ‚Medienrepertoires‘ (Mikroebene der Gesamtheit aller von einem Individuum genutzten Medien) zur Verfügung (Hasebrink und Popp 2006; Hasebrink und Domeyer 2012; Hasebrink und Hepp 2017; Hepp 2021: 126–142). Dementsprechend konturieren dezentrale Analysen die Bedeutung von Schriftmedien in Relation zur Gesamtheit aller verfügbaren Medien auf Makro-, Meso- oder Mikroebene zu einem gegebenen Zeitpunkt. Analog den weiter oben genannten empirischen Befunden zu Produktion und Nutzung journalistischer Nachrichten, Mobilisierung zivilgesellschaftlichen Protests oder der crossmedialen Bearbeitung von Sozialisationsaufgaben, stellen sich z.  B. Fragen nach der ausdifferenzierten und vernetzten Herstellung, Vermarktung und Rezeption von belletristischen Inhalten oder auch Wandel und Kontinuität der Praktiken, die Autorenschaft ausmachen. (4) Praktiken und Materialität: Die Omnipräsenz und Ubiquität von Medien, ihre permanente Nutzung sowie die immerzu und überall verfügbare Möglichkeit auf Medien als Handlungsressourcen zurückzugreifen, degradieren zentrierte Analysen von Nutzungssequenzen und das Zuschreiben kausaler Wirkungen an einzelne Medien und -inhalte zu Holzwegen der empirischen Analyse. Auch die Nutzung von Medien als allein rationale, stets bewusste Ent-

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 IV.3 Medienwandel

scheidung zur Bedürfnisbefriedigung (u.  a. Uses and Gratification) kann zur Beschreibung mediatisierter Lebensweisen und Alltage lediglich einen Teil beitragen. Nudging, das datenbasierte Erfassen von Routinen und Geschmack oder der häufig beiläufige Charakter von Mediennutzung dokumentieren, dass Medien mit einer Vielzahl sozialer Praktiken verwoben sind. Damit wird es in konzeptioneller Hinsicht notwendig das Verhältnis von Routinen zu intendierten Handlungen, von bewussten, rationalen Entscheidungen zu Affekten und unbewusstem Verhalten für die Kommunikations- und Medienanalyse neu auszubalancieren (Gentzel 2015: 2017). Ein zweiter zentraler Begriff zur Weiterentwicklung der Konzeptionen von Medienwandel ist Materialität. Materialität bezieht sich dabei auf zweierlei, „auf Körper und auf Artefakte, [die als, P. G.] Arrangement sinnhaft regulierter Körperbewegungen und Artefaktaktivitäten […] in Praktiken miteinander gekoppelt sind“ (Reckwitz 2008: 698). Ansätze zur Analyse von Materialität finden sich ebenfalls im Kontext praxistheoretischer Überlegungen und wurden insbesondere in den Science and Technology Studies weiterentwickelt (Gentzel 2019; Lievrouw 2014; Zillien 2008). Entsprechend ließen sich beispielsweise die wahrgenommenen Affordanzen von E-Readern in Relation zu (soziodemografischen) Eigenschaften und Kompetenzen von Nutzer*innen untersuchen. Schließlich sind Lesepraktiken im Hinblick auf Beiläufigkeit und Routine markant unterschiedlich ausgeprägt und variieren je nach Inhalt, Genre und Medium, Sozialisation, Enkulturation, sozialen Strukturen und Ritualen im Alltag. Während diesen Eckpunkten jeweils beispielhafte Themen der disziplinären Erforschung von Medienwandel zugeordnet wurden, bleiben für die Entwicklung eines theoretischen und methodischen Konzepts zur Analyse von Medienwandel einige Herausforderungen bestehen. Beispiele für diese Herausforderungen (und Potentiale) lassen sich abschließend anhand der Frage nach Wandel oder Transformation, Kontinuitäten und Brüchen in der Erforschung von Schrift- und Lesemedien nennen. Die präsentierten Befunde zur digitalen Medienkommunikation ließen sich unter dem Dach der Mediatisierungsforschung zusammenziehen. Dies bedeutet auch die Umstellung des Fragens auf Bedeutungen medialer Kommunikation und damit eine Abkehr von traditionellen, eher rationalistischen, situativen und an explizierten Intentionen orientierten Formalobjekten wie z.  B. der Analyse individuell bewusster kommunikativer Handlungen. Eine dichte Beschreibung von Wandlungsprozessen verlangt damit auch bis zu einem gewissen Grad eine Re-Historisierung der Forschung, das heißt diachrone Analysen von Mediatisierungsprozessen. Zumindest sind mit der alltäglichen Bedeutung von Schrift- und Lesemedien oder ihren materialen Affordanzen Fragen aufgeworfen, die sich durch vorliegende

Literatur 

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Forschungsbefunde nicht umstandslos beantworten bzw. mit Befunden synchroner Studien in Beziehung setzen lassen.

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 IV.3 Medienwandel

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V Organisation und Strukturen der Buchkommunikation

V.1 Buchökonomie Heiko Hartmann

1 Gegenstandsbereich Gegenstand der Buchökonomie ist das Buch als Medienprodukt im Marktkontext. In der Zusammenschau mit kulturellen, rechtlichen, sozialen und technischen Dimensionen beschreibt die Buchökonomie das Buch in mikro- und makroökonomischer Perspektive als Ware, die spezifische Zielgruppenbedürfnisse befriedigt, im intraund intermedialen Wettbewerb mit anderen Content-Angeboten und Substituten steht und sowohl effizient und gewinnorientiert produziert als auch effektiv beworben und vertrieben werden muss. Die buchökonomischen Forschungs- und Entscheidungsfelder umfassen somit Verlagsprodukte und deren Märkte, das heißt die Geschäftsmodelle des Buchhandels, ebenso wie Wertschöpfungsketten, das Preisund Vertriebsmanagement sowie die Marketingkommunikation. Im Kern geht es dabei um die Frage, mit welchen Produkten und Marktstrategien die Unternehmen des Buchhandels, das heißt primär Verlage, Zwischen- und Einzelhandel, aktuell und in Zukunft erfolgreich Umsätze erwirtschaften können, um nicht nur kostendeckend zu arbeiten, sondern Renditen zu generieren, die ihnen Investitionen in neue Wertangebote ermöglichen und so nachhaltig ihre wirtschaftliche Stabilität sichern (Greco 2019). Die Buchökonomie bezieht ihre Theorien, Begriffe und Instrumente in erster Linie aus der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre (BWL, VWL), speziell der Medienbetriebslehre, sowie aus dem Marketingmanagement und der allgemeinen Managementlehre. Sie ist zu den angewandten Wissenschaften zu zählen, da ihre theoretischen Fundamente und empirischen Erhebungen in der Regel auf eine Umsetzung in der ökonomischen Praxis abzielen. Zu den Standardwerken der allgemeinen Medienökonomie gehören Beyer und Carl (2012), Dreiskämper (2018), Gläser (2021), Schumann et al. (2014) und Wirtz (2019), der branchenbezogenen praxisorientierten Betriebswirtschaftslehre Bramann et al. (2019), Breyer-Mayländer (2014), Janello (2010), Lucius (2014) und Wantzen (2008). Verlagsprodukte und Buchmärkte können heute infolge der Medienkonvergenz und im Rahmen einer zunehmend digitalen Inhalte-Wirtschaft nicht mehr isoliert, sondern nur noch im Kontext aller anderen Mediengattungen und -märkte sowie ihrer Wechselwirkungen adäquat analysiert werden (Wirtz 2019: 57–78). Die Buchökonomie wird daher im Folgenden verstanden als Teilgebiet der allgemeinen Medienökonomie, da ungeachtet ihrer Spezifika für sie dieselben betriebswirtschaftlichen und marketingstrategischen Paradigmen relevant sind, die auch für alle anderen Medienunternehmen als Anbieter von Information, Bildung und https://doi.org/10.1515/9783110745030-011

252 

 V.1 Buchökonomie

Unterhaltung, das heißt Content im weitesten Sinne, gelten (Dreiskämper 2018: 31–61). Eine grundsätzliche Theoriediskussion findet im Bereich der Buchökonomie nicht statt, weil sie primär auf die praktische Marktbearbeitung und Zielgruppenadressierung ausgerichtet ist. Will man nicht unspezifisch in allgemeine Fachdiskurse der Betriebswirtschafts-, Management- oder Marketinglehre ausgreifen, gilt es also, sich auf die wichtigsten Debatten innerhalb der Buchbranche um zielgruppengerechte Produktstrategien, neue Vertriebskanäle und Publikationsprozesse, innovative Werbemethoden, die Abwehr von Substituten, die Konzentration im Zwischen- und Einzelhandel usw. zu fokussieren. Diese Debatten sollen im Folgenden exemplarisch dargestellt und erläutert werden, um sie sowohl für Wissenschaftler als auch für Studenten aus dem Feld der Buchforschung nachvollziehbar und für ihre eigenen Fragestellungen nutzbar zu machen.

2 Theoretische Perspektiven 2.1 Das Medienmanagement-Referenzmodell nach Gläser Die theoretische Basis für den folgenden Überblick bildet das vom St.-GallerManagement-Modell ausgehende Referenzmodell des Medienmanagements von Gläser (2014). Verlage und Buchhandelsbetriebe sind komplexe Organisationen, die eines professionellen, zielgerichteten Managements bedürfen. Als gewinnorientierte Medienunternehmen identifizieren, konzipieren, redigieren, produzieren und distribuieren Verlage Inhalte (Abb. 1), von denen sie annehmen, dass sie für ein größeres Publikum relevant sind und somit im Medienmarkt, das heißt vor allem in Buchmärkten, als Produkte erfolgreich sein werden und kostendeckende Umsätze erwirtschaften. Dieses Geschäftsmodell existiert seit bald 200 Jahren in vielen Segmenten des Buchhandels weitgehend unverändert: Verleger wählen Autoren und Inhalte aus, bereiten die Texte für die Publikation auf, produzieren die Bücher und vermarkten sie (Schönstedt und Breyer-Mayländer 2010: 23–25). Dies ist die klassische Leistung eines Verlags, der damit zugleich maßgeblich entscheidet und filtert, welche Inhalte einem größeren Publikum bekannt gemacht werden und welche nicht. Für Autoren waren Verlage über Jahrhunderte das Tor zum Publikum. Ohne ihre Herstellungs- und Distributionsleistungen konnten Autoren keine Leser gewinnen. Sie waren somit abhängig von der Bereitschaft eines Verlags, ihre Werke ins Programm aufzunehmen, sie auf eigenes Risiko in größerer Auflage drucken zu lassen und in die Sortimentsbuchhandlungen zu bringen. Wurde ein Buch publizistisch und wirtschaftlich ein Erfolg, profitierten beide Seiten.

2 Theoretische Perspektiven 

Einkauf der Inhalte (Akquise)

Lektorat/ Redaktion

Produktion (Satz, Druck, Binden)

Distribution (Vertrieb/ Marketing)

 253

Kunde (Leser/Nutzer)

Abb. 1: Traditionelle Wertschöpfungskette der Buchbranche.

Diese traditionelle, über lange Zeit stabile ‚Autor – Verlag – Leser‘-Relation steht heute in vielen Warengruppen zur Disposition. Nicht nur hat die Verhandlungsmacht der Autoren massiv zugenommen, die für die reichweitenstarke Publikation ihrer Werke nicht mehr zwingend auf Verlage angewiesen sind, sondern auch die – weniger gewordenen – Buchleser sind nicht mehr zwangsläufig auf die Programme der Verlage angewiesen, wenn sie sich informieren, bilden oder unterhalten lassen wollen, und sie können diese Inhalte auch jenseits des stationären Buchhandels auf unterschiedlichen Wegen schnell und bequem erwerben. Gute Geschichten und qualitätsvolle Sachinformationen gibt es heute an vielen Orten, besonders im Internet und oft sogar kostenlos. Die Verlage haben ihre exklusive Rolle als Gatekeeper, kulturelle Filterinstanzen und Mediatoren von Meinungsbildung und Partizipation an gesellschaftlichen Diskursen in den letzten 20  Jahren weitgehend eingebüßt. Dass in der Branchenpresse immer wieder von krisenhaften Entwicklungen die Rede ist, hat seine Ursache u.  a. darin, dass Verlags- und Sortimentsbuchhandel oft noch zu sehr dem historisch gewachsenen Denken in Kategorien des tradierten buchorientierten Geschäftsmodells verhaftet sind und in vielen Bereichen des Buchhandels die Anpassung an die veränderten Strukturen, Akteure und Relationen im umgreifenden Medienmarkt noch nicht oder aber zu inkonsequent erfolgt (Clement et al. 2009). Denn dieser Medienmarkt ist seit einigen Jahren hochdynamisch geworden. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie sind sowohl in der Digitalisierung und in einem veränderten Mediennutzungsverhalten der Zielgruppen als auch in zunehmender intermedialer Konkurrenz, etwa durch Computerspiele, Videoportale und Social Media, sowie in neuen alternativen Publikationsformen für Autoren (Selfpublishing) zu suchen. Je schwieriger der Markt für Buchverlage wird, desto mehr professionalisieren sich die Marktakteure. Verband man mit dem klassischen Verleger traditionell oft eine idealistische Persönlichkeit, der es in erster Linie um die Verbreitung kulturell wertvoller Botschaften und Inhalte ging und die mit ihrem Buchprogramm einen Bildungsauftrag erfüllen wollte (siehe V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel in diesem Band), so hat heute in vielen Verlagen eine betriebswirtschaftlich fundierte Managementperspektive Einzug gehalten, die vom Primat zielgruppenspezifischer, nach ökonomischen Gesichtspunkten positionierter Buchtitel ausgeht und ihr Handeln an marketingstrategischen Erfolgskriterien ausrichtet. Diese Verlage betreiben – nach innen und außen – bewusst

254 

 V.1 Buchökonomie

und gezielt Verlagsmanagement. Dasselbe gilt, unter etwas anderen Vorzeichen, für die Betriebe des Sortimentsbuchhandels, insbesondere für die großen Filialisten Thalia und Hugendubel, den Zwischenbuchhandel (u.  a. Libri, Umbreit, Zeitfracht) sowie den wachsenden Online-Buchhandel (Amazon). Dabei ist der Begriff ‚Management‘ komplex und findet sich in der Fachliteratur in den unterschiedlichsten Ausprägungen. Im Allgemeinen ist damit die planvolle, ergebnisorientierte Leitung und Entwicklung von Organisationen gemeint, seien es Unternehmen, Verbände, öffentliche Einrichtungen oder eben Verlage, Zwischenbuchhändler und Sortimentsbuchhändler. Modernes Management geht von grundlegenden Werten und Prinzipien aus und bezweckt die effektive und motivierende Führung der Mitarbeiter einer Organisation, die Steuerung der für die Realisierung ihrer Ziele relevanten Prozesse und Workflows und den optimalen Einsatz der dafür notwendigen Ressourcen (Geld, Material, Personal, Zeit). Dies ist die funktionale Perspektive. Sie betont die Managementfunktion der zielorientierten Steuerung des Leistungsprozesses in einer Organisation. Basis dieser Funktion ist die professionelle Wirksamkeit von Managern, die ihr Handeln so ausrichten, dass eine Organisation die Resultate erbringen kann, die ihrem Zweck entsprechen. „Wirksamkeit heißt, sowohl effektiv als auch effizient zu sein. Dies heißt, die richtigen Dinge richtig zu tun – im Denken ebenso wie im Handeln. Das ist die Kernkompetenz für richtiges und gutes Management […]: als den Beruf, Ressourcen in Resultate zu transformieren, und dadurch Werte zu schaffen und Nutzen zu stiften“ (Malik 2014: 11). Aus institutioneller Perspektive bezeichnet ‚Management‘ die Gesamtheit der Personen in einer Organisation, die jene Steuerungsaufgaben wahrnehmen, die zur resultatorientierten Erbringung aller Leistungen nötig sind, welche den Zweck einer Organisation ausmachen, also z.  B. Mobilität ermöglichen (Autokonzern), Gesundheit wiederherstellen (Krankenhaus), unterhaltsame Leseerlebnisse bieten (Publikumsverlag), Verfügbarkeit von Büchern sicherstellen (Barsortiment) oder Wissen vermitteln (Schulbuchverlag). Zusammenfassend lässt sich ‚Management‘ somit als „Komplex von Steuerungsaufgaben“ auffassen, die bei der „Leistungserstellung und -sicherung in arbeitsteiligen Organisationen erbracht werden müssen“ (Steinmann et al. 2013: 8). Diese Aufgaben ergänzen und unterstützen die eigentlichen Sachaufgaben, z.  B. im Vertrieb, im Marketing oder in der Produktentwicklung, und stellen eine „komplexe Verknüpfungsaktivität“ (Steinmann et al. 2013: 7) dar, die das effektive Zusammenwirken aller Primäraktivitäten im Unternehmen sicherstellen soll. In der Theorie der Unternehmensführung werden fünf Hauptfunktionen des Managements unterschieden (Steinmann et al. 2013: 10): Planung (‚planning‘), Organisation (‚organizing‘), Personaleinsatz (‚staffing‘), Führung (‚directing‘) und Kontrolle (‚controlling‘). Konkret bedeutet dies, dass Management zunächst die Aufgabe hat, für

2 Theoretische Perspektiven 

 255

klare Ziele und für Orientierung zu sorgen und festzulegen, was ein Unternehmen darstellen, leisten und erreichen soll. Daraus folgt die Aufgabe, dem Unternehmen eine Struktur zu geben, also z.  B. Abteilungen und Stellen zu schaffen und ein verbindliches Kommunikationssystem zu etablieren, damit die gesteckten Ziele in effizientes kollektives Handeln überführt werden können. Dafür ist nicht nur geeignetes Personal zu identifizieren und zu rekrutieren, sondern es muss auch leistungsgerecht entlohnt und weiterentwickelt werden. Die Mitarbeiter kontinuierlich zu führen und sie durch klare Zielvorgaben, Delegation von Aufgaben und motivierende Förderung so anzuleiten, dass die vielen Einzelhandlungen im Sinne des Unternehmenszwecks zielgerecht ausgerichtet werden, ist eine Kernfunktion von Managern. Dazu gehört abschließend auch die Kontrolle sowohl der Zielerreichung des Gesamtunternehmens (Soll- / Ist-Vergleich) als auch der Leistungen einzelner Abteilungen und Mitarbeiter bzw. des Erfolges der erstellten Produkte und Services auf dem Markt und beim Kunden. Manager erfüllen somit verschiedene Rollen (Steinmann et al. 2013: 19–20): eine interpersonelle Rolle (als Vorgesetzte und Vernetzer), eine Informationsrolle (durch ständige Aufnahme, Übermittlung und Interpretation von Informationen) und eine Entscheidungsrolle (als Innovatoren, Problemlöser, Ressourcenzuteiler und Verhandlungsführer). Auf die Buchökonomie bezogen bedeutet dies: Management umfasst alle zielgerichteten Aktivitäten der systematischen Analyse, strategischen Planung, effizienten Organisation, wirksamen Steuerung, operativen Durchführung und kontinuierlichen Kontrolle im Rahmen des Akquisitions-, Aufbereitungs- und Distributionsprozesses zielgruppenspezifischer informativer oder unterhaltender Inhalte (‚Content‘) im Verlagsbuchhandel bzw. des Beschaffungs-, Vermittlungsund Verkaufsprozesses in Betrieben des Zwischen- und Einzelhandels (Wirtz 2019: 20–25; Gläser 2021: 437–443). Auch in Verlagen müssen Unternehmens- und Programmziele vorgegeben, Organisationsstrukturen geschaffen und Mitarbeiter (Lektoren, Hersteller, Marketingmanager usw.) geführt und motiviert werden. Wie in anderen Branchen auch hat die Geschäfts- bzw. Verlagsleitung normative, strategische und operative Managementfunktionen zu erfüllen (Kerlen 2006: 231–238). Da sich aber das Marktumfeld des Verlagsbuchhandels aktuell gravierend verschiebt, traditionelle Produkte durch digitale Medien vielfach substituiert werden und sich das Lese- und Kaufverhalten angestammter Zielgruppen stark verändert, kommt insbesondere dem strategischen Management in Verlagen eine immer größere Bedeutung zu (Schönstedt und Breyer-Mayländer 2010: 205–226). Strategisches Management orientiert sich bei seinen Steuerungs- und Organisationsentscheidungen in erheblichem Maße an der u.  a. vom St.-Galler-Management-Modell abgeleiteten Vorstellung, dass ein Medienunternehmen in besonderem Maße ein „produktives, soziotechnisches System“ darstellt (siehe VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation in diesem Band), „das in einer

256 

 V.1 Buchökonomie

komplexen Umwelt agiert. […] Management bedeutet Gestalten, Lenken und Entwickeln von Systemen. Führungskräfte haben Lösungen für komplexe Problemsituationen zu entwickeln“ (Gläser 2014: 40). Sie müssen vor allem kontinuierlich die Unternehmensumwelt analysieren, das heißt die Trends in Wirtschaft, Gesellschaft und Rechtssystem, relevante Veränderungen im Verhalten und im Lebensstil der Zielgruppen und das Verhalten der Wettbewerber bzw. latente Bedrohungen durch Ersatzprodukte, z.  B. durch Unterhaltungs- oder Informationsangebote aus anderen Medienmärkten. Aus der Bewertung der Mikro- und Makro-Umwelt und der gegenwärtigen und zukünftigen Ansprüche der verschiedenen Bedarfsträger (Stakeholder, z.  B. Autoren, Leser / Käufer, Buchhändler, Bibliotheken usw.) lassen sich marktgerechte Ziele und strategische Leitlinien entwickeln, die den operativen Maßnahmen in den einzelnen Verlagsabteilungen die Richtung vorgeben. Das in den 1970er Jahren entwickelte und in mehreren Stufen immer weiter ausdifferenzierte und aktualisierte St.-Galler-Management-Modell (Rüegg-Stürm und Grand 2020) zeichnet sich dadurch aus, dass es diese Parameter marktwirksamen Managements in einer ganzheitlichen, systemtheoretisch fundierten Perspektive integriert. Ausgehend vom Modell des kybernetischen Regelkreises (vgl. Thermostat) entwirft es ein Konzept von Management, dem es in erster Linie um „die automatisierte Erhaltung und Stabilisierung eines Systemgleichgewichts“ geht und dabei insbesondere die sozialen, ökonomischen und kulturellen „Außenbezüge“ eines Unternehmens, das heißt die komplexe Mikro- und Makroumwelt, mit der es interagiert, differenziert analysiert und in die Abwägung von Handlungsoptionen systematisch mit einbezieht (Steinmann et al. 2013: 63). Ziel ist die Optimierung der Wertschöpfung durch die methodische Erfassung und operative Ausgestaltung der Relation zwischen dem Unternehmen, seinem Wertangebot (Produkt), seinen Anspruchsgruppen (u.  a. Kunden), seinen Prozessen, seinen Konkurrenten und relevanten weiteren Umweltsphären, z.  B. gesellschaftlichen Trends und Normen (Gläser 2021: 46–53). Gläser spezifiziert das St.-Galler-Management-Modell für Medienunternehmen und konkretisiert in seinem ‚Referenz-Modell für das Medienmanagement‘ (Abb. 2) die auch für die Buchbranche relevanten drei Analyse- und Entscheidungsfelder ‚Medienunternehmen‘, ‚Markt‘ und ‚Globales Umfeld‘ (Gläser 2014: 46). Die Wertschöpfungskette der Primäraktivitäten (von der Inhalte-Akquise über die Produktion bis zur Vermarktung) ist eingebunden in das Bedingungsfeld der Lieferanten (u.  a. Autoren, Dienstleister) und der Kunden (Rezipienten / Käufer) und ihrer jeweiligen Verhandlungsmacht (Preise, Qualität) gegenüber den Verlagen. Zum engeren Marktumfeld gehören zudem Kooperationspartner (z.  B. Agenturen, Lizenznehmer) und die aktuellen und potenziellen Konkurrenten (intra- wie intermedial). Medienmärkte sind jedoch in besonderem Maße auch von Einflussfaktoren aus der Makroumwelt abhängig, so dass die Marktbeschreibung erst mit

2 Theoretische Perspektiven 

GLOBALES UMFELD

Politik & Recht Gesellschaft

 257

Technologie Ökonomie

Ökologie

MARKT MEDIENUNTERNEHMEN Beschaffungsmärkte

Absatzmärkte

Managementsystem

Lieferanten

Kunden

Leistungssystem

Ressourcen:  Finanzen  Personal  Content: Rechte, Pogramme  Material  Betriebsmittel  Fremdleistungen

Wirtschafts- und Wertschöpfungsprozesse Beschaffung  Produktion  PRODUKTE  Marketing

Kooperationspartner

 Finanzprozesse  Zielsystem

Geschäftsfelder:  Content  Werbung  Rechtehandel Kundengruppen:  Konsumenten  Business

Konkurrenten

Abb. 2: Referenz-Modell für das Medienmanagement nach Gläser (2014: 46).

der Analyse der rechtlichen (z.  B. Urheberrecht, Buchpreisbindung), soziokulturellen (z.  B. Werte, Normen, Trends) und technologischen Rahmenbedingungen (z.  B. mobile Endgeräte, Streaming-Technologien usw.) vollständig ist. Im Inneren des Referenzmodells steht das eigentliche Leistungssystem, in dem die Wertschöpfung erfolgt. Hier muss das Management insbesondere für die Festlegung einer marktgerechten Produkt- und Programmpolitik, die Bereitstellung der notwendigen Ressourcen (finanziell, personell usw.) und die Organisation der Produktions- und Marketingprozesse sorgen. Im Sinne der oben formulierten Definition geht es dabei um die systematische Planung, Organisation und Kontrolle des Leistungssystems auf der Basis eines klaren Zielsystems (Sachziele, Formalziele), das heißt um die Definition und effiziente Ausgestaltung des Geschäftsmodells (Business Model) eines Verlages oder Handelsunternehmens. Dieser ganzheitliche Ansatz zur Beschreibung der aktuellen Ausgangslage und bestimmenden Tendenzen im Buchhandel liegt der folgenden Diskussion ihrer Produkte, Akteure und Märkte zugrunde.

258 

 V.1 Buchökonomie

2.2 Die Partialmodelle des Geschäftsmodells von Medienunternehmen nach Wirtz Das Schema eines Geschäftsmodells, wie es Wirtz für Medienunternehmen ausgearbeitet hat (2009: 75; erweitert in Wirtz 2019: 96–101), gibt der folgenden Darstellung ihre Struktur (Abb. 3). Es umfasst sechs Partialmodelle (Dreiskämper 2018: 558–580):

Kapitalmodell (Finanzierung/ Erlösgenerierung) Marktmodell (Wettbewerb/ Nachfrager)

Beschaffungsmodell

Geschäftsmodell Leistungserstellungsmodell

Distributionsmodell Leistungsangebotsmodell

Abb. 3: Partialmodelle eines integrierten Geschäftsmodells nach Wirtz (2009).

Das ‚Leistungsangebotsmodell‘ definiert, mit welchem Wertangebot ein Verlagsoder Handelsunternehmen auf dem Markt auftritt, das heißt, welches Produkt bzw. welchen Service es verkaufen und welche Problemlösung es seinen Kunden anbieten will (Output). Diese Festlegung erfolgt in der Regel auf der Grundlage einer langfristig ausgerichteten, orientierenden Bestimmung der strategischen Ziele und Aktivitäten des Unternehmens und seiner relevanten Geschäftsfelder (Business Mission). Sie wird für einen Sachbuchverlag völlig anders ausfallen als für einen Fachverlag, für eine unabhängige Sortimentsbuchhandlung anders als für einen überregional operierenden Filialisten. Die deutschen Buchverlage erwirtschaften aktuell immer noch ca. 75 % ihrer Umsätze mit gedruckten Formaten (Börsenblatt 36/2020: 6). Der Rest entfällt auf digitale Formate, Non-Books, Dienstleistungen, die Verwertung von Nebenrechten usw. Das ‚Beschaffungsmodell‘ legt fest, wie, von wem und zu welchen Preisen die Komponenten (Input) eingekauft werden, die zur Erbringung der intendierten Leistung, also z.  B. der Publikation einer Kindersachbuchreihe oder eines wissenschaft-

2 Theoretische Perspektiven 

 259

lichen Lehrbuchs, benötigt werden. Im Verlagsbuchhandel umfasst das Beschaffungsmodell z.  B. sowohl die Akquisition von Autoren und der Verwertungsrechte an Manuskripten und sonstigem Content, z.  B. Bilder, Grafiken und Figurenmarken, als auch den Einkauf von Papier, Technologien sowie aller internen und externen Personalressourcen. Im Bucheinzelhandel gehören zur Beschaffung u.  a. der Titeleinkauf und die Personalrekrutierung. Das ‚Leistungserstellungsmodell‘ beschreibt, mit welchen Produktionsmitteln und Prozessen das geplante Produkt hergestellt bzw. die intendierte Dienstleistung erbracht werden soll. Dabei geht es nicht nur um die Konzeption effizienter Workflows und Wertschöpfungsketten, sondern auch um die ökonomische Relation zwischen Input, Produktion und Output, das heißt um die Bewertung der Produktionsfaktoren im Kontext der Kostentheorie und ihres Beitrags zur Wertschöpfung (Dreiskämper 2018: 135–153 und 766–783). Im Verlagsbuchhandel wird diese Relation z.  B. mittels der Buchkalkulation, in der sämtliche titelbezogenen Beschaffungs-, Herstellungs- und Vertriebskosten zu den von Preis und Absatzerwartung abhängigen Erlösen ins Verhältnis gesetzt werden, abgebildet (Deckungsbeitragsrechnung). Die Finanzierung der Unternehmenstätigkeit ist Gegenstand des ‚Kapitalmodells‘. Es stellt dar, woher das benötigte Kapital stammt, um das geplante Geschäftsmodell nachhaltig auszugestalten. Die Möglichkeiten reichen von der initialen Kreditaufnahme bis zur kontinuierlichen Beteiligungsfinanzierung durch Gesellschafter oder Aktionäre. Im Kern des Kapitalmodells steht aber das eigentliche Erlösmodell, das Auskunft darüber gibt, auf welchen Märkten und durch welche Abnehmer die angebotene Leistung refinanziert wird bzw. wie Renditen erwirtschaftet werden sollen. Zum Kapitalmodell gehören somit Entscheidungen über Erlösformen und die Preisbereitschaft der Kunden ebenso wie die Festsetzung der Preise selbst. Der Bucheinzelhandel generiert Umsatz stationär wie online primär über den Verkauf von Büchern und anderen Medien- und Non-Book-Produkten. Dabei sind sie bei Büchern infolge der Buchpreisbindung in Deutschland an die Preisvorgaben der Verlage gebunden. Verlage finanzieren sich – je nach Verlagstyp – primär über den Verkauf ihrer gedruckten und digitalen Produkte auf dem direkten oder indirekten Vertriebskanal (Rezipientenmarkt), den Verkauf von Verwertungsrechten und Lizenzen (Lizenzmärkte) und die Erbringung von Dienstleistungen wie z.  B. Corporate-Publishing-Lösungen oder Open-Access-Publikationsmodelle (Wirtz 2019: 102). Im ‚Distributionsmodell‘ fallen alle logistischen und akquisitorischen Entscheidungen, die die Vertriebskanäle, das heißt den Vertrieb der Medienprodukte vom Hersteller, etwa einen Verlag, über Intermediäre, z.  B. Barsortimente, stationäre Buchhandlungen oder Online-Versandhändler, zum Endkunden betreffen. Die Vertriebskanäle und Verkaufsstellen müssen so gewählt werden, dass sie sich mit der Einkaufsstättenwahl und dem Einkaufsverhalten der relevanten Zielgruppen so

260 

 V.1 Buchökonomie

weit wie möglich decken. Da bei Büchern, vor allem Publikumstiteln, heute von einem multioptionalen Kunden auszugehen ist, der sowohl beim Sortimentsbuchhändler vor Ort als auch im Internet Bücher bestellt und sie sowohl gedruckt als auch digital rezipiert, hat die Komplexität des Distributionsmodells in den letzten Jahren stark zugenommen. Es schließt heute sämtliche physischen und nicht physischen Vertriebskanäle ein und umfasst auch branchenferne Nebenmärkte wie Lebensmittel-Discounter, Baumärkte, Hotels und Tankstellen. Jenseits des etablierten Buchhandelssystems verkaufen Verlage ihre Bücher zunehmend überall dort, wo sie mit der Nachfrage der Kunden rechnen können. In Fach- und Wissenschaftsverlagen haben digitale Vertriebskanäle, etwa der kostenpflichtige Download digitaler Ressourcen oder der Zugriff auf Online-Datenbanken im Rahmen von Abonnementmodellen, den Vertrieb physischer Produkte hinsichtlich ihrer Umsatzrelevanz inzwischen deutlich überholt oder sogar weitgehend ersetzt (Hartmann 2017). Das ‚Marktmodell‘ schließlich analysiert die für das gewählte Geschäftsmodell relevanten Nachfrager mit ihren Bedürfnissen und Nutzenerwartungen und klassifiziert sie nach demografischen, psychografischen, sozioökonomischen und das Kaufverhalten betreffenden Merkmalen, um daraus Schlussfolgerungen für die optimale Marktstrategie abzuleiten (Meffert 2019: 214–243). Viele Verlage benutzen z.  B. die Sinus-Milieus als Leitfaden zur Modellierung einer idealen ‚Buyer Persona‘, an der sie dann ihre programm- und kommunikationspolitischen Maßnahmen ausrichten. Auch ‚Limbic Types‘ nach den Emotionstypen des Neuromarketings geraten zunehmend in den Blick des Verlagsbuchhandels: Der Sachbuchverlag Gräfe und Unzer hat sich z.  B. vom starren Persona-Modell verabschiedet und klassifiziert seine Zielpersonen inzwischen dynamischer nach den vier grundlegenden Bedürfnisdimensionen ‚Verbundenheit‘, ‚Sicherheit und Balance‘, ‚Neugier und Abenteuer‘ sowie ‚Status und Anerkennung‘ (Börsenblatt 26/2022: 8). Zum Marktmodell gehört zudem die Analyse sowohl der Mikroumwelt von Verlagen, Zwischen- und Einzelhandelsunternehmen (Konkurrenten, Lieferanten, potenzielle neue Anbieter, Substitute) als auch der Makroumwelt mit ihren soziokulturellen, politisch-rechtlichen, technologischen und ökonomischen Megatrends (siehe Abschnitt 2.1). Dabei geht es vor allem um die Identifikation konkurrierender Geschäftsmodelle und die Ermittlung der Strukturen des relevanten Marktes und seiner Akteure, um auf der Grundlage der gewonnenen Daten eine eigene marktwirksame und zielgruppengerechte Positionierung zu entwickeln (Meffert 2019: 47–74). Um das theoretische Fundament abzurunden, auf dem die aktuellen Grundfragen und Handlungsfelder der Buchökonomie erörtert werden sollen, bedarf es nach den vorausgegangenen terminologischen und konzeptionellen Klärungen nun noch der Abgrenzung eines für die Buchbranche spezifischen und marketingstrategisch operationalisierbaren Produktbegriffs.

2 Theoretische Perspektiven 

 261

2.3 Der Produktbegriff der Buchökonomie Ein Produkt ist allgemein eine Leistung, die einen Nutzen stiftet und Kundenbedürfnis befriedigt und daher Gegenstand eines Wertaustausches am Markt sein kann. Leistungen können Sachen (Güter) sein, aber auch Dienstleistungen, Personen, Orte, Organisationen, Ideen usw. Diese Leistungen bestehen aus der Summe aller objektiven physikalischen, chemischen und technischen Elemente eines Produktes und dem subjektiven Wert, den Abnehmer ihnen beimessen (Meffert 2019: 395–399; Gläser 2021: 95 und 323–332). Die Spezifik des Produktes Buch besteht darin, dass es einen immateriellen und einen materiellen Nutzen bietet. Immateriell ist der eigentliche Kernnutzen eines Buchs, sein Inhalt (Content). In der Regel lässt er sich einer der drei Dimensionen Unterhaltung, Information oder Bildung zuordnen, wie sie z.  B. jeweils von einem Roman, einem Lehrbuch bzw. einer Biografie realisiert wird (Hagenhoff et al. 2014: 19–21; Dreiskämper 2018: 35–43). Diese Hauptdimensionen lassen sich auf vielfältige Weise weiter ausdifferenzieren und etwa um die Befriedigung des Bedürfnisses nach Eskapismus, Lebenshilfe, Inspiration, Ästhetik, Romantik, Spannung, Studienerfolg, beruflicher Effizienz usw. ergänzen. Die verschiedenen Genres und Warengruppen bedienen dabei völlig unterschiedliche Bedürfnisse, was Konsequenzen für die Ausstattung, das Design und das Layout der jeweiligen Bücher hat. Es ist aus medienökonomischer Perspektive zentral, das Kernprodukt ‚Buch‘ nicht vordergründig im Einband, im Papier, in der Druckfarbe oder im Textlayout zu sehen, weil dies nur äußere Elemente des physischen Trägermediums Buch sind. Vielmehr sind es primär der Content und seine psychologischen, kognitiven und sozialen Effekte, die den Grundnutzen ausmachen. Ohne diese Sicht auf das Buch als ein Medienformat unter vielen anderen Optionen der Kommunikation von Inhalten ist es zum einen nicht mehr möglich, die meisten aktuellen Verlagsprogramme zu beschreiben, die sich aus einer Vielzahl gedruckter und digitaler Schrift- und Bildmedien sowie Non-Book-Artikeln zusammensetzen, und zum anderen begibt man sich in die Gefahr, relevante Konkurrenten und Substitute in benachbarten Medienmärkten zu übersehen, die denselben Nutzen stiften. Nur wenn man etwa die Position eines Kochbuchs im Markt nicht nur durch den Vergleich mit Kochbüchern konkurrierender Verlage, das heißt intramedial, bestimmt, sondern zusätzlich die Bedrohung vonseiten inter- und extramedialer Wettbewerber, etwa durch Kochzeitschriften, Kochshows im Fernsehen, Kochkurse oder digitale Rezeptplattformen und Foodblogs, mitberücksichtigt, lassen sich die tatsächlichen Chancen und Risiken für dieses Verlagsprodukt adäquat erfassen. Denn sie alle liefern, wenn auch mittels anderer Technologien, denselben Content und damit denselben Nutzen wie das gedruckte Kochbuch (Gläser 2014: 171–172).

262 

 V.1 Buchökonomie

Es ist ein Problem in zahlreichen Verlagen, gerade auch in Traditionshäusern, dass sie oft immer noch sehr produkt-, und das heißt: buchorientiert, denken und dadurch nicht erkennen, dass sie im Grunde keine Bücher verkaufen, sondern Wissen, Emotionen, Entspannung, Karriere, Harmonie, Schönheit etc. In einer Zeit des quasi barrierefreien und kostenlosen Zugangs zu einem schier unbegrenzten Universum digital vermittelter Inhalte kann diese beschränkte Sicht auf das eigene, vermeintlich qualitativ überlegene Wertangebot existenzbedrohend sein. Davon zeugen viele Beispiele einst großer und unabhängiger, in den letzten zehn Jahren aber eingestellter oder in Konzernen aufgegangener Verlagsmarken, z.  B. Brockhaus (2014), J. B. Metzler (seit 2015 bei Springer Nature), Vandenhoeck & Ruprecht (seit 2021 bei Brill) oder BLV (seit 2018 Imprint von Gräfe und Unzer). Zum Kernnutzen tritt der Zusatznutzen, der in der Marketingtheorie in einen Erbauungs- und einen Geltungsnutzen unterteilt wird (Meffert et al. 2019: 396; Abb. 4). Von einem Buch kann der Erbauungsnutzen z.  B. durch einen ästhetisch ansprechenden Schutzumschlag, hochwertiges Papier, kunstvolle Illustrationen, Veredelungen, einen Schmuckschuber usw. gestiftet werden. Ein zusätzlicher Geltungsnutzen ergibt sich dann, wenn durch den Kauf und die Zurschaustellung von Büchern, z.  B. eines teuren Coffeetable-Bildbandes oder die in einer Vitrine präsentierte Kollektion einer exklusiven, buchkünstlerisch hochwertigen Sammleredition, das Bedürfnis nach Prestige und sozialer Anerkennung befriedigt wird. In Abgrenzung zu E-Books, Streaming-Diensten und anderen intangiblen digitalen Medienformaten steigern insbesondere Publikumsverlage seit einigen Jahren signifikant den ästhetisch-haptischen Zusatznutzen ihrer Produkte, was sowohl in der Belletristik und beim Sachbuch als auch bei Ratgebern und Jugendbüchern an einer deutlich höheren Ausstattungsqualität zu erkennen ist, die auf die Präferenzbildung durch Veredelungen, Klappenbroschuren, farbige Vor- und Nachsatzpapiere, Schnittverzierungen usw. setzt (Rehberg 2010). In seinen sozialen und ökonomischen Dimensionen nicht zu unterschätzen ist schließlich der Zusatznutzen des Buchs als Geschenk (siehe III.3 Kulturelle Praktiken des Buchgebrauchs in diesem Band), und zwar gemäß der Logik reziproker Tauschbeziehungen sowohl der Nutzen für den Schenkenden als auch für den Empfänger. Buchgeschenke sind in besonderer Weise geeignet, im Sinne Bourdieus das eigene Soziale Kapital zu vermehren (Bourdieu 2012), weil mit ihnen höchst individuelle Zeichen der Empathie, Zuneigung und Wertschätzung gegeben werden können. Das Buch gehört im Ranking der Geschenke neben Gutscheinen, Geld, Süßwaren und Spielwaren mit 39 % noch immer zum Spitzenfeld (Ernst & Young 2021). Innerhalb der Warengruppe Belletristik behauptet sich das Geschenkbuch seit Jahren relativ stabil bei einem Umsatzanteil von ca. 6 % (Buch und Buchhandel in Zahlen 2021: 16). Im Zuge der Verschiebung des Produktnutzens stark substitutionsgefährdeter Warengruppen von reiner Sachinformation hin zu Inspiration und Erlebnis haben

2 Theoretische Perspektiven 

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daher u.  a. Ratgeber-, Kochbuch- und Reisebuchverlage damit begonnen, ihre Titel verstärkt als Geschenkbuch zu positionieren, u.  a. durch hochwertigere Ausstattung und emotionalere Layouts (Nuhn 2021). Das Buch ist insofern ein komplexes, mehrdimensionales Medienprodukt, das die genannten Dimensionen des Produktnutzens in Abhängigkeit von Warengruppe, Zielgruppe und Verwendungsanlass in jeweils unterschiedlicher Ausprägung realisiert. Es ist materielles Objekt, Kommunikationskanal und ökonomische Ware zugleich (Rautenberg 2015: 65–66). Bei der markt- und zielgruppenorientierten Konzipierung von Büchern als nutzenstiftenden Produkten ist die Berücksichtigung dieser Funktionen unerlässlich.

Abb. 4: Produktnutzen-Architektur von Büchern in Anlehnung an Meffert (2019).

Zur Spezifik des Produktes ‚Buch‘ gehören weitere Dimensionen, die auch anderen Medien eigen sind (Beyer und Carl 2012: 11–22; Dreiskämper 2018: 89–132): Bücher sind Erfahrungsgüter, das heißt, im Moment der Kaufentscheidung kann der Kunde die Qualität nur bedingt bewerten, z.  B. bei einem Roman. Zwischen dem herstellenden Verlag und dem Kunden besteht eine Informationsasymmetrie. Erst nach dem Kauf und dem Lesen bzw. der Nutzung eines Buchs kann der Kunde ein Urteil treffen, und dies kann durchaus negativ ausfallen. Für das Verlagsmarketing bedeutet dies, dass der Kaufentscheidungsprozess durch absatzfördernde Vorab-Informationen, etwa durch Klappentexte, Booktrailer, Rezensionen, Podcasts usw., aber auch durch Instrumente des Produktmarketings wie eine genreund zielgruppenspezifische Covergestaltung, unterstützt werden muss. Besonders Sach- und Fachbücher sind insofern zusätzlich Vertrauensgüter, als der Kunde die Qualität der Inhalte auch nach der Rezeption nur eingeschränkt beurteilen kann,

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 V.1 Buchökonomie

weil ihm dafür z.  B. die Fachkompetenz fehlt. Den Inhalten eines Lehrbuchs, eines Reiseführers oder eines Kochbuchs muss der Leser vertrauen, weil er deren Korrektheit selbst nicht nachprüfen kann bzw. den Aufwand einer Überprüfung nicht aufbringen wird. In diesem Zusammenhang spielen Reihen- und Autormarken eine entscheidende Rolle, um Inhalte so zu autorisieren und mit einem Gütesiegel zu versehen, dass dadurch Kaufentscheidungen befördert werden (Huse 2013: 27–40). Verlagsprodukte sind schließlich meritorische Güter, die in einem demokratischen Gemeinwesen als Garanten von Meinungspluralismus und Bildung erwünscht und daher vom Staat durch das Umsatzsteuerprivileg und das Buchpreisbindungsgesetz gefördert werden (Menche 2017: 141–146), und sie sind duale Güter in dem Sinne, dass sie einerseits sowohl Kulturgüter mit publizistischen als auch Wirtschaftsgüter mit ökonomischen Funktionen darstellen, andererseits ebenso als Sachgüter wie auch als Dienstleistung (Informationsbereitstellung) betrachtet werden können. Zur Dualität gehört auch, dass Buchverlage gleichzeitig auf mehreren Märkten aktiv sind (Wirtz 2019: 101–105; Gläser 2021: 234–243): Auf dem Vertriebs-, ­Lizenz-, Dienstleistungs- und Werbemarkt erzielen sie Erlöse, auf dem Content-Markt müssen sie für die Beschaffung von Verwertungsrechten (Manuskripte, Lizenzen) investieren (Honorare, Vorschüsse, ‚royalties‘).

3 Zwischenfazit Die Buchökonomie bezieht ihre theoretische Fundierung aus der Allgemeinen Betriebs- und Volkswirtschaftslehre sowie dem Marketingmanagement. Ihr Gegenstand ist das Buch als kommerzielles Produkt, das in konkurrierenden bzw. konvergenten Medienmärkten Zielgruppenbedürfnisse befriedigt und produkt- und programmpolitisch entsprechend konzipiert, produziert und distribuiert werden muss, um publizistisch und ökonomisch erfolgreich zu sein. Der Kernnutzen von Büchern ist primär im immateriellen Content und seinem spezifischen Nutzen für die Rezipienten zu sehen. Das Buch ist ungeachtet seiner haptischen und ästhetischen Alleinstellungsmerkmale nur ein mögliches Trägermedium unter vielen, mittels derer gedruckt oder digital informierende, unterhaltende oder bildende Inhalte verbreitet werden können. Analyse und Entscheidungsfelder der Buchökonomie sind neben den Produkten selbst vor allem die ihnen zugrunde liegende Wertschöpfungskette, das direkte Marktumfeld (Wettbewerb, Substitute) im Spannungsfeld von Lieferanten (u.  a. Autoren) und Käufern (Endkunden, Handel) sowie die Dynamik der Makroumwelt (gesellschaftliche und technologische Megatrends). Das Geschäftsmodell sowohl von Verlagen als auch von Unternehmen des Bucheinzel- und -zwischenhandels lässt sich in sechs Partialmodelle unterteilen, die nicht

4 Tendenzen der Transformation 

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nur Analyse-, sondern auch Handlungsfelder für die Umsetzung marktgerichteter operativer Maßnahmen bilden. Sie stellen das Gliederungsprinzip der folgenden exemplarischen Erörterung der aktuellen Veränderungen und Zukunftsperspektiven des Geschäftsmodells des Verlagsbuchhandels dar.

4 Tendenzen der Transformation 4.1 Leistungsangebotsmodell Verlage handeln mit Medienprodukten, primär Büchern, in gedruckten und digitalen Formaten. Zum Standardportfolio gehört heute in der Regel das komplementäre Angebot eines Printtitels plus zugehörigem E-Book. Insgesamt ist es in den letzten Jahren im Zuge der Digitalisierung zu einer starken Ausdifferenzierung der Produktangebote gekommen. Abhängig vom Verlagstyp sind neben Büchern, Kalendern, Karten usw. elektronische Produkte wie E-Books, Apps und Datenbanken, aber auch Non-Book-Produkte wie Papeterie oder Spielzeug (Merchandising) hinzugekommen (Wirtz 2019: 293–299). Sach- und Fachbuchverlage bieten zudem Services wie Corporate Publishing oder Kurs- und Veranstaltungsprogramme an. In manchen Segmenten ist die Tendenz zu zielgruppenspezifischen Plattformlösungen zu beobachten (Ammon und Brem 2013; Gläser 2021: 69–75), z.  B. wenn der Sachbuchverlag Mairdumont die Marke Marco Polo nutzt, um ein umfassendes Reiseportal zu etablieren, auf dem die Kunden nicht nur gedruckte Reiseführer, sondern auch touristische Angebote, Ferienwohnungen, Reiseversicherungen, Mietwagen usw. finden, oder der Fachverlag Ulmer in sein Produktangebot auch Agrar-Anzeigenbörsen oder Weinverkaufsplattformen für Winzer integriert. Solche Verlage begreifen ihr Buchangebot nur noch als eine der Möglichkeiten, den Bedarf ihrer Zielgruppen effektiv zu befriedigen, und diversifizieren daher ihr Leistungsspektrum auf der Grundlage einer bündelnden Medienmarke ähnlich den aktuellen Strategien in Presseverlagen, z.  B. Axel Springer oder Gruner + Jahr. Die Bindung von Lesern mittels Social Media zum Aufbau einer markentreuen Community gehört insbesondere bei Verlagen in den Segmenten ‚Young‘ und ‚New Adult‘ inzwischen zum Leistungsangebot dazu, weil dadurch über die eigentlichen Verlagstitel hinaus ein emotionaler und sozialer Zusatznutzen gestiftet wird (Pein 2023). Beispiele dafür sind z.  B. das Romance-Imprint LYX oder der Comic-Verlag Reprodukt. Das Gemeinschaftserlebnis wird Teil des Produkts und z.  B. über SocialReading-Plattformen wie Goodreads und Lovelybooks oder Social-Media-Plattformen wie Facebook, Instagram und TikTok aktiv unterstützt. Der Bucheinzelhandel hat seine klassischen Handelsfunktionen durch eine Erweiterung seines Sortiments um Schreibwaren, Spielwaren, Geschenkartikel,

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 V.1 Buchökonomie

DVDs usw. sowie durch den Aufbau eigener Webshops erheblich erweitert. Zum Leistungsangebot von Barsortimenten wie LIBRI und Umbreit gehören inzwischen längst nicht mehr nur die etablierten logistischen Services des Zwischenbuchhandels, sondern ein umfangreiches Produktangebot, das White-Label-Shops für Sortimentsbuchhandlungen ebenso einschließt wie Warenwirtschaftssysteme und Print-on-Demand-Lösungen.

4.2 Beschaffungsmodell Beschaffung bedeutet im Verlagsbuchhandel insbesondere die Akquisition von Nutzungsrechten an Werken, die sie in gedruckten oder digitalen Formaten vermarkten können (Schickerling und Menche 2012: 25–36; Dreiskämper 2018: 565– 568; Röhring und Fetzer 2019: 94–103; Wirtz 2019: 306–311; Gläser 2021: 542–545). Dafür steht eine Reihe von Instrumenten zur Verfügung, die von der Aufnahme unverlangt angebotener Manuskripte ins Verlagsprogramm (gegebenenfalls über eine Agentur) über die offensive Einwerbung laufender Publikationsprojekte und im Entstehen begriffener Manuskripte, die selbständige Entwicklung marktfähiger Verlagsprojekte (z.  B. Kinderbuchreihen), die Produktentwicklung auf der Grundlage bereits bestehender Titel (z.  B. durch ‚Line Extensions‘), Neuauflagen von Backlist-Titeln, den Erwerb von Lizenzen für erfolgreiche (ausländische) Titel und Marken (Brandt 2011; Zentes et al. 2013; Hardt 2015; Owen 2020) bis hin zur Übernahme ganzer Verlage oder Programmteile reichen (Schickerling 2020: 26–38). Einige Publikumsverlage haben eigene Selfpublishing-Plattformen gegründet, z.  B. Droemer Knaur (Neobooks), um Autoren an sich zu binden, deren Titel in das PrintProgramm übernommen werden, wenn sie als E-Book erfolgreich sind. Immer öfter greifen insbesondere Jugendbuchverlage auf reichweitenstarke Influencer aus den Social Media, besonders YouTube, zurück, um sie als Autoren aufzubauen und mit ihnen Titel zu publizieren, die in Botschaft und ‚Tonality‘ zu ihrer Personenmarke und ihrem Online-Kanal passen (Jahnke 2021). Da zu einem erfolgreichen Influencer immer eine große Community gehört, sind solche Titel häufig Bestseller und können hohe sechsstellige Absätze erzielen. Bekannte Beispiele im deutschen Buchmarkt sind z.  B. Pamela Reif (Strong and beautiful) oder Victoria Sarina (Spring in eine Pfütze), beide herausgegeben von Community Editions, einem Imprint von Lübbe, das sich ganz auf Influencer-Bücher spezialisiert hat und sich selbst auf seiner Website als „Verlag für Social Media Künstler*innen“ bezeichnet. Der Verlag bringt regelmäßig Titel heraus, die zu Spiegel-Bestsellern werden. Das Beschaffungsmanagement ist für Verlage schwieriger geworden. Dies hat u.  a. mit der infolge der zahlreichen Selfpublishing-Optionen gewachsenen Verhandlungsmacht der Autoren zu tun, die auch ohne Kooperation mit einem Verlag

4 Tendenzen der Transformation 

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digital publizieren und ein großes Publikum gewinnen können. Im Lizenzhandel hat sich der Wettbewerb beim Einkauf bestsellerfähiger Titel international so verschärft, dass Verlage an Agenturen oft sehr hohe Vorschüsse zahlen müssen, um überhaupt die Übersetzungsrechte zu erhalten. Selbst dann bekommen sie in der Regel nicht mehr das ganze Set an Nebenrechten, z.  B. die Filmrechte, sondern nur noch die Verwertungsrechte für Ausgabeformate, die sie tatsächlich selbst realisieren und nutzen werden. Im Wissenschaftssegment laufen viele früher lukrative Publikationen, z.  B. langfristig erscheinende Editionen oder Reihen aus DFG-Sonderforschungsbereichen, inzwischen zum Teil ganz am Verlagsbuchhandel vorbei, weil sich die meisten Forschungsreinrichtungen in Deutschland zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse im Open-Access-Modus entschlossen haben (Ball 2016; Taubert 2016), oder sie kooperieren nur noch mit einem Verlag, der bereit ist, die Übertragung der einfachen Nutzungsrechte zu akzeptieren und dem Urheber nach einer ‚Moving Wall‘ von 24 oder 36 Monaten die eigenständige (digitale) Zweitveröffentlichung des Werkes gestatten. Viele Wissenschaftsverlage bieten daher heute eigene Open-Access-Modelle und -Services an, um einerseits diesem Kundenbedürfnis zu entsprechen und andererseits über ‚Publication Charges‘ weiterhin an der Wertschöpfung beteiligt zu sein und Erlöse zu generieren (Hartmann 2018). Erfolgsfaktoren für die Akquise sind neben einem klaren Programmprofil des Verlages der direkte Kontakt zu den Autoren bzw. die Vernetzung der Lektoren in der Community und eine gute Marktübersicht, daneben aber auch eine klare strategische Perspektive, die sich an konkreten Zielgruppen und deren Bedürfnissen orientiert. Die Produktangebote erfolgreicher Verlage sind systematisch erarbeitete Programme, die sich an Marktanforderungen orientieren und nicht ‚von selbst‘ heranwachsen, schon gar nicht durch passives Warten auf die sprichwört­ lichen ‚unaufgefordert eingesandten Manuskripte‘, die für die Programmpolitik der meisten Publikumsverlage weitgehend irrelevant sind (Röhring und Fetzer 2019: 97).

4.3 Leistungserstellungsmodell Die klassische Wertschöpfungskette von Buchverlagen (siehe Abschnitt  2.1), die linear von der Akquisition bis zur Auslieferung reicht, hat sich in vielen Verlagen mit den Erfordernissen der Digitalisierung grundlegend verändert (Wirtz 2019: 299–303). In Fach- und Wissenschaftsverlagen, aber auch Verlagen mit stark granularen Inhalten (Assets), z.  B. Reiseführer- und Schulbuchverlagen, hat sich das nicht-lineare Single Source Publishing mithilfe einer zentralen XML-basierten medienneutralen Datenbank etabliert, über die z.  B. in einem Fachverlag alle Zeitschriften in einem standardisierten Redaktions- und Publikationsprozess mithilfe

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 V.1 Buchökonomie

eines Content Management Systems (CMS) organisiert werden (Ott 2013). Diese Methode der Workflow-Optimierung birgt erhebliche Rationalisierungspotenziale und erlaubt ähnlich wie in der Pressewirtschaft die crossmediale Mehrfachverwertung des eingekauften Contents mit dem Ziel der Marktsegmentierung und -entwicklung. Sie bedeutet aber auch erhebliche Investitionen in die IT-Infrastruktur sowie die Reorganisation von Organisations- und Workflow-Konzepten. Verlage werden auf diese Weise zum Aggregator und Organisator von Content, der zielgruppenspezifisch und individualisiert in unterschiedlichsten Medienformaten ausgegeben werden kann. Die Erfordernis, solche CMS-basierten Publikationsprozesse einzuführen, ist abhängig vom jeweiligen Verlagstyp und den Zielgruppenbedürfnissen, die er bedient. Für einen mittelgroßen Belletristik-, Kinderbuch- oder Kunstbuchverlag mit primär linear im Volltext rezipierten oder besonders layoutintensiven Inhalten wird eine solche Investition kaum in Frage kommen. Die in der Branchenpresse diskutierten Verlagsmodelle 1.0 (klassischer Printverlag) bis 3.0 (spezialisierter digitalisierter Content-Provider; Heinold 2007; Figge 2020) sind insofern nicht generalisierbar und schon gar nicht im Sinne einer chronologischen oder qualitativen Hierarchie zu verstehen. In vielen kleineren Verlagen mit wenigen Mitarbeitern, deren Kerngeschäft primär auf zielgruppenaffinen Printprodukten basiert, ist die traditionelle Wertschöpfungskette unverändert ein effizientes und marktgerechtes Leistungserstellungsmodell. Verlage arbeiten inzwischen häufig auf der Basis systematischer Trendstudien, Marktforschung und Zielgruppenabgrenzungen und produzieren strategisch auf Markterfordernisse hin (Kaspar und Hagenhoff 2003; Eggers 2009; Gläser 2021: 252–256). Eine Vorstellung wie die manch berühmter Verleger des 20. Jahrhunderts, dass man nicht dem Publikumsgeschmack ‚hinterherlaufen‘ dürfe, sondern eine verlegerische Mission zu erfüllen habe, die die Leser erziehen und ihnen wertvolle Inhalte aufzwingen müsse (z.  B. Kurt Wolff, Samuel Fischer), dürfte in ihrer Absolutheit in den meisten modernen Verlagen der Vergangenheit angehören. Zum Leistungserstellungsmodell gehört heute in vielen Verlagen die Organisation und Verwaltung des Produktangebots mithilfe einer leistungsfähigen Verlagssoftware, unter denen Klopotek, Pondus, Open Junixx und KNK zu den verbreitetsten gehören. Die traditionelle Wertschöpfungskette erfährt zudem zunehmend Veränderungen infolge der Bereitschaft vieler Verlage, sich von einzelnen organisatorischen Funktionen, z.  B. Abonnementverwaltung oder Buchhaltung, durch Outsourcing zu entlasten und so Ressourcen für Kernfunktionen wie Autorenakquise und Portfolioaufbau freizusetzen und vor dem Hintergrund der Transaktionskostentheorie (Gläser 2021: 36–37) die Rendite durch eine Reduktion der Leistungstiefe zu erhöhen (Lucius 2014: 100–105).

4 Tendenzen der Transformation 

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4.4 Kapitalmodell Das Preismanagement (Dreiskämper 2018: 648–675) ist im Buchhandel ebenfalls deutlich komplexer geworden. Das Erlösmodell vieler Verlage und Buchhandlungen hat sich unter dem Einfluss der hochdynamischen Marktentwicklungen in den letzten Jahren stark verändert bzw. ist unter Druck geraten. Der Einzelhandel kann aufgrund der Buchpreisbindung bekanntlich nur in geringem Umfang Preispolitik betreiben. Die Ladenpreise werden von den Verlagen vorgegeben. In der Buchbranche, vor allem vonseiten des Einzelhandels, wird daher intensiv darüber diskutiert, ob Bücher nicht generell teurer werden müssten, um die gestiegenen Kosten, z.  B. bei Mieten, Gehältern und Energie, zu kompensieren. Die Endabnehmerpreise für Bücher sind im Unterschied zu anderen Branchen in den letzten 10  Jahren weitgehend stabil geblieben, die Margen des Handels bei steigenden Kosten entsprechend abgeschmolzen. Doch viele Verlage zögern, die Ladenpreise generell anzuheben, insbesondere im Publikumssegment (Belletristik, populäres Sachbuch), weil sie aufgrund der gestiegenen intra- und intermedialen Konkurrenz Absatzrückgänge befürchten. Im Publikumssegment (Belletristik) kostet ein Buch aktuell durchschnittlich ca. 18,– Euro, Hardcover und andere Ausgabeformate ca. 21,– Euro, ein Taschenbuch sogar nur ca. 12,– Euro (Buch und Buchhandel in Zahlen 2021: 143). Im klassischen Preisbildungsdreieck von Kosten, Wettbewerb und Nachfrage wagen die meisten Verlage keine potenziell kaufhemmenden Sprünge (Papies 2009). Im Gegensatz dazu vertreten andere Branchenakteure die Auffassung, dass die Preiselastizität der Nachfrage im Buchhandel überschätzt wird und durchaus höhere Preisansätze möglich sind (Suhling 2022). Ein aufsehenerregendes Experiment war 2017 die signifikante Erhöhung des Preises der neuen Titel von Ken Follett (Kingsbridge 3) um 20 % gegenüber dem Vorgängerband auf 36,– Euro und von Dan Brown (Origin) um 8 % auf 28,– Euro bei Lübbe. Insgesamt aber bewertet der Einzelhandel die Preispolitik der Verlage kritisch und erhebt den Vorwurf, dass die Verlage ihrer Verantwortung für die Stabilität der gesamten Buchbranche nicht angemessen nachkommen (Börsenblatt 49/2021). Er fordert, dass die Verlage die Preise in allen Warengruppen deutlich anheben, damit dem Einzelhandel existenzsichernde Renditen verbleiben. Die Vorsicht der Verlage ist als eine unmittelbare Auswirkung des Drucks zu werten, den die Medienkonvergenz und -konkurrenz sowie die Verschiebung der Vertriebskanäle in Richtung E-Commerce und Direktvertrieb auf den Buchmarkt ausüben. Aus Sicht des Verlagsbuchhandels stellt sich die Situation noch in einer anderen Hinsicht als herausfordernd dar: Zusätzlich zur Kostenexplosion belastet die verschärfte Konditionenpolitik der großen Filialisten und Online-Versandhändler, deren Verhandlungsmacht infolge beschleunigter Konzentrationsprozesse stark gewachsen ist (Lucius 2014: 59–64; Gläser 2021: 205–209), die Rentabilität des tradi-

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 V.1 Buchökonomie

tionellen Geschäftsmodells. Thalia und Amazon verlangen von den Verlagen inzwischen 50 % Rabatt, oft über Boni und andere Sonderregelungen indirekt sogar mehr. Wenn Verlage mit ihren Titeln also bei den marktbeherrschenden Händlern gelistet werden wollen, müssen sie sich notgedrungen auf diese Konditionen einlassen. Es ist zu erwarten, dass diese Konditionenpolitik die Margen der Publikumsverlage, insbesondere kleinerer unabhängiger Verlage, weiter senken wird, sie zwangläufig immer stärker auf den Direktvertrieb setzen werden oder die Ladenpreise schließlich doch anheben müssen. Die Schere zwischen den mächtigen Filialisten und den kleinen bis mittleren unabhängigen Sortimentern dürfte dadurch mittelfristig noch größer werden. Die offensive Konditionenpolitik der marktbeherrschenden Akteure unterminiert nicht zuletzt die Buchpreisbindung, weil bei vordergründig gleichem Ladenpreis kleinere Buchhandlungen durch geringere Rabatte benachteiligt werden und die großen Online-Versandhändler und Filialisten trotz desselben Endabnehmerpreises aufgrund ihrer Marktmacht erheblich höhere Renditen erwirtschaften können. Die Buchpreisbindung kann somit ihre Funktion, die Vielfalt des deutschen Buchhandels und die Existenz vieler Verkaufsstellen in der Fläche zu sichern, immer weniger erfüllen. Durch die Vorspiegelung einer echten Preisdifferenzierung mittels der parallelen Präsentation von Hardcover-, Taschenbuch-, E-Book- und Hörbuch-Preisen hebelt Amazon sie schon seit Langem aus. Nicht zuletzt deshalb hat die Monopolkommission 2018 in einem Sondergutachten für die Abschaffung der Buchpreisbindung plädiert, weil sie ihre Schutzziele nicht mehr erfüllen könne und die rechtliche Privilegierung des ‚Kulturgutes Buch‘ in einer medial hochdifferenzierten Welt grundsätzlich neu bewertet werden müsse. Die Buchpreisbindung stelle einen massiven Eingriff in die Marktwirtschaft dar, der aufgrund seiner ambivalenten Auswirkungen nicht mehr gerechtfertigt sei (Monopolkommission 2018). Bislang halten Kulturpolitiker und Branchenvertreter an der Buchpreisbindung fest, weil sie den unausweichlichen Strukturwandel zumindest verlangsamt und den Branchenakteuren mehr Zeit für die nötigen Anpassungen gibt. Sie wird gleichwohl die fortschreitende Konzentration im Buchhandel vermutlich ebenso wenig aufhalten wie die zunehmende Mainstream-Orientierung des Einzelhandels oder den Bedeutungsverlust des stationären Sortiments als ‚Point of Sale‘. Ein spezielles Problem des Kapitalmodells ist der Preisverfall bei E-Books. Zwar ist der Absatz von E-Books in Deutschland in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen und erreichte 2021  – allerdings ohne Berücksichtigung von Fach- und Schulbuch  – einen Umsatzanteil am Buchmarkt von immerhin 5,7 % (Buch und Buchhandel in Zahlen 2022: 25). Jedoch sank der erzielte Umsatz seit 2012 kontinuierlich: Der durchschnittlich bezahlte E-Book-Preis fiel von 10,71 Euro 2010 auf 6,63 Euro 2020 (Buch und Buchhandel in Zahlen 2021: 26–27). Mit 86 % Anteil am

4 Tendenzen der Transformation 

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gesamten E-Book-Umsatz (2020) spielt das Medienformat ohnehin nur im Segment Belletristik eine nennenswerte Rolle. Bei Sachbüchern und Ratgebern etwa sind die Umsatzanteile für die meisten Verlage relativ unbedeutend (Buch und Buchhandel in Zahlen 2021: 28). Mit E-Books lassen sich im deutschen Buchmarkt wegbrechende Print-Umsätze deshalb kaum kompensieren. Der Preisverfall ist u.  a. auf soziale Story-Plattformen wie Wattpad und auf die von Amazon und anderen Intermediären vertriebene Masse an preiswerten Selfpublishing-Titeln zurückzuführen, die im Durchschnitt für 3–4 Euro angeboten werden (Wischenbart 2019: 7). Anders stellt sich die Situation nur bei den international agierenden Fach- und Wissenschaftsverlagen dar, die E-Books und E-Journals im Kontext großer Datenbanken und E-Book-Pakete profitabel an Bibliotheken und institutionelle Kunden verkaufen und mit ihnen signifikante Umsätze generieren. Insgesamt lässt sich festhalten, dass das Kapitalmodell im Buchhandel sowohl für den Verlagsbuchhandel als auch für den Einzelhandel problematisch geworden ist, da infolge des allgemeinen Käufer- und Leserschwunds, erheblicher Kostensteigerungen, gewachsener intra- und intermedialer Konkurrenz und der Erosion stabilisierender Marktregulative (Buchpreisbindung) für alle Akteure die Sicherung der Rentabilität des Geschäftsmodells deutlich schwieriger geworden ist.

4.5 Distributionsmodell Zur Distribution seiner Titel stehen dem Verlagsbuchhandel traditionell der direkte bzw. der ein- oder zweistufig indirekte Vertriebsweg zur Verfügung. Der Direktvertrieb ohne Intermediäre hat den Vorteil des direkten Kundenkontakts und der Erzielung höherer Erlöse, gleichzeitig aber den Nachteil des Verzichts auf die Marketing-Leistungen des Einzelhandels und der Notwendigkeit zum Aufbau eigener kostenintensiver Vertriebsinfrastrukturen, z.  B. leistungsfähiger Webshops (BreyerMayländer 2014: 473–512). Das klassische Distributionsmodell des Buchhandels hat sich in den letzten zehn Jahren infolge der Digitalisierung von Bestellung und Logistik stark verändert. Der stationäre Sortimentsbuchhandel hat kontinuierlich Marktanteile verloren und hielt 2021 nur noch 39,1 % vom Gesamtumsatz im Buchhandel. Stark gewachsen sind hingegen der Online-Versandhandel (27,1 %) und der Direktvertrieb (21,7 %). Auch die sonstigen Verkaufsstellen, z.  B. Lebensmittel-Discounter, behaupteten mit 10,5 % Umsatzanteil eine starke Position, während Warenhäuser, der klassische Versandbuchhandel und die Buchgemeinschaften inzwischen weitgehend marginalisiert sind (Buch und Buchhandel in Zahlen 2022: 5–12). Sieht man von den temporären Pandemieeffekten der Jahre 2020 / 21 ab, die 2021 mit einem Plus von über 16 % beim Onlinebuchhandel zu einem regelrechten

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 V.1 Buchökonomie

Boom des E-Commerce im Buchhandel geführt und den stationären Sortimentsbuchhandel erstmals unter 40 % Marktanteil gedrückt haben, zeichnen sich auch längerfristig wirksame Tendenzen ab: Bücher werden zunehmend online gekauft, das stationäre Sortiment verliert  – wie auch der Einzelhandel in anderen Branchen  – signifikant an Relevanz, insbesondere für kleinere Verlage, die von den Sortimentern oft gar nicht mehr gelistet werden und insofern auf den Direktvertrieb über ihren Webshop oder auf den Verkauf durch Online-Händler, allen voran Amazon, angewiesen sind. Aber auch ältere Backlist-Titel, die infolge der NovitätenFlut immer seltener in den Regalen der Sortimentsbuchhandlungen stehen, werden in Zukunft vermehrt nur noch über das Internet gesucht und gekauft werden. Es ist nicht nur damit zu rechnen, dass aufgrund der Konzentrationsprozesse im Buchhandel und der gestiegenen Verhandlungsmacht der Filialisten viele Verlage ihren Direktvertrieb ausbauen werden, um ihre Erlöse zu optimieren, sondern auch mit einem weiteren Wachstum der Nebenmärkte, weil infolge der Krise des Einzelhandels in den Innenstädten und der Fragmentierung der Zielgruppen die Kunden vom Verlagsbuchhandel verstärkt direkt dort angesprochen werden, wo sie sich zur Deckung des Alltagsbedarfs aufhalten, z.  B. in Lebensmittelmärkten, an Tankstellen, in Baumärkten, an Bahnhöfen usw. Viele Verlage im Sach- und Fachbuchmarkt intensivieren zudem ihr Industriegeschäft (B2B), z.  B. Reiseführer-Verlage wie Mairdumont, die für Unternehmen persönliche Reiseführer für ihre Kunden mit individuellem Branding, eigenem Corporate Design und spezifischer Inhalte-Selektion anbieten, oder die über ‚Content Syndication‘ ihre Inhalte für eine (crossmediale) Mehrfachverwertung nutzen. In vielen Fach- und Special-Interest-Verlagen ist der Online-Vertrieb, z.  B. von Datenbanken und professionellen Tools, inzwischen das Standard-Distributionsmodell geworden. In der Regel findet sich heute im Verlagsbuchhandel ein mehrkanaliges Distributionsmodell, das neben dem Verkauf gedruckter Titel über den Sortimentsbuchhandel zusätzlich den Vertrieb gedruckter und digitaler Produkte (E-Books) über die eigene Website bzw. Online-Händler umfasst (Wirtz 2019: 319– 323). Auch Sortimentsbuchhandlungen verfügen häufig über einen eigenen komplementären Webshop, insbesondere die großen Filialisten Thalia und Hugendubel. In diesem Zusammenhang spielen ausdifferenzierte Produkt-Metadaten (ONIX, Thema) eine immer größere Rolle für den Absatzerfolg. Versuche, den stationären Buchhandel am E-Book- und Online-Geschäft zu beteiligen, sind bis auf den Verkauf von E-Readern (z.  B. Tolino) und Audio-Abspielgeräten (z.  B. Toniebox) bislang wenig erfolgreich gewesen, weil elektronischer Content bei der Distribution keiner stationären Verkaufsstellen bedarf. Dieselbe Tendenz zur Disintermediation zeichnet sich bei Hörbüchern ab, die von den Verlagen zunehmend in nicht-physischen Formaten über Streaming-Dienste wie Audible und Spotify vertrieben werden (Dreiskämper 2018: 571–573; Gläser 2021: 340–342).

4 Tendenzen der Transformation 

 273

Damit bleibt der klassische Buchhandel aber gerade von den Wachstumsmärkten ausgeschlossen (buchreport spezial „Hörbuch“ 2022).

4.6 Marktmodell Der Markt, in dem Verlage, Zwischenbuchhändler und der Bucheinzelhandel agieren, hat in den letzten Jahren ebenfalls erheblich an Komplexität gewonnen. Dies liegt insbesondere an der neuen Diversität des Wettbewerbs infolge von Digitalisierung und Medienkonvergenz. Zum einen ist die intramediale Konkurrenz massiv gestiegen. Dies ist u.  a. in auflagenstarken Genres wie Romance und Thriller, aber auch beim Kinderbuch sichtbar. Im Romance-Bereich bearbeiten z.  B. gleich sieben starke Publikumsverlage mit weitgehend identischen Imprints und Portfolios den Markt, unter denen LYX (Lübbe) und Kyss (Rowohlt) besonders reichweitenstark sind. Im Kinderbuchsegment versuchen die Verlage, mit immer neuen Figurenmarken langfristig erfolgreiche Reihen zu etablieren. Im attraktiven Markt für Kinder- und Jugendsachbücher kämpfen Tessloff (Was ist was), Ravensburger (Wieso? Weshalb? Warum?) und Dorling Kindersley (Memo) – neben zahlreichen kleineren Anbietern – offensiv um Marktanteile. Vergleichbar starke Konkurrenzrelationen lassen sich z.  B. auch bei Reiseführern und Ratgebern ausmachen. Für die Verlage ist daher die Frage entscheidend geworden, wie sie im übersättigten Markt mit aktuell etwa 64.000 Erstauflagen jährlich (Buch und Buchhandel in Zahlen 2022: 81) Sichtbarkeit für ihre Titel herstellen. Dies bedeutet, dass neben offensivem Push- und Pull-Marketing eine differenzierte Positionierung, z.  B. über Autor- und Reihenmarken, eine publikumswirksame Profilierung und innovative Perspektivierung aktueller Themen oder über eine besondere Ausstattungshöhe, z.  B. mittels Veredelungen, für den Absatzerfolg immer wichtiger werden. Die entscheidende neue Dimension ist aber die massiv gestiegene intermediale Konkurrenz. Es ist heute nicht mehr möglich, im Kontext eines Geschäftsmodells von Buchverlagen das Marktmodell ohne die Analyse der Online-Substitute, z.  B. Blogs, Vlogs und Social Media, des Zeitschriftenmarktes, der Streaming-Anbieter, u.  a. Netflix, des Filmmarktes und der Gaming-Industrie adäquat zu beschreiben und auszugestalten. Denn in diesen Medienmärkten wird genauso mit nutzenstiftendem Content gehandelt wie im Buchhandel, und viele Konsumenten präferieren gegenüber dem gedruckten Buch inzwischen digitale, mobil nutzbare Medien, wenn sie ihren Bedarf an Information, Unterhaltung oder Bildung decken wollen. Die Verlage stehen somit mit ihren Produkten in einer verschärften Konkurrenz, auch weil jederzeit mit neuen Anbietern aus anderen Branchen zu rechnen ist, und sie antworten darauf u.  a. mit hochwertigen Buchausstattungen zur Steigerung des optischen und haptischen Erlebnisses, mit neuen innovativen Buchreihen, mit

274 

 V.1 Buchökonomie

der Personalisierung von Themen über Testimonials im Sachbuchsegment, und mit Autoren und Inhalten, die sie aus den digitalen Medienmärkten beziehen, z.  B. mit Handbüchern zum Computerspiel Minecraft oder über Kooperationen mit TVSendern wie bei der sehr erfolgreichen NDR-Serie Die Ernährungs-Docs, zu der der ZS Verlag die Bücher herausbringt. Die effektivste Abwehr der vielfältigen OnlineKonkurrenz besteht im Buchhandel insofern häufig gerade in der Nutzung der Potenziale der Medienkonvergenz, das heißt in Kooperationsmodellen und Joint Ventures mit den Anbietern von Substituten und den so genannten ‚branchenfremden‘ Unternehmen, etwa in der Form von Markenlizenzen oder crossmedial ausdifferenzierten Produktfamilien. Wie sich neue Bedrohungen durch KI-basierte Chatbots (z.  B. ChatGPT des US-Unternehmens OpenAI) oder Apps für SachbuchKonzentrate wie Blinkist auf die künftige Position des Buchhandels im Markt für Information und Kommunikation auswirken werden, ist noch nicht abzusehen, aber sie dürften gravierend sein (Lauer 2020: 159–221). Die zusätzlich verschärfte extramediale Konkurrenz, also etwa durch Schule und Arbeit oder medienferne Freizeitaktivitäten, die mit dem Buch im Wettbewerb um das Budget, die Zeit und die Aufmerksamkeit der Konsumenten stehen, führt direkt zur Analyse der Nachfrager im Buchmarkt. Nicht nur die ARD / ZDF-Studien zur Massenkommunikation (zuletzt 2021), sondern auch die Erhebungen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) zum Lese- und Kaufverhalten in der Buchbranche (Buchkäufer – Quo vadis? 2018), zeigen, dass die Rezeption gedruckter Formate (Bücher, Zeitschriften, Zeitungen), besonders in der Gruppe der 14- bis 29-Jährigen, stark zurückgeht, während der Konsum von Audio- und Video-Medien (u.  a. Podcasts, TV-Serien), besonders über Streaming-Plattformen wie Amazon Prime oder Social-Media-Plattformen wie TikTok und YouTube, signifikant zunimmt. Hinzu kommt ein Verlust an Buchkäufern und -lesern von 22 % in den letzten zehn Jahren, besonders in den jüngeren Zielgruppen. Während das Medienzeitbudget in der Gesamtbevölkerung relativ stabil geblieben ist, hat darin das Buch – wahrscheinlich irreversibel – signifikant Anteile an Online-Medien und Streaming-Dienste verloren. Als Gründe für das Schrumpfen des Buchmarktes konnte die Quo vadis-Studie der GfK u.  a. Zeitmangel, das heißt das Fehlen konzentrierter Ruhe- und Lesemomente im Alltag, medialen Content-Overload und Überforderung, eine daraus resultierende Convenience-Orientierung, die Ausrichtung auf konstante Produktivität und Multitasking, die Abhängigkeit von sozialen Medien und ihrem kommunikativen Leistungsdruck sowie fehlende Orientierung im Überangebot des Buchhandels ausmachen. Die Grunderkenntnis dieser Marktforschungen ist: Das Lesen von Büchern verliert als eine der vielfältigen Optionen, die Freizeit zu verbringen, besonders in der Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen zunehmend an Bedeutung. Das Mediennutzungsverhalten verändert sich in allen Alters- und Bevölkerungsschichten radikal in

5 Desiderate 

 275

Richtung ‚schneller‘ granular konsumierbarer Online-Medien. Am ehesten werden Bücher noch mit Entschleunigung, Rückzug und Entspannung verbunden. Das traditionelle Marktmodell des Buchhandels mit klar definierbaren Wettbewerbern und einem über Jahrzehnte relativ stabilen Nachfrage- und Leseverhalten in der Bevölkerung ist daher mittelfristig – je nach Warengruppe unterschiedlich – stark gefährdet.

5 Desiderate Die Erörterung aktueller Tendenzen der Buchökonomie hat sichtbar gemacht, dass sowohl produkt- als auch unternehmensseitig die Komplexität buchökonomischer Analysen und Konzepte signifikant zugenommen hat. In allen sechs Partialmodellen des Geschäftsmodells kommt es infolge der Digitalisierung und des veränderten Mediennutzungsverhaltens der Buchleser- und -käufer zu gravierenden Umbrüchen und existenziellen Bedrohungen. Das Buch ist nur noch eine Option unter vielen für den Transport von Content zum Rezipienten. Im Hinblick auf Multimedialität, Aktualität, soziale Vernetzung und Transaktionskosten steht es in einem massiven Wettbewerb mit den elektronischen Medien. Es wird in Zukunft darauf ankommen, den spezifischen Mehrwert von Büchern produkt- und kommunikationspolitisch herauszuarbeiten und insbesondere über die Verschiebung des Produktnutzens in Richtung Zusatznutzen (ästhetisch, emotional, sozial) Leser zu binden bzw. zurückzugewinnen. Das bedeutet aber auch, dass Buchökonomie nur noch im Kontext der allgemeinen Medienökonomie reflektiert und operativ ausgestaltet werden kann, weil dem Buch keine Sonderstellung in den hochdifferenzierten Medienmärkten mehr zukommt. Den Werkzeugen des strategischen Managements im Hinblick auf Markt- und Zielgruppenanalysen wird in Zukunft sowohl im Verlagsbuchhandel als auch im Bucheinzelhandel eine immer größere Bedeutung zukommen (Dreiskämper 2018: 452–527). Einerseits ist Gläser sicher zuzustimmen, wenn er betont, dass die „Bedeutung des Buches […] abnehmen [wird], und dies nicht nur relativ, sondern auch in absoluten Umsatzzahlen. Die Einbußen dürften jedoch nicht so groß sein, um die ‚Schreckensvision‘ vom Verschwinden der Bücher Wirklichkeit werden zu lassen […]. Ein Einbruch des Marktes wird nicht erwartet“ (Gläser 2014: 190). Er geht vielmehr davon aus, dass sich das gedruckte Buch aufgrund „seiner tief verwurzelten kulturellen Funktion“ (Gläser 2021: 252) und weil die Rentabilität der Branche „voll vorhanden“ sei (Gläser 2021: 256), auch in Zukunft als Medienprodukt am Markt behaupten werde. Andererseits hat nicht zuletzt die Quo-vadis-Studie des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) gezeigt, dass es durchaus zum Verlust ganzer Marktsegmente und zur Sub-

276 

 V.1 Buchökonomie

stituierung einzelner Warengruppen kommen kann und die rückläufige Käuferentwicklung wahrscheinlich unumkehrbar ist. Zugespitzt ließe sich daher für das Wertschöpfungssystem der Buchökonomie formulieren: Der Buchhandel der Zukunft muss sich unter Preisgabe der lähmenden Auratisierung des Buchs als exklusiven ‚Kulturgutes‘ konsequenter auf das völlig veränderte Mediennutzungs-, Informationsbeschaffungs- und Einkaufsverhalten der kommenden Generationen einstellen, wenn er eine Zukunft haben will. Und der Verlag der Zukunft wird ein Zielgruppenverlag sein, bei dem die klar definierten Nutzenerwartungen der Kunden im Mittelpunkt stehen, oder er wird nicht mehr sein. Voraussetzung dafür ist aber eine größere Bereitschaft, die Substituierung des eigenen traditionellen Geschäftsmodells jederzeit mitzudenken, sie selbst proaktiv zu gestalten und sich Innovationen in Bezug auf neue Inhalte, Services und Technologien risikobereiter zu öffnen (Lenz et al. 2020).

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Literatur 

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278 

 V.1 Buchökonomie

Monopolkommission 2018. Die Buchpreisbindung in einem sich ändernden Marktumfeld: Sondergutachten der Monopolkommission. Bonn 2018. Nuhn, Laura. Die Positionierung von Büchern als Geschenk: Die Erarbeitung einer marktwirksamen Positionierung als Geschenk für Bücher von Publikumsverlagen. Masterarbeit an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK). Leipzig 2021. Ott, Tobias. Crossmediales Publizieren im Verlag. Berlin, Boston 2013. Owen, Lynette. Selling Rights. 8. Aufl. Abingdon 2020. Papies, Dominik. „Preismanagement bei Büchern.“ Ökonomie der Buchindustrie. Hrsg. von Michel Clement, Eva Blömeke und Frank Sambeth. Wiesbaden 2009: 129–143. Pein, Vivian. Community Manager*in: Das Handbuch für Ausbildung und Beruf. Bonn 2023. Rautenberg, Ursula. „Buch.“ Reclams Sachlexikon des Buches: Von der Handschrift zum E-Book. Hrsg. von Ursula Rautenberg. 3. Aufl. Stuttgart 2015: 65–68. Rehberg, Dörte. Das besondere Buch: Der Buchkörper als Marketinginstrument in Zeiten verschärfter Medienkonkurrenz. Stuttgart 2010. Röhring, Hans-Helmut, und Günther Fetzer. Wie ein Buch entsteht: Einführung in den Buchverlag. 10. Aufl. Darmstadt 2019. Rüegg-Stürm, Johannes, und Simon Grand. Das St. Galler Management Modell: Management in einer komplexen Welt. 2. Aufl. Bern 2020. Schickerling, Michael. Lektorat, Programmplanung und Projektmanagement im Buchverlag. Frankfurt am Main 2020. Schönstedt, Eduard, und Thomas Breyer-Mayländer. Der Buchverlag: Geschichte, Aufbau, Wirtschaftsprinzipien, Kalkulation und Marketing. 3. Aufl. Stuttgart und Weimar 2010. Schumann, Matthias; Hess, Thomas, und Svenja Hagenhoff. Grundfragen der Medienwirtschaft: Eine betriebswirtschaftliche Einführung. 5. Aufl. Berlin, Heidelberg 2014. Steinmann, Horst; Schreyögg, Georg, und Jochen Koch. Management: Grundlagen der Unternehmensführung. Konzepte – Funktionen – Fallstudien. 7. Aufl. Wiesbaden 2013. Suhling, Fabienne. Preiselastizität von Belletristik-Bestsellern: Eine empirische Analyse von Preiselastizitäten im deutschen Buchmarkt für Belletristik-Print-Bestseller unter Berücksichtigung psychologischer Preisfärbung durch Autorenmarken und den Einsatz von SPIEGEL-Bestseller-Siegeln. Masterarbeit an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK). Leipzig 2022. Taubert, Niels. „Open Access und digitale Publikation aus der Perspektive von Wissenschaftsverlagen.“ Wissenschaftliches Publizieren: Zwischen Digitalisierung, Leistungsmessung, Ökonomisierung und medialer Beobachtung. Hrsg. von Peter Weingart und Niels Taubert. Berlin, Boston 2016: 75–102. Wantzen, Stephan. Betriebswirtschaft für Verlagspraktiker. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2008. Wirtz, Bernd W. Medien- und Internetmanagement. 6. Aufl. Wiesbaden 2009. Wirtz, Bernd W. Medien- und Internetmanagement. 10. Aufl. Wiesbaden 2019. Wischenbart, Rüdiger. The Busines of Books 2019: Publishing in the Age of the Attention Economy. Presented by the Frankfurter Buchmesse’s Business Club. Frankfurt am Main 2019. Zentes, Joachim; Swoboda, Bernhard, und Hanna Schramm-Klein. Internationales Marketing. 3. Aufl. München 2013.

V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel Ute Schneider

1 Gegenstandsbereich Im Buchhandel (Verlagsbuchhandel, Zwischenbuchhandel, Sortimentsbuchhandel und Antiquariatsbuchhandel) treten als wichtigste Akteure Verleger*in, Lektor*in, Hersteller*in, Gestalter*in, Vertriebsmitarbeiter*in, Verlagsvertreter*in, Sortimenter*in und Antiquar*in sowie Literaturagent*in auf. Eine der auffallendsten und für die Rollenerwartungen wie für ihre Erfüllung folgenreichsten Besonderheiten der Berufe im Buchhandel ist die fehlende Zugangsregelung von wirkmächtigen Positionen wie Verleger oder Lektor. Der formale Zugang zur beruflichen Position im Sinne der Berufsbezeichnung ist nur für einige der oben genannten Tätigkeiten formal festgelegt, z.  B. für Sortimentsbuchhändler*innen. Maßnahmen zur professionellen Qualitätssicherung in den Tätigkeitsprofilen bedürfen in allen anderen Fällen unternehmensspezifischer Vereinbarungen, die situativ oder individuell angepasst werden müssen und nicht für jede Problemlage lösungstauglich sind. Während Sortimentsbuchhändler*in ein geregelter Lehrberuf ist, Hersteller*innen häufig eine technische Ausbildung haben und Gestalter*innen oft ein GrafikDesignstudium oder etwas Vergleichbares nachweisen können, steht der Beruf des Verlegers, des Lektors, des Verlagsvertreters, des Literaturagenten und des Antiquars im Prinzip allen Interessierten offen. Auch auf die Gefahr der empirischen Ungenauigkeit hin lässt sich holzschnittartig sagen, dass eine akademische Vorbildung in der Buchbranche eher zum formal ungeregelten Berufseintritt führt (z.  B. Autor*innen, Lektor*innen, Verleger*innen) als eine nichtakademische Vorbildung (z.  B. Verlagskaufleute resp. Medienkaufleute Digital und Print [seit 2006], Buchhändler*innen, Verlagsvertreter*innen). Mit dem professionell ungeregelten Zugang zum Beruf ist die Frage nach der Qualitätssicherung des Handelns ebenso verbunden wie die Frage nach dem Selbstverständnis dieser Berufsangehörigen oder nach einer beruflichen Interessenvertretung. Letzteres ist durch die Standesorganisation Börsenverein des Deutschen Buchhandels, die alle drei Handelsstufen umfasst, sowie durch Interessenvertretungen für Autoren wie z.  B. dem Freien Deutschen Autorenverband / Schutzverband Deutscher Schriftsteller gegeben. Ähnliches gilt für die seit der Jahrtausendwende mehr und mehr außerhalb der Verlage stattfindende Arbeit der Lektor*innen, die als ‚Freie Lektor*innen‘ erstmals in ihrer Berufsgeschichte in einem Interessenverband, dem Verband Freier Lektorinnen und Lektoren, organisiert sind. https://doi.org/10.1515/9783110745030-012

280 

 V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel

Die in jüngster Zeit ausgeübte Praxis des Selfpublishings, deren erfolglose Vorläufer in der Buchhandelsgeschichte in die Epoche der Aufklärung datieren (Rahmede 2008), weist bisher für die Selfpublisher*innen in ihrer Eigenschaft als Verleger*in, Lektor*in, Gestalter*in und Marketingmanager*in ihrer eigenen Werke kein eigenes Berufsbild auf. Sie organisieren und vermarkten ihrer Arbeit selbst und nutzen häufig die Infrastruktur von Onlineplattformen professioneller Anbieter zur Einrichtung und zum Vertrieb ihrer Texte. Ihre Rollenvielfalt, die fast alle oben genannten Berufspositionen umfasst, wird hier nicht weiter berücksichtigt. Obwohl ein formal normierter Zugang zu Berufen einen wesentlichen Aspekt der Professionalisierung darstellt, können Rollen und Positionen im Buchhandel trotz des Phänomens des ungeregelten Berufszugangs berufssoziologisch untersucht werden. Im Folgenden wird in Anlehnung an Luckmann und Sprondel (1972: 13) dann von Berufen gesprochen, wenn sich Arbeit in ausdifferenzierter Rollenstruktur ordnet, das heißt, „wenn die Arbeit als berufliche Arbeit sozial organisiert wird“ (Kurtz 2007: 497). Dies ist als Mindestvoraussetzung bei allen Tätigkeiten im Buchhandel gegeben und im Hinblick auf professionelle Rollen zu untersuchen. Buchhandlungen und Verlage sind arbeitsteilig organisiert, in der Regel hierarchisch strukturiert und die Kompetenzen jeder Position sind für alle Akteure innerhalb des einzelnen Verlags oder der Buchhandlung wie auch innerhalb der Buchbranche offen nachvollziehbar. Der soziale Status der Angehörigen des Buchhandels variiert wie in anderen Unternehmensbranchen auch und hängt von der Stellung innerhalb des Unternehmens ab, mit der meist das Einkommen, die Kompetenzen und die Sichtbarkeit nach außen verbunden sind.

1.1 Praxisbezogene Berufsbilder und empirische Bestandsaufnahmen Auskunft über die inhaltlichen Anforderungen der aktuellen Branchenberufe geben buchhändlerische Lehrbücher für den Nachwuchs im Verlag und Sortiment. Seit Einrichtung der buchhändlerischen Lehranstalt in Leipzig 1853 ist Sortimentsbuchhändler*in ein Beruf mit normierten Ausbildungsinhalten. Lehrbücher wie Paschke und Rath kamen erstmals 1908 (Lehrbuch des deutschen Buchhandels) auf den Markt und werden als Schub in der Professionalisierung der Buchbranche eingeschätzt (Grünert 1998). Aus dessen in kontinuierlicher Folge publizierten Neuauflagen und weiteren Lehrbücher des Buchhandels, die im Laufe des 20. Jahrhunderts eingeführt wurden, lassen sich zwar Hinweise auf Anforderungsprofile der unterschiedlichen Berufe in der Buchbranche herauslesen, sie beschränken sich aber genretypisch auf die Alltagspraxis. Fragen der beruflichen Sozialisation, des beruflichen Habitus und die nach den Herausforderungen und Konsequenzen einer

1 Gegenstandsbereich 

 281

fehlenden Qualitätssicherung werden seltener angesprochen. Die Berücksichtigung von Marktentwicklungen bei der Konturierung von Berufen wie z.  B. die Aufgabe der Berufsbezeichnung Verlagskauffrau / -mann zugunsten der Bezeichnung Medienkauffrau / -mann Digital und Print im Jahr 2006 ist ein Beispiel für inhaltliche wie formale Anpassungsprozesse. Ziel der Umbenennung war die Steigerung der Attraktivität des Berufs, 2011 folgte eine ähnliche Neubeschreibung des Buchhändlerberufs. Aktuelle Lehrbücher für die normierte Ausbildung im Sortimentsbuchhandel thematisieren relativ konkret Rollenerwartungen. So werden Handlungshinweise für das Gespräch mit der Kundschaft gegeben, womit die Sozialisation des Branchennachwuchses mit Benimmregeln unterfüttert wird. In diesen Lehrbüchern wird meist auf die besonderen Eigenschaften des Buchs als Handelsgegenstand mit dem vielzitierten Unterschied zwischen Büchern und Würstchen oder Käse hingewiesen (Pohl und Umlauf 2018: 246). Wegen der spezifischen Eigenschaften des Mediums Buch als Vertrauensgut werden soziale Kompetenzen vom Verkaufspersonal für erfolgreiches Handeln im Bucheinzelhandel gefordert, die z.  B. „Begeisterung in den Kunden entzünden“ (Pohl und Umlauf 2018: 246). Die Handreichungen für den Nachwuchs betreffen sowohl die Sachebene als auch die Beziehungsebene und rekurrieren vorwiegend auf den Umgang mit den Kund*innen, das Verkaufsgespräch und gehen bis in konkrete Formulierungsvorschläge im Gespräch mit der Kundschaft. Daraus lassen sich Rollenerwartungen herauslesen, die sich zwar auch auf die Sachkompetenz, aber noch vielmehr auf Service, Bedienung und Beratung beziehen. Pohl und Umlauf (2018: 251–252) ziehen gar die Erkenntnisse der Transaktionsanalyse des amerikanischen Psychiaters Thomas A. Harris heran, um ihr Anliegen den Sortimentslehrlingen zu vermitteln. Neben dem Buchhandelslehrling ist die Ausbildung der Verlagskaufleute / Medienkaufleute Digital und Print sowie Kaufmann / Kauffrau im E-Commerce inhaltlich festgelegt (siehe dazu Kerlen [2003] und aktuell die Übersicht der Ausbildungsberufe, angelegt vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels https:// www.boersenverein.de/bildung-karriere/ausbildung/). Die statistischen Daten zur Anzahl der Beschäftigten und Auszubildenden im Buchhandel werden jährlich in Buch und Buchhandel in Zahlen ausgewiesen. Weitere empirische Erhebungen z.  B. zur Berufszufriedenheit existieren nicht. Einzig eine repräsentative Studie über den Beruf des Lektors im Buchverlag wurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts durchgeführt (Hömberg 2010). In dieser quantitativen Studie, die durch qualitative Interviews angereichert ist, wurde klar, dass Lektoratsstellen zu zwei Dritteln weiblich besetzt sind. Die Ergebnisse der Studie liefern eine aktuelle Verfestigung von historisch Gewachsenem: Ein hohes formales Bildungsniveau (20 Prozent sind promoviert) trifft auf ein traditionell niedriges Einkommen (durchschnittlich 2000 Euro netto [Stand 2010]), das zeitliche Arbeitspensum dagegen ist recht hoch (gut 45h

282 

 V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel

pro Woche). Die Karrieremöglichkeiten wiederum sind eher unbefriedigend und die Weiterbildungsmöglichkeiten eher gering (Hömberg 2010: 207–208). Diese Tatsachen haben ebenso Tradition wie der Wunsch der Befragten, dem Verlag und gleichzeitig den Autor*innen zu dienen sowie Bildung und Werte zu verbreiten. Solche Studien fehlen zu anderen Branchenberufen. Die hohe Aufladung der Lektorenrolle mit nichtkommerziellen Wertmustern hat ihre historischen Wurzeln in der deutschen Buchhandelsgeschichte (Schneider 2005).

1.2 Historisch tradiertes Rollenselbstverständnis der Branchenmitglieder Von ihren Anfängen bis in die Gegenwart hinein ist der deutsche Buchhandel dezentral organisiert, was ihn von anderen europäischen Staaten wie beispielsweise England und Frankreich deutlich unterscheidet. Historischer Grund ist die bis zur Reichsgründung 1871 vorherrschende politische und intellektuelle Kleinstaaterei, die eine deutsche politische Hauptstadt, die gleichzeitig auch das geistige Zentrum war wie im Falle von London oder Paris, verhinderte. Der deutsche Buchhandel hatte sich etwa seit der Aufklärung die Substitution der fehlenden politischen Einheit in Deutschland durch Bemühungen um kulturelle Einheit auf seine Fahnen geschrieben. Spätestens nach den Napoleonischen Kriegen entwickelte sich unter Verleger*innen wie Sortimenter*innen die Überzeugung, nicht allein dem bürgerlichen Kaufmannsstand zuzugehören, sondern aus dem hergestellten und vertriebenen Produkt, dem Medium Buch oder auch der Presse, besondere nationale, geistige und kulturelle Verantwortung ableiten zu dürfen und zu müssen. Der Sortimenter, Verleger und Buchhandelsreformer Christoph Friedrich Perthes brachte diesen Anspruch in seiner 1816 erschienenen Schrift Der deutsche Buchhandel als Bedingung des Daseyns einer deutschen Literatur programmatisch zum Ausdruck. Die Rolle und Funktion der deutschen Verleger*innen und Sortimenter*innen wurde verstanden als integrative Kraft, die die Idee der Verwirklichung einer Kultureinheit Deutschlands durch ein leistungsfähiges Buchhandelsnetz und eine identitätsstiftende deutsche Literatur umsetzen sollte. Den fast ausnahmslos privatwirtschaftlich geführten Firmen des deutschen Buchhandels wurden somit politische Aufgaben und nationale Bedeutung zugewiesen. Diese theoretisch formulierten Ansprüche wurden im 19. Jahrhundert zum wesentlichen Aspekt in der Selbstwahrnehmung und Selbstvergewisserung der deutschen Buchhändler*innen und Verleger*innen und zur ethischen und theoretischen Basis ihres Handelns. Nicht mehr der rein kaufmännisch orientierte Geschäftsmann, sondern der literatur- und wissensvermittelnde Kulturträger wurde zum Ideal des gesamten Berufsstandes (siehe auch Estermann und Jäger 2001: 37; Bepler 1992: 70). Diese Vorstellung prägte das Selbstbild aller Angehörigen

2 Forschungsüberblick 

 283

der ‚Buchberufe‘ nachhaltig bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Gleichwohl sind die Wege verlegerischen Handelns stets geprägt gewesen durch industrialisierte und kapitalistische Rahmenbedingungen, sieht man von der Planwirtschaft der DDR einmal ab. Die aus dieser historischen Dimension gewachsenen Überzeugungen, Idealund Selbstbilder der Branchenangehörigen wirkten sich durch stetige Betonung und Kommunikation des kulturellen Anspruchs auf die Fremdwahrnehmung aus. Darüber hinaus wurde dieses Selbstbild leitend in Fragen der Ausbildung und Sozialisation des Branchennachwuchses, auch noch unter den veränderten Marktbedingungen seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert. Selbst vor dem Hintergrund radikal kapitalistischer Erfordernisse auf dem Buchmarkt, der Ablösung inhabergeführter Unternehmen durch gemanagte Firmen und börsennotierte globale Konzerne wird das historisch gewachsene Selbstbild in der Gegenwart zwar immer weniger, bisweilen aber doch noch als eine anachronistische Grundhaltung kommuniziert, die in den Handelsstufen des Buchhandels längst nicht mehr der Realität entspricht (siehe V.1 Buchökonomie in diesem Band).

2 Forschungsüberblick Die Akteure des Buchhandels sind in der Buch- und Literaturwissenschaft wie in der Geschichtswissenschaft unterschiedlich dicht erforscht worden. Am häufigsten werden sie im Kontext von Verlagsgeschichten (oft als Festschriften zu Firmenjubiläen in Auftragsarbeit) erwähnt, individuell gewürdigt und im Rahmen ihrer Tätigkeit charakterisiert. Die vorherrschende Perspektive auf die jeweils individuellen Leistungen verstellt den Blick auf strukturelle Rahmenbedingungen ihres Handelns und auf branchentypische Rollenerwartungen, die zu ihrer Erfüllung individuell zwar Spielraum lassen, grundsätzlich aber organisatorisch und programmatisch von der Buchbranche geregelt werden.

2.1 Der prosopografische Ansatz Die Verlegerpersönlichkeit, verstanden als inhaltlich und ökonomisch lenkende Instanz im inhabergeführten Verlag, der in der Regel auch den Namen des oder der Verleger*in trug und trägt, stand lange Zeit im Mittelpunkt der buch- und literaturwissenschaftlichen Forschungen und gehört zu den traditionsreichsten Themen der Buchhandels- und Verlagsgeschichtsschreibung. Die Gründe für diese eng geführte Perspektive auf die Person der Verleger*in sind in mindestens zwei Steuerungsmechanismen zu suchen: Erstens wird die Firmengeschichte großer deutscher

284 

 V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel

Verlage wie z.  B. Brockhaus, Springer oder Vandenhoeck & Ruprecht als Abfolge von familiären Generationen beschrieben, und zwar sowohl von der internen als auch von der externen Unternehmensgeschichtsschreibung (Altenhein 2005). Zweitens ist die Selbstbeschreibung, insbesondere die professionelle Selbstbetrachtung der Verleger*innen im europäischen Vergleich in Deutschland einzigartig (Müller 2002: 180), lenkt doch die Standesorganisation der Buchbranche, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, seine Geschichtsschreibung selbst und wirkt auf die buchhandelshistorischen Narrative ein. Hinzu kommt, dass literarisch, wissenschaftlich oder zeitgeschichtlich aus akademischer und / oder feuilletonistischer Perspektive als relevant angesehene Verlagsprofile den Blick verstärkt auf die in der Regel der Öffentlichkeit bekannten Person der Verleger*in lenken, eben weil der Verlag deren Namen trägt. Verleger*innen sind nach außen die Vertreter des Verlags, daher in der Buchbranche und auch oft darüber hinaus im Gegensatz zu Lektor*innen oder Hersteller*innen als Person namentlich bekannt. Tradiert und transportiert wird das verlegerische Idealbild durch die unzähligen Verlegerautobiografien, die sich idealerweise primär an kulturellen, weltanschaulichen, politischen und wissenschaftlichen Werten orientieren und die ökonomischen Werte als sekundär einstufen (Beispiele Piper 1964; Bermann Fischer 1967 und 1994), bisweilen auch politisch verklärend (Baur 1985). Entsprechend umfangreich ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Person der Verleger*in, ihren brancheninternen wie -externen Leistungen, z.  B. in der Standesorganisation oder in anderen sozialen Kontexten, und Aufgabenbereichen als Unternehmer*in, allerdings in der Regel ohne explizite Anbindung an eine professionssoziologische Theorie (Beispiele: Reimer 1997 und 1999; Fischer 2014; Hoffmeister 2009). Diese biografische Herangehensweise hat eine lange Tradition in der Buchhandelsgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts (Schmidt 1902–1908; Menz 1925). Andere Berufsgruppen des Buchhandels sind erheblich seltener Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses. Bis ins 21. Jahrhundert wurden Lektor*innen allenfalls in ihrer individuellen Wirkung, ihrem individuellen Umgang mit Autor*innen, ihren literarischen Werthaltungen und ihrer eigenen schriftstellerischen Leistung gewürdigt, aber kaum wissenschaftlich untersucht (siehe das umfangreiche Quellenverzeichnis bei Schneider 2005: 358–373). Lektor*innen sind in der Regel in der Öffentlichkeit weit weniger bekannt als Verleger*innen. Namentlich bekannte Lektor*innen, die sich im Umgang mit Autor*innen und Werken als besonders kompetent erwiesen haben, dienen jedoch nachfolgenden Generationen oft als ideale Vorbilder, an denen man sich orientieren kann und soll. Die fehlende Ausbildung wird durch die Orientierung an der literarischen und sozialen Kompetenz von Vorgänger*innen zumindest teilweise substituiert. Erst in den letzten 20 Jahren ist die

2 Forschungsüberblick 

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Profession des Lektors überindividuell untersucht worden: aus berufssoziologischer (rollentheoretischer) Sicht (Schneider 2005), aus innerprofessioneller Sicht (Nickel 2006), mit Blick auf die Autor-Lektor-Beziehung (von Wallmoden 2010), als empirische Studie mit kommunikationswissenschaftlichen Fragestellungen (Hömberg 2010) und neuerdings aus praxeologischer, dezidiert autor- und werk­ orientierter Perspektive (Barner 2021). Der individuelle Anteil von Buchgestalter*innen wie Typograf*innen und Illustrator*innen an der Wertschöpfungskette des Buchhandels wurde im Gegensatz zu Verleger*innen nur in Ausnahmefällen gewürdigt. Von den Typografen des 18. Jahrhundes wie Giambattista Bodoni und Friedrich Unger bis zu den Vertretern der Buchkunstbewegung um 1900 wie Fritz Helmuth Ehmcke oder Friedrich Wilhelm Kleukens wurden sie zwar individuell biografisch in erster Linie als Künstler verstanden und in ihrem kreativen Schaffensprozess betrachtet (siehe II.2 Gestaltung in diesem Band), aber weit weniger als Angehörige eines spezifischen Branchenberufs. In der einschlägigen Verlagsgeschichtsschreibung ist die Rolle der auftraggebenden Verleger*innen oft stärker betont worden als die der ausführenden Künstler*innen. Erst mit der Einführung des Taschenbuchs und seinem deutlich bemerkbaren kommerziellen Warencharakter, der sich auch in der Reihengestaltung als Markenzeichen niederschlug, wurde der Blick auf die Buchillustrator*innen und Typograf*innen gelenkt. Dazu gehören beispielsweise die Gestalter*innen von Taschenbuchreihen wie Celestino Piatti für dtv oder Willy Fleckhaus für die edition suhrkamp, Gisela Pferdmenges und Karl Gröning jr. für rororo. Ihre Arbeit, ihre Kreativität und ihr Werk entziehen sich nach dieser Auffassung einem fixierten Berufsbild, obwohl nicht nur freischaffende Gestalter*innen und Illustrator*innen Verlagsaufträge entgegennehmen, sondern auch angestellte Illustrator*innen im Buchhandel tätig sind. Zu ihrer Rolle und ihrem Berufsbild fehlen belastbare Studien. Gänzlich unterbelichtet bleibt die Forschung zu Hersteller*innen (Ausnahme: Sarkowski 1988) und Vertriebsleiter*innen im Verlag wie zu Verlagsvertreter*innen außerhalb des Verlags (Zeitzeugenberichte siehe Jordan 1994). Sortimenter*innen sind nur ausnahmsweise prosopografisch erforscht werden, in der Regel dann, wenn sie eine Buchhandlung über lange Zeit betrieben haben und der Kundenstamm aus bedeutenden Persönlichkeiten bestand, oder ihre Buchhandlung seit Generationen im Familienbesitz ist und als lokale Institution angesehen wird. Meistens handelt es sich wie im Falle der Verleger um interne Festschriften zu Firmenjubiläen (zuletzt Fetzer 2021). Anders ist die Situation im Falle der Antiquar*in, die im Buchvertrieb des 19. und 20. Jahrhunderts wichtige Aufgaben, zum Beispiel beim Aufbau von wissenschaftlichen Bibliotheken, übernommen hat. Auch diese Berufsbezeichnung ist nicht geschützt und bleibt für jeden zur Nutzung offen. Antiquar*innen wurden häufig in ihren individuellen Dienstleistungen für die bibliophile oder wissenschaftliche

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 V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel

Käuferschaft gewürdigt. Insbesondere die Erforschung der individuellen Schicksale der jüdischen Antiquar*innen ab 1933 kann als eigener Forschungsbereich gesehen werden (siehe z.  B. das Personenlexikon von Fischer 2011). Auffallend ist auch hier die Konzentration auf Einzelschicksale, obwohl strukturelle Gemeinsamkeiten auf der Hand liegen. Ähnlich wie im Falle der Verleger*innen haben auch Antiquar*innen autobiografische Zeugnisse hinterlassen, die Auskunft über ihre Berufsauffassung und ihr Rollenverständnis geben und damit die Vorstellung vom Antiquariatsberuf in der Öffentlichkeit beeinflusst. Dies gilt in erster Linie für Antiquar*innen, die persönlich internationale Reputation und deren Firmen auf ihrem spezifischen Gebiet hohes Ansehen genossen (Beispiele: Wilhelm Junk 1949 für das wissenschaftliche Antiquariat; Martin Breslauer 1966 und Fritz Homeyer 1961 für das bibliophile Antiquariat). Schließlich ist nach (prosopografischen) Forschungen zu Literaturagent*innen zu fragen. Wenn überhaupt wissenschaftliche Studien zu literarischen Agenturen publiziert wurden, und nicht lediglich praktische Handreichungen für Autor*innen, dann stehen Nachrichten über das Branchengeschehen in der Regel im Mittelpunkt. Prosopografische Würdigungen gehen selten über Mitteilungen in der Branchenpresse hinaus. Autobiografische Erinnerungen liegen z.  B. von Ruth Liepman (1993) vor, die als eine der wichtigsten deutschen Literaturagentinnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeschätzt wird. Die Dominanz der prosopografischen Perspektive auf die Akteure des Buchhandels ist einerseits unbefriedigend, zumal den Auftragsarbeiten zu Firmenjubiläen kaum mehr als Quellencharakter zugewiesen werden kann, andererseits kann sie insofern die Grundlage für weitergehende Überlegungen liefern, als die Vorbildfunktionen historischer Verleger*innen, Lektor*innen, Antiquar*innen etc. bis in die Gegenwart auf das Rollenverhalten und Selbstverständnis der Branchenmitglieder einwirken.

2.2 Berufspositionen im branchenhistorischen Ansatz Neben dem Blick auf individuelle Leistungen und Wirkungen von Angehörigen der Buchbranche ist im Zuge der allgemeinen Buchhandelsgeschichtsschreibung, die auch die Geschichte des Verlagswesens sowie exemplarisch die Geschichte einzelner Firmen umfasst, die branchengeschichtliche Perspektive der zweite häufig genutzte Ansatz in der Betrachtung von Berufsbildern. Die neuere Buchhandelsgeschichtsschreibung ist eklektizistisch mal mehr der Sozialgeschichte, mal mehr der Kulturgeschichte, bisweilen auch der Wirtschaftsgeschichte verpflichtet und folgt keinem theoretischen Modell, sondern „behandelt den Kommunikationszusammenhang vom Autor bis zum Käufer und Leser, in der der herstellende und verbreitende

2 Forschungsüberblick 

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Buchhandel seine integrierende Funktion hat“ (Estermann und Jäger 2001: 9). Die Branchengeschichte soll somit einen Prozess beschreiben und analysieren. Die an Produktions- und Distributionsprozessen beteiligten Akteure sollen daher in erster Linie in ihrer Funktion im Kommunikationsprozess betrachtet werden. Dies betrifft sowohl die Druckerverleger der Inkunabelzeit, deren Aufgaben durch die Rahmenbedingungen des Marktes (Produktion und Vertrieb in einer Hand) vorgegeben waren, und die zur gleichen Zeit aktiven Buchführer (Grimm 1967) als auch die Verlegersortimenter des Tauschzeitalters als auch die fortschreitende Ausdifferenzierung der Berufe in der Neuzeit und der Moderne. In der Branchengeschichte werden Berufspositionen und -rollen in ihrer Abhängigkeit geistiger, kultureller, wissenschaftlicher und ökonomischer Strömungen gezeigt. Auch die Buchmarktentwicklung sowie die Wandlungsprozesse auf Rezipientenseite werden in ihren Auswirkungen auf die Berufsanforderungen gezeigt. Typische Lebensläufe und Ausbildungswege von Verleger*innen sind für das 19. Jahrhundert exemplarisch nachvollzogen worden (Estermann 2010). Eine konsequente Untersuchung der Karrieremuster ist ein fruchtbarer Weg, um zu aussagekräftigen Erkenntnissen über die Branchenberufe und ihre Anforderungen zu gelangen, die allerdings auf eine viel breitere Datenbasis gestellt werden müssten als es bis jetzt der Fall ist. Es dominiert wiederum der Blick auf die Person der Verleger*in, so dass bisweilen selbst strukturelle Ähnlichkeiten im verlegerischen Verhalten und Handeln weniger als Ausfüllung der professionellen Rollenerfordernisse verstanden, sondern vielmehr als Ausdruck der individuellen Persönlichkeit interpretiert werden. Die Ursachen für die wissenschaftliche Konzentration auf die Rolle der Verleger*in in der Buchhandelsgeschichtsschreibung sind erstens im oben bereits ausgeführten prosopografischen Ansatz zu suchen, der häufig als Ausgangspunkt umfassenderer Arbeiten zum Buchmarktgeschehen dient, und zweitens in der Quellenlage. Vor allem Briefwechsel zwischen in der Literaturgeschichte kanonisierten Autor*innen und ihren Verleger*innen sind publiziert worden, was dazu führt, dass ein Ungleichgewicht z.  B. zwischen der Untersuchung von literarischen Verleger*innen und ihren Firmen und der Untersuchung von anderen Verleger*innen und anderen Firmentypen entstanden ist. Drittens gingen viele dieser Arbeiten, die die Autor-Verleger-Beziehung in den Mittelpunkt gerückt haben, von Literaturwissenschaftler*innen aus, was die Vernachlässigung anderer Verlegertypen weiter fördert. Das gilt auch für Standardwerke der allgemeinen Buchhandelsgeschichte (z.  B. Wittmann 1990). Darüber hinaus sind einige wenige Arbeiten entstanden, die eine Typologie von Verleger*innen im historischen Abriss versuchen. Ein Beispiel für die wissenschaftliche Fokussierung ist der sog. Kulturverleger, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts angesichts des entstehenden Massenbuchmarktes in Deutschland aufkommt und sich durch besondere Autorenbindung und die Förderung spezifischer

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 V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel

literarischer und weltanschaulicher Werthaltungen auszeichnet und damit die bis dahin übliche Geschäftsbeziehung zwischen Autor*innen und Verleger*innen zugunsten der persönlichen Verbundenheit aufweicht (Kuhbandner 2009; Schneider 2004; Schanze 1999). In der Ausdifferenzierung der Buchmärkte entsteht dieser Verlegertyp, der sich eine „aktive kulturpolitische Vermittlerrolle zwischen Autor und Leser“ (Hübinger 2001: B25) auf die Fahnen schreibt. Die Firmen der Kulturverleger sind organisationssoziologisch durch eine sichtbare Ausdifferenzierung von neuen Berufspositionen wie z.  B. dem Lektorat gekennzeichnet (Schneider 2005). In der seit gut zwei Jahrzehnten in der Verantwortung der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels fortgeschriebenen Buchhandelsgeschichte des 19. und 20. Jahrhundert werden Bemühungen, auch andere Branchenmitglieder historisch zu würdigen, sichtbar. So liegt z.  B. für das Kaiserreich eine knappe Beschreibung des Berufsbilds der Antiquar*in und seiner Anforderungen von Georg Jäger vor (Jäger und Wittmann 2010: 195–199). Dabei wird das Bekannte nochmals deutlich hervorgehoben: in Abgrenzung zur Sortimentsbuchhändler*in erfordert der Antiquarberuf größeres kaufmännisches Geschick, buchgeschichtliche und enzyklopädische Kenntnisse und vor allem die „Liebe zum Buch“ (Jäger 2010: 197). Letzteres ist eine nicht messbare, irrationale Größe zur Erfüllung der Rolle der Antiquar*in und typisch für ungeregelte Berufszugänge. Vergleichbar ist dies mit der geforderten sozialen Kompetenz der Lektor*in im Umgang mit Autor*innen. Die Untersuchung von Berufen im historischen Abriss innerhalb der allgemeinen Branchengeschichte birgt bisher zu wenig genutztes Potenzial, da Berufsrollen und -bilder und ihre konkrete Ausgestaltung vor dem Hintergrund z.  B. des Marktgeschehens nur selten systematisch, sondern eher beiläufig und nur punktuell in der Forschung Berücksichtigung fanden. Abhilfe würde ein konsequent systematischer Zugriff auf Handlungs- und Leistungsrollen schaffen, innerhalb dessen chronologische Entwicklungsprozesse und Ausdifferenzierungsprozesse untersucht werden.

2.3 Feldtheoretische Zugänge zu Akteuren und ihrer Positionierung Der dritte Ansatz, der in nennenswerten Größenordnungen in der Analyse von professionellen Handlungen in der Buchbranche zum Einsatz gelangt, ist die Feldtheorie mit der Frage nach den Kapitalsorten, die im Kräftefeld der Kultur und Wissenschaft wirksam werden. Alle Berufsbilder des Buchhandels sind in gradueller Abstufung durch komplexe Aufgaben gekennzeichnet, die darin münden, geistige und kulturelle Werte in ökonomische Werte zu konvertieren (Jäger 2005). Dieser Konvertierungsprozess lässt sich einleuchtend durch die Feldtheorie Pierre

2 Forschungsüberblick 

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Bourdieus erklären. Die von Bourdieu im literarischen (oder wissenschaftlichen) Feld wirksam werdenden unterschiedlichen Kapitalsorten (kulturelles, soziales, ökonomisches und symbolisches Kapital) scheinen geeignet, zumindest einen Teil des professionellen Handelns erklären zu können (Bourdieu 1999). Bourdieus Feldtheorie wurde zunächst vor allem in der Literaturwissenschaft im Hinblick auf die Position von Autor*innen im literarischen Feld intensiv rezipiert und hat in der Folge dazu geführt, dass die verlegerische Position im literarischen Feld auch in der buchwissenschaftlichen Verlagsforschung und -geschichtsschreibung der letzten beiden Jahrzehnte eine gewisse Konjunktur erlebt. Die buchwissenschaftlichen Fragestellungen bezogen und beziehen sich meist auf die Positionierung von Verlagen zwischen den Polen Kultur und Ökonomie, meist unter Berücksichtigung der Frage nach der Wirkung von symbolischem Kapital. Verstanden als kultursoziologischer Zugang zu Berufs- und Verlagspositionen wurden individuelle Verleger*innen bzw. Verlage und / oder Verlagsmitarbeiter*innen im Hinblick auf ihre Ansammlung von Kapitalsorten charakterisiert (z.  B. Gastell 2020; Müller 2004). Ein häufig bearbeitetes Feld ist die Autor-Verleger-Beziehung, in der das Rollenverhalten dieser Geschäftspartner thematisiert wird. Die Interpretation dieser Beziehung hinsichtlich des jeweils wirksamen Rollenverständnisses fußt fast ausschließlich auf brieflichen Quellen. Aus diesen lässt sich ableiten, dass im Vergleich zum 18. Jahrhundert das Verhältnis zwischen Autor*in und Verleger*in auf dem Gebiet der sog. schönen Literatur einen Wandel erfährt und sich damit vor allem die Rollenerwartungen an Verleger*innen ändern. Die reine Geschäftsbeziehung, die noch im 18. Jahrhundert im Vordergrund stand, wird im 19. Jahrhundert – zwar nicht in allen Fällen – aber strukturell doch so verändert, dass der soziale Aspekt mehr Gewicht erhält, ohne den ökonomischen Aspekt der Beziehung zu vernachlässigen. Die Beziehung wird persönlicher, woraus resultiert, dass von beiden Seiten soziale Kompetenzen eingefordert werden. Autor*innen erwarten von Verleger*innen mehr und mehr, dass sie deren kreative Schaffensphasen begleiten und unterstützen. Ernst Fischer hat dies anhand des Briefwechsels von Carl Zuckmayer und seinem Verleger Gottfried Bermann Fischer nachvollzogen und die Aussagekraft verschiedener Theorien erprobt, um die Autor-Verleger-Beziehung zu analysieren, u.  a. werden Fragen nach den wirksam werdenden Kapitalsorten beantwortet (Fischer 2006). Als theoretische Folie zur Analyse von Autor-Verleger-Beziehungen und der jeweiligen Rollenerwartungen und -erfüllungen oder deren Nichterfüllung ist der feldtheoretische Ansatz bereits fruchtbar umgesetzt worden. Maria Zens (1999) hat sich angelehnt an Bourdieus Theorie die Thematisierung von ökonomischem und symbolischem Kapital in Autor-Verleger-Korrespondenzen angenommen und herausgearbeitet, dass es vordergründig zwar immer ums Geld geht, sich aber gerade in Briefen noch andere Aspekte herausfiltern lassen, die auf den ersten

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 V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel

Blick mit der Geschäftsbeziehung gar nichts zu tun haben. So geht es oft auch um die soziale Dimension in der Beziehung, in der von beiden Seiten eine hohe soziale Kompetenz vom jeweils anderen eingefordert wird (Fischer 2006: 249–257). Die Analyse der Anhäufung bestimmter Kapitalsorten wiederum erfordert allerdings die Fokussierung auf biografische Entwicklungen, denn kulturelles Kapital lässt sich beispielsweise nur langfristig über Jahre oder Jahrzehnte erwerben. Verleger*innen werden hier als handelnde Akteure in ihrer Bedingtheit gezeigt und im Gegensatz zum prosopografischen Ansatz nicht als autonom handelnde Persönlichkeiten mit weitreichender Strahlkraft. Die ambivalente Position zwischen Kultur und Ökonomie hat direkte Auswirkungen auf den Habitus fast aller Branchenangehörigen. So kommt auch dieser kultursoziologische Ansatz nicht ganz ohne Blick auf die individuelle Biografie aus. Das gilt nicht nur für Berufsrollen innerhalb von Verlagen, sondern wurde auch für Arbeiten zu anderen Tätigkeitsfeldern, z.  B. in der Typografie. So liegt Hermann Zapfs Werkbiografie als Fallstudie im Feld der Kunst vor (Weichselbaumer 2015) (siehe II.2 Gestaltung in diesem Band). Historische Analysen sind unter feldtheoretischen Gesichtspunkten erheblich häufiger zu finden als Analysen aktueller Zuschreibungen von Kapitalsorten an Berufsrollen. Während Prestige und / oder Autorität insbesondere akademischen (freien) Berufen wie Arzt, Apotheker oder Anwalt zugeschrieben werden, sind soziales und kulturelles Kapital eher individuelle Zuschreibungen, auch wenn beruflichen Rollen bestimmte Anforderungen eigen sind wie soziale Kompetenz und fundierte Allgemeinbildung (Lektor*in), soziales und ökonomisches Kapital (Verleger*in), Kommunikationsfreude und kulturelles Kapital (Sortimenter*in). Die feldtheoretischen Zugänge nehmen Abstand von der ausschließlichen Engführung der Analyse auf die individuellen Akteure und nehmen Bezug zur Wechselwirkung zwischen kulturellen und / oder disziplinären Entwicklungen und professionellem Handeln.

3 Theoretische Perspektiven Die drei oben genannten, meist gewählten Zugänge zur Erforschung von Berufsund Rollenbildern im Buchhandel lassen theoretisches Potenzial ungenutzt, das sich auf Professionalisierungsprozesse, auf rollentheoretische Fragestellungen und routinierte Alltagspraktiken der jeweiligen Berufe bezieht. Alle Akteure haben in der Regel ein gemeinsames Ziel: ein Buch auf den Markt zu bringen und es erfolgreich zu verkaufen. Dazu sind von den handelnden Akteuren spezifische Fachkenntnisse und Kompetenzen erforderlich, außerdem arbeitsteiliges Agieren in Netzwerken und Routinen im professionellen Handeln. Letzteres gehört zu Fertigkeiten, die in der Sozialisation von Berufsanfänger*innen in ständiger Auseinandersetzung mit

3 Theoretische Perspektiven 

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den Anforderungen des Berufs eingeübt werden und erst im Laufe des Berufslebens zu Routinen werden (Überblick über berufliche Sozialisationstheorien bei Lempert 2007). Für eine theoretische Neuorientierung der Berufsrollenanalyse sind unterschiedliche Zugänge möglich.

3.1 Professionssoziologische Konturierungen Im Unterschied zur Berufssoziologie richten sich professionssoziologische Fragestellungen nicht auf die „doppelte Zweckstruktur der Berufsarbeit“ (Kurtz 2002: 25), die nach der gesellschaftlichen Bedürfnisbefriedigung sowie dem Verkauf und Kauf von Arbeitskraft fragt, sondern auf die Merkmale und Kriterien zur Bestimmung professioneller Berufsgruppen (Kurtz 2005: 35; zu den verschiedenen Möglichkeiten der theoretischen Auseinandersetzung professionssoziologischer Zugänge siehe ebenfalls dort). Die Untersuchung der Professionalisierung von Berufspositionen des Buchhandels ist ein Desiderat. Bisher wurde nur für den Lektorenberuf (Schneider 2005) und in Ansätzen für den Sortimentsbuchhändler (Grünert 1998) der berufliche Professionalisierungsprozess untersucht. Dieser Prozess bzw. die Merkmale zur Bestimmung professioneller Berufsgruppen sind (siehe Kurtz 2005: 35–36): Erstens die Organisation der Berufsangehörigen in einem Berufsverband (hier der Börsenverein des Deutschen Buchhandels), der zweitens spezifische Verhaltensregeln in Form einer Berufsethik aufstellt (siehe dazu Abschnitt 1.2), drittens die Wissensbasis durch Ausbildung und die Sozialisation des Nachwuchses regelt und viertens die berufliche Tätigkeit auf zentrale gesellschaftliche Werte bezieht. Professionelle fungieren fünftens als Experten, die das Vertrauen ihrer Klienten durch fachliche Kompetenz und moralische Integrität erwerben und damit weitgehend autonome Entscheidungen treffen können. Die professionelle Arbeit genießt sechstens gesellschaftliche Wertschätzung und siebtens ist den Professionellen in der Regel öffentliche Werbung untersagt. Sieht man von letzterem Punkt ab, lohnt es sich, die anderen Merkmale als Schablone über den Beruf des Verlegers, des Lektors, des Antiquars mit vermutlich hohem Erkenntnisgewinn zu legen. Nun ist es allerdings wenig sinnvoll, diese Aspekte rein additiv zu sehen, sondern danach zu fragen, welcher „besondere Beitrag Professionen an der Ausdifferenzierung und Fortführung teilsystemspezifischer Kommunikation zugeschrieben werden kann“ (Kurtz 2005: 141), in diesem Fall Autor*innen und ihren Werken zur Publikation zu verhelfen und diese zu vertreiben, um beispielsweise die Teilsysteme Kultur und Wissenschaft zu stabilisieren und zu entwickeln. Das kann Fragen der strategischen Kanonisierung literarischer Werke betreffen, wie auch die Förderung wissenschaftlichen Fortschritts oder spezifischer wissenschaftlicher Schulen durch die Bereitstellung entsprechender Kommunikationsmedien.

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 V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel

In diesem Kontext ist die professionelle Sozialisation des Nachwuchses ein viel zu wenig beleuchteter, aber überaus wichtiger Aspekt insbesondere wieder für die Angehörigen jener Berufe im Buchhandel, deren Zugangsvoraussetzungen und Qualitätssicherung des professionellen Handelns ungeregelt sind. Der Sozialisa­ tionsprozess zielt auf die Herausbildung des beruflichen Habitus, der sich nicht nur in gemeinsamen Verhaltensregeln der jeweiligen Berufsangehörigen ausdrückt, sondern auch zu gemeinsamen Handlungsmustern und stilistischen Umgangsformen führt und nicht zuletzt im tradierten und kontinuierlich verfestigten Selbstbild und der gruppenübergreifenden Selbsteinschätzung einen wichtigen Beitrag zu positiv besetzten sozialen und kulturellen Wertmustern liefert. Historisch hat Müller (2004) diesen Aspekt am Beispiel der Person Walter De Gruyters analysiert, der als Sohn einer reichen Kohlenhändlerfamilie aus dem Ruhrgebiet keine branchentypische Sozialisation genossen hatte und daher nach Übernahme des Georg Reimer Verlags im (Berliner) Verlegermilieu zunächst vorsichtig agierte, um anerkannt zu werden. Ein Beispiel für gesellschaftliche Anerkennung durch besondere Gratifikationen sind in der Buchbranche z.  B. in Form von Ehrendoktorwürden für wissenschaftliche Verleger oder andere Titel häufig (Jäger 2001: 236–239). Weitere Gratifikationen bestehen z.  B. im gesellschaftlichen Prestige, das einer Berufsposition zugewiesen werden kann.

3.2 Soziale Rollen und Netzwerke In seinem Klassiker Homo Sociologicus definiert Ralf Dahrendorf die soziale Rolle als „Bündel von Erwartungen, die sich in einer gegebenen Gesellschaft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen“ (Dahrendorf 2010: 35). Im Falle der Buchbranche ist die soziale Rolle in allen beruflichen Positionen mehr oder weniger stark ökonomisch und kulturell geprägt. Dies gilt auch dann, wenn man in Betracht zieht, dass z.  B. die soziale Rolle der Verleger*in durch faktische soziale Strukturen, durch die jeweils herrschenden Marktbedingungen sowie durch die professionellen Erwartungshaltungen ihrer/seiner Interaktionspartner, zu denen sowohl die Verlagsmitarbeiter*innen als auch die Geschäftspartner*innen gehören, definiert wird und daher in der Umwelt mehr oder weniger klare Rollenerwartungen ganz unabhängig von der Persönlichkeit der Verleger*in existieren. Die konkrete Ausgestaltung der Rolle manifestiert sich jedoch zu einem hohen Maß in der Eigenart der Verleger*in. Professionelles Rollenhandeln verstanden als strukturiertes Erfüllen von beruflichen Rollenerwartungen ist insbesondere dann ein ergiebiges Forschungsfeld, wenn Rollenkonflikte entstehen, die der beruflichen Position immanent sind. Das ist zum Beispiel bei der Lektor*in der Fall, die als Vertreter*in des Verlags

3 Theoretische Perspektiven 

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auch die Interessen der Autor*innen wahrnehmen soll bzw. muss. Eine rollentheoretische Analyse der Entstehung und Entwicklung dieser Position im Verlag liegt vor. Dabei wurde in erster Linie die nicht aufzulösende Ambivalenz dieser Rolle zwischen Verlags- / Verleger*innen- und Autor*inneninteressen betont (Schneider 2005). Damit sind Intrarollenkonflikte ein Merkmal, die individuell gelöst und evtl. in der beruflichen Sozialisation eingeübt werden müssen. Dies geschieht mittels strikter Norm- und Werteorientierungen, die sich wiederum im Selbstverständnis der Branchenmitglieder entwickeln und tradiert werden, aber auch veränderlich sind, z.  B. wenn sich die ökonomischen Marktbedingungen ändern oder die medialen Wandlungsprozesse ideelle Werte anachronistisch werden lassen. Branchenunternehmen sind als Institutionen zu verstehen und stellen somit „Modelle für das Verhalten in Sozialbeziehungen bereit. Diese sind an Leitideen geknüpft und ermöglichen eine Stabilisierung von Beziehungsgefügen“ (Fuhse 2012: 369). Ohne explizite Kenntnis dieser Leitideen lassen sich institutionalisierte Erwartungen nur bedingt erkennen. Ähnlich wie Rollenkonflikte gibt aber abweichendes Verhalten und seine Sanktionsbewehrung Auskunft über die Wertedimensionen und normativen Bedingungen, denen Berufe der Buchbranche als Handlungsorientierung dienen. Das Rollenverhalten von Verleger*innen beispielsweise ist intern (z.  B. paternalistisch) und extern (gegenüber Autor*innen) zu erklären, auch in Erweiterung der in Frage kommenden Theorien. Interne und externe Kommunikationsprozesse sind historisch unterschiedlich schwierig zu analysieren. Extern sind z.  B. Briefwechsel geeignete Quellen. Intern lassen nur Firmenarchive die Kommunikationsprozesse transparent werden. Die analytische Durchdringung von Handlungsrollen im Buchhandel ist gut geeignet, denn die „Rollenerwartungen können aus formaler Organisation oder aus kulturellen Mustern erwachsen“ (Fuhse 2012: 366). Beides ist im Buchhandel determinierend für die soziale Bestimmtheit dieser Rollen. Sie offenzulegen lohnt sich, denn sie haben einen organisatorischen Bezug und regeln das Verhalten von Positionsinhaber*innen in Kommunikationsprozessen. Denn den Überlegungen von Fuhse (2012: 359) folgend, kann eine anschließende Netzwerkanalyse auch zeigen, dass Rollen „auf einer vermittelnden Ebene zwischen der Struktur sozialer Netzwerke und institutionalisierten kulturellen Mustern“ liegen. Das konsequent angewandte Rollenmodell dient der Netzwerkanalyse, denn „Netzwerke verbinden […] Akteure als Rollenträger“ (Fuhse 2012: 361). Die Netzwerke, in denen die Akteure des Buchhandels handeln, gehen weit über den Aktionsradius ihrer Tätigkeit hinaus. Die Netzwerkanalyse lässt sich sinnvollerweise mit der Frage nach der Generierung sozialen Kapitals im Sinne Bourdieus verbinden. Zu beschreiben wären die Handlungs- und Kommunikationsräume der Akteure und die hier zum Einsatz gelangenden Kompetenzen, die über das reine Fachwissen hinausgehen (müssen). Diese Kommunikationsräume, die durch Netzwerke konstruiert werden,

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 V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel

liegen sicherlich auf der Schnittstelle von kulturellem oder wissenschaftlichem und ökonomischem Feld. Dies kann aber auch das politische Feld sein. Beispielsweise ist historisch gesehen auffallend, dass die bürgerlichen Branchenvertreter*innen in der Regel aufgrund ihres bürgerlichen Selbstverständnisses ein Beziehungsnetz aufbauten, das bis in die lokal- und regionalpolitischen Gremienarbeit reichte. Öffentliche Ehrenämter und Funktionsstellen sowie das Engagement in Gesellschaften und Vereinen waren in Verlegerkreisen üblich (Jäger 2001: 232). Dies ist gegenwärtig nicht zu beobachten und scheint mit einem Wandel des Selbstbildes verbunden zu sein oder mit anderen beruflichen Anforderungen, was bisher noch nicht untersucht worden ist.

4 Desiderate Die Desiderate in der Erforschung von Berufsrollen und Anforderungsprofilen im Buchhandel sind vielfältig und haben verschiedene Ursachen. Grundsätzlich wäre es wünschenswert, über die Forschungen zu Verleger*innen und (literarischen) Lektor*innen hinaus auch andere Akteure der Buchbranche theoretisch konkreter zu fassen. Dabei wären auch die unterschiedlichen Buchmärkte zu berücksichtigen, denn Akteure im Publikumsmarkt müssen andere Anforderungen erfüllen als Akteure im wissenschaftlichen Buchmarkt oder im Special Interest-Bereich. Des Weiteren fehlen empirische Daten zur Berufswahl im Buchhandel. Ein weiteres Desiderat betrifft das Fremdbild der oben erwähnten Berufe. Dies ist weder empirisch erhoben noch hermeneutisch aufgearbeitet worden. Weshalb sind bestimmte Berufsbilder attraktiv und warum nicht und für wen? Letzteres ist vor allem im Hinblick auf die geschlechtsspezifische Berufswahl zu eruieren. Für die Aufbereitung empirischer Daten stünden Berufswahltheorien zur Verfügung (Überblick bei Hirschi und Baumeler 2020). Ähnliches gilt für Karriereverläufe, Laufbahnplanungen und ökonomische Ausstattung von Berufspositionen im Buchhandel. Hier wäre z.  B. die Frage zu beantworten, inwiefern die hohe Aufladung von Berufen mit kulturellen Werten im Verhältnis zu ihren Verdienstmöglichkeiten steht. Schließlich sind praxistheoretische Untersuchungen der Berufsrollen wünschenswert. Mittels soziologischer Praxistheorien können die alltäglichen routinierten Praktiken in der Buchbranche identifiziert und beschrieben werden. Selektieren, lektorieren, gestalten und herstellen, verlegen, vertreiben, bewerben und positionieren gehören zu den immer wiederkehrenden Handlungen, die erwartbar sind, denn „durch häufiges und regelmäßiges Miteinandertun bilden sich gemeinsame Handlungsgepflogenheiten heraus, die sich zu kollektiven Handlungsmustern und Handlungsstilen verdichten“ (Hörning 2001: 160). Die Handlungsroutinen und Handlungsmuster sind von den jeweiligen Rolleninhaber*innen zu erfüllen. Sie charakte-

Literatur 

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risieren in hohem Maß das Berufsbild, und zwar sowohl in Selbst- wie in Fremdzuschreibungen, und diese Einzelpraktiken müssen zwangsläufig aufeinander bezogen und miteinander verknüpft werden, um das gemeinsame Ziel – die Veröffentlichung von Büchern – zu erreichen. Durch diese Verknüpfung entstehen Praxisformationen (Begriff nach Hillebrandt 2014: 102–111), die als übersituative Wiederholungsstrukturen sozial organisiert sind (Müller et al. 2020: 6). Brauchbar ist das praxeologische Modell als Folie auch für die Erklärung von Wandlungsprozessen in den Berufsbildern bzw. Rollenerwartungen. Müller et al. (2006) weisen darauf hin, dass Praxisformationen einen ständigen graduellen Wandel vollziehen, da „Praktiken selten genau gleich vollzogen werden und im Vollzug immer neue Verknüpfungen zwischen Praktiken hergestellt und alte aufgelöst werden können“ (Müller et al. 2006: 6). Damit bietet sich die Praxistheorie sowohl für Analysen der aktuellen Branchenpraktiken an als auch für historische Untersuchungen zum Wandel von Rollenerwartungen bzw. der Ausdifferenzierungsprozesse von Branchenberufen.

Literatur Altenhein, Hans. „Familiengeschichten: Kritik an einer buchhandelshistorischen Methode.“ Buchkulturen: Beiträge zur Geschichte der Literaturvermittlung. Hrsg. von Monika Estermann, Ernst Fischer und Ute Schneider. Wiesbaden 2005: 79–92. Barner, Ines. Von anderer Hand: Praktiken des Schreibens zwischen Autor und Lektor. Göttingen 2021. Baur, Karl. Wenn ich so zurückdenke: Ein Leben als Verleger in bewegter Zeit. München 1985. Bepler, Jochen. „Buchhändler, Kaufmann und Bürger: Die Anfänge des Gerstenberg Verlages im Spiegel seiner Zeit.“ Von St. Petersburg nach Hildesheim: Festschrift zum 200jährigen Jubiläum des Hauses Gerstenberg 1792–1992. Hrsg. von Paul Raabe. Hildesheim 1992: 55–84. Bermann Fischer, Gottfried. Bedroht – bewahrt: Weg eines Verlegers. Frankfurt am Main 1967. Bermann Fischer, Gottfried. Wanderer durch ein Jahrhundert. Frankfurt am Main 1994. Bourdieu, Pierre. Die Regeln der Kunst: Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main 1999. Breslauer, Martin. Erinnerungen, Aufsätze, Widmungen. Mit einem Vorwort von Hans Fürstenberg. Frankfurt am Main 1966. Dahrendorf, Ralf. Homo Sociologicus: Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. Mit einem Nachwort von Heinz Abels. 17. Aufl. Wiesbaden 2010. Estermann, Monika, und Georg Jäger. „Der Weg zu einer neuen ‚Geschichte des Buchhandels‘.“ Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert: Band. 1: Das Kaiserreich 1870–1918: Teil 1. Hrsg. von Georg Jäger. Frankfurt am Main 2001: 9–16. Estermann, Monika, und Georg Jäger. „Selbstverständnis und Selbstbild.“ Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert: Band 1: Das Kaiserreich 1870–1918: Teil 1. Hrsg. von Georg Jäger Frankfurt am Main 2001: 34–37. Estermann, Monika. „Ausbildungsverhältnisse und Arbeitsmarkt.“ Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert: Band 1: Das Kaiserreich 1870–1918: Teil 3. Hrsg. von Georg Jäger. Frankfurt am Main 2010: 60–77.

296 

 V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel

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Literatur 

 297

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V.3 Verbände, Vereine und Organisationen des Buchhandels Marco Thomas Bosshard 1 Gegenstandsbereich Im Unterschied zu anderen Ländern ist sowohl der herstellende als auch der distributive Buchhandel in Deutschland unter dem Dach ein und derselben Organisation vereint: des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Verlags-, Zwischenbuchund Bucheinzelhandel verstehen sich seit bzw. infolge der Gründung des Börsenvereins 1825 als intrinsisch miteinander verbundene Interessengemeinschaft, deren weitgehende institutionelle Geschlossenheit es ihr bis in die Gegenwart erlaubt, ihren wirtschaftlichen Sonderstatus, insbesondere mit Blick auf die Buchpreisbindung und das Umsatzsteuerprivileg, gegenüber anderen Lobbygruppen und der Politik erfolgreich zu behaupten. Die Herausbildung dieser Organisationsstrukturen in diachroner Perspektive ist gut erforscht  – siehe die ausführlichen Arbeiten zur Geschichte des deutschen Buchhandels (z.  B. Bangert 2019; Wittmann 2019; Fischer et al. 2015; Estermann 2010; Fischer und Füssel 2007; Jäger 2001) –; allerdings wären diese Überblicksdarstellungen mit ihren mehrheitlich traditionell historiografischen Verfahren zu ergänzen durch exemplarische Einzelfallstudien mit einem explizit mikrogeschichtlichen Ansatz in der Tradition Carlo Ginzburgs (1979) und Natalie Zemon Davis’ (1989). Dadurch könnten und sollten auch die Perspektiven subalterner bzw. marginaler Akteure der Buchhandelsgeschichte erschlossen werden. Für die synchrone Perspektivierung der Buchhandelsorganisation mit ihren Verbänden und Vereinen stellen sich jedoch sehr anders gelagerte methodische und theoretische Fragen, denen zum Teil ein sehr unterschiedliches Erkenntnisinteresse zugrunde liegt. Die offiziellen Organigramme und Selbstbeschreibungen des Börsenvereins zeigen, dass dieser mit seinen zahlreichen Unterorganisationen, Gremien und Tochtergesellschaften überaus komplex strukturiert ist (Abb. 1 und 2). Jenseits der oben bereits erwähnten Besonderheit der Integration des herstellenden und distribuierenden Gewerbes, die sich in der Koexistenz eines Verleger- und Sortimenterausschusses bzw. eines zusätzlichen Ausschusses für den Zwischenbuchhandel niederschlägt, ist weiterhin bemerkenswert, dass der Börsenverein nicht nur national, sondern über zusätzliche Landesverbände auch föderal agiert und dass der Börsenverein ebenfalls die buchhändlerische Ausbildung steuert. Vor allen Dingen aber ist der Börsenverein nicht nur ein Verwaltungsapparat, sondern auch selber unternehmerisch tätig, insofern er eine Reihe von teilautarken Wirthttps://doi.org/10.1515/9783110745030-013

1 Gegenstandsbereich 

 299

schaftsbetrieben umfasst oder an solchen beteiligt ist, die ihrerseits wiederum über diverse Tochtergesellschaften verfügen. Isoliert man einzelne Elemente aus diesem Gefüge und erhebt sie zu einem eigenen Forschungsgegenstand, kommen unweigerlich sehr heterogene theoretische Ansätze zum Tragen, die von betriebswirtschaftlichen Perspektivierungen (z.  B. in der Auseinandersetzung mit den Wirtschaftsunternehmen des Börsenvereins) über pädagogisch-didaktische Zugänge (etwa bei Betrachtung der Ausbildungsorganisation und ihrer Curricula) bis hin zu Organisations- bzw. Bürokratietheorien (der Börsenverein als hierarchisch strukturiertes Verwaltungsdispositiv) reichen können.

Börsenverein: Geschäftsleitung & Geschäftstelle Hauptgeschäftsführer

Stabsbereiche

Geschäftsleitung

Wirtschaftsbetriebe



• • • •

• • • •

• • •

Strategie und Innovation und Gremien Mitgliederservice Marktforschung Europäische & Internatioale Angelegenheiten

Hauptgeschäftsführer Justitiar (Stellvertretung) Geschäftsführer Fach- Ausschüsse

BBG Holding Frankfurter Buchmesse MVB Mediacampus

Abteilungen

Rechtsabteilung

Geschäftsstelle Fachausschüsse • • • •

Verlegerausschuss Sortimenterausschuss Ausschuss für den Zwischenbuchhandel Steuerung Interessengruppen

Presse- & Öffentlichkeitsarbeit

Berliner Büro Referat Friedenspreis

Kulturprojekte, Marketing und Kommunikation • • •



Berufsbildung

Regionalgeschäftsstelle NRW

Leseförderung Deutscher Buchpreis/ Sachbuchpreis Vorteilsprogramm Marketing

Abb. 1: Struktur des Börsenvereins des deutschen Buchhandels (Quelle: https://www.boersenverein. de/boersenverein/ueber-uns/organigramme/ [31.03.2023]).

300 

 V.3 Verbände, Vereine und Organisationen des Buchhandels

Wirtschaftsbetriebe/ Beteiligungsverhältnisse Aufsichtsrat BBG Holding Kontrolle/ Beratung

2 Vertreter Bundesverband 1 Vertreter Landesverbände 4 Externe Vertreter

Börsenverein des Deutschen Buchhandels Beteiligungsgesellschaft mbH (BBG)

Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V.

70 %

Gesellschafter: Börsenverein 70%, Zwischenholding 30% Geschäftsleitung: Sprecher HGF, FBM, GF, MVB

Landesverbände

9,1% (NRW)

30%

Zwischenholding Buchhändlerische Landesverbände Beteiligungs GbR

50%

Mediacampus franfurkt GmbH

75%

Gebäudegesellschaft Braubachstraße GbR

100%

50%

100 %

MVB GmbH Diverse Tochtergesellschaften

25%

Frankfurter Buchmesse GmbH Diverse Tochtergesellschaften

90%

10 %

Gebäudegesellschaft “Haus des Buches” Leipzig GbR 50%

Deutsche Fachpresse Service GmbH Mitgesellschafter: Verband Deutscher Zeitschriftenverleger e.V. (VDZ) 50%

Abb. 2: Struktur der Wirtschaftsbetriebe des Börsenvereins des deutschen Buchhandels (Quelle: https://www.boersenverein.de/boersenverein/ueber-uns/organigramme/ [31.03.2023]).

2 Theoretische Perspektiven 

 301

Es bietet sich daher an, den Blick von den Mikrostrukturen erst einmal wieder abzuwenden und auf die Makroebene zu richten. Angesichts seiner komplexen Struktur kann der Börsenverein als Netzwerk oder System mit unterschiedlichen Subsystemen beschrieben werden. Er interagiert sowohl intern mit seinen Unterorganisationen als auch extern mit weiteren Organisationen wie den Schriftsteller-, Übersetzer- und Zeitungs- bzw. Zeitschriftenverlegerverbänden (VS, PEN, VdÜ, BVDZV, VDZ) sowie den Verwertungsgesellschaften (VG WORT, Corint Media, GEMA), die ebenfalls integraler Bestandteil der nationalen Buchhandels-, Presseund Medienlandschaft sind. Wenn im Folgenden mit der Frankfurter Buchmesse eine konkrete Unterorganisation des Börsenvereins herausgegriffen wird, so aus zwei Gründen: zum einen, weil die Forschungslage  – und somit auch die möglichen theoretischen Zugänge – zum Phänomen Buchmesse im Vergleich zu anderen Institutionen der Buchhandelsorganisationen am stärksten konturiert sind. Zum anderen materialisieren sich die abstrakten Organigramme des Börsenvereins in Form der Frankfurter Buchmesse in sehr konkreter Weise, kommen auf ihr doch nicht nur die entscheidenden Akteure des Buchhandels und seiner verschiedenen Unterorganisationen zusammen, sondern treffen dort auch auf Vertreter aus anderen Bereichen der Kultur- und Medienbranche sowie aus der Wirtschaft und Politik.

2 Theoretische Perspektiven Alle Verbände und Organisationen des Buchhandels stehen in einem kontinuierlichen Aushandlungsprozess nicht nur untereinander, sondern auch mit staatlichen Institutionen und somit mit der Sphäre der Politik – Prozesse, deren spezifische Ausprägungen in Anlehnung an die Lobbying- bzw. Interessengruppenforschung (Schiffers 2016) für den Buchhandel erst noch zu erschließen sind. Um dieses multipolare Spannungsfeld mit seinen heterogenen Komponenten angemessen beschreiben zu können, scheinen allgemeinere Theorien soziologischer Provenienz unabdingbar.

2.1 Systemtheorie Legt man der Analyse der Buchhandelsorganisation Niklas Luhmanns Systemtheorie (u.  a. Luhmann 1988 und 1995) zugrunde, bestünde zunächst grundsätzlich Klärungsbedarf, ob und wie sich die gegenwärtigen Bereiche des Buchhandels im Allgemeinen und der Unterorganisationen des Börsenvereins im Besonderen überhaupt eindeutig einzelnen Teilsystemen zuordnen lassen. Die oben skizzierten

302 

 V.3 Verbände, Vereine und Organisationen des Buchhandels

Tätigkeitsgebiete des Börsenvereins zusammen mit der inhaltlichen Ausrichtung der in ihm organisierten Verlage (Belletristik, Wissenschaft, Schulbuch, Kunstbuch etc.) und Buchhandlungen (die ebenfalls spezialisiert sein können) tangieren unterschiedliche, von Luhmann dezidiert voneinander getrennte und in unabhängigen Publikationen untersuchte Systeme wie Wirtschaft, Erziehung / Ausbildung, Politik, Kunst / Literatur, Religion und Wissenschaft. Zwar hält die Systemtheorie Konzepte wie ‚Penetration‘, ‚Interpenetration‘ oder ‚Interdependenz‘ bereit, um das intersystemische Zusammenspiel unterschiedlicher (Teil-)Systeme und ihrer eigentümlichen Logiken beschreiben zu können, dennoch geht Luhmann von durch charakteristische binäre Codes definierten, klar voneinander abgrenzbaren Systemen aus, die er entsprechend hypostatisch als autonom, autopoietisch und selbstreferentiell beschreibt. Gleichzeitig blendet Luhmann individuelle Akteure aus und negiert deren Einflussnahme auf das System, wodurch sich eine Reihe von Schwierigkeiten ergeben, die Systemtheorie auf das konkrete Phänomen der systemübergreifenden Buchhandelsorganisation zu beziehen. Versuche vonseiten der Literaturwissenschaft, die Systemtheorie für die eigene Disziplin fruchtbar zu machen (Schmidt 1989; Schwanitz 1990; Werber 1992), verdeutlichen zwar die spezifische, zweckbefreite Funktion literarischer Kommunikation vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Ausdifferenzierungsprozesse ab dem Übergang zum 19. Jahrhundert bis heute, entkoppeln sie allerdings gleichzeitig auch weitgehend von den konkreten materiellen Herstellungsprozessen, Vertriebskanälen und Vermarktungsstrategien der Buchbranche, die systemtheoretisch anderen Systemen angehören. Alle diese Funktionen und Prozesse fließen jedoch in der ökonomisch ausgerichteten, aber gleichwohl eine Öffentlichkeit konstituierenden und Politik, Kunst / Literatur, Wissenschaft mitrepräsentierenden Buchmesse zusammen: So illustriert die Buchmesse einerseits das autonome Nebeneinander unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilsysteme und Sphären (die unterschiedlichen Sparten des Buchhandels sind häufig räumlich voneinander getrennt, das heißt in unterschiedlichen Messehallen präsent), andererseits ist die Buchmesse als räumliches Kontinuum aber immer auch ein pragmatischer Ort ihrer Kopplung oder gar Interpenetration.

2.2 Akteur-Netzwerk-Theorie Während Luhmanns sich selbst organisierende, komplexitätsreduzierende Systeme auf nichts anderem als (abstrakter) Kommunikation basieren, definiert sich die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), wie sie von Bruno Latour, Michael Callon und John Law entwickelt worden ist, dezidiert als „semiotics of materiality“ (Law 1999: 4). Sollen also materielle, das heißt handwerkliche, technische und arbeitsteilige, Aspekte der Buchproduktion  – vom Manuskript bis zum gedruckten Buch und

2 Theoretische Perspektiven 

 303

dessen Vertrieb – berücksichtigt werden, kann die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) einen gewinnbringenden theoretischen Zugang darstellen. Akteure sind in der ANT nicht nur Menschen oder Organisationen; auch Gegenstände wie technologische Apparaturen, Maschinen und andere materielle Hilfsmittel können einen solchen Status erlangen, weshalb in der ANT auch von Aktanten (statt Akteuren) gesprochen wird: Als performative Elemente innerhalb eines Netzwerks interagieren sie ihrerseits mit anderen Aktanten. Wenn man bedenkt, dass sich die unterschied­ lichen Funktionen von Druckereien, Verlagen und dem Bucheinzelhandel erst über einen langen Zeitraum hinweg ausdifferenziert haben, stehen die Verlage zweifelsohne in einem (idealerweise) symbiotischen Abhängigkeitsverhältnis zu den (heutzutage in eigenen Verbänden wie dem Bundesverband Druck und Medien, bvdm, organisierten) Druckereien einerseits und den Sortimenter*innen andererseits und bilden mit diesen ein verbandübergreifendes Akteursnetzwerk (actor-network): Die einzelnen Akteure / Aktanten, auch wenn sie in der Wertschöpfungskette noch so verschiedene bzw. heterogene Aufgaben wahrnehmen, teilen dieselben Interessen hinsichtlich der Hervorbringung eines erfolgreichen Produkts. Dabei lassen sich mit Hilfe der ANT nicht nur externe Beziehungen zwischen unterschiedlichen Entitäten wie Verlag und Druckerei, sondern auch interne Netzwerkbeziehungen innerhalb einer Entität beschreiben, wie Renate Grau mit Blick auf Publikumsverlage und ihre Strategien zur Verbreitung von Belletristik festhält: „Lektoren und andere Büchermacher hantieren mit einer Vielzahl unterschiedlicher Elemente, die sie sich nutzbar machen, um ihren Einfluss über ihr Büro hinaus auszudehnen. Sie beschäftigen sich mit dem, was hier – in Anlehnung an John Laws Begriff des heterogenen Engineerings (heterogeneous engineering) – als Ästhetisches Engineering (aesthetic engineering) bezeichnet wird“ (Grau 2006: 57). Weniger eindeutig an der ANT orien­tiert ist Julia Bangerts Studie zum Buchhandelssystem der Frühen Neuzeit. Allerdings übernimmt auch sie Konzepte der ANT, wenn sie u.  a. von „Aktanten […] des Buchhandels“ (Bangert 2019: 64 und passim) spricht. Während die menschlichen Aktanten – die Akteure – auf Buchmessen in großer Zahl präsent sind, trifft dies auf die übrigen Elemente eines Akteursnetzwerks nicht oder nur sehr bedingt zu. Man könnte daher sagen, die Buchmesse repräsentiere zwar denkbare Akteursnetzwerke in Buchhandel und Buchherstellung, ist selber aber keines. Anders als auf anderen Fachmessen sind technische Aspekte auf Buchmessen von eher geringer Wichtigkeit – was ein Grund dafür sein mag, dass die ANT in der Buchmesseforschung bisher nicht Fuß gefasst hat.

304 

 V.3 Verbände, Vereine und Organisationen des Buchhandels

2.3 Feldtheorie Vielmehr dominiert im Bereich der Buchmesseforschung ein dritter soziologischer Ansatz, der im Folgenden deshalb etwas ausführlicher dargestellt werden soll: Pierre Bourdieus Feldtheorie. Auch wenn in den letzten Jahren versucht worden ist, Bourdieu und Luhmann einander anzunähern (Hartard 2010; Nassehi und Nollmann 2004), unterscheiden sich die Ansätze der beiden Autoren in mehreren Punkten fundamental oder schließen sich gar gegenseitig aus (Hillebrandt 2006). So führt Bourdieu – wenn auch in anderer Pointierung als die Vertreter der ANT – „den Akteur wieder in die Debatte ein, den die Strukturalisten nur als Epiphänomen der Strukturen betrachtet hatten und der auch innerhalb der Systemtheorie Luhmanns keine Rolle spielt“ (Jurt 2021: 269). Ähnlich wie Luhmann differenziert Bourdieu zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen wie Wissenschaft, Kunst, Religion etc. (und widmet ihnen ebenfalls getrennte Monografien), doch anders als der deutsche Soziologe beschreibt er sie als interagierende Felder  – und nicht als geschlossene Systeme. Diese unterschiedlichen Felder sind ihrerseits eingebettet in das ‚Feld der Macht‘ oder ‚Macht-Feld‘ (‚champ du pouvoir‘; siehe unten) und somit nicht immun gegenüber politischer Einflussnahme, sodass ihre Interaktion sowohl auf externen Hierarchisierungen zwischen unterschiedlichen Feldern als auch auf internen Hierarchisierungen innerhalb eines spezifischen Feldes basiert. Wie bereits erwähnt, ist in der Forschung zu internationalen Buchmärkten und Buchmessen der vergangenen Jahre (u.  a. Sorá 1994, 1999, 2021 und 2022; Moeran 2010; Szpilbarg 2015; Bosshard 2015; Bosshard und García Naharro 2019; Alonso et al. 2021; Anastasio et al. 2022) Bourdieus Theorieansatz prägend. Eine genauere Betrachtung von Bourdieus Überlegungen zum ‚literarischen Feld‘, in das sich auch der Buchhandel einfügt und das sich in Form der Buchmesse konkret materialisiert, drängt sich daher auf. Bourdieus in diesem Zusammenhang zentrale Arbeit Les règles de l’art (auf Deutsch: Die Regeln der Kunst; Bourdieu 1999) nimmt das literarische Feld Frankreichs gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Blick – es sind also allerlei Transferleistungen zu erbringen, um sein Modell auch auf die gegenwärtigen Buchhandelsstrukturen in Deutschland bzw. auf die transnationalen Verflechtungen einer internationalen Buchmesse beziehen zu können. Das bei Bourdieu anhand von Autor- und literarischen Gruppennamen (die jeweils anders geartete Beziehungen zu den Verlagen implizieren) sowie literarischen Institutionen wie Akademien und Theatern visualisierte literarische Feld Frankreichs (Abb. 3) lässt sich hierbei unschwer generalisieren: Unabhängig davon, welche konkrete (nationale) Feldstruktur dargestellt werden soll, ist das jeweilige literarische Feld auf der vertikalen Achse stets hierarchisch gegliedert nach hohen und niedrigen Konsekra-

2 Theoretische Perspektiven 

 305

tionsgraden und richtet sich auf einer horizontalen Achse zum einen am Pol der ‚Autonomie‘ (Subfeld der eingeschränkten Produktion mit kleinen Auflagenhöhen) und zum anderen an demjenigen der ‚Heteronomie‘ (kommerziell ausgerichteter Massenmarkt mit entsprechend hohen Auflagen) aus. Während auf der vertikalen Achse das Prestige (oder in Bourdieus Terminologie das symbolische Kapital) von oben nach unten immer stärker abnimmt, nimmt der Umsatz bzw. Gewinn – das ökonomische Kapital  – von links nach rechts stetig zu. In seinen Analysen geht es Bourdieu darum, „den Prozeß bewußt zu machen, der selber die Hierarchien als ‚natürlich‘ und nicht als historisch gewordene versteht. Der ‚Wert‘ der Werke existiert nicht an und für sich, er ist das Produkt eines sozialen Prozesses“ (Jurt 1994: 331–32). Genau deswegen scheint ein akteurzentrierter, idealerweise auch empirisch fundierter Zugang unverzichtbar: „Man wird darum auch alle jene Akteure und Institutionen untersuchen müssen, die den sozialen ‚Wert‘ der kulturellen Produkte schaffen: Literaturkritiker, Verleger, Mäzene, Akademien, Salons, Literaturpreisjuroren, aber auch die schulischen Instanzen der Literaturvermittlung“ (Jurt 1994: 332; siehe V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung in diesem Band). Der Feldbegriff nach Bourdieu in seiner konkreten Applikation auf den Buchhandel hat sich damit aber noch nicht erschöpft, denn der „Feldbegriff ist […] nicht bloß ein territoriales Konzept. Ein Feld ist ein Kraft- und Machtfeld. Die einzelnen Institutionen können nur verstanden werden, wenn man sie einordnet in das System der objektiven Beziehungen, die den Raum der Konkurrenz bilden, den sie mit anderen Institutionen darstellen“ (Jurt 1994: 322). Das literarische Feld als Machtfeld ist demnach nicht unabhängig vom Feld der Macht an sich; vielmehr ist das Feld der kulturellen Produktion (in dem das literarische Feld wiederum nur ein Unterfeld darstellt) seinerseits in jenes Feld der Macht integriert, das wiederum als Teilbereich des gesamten nationalen sozialen Raums zu verstehen ist (Abb. 4). Dabei konstatiert Bourdieu Homologien zwischen den Strukturen der einzelnen Felder: Wer im literarischen Feld einen hohen Konsekrationsgrad erreicht (und somit viel symbolisches Kapital akkumuliert) hat, interagiert potenziell mit Vertretern gleicher Stellung aus anderen Feldern oder gar mit den politischen und wirtschaftlichen Eliten des Feldes der Macht selbst. Allerdings wird das literarische Feld seinerseits vom Macht-Feld dominiert und muss seine auf seiner wirtschaftlichen Sonderstellung bzw. Autonomie beruhenden Privilegien (wie die Buchpreisbindung oder die Umsatzsteuerprivileg) immer wieder gegen dieses verteidigen: „Le champ intellectuel, si grand que puisse être son autonomie, est déterminé dans sa structure et sa fonction par la position qu’il occupe à l’intérieur du champ de pouvoir“ [Das intellektuelle Feld, mag es auch noch so autonom sein, ist in seiner Struktur und seiner Funktion bestimmt durch die Position, die es im Inneren des Macht-Feldes besetzt] (Bourdieu 1977: 15).

306 

 V.3 Verbände, Vereine und Organisationen des Buchhandels

hoher Konsekrationsgrad (alt)

RECHTS Académie (institutionelle Konsekration)

Parnassiens

Symbolisten (Mallarmé)

Boulevardtheater Psychologischer Roman, mondäner Roman, naturalistischer Roman (Zola)

Théâtre de l’œuvre (Lungé-Poe) Décadents (Verlaine)

Théâtre libre (Antoine)

Kleine Zeitschriften

Bohème

Journalismus

Vaudeville Sittenroman, volkstümlicher Roman (Fortsetzungsroman), Heimatroman Kabarett (Chansonniers)

LINKS Niedriger Konsekrationsgrad (jung) Abb. 3: Das literarische Feld Frankreichs Ende des 19. Jahrhunderts (Quelle: Bourdieu 1999: 199).

Geringe spezificshe Konsekration und hohe ökonomische Profite

Starke spezifische Konsekration und geringe ökonomishe Profite

Charismatische Konsekration

2 Theoretische Perspektiven 

ÖK + KK + +

SSK+ Arrivierte Avantgarde

ÖK – KK +

MachtFeld

Feld der kulturellen Produktion Auton + ÖK SSK -

Auton – ÖK + SSK -

Eingeschränkte Produktion (l’art pour l’art)

Massenproduktion

BohèmeAvantgarde SSK -

 307

Nichtprofessionelle Kulturproduzenten Vaudeville, Feuilleton Journalismus

(nationaler) sozialer Raum

ÖK - KK -

-

sozialer Raum Macht-Feld Feld der kulturellen Produktion Subfeld der eingeschränkten Produktion

ÖK KK SSK

Ökonomisches Kapital Kulturelles Kapital Spezifisches Symbolisches Kapital

Auton + Auton -

Hoher Autonomiegrad Niedriger Autonomiegrad

Abb. 4: Das Feld der kulturellen Produktion im Feld der Macht und im sozialen Raum (Quelle: Bourdieu 1999: 203).

ÖK + KK -

308 

 V.3 Verbände, Vereine und Organisationen des Buchhandels

Die Interferenzen und möglichen Konflikte des literarischen und kulturellen Felds mit dem Macht-Feld lassen sich neuerdings anhand des pars pro toto den gesamten Buchmarkt und Buchhandel repräsentierenden Beispiels der Buchmesse veranschaulichen. So ist die Frankfurter Buchmesse nicht nur darum bemüht, sämtliche Akteure des Buchhandels und Literaturbetriebs zusammenzuführen, sondern ebenfalls stets bestrebt, herausragende Vertreter des politischen Macht-Felds einzuladen und diese programmatisch und medial einzubinden. Dabei zeigt sich allerdings auch, dass das Macht-Feld in der Auswahl der Ehrengastländer der Frankfurter Buchmesse – bisher meistens Staaten, manchmal aber auch transnationale Sprachgemeinschaften –, die jedes Jahr nach Frankfurt eingeladen werden (Fischer 1999; Rütten 1999; Körkkö 2018; Bosshard et al. 2018; Hertwig 2022), eine entscheidende Rolle spielen kann und dass mit der Gastlandauswahl häufig wirtschaftliche und politische Interessen verfolgt werden, die zu einer Marginalisierung von außereuropäischen Buchmärkten führen können (Bosshard 2019). Gleichzeitig ist das Ehrengast-Format als Paradigma für die transnationale Verflechtung des deutschen Buchhandels mit den literarischen Feldern und Buchhandelsstrukturen anderer Nationen unabdingbar, um der Globalisierung der Buchmärkte Rechnung zu tragen. Diesem Aspekt der Globalisierung versucht die Forschung durch eine Erweiterung von Bourdieus noch stark an nationalen Referenzrahmen ausgerichtetem Theorieansatz gerecht zu werden (u.  a. Sapiro 2009). Auch der multimediale, nicht mehr allein vom Medium Buch definierte Charakter der Frankfurter Buchmesse ebenso wie deren Kopplung mit anderen ökonomischen Logiken, wie sie außerhalb des Buchhandels vorherrschen, muss im Zuge einer solchen Modifikation der Bourdieu’schen Feldtheorie Berücksichtigung finden: Angesichts ihrer charakteristischen Heterogenität und Viellogik als Treffpunkt von Akteuren sowohl von innerhalb als auch von außerhalb des Buchhandels ist festzuhalten, dass es sich bei Buchmessen um eine Konsekrationsinstanz eines (gegenüber der von Bourdieu konstatierten, am französischen ‚salon‘ orientierten historischen Phänotypen) neuen Typs handelt, die nicht einfach nur die Struktur des literarischen Feldes reproduziert, sondern dieses modifiziert, indem sie feldexterne Kriterien und konträre Wertschöpfungslogiken in dieses integrieren (García Naharro 2022).

3 Desiderate Die Auseinandersetzung mit der Frankfurter Buchmesse als holistischem Spiegel der nationalen und internationalen Buchhandelsorganisation führt nicht nur zu Differenzierungen auf der theoretischen Makroebene, sondern zeigt auch sinnvolle Anknüpfungspunkte auf der Mikroebene auf. So kann das Phänomen Buchmesse – wie potenziell jede andere Organisation, jeder andere Verband oder Verein

3 Desiderate 

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des Buchhandels – für sich entweder in seiner historischen Entwicklung (Füssel 1999; Niemeier 2001; Büttner und Norrick-Rühl 2023) oder aber synchron aus unterschiedlichen disziplinären Blickwinkeln betrachtet werden. Aus ethnografischer oder sozialanthropologischer Perspektive wäre etwa auf die Rituale bzw. ritualisierten Handlungen (Collins 2004) abzuheben, die sich auf Buchmessen – nicht nur in Frankfurt – Jahr für Jahr aufs Neue abspielen (Moeran 2010; Sorá 2022; Sorá 1994) und auch bei anderen branchenspezifischen Anlässen eine wichtige Rolle spielen können: Eröffnungsfeiern, Arbeitsgesprächen, Preisverleihungen (u.  a. der Deutsche Buchpreis sowie der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, die beide vom Börsenverein vergeben werden), Empfängen mit Umtrunk oder Buffet an den Messeständen, gemeinsame (gegebenenfalls verlagsbzw. verbandsübergreifende) Abendessen, Messepartys, Verlagsfeiern mit oder ohne Tanzlustbarkeiten (i.  d.  R. mit persönlicher Einladung) sowie (in Frankfurt) das allabendliche informelle ‚get together‘ der internationalen Verleger*innen und Agent*innen und deren Mitarbeiter*innen im Frankfurter Hof usw. Bestimmte Berufsfelder im Buchhandel wie z.  B. die Foreign Rights Managers, Agenten, Scouts, aber auch klassische Verlagsvertreter*innen zeichnen sich außerdem durch einen ebenfalls anthropologisch zu reflektierenden, modern nomadischen Lebensstil aus, der sie von Messe zu Messe bzw. von Buchhandlung zu Buchhandlung führt – ohne dass solche Phänomene bisher systematisch erhoben und erforscht worden wären (siehe V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel in diesem Band). Aus ökonomischer Perspektive bieten sich Buchmessen dazu an, allgemeine theoretische Modelle zum Angebot und Konsum von Kulturgütern an die spezifischen Prämissen des Buchhandels anzupassen und weiterzuentwickeln. Während Vielfalt auf dem Buchmarkt (‚Bibliodiversität‘, Hawthorne 2017) auf der Angebotsseite (supplied diversity) recht gut erfasst und gemessen werden kann, ist die reale Nachfrage nach bibliodiversen Produkten (consumed diversity) weitaus schwieriger zu ermitteln (Bénhamou und Peltier 2007). Die bis heute vorherrschende Orientierung des Buchhandels an den Buchmessen – Leipzig im Frühjahr bzw. in Frankfurt im Herbst – führt aus ökonomischer Sicht zu einem massiven Überangebot an Büchern jeweils im März und September / Oktober, ohne dass der Konsum sich ebenso stark erhöht. Dies hat zur Folge, dass rund um die Messen immer mehr Bücher weniger Käufer finden, als wenn das Buchangebot gleichmäßig auf das gesamte Jahr verteilt würde (Clement et al. 2019). Dasselbe gilt auch für Übersetzungen aus anderen Sprachen im Zusammenhang mit dem Gastland-Format der Frankfurter Buchmesse: Zwar werden zu diesen Anlässen viel mehr Bücher aus den entsprechenden Sprachen übersetzt, der durchschnittliche Absatz pro übersetztem Buchtitel sinkt dagegen in der Regel (Bosshard 2023; Hertwig 2022). Schließlich kann die Buchmesse auch als semiotisch determinierter Raum in den Blick genommen werden: Raumtheoretische Ansätze erlauben die Beschrei-

310 

 V.3 Verbände, Vereine und Organisationen des Buchhandels

bung der Verwandlung des bloßen ‚Orts‘ (lieu) Buchmesse – angesichts der Monotonie der an allen Standorten nahezu identisch strukturierten Messehallen, -stände und -flure mitunter auch des ‚Nicht-Orts‘ (non-lieu, Augé 1994) Buchmesse – in einen sinnlich erfahrbaren sozialen ‚Raum‘ (espace) im Sinne Michel de Certeaus (1988). Ästhetische Reize und Stimmigkeit sind hierbei zentral, soll die Inszenierung von Literatur und Buchproduktion auf Buchmessen doch attraktiv und ansprechend wirken, sodass die architektonische Konzeption und das Design der Messestände und ihrer Präsentationsstrategien einen hohen Stellenwert erlangen. In bestimmten Messebereichen – z.  B. in den Ehrengastpavillons – kommen zudem museologische bzw. ausstellungsdidaktische Herangehensweisen zum Tragen, wenn etwa die Literaturgeschichte einer ganzen Nation oder Sprachgemeinschaft überblicksartig dargestellt und einem fremden Publikum vermittelt werden soll (u.  a. Anastasio 2022; Bosshard 2021). Für die kulturwissenschaftliche bzw. kultursemiotische Betrachtung solcher Buch- und Literaturausstellungen auf Buchmessen bietet sich daher ein mehrgliedriges, mehrere theoretische Ansätze miteinander verbindendes Modell an, „which explore[s] Guest of Honor pavilions and exhibition spaces along with their discursive, semiotic, communicative, and aesthetic-hermeneutic aspects“ (Anastasio et al. 2023: 231). Neben der Frankfurter Buchmesse GmbH und der übergeordneten Buchhandels Beteiligungsgesellschaft mbh (BBG) unterhält der Börsenverein mit der mediacampus frankfurt GmbH (im Folgenden: Mediacampus) sowie der MVB GmbH (Marketing- und Verlagsservice des Buchhandels) weitere Wirtschaftsbetriebe, deren Tätigkeitsfelder – anders als die Buchmesse – bisher nicht erforscht worden sind. Insofern der Marketing- und Verlagsservice des Buchhandels u.  a. für das Verzeichnis lieferbarer Bücher (VLB), das Börsenblatt und das Buchjournal verantwortlich zeichnet, wären hier theoretische Ansätze der Publizistik und der Medienwissenschaft einzubringen und weiterzuentwickeln. Auch eine wissenschaftliche Beschäftigung  – ganz zu schweigen von deren theoretischen Fundierung  – mit dem aus der ehemaligen Deutschen Buchhändlerschule hervorgegangenen Mediacampus hat bisher nicht stattgefunden. Als privatwirtschaftlich organisierte, wenn auch staatlich anerkannte Ersatzberufsschule zur Aus- und Fortbildung von Buchhändler*innen und Medienkaufleuten bietet er kostenpflichtige Studien- und Lehrgänge an, deren Unterschiede in der inhaltlichen und didaktischen Ausrichtung gegenüber Ausbildungskonzepten kostenfreier kommunaler Berufsschulen, die ebenfalls zum / zur Buchhändler*in ausbilden, von der Berufsschulpädagogik noch nicht erörtert worden sind (siehe V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel in diesem Band).

Literatur 

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Literatur Alonso, Ana Luna; Santos, Iolanda Galanes, und Carmen Villarino Pardo (Hrsg.). Promoción cultural y traducción: Ferias internacionales del libro e invitados de honor. Bern 2021. Anastasio, Matteo. „Las ferias del libro como espacios estéticos y performativos de definición literaria: El ejemplo del ‚árbol‘ alemán, entre Frankfurt y Guadalajara.“ Las ferias del libro como espacios de negociación cultural y económica: Band 2: Conclusiones y nuevas trayectorias de estudio. Hrsg. von Matteo Anastasio, Marco Thomas Bosshard und Freja I. Cervantes Becerril. Frankfurt am Main, Madrid 2022: 373–415. Anastasio, Matteo; Bosshard, Marco Thomas, und Freja I. Cervantes Becerril (Hrsg.). Las ferias del libro como espacios de negociación cultural y económica: Band 2: Conclusiones y nuevas trayectorias de estudio. Frankfurt am Main, Madrid 2022. Anastasio, Matteo; Bosshard, Marco Thomas; García Naharro, Fernando, und Luise Hertwig. „Book Fairs as Spaces of Cultural and Economic Negotiation: A Summary of Project Results.“ Der Wert der literarischen Zirkulation: The Value of Literary Circulation. Hrsg. von Michael Gamper, Jutta Müller-Tamm, David Wachter und Jasmin Wrobel. Stuttgart 2023: 223–236. Augé, Marc. Orte und Nicht-Orte: Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt am Main 1994. Bangert, Julia. Buchhandelssystem und Wissensraum in der Frühen Neuzeit. Berlin, Boston 2019. Benhamou, Françoise, und Stéphanie Peltier. „How Should Cultural Diversity be Measured? An Application Using the French Publishing Industry.“ Journal of Cultural Economics 31 (2007): 85–107. Bosshard, Marco Thomas. „Architektur vs. Literatur? Inszenierung, Hierarchisierung und Marginalisierung von Literatur: Eine Analyse der Ausstellung im spanischen Ehrengastpavillon auf der Frankfurter Buchmesse 1991.“ Transitzonen zwischen Literatur und Museum. Hrsg. von Matteo Anastasio und Jan Rhein. Berlin 2021: 135–161. Bosshard, Marco Thomas (Hrsg.). Buchmarkt, Buchindustrie und Buchmessen in Deutschland, Spanien und Lateinamerika. Berlin, Münster 2015. Bosshard, Marco Thomas (Hrsg.). „Las ferias del libro y el campo del poder: Los políticos y el capital simbólico en la feria de Fráncfort o la polémica entre México y Francia por ser invitado de honor en 2017.“ Cuadernos de Historia Contemporánea 41 (2019): 89–107. Bosshard, Marco Thomas. „Measuring the Consumption of Bibliodiversity and Foreign Literatures in Translation: Supply and Sales of Translated Books in Germany between 2007 and 2018.“ The World Inside: Latin American Literatures in Global Markets. Hrsg. von Mabel Moraña und Ana Gallego Cuiñas. Boston, Leiden 2023: 283–304. Bosshard, Marco Thomas; Brink, Margot, und Luise Hertwig. „Der Frankfurter Buchmesseschwerpunkt ‚Francfort en français‘ 2017: Inszenierung und Rezeption frankophoner Literaturen in Deutschland.“ Lendemains: Études comparées sur la France 43.170–171 (2018): 1–144. Bosshard, Marco Thomas, und Fernando García Naharro (Hrsg.). Las ferias del libro como espacios de negociación cultural y económica: Band 1: Planteamientos generales y testimonios desde España, México y Alemania. Frankfurt am Main, Madrid 2019. Bourdieu, Pierre. „Champ du pouvoir, champ intellectuel et habitus de classe.“ Scolies 1 (1977): 7–26. Bourdieu, Pierre. Die Regeln der Kunst. Frankfurt am Main 1999. Büttner, Urs, und Corinna Norrick-Rühl. „Commerce, Culture – and a Camel: The Establishment of Frankfurt Book Fair as an Institution of Literary Circulation after World War II.“ Der Wert der literarischen Zirkulation: The Value of Literary Circulation. Hrsg. von Michael Gamper, Jutta Müller-Tamm, David Wachter und Jasmin Wrobel. Stuttgart 2023: 205–222.

312 

 V.3 Verbände, Vereine und Organisationen des Buchhandels

Clemens, Michel; Bölke, Kristina, und Petra Schulz. „The Impact of Book Fairs on Book Sales.“ Las ferias del libro como espacios de negociación cultural y económica: Band 1: Planteamientos generales y testimonios desde España, México y Alemania. Hrsg. von Marco Thomas Bosshard und Fernando García Naharro. Frankfurt am Main, Madrid 2019: 133–144. Collins, Randall. Interaction Ritual Chains. Princeton 2004. De Certeau, Michel. Kunst des Handelns. Berlin 1988. Estermann, Monika. „Buchhandel, Buchhandelsgeschichte und Verlagsgeschichtsschreibung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart: Ein Überblick über die Quellenlage und Forschungsliteratur.“ Buchwissenschaft in Deutschland: Ein Handbuch: Band 1: Theorie und Forschung. Hrsg. von Ursula Rautenberg. Berlin, New York 2010: 257–320. Fischer, Ernst. „Geglückte Imagekorrektur? Bilanz des Schwerpunktthemas Österreich 1995.“ 50 Jahre Frankfurter Buchmesse: 1949–1999. Hrsg. von Stephan Füssel. Frankfurt am Main 1999: 150–162. Fischer, Ernst, und Stephan Füssel (Hrsg.). Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert: Band 2: Die Weimarer Republik 1918–1933. Berlin, Boston 2012. Fischer, Ernst; Wittmann, Reinhard, und Jan-Pieter Barbian (Hrsg.). Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert: Band 3: Drittes Reich. Berlin, Boston 2015. Füssel, Stephan (Hrsg.). 50 Jahre Frankfurter Buchmesse: 1949–1999. Frankfurt am Main 1999. García Naharro, Fernando. „Ni puras ni (tan) bastardas: Las ferias del libro como instancias de consagración de nuevo cuño.“ Las ferias del libro como espacios de negociación cultural y económica: Band 2: Conclusiones y nuevas trayectorias de estudio. Hrsg. von Matteo Anastasio, Marco Thomas Bosshard und Freja I. Cervantes Becerril. Frankfurt am Main, Madrid 2022: 121–139. Ginzburg, Carlo. Der Käse und die Würmer: Die Welt eines Müllers um 1600. Frankfurt am Main 1979. Grau, Renate. Ästhetisches Engineering: Zur Verbreitung von Belletristik im Literaturbetrieb. Bielefeld 2006. Hartard, Christian. Kunstautonomien: Luhmann und Bourdieu. München 2010. Hawthorne, Susan. Bibliodiversität: Manifest für unabhängiges Publizieren. Berlin 2017. Hertwig, Luise. Bibliodiversität im Kontext des französischen Ehrengastauftritts „Francfort en français“ auf der Frankfurter Buchmesse 2017: Die ganze Vielfalt des Publizierens in französischer Sprache? Diss. Europa-Universität Flensburg 2022. Hillebrandt, Frank. „Praxisfelder ohne System oder Funktionssysteme ohne Praxis? Überlegungen zur (unmöglichen) Vermittlung der Gesellschaftstheorien Bourdieus und Luhmanns.“ Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Hrsg. von Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt am Main 2006: 2825–2838. Jäger, Georg (Hrsg.). Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert: Band 1: Das Kaiserreich 1870–1918. Frankfurt am Main 2001. Jurt, Joseph. „Für eine Wissenschaft der Genese kultureller Werke: Versuch einer Rekonstruktion des literatursoziologischen Ansatzes von Pierre Bourdieu in ‚Les règles de l’art‘.“ Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 146.231 (1994): 319–347. Jurt, Joseph. „Literatur als gesellschaftliches Teilsystem und literarisches Feld.“ Handbuch Literatur & Philosophie. Hrsg. von Andrea Allerkamp und Sarah Schmidt. Berlin, Boston 2021: 269–278. Körkkö, Helmi-Nelli. Finnland.Cool.: Zwischen Literaturexport und Imagepflege: Eine Untersuchung von Finnlands Ehrengastauftritt auf der Frankfurter Buchmesse 2014. München 2018. Law, John. „After ANT: Complexity, Naming and Topology.“ Actor-Network Theory and After. Hrsg. von John Law und John Hassard. Oxford 1999: 1–14. Luhmann, Niklas. Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1995. Luhmann, Niklas. Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1988.

Literatur 

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Moeran, Brian. „The Book Fair as a Tournament of Values.“ The Journal of the Royal Anthropological Institute 16.1 (2010): 138–154. Nassehi, Armin, und Gerd Nollmann (Hrsg.). Bourdieu und Luhmann: Ein Theorievergleich. Frankfurt am Main 2004. Niemeier, Sabine. Funktionen der Frankfurter Buchmesse im Wandel von den Anfängen bis heute. Wiesbaden 2001. Rütten, Marion. „Die Länderschwerpunkte ab 1988: Fallbeispiele Italien und Frankreich.“ 50 Jahre Frankfurter Buchmesse: 1949–1999. Hrsg. von Stephan Füssel. Frankfurt am Main 1999: 139–149. Sapiro, Gisèle. Les contradictions de la globalisation éditoriale. Paris 2009. Schiffers, Maximilian. „Lobbying-Forschung und Interessengruppeneinfluss.“ Zeitschrift für Politikwissenschaft 26 (2016): 479–490. Schmidt, Siegfried J. Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1989. Schwanitz, Dietrich. Systemtheorie und Literatur: Ein neues Paradigma. Opladen 1990. Sorá, Gustavo. „Die Frankfurt Buchmesse: Der Ellbogen regiert.“ Eingrenzungen – Ausgrenzungen – Entgrenzungen: Internationales Jahrbuch für Literatur und Kultur. Hrsg. von Pierre Bourdieu. Konstanz 1999: 137–143. Sorá, Gustavo. „Ferias internacionales de libros: Trabajo de campo, archivo y arqueología reflexiva.“ Las ferias del libro como espacios de negociación cultural y económica: Band 2: Conclusiones y nuevas trayectorias de estudio. Hrsg. von Matteo Anastasio, Marco Thomas Bosshard und Freja I. Cervantes Becerril. Frankfurt am Main, Madrid 2022: 55–86. Sorá, Gustavo. A History of Book Publishing in Contemporary Latin America. New York, London 2021. Sorá, Gustavo. Libros de una exposición: Etnografía de las bienales internacionales de libros de Rio de Janeiro e São Paulo. Rio de Janeiro 1994. Szpilbarg, Daniela. Las tramas de la edición mundializada: Transformaciones y horizontes del campo editorial en Argentina 1998–2013. Buenos Aires 2015. Werber, Niels. Literatur als System: Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation. Opladen 1992. Wittmann, Reinhard. Geschichte des deutschen Buchhandels. 4. Aufl. München 2019. Zemon Davis, Natalie. Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre. München 1989.

V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung Christian Meierhofer

1 Gegenstandsbereich Der Begriff der ‚Literaturvermittlung‘ leitet sich her aus den Überlegungen zur Angewandten bzw. Empirischen Literaturwissenschaft, die in den 1970er und 1980er Jahren eine gewisse Konjunktur hatten und dezidiert kommunikations- und handlungstheoretische Annahmen verfolgten. Doch nicht zuletzt die recht abstrakte, beispielarme Theoriesprache, die unter anderem linguistische, soziologische und medienphilosophische Elemente aufnimmt, hat eine breitere literaturwissenschaftliche Anerkennung verhindert. Für eine „Theorie Literarischer Vermittlungshandlungen“ geht Schmidt (1991 [1980]: 271) von „Aktanten“ aus, die sich stets „in bestimmten Situationen“ und „Voraussetzungssystemen“ befinden und so vorgehen, „daß dadurch die intendierten Handlungsresultate erzielt und Handlungskonsequenzen ausgelöst werden.“ Diese übergreifende Definition wird von Rusch (2001 [1998]: 388) in Hinsicht auf Praxiszusammenhänge konkretisiert: Demnach bezeichnet Literaturvermittlung „jede direkt oder indirekt zwischen Autor und Leser vermittelnde Einrichtung, Unternehmung oder Instanz wie Veranstalter von Lesungen, Verlage (Lektorierung, mediale Realisierung, Distribution, Marketing), Bucheinzelhandel, Bibliotheken, Lit[eratur]unterricht in den Schulen, Textpräsentation im Internet.“ Hierauf aufbauend fasst Neuhaus (2009: 13) unter dem Begriff „alle Personen, Institutionen und Prozesse“, „die mit literarischen Texten umgehen, von der physischen Herstellung von Büchern als Produkt bis zur Diskussion von Deutungen im Literaturunterricht.“ Dabei bleibt der Literaturbegriff selbst aus pragmatischen Gründen auf fiktionale Texte beschränkt. Insofern kann eine theoretische Bestimmung von Prozessen der Literaturvermittlung sowohl mit Blick auf das Merkmal der Fiktionalität und auf nichtfiktionale Texte als auch mit Blick auf das Verhältnis von kanonischen und nichtkanonischen Texten bzw. von sogenannter Höhenkamm- und Unterhaltungsliteratur als Desiderat gelten. Eine weitere analytische Vorentscheidung betrifft die literaturvermittelnden Akteur*innen, mit denen zumeist professionelle Leser*innen gemeint sind, „die sich beruflich mit Literatur beschäftigen“ (Neuhaus 2009: 15) und im Rahmen ihrer jeweiligen Funktion und aus ihrem Handlungszusammenhang ganz unterschiedliche Kommunikationsangebote unterbreiten. Das Kriterium der Professionalität fordert schließlich auch die Frage nach dem Status der Literaturkritik heraus, die bei „der fortschreitenden Segmentierung des https://doi.org/10.1515/9783110745030-014

1 Gegenstandsbereich 

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Publikums“ (Fetzer 2015: 655) nicht mehr umstandslos als Institution bezeichnet werden kann. Stattdessen verlagern sich Praktiken des Kritisierens vom klassischen Feuilleton und den traditionellen Print- oder „Meinungsführermedien“ (Vogel 2011: 216) zusehends ins Internet und in die Sozialen Netzwerke. Dieser Übergang in den digitalen Raum wird schon seit längerem mit seinen nicht nur technischen Vor- und Nachteilen und in seinen medien- und kulturpolitischen Konsequenzen diskutiert (Anz 2010). Damit einher geht ein vielbeschriebener Funktionswandel von der professionalisierten, normativen, auch männlich dominierten Buchkritik zur nutzerorientierten und „konsumentenfreundlichen Lektüreempfehlung“ (Kerstan 2006: 133). Mit dem hierfür oft verwendeten und nicht immer wertfrei gemeinten Terminus der Laienkritik darf jedoch nicht übersehen werden, dass Phänomene des Social Reading und Writing, des Buch-Bloggens und netzbasierten Austauschs längst eine funktional wirksame Überschneidung von Autodidaxe der Kritiker*innen, Authentizität der audiovisuellen Darbietung und unmittelbarer Resonanz bei den Nutzer*innen erreichen. Daraus entwickeln sich neue „Szenarien der Reprofessionalisierung“ (Graf 2021: 180) von Literaturkritik. Unter diesen Voraussetzungen lässt sich keine konsistente Theoriebildung ausmachen, mit der sämtliche Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung zu untersuchen wären. Vielmehr werden in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung für jeden Vermittlungskontext eigene Kombinationen theoretischer Elemente gesucht. Deshalb soll hier eine systematische Perspektive nicht unmittelbar über die unterschiedlich akzentuierten und miteinander verschränkten Theorieangebote, sondern über die leichter zu identifizierenden praktischen Vermittlungsinstanzen eingenommen werden. Gemeint sind 1. Schulen und Universitäten, 2. Kulturinstitute, Literaturhäuser und literarische Gesellschaften, 3. Literaturfestivals, Lesungen und Ausstellungen sowie 4. Literatur- und Buchpreise. Hierfür liegt die Konzentration auf dem Buch in seiner Materialität und Medialität sowie auf seinem recht exklusiven Status als institutionell erhaltungsund förderungsbedürftiges Kulturgut. Eine Leitüberlegung ist, dass die diversen Vermittlungsanliegen in all diesen Bereichen von Strategien der Aufmerksamkeitsgenese und -steuerung begleitet werden. Denn unabhängig von einzelnen Absichten, Funktionen und Gegenständen des Vermittelns braucht es eine Form der öffentlichen oder publikumsbezogenen Rückkopplung, damit ein Vermittlungsakt als kommunikativ erfolgreich gelten kann. Die Kapazitäten von Aufmerksamkeit sind allerorten begrenzt und folgen in der literaturbetrieblichen ebenso wie in der wissenschaftlichen Praxis einer „ökonomischen Rationalität“ (Franck 1998: 39). Insofern unterliegen die Bewerbung, Verbreitung und Verarbeitung von buchförmigen Medienangeboten und die Plausibilisierung von wissenschaftlichen Theorieangeboten aufmerksamkeitsökonomisch ähnlichen Voraussetzungen.

316 

 V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung

2 Schulen und Universitäten Um das schwer zu überblickende Forschungsfeld der Bildungsmedien zu systematisieren, die im und für den Schulunterricht in gedruckten, digitalen und hybriden Formaten zum Einsatz kommen, unterscheidet die Fachdidaktik mehrere Kategorien. Speziell für die im Deutschunterricht an weiterführenden Schulen genutzten Bildungsmedien hat Radvan (2018: 60) einen deskriptiven Kriterienkatalog vorgelegt und differenziert zwischen Entstehung (das heißt Anwendungsorientierung), Adressierung, Einsatzort, Individualisierung, Veröffentlichungskontext, Medialität, Materialität, stabiler und flüchtiger Präsenz, Kommerzialität und Zulassung. Das Spektrum der Lehr- und Lernmittel, die für den Literatur- bzw. Deutschunterricht sowie für den Gebrauch inner- und außerhalb der Schule entwickelt werden, ist freilich immens. Studien zu den Begleitprodukten und -materialien von Schulbüchern, wie z.  B. Lernvideos, Kopiervorlagen oder Übungshefte, gelten dabei als wichtiges Desiderat (Radvan 2018: 67–68). Die von der Fachdidaktik untersuchten Verlagsangebote richten sich an die Lernenden und Lehrenden gleichermaßen. Dieser Forschungsbereich ergänzt die schon seit längerem geführte rezeptionsorientierte Debatte über das literarische Verstehen, die sich zwischen eher induktiven, kompetenzbezogenen und deduktiven, semiotischen Modellierungen aufspannt (Boelmann 2018). An dieser Stelle sei lediglich auf drei produktions- und handlungsorientierte Textsorten verwiesen, die aus Sicht der Linguistik prinzipiell als „Konstitutionsformen von Wissen“ (Antos 1997: 43) verstanden und nach pragmatischen situativen und funktionalen Gesichtspunkten klassifiziert werden (Heinemann 2000). An Textsorten lassen sich schulische Vermittlungspraktiken erkennen, die von der Fachdidaktik verstärkt nach formalen Kriterien (Aufbau, Methodik, Verwendungszweck, Schüler*innenorientierung etc.) erfasst werden: Zum Ersten sind dies jahrgangsund themenspezifische Lernhilfen für Schüler*innen im Bereich Literatur, die etwa Epochen- und Gattungswissen aufbereiten und insbesondere vor dem theoretischen Hintergrund des selbstgesteuerten und entdeckenden Lernens erschlossen werden. Dabei rückt „die Transformation deklarativen Wissens in prozedurales Wissen“ in den Blick, womit die Konstruktivität und Normativität des literaturhistorischen und fachwissenschaftlichen Forschungsstands freigelegt werden soll (Frickel 2019: 105). Häufig offenbart sich hier eine fachdidaktische Abhängigkeit von der fachwissenschaftlichen Dominanz, weil viele Lernhilfen eine hohe Fremdsteuerung durch tradierte, unhinterfragte Wissensbestände aufweisen und den Lernenden insoweit nur eine geringe Selbststeuerung ermöglichen. Zum Zweiten werden Unterrichtshilfen für Lehrkräfte als pädagogische Unterstützungsangebote beschrieben, die die schulischen Lehr-Lern-Prozesse erleichtern und den Planungsaufwand für den Literaturunterricht vor allem zu Gattungen, Epochen oder einzelnen kanonischen Texten reduzieren sollen. Historische Vorläu-

2 Schulen und Universitäten 

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fer wie Reclams Buchreihe der Lehrpraktischen Analysen (ab 1954) oder die bei Klett entwickelten Stundenblätter (ab 1978) sind der Fachdidaktik durchaus bekannt, wären aber in ihren verlags- und buchgeschichtlichen Bedingungen sowie in ihrer Vernetzung mit den entsprechend verlegten Schulausgaben der Primärtexte auch interdisziplinär zu erforschen (von Brand 2019). Zum Dritten bilden Interpretationen oder Lektüreschlüssel für den akademischen oder schulischen Gebrauch eine eigene Textsorte, die auf historisch gewachsenen, philologisch-hermeneutischen Praktiken des Verstehens und Deutens von Medienangeboten beruhen. Standke (2019: 310) definiert Interpretationen demgemäß als „adressatenorientiert-didaktisierte, schriftlich bzw. audiovisuell fixierte Darstellungen“, die sich sowohl an Lernende richten als auch von Lehrkräften zur Unterrichtsvorbereitung genutzt werden können. Eine genauere Beschreibung der historischpraxeologischen Entwicklung – man denke an Reclams Lesestoffe im Unterricht (ab 1954) oder die Oldenbourg Interpretationen (ab 1960) – steht auch hier noch aus. In produktiver Überschneidung mit literatur- und buchwissenschaftlichen Fragestellungen befinden sich zudem neuere editionsphilologische und lesedidaktische Ansätze der Schulbuchforschung. Hierbei unterscheidet Radvan (2014) idealtypisch zwischen dem ‚Lesen‘ als einem kognitiven Vorgang und dem ‚Benutzen‘ als einer Umgangsweise mit dem Buch. Analog hierzu beruht das Lesen auf dem Handlungsmuster der vollständigen Konsumption eines Textes, wohingegen das Benutzen die selektive, nichtlineare Konsultation der edierten Ausgabe meint. Für die im Deutschunterricht oder im „Aktionsraum Schule“ (Radvan 2014: 34) verwendeten Ausgaben folgen daraus sowohl typografische und buchmaterielle als auch peri- und metatextuelle Inszenierungsstrategien, die mit der Paratexttheorie von Genette (2001 [1987]) beschreibbar sind. Mit Paratexten sind grundsätzlich alle verbalen und non-verbalen Produkte gemeint, die zum Text hinzukommen, also etwa Vorworte, Widmungen, Illustrationen, Mottos und Anmerkungen, aber auch der Autorname, die Titelei oder die öffentlichen und privaten Epitexte wie Interviews, Verlagswerbung, Briefwechsel und Tagebücher. Zugleich konvergieren in den Textausgaben die „kulturellen Praktiken des Edierens und des Unterrichtens“ (Radvan 2014: 36), mit denen sich die schulisch institutionalisierte Literaturvermittlung maßgeblich vollzieht. Demgegenüber ist die fachwissenschaftliche Literaturvermittlung an Universitäten institutionell und organisatorisch, aber auch theoriegeschichtlich von den Studiengängen für das Lehramt und für die Translationswissenschaft (Pöckl 2008) bzw. das literarische Übersetzen zu trennen (Neuhaus 2009: 235). Das literatur- und kulturtheoretische Spektrum zur Analyse von Texten, Medienangeboten und kommunikativen Bedingungen ist freilich breit gefächert (Kimmich et al. 1996). Komplementär zu den Überlegungen der fach- und lesedidaktischen Editionsphilologie soll hier lediglich die literaturwissenschaftlich ausgerichtete Textsorten-

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 V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung

theorie aufgerufen werden. Literaturvermittlung findet dabei nicht nur in der universitären Forschung und Lehre, sondern auch mit Blick auf Prozesse eines außeruniversitären, populären Wissenstransfers statt (Huter 2011: 53). Die wissenssoziologischen Grundlagen dieser Einteilung gehen vor allem auf Ludwik Flecks Konzept des Denkstils und Denkkollektivs zurück. Demnach grenzt sich die Populärwissenschaft für „Nichtfachleute“ von der Fachwissenschaft mit ihren spezifischen Publikationsformen (Zeitschrift, Handbuch, Lehrbuch) ab, indem sie auf eine vereinfachte, „künstlerisch angenehme, lebendige, anschauliche Ausführung“ setzt und somit aus dem esoterischen ein exoterisches Wissen formt (Fleck 1980 [1935]: 149). In historischer Dimension beruhen solche modernetypischen Verfahren des Popularisierens seit dem 19. Jahrhundert auf rhetorisch tradierten Techniken der Evidenzerzeugung und tragen schließlich zur Herausbildung des Sachbuchs bei (Meierhofer 2019). Eine soziale Inszenierungsform, die institutionell an die Universität gekoppelt ist und deren Konjunktur seit einigen Jahren zunehmend erforscht wird, betrifft die Autor*innen selbst, sobald sie in Poetikvorlesungen oder über Poetikdozenturen als ‚gelehrte Dichter*innen‘, als ‚poetae docti‘ lehren (Bohley 2011). Die längste Tradition haben die Frankfurter Poetik-Vorlesungen, die 1959/60 mit Ingeborg Bachmann und in einem bewusst offenen Praxisgespräch begannen. Die Veranstaltungsformate von Poetikdozenturen können sich sowohl an die akademische als auch an eine breitere Öffentlichkeit richten und liegen an der Schnittstelle von Literaturwissenschaft und Literaturbetrieb. In jedem Fall folgen die Dozenturen einer ökonomisch versierten „Strategie in der Selbstkonstruktion eines Autor-Subjekts“ (Hachmann 2014: 139). Diese Markenbildung, die sich auch mit Stephen Greenblatts Begriff des ‚self-fashioning‘ fassen lässt, wird oft mithilfe einer literatursoziologisch und praxeologisch informierten Autorschaftstheorie erforscht. Das ‚self-fashioning‘ bildet ein modernetypisches „Paradigma für die Strategien und Paradoxien künstlerischer Selbstvergewisserung“ (Marx 2002: 107), das mit den Poetikdozenturen im Schnittfeld von Literatur- und Wissenschaftsbetrieb entsteht. Ein Effekt hiervon ist die Fülle von anlassbezogenen Selbstaussagen und poetologischer Prosa, die aus den Veranstaltungen der Dozenturen hervorgeht und nicht selten auf die wissenschaftlichen Analyse- und Deutungspraktiken zurückwirkt.

3 Kulturinstitute, Literaturhäuser und literarische Gesellschaften In der Vielzahl der literaturvermittelnden Kulturinstitutionen gehört das GoetheInstitut zu den prominenten und international bekannten. Es ist die personell größte Mittlerorganisation der deutschen Bildungspolitik im Ausland. Die lange

3 Kulturinstitute, Literaturhäuser und literarische Gesellschaften 

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Gründungsgeschichte des Goethe-Instituts, das als gemeinnütziger Verein in der Tradition der Deutschen Akademie (1923–1945) steht und ab 1951 daraus hervorgeht, ist trotz der kriegsbedingten Verluste an Quellen mittlerweile gut dokumentiert. Vor allem Michels (2005) und Kathe (2005) knüpfen mit ihren Studien an organisationsgeschichtliche Ansätze an und untersuchen die Goethe-Institute in einem erweiterten kulturpolitischen, diplomatiegeschichtlichen und akteursbezogenen Rahmen zwischen Kaiserreich und bundesrepublikanischer Nachkriegszeit. Neben der Förderung der deutschen Sprache im Ausland über Kurs-, Residenz- und Stipendienprogramme und diversen Veranstaltungsformaten sowie der Fortbildung von Deutschlehrer*innen, die über eine eigene Theorie- und Methodendiskussion im Bereich Deutsch als Fremdsprache (DaF) verfügt, zählen auch Übersetzungen deutscher Bücher in eine Fremdsprache zu den Arbeitsschwerpunkten. Das Spektrum der letzten Jahre umfasst nahezu alle Gattungen und Textsorten: Belletristik, Lyrik, Theatertexte, Graphic Novels ebenso wie Kinder- und Jugendbücher, wissenschaftliche Publikationen, Sachbücher und Essays. Sofern eine übersetzungstheoretische Beschäftigung mit solchen Titeln überhaupt erfolgt, wird sie losgelöst von den dahinterliegenden institutionellen Förderstrukturen vollzogen. Das liegt offenbar auch an der disziplinären „Trennung zwischen der präskriptiven, auf objektivierbare Ergebnisse zielenden Übersetzungswissenschaft, die in der Übersetzungsausbildung dominiert, und der historisch-deskriptiven Übersetzungsforschung“, die zunehmend in der interkulturellen Literaturwissenschaft betrieben wird (Kopetzki 2003: 724). Die theoretische Einbeziehung der geldgebenden Förderinstitution und ihrer Auswahlkriterien hat dabei noch keinen erkennbar systematischen Ort gefunden. Zu den sichtbarsten und durch ihre Auszeichnungen wie den Georg-BüchnerPreis wirkungsmächtigsten Institutionen ist die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung zu rechnen. Die von ihr verantworteten Publikationen (Jahrbücher, Lyrikanthologien, Werkausgaben u.  a.), Tagungen und Ausstellungen sind Ausweis unterschiedlicher Vermittlungspraktiken. Deren theoretische und analytische Erschließung findet allerdings – und ähnlich wie bei den Goethe-Instituten – nicht systematisch, sondern nur für einzelne Bereiche wie der Vergabe von Literaturpreisen statt. Netzwerktheoretische und praxeologisch orientierte Ansätze (Belliger und Krieger 2006), die im Anschluss an Michael Callon und Bruno Latour mittlerweile etwa für die europäischen Sprachgesellschaften der Frühen Neuzeit und der Aufklärung berücksichtigt werden, wären jedoch für eine genauere Untersuchung auch der gegenwärtigen institutionellen Strukturen verfügbar. Die durchaus radikale Annahme der Akteur-Netzwerk-Theorie besteht in einem „generalisierten Akteursbegriff“ (Kneer 2009: 21), also darin, „dass es zwischen Personen auf der einen Seite und Objekten auf der anderen keinen Wesensunterschied gibt“ und dass sich Netzwerke dementsprechend aus heterogenen, auch nichtmenschlichen Materialien oder Objekten konstituieren (Law 2006: 434). Für die Analyse der Literatur-

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 V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung

und Kulturinstitutionen, ihrer Vermittlungs- und Valorisierungspraktiken sowie ihrer öffentlichkeitswirksamen Publikationen böte dieser Ansatz eine erweiterte Beschreibungsmöglichkeit gegenüber personen- oder autor*innenzentrierten Perspektiven. Derselbe Befund lässt sich für die seit den 1980er Jahren aufkommenden Literaturhäuser stellen. Anders als die – musealisierten und meist männlich konnotierten  – Dichterhäuser (Dücker 2011), denen wie bei Goethes Weimarer Wohnhaus immer noch eine oftmals unkritische „Aura des Ortes“ (Plachta 2008: 128) zugeschrieben und deren räumliches Setting bisweilen mit der Qualität der literarischen Produktion in Verbindung gebracht wird, fungieren Literaturhäuser weitaus weniger als Gedenk- denn als Begegnungsstätte für Akteur*innen des aktuellen Literaturbetriebs und als urbane Zentren für die Vermittlung von Gegenwartsliteratur. Die theoretische Bestimmung der Dichterhäuser verläuft demgegenüber recht klar über kulturgeschichtliche Konzepte des Erinnerns (Kahl 2015) bzw. über Pierre Noras (2005) Begriffe des Gedenkens (commémoration) und des Erinnerungsortes (lieu de mémoire), der zur kollektiven und nationalen Identitätsstiftung beiträgt. Funktional ergänzt werden die Literaturhäuser von den Literaturbüros, die auch für ganze Regionen oder Bundesländer zuständig sein können; so etwa in Nordrhein-Westfalen, wo 1980 das erste deutschsprachige Büro gegründet wurde. Die oft nichtkommerziellen Angebote sind divers, richten sich an unterschiedliche Publika und umfassen etwa Ausstellungen, Lesungen, Lesereisen oder Schreibworkshops. Ebenso vielfältig sind die „Rechtsformen, Trägerschaften und Finanzierungen der Programmarbeit“, wobei die „Zusammenarbeit mit Sponsoren“ zunehmend wichtig ist (Böhm 2010b: 229). Häufig verwiesen wird auf das ‚Netzwerk der Literaturhäuser‘, das seit 2008 als eingetragener Verein besteht und sich derzeit aus 15 Einrichtungen im deutschsprachigen Raum zusammensetzt (literaturhaus.net; Plachta 2008: 143; Neuhaus 2009: 244). Jenseits der programmatischen Selbstaussagen der Akteur*innen, die eine Balance zwischen literarischer Qualität und öffentlicher Popularität suchen (Moritz 2009 [1971]), und der lokal selektiv beobachtbaren Praktiken sind Literaturwissenschaft und Literatursoziologie kaum über einen deskriptiven Zugang hinausgekommen. Im Auftrag des Netzwerks ist eine empirische Studie zur Literaturvermittlung in den fünf neuen Bundesländern zu Beginn des 21. Jahrhunderts entstanden, die ihren Gegenstand über die ‚ästhetische Praxis‘ und das ‚literarische Feld‘ erschließt und zumindest implizit auf einem literatursoziologischen Ansatz nach Bourdieu aufbaut. Zudem wird den untersuchten Literaturhäusern der 2000er Jahre kein kultur- und medientheoretisch avanciertes, sondern lediglich „ein traditionelles und konventionelles Literaturverständnis“ attestiert (Porombka und Splittgerber 2010: 98). Eine zweite, als kommunikationsund informationswissenschaftlich ausgewiesene Bestandsaufnahme der deutschsprachigen Literaturhäuser hat Juchem (2013) vorgelegt und dabei vorwiegend

4 Literaturfestivals, Lesungen und Ausstellungen 

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formale Aspekte (u.  a. Mitglieder- und Besucherzahlen, Veranstaltungsinhalte, Kooperationen) über Interviews zusammengetragen. Ihre institutionelle Heterogenität erschwert auch eine systematische Untersuchung der literarischen Gesellschaften. Bisherige Darstellungen fokussieren sich vorzugsweise auf programmatische und formale Beschreibungen von einzelnen Autorengesellschaften, die sich dem Leben und Werk ihrer zumeist männlichen Namenspatrone widmen (Kussin 2009 [1971]; Wülfing et al. 1998). Weitere pragmatische Unterscheidungskriterien sind – neben der Größe, Zusammensetzung und Motivation der Mitglieder zwischen begeisterter Liebhaberei und philologischer Expertise, „literarischem Enthusiasmus und politischer Symbolik“ (Müller 2007: 10)  – die eher literaturvermittelnden oder literaturwissenschaftlichen Arbeitsschwerpunkte sowie der regionale, nationale oder internationale Wirkungsradius (Solms 1995). Eine umfassende Neuerschließung, für die auch in diesem Fall die Akteur-Netzwerk-Theorie nach Latour oder ein praxeologischer Blick auf „die globalisierte Virtualität literarischer Gesellschaften“ (Süselbeck 2019: 137) hilfreich sein könnten, hat noch nicht begonnen.

4 Literaturfestivals, Lesungen und Ausstellungen Die soziologischen Begriffe der „Erlebnisgesellschaft“ und der „Erlebnisorientierung“ (Schulze 2005: 15) haben seit den 1990er Jahren kulturwissenschaftliche „Perspektiven einer Theorie populärer Events“ (Hepp et al. 2010: 7) ermöglicht. Mit dieser Theoriebildung lassen sich unterschiedliche Veranstaltungstypen wie Autorenlesungen, Literaturfestivals, Poetry Slams, Ausstellungen oder Buchmessen (siehe V.3 Verbände, Vereine und Organisationen des Buchhandels in diesem Band) – auch jenseits der ursprünglich vielgenannten Spaßgesellschaft – in ihren sozialen Praktiken bestimmen. Die im Feuilleton mitunter abgewertete literarische Event- und kommerzialisierte Unterhaltungskultur wird von der Forschung eher als produktive Bereicherung angesehen und innerhalb eines institutionellen Ausdifferenzierungsprozesses verortet, der die (vermeintliche) Hochkultur mit einbegreift. Das alte Trennschema von Kunst und Konsum gilt als unterkomplex und nicht mehr hinreichend beschreibungsfähig. Gleichwohl erschwert diese „gesetzlose Gesetzmäßigkeit“ (Porombka 2003: 137) von Events, ökonomischen Notwendigkeiten des Marketings und tradierten Erwartungen an Kulturveranstaltungen eine verbindliche theoretische Einordnung. Mitunter verbleibt der methodische Zugriff auf einem deskriptiven oder historisierenden Niveau, wenngleich die Entstehung und Entwicklung der von Berlin aus verbreiteten Lesebühnen, der zuerst 1986 in Chicago aufkommenden Poetry Slams (Dannecker 2012: 169) oder der diversen Literaturfestivals – vom Erlanger Poetenfest (seit 1981) über die lit.COLOGNE (seit

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 V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung

2001) bis hin zu neuesten Formaten wie Insert Female Artist (seit 2019) – durchaus detailliert und faktenbasiert nachgezeichnet werden (Ditschke 2009 [1971]). Bei alldem gelten Events als Alltagsunterbrecher, die je eigene Routinen besitzen und Images aufbauen, ihren Teilnehmer*innen kulturelle Sinn- und Deutungsofferten unterbreiten und oftmals das Versprechen abgeben, ein einmaliges gemeinschaftliches Erlebnis zu bieten. Die Eventforschung hat dabei nach einer systematischen Abgrenzung zu rituellen, nationalen oder religiösen Festen gesucht und deren gesellschaftliche Funktionen unter anderem als „wiederkehrend“, „vorgeplant“, „feierlich“ und „harmonisierend“ bestimmt (Hepp et al. 2010: 13). Allerdings lässt sich kaum bestreiten, dass diese Funktionsmerkmale auch bei literarischen oder anderen Events auftreten können, weshalb die gesellschaftliche Reichweite und Dominanz von rituellen Festen hier als deutlichstes Unterscheidungskriterium anzusehen ist. Jenseits dieser basalen Annahmen der Eventtheorie passt sich die theoretische Beschreibung den jeweiligen Veranstaltungstypen als ihren Gegenständen an. So wird bei Literaturfestivals, die im deutschsprachigen Raum vor allem in den 1990er Jahren gegründet werden und insofern zeitlich mit der Debatte um die Erlebnisgesellschaft zusammenfallen, eine „Tendenz zum publikumswirksamen Spektakel“ bemerkt, das in der regelmäßigen Wiederholung des Events zur „Serialisierung des Einmaligen“ führt und Erwartungen nach immer größeren Aufmerksamkeitspotentialen und exklusiveren Angeboten weckt (Wegmann 2010: 224). Literaturfestivals dienen den Besucher*innen demnach auch als soziale Kompensations- und Entlastungsangebote gegenüber einer nicht zu bewältigenden Zahl an jährlichen Neuerscheinungen. Dieser Entlastung von einer stets zu geringen Lesezeit steht jedoch die Notwendigkeit gegenüber, aus der Menge von Einzelveranstaltungen (Lesungen, Vorträge, Diskussionen, Workshops, Tanz etc.) eines Literaturfestivals erneut auswählen zu müssen. Der Selektionsdruck des Publikums verschiebt sich von der Buchauswahl zur individuellen Eventgestaltung. Darüber hinaus und ergänzend zur soziologischen Eventforschung wäre eine Metaperspektive zu entwickeln, die die programmatische, häufig von den Akteur*innen selbst theoretisch unterlegte und durchaus wissenschaftsorientierte Konzeption von Literaturfestivals und deren praktische Umsetzung beleuchtet. Ein ganz anderes theoretisches Inventar steht für die Lesung bereit, sofern sie nicht nur als Event verstanden wird und weil sie als Form des mündlichen Vortrags zuallererst von den Prämissen der antiken Rhetorik abhängt. Nichtsdestoweniger galt eine historische und systematische Erschließung der Lesung, ihrer produktions- und rezeptionsästhetischen Maßstäbe oder ihrer intermedialen, performativen und inszenatorischen Ausrichtung zwischen Oralität und Schrift lange als Desiderat (Böhm 2010a: 203–204). Neuere Studien versuchen, hier Abhilfe zu schaffen, und schlagen eine Klassifikation von öffentlichen, halböffentlichen und privaten

4 Literaturfestivals, Lesungen und Ausstellungen 

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Lesungen vor, auch im historischen Bewusstsein über „die langsame Herausbildung eines anonymen literarischen Publikums“ und der Selbstvermarktung von Autor*innen seit dem 18. Jahrhundert (Rühr 2015: 855). Aus Sicht der Rezeptionsund Leseforschung rücken – besonders in Anlehnung an die Arbeiten von Erving Goffman zur Rahmenanalyse, von Erika Fischer-Lichte zu Aufführungspraktiken und von Marshall McLuhan zur Mediengeschichte – die Theatralität, Interaktivität und Performanz von Lesungen auf einem Podium, im Bühnen- und Zuschauerraum und als analoge oder digitale Aufzeichnung und Übertragung in den Fokus. Der soziale Rahmen einer Lesung, der sich mit Goffman analog zu Theateraufführungen, Filmvorführungen oder Interviews konzeptualisieren ließe, potenziert gewissermaßen den ‚primären Rahmen‘ alltäglicher Handlungszusammenhänge, weil er ein schematisiertes, regelgeleitetes Rollenverhalten sowie vorgeprägte Erwartungshaltungen des Publikums und der Autor*innen voraussetzt und durch „konventionelle Grenzzeichen“ zeiträumlich markiert (Goffman 1977 [1974]: 278). Dabei ist die „leibliche Ko-Präsenz“ im Zuschauerraum gemeinschaftsstiftend und sorgt für eine „sich permanent verändernde […] feedback-Schleife“, die den Ablauf des jeweiligen Vorleseereignisses und ähnlich wie im Theater zu einem gewissen Grad unvorhersehbar macht (Fischer-Lichte 2004: 58–59). Aus literatur- und texttheoretischer Sicht dagegen sind Lesungen als zeitlich nachgeordnete Veranstaltungen und als paratextuelles ‚Beiwerk‘ zur Buchpublikation zu begreifen (Genette 2001 [1987]). Sie geben den Autor*innen einerseits Gelegenheit zur rhetorischen Deklamation und prägen andererseits eine sekundäre Oralität, eine an Derridas Phonozentrismus metaphysisch orientierte „Reoralisierung der Schriftsprache“ aus (Maye 2020: 312). Die konkreten Praktiken des ‚selffashioning‘ von Autor*innen ziehen allerdings die Konzentration des Publikums vom Buch ab, wie von Düffel (2003: 51) pointiert feststellt: „Die Frage nach dem Autobiographischen stellt sich auf Lesungen so direkt, weil die Differenz zwischen Autor und Erzähler beim Vorlesen verschwindet.“ Dementsprechend unvereinbar erscheinen texttheoretische, poststrukturalistische Positionen, die das Autorsubjekt marginalisieren, und rezeptionsästhetische, aufführungspraktische Ansätze, die einen weitaus stärkeren Akteursbezug herstellen. Entscheidend für die Praktiken des Literaturvermittelns ist ihre institutionelle Anbindung. Neben den Lesungen betrifft das auch Ausstellungen, die an diversen Orten, in Museen, Bibliotheken, Archiven, Universitäten, Literatur- oder Dichterhäusern stattfinden können. Wichtiges Kennzeichen von Ausstellungen und ihrer programmatischen Ausrichtung ist ein häufig konkreter Autor-, Themen- und Anlassbezug, wie etwa ein historisches Verzeichnis für die BRD und DDR belegt (Ebeling und Lohrer 1991). Noch deutlicher als bei der Lesung werden in der theoretischen Beschäftigung mit Ausstellungen zentrale Konzepte von Autorschaft, Werk, Kanon, Wissen, Materialität, Originalität, Aura, Dingkultur oder Raum problema-

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 V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung

tisiert, die nicht immer konfliktfrei zur außerakademischen, oft personen- oder themenzentrierten Rezeption stehen (Bohnenkamp und Vandenrath 2011). Auch der „intime Akt des Lesens“ (Hochkirchen und Kollar 2015: 11), die gleichsam kontemplative Versenkung „in stiller Zurückgezogenheit und konzentrierter Betrachtung“ steht den eigenlogischen kultursemiotischen Praktiken des Ausstellens, Zeigens und Veranschaulichens diametral entgegen, so dass ein museumspädagogischer Ausweg schon vor Jahrzehnten in der „Ensemblebildung“ von passenden Exponaten aus der literaturhistorischen oder „schriftstellerische[n] Umwelt“ gesucht wurde (Beyrer 1991: 235–236). Die daraus resultierende Unterhaltsamkeit des Lern- und Erkenntnisangebots, bei dem nicht nur Bücher oder Manuskripte in Vitrinen zu sehen und Kataloge zu kaufen sind, sondern bei dem ein zielgruppenspezifisches multimediales Ereignis inszeniert und individuell erlebbar wird, rückt auch die Ausstellungsforschung in die Nähe zur Eventtheorie.

5 Literatur- und Buchpreise Neben Arbeits- und Aufenthaltsstipendien sind Preise ein zentraler Bestandteil der Autor*innenförderung (Hagestedt 2007: 303). Der kleinteiligen deutschen Organisation und Vergabe der circa tausend Literatur- und Buchpreise (Borghardt et al. 2020: 9–10) stehen im internationalen Vergleich vor allem „meinungsbildende Literaturpreise“ (Vandenrath 2010: 238) gegenüber, etwa in Frankreich der Prix Goncourt (seit 1903), in England der Booker Prize (seit 1968) oder in den USA der National Book Award (seit 1950) und der Pulitzerpreis (seit 1948). Unabhängig von der Anzahl und medialen Präsenz der Preise stellen Fragen nach einer genaueren Konturierung des Literaturpreis-Begriffs wie auch nach der jeweils adressierten Öffentlichkeit eine große Herausforderung dar (Dahnke 2009 [1971]). Ohnehin hat sich die theoretische Auseinandersetzung mit den Praktiken des Preisvergebens erst in den letzten Jahren intensiviert, nachdem frühere Arbeiten vor allem um eine historische Bestandsaufnahme seit dem 19. Jahrhundert oder um Fallstudien zu einzelnen Preisen bekümmert waren (Fohrbeck und Wiesand 1978; Dambacher 1996; Moser 2012). Einhellig festgehalten wird dabei nur, dass sich auf allen Kommunikationsebenen eben keine homogenen Beobachtungen machen lassen. Während eine Konzeption der spezifischen Öffentlichkeit und der Wirkung von Literaturpreisen noch nicht vorliegt und das Problem häufig mit übergeordneten Begriffen wie dem Publikum, der Buchbranche oder dem Literaturbetrieb umgangen wird, lassen sich analog dazu auch keine einheitlichen Auszeichnungsgegenstände bemerken. Was prämiert wird – Personen, Gattungen, Institutionen, Themen, Novitäten, Einzel-, Gesamt- oder Lebenswerke –, ist ebenso uneinheitlich wie die Gruppe derjenigen, die davon als potenzielle Leser*innen Kenntnis nehmen sollen.

5 Literatur- und Buchpreise 

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Für eine theoretische Grundierung der Vergabe- und Auszeichnungspraktiken wird insbesondere auf drei unterschiedliche Ansätze zurückgegriffen: Pierre Bourdieus Feldtheorie, Marcel Mauss’ Gabentausch sowie Überlegungen zur literarischen Wertung, die unter anderem von Simone Winko und Renate von Heydebrand angestrengt wurden. Ein erster Ausgangspunkt ist Bourdieus (1999 [1992]: 227) Vorstellung von einem „Markt der symbolischen Güter“, auf dem die Abhängigkeiten des literarischen Feldes vom ökonomischen und politischen Feld mit ihren je unterschiedlichen, auch sich widersprechenden Logiken sichtbar werden. Der neukantianisch gedachten interesselosen, autonomen und geradezu antiökonomischen Kunst steht eine wirtschaftliche und kommerzialisierte Produktion gegenüber, die vorzugsweise auf marktförmige Nachfrageimpulse ausgerichtet ist. Demnach verfügen künstlerische, verlegerische und überhaupt mediale Angebote über einen Warencharakter, der durch die Vergabe von Literaturpreisen zusätzliche symbolische Anerkennung und kommunikative Aufmerksamkeit erfahren kann. Zu den paradoxen Entstehungsbedingungen eines eigenständigen Kunstfeldes zählt Bourdieu die zunehmende „Diversität des Publikums“ (1999: 397) seit dem 19. Jahrhundert, die im Umkehrschluss eine „Akkumulation symbolischen Kapitals“ für das jeweilige Kunstprodukt und die sich daran knüpfenden „Verbraucherpraktiken“ notwendig macht (1999: 405). Bourdieus Feldtheorie ist – unter Vernachlässigung oder in kritischer Wahrnehmung der für Frankreich bemerkten sozialen Klassen, Herrschafts- und Machtstrukturen – vor allem wegen ihrer akteurs- und praxiszentrierten Perspektive und der Berücksichtigung symbolischer Zugewinne und Verluste attraktiv für die Beschreibung von kulturellen Auszeichnungsvorgängen im Allgemeinen und von Literaturpreisen im Besonderen. Bourdieu (1999 [1992]: 464) bezieht ausdrücklich „alle Produzenten als künstlerisch geltender Werke“ mit ein, wozu auch professionelle und nichtprofessionelle Literaturkritiker*innen oder Mitglieder von Preisjurys zählen. Ein zweites Theorieangebot wird aus Mauss’ Untersuchungen zum Gabentausch und Vertragswesen archaischer Gesellschaften bezogen. In seiner sozialund nationalökonomischen Schlussfolgerung stellt er die Gabe oder das Geschenk nicht als uneigennützige und selbstlose Handlung dar. Im Gegenteil ist an jede Gabe die Erwartung einer Erwiderung geknüpft. Das dient dazu, „um ein nutzbringendes Bündnis aufrechtzuerhalten“ (Mauss 1968 [1950]: 168), das im Fall der Literaturpreise das interessengeleitete Bündnis von ausgezeichneten Autor*innen, auszeichnenden Vermittler*innen und anerkennenden Leser*innen beschreibt. Eine Verbindung zwischen Gabentausch und Feldtheorie ziehen Dücker und Neumann (2005: 15), indem sie Preisverleihungen mit Mauss als „ritualisierte Anerkennungsund Ehrungshandlungen“ und mit Bourdieu als Konsekrationsereignisse verstehen, die wiederum einem festen Ablaufschema folgen. Unterscheiden lassen sich soziale, repräsentative und kulturpolitische Funktionen. Markant in diesem Zusammen-

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 V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung

hang ist, dass bei jeder Ehrungshandlung die preisverleihende Institution auf sich selbst rekurriert und nicht nur eine Person auszeichnet, sondern ebenso die „eigene Wertorientierung“ (Dücker und Neumann 2005: 18) nach außen hin bestätigt. Der symbolische Geltungsanspruch einer Preisvergabe richtet sich also an die jeweiligen Autor*innen und an die Institution selbst, die dadurch die Möglichkeiten ihrer „Gegenwartsgestaltung“ (Dücker und Neumann 2005: 18) im literarischen Feld aufzeigt und legitimiert. Eine dritte Perspektive eröffnet das Konzept der literarischen Wertung, bei dem von Heydebrand und Winko in pragmatischer Anlehnung an Niklas Luhmann und im Sinne der Empirischen Literaturwissenschaft von einem Sozialsystem Literatur ausgehen, ohne dabei auf einen akteurszentrierten Zuschnitt zu verzichten. Dementsprechend markiert der Wertungsbegriff „eine Handlung, in der ein Subjekt in einer konkreten Situation aufgrund von Wertmaßstäben (axiologischen Werten) und bestimmten Zuordnungsvoraussetzungen einem Objekt Werteigenschaften (attributive Werte) zuschreibt“ (von Heydebrand und Winko 1996: 39). Diese Zuschreibung kann verbal oder nonverbal erfolgen und besteht im Fall der Literaturpreise aus einer Gemengelage von gemeinschaftlichen, körperlichen, medialen, sprachlich intendierten und anlassbezogenen Handlungen. Die Begründung einer Preisvergabe lässt sich anhand der axiologischen Werte typologisieren. Hierzu gehören einerseits formale, inhaltliche und relationale Werte wie die Stimmigkeit, das kulturkritische Potential oder die Originalität eines Textes. Andererseits werden wirkungsbezogene Werte berücksichtigt, die etwa kognitiv, lebenspraktisch, affektiv, ökonomisch oder symbolisch ausgeprägt sein können (von Heydebrand und Winko 1996: 114–115). Die so identifizierbaren Valorisierungspraktiken beziehen sich jedoch meist auf die institutionelle Produktion und Zuweisung von Werten und auf deren individuelle Annahme der Autor*innen. Hierbei machen Laudationes und Dankesreden mittlerweile eine eigene Textmenge aus, die – analog zu den Selbstaussagen der Poetikdozenturen und Poetikvorlesungen – für literaturwissenschaftliche Analysen herangezogen wird. Weitgehend unbestimmt bleibt dagegen die rezeptionsund wirkungsgeschichtliche Dimension von Literaturpreisen. Inwieweit sich eine Auszeichnung auf das Prestige der geehrten Person oder auf konkrete Verkaufszahlen auswirkt, lässt sich nur schwer ausmessen und ist am ehesten im Fall des Literaturnobelpreises festzustellen (Vandenrath 2010: 239).

6 Desiderate Die zunächst soziologischen und dann praxeologischen Weitungen der Literaturwissenschaft haben zu einer verstärkten Reflexion nicht nur des methodischen und terminologischen Regelwissens, sondern auch des impliziten Anwendungswissens

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und vielerlei disziplinenspezifischer Verhaltensroutinen als eines ‚tacit knowledge‘ geführt (Martus und Spoerhase 2009). Die Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung sind vor diesem Hintergrund als ein Praxisfeld zwischen Literatur- und Wissenschaftsbetrieb konturiert, in dem sich beide Seiten eine erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit für das eigene Tun erhoffen. Die oberflächlichen Effekte sind allerorten sichtbar: Poetikdozenturen, Vorlesungsreihen, Lesungen, Kolloquien, Labor- und Praxisgespräche mit Autor*innen von Gegenwartsliteratur oder Akteur*innen aus dem ‚Betrieb‘ sind fester Bestandteil zahlreicher germanistischer oder literaturwissenschaftlicher Studiengänge. Sie setzen damit nicht selten bekannte Literaturtraditionen fort und knüpfen an erwartbares Kanonwissen an. Die fachgeschichtlichen und hochschulpolitischen Konsequenzen dieser praxisund berufsbezogenen Anwendungsszenarien  – zumal in der kaum beachteten Konkurrenz der Hochschulgermanistik zu Angeboten der Fachhochschulen und der ‚applied media studies‘ – zu beschreiben wäre eine fortlaufende Aufgabe ebenjener Praxeologie der Literaturwissenschaft. Für eine systematische Untersuchung von institutionellen und akteursbezogenen wie auch von textuellen und literarischen Praktiken des Vermittelns wäre in jedem Fall ein Abgleich mit den Forschungen zu den Kulturen des Populären und der Unterhaltung, zur Wissenschaftspopularisierung seit dem 19. Jahrhundert und zu rhetorischen und medialen Verfahren der Evidenz sicher produktiv. Damit ergäbe sich nicht zuletzt eine genauere Einschätzung jener Selektionskriterien, Qualitätsmaßstäbe und Kanonisierungsannahmen, die zum oftmals unbeobachteten Anwendungswissen von Literaturvermittlung gehören. Das betrifft beispielsweise das Verhältnis von professioneller Literaturkritik zur dilettantischen Buchempfehlung in den sogenannten alten und neuen Medien. Um derlei Phänomene und Praktiken des Vermittelns angemessen erfassen zu können, bedarf es jedoch eines intensiveren Austauschs der an der Buchforschung beteiligten Fächer.

Literatur Antos, Gerd. „Texte als Konstitutionsformen von Wissen: Thesen zu einer evolutionstheoretischen Begründung der Textlinguistik.“ Die Zukunft der Textlinguistik: Traditionen, Transformationen, Trends. Hrsg. von Gerd Antos und Heike Tietz. Tübingen 1997: 43–63. Anz, Thomas. „Kontinuitäten und Veränderungen der Literaturkritik in Zeiten des Internets: Fünf Thesen und einige Bedenken.“ Digitale Literaturvermittlung: Praxis – Forschung – Archivierung. Hrsg. von Renate Giacomuzzi, Stefan Neuhaus und Christiane Zintzen. Innsbruck 2010: 48–59. Belliger, Andréa, und David J. Krieger (Hrsg.). ANThology: Ein einführendes Handbuch zur AkteurNetzwerk-Theorie. Bielefeld 2006.

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 V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung

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VI Institutionalisierung des Buchs

VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik Philip Ajouri

1 Gegenstandsbereich Die Wertzuschreibung und Symbolik des Buchs wurde in der neueren Buchforschung nicht systematisch erforscht, gerade Studien zur symbolischen Buchbedeutung seit dem 18.  Jahrhundert sind selten (Rautenberg 2010: 12 und 50). Ähnlich steht es um die theoretische und methodische Fundierung der Wertzuschreibung an Bücher und der Buchsymbolik, denn Theorien oder Methoden, die hinsichtlich dieser Fragestellung an das Buch angepasst sind, gibt es kaum. So kann dieser Beitrag kein kondensiertes Wissen über ein etabliertes Forschungsfeldes bieten, sondern nur Hinweise und Anregungen auf Forschungspositionen geben, die eine fruchtbare Anwendung in der Buchforschung finden können. Wertzuschreibungen an bestimmte Bücher oder an das Buch als Allgemeinbegriff werden hier in dem Sinne aufgefasst, dass es sich nicht um ‚natürliche‘, also den Dingen (Büchern) von sich aus innewohnende Eigenschaften handelt (ähnlich Blumer 2013a: 66), sondern um Bedeutungen, die Büchern in einer Gesellschaft zugeschrieben werden. Dabei ist eingangs zu klären, was unter ‚Buch‘ verstanden werden soll und welche Teile des Buchs relevant für die Bedeutungskonstitution sind. Dann werden textbezogene, problemgeschichtliche und praxeologische Ansätze vorgestellt und mit Beispielen versehen.

2 Explikation ‚Buch‘ als Träger von Werten Unter Buch soll hier zunächst das materielle Objekt ‚Buch‘ von der Schreibtafel über die Buchrolle und die Kodex-Form des Buchs bin hin zum E-Book verstanden werden  (a). Die unterschiedlichen Beschreibstoffe können bedruckt oder handschriftlich beschrieben sein. Schon die Tatsache, dass das fragliche Objekt ein Buch (oder eine Tontafel, eine Buchrolle, ein Kodex, ein E-Reader) ist, kann zu bestimmten Zeiten zu einer Wertzuschreibung führen, die dem Buch oder seinem Besitzer zuteilwird. In diesen Fällen wird die Bedeutung dem Buch als physischem Objekt zugeschrieben oder einer Handlung, die das Buch als physisches Objekt betrifft, und nicht einem individuellen, inhaltlich bestimmten Buch (Rautenberg und Wetzel 2001: 43). In den meisten Fällen jedoch wird die Physis des Buchs nicht ausreichen, um zu verstehen, wie und warum die Wertzuschreibung stattgefunden https://doi.org/10.1515/9783110745030-015

336 

 VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik

hat. In diesen Fällen ist das Buch, gegebenenfalls zusätzlich zu (a), als Medium zu betrachten, das heißt als „Kommunikationskanal zur Übermittlung des buchspezifischen Zeichensystems“ (b) (Rautenberg 2003: 65). Das ist zunächst der Fall, wenn die Wertzuschreibung aufgrund des Lesens oder Schreibens eines Buchs zustande kommt, nämlich insofern als Lesen und Schreiben zu bestimmten Zeiten besondere Werte innehatten. Außerdem ist das Buch als Medium immer dann für die Symbolisierung oder Wertzuschreibung relevant, wenn wichtig ist, um welches Buch es sich handelt, sei es, dass der Autorname, der Titel, die Gattung oder Teile des Inhalts eine Rolle spielen oder dass man durch den Buchbesitzer etwas Inhaltliches erschließen kann. Wird z.  B. ein Evangelist mit Buch dargestellt, dann hält er in der Regel sein Evangelium oder ein Evangeliar in der Hand, also Texte, die durch die Tradition eine bestimmte Wertzuschreibung erfahren haben. Insofern ist hier ein bestimmtes Buch oder ein Titel (im Gegensatz zum Exemplar und zum bloß physischen Buch) der Wertträger. Diese Art der Wertzuschreibung kann an ganz unterschiedlichen Stellen im Literaturbetrieb ansetzen, etwa beim Ruf eines oder einer Autor*in (Goethe als Klassiker, de Sade als moralisch bedenklicher Autor), der Gattung (die problematische Stellung der Gattung Roman im 18. Jahrhundert), beim Verlag (Carl Hanser als Verlag der Literatur-Nobelpreisträger), der Reihe (Suhrkamp Wissenschaftliches Taschenbuch als avancierter Ort der Theoriedebatten) oder eines Titels (Joyces Ulysses als anspruchsvolles Buch). Bei (a) und (b) fällt auf, dass die Wertzuschreibung sich häufig nicht nur auf das Buch bezieht, sondern auch etwas über die Person aussagt, die mit dem Buch in Verbindung steht, es also besitzt, Handlungen mit ihm ausführt oder es liest oder schreibt. Metonymische Prozesse scheinen bei der Wertzuschreibung an ein Buch unvermeidlich zu sein. Wenn z.  B. Eve Arnold die knapp bekleidete Marilyn Monroe fotografiert, wie sie Ulysses von Joyce liest (Abb. 1), dann erfasst man die Wertzuschreibung an das Buch nur unzureichend, wenn man feststellt, dass hier jemand ein Buch in der Hand hält und liest. Auch wenn man weiß, dass Lesen ein hochgeschätzter intellektueller Akt ist, hat man das Bild nicht gänzlich gedeutet. Erst wenn man die Wertzuschreibung an Ulysses innerhalb der literarischen Kultur des 20. Jahrhunderts kennt und ebenso die Stellung Monroes in der Populärkultur in Betracht zieht, kann man das komplexe Spiel von Wertzuschreibungen zwischen Buch und Leserin erfassen.

3 Buchsemiotik: Wertzuschreibung zwischen ‚linguistic‘ und ‚bibliographic code‘ 

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Abb. 1: Marilyn Monroe reading James Joyce, Long Island 1955. Foto: Eve Arnold.

3 Buchsemiotik: Wertzuschreibung zwischen ‚linguistic‘ und ‚bibliographic code‘ Wenn hier von Wertzuschreibung und Symbolik die Rede ist, dann muss zunächst festgehalten werden, dass das Buch ein besonderes kulturelles Objekt ist, insofern es schon durch die in ihm enthaltenen „linguistic codes“ (McGann 1992: 77) Bedeutung trägt. Von dieser Bedeutung, etwa einer Interpretation des im Buch enthaltenen ‚Werks‘, müssen Wertzuschreibung und Symbolik unterschieden werden, auch wenn sie, wie unter (2b) ausgeführt, häufig nicht unabhängig davon sind. Die Buchsemiotik, die die Funktionsweise des Buchs als Zeichen in den Blick nimmt, ist nicht sehr weit entwickelt und es lassen sich nur einige Ansätze nennen, die zu formulieren versuchen, was es heißt, dass nicht nur der schriftliche Text eines Buchs, sondern auch sein ‚material text‘ (Rockenberger und Röcken 2014) Bedeutung trägt. Nach Franziska Mayer ist das Buch ein „polysemiotisches, kom-

338 

 VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik

plexes Zeichen […], dessen einzelne Bestandteile unterschiedlichen Zeichensystemen, verbalen wie nonverbalen, entstammen und unterschiedlichen Konventionen der Bedeutungskonstitution und Semiose unterliegen“ (Mayer 2014: 199; siehe auch Kessler 2013: 118–130). Auf der Grundlage einer nicht ganz konsequent angewandten Semiotik von Charles S. Peirce geht sie davon aus, dass alle (im weitesten Sinne) materiellen Teile eines Buchs, also seine „bibliographic codes“ (McGann 1992: 77) (Typografie, Satz, Illustrationen, Buchdeckel, Schutzumschlag, Lesebändchen etc.) Bedeutung tragen können. Unterschieden werden, wie weithin üblich, die Zeichen nach der Klassifikation von Peirce in ikonische (Ähnlichkeitsrelation), indexikalische (kausale Relation) und symbolische (konventionell geregelte Relation) Zeichen. Hilfreich ist dabei die Annahme, bei dem ‚material text‘ handle es sich um ein ‚Metazeichen‘, das heißt ein Zeichen, das neben seiner eigentlichen Bedeutung noch eine uneigentliche hat. Tzvetan Todorov spricht bei demselben Sachverhalt von der symbolischen als einer „sekundäre[n]“ Bedeutung: „Zuerst meint man, die Sache sei nur um ihrer selbst willen da; dann entdeckt man, dass sie auch eine (sekundäre) Bedeutung hat“ (Todorov 1995: 199). Das Metazeichen gibt Auskunft darüber, wie das primäre Zeichen, also der im Buch enthaltene Text, zu verstehen sei, ist also eine Art Gebrauchsanweisung für den Text. Allerdings wird man ergänzen müssen, dass nicht nur der ‚material text‘, sondern auch der ‚linguistic text‘ eine sekundäre Bedeutung gewinnen können. Wenn hier von der Symbolik des Buchs gesprochen wird, dann ist damit gemeint, dass das Buch als Ganzes oder seine Bestandteile (der in ihm enthaltene ‚linguistic text‘ oder sein ‚material text‘) von einer größeren Gruppe als Metazeichen bzw. als sekundäres Zeichen aufgefasst werden. Ursula Rautenberg spricht von „sekundären Funktionen“ des Buchs (Rautenberg und Wetzel 2001: 50). Die sekundäre Bedeutung ist gegenüber dem Buchartefakt oder dem in ihm enthaltenen Text ein allgemeiner Sachverhalt (z.  B. eine Schreibtafel als Symbol für die Seele). Um ein Symbol im engeren Sinne zu sein, darf der allgemeine Sachverhalt nicht in einem frei erfundenen (arbiträren) Verhältnis zum Buch stehen, sondern muss in ihm ‚entdeckt‘ worden sein. Es muss demnach einen nachvollziehbaren Zusammenhang zwischen symbolischem Zeichen (Buch) und allgemeinem Sachverhalt geben (die Schreibtafel wird so ähnlich mit Schrift gefüllt, wie die Seele mit Wissen gefüllt wird). Das Verhältnis zwischen allgemeinem Sachverhalt und Symbol wird durch Interpretation hergestellt, womit eine Doppel- oder Mehrdeutigkeit einhergeht (Definition des Symbols nach Müller Farguell 1997–2003: 551). Einfache Wertzuschreibungen, ebenfalls sekundäre oder Metazeichen, unterscheiden sich von der symbolischen Bedeutungsdimension dadurch, dass sie nicht allgemeiner sein müssen und kaum interpretationsbedürftig oder mehrdeutig sind. Dem kleinen Seitenformat wird im späten 19. Jahrhundert beispielweise gerne der Wert der ‚Handlichkeit‘ zugeschrieben, wodurch es noch nicht zu einem Symbol

4 Historische Semantik und Diskurstheorie 

 339

wird. Ulysses, obwohl ganz sicher vieldeutig in seinem ‚linguistic text‘, hat als Buch eine recht stabile und eindeutige sekundäre Bedeutung erhalten (als hochkulturelles, bedeutendes, schwieriges Buch, als ‚der‘ moderne Roman). Symbolisierungen und Wertzuschreibungen können zunächst im Rahmen von Theorien behandelt werden, die textuelle Quellen zugrunde legen, um die Symbolisierungen und Wertzuschreibungen zu rekonstruieren. Es kann gefragt werden, in welcher Beziehung diese rekonstruierten Bedeutungen zur Gesellschaft stehen, die sie produziert. Anschließend sollen Theorien vorgestellt werden, die die kulturellen Bedeutungen des Buchs weniger aus Texten rekonstruieren, sondern aus Handlungen hervorgehenlassen, die mit den Büchern stattfinden.

4 Historische Semantik und Diskurstheorie: Begriffsgeschichte, Ideengeschichte, Metaphorologie, Kollektivsymbolik Wertzuschreibungen und Symbolisierungen, also sekundäre Bedeutungen von ‚material text‘ oder ‚linguistic text‘, können sich in Texten niederschlagen, und insoweit können sie mit denselben Methoden erforscht werden wie andere textuelle Bedeutungen. Für Wertzuschreibung und Symbolik ist neben dem ‚material text‘ insbesondere der Peritext wichtig, z.  B. Vor- und Nachworte oder Titelblätter. Es kann aber auch Bezüge zum eigentlichen (Haupt-)Text des Buchs geben. Der Kontext, ein Begriff aus der Sprach- und Literaturwissenschaft, bezeichnet diejenigen Quellen außerhalb des Buchs, die zum Verständnis einer Wertzuschreibung hinzugezogen werden müssen oder diese zuallererst konstituieren. Er kann sprachlich oder in einem weiteren Verständnis auch nichtsprachlich (extratextueller Kontext) sein (Danneberg 1997–2003: 334). Auch Epitexte (Verlagswerbung, Buchanzeigen etc.) bilden in diesem Sinne einen Teil des Kontexts eines Buchs. Aus dieser Perspektive ist Wertzuschreibung und Symbolik des Buchs ein Teilgebiet der historischen Semantik, also der Frage nach der adäquaten Rekonstruktion historischer Bedeutungen aus Texten und Kontexten sowie ihres Bedeutungswandels. So haben sich die Begriffsgeschichte und die Metaphorologie, zwei deutsche Spielarten der historischen Semantik, mit der Symbolik des Buchs beschäftigt. Dabei hat sie allerdings keine Bücher im Sinne von (2a) und auch nicht ihre Paratexte untersucht, sondern aus philosophischen, theologischen und literarischen Quellen rekonstruiert, inwiefern das Buch als Symbol verwendet wurde. Die Begriffsgeschichte ist von ihrer Entstehung her an die Zeitschrift Archiv für Begriffsgeschichte und ihren Herausgeber, den Philosophen Erich Rothacker geknüpft. Zwei lexikalische Großprojekte schlossen an diese Tradition an, das Historische Wörterbuch der Philosophie (Ritter 1971–2007) und die Geschichtlichen

340 

 VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik

Grundbegriffe (Brunner et al. 1972–1997). Man ging davon aus, dass man erstens die Bedeutung isolierter, in einzelnen Artikeln abhandelbarer Begriffe erfassen und den Bedeutungswandel dann zweitens durch die Zeit hindurch verfolgen konnte. Der Bezug der Begriffe zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, zur Sozialgeschichte, wurde von der Begriffsgeschichte von Anfang an mitbedacht. Eine folgenreiche Annahme war dabei, dass die Zeit von ca. 1750 bis 1850 als ‚Sattelzeit‘ betrachtet werden könne. Gesellschaft  – man denke an die Französische Revolution  – und Begriffswelt wandelten sich in dieser Zeit rasch, und die Begriffe wurden verzeitlicht, erhielten also eine temporale Dimension, z.  B. indem sie nun zu „Erwartungsbegriff[en]“ (Koselleck 1979: 27) oder zu „Kampfbegriffen“ (Koselleck 1979: 31) wurden. Damit wurden Begriffe einer Gesellschaft angepasst, die sich nicht mehr durch statische, letztlich gottgewollte Stände selbst beschrieb, sondern die die Veränderbarkeit von Gesellschaft und von politischen Systemen erfuhr. Kollektivsingulare wie ‚Fortschritt‘ (Koselleck 1972–1997) oder dynamische Zielvorstellungen wie ‚Bildung‘ (Vierhaus 1972–1997) verbreiteten sich und wurden auch für buch- und kulturpolitische Zwecke eingesetzt. So geht im 20. Jahrhundert die UNESCO davon aus, dass die Verbreitung des Buchs dazu beiträgt, bestimmte gesellschaftliche Ziele wie Bildung, Demokratisierung oder Modernisierung zu erreichen (Lembrecht 2013: 19 und 488), und zwar weniger deshalb, weil man durch Studien die Wirkung von Büchern empirisch festgestellt hatte, sondern eher weil die semantischen Traditionen dem Buch diese Werte seit dem 18. Jahrhundert zuschrieben. Bücher können in anderen Zusammenhängen im metaphorischen Sinne ‚Waffen‘ werden: Während der nationalsozialistischen Bücherverbrennungen wurden Bücher zum Symbol der Freiheit und der Kultur, die gegen die Barbarei des Nationalsozialismus gehalten wurden. Sie wurde als im Feuer geschmiedete Waffen aufgefasst, die gegen die Nazis gerichtet werden konnten (Roussel 2004). Im Laufe der begriffsgeschichtlichen Arbeit und ihrer Reflexion wurde deutlich, dass die Fixierung von historischen Bedeutungen aufgrund der Vielzahl nötiger Einzelanalysen das Format von Lexikonartikeln übersteigt und dass die Begriffsgeschichte drohte, den Begriff zu verdinglichen, und in vielbeschworenen Gipfelwanderungen den Höhenkamm der Philosophie-, Literatur- und Kulturgeschichte abzuschreiten. Allerdings wurden in den Jahrzehnten der begriffsgeschichtlichen Methodendiskussion viele Defizite nachgeholt, die bei der anfänglichen Konzeption aufgetreten waren, und die viel weniger stark rezipiert wurden als die Arbeiten aus den Gründungsjahren der Lexika. Das betrifft zunächst die Frage, was ein Begriff eigentlich sei. Im Unterschied zum Wort muss ein Begriff ein mehrdeutiges Gedankenkondensat (aus Vorstellungen, Erwartungen, angenommenen Tatsachen etc.) sein, das in Wortfeldern und in seinen semantischen Strukturen untersucht werden kann (Bödeker 2002: 91–92). Die Bedeutung eines Begriffs lassen inzwischen

4 Historische Semantik und Diskurstheorie 

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viele Begriffs- und Ideenhistoriker durch seinen Gebrauch entstehen, ähnlich in der unten beschriebenen Konzeption der Ideengeschichte von Quentin Skinner (Bödeker 2002: 98–106). Das heißt, dass die Bedeutung nur in der kommunikativen Situation zwischen den Akteuren ermittelt werden kann. Sie ist also kontextabhängig und variabel, und ein Begriff ist dadurch nicht fest mit einer bestimmten Bedeutung versehen. Das nächste Problem besteht im Verhältnis von Begriff und Sache, also hier von semantischer Zuschreibung und Buch. Beide Ebenen werden in der Begriffsgeschichte relevant. Die Bedeutungsgeschichte des Buchs muss also stets von der Sachgeschichte des Buchs, des Buchhandels und Buchmarkts unterschieden werden, aber in einer Weise, dass die Bezüge zwischen beiden Ebenen mitbedacht werden. Dabei zeichnet sich ab, dass der Semantik gegenüber den ‚tatsächlichen‘ Sachverhalten eine große Bedeutung zukommt, zum einen, weil sich Tatsachen in der Kulturgeschichte unabhängig von Quellen schlecht beobachten lassen, zum anderen, weil in den Kulturwissenschaften die Wirkmächtigkeit und Eigenständigkeit der Semantik als „bewußtseinsbildendes und handlungsdisponierendes Element“ (Bödeker 2002: 116) konstatiert wurde (für diesen Unterschied und die Schwerpunktsetzung auf die Semantik auch Lembrecht 2013: 24). Tatsächlich wurden Bücher sehr lange mit Werten wie Bildung, gesellschaftlichem Fortschritt und Selbstbestimmung in Verbindung gebracht, ohne dass untersucht worden war, ob diese Werte tatsächlich beim Leser ausgebildet wurden. Auch die methodische Diskussion in der Ideengeschichte hat Ergebnisse gebracht, hinter die eine Beschäftigung mit Quellen, aus denen die Buchsymbolik und Wertzuschreibung rekonstruiert wird, nicht zurückfallen sollte. Der Historiker der politischen Ideengeschichte Quentin Skinner hat im einflussreichen Aufsatz Meaning and Understanding in the History of Ideas (1969) zunächst falsche Ansätze (‚mythologies‘) beschrieben, mit denen häufig Quellen und Autor*innen der Vergangenheit vereinnahmt werden. Die Mythologie der Doktrin liegt vor, wenn ein oder eine Autor*in sich nur sporadisch und nebenher zu einem Thema geäußert hat, der Forschende ihm aber eine feste Lehre zuschreiben will. Die Mythologie der Kohärenz tritt auf, wenn Widersprüche in Quellen getilgt werden, bis eine Quelle eine einheitliche Lehre wiedergibt. Der Mythologie der Prolepsis erliegt man, wenn einem oder einer Autor*in eine Auffassung zugeschrieben wird, die er rein chronologisch gesehen noch gar nicht haben konnte. Die Mythologie des Parochialismus hat sich eingeschlichen, wenn fremde Aussagen in eigenen Worten so reformuliert wurden, dass die Aussagen der Quelle dem eigenen Standpunkt angepasst wurden (Skinner 1969: 32–48). Skinner geht es darum, den Historiker von vorgefertigten Konzepten seiner eigenen Gegenwart zu befreien, damit er die Bedeutung von Aussagen in ihrer illokutionären Kraft verstehen kann. Hier schließt Skinner an die Sprechakttheorie von John  L. Austin und John Searle an. Sätze haben nicht nur Informationsgehalt, sondern entfalten ihre Kraft auch als Handlungen (‚Vorsicht

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 VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik

Spannung!‘ ist in der Buchwerbung keine Warnung, sondern eine Empfehlung). Wenn man wissen will, was eine Aussage bedeutet, muss man den Gebrauch der Begriffe in verschiedenen Situationen, also auch im (sozialen) Kontext, studieren (Skinner 1969: 50–63). Die Bedeutung z.  B. einer Wertzuschreibung zu ermitteln reicht nicht, man muss verstehen, wie sie ihr oder ihre Autor*in meinte, welche Handlung er mit ihr vollzog. Freilich handelt sich der Forschende mit dieser Theorie das Problem der Intentionalität ein, das durch weitere Überlegungen abgefedert werden sollte. Immer wenn aus schriftlichen Quellen Wertzuschreibungen und Symbolisierungen des Buchs rekonstruiert werden, können begriffsgeschichtliche Studien, aber auch die Theoriebestandteile der Begriffs- und Ideengeschichte hilfreich oder sogar leitend sein. Ein Beispiel hierfür ist Daniel Fuldas Idee, „Klassiker“ als „merkmalsunabhängige Wertzuschreibung“ (Fulda 2019) auf dem Buchmarkt der letzten 250  Jahre zu untersuchen oder Christina Lembrechts Studie über Semantik, mit der die UN die Verbreitung von Büchern begleitet (Lembrecht 2013). Die Bedeutung von Wertzuschreibungen wie (National-)Klassiker, Bildung, Entwicklung, Geist, Aufklärung, Wahrheit, Emanzipation, die man Büchern und ihrer Lektüre zugeschrieben hat, können begriffsgeschichtlich untersucht werden. Dasselbe gilt natürlich für mittelalterliche oder frühneuzeitliche Wertzuschreibungen an Buch und Leser, z.  B. im Philobiblon (ca. 1345) von Richard de Bury, wie u.  a. ‚curiositas‘, ‚honestas‘, ‚cupiditas‘ etc. (Bridges 2005). Entscheidend für die Buchforschung ist dabei, die Untersuchung der historischen Semantik auf den ‚bibliographic code‘ auszudehnen und zugleich Fragen des Buchhandels mit der Analyse so zu verknüpfen, dass die verwendete Semantik in ihrer zielgruppenspezifischen Relevanz für bestimmte Stände, Klassen, Schichten, Subkulturen und Lesergruppen deutlich wird. Damit ist zugleich gewährleistet, dass es nicht zu Höhenkammwanderungen kommt, sondern die jeweilige Kommunikationssituation zwischen Buchmarkt und Leser(gruppe) im Blick behalten wird. Parallel zu diesen ideen- und begriffsgeschichtlichen Klärungen arbeitete die Metapherngeschichte an ihrer eigenen Theorie und an Beispielgeschichten. Schon zuvor hatte Ernst Robert Curtius das Feld sondiert, zunächst beispielhaft (Curtius 1926), dann breiter (Curtius 1942 und 1969: 306–352; hierzu auch Cummings 2010). Vom alten Griechenland über das antike Rom und das christliche Mittelalter – hier interessierte er sich insbesondere für das ‚Buch der Natur‘ – bis hin zu Dante und Shakespeare reichen seine Ausführungen, die eher gelehrte Quellensammlungen als umfassende Kontextualisierungen im Sinne der Metapherngeschichte sind. Parallel arbeiteten dann Erich Rothacker und Hans Blumenberg am Thema der Buchmetaphorik. Rothackers bereits 1946 verfasster Aufsatz Das Buch der Natur: Materialien und Grundsätzliches zur Metapherngeschichte erschien erst, angereichert um eine weitere Sammlung mit Quellen, im Jahr 1979. Wenig später erschien Blumenbergs

4 Historische Semantik und Diskurstheorie 

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Studie Die Lesbarkeit der Welt (1981), die diese Metaphorik von der Bibel bis hin zur Lesbarkeit des genetischen Codes in der Mitte des 20. Jahrhunderts verfolgte. Das ‚Buch der Natur‘ als metaphorischer Grundbestand symbolisiert dabei das Ganze der Erfahrbarkeit; es wird parallelisiert mit der Bibel als Buch der Heiligen Schrift. Die Metapher geht auf Augustinus zurück und zieht sich seitdem, mit vielen begriffsund ideengeschichtlichen Verschiebungen, durch die Kulturgeschichte. Neben der Studie Die Lesbarkeit der Welt sind dabei in theoretischer Hinsicht die Paradigmen zu einer Metaphorologie relevant (Blumenberg 1960). Grundsätzlich schließt die Metapherngeschichte an die Begriffsgeschichte an, bzw. ist eine Parallelbewegung zu ihr, und auch die Warnungen Skinners für eine falsche Begriffsgeschichte (siehe oben) sollten für sie gelten. Die Metapherngeschichte untersucht nicht Begriffe, sondern Metaphern, die sich (noch) nicht in eigentliche Begriffe auflösen lassen. Ihre Untersuchung ist mindestens so komplex wie diejenige von Begriffen, weil eine Metapher – anders als die umgangssprachliche Verwendung des Begriffes ‚Metapher‘ suggeriert  – kein Wortphänomen, sondern mindestens ein Satzphänomen ist, und zudem hochgradig von (kulturellen) Kontexten und von anderen, auch nicht-metaphorischen Begriffen abhängt (Zill 2002: 228). Kontextualisierende, synchrone Querschnitte müssen die diachronen Längsschnitte ergänzen (Blumenberg 1960: 38). Blumenberg unterscheidet zwischen Restbeständen von Metaphern und Grundbeständen. Metaphorische Restbestände werden im Laufe der Geschichte ersetzt durch Begriffe; metaphorische Grundbestände sind absolute Metaphern, die sich nicht in Begriffe übersetzen lassen, weil sie unanschaulich und unkonkret sind, wie z.  B. die ‚ganze Welt‘, die ‚Seele‘ etc. (Zill 2002: 231). Wissenschaft, so Blumenberg, ist an Begriffen orientiert und die metaphorischen Restbestände können oder sollen überwunden werden. Die Deutung der Lebenswelt und die Orientierung in ihr ist für den Menschen aber nur durch metaphorische Grundbestände möglich (Zill 2002: 237–238). Wenn Augustinus von zwei Büchern spricht, die Gott geschaffen habe, nämlich die Bibel und die Natur, dann spricht er vor dem Hintergrund eines anderen Gottes-, Natur- und Geschichtsverständnisses als Friedrich von Hardenberg (Novalis), der aufgrund seiner Fortschrittskonzeption auf die Idee kommen kann, dass die Bibel noch nicht fertiggeschrieben ist, weil die Welt in Entwicklung begriffen ist (Blumenberg 1981: 239). Um die Funktionsweise des Unbewussten zu erläutern, kann Sigmund Freud in Notiz über den Wunderblock (1925) auf ein Jahrtausende altes Buchsymbol zurückgreifen: Seele und Gedächtnis als Schreibtafel tauchen schon bei Platon auf und werden von Thomas von Aquin als ‚tabula rasa‘, als leere, noch zu beschreibende Tafel, seit dem Mittelalter wirksam. Allerdings unterlaufen der verkürzten Skizze der Metapherngeschichte, wie sie hier wiedergegeben wird, unweigerlich die Fehler, die die historische Semantik und die Ideengeschichte in ihrer Theoriebildung und vielfach auch in der Praxis längst überwunden haben.

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 VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik

Studien zur Buchsymbolik und Wertzuschreibung können auch innerhalb des Paradigmas der Kollektivsymboltheorie betrieben werden, die nach ihrem Selbstverständnis ein Teil der Diskursanalyse ausmacht. Ein Symbol ist in der Konzeption von Jürgen Links Kollektivsymboltheorie (1998: 385–386; 1978) (1) ein sekundäres Zeichen, das durch weitere fünf Merkmale charakterisiert wird: (2) Ikonität, das heißt Abbildbarkeit, (3) Motiviertheit der sekundären Signifikant-Signifikat-Beziehung, das heißt, die symbolische Bedeutung darf nicht arbiträr sein, sondern muss einen nachvollziehbaren Grund in der eigentlichen Bedeutung haben, (4) Ambiguität, das heißt, das Symbol muss mindestens zweideutig, wenn nicht mehrdeutig sein, (5) syntagmatische Expansion, das heißt, das Symbol muss ein Bildfeld mit sich führen, wie das etwa bei der fortgeführten Metapher, der Allegorie, der Fall ist, (6) Isomorphie-Beziehungen zwischen Symbolisanten und Symbolisaten müssen vorliegen, das heißt z.  B., man kann auf einer Schreibtafel die Schrift wieder löschen, so wie die Seele auch wieder vergessen kann. Wird ein solches Symbol von einem Kollektiv getragen, handelt es sich um ein Kollektivsymbol. Kollektivsymbole spielen eine wichtige Rolle in Interdiskursen, also in nicht-spezialisierten, allgemeineren Redeweisen, die sich vom hochgradig spezialisierten Fachwissen, den Spezialdiskursen, unterscheiden. Sind Spezialdiskurse durch feste Rederegeln gestaltet und an Institutionen gebunden (z.  B. das Buch im bibliothekarischen Diskurs), so funktionieren Interdiskurse ‚zwischen‘ diesen Diskursen als Teil der allgemeinen Kultur. Durch Analogiebildung, z.  B. durch Kollektivsymbole, stellen sie Verbindungen zwischen Spezialdiskursen her und integrieren ihre Wissensbestände (Link 2013: 11–13). Die Aufteilung von Diskursen in Spezial- und Interdiskurse ist eine Leistung von Link, die im Anschluss an die Diskursanalyse von Michel Foucault erbracht wurde (z.  B. Archäologie des Wissens). Die Bibliothek als Büchersammlung mag dabei ein besonders lohnendes Beispiel für Kollektivsymbolik sein. So kann die Bibliothek beispielsweise in der Literatur des 20. Jahrhunderts zum Kollektivsymbol für Weltflucht, Weltfremdheit, für den Tempel des Wissens, für den Mythos der Vollständigkeit etc. werden, und diese Kollektivsymbole dürften an die gesellschaftliche Bedeutung des Buchs rückgebunden sein (Stocker 1997: 107–109 und 290–300). Wie schon die Diskursanalyse von Foucault, so stellt auch Links Theorie von Interdiskurs und Kollektivsymbol nicht die Frage nach der Korrelation von Gesellschaft und Wissensbeständen, weil die Diskurstheorie Diskurse und Gesellschaft tendenziell zusammenfallen lässt.

5 Problemgeschichte / Gesellschaftsstruktur und Semantik 

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5 Problemgeschichte / Gesellschaftsstruktur und Semantik Wenn man davon ausgeht, dass Buchsymbolik und Wertzuschreibung Teil der gesellschaftlichen Semantik sind und zudem annimmt, dass sich Semantik und So­ zial­struktur – oder, weiter gefasst, Realität – unterscheiden lassen (Reckwitz 2008: 135) und nicht identisch sind, stellt sich die Frage nach der Art der Beziehung, in der beide zueinander stehen. Zwar können die Begriffsgeschichte und ihre Spielarten den Zusammenhang von Begriffen und Gesellschaft theoretisch abbilden, weil sie, anders als die Diskursanalyse, Realität und Sprache nicht zusammenfallen lässt. Dennoch sind damit Probleme angesprochen, die innerhalb der Begriffs-, Metaphern- und Ideengeschichte kaum abschließend geklärt werden können und über sie hinausverweisen. An dieser Stelle setzen historische Systemtheorie und Problemgeschichte an, die sich in produktiver Abgrenzung von der marxistischen Widerspiegelungstheorie, aber auch von Kausalitätsvorstellungen des 19. Jahrhunderts konstituieren (Reckwitz 2008: 135–139). Neben der Widerspiegelung der Basis im Überbau und einfachen Vorstellungen von Verursachung (soziales Faktum x verursacht kulturelles Merkmal y) besteht eine dritte Möglichkeit in der Reformulierung der Kausalität durch die Kombination von Variation, Selektion und Restabilisierung, also als evolutionär entstandenes Passungsverhältnis (Luhmann 2008). Dieses anspruchsvolle Modell, das auch Konsequenzen für die Darstellung von Forschungsergebnissen hat, etwa weil der Fundus der nicht gewählten oder nicht stabilen Semantiken ebenfalls dargestellt werden sollte, wurde z.  B. von Niklas Luhmann ausgeführt. Luhmann schloss an Talcott Parsons Funktionsmodell an, verwendete aber als Grundbegriff seiner Soziologie die Kommunikation, nicht die Handlung. Jede Semantik, ob Wertzuschreibung, Symbolisierung oder andere, wird auf ein Referenzproblem (z.  B. in der Gesellschaft oder in anderen Wissensbeständen) bezogen, das einen Selektionsdruck erzeugt. Wird im Vorrat der Kultur mit seinen unzähligen Variationen Semantik gefunden (oder erfunden), die passt, dann wird sie selektiert und durch Anschlusskommunikationen stabilisiert. Oberflächlich sieht das so aus, als habe ein Problem eine bestimmte Semantik ‚verursacht‘, aber es handelt sich nur um ein kontingentes Passungsverhältnis, um „Kontingenzkausalität“ (Luhmann 2008: 241). Dieser „Mechanismus von universeller Bedeutung“ ermöglicht, „alles, was ist, als das Ergebnis vorangegangener Selektions- und Bewährungsprozesse zu begreifen“ (Eibl 1996: 13). Dieses Modell kann auch geschichtlichen Wandel erklären und ist zugleich eine spezielle Ausformulierung der Problemgeschichte (Werle 2014). Die Problemgeschichte verfährt stets zweiwertig, bezieht also Problem und Lösung in der Analyse von Kultur aufeinander. Stellt man die Korrelation zwischen beiden Polen über evolutionäre Mechanismen her, nämlich über Variation, Selektion, Restabilisierung, so hat man

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 VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik

ein allgemeines Schema zur Verfügung, mit dem auch Wertzuschreibungen und Symbole erforscht werden können. Dirk Werle bezieht imaginäre Bibliotheken um 1600 beispielsweise auf das Problem des überbordenden Wissens und seiner Ordnungen (Werle 2007). Oder man geht der Korrelation von Buch und Bildung nach: Wird dem Buch im 19. Jahrhundert zugeschrieben, das Individuum zu ‚bilden‘, dann ist nach dem Problemdruck zu fragen, der diese Lösung selektiert und stabilisiert hat. In diesem Fall kann man von der in der Soziologie weitverbreiteten Auffassung ausgehen, dass die Gesellschaft in der Frühen Neuzeit langsam ihre primäre Differenzierungsform von der stratifikatorischen auf die funktionale Differenzierung umstellte. In der geschichteten Gesellschaft wird man in einen Stand geboren, und dieser Stand regelt viele Einzelheiten des Lebens und damit die Individualität des Menschen. In einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft muss sich das Individuum erst selbst in die Gesellschaft integrieren. Die Bildungssemantik ist angepasst an dieses Problem, weil es Individualität und Temporalisierung kombiniert und eine teleologische Komponente enthält. Bildung ist die Lösung des Problems, wie sich ein Individuum in die moderne Gesellschaft integriert, und deshalb sind Gattungen wie der Bildungsroman, aber eigentlich das ganze ‚Bildungs-‘ und Kunstsystem mit dieser Semantik beschäftigt (Luhmann 1980–1995; Jannidis 1996). Die Wertzuschreibung ‚Bildung‘ an das Buch und insbesondere an die Gattung Bildungsroman wurde deshalb erfolgreich, weil sie die Integration in die Gesellschaft versprach.

6 Symbolischer Interaktionismus, ‚boundary-object‘-Theorie Waren die bislang vorgestellten Theorien dem „Textualismus“ (Reckwitz 2008: 139–146) zuzuordnen, so kann man die Bedeutung von Büchern und ihre Genese auch so modellieren, dass die an der Wertzuschreibung und Symbolisierung beteiligten Handlungen hervortreten. Rautenberg nennt das den „alltäglichen Umgang“ mit Büchern, wählt aber einen semiotischen Ansatz (Rautenberg 2005: 6–11; siehe III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung in diesem Band). Eine der ersten soziologischen Theorien, die die Bedeutung von Objekten aus sozialen Handlungen hervorgehen lassen, die mit oder an ihnen ausgeführt werden, ist der Symbolische Interaktionismus von Herbert Blumer, den er im Anschluss an George Herbert Mead entwickelte (Blumer 2013b). Blumer wendete sich gegen den Funktionalismus von Parsons, dem auch Luhmann verpflichtet war, und schien darüber hinaus „letztlich die Realität sozialer Strukturen, die über Interaktionssituationen hinausreichen, überhaupt zu leugnen“ (Pettenkofer 2014: 527). Die drei Prämissen des Symbolischen Interaktionismus sind, dass erstens „Menschen Dingen gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese Dinge für

6 Symbolischer Interaktionismus, ‚boundary-object‘-Theorie 

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sie besitzen“ (Blumer 2013a: 64). Das bedeutet, dass nicht soziale Stellung, Normen, Werte oder psychische Dispositionen für den Umgang mit Büchern verantwortlich sind, sondern die Bedeutung, die sie für einen Menschen besitzen. Zweitens: Die Bedeutung der Dinge entsteht aus der „sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht“ (Blumer 2013a: 64). Die Bedeutung ist also weder dem Ding inhärent, noch wird sie von einem Individuum an das Ding in einem psychischen Prozess herangetragen, sondern sie entsteht „aus der Art und Weise, in der andere Personen ihr gegenüber in Bezug auf dieses Ding handeln“ (Blumer 2013a: 67). Der dritten Prämisse zufolge werden diese durch die Interagierenden herangetragenen Bedeutungen von einer Person nicht unvermittelt übernommen, sondern sie müssen durch diese Person interpretiert werden und können in der Benutzung des Dings abgeändert und besonders gehandhabt werden (Blumer 2013a: 64). Die jeweilige Situation und der sich wandelnde Umgang mit Objekten rückt dadurch in den Fokus, Strukturen, auch semantische, treten in den Hintergrund. Im starken Sinne müssen nach Blumer also Handlungen beobachtet werden, im schwächeren Sinne können auch Bild- und Textzeugnisse herangezogen werden, die Handlungen mit Büchern darstellen oder beschreiben. Diese und ähnliche Kulturtheorien haben zur Theorie der Grenzobjekte (boundary-object-Theorie) geführt, die vor allem für Objekte in der Wissenschaft entwickelt wurde, aber auch für das Buch als Objekt fruchtbar gemacht werden kann. Die Theorie wurde von Susan Leigh Star und James R. Griesemer entworfen (1989). Danach kann ein und dasselbe Objekt für Akteure mit unterschiedlichen disziplinären und sozialen Prägungen jeweils verschiedene Situationen und Praktiken definieren (Grießmann und Taha 2017: 34). Die Akteure arbeiten an diesem Objekt, ohne eine konsensuelle Auffassung über das Objekt zu haben. Das Objekt wird dann zum (nicht-konsensuellen) Vermittler zwischen den verschiedenen Praktiken, eben zum Grenzobjekt. Das Buch kann als Grenzobjekt aufgefasst werden, weil es schon im Verlag ganz unterschiedliche Akteure verbindet (Gestalter*in, Autor*in, Vertrieb, Marketing, Lektor*in, Geschäftsführer*in) und auch während seines Buchlebens unterschiedlichste, z.  B. bibliothekarische, bibliophile, wissenschaftliche, symbolisch-repräsentative etc. Praktiken determiniert. So kann die Weimarer Sophien-Ausgabe von Goethes Werken als Grenzobjekt beschrieben werden, an dem sich philologische, repräsentative, ökonomische oder nationale Praktiken kreuzen (Thomalla 2020: 433–457). Star gibt selbst ein Beispiel für die Aufladung eines Buchs mit Werten: Das Notizbuch eines Arztes wird der Archivbenutzerin an einem repräsentativen Ort auf einem Silbertablett serviert, nachdem sie Kugelschreiber etc. abgeben musste. Das Notizbuch aber selbst wurde im Labor während Affen-Experimenten geschrieben und trägt alle Spuren des grausamen Kampfes mit den Primaten (Star 2017: 218). Das Notizbuch war demnach in verschiedene Praktiken eingebunden und ist zum Grenzobjekt geworden. Es wäre auch zu erwägen,

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 VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik

ob sich die Einsichten Rautenbergs in den alltäglichen Buchumgang, den sie vor allem semiotisch erfasst, auch im Rahmen der Theorie der boundary-object-Theorie reformulieren ließen. Dann wäre das Buch ein Grenzobjekt, in dem sich Praktiken der Speicherung von Wissen, der Wissensrepräsentation, des Genusses und des Sichkleidens kreuzen würden (Rautenberg 2005). Die Vorteile dieses Ansatzes für die Buchforschung liegen darin, dass man die Zuschreibung von Werten anhand praxeologischer Dimensionen zu fassen bekommt und darüber hinaus sensibel für die heterogenen Wertzuschreibungen bleibt, die aus den nicht-konsensuellen Praktiken stammen. Die Theorie betont das Situative auf Kosten von (semantischen) Traditionen und Strukturen.

7 Desiderate Zunächst bedarf die Buchsemiotik einer weiteren Ausarbeitung, denn wie das Buch in seiner Doppelstruktur des linguistic und bibliographic codes als Zeichen(menge) verstanden werden kann, die Referenzen innerhalb dieser codes und nach außen (etwa zum Buchnutzer) unterhält, scheint nicht klar zu sein. Erst dann aber können dem Buch Werte und symbolhafte Eigenschaften präziser zugeschrieben werden. Zweitens wäre zu prüfen, inwiefern sich Ansätze, die Objekte in Handlungsgefüge einbetten (wie der Symbolische Interaktionismus, die boundary-objekt-Theorie) oder ihnen Aufforderungscharakter zuschreiben (wie die Affordanz-Theorie) so profiliert werden können, dass sie speziell für das Buch mit seinen materialen und textuellen Eigenschaften passen und dass die Wertzuschreibungen und Symbolisierungen deutlich werden. Die älteren Studien zur Buchsymbolik von Curtius, Blumenberg und Rothacker sind bis heute nicht ersetzt, wurden aber auf der Grundlage einer Methodik verfasst, die verbesserungsfähig erscheint. Aus der Perspektive einer avancierteren Metaphern-, Begriffs- oder Problemgeschichte oder aber auf der Basis von praxeologischen Ansätzen wäre eine (Teil-)Revision des dort ausgebreiteten Quellenmaterials sinnvoll.

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Literatur 

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 VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik

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VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen Claas Friedrich Germelmann und Jan Eichelberger

1 Gegenstandsbereich (Claas Friedrich Germelmann) In verfassungsrechtlicher Hinsicht ist das Buch primär als Schutzgegenstand unterschiedlicher Grundrechte zu betrachten. Das Verfassen und Publizieren des Buchs begegnet hiernach primär als individuelle Freiheitsbetätigung und stellt sich erst in zweiter Linie als objektiv zu schützendes Kulturgut dar. Die Regelung ökonomischer Sachfragen, die den Buchhandel betreffen, unterliegt überdies den Kompetenzregeln des Grundgesetzes und nach deren Zuordnung in erster Linie der Bundeszuständigkeit. Beispiele sind das Buchpreisbindungsgesetz, welches auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG (Recht der Wirtschaft) gestützt wird, sowie das Urheberrecht, welches – wie auch das Verlagsrecht – der ausschließlichen Bundeskompetenz nach Art.  73 Abs.  1 Nr.  9 GG unterfällt. Ein umfassendes „Kulturverfassungsrecht“ des Buchs ist in der kulturrechtlich ohnedies zurückhaltenden deutschen Verfassungsordnung darüber hinaus nicht erkennbar. Dies hindert freilich nicht, punktuelle sachbezogene Regeln zu identifizieren. In Umsetzung der verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen stecken die Bestimmungen des einfachen Rechts den Rahmen für die Veröffentlichung und den Vertrieb von Büchern als besondere, kulturell relevante Gegenstände ab, für die in der deutschen Rechtsordnung einzelne Sonderregelungen bestehen. Sie beziehen sich etwa auf die Preisgestaltung. Eine zentrale Rolle nimmt das Urheberrecht ein, welches nicht zuletzt die ökonomische Grundlage für schriftstellerisches Schaffen bildet. Im Bereich des Presserechts, der hier nicht vertieft wird, ist insofern zu beachten, dass einige der wesentlichen Verpflichtungen der Landespressegesetze sich allein auf periodische Druckwerke beziehen.1 Zu erwähnen sind auch die von Bund und Ländern erlassenen Bestimmungen für den Aufbau und die Nutzung von Bibliotheken und Archiven, die hier gleichfalls keine nähere Betrachtung erhalten sollen, da sie eher die Infrastruktur für die Zugänglichmachung von Büchern betreffen.2 Ebenfalls ausgeblendet bleiben die Regeln des Steuerrechts, die auf den Vertrieb von Büchern Anwendung finden.

1 Vgl. etwa BeckOK InfoMedienR/Soppe, NPresseG § 7 Rn. 8. 2 S. dazu Germelmann, Kultur und staatliches Handeln, 2013, S. 449  ff. m. w. N. https://doi.org/10.1515/9783110745030-016

352 

 VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

2 Grundrechtlicher Schutz in Deutschland und Europa (Claas Friedrich Germelmann) Von zentralem verfassungsrechtlichem Interesse im Recht des Buchhandels ist der grundrechtliche Schutz der mit dem Verfassen, der Herstellung und dem Vertrieb eines Buchs verknüpften Handlungen. Dies gilt sowohl für die Ebene des deutschen Grundgesetzes wie auch für die europarechtlichen grundrechtlichen Gewährleistungen einerseits der Grundrechtecharta der Europäischen Union und andererseits der Europäischen Menschenrechtskonvention.

2.1 Bedeutung und Reichweite der Kommunikationsgrundrechte des Grundgesetzes Abseits von der Berufsfreiheit des Art. 12 GG, auf die sich Autoren ebenso wie Verleger berufen können, wenn die Publikation zur Sicherung eines Lebensunterhaltes beitragen soll und nicht rein unentgeltlich erfolgt,3 sind insbesondere die Kommunikationsgrundrechte des Grundgesetzes für den Vorgang des Verfassens und des Publizierens von Büchern einschlägig. Hierbei stechen die Meinungsfreiheit sowie die Informationsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG hervor. Auch die Pressefreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 ist von Bedeutung, die nach deutscher Dogmatik4 nicht nur periodische Druckwerke erfasst.5 In historischer Sicht spielte für Buchveröffentlichungen die Garantie der Pressefreiheit eine bedeutsame Rolle, wenn staatlicherseits gerade auf den Vervielfältigungs- und Verteilungsprozess Einfluss genommen wurde.6 2.1.1 Politische Bedeutung Die Intensität des Schutzes ist dabei unabhängig von der konkreten grundrechtlichen Gewährleistung hoch. Für die Meinungsfreiheit wie für die Informationsfreiheit ist durch das Bundesverfassungsgericht seit langem anerkannt, dass sie „für die freiheitlich-demokratische Grundordnung schlechthin konstituierend[…]“ sind.7 Die Informationsfreiheit hat in einer demokratischen Gesellschaft aus Sicht

3 Vgl. zur Berufsdefinition BVerfGE 105, 252 (265); 115, 276 (300); 145, 20 (67). 4 Enger insofern die EMRK: S. Grabenwarter in Dürig/Herzog/Scholz GG Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 Rn. 246. 5 Jarass in Jarass/Pieroth GG Art. 5 Rn. 34. 6 Bullinger in HdbStR VII § 163 Rn. 8. Eingehend Kortländer/Stahl (Hrsg.), Zensur im 19. Jahrhundert, 2012. 7 Meinungsfreiheit: BVerfGE 7, 198 (208) – Lüth; Informationsfreiheit: BVerfGE 27, 88 (98).

2 Grundrechtlicher Schutz in Deutschland und Europa 

 353

des Bundesverfassungsgerichts besondere Wichtigkeit, da „nur umfassende Informationen, für die durch ausreichende Informationsquellen Sorge getragen wird, […] eine freie Meinungsbildung und -äußerung für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft“ garantieren.8 Entsprechendes gilt für die Pressefreiheit.9 Die Kommunikationsgrundrechte sind daher von besonderer Bedeutung für den freiheitlichen Verfassungsstaat.10 Diese grundsätzliche Einstufung der für Buchpublikationen relevanten Kommunikationsgrundrechte wird nicht auf jeden konkreten Fall eines Buchs in gleichem Maße Anwendung finden, sondern gestattet einzelfallbezogene Differenzierungen nach der Bedeutung für die demokratische Willensbildung. So sind rein unterhaltende Bücher in Hinblick auf ihren Beitrag zum demokratischen Diskurs anders einzuordnen als Bücher mit einem dezidierten Bildungszweck oder Debattenbeitrag. 2.1.2 Persönlichkeitsrechte und Teilhabe Gleichwohl bleibt die Grundwertung des deutschen Verfassungsrechts zugunsten einer Freiheit der Information und Kommunikation11 auch in politisch weniger relevanten Bereichen unverändert gültig. Denn Meinungsbildung und Informationsfreiheit sind nicht nur für das Zusammenleben in einem demokratischen Gemeinwesen relevant,12 sondern sind in erster Linie Gegenstand privatnütziger Grundrechtsausübung.13 Sie sind konstituierende Elemente des freiheitlichen Menschenbildes des Grundgesetzes. Dies gilt zumal, da die Meinungs- und Informationsfreiheit für die Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen in einer freien Gesellschaft und in einem demokratischen Staatswesen essenziell ist. Auch dies wird aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung deutlich: Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet die Meinungsfreiheit zu Recht als „unmittelbarste[n] Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit“14 und erkennt an, dass „[e]s […] zu den elementaren Bedürfnissen des Menschen [gehört], sich aus möglichst vielen Quellen zu unterrichten, das eigene Wissen zu erweitern und sich so als Persönlich-

8 BVerfGE 27, 71 (81  f.). S. auch BVerfGE 145, 365 (379  f.). S. ferner noch unten 2.2. 9 BVerfGE 20, 162 (174); 117, 244 (258). 10 BVerfGE 27, 71 (81): „Ein demokratischer Staat kann nicht ohne freie und möglichst gut informierte öffentliche Meinung bestehen.“ 11 Vgl. BVerfGE 90, 27 (32); Lerche Jura 1995, 561 (562); Degenhart in BK GG Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 160. 12 BVerfGE 27, 71 (81 f.); 90, 27 (32); Schulze-Fielitz in Dreier GG Art. 5 Abs. 1–2 Rn. 76, 83; Trute VVDStRL 57 (1998), 216 (251). 13 Richtig Schmidt-Jortzig in HdbStR VII § 162 Rn. 34. 14 BVerfGE 7, 198 (208).

354 

 VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

keit zu entfalten.“15 Die freie Verfügbarkeit von Informationen und ihr freier Austausch markieren die Grundentscheidung der Verfassung für ein selbstbestimmtes Leben und Handeln. Sie sind damit auch für die Ausübung anderer Grundrechte wesentlich,16 zumal sie gerade in der modernen Informationsgesellschaft17 die Basis für gleichberechtigte politische und gesellschaftlich-kulturelle Teilhabe darstellen (siehe VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe in diesem Band).18 2.1.3 Grundrechtsfunktionen und Prägekraft im Verfassungsrecht des Grundgesetzes Die Grundrechte des Grundgesetzes sind in erster Linie als Abwehrrechte konzipiert, das heißt, sie dienen der Verhinderung staatlicher Eingriffe in die gewährleisteten Freiheiten. Auch die Kommunikationsgrundrechte sind Abwehrrechte. Das Eingriffsverständnis ist dabei weit und erfasst nach allgemeinen Grundsätzen direkte und indirekte Eingriffe. Im Bereich der Meinungsfreiheit sind Sanktionen für die Äußerungen von Meinungen denkbar, die sich im Falle von Büchern oft gegen diese selbst – etwa in Form von Beschlagnahmen und Veröffentlichungsverboten – oder aber gegen die Urheber – beispielsweise durch Strafen, Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche – richten können. Eingriffe in die Informationsfreiheit können ebenfalls gegen den Informationsträger gerichtet sein oder allgemeiner in Informationsverboten sowie faktischen Informationserschwerungen19 liegen. Beispiele sind staatliche Einziehungen oder Importbeschränkungen von Informationsträgern wie Büchern.20 Staatliche Beobachtungen oder Registrierungspflichten stellen wegen ihrer Abschreckungswirkung ebenfalls Eingriffe dar.21 Die Kommunikationsgrundrechte haben auch eine negative Abwehrkomponente, nach welcher es jedem freisteht, Meinungen nicht zu äußern und sich aus verfügbaren Informationsquellen nicht zu informieren.22

15 BVerfGE 27, 71 (81). S. auch Schmidt-Jortzig in HdbStR VII § 162 Rn. 1: „elementares Bedürfnis seines Daseins“. 16 Näher Rossi, Informationszugangsfreiheit und Verfassungsrecht, 2004, S. 112  ff. 17 S. zur Kennzeichnung etwa Schoch VVDStRL 57 (1998), 160  ff.; Köppen, Das Grundrecht der Informationsfreiheit unter besonderer Berücksichtigung der modernen Medien, 2004, S. 5  ff. 18 Gröschner VVDStRL 63 (2004), 344 (364). So schon BVerfGE 27, 71 (81) für die „moderne Industriegesellschaft“. 19 BVerfGE 21, 271 (291). 20 BVerfGE 27, 71 (83). 21 Schmidt-Jortzig in HdbStR VII § 162 Rn. 42; Starck/Paulus, in v. Mangoldt/Klein/Starck GG Art. 5 Rn. 123; Wendt in von Münch/Kunig GG Art. 5 Rn. 55. 22 Degenhart in BK GG Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 174; Wendt in von Münch/Kunig GG Art. 5 Rn. 54. Monographisch Fenchel, Negative Informationsfreiheit, 1997.

2 Grundrechtlicher Schutz in Deutschland und Europa 

 355

In geringerem Umfange sind Leistungs- und Teilhaberechte im Bereich der für die Buchbranche relevanten Kommunikationsgrundrechte einschlägig. Konkrete Förderansprüche bestehen trotz der unbestrittenen kulturellen und gesellschaftlichen Relevanz dieses Feldes nicht. Freilich bestehen in bestimmten Umfängen Förderungen von Kunst und Kunstschaffenden durch die öffentliche Hand, deren Leistungsinhalt sich aber nicht direkt aus den Grundrechten ergibt, wohl aber Gleichbehandlungsgrundsätzen folgt.23 Auch aus der Informationsfreiheit folgt kein Anspruch auf die Bereitstellung von Informationen,24 sondern allenfalls auf gleichberechtigte Teilhabe.25 Ausnahmefälle können insbesondere im Forschungsbereich vorliegen, wenn der Staat wie etwa bei Archiven für bestimmte Informationen ein Monopol hat.26 Anerkannt ist hingegen, dass die Kommunikationsgrundrechte objektive Wertmaßstäbe der verfassungsrechtlichen Ordnung beschreiben und als solche auch für die einfache Rechtsordnung Prägekraft entfalten. Dem Staat obliegt damit auch die Schaffung eines angemessenen Rechtsrahmens und entsprechender rechtlicher Schutzvorkehrungen, der einen ungehinderten Informationsfluss aus allgemein zugänglichen Quellen unterstützt und zugleich ein Klima freier Meinungsäußerung fördert. Konkret subsumtionsfähige verfassungsrechtliche Vorgaben in Bezug auf die Buchbranche folgen hieraus allerdings nicht. Mittelbare Drittwirkungen27 sind für die Kommunikationsgrundrechte zwar möglich. Sie begründen aber für den Bereich der Buchbranche im Verhältnis zwischen den Beteiligten – gleich, ob es sich um den Prozess des Verfassens, des Verlegens oder sonstigen Publizierens oder der Rezeption handelt – keinerlei direkte Anspruchskonstellationen, sondern sind durch das einfache Recht unter Berücksichtigung der jeweils betroffenen grundrechtlichen Interessen der Beteiligten aufzulösen; maßgebliche Bedeutung kommt insofern dem Zivilrecht und insbesondere dem Urheberrecht zu. Dem Gesetzgeber stehen bei der Ausgestaltung der Interessensabwägung erhebliche Gestaltungsspielräume zu, die verfassungsrechtlich nur in den Grenzbereichen determiniert sind.

23 Dazu Germelmann, Kultur und staatliches Handeln, 2013, S. 355  ff. m. w. N. 24 Vgl. BVerfGE 145, 365 (372  ff.); BVerwG DÖV 1979, 102. 25 Jarass in Jarass/Pieroth GG Art. 5 Rn. 28. 26 Vgl. so Degenhart in BK GG Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 169; offengelassen von BVerfGE 145, 365 (373); restriktiv BVerfG (K) NJW 1986, 1243. Skeptisch Gurlit DVBl. 2003, 1119 (1122). 27 Dazu allgemein Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 125  ff.

356 

 VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

2.2 Einschlägige Kommunikationsgrundrechte Meinungs- und Informationsfreiheit werden gemeinhin als sich gegenseitig ergänzende Gewährleistungen verstanden: Während die Meinungsfreiheit den Vorgang der Äußerung, also den aktiven Teil des Kommunikationsprozesses schützt, ergänzt die Informationsfreiheit den Schutz auf der Seite der Empfänger28 und sichert so die Wirksamkeit des Austauschs ab.29 Im Bereich der Buchpublikationen sind in perso­ neller Hinsicht durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit in erster Linie alle diejenigen geschützt, die Bücher verfassen und veröffentlichen, während sich die ­potenzielle Leserschaft auf die Informationsfreiheit berufen kann. Nicht nur den Publizierenden, sondern auch den Rezipienten steht somit ein eigenes wehrfähiges Grundrecht zur Verfügung, was die Durchsetzungskraft erhöht. In inhaltlicher Hinsicht sind die beiden Grundrechte überdies insofern miteinander verknüpft, als die Informationsfreiheit eine wesentliche Voraussetzung für die Bildung einer Meinung30 und einen funktionsfähigen Austausch im demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess ist. Diese Dopplung der Perspektive ist dabei in verfassungshistorischer Sicht eine jüngere Errungenschaft. In den Kommunikationsgrundrechten des Art. 118 der Weimarer Reichsverfassung war eine gesonderte Informationsfreiheit noch nicht enthalten und die Rezipientenseite daher nur implizit mitgeschützt. Die Erfahrungen mit Propaganda, Desinformation und Informationsbeschränkung im nationalsozialistischen Regime31 begründeten im Grundgesetz wie in den Landesverfassungen eine stärkere Betonung des Informationsgesichtspunkts.32 Auf internationaler Ebene findet sich eine gesonderte Informationsfreiheit ähnlich erst in jüngerer Zeit.33 2.2.1 Herstellung und Verteilung: Schutzbereich der Pressefreiheit Die Pressefreiheit hat für den Buchhandel insofern Bedeutung, als sie nicht den inhaltlichen Schutz der Druckwerke sichert, sondern die Vermittlungsleistung durch das Vervielfältigungsverfahren des Druckens.34 Die Rechtsprechung sieht die

28 Degenhart in BK GG Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 55, 160; Schulze-Fielitz in Dreier GG Art. 5 Abs. 1–2 Rn. 41. 29 BVerfGE 27, 71 (81); 90, 27 (32). 30 Dörr in HdbGR IV § 103 Rn. 13. 31 Dazu etwa Köppen, Das Grundrecht der Informationsfreiheit unter besonderer Berücksichtigung der modernen Medien, 2004, S. 23  ff. 32 Zur historischen Entwicklung in den Hintergründen vgl. BVerfGE 27, 71 (80); Degenhart in BK GG Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 37; Dörr in HdbGR IV § 103 Rn. 7; Grabenwarter in Dürig/Herzog/Scholz GG Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 Rn. 986  ff. 33 Starck/Paulus, in v. Mangoldt/Klein/Starck GG Art. 5 Rn. 102. 34 Vgl. Jarass in Jarass/Pieroth GG Art. 5 Rn. 1, 32.

2 Grundrechtlicher Schutz in Deutschland und Europa 

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spezifischen Besonderheiten des Pressesektors, also die „Bedingungen des Wirkens der Presseangehörigen in Ausübung ihrer spezifischen Funktion als Teil der Presse“,35 sowie die „freie Presse“ an sich als von dem Grundrecht geschützt an.36 Dies betrifft im Buchhandel in erster Linie den Verlagsbuchhandel an sich, seltener das einzelne Buch. Da Eingriffe in die Herstellungs- und Verteilungsprozesse, wie etwa Beschlagnahmen, typischerweise aber auch die Meinungsäußerung betreffen, wird diese regelmäßig im Vordergrund des Interesses stehen; allerdings ermächtigt die Pressefreiheit die Presseunternehmen auch zur Geltendmachung des Schutzes der dort veröffentlichten Meinungen.37 2.2.2 Inhalte: Schutzbereich der Meinungsfreiheit und Abgrenzung zu anderen Freiheiten Verfassen und Publizieren eines Buchs werden im Regelfall dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfallen. Der Schutz der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Satz  1 GG ist in inhaltlicher Hinsicht dabei weit gefasst; auch ist jede Form der Äußerung erfasst, wobei der Grundgesetztext „Wort, Schrift und Bild“ ausdrücklich nennt. Unter Meinung versteht man gemeinhin jedes Werturteil, unabhängig von seinem Inhalt und seiner sachlichen Berechtigung, einschließlich der damit verknüpften Tatsachenbehauptungen.38 Lediglich die Verbreitung erwiesen oder bewusst unwahrer Tatsachenbehauptungen wird vom Meinungsbegriff des Grundgesetzes nicht geschützt und fällt damit aus dem Schutz des Grundrechts heraus. Insofern ist zwar umstritten, ob der Schutz bereits tatbestandlich entfällt,39 oder ob die mangelnde Schutzwürdigkeit erst in einem Abwägungsvorgang mit entgegenstehenden Schutzgütern festzustellen ist.40 Die Ergebnisse unterscheiden sich hier aber nicht wesentlich, da die mangelnde Schutzwürdigkeit falscher Tatsachenbehauptungen weitgehend außer Frage steht. In personeller Hinsicht können sich nicht nur all diejenigen, die Bücher in Allein- oder Mitautorenschaft verfassen und somit die Meinung bilden, sondern auch diejenigen, die das Buch veröffentlichen, auf die Meinungsfreiheit berufen,

35 Grabenwarter in Dürig/Herzog/Scholz GG Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 Rn. 319. 36 BVerfGE 85, 1 (12  f.); 113, 63 (75). 37 Grabenwarter in Dürig/Herzog/Scholz GG Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 Rn. 89; Jarass in Jarass/Pieroth GG Art. 5 Rn. 32. 38 Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 766  ff. 39 In diese Richtung das Bundesverfassungsgericht, s. BVerfGE 54, 208 (219); 61, 1 (8); 85, 1 (15); 94, 1 (8); BVerfG (K) NJW 2005, 3271 (3273); s. auch Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 771. 40 So weite Teile der Literatur im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung auf Schrankenebene; s. etwa Schmidt-Jortzig in HdbStR VII § 162 Rn. 22; Wendt in von Münch/Kunig GG Art. 5 Rn. 29.

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 VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

da sie an ihrer Verbreitung einen wesentlichen Anteil haben, sich die Meinung gleichsam als verbreitungswürdig zu eigen machen und nicht bloße „interesselose Vermittler“41 sind. Nicht entscheidend ist dabei, ob es sich um eine Verlagsveröffentlichung oder um eine sonstige Publikation handelt. Art.  5 Abs.  1 Satz  1 GG berechtigt dabei als sogenanntes Jedermann-Grundrecht nicht nur Deutsche und (wegen des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots) EU-Ausländer, sondern alle, die in ihren Handlungen der deutschen öffentlichen Gewalt ausgesetzt sind; das Grundrecht ist nach Art. 19 Abs. 3 GG seinem Wesen nach auch auf juristische Personen des Privatrechts anwendbar, so dass beispielsweise auch Kollektive oder Unternehmen die darin garantierten Rechte geltend machen können. Speziellen grundrechtlichen Schutz durch die Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG erhalten Bücher, die thematisch gerade in diesem Sachbereich angesiedelt sind, also entweder ihrerseits als eigenständige Kunstwerke einzuordnen sind 42 oder als Medium Kunst, wie etwa literarische Kunst, transportieren und somit deren Wirkung nach außen sicherstellen.43 Dabei geht die ganz überwiegende Meinung heute von einem offenen Kunstbegriff aus, der die Deutungs- und Entwicklungsoffenheit der Kunst in das Zentrum rückt und von einer präzisen Konturierung Abstand nimmt.44 Allerdings erfasst er auch klassische künstlerische Kanones. Hierzu rechnen auch die klassischen Kunstformen der Literatur, die seit jeher ein zentrales Feld des Buchhandels darstellen. Entsprechendes gilt für die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG: Sofern ein Werk etwa als Fachbuch wissenschaftliche Erkenntnisse veröffentlicht, ist es durch das spezielle Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit geschützt, da auch hier die Übermittlung der Erkenntnis grundrechtlichem Schutz unterliegt.45 Da sowohl die Kunstfreiheit als auch die Wissenschaftsfreiheit ihrer Struktur nach vorbehaltslos gewährleistete Grundrechte sind, sind sie im Regelfall als speziellere Gewährleistungen gegenüber der Meinungsfreiheit zu betrachten.46 Auch bei diesen beiden speziellen Grundrechten, die wichtige Sachbereiche des Buchhandels betreffen, ist in personeller Hinsicht nicht nur die Urheberschaft geschützt, sondern sind auch diejenigen Personen erfasst, die, wie namentlich Verleger, an der Herstellung und Verbreitung des Werkes einen wesentlichen Anteil haben.47

41 BVerfG (K) NJW 1992, 1153; NJW 2005, 1341 (1342). 42 Dies kann im Bereich der Buchkunst anzunehmen sein. 43 Nach der herrschenden Ansicht sind sowohl der sogenannte „Werkbereich“ der Kunstfreiheit als auch ihr „Wirkbereich“ geschützt; s. dazu BVerfGE 81, 278 (292); 82, 1 (6); 91, 298 (305). 44 Vgl. etwa BVerfGE 67, 213 (224  f.); 75, 369 (377). 45 Gärditz in Dürig/Herzog/Scholz GG Art. 5 Abs. 3 Rn. 111. 46 Vgl. BVerfGE 30, 172 (191); Jarass in Jarass/Pieroth GG Art. 5 Rn. 117, 135. 47 Für die Kunstfreiheit BVerfGE 119, 1 (22).

2 Grundrechtlicher Schutz in Deutschland und Europa 

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Einen weiteren Sonderfall bildet die Religionsfreiheit des Art. 4 GG, die gerade auch den Aspekt der Verkündung und damit auch das Publizieren von Lehr- und Glaubenstexten abdeckt; auch sie stellt sich als vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht hinsichtlich der Äußerungskomponente als speziell gegenüber der Meinungsfreiheit dar.48 2.2.3 Rezeption: Schutzbereich der Informationsfreiheit Bücher stellen in unterschiedlicher Art und Weise Informationsquellen dar und dienen dabei verschiedenen Zwecken, die Kommunikation und gesellschaftlichen Fortschritt ermöglichen. Diese Funktion begründet die besondere historische und kulturelle Bedeutung des Buchs. Für die Öffentlichkeit, an die sich das Buch wendet, ist damit das Informationsgrundrecht das zentral einschlägige Grundrecht. Die Informationsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG garantiert jedermann, „sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.“ Sie ist damit in ihrem Schutzbereich einerseits weit gefasst, weil sie keine sachlichen Anforderungen an die Ausgestaltung der Quelle stellt. Andererseits ist sie als ein akzessorisches Recht aufgebaut, welches zunächst die Eröffnung der Information durch den Berechtigten verlangt.

Gegenstand der Information In Hinblick auf die Inhalte, die die Information bilden, macht das Grundrecht der Informationsfreiheit keinerlei Vorgaben. Dem Sinn der Garantie nach, die einen möglichst ungestörten Zugang zu und Austausch von vielfältigen Informationen sichern möchte,49 ist ein weites Verständnis nötig.50 Trotz der demokratischen Grundierung der Informationsfreiheit ist es nicht erforderlich, dass die betroffenen Inhalte zur politischen Meinungsbildung beitragen können oder sonst einen besonders wertvollen Diskursinhalt vermitteln.51 Im Gegenteil können sie diesbezüglich auch irrelevant sein, wie das in manchen Bereichen der Belletristik der Fall sein dürfte. Dabei ist zudem nicht zu verkennen, dass auch die Auseinandersetzung mit nicht unmittelbar politisch relevanten Themen zur Bildung von Standpunkten und Meinungen beitragen kann. Die Erzeugnisse des Buchmarktes sind also in ihrer Breite von der Informationsfreiheit abgedeckt. Diejenigen Werke, die auf Publikationsseite der Kunst- oder Wissenschaftsfreiheit bzw. der Religionsfreiheit

48 Vgl. Mager in von Münch/Kunig GG Art. 4 Rn. 45. 49 Lerche Jura 1995, 561. 50 BVerfGE 90, 27 (32); Bethge in Sachs GG Art. 5 Rn. 53. 51 Degenhart in BK GG Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 161; Wendt in von Münch/Kunig GG Art. 5 Rn. 49.

360 

 VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

unterfallen, können je nach der Zielrichtung ihres Gebrauchs auf der Rezipientenseite erneut diesen Grundrechten, bei einer reinen Nutzung zu Informationszwecken aber auch der Informationsfreiheit unterfallen. Das Grundrecht erfasst ohne Wertung und hierarchische Stufung nach ihrer objektiven Bedeutung sämtliche Informationen in gleicher Weise. Dies bedeutet, dass im Grundsatz auch objektiv falsche Informationen aus dem Schutzbereich der Informationsfreiheit nicht kategorisch ausgeschlossen sind.52 Die Frage der grundrechtlichen Schutzwürdigkeit ist auf der Schrankenebene im Rahmen der Abwägung mit entgegenstehenden Schutzgütern zu lösen, wobei falsche Informationen typischerweise wenig schutzwürdig sein werden.53 Die Informationsfreiheit verfolgt in ihrer Zwecksetzung eher die Vermeidung der Restriktion und Lenkung von Informationen durch staatliche Stellen als die Sicherstellung ihrer inhaltlichen Korrektheit, die sich zuweilen auch erst im Nachhinein erweisen kann. Erkennbare Falschinformationen sind im konkreten Einzelfall differenziert nach ihrem Wahrheits- und Meinungsgehalt sowie unter Berücksichtigung ihrer Breitenwirkung mit konfligierenden Schutzgütern in Abwägung zu setzen und können nach dieser Maßgabe Einschränkungen unterliegen.54

Quellen Jeder beliebige Informationsträger kann Quelle im Sinne der Informationsfreiheit sein.55 Das bedeutet für den Buchhandel, dass das konkrete Format und die Gestaltung des Buchs unerheblich sind; selbst eine Verkörperung des Trägermediums ist nicht erforderlich, so dass auch moderne Formen wie E-Books erfasst sind. Der Begriff der Quelle ist nach den Bedürfnissen der modernen Kommunikation wandelbar und technologieneutral. Die Art des Ausdrucks und die Wahl der Ausgestaltung der Informationsquelle sind vom Grundrecht geschützt, was für die Verantwortlichen im Kreations- und Publikationsprozess die wichtige Entscheidung über das Potenzial der Wirkungsfähigkeit des Werks einschließt.56 Öffentliche

52 S. zum Problemkreis eingehend Ingold, Desinformationsrecht: Verfassungsrechtliche Vorgaben für staatliche Desinformationstätigkeit, 2011. 53 Entsprechend für die Meinungsfreiheit in Abwägung mit dem Persönlichkeitsrecht BVerfGE 114, 339 (352). 54 Unten 2.3. 55 BVerfGE 103, 44 (60); Degenhart in BK GG Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 161; Schmidt-Jortzig in HdbStR VII § 162 Rn. 36; Schulze-Fielitz in Dreier GG Art. 5 Abs. 1–2 Rn. 77; Starck/Paulus, in v. Mangoldt/Klein/ Starck GG Art. 5 Rn. 106; Wendt in von Münch/Kunig GG Art. 5 Rn. 49. 56 Schmidt-Jortzig in HdbStR VII § 162 Rn. 36.

2 Grundrechtlicher Schutz in Deutschland und Europa 

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Register, Archive oder Bibliotheken sind ebenfalls taugliche Quellen,57 da nicht nur privat vorgehaltene Informationen geschützt sind. Auch der Ort, an dem sich die Quelle befindet oder von dem sie herstammt, ist unerheblich für den grundrechtlichen Schutz, was auch ausländische oder im Ausland gelegene Quellen,58 wie etwa Bücher ausländischer Verlage oder Bibliotheken, für den Schutzbereich öffnet, sofern diese allgemein zugänglich sind. Auch die Informationsempfänger sind unabhängig von ihrem Aufenthaltsort geschützt,59 was in einer globalisierten und mobilen Welt auch im Buchhandel als eine ebenso wesentliche wie unausweichliche Erweiterung des Schutzbereichs erscheint.

Allgemeine Zugänglichkeit Die Reichweite des grundrechtlichen Schutzes der Informationsfreiheit wird nach dem Normtext entscheidend durch das Merkmal der „allgemeinen Zugänglichkeit“ der Informationsquelle bestimmt. Sie hat zur Folge, dass nicht jede vorhandene Information von einem grundrechtlichen Zugangsanspruch abgedeckt ist. Die Information muss sowohl tatsächlich als auch nach ihrer Zweckbestimmung für einen individuell nicht bestimmten Personenkreis zugänglich sein.60 Die tatsächliche Zugänglichkeit dürfte im Buchhandel vornehmlich für technische Schutzvorkehrungen im Bereich von E-Books eine Rolle spielen; allerdings können auch vergriffene Werke einen Anwendungsfall darstellen. Im Bereich der Bibliotheken stellen sich Verfügbarkeitsfragen ebenfalls. Im Übrigen liegt es weitgehend in der Hand der Rezipienten, den als angemessen angesehenen Aufwand für die Erreichung des tatsächlichen Zugangs zu bestimmen;61 die gezielte Umgehung von Sicherheitsvorkehrungen ist von der Informationsfreiheit nicht geschützt.62 Die allgemeine Zugänglichkeit wird aber nicht nur durch die tatsächliche Verfügbarkeit der Information, sondern auch durch ihre Eröffnung für den Rezipientenkreis durch diejenige Person bestimmt, die nach dem jeweils anwendbaren

57 Vgl. Degenhart in BK GG Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 167. 58 Vgl. BVerfGE 27, 71 (84); 90, 27 (32); Degenhart in BK GG Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 161; Schulze-Fielitz in Dreier GG Art. 5 Abs. 1–2 Rn. 78. 59 Grabenwarter in Dürig/Herzog/Scholz GG Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 Rn. 991. 60 BVerfGE 27, 71 (83); 90, 27 (32); 103, 44 (60); 145, 365 (372); Lerche Jura 1995, 561 (565). 61 Richtig Degenhart in BK GG Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 166. 62 Vgl. in diesem Sinne BVerfGE 66, 116 (137). S. auch Lerche Jura 1995, 561 (562, 565). Allerdings können rechtswidrig erlangte Informationen allgemein zugänglich (erneut) veröffentlicht werden und dann wieder Gegenstand des grundrechtlichen Schutzes sein; allerdings unterliegt diese Veröffentlichung mangels einer Berechtigung der Zugänglichmachung einer Eingriffsmöglichkeit über die Schrankenregelung des Art. 5 Abs. 2 GG.

362 

 VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

Zivilrecht oder öffentlichen Recht zur Verfügung über die Informationen berechtigt ist.63 Ein Anspruch auf Eröffnung einer nicht der Allgemeinheit zugänglichen Informationsquelle besteht nicht.64 Für den Bereich des Buchhandels bedeutet dies, dass auch aus grundrechtlicher Sicht die Letztentscheidung für die Veröffentlichung und damit die Entäußerung der Inhalte in den allgemeinen Diskurs den Urhebern nicht genommen ist. Auch die Rücknahme einer einmal eröffneten Informationsquelle ist für den privaten Autor möglich; in diesem Falle entfällt die allgemeine Zugänglichkeit, und das Informationsgrundrecht verliert für das konkrete Werk seinen Anwendungsbereich. Zudem steht dem Verfügungsberechtigten auch die Bestimmung der Bedingungen des Zugangs frei. Nicht jede Hürde lässt die Zugänglichkeit vollständig entfallen. Dies gilt beispielsweise für ökonomische Zugangsschranken wie Ladenpreise oder Gebühren für die Nutzung öffentlicher Bibliotheken, die an der allgemeinen Verfügbarkeit der Quelle nichts ändern.65 Entscheidend für die Reichweite der Bestimmungsbefugnis ist das jeweils einschlägige Fachrecht.66 Für diejenigen, die ein Buch verfassen oder publizieren, ist hier die in der Berufsfreiheit nach Art. 12 GG sowie in der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG verankerte Privatautonomie67 das leitende Verfassungsprinzip; im Falle öffentlicher Bibliotheken müssen sich die Teilhabemöglichkeiten mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 GG und dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang bringen lassen.68

2.3 Grundrechtsschranken Die Kommunikationsgrundrechte unterliegen wie nahezu alle grundrechtlichen Gewährleistungen Beschränkungsmöglichkeiten.69 Sie sind für die Meinungs- und Informationsfreiheit in Art.  5 Abs.  2 GG vorgesehen und dienen dem Ausgleich

63 BVerfGE 103, 44 (60); Degenhart in BK GG Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 163, 167. S. auch BVerfGE 145, 365 (372  f.). 64 Vgl. BVerfGE 103, 44 (60); 145, 365 (372  f.). 65 Vgl. dazu die Diskussion im Parlamentarischen Rat, wiedergeben bei von Doemming/Füßlein/ Matz JöR n. F. 1 (1951), 85  f. 66 BVerfGE 103, 44 (60  f.); BVerfG (K) NJW 2001, 503; NJW 2003, 500. Entsprechend auch Nolte NVwZ 2018, 521 (525). 67 BVerfGE 134, 204 (225). 68 Starck/Paulus, in v. Mangoldt/Klein/Starck GG Art. 5 Rn. 120 unter Hinweis auf BVerfGE 125, 175 (223); 132, 134 (160). 69 S. etwa Schulze-Fielitz in Dreier GG Art. 5 Abs. 1–2 Rn. 135  ff.; Schmidt-Jortzig in HdbStR VII § 162 Rn. 50  ff.

2 Grundrechtlicher Schutz in Deutschland und Europa 

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mit etwaigen konfligierenden Rechtsgütern und rechtlich geschützten Interessen. Die Herstellung des Ausgleichs im Wege der Interessenabwägung spielt gerade auch bei Büchern eine Rolle, wenn ein literarisches Werk in Persönlichkeitsrechte Dritter eingreift, indem beispielsweise ehrverletzende Behauptungen aufgestellt werden oder aber Interessen des Jugendschutzes betroffen sind.70 Hierzu sind für das Grundrecht der Kunstfreiheit, die zwar keinen gesetzlichen Schrankenvorbehalt vorsieht, wohl aber sogenannte verfassungsimmanente Schranken kennt, prominente verfassungsgerichtliche Entscheidungen ergangen, die der Freiheit der Autoren und ihrer künstlerischen Gestaltung durchaus weite Spielräume gewähren, weil das Werk „kunstspezifisch“ betrachtet und im Interesse der Freiheit der Kunst interpretiert werden muss.71 Diese Grundwertungen sind entsprechend auf den Bereich der Meinungs- und Informationsfreiheit übertragbar, da auch hier der Freiheit der Kommunikation hohes Gewicht zukommt. Freilich entfällt im Falle nichtkünstlerischer Literatur das Stilmittel der Verfremdung, welches die Interpretationsoffenheit erhöht und direkte persönliche Angriffe abzumildern vermag. Doch ist auch bei Meinungen eine wohlwollende, im Zweifel schutzgutkonforme Auslegung zugunsten der Freiheit der Rede zugrunde zu legen72 und überdies auch außerhalb des Kunstbereichs die werkinterne Bedeutung von Ausdrucks- und Stilmitteln angemessen zu berücksichtigen. Geprägt wird die Entscheidung über die Einschränkung der Kommunikationsgrundrechte allgemein durch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit73 und der Wechselwirkung im Bereich von meinungsrelevanten Äußerungen.74 Während die Verhältnismäßigkeit festlegt, dass nur zur Erreichung eines legitimen Ziels geeignete, erforderliche und auch im Einzelfall angemessene Eingriffsmaßnahmen in Betracht kommen, besagt die Wechselwirkungslehre, dass bei jeder Abwägungsentscheidung die besondere Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte und die „Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede“75 als Gegenkontrolle berücksichtigt werden müssen. Die grundrechtseinschränkenden Gesetze, die den Abwägungsvorgang zumindest abstrakt vorstrukturieren und vorabgewichten müssen, dürfen im Regelfall keine spezifischen Meinungen diskriminieren. Der Begriff der

70 Dazu BVerfGE 30, 336 (347); 33, 1 (16  f.); 77, 346 (356  ff.); 93, 266 (292  ff.). 71 S. beispielsweise BVerfGE 30, 173 (188  ff.) – Mephisto; 83, 130 (138  ff.) – Josefine Mutzenbacher; 119, 1 (20  ff.) – Esra. 72 Vgl. BVerfGE 93, 266 (290  ff.) – „Soldaten sind Mörder“. Nur Schmähkritik ist unzulässig. Vgl. BVerfG (K), NJW 1993, 1462. 73 Vgl. BVerfGE 33, 52 (72); Wendt in von Münch/Kunig GG Art. 5 Rn. 106. 74 Dazu BVerfGE 7, 198 (208  f.); 34, 384 (401); 71, 206 (214); 85, 1 (16); 124, 300 (332, 342); 128, 226 (265  f.); Dörr in HdbGR IV § 103 Rn. 110. 75 BVerfGE 54, 129 (137); 93, 266 (294).

364 

 VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

„allgemeinen Gesetze“ nach Art. 5 Abs. 2 GG verlangt Meinungsneutralität im Falle staatlicher Eingriffsmaßnahmen und gestattet meinungsbezogene Eingriffe nur zum Schutz von im Einzelfall gewichtigeren Rechtsgütern.76

2.4 Zensurverbot Das Grundgesetz verankert in Art.  5 Abs.  1 Satz  3 GG ein Zensurverbot, welches alle Kommunikationsgrundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG erfasst und mit besonderem Schutz ausstatten soll. Sinn staatlicher Zensur ist die „planmäßige Überwachung und Überprüfung des Geisteslebens“77. In der Tat ist insbesondere im Bereich von Druckwerken die Zensur, historisch gesehen, ein besonders verbreiteter und gravierender Eingriff in die freie Meinungsäußerung und die Informationsbeschaffung gewesen.78 Sie betraf auch die Veröffentlichung von Büchern. Allerdings spielt das Zensurverbot in seiner Ausgestaltung nach dem Grundgesetz in der heutigen verfassungsrechtlichen Wirklichkeit keine entscheidende Rolle mehr, obgleich es durchaus als Reaktion auf diese Praxis geschaffen wurde. Dies liegt zum einen an dem engen Verständnis, welches die herrschende Auffassung dem Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG beimisst, zum anderen an der überragenden Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der die allermeisten Konfliktfälle erfassen und lösen kann. Die heute herrschende Meinung sieht von dem Verbot des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG allein die Vorzensur, also ein vor der Veröffentlichung stehendes staatliches Prüfund Freigabeverfahren bezüglich des Inhalts der Information, an; die inhaltliche Prüfung und die Genehmigung müssen als einheitliches Verfahren ausgestaltet sein.79 Daraus folgt, dass nicht jedes staatliche Zugangshindernis automatisch eine verbotene Zensur darstellt. Im Gegenteil ist eine sogenannte Nachzensur, die an eine bereits veröffentlichte Aussage anknüpft, am Maßstab der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG zu prüfen. Auch die sogenannte Selbstzensur, die aus Sorge vor negativen Konsequenzen etwa in der öffentlichen Wahrnehmung dazu verleiten mag, in eigenen Texten Meinungen zu verschweigen oder zu verschleiern, Texte nicht oder nur in abgeänderter Form zu veröffentlichen, lässt sich vom Zensurverbot nicht erfassen und ist mangels staatlicher Einwirkung oft nicht einmal ein grund-

76 Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 810  ff. Vgl. etwa BVerfGE 33, 52 (66  ff.). 77 Löffler NJW 1969, 2225. 78 Vgl. dazu Kortländer/Stahl (Hrsg.), Zensur im 19. Jahrhundert, 2012. 79 BVerfGE 33, 52 (71  ff.); 47, 198 (236); 73, 118 (166); 83, 130 (155); 87, 209 (230); Bethge in Sachs GG Art. 5 Rn. 131; Grabenwarter in Dürig/Herzog/Scholz GG Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 Rn. 116; Wendt in von Münch/Kunig GG Art. 5 Rn. 106; Fiedler, Die formale Seite der Äußerungsfreiheit, 1999, S. 55  ff.

2 Grundrechtlicher Schutz in Deutschland und Europa 

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rechtliches Thema. Da die Zensur schließlich bei der publizierenden Stelle ansetzt, wird auch die Anwendbarkeit des Zensurverbots auf die Informationsfreiheit im Regelfall verneint.80 Allerdings ist das Zensurverbot des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG auch außerhalb seines Anwendungsbereichs ein Beleg für die Bedeutung, die das Verfassungsrecht dem ungehinderten Informationsfluss und Meinungsaustausch beimisst.81 Daher ist bei all diesen Fragen die objektive freiheitliche Wertentscheidung der Verfassung zu berücksichtigen, die von öffentlichen Stellen die Aufrechterhaltung eines offenen Meinungsklimas verlangt. Insofern ist es nach der freiheitlichen Grundwertung der Verfassung durchaus rechtfertigungsbedürftig, wenn es zu Nach- und Selbstzensur kommt. Bei der Nachzensur ist dies ein Anwendungsfall der Verhältnismäßigkeitsprüfung der staatlichen Maßnahme, bei der Selbstzensur stellt sich die Frage, ob die Rahmenbedingungen einem freien Meinungsaustausch weiterhin förderlich sind und inwiefern gegebenenfalls positive staatliche oder staatlich veranlasste Maßnahmen zur Sicherung von Vielfalt und Offenheit geboten erscheinen. Die Pluralität des Literaturbetriebs und des Buchhandels trägt hierzu jedenfalls sicherlich bei.

2.5 Schutz der Kommunikationsgrundrechte in Europa Auch in den maßgeblichen europarechtlichen Rechtstexten sind die Kommunikationsgrundrechte geschützt. Dieser Grundrechtsschutz verstärkt den bestehenden Schutz publizistischer Tätigkeit in Deutschland, aber auch in den anderen Mitgliedstaaten des Europarats bzw. der Europäischen Union. Er steht im Einklang mit internationalen Grundrechtstexten wie der – rechtlich unverbindlichen, aber politisch bedeutenden – Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der VN-Generalversammlung von 1948 mit ihrem Art. 19 sowie dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 196682 mit seinem Art. 19. Die Meinungsfreiheit einschließlich des Empfangs und der Weitergabe von Informationen ist in Art. 10 Abs. 1 Satz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt.83 Die Zensur

80 BVerfGE 27, 88 (102); Degenhart in BK GG Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 554; Schulze-Fielitz in Dreier GG Art. 5 Abs. 1–2 Rn. 173. Anders Löffler NJW 1969, 2225; Bethge in Sachs GG Art. 5 Rn. 129; SchmidtJortzig in HdbStR VII § 162 Rn. 55  f. 81 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa Fiedler, Die formale Seite der Äußerungsfreiheit, 1999, S. 63  ff., 402  ff. 82 BGBl. 1973 II S. 1534. 83 EGMR 28.3.1990 – 10890/84, Gropera u.  a./Schweiz, Série A no 173; 24.11.1993 – 13914/88 u.  a., Informationsverein Lentia u.  a./Österreich, Série A no 276; 1.12.2015 – 48226/10 und 14027/11, Cengiz u.  a./Türkei.

366 

 VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

von Informationsmitteln ist als Eingriff in die Meinungsfreiheit anerkannt.84 Auch die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit ist nach allgemeiner Ansicht hier ein Anwendungsfall der Meinungsfreiheit.85 In der Rechtsprechung ist die Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte des Art. 10 EMRK weithin anerkannt.86 Einschränkungen der Meinungs- und Informationsfreiheit sind nur unter den strengen Schrankenregelungen des Art. 10 Abs. 2 EMRK möglich, die gesetzliche Regelungen lediglich dann gestatten, wenn sie „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sind.87 Der grundrechtliche Schutz im europäischen Unionsrecht gegenüber Unionsorganen und Mitgliedstaaten nach Maßgabe des Art. 51 Abs. 1 GRCh ist vergleichbar ausgestaltet. Das Grundrecht der Meinungs- und Informationsfreiheit in Art. 11 Abs. 1 GRCh entspricht gemäß Art. 52 Abs. 3 GRCh inhaltlich Art. 10 EMRK.88 Eingriffe sind unter den Voraussetzungen des Art.  52 Abs.  1 GRCh auf gesetzlicher Grundlage und unter Wahrung des Wesensgehalts des Grundrechts sowie der Verhältnismäßigkeit möglich. Im europäischen Unionsrecht ist der Schutz der Kunstund Wissenschaftsfreiheit in Art. 13 GRCh gesondert geregelt.

3 Wirtschaftsrechtliche Rahmenbedingungen (Claas Friedrich Germelmann) Die wirtschaftsrechtlichen Rahmenbedingungen des Buchhandels sollen hier nur in zwei Schlaglichtern behandelt werden, die einen Bezug zum höherrangigen Recht aufweisen und damit die besondere verfassungsrechtliche und unionsrechtliche Stellung des Buchs beispielhaft beleuchten.

84 EGMR (GK) 10.5.2001 – 25781/94, Zypern/Türkei, Rn. 248  ff. 85 EGMR 24. 5. 1988  – 10737/84, Müller/Schweiz; 20. 9. 1994  – 13470/87, Otto-Preminger-Institut/ Österreich; 29. 3. 2005  – 40287/98, Alinak/Türkei; 23.6.2009  – 17089/03, Sorguç/Türkei; 8.6.2010  – 44102/04, Sapan/Türkei, 25.8.1998 – 25181/94, Hertel/Schweiz. 86 Vgl. etwa EGMR 7.12.1976  – 5493/72, Handyside/Vereinigtes Königreich; 28.10.1999  – 28396/95, Wille/Liechtenstein. 87 Vgl. hierzu EGMR 28.3.1990 – 10890/84, Gropera u.  a./Schweiz, Série A no 173, Rn. 69  ff.; 24.11.1993 – 13914/88 u.  a., Informationsverein Lentia u.  a./Österreich, Série A no 276, Rn.  34  ff.; EGMR (GK) 8.11.2016 – 18030/11, Magyar Helsinki Bizottság/Ungarn, Rn. 187  ff. Allgemein Sudre Droit européen et international des droits de l’homme, Rn. 542. 88 Vgl. aus der Rechtsprechung etwa EuGH (GK) 22.1.2013, C-283/11  – Sky Österreich; 29.7.2019, C-516/17 – Spiegel Online; EuGH 8.9.2016, C-160/15 – GS Media.

3 Wirtschaftsrechtliche Rahmenbedingungen 

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3.1 Pflichtexemplarrecht Die besondere Bedeutung des Buchs als Ausdruck kulturellen Schaffens und als Zeugnis des geistigen und kulturellen Erbes einer Epoche rechtfertigt die Ablieferungspflicht von Belegexemplaren an öffentliche Bibliotheken, wie etwa Landesbibliotheken89 oder die Deutsche Nationalbibliothek.90 Diese Ablieferungspflichten sind im Regelfall nicht vergütet und stellen einen Eingriff in das Eigentum der abgabeverpflichteten Verlage nach Art.  14 GG dar. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit muss diese Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums trotz des legitimen kulturpolitischen Ziels im Falle kostenaufwendig und in kleiner Auflage hergestellter Werke mit Entschädigungs- oder Zuschusspflichten verknüpft sein.91 Dies trägt dazu bei, dass auch die Herstellung solcher Werke durch den staatlichen Kulturförderauftrag, dem die Ablieferung letztlich dient, nicht wirtschaftlich verhindert wird.

3.2 Buchpreisbindung Eine Besonderheit in der rechtlichen Stellung von Büchern am Markt stellt das Buchpreisbindungsgesetz92 dar, welches die Festsetzung von Endabnehmerpreisen für neue (nicht antiquarische) Bücher und ähnliche Gegenstände wie Musiknoten oder kartografische Produkte (§  2 BuchPrG) anordnet. Der Zweck liegt in einem besonderen „Schutz des Kulturgutes Buch“ sowie der Sicherung eines breiten Angebots von Produkten und Verkaufsstellen (§ 1 BuchPrG) durch die weitgehende Verhinderung von Preiswettbewerb.93 Die Preisfestsetzung erfolgt dabei nicht durch eine staatliche Stelle, sondern durch den Verlag oder Importeur des Buchs (§ 5 BuchPrG); der Preis darf im Verkauf, abgesehen von wenigen Ausnahmen (§ 7 BuchPrG), nicht unterschritten werden. Eine Aufhebung der Buchpreisbindung ist nach 18 Monaten ab Erscheinen des Werkes möglich (§ 8 BuchPrG). 3.2.1 Buchpreisbindung und europäisches Binnenmarktrecht Die Preisregelung stellt einen Fremdkörper in der marktlichen Preisbildung dar und steht an sich mit den Garantien der Berufsfreiheit der betroffenen Markt-

89 Z.  B. § 12 NPresseG. 90 §§ 14  ff., 20 DNBG i. V. m. der Pflichtablieferungsverordnung – PflAV. 91 BVerfGE 58, 137 (149  ff.). 92 BGBl. 2002 I S. 3448. 93 Alexander AfP 2009, 335 (336).

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 VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

akteure nach Art. 12 GG, zu der auch die Entscheidung über die Festsetzung von Preisen gehört, in einem Spannungsverhältnis. Auch mit dem europäischen Binnenmarktrecht steht sie in Konflikt, welches durch die Warenverkehrsfreiheit des Art. 34 AEUV Maßnahmen gleicher Wirkung wie Einfuhrbeschränkungen verbietet, worunter alle Maßnahmen zu fassen sind, die unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell geeignet sind, den Binnenhandel zu beeinträchtigen.94 Auch wenn hierin nur Vertriebsmodalitäten zu sehen sind,95 kann die Verpflichtung zur Festlegung von Mindestpreisen in Deutschland den Warenimport in diesen Mitgliedstaat negativ beeinflussen, sofern durch die Mindestpreisregelungen ausländische Importwaren schlechter als inländische gestellt werden, etwa weil für sie keine dem Zielmarkt angemessene Preisbildung möglich ist.96 Dies begründet einen Eingriff in die Freiheit des Warenverkehrs. Weniger problematisch ist die Buchpreisbindung aus Sicht des Wettbewerbsrechts gemäß Art. 101 AEUV, da hier ein sachlich begründetes staatliches Handeln, nicht aber ein unternehmerisches Kartell vorliegt.97 3.2.2 Kulturelle und politische Funktionen des Buchs Der vom Gesetzgeber angestrebte Zweck, der im Schutz des Buchs als Kulturgut und in der Wahrung der Vielfalt des Angebots sowie der Verkaufsstellen liegt, kann durchaus als Rechtfertigungsgrund Eingriffe sowohl in das Grundrecht der Berufsfreiheit als auch in die Warenverkehrsfreiheit des Unionsrechts tragen. Die Berufsfreiheit garantiert keinen maximalen Gewinn und keine günstigen Wettbewerbsbedingungen; die Preisfestsetzung bleibt überdies weiterhin den Verlagen oder Importeuren vorbehalten. In Bezug auf den Binnenmarkt ist es anerkannt, dass zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls Einschränkungen des freien Warenverkehrs tragen können.98 Die besondere Stellung des Buchs als Ware und als Kulturgut zugleich99 sowie die Zielsetzung der Pluralität sind für sich genommen

94 Grundlegend EuGH 11.7.1974, 8/74, Slg. 1974, 837 – Dassonville. 95 Im Sinne von EuGH 24.11.1993, C‑267/91 und C‑268/91, Slg. 1993, I‑6097 – Keck und Mithouard. 96 Vgl. EuGH 30.4.2009, C-531/07, Slg. 2009, I-3717 – Fachverband der Buch- und Medienwirtschaft/ LIBRO zur österreichischen Regelung; allgemein zu Mindestpreisen im Warenverkehr EuGH 23.12.2015, C-333/14 – Scotch Whisky Association u.  a.; 21.9.2016, C-221/15 – Établissements Fr. Colruyt. Aus früherer Zeit zur Buchpreisbindung EuGH 10.1.1985, 229/83, Slg. 1985, 1 – Association des Centres distributeurs Leclerc und Thouars Distribution; 3.10.2000, C-9/99, Slg. 2000, I-8207 – Échirolles Distribution. 97 Näher Alexander AfP 2009, 335 (337  ff.); Zelger, ZUM 2021, 1000 (1002  ff.). 98 EuGH 20.2.1979, 120/78, Slg. 1979, 649 – Rewe-Zentral („Cassis de Dijon“). 99 Vgl. Alexander AfP 2009, 335 (335  f.).

3 Wirtschaftsrechtliche Rahmenbedingungen 

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sachlich überzeugende Gründe,100 die sich nicht zuletzt auf seine gesellschaftlich erwünschte und erforderliche Kommunikationsfunktion zurückführen lassen. Der Umstand, dass die Buchpreisbindung nicht nur kleinere Verkaufsstellen schützt, was allein kein hinreichender Sachgrund sein dürfte, sondern überdies auch der Vielfalt kleinerer Verlage und damit der Pluralität des Angebots insgesamt zugutekommt, ist wesentlich für den Fortbestand des inhaltlichen Reichtums des Buchmarktes. Insofern trägt die Maßnahme zu einer Angebotspluralität bei und verhindert die Entstehung von markt- und meinungsbezogenen beherrschenden Stellungen.101 Die Genauigkeit der Zielerreichung der Buchpreisbindung ist zwar verschiedentlich kritisiert worden, ohne sie aber gänzlich in Frage zu stellen.102 Die gesetzgeberische Entscheidung ist jedenfalls plausibel. Auch wenn sich aus der Informationsfreiheit selbst kein zwingender Anspruch in diese Richtung ergibt, spricht doch das in ihr verankerte Vielfaltsargument für die Zulässigkeit der Buchpreisbindung. Für Medien wie Zeitschriften ist Entsprechendes in der Rechtsprechung des EuGH schon länger anerkannt.103 Freilich wird eine Differenzierung nach den Buchinhalten dabei aus tatsächlichen Gründen unmöglich sein. Aus binnenmarktrechtlicher Sicht wesentlich bleibt in jedem Falle die verhältnismäßige Ausgestaltung der Maßnahme mit Blick auf importierte Bücher; sofern diese am Markt benachteiligt werden, was auch nach der Regelung des § 5 BuchPrG nicht auszuschließen ist, besteht die Gefahr einer Unionsrechtsverletzung trotz der an sich rechtfertigungsfähigen Zielsetzung der Pluralitätssicherung.104 Gerade im heutigen Informationsumfeld, das erhebliche Herausforderungen bezogen auf die (oft digitale) Informationsbeschaffung, -verarbeitung und -vermittlung in komplexen Sachverhalten bei gleichzeitiger unkontrollierter Steigerung verfügbarer, aber unterschiedlich zuverlässiger Quellen und Informationswege kennt, ist eine Stabilisierung der Vielfalt des Buchmarktes geboten.105 Hinzu kommt die Notwendigkeit von adäquaten und gleichberechtigten Zugangsmöglichkeiten auch in diesem Bereich des Informationsmarktes. Wenngleich allein die Buchpreisbindung für alle diese Herausforderungen keine sichere Gewähr übernehmen kann

100 Grundsätzlich auch anerkannt durch EuGH 30.4.2009, C-531/07, Slg. 2009, I-3717 – Fachverband der Buch- und Medienwirtschaft/LIBRO. Nicht einschlägig ist hingegen der Kulturgutbegriff des Art. 36 AEUV. 101 Zu Problemen in Bezug auf Rabattregelungen s. jüngst Pohlmann ZUM 2021, 124. 102 So namentlich vom 80. Sondergutachten der Monopolkommission „Die Buchpreisbindung in einem sich ändernden Marktumfeld“, 2018, aus wettbewerbspolitischer Sicht. Dagegen Zelger ZUM 2021, 1000. 103 Vgl. entsprechend EuGH 26.6.1997, C-368/95, Slg. 1997, I–3689 – FamiliaPress. 104 So auch Alexander AfP 2009, 335 (341). 105 Vgl. auch BeckOK InfoMedienR/Hennemann, BuchPrG § 1 Rn. 6.

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 VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

und auch vermittels Büchern Fehlinformationen transportiert werden können, erschwert eine erhöhte Pluralität doch Manipulationen und die Herausbildung vorherrschender Meinungen zugunsten eines kritischen Dialogs. Der Leserschaft ein möglichst weites und diverses Feld an Informationen zu eröffnen, liegt im Interesse der Informationsgesellschaft. Freilich bleibt es dabei, dass das Vielfaltsangebot im Buchhandel immer nur eine Option darstellt, welche der oder die Einzelne wahrnehmen kann, aber letztlich nicht wahrnehmen muss.

4 Immaterialgüterrechtliche Fragen (Jan Eichelberger) Bücher transportieren Inhalte: Texte, Bilder, Grafiken, Noten. Diese Inhalte entstanden oft durch gedankliche Leistung: dichten, malen, komponieren, ordnend sammeln, edieren. Zumeist sind diese Inhalte deshalb urheberrechtlich geschützte Werke (§ 2 Urheberrechtsgesetz [UrhG]) oder sonstige urheberrechtlich geschützte Leistungen. Der Titel eines Buchs oder einer sonstigen Druckschrift kann als Werktitel markenrechtlich geschützt sein (§ 5 Absatz 3 Markengesetz).106 Diese Rechte an den Inhalten des Buchs dürfen nicht mit dem Eigentum am Buch gleichgesetzt werden; vielmehr handelt es sich um strikt auseinanderzuhaltende Rechte, die ihren jeweils eigenen Regeln folgen. Wer ein Buch erwirbt, wird dadurch zwar Eigentümer des Buchs; ihm „gehört“ das Buch. Er kann, wie § 903 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) sagt, damit „nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen“, „soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen.“ Befugnisse hinsichtlich des Rechts am Inhalt des Buchs erlangt der Erwerber damit aber nicht. So heißt es in § 44 Absatz 1 UrhG: „Veräußert der Urheber das Original des Werkes, so räumt er damit im Zweifel dem Erwerber ein Nutzungsrecht nicht ein.“ Der Eigentümer des Buchs darf somit zwar mit der Sache „Buch“, dem also, was er physisch in der Hand hat, an sich „nach Belieben verfahren“; er muss dabei aber die Rechte des Urhebers der durch das Buch transportierten Inhalte beachten. In diese Rechte greift er beispielsweise ein, wenn er Inhalte aus dem Buch fotokopiert oder scannt. Denn urheberrechtlich ist das eine „Vervielfältigung“ des Werks, und dieses Recht steht allein dem Urheber zu (§  16 Absatz  1 UrhG). Sofern dieser Eingriff nicht durch den Urheber erlaubt wurde (insbesondere durch ein dem Handelnden eingeräumtes „Nutzungsrecht“) oder durch das Gesetz selbst gestattet ist (durch sogenannte „Schranken“), handelt der Eigentümer des Buchs rechtswidrig. Die Folge sind Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche (§ 97 Absatz 1 UrhG) sowie – bei Verschulden – auch Schadens-

106 Beispiel: BGH, Urt. v. 23.01.2003 – I ZR 171/00, GRUR 2003, 440 – Winnetous Rückkehr.

4 Immaterialgüterrechtliche Fragen 

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ersatzansprüche (§ 97 Absatz 2 UrhG). Der Einwand, als Eigentümer des Buchs mit diesem doch machen können zu dürfen, was man will, trägt insoweit also nicht. Die mannigfachen Konsequenzen aus diesem Nebeneinander von Sacheigentum und Urheberrecht sind juristischen Laien (und bisweilen nicht nur diesen) oft nicht hinreichend bekannt und mögen bisweilen sogar auf Unverständnis stoßen. Dass etwa ein gedrucktes Buch ohne Verletzung des Urheberrechts auf dem Flohmarkt weiterverkauft werden darf, ein digitales Buch („E-Book“) dagegen nicht, liegt nicht unmittelbar auf der Hand (siehe auch Abschnitt 4.5.3 Verbreitungsrecht – Erschöpfung). Gerade die bereits seit längerem stetig voranschreitende Digitalisierung hat hier für neue Probleme gesorgt; die derzeit rasanten Fortschritte bei der sogenannten „Künstlichen Intelligenz“ (KI) erst recht. Was etwa, so lautet eine derzeit breit diskutierte Frage, ist mit Inhalten, die nicht (unmittelbar) auf menschliches Tun – Dichten, Malen, Komponieren etc. – zurückgehen, sondern von einer KI „geschaffen“ werden. Entstehen daran auch Urheberrechte, und falls ja, für wen? Im Folgenden sollen einige grundlegende urheberrechtliche Fragen im Zusammenhang mit Büchern erörtert werden. Ziel ist es, einen ersten Einblick in die Thematik und bestenfalls eine Sensibilisierung für die sich bei der Herstellung und Nutzung von Büchern ergebenden urheberrechtlichen Fragen zu geben; eine umfassende juristische Aufarbeitung ist hier weder zu leisten noch beabsichtigt.

4.1 Grundlagen und Fragestellungen 4.1.1 Immaterialgüterrecht und Immaterialgut Das Immaterialgüterrecht befasst sich mit dem Schutz geistiger Leistungen. Prototypisch dafür ist der im Folgenden näher betrachtete urheberrechtliche Schutz für „Werke“ der Literatur, Wissenschaft und Kunst (§ 1 UrhG). Geistige Leistungen auf technischem Gebiet können als „Erfindung“ patentrechtlichen Schutz genießen, für produktgestalterische Leistungen kommt Designschutz in Betracht, ein auf die Herkunft einer Ware oder Dienstleistung aus einem bestimmten Unternehmen verweisendes Zeichen kann als Marke geschützt sein. Stets geht es um ein immaterielles, das heißt nicht in einem körperlichen Gegenstand – einer „Sache“ (s. § 90 BGB) – vorliegendes Gut. Dass dieses Immaterialgut sehr häufig in einer Sache verkörpert ist  – Gedichte sind in einem Buch abgedruckt  –, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Gegenstand des Immaterialgüterrechts stets nur die immaterielle Leistung, nicht dagegen die sie verkörpernde Sache ist. Letztere unterliegt – wie eingangs dargelegt – dem (Sach-)Eigentumsrecht.

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 VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

4.1.2 Ausschließlichkeitsrecht Immaterialgüterrechte verleihen ihrem Inhaber zuvorderst das Recht, das Immaterialgut zu verwerten und jeden anderen von dessen unberechtigter Nutzung auszuschließen (s. §  15 Absatz  1 UrhG: „Der Urheber hat das ausschließliche Recht, sein Werk in körperlicher Form zu verwerten …“ und § 15 Absatz 2 Satz 1 UrhG: „Der Urheber hat ferner das ausschließliche Recht, sein Werk in unkörperlicher Form öffentlich wiederzugeben (Recht der öffentlichen Wiedergabe)“). In dieser Wirkung ähneln Immaterialgüterrechte dem (Sach-)Eigentum, was sich im Begriff des „Geistigen Eigentums“ widerspiegelt.107 4.1.3 Schranken Wie das Sacheigentum (s. § 903 Halbsatz 2 BGB) wird auch das geistige Eigentum nicht grenzenlos gewährt. Vielmehr kennt das Recht zahlreiche Beschränkungen, sogenannte „Schranken.“ Beispielsweise gestattet § 53 Absatz 1 Satz 1 UrhG, „einzelne Vervielfältigungen eines Werkes durch eine natürliche Person zum privaten Gebrauch auf beliebigen Trägern, sofern sie weder unmittelbar noch mittelbar Erwerbszwecken dienen, soweit nicht zur Vervielfältigung eine offensichtlich rechtswidrig hergestellte oder öffentlich zugänglich gemachte Vorlage verwendet wird.“ Vereinfacht ausgedrückt: Zum rein privaten Gebrauch dürfen Kopien aus Büchern angefertigt werden; der darin liegende Eingriff in das Vervielfältigungsrecht (§ 16 Absatz 1 UrhG) des Urhebers wird durch § 53 Absatz 1 Satz 1 UrhG gesetzlich erlaubt. Im Detail liegt es freilich weit komplizierter, da § 53 in den Absätzen 4 bis 7 UrhG wiederum Rückausnahmen vorsieht. Das UrhG kennt in den §§ 44a bis 63a UrhG eine Vielzahl von Schranken mit teils ganz unterschiedlicher Zielrichtung und jeweils eigenen Voraussetzungen. Jüngst grundlegend neugefasst wurden beispielsweise die Schranken zur Nutzung für den Unterricht, die Wissenschaft und durch Bibliotheken, Archive, Museen etc. (§§  60a–60h UrhG). Weitere Schranken betreffen etwa die Nutzung „verwaister Werke“ (§§ 61–61c UrhG; auch „orphan works“), also von veröffentlichten Werken, deren Rechteinhaber nicht festgestellt werden können, sodass die für beispielsweise einen Nachdruck oder eine Digitalisierung und digitale Zugänglichmachung notwendige Lizenz nicht erworben werden kann. Eine weitere Schranke betrifft die Nutzung „nicht verfügbarer Werke“, das heißt von Werken, die der Allgemeinheit auf keinem üblichen Vertriebsweg in einer vollständigen Fassung angeboten werden (§§ 61d–61g UrhG).

107 Dazu eingehend Jänich, Geistiges Eigentum – eine Komplementärerscheinung zum Sacheigentum?, 2002.

4 Immaterialgüterrechtliche Fragen 

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4.2 Schutzgegenstand 4.2.1 Urheberrecht Das Urheberrecht schützt Werke der Literatur, Wissenschaft und Kunst (§ 1 UrhG), aber auch Computerprogramme (§ 2 Absatz 1 Nr. 1, §§ 69a ff. UrhG) sowie Sammelund Datenbankwerke (§ 4 UrhG). § 2 Absatz 1 UrhG enthält eine (nicht abschließende) Aufzählung schutzfähiger Werke. „Sprachwerke“ (Nr. 1) meint Texte jeder Art: nicht nur literarische oder wissenschaftliche Texte, sondern genauso technische und geschäftliche Texte sowie Texte des täglichen Lebens, stets ohne Rücksicht auf die dabei benutzte Sprache.108 Fotografien können Lichtbildwerke (Nr. 5) bzw. Lichtbilder (§ 72 UrhG) sein, Illustrationen, Zeichnungen, Skizzen etc., Werke der bildenden Künste (Nr. 4) oder – wenn sie belehrenden Inhalt auf wissenschaftlichem oder technischem Gebiet haben  – Darstellungen wissenschaftlicher oder technischer Art (Nr. 7). Entscheidend für ein urheberrechtsschutzfähiges Werk ist es, dass es sich um eine „persönliche geistige Schöpfung“ handelt, § 2 Absatz 2 UrhG. Im Werk muss sich „die Persönlichkeit seines Urhebers widerspiegel[n], indem [es] dessen freie kreative Entscheidung zum Ausdruck bringt“109. Diese Formulierung darf nicht dazu verleiten anzunehmen, geschützt seien nur besonders individuelle oder herausragende oder gar einzigartige Leistungen. Die Schwelle zum urheberrechtsschutzfähigen Werk liegt viel niedriger.110 Gerade Inhalte, die typischerweise in Büchern zu finden sind, werden diese Anforderungen oft ohne weiteres erfüllen. Im Prinzip kann bereits ein aus wenigen Wörtern bestehender Satz oder Satzteil ein Sprachwerk darstellen; es gibt insoweit keinen quantitativen Mindestumfang, sondern entscheidend ist allein, ob die Wortfolge den „schöpferischen Geist“ des Urhebers zum Ausdruck bringt.111 Bejaht wurde dies beispielsweise für das Wort Karl Valentins „Mögen hätte ich schon wollen, aber dürfen habe ich mich nicht getraut“112, verneint für die von Opa Hoppenstedt (Loriot) geprägte Feststellung „Früher war mehr Lametta!“113 sowie – in der Begründung indes nicht über jeden Zweifel erhaben – den auf Twitter veröffentlichten Tweet „Wann genau ist aus ‚Sex, Drugs & Rock n Roll‘ eigentlich ‚Laktoseintoleranz, Veganismus & Helene Fischer‘ geworden?“114.

108 Seifert/Wirth in: Eichelberger/Wirth/Seifert, UrhG, 4. Aufl. 2022, § 2 Rn. 12. 109 EuGH, Urteil vom 11.06.2020 – C-833/18, GRUR 2020, 736 Rn. 23  f. – Brompton/Get2Get. 110 Näher Loewenheim/Leistner in: Schricker/Loewenheim, Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, § 2 Rn. 59  ff. 111 EuGH, Urteil vom 16.07.2009 – C-5/08, GRUR 2009, 1041 Rn. 45–48 – Infopaq. 112 LG München I, Urt. v. 08.09.2011 – 7 O 8226/11, ZUM 2011, 944. 113 OLG München, Beschluss vom 14.08.2019 – 6 W 927/19, ZUM-RD 2020, 140. 114 LG Bielefeld, Beschluss vom 03.01.2017 – 4 O 144/16, ZUM-RD 2017, 657.

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 VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

Urheberrechtlich geschützt ist allein das konkrete Werk, die konkrete persönliche geistige Schöpfung, die eine Form in der Außenwelt gefunden hat, also im Ausgangspunkt nur der Text, das Gemälde, die Komposition. Die dem Werk zugrundeliegenden Ideen oder Erkenntnisse sowie die zu seiner Schaffung eingesetzten Mal- oder Schreibstile oder Techniken als solche genießen hingegen keinen urheberrechtlichen Schutz.115 Diese zur Schaffung eines anderen Werks aufzugreifen oder einzusetzen, ist deshalb für sich genommen urheberrechtlich unproblematisch, solange sich das Ergebnis nicht als Vervielfältigung (§ 16 Absatz 1 UrhG) oder Bearbeitung (§ 23 Absatz 1 UrhG) eines älteren Werks darstellt und deshalb in das Urheberrecht an diesem Werk eingreift. Dasselbe gilt für wissenschaftliche Erkenntnisse; diese sind nicht selbst urheberrechtlich geschützt,116 sondern schutzfähiges Sprachwerk kann nur die konkrete Art und Form der Darstellung dieser Erkenntnis in einem Text sein.117 Die Wiedergabe einer fremden wissenschaftlichen Erkenntnis in eigenen Worten ist deshalb urheberrechtlich unproblematisch. Ohne hinreichende Zitierung des Originals handelt es sich freilich regelmäßig um einen eklatanten Verstoß gegen die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis. Werkschutz kann allerdings auch der inneren Struktur eines Werks zukommen, so etwa beim Sprachwerk dessen eigenpersönlich geprägten Bestandteilen und formgebenden Elementen, die im Gang der Handlung, in der Charakteristik und Rollenverteilung der handelnden Personen, der Ausgestaltung von Szenen und in der „Szenerie“ des Romans liegen (sogenannter „Fabelschutz“).118 Die „Fortsetzung“ des Romans Dr. Schiwago von Boris Pasternak durch einen englischen Rechtsanwalt unter Verwendung charakteristischer Figuren und Handlungssträngen des Originals verletzte deshalb das Urheberrecht Pasternaks, obwohl in Laras Tochter keine Textstellen aus Dr. Schiwago übernommen wurden. Aus der Definition des Werks als „persönliche geistige Schöpfung“ folgt, dass nur Ergebnisse einer menschlich-gestalterischen Tätigkeit urheberrechtsschutzfähig sind.119 Beim Schaffensprozess technische Hilfsmittel einzusetzen, ist dabei selbstverständlich unproblematisch. Zum Problem wird es aber, wenn eine Maschine den Schaffensprozess vollständig selbst übernimmt. Medial einige Aufmerksamkeit erlangte vor einiger Zeit die Versteigerung des Portrait of Edmond de Belamy für 432.500 US-$. Das Bild war von einem Algorithmus geschaffen worden,

115 Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht, 10. Aufl. 2021, Rn. 199  ff. 116 Für bestimmte Ideen auf technischem Gebiet – „Erfindungen“ – kommt aber patentrechtlicher oder gebrauchsmusterrechtlicher Schutz in Betracht. 117 BGH, Urteil vom 21.11.1980 – I ZR 106/78, GRUR 1981, 352 – Staatsexamensarbeit. 118 BGH, Urteil vom 29.04.1999 – I ZR 65/96, GRUR 1999, 984 – Laras Tochter. 119 Loewenheim/Leistner in: Schricker/Loewenheim, Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, § 2 Rn. 38.

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der zuvor anhand von 15.000 Portraitgemälden aus dem 14. bis 20. Jahrhundert trainiert worden war.120 Weit fortgeschritten ist auch die vollständig autonome Erstellung von menschengemacht anmutenden Texten durch darauf spezialisierte technische Systeme. Nach derzeitigem Stand sind die Arbeitsergebnisse solcher Systeme mangels menschlich-gestalterischer Tätigkeit urheberrechtlich nicht geschützt, sie sind gemeinfrei.121 So liegt es beispielsweise auch bei einer vollständig automatisierten Übersetzung eines Textes. Nur wenn an der Erstellung der Übersetzung ein Mensch schöpferisch beteiligt ist, namentlich eine maschinelle „Rohübersetzung“ derart nachbearbeitet, dass darin dessen eigene Persönlichkeit zum Ausdruck kommt, genießt die Übersetzung (neben dem Original) Schutz als Werk (s. § 3 Satz 1 UrhG).122 4.2.2 Verwandte Schutzrechte Neben den Werken kennt das Urhebergesetz eine Reihe weiterer Schutzgegenstände, die sogenannten „verwandten Schutzrechte“ bzw. „Leistungsschutzrechte.“ Im hiesigen Kontext sind insbesondere zwei zu nennen: Zum einen werden werkgleich, nur mit kürzerer und an das Erscheinen bzw. die Herstellung anknüpfender Dauer, geschützt Ausgaben urheberrechtlich nicht geschützter Werke oder Texte, wenn sie das Ergebnis wissenschaftlich sichtender Tätigkeit darstellen und sich wesentlich von den bisher bekannten Ausgaben der Werke oder Texte unterscheiden (§ 70 UrhG: „wissenschaftliche Ausgaben“). So lag es beispielsweise bei einer 350 Seiten umfassenden Rekonstruktion eine Gerichtsprozesses anhand von zeitgenössischen Zeitungsberichten als Ergebnis einer nach wissenschaftlichen Methoden erfolgten sichtenden, ordnenden und abwägenden Tätigkeit.123 Zum anderen erlangt Schutz, wer ein nicht erschienenes Werk nach Erlöschen des Urheberrechts erlaubterweise erstmals erscheinen lässt oder erstmals öffentlich wiedergibt (§ 71 UrhG: „nachgelassene Werke“, auch „editio princeps“), so etwa der Verleger des zuvor im Inland nicht erschienenen Jugendwerks TE DEUM von Georges Bizet.124

120 https://www.christies.com/features/A-collaboration-between-two-artists-one-human-one-amachine-9332-1.aspx. 121 Eingehend Dornis, Der Schutz künstlicher Kreativität im Immaterialgüterrecht, GRUR 2019, 1252. 122 Loewenheim/Leistner in: Schricker/Loewenheim, Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, § 2 Rn. 39. 123 BGH, Urteil vom 23.05.1975 – I ZR 22/74, GRUR 1975, 667 – Reichswehrprozess. 124 BGH, Urteil vom 21.03.1975 – I ZR 109/73, GRUR 1975, 447 – TE DEUM.

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 VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

4.3 Rechteinhaber Urheber ist der Schöpfer des Werks (§ 7 UrhG). Haben mehrere ein Werk gemeinsam geschaffen, ohne dass sich ihre Anteile gesondert verwerten lassen, so sind sie Miturheber des Werks (§ 8 Absatz 1 UrhG). Bei diesem Schöpferprinzip bleibt es auch, wenn das Werk im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses oder auf Bestellung geschaffen wird (s. § 43 UrhG). Der angestellte (und dafür entlohnte) Autor wird (und bleibt) deshalb ebenso Urheber des von ihm geschaffenen Sprachwerks wie die mit der Illustration eines Buchs beauftragte Grafikerin. In Betracht kommt allein, dass der Arbeit- oder Auftraggeber auf vertraglicher Grundlage Nutzungsrechte am Urheberrecht erlangt, was auch stillschweigend geschehen kann.125 Der Urheber kann sein Urheberrecht  – in Konsequenz der monistischen Theorie – grundsätzlich nicht übertragen (§ 28 Absatz 1 UrhG). Er kann Anderen, etwa einem Verlag, aber Nutzungsrechte einräumen (§ 31 Absatz 1 UrhG). Nutzungsrechte können exklusiv (§ 31 Absatz 3 UrhG: „ausschließlich“) oder nicht-exklusiv (§ 31 Absatz 2 UrhG: „nicht-ausschließlich“) sowie zeitlich (beispielsweise nur für ein Jahr), räumlich (beispielsweise nur für Deutschland) oder inhaltlich (beispielsweise nur als Taschenbuchausgabe) beschränkt ausgestaltet werden (§ 31 Absatz 1 Satz 2 UrhG). Möglich ist auch, einem Verlag umfassende Nutzungsrechte am Werk einzuräumen, und sogar Rechte an Nutzungsarten, die bislang noch gar nicht bekannt sind (§ 31a UrhG). Nutzungsrechte sind übertragbar sowie gegebenenfalls unterlizenzierbar, jedoch regelmäßig nur mit Zustimmung des Urhebers (§§ 34, 35 UrhG). Das Urheberrecht ist vererblich (§ 28 Absatz 1 UrhG), geht also mit dem Tod des Urhebers auf dessen Erben über (§ 1922 BGB).

4.4 Schutzdauer Das Urheberrecht erlischt 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers (§ 64 UrhG). Schöpfungen in jungen Jahren können also weit über 100 Jahre Schutz genießen. Mit dem Erlöschen des Urheberrechts wird das Werk „gemeinfrei“; es darf fortan von jedermann zu beliebigen – auch kommerziellen – Zwecken genutzt werden. Für die verwandten Schutzrechte gilt in der Sache das Gleiche, jedoch mit zumeist (deutlich) kürzeren Schutzfristen (s. etwa § 70 Absatz 3, § 71 Absatz 3 UrhG). Davon zu unterscheiden ist aber der Fall, dass jemand unter Verwendung solcher oder anderer Werke eine neue Leistung schafft. Diese kann dann unter

125 BGH, Urteil vom 12.05.2010 – I ZR 209/07, GRUR 2011, 59 Rn. 10  ff. – Lärmschutzwand.

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Umständen ihrerseits urheberrechtlichen Schutz genießen. So kann etwa eine nach bestimmten Kriterien ausgewählte und angeordnete Zusammenstellung von Gedichten Johann Wolfgang von Goethes als sog. „Sammelwerk“ nach § 4 Absatz 1 UrhG urheberrechtlich geschützt sein. Wer eine solche Sammlung kopiert, verletzt dadurch zwar nicht Urheberrechte Goethes an den darin enthaltenen Gedichten, denn diese sind nach §  64 UrhG (und bleiben) gemeinfrei, möglicherweise aber solche des Schöpfers des Sammelwerks.126

4.5 Schutzinhalt 4.5.1 Grundsatz Das Urheberrecht schützt den Urheber in seinen geistigen und persönlichen Beziehungen zum Werk und in der Nutzung des Werks (§ 11 Satz 1 UrhG). Es dient zugleich der Sicherung einer angemessenen Vergütung für die Nutzung des Werks (§  11 Satz  2 UrhG). Das Gesetz weist dem Urheber dazu sehr weitreichende Ausschließlichkeitsrechte an seinem Werk zu. Wie die ausdrückliche Nennung der geistigen und persönlichen Beziehungen des Urhebers zum Werk einerseits und die Nutzung des Werks sowie die Sicherung einer angemessenen Vergütung dafür andererseits zeigt, schützt das Urheberrecht sowohl persönlichkeitsrechtliche als auch wirtschaftliche Interessen des Urhebers. Beide Elemente bilden gemeinsam und nicht voneinander trennbar das dem Urheber für seine Leistung zukommende Urheberrecht (sogenannte „monistische Theorie“). In den Worten Eugen Ulmers: „Die beiden Interessengruppen erscheinen, wie bei einem Baum, als die Wurzeln des Urheberrechts, und dieses selbst als der einheitliche Stamm. Die urheberrechtlichen Befugnisse aber sind den Ästen und Zweigen vergleichbar, die aus dem Stamm erwachsen. Sie ziehen die Kraft bald aus beiden, bald ganz oder vorwiegend aus einer der Wurzeln.“127 Die §§  12 bis 14 UrhG adressieren primär die geistig-persönliche Beziehung des Urhebers zu seinem Werk, mithin das Urheberpersönlichkeitsrecht. Wer einen Roman verfasst hat, kann entscheiden, ob dieser überhaupt den Weg von seinem Schreibtisch in die Öffentlichkeit findet oder zunächst (oder auch für die Dauer des Urheberrechts) in der Schreibtischschublade verbleibt, denn er hat das Recht zu bestimmen, ob und wie sein Werk zu veröffentlichen ist (§ 12 Absatz 1 UrhG; „Veröffentlichungsrecht“). Ein Verlag, dem das gerade fertiggestellte Manuskript zur Ansicht übersandt wurde, darf dieses ohne Zustimmung des Urhebers nicht an

126 BGH, Urteil vom 24.05.2007 – I ZR 130/04, GRUR 2007, 685 – Gedichttitelliste I. 127 Ulmer, Urheber- und Verlagsrecht, 3. Aufl. 1980, § 18 II. 4. (S. 116).

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 VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

die Öffentlichkeit geben; er darf noch nicht einmal den Inhalt des Werks öffentlich mitteilen (§ 12 Absatz 2 UrhG). Der Urheber hat das Recht auf Anerkennung seiner Urheberschaft am Werk und kann bestimmen, ob das Werk mit einer Urheberbezeichnung zu versehen und welche Bezeichnung zu verwenden ist (§ 13 UrhG). Schließlich hat er das Recht, eine Entstellung oder eine andere Beeinträchtigung seines Werks zu verbieten, die geeignet ist, seine berechtigten geistigen oder persönlichen Interessen am Werk zu gefährden (§ 14 UrhG). Primär der wirtschaftlichen Verwertung des Werks dienen die in den §§ 15  ff. UrhG geregelten Verwertungsrechte, insbesondere das Vervielfältigungsrecht (§ 16 UrhG), das Verbreitungsrecht (§ 17 UrhG) und das Recht der öffentlichen Wiedergabe (§ 15 Absatz 2 UrhG). Gestützt auf sein Urheberrecht kann der Urheber somit bestimmen und steuern, ob, wie und durch wen sein Werk genutzt werden darf. Der Urheber kann Dritte von der unberechtigten Nutzung seines Werks abhalten. Das bildet zugleich die Grundlage der wirtschaftlichen Verwertung des Werks, indem Dritten – typischerweise gegen Entgelt  – Nutzungsrechte am Werk eingeräumt werden. Der Verlag bedarf nicht nur der Zustimmung des Autors zur Veröffentlichung seines neuen Romans (§ 12 Absatz 1 UrhG), sondern auch der Zustimmung zur Vervielfältigung (§ 16 Absatz 1 UrhG) und zur Verbreitung (§ 17 Absatz 1 UrhG). Möchte er das Buch auch in einer digitalen Edition anbieten, bedarf er außerdem der Zustimmung zur öffentlichen Wiedergabe in Form der öffentlichen Zugänglichmachung (§ 19a UrhG). Wird das Urheberrecht widerrechtlich verletzt, kann der Urheber Beseitigungsund Unterlassungsansprüche (§ 97 Absatz 1 UrhG) geltend machen, also verlangen, dass die Rechtsverletzung beseitigt wird und sich nicht wiederholt. Hatte der Verletzer zumindest fahrlässig gehandelt, also die im Verkehr übliche Sorgfalt außer Acht gelassen (§ 276 Absatz 2 BGB), so kann der Urheber außerdem Schadensersatz verlangen (§ 97 Absatz 2 UrhG). Daneben kennt das UrhG weitere Ansprüche, etwa auf Vernichtung von unerlaubt hergestellten Kopien oder deren Entfernung aus den Vertriebswegen (§ 98 UrhG). Das UrhG setzt dabei nicht voraus, dass der Verletzer zu geschäftlichen oder gewerblichen Zwecken handelt; auch Nutzungen zu rein privaten Zwecken sind erfasst und können Verletzungsansprüche auslösen. 4.5.2 Vervielfältigungsrecht (§ 16 Absatz 1 UrhG) Das Vervielfältigungsrecht ist das Recht, Vervielfältigungsstücke des Werks herzustellen, gleichviel ob vorübergehend oder dauerhaft, in welchem Verfahren und in welcher Zahl (§ 16 Absatz 1 UrhG). Es geht also darum, das stets immaterielle Werk – etwa einen Roman – auf einem physischen Werkträger – beispielsweise in einem gedruckten Buch – festzulegen. Jeder Vorgang, der dies zum Ergebnis hat, ist, wie die weite Definition des Vervielfältigungsrechts – vorübergehend oder dauerhaft,

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in welchem Verfahren und in welcher Zahl – zeigt, eine Vervielfältigung. Erfasst sind damit auch Vorgänge, die lediglich während des Herstellungsprozesses des eigentlich gewollten Objekts stattfinden. Während beim klösterlichen Abschreiben eines Buchs von Hand nur eine einzige Vervielfältigung stattfindet, muss beim heutigen Digitalsatz das Werk in den Computer eingelesen und dort verarbeitet werden. Diese Vorgänge sind Vervielfältigungen, auch wenn sie nur flüchtig im Arbeitsspeicher ablaufen. Das Anfertigen von Druckplatten ist schließlich ebenfalls eine Vervielfältigung, denn wieder wird das Werk auf einen physischen Träger festgelegt. Jede dieser Vervielfältigungen bedarf der Erlaubnis. In der Regel ist diese (zumindest stillschweigend) in dem der eigentlichen Vervielfältigung zugrunde liegenden Vertrag enthalten; andernfalls würde der Vertragszweck nicht erreicht. Zudem stellt § 44a UrhG bestimmte vorübergehende Vervielfältigungshandlungen bereits kraft Gesetzes frei. Es sind aber durchaus Konstellationen denkbar, bei denen gerade diese technisch bedingten Vervielfältigungen letztlich über die Zulässigkeit einer Nutzung entscheiden. Das Vervielfältigungsrecht gilt es auch bei der Nutzung des Buchs zu berücksichtigen. Kopien (selbst händisches Abschreiben) oder Scans aus dem Buch sind regelmäßig Vervielfältigungen, denn sie haben eine erneute Verkörperung des Werks zum Ergebnis. Dieser Eingriff in das Vervielfältigungsrecht bedarf der Rechtfertigung. Aus dem Eigentum am Buch oder dem Umstand, dieses rechtmäßig aus einer Bibliothek ausgeliehen zu haben, folgt diese regelmäßig allerdings nicht. In Betracht kommen aber wiederum Schranken, allen voran die Privatkopie (§  53 Absatz  1 UrhG) bzw. die Vervielfältigung zum sonstigen eigenen Gebrauch (§  53 Absatz  2 UrhG). Im Bereich der wissenschaftlichen Forschung und Lehre sowie des Unterrichts ist außerdem insbesondere an die §§ 60a–60d UrhG zu denken, für Bibliotheken an § 60e UrhG und für Archive, Museen und Bildungseinrichtungen an § 60f UrhG. So dürfen beispielsweise für die eigene wissenschaftliche Forschung bis zu 75 % eines Werks vervielfältigt werden (§ 60c Absatz 2 UrhG), Abbildungen, einzelne Beiträge aus derselben Fachzeitschrift oder wissenschaftlichen Zeitschrift, sonstige Werke geringen Umfangs und vergriffene Werke sogar zur Gänze (§ 60c Absatz 3 UrhG). 4.5.3 Verbreitungsrecht (§ 17 UrhG) Verbreitungsrecht Das Verbreitungsrecht ist das Recht, das Original oder Vervielfältigungsstücke des Werks der Öffentlichkeit anzubieten oder in Verkehr zu bringen (§  17 Absatz  1 UrhG). Der Verlag eines Romans benötigt deshalb nicht nur die Erlaubnis, das Werk zu vervielfältigen; dies würde ihm nur gestatten, die vereinbarte Anzahl von

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 VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

Büchern herzustellen. Er benötigt darüber hinaus auch die Erlaubnis, diese Bücher zu vertreiben. Der Urheber ist sozusagen „doppelt abgesichert“: Er kann nicht nur gegen die rechtswidrige Herstellung von Exemplaren seines Werks vorgehen, sondern auch gegen deren Vertrieb. Von erheblicher praktischer Bedeutung ist das beispielsweise, wenn die Herstellung im Ausland erfolgte und deshalb im Inland nicht verfolgt werden kann. Mit Hilfe des Verbreitungsrechts kann der Urheber dann zumindest gegen den Vertrieb im Inland vorgehen.128

Erschöpfung Dem Wortlaut nach wäre auch jeder Weiterverkauf eines Vervielfältigungsstücks ein Eingriff in das Verbreitungsrecht. Das soll aber nicht sein, dem Urheber soll nur der Erstverkauf des konkreten Vervielfältigungsrechts vorbehalten sein. Deshalb erschöpft sich das Verbreitungsrecht. Sind das Original oder Vervielfältigungsstücke des Werks mit Zustimmung des zur Verbreitung Berechtigten im Gebiet der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum im Wege der Veräußerung in Verkehr gebracht worden, so ist ihre Weiterverbreitung mit Ausnahme der Vermietung zulässig (§ 17 Absatz 2 UrhG). Aufgrund dieses Erschöpfungsgrundsatzes, aber eben auch nur deshalb, ist es zulässig, Bücher nach ihrem erstmaligen (rechtmäßigen) Inverkehrbringen frei weiter zu vertreiben, sei es durch den Bucheinzelhandel, sei es auf dem Flohmarkt. Wichtig dabei: Die Erschöpfung erstreckt sich stets nur auf das Verbreitungsrecht hinsichtlich des konkreten mit Zustimmung des Urhebers in den Verkehr gebrachten Exemplars. Für jedes andere Exemplar bleibt das Verbreitungsrecht unberührt. Die Erschöpfung des Verbreitungsrechts knüpft an das Inverkehrbringen eines konkreten (physischen) Vervielfältigungsstücks (eines gedruckten Buchs etc.) an. Das wird insbesondere zum Problem, wenn es keinen physischen Werkträger gibt, in dem verkörpert das Werk in den Verkehr gebracht wird. So liegt es namentlich bei im Wege des Downloads vertriebenen E-Books. Urheberrechtlich liegt im Download eines E-Books auf ein Lesegerät des Käufers (nur) eine Vervielfältigung nach § 16 Absatz 1 UrhG. Um dieses E-Book weiterzugeben, müsste – sieht man vom wenig praktikablen Fall der Weitergabe des Lesegeräts oder zumindest des Datenträgers ab – eine weitere Kopie angefertigt werden. Soll die Weitergabe wieder über ein Datennetz erfolgen,129 wäre außerdem das Recht der öffentlichen Wiedergabe betroffen. Diese Rechte aber – Vervielfältigungsrecht und Recht der öffentlichen

128 S. BGH, Urteil vom 05.11.2015 – I ZR 91/11, GRUR 2016, 490 – Marcel-Breuer-Möbel II. 129 So im Fall EuGH, Urteil vom 19.12.2019 – C-263/18, GRUR 2020, 179 – NUV u.  a./Tom Kabinet.

4 Immaterialgüterrechtliche Fragen 

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Wiedergabe – erschöpfen sich gerade nicht; § 17 Absatz 2 UrhG ist ausdrücklich auf das Verbreitungsrecht beschränkt. Zwar könnte der Urheber dem Käufer eines E-Books diese Handlungen gestatten; das müsste aber vereinbart sein, was es regelmäßig nicht ist. Damit hat sich die Frage ergeben, ob eine entsprechende Anwendung des Erschöpfungsgrundsatzes oder zumindest seines Rechtsgedankens auf Fälle dieser Art geboten ist. Der EuGH hat dies in der „Tom Kabinet“-Entscheidung verneint.130 Der Gerichtshof argumentiert insbesondere mit Gefahren für den Primärbuchmarkt durch einen parallelen „Second-Hand-Markt“ . Anders als gedruckte Bücher würden E-Books durch ihren Gebrauch nicht verschlechtert und stellten deshalb einen „perfekten Ersatz für neue Kopien“ dar. Zudem erfordere der Austausch von E-Books weder Aufwand noch zusätzliche Kosten. E-Books (gleiches gilt für im Wege des Downloads bezogene andere Werkarten wie Musik oder Filme, nicht aber für Computerprogramme131) unterliegen daher anderen Regeln, obschon sie aus Nutzerperspektive durchaus vergleichbar erscheinen mögen.

Buchverleih durch öffentliche Bibliotheken Bücher werden häufig nicht gekauft, sondern in Bibliotheken ausgeliehen. Urheberrechtlich ist das Verleihen, das heißt die zeitlich begrenzte, weder unmittelbar noch mittelbar Erwerbszwecken dienende Gebrauchsüberlassung (§ 27 Absatz 2 Satz 2 Halbsatz 1 UrhG), Teil des Verbreitungsrechts nach § 17 Absatz 1 UrhG und damit zunächst dem Urheber vorbehalten. Die mit rechtmäßigem Inverkehrbringen eintretende Erschöpfung des Verbreitungsrechts (§ 17 Absatz 2 UrhG) erstreckt sich aber auch auf das Verleihrecht (anders insoweit allerdings die Vermietung, diese bleibt auch nach Inverkehrbringen dem Urheber vorbehalten). Die Bibliothek darf die erworbenen Bücher (und sonstigen Werke) verleihen. Zum Ausgleich hat sie dafür allerdings dem Urheber eine angemessene Vergütung zu zahlen (§ 27 Absatz 2 Satz 1 UrhG: „Bibliothekstantieme“). Diese Vergütungsansprüche werden von Verwertungsgesellschaften, etwa der VG Wort, gesammelt geltend (§ 27 Absatz 3 UrhG) gemacht und an die Berechtigten ausgeschüttet. Das zunehmend wichtiger werdende „Verleihen“ von E-Books bereitet dagegen erhebliche Probleme. Eine ausdrückliche Regelung des „E-Lendings“ fehlt bislang. Der EuGH hat in seiner Entscheidung „Vereniging Openbare Bibliotheken / Stichting Leenrecht“ insoweit lediglich ausgeführt, dass das Unionsrecht nicht entgegensteht, im nationalen Recht das E-Lending unter dem herkömmlichen Verleihen vergleich-

130 EuGH, Urteil vom 19.12.2019 – C-263/18, GRUR 2020, 179 – NUV u.  a./Tom Kabinet, unter ausdrücklicher Abgrenzung von seiner gegenteiligen Rechtsprechung zu Computerprogrammen. 131 EuGH, Urteil vom 03.07.2012 – C-128/11, GRUR 2012, 904 – UsedSoft.

382 

 VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

baren Voraussetzungen als zulässig zu behandeln.132 Während einige daraus den Schluss ziehen, das E-Lending sei in unionsrechtskonformer Auslegung des nationalen Rechts in gleicher Weise erlaubt wie das herkömmliche Verleihen, plädieren andere für die Beibehaltung der bislang wohl ganz überwiegend angewandten vertraglichen Ausgestaltung durch spezielle Lizenzverträge.133 4.5.4 Recht der öffentlichen Zugänglichmachung (§ 19a UrhG) Das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung ist das Recht, das Werk drahtgebunden oder drahtlos der Öffentlichkeit in einer Weise zugänglich zu machen, dass es Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich ist (§ 19a UrhG). Prototypisch dafür ist das „Online-Stellen“ im Internet. Für einen Eingriff in das Recht kommt es dabei nicht darauf an, dass tatsächlich auf das online gestellte Werk zugegriffen wird; es genügt die bloße Möglichkeit dazu. Wann jemand „Mitglied der Öffentlichkeit“ ist, bestimmt sich nach § 15 Absatz 3 UrhG und den unionsrechtlichen Vorgaben. Der EuGH hat dazu eine ganze Reihe von Kriterien entwickelt.134 Verallgemeinernd lässt sich daher lediglich sagen, dass zumindest der Familien- und (engere) Freundeskreis typischerweise keine Öffentlichkeit begründet. Schon bei Arbeitskollegen kann es aber problematisch werden. Allein die Beschränkung des Adressatenkreises, etwa durch Nutzung eines Intranets oder sonstige technische Maßnahmen wie ein Passwortschutz, sagt für sich genommen nichts über das Merkmal der Öffentlichkeit aus. Entscheidend ist vielmehr auch dabei, ob der so beschränkte Personenkreis nach den allgemeinen Kriterien als Öffentlichkeit anzusehen ist. Das LG München I sah daher eine geschlossene Facebook-Gruppe mit knapp 400 Mitgliedern als Öffentlichkeit an. Das Gericht hatte dabei schon mit Blick auf die Gruppenstärke Zweifel an einem engen gegenseitigen Kontakt. Dieser fehlte letztlich aber schon deshalb, weil grundsätzlich jeder Interessent auf Anfrage in die Gruppe aufgenommen wurde.135 Speziell für wissenschaftliche Forschung, Lehre und Unterricht gibt es allerdings Schranken, die (auch) die öffentliche Zugänglichmachung von Werken (in begrenztem Umfang) gestatten (§§ 60a–60c UrhG).

132 EuGH, Urteil vom 10.11.2016 – C-174/15, GRUR 2016, 1266 – VOB/Stichting. 133 Zusammenfassend und mit Nachweisen de la Durantaye, Große Hafenrundfahrt – Optionen für eine (Neu-)Regelung des E-Lending in Deutschland, ZUM 2022, 585. 134 Näher Seifert/Wirth in: Eichelberger/Wirth/Seifert, UrhG, 4. Aufl. 2022, § 15 Rn. 5  ff. 135 LG München I, Urteil vom 31.01.2018 – 37 O 17964/17, GRUR-RR 2018, 406 – Mythos H.

Literatur 

 383

4.5.5 Vergütungsansprüche Das Urheberrecht unterliegt einer Reihe von Einschränkungen. So sind beispielsweise Privatkopien (§  53 Absatz  1 UrhG) sowie Kopien zu Zwecken der wissenschaftlichen Forschung, des Unterrichts und der Lehre (§§ 60a–60c UrhG) in recht weitem Umfang erlaubt. Der Urheber kann diese Nutzungshandlungen also nicht verbieten. Dies kann zu wirtschaftlichen Einbußen führen, weil die Kopie den Erwerb des Buchs substituieren kann und, wenn man etwa an Kopien aus wissenschaftlichen Werken (Büchern, Zeitschriften) denkt, wird. Das Gesetz sieht deshalb verschiedene Vergütungsansprüche vor, um bestimmte Einschränkungen des Ausschließlichkeitsrechts zumindest finanziell auszugleichen. So sind die vorgenannten Vervielfältigungen nach § 54 UrhG vergütungspflichtig. Schuldner des Vergütungsanspruchs sind dabei nicht die unter Rückgriff auf die genannten Schranken Kopierenden, sondern die Hersteller der zur Vervielfältigung genutzten Geräte und Speichermedien, daneben Importeure und Händler (§ 54b UrhG) sowie Betreiber (§ 54c UrhG). Diese führen pauschalierte Beträge an Verwertungsgesellschaften ab, die diese dann an die Urheber ausschütten. Verlage der genutzten Werke sind an dieser Vergütung angemessen zu beteiligen (§ 63a Absatz 2 UrhG).136

Literatur Alexander, Christian. „Ist die Buchpreisbindung gemeinschaftsrechtswidrig?“ Zeitschrift für das gesamte Medienrecht – Archiv für Presserecht (AfP) 2009: 335. Bullinger, Martin. „Freiheit von Presse, Rundfunk, Film.“ Handbuch des Staatsrechts (HdbStR). Band VII. Hrsg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof. 3. Aufl. Heidelberg 2009: § 163. De la Durantaye, Katharina. „Große Hafenrundfahrt: Optionen für eine (Neu-)Regelung des E-Lending in Deutschland.“ Zeitschrift für Urheber und Medienrecht (ZUM) 2022: 585. Dörr, Dieter. „Informationsfreiheit.“ Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa (HdbGR). Band IV. Hrsg. von Detlef Merten und Hans-Jürgen Papier. Heidelberg 2011: § 103. Dornis, Tim. „Der Schutz künstlicher Kreativität im Immaterialgüterrecht.“ Zeitschrift Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (GRUR) 2019: 1252. Dreier, Horst (Hrsg.). Grundgesetz: Kommentar. Band 1. 3. Aufl. Tübingen 2013. Dürig, Günter; Herzog, Roman, und Rupert Scholz (Hrsg.). Grundgesetz: Kommentar. München. Loseblatt (Stand 2022). Eichelberger, Jan; Wirth, Thomas, und Fedor Seifert. Urheberrechtsgesetz. 4. Aufl. 2022. Fenchel, Jörg. Negative Informationsfreiheit: Zugleich ein Beitrag zur negativen Grundrechtsfreiheit. Berlin 1997.

136 Zur abweichenden Rechtslage vor Einführung dieser Vorschrift zum 07.06.2021 siehe BGH, Urteil vom 21.04.2016 – I ZR 198/13, GRUR 2016, 596 – Verlegeranteil.

384 

 VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

Fiedler, Christoph. Die formale Seite der Äußerungsfreiheit: Zensurverbot und Äußerungsgrundrechte. Berlin 1999. Germelmann, Claas Friedrich. Kultur und staatliches Handeln: Grundlagen eines öffentlichen Kulturrechts in Deutschland. Tübingen 2013. Gersdorf, Hubertus, und Boris P. Paal (Hrsg.). BeckOK Informations- und Medienrecht: München (Stand 2022). Gröschner, Rolf. „Transparente Verwaltung: Konturen eines Informationsverwaltungsrechts.“ Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL) 63 (2004): 344. Gurlit, Elke. „Konturen eines Informationsverwaltungsrechts.“ Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl) 2003: 1119. Ingold, Albert. Desinformationsrecht: Verfassungsrechtliche Vorgaben für staatliche Desinformationstätigkeit. Berlin 2011. Jänich, Volker M. Geistiges Eigentum: Eine Komplementärerscheinung zum Sacheigentum? 2002. Jarass, Hans D., und Bodo Pieroth. Grundgesetz: Kommentar. 17. Aufl. München 2022. Kahl, Wolfgang; Waldhoff, Christian, und Christian Walter (Hrsg.). Bonner Kommentar zum Grundgesetz. Heidelberg. Loseblatt (Stand 2022). Kingreen, Thorsten, und Ralf Poscher. Grundrechte: Staatsrecht II. 38. Aufl. Heidelberg 2022. Köppen, Oliver M. H. Das Grundrecht der Informationsfreiheit unter besonderer Berücksichtigung der modernen Medien. Lohmar, Köln 2004. Kortländer, Bernd, und Enno Stahl (Hrsg.). Zensur im 19. Jahrhundert: Das literarische Leben aus Sicht seiner Überwacher. Bielefeld 2012. Lerche, Peter. „Aktuelle Grundfragen der Informationsfreiheit.“ Juristische Ausbildung (Jura) 1995: 561. Löffler, Martin. „Das Zensurverbot der Verfassung.“ Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1969: 2225. Nolte, Rüdiger. „Die Gewährleistung des Zugangs zu Daten der Exekutive durch das Grundrecht der Informationsfreiheit.“ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2018: 521. Pohlmann, Petra. „Die Vorschläge des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zur Novelle des Buchpreisbindungsgesetzes.“ Zeitschrift für Urheber und Medienrecht (ZUM) 2021: 124. Rossi, Matthias. Informationszugangsfreiheit und Verfassungsrecht. Berlin 2004. Sachs, Michael (Hrsg.). Grundgesetz: Kommentar. 9. Aufl. München 2021. Schack, Haimo. Urheber- und Urhebervertragsrecht. 10. Aufl. 2021. Schmidt-Jortzig, Edzard. „Meinungs- und Informationsfreiheit.“ Handbuch des Staatsrechts (HdbStR). Band VII. Hrsg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof. 3. Aufl. Heidelberg 2009: § 162. Schoch, Friedrich. „Öffentlich-rechtliche Rahmenbedingungen einer Informationsordnung.“ Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL) 57 (1998): 160. Schricker / Loewenheim: Urheberrecht. 6. Aufl. Hrsg. von Ulrich Löwenheim, Matthias Leistner und Ansgar Ohly. 2020. Sudre, Frédéric. Droit européen et international des droits de l’homme. 15. Aufl. Paris 2021. Trute, Hans-Heinrich. „Öffentlich-rechtliche Rahmenbedingungen einer Informationsordnung.“ Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL) 57 (1998): 216. Ulmer, Eugen. Urheber- und Verlagsrecht. 3. Aufl. 1980. von Doemming, Klaus-Berto; Füßlein, Rudolf Werner, und Werner Matz. „Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes.“ Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart (JöR) n.F. 1 (1951): 1. von Mangoldt, Hermann; Klein, Friedrich, und Christian Starck. Grundgesetz: Kommentar. 7. Aufl. München 2018. von Münch, Ingo, und Philip Kunig. Grundgesetz-Kommentar. Band 1. 7. Aufl. München 2021. Zelger, Bernadette. „Die gesetzliche Buchpreisbindung: Wettbewerbsbeschränkung oder mit dem Kartellrecht vereinbar?“ Zeitschrift für Urheber und Medienrecht (ZUM) 2021: 1000.

VI.3 Stützungssysteme Ina Brendel-Kepser

1 Gegenstandsbereich Der vorliegende Beitrag richtet sich auf für die Buchforschung relevante Frage­ stellungen, die sich mit den Stützungssystemen der Buch- und Lesekultur bzw. des Buchhandels auseinandersetzen. Identifiziert und gebündelt werden Bereiche, in denen Bücher und andere Schriftmedien als Grundlage fungieren und damit Stützungsfunktion übernehmen und so zur Institutionalisierung des Buchs und anderer Schriftmedien beitragen. Im Unterschied zu den Bereichen des Literaturbetriebs (Plachta 2008; Richter 2011; Theison und Weder 2013) und des Buchmarkts (Schütz 2005; Vogel 2011) oder den Institutionen der Literaturvermittlung (Neuhaus 2009; Neuhaus und Ruf 2011), deren Gegenstände und Konzepte einer eigenständigen (interdisziplinären) Forschung unterliegen und begrifflich bzw. institutionell fassbar sind, lassen sich die sogenannten Stützungssysteme und deren Praktiken nicht in gleicher Weise konsistent und trennscharf erfassen. Überschneidungen zu den genannten Gegenstandsfeldern und ihren Theoriebezügen (siehe V.4 Organisationen und Institutionen der Literaturvermittlung in diesem Band) sind dabei nicht nur unvermeidlich, sondern stellen die reziproken Beziehungen von Literaturbetrieb, literaturvermittelnden Instanzen und Stützungssystemen heraus. Stützungssysteme sind im weiten Sinn Teil von Literaturbetriebspraktiken, nach denen „Akteure des literarischen Feldes Literatur herstellen, rezipieren, vermitteln, fördern oder medialisieren“ (Assmann 2019: 204) und zugleich laufen in ihnen die Wertungs- und Kanonisierungsprozesse, die die moderne Informationsgesellschaft prägen, durchgehend mit. In dieser Perspektive gegenseitiger Einflussnahmen werden Stützungssysteme als diejenigen Instanzen bezeichnet, in denen der Buch- und Schriftkultur eine handlungsleitende Rolle zufällt und die daher in besonderem Maße als geeignet erscheinen, diese zu tradieren bzw. sich im Wandel der gegenwärtigen Medienkultur mit ihr auseinanderzusetzen. Als maßgeblich werden hierfür die Bereiche des Bildungssystems und der Leseförderung, der Wissenschaft, der Literaturkritik sowie der literarischen Wertung und Kanonbildung fokussiert. Angesichts dieser heterogenen Gegenstandsfelder und ihrer je eigenen theoretischen Bezugspunkte ist nicht von einer Metatheorie auszugehen, anhand derer sich Stützungssysteme erfassen ließen. Was somit für die Analyse und Beschreibung von Stützungssystemen gilt, zeigt sich in ähnlicher Weise auch in anderen Feldern der Buchforschung wie z.  B. der Lese- / Leser*innenforschung (Kuhn und Rühr 2010), für die eine basale Grundlagentheorie ebenfalls nicht existiert (siehe III.1 Lesen in diesem https://doi.org/10.1515/9783110745030-017

386 

 VI.3 Stützungssysteme

Band). Die vielfältigen Forschungsperspektiven und Fragestellungen der Lese- und Leser*innenforschung, die zugehörigen Theorien, Modelle und empirischen Untersuchungen entstammen der Literaturwissenschaft und Linguistik (mit Fragen zu Steuerung des Leseprozesses durch Struktur und Form der Schriftzeichen), der Psychologie (mit der Fokussierung von den Leseprozess begleitenden Emotionen und Kognitionen), der Pädagogik und Didaktik (mit dem Fokus auf die Vermittlung von Lesekompetenz im Rahmen der Lesesozialisation) sowie der Kommunikationssoziologie und den Medienwissenschaften (mit der Perspektive auf Lesen als Prozess und das Medium zur Analyse von Leseprozessen, -motivationen und -wirkungen). Diese Bezüge sind insofern auch für die Betrachtung der Stützungssysteme der Lese- und Buchkultur von Relevanz, als sie ihren Blick auf das Lesen als zentrale Kultur- und Kommunikationstechnik richten, womit Lesen als „prägende Kraft der Entstehung demokratischer, aufgeklärter westlicher Gesellschaften [erscheint], welche auch heute, mit zunehmender Re-Oralisierung durch audiovisuelle Medien, seine Bedeutung als Kompetenz der sozialen Beteiligung innerhalb dieser Gesellschaftsformen nicht eingebüßt hat“ (Kuhn und Rühr 2010: 536) (siehe VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe in diesem Band). In dieser Bestimmung zeichnet sich zugleich die Bedeutung der Stützungssysteme ab, weshalb im Folgenden theoretische Perspektiven in ihren einschlägigen Bezügen zu den genannten Teilbereichen des Feldes, ihrer Strukturen und Praktiken skizziert werden.

2 Bücher und Schriftmedien als Grundlage des Bildungssystems 2.1 Schulbücher und Bildungsmedien Lehren und Lernen organisiert sich im Bildungssystem der Schule dominant unter Einbezug von Bildungsmedien, die von Lehrkräften zur Vorbereitung und Durchführung des Unterrichts und von den Lernenden zum Wissenserwerb, zum Üben, Vertiefen und zur Wissensüberprüfung genutzt werden. Sie stellen wichtige Steuerungsinstrumente von Unterricht dar; zugleich fällt ihnen im Hinblick auf den Deutschunterricht und entsprechender Textauswahlprozesse die Funktion zu, als ‚Verstärkereffekte‘ zu wirken: „Verstärkereffekte entscheiden oft darüber, dass eine Reihe von Texten seit Jahrzehnten in unterschiedlichsten Schulbüchern erscheint“ (Korte 2002: 71). Bildungsmedien kommen in physischen, digitalen und hybriden Formaten zum Einsatz und die zur Verfügung stehenden Lehr- und Lernmittel erweisen sich von erheblicher Bandbreite. Einen Systematisierungsversuch zu Lehr- und Lernmitteln für den Deutschunterricht bieten Radvan und von Brand (2019): Unterschieden werden für den Unterricht entwickelte Materialien

2 Bücher und Schriftmedien als Grundlage des Bildungssystems 

 387

(Schulbuch, Lehr- und Lernsoftware, Lernvideos und -spiele), Materialien für den Schreibtisch der Lernenden (Lernhilfen und Prüfungsvorbereitungen / Klausurtrainer), Materialien für den Schreibtisch der Lehrkraft (Unterrichtshilfen und Fachzeitschriften), für den Unterricht zu nutzende Materialien (Textausgaben, Adaptionen, Filme, Hör- und Computerspiele) sowie Hilfen für Unterricht und Schreibtisch (Interpretationen, Nachschlagewerke, webbasierte Lernplattformen). Der Forschungsstand zu Bildungsmedien zeigt, dass eine Vielzahl der Bildungsmedien, auf die Lehrkräfte und Schüler*innen in der Praxis zugreifen, wie z.  B. Kopiervorlagen oder Übungshefte, zunehmend auch Lehr- und Lernvideos und webbasierte Angebote, von den Fachdidaktiken bislang kaum wissenschaftlich erschlossen sind. So erscheint die didaktisch orientierte Bildungsmedienforschung nach wie vor weithin ausgerichtet auf den Gegenstand der Schulbücher (Radvan 2018: 63), wobei Lehr- und Lernmittel im 21. Jahrhundert aber vielfach im Medienverbund angeboten werden. Schulbücher lassen sich in diesem Sinn als „Unterrichtsmaterialien, die aus Schülermaterialien, Lehrpersonenmaterialien, zusätzlichen Unterrichtsmaterialien und gegebenenfalls weiteren Medien wie Filmen und Experimentiermaterialien bestehen“ (Bölsterli Bardy 2015: 7) definieren. Ihre Wirkmächtigkeit ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass „Schulbücher oftmals die einzigen Bücher sind, die gelesen werden“ (Bölsterli Bardy 2015: 7), ebenso aber aus ihrem Stellenwert als Verstärkereffekte. Schulbücher siedeln sich in ihrer Genese und Nutzung an der Schnittstelle zwischen schulischer Wirklichkeit, universitärer Theorienbildung und ministeriellen Anforderungen an (Ballis und Wilczek 2008: 139). In ihnen aufgehoben ist das Wissen einer Gesellschaft vor dem Hintergrund des jeweiligen sozio-kulturellen Zeitgeists; als Schulbuchwissen ist dieses durch Zielgruppenorientierung, Handlungsanweisungen, Kompetenzorientierung usw. didaktisch codiert und wird so zu Vermittlungswissen (Ballis und Wilczek 2008: 141). Angesichts der Anforderungen moderner Gesellschaften an Pluralität, Inter- / Transnationalität, Heterogenität usw. sind damit Relevanzen gesetzt, die inhaltlich in die Schulbuchentwicklung ebenso hineinreichen wie Fragen didaktischer Innovationen. Neben die wissenschaftstheoretische Perspektive der Schulbuchanalyse tritt die Frage nach der sozialen Konstruktion von Schulbuchwissen ebenso wie die Untersuchung von Aspekten wie Geschichte, Fachlichkeit, Aufgaben oder Nutzung des Schulbuchs (Radvan 2018); hierbei setzt vor allem das Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung / Georg-Eckert-Institut (www.gei.de) maßgebliche Impulse, u.  a. durch Forschungsschwerpunkte wie Wissensorganisation und Information Retrieval, Didaktik in einer mediatisierten Welt oder Postdigitale Bildung. Wenn im Kontext digitaler Medien neue Bildungsszenarien analysiert und reflektiert werden, bedarf dies einer interdisziplinären Forschung, die medien-, sozialund kulturtheoretische sowie erziehungswissenschaftliche und informatische Ansätze integriert.

388 

 VI.3 Stützungssysteme

Einen theoretischen Rahmen für Bildungsdiskurse liefert das kulturwissenschaftliche Konzept der Kultur der Digitalität (Stalder 2016). Als neue Ordnungsformen und Grundmuster, die angeben, wie unter digitalen Bedingungen Bedeutung entsteht und Kultur formatiert wird, gelten für Stalder Gemeinschaftlichkeit (Aushandlungsprozesse und Austausch), Referenzialität (Filterung durch persönliche Bezugssysteme) und Algorithmizität (automatische Vorsortierung). Die damit einhergehende „enorme Vervielfältigung kultureller Möglichkeiten“ (Stalder 2016: 19) und die neuen Erwartungen in Bezug auf Prozesse der Selbst- und Weltkonstituierung prägen die Analyse, Reflexion und Gestaltung der Strukturen von Bildung und Bildungsmedien, vor allem im Hinblick auf die Förderung kultureller Teilhabe.

2.2 Open Educational Resources (OER) Vor dem Hintergrund der digitalen Infrastrukturen des 21. Jahrhunderts, der medienkulturellen Praktiken und Diskurse über digitale Bildung kommt dem Feld der Open Educational Resources (OER) auch im deutschsprachigen Raum zunehmend Bedeutung zu (Neumann und Muuß-Merholz 2017). Gemäß der UNESCO-Definition handelt es sich bei OER um „Bildungsmaterialien jeglicher Art und in jedem Medium, die unter einer offenen Lizenz veröffentlicht werden. Eine solche offene Lizenz ermöglicht den kostenlosen Zugang sowie die kostenlose Nutzung, Bearbeitung und Weiterverbreitung durch Andere ohne oder mit geringfügigen Einschränkungen“ (https://www.unesco.de/bildung/open-educational-resources). Als international gängigstes Lizenzsystem gelten dabei die Creative Commons-Lizenzen (CC): Lehr- und Lernmittel, die für die Nutzung, Modifikation und Wiederveröffentlichung freigegeben werden, fallen unter die Lizenzen CC BY, CC BY SA und CC0. Chancen von OER für den Bildungsbereich werden in der Verfügbarkeit, vernetzter Verbreitung, Austausch und Zusammenarbeit gesehen – zur Schaffung von auf Partizipation und Kollaboration ausgerichteten Lernumgebungen. OER-Suchmaschinen und -repositorien erleichtern die Auffindbarkeit, entsprechende Manuale unterstützen zudem die Bekanntmachung und Nutzung von OER in Bildungseinrichtungen (Muuß-­ Merholz 2018). Zugleich erscheint die fachliche Evaluation einschlägiger Angebote durch Lehrkräfte als Desiderat; eine Sichtung ausgewählter OER für den Deutschunterricht kommt zu dem Ergebnis, dass fachliche und didaktische Fundierung nicht durchgehend gegeben sind (Maiwald 2021). Ausgehend von der Annahme, dass OER sich mittelbar positiv auf die Lernbedingungen und den Kompetenzzuwachs von Schüler*innen auswirken bzw. auswirken sollen, bedarf es weiterer Studien zur Überprüfung und zu möglichen Szenarien der Einführung von OER-Schulbüchern, welche die damit verbundenen notwendigen Veränderungen im Sinne von „Machbarkeit“ (Schön et al. 2017) erfassen. Die vier Stufen des SAMR-Modells von

2 Bücher und Schriftmedien als Grundlage des Bildungssystems 

 389

­ uentedura (2006) bieten sich an, den Einsatz von digitaler Technologie für Lehren P und Lernen zu differenzieren und die Nutzung von OER daran zu orientieren: Während auf den ersten beiden Stufen, ‚Ersatz‘ und ‚Erweiterung‘, OER in herkömmlichen Unterrichtsstrukturen genutzt werden, gehen mit den nachfolgenden Levels ‚Modifikation‘ und ‚Neudefinition‘ umfassende Veränderungen der Gestaltung von Lehren und Lernen in Richtung Interaktivität und Kollaboration einher.

2.3 Leseförderung und Literaturunterricht Der Bereich der Leseförderung in Bildungseinrichtungen zählt zu den maßgeblichen Stützungssystemen der Buch- und Lesekultur. Seit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie 2000 und dem unterdurchschnittlichen Abschneiden 15-jähriger Schüler*innen in Deutschland ist Lesekompetenz als Teil einer pragmatisch verstandenen ‚Grundbildung‘ (im Sinne der angelsächsischen ‚literacy‘) zu einem viel beachteten Thema der Bildungspolitik geworden. Nicht zuletzt resultierte aus den Ergebnissen der ersten internationalen Leistungsvergleichsstudie PISA eine grundsätzliche Neuorientierung des Bildungssystems auf eine überprüfbare OutputSteuerung, den Kompetenzerwerb, mit dem der Beschluss zur Einführung von nationalen Bildungsstandards als normative Setzung einherging. Dem Lesekompetenzbegriff der PISA-Studie liegt ein kognitionspsychologisches Konzept (siehe III.1 Lesen in diesem Band) zugrunde, welches den Prozess der Informationsentnahme und -verarbeitung modelliert und die Testung von Leseleistung ermöglicht. Es geht dabei im Kern um das Verstehen, Nutzen und kritische Reflektieren von geschriebenen Texten, mit dem Ziel, dass Lernende das eigene Wissen und Potenzial erweitern und zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigt werden (PISA 2000: 80). Der Prozess des Textverstehens wird in diesem Konzept als Konstruktionsleistung verstanden, einem Akt der Bedeutungskonstruktion, bei dem Vorwissen der Lesenden und Textvorgabe interagieren (PISA 2000: 70). Die aktuelle PISA-Studie 2018 stützt sich auf eine revidierte Rahmenkonzeption von Lesekompetenz, welche die mit der Nutzung digitaler Medien einhergehenden, veränderten Lesepraktiken berücksichtigt und zugleich die Erkenntnisse der Leseforschung der letzten beiden Jahrzehnte einbezieht. Das erweiterte Modell fasst Lesen nun stärker als zielgerichtete Handlung auf und unterscheidet zwischen Aufgabenmanagement und eigentlichem Leseprozess. Damit wird deutlich, dass sowohl die Merkmale der Lesenden, die Texteigenschaften wie auch die Leseaufgabe selbst das Gelingen von Leseprozessen beeinflussen und der Leseprozess Teil eines größeren Handlungszusammenhangs ist (Reiss et al. 2019: 29). Während die Lesekompetenzmodelle der Leseleistungsstudien für Testzwecke entwickelt worden sind, hat die Lesesozialisationsforschung in der kritischen Aus-

390 

 VI.3 Stützungssysteme

einandersetzung damit ein anderes Modell entwickelt, welches mit einem weiten Lesebegriff operiert und Beweggründe des Lesens, Emotionen sowie Anschlusskommunikation als Bestandteile von Lesekompetenz einbezieht (Hurrelmann 2002a). In der Zielperspektive des „gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts“ (Hurrelmann 2002b: 111), welche an die normative Leitidee der modernen Sozialisationstheorie (Bauer und Hurrelmann 2021) angelehnt ist, bedeutet Lesen mehr und anderes als die instrumentelle Zweckorientierung der ‚literacy‘. Lesen als Medium der Persönlichkeitsbildung und Weltorientierung fokussiert in stärkerem Maße auch auf literarisches Lesen und legt Rezeptionsweisen bzw. Wirkungsannahmen zu Grunde, die der Literaturtheorie und -didaktik entstammen (Hurrelmann 2016: 26). Aufbauend auf diesem sozialisationstheoretischen Modell entwickeln Rosebrock und Nix (2015) ein didaktisch orientiertes Mehrebenenmodell des Lesens. Dieses umfasst 1. die Prozessebene des Lesens mit fünf kognitiven Anforderungsdimensionen, 2. die Subjektebene mit dem Selbstkonzept als (Nicht-)Leser*in sowie 3. die soziale Ebene mit der Einbindung des Lesens in Anschlusskommunikationen. Mit diesen Ebenen erlaubt das Modell zu systematisieren, an welchen Dimensionen von Lesekompetenz Maßnahmen der Leseförderung ansetzen müssen, um auf die kognitiven, affektiven und sozialen Komponenten von Lesekompetenz Einfluss zu nehmen. Eine entsprechend durchgängige Leseförderung in Schule und Unterricht betrifft daher die Förderung von basalen Lesefertigkeiten / Leseflüssigkeit, von Textverstehen und Lesestrategien und der Lesemotivation (Krug und Nix 2017). Dazu gehören zentral Leselernstandsermittlungen, Dekodierfähigkeit (Vorwissen, Leseflüssigkeit), Einübung von Lesestrategien, Lesen in allen Fächern, Leseinteresse / -motivation, Leseförderung für Jungen (Krug und Nix 2017: 29) – in einer Doppelperspektive von Lesetraining und Einübung in die kulturelle Praxis. Da der Erwerb lesekultureller Fähigkeiten nicht ausschließlich im Unterricht vermittelt werden kann und zudem die wichtige Unterscheidung von Schul- und Freizeitlektüre berücksichtigt werden muss, schließt eine systematische Leseförderung weiterhin Initiativen ein, die jenseits unterrichtlicher Vermittlung von zahlreichen anderen Akteuren der Leseförderung betrieben werden, z.  B. die Leseclubs der Stiftung Lesen (https://www.leseclubs.de/). Derartige Initiativen wirken an der Etablierung bzw. Stützung von Buch- und Lesekulturen maßgeblich mit, indem sie Kindern und Jugendlichen niedrigschwellige Zugänge zu Buchwelten eröffnen. Für die schulische Leseförderung wird schließlich auch die Unterscheidung von zwei Lesehaltungen, bezogen auf die Rezeption von Sach- und literarischen Texten (Rosebrock 2016), als relevant erachtet, da die Ästhetik- und Polyvalenzkonvention literarischer Texte andere, das heißt ästhetische Lesestrategien erfordert (Verstehen poetischer Sprache, Fiktionswahrnehmung usw.) als die informationsorientierte Textverarbeitung bei der Rezeption pragmatischer Texte. Ausgehend vom Modell eines kulturellen Handlungsfeldes Literatur, das alle Tätigkeiten im

3 Bücher und Schriftmedien als Grundlage der Wissenschaft 

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Umgang mit Literatur einbezieht und auf literaturtheoretischen wie auch mediensoziologischen und -psychologischen Überlegungen basiert, bestimmen Kepser und Abraham (2016) die Bedeutsamkeit literarischer Texte und damit die Aufgaben des Literaturunterrichts in den drei Bereichen Individuation, Sozialisation und Enkulturation; dieses Grundmodell der Literaturdidaktik schließt Konzepte der Leseförderung ein, überschreitet diese aber zugleich in großem Ausmaß. Die auf einem solchen Fundament aufbauende Frage schulischer Textauswahl lässt sich dabei nicht mehr allein aus dem Wertesystem der Literatur ableiten, sondern erfolgt ebenso im Rekurs auf sozial- und erziehungswissenschaftliche Forschung als Steuerungsinstanz des Literaturunterrichts (Korte 2002: 76). Zu berücksichtigen ist zudem, dass für die Vermittlung literarischer Erfahrungen und für den Erwerb von Narrationskompetenz im Literaturunterricht zunehmend andere narrative Medien, von Filmen bis zu digitalen Spielen, die Buchmedien ergänzen (sollen).

3 Bücher und Schriftmedien als Grundlage der Wissenschaft Bücher und Schriftmedien gelten als Grundlage von Wissenschaft, einem System von auf einen Gegenstandsbereich bezogenen Erkenntnissen, die im Prozess des Forschens als intersubjektiv nachvollziehbar begründetes und geordnetes Wissen erzeugt werden. Die Kommunikation über Forschungsergebnisse erfolgt üblicherweise zunächst auf Fachtagungen; ihre dauerhafte Zugänglichkeit für die (Fach-) Öffentlichkeit wird über wissenschaftliche Publikationen in Form von Monografien und Sammelbänden gesichert, die in einschlägigen Buchreihen erscheinen können, oder durch Beiträge in Fachzeitschriften, die oftmals Peer Review-Prozessen unterliegen. Als problematisch diskutiert wird hierbei das Phänomen des ‚information overload‘, das vor allem in der Vielzahl wissenschaftlicher Sammelbände, die aus Verbund- und Projektforschung hervorgehen, in Erscheinung trete und die Publikationspraktiken und Wissenskultur in den Geisteswissenschaften zunehmend beeinträchtige (Hagner 2018). Um in der akademischen Lehre den Forschungsstand und die Forschungsmethoden eines Faches zu vermitteln, erfolgt der Zugriff auf Quellen wissenschaftlichen Wissens wie Lexika, Handbücher, Studienbücher oder nunmehr auch Volltextdatenbanken. Im Blick auf Studierende und deren (zum Teil als unzureichend eingeschätzte) akademische Lesepraktiken werden Aspekte der literalen Kompetenzentwicklung an Hochschulen (Preußer und Sennewald 2012) virulent, die angesichts der Digitalisierung und der zunehmenden Nutzung digitaler Lesemedien auch im Bereich der akademischen Lehre erweiterte Lesekonzepte und -fähigkeiten notwendig machen (Kuhn 2019), um akademische Lesekultur für alle Studierenden zugänglich zu halten und nicht der digitalen Spaltung preiszugeben (Kuhn et al. 2022).

392 

 VI.3 Stützungssysteme

3.1 Editionen Im Bereich der Literatur- und Kulturwissenschaften, deren Forschung sich auf literarische Texte bezieht, spielt (ebenso wie für die Erschließung von Quellen in der Geschichtswissenschaft oder die Textkritik in den Religionswissenschaften) die Editionsphilologie als weiteres Stützungssystem der Buchkultur eine Rolle. Editionen machen literarische und (historische) wissenschaftliche Texte zugänglich und wirken an deren Tradierung mit (siehe VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis in diesem Band). Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Editionen ist die Frage nach der zu Grunde liegenden Ausgabe oder Textgrundlage; dies betrifft in den Literaturwissenschaften vor allem Werke der älteren Literatur bzw. Texte, die bereits zum literaturgeschichtlichen Kanon zählen. Edierte Werkausgaben wissenschaftlicher Texte dienen in der Regel zur Herstellung kultureller Autorität. Ihren Ursprung haben die ersten systematischen Editionsmethoden im Positivismus des 19. Jahrhunderts. Sie verbinden sich mit Karl Lachmanns genealogischer Methode und der Übertragung der zunächst auf klassische Texte angewandten Editionsprinzipien. Damit werden Aufbau und Funktionsweise historisch-kritischer Ausgaben begründet, in denen die Textgeschichte durch Sichtung, Auswertung und Vergleiche rekonstruiert, in einem Variantenapparat dargestellt und die edierten Texte mit Erläuterungen und Kommentaren erschlossen werden, um die Entstehungs-, Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte der editierten Werke zu dokumentieren. Neben solchen gemeinsamen Merkmalen von historisch-kritischen Ausgaben weisen die Methoden und Theorien der Editionsphilologien erhebliche Unterschiede auf (Sander 2018); hinzu kommen die neuen Darstellungsmöglichkeiten, Grenzen und Herausforderungen digitaler Editionen mit automatisierten Verfahren zur Datensammlung und -präsentation (Plachta 2020).

3.2 Genetische Kritik und Praxeologie Übereinstimmend betonen die meisten Editionstheorien den dynamischen Charakter literarischer Texte bzw. deren prozessuale Textualität. Ausgehend von der diskursanalytischen Auflösung stabiler Begriffe wie Autor und Werk sowie einem dynamischen, netzwerkorganisierten Verständnis von Sprache und Text antwortet die Theorie der ‚critique génetique‘ (Foucault 1988) auf editionsphilologische Fragestellungen zum Einbezug von Notaten, Entwürfen, Varianten usw. in Werkausgaben: „Die critique génetique hat sich vorgenommen, diese Netzwerke und vor allem ihre Dynamik sichtbar zu machen“ (Porombka 2006: 77). Somit verschiebt sich der Fokus vom Produkt hin zu Prozessen der Produktion, insofern Skizzen, Notate

3 Bücher und Schriftmedien als Grundlage der Wissenschaft 

 393

und Varianten in ihrer Vorläufigkeit als semantisch und ästhetisch eigenständige Texte und zugleich als Teil eines erweiterten Werkbegriffs fungieren, die in einem netzwerkorientierten „dossier génetique“ erfasst, geordnet und entziffert werden können (Porombka 2006: 78). Auf diese Weise erwächst der ‚critique génetique‘, und dies gilt nun nicht nur für kanonische ältere Texte, sondern auch für die Gegenwartsliteratur, die Funktion, textexterne Faktoren von der Genese des Werks bis zu seiner Vermarktung, mithin alle Paratexte, „also jenes Beiwerk, durch das der Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt“ (Genette 1989: 10), in die literaturwissenschaftliche Analyse einzubeziehen. Mit diesem theoretischen Zugriff verlängert die genetische Methode das analytische Instrumentarium hinein in Prozesse des Literaturbetriebs und die Instanzen der Literaturvermittlung als zugehörige Teile des literarischen Schöpfungsprozesses. Diese Ausweitung des Werkbegriffs um textexterne Aspekte findet sich in ähnlicher Weise im Konzept der praxeologischen Gegenwartsliteraturwissenschaft, welche Literaturproduktion, -rezeption und -distribution als soziales Handeln in institutionalisierten Rollen und damit als eine zu erforschende kulturelle Praxis begreift (Johannsen 2013). Einen weiteren Theorierahmen stellt Bruno Latours AkteurNetzwerk-Theorie dar, in der nicht nur Personen oder Organisationen, sondern gleichsam Dinge als Aktanten, die andere Akteure in Bewegung setzen, anerkannt werden. Dieser praxeologische Zugriff, der weit davon entfernt ist, den Status einer Mastertheorie zu beanspruchen, verweist vielmehr auf die Notwendigkeit der Suche von Zusammenhängen und entsprechender Selektionsakte, „um zunächst einmal präzise die Bewegungen all dessen nachzuzeichnen, das innerhalb des Forschungszusammenhangs Einfluss hat“ (Johannsen 2013: 184).

3.3 Open Access Mit der Forderung nach einer Öffnung des Wissenstransfers sowie freiem Zugang zu wissenschaftlichen Forschungsergebnissen, welche mittels der Digitalisierung möglich geworden sind, hat sich Open Access (und mithin Open Science) als Leitbegriff eines Transformationsprozesses der wissenschaftlichen Kommunikation etabliert. Open Access (OA) bezeichnet den freien und kostenlosen Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen, die als Online-Publikationen, gegebenenfalls parallel zur Druckausgabe, erscheinen. Dies berührt die Prozesse der Distribution, Erstellung und Speicherung wissenschaftlicher Informationen und wird von Debatten über Chancen und Risiken begleitet. Während die Beschleunigung der Wissensverbreitung und der offenen Verfügbarkeit bereits finanzierter Forschung bei Wissenschaftler*innen mehrheitlich als zustimmungsfähig gelten, werden das Fehlen von etablierten Reputationskriterien für die Bewertung von offener Wissenschaft, die

394 

 VI.3 Stützungssysteme

Gefahr der Fehlinterpretation und Falschinformation sowie ein erhöhter zeitlicher Mehraufwand für die Bereitstellung oder Rechtsunsicherheiten als Hindernisse für die Etablierung einer offenen Wissenschaft angeführt (Heise 2018). Das digitale Teilen und Verbreiten von Wissen geht dabei mit Anforderungen einher, die zum Teil noch erworben werden müssen: „Läutete der Buchdruck die Moderne ein und legte den Grundstein für die wissenschaftliche Kommunikation, wie wir sie heute kennen, kann durch die Digitalisierung eine erneute Revolution des wissenschaftlichen Systems bevorstehen. Die unmittelbare und umfassende Bereitstellung der wissenschaftlichen Kommunikation stellt das wissenschaftliche System aber innerhalb und außerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft vor neue Herausforderungen“ (Heise 2018: 265). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, in welchem Ausmaß Wissenschaftskulturen als sich wandelnde Buch- / Schriftkulturen in Erscheinung treten, die bestimmten Regeln und Konventionen folgen und die im Hinblick auf ihre zukünftige Funktion als Stützungssystem von Buch- und Schriftkultur Veränderungen unterliegen und entsprechende Forschungsdesiderata aufwerfen.

4 Literaturkritik In die Zusammenhänge von Selektion, Vermittlung und Tradierung spielt auch die Literaturkritik hinein. Literaturkritik wird bestimmt als „informierende, interpretierende und wertende Auseinandersetzung mit vorrangig neu erschienener Literatur“ (Anz 2004: 194) und gilt als eine „Institution der literarischen Öffentlichkeit, die individuelle und kollektive Vorstellungen darüber prägt, was Literatur ist, was sie sein kann oder sein sollte und wie einzelne Texte einzuschätzen sind“ (Kaulen und Gansel 2015: 9). Literaturkritik wirkt als Vermittlungsinstanz und Institution literarischer Bildung und Erziehung (Kaulen und Gansel 2015: 9). Ihre Funktion als Stützungssystem lässt sich von den Grundfunktionen, die der Literaturkritik zugeschrieben werden, ableiten. Dies sind 1. eine informierende Orientierungsfunktion in der Menge der Neuerscheinungen, 2. eine Selektionsfunktion durch die Vorauswahl rezensionswürdiger Literatur und die explizite Bewertung als Entscheidungshilfe, 3. eine didaktisch-vermittelnde Funktion für das Publikum mit einer Wissensvermittlung zur Rezeption von Texten, die Verständnisschwierigkeiten bereiten können, 4. eine didaktisch-sanktionierende Funktion für Literaturproduzent*innen, die die Verbesserung der Qualität zukünftiger Buchproduktion anmahnt, 5. eine reflexions- und kommunikationsstimulierende Funktion zur Förderung des öffentlichen Räsonnements über Literatur, 5. eine Unterhaltungsfunktion, mit der die Kritik im Feuilleton eine der Funktionen der Literatur selbst übernimmt (Anz 2004: 195–196). Trotz der für die Bedeutung und Glaubwürdigkeit

4 Literaturkritik 

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der Literaturkritik oft als notwendig beschworenen Abgrenzung von der Werbung existieren Verflechtungen und Interdependenzen mit dem Buchmarkt. Unter Einbezug literaturkritischer Surrogate wie Bestenlisten oder Buchempfehlungen kann damit letztlich auch die Werbefunktion zum Funktionenkatalog der Literaturkritik gezählt werden (Albrecht 2001: 40–41). Mit dem Aufkommen der Laienkritik als einem gängigen Phänomen im Literaturbetrieb des Web 2.0 haben sich Veränderungen ergeben, welche den Status der Literaturkritik im digitalen Zeitalter insgesamt betreffen. Als positive Entwicklung der Literaturkritik im Internet gelten die weitere Verbreitung, die leichte und dauerhafte Zugänglichkeit, Ausweitung der Gegenstandsbereiche auf literarische Genres, die die traditionelle Literaturkritik nicht berücksichtigt, Erschließung neuer Kritiker*innen- und Adressat*innengruppen und Intensivierung der dialogischen Tradition der Kritik (Anz 2010). So tritt neben die Diskursproduktion der Print-Literaturkritik, die ebenfalls in Online-Formaten repräsentiert wird, die Online-Literaturkritik als User Generated Content in den Sozialen Medien, welche die ehemals strikten Grenzen zwischen Produzent*innen und Rezipient*innen auflöst. Die hiermit hervorgebrachte Laienkritik manifestiert sich in einer Bandbreite an Formen, die von Posts auf Kundenrezensionsforen über Booktubes und Buchblogs bis zu digitalen Leserunden und -Communities reichen und die Kritik als Social Reading neu formatieren (Brendel-Perpina 2019). Als Einschreibungen in technologische Umgebungen folgen diese zudem den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie, wobei in den digitalen Netzwerkumgebungen datenbasierte Algorithmen nunmehr eine zentrale Gatekeeper-Funktion übernehmen (Süßelbeck 2019: 247). Gleichwohl gilt es zu berücksichtigen, dass die usergenerierte OnlineKritik mit ihren dynamisierten, auf Kommentare abzielenden kleineren Formen als Stimulationsnetzwerk funktioniert (Porombka 2012: 297) und somit anderen Regeln und Intentionen folgt als die traditionelle Literaturkritik: In der Kultivierung der Laienperspektive werden Freiräume gegenüber dem tradierten akademischen Diskurs und dessen Normen gesucht (Wegmann 2012) und damit literaturkritische Artikulationsmöglichkeiten konstituiert, die vormals so nicht gegeben waren. Diese evidente Selbstermächtigung von (auch zahlreichen jugendlichen) Leser*innen und deren Beteiligung an einer „digitale[n] Mitmachkultur“ (Wegmann 2012: 291) sind in ihrer Bedeutung für die Lesesozialisation und Leseförderung auf didaktische Anschlussmöglichkeiten zu prüfen (Brendel-Perpina 2019). Dabei unterliegen die Bewertungen der Laienkritiker*innen weitaus weniger der Anbindung an bildungsbürgerlich tradierte Wertmaßstäbe, die sich auf formale und ästhetische Textmerkmale beziehen; vielmehr sind sie Ausdruck eines persönlichen Leseerlebnisses und identifikatorischer Lektüre mit Bezug auf vorrangig wirkungsbezogene Werte, die durch non-verbale Votings ergänzt werden. Solchermaßen in digitalen Leser*innen-Communities artikulierte Rezeptions- und Wertungspraktiken zielen

396 

 VI.3 Stützungssysteme

auf Kommunikation und Orientierung im Sinne von Empfehlen bzw. Abraten von Büchern. Diese Neuakzentuierung literarischer Kommunikation rückt die Nutzer*innenbewertungen dabei in den Zusammenhang von Kaufentscheidungen; zugleich sind die Wertzuschreibungen Teil eines „Experimentierfeld[es] der neuen, medientechnologisch omnipräsenten Beurteilungskulturen“ (Wegmann 2012: 291).

5 Literarische Wertung und Kanonbildung Die Lesekultur der Gegenwart kennzeichnet eine Pluralisierung von Nutzungskontexten und die Diversifizierung von Adressatengruppen mit deren je eigenen ‚Erlebnisformen‘ (Beilein et al. 2012: 12). So unterscheiden sich Bewertungen der Laienkritik in der Mediengesellschaft von den Wertmustern, die das bürgerliche Zeitalter hervorgebracht hatte (siehe VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik in diesem Band), ganz maßgeblich. Entsprechende Begründungsmuster liefert die Theorie der Wertung von Literatur, nach der Wertungen immer relativ zu ihren Kontexten gelten und historisch variabel sind (von Heydebrand und Winko 1996: 38). Wertungen werden damit als Handlungen aufgefasst, in denen ein Subjekt in einer konkreten Situation aufgrund von Wertmaßstäben und bestimmten Zuordnungsvoraussetzungen einem Objekt Werteigenschaften zuschreibt (von Heydebrand und Winko 1996: 39–48; Worthmann 2013: 247–257). Diese Wertungshandlungen sind an soziale Normen und Rollen gebunden: Während für den Teilbereich der Literatur als Kunst autonomieästhetische Normen gelten, sind für Unterhaltungsliteratur andere Normen wie die Orientierung an Leser*innenbedürfnissen relevant. Ähnlich weitreichende Unterschiede ergeben sich aus den Rollen und ihrer Funktion im Sozialsystem Literatur: Den professionellen Leser*innen in den Rollen von Literaturdistribution und -verarbeitung steht eine Leserschaft der Laienleser*innen gegenüber, deren Selektionen nicht autonomieästhetisch von formalen Texteigenschaften bestimmt werden, sondern vom Bedürfnis nach Unterhaltung, Information und Wissenserweiterung, Kommunikation o.  ä. und die damit vor allem auf wirkungsbezogene Werte Bezug nehmen. Im Facettenreichtum der kulturellen Praxis Literatur in der Mediengesellschaft, in der digitale und analoge Rezeptionsweisen sich in weitem Maße verschränken, wirken beide Funktionsbereiche als Stützungssysteme der Buch- und Lesekultur. Dies geschieht in unterschiedlichen Wertsphären, die sich aus divergierenden Intentionen, Motiven und Gratifikationen in unterschiedlichen Kontexten der Buch- und Mediennutzung ergeben, wobei jedoch dichotome Zuschreibungen zunehmend unscharf werden. Unter bestimmten Voraussetzungen grundieren Wertungsprozesse und -ergebnisse bzw. -folgen, vor allem der Philologien und Literaturwissenschaften, aber auch anderer literaturvermittelnder Akteure, ihrerseits Prozesse der Kanonisie-

6 Desiderate 

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rung. Als Kanon gilt „ein Corpus von Texten […], das eine Gesellschaft oder Gruppe für wertvoll hält und an dessen Überlieferung sie interessiert ist“ (Winko 1996: 585). Kanonzität ist damit gekennzeichnet durch die Dimensionen Dauer und Reichweite sowie Publizität und Etabliertheit (Stuck 2013: 188). Hinsichtlich der Mechanismen von Kanonbildung und der Frage, welche Faktoren an Kanonisierungsprozessen beteiligt sind, besteht weitgehender Konsens darüber, dass Kanones als historisch und kulturell variable Ergebnisse von Selektionsprozesses betrachtet werden, die bestimmten Kanonisierungsinstanzen wie Schule oder Universität, aber auch dem Buchmarkt zuzuschreiben sind und an denen inner- und außerliterarische Faktoren, also Textqualitäten einerseits und sozio-kulturelle Bedingen andererseits, beteiligt sind (Beilein et al. 2012: 2–3). Die Beschreibung von Kanongenese und -entwicklung kann auf der Grundlage literatursoziologischer Modelle und Konzeptionen von Kanonisierung im Sozialsystem Literatur erfolgen, sich an einer Theorie literarischer Bedeutung orientieren bzw. in der literaturwissenschaftlichen Systemtheorie als Selektionsprozess anhand der Codes ‚interessant / uninteressant‘ und ‚literarisch wertvoll / literarisch wertlos‘ verortet sein. Aus dem Bedeutungsverlust eines bildungsbürgerlichen Literaturkanons, der sich durch veränderte soziale und kulturelle Konstellationen in zunehmend multi-ethnisch geprägten Gesellschaften mit ihren immer weiter divergierenden Lebensstilen und Milieus ergeben hat, resultieren Pluralität und Wertedifferenz. Dies bot Möglichkeiten zur Kanon-Revision und zur Flexibilisierung weniger hierarchisch gedachter Kanonkonzeptionen durch offene Kanonisierungsstile und Subkanones wie z.  B. dem Phänomen eines populärkulturellen Kanons: So „erweist sich die Offenheit für Werke jenseits des traditionellen Nationalkanons als willkommener Anlass, nichtkanonisierte Texte, aber auch Werke der Weltliteratur, die im Kanon seit je eine untergeordnete Rolle spielten, in Literaturlisten und Lektüreverzeichnisse aufzunehmen“ (Korte 2002: 67). Unter diesem Einfluss stehen auch schulische Lektürekanones, die sich aus (prüfungsrelevanten) Lektürelisten, Lehrplänen, Schulbüchern, Anthologien und didaktischer Begleitliteratur konstituieren und damit zur Tradierung einer Auswahl literarischer Gegenstände und Konzepte beitragen: im Sinne eines materialen Kanons, mit dem die Kanoninstanz Schule – in unterschiedlicher Verbindlichkeit – Einfluss darauf nimmt, was gelesen wird, sowie im Sinne eines Deutungskanons, das heißt der Einflussnahme darauf, wie gelesen wird (Stuck 2013: 188).

6 Desiderate In der Zusammenschau der Stützungssysteme und deren Interdependenzen mit anderen Instanzen der Buch- und Lesekultur ergeben sich Anschlüsse für die Buchforschung im Hinblick auf die angedeuteten Forschungsdesiderata. Es handelt sich

398 

 VI.3 Stützungssysteme

dabei vor allem um zukünftige Forschungsperspektiven und Theoriebezüge, die sich den konzeptionellen Herausforderungen des digitalen Wandels in diesem Feld annehmen. In den Blick zu nehmen sind für den Bereich der Leseförderung und vor dem Hintergrund einer POPC (permanently online, permanently connected)Lesekultur weitere, auch empirisch gestützte Untersuchungen zur sozialen Verortung des Lesens unter digitalen Bedingungen. Wie hängen kollektive digitale Rezeptionspraktiken und Textinterpretationen zusammen? Welche Bedeutung nehmen Stützungssysteme in dieser Konstellation ein? Von Relevanz sind weiterhin Fragen nach der Wechselwirkung von Editionen und Kanonisierung oder nach der Rolle neuerer populärkultureller Kanones, auch für Bildungskontexte und -medien. Grundsätzlich interessant ist dabei, wie sich Texte und ihre Rezeption zu den Konzepten der Kanonizität bzw. Popularität verhalten. Desiderat erscheint weiterhin die Beschreibung der Bedeutung und Herausforderungen digitaler Editionen als gegenwärtigen und zukünftigen Stützungssystemen. Offensichtlich geworden ist, dass die Möglichkeiten digitalen Publizierens auch die Buch- und Lesekultur im Bildungswesen und in der Wissenschaft beeinflussen und mit OER und Open Access neues Standards setzen. Welche zukünftigen Entwicklungen und Veränderungen von Wissenskommunikationen damit einhergehen, bedarf der theoretischen Weiterentwicklung einer interdisziplinären Buchforschung, die im Blick auf ihre Gegenstände von heute das Morgen nicht nur mitdenken, sondern auch mitgestalten will.

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Literatur 

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400 

 VI.3 Stützungssysteme

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Literatur 

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VII Soziokulturelle Leistungen von Büchern

VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe Heinz Bonfadelli

1 Gegenstandsbereich Bei ‚Teilhabe‘ handelt es sich um ein vielschichtiges, schwierig bestimmbares und mehrdimensionales Konzept mit verschiedenen unterliegenden Dimensionen (Bartelheimer 2008; Bartelheimer et al. 2020: 43–58; Wansing 2005: 37–48). Der Begriff ist auf einer ersten Ebene relational (1), weil er auf die Beziehung zwischen Individuum und funktional differenzierter Gesellschaft mit ihren Subsystemen wie Politik, Wirtschaft, Kultur und Soziales zielt, wobei es in diesem Beitrag um soziale und kulturelle Teilhabe im engeren Sinn sowie politische Integration geht. Diese Beziehung wird zweitens vorab in demokratischen Gesellschaften positiv bewertet (2), weil ihr normativ (3) die gesellschaftspolitische Leitidee unterliegt, dass alle Menschen als Bürgerinnen und Bürger – engl. ‚citizens‘ – auf der Mikroebene wie auch alle sozialen Gruppen, z.  B. Menschen mit Migrationshintergrund (Allemann-Ghionda et al. 2010; Georgi 2015; Geißler und Pöttker 2009), auf der Mesoebene gleichberechtigt an ihrem Umfeld und der Gesellschaft überhaupt teilhaben, das heißt in unterschiedlichen Formen partizipieren können sollten (Berendt 2018; Mandel 2016). Als Gegenbegriffe zu einem solch umfassenden Verständnis von Inklusion (Hussain 2010; Klaus und Lünenborg 2004) gelten Ausgrenzung, Ausschluss oder Exklusion von relevanten gesellschaftlichen Ressourcen wie etwa Büchern und Schriftmedien (Rowsell et al. 2017) oder Bürgerrechten wie Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen. Die Perspektive der Wissens- und Kommunikationskluft und später als Digital Divide thematisiert dazu das Phänomen, dass nicht alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen an den Massenmedien, der journalistischen Medieninformation und der gesellschaftlichen Partizipation teilzuhaben vermögen, wobei Disparitäten bezüglich Bildung und Einkommen sowie Literalität eine entscheidende Rolle spielen (Bonfadelli und Friemel 2017: 241–251; Zillien und Haufs-Brusberg 2014). Viertens ist Teilhabe dynamisch (4) und verlangt aktives soziales Handeln (5), insofern der einzelne Mensch sich eigenaktiv etwa dem breiten Angebot an Lesemedien zuwenden muss und entsprechend Lesestoffe etwa in Form von Büchern auswählen und mehr oder weniger informationsorientiert und aktiv im Sinne von vertieft lesen sollte (Kruse 2018; Wolf 2018 und 2019). Dies setzt auch entsprechende individuelle Ressourcen voraus und damit zusammenhängende Kompetenzen (6) etwa in Form von Lesefertigkeiten – engl. ‚literacy‘ – und neu ‚digital literacy‘ bzw. allgemeiner ‚digital skills‘. Solche Ressourcen und Kompetenzen sind notwendige Voraussetzungen der konkreten Verwirklichungen von Teilhabe in den verschiedenen Lebenswelten wie Schule, Bildung, Beruf, Familie, Freizeit oder Kultur und https://doi.org/10.1515/9783110745030-018

406 

 VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe

Politik (Feilke 2011). Schließlich ist Teilhabe immer als historisch relativ (7) zu verstehen und zu bewerten, weil soziokulturelle Teilhabe und Partizipation immer von den je aktuell gegebenen sozioökonomischen Möglichkeiten und den politischen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft abhängig sind. Dies gilt auch für Bücher und Druck- bzw. Schriftmedien oder Medien des Lesens als Literalität im weiten Sinn (Maye 2018) sowie für die verschiedenen Modalitäten des Lesens selber, welche sich im Zuge der Digitalisierung durch das Aufkommen des Internet (Doll 2018) sowie der Sozialen Medien (Ernst 2018) ebenfalls verändert haben. So ist bezüglich Teilhabe durch Lesen zu berücksichtigen, dass ‚Lesen nicht gleich Lesen ist‘, haben doch empirische Studien auf Unterschiede zwischen Lesen auf Papier versus digitalem Lesen aufmerksam gemacht (Mangen 2017; Singer und Alexander 2017; Wolf 2018 und 2019), aber auch auf Veränderungen des Lesens in der Online-Gesellschaft unter Stichworten wie ‚deep reading‘ vs. ‚skim reading‘ oder ‚scanning‘ bzw. ‚scrolling‘ (Wolf 2018) oder zum aktiv-interaktiven Online Lesen und Schreiben sowie Diskutieren etwa in Blogs oder Facebook Lese-Gruppen im Web 2.0 hingewiesen (Hendryk 2010; Vlieghe et al. 2016): siehe dazu beispielsweise www.mein-literaturkreis.de. Darüber hinaus stellen sich mit Amazon oder Kindle im Zusammenhang mit E-Books neue Fragen zum Lesen in Bezug auf Buchbesitz oder Grenzen und Kontrolle von Privatheit und Intimität der Lesenden (Albrechtslund 2020) (zum theoretischen Umgang mit Lesen siehe III.1 Lesen in diesem Band). Betrachtet man Teilhabe nicht nur allgemein als partizipatives soziales Handeln, sondern spezifischer als Teilhabe an Medien im Sinne von Medienbesitz, Medienumgang, Mediengesprächen und noch enger als Teilhabe am Buch oder an Lesemedien generell, so äußert sich diese in unterschiedlichen Formen und prozessorientiert als kulturelles und politisches Interesse, gefolgt von der Zuwendung zu und Nutzung von Schriftmedien sowie deren Rezeption (z.  B. informations- vs. unterhaltungsorientiert) und deren Effekte in Form unterschiedlicher Auswirkungen wie Information, Lernen als Wissenserwerb und Bildung sowie sozialer Austausch von Meinungen als Voraussetzung von gesellschaftlicher Integration, aber auch in interaktiver Anschlusskommunikation in Form von Gesprächen (Charlton und Sutter 2015) sowie längerfristig in der Konstitution von personaler, sozialer und kultureller Identität qua Identifikation auf der Basis von gelesener Literatur (Klaus und Lünenborg 2004; Klein 2011; Neuhaus 2009; Neumann 2005). Spezifischer zur kulturellen (Klaus und Lünenborg 2004; Mandel 2016) und politischen Teilhabe (Bonfadelli 2015b; Korfkamp 2013): Nach der Systemtheorie von Niklas Luhmann (2011) leben Menschen heute in modernen Gesellschaften, die funktional differenziert sind, und Teilhabe erfolgt darum immer je spezifisch in den gesellschaftlichen Subsystemen wie Wirtschaft, Politik, Kultur oder im Sozialbereich. Die gesellschaftliche Einbeziehung der Menschen erfolgt entsprechend als Teilhabe bzw. Partizipation der einzelnen Personen an den je spezifischen Funk-

2 Schriftmedien, Lesen als soziale Praxis und soziokulturelle Partizipation 

 407

tionssystemen mit den ihnen entsprechenden Leistungen sowie unterliegenden Werten, Normen und Rollenerwartungen. Wobei dieses Handbuch zur Buchforschung auf den Gegenstand ‚Medium Buch‘ bzw. ‚Lesemedien‘ fokussiert, und dieser Beitrag sich wiederum mit den spezifischen Funktionen des Buchs und der Printmedien überhaupt bezüglich sozialer, kultureller und politischer Praxis als Teilhabe befasst. Dabei besteht die Voraussetzung, dass das Medium Buch und die Lesemedien durch die Lesenden in Prozessen der Domestizierung im häuslichen Alltag angeeignet werden (Hartmann 2013; Röser 2007). Im Zentrum stehen nachfolgend somit spezifisch die gesellschaftlichen Subsysteme des Sozialen und der Kultur einerseits sowie andererseits der Politik, wobei Teilhabe analog zur englischen Sprache als ‚citizenship‘ mit Partizipation gleichgesetzt wird.

2 Schriftmedien, Lesen als soziale Praxis und soziokulturelle Partizipation Literalität als Form sozialer Praxis, welche kulturelle Dimensionen und gesellschaftsverändernde partizipatorische Dimensionen einschließt, wurde von Brian Street (1984 und 2017) sowie von David Barton und Mary Hamilton 1998 entwickelt und später durch empirische, meist ethnografische, Studien analysiert und vertieft (z.  B. Pabst und Zeuner 2016: 62–65; Moss 2021; Rowsell et al. 2018). Gefragt wird, in welchen Lebensbereichen und Situationen Menschen ihre Schreib- und Lesekompetenzen situativ individuell und in der jeweiligen Sprache einsetzen. Auch der Kauf, Besitz und das Lesen als Nutzung von Büchern und Druck- respektive Schriftmedien können als Aspekte von soziokultureller Praxis und als Form von (politischer) Partizipation verstanden werden, weil spezifisch das Lesen von Büchern und die Nutzung von Medien wie Tageszeitungen in der empirischen Leseforschung immer wieder grundlegend für die Ermächtigung der Menschen – engl. ‚empowerment‘ – und als Basis für politische und gesellschaftliche Partizipation sowie für das Herstellen von Öffentlichkeit in demokratischen Gesellschaften betont wird (Bonfadelli 2004 und 2015a). Das Lesen von Büchern als soziokulturelle Praxis (Barton 2001; Bohn 1999; Dernbach und Roth 2007: 26; Schneider 2013; Kress & Rowsell 2019; Rowsell et al. 2018; Reckwitz 2020) liefert aktuelle Information und Wissen als Voraussetzung für Meinungsbildung und politische Partizipation. Lesemedien üben zudem gesellschaftliche Kontroll- und Kritikfunktionen aus, indem sie die Gesellschaft und ihre Eliten beobachten. Die meisten empirischen Studien zeigen auch, dass Leseverhalten und politische Informiertheit miteinander korrelieren, während sich z.  B. Fernsehnutzung meist nicht im Wissen niederschlägt. Allerdings ist Lesen nicht gleich Lesen, und Literalität, in Abgrenzung zu Oralität, ist facettenreich und mit vielfältigen Bedeutungen unterlegt (Pabst und Zeuner

408 

 VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe

2016: 61) wie die Lese- und Schreibkompetenz als Kulturtechnik, aber auch deren sozialkulturelle Praxis im Alltag (Pabst und Zeuner 2016: 66). Über das Begriffsverständnis (Culligan 2005; Keefe und Copeland 2011) und die diversen Formen von Literalität besteht darum keine Einigkeit (Hussain 2010). Dementsprechend werden in Tabelle 1 verschiedene Dimensionen von Literalität und Lese- / Schreibphänomenen unterschieden: nach den benutzten materiellen Trägermedien, den Formaten und Inhalten, aber auch nach dem Kommunikationsraum und den Lesemodalitäten. Tab. 1: Vielfältige Dimensionen von Literalität und multimodalen Lese- und Schreibphänomenen. Trägermedien

Formate

Inhalte

Raum

Modalitäten

Papier: Brief, Broschüre, Zeitung, Zeitschrift, Buch

Print: Texte Bildschirm: Texte Handy: Texte, E-Mails, SMS Internet: Hypertexte in Wikis, Foren, Chats

dokumentarische Information

privat

rezeptiv / vertieft

Infotainment

Social Media

produktiv

fiktionale Unterhaltung

öffentlich

interaktiv / oberflächlich

Geräte: Bildschirm auf Computer, Tablet, Handy

Obwohl regelmäßig Lesende vielfach das gesamte Medien- respektive Textangebot nutzen, unterscheidet sich doch der aktuelle, informationsorientierte und (lokal-) politische Lesestoff der Presse von belletristischen Buchinhalten, aber auch von Sachbüchern etwa zur Nachhaltigkeit oder zum Klimawandel. Ebenso sind die Lesestrategien in der Praxis und die zugrunde liegenden Lesemotivationen verschieden akzentuiert, wie Pfaff-Rüdiger (2011: 249–261) in ihrer Typologie für junge Lesende herausarbeitet: die Gelegenheitsleser, die Neugierigen, die Ratsuchenden, die Begeisterten, die Verzauberten, die Pflichtleser. Und Zeitungslesen ist wiederum eine spezifische Form des Lesens, nicht zuletzt, weil Presseartikel neben Texten oft auch Bilder und Info-Grafiken enthalten (Dernbach und Roth 2007: 29; Papst und Zeuner 2016: 66). Zeuner und Papst (2011) bzw. Papst und Zeuner (2011) haben in ihrer ethnografischen Studie mittels qualitativer Interviews die Vielfalt von Literalität bzw. literalen Praktiken wie Lesen und Schreiben als alltägliche Routinen zur persönlichen Erweiterung, Anwendung und Reflexion, aber auch zur spannenden Unterhaltung oder Entspannung in unterschiedlichen Kontexten wie Beruf oder Alltag in ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche Inklusion untersucht. Die Resultate ihrer biografisch-ethnografischen Analysen zeigen, dass Menschen ihre literalen Kenntnisse und Kompetenzen, beispielsweise im öffentlichen Raum, sehr unterschiedlich anwenden. Erkennbar wurden auch Veränderungen, insofern heute etwa die

3 Soziokulturelle Teilhabe und Partizipation empirisch 

 409

schriftliche Kommunikation mit Briefen kaum noch von Bedeutung zu sein scheint und durch E-Mails mehr oder weniger abgelöst wurde. Zudem ist die konkrete Anwendung literaler Praktiken stark abhängig von der Milieuzugehörigkeit, vom Bildungshintergrund und der beruflichen Tätigkeit der Befragten, aber auch von individuell-biografischen Erfahrungen.

Bücher

Leistung als Förderung von …

und Druck- bzw. Schriftmedien

Soziokulturelle Teilhabe & Partizipation

Motivation und Stimulation der Nutzung von …

Abb. 1: Wechselbeziehungen zwischen Büchern respektive Schriftmedien und soziokultureller Teilhabe.

Die Wechselbeziehungen zwischen der Nutzung von Büchern sowie Lesemedien und der soziokulturellen sowie politischen Partizipation (Abb. 1) bedeutet somit, dass Lesen als Gebrauch von Literalität nicht nur politische Partizipation als Interesse an Politik oder Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen stimuliert, sondern umgekehrt auch das politisches Interesse und die Partizipation an Politik das Interesse an und die Nutzung von Lesemedien, insbesondere die Nutzung von Printmedien wie Tageszeitungen oder politischen Zeitschriften, motiviert und anregt (Bonfadelli 2015b).

3 Soziokulturelle Teilhabe und Partizipation empirisch Die meisten empirischen Studien der Leseforschung befassen sich mit dem Besitz und dem Umgang von Lesemedien in einem eher engen Sinn (Bonfadelli 2004, 2013 und 2015a). Es gibt darum nur vereinzelt empirische Studien zur soziokulturellen Partizipation durch den Umgang mit Büchern und Schriftmedien. Eine Ausnahme bilden qualitative Studien in der Tradition der Cultural Studies. Die empirisch erhobenen Daten unterscheiden sich je nach Studie, basieren aber meist auf mehr oder weniger repräsentativen Bevölkerungsumfragen. Nachfolgend (Tab.  2) werden einige Befunde präsentiert und diskutiert. Sie stammen zunächst aus einer der wenigen ländervergleichenden Studien, dem Special Eurobarometer 399 von 2013, der in 27 Ländern der EU zwischen April und Mai 2013 durchgeführt wurde, basierend auf repräsentativen Stichproben von je ca. 1.000 Befragten. Zentrale Thematik ist der Zugang zu und die Partizipation an verschiedensten kulturellen Angeboten und Ereignissen in den einzelnen Ländern im letzten Jahr:

410 

 VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe

Tab. 2: Dimensionen kultureller Partizipation in Europa (Quelle: Special Eurobarometer 399 von 2013). Mindestens einmal im letzten Jahr in %

EU27

SE

FI

UK

DE

Oe

Kulturelles Programm am TV / Radio genutzt

72

89

75

77

74

62

Buch gelesen

68

90

75

80

79

73

Im Kino gewesen

52

74

50

61

54

59

Ein historisches Monument besucht

52

79

47

65

63

57

Ein Museum oder eine Galerie besucht

37

76

40

52

44

42

In einem Konzert gewesen

35

61

47

37

45

52

Eine öffentliche Bibliothek besucht

31

74

66

47

23

22

Im Theater gewesen

28

53

42

39

30

40

Ballett, Tanz, Oper besucht

18

34

17

22

19

18

Index „sehr hoch“ bzw. „hoch“

18

43

29

26

18

11

Im Durchschnitt der teilnehmenden 27 Länder der EU steht das Sehen bzw. Hören von kulturellen Programmen im Fernsehen oder Radio an der Spitze: 72 % haben im letzten Jahr mindestens ein solches Kulturprogramm im Rundfunk genutzt. Erstaunlich ist vielleicht, dass 68 % angegeben haben, mindestens ein Buch im letzten Jahr gelesen zu haben; immerhin 37 % haben sogar mehr als fünfmal in einem Buch gelesen, aber doch fast ein Drittel überhaupt in keinem Buch gelesen. Im Ländervergleich stehen die nordischen Länder bezüglich Buchlesen an der Spitze, aber auch in Deutschland haben 79 % letztes Jahr ein Buch gelesen. Zudem hat gut die Hälfte der Bevölkerung mindestens einen Film im Kino gesehen oder ein historisches Monument besucht. Museen oder Konzerte erreichten immerhin 37 % respektive 35 % der Bevölkerung, während nur ein knappes Drittel eine öffentliche Bibliothek im letzten Jahr besucht hat. In Deutschland, aber auch Österreich lag der Wert jedoch mit 23 % bzw. 22 % deutlich tiefer. Theater und Oper-, Ballett- oder Tanzveranstaltungen haben die geringste jährliche Reichweite unter den kulturellen Aktivitäten mit 28 % respektive 18 %. Während die Nutzung von kulturellen Angeboten von Radio und Fernsehen vor allem bei älteren Menschen beliebt ist, ist das Lesen von Büchern, aber auch der Besuch von Bibliotheken stark bildungsabhängig. Auch lesen Frauen mit 72 % häufiger Bücher als Männer mit 64 % (Böck 2007). Zudem besteht eine geografische Nord-Süd-Kluft: Der Anteil der Buchlesenden ist mit rund 80 % im Norden Europas deutlich höher als im Süden mit nur 40 % in Portugal, 50 % in Griechenland, 56 % in Italien und 60 % in Spanien. Schließlich wurden Zeitmangel (44 %) und fehlendes Interesse (25 %), jedoch kaum

3 Soziokulturelle Teilhabe und Partizipation empirisch 

 411

die mit dem Lesen verbundenen Kosten (3 %) als Gründe für mangelndes Buchlesen genannt. Nach einer repräsentativen Umfrage des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels von 2015 wurden 22 % der Befragten als Vielleser, 20 % als Durchschnittsleser, 41 % als Wenigleser und 17 % als Nichtleser eingestuft, und zwar aufgrund der Anzahl der im letzten Jahr gelesenen Bücher. 87 % der Frauen waren Leserinnen, bei den Männern aber nur 78 % Leser. Und nach der deutschen Langzeitstudie Massenkommunikation IX von 2015 (Krupp und Breunig 2016) lasen täglich (Mo–So) 18 % der Befragten ab 14 Jahren in Büchern, wobei die Tagesreichweite des Buchs bei Frauen 24 % und bei Männern nur 11 % betrug, bei Personen mit ­niedriger Bildung 15 % im Vergleich zu 24 % mit hoher Bildung. Zudem lasen 20 % der politisch hoch interessierten Personen täglich in Büchern, aber nur 15 % bei niedrigem politischem Interesse. Politikinteresse und Buchlesen korrelieren demnach in Deutschland (Tab. 3) wie in anderen Ländern ebenso.

Frauen

Männer

Medium Buch

Insg.

Tab. 3: Reichweite und Dauer des Buch- und Zeitungslesens in sozialen Gruppen (Quelle: Langzeitstudie Massenkommunikation IX 2015). Alter 14–29

30–49

Bildung 50+ tief mittel hoch

Politikinteresse tief mittel hoch

Gestern Buch gelesen (Mo–So) Reichweite %

18

11

24

19

17

18

15

16

24

15

17

20

Dauer in Min.

19

12

26

22

14

21

17

17

24

16

18

22

Gestern Tageszeitung gelesen (Mo–So) Reichweite %

33

34

33

15

24

48

36

30

33

23

29

42

Dauer in Min.

23

26

20

 9 

14

35

25

21

23

13

18

33

Auch beim Lesen von Tageszeitungen (Tab. 3) bestehen zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen meist deutliche Unterschiede, allerdings sind jene zwischen Männern und Frauen, aber auch zwischen den Bildungsgruppen weniger ausgeprägt, dafür die Klüfte zwischen den Altersgruppen und vor allem jene aufgrund des politischen Interesses deutlich stärker. Die Reichweite der Tageszeitung beträgt bei tiefem politischem Interesse nur gerade 23 % im Unterschied zu 42 % bei hohem politischem Interesse, dementsprechend steigt auch die Lesezeit von 13 Minuten pro Tag bei geringem politischem Interesse auf 33 Minuten bei starker politischer Interessiertheit.

412 

 VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe

Und bezüglich der Rezeption von Zeitungstexten differenzieren Dernbach und Roth (2007) in ihrer empirischen Studie von jungen Zeitungslesern (15–23 Jahre) zwischen Direkteinsteigern, Scannern und Gehern: Scanner suchen Zeitungsseiten linear oder springend ab, wobei sie sich an Überschriften und Bildern orientieren. Direkteinsteiger hingegen suchen und finden ihre Texte direkt, während Geher nach einer groben Selektionsphase sich entscheiden, die Zeitungsseite zu verlassen. Im Unterschied zur eigenbestimmten Rezeption von Texten wird in der TVNachrichtenforschung (z.  B. Brosius 1998; Maurer 2009) negativ bewertet, dass das fremdbestimmte Tempo der Rezeption, zusammen mit dem vielfach Auseinanderklappen von Text und Bild sowie der Fokussierung auf Personen und Emotionalität zu Ablenkung und kognitiver Überforderung führen und weiterführende Verstehensleistungen darum vielfach unterbleiben würden. Vor allem der Zusammenhang zwischen Buch- und Zeitungslesen mit Bildung, aber auch politischem Interesse zeigt, dass Bücher und Schriftmedien auch eine Funktion als kulturelles Kapital besitzen (Tab. 4). Dies gilt speziell für das Segment mit höherem soziokulturellem Status. So gaben in der oben zitierten Studie des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels von 2015 mit 54 % mehr als die Hälfte der Befragten als Lesemotivation an ‚Bücher sind für mich ein Fenster zur Welt‘, und 41 % meinten: ‚Um in der Gesellschaft mitzuhalten, muss man Bücher lesen‘. Und für 21 % sind Bücher auch ‚ein wichtiges Statussymbol‘. Tab. 4: Perzipierte Funktionen des Bücherlesens (Quelle: Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2015, Anteile „trifft ganz genau zu“ und „trifft eher zu“). Persönliche Funktionen

Soziokulturelle Funktionen

Bücher sind wichtig, um Abstand zum Alltag zu bekommen

60 %

Bücher sind für mich ein Fenster zur Welt

54 %

Ohne Bücher wollte ich nicht leben

51 %

Durch Bücher will ich mich persönlich weiterentwickeln

48 %

Zu meinen Büchern habe ich eine ­emotionale Beziehung; sie sind Teil meiner Persönlichkeit

43 %

Um in der Gesellschaft mitzuhalten, muss man Bücher lesen

41 %

Bücher sind ein wichtiges Statussymbol

21 %

Durch Lesen will ich eine völlig neue Perspektive kennenlernen

37 %

Empirische Studien (Datz 2020) weisen zudem auf die Bedeutung schriftsprachlicher Fähigkeiten für die Selbsteinschätzung politischer Grundkompetenzen hin, insofern gering literalisierte Erwachsene ihre eigenen politischen Kompetenzen im

3 Soziokulturelle Teilhabe und Partizipation empirisch 

 413

Vergleich als eher niedrig einschätzen bzw. unterschätzen. Dabei besteht die Gefahr eines niedrigen politischen Selbstwirksamkeitsgefühls in der Entsolidarisierung der Gesellschaft und als Folge die Hinwendung zu populistischen und rechtsextremen Parteien (Datz 2020: 49). Zum Internet: Nach der aktuellen ARD / ZDF-Onlinestudie von 2019 (Beisch et al. 2019) nutzen fast 90 % der Bevölkerung in Deutschland das Internet mindestens selten. Die Tagesreichweite des Internets beträgt 71 % und bei den 14–19-Jährigen sogar 100 Prozent. Das Internet ist somit heute zur meist genutzten medialen Plattform geworden. Dabei interessiert, welchen konkreten Tätigkeiten die Onliner im Internet nachgehen. Höchste Werte erzielen interessanterweise nicht das Ansehen von Filmen und Videos mit 14 % täglich, z.  B. bei YouTube, oder das Musikhören mit 13 % täglich, sondern Lesepraktiken im Internet in Form von Artikel und Berichte digital lesen, und zwar mit einer Tagesreichweite von 20 % und bei den jungen Menschen (14–29 Jahre) sogar von 32 %. Trotz Nutzung der vielen Audio- und VideoInhalte im Internet verbringen die Internetnutzenden jeden Tag 25 Minuten mit dem digitalen Lesen von Artikeln und Berichten. Das Internet scheint somit nicht generell zu einer Konkurrenz der literalen Nutzung von gedruckten Medien geworden zu sein, sondern besteht heute zu einem relevanten Anteil an neuen Formen von digitaler Online-Lektüre. Dabei spielt das tägliche Lesen und Schreiben von E-Mails mit 32 % die wichtigste Rolle. Allerdings hat nur einer von 100 Befragten ab 14 Jahren angegeben, in Blogs als Webtagebücher im Internet täglich aktiv zu schreiben. Die eigenaktive ‚bottom-up‘ politische Partizipation im Internet in Form von Aktivismus, Lobbying, Petitionen oder Bürgerbegehren (Voss 2014: 12) ist also nach wie vor eher die Ausnahme im Vergleich zur rezeptiven Partizipation in Form von Informationssuche und Informationsnutzung. Allerdings wurde die Frage nach den politischen Partizipationseffekten des Internets von Anfang an in der Kommunikations- und Politikwissenschaft kontrovers diskutiert: Während sich sogenannte ‚Cyber-Optimisten‘ vorab durch die Senkung von Informationskosten eine verstärkte Partizipation und Aktivierung der bisher politisch eher uninteressierten und inaktiven Bevölkerungssegmente erhoffen, prognostizieren demgegenüber ‚Cyber-Pessimisten‘ generell eher Ablenkung durch Internet-Entertainment oder allenfalls sogar eine verstärkte Fragmentierung der Politik in der Zivilgesellschaft. Eine mittlere Position nehmen jene ein, welche betonen, dass das Internet vor allem von bereits politisch interessierten Bürger*innen politisch partizipativ genutzt werde (Bonfadelli 2015b; Emmer und Wolling 2010; Jungherr 2017: 294–299). Schließlich hat der wissenschaftliche Diskurs speziell durch das Social Web bzw. Web 2.0 neue Impulse erhalten, insofern dieses vor allem aktive und horizontale politische Kommunikation erlaubt und auch zu fördern vermag (Thimm 2017). Allerdings besteht hier verstärkt die Gefahr des Verhaftet-Bleibens in sogenannten ideologischen Filterblasen (Kleinen-von Königslöw

414 

 VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe

2020) populistischer Gruppen wie beispielsweise aktuell von Corona-Leugnern und des Schürens von Misstrauen gegenüber den klassischen journalistischen Medien unter Stichworten wie ‚Lügenpresse‘ oder ‚Fake News‘ (Lilienthal und Neverla 2017). Als Folge erhöht sich die Gefahr einer Fragmentierung und Desintegration der Gesellschaft.

4 Gesellschaftstheoretische Perspektiven Die vielfältigen Funktionen und Leistungen der Medien ganz allgemein und speziell von Buch und Schriftmedien sind seit Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert und später für das Bürgertum in der Aufklärung immer wieder betont, aber auch kontrovers diskutiert worden (Kreibich und Schäfer 2009; Schneider 2013 und 2019), nicht zuletzt unter den Stichworten ‚Konkurrenz‘ vs. ‚Komplementarität‘ zum (damals neuen) Medium Fernsehen (McLuhan 1970; Saxer 1975), vor allem in den Medienwissenschaften (Winter 2005) und den Cultural Studies (Hepp 2010; Hepp et al. 2015), aber auch in systemtheoretischer Perspektive (Saxer 1995). Generell wird in diesen Analysen das Lesen als basale Kulturtechnik und individuelle Errungenschaft im Sinne eines praktischen Instruments mit nutzbringenden Anwendungen (Rühl 2002: 87) herausgestellt, welche neben dem Wissenserwerb nicht zuletzt kognitive Reflexion und Kritikfähigkeit stimuliert. Und dementsprechend wurde und wird auch immer wieder die ungewisse Zukunft von Buch und Lesen in der digitalen Mediengesellschaft thematisiert wie auch befürchtet (z.  B. Noelle-Neumann 1988; Steinberg 1990; Schön 1998; Saxer 2002; Faulstich 2004; Krüger 2009; Eco und Carrière 2009; Ehmig und Heymann 2012; Kuhn 2013; Maas und Ehmig 2013; Blum 2014), zusammen mit der Gefahr der Erosion der Lesekultur mit Implikationen für den Menschen wie für die Gesellschaft (z.  B. Nachtwey 2020). Nicht zuletzt darum wird Leseförderung als Anliegen von Bildungs-, Kultur- und Medienpolitik nach wie vor betont und gefordert (z.  B. Baer et al. 1999; Langenbucher 2002; Schäuble 1997; Stiftung Lesen o.  J.) (siehe VI.3 Stützungssysteme in diesem Band). Nachfolgend wird darum selektiv auf einige der relevanten theoretischen Perspektiven der Buch- und Lesekultur bezüglich der gesellschaftlichen Funktionen und Leistungen des Lesens und Schreibens eingegangen. In der Makro-Perspektive des Strukturfunktionalismus und der Systemtheorie, etwa von Ulrich Saxer (1995), werden Medien als problemlösende und -schaffende Systeme betrachtet. Die Kulturtechnik Lesen und das Medium Buch sowie die Printmedien überhaupt sind mit ihren inhaltlichen Angeboten ganz allgemein von gesellschaftlicher Funktionalität, und zwar hauptsächlich über ihre aktuell informierenden (Christmann 2004 und 2015), wissensvermittelnden und (meinungs-)bildenden, aber auch unterhaltenden (Klimmt und Vorderer 2004) Kommunikationsleistungen,

4 Gesellschaftstheoretische Perspektiven 

 415

indem sie Themen, Ideen und Argumente als Basis der mentalen Strukturierung der Gesellschaftsmitglieder hervorbringen und vermitteln. Die zentrale individuelle und gesellschaftliche Bedeutung des Lesens, aber auch des Schreibens als literale Kommunikation mit sich selbst und anderen liegt darin, dass Lesen als soziokulturelle Praxis auf der kognitiven Ebene Wissenserwerb ermöglicht und Abstraktion sowie situationsüberhobenes Denken schult, und das Lesen von Büchern als Modus der Welt- und Selbstaneignung zudem zur Alltagsbewältigung beiträgt, aber auch der Entspannung dient und emotional bereichernd wirkt. Lesen und Schreiben sind darum nicht zuletzt für die gesellschaftliche Inklusion von Bedeutung, wie die ethnografische Erhebung von Papst und Zeuner (2011) bzw. Zeuner und Papst (2011) belegt. Das Problemlösungspotential von Lesen und Schreiben variiert dabei kontextspezifisch in den Bereichen der Zivilgesellschaft mit Schule und Bildung, Beruf, Arbeit und Familie (z.  B. durch Vorlesen) sowie der Politik, Wirtschaft, Kultur und dem Sozialbereich (Tab. 5). Allerdings gibt es, analog zum Fernsehen, auch dysfunktionale Effekte des Lesens und Schreibens etwa durch ein Zuviel an Information (Fritz und Suess 1986: 115) oder infolge eskapistischer Lektüre im Sinne von Realitätsflucht etwa als Verdrängung von Schul- oder Alltagsproblemen. In der Studie von Bonfadelli und Saxer (1986: 118) äußerten beispielsweise 30 % der befragten Jugendlichen, Bücher und 28 % das Fernsehen manchmal oder sogar häufig eskapistisch zu nutzen, das heißt „[w]eil ich ein Problem habe oder Unangenehmes vergessen möchte.“ Tab. 5: Funktionen des Lesens und Schreibens sowie der Lese- und Schreibmedien. Zivilgesellschaft

Politik

Abstraktion, Reflexion Distanzierung

Information & Konsumenten: ­Meinungen als Basis von Information und Öffentlichkeit ­Orientierung

Information & Austausch von ­Meinungen

Artikulation von Meinungen

Orientierung & Lebenshilfe

Information, Wissen und Orientierung Meinungsbildung Anregung und ­Stimulation

Frühwarnfunktion Kontrolle & Kritik

Empathie & ­Identifikation Anschluss­ kommunikation Spannung & ­Entspannung Aktivierung und Eskapismus Partizipation Austausch & Gespräche

Entscheidungsfindung

Wirtschaft

Kaufverhalten: Bücher Beschäftigung: Buchhandel (Online) Buchmarkt: Struktur & Entwicklung Wertschöpfung z. B. Buchbranche

Kultur & Soziales

Sozialisation von Werten & Normen Identität & Teilhabe an der Gesellschaft Unterhaltung, Bildung, kulturelle ­Entfaltung

416 

 VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe

Tabelle 5 bilanziert die vielfältigen Funktionen der Lese- und Schreibmedien bzw. des Lesens und Schreibens von Texten in den wesentlichen Bereichen der Gesellschaft wie der Zivilgesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur sowie Soziales. ‚Zivilgesellschaft‘ wird unterschiedlich definiert. Breit verstanden umfasst sie einen Bereich zwischen staatlichem, wirtschaftlichem und privatem Sektor, insofern Bürger*innen etwa in Vereinen, Verbänden und weiteren nichtstaatlichen Organisationen wie sozialen Bewegungen (Rucht 1994) Informationen und Wissen zur Orientierung austauschen und sich so Meinungen bilden etwa zum Klimawandel. Normativ werden der Zivilgesellschaft unerlässliche Leistungen für das Funktionieren demokratischer Gesellschaften zugeschrieben. Dabei spielen nicht zuletzt Medien und Journalismus als soziale Institutionen der Gesellschaft eine wichtige Rolle, insofern erst ein pluralistisches Mediensystem mit unterschiedlichsten Perspektiven auf gesellschaftlich relevante Themen Wissen generiert und vermittelt, Meinungsvielfalt schafft und Meinungsbildung sowie Austausch durch Gespräche der Mediennutzenden in der Zivilgesellschaft ermöglicht (Bonfadelli 2021; Filipović et al. 2012). Theoretisch wird dazu auf der Basis strukturfunktionalistischer Ansätze davon ausgegangen, dass öffentliche Kommunikation, vermittelt durch die Institution der Medien, als Basis von gesellschaftlicher Ordnung unerlässlich sei (Altmeppen et al. 2015). Und zum aktuellen Medienwandel (siehe IV.3 Medienwandel in diesem Band) wird thematisiert und analysiert, inwiefern Hassreden und Radikalismus in den Sozialen Medien die Zivilgesellschaft und die journalistischen Medien mit Vorwürfen wie ‚Lügenpresse‘ zu bedrohen versuchen (Emmer 2017; Emmer und Wolling 2010; Lilienthal und Neverla 2017). Auf empirischer Ebene zeigt sich dazu, dass sich beispielsweise die Angriffe auf Medienschaffende erhöht haben, aber gleichzeitig das Vertrauen in die genutzten Medien nicht nachgelassen hat. Politik: Jürgen Habermas (1962) konzipiert in seinem Strukturwandel der Öffentlichkeit eine normative Theorie der deliberativen Demokratiekonzeption, in welcher Bürger*innen aufgrund von medienvermittelter Information – vorab durch die Presse – rationale Argumente zu politisch-kulturellen Themen austauschen, um gesellschaftlichen Konsens zu erlangen. So entsteht durch Partizipation und Deliberation eine mediale Öffentlichkeit. Dabei ist nach seiner historischen Analyse der öffentliche Diskurs in der Informationsgesellschaft wegen dem verschärften kapitalistischen Konkurrenzdruck der Massenpresse im 20. Jahrhundert zunehmend unter Druck geraten, was nach ihm die kritische Funktion der Öffentlichkeit gefährdet. Allerdings wurden Habermas’ Rationalitätsansprüche an eine ideale bürgerliche Öffentlichkeit des Räsonnements später immer wieder auch relativiert und kritisiert (Hahn und Langenohl 2017). Recht hat Habermas aber insofern, als die klassisch journalistischen Massenmedien – sprich Abo-Zeitungen und öffentlich-rechtlicher Rundfunk – durch ihre intermedial abgestimmte poli-

4 Gesellschaftstheoretische Perspektiven 

 417

tische Berichterstattung eine geteilte Öffentlichkeit herzustellen vermocht haben, an der und deren argumentativen Diskursen Bürger*innen partizipieren konnten. Dabei handelt es sich heute jedoch nur noch um eine Öffentlichkeit neben vielen weiteren Teilöffentlichkeiten im Social Web mit ihren fragmentierten und mehr oder weniger geschlossenen Communities (Eisenegger 2017; Emmer 2017; Emmer und Wolling 2010; Katzenbach 2016). Nach Patrick Donges und Otfried Jarren (1999) wird die politische Öffentlichkeit im Netz aber erst dann relevant, wenn sie über die gruppen- und themenspezifische Öffentlichkeitsebene hinauszureichen vermag. Sie betrachten darum die mit der Netzkommunikation assoziierte Mobilisierungsfunktion eher skeptisch. Hinzu kommt, dass der Medienwandel zu einer Mediatisierung von Politik geführt hat. In der Kommunikationswissenschaft wird seit längerem ein Wandel der Medien und ihrer Politikberichterstattung konstatiert (Bonfadelli 2021). Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass der ökonomische Druck wegen Abwanderung der Werbung ins Internet zugenommen hat, und darum nicht zuletzt auch die Printmedien, das heißt die tagesaktuellen Zeitungen, ihre potentielle Leserschaft verstärkt anzusprechen und an sich zu binden versuchen, insofern bei der Selektion (Agenda-Building) und Interpretation (Framing-Setting) von politischen Themen Personalisierung, Emotionalisierung und Inszenierung sowie Skandalisierung eine immer wichtigere Rolle spielen (Saxer 2007), zusammen mit der Vermischung von redaktionellem Teil und Werbung (sogenanntes Native Advertising oder Publireportagen). Medientexte aus dem Politikbereich werden so möglichst publikumswirksam aufbereitet. Umgekehrt haben sich auch die Akteure der Politik an die Medien-Logik angepasst, insofern gezielt Events im öffentlichen Raum produziert und inszeniert werden, um Medienresonanz zu erzielen (Donges und Jarren 1999; Imhof und Eisenegger 2003). Kritisiert wird diese Entwicklung, weil dadurch das Vertrauen sowohl in die Medien als auch in die politischen Institutionen sinkt und sich Politikverdrossenheit bei der Leserschaft einstellen würde. So reduziert sich das Lesen politisch-kultureller Medientexte und als Folge ist auch die aktive kulturelle und politische Teilhabe durch die Lesenden gefährdet. Wirtschaft: Ökonomische Perspektiven (Clement et al. 2009) thematisieren auf der Makroebene den Buchmarkt (Schneider 2015) und die Warenzirkulation sowie die gesellschaftliche Wertschöpfung durch die Medien- und Buchbranche, auf der Mesoebene die Strategien der Verlage und des (Online) Buchhandels (Janello 2010; Hiller 2016) als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre (Hagenhoff 2015) und auf der Mikroebene vor allem den Stand und die Entwicklung von Lesenden als potentielle Buchkäufer und deren Präferenzen für die Zukunft des Mediums Buch, etwa vor dem Hintergrund von E-Books (Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2015, 2018 und 2019). Allgemeiner betrachtet spielen die Lesekompetenzen und das konkrete Lesen etwa von Zeitungen aber auch eine wichtige Rolle für Kon-

418 

 VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe

sumentinnen und Konsumenten bezüglich Information und Orientierung beim Kauf von Produkten, nicht zuletzt auch von Büchern. So spielen beispielsweise die von Google verwendeten Algorithmen bei der Buchsuche eine immer größere Rolle. Kultur: Bücher sind nicht nur eine Ware, sondern Buch und Lesen sind auch ein Kulturgut und tragen zur Identitätskonstruktion der Lesenden und zu ihrer sozialkulturellen Inklusion (Hussain 2010) sowie Partizipation (Korfkamp 2013) und Integration (Sexl 2006; Kuhn 2015) bei. So hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1982 und 1983) das Konzept des ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals entworfen und analysiert, welches neben der Bewahrung und Verbesserung der Position von Menschen als Habitus auch entsprechende Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Kulturelles Kapital ist symbolisches Informationskapital, das inkorporiert als Bildung, objektiviert beispielsweise in Form des Besitzes von Büchern und institutionalisiert etwa via Bildungstitel in der Gesellschaft besteht (Rehbein 2011: 110–117). Neben dem ökonomischen Kapital in Form von materiellem Besitz stellt auch das kulturelle Kapital ein Kriterium für soziale Ungleichheit dar, insofern es sich in Unterschieden im Geschmack und Lebensstil äußert. Es wird etwa in der Familie über Buchbesitz oder mittels Vorlesen durch die Eltern an ihre Kinder weitergegeben und dient nach außen auch als Mittel der soziokulturellen Distinktion. Positiv gesehen ist kulturelles Kapital eine Voraussetzung von und stimuliert gesellschaftliche Partizipation (Hussain 2010; Roßteutscher 2009). Stuart Hall (1999) kritisiert in seinem kultursoziologischen Kommunikationsmodell ‚Encoding / Decoding‘ das traditionelle Verständnis der linearen und objektiven Übermittlung von Informationen durch Medien. In seinem semiotischen Modell muss die Realität durch technische Infrastrukturen und deren Produktionsverhältnisse einerseits in (Fernseh-)Texte encodiert werden, welche andererseits wiederum durch die Mediennutzer im Rezeptions- bzw. Leseprozess decodiert werden, wobei diese im Rahmen der Rezeption unterschiedliche Lesearten anwenden können: Sie können die von den Texten meist nahegelegte dominant-hegemoniale Position übernehmen, aber auch eine oppositionelle Deutungsposition einnehmen oder als mittlere Auffassung eine ausgehandelte Position der Argumente zum Thema anstreben. Teilhabe an der Gesellschaft erfolgt somit einerseits in medialen Rezeptionsprozessen durch die aktive je spezifische Decodierung von (Medien-) Texten, aber ebenso durch Prozesse der Encodierung als aktive Partizipation in den medialen Produktionsverhältnissen, was heute vor allem im Social Web praktiziert wird. Zudem haben sich die traditionellen Kulturtechniken Buch und Lesen durch die Digitalisierung der Gesellschaft verändert, insofern Hypermedien und Hypertexte anders rezipiert werden als Bücher und gedruckte Texte (Knopf et al. 2020; Philipp 2018 und 2021; Rowsell et al. 2018; Wampfler und Krommer 2019), was eine Re-Theoretisierung des Konzepts von Literalität als sozialer Praxis verlangt (Kress

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und Rowsell 2019). Die Analysen der Effekte bezüglich Verstehen und Lernen sind allerdings widersprüchlich geblieben (Delgado et al. 2018; Mangen 2017; Salmerón und Delgado 2019). Der Rezeptionsprozess von digitalen Texten wird aber im Unterschied zum individuellen textnahen und interpretierenden Lesen stärker sozial-interaktiv, insofern beim digitalen Lesen meist Schnittstellen zu interaktivproduktiven Kommunikationsformen in sozialen Medien bestehen (Bender 2020). Dies hat darüber hinaus auch zu Veränderungen der Buch- und Text-Publikationskulturen etwa in Form von kollaborativem Schreiben (z.  B. in Wikis) oder verlagsunabhängiger Buchproduktion und -publikation geführt. Dieses aktive und öffentliche Schreiben im Social Web kann nicht nur als neue Form des symbolischen Produzierens von Texten, Podcasts oder Videos, sondern auch als neue Modalität verstärkter sozio-kultureller Teilhabe und gesellschaftlicher Partizipation überhaupt verstanden werden.

5 Desiderate In diesem Beitrag stehen die mannigfachen soziokulturellen und politischen Funktionen und Leistungen von Büchern und Schriftmedien im Zentrum. Dabei wurde aufgrund vielfältiger theoretischer Analysen und empirischer Studien der Kommunikations-, Medien- und Kulturwissenschaften analysiert und gezeigt, dass Literalität als individuelle sozialkulturelle Alltagspraktiken in der Bildungsphase, im Beruf, in der Freizeit und in der Lebenswelt überhaupt die Teilhabe als Engagement und Partizipation der Bürger*innen an der Öffentlichkeit der Zivilgesellschaft und an der Politik in der Gesellschaft im umfassenden Sinn ermöglicht und fördert. Als konkretes Beispiel hat dazu der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages Wolfgang Schäuble in seinem Beitrag zum Kongress ‚Lesen in der Informationsgesellschaft‘ der Stiftung Lesen rhetorisch gefragt: „Kann sich eine demokratische Gesellschaft die Erosion der Lesekultur leisten?“ (Schäuble 1997: 29), und antwortete mit dem Bekenntnis, dass die Lesekultur eine unverzichtbare Voraussetzung der demokratischen Gesellschaft bilde, die informierte, urteilsfähige und verantwortungsbewusste Bürger mit sozialer Kompetenz und Engagement brauche (Schäuble 1997: 35–36). Die Digitalisierung der Gesellschaft hat dabei nicht zu einer Verdrängung der Kulturtechnik Lesen geführt, aber Literalität äußert sich heute weniger nur im Lesen gedruckter Texte ab Papier, sondern zunehmend im rezeptiven wie auch produktiven Umgang mit hybriden Online-Texten im Internet und im Web 2.0. Als Folgerung ergibt sich, dass der Vermittlung von Literalität als Aneignung des Lesens und Schreibens in der Grundbildungsarbeit wie im Bereich der Alphabetisierung ein herausragender Stellenwert zukommt, und zwar nicht nur eng ver-

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 VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe

standen als formale Lese- und Schreibkompetenzen, sondern breit als konkrete sozialkulturelle Lese- und Schreibpraktiken zur Lebensbewältigung in der Gesellschaft überhaupt, sei das nun im Beruf, im Alltag, in der Freizeit oder in der politischen Partizipation (Papst und Zeuner 2011: 46; Bremer und Pape 2017; Schneider 2014 und 2019; Wampfler und Krommer 2019). Galten Lese- und Schreibfertigkeiten in der bürgerlichen Gesellschaft vor allem als sozial-kulturelle Reputation, so werden diese heute in der digitalisierten Medien- und Informationsgesellschaft zwar auch noch als kulturelles Kapital betrachtet, das nach Bourdieu zur Distinktion beiträgt, aber darüber hinaus gelten sie als relevante und unverzichtbare sozialkulturelle Ressourcen und Kompetenzen mit multiplen gesellschaftlichen Funktionen und Leistungen im breiten Sinn. Es ist und bleibt darum eine anspruchsvolle Aufgabe der Bildungsarbeit (Groeben und Hurrelmann 2004; Bertschi-Kaufmann und Graber 2007; SchmölzerEibinger und Weidacher 2007; Dawidowski 2009; Feilke 2015; Rowsell et al. 2017; Philipp 2018), zusammen mit der aktuellen Bildungs-, Kultur- und Kommunikationspolitik (Baer et al. 1999; Langenbucher 2002; Wrase 2020; Moss 2021), die moderne digitale Literalität, zusammen mit dem Lesen von Texten ab Papier und im Internet, als Identitätsquelle und relevantes soziokulturelles Element sowie als positive Norm im Wertesystem der postmaterialistischen digitalen Gesellschaft zu verankern, zu betonen und zu fördern, nicht zuletzt als Basis von allgemeiner Informationskompetenz (Keller-Loibl 2021; Knopf et al. 2020). Konkrete Beispiele dazu sind etwa der Welttag des Buches jährlich am 23. April, Vorlesewettbewerbe oder die Einbindung der Zeitung in die Schule, initiiert und unterstützt durch den Bundesverband der Deutschen Zeitungsverleger BDZV.

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 VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe

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VII.2 Vergemeinschaftung Axel Kuhn und Sandra Rühr 1 Gegenstandsbereich Vergemeinschaftung als Leistung von Büchern stellt ihrem gesellschaftlichen (siehe VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe in diesem Band) einen zweiten soziokulturellen Bedeutungsbereich gegenüber. In der Soziologie charakterisieren Gesellschaft und Gemeinschaft ab dem 19. Jahrhundert als getrennte Begriffe das Soziale (Tenbruck 1989: 215; Gertenbach et al. 2010: 30), bedingen sich wechselseitig, bleiben in den meisten Betrachtungen aber analytisch getrennt (Clausen 1991: 81): Während Gesellschaft die Einheit des Sozialen adressiert, fokussiert der Gemeinschaftsbegriff die Vielfalt und Verschiedenheit des menschlichen Zusammenseins als soziale Kraft (Tenbruck 1989: 218–219). „Entscheidend sind hierbei die kollektiv-semantischen Verarbeitungen des Umbruchs zur modernen Gesellschaft, durch die der Gesellschaftsbegriff zum Platzhalter der strukturellen Neuerungen der Moderne wird und die umgekehrt einen Gemeinschaftsbegriff gestatten, der als Sammelbezeichnung all dessen fungiert, was im Gesellschaftsbegriff nicht aufgeht oder explizit hierdurch negiert wird“ (Gertenbach 2014: 133). Vergemeinschaftung beschreibt deshalb die sich dynamisch verändernden strukturellen Einbettungen des Menschen in soziale Beziehungsgefüge von Kultur und Gesellschaft (Krotz 2008b: 152), die soziale Kräfte mobilisieren (Tenbruck 1989: 222–223), öffentlichen Charakter erreichen, und zielgerichtet der Erfüllung von Aufgaben, der Verwirklichung bestimmter Werte, der Durchsetzung von Ideen oder der Vertretung von Interessen dienen. Dabei reichen Formen der buchbezogenen Vergemeinschaftung von offen bis geschlossen, formell bis informell, lokal bis translokal, und verändern sich historisch im Kontext von Metaprozessen der Individualisierung, Globalisierung, Ökonomisierung oder Mediatisierung (siehe IV.3 Medienwandel in diesem Band und Abschnitt 3.2). Bücher sind hieran beteiligt, weil sie erstens selbst geteilte Werthaltungen symbolisch repräsentieren (siehe VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik in diesem Band) und als Artefakte, Objekte oder kulturelle Repräsentationen gemeinsame Sinnhorizonte von Vergemeinschaftung sein können sowie zweitens kommunikatives Handeln zu einer spezifischen Zeit in bestimmter Weise ermöglichen und damit je eigene Formen von Vergemeinschaftung hervorbringen oder beeinflussen. Vergemeinschaftung mit Bezug zu Büchern lässt sich somit insgesamt als sozialtheoretische Kategorie bestimmen, mit der Formen der Instituierung und Stabilisierung des Sozialen in Teilen analysiert werden können (Gertenbach 2014: 139). https://doi.org/10.1515/9783110745030-019

2 Forschungsübersicht 

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2 Forschungsübersicht Vergemeinschaftung ist in diesen Zusammenhängen ein latentes Thema in vielen Bereichen der Buchforschung. Hilfreich für die Identifizierung und Systematisierung der bisherigen dezidierten Forschung zu Büchern und Gemeinschaften ist eine Strukturierung über Überlegungen aus der Vereinsforschung. Nipperdey (1976: 205) erkannte eine „Bedeutung des Vereinswesens für die soziale, kulturelle und politische Welt des Bürgertums, de[n] Stellenwert des Vereins für das Leben des Einzelnen […] [sowie] der Gruppe und der Gesellschaft im Gesamtgefüge anderer sozialer Strukturen.“ Hiermit können theoretisch buchbezogene Formen der Vergemeinschaftung zur Veränderung sozialer Strukturen und solche zur Identitätskonstruktion unterschieden werden.

2.1 Buchbezogene Vergemeinschaftung zur Veränderung sozialer Strukturen 2.1.1 Sozietäten, Assoziationen und Vereine Sozietäten sind als freiwilliger Zusammenschluss Gleichgesinnter innerhalb abgesteckter Interessensbereiche zum Zwecke der Geselligkeit und Veränderung bestehender (Miss-)Verhältnisse zu fassen (Hardtwig 1997: 11–12, 24 und 239). Der damit in Zusammenhang stehende wissenschaftliche Diskurs findet nach Hardtwig (1997: 19–20) unter Nutzung der Begriffe ‚Assoziation‘ und ‚Verein‘ statt. Gesellschaftsgründungen werden insbesondere in der Sozial- und Wissenschaftsgeschichte thematisiert: Letztere fokussierte zunächst auf den europaweiten Zusammenschluss von Gelehrten seit dem Mittelalter, wobei die gegenseitige Hilfe bei der Beschaffung von Büchern ein wesentliches Thema ist. Aus den freien Gelehrtennetzwerken entstehen ab dem 16.  Jahrhundert, zunächst in Italien, anschließend in Frankreich und England, organisierte und institutionalisierte wissenschaftliche Gemeinschaften in Form naturwissenschaftlicher oder literarisch-sprachlicher Akademien, die im 18. Jahrhundert in einer wissenschaftlichen Sozietätsbewegung in ganz Westeuropa mündeten (Im Hof 1982: 112–113). Bücher und Zeitschriften als Wissensbestände waren dabei die Arbeitsgrundlage der Gelehrten. Die Akademien bauten in der Regel eigene Bibliotheken für ihre Mitglieder auf, die vor Ort oder postalisch genutzt werden konnten, publizierten eigene Zeitschriften mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und verpflichteten die Mitglieder ihre Abhandlungen vorzulegen, zu verlesen und zu publizieren. Ein Teil der europäischen und amerikanischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts organisierte sich diesen Ideen folgend in weiteren ‚Gesellschaften‘, wie z.  B. Lesegesellschaften oder Sprachgesellschaften, aber auch in Freimaurergesellschaften, formellen oder informellen Zusammenschlüssen von Bürgern, Geistlichen,

430 

 VII.2 Vergemeinschaftung

Adligen, Gelehrten, Kaufleuten usw. (Hardtwig 1997: 13; Im Hof 1982: 105). Ihre Mitglieder verstanden sich im Kontext der Aufklärung als gestaltende und weltverbessernde Elite und als organisierter Kern einer fortschrittsorientierten Öffentlichkeit. Zaunstöck (2003: 1) fasst Sozietäten deshalb als sozial relevante Kommunikationssysteme auf. Ein stärkerer Buchbezug findet sich in den geschichtswissenschaftlich perspektivierten Lesegesellschaften, die in den 1970er und 1980er Jahren ebenfalls im Zusammenhang mit Assoziationen, Sozietäten und Vereinen untersucht wurden. Sie standen dort jedoch nicht im Fokus, sondern wurden lediglich als eine spezifische Ausprägungsform angeführt. Im Hof (1982: 123–134) gab z.  B. einen Überblick über literarische Gesellschaften und Lesegesellschaften und nannte dabei die aus seiner Sicht wichtigsten, z.  B. die Deutsche Gesellschaft in Leipzig. Er führte keine Belege an, sondern verwies stattdessen auf die Arbeit von Prüsener (1972, siehe Abschnitt 2.1.2). Nipperdey (1976: 177) und Im Hof (1982: 126) betonten im Zusammenhang mit Lesegesellschaften die Aspekte von Geselligkeit und Unterhaltung. Die aktuellste Publikation (Motschmann 2015: 570–582) zu Vereinen fokussiert Berlin und betrachtet Lesegesellschaften in einem eigenen Kapitel nach dem folgenden Schema: allgemeine Daten zu Name, Sitz, Gründung und Auflösung, Geschichte und Programmatik, Struktur und Organisation, Mitglieder und Bibliografie. Als Quellen wurden vor allem Lebenserinnerungen zu Rate gezogen, im Bereich der Sekundärliteratur in erster Linie verschiedene Publikationen von Dann (1981; 1989) sowie Prüsener (1972) (siehe Abschnitt 2.1.2). Die historische Sozietätsforschung bleibt, wie hier exemplarisch gezeigt, eher beschreibend, indem sie sich auf die Auflistung der Mitglieder und die chronologische Entwicklung einzelner Gesellschaften konzentriert. Es wurden aufgrund dieser beschränkten Perspektiven bereits unterschiedliche Desiderate genannt, die wiederum übergeordnete Forschungslücken veranschaulichen: Um den gesellschaftlichen Stellenwert von Vereinen besser herausarbeiten zu können, forderte der Historiker Nipperdey (1976: 205) z.  B. (weitere) Regional- und Lokalstudien. Für die beiden Soziologen Tenbruck und Ruopp (1983: 71) ist es dagegen notwendig herauszufinden, welche Ideen, Werte und Zielstellungen hinter Vereinsgründungen standen. Beide Forderungen werden weitergedacht zur Frage, wo und wie diese Ideen, Werte und Zielstellungen umgesetzt wurden. Bücher und Zeitschriften werden dabei bisher zwar als Aspekt der Vergemeinschaftung vorausgesetzt, selten aber als wirksamer Einfluss auf (oder sogar als eigenmächtiger Akteur für) die Entstehung, Gestaltung und Wirkung von Sozietäten untersucht.

2 Forschungsübersicht 

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2.1.2 Lesegesellschaften Lesegesellschaften wurden in sozialgeschichtlicher Perspektive schwerpunktmäßig in den 1960er und 1980er Jahren untersucht und in dieser Zeit auch zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Fragestellungen. Sie wurden hier als spezifische an Schrift- und Lesemedien gekoppelte Formen der Vergemeinschaftung mit eigenen Regelungsmechanismen wie Statuten und Verhaltensrichtlinien sowie Ausschüssen bestimmt und boten als Lesekabinette mit eigenen Geselligkeitsräumen die Möglichkeit zur diskursiven Zusammenkunft: „Bei den Mitgliedern der Lesekabinette traten zu Interesse an der Lektüre […] das Motiv der Geselligkeit und das Bedürfnis nach Gedankenaustausch hinzu“ (Prüsener 1972: Sp. 391). Letzteres ist zentral für Schneider (2015: 257), die in ihrem Lexikonartikel als wesentliche Funktion den kritischen Austausch über Gelesenes anführt, was auch in der Forschungsliteratur betont wird (Bödeker 1987: 110; Dann 2003 [1977]: 54; Hardtwig 1997: 295; Janson 1963: 64; Ormrod 1990: 11; Stützel-Prüsener 1981: 83), in der Regel jedoch ohne Angabe von konkreten Beispielen oder Belegen. Die Lesegesellschaften waren Ausdruck der Aufklärung und der Popularisierung von Wissen, die auch durch die ansteigende Buchproduktion und ein wachsendes Lesepublikum vorangetrieben wurden. Der Historiker Otto Dann (2003 [1977], 1981 und 1989) verdeutlicht in einer Bibliografie, inwieweit Lesegesellschaften zum Gegenstand weiterer Disziplinen wurden (Dann 1981: 275–279). Die Beschäftigung mit Lesegesellschaften im deutschsprachigen Raum beginnt in den 1960er Jahren: Janson (1963: 13, 30–32, 51 und 82–84) arbeitete anhand von Festschriften und Jahresberichten der Lesegesellschaften, Anzeigen in Zeitschriften mit dem Hinweis auf deren Eröffnung und Statuten, Urkunden zu Gebäudeankäufen und Lebenserinnerungen Darstellungen von 45 Lesegesellschaften heraus. Die unterschiedlichen Quellen sowie die variierende Quellenlage führten aber dazu, dass der Überblick über die einzelnen Lesegesellschaften unterschiedlich detailliert ausfällt (Janson 1963: 29–58). Immer zu finden sind Hinweise zu Gründungsdaten und Zielsetzungen, nach Möglichkeit werden die Räumlichkeiten beschrieben und, was deren Relevanz herausstreicht, Vorstände und die Bestände an Periodika in eigenen Kapiteln gelistet (Janson 1963: 67–79). In den frühen 1970er Jahren entstanden zwei umfangreiche Dissertationen zu Lesegesellschaften (Milstein 1972; Prüsener 1972). Der Soziologe Milstein (1972: 166–311) trug in seiner Arbeit möglichst vollständig die Gründungsdaten zu acht Lesegesellschaften und ihrer Mitgliederzusammensetzung zusammen. Am Beispiel von 35 Lesegesellschaften, die anhand ihrer Bestände, Statuten, Mitgliederverzeichnisse, Erinnerungen über die Gründungsphase sowie Protokollen präsentiert werden, wollte die Literaturwissenschaftlerin Prüsener darüber hinaus „etwas über das ‚literarische Klima‘ der damaligen Zeit […] erfahren“ (Prüsener 1972: 378), um „Beziehungen zwischen Gesellschaft und Literatur greifbar zu machen“ (Prüse-

432 

 VII.2 Vergemeinschaftung

ner 1972: 465). Sie konnte so eine Typisierung in bürgerliche, literarische und Aufklärungs-Lesegesellschaften sowie Clubs vornehmen. Dann (1989: 45–48) ordnete beide Arbeiten der Sozialgeschichte der Literatur zu. Unter diesem Theorieansatz beschäftigte sich auch Ormrod (1985) mit Lesegesellschaften des 19. Jahrhunderts. Er konnte zeigen, dass diese ein spezifisches Kommunikationsbedürfnis befriedigten, indem sie „eine Erweiterung und Vertiefung persönlicher und sozialer Bindungen ermöglichte[n].“ Damit sprach er bereits, ohne es konkret benannt zu haben, die gemeinschaftsstiftende Funktion von Lesegesellschaften an. Über einen systemtheoretischen Ansatz griff er diesen Aspekt erneut auf (Ormrod 1990: 8–9), konnte sich von den literaturwissenschaftlichen Wertungskategorien jedoch nicht völlig lösen, da er mit den späteren Lesegesellschaften des 19.  Jahrhunderts gerade jene untersuchte, die einen zunehmend belletristischen Buchbestand hatten und häufiger Literaturveranstaltungsformate wie Diskussionen, Lesungen oder Vorträge integrierten (Ormrod 1990: 20). Dann (1989: 50) stellte, ohne dies selbst so zu formulieren, schließlich einen Zusammenhang zur Funktion der Vergemeinschaftung von Lesegesellschaften her, indem er als deren zentralen Aspekt „den Ausbau von sozialen Netzen unter den Mitgliedern verschiedener gesellschaftlicher Herkunft […]“ sah. Europäische Lesegesellschaften in vergleichender Perspektive zeigt ein von ihm herausgegebener Sammelband (Dann 1981), der das Ergebnis eines Ende der 1970er Jahre in Wolfenbüttel stattgefundenen Arbeitsgesprächs ist. Engelsing (1974: 216–258) behandelte schwerpunktmäßig Bremer Lesegesellschaften als Beispiel für einen prägenden Aspekt der deutschen Lesegeschichte zwischen 1500 und 1800 und näherte sich dem Thema in bibliothekswissenschaftlicher Perspektive. Auch sein Fokus lag auf Ausführungen zu Organisation, Mitgliedern und Buchbestand (Engelsing 1974: 226–229). Haug (2003) konzentrierte sich in einem Artikel auf eine Lesegesellschaft, deren Besonderheit der Zusammenschluss ausschließlich weiblicher Mitglieder war. Die Lesegesellschaft sowie deren Folgeprojekt konnten jedoch aufgrund mangelnder Quellenlage nicht eingehend genug erfasst werden. Obwohl als erste rein weibliche Lesegesellschaft deklariert, konnte Weckel (1998: 62 und 63, Fußnoten 20 und 21) zeigen, dass es bereits frühere Beispiele gab. Dann (2003 [1977]: 70) schlussfolgerte bei eigenen Analysen von Inventarlisten und Statuten, dass Lesegesellschaften eher der Bildung als der Unterhaltung dienten. Hieraus leitete er wiederum ab, dass die Inhalte in diskursiver Form angeeignet wurden. Hierfür gibt es jedoch keine konkreten Belege. Statuten der Lesegesellschaften sind, obwohl häufig als Quelle verwendet (Brejc 1991; Ormrod 1985; Prüsener 1972; Stützel-Prüsener 1981), nur bedingt aussagekräftig, da sie Ideal­ vorstellungen von einem mündigen bürgerlichen Lesepublikum transportieren, aber kein Beweis dafür sind, ob die Mitglieder tatsächlich entsprechend handelten. Weitere zum Einsatz gekommene Quellen, wie z.  B. Darstellungen zur Stadt-

2 Forschungsübersicht 

 433

geschichte, wie bei Dann zur Rekonstruktion einer Bonner Lesegesellschaft (2003 [1977]: 66; außerdem Kopitzsch 1981: 98, Fußnote 6; 99, Fußnote 15; 102, Fußnoten 74 und 75), eröffnen zwar Hintergrundinformationen zu den Mitgliedern der Lesegesellschaften und ihrem Wirken am Ort der Lesegesellschaft, sind aber repräsentativen Zwecken dienende Darstellungen und daher nicht zwangsläufig korrekt.

2.2 Buchbezogene Vergemeinschaftung zur Identitätskonstruktion 2.2.1 Literarische Salons Während Lesegesellschaften häufig zugeschrieben wird, einen großen Einfluss auf die Ausbildung einer aufgeklärten und mündigen bürgerlichen Öffentlichkeit ausgeübt zu haben, wird bei Literarischen Salons häufiger deren Selbstzweck hervorgehoben (Back und Polisar 1983: 276; Dollinger 1999: 62). Dieser liegt im Treffen selbst, indem Mitglieder die Gruppenkonversation und -diskussion von Ideen, insbesondere auch anhand von Büchern und Texten, pflegten, und darüber gemeinsame individuelle und kollektive Identitäten konstruierten: „Diese zweckfreie Geselligkeit hat einen idealen, geistigen Beweggrund und ein formales geselliges Ziel, das zwanglos und freiwillig verfolgt wurde: sich gegenseitig zu respektieren, zu fördern und zu bilden“ (Wilhelmy 1989: 26). Innerhalb der Literarischen Salons kam den Frauen eine wichtige Funktion zu, da sie den sozialen und intellektuellen Austausch entschieden vorantrieben. Sie übernahmen die Funktion der Gastgeberin, der Salonnière, die aus einem Netzwerk ihr bekannter Personen, „gleichberechtigter Geister“ (Wilhelmy 1989: 11), zu festen Treffen mit vorgegebenen Themen einlud. Die Rolle der Frauen und der Beitrag, den Literarische Salons zu weiblicher Emanzipation leisteten, wird in der Forschungsliteratur häufig herausgestellt (z.  B. Dollinger 1999: 40; Simanowski 1999: 18; Weckel 2000). Gleichzeitig kommt aber auch zur Sprache, inwiefern die Salonnièren den vorherrschenden Rollenerwartungen entsprachen (Fromm 2021b: 67; Kargl 2021: 128 und 142). Die Beschäftigung mit dieser Form der Vergemeinschaftung setzte in einer ersten Welle in den 1980er und 1990er Jahren ein, eine zweite Welle gab es in den 2010er Jahren. Der aktuellste Band erschien 2021 und nahm Münchner Salons in den Blick (Fromm 2021a). Hahn (1997: 214, Fußnote 5) stellt einerseits die Pionierleistungen von Wilhelmy (1989) mit ihrer Dissertation und Seibert (1993) mit seiner Habilitationsschrift heraus, weist jedoch andererseits darauf hin, dass zugrundeliegende Quellen teilweise unkritisch verwendet wurden, und dass in Folgearbeiten immer wieder dasselbe Quellenmaterial, teilweise identisch, zitiert wurde (Hahn 1997: 221–223; siehe zu letzterem auch Weckel 2000: 335). Wilhelmy (1989) fokussierte Berliner Salons. Sie leitete aus den beteiligten Personen, ihrem Wirken inner- und außerhalb der Salons, und dem in den Salons vorherrschenden Zeit-

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 VII.2 Vergemeinschaftung

geist deren Strukturen ab. Dies griff sie (Dollinger 1999) nochmals in einem Beitrag innerhalb eines Sammelbands zur internationalen Vernetzung von Literarischen Salons (Simanowski et al. 1999) auf. Da es bei den Salons keine Satzungen, Mitgliederlisten und Protokolle gab, ist es schwierig, die Zusammenkünfte im Nachhinein zu rekonstruieren, was erklärt, weshalb man auf Dokumente wie Briefe angewiesen ist (Lund 2017). Werden Briefe stärker als literarische Formen denn als Medien der Kommunikation aufgefasst, kann dies aber dazu führen, dass eher die Konventionen des Briefeschreibens im Fokus stehen (Lund 2017: 29), nicht aber, was konkret thematisiert wurde. Gleichwohl weist Dollinger (1999: 42) darauf hin, dass die Quellenlage zu Salons desto umfangreicher ist, je reichweitenstärker einzelne Salons sowie bedeutsamer die Stellungen von Salonnière und Gästen waren. Weitere Quellen, die auch bei Dollinger (1999) zu finden sind, sind (Auto-)Biografien. Nach Käfer (2021: 30) erweisen sich „Briefe oder Tagebücher als unerlässliche Quelle durch ihre inhärente Unmittelbarkeit“ und eröffnen „einen einzigartigen Reflexionsraum, anhand dessen im Idealfall Rekonstruktionsgrundlagen eines Salons gebildet […] werden können.“ Gleichzeitig können diese Quellen jedoch nur unter Vorbehalt genutzt werden, da sie durch starke Subjektivität geprägt und fehlerbehaftet sind (Käfer 2021: 53, Fußnote 44). Durch die zentrale Rolle, welche die Salonnièren einnahmen, überrascht es nicht, dass es Publikationen mit einem Schwerpunkt auf einzelnen Gastgeberinnen gibt (Lund et al. 2017; Schultz 1997). Seibert (1993: 6) erachtet das Gespräch als konstituierend, da es alle Stufen des Literaturprozesses umfasst (Seibert 2013: 584): Der Salon als Literaturproduktionsstätte, z.  B. für Memoiren, Biografisches, Salonstücke und -romane (Seibert 1993: Kapitel 4), als literaturvermittelnde Stätte in Form des Austauschs über und der Darbietung von Literatur (Seibert 1993: Kapitel 5) und als Instanz der Kritik (Seibert 1993: Kapitel 6). Er (1993: 351–356) hält fest, dass der Literarische Salon gerade in seiner Funktion als Bindeglied von Literaturproduktion und -vermittlung genutzt wurde, um Literatur (nicht zwangsläufig selbst verfasst) vor Publikum zu präsentieren, teilweise auch, um diese aufgrund von Zensurbestimmungen überhaupt einem Publikum zugänglich zu machen. Als ebenso zentral erachtet er die hohe Fluktuation der Beteiligten, die „einen rascheren und diversifizierten Informationsaustausch über Literatur“ (Seibert 2013: 583) ermöglichte. Literarische Salons boten Orientierung im Zusammenhang mit geteilten Werthaltungen. Die Werte und charakterlichen Eigenschaften, die die Salonnière auszeichneten, galten stellvertretend für alle Mitglieder des Salons und waren auch der Maßstab, woran sich die Mitglieder und über sie die Öffentlichkeit orientieren sollten. Die Identitätskonstruktion erfolgte über diese übereinstimmenden Werthaltungen und formte sich in der Konversation mit den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft. Ein solcher Theoriezugriff (siehe Abschnitt 3) kommt in der bisherigen Auseinandersetzung mit Salons jedoch nicht zur Anwendung, da diese fast

2 Forschungsübersicht 

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ausschließlich literaturtheoretisch perspektiviert ist. Der Fokus der Salonforschung liegt deshalb auf der Biografieforschung und bezieht auch Romanbiografien mit ein, wie aus dem sehr ausführlichen und differenzierten Forschungsstand, den Lund (2012: 12–51) aufstellt, ersichtlich wird. Lund (2012: 48), Historikerin und Literaturwissenschaftlerin, weist in ihrer Dissertation auf eine Lücke hin, die auch gegenwärtig noch nicht als geschlossen gilt, nämlich die Netzwerke unterschiedlichster Literarischer Salons über mehrere Orte, denn dies ließe sich als ein weiterer Aspekt der Vergemeinschaftung deuten. Bücher in ihrer vergemeinschaftenden Funktion in den Literarischen Salons und die Beziehungen zur Buchproduktion und zum Buchhandel wurden von Lund für die Aufarbeitung ihres Forschungsstands dagegen nicht beachtet. Auch über die Konversationsgestaltung sowie die Auswahl der Themen ist nichts bekannt (Lund 2012: 332). 2.2.2 Lesegruppen Lesegruppen (auch: Lesegemeinschaften, Lesekreise, Buchclubs) knüpfen an die Tradition der Literarischen Salons an: Sie kommen ohne dauerhafte Gruppenbindung aus und definieren sich über geteilte Werthaltungen und Meinungen zu literarischen Werken oder Büchern, die im Diskurs erprobt, gefestigt oder verworfen werden. Ein weiterer Bezugspunkt zeigt sich in der eher liberalen Einstellung gegenüber einer Vielzahl an Lesestoffen und Autor*innen, die Seibert (1993: 326) auch im Zusammenhang mit Salons feststellte: „Als ‚salonfähig‘ im Sinne einer ‚Distributionsfähigkeit‘ erweist sich damit ein Literaturkomplex, der nicht durch eine Dichotomisierung von ‚hoher‘ und ‚niederer‘ Literatur begrenzt ist. Autoren von allenfalls lokaler Bedeutung […], Gattungen von geringerem literarischem und sozialem Prestige (Mundartdichtung) werden neben jener Literatur vorgeführt, deren Kanonisierung bereits begonnen hatte.“ Dies wird in aktuellen Publikationen häufig unter dem Aspekt der ‚Buchkultur‘ gefasst, wobei Lesen selbst zur Konsekrationsinstanz (v)erklärt wird und weniger, ob es sich beim gemeinschaftlichen Lesen um kulturell hochstehende Inhalte handelt (Birke und Fehrle 2018: 85). Dies spitzt Birke für die Gegenwart (2021: 170) nochmals zu: „And not least, for researchers of reading, they [Austausch- und Vergemeinschaftungsformen im Internet] open up new windows for better understanding how people may find meaning in reading as an everyday activity.“ Die aktuellste Überblickspublikation zu Lesegruppen ist der Sammelband von Moser und Dürr (2021a), der auf eine im Jahr 2017 veranstaltete internationale Tagung zurückgeht und der Angewandten Literaturwissenschaft zuzuordnen ist. Darin werden die Ergebnisse eigener empirischer Untersuchungen zu Kärntner Lesegruppen als Grundlage genutzt, um Besonderheiten im Vergleich zu ‚klassischer‘ Literaturkritik und Online-Lesegruppen herauszuarbeiten. Im Fokus

436 

 VII.2 Vergemeinschaftung

stehen Leseverhalten und Lesekommunikation dieser Formen literarischer Vergemeinschaftung. Besonders gewinnbringend sind in diesem Zusammenhang die Beiträge von Dürr (2021) und Petzold (2021), die ihren Überlegungen übergeordnete Theoriekonzepte zugrunde legen, um die vergemeinschaftenden Praktiken zu fundieren. Dürr (2021: 69) fasst Lesekreise in Anlehnung an den Schweizer Sozialforscher Étienne Wenger-Trayner als Wissensgemeinschaften, die in übergeordnete Strukturen eingebunden sind, hier in das literarische Feld. In Lesegruppen sieht sie vier Wissensordnungen realisiert (Dürr 2021: 70–83): Beim ‚Wissen der anderen‘ sind unter Einbezug von paratextuellen Informationen eigene Worte für das Gelesene zu finden. ‚Lektüre mitteilen‘ bedeutet die Rekonstruktion der eigenen Leseerfahrung unter Einbezug von Vorwissen und Loslösung bzw. Distanzierung vom reinen, immersiven Leseerlebnis. Das ‚literarische Qualitätsurteil‘ verläuft innerhalb eines „bestimmten normativ legitimierten Erfahrungshorizontes“ (Dürr 2021: 80) und ‚geteilte Lerngeschichten‘ verlangen die Aufgeschlossenheit gegenüber den Lese­erfahrungen anderer. Die Literaturwissenschaftlerin Petzold (2021: 203–209; bezogen auf LovelyBooks auch Knipp 2017) verortet Buch-Blogger*innen nach Stanley Fish als Interpretationsgemeinschaften und identifiziert drei Praxisformationen der Vergemeinschaftung: Solche, die dazu dienen, den Leseprozess zu stimulieren oder zu perspektivieren, solche, die dazu beitragen sollen, Bücher durch Geschenk- oder Verlosungsaktionen zu verbreiten, und solche, die dazu anregen wollen, bestimmte Themen und Aktivitäten hervorzuheben sowie die eigene Rolle (als Buchblogger*in) zu reflektieren. Petzold (2021: 209) bestätigt, dass es „spezifische Vergemeinschaftungspraktiken in bestimmten Blogotopen“ gibt. Diese These ließe sich auch auf so genannte face-to-face-Lesegruppen übertragen und es wäre lohnenswert, dies weiter zu vertiefen (bezogen auf BookTube Birke und Fehrle 2018: 85; formuliert für unterschiedliche digitale Formen der Vergemeinschaftung Kuhn 2015b: 431; Ochsner 2020). Lesegruppen werden literaturwissenschaftlich dem Bereich der Rezeptionsforschung zugeordnet (Moser und Dürr 2021b: 9–12). In soziologischer Perspektive wird der Aspekt der, häufig weiblichen, Identitätskonstruktion akzentuiert: „through such discussion they [the women] are imagining and expressing new insights, new definitions both of their own situations in the world and of their own desires or judgements, and new understandings of who they can or want to become“ (Long 2003: 221). Die Sprachwissenschaftlerin Hartley veröffentlichte 2001 ein Buch über Lesegruppen, welches die Ergebnisse ihrer zwischen 1999 und 2001 durchgeführten Umfragen zu den Merkmalen von britischen Lesegruppen und deren gelesenen Titeln präsentiert. Hartley (2002: 21) macht Lesegruppen aus, die bereits in den 1980er Jahren gegründet wurden. Zentral ist hier der vergemeinschaftende Aspekt: „it’s about reading in a context, a context which is fostered by the group, and which in turn affects the whole experience of reading“ (Hartley 2002: 22). Diesen betont

2 Forschungsübersicht 

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auch die kanadische Literatursoziologin Rehberg Sedo (2011b: 11), indem sie auf „emotional connections with other people“ hinweist und dabei auf das theoretische Konzept des ‚sense of community‘ von McMillan und Chavis (1986) verweist (siehe Abschnitt 3.3). Der Titelzusatz des von ihr herausgegebenen Sammelbands (Rehberg Sedo 2011a), from Salons to Cyberspace, markiert darüber hinaus eine Entwicklung, die mit Stein (2010) einsetzte, nämlich Versuche, face-to-face-Phänomenen des gemeinschaftlichen Lesens Onlineformate gegenüberzustellen. Anhand der Aspekte face-to-face–online, synchron–asynchron, formalisiert–informell und flüchtig– stetig leitet Stein folgende Taxonomie ab: Informelle face-to-face-Diskussion, informelle Online-Diskussion, formalisierte face-to-face-Diskussion und die formalisierte Diskussion in Form von Anmerkungen, die direkt im digitalen Text erfolgen. Dies wurde von Kuhn (2015b: 428) weitergedacht: Für ihn sind die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Form des Thematisierens von Texten sowie das Konzept der Anschlusskommunikation (siehe auch Lukoschek 2017) zur „Integration von Individuen in Gemeinschaften, Gesellschaft und Kultur […]“ (Kuhn 2015b: 430) wesentlich, womit er sich vom (Marketing-)Begriff des ‚Social Reading‘ löst und diesen grundsätzlich kritisch sieht: „Ob diese Gemeinschaften somit tatsächlich zu einer neuen Sozialität von Lesern führen, kann zumindest hinterfragt werden“ (Kuhn 2015b: 440; siehe auch Birke und Fehrle 2018). Im englischsprachigen Raum wurde ‚soziales‘ Lesen bei Stein (2010) als Überbegriff verwendet, bei Rehberg Sedo (2011b: 16) als generelles Merkmal des Lesens benannt, in Deutschland hingegen wurde zunächst noch das ‚literarische Handeln‘ auf ‚literarischen Plattformen‘ thematisiert (Boesken 2010). Seitdem wurde die Formulierung ‚Social Reading‘ vor allem mit digitalen Phänomenen der Vergemeinschaftung in Verbindung gebracht und dient der Abgrenzung zu face-to-face-Gemeinschaften (Birke 2021; Mattfeldt 2022; Moser und Dürr 2021a; Ochsner 2020; Pleimling 2012; Rebora et al. 2021). Rehberg Sedo (2011: 11) führt in ihrem Sammelband Aufsätze von englischsprachigen Wissenschaftler*innen aus Geschichte, Literaturwissenschaft und Kommunikationswissenschaft zusammen. Moser und Dürr (2021b: 9) fordern dagegen mehr Beschäftigung aus dem Bereich der Literatur-, Medien- und Buchwissenschaft sowie der Buchmarktforschung. Eine quantitativ geringe Auseinandersetzung mit Lesegruppen, vor allem unter dem Aspekt von ‚social reading‘ oder ‚shared reading‘, ist aber faktisch eher nicht zu beobachten, vielmehr findet sich eine Vielzahl an Detailstudien zu bestimmten lokalen Gruppen (z.  B. Reddan 2022) oder Zielgruppen (z.  B. Martens et al. 2022). Aufschlussreich für die Buchforschung ist der aus der Literaturwissenschaft kommende Versuch (Knipp 2017: 187), dem eigenen Fach bislang vernachlässigte Themenfelder mittels Theorien und Methoden anderer Disziplinen zu erschließen. Anschlussfähig scheint z.  B. der Kategorisierungsversuch, den Rebora et al. (2021: ii232–237) aus dem Bereich der Digital Humanities im Zusammenhang mit Forschungsfeldern rund um das von ihnen so benannte

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 VII.2 Vergemeinschaftung

‚digital social reading‘ unternommen haben. Deutlich zutage tritt hierbei, dass das Forschungsfeld ‚Gemeinschaften‘ theoretisch und methodisch in der Soziologie und Ethnografie verortet ist, deren theoretische Ansätze in der ausgewerteten Literatur zu Lesegruppen aller Art aber kaum eine Rolle spielen (Rebora et al. 2021: ii246–250). 2.2.3 Buchhandlungen als Artikulationsorte sozialer Bewegungen In den 2000er Jahren kristallisierte sich in Geschichte und Buchwissenschaft eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Organisationen heraus, die Bewegungsgemeinschaften ermöglichen oder fördern. Borgemeister (2007: 99) widmet sich z.  B. in ihrer Magisterarbeit linken Buchhandlungen: „Die Geschäfte dienten der linken Szene als Treffpunkt, Nachrichtenbörse und Informationszentrum. Räumlichkeiten wurden also ebenso zur Verfügung gestellt wie einschlägige Bücher, Zeitschriften und Zeitungen. Die Buchhandlungen waren somit politischer ‚Informationspool‘ […].“ Im Zusammenhang mit vergemeinschaftenden Aktivitäten nannte Borgemeister (2007: 100) Literaturveranstaltungen, Diavorträge und Diskussionen, die in angegliederten Cafés oder den Verkaufsräumlichkeiten selbst stattfanden. In einer weiteren Magisterarbeit (Engel 2013 und 2014) geht es um die Leistung von Lesecafés der ehemaligen DDR. Diese bestand nach Engel (2013 und 2014: 225) unter anderem darin, Lesungen, Vorträge und Diskussionsrunden zu veranstalten. Engel fasst diese Aktivitäten jedoch nicht als gemeinschaftsstiftend, sondern vor allem als aktivierend auf. Im Fokus des Beitrags stehen daher auch organisatorische Aktivitäten der Lesecafés. In weiteren Publikationen fällt die Akzentuierung von Buchhandlungen als Kommunikationsforen oder -zentren auf, die charakteristisch für Bewegungsgemeinschaften sind. Dies wird allerdings entweder nicht weiter ausgeführt oder nur für einzelne organisationsspezifische Punkte vertieft. Der Historiker Reichardt widmet ein Kapitel so genannten Frauenräumen, wie z.  B. Frauenbuchhandlungen (auch Frauenbuchläden) (Reichardt 2014: 605–624): „Die dort erworbenen Bücher studierten die Feministinnen entweder in der eigenen FrauenWG oder in einem der vielen Frauencafés, in denen man sich praktischerweise über den Lesestoff austauschen konnte […].“ (Reichardt 2014: 614) Einen Beleg zu diesen Aussagen liefert er nicht. Ähnlich argumentiert Schneider (2013a: 69): „die Buchläden dienten als Kommunikationsforen, als Treffpunkte und Informationsstellen, als Vermittlerinnen von Diskussionsgrundlagen und Kontaktbörsen[.]“ In seiner Dissertation erachtet Sonnenberg (2016) linke Buchhandlungen als Kommunika­ tionszentren sowie als Versammlungsorte für Gleichgesinnte, letzteres jedoch ohne weitere Ausführungen. Der historische Zugriff der wenigen Arbeiten wird besonders durch das Einbinden des Quellenmaterials deutlich, so dass sich den Ausführungen in den Fußnoten oft noch zusätzliche Informationen entnehmen lassen. In einem Beleg, der

3 Theoretische Perspektivierung 

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der Darstellung des Selbstverständnisses der Buchhandlung ‚Das politische Buch‘ diente, werden linke Buchhandlungen als „‚Ort der steten Kommunikation‘“ (Sonnenberg 2016: 357) zwischen der sich in Sitzecken austauschenden Kundschaft bzw. den Inhaber*innen der Buchhandlungen mit den Kund*innen gefasst. Ein solcher Aspekt ist im Zusammenhang mit buchbezogenen Formen der Vergemeinschaftung interessant, wird aber hier nicht weiter vertieft. Die Historikerin von Saldern (2004: 165) stellt zudem heraus, dass solche Bewegungsgemeinschaften, ob nun in ‚Kommunikationszentren‘ organisiert oder nicht, ohne das Buch überhaupt nicht möglich gewesen wären: „Das Medium Buch konnte die linken Gruppen […] in medial verbundenen Netzwerken sammeln und dadurch stärken.“

3 Theoretische Perspektivierung Vergemeinschaftung und Gemeinschaften werden in der Buchforschung als soziale und kulturelle Leistungen des Buchs entweder als eigenständige Themen oder als Kontextualisierung anderer Forschungsfragen bearbeitet. In der Tendenz werden zwei Formen unterschieden, zum einen Gemeinschaften, die Bücher als kommunikatives Mittel zur Vergemeinschaftung nutzen, zum anderen Gemeinschaften, deren zentrales Thema das Buch oder eine seiner Facetten ist. Übergreifende Modelle zum Umgang mit Vergemeinschaftung finden sich dabei nicht. Dies steht im Einklang mit der allgemeineren Sozial- und Kulturforschung, denn Überlegungen zu Gemeinschaften finden sich in fast allen soziologischen, politischen, kulturalistischen oder philosophischen Theorien der Moderne (ein Überblick bei Gertenbach et al. 2010). Da ein einzelner Theorieentwurf die Komplexität der mit Vergemeinschaftung verwobenen Fragestellungen und Phänomene kaum abbilden kann (Gertenbach et al. 2010: 182), erscheint für die Buchforschung nur eine übergreifende theoretische Perspektivierung sinnvoll, die sich auf Gemeinsamkeiten zur Auseinandersetzung mit Gemeinschaften stützt sowie Medien und Kommunikation als Fluchtpunkte nutzt.

3.1 Soziales Handeln, Identität und Medien Die Betrachtung von Vergemeinschaftung stützt sich auf soziale Handlungstheorien, einen etablierten Ansatz bietet der symbolische Interaktionismus (Blumer 1969; im Überblick Preglau 2015): „Die Menschen leben in einer symbolischen Welt, die sie als sozial positionierte und von der Gemeinschaft abhängige Wesen, die gleichwohl individuell handeln, kollektiv bezogen in ihren kommunikativ fundierten Handlungspraktiken konstituieren“ (Krotz 2003: 32). Subjekte sind daher Ergebnis von Vergemeinschaftung, Teil von Gemeinschaften (oder auch nicht) und wirken auf

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 VII.2 Vergemeinschaftung

Gemeinschaften ein (Krotz 2008a: 35). Die Herstellung der Balance zwischen subjektivem Selbst und Gemeinschaft konstruiert Identität (Krappmann 1988; Keupp et al. 1999). Diese wird als fortlaufende, dynamische Konstruktion des Subjekts verstanden, das hierfür identitätsstiftende Ressourcen auswählt (oder zur Verfügung gestellt bekommt), damit Teilidentitäten (Rollen) konstruiert, und diese zu einer als kohärent wahrgenommenen biografischen Identität (identitätsstiftenden Narration) verknüpft. Die Aneignung von Identität verweist somit zunächst auf aktive kommunikative Leistungen, die Subjekte mit Bezug zur Lebenswelt erbringen müssen. Ressourcen zur Ausgestaltung von Identität sind z.  B. situationsübergreifende Zugehörigkeiten zu Geschlechtern, Kulturräumen, Ethnien, Klassen, Schichten, Milieus oder Lebensstilen (Krotz 2003: 39), aber auch situative Zugehörigkeiten zu temporären Gruppen im Kontext bestimmter Handlungen oder Wahrnehmungen. Da Identitäten als Selbstbeschreibungen immer narrativ verfasst sind, nutzen sie gemeinschaftlich erlebte, gemeinsam erzählte oder weitergegebene Narrative, Geschichte(n) und Erlebnisse (Gertenbach et al. 2010: 98). Identität ist in dieser Perspektive keine essentialistische Entität (Krotz 2003: 28), sondern entsteht erst im Moment ihrer Konstruktion und Wahrnehmung. Nur theoretisch getrennt lassen sich, auch im Hinblick auf situative Vergemeinschaftung, immer zwei Seiten von Identität unterscheiden: Erstens die ständige kommunikative Selbstdarstellung und Inszenierung bestimmter auf andere ausgerichteter Teilidentitäten und zweitens die Zuschreibung spezifischer Rollen und Teilidentitäten durch (reale oder imaginierte) andere, die aus deren Sicht bewertet, als ‚gemeinschaftskonform‘ anerkannt oder als ‚gemeinschaftsdistinkt‘ abgelehnt werden. Hierfür sind soziale Beziehungen notwendig, die, differenziert nach ihren Besonderheiten, subjektive Teilidentitäten als kollektive Gruppenidentitäten sichtbar machen können (Krotz 2008a: 29). Gruppenidentitäten bzw. Gemeinschaften sind somit die Voraussetzung, dass Subjekte überhaupt individuelle Identität ausbilden können (Gertenbach et al. 2010: 93–94), denn letztere ist nur relational als stetige Differenzierung von zugehörig und nicht-zugehörig anschlussfähig (Wimmer 2003: 364). Vergemeinschaftung beschreibt deshalb zunächst, dass individuelles Handeln und Identitätskonstruktionen von Menschen sich stets an Gruppen bzw. Vorstellungen von Gruppen orientieren (z.  B. orientiert sich die Behandlung eines Buches an der Vorstellung, was Buchliebhaber mit diesem tun) und Identitätszuschreibungen an Menschen stets über Gruppen bzw. Vorstellungen von Gruppen vollzogen werden (z.  B. wird Menschen mit einem Buch die kollektive Identität Leser*in zugeschrieben). Bei beidem wird auf von Menschen geteilte Ressourcen, Handlungsmuster und -erwartungen zurückgegriffen (Krotz 2003: 44), womit Identitäten und Gemeinschaften sich über Schnittmengen ihrer Narrative gegenseitig repräsentieren (Hall 1994: 74).

3 Theoretische Perspektivierung 

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Gemeinschaften sind deshalb weder für alle Menschen gleich noch vollständig beliebig, sondern knüpfen immer an (kommunikative) Selbst- und Fremdwahrnehmungen an, welche tatsächlich vorhandene Gemeinsamkeiten und Differenzen von Menschen zugrunde legen (Wimmer 2003: 364). Diese werden im kommunikativen Handeln (re-)produziert und erfahren (Reinhardt 2005: 35; Sūna 2015: 485), und ermöglichen es Menschen, sich von anderen Menschen zu unterscheiden und von anderen Menschen unterschieden zu werden. Die einer solchen Form von selektiver Identität und Vergemeinschaftung zugrunde liegenden Gemeinsamkeiten und Distinktionen sind schließlich anschlussfähige Sinnkomplexe, die geteilte Themen und Ziele, positiv und negativ bewertete Identitätskonzepte, wünschenswerte oder abzulehnende Einstellungen und Wertvorstellungen sowie Handlungswissen für bestimmte Interaktionssituationen umfassen. Diese Vergemeinschaftungshorizonte werden als fortlaufende kulturelle Identifikations- und Differenzierungsprozesse von Menschen im Alltag sichtbar (Hepp 2013: 116). Identität verweist somit insgesamt auf Vergemeinschaftung als Modus sozialer Inklusion bzw. Integration, der sowohl Individualisierung als auch Kollektivierung und damit soziale Akzeptanz des Menschen ermöglicht (im Zusammenhang mit Lesen siehe hierzu auch Kuhn 2015a). Der symbolische Interaktionismus und die mit ihm verknüpften Konzepte von Identität wurden in den Medienwissenschaften aufgegriffen, um die Rolle von Presse, Rundfunk und sozialen Medien für Subjekte und Gemeinschaften näher zu betrachten (grundlegend Krotz 2003; Winter et al. 2003). Die damit einhergehenden Konzepte von Medienidentitäten und Mediengemeinschaften (siehe Abschnitt 3.2) bieten sich entsprechend auch für die Buchforschung an, denn wenn „Medien etwas zur Identität von Individuen beitragen, so tun sie dies vermutlich nicht nur für ein einzelnes Individuum, sondern für eine ganze Gruppe von Menschen, vielleicht für eine ganze Kohorte“ (Krotz 2003: 27). Medien liefern für subjektive Identitäten kollektive Ressourcen ihrer Konstruktion (Hepp 2013: 116) sowie ein imaginäres Gegenüber der Aushandlung eigener Identitätsentwürfe, sie erschaffen bestimmte Rollenmodelle und beeinflussen ihre Anerkennung oder Ablehnung, repräsentieren bestimmte Gemeinschaften oder sind selbst Identitätssemantiken (Reinhardt 2005: 40). Die mit Medien verknüpften Vergemeinschaftungshorizonte entstehen somit als Annahmen bestimmter Gruppen gleichen Interesses an konkreten Medien, identischer Handlungsmuster mit spezifischen Medien und geteilten Werthaltungen gegenüber bestimmten Medien. Daraus ergeben sich zwei Bedeutungen von Medien für Vergemeinschaftung, die sich auch in den buchbezogenen Gemeinschaften spiegeln. Erstens ermöglichen Bücher über ihre kommunikative Spezifik subjektive und kollektive Identitäten, indem sie deren Inszenierungs- und Zuschreibungsmöglichkeiten strukturell und in ihrer Gestaltung bestimmen. In ihrer jeweils zeithistorisch-kulturellen Spezifik

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 VII.2 Vergemeinschaftung

stehen Bücher und Buchkommunikation für bestimmte gemeinsame Werthaltungen, für (nicht) anerkannte Nutzungsobjekte, für geteilte und akzeptierte Vorlieben, für kommunikative Anschlussobjekte von Gleichgesinnten usw. Zweitens sind Bücher selbst Ressourcen zur Konstruktion und Zuschreibung von Identität. Bücher, Buchartefakte oder Buchinhalte können zur Konstruktion von Teilidentitäten genutzt werden, die aber nur wirksam werden, wenn um sie selbst Vergemeinschaftungsprozesse emergent werden, z.  B. über Sinnhorizonte als Leser*in, Buchliebhaber*in, Genießer*in schöner Bücher, Harry-Potter-Fan etc. Dies erklärt auch, warum Veränderungen der Medienspezifik des Buchs oder seiner Positionierung im Mediensystem (siehe IV.2 Mediensysteme in diesem Band) sich historisch auf die Bedeutung und Form buchbezogener Identitäten und Gemeinschaften auswirken.

3.2 Formen buchbezogener Vergemeinschaftung Die grundlegende, a-historische theoretische Perspektivierung von buchbezogener Vergemeinschaftung über soziales Handeln und Identität legt gewisse gültige Annahmen fest, mit der man sich den verschiedenen historischen, kulturellen, strukturellen und thematischen Gemeinschaften rund um Bücher nähern kann. Forschungspraktisch sind allerdings die „normative Beschreibung, die Begründung und die Beurteilung der Legitimität von konkreten Ausprägungen der Gemeinschaftlichkeit innerhalb des sozialen Lebens“ (Gertenbach et al. 2010: 27) von großer Relevanz. Zugrunde liegt hier ein Verständnis von Vergemeinschaftung, welches politisch, sozial und kulturell begründet ist und gerade deshalb nicht nur allgemein auf das gemeinsame Handeln einer Gruppe von Menschen abzielt. Betrachtet man Vergemeinschaftung mit Büchern und über sie, werden deshalb die zeithistorischen Bedingungen relevant, unter denen sich kollektive Identitäten bilden (Krotz 2003: 37), denn diese nutzen Gemeinschaften im weitesten Sinne als politische Instanzen der Ausgestaltung oder erwünschten Veränderung von Gesellschaft (Wimmer 2003: 365). Zeithistorische Kontextualisierungen bestimmen dabei die Relationen von Subjekten und Gemeinschaften sowie die Formen und Leistungen von Vergemeinschaftungen. Vergemeinschaftung als soziologischer Begriff wurde und wird insbesondere als Konzept der Moderne und der mit ihr einhergehenden Individualisierungsprozesse diskutiert (Hitzler 1998: 81). Dabei wird in der Regel (weitgehend unbelegt) davon ausgegangen, dass traditionale Gesellschaften stabile Formen der Vergemeinschaftung und lebenslang gültige Zuordnungen von Identität ermöglicht haben, die zugleich die soziale Positionierung über Stände, Kasten oder Klassen festgelegt haben. Erst zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert wird Identität zum diskursiven Gegenstand, denn die zunehmende Durchdringung von Lebenswelten mit

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gedruckten Informationen und der damit verbundene Anstieg von Lesefähigkeiten machte Sinn- und Vergemeinschaftungshorizonte jenseits struktureller Zuordnungen zugänglich: Es entstanden erste Formen der Vergemeinschaftung jenseits von Familie, Wohnort oder Stand, die von Menschen eingeschränkt ausgewählt werden konnten, z.  B. die der bürgerlichen Bildungsgemeinschaft. Spätestens ab dem 20. Jahrhundert sind Ressourcen für Identitäten durch Medien und soziopolitische Fortschritte so vielfältig und zugänglich, dass Individualisierungen von Identität zur Lebensbewältigung notwendig werden (Müller 2011: 46). Identität wird zum bereits beschriebenen (siehe Abschnitt 3.1) Prozess, der von Subjekten fortlaufend und immer wieder neu vollzogen wird, Hall (1999) beschreibt diesen Wandel als ‚dislocation‘ oder De-Zentrierung des Subjekts. Wendet man sich deshalb Fragen nach Vergemeinschaftung über Bücher und mit ihnen zu, wird relevant, wie historische Gemeinsamkeiten beschrieben werden können, aufgrund derer sich bestimmte Gemeinschaften ausbilden und welche Rolle Bücher dabei spielen. Es muss weiterhin danach gefragt werden, welche Reichweite Vergemeinschaftungen in spezifischen historischen Kontexten erreichen und welche Rolle die Buchkommunikation dabei spielt. Und schließlich muss bestimmt werden, in welchem Verhältnis Individuum und Kollektiv in der jeweiligen Gemeinschaft stehen, z.  B. welche Rechte und Pflichten oder Freiheiten und Einschränkungen es gibt, und wie dieses Verhältnis durch Bücher beeinflusst wird. 3.2.1 Traditionale Vergemeinschaftung Erste theoretische Diskurse zu Vergemeinschaftung finden sich in den Anfängen der Soziologie und der Aufklärungsphilosophie der Romantik. Gemeinschaften werden hier gegenüber dem Individuum in ihrer Bedeutung und in ihrem moralischen Wert für Kultur und Gesellschaft stark überhöht. Die theoretischen Konzepte von Vergemeinschaftung basieren dabei auf stabilen sozialen Beziehungen und Interaktionen, die geografisch lokalisiert und intim erlebt werden und deshalb stark sozial integrierend wirken. Hierzu gehören z.  B. Familiengemeinschaft, Nachbarschaft, Dorfgemeinde, berufliche Zugehörigkeit sowie soziale Klasse, es lassen sich aber auch frühe Formen von Sozietäten wie Akademien oder literarische Gesellschaften hierunter verorten, bei denen der mediale Vergemeinschaftungshorizont noch schwach ausgeprägt ist. Gemeinschaften basieren auf Verwandtschaft oder gemeinsamen Besitztümern, Lebensräumen, Handlungsbezügen oder klassenbestimmten Soziallagen. Eines der wenigen dezidierten theoretischen Konzepte von Ferdinand Tönnies (1887) betrachtet traditionale Gemeinschaften über hierarchische Abstufungen, die von Blutsverwandtschaft über das Zusammenleben bis zum Gemeinwesen reicht, wobei biologische Bindungsmomente zunehmend durch soziale Mechanismen

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 VII.2 Vergemeinschaftung

ersetzt werden. Mit seinem Begriff des gegenseitigen Verständnisses definiert er gemeinsame Werthaltungen als soziale Kraft, die aus Individuen Gemeinschaften erzeugt. „Gegenseitig-gemeinsame, verbindende Gesinnung, als eigener Wille einer Gemeinschaft, ist das, was hier als Verständnis (consensus) begriffen werden soll“ (Tönnies 1887: 20). Hierzu gehören auch Kenntnisse des / der anderen, Teilhabe am Leben des / der anderen sowie emotionale Verbundenheit mit dem / den anderen. Tönnies betont bereits, dass die Bindung einer Gemeinschaft desto höher ist, je ähnlicher sich Individuen in Teilen ihrer Identität, ihren Interessen und ihren Kenntnissen sind. Zur Unterscheidung unterschiedlicher Gemeinschaftsformen bestimmt er Zentren und Peripherien, die variabel stark inkludierend, regulierend und handlungsleitend auf Gruppen von Menschen einwirken (Tönnies 1887: 26). Tönnies verweist weiterhin auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sprache, geteilter Gesten und Zeichen, ohne die für Vergemeinschaftungsprozesse notwendige gemeinschaftliche Kommunikation und aufeinander bezogene Handlungen nicht möglich sind. Darüber hinaus bestimmt Tönnies die Differenzierung als wesentliches Merkmal der Vergemeinschaftung (Tönnies 1887: 24), wobei das Abgrenzen von generalisierten Anderen der Identität von Individuen dient (Clausen 1991: 75). Obwohl Tönniesʼ Werk gegen seinen Willen auch als Grundlage völkisch-nationaler Bewegungen und ihrer Ideologien erstrebenswerter Gemeinschaften genutzt und auch deshalb bereits früh kritisch hinterfragt wurde (prominent z.  B. durch Plessner 2002 [1924]), wurde sein betont dichotomes und wertendes Modell von Gemeinschaft als natürlich und erstrebenswert sowie Gesellschaft als künstlich und zersetzend implizit in vielen sozialtheoretischen Perspektiven reproduziert. Dies zeigt sich in besonderer Weise auch bei Jürgen Habermas (1990 [1962]), der statt Gemeinschaft / Gesellschaft zwar Lebenswelten / Systeme gegenüberstellt, erstere aber als kulturell bedeutsam und letztere in Form von Ökonomie oder Verwaltung als sozial zersetzend bestimmt. Im Mittelpunkt dieser Dialektik von Gemeinschaften und Gesellschaft steht bei den meisten Autor*innen der Nachkriegszeit (z.  B. Koselleck 1959; Habermas 1990 [1962] oder Macpherson 1962) dann die bürgerliche Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts, wobei nach den Gemeinschaften gefragt wird, welche eine bürgerliche Öffentlichkeit begründeten und als sozialer Faktor den Strukturwandel der Gesellschaft beeinflussten. Im Übergang zur modernen Gesellschaft wird für die bürgerliche Gemeinschaft stets auf Bücher verwiesen, die über Vergemeinschaftungsprozesse halfen, die sozialen Umbrüche und wachsende Komplexität durch Industrialisierung, Beschleunigung und Auflösung traditionaler Weltbezüge zu verarbeiten und zu meistern. Theorien traditionaler Vergemeinschaftung sind heute weitgehend veraltet, weil sie Entwicklungen von globalisierter Mobilität und Medienkommunikation kaum integrieren können. Sie sind jedoch für bestimmte historische Phänomene nutzbar, die mit Büchern zu tun haben, z.  B. die Bedeutung monastischer Lese-

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praktiken in Glaubensgemeinschaften, die Bedeutung von Büchern in Gelehrtennetzwerken im Humanismus oder die Bedeutung frommer Lektüre für häusliche Gemeinschaften in der frühen Neuzeit. Für die Gegenwart liefern sie dagegen nur noch Impulse, z.  B. zur Rolle von Büchern in Familien (z.  B. das gemeinsame Lesen mit Kindern), Peer-Groups (z.  B. das geteilte Interesse an Büchern), Schulklassen (z.  B. die geteilte Erfahrung von Büchern) oder lokalen Gruppen (z.  B. dem Kundenstamm einer Buchhandlung). 3.2.2 Politische Vergemeinschaftung in sozialen Bewegungen Das von Habermas (1990 [1962]) vorgelegte Modell öffentlicher Meinungsbildung begründet theoretische Modellierungen politischer Gemeinschaften. Öffentlichkeit versteht Habermas als Arena der Artikulation, Identifikation und Distinktion kollektiver Interessen, Präferenzen, Werte und Vorstellungen, welche personale Identität im Sinne des (gelingenden) Zusammenlebens transformieren soll. Vergemeinschaftung erbringt für die moderne demokratische Gesellschaft somit Leistungen der Kultivierung kollektiver Meinungsbildung durch die Gewährleistung der dafür notwendigen öffentlichen Diskurse. Diese Perspektiven sind vor allem in der Bewegungsforschung des 20. Jahrhunderts (im Überblick Rucht 1994a) angewendet worden: „Eine soziale Bewegung ist ein auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mittels öffentlicher Proteste herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen“ (Rucht 1994b: 338–339). Vergemeinschaftung wird dabei als Notwendigkeit erachtet, um in den politischen Arenen Individuen durch Repräsentanten eine Stimme zu geben (Peters 1994: 54). Framing-Konzepte der Bewegungsforschung (im Überblick Kern 2008: 141–152) sind besonders kompatibel zu den theoretischen Perspektiven des symbolischen Interaktionismus und lassen sich deshalb gut auf Vergemeinschaftung im Allgemeinen übertragen: Frames, verstanden als kulturelle Deutungsmuster, steuern die Wirklichkeitswahrnehmung und -erfahrung im Alltag. Gemeinschaften konstruieren diese Deutungsmuster deshalb zur Erzeugung kollektiver Identität ihrer Mitglieder und zur Distinktion von Nicht-Mitgliedern. Soziale Bewegungen entstehen in dieser Perspektive z.  B. auf der Grundlage einer kollektiven Situationsdeutung, die einer Änderung bedarf und im kommunikativen Handeln der Mitglieder gemeinsame Sinnhorizonte und Interaktionsmuster hervorbringt. Die gemeinsame Deutung oder Konstruktion von Frames bestimmt dann, ob überhaupt ein gemeinsames Problem wahrgenommen wird (diagnostic framing), ob Ursachen und Folgen bestimmbar sind (prognostic framing) und ob Änderungen durch Vergemeinschaftung erreicht werden können (motivational framing). In der Zeitdimension wird

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 VII.2 Vergemeinschaftung

dadurch ein kollektives Gedächtnis (bzw. eine gemeinsame Narration) erzeugt, welches einen identitätsstiftenden Kontext als Identitätsressource bereitstellt (memory framing). Hierfür eignen sich Bücher in besonderer Weise, denn als zeitstabile Medien bieten sie Kanones relevanter Literatur oder Sach- und Fachbücher, welche für das kollektive Gedächtnis einen gemeinsamen Ausgangspunkt bieten (siehe VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis in diesem Band). Frames eröffnen insgesamt Möglichkeiten, die Wirksamkeit von Vergemeinschaftungsprozessen zu erklären, relevante Praktiken und Symbolsysteme zu identifizieren oder Stabilität und Transformationen von Gemeinschaften zu verstehen (Kern 2008: 142). Medienkommunikation ist deshalb bereits sehr früh als wesentlicher Erfolgsfaktor sozialer Bewegungen identifiziert worden, denn die Form ihrer Nutzung beeinflusst maßgeblich deren Entstehung und Stabilisierung: So machen Medien Probleme, aus denen sich Bewegungen entwickeln können, oft erst kollektiv bewusst, erzeugen über mediale Repräsentationen gemeinsame Sinnhorizonte sowie Aufmerksamkeit auf soziale Bewegungen und bestimmen damit deren Resonanz bei anderen (Rucht 1994b: 337). Die Mediennutzung wurde insbesondere in den Gegenöffentlichkeiten in der Mitte des 20.  Jahrhunderts zum vergemeinschaftenden Aspekt, denn soziale Bewegungen konstituierten sich in Abgrenzung zu Massenmedien, produzierten alternative Medien als bewegungsinterne Sprachrohre (insbesondere Presse, Rundfunk, aber auch Bücher), und entwarfen dabei politische Gegenentwürfe und Ressourcen für Identitätskonstruktionen. Soziale Bewegungen sind im Hinblick auf die Buchforschung aber nicht nur hinsichtlich ihrer Buchnutzung interessant, sondern auch mit Bezug auf ihren Einfluss auf die Buchkultur, denn ihr Erfolg wirkt sich auf deren Werthaltungen, Praktiken und Themen aus, z.  B. wenn die Umweltbewegung Aspekte der Nachhaltigkeit bei Bibliophilen in den Fokus rückt, eine Werthaltung qualitativ hochwertiger Bücher erzeugt oder bestimmte Praktiken des Buchtauschs oder Buchrecyclings hervorbringt. 3.2.3 Posttraditionale Vergemeinschaftung Während traditionale und politische Gemeinschaften noch weitgehend über physische Akteure, organisierte Gruppen und realweltliche Interaktionsweisen bestimmt werden können, verschieben sich bereits mit Max Weber (1972 [1921]) theoretische Perspektiven stärker auf eine prozessuale Ebene: Der Begriff der Gemeinschaft wird dabei durch den Begriff der Vergemeinschaftung abgelöst. Dieser verweist stärker darauf, dass Identität und damit die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft als dynamischer und fortlaufender Prozess gedacht werden müssen, wobei sich die daraus ergebenden sozialen Beziehungen ständig ändern (können). Ausgehend von Anderson (1983) und erweitert durch Appadurai (1996) entwickeln sich Ende des

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20. Jahrhunderts neue relationale und qualitätsorientierte Perspektiven auf Vergemeinschaftung in modernen und postmodernen Gesellschaften. Beide betonen, dass Vergemeinschaftung in diesen stets von der Art und Qualität ihrer Imagination abhängt und deshalb ihre symbolische Qualität und Vermittlung für Identifikationsprozesse von entscheidender Bedeutung sind. Axel Honneth (1993) schlägt für liberaldemokratische Gesellschaften dabei erstmals den Begriff der ‚posttraditionalen Vergemeinschaftung‘ vor, der dem Strukturwandel des 20. Jahrhunderts Rechnung tragen soll. Die Basis von Gemeinschaften ist für ihn nicht mehr die Abstammung, tradiertes Brauchtum oder ein gemeinsamer territorialer Bezug, sondern eine intersubjektiv geteilte Werthaltung, die sich in einer geteilten symbolischen Ausdruckwelt spiegelt. Während dies in der Soziologie häufig durch den sozialen Wandel von Klassen und Schichten zu Lebensstilen und Milieus beschrieben wurde, reicht das für die soziale Wirkmächtigkeit posttraditionaler Vergemeinschaftung jedoch nicht aus, denn individuelle Identitäten und plurale Vergemeinschaftungen können so kaum erklärt werden (Hitzler und Niederbacher 2010: 14 und 189). Diese werden stattdessen zusätzlich zu geteilten Werthaltungen kontinuierlich durch sinnstiftende Netzwerke gemeinsamer und aufeinander bezogener Interaktion und Kommunikation rekonstruiert, Hitzler und Niederbacher (2010: 18) charakterisieren solche Gemeinschaften daher als „Inszenierungsphänomene“. Posttraditionale Gemeinschaften basieren auf erhöhten Bedürfnissen nach kollektiver Einbettung des Menschen infolge der Erosion und Veränderung traditionaler Gemeinschaften (Schulze 1992: 35) und adressieren die mit der modernen Gesellschaft verbundenen Unsicherheiten, Flüchtigkeiten und Ambivalenzen (Hitzler und Niederbacher 2010: 14). Diese entstehen aus Metaprozessen einer zunehmenden Globalisierung, Mediatisierung und Kommerzialisierung der Lebenswelten, welche das verfügbare Einkommen, die disponible Zeit sowie vorhandene Konsumgüter und Informationen exponentiell erhöht haben. Der damit verbundene soziale Wandel zeigt sich in und durch veränderte Alltagskulturen (Hall 2002: 99–100). Die Folge sind Lebenswelten, die immer weniger territorialen Bezug zu Familie, Nachbarschaft oder Dorf haben, zunehmend von lebensbestimmenden Konzepten wie Religion oder Moral befreit sind, und immer weniger von Habitus und Status in Klassen, Schichten oder Milieus bestimmt werden (Krotz 2006: 31). Der Individualisierungsthese (Beck 1986; Giddens 1991) folgend steigt die Freiheit der Menschen dabei indirekt proportional zu ihrer Sicherheit, denn sie sind für ihre multidimensionale Positionierung im sozialen Gefüge zunehmend selbst verantwortlich und müssen hierzu aus nahezu unbegrenzt vielen Optionen Identitäten und Biografien konstruieren. Posttraditionale Gruppenorientierungen und zwanglose Vergemeinschaftungen bieten Menschen dabei relative (und oberflächliche) Sicherheiten, weil sie ihre de-zentrierten Identitäten (siehe Abschnitt  3.2) recht-

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 VII.2 Vergemeinschaftung

fertigen und stabilisieren können (Hitzler 1998: 81–82). Besonders signifikant zeigt sich dies in jenen nostalgisch imaginierten Gemeinschaften, die bereits maßgeblich verändert oder zerstört wurden und gerade deshalb besonders affektiv wirksam sind (Hall 2002: 100–101), wie gerade die bürgerliche Buchkultur oder literarische Milieus eindrucksvoll belegen. Posttraditionale Gemeinschaften unterscheiden sich dabei signifikant von traditionalen: Als imaginierte, freiwillige und beliebig ersetzbare Gemeinschaften haben sie keinen automatischen Verbindlichkeitsanspruch, denn es fehlt ihnen in der Regel das Mittel der Sanktion. Sie bleiben für Menschen temporäre Projektionen ihrer eigenen Identität, sind nur von relativer Dauer und Stabilität und ermöglichen ein unverbindliches und austauschbares Erleben von Gemeinschaftlichkeit (Prisching 2008: 35 und 38). Damit wird auch deutlich, dass zahlreiche heterogene und nebeneinander existierende Gemeinschaften von Individuen zu bestimmten Zwecken genutzt werden können, die jeweils nur einzelne Aspekte ihrer Identität betreffen. Die jeweilige Bedeutung imaginierter Gemeinschaften für die eigene Identität bedingt jedoch, dass auch posttraditionale Gemeinschaften nicht nur Zeitvertreib oder Oberflächenerscheinung sind, sondern von Menschen durchaus ernstgenommen werden können (Prisching 2008: 47). Erste Anwendungen dieser theoretischen Perspektiven posttraditionaler Vergemeinschaftung erfolgten vor allem in den soziologischen Betrachtungen postmoderner Freizeit- und Konsumgruppen, die Individuen eine Vergemeinschaftung auf Zeit ermöglichen (Hepp 2008: 137). Deren Grundlagen sind weniger kollektive Werthaltungen denn geteilte ästhetische Vorlieben und damit verknüpfte Konsumpraktiken (Gertenbach et al. 2010: 62), weshalb sie besonders gut durch Unternehmen organisiert und kommerzialisiert werden können (Hitzler 1998: 86). Vergemeinschaftung wird dabei entweder erfahren, wenn Events Teilnehmer*innen an typischen Treffpunkten zusammenbringen, ein buchbezogenes Beispiel wären Lesungen, oder wenn routinierte Kommunikation und Interaktion an typischen Orten in den Alltag integriert werden, wie z.  B. in Lesegruppen. So entstehende Szenen (Überblick zum Konzept der Szene bei Hitzler und Niederbacher 2010: 15–26) werden dabei als frei zugängliche und wählbare soziale Identifikationsräume beschrieben, die ‚selbstverständliche‘ und ‚ästhetische‘ thematische Sinnhorizonte für subjektive Identitätskonstruktionen anbieten (Hitzler und Niederbacher 2010: 15). Lesen und Bücher haben in Perspektiven posttraditionaler Vergemeinschaftung somit einen identitätsstiftenden Charakter für bestimmte Subkulturen, sind aber kein universelles Merkmal großer Kollektive mehr.

3 Theoretische Perspektivierung 

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Mediengemeinschaften Das soziologische Konzept der posttraditionalen Vergemeinschaftung wurde auch in der Medienforschung aufgegriffen. Andreas Hepp (2008: 136) bemerkt hierzu, dass es für Analysen des Wandels von Vergemeinschaftung im neuen Jahrtausend nicht ausreiche, den Blick auf dessen posttraditionale soziale Vermittlung zu lenken, sondern auch dessen kommunikative Artikulation zu berücksichtigen sei. Erweitert um ethnologische Ansätze (im Überblick Amit 2002) wurden Medienidentitäten und Mediengemeinschaften deshalb zu Schlüsselbegriffen der Medienanalyse (z.  B. Winter et al. 2003). Deren Basis ist erneut der Identitätsbegriff der Moderne, der Gemeinschaften als sinnstiftende Ressourcen und Referenten subjektiver Identitätskonstruktionen begreift. Allerdings wird stärker betont, dass Medien hierfür von entscheidender und in historischer Persypektive zunehmender Bedeutung sind, da sozialer und kultureller Wandel über die Art ihrer Einbettung in das kommunikative Handeln von Menschen zustande kommt (Krotz 2008b: 161). Dabei verändern sich die sozialen (Selbst-)Positionierungen von Subjekten (Hepp et al. 2012: 228), was sich auf Formen, Mechanismen und Funktionen von Gemeinschaften auswirkt, gleichzeitig aber auch Sehnsüchte nach verbindlicher und stabilisierender Vergemeinschaftung verstärkt (Hipfl 2004b: 53). Mit der fortschreitenden Mediatisierung und medialen Ausdifferenzierung entstehen dabei immer potentere Formen raum- und zeitübergreifender Kommunikation, welche lokale Grenzen von Gemeinschaften aufheben und symbolische Formen von Gemeinschaften auf Dauer stellen können (Hipfl 2004a: 18). Von besonderer Bedeutung, und häufig (unbelegt) als Ausgangspunkt dieser Entwicklungen betrachtet, war der Buchdruck, der insbesondere über Zeitungen ab dem 16. Jahrhundert erstmals zeitlich versetzte Identifikationsmöglichkeiten mit räumlich nicht Anwesenden ermöglichte. Die nationale Vergemeinschaftung als langfristiges Ergebnis des Buchdrucks gilt deshalb als erste durch Medien hervorgebrachte Sinngemeinschaft, die weitgehend ohne direkte Interaktionen ihrer Mitglieder auskommt (Hepp et al. 2012: 229). Mit einer zunehmenden Durchdringung der Lebenswelten mit Medienkommunikation werden Optionen der Vergemeinschaftung weiter vervielfacht, weshalb Medien multiple Identitätskonstruktionen und -zuschreibungen über verschiedene Gemeinschaften überhaupt erst ermöglichen (Olwig 2002: 124). Die Spezifik der kommunikativen Vermittlung der historisch jeweils verfügbaren und genutzten Medien (z.  B. ihre technischen und organisatorischen Bedingungen, ihre kulturellen Nutzungspraktiken oder ihre symbolischen Zuschreibungen) prägt Strukturen von Gemeinschaften und ist deshalb essenzieller Teil jeglicher Analyse (Hepp 2013: 105). Letztlich entsteht dabei ein Konzept von Vergemeinschaftung, das weniger auf Institutionen oder physischem Handeln beruht, sondern auf symbolischen Frames zur Herstellung kultureller Differenzen (Amit 2002: 4–5; Hepp 2008: 133).

450 

 VII.2 Vergemeinschaftung

Dabei werden die Perspektiven des kommunikativen Handelns um eine räumliche Dimension erweitert (im Überblick Hipfl 2004a), da translokale Medienkommunikation ehemals territorial orientierte Gemeinschaften und Vergemeinschaftungsprozesse auf deterritorial konzipierte Medienräume ausdehnt. Diese bilden als mediatisierte subjektive Sinnhorizonte den Nukleus von Vergemeinschaftungen (Hepp et al. 2012: 228). Während rein imaginierte mediale Sinnhorizonte zwar gemeinsame Publika konstituieren, entwickeln sie jedoch aufgrund fehlender Interaktionen noch keine vergemeinschaftende Bindungskraft. Mediengemeinschaften existieren deshalb nicht losgelöst von ihren lokalisierten Erfahrungen und sind keine reinen Imaginationen. Stattdessen artikulieren sie sich in lokalen Gruppen und face-to-face-Kommunikation und translokalen Netzwerken (Hepp 2013: 105.), wobei letztere Sinnhorizont und Interaktionsraum gleichermaßen darstellen. Identität und Gemeinschaft werden folglich imaginiert und durch konkrete Handlungen mit Bezug zu Medientechnologien in Subjekten und ihrer Lebenswelt lokalisiert (Appadurai 2010: 9) und erreichen gerade deshalb ein hohes Maß an Vergemeinschaftungskraft. Diese basiert weniger auf lokalisierbaren sozialen Beziehungen, denn auf affektiv aufgeladenen Sinnhorizonten (Amit 2002: 16). Mediengemeinschaften sind in diesen Perspektiven letztlich ein Phänomen der wachsenden Bedeutung der Populärkultur, denn in ihrem Zentrum stehen Gruppen und die in ihnen stattfindenden Aneignungen medial vermittelter Ressourcen. In diesem Kontext müssen bei der Analyse buchbezogener Vergemeinschaftung immer ihre intermedialen Verflechtungen (siehe IV.1 Intermedialität in diesem Band) und dahinter liegenden ökonomischen Bedingungen untersucht werden (Hepp 2013: 107): So sind mediale Sinnhorizonte für Unternehmen potenziell ertragreich (siehe V.1 Buchökonomie in diesem Band) und stellen deshalb für Mediengemeinschaften symbolische Ressourcen (z.  B. Storyworlds, Marken, Celebrity Culture) für Vergemeinschaftungen (z.  B. in Szenen, sozialen Netzwerken, lokalen Interaktionsgemeinschaften) bereit, wobei Bücher eine mehr oder minder große Bedeutung erreichen können. Die buchbezogene Vergemeinschaftung artikuliert sich dabei häufig inter- und transmedial (Hepp et al. 2012: 231), z.  B. wenn Bücher in sozialen Netzwerken beworben werden, Buchclubs Messenger nutzen oder Bücher als Teil von Storyworlds eingesetzt werden. Buchbezogene Gemeinschaften konstituieren sich in dieser Perspektive zwischen zwei Polen (Hepp et al. 2012: 251–252): Erstens als Vergemeinschaftungen, die durch Bücher hergestellt, geprägt oder verändert werden, wie z.  B. Book-Crossing / Book-Sharing in lokalen Gemeinschaften oder das gemeinsame Lesen von Freund*innen in Lesegruppen. Zweitens als Vergemeinschaftungen, die auf Buchkommunikation rekurrieren und ohne diese nicht existieren würden, z.  B. Nationen und Buchdruck, die Studentenbewegung und alternative Medien oder das literarische Feld und Belletristik.

3 Theoretische Perspektivierung 

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Konnektivität und Vergemeinschaftung in digitalen Netzwerken Parallel zu Ansätzen von Mediengemeinschaften, die zunächst noch deutlich auf Presse und Rundfunk ausgerichtet waren, entwickelten sich in den 1990er Jahren erste Überlegungen zu sozialen Beziehungen und Gemeinschaften, die das Internet und digitale Kommunikationsmedien wie E-Mail, Newsgroups, Foren oder Chatsysteme nutzen. Der (unpassende) Begriff der ‚Virtual Community‘ (Rheingold 1994) prägte erste technikdeterministische Perspektiven auf Vergemeinschaftung über digitale Netzwerktechnologien, die stark von (teils literarisch überspitzten) Utopien und Dystopien durchzogen waren (Wittel 2006: 174). Durch ökonomische und politische Akteure erlangten bis heute zahlreiche weitere Buzzwords für Vergemeinschaftung im Kontext digitaler Technologien und Medien Aufmerksamkeit, z.  B. User-Generated-Content (UGC), Web 2.0 (O’Reilly 2005), Medienkonvergenz (Jenkins 2006), Partizipationskultur oder übergreifend Social Media (z.  B. Fuchs 2021) (in Abwandlung mit Bezug zum Buch dann auch als Social Reading, Book­sta­ gram, Booktube etc.). Die Grundlage dieser und weiterer Konzepte einer ‚neuen‘ Sozialität durch die Durchdringung alltäglicher Lebenswelten mit digitalen Netzwerktechnologien (z.  B. Castells 2001; van Dijk 1999) ist eine dadurch veränderte ‚Konnektivität‘ von Menschen und anderen Akteuren (van Dijck 2013: 4), die in Ebenen von Netzwerken organisiert wird und insgesamt ein komplexes Ökosystem plattformbasierter Beziehungen hervorbringt. Konnektivität wird über technische Plattformen erzwungen (z.  B. aufgrund wirtschaftlicher Notwendigkeiten) oder gewährleistet (z.  B. aufgrund individueller Interessen oder Bedürfnisse) sowie organisiert, die als gestaltete Architekturen bestimmte Handlungs-, Interaktions-, Beziehungs- und Gemeinschaftspotenziale eröffnen oder verschließen, die persistente Anlage von Datensätzen erfordern, mit spezifischen Nutzungspraktiken assoziiert werden und ökonomisch nutzbar sind. Van Dijck (2013: 13–14) weist allerdings darauf hin, dass digitale Netzwerke zwar neue Verbindungen schaffen, aber nicht von sich aus ‚sozial‘ oder gar vergemeinschaftend sind. Zielführender ist daher ein Verständnis von digitalen Medien als sozial realisierte Kommunikation, und somit als soziotechnisches System aus Technologien und mittels dieser Technologien konstituierten Praktiken (Fuchs 2021: 30; Deterding 2008: 118; siehe VIII.1 Soziotechnische Dimensionen der Buchkommunikation in diesem Band). Technologien bilden hierbei gleichzeitig einen Ermöglichungs- und Begrenzungsraum von Sinnhorizonten und Interaktionsformen und damit von Potenzialen der Vergemeinschaftung, welche zwar von Technologien beeinflusst, von Partizipierenden aber hinsichtlich ihrer Themen, Werthaltungen, Identitätsinszenierungen und Interaktionsformen auch mitgestaltet werden (Meise und Meister 2011: 22; Fuchs 2021: 31).

452 

 VII.2 Vergemeinschaftung

Da Vergemeinschaftung eine Folge kommunikativen Handelns und symbolischer Interaktion ist, beeinflusst die Art, wie kommuniziert wird, und somit die Medienspezifik, das gemeinsame Handeln und dessen Erleben sowie die Wahrscheinlichkeit des Entstehens sozialer Beziehungen und Gemeinschaften. Da Konnektivität und Plattformen zunächst aber nur die Organisation des ‚In-Kontakt-Tretens‘ von Menschen und anderen Akteuren über digitale Technologien beschreiben, nicht aber das subjektive Interesse und Involvement der Nutzer (Hepp et al. 2012: 230), müssen darüber hinaus ihre historisch-kulturellen Besonderheiten (Krotz 2006: 24), Bedeutungen und Konsequenzen (Krotz 2007: 32) für Identitätskonstruktionen und Vergemeinschaftungsprozesse berücksichtigt werden. Posttraditionale Vergemeinschaftung und Mediengemeinschaften werden hier im Rahmen zunehmend globalisierter, vernetzter und mobiler Lebensweisen diskutiert, die digitale Technologien integrieren und deshalb immer weniger lokalisiert oder kulturell abgegrenzt bestimmt werden können (Olwig 2002: 124; Appadurai 2010: 8; Krotz 2006: 22). Vergemeinschaftung erfolgt daher unter bestimmten Voraussetzungen mit spezifischen Konsequenzen: Durch ihre de-zentrale Organisation werden Vergemeinschaftungsprozesse anpassungsfähiger an ihre Partizipanten und sich verändernde Umweltbedingungen. Hierzu trägt auch bei, dass Macht in solchen Gemeinschaften verteilt und nicht auf wenige Anführer konzentriert ist und demokratische Entscheidungen und kollektiv über Konsens getragene Transformationen den Zeitverlauf von Gemeinschaften prägen (Castells 2012: 224–225). Gleichzeitig verschieben sich Relationen von Privatheit und Öffentlichkeit, denn datenbasierte Interaktionen erfolgen transparenter für andere Mitglieder und Außenstehende. Die veränderten Vergemeinschaftungen bleiben dabei nicht auf digitale Medien beschränkt (auch wenn diese häufig den Ausgangspunkt bilden), sondern werden multimodal über multiple vorhandene oder neugeschaffene Netzwerke aus persönlichen Kontakten, Medien bis hin zu globalen Netzwerken lokalisiert und globalisiert vollzogen (Castells 2012: 221). Dabei wird hervorgehoben, dass die in digitalen Netzwerken vollzogene Vergemeinschaftung nicht isoliert (‚virtuell‘) bleiben muss, sondern sich in der Folge häufig auch als direkte und lokalisierte Interaktion in individuelle Lebenswelten erstrecken kann, z.  B. wenn Fan-Fiction-Foren Events zum gemeinsamen Schreiben veranstalten, Cosplayer*innen über W ­ eb-Communities Conventions organisieren oder Lesegruppen von Social-Reading-Plattformen sich für Diskussionen auch physisch verabreden. Konform mit symbolischem Interaktionismus und Individualisierungsthese bieten solche Formen von Vergemeinschaftung Potenziale für die notwendige subjektive Identitätsarbeit der postmodernen Gesellschaft, denn Inszenierung und Anerkennung von Identitätskonstruktionen bilden auch hier die Grundmotivation. Beide erreichen aufgrund der weitreichenden Konnektivität dabei eine besondere Bedeutung, einerseits für die technisch strukturierte symbolische Darstellung der

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Zugehörigkeit zu bestimmten Gemeinschaften, andererseits für die Erzeugung von Aufmerksamkeit auf das eigene Profil und dessen Identitätsinszenierung. Besonders letztere wird dann auch zu einem relevanten Faktor der erlebten Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, denn Likes, Follower, Interaktionen usw. erfolgen nicht nur temporär, sondern als dauerhaft sichtbare Markierungen der Akzeptanz subjektiver Identität durch die Gemeinschaft. Identitätsarbeit wird infolgedessen häufig zum Identitätsmarketing. Konnektive Vergemeinschaftungsformen „stellen somit adäquate Werkzeuge einer komplexer gewordenen, postmodernen Identitätsarbeit dar, die Bildungspotenziale im Sinne von Selbstreflexion anbieten, in dem Identität dort geschrieben, festgehalten, fortgeschrieben und überblickt werden kann“ (Meise und Meister 2011: 27). Die Untersuchungsgegenstände im Kontext von Konnektivität und Vergemeinschaftung (früh bei Deterding 2008: 126–128) sind folglich Bedingungen, Erfolgsfaktoren oder Risiken solcher Vergemeinschaftungen: Wie wirken sich die Transmedialität von Inhalten und die Konvergenz von Medienformaten auf die Entstehung von gemeinsamen Sinnhorizonten aus? Welche notwendigen digitalen (Medien-)Kompetenzen und Kenntnisse sind für die Teilnahme notwendig? Welche Konsequenzen ergeben sich aus beschleunigten und verdichteten Interaktionen? Wie erreichen Gemeinschaften Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit? Welche Gestaltungsoptionen für Gemeinschaften gibt es? Daneben drehen sich öffentliche und wissenschaftliche Debatten häufig auch darum, inwiefern digitale Gemeinschaften andere lebensweltliche Gemeinschaften substituieren, welche sozial integrierende oder fragmentierende Wirkung sie entfalten, wie sie sich auf soziale Ungleichheit auswirken oder ob sie Subjekte sozial und kulturell ermächtigen oder doch eher isolieren. Diese Fragen und Untersuchungsgegenstände sind auch in der Buchforschung zu diskutieren, denn Reading-Communities, literarische Netzwerke oder Fan-Fiction-Foren ermöglichen Vergemeinschaftungen, die früher nur einem hochkulturellen Milieu zugänglich waren. Vergemeinschaftung über Hobby-Autorenschaft, populärkulturelle Inhalte, Comics oder kuschelige Leseorte sind weiterhin die Folge einer Auflösung der Grenzen von Literaturkritik, elitärem Buchhandel oder bürgerlichen Leseidealen.

3.3 Mechanismen buchbezogener Vergemeinschaftung In den verschiedenen historischen Formen von Vergemeinschaftung zeigen sich trotz ihrer Unterschiede bestimmte wiederkehrende Mechanismen ihres Zustandekommens. Gleichzeitig wird deutlich, dass Vergemeinschaftung nicht harmonisch und einheitlich verläuft, sondern über unsichere, sich dynamisch verändernde, konfliktäre und von Macht durchdrungene Formen (Sūna 2015: 470), die deshalb

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 VII.2 Vergemeinschaftung

an ihren Rändern unscharf bleiben und nicht deutlich voneinander abgegrenzt werden können. Beides deutet darauf hin, dass verschiedene (historische, kulturelle, funktionale) Gemeinschaftsformen keine Gegensätze oder Abfolgen darstellen, sondern hybride Gebilde in einem Kontinuum der Gestaltung bestimmter Eigenschaften in ihren jeweiligen historischen und medialen Kontexten (Hepp 2013: 98). Dabei werden sie in komplexen kulturellen, diskursiven und symbolischen Aushandlungen von Subjekten und Kollektiven erzeugt und artikuliert (Gertenbach et al. 2010: 66), und sind nur als Form sozialen Handelns und psychischen Erlebens, und damit als Prozess der Vergemeinschaftung, zu verstehen. Vergemeinschaftung weist dabei stets zwei Seiten auf, die sich gegenseitig bedingen: Erstens erfolgt Vergemeinschaftung im Hinblick auf ihre Mitglieder nach innen als Homogenisierung und Harmonisierung von Subjekten bzw. ihren Teilidentitäten. Subjekte erleben sich in dieser Perspektive erst als Gemeinschaft, wenn sie mit anderen Subjekten kollektive Praktiken, Imaginationen und Erlebnisse teilen (Gertenbach et al. 2010: 84). Die Performanz subjektiver wie kollektiver Praktiken und Ereignisse beeinflusst dabei die affektive Bezugnahme der Subjekte untereinander, und deshalb die Bindungskraft der Vergemeinschaftung. Gleichzeitig müssen Bezugnahmen wiederholt erlebt werden, um Vergemeinschaftung nicht nur situativ, sondern auf Dauer zu gewährleisten. Objekte wie Bücher spielen für Letzteres eine entscheidende Rolle, denn als Fetisch werden sie zu Symbolen und Stellvertretern der Gemeinschaft, welche das Zugehörigkeitsgefühl auch außerhalb gemeinschaftlicher Interaktion erhalten können (siehe III.3 Kollektive Funktionen der Buchnutzung in diesem Band). Vergemeinschaftung erfolgt zweitens immer als Distinktion von anderen Gemeinschaften. Erst über die strukturelle gemeinsame Abgrenzung nach außen kann aus einer Gruppe von Subjekten eine Gemeinschaft werden (Gertenbach et al. 2010: 84). Die Grenzziehung durch Differenzierung erschafft dabei nicht nur Bindungsmomente nach innen, sondern nimmt das ‚Andere‘ selbst als Anlass zur Vergemeinschaftung, z.  B. durch räumliche (Nationen), biologische (Geschlechtergemeinschaften), verhaltensorientierte (Milieus, Kulturen) oder eigentumsförm­ liche (Reiche und Arme) Grenzen. Distinktionen definieren zunächst ‚harte‘ Kriterien und Bedingungen der Zugehörigkeit, denn ein Nichterfüllen macht Vergemeinschaftung dieser Subjekte nicht mehr möglich. Daneben sind Distinktionen auch durch ‚weiche‘ Kriterien bestimmt, die in Form ausgehandelter Regeln die Aufnahme in die Gemeinschaft bestimmen und bei Nichtbeachtung Ausschluss zur Folge haben. Von besonderer Bedeutung über historische Formen hinweg erscheint über beide Ebenen die geteilte Imagination der Gemeinschaft und eine hinter Vergemeinschaftungsprozessen stehende gemeinsame Idee, welche Einfluss auf ihre strukturellen und affektiven Aspekte nimmt (Gertenbach et al. 2010: 83) sowie

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Gefühle der Zugehörigkeit erzeugt. Gemeinschaften entwerfen sich in dieser konstruktivistischen Perspektive selbst oder werden entworfen, indem sie im kommunikativen Handeln Bezugspunkte, Erinnerungen und Narrative ausbilden, die nach innen und außen einen gültigen Gemeinschaftsraum entfalten, an dem man teilnimmt oder von dem man ausgeschlossen ist (Wimmer 2003: 364). Imaginationen von Gemeinschaften sind in besonderer Weise mit Medien verknüpft, denn ihre Spezifik, Vielfalt und Organisation wirken genauso auf diese ein wie die Durchdringung sozialer Interaktionen und Beziehungen mit Medien oder die Macht über Medien und ihre zielorientierte Nutzung durch bestimmte Gruppen oder Organisationen. Besonders deterritoriale und translokale Vergemeinschaftung setzt Medienkommunikation voraus, wird mit zunehmender Mediatisierung vermehrt zeitlich und räumlich entkoppelt, mit dem Verschieben auf Kommunikation zunehmend anonymisiert, und performativ handelnd konstruiert. Imaginationen weisen dabei auf subjektive und kollektive Identitätskonstruktionen zurück, denn sie dienen der Versicherung derselben, auch wenn gerade keine Interaktion zwischen Mitgliedern stattfindet oder stattfinden kann. Eine psychologische Perspektive bietet hierzu die Theorie zum Sense of Community von David W. McMillan und David M. Chavis (1986), die Art und Stärke des Zugehörigkeitsgefühls aus vier Kriterien heraus erklärt und Gemeinschaften nicht nach Strukturen, sondern nach Bindungskraft typisiert: (1) ‚Membership‘ beschreibt das Gefühl der Zugehörigkeit des einzelnen Subjekts oder das geteilte Gefühl gemeinsamer Verbundenheit mehrerer Subjekte einer Gemeinschaft. Es entsteht durch persönliche Investitionen des Subjekts und die damit verbundene Akzeptanz von Mitgliedern einer Gemeinschaft. Besonders die Bereitschaft etwas für die Gemeinschaft zu opfern (z.  B. Geld, Zeit, Arbeitskraft) erhöht die wechselseitige Identifikation von Subjekt und Gemeinschaft. (2) ‚Influence‘ beschreibt die vom Subjekt empfundene eigene Bedeutung für eine Gemeinschaft. Zugehörigkeit entsteht hier aus dem Gefühl, als Subjekt für eine Gemeinschaft einen Unterschied zu machen. Wesentlich ist der Einfluss, den Subjekte auf Gruppen nehmen können, und der Einfluss, den Gruppen auf Subjekte ausüben. (3) ‚Integration and fulfillment of needs‘ beschreibt die gefühlte subjektive Zugehörigkeit über die Befriedigung von Bedürfnissen durch die Gemeinschaft oder ihre Ressourcen. Relevant ist somit der tatsächliche persönliche Gewinn durch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. (4) ‚Shared emotional connection‘ schließlich beschreibt das bereits erwähnte Gefühl, Teil einer gemeinsamen Geschichte, gemeinsamer Interessen, Erfahrungen und Werthaltungen sowie Orte und Zeiten zu sein, die man gegenwärtig teilt und auch in Zukunft teilen möchte.

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 VII.2 Vergemeinschaftung

Alle Dimensionen gefühlter Zugehörigkeit wirken dabei wechselseitig aufeinander ein und bedingen einander, weshalb sie für jede buchbezogene Gemeinschaft und dortigen Vergemeinschaftungsprozesse in ihren spezifischen Ausprägungen analysiert werden müssen.

4 Desiderate Hubert Knoblauch (2008: 77) resümiert: „Fasst man die verschiedenen Aspekte des Begriffs der Gemeinschaft zusammen, so bezeichnet er eine ‚Sozialform‘, die sich durch die folgenden Merkmale auszeichnet: (a) eine Struktur, die überwiegend aus traditionellen und affektuellen Handlungen besteht; (b) er weist auch eine gewisse Selbstbezüglichkeit auf, d.  h. dass sich die Mitglieder von Gemeinschaften auf die (imaginierte) Gemeinschaft beziehen können müssen, um die sie (durchaus auch ‚ideologisch‘) ‚wissen‘ müssen. (Die Affekte können sich im ‚Gemeinschaftsgefühl‘ damit verbinden.) Damit einher geht (c) eine gewisse Differenz zu Anderen, die man auch als Distinktion bezeichnen kann.“ Die skizzierten theoretischen Perspektiven finden in der bisherigen Buchforschung nur wenig Anwendung und offenbaren gleichzeitig zahlreiche Desiderate: So werden die Funktionen von Buchartefakten, Buchmedien und Buchsymbolen für die Entstehung, Aufrechterhaltung und Gestaltung von Gemeinschaften bisher nicht detailliert untersucht. Unklar ist bis heute auch, wieso das Buch als sinnstiftender Horizont von Vergemeinschaftung so geeignet ist, insbesondere weil es trotz seines kommunikativen Bedeutungsverlusts auch in der Gegenwart immer noch gut funktioniert. Weiterhin basieren Interpretationen der Auswirkungen buchbezogener Vergemeinschaftung in der Regel auf sozialen Normen eines idealisierten Lesens, ohne dieses wenigstens zu hinterfragen oder in den Blick zu nehmen. Die bisherige Buchforschung zu Formen der Vergemeinschaftung unterliegt daher in besonderer Weise der Diskrepanz von normativem Ideal und realer Praxis, die Schneider (2013b) für das Lesen als ‚Anomie der Moderne‘ bezeichnet hat.

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 VII.2 Vergemeinschaftung

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460 

 VII.2 Vergemeinschaftung

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462 

 VII.2 Vergemeinschaftung

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Literatur 

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VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis Petra Feuerstein-Herz

1 Gegenstandsbereich Gedächtnis und Erinnerungskultur finden seit einigen Jahrzehnten breite Aufmerksamkeit in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen (Hauser 2011). Die Rezeption der Arbeiten von Maurice Halbwachs zum sozialen Gedächtnis (Halbwachs 1985) und ihre Spezifizierung im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Neuorientierung von Geistes- und Sozialwissenschaften als kollektives und kulturelles Gedächtnis durch Jan und Aleida Assmann bildeten in den 1980er Jahren wichtige Ansatzpunkte für neue Forschungslinien aus. Der Soziologe Alois Hahn charakterisiert Gesellschaften grundsätzlich auch als Wissenssysteme. Die Grundlagen bilden der „Schatz von Annahmen, Kenntnissen, Auffassungen“, über den sie verfügen, und ebenso die Regeln, nach denen entschieden wird, ob und wie sich neues Wissen einfügen kann (Hahn 1998: 47). In diesem Kontext stehen Überlieferung und kulturelles Gedächtnis. Der ‚GedächtnisBoom‘ stellt mittlerweile selbst einen Teil des kulturellen Gedächtnisses des frühen 21. Jahrhunderts dar (Levy 2010: 93; Hauser 2011: 15), womit man bei der Fragestellung nach den Funktionen von Büchern als Medien der schriftlichen Überlieferung angekommen ist. Während der Gedächtnisdiskurs in den letzten Jahrzehnten innerhalb der historischen Geisteswissenschaften und den Sozialwissenschaften konzeptionell diskutiert wurde (Esposito 2002; Welzer 2002; Sebald und Wagle 2016), ist er innerhalb der Buchforschung besonders durch das Aufkommen der elektronischen Medien und Speicher angestoßen worden (u.  a. Serexhe 2015; Müller 2005). Ist die mündliche Überlieferung abhängig vom Gedächtnis der Erzählenden, Singenden, Vortragenden, so erhalten schriftlich verfasste Texte  – und ebenso andere Zeichensysteme wie Bilder und Noten – im Buch eine andere materiale Existenzform, die neue Dimensionen zeitlicher Kontinuität und räumlicher Mobilität öffnet. Bücher sind „Ankerpunkte“ des kulturellen Gedächtnisses (Hauser 2011: 18). Inhalte der Überlieferung und Erinnerung können damit vervielfacht, unabhängig von einzelnen Personen und ihrem individuellen Gedächtnis verbreitet, summiert und überprüfbar  – da im Zusammenhang mit einem materiell fixierten Text  – ergänzt, erweitert oder auch ausgelegt und gedeutet werden. Als Gegenstände der Buchforschung zur kulturellen Überlieferung sind Bücher daher nicht nur in ihrer Funktion der Tradierung von Inhalten zu bewerten, sondern ebenso als Artefakte https://doi.org/10.1515/9783110745030-020

2 Begriffsverständnis: Überlieferung, Tradition, Gedächtnis und Erinnerung 

 465

und Sammlungsobjekte, nicht nur als Speichermedien von Inhalten, sondern auch als spezifische Träger materieller Eigenschaften und als Agenten kultureller Transmissionen. Während bis in das Mittelalter „unterschiedliche ‚Gedächtnisse‘ nebeneinander“ und unverbunden etwa in den Bibliotheken von Klöstern bestanden (Müller 1996: 82), kam mit der Erfindung des Buchdrucks der Gedanke auf, die schriftliche Überlieferung in zentralen Wissensarsenalen bewahren zu können. Bis in unsere Zeit lag der Fokus dabei auf den inhaltlichen Aspekten – Text und Werk –, zunehmend richtet sich das bewahrende Interesse nun auch bei der gedruckten Überlieferung auf das Buch als Artefakt und seine materialen Spuren des Gebrauchs (Harms 1997: 70). Mit Bibliotheken und Archiven, so Aleida Assmann, „wächst der Gesellschaft ein zeitüberdauernder Bestand an Texten, Dokumenten und Objekten zu, die unabhängig von ihrer Aussage oder Gestalt gemeinsam haben, dass sie Vergangenheit repräsentieren“ (A. Assmann 2010: 165). Das greift auch die historische Materialitätsforschung auf, wenn sie etwa Exemplarspezifika einzelner Bücher wie Provenienznachweisen und handschriftlichen Einträgen nachgeht, die Hinweise auf die Nutzung von Büchern in der Vergangenheit überliefern. Damit stellen Rezeption und Gebrauch von Büchern in einem weiteren Sinn auch Aspekte des kulturellen Gedächtnisses dar. Bislang existiert in der Buchforschung kein systematischer Forschungsansatz zu den Funktionen des Buchs in der Gedächtnisforschung. Schon eine einheitliche Definition der Begrifflichkeiten wird in den einschlägigen buchkundlichen und buchwissenschaftlichen Handbüchern, Lexika und Enzyklopädien vergeblich gesucht (beispielhaft: im Lexikon des gesamten Buchwesens 2 nur sehr allgemein Günter Pflug; im Lexikon der Medien- und Buchwissenschaft nur Eintrag ‚kulturelles Erbe‘; ohne Eintrag im Lexikon Buch, Bibliothek, neue Medien). Deshalb wird sich ein erster Abschnitt zunächst kurz mit den Begriffen beschäftigen.

2 Begriffsverständnis: Überlieferung, Tradition, Gedächtnis und Erinnerung Buchbezogene Fragestellungen zur Überlieferung und dem, was die Kulturwissenschaften heute als kulturelles Gedächtnis bezeichnen, bewegen sich in Feldern, die von den historischen Geisteswissenschaften breit besetzt sind, etwa von den Klassischen, Mediävistischen und (vor)modernen Philologien, von Editionswissenschaft, Geschichtswissenschaft und historischer Anthropologie, von Kulturwissenschaften und Sammlungsforschung. Ein begriffsgeschichtlicher Ansatz zeigt die wenig einheitliche Terminologie der geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschungen auf (Sandl 2005: 90;

466 

 VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis

Hauser 2011: 16–17; Erll 2005: V; Wiedenhofer 2016: 11–13). Unter ‚Überlieferung‘ versteht man im deutschen Sprachgebrauch seit der frühen Neuzeit auch im übertragenen Sinn ein Übergeben von „nachrichten, kenntnissen, sitten und bräuchen, dann weiter die mittgetheilte nachricht, […] der überlieferte brauch selbst“ (Dollmayr 1934: Sp. 397). Seit dem 19. Jahrhundert wird dies vorrangig im Sinn einer Weitergabe unter den Generationen verstanden (Dollmayr 1934: Sp. 397). Gleichbedeutend wird spätestens seit dem 18. Jahrhundert der Begriff ‚Tradition‘ gebraucht (Steenblock 2001: 44), wenngleich Tradition einen kollektiv verfestigten, weniger einen individuellen Überlieferungsbestand konnotiert. Die weitgehend synonyme Verwendung begründet sich schon aus Verwendungsformen in der Antike, indem der ursprünglich aus dem Juristischen stammende Terminus der ‚traditio‘ als eine Handlung des Übergebens bereits „allgemein ins Kulturelle“ verwies (Wiedenhofer 1998: 607). Tradition ist demnach definiert als ein kulturelles Grundphänomen, „das mit Sprache und Schrift gegeben, alle Lebensbereiche, von Sitte, Brauch und Ritual, über Lebenserfahrung und Gewohnheitsrecht bis hin zu Lehrüberlieferungen bestimmt“ (Wiedenhofer 1998: 607). Während heute disziplinenübergreifend anerkannt ist, ‚Erinnern‘ als Prozess und ‚Gedächtnis‘ als Fähigkeit zu beschreiben (Esposito 2002: 25; Erll 2005: 7), bemängelt die Forschung eine fehlende Trennschärfe im Gebrauch von Begriffen wie ‚kulturelles Erbe‘, ‚kulturelle Überlieferung‘, ‚kulturelles Gedächtnis‘, die sich mit dem Aufkommen der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung im 20. Jahrhundert ausprägten (Hauser 2011: 16). Jan Assmann hat 1988 das „kulturelle Gedächtnis“ als „Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht,“ definiert (J. Assmann 1988: 9). Elementar sei dabei die „Identitätskonkretheit“, was meint, dass der Wissensvorrat, den das kulturelle Gedächtnis bezogen auf eine Gruppe bewahrt, ein „Bewußtsein ihrer Einheit und Eigenart“ stiftet (J. Assmann 1988: 9). Das kulturelle Gedächtnis ist im Unterschied zur individuellen Gedächtnisleistung einer Person das, was – bedingt durch gesellschaftliche und kulturelle Rahmenbedingungen  – steuert, welche Inhalte aufgenommen werden. Das kulturelle Gedächtnis transportiert also anders als das kollektive Gedächtnis einen festen Bestand von Inhalten und Bedeutungen (A. Assmann 1997: 19) (siehe VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik in diesem Band), während nach heutigem Verständnis das kollektive Gedächtnis als „Oberbegriff für all jene Vorgänge organischer, medialer und institutioneller Art“, die Funktionen bei der gemeinsamen Erinnerungsarbeit und Gedächtnisleistung in soziokulturellen Kontexten übernehmen, verstanden wird (Erll 2005: 5–6). Robert Hauser präzisiert, dass „nicht nur das Gedächtnis, sondern auch Kulturprodukte des materiellen und geistigen Erbes“, mithin Gedächtnis und Artefakte Überlieferung leisten (Hauser 2011: 18). Für die Kulturwissenschaften grenzt Aleida Assmann die

3 Forschungsüberblick 

 467

spezifischen Unterschiede zwischen Tradition, Überlieferung und Erbe einerseits und dem kulturellen Gedächtnis andererseits ab (A. Assmann 2004: 47). Demnach ist das Gedächtnis im Unterschied zur Tradition und Überlieferung mehrdimensional und dynamisch, indem es beides – Erinnern und Vergessen – umfasst, die in dem permanenten Spannungsverhältnis von „vergangener Vergangenheit“ und „präsentgehaltener Vergangenheit“ stehen (siehe Abschnitt 4.2). In Hinblick auf die Buchforschung sind bei aller Heterogenität der Begrifflichkeiten zwei disziplinenübergreifend anerkannte Gedächtniseigenschaften grundlegend: Erinnerungen stellen keine objektiven Abbilder vergangener Wahrnehmungen oder Realitäten dar (Erll 2005: 7), sie sind vielmehr Rekonstruktionen, zumindest Bilder und Repräsentationen von Vergangenheit, die grundlegend von der medialen Überlieferung abhängig sind. Diese wiederum ist ebenfalls nie als neutrale Trägerin vergangener Informationen aufzufassen, sondern gibt jeweils „Vergangenheitsversionen“ (Erll 2005: 124) weiter. Nach diesen begrifflichen Klärungen werden im Folgenden einige charakteristische Forschungslinien zur Thematik auf dem Sektor der Buchforschung skizziert.

3 Forschungsüberblick 3.1 Textüberlieferung Buchforschung rekonstruiert, wie kulturelle Inhalte in die schriftsprachliche Form übernommen werden, und beschreibt im Weiteren die Wege der Überlieferung dieser Texte oder Werke in unterschiedlichen Manifestationen auf physischen Trägern. Dazu zählt im Idealfall eine zeitlich und kulturräumlich differenzierende Darstellung der Techniken und Praktiken, die für die Herstellung und Nutzung von Büchern verbreitet waren. Hier öffnet sich ein weites Themenfeld von der Ausbildung und Entwicklung von Schrift- und Buchformaten, über die Strukturen und Institutionen der Verbreitung, Praktiken des Schreibens und Lesens bis hin zu spezifischen Funktionen des Buchs, das durch die schriftliche Niederlegung und Überlieferung Texten eine gewisse Dauerhaftigkeit verlieh und dadurch Traditionen und Normen stiftete. Buchforschung bezieht generell die handschriftliche Überlieferung ein. Der Kodex als Handschrift mit festem Einband gilt ebenso wie das gedruckte Buch als Ergebnis professioneller Hersteller und als quantitativ relevantes Überlieferungsund Speichermedium (Rautenberg und Wetzel 2001: 1). Im Kontext der Thematik dieses Bandes kann auch das weithin definitorisch für das Buch verwendete Argument von Mindestumfang und Einband unberücksichtigt bleiben, das heißt auch ein- oder wenigblättrige schriftliche Manifestationen eines Textes, der für

468 

 VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis

ein Publikum bestimmt war, sind für Fragen der buchwissenschaftlichen Überlieferungsforschung relevant. Dazu gehören etwa Kalenderblätter der Inkunabelzeit und Flugblätter der Reformation (Rautenberg und Wetzel 2001: 8–10). Aber auch andere Formen wie Tontafeln, Papyrusrollen und nicht zuletzt elektronische Speichermedien werden im Zusammenhang mit Buchforschung zur Überlieferung in Einzelfragen – vor allem in materialen Aspekten – herangezogen. Notwendige Voraussetzung für die Übernahme mündlich tradierter Inhalte in Büchern war die Erfindung von Alphabetschrift in der Antike. Sie war nach dem französischen Linguisten und Sprachphilosophen Sylvain Auroux die erste große ‚révolution techno-linguistique‘ (Haßler 2015: 8). Sie ermöglichte es nicht nur, Wissen und Erfahrungen in schriftlicher Form zu speichern, sondern veränderte auch das Denken und die Wahrnehmung des Vergangenen (siehe Abschnitt 4.1). Die handschriftliche Übertragung auf geeignete Beschreibstoffe durch Vortrag oder Diktat war von den Fähigkeiten des Lesens und Schreibens sowie von der Verfügbarkeit von Beschreibstoffen und Schreibmaterialien abhängig. Im Mittelalter waren Bücher nur einer kleinen Gruppe von lesefähigen Nutzern zugänglich. Diese gehörten überwiegend kirchlichen Institutionen an und beherrschten die lateinische Sprache. Über Jahrhunderte schrieb man die Texte in den mittelalterlichen Skriptorien mehr oder weniger wortgetreu ab. Im Mittelpunkt der schriftlichen Überlieferung standen kanonische Texte der christlichen Religion, die Bibel und ihr exegetisches Schrifttum. Die schriftlichen und textlichen Formen im Buch bedienten sich oftmals aus den alten Traditionen des gesprochenen Wortes. Texte der christlichen Überlieferung waren beispielsweise für den Gesang oder lautes Vorlesen bestimmt (Elsner et al. 1994: 170–172). Im mittelalterlichen Kodex spiegelte sich die Autorität dieser Texte auch im Niveau der Ausstattung wider. Das Zusammenwirken von Beschreibstoff, Schrift und Illuminierung bis hin zum Einband inszenierte eigenen Wert. Dieser drückte sich nicht selten in einer Kostbarkeit aus, für die heute der Begriff der Prachthandschrift üblich ist (Rautenberg und Wetzel 2001: 51–52; Honemann 1999: 546). Auch wenn die Verschriftlichung von mündlich überlieferten Inhalten schon in der Antike stattfand, nahm aufgrund vielfältiger Umstände, wie etwa der Verfügbarkeit von Beschreibstoffen und der Entwicklung leichter praktizierbarer Schriften und Schreibformen, die Anzahl von Büchern erst nach dem 8. Jahrhundert kontinuierlich zu. Bis zum 12. / 13. Jahrhundert muss dieses Schrifttum aufgrund seiner geringen, bisweilen nur unikalen Verbreitung als auf eine kleine schriftkundige Elite beschränkte Erscheinung betrachtet werden. Zwar erfuhr das Schrift- und Buchwesen seit dem 12. Jahrhundert mit der Zunahme von Fachliteratur (besonders Recht, Verwaltung, Medizin) und auch volkssprachlicher Dichtung eine wesentliche Ausweitung (Honemann 1999: 540–541; Müller 1996: 80–81), doch erst mit der Neuzeit erfolgte die „breite Ablösung einer oral-visuellen durch eine literale Kultur“ (Glauch und Green 2010: 391).

3 Forschungsüberblick 

 469

Die Technisierung des Buchwesens durch die Erfindung des Buchdrucks führte im 15.  Jahrhundert zu einem grundlegenden Umbruch der Textüberlieferung. Gleichwohl werden Wissensinhalte vieler Sparten auch längere Zeit nach der Etablierung des Buchdrucks parallel in der handschriftlichen Tradition weitergegeben (Dicke und Grubmüller 2003). Für die skriptografische Zeit liegen umfangreiche Überblicksdarstellungen zu den Grundlagen (Mazal et al. 1999–2018) wie auch Einzelstudien zu Teilgebieten vor, etwa zur Schrift und Schriftkultur (Barret et al. 2012; Willcox und Barret 2008), zu Beschreibstoffen (Breternitz 2020; im Übergang zur typografischen Zeit Bellingradt und Reynolds 2021) und zur Buchmalerei (Panayotova und Ricciardi 2017–2018; Beier und Kubina 2014). Bislang fehlt aber eine Gesamtdarstellung zur Textüberlieferung, die nicht nur die skizzierten Herstellungstechniken und Leistungen des mittelalterlichen, frühneuzeitlichen und neuzeitlichen Buchs in einem systematischen Ansatz untersucht, sondern vor allem die Interaktionen verschiedener Tradierungsformen im Zusammenhang buchgeschichtlicher Fragestellungen diskutiert (Rautenberg und Wetzel 2001: 8). Michael Giesecke vermisst eine umfassende Studie zu den „kommunikativen Strukturen, Prozesse[n] und Selbstbeschreibungen […], die in der Zeit handschriftlicher (und oraler) Informationsverarbeitung herrschten“ (Giesecke 1991: 29). Für die Zeit des Übergangs zwischen skriptografischer und typografischer Überlieferung bis zum frühen 17. Jahrhundert liegt mit Gieseckes Der Buchdruck in der Frühen Neuzeit eine – zwar methodisch nicht unumstrittene –, aber systematisch kommunikationswissenschaftlich und soziokulturell angelegte Studie vor. Giesecke reflektiert in seinen Forschungen konsequent die – von ihm auch für die Zeit der handschriftlichen Überlieferung geforderte  – Selbstbeschreibung und zeitgenössische Bewertung der Strukturen der medialen Überlieferungsform und ihrer Technologie. Das ist für die Fragestellung dieses Beitrags insofern wichtig, als er überzeugend die Identitätsbildung von sozialen Systemen mit dem Stand und dem Vernetzungsgrad ihrer Kommunikationstechnologie korrelieren kann (Giesecke 1991: 56–57). Der Buchdruck führte demnach „einen umfassenden Wandel des gesamten Gesellschaftssystems“ herbei, den Giesecke anhand der gravierenden mentalen und soziokulturellen Folgen der Übertragung von Texten aus der skriptografischen Überlieferung in den Buchdruck aufzeigt (Wehde 2000: 23–24). Dabei spielte die Reformation aufgrund ihrer Aufwertung der Volkssprachen die Rolle eines zusätzlichen kommunikativen Treibsatzes: mit Bildungs- und Alphabetisierungsschüben, einer enorm gesteigerten und dabei differenzierten Buchdruckproduktion und -zirkulation, mit Informations- und Lektüre-Aufschwüngen bleibt Schriftkultur nicht nur im Kreis einer kleinen Elite, sondern wird Praxis des Volkes (Maas 1985).

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 VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis

3.2 Wert- und Identitätskonstruktionen In der Buchforschung gibt es bislang keine epochenübergreifende Studie dazu, welchen Anteil das Medium Buch und die an seiner Herstellung und Verbreitung beteiligten Akteure an der Konstruktion, Prägung und Tradierung von Überzeugungen und Weltvorstellungen leisteten. Bücher haben als Trägermedium solcher identitätsbildenden Inhalte eine unmittelbare Bedeutung und als Medium zugleich eine symbolische (siehe VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik in diesem Band). Deshalb kann das Buch – wie andere Medien – nicht einfach als passiver, „neutraler Träger von vorgängigen, gedächtnisrelevanten Informationen“ verstanden werden (Erll 2004: 5). Als Trägermedien weisen Bücher zunächst auf historische Wirklichkeiten hin, sie beteiligen sich dann aber selbst daran, „Wirklichkeits- und Vergangenheitsversionen, Werte und Normen, Identitätskonzepte“ (Erll 2004: 5–6) zu begründen und zu normieren oder auch zu unterlaufen oder gar kritisch zu dekonstruieren. Ursula Rautenberg weist darüber hinaus auf notwendige Buchforschung zur „Medienspezifik des Buches in semiotischer Konturierung“ hin und regt Forschung zu buchspezifischen Kommunikationsprozessen und die Beschäftigung mit Nutzungspraktiken in der Rückkopplung auf die von den Urhebern des Buches gewählte materiale Präsentation an (Rautenberg 2010: 49–50; Rautenberg und Wetzel: 4–10). 3.2.1 Nationale Identität Die kulturwissenschaftliche Identitätsforschung betrachtet heute den „Nationsgedanken ab dem 18.  Jahrhundert“ als eine der prägnantesten Manifestationen, Zugehörigkeit zu Gemeinschaften auszudrücken (Färber 2022; Fabian 2006; Ulbricht 2006) (siehe VII.2 Vergemeinschaftung in diesem Band). Ein weitgehendes Einverständnis besteht innerhalb der historischen Geisteswissenschaften über die grundlegende Bedeutung von Büchern im Prozess der Ausprägung nationaler Identität (Glauch und Green 2010: 391). Im Unterschied zu Büchern vermochten es weder Lieder, mündliche Erzählungen, Gemälde, Riten oder Denkmäler, eine solche „ungeheure Vielzahl von gedächtnisrelevanten Informationen in temporalkausaler Anordnung zu präsentieren – und damit Nationalgeschichte […] erst zu konstruieren“ (Erll 2004: 5). Bereits in den skriptografischen Jahrhunderten fixierten die Schreiber Inhalte, die dem Erinnern von Ereignissen und Personen dienen sollten. Als ein solch frühes Schriftzeugnis wird im Regelfall die Vita Karoli Magni des fränkischen Gelehrten Einhard (770–840) genannt. In den folgenden Jahrhunderten kamen schriftliche Überlieferungen in den Volkssprachen auf wie das Hildebrandslied (9.  Jh.), das Annolied (11. Jh.), die Karls- und Rolandsepik (seit dem 12. Jh.) und die Nibelungensage (12. Jh.). Quantitativ bedeutender waren die zahlreichen kirchlichen Chroni-

3 Forschungsüberblick 

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ken und Annalen einzelner Volksgruppen und bestimmter geografischer Räume, wie etwa das buoch gehaizzen crônicâ, die erste ‚Weltchronik‘ in deutscher Sprache (Goerlitz 2007: 287–298). Seit dem 13. Jahrhundert wurden diese Quellen in Sammelhandschriften kodifiziert, und auch die Buchform gestaltete sich ästhetisch aus, vor allem in den Schriften, in Ornament- und Bildbeigaben und im Buchschmuck. Dafür war vor allem das zunehmende Interesse adeliger Auftraggeber und Mäzenaten an einer repräsentativen, anspruchsvollen und legitimitätsspendenden Buchkunst ausschlaggebend (Rautenberg und Wetzel 2001: 52). Mit dem Aufkommen des Buchdrucks und unter dem Einfluss des Humanismus stieg die Verbreitung historiografischer Werke deutlich an. Das Interesse der humanistischen Chronisten richtete sich dabei zunehmend auf das ‚Herkommen‘ im Sinn der systematischen Rekonstruktion von Spuren der Vergangenheit und ihrer kreativ-fiktiv bearbeiteten Wahrung im kollektiven Gedächtnis, was wiederum als Reflex auf das im Übergang der oralen in die schriftliche Kultur beeinträchtigte Kollektivgedächtnis verstanden werden kann (Wiedenhofer 1998: 626; Müller 1996: 83). Aleida Assmann bewertet diese Konjunktur von dynastischer und Hofhistoriografie neben der heilsgeschichtlichen „Zeit der Kirche“ als Öffnung einer neuen, innerweltlichen Zeitdimension (A. Assmann 1999: 48–49). Michael Giesecke arbeitete heraus, wie der frühe Buchdruck „katalysatorische Funktion“ bei der Ausbildung neuer „Identitätsmerkmale der Deutschen“ einnimmt (Giesecke 1991: 192–199). Auch wenn Autoren, Drucker und Verleger zunächst an der unumstößlichen Berufung auf Gott oder etablierte religiöse oder weltliche Institutionen als Legitimationsformel für den Einsatz der drucktechnischen Verfahren festhielten, beriefen sie sich schon seit dem späten 15.  Jahrhundert zunehmend auf den „gemeinen Mann“ und schließlich auf die „deutsche Nation“ (Giesecke 1991: 356–361) als Basis und Ziel der Publikationen. Der schon von Zeitgenossen als technologische Revolution gerühmte Buchdruck und die Aufwertung der deutschen Sprache als wichtiges Identifikationsinstrument regten zu neuem „Nachdenken über die Wesensart der Deutschen an: Sie galten fortan als Förderer des menschlichen Geistes, der Wissenschaften und der technischen Entwicklung“ (Giesecke 1991: 192–193). Das Lateinische verlor damit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als wissenschaftliche Fachsprache zunehmend an Bedeutung und man bemühte sich seit dem sog. Vulgärhumanismus um die Etablierung einer in allen Domänen ausgebauten und regulierten Volkssprache (Giesecke 1991: 494). Die Buchforschung hat sich mit den Leistungen des frühen Buchdrucks in diesem Prozess der Etablierung volkssprachlichen Schrifttums und generell sprachkultureller Arbeit intensiv am Beispiel der Reformation und des lutherischen Schrifttums beschäftigt. Neben den Leistungen der Druckwerkstätten bei der kurzfristigen medialen Umsetzung von Luthers deutscher Bibelübersetzung und der Ausgestaltung der Produktionsbedingungen von Flugschriften als neuer volkssprachlicher

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 VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis

Schriftengattung, spielt vor allem die Ausprägung gebrochener Schrift als typografisches Markenzeichen des Reformationsschrifttums eine zentrale Rolle (Flachmann 2003; Pettegree 2016). Mit der von typografischen Strukturen und Akteuren getragenen Entwicklung der Schriftspaltung in Fraktur für deutschsprachiges Schrifttum und Antiquaschrift für lateinische und fremdsprachige Werke oder Passagen prägte sich Druckschrift als wertbesetztes Zeichen nicht nur sozialer Distinktion (Spitzmüller 2022), sondern auch nationaler Identität aus (Wehde 2000: 219–220). Der frühe Buchdruck hatte ein grundlegendes Eigeninteresse an einem höheren Grad an Regulierung, Normierung, Standardisierung der Volkssprache über die dialektale Zerklüftung und landschaftliche Sprachvarietäten hinaus. Mit den sich herausbildenden Druckersprachen, z.  B. ihren orthografischen Gewohnheiten, hat der Buchdruck schon im 16. Jahrhundert einen basalen Beitrag zur Herausbildung einer allgemein verständlichen, einheitlicheren und damit fernkommunikativ wirksamen Sprache geleistet, noch bevor eine professionelle ‚Spracharbeit‘ im 17. Jahrhundert einsetzte. Christopher Wells spricht den Druckern und Korrektoren des 16. Jahrhunderts, wie den Wittenbergern Christoph Walther oder Hans Lufft, eine größere orthografische Standardisierungsleistung zu als den Kanzleien (Wells 1990: 153–154 und 200–203). Am Ende stand als herausragende sprachkulturelle Leistung eine differenzierte Schriftnorm, die sich im Zusammenwirken einer Vielzahl von Texten produzierenden und sie rezipierenden Personen bis zum späten 18. Jahrhundert ausbildete und ohne die die weiteren Entwicklungen literarischer Progression, kultureller und sozialer Identität sowie nationaler Verständigungen nicht möglich gewesen wären (Herz 2015). Mit der Aufklärung setzen sich diese vom frühen Buchdruck eingeleiteten Prozesse endgültig durch. Es kam zu Beginn des ‚Druckkapitalismus‘ zu einem starken Anstieg volksprachlicher Lesestoffe und der Ausbildung periodischer Tagespublizistik. In Europa begann sich das Bürgertum im Zuge dieser an Schrift und Druck gebundenen Literarisierungs-, Bildungs- und Kommunikationsprozesse und den Konsum von Druckerzeugnissen in den jeweiligen Landessprachen als eine „Gemeinschaft von Individuen zu verstehen, die durch eine überregionale LandesSprache zusammengehalten wurde“ (Brinker-Gabler 1998: 80–81). Eine bürgerliche Öffentlichkeit etablierte sich neben und über der repräsentativen höfischen Kultur des Absolutismus und trug zur Ausbildung von Nationalkulturen im ausgehenden 18. Jahrhundert bei (Wiedenhofer 1998: 629; Giesen und Junge 1991: 267–268). Damit einher gingen seit dem 19. Jahrhundert der Aufbau und die Institutionalisierung nationaler Sammlungen, konkret auf das Buch bezogen: die Anfänge nationaler Literaturgeschichtsschreibung, die Kanonisierung von an das Buch gebundenen ‚Nationalliteraturen‘ (Brinker-Gabler 1998: 81; Woesler 2011) sowie die Realisierung der Idee der Nationalbibliothek als „Zentralort der durch Texte imaginierten Nation“ (Leonhard 2009: 73).

3 Forschungsüberblick 

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3.2.2 Kanonisierung Die historische Forschung diskutiert heute unterschiedliche Erklärungen, welche Faktoren zur Konstruktion und zum Erhalt von kollektiven Identitäten beitragen (siehe VII.2 Vergemeinschaftung in diesem Band). Gemeinsam ist ihnen, auf klassische Begriffe der Moderne – wie Sprache, Geschichte und Kultur – zurückzugreifen. Während man kulturelle Identitäten im Anschluss an Michel Foucault als Ergebnis von Diskursen versteht, die über Ideologien hinaus auch auf Dispositive und auf Praktiken verweisen, wollen andere die Bedeutung von Erzählungen, Geschichten und Geschichte nicht außer Acht lassen (Saupe 2022: 217). Auch wenn mit der schriftlichen Überlieferung die Möglichkeit entstand, die Inhalte dieser Diskurse, Erzählungen und Geschichten in materialer Form zu speichern, somit potentiell verfügbar zu halten auf spätere Rückgriffe und Reaktivierungen, so ist doch danach zu fragen, warum bestimmte identitätsprägende kulturelle Inhalte sich in der Erinnerung und Überlieferung verankern können, während andere notwendigerweise ‚ausgeblendet‘ sind, ganz vergessen oder im Bewusstsein zurückgestellt werden. Bestimmte Texte und Autoren erreichen eine stabilere Verankerung im kulturellen Gedächtnis einer Gruppe oder Nation und werden deshalb auch häufiger in Schriftmedien traktiert und tradiert. Dieser Rang von Bedeutungshaltigkeit kristallisiert sich im Laufe der Zeit in „Verfahren der Auswahl und Wertzuschreibung“ heraus, die ihnen einen festen Platz im Kanon (zum Begriffsverständnis Voigt-Goy 2022) der Überlieferung verleihen und sie zum „Inbegriff normativer und formativer Werte“ werden lässt (A. Assmann 2004: 48). Jan Assmann arbeitete diese Prozesse für frühe Schriftkulturen heraus und wies auf die zentrale Rolle einzelner Schreiberschulen hin, die gewissermaßen für den institutionellen Rahmen des Kopierens, Zirkulierens und Archivierens der Texte sorgten (J. Assmann 1997). Unter einem kultursoziologischen Ansatz mit den beiden Brennpunkten ‚Kanonisierung und Zensur‘ haben zwei interdisziplinäre Tagungen der Studiengruppe ‚Archäologie der literarischen Kommunikation‘ (siehe Abschnitt 4.3) in den 1980er Jahren wichtige Impulse gegeben (A. Assmann 1987). Die moderne transdisziplinäre Kanonforschung verfolgt einen funktionalen Ansatz, wonach der Kanon der Legitimierung von Identitätssymbolisierungen sozialer Gruppen dient (Hahn 1998). Neben wertungstheoretischen Zugängen, die Kanonisierungsprozesse in Hinblick auf bestimmte Autoren, Werke und auch Schriftengattungen innerhalb der Einzeldisziplinen thematisieren (beispielhaft für die Literaturgeschichte Grabes und Sichert 2005), richten sich die Forschungen damit auch auf die kanonproduzierenden Akteure und Akteurinnen sowie auf daran beteiligte Organisationen, zu welchen etwa auch Verlage und Bibliotheken gehören (Voigt-Goy 2022: 252–253).

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 VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis

4 Theoretische Perspektiven 4.1 Schriftkultur Grundlegend für Überlieferung und kulturelles Gedächtnis ist die Ausbildung von Schrift und Literalität. Die Beschäftigung mit der Übermittlung kultureller Zeugnisse, Normen und Werte durch Schrift blickt innerhalb der kultur- und sozialgeschichtlichen Forschung auf längere Traditionen zurück. Die heute als Toronto School bezeichneten Konzepte von Eric  A. Havelock zur griechischen Schrift­ revolution (Havelock 1963 und 1986) sowie Walter J. Ong und Jack Goody zur Oralität und Literalität (Ong 1987; Goody 1968) umkreisen die Wandlungsprozesse, die die schriftliche Fixierung und Verbreitung von Wissens- und Erfahrungsinhalten in sozialgeschichtlicher, kommunikationstheoretischer sowie psychosozialer Hinsicht bewirkt haben. Allgemein gesagt veränderten sich durch die Literalität die Denk- und Urteilsstrukturen des menschlichen Geistes, und die Tradierung des Vergangenen gewann zeitliche und räumliche Autonomie. Mit der Literalität und ihren medialen Formen entwickelte sich allmählich eine andere Einstellung zur Vergangenheit selbst. Literale Gesellschaften, so Walter Ong, können das V ­ ergangene nicht in der gleichen Weise wie orale Gruppen ‚beiseitelegen‘, schriftliche Medien halten die Geschichte präsent und konfrontieren uns damit (Ong 1987: 81–117). Deren Fragen und Auseinandersetzungen sind wiederum im Buch schriftlich niedergelegt und begründen historische Wissenschaft auch in ihrem Anspruch auf Aufklärung für das jeweilige Heute. Für eine Buchforschung zur schriftkulturellen Überlieferung leiten sich daraus vor allem zwei Forschungsperspektiven ab. 4.1.1 Schriftlichkeit und mediale Einflüsse des Buchs auf kulturelle Überlieferung Solange Mythen und Erzählungen ausschließlich mündlich tradiert wurden, bemühten sich die berichtenden und erzählenden Menschen – bewusst und auch unbewusst  – darum, diese in gewisser Übereinstimmung mit der traditionellen Erzähltradition zu erhalten. Es blieben temporäre Praktiken, die Erzählform und Wortwahl an die Voraussetzungen des unmittelbaren Publikums anpassten; ‚archaisches‘ Metrum, Reim, Wiederholungsstrukturen dienten der Memorabilität des Lied- oder Erzählstoffes. Mit der schriftlichen Fixierung im Buch blieben solche ‚Anpassungen‘ bereits in der skriptografischen Tradition für die Nachwelt erhalten (Goody und Watt 1991: 88–95) und riefen neue Fragen und Diskussionen über die Inhalte der Überlieferung selbst, über den Ursprung und die Originalität des sie überliefernden Artefakts hervor.

4 Theoretische Perspektiven 

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Für die Buchforschung entstehen aus diesem Ansatz heraus Fragen zur Authentizität, Urheberschaft, Zuordnung und Filiation von ‚Werken‘. Etwa bei gedruckten Ausgaben, in denen sich über einen längeren Zeitraum und bereits in der Tradition der handschriftlichen Vervielfältigung von Manuskripten mehrere Überlieferungsstränge eines Ausgangstextes vermischt haben. Offenkundig ist dies auch bei gängigen Publikationspraktiken der frühen Neuzeit wie nicht autorisierten Raubdrucken durch Drucker und Verleger oder bei anonymer und fingierter Autorschaft. Auch die Obrigkeiten und deren Schutz- und Verbotsregularien, die sich nicht nur auf Inhalte, sondern auch auf die Gestaltung von Schrift und bestimmte Typografien beziehen konnten, gehören in diesen Fokus. Die historische Schriftkultur mit ihren komplexen Zeicheninventaren der skriptografischen wie auch der typografischen Zeit zeigt, dass Text-Authentizität nur ein Annäherungswert sein kann und bestimmt die Bewertung der hermeneutischen Relevanz der Textmaterialität nicht nur als Beglaubigungs- und Legitimationsinstrument, vielmehr auch als Wertzuschreibungsinstrument. 4.1.2 Schriftkultur und die Rezeption von Text und Inhalt Auf der Grundlage ihrer Studien zum Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit in der Antike gehen Ong und Goody von grundlegenden Veränderungen der menschlichen Denkleistungen aus. Nachdem die Schrift Aufgaben übernommen hatte, die vorher das Gedächtnis leisten musste, konnten sich höhere Abstraktionsformen wie formal-logisches und konzeptuelles Denken ausbilden (Ong und Watts 1991: 121–122). Im Anschluss an die poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Diskurse der französischen Philosophie und Soziologie um Jacques Derrida und Pierre Bourdieu in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigt sich die heutige Forschung mit den materiell-medialen Eigenschaften der Textüberlieferung auf physischen Trägern und untersucht deren Einfluss auf die Rezeption der kulturellen Überlieferung (Mayer 2014; Rautenberg 2022). Zunehmend schließen die Forschungen auch den Wettstreit von Schrift und Bild mit ein (Dickhaut 2005: 298). Die Buchforschung diskutiert in diesen Kontexten über die medienkulturwissenschaftliche Erweiterung ihres Gegenstandsbereichs (Rautenberg und Wetzel 2001: 4–7; Rockenberg und Röcken 2011), den sie neben und zusammen mit den Editionsphilologien verfolgt (Lukas et al. 2014). Im Kern geht es bei diesem kulturwissenschaftlichen Ansatz darum, dass die Überlieferung eines Werkes nicht allein vom verbalsprachlichen Text bestimmt sein soll, sondern zugleich auch von den materiell-medialen Eigenschaften seiner Realisation auf einem Träger. Die Buchforschung wendet sich dabei von der ausschließlichen Gültigkeit des Konzepts von Autorschaft ab (Barthes 2000: 185–197) und diskutiert auch die epistemologischen

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 VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis

und ökonomischen Bedingungen der Herstellung und gesellschaftlichen Rezeption des Buches. In materieller Hinsicht gehören etwa die verwendeten Beschreib­ stoffe, Schrift, Zeicheninventar und typografische Ausstattung, Satz, Schmuckelemente, Titelblatt, Paratexte und Illustrationen dazu. Andere Schrift-, Illuminierungs- und Schmuckformen bei Manuskripten können ebenso wie typografische Veränderungen bei Drucken demselben Text ein anderes Erscheinungsbild verleihen und damit das Textverstehen und seine Rezeption beeinflussen (Mayer 2014; Nehrlich 2022). Bereits vor dem eigentlichen Lesen spielen sich allein in der Haptik des Buchs und durch das Ansehen der Textseite Wahrnehmungsprozesse ab: Die Textgestaltung im Raum der Buchseite hat Einfluss auf die Entfaltung von Sinn und seine Rezeption. Im Zusammenhang mit den Überlegungen zu einer Mediengeschichte des Werkes prägte der amerikanische Buch- und Literaturwissenschaftler Peter Shillingsburg 1991 den Begriff ‚material text‘ (Shillingsburg 1991) und lenkte damit die Aufmerksamkeit darauf, dass eine „gemeinhin als ‚Text‘ bezeichnete verbalsprachliche Zeichensequenz stets in einer konkreten Materialisation vorliegt, der nun […] eine hermeneutische Relevanz zugesprochen werden kann“ (Rockenberg und Röcken 2011: 284–285). Die Buchwissenschaft und Leseforschung diskutieren, inwieweit Text und Materialität nur als Einheit betrachtet werden können.

4.2 Kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung (Cultural Memory Studies) Die Kulturwissenschaften haben unterschiedliche Konzepte der Verknüpfung von Medium und Gedächtnis erarbeitet. Bereits die klassischen Studien von Maurice Halbwachs machten auf die generellen Probleme einer Funktionszuschreibung von Medien im Gedächtnisdiskurs aufmerksam (Erll 2004: 6–7). Mit Aleida und Jan Assmanns Studien in den 1980er Jahren entstand das bis heute im deutschsprachigen Raum wirkungsmächtigste Konzept einer kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Ihre generell auf medientheoretischen Annahmen beruhenden Untersuchungen führten zu weitreichenden Präzisierungen. Über eine differenzierte Bewertung des spezifischen Leistungsvermögens schriftlicher Medien hinaus gelangten sie zu einer Unterscheidung von Medien des kollektiven Gedächtnisses und Medien des kulturellen Gedächtnisses und lieferten eine klare Darstellung von verschiedenen Ebenen medialer Gattungen (J. Assmann 1994). Die Unterscheidung zwischen gängigen Begriffen wie Tradition oder Erbe macht die Dynamik des Erinnerns greifbar: Das Gedächtnis ist im Unterschied zu Tradition ein Vermögen, das „mehrdimensional und dynamisch“ arbeitet. Gedächtnis „bezieht sich nicht nur auf einen Vorgang, einen Bestand oder Wert, sondern immer auch auf sein Gegenteil. Denn Gedächtnis umfasst immer schon beides: Erinnern und Vergessen“

4 Theoretische Perspektiven 

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(A. Assmann 2004: 47). Damit gelangte Aleida Assmann zu der Differenzierung in zwei unterschiedliche Gedächtnismodi, das Funktions- und das Speichergedächtnis (A. Assmann 1999 und 2004). Erst in dieser Dichotomie kann man nach Assmann von „Kultur als Gedächtnis“ respektive „kulturellem Gedächtnis“ sprechen, denn Kultur übernimmt hier die „strukturierende Funktion.“ Dabei geht es vor allem darum, auf Überlieferungsobjekte zurückgreifen zu können und sie zu wiederholen, zu lesen, zu interpretieren etc. Damit, so Assmann, „transzendieren Menschen ihren eigenen Zeithorizont und gliedern sich in einen sehr viel größeren Kommunikationsrahmen ein“ (A. Assmann 2004: 46). In der Folge hat sich eine sehr heterogene medienorientierte kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung herausgebildet, die u.  a. eine „mediengeschichtliche Neuorientierung des Gedächtnisbegriffs“ fordert (Erll 2004: 9). Aufgrund der Nähe und Vernetzung von Gedächtnis und Medien wird Gedächtnisgeschichte häufig entlang der Mediengeschichte entwickelt (Erll 2005: 126–129; Esposito 2002). Zentral sind die Forschungen um die Mitglieder der Gruppe ‚Archäologie der literarischen Kommunikation‘, die von Aleida und Jan Assmann begründet wurde und kontinuierlich begleitet wird. Zugrunde liegt dabei ein Literaturbegriff, der schriftliche Überlieferung in einem erweiterten Sinn versteht und an die von der Toronto School initiierten medientheoretischen Debatten sowie an die Derridasche Grammatologie und Foucaults Diskurstheorie anknüpft (Wandhoff 1997; siehe die Publikationsreihe Archäologie der literarischen Kommunikation, Paderborn 1983– 2014). Neuere Ansätze der Cultural Memory Studies weisen auf methodologische Lücken in den Forschungen um das kulturelle Gedächtnis hin (Levy 2010: 95–101) und richten ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf das Prozesshafte und die Dynamik der Erinnerung (Erll 2011: 275). So betrachtet Daniel Levy eine „Entprovenzialisierung“ als notwendig, da die Gedächtnisforschung zu isoliert von einer westlichen Konzeption ausginge. Bei der schriftlichen Überlieferung zum Gedächtnis werde überwiegend mit einem Konzept der Moderne gearbeitet, das „eine bestimmte Universalität festschreibt und damit die partikularen Bedingungen, durch die Erinnerungskulturen geformt werden, aus den Augen verliert“ (Levy 2010: 97). Neben anderem wird eine kosmopolitische Perspektive für zukünftige Forschungslinien empfohlen (‚cosmopolitan heuristic‘), da sie eine in Hinblick auf die globalisierte Welt angemessenere analytische Methodik anbietet (Levy 2016: 73–74). Eine weitere Lücke innerhalb der Analysekriterien öffnet sich laut Levy in der „impliziten Idee, dass es eine Dominanz bestimmter Repräsentationen gibt.“ Entgegen der „dominanten Lesart des offiziellen kulturellen Gedächtnisses“ sollte die Forschung vielmehr auch mögliche oppositionelle Lesarten berücksichtigen und daher die Analyse des kulturellen Gedächtnisses methodisch stärker auf die Rezeption medialer Überlieferung ausrichten (Levy 2010: 100–101).

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 VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis

Am deutlichsten, so Astrid Erll, tritt diese „Dynamisierung des Gedächtnisses“ innerhalb der Forschung zur Medialität des Erinnerns hervor, dies in Hinblick auf die Bedeutung von Massenmedien und der digitalen Welt (Erll 2012: 275).

4.3 Erinnern und Vergessen Das Gedächtnis ist außerhalb der neurologischen Forschung lange Zeit vorwiegend in Hinblick auf seine Funktion des Erinnerns und die Mechanismen des Registrierens, Ordnens, Speicherns etc. untersucht worden. Die Soziologin Elena Esposito entwickelt ein von der Luhmannschen Systemtheorie ausgehendes Gedächtniskonzept, wonach „das Gedächtnis nicht einfach ein ‚Vorrat an vergangenen Ereignissen‘, sondern in erster Linie die Organisation des Zugangs zu Informationen“ ist. Das Gedächtnis ist die „Fähigkeit zur Selektion“, indem es die Voraussetzung dafür schafft, „dass einige Ereignisse gegen die Vielheit, die vergessen wird, als informativ gefiltert werden“ (Esposito 2002: 24–25). Die Form des Gedächtnisses, so Esposito, besteht daher in der Differenz von Erinnern und Vergessen. Ihre Leithypothese zur Ausbildung spezieller gesellschaftlicher Formen von Gedächtnis ist die Annahme, dass zwischen Differenzierungsformen von Gesellschaften und den ihnen verfügbaren Kommunikationstechnologien wie Schrift, Buchdruck und elektronischen Medien ein „gegenseitiger Anpassungsdruck und eine ständige Wechselwirkung herrschen“ (Esposito 2002: 38). Zu einer Theorie der Medien gehört demnach notwendigerweise die Rückbindung an Gesellschaftstheorie (Esposito 2002: 39). Ergebnisse dieser Dynamik sind vier Gedächtnisformen von Gesellschaften, die Esposito zwar in einer historischen Abfolge darstellt, aber ausdrücklich nicht als evolutionären Prozess verstanden wissen will (Esposito 2002: 41). Vielmehr können die verschiedenen Formen auch zeitlich parallel existieren. Es handelt sich dabei um das ‚divinatorische Gedächtnis‘ auf der Grundlage nicht alphabetischer Schrift, um das ‚rhetorische Gedächtnis‘ mit alphabetischer Schrift, um ‚Kultur als Gedächtnis‘ auf der Grundlage von Buchdruck und Massenmedien und schließlich um das ‚Netzmodell‘ auf Basis der elektronischen Datenverarbeitung. Die besondere Bedeutung des Buchdrucks besteht für Esposito darin, dass die Form des Gedächtnisses „zu dem Primat des Vergessens übergeht“ (Esposito 2002: 184). Das wird möglich durch die Speicherung von Inhalten in Büchern, die Esposito nach Luhmann als „Form virtuellen Gedächtnisses“ betrachtet, die der Kommunikation zur Verfügung stehende Potentialität darstellt. Sie kann durch Lesen aktiviert werden. Esposito arbeitet als grundlegenden Unterschied zwischen handschriftlicher Überlieferung durch Abschrift und gedruckter Überlieferung durch Technologie einen „neugewonnenen Abstand von der Körperlichkeit des Originals“ heraus, was neben anderem zu der Unterscheidung zwischen dem Buch

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als materiellem Träger und dem Buch als mitgeteiltem Text (Esposito 2002: 189) führt. Das Buch als Objekt verändert das Umfeld des Textes, etwa durch Typografie, Abbildungen, Register, Titelblatt etc. Esposito entwickelt, wie sich in Folge des Buchdrucks das Gedächtnismodell vom Speicher zum Archiv verändert (Esposito 2002: 239). Während ein Speicher nicht eigentlich über eine Ordnung verfügt, entlastet die archivarische Organisation das Gedächtnis, indem nun die Ideen in Büchern hinterlegt werden können. Damit einher geht „die Vorstellung eines begrifflichen Kapitals der Menschheit“ (Esposito 2002: 240), was im 18.  Jahrhundert in einem neuen Begriff von Kultur mündet (Esposito 2002: 245). Diesem „Kulturmodell des Gedächtnisses steht in unserer Zeit der digitalen Medien“ eine völlig veränderte Organisation von Wiederholung und Redundanz gegenüber, die Esposito als „telematisches Gedächtnis“ oder Netzmodell des Gedächtnisses bezeichnet. Mit seiner Struktur aus durch „Computern mediatisierten Netzen aus Netzen“ setzt sich Esposito unter konsequenter Anwendung des Luhmannschen Ansatzes auseinander. Sie fragt nach den Folgen „virtueller Realitäten“, nach dem Übermaß an Kontrollmöglichkeiten und einer Gedächtnisstruktur, die es mit Informationen zu tun hat, die durch „Datenverarbeitungsmaschinen“ produziert werden, „und zwar nicht, weil sie sich an Informationen erinnern, sondern weil sie diese auf der Basis der Befehle des Anwenders […] jedes Mal neu konstituieren“ (Esposito 2002: 346–358).

4.4 Traditions- und Geschichtsforschung In seiner Gedächtnistheorie grenzt sich Maurice Halbwachs klar gegen Geschichte und Tradition ab. Tradition ist für ihn organisierte Form der Erinnerung. Jan Assmann sieht hingegen die Grenzen zwischen Erinnerung und Tradition fließend und wendet sich gegen eine scharfe begriffliche Trennung (J. Assmann 1997: 45). Heute diskutiert die Traditionsforschung eine begriffliche und theoretische Neubestimmung (Wiedenhöfer 2016: 11–12). Nachdem traditionstheoretische Fragen, besonders durch Globalisierung und Digitalisierung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts große Aufmerksamkeit gewannen, wird in unserer Zeit eine Traditionstheorie, die „mindestens Ganzheit, Komplexität, Geschichtlichkeit, Sozialität, Reflexivität, Transzendentalität und Dialektik als wesentliche Bestimmungsmerkmale von Tradition in den Blick nimmt,“ gefordert (Wiedenhöfer 2016: 11–12). Im Sinn von Reinhart Kosellecks Metapher der „vergangenen Zukunft“ von Gesellschaften (Koselleck 1992) wird Tradition als retrospektiv gewonnene Selbstbeschreibung von Gesellschaft und „rekonstruktive Kommunikationsform“ verstanden (Srubar 2016: 91). So soll sie einerseits der Kontinuität des gesellschaftlichen Wissensvorrats dienen und stellt zugleich durch selektive Mechanismen sicher, dass nur bestimmte

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 VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis

Elemente des Wissens in der sozialen Erfahrung präsent gehalten werden (Srubar 2016: 92). Mit Bezug auf Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses betont der Kultursoziologe Ilja Srubar gerade diese Bedeutung der strukturellen Selektivität des Tradierens (Srubar 2016: 96–101). In einem „Kreislauf der Traditionsbildung“ kann in der literalen Gesellschaft nicht von der schlichten Reproduktion der Textquelle ausgegangen werden, so dass auch die Kanonisierung immer neue Textversionen zu verarbeiten hat und der Kanon sich allmählich wandelt. Abhängig sind die Selektivitätspotentiale selbst auch von den Medien (Srubar 2016: 105). Im Unterschied zu rein oralen Systemen, die nur im engen Erinnerungsbereich der gesprochenen Rede stehen, erzeugt die von Zeit und Raum unabhängige schriftliche Überlieferung eine Vielfalt von Textauslegungen, die eine Legitimierung im Kanon durch „Selbstprüfung“ wie auch durch externe Entscheidungen erzwingen. Tradition erweist sich damit als „anthropologisch verankerte Kommunikationsform“, die sowohl für die Bewahrung wie auch für den Wandel und die Kanonisierung kultureller Überlieferung sorgt (Srubar 2016: 105–106). Die Geschichtswissenschaften diskutieren seit den 1970er Jahren ihr Verhältnis zur Gedächtnisforschung. Dabei ist ein zentraler Aspekt die Frage, ob Geschichtsschreibung, die ja immer schon eine eigene Perspektive in historische Darstellungen einbringt, und ebenso die konkurrierenden Diskussionen um unterschiedliche theoretische Ansätze selbst nicht bereits ein Teil des kulturellen Gedächtnisses darstellen. Zu den unterschiedlichen Ansätzen gehört es beispielsweise, die Erinnerungskultur einzelner Epochen „als Rahmen“ zu denken, der die Geschichtswissenschaft einbettet, oder sie als soziale Gruppe im Sinn eines „Erinnerungsmilieus“ zu verstehen, die bezogen auf die gesamte Gesellschaft quasi eine „Erinnerungssubkultur“ verkörpert (Bergenthum 2005: 128). Ansätze stellen etwa die mediävistische Memorial-Forschung oder die mit dem individuellen Gedächtnis von Zeitzeugen arbeitende ‚Oral History‘ dar. Auf kleinstem Nenner wird das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur als sich wechselhaft beeinflussende Theorie- und Methodenbereiche beschrieben (Bergenthum 2005: 129). Aus der Fülle der Diskussionen und Ansätze wird beispielhaft als anregende Perspektive für den Gegenstandsbereich dieses Beitrags die Position des Historikers Marcus Sandl zur Medialität der historischen Überlieferung (Crivellari und Sandl 2003 und 2005) kurz skizziert. Sandl greift die in den 1990er Jahren aufgrund von rezeptionsgeschichtlichen wie wissenschaftstheoretischen Vorbehalten begründete Zurückhaltung der Geschichtswissenschaften an den Gedächtnisdiskursen auf. Geschichte und Gedächtnis habe man als „diachron zu differenzierende, konkurrierende Formen des Umgangs mit der Vergangenheit“ betrachtet (Sandl 2005: 95–96). Sandl bezieht sich auf die in diesem Diskurs zwar unter umgekehrten Vorzeichen genutzte, aber aus seiner Sicht fruchtbar zu wendende „hohe Sensibilität für die Konstruktivität dessen, was Geschichte ist“, als „Unterscheidung zwischen

4 Theoretische Perspektiven 

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Vergangenheit und Vergangenheit, wie sie erinnert wird“ (Sandl 2005: 97). Die „Gedächtniskritiker unter den Historikern“ haben insofern einen wichtigen Aspekt angesprochen, als ihr Einwand deutlich macht, dass Gedächtnis und Geschichte konkurrierende Zugriffsweisen auf ein und denselben Gegenstand sind (Sandl 2005: 98). Damit rückt die (Inter-)Medialität der Geschichte in den Blick der Geschichtswissenschaften. Im Unterschied zu der bislang als Geschichte der Technologie konzipierten historischen Mediengeschichte diskutiert Sandl einen weiterreichenden Ansatz (Crivellari und Sandl 2003), in welchem die mediale Struktur von historischen Ereignissen als Ergebnis von prozessualen „Akten der Beobachtung, Beschreibung und Kommunikation“ betrachtet wird. Medien überformen und determinieren diese Prozesshaftigkeit. Zugleich ist als komplementärer Aspekt nicht nur die Wahrnehmungsfunktion, sondern auch die soziale Reproduktion in Medien zu berücksichtigen. Sandls Ansatz einer medientheoretischen Auseinandersetzung in den Geschichtswissenschaften bezieht sich auf diese „doppelte Referenzstruktur“ von Medien: die Beschreibung und Hervorbringung der historischen Welt und zugleich die „Formen der Vergesellschaftung dieser Hervorbringung“ (Sandl 2005: 117).

4.5 Bibliotheks- und Sammlungsforschung Auf die Bibliothek als „Denkmodell von Gedächtnis“ weist Kirsten Dickhaut hin und führt die theoretischen Perspektiven, die sich für die Thematik des kulturellen Gedächtnisses im Zusammenhang mit der Bibliotheks- und Sammlungsforschung ergeben, ins Feld (Dickhaut 2005: 297). Bibliotheken gelten als Garant eines generationsübergreifenden Zugriffs auf identitätsstiftendes Wissen. Die Thematik hat vor allem unter dem Einfluss der umfassend angelegten Digitalisierung historischer Bibliotheksbestände an Aktualität gewonnen (Halle 2004; Serexhe 2015). Aleida Assmann arbeitet im Kontext ihrer Theorie des kulturellen Gedächtnisses die Bedeutung von Bibliotheken als Institutionen, die „die spezifische Dynamik des kulturellen Gedächtnisses“ gestalten, heraus (A. Assmann 2010: 165–167). Die institutionalisierte Form der Bewahrung spiegelt die Gedächtnismodi von Funktions- und Speichergedächtnis wider. Bibliotheken nehmen Bücher und andere „materielle Überreste“ in großer Fülle auf, sie speichern „vergangene Vergangenheit“ als historische Archive und „unübersehbare Datendepots.“ Aus dieser „Ansammlung von Materialien ohne unmittelbaren Relevanzbezug“ werden Teile der schriftlichen Überlieferung aufgrund von externen Prozessen und Entscheidungen der Auswahl zu einem normativen Kanon, als Bestand der „präsent gehaltenen Vergangenheit“ in das aktive kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft eingespeist. Bibliotheken beteiligen sich aktiv an den Prozessen durch das Sammeln, Erschließen, Ordnen und Bewahren, durch das Zeigen und Repräsentieren etwa in Aus-

482 

 VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis

stellungen und Forschungen. Bibliotheken stellen Archiv und Kanon zugleich dar. Sie sind Orte eines dynamischen Spannungsverhältnisses von bloßer Speicherung und lebendiger Aneignung. Buchforschung im engeren Sinn ist von diesen theoretischen Ansätzen insofern berührt, als sie den Bestandsaufbau, also die Auswahl – durch Erwerb oder Annahme von Buchgeschenken – bestimmter Werke bzw. Bücher betreffen, die die kulturelle und wissenschaftliche Bedeutung von Sammlungen begründet. Sammlungsforschung mit diesem Ansatz schließt also die Frage nach Kanonisierung und Wertzuschreibung von Büchern ein. In jüngerer Zeit greift eine Reihe von sammlungsgeschichtlich angelegten Projekten diesen theoretischen Ansatz auf. Gegenstand sind historische Bibliotheken, die die Zeiten entweder real überdauert haben oder auf deren ursprünglichen Bestand heute durch historische Kataloge und Bestandslisten noch Zugriff besteht. Beispiele sind die Studien Werner Arnolds (Arnold 2011) und Kathrin Paaschs (Paasch 2005) zur Identitätsbildung frühneuzeitlicher Fürsten- und Privatbibliotheken. Eine speziellere Perspektive nimmt Alice Perrin-Marsol mit ihrer Arbeit über französische Werke ein, die im 17. Jahrhundert für die herzogliche Sammlung in Wolfenbüttel angeschafft wurden (Perrin-Marsol 2008: 67–88). Perrin-Marsol setzt sich mit dem Verständnis von ‚Identität‘ einer Bibliothek als Ort auseinander. Bücher werden hier als „kultureller Identitätsnachweis“ sowohl einer Person, dem sammelnden Herzog, als auch einer Epoche verstanden. Herzog Augusts Bibliothek war tatsächlich eine europäische Bibliothek, somit wendet sich die Untersuchung nicht der nationalen Identität zu, sondern fragt, inwieweit sie auch als Gedächtnis anderer europäischer Nationen, speziell der französischen, verstanden werden kann (Perrin-Marsol 2008: 76–88). Perrin-Marsol bezieht für die Beantwortung dieser Frage nicht nur die Auswahl der Werke heran, sondern nimmt das Buch auch als produziertes Artefakt, als ökonomisches Objekt sowie seine Verbreitung und Benutzung in der herzoglichen Bibliothek in den Blick. Ähnlich erweiterte Ansätze liefern Nadezda Shevchenko und Vanina Kopp mit ihren Arbeiten zu Bibliotheken aus der Zeit des 14.–16. Jahrhunderts. Kopp bezieht sich auf die Louvrebibliothek zwischen 1368 und 1429 (Kopp 2016). Die Sammlung ist zwar real nicht mehr in dieser Form erhalten, ist aber heute nach Kopps Einschätzung „so tief im kulturellen Gedächtnis der Nation verankert, dass sie zu einem Ort der kulturellen und staatlichen Identifikation geworden ist“ (Kopp 2016: 12). Ihre Perspektive zielt daher darauf, in der historischen Entwicklung die herrschaftlichen und kulturellen Praktiken im Umgang mit der Bibliothek und ihren Büchern zu untersuchen. Nadezda Shevchenko bringt mit ihrer kulturanthropologisch angelegten Studie zur Bibliothek der preußischen Herzogsfamilie im 15. Jahrhundert neue Forschungsaspekte zur Vermittlungsfunktion von Büchern in der Reformationszeit ein (Shevchenko 2007). Sie weist darauf hin, dass reformationsgeschichtliche For-

5 Desiderate 

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schungen zu einseitig auf die textuellen Aussagen und eine teleologisch angelegte buchgeschichtliche Perspektivierung rekurrieren. Um in der Frage von Wertkonstitution der Reformationshistoriografie von diesem geradezu paradigmatischen Ansatz abzurücken, greift sie Ansätze der neueren angelsächsischen Wissenschaftsgeschichte zur historischen Leseforschung und der Historischen Anthropologie auf und geht damit nicht mehr a priori von einer engen Wechselbeziehung zwischen fürstlichen Wertvorstellungen und der Reformationspolemik aus. Shevchenko will vielmehr „den historischen Wandel der kulturellen Normen, Verhaltens- und Umgangsweisen in Hinsicht auf das Buch“ problematisieren und die Geschichte des Buchs in der Reformationszeit im Kontext individueller Verhaltensweisen und Handlungsstrategien darlegen (Shevchenko 2007: 19–20).

5 Desiderate Die Themenbereiche Überlieferung und kulturelles Gedächtnis sind als in sich konsistentes Rahmenthema der Buchforschung schwer zu fassen. Das ist zunächst auf die inhaltlich weite Spannbreite zurückzuführen, die das Buch in seiner Eigenschaft als Textträger, symbolisches Artefakt und Kulturobjekt umspannt. Bücher stellen in textuellen Zusammenhängen einen Forschungsgegenstand zahlreicher Einzeldisziplinen dar, neben den Literatur-, Sprach- und Editionswissenschaften beschäftigen sich alle historischen Geisteswissenschaften mit Textüberlieferung. Für Forschung zur Überlieferungs- und Gedächtnisthematik ist zudem ein interund transdisziplinärer Zugang nicht nur vieler (universitärer) Forschungseinrichtungen, sondern auch von „Gedächtnisinstitutionen“ wie Bibliotheken und Archiven offensichtlich, was die Ausarbeitung eines stringent buchwissenschaftlichen Ansatzes zu komplizieren scheint. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit den theoretischen Perspektiven und Ansätzen anderer Disziplinen und Institutionen liegt daher nahe. Einschlägige Forschungslinien, die dieses Feld intensiv berühren, wie etwa die ‚Materialen Textkulturen‘ und ‚Episteme in Bewegung‘, sind als Sonderforschungsbereiche mit jeweils interdisziplinärem Ansatz konzipiert. Die ‚Materialen Textkulturen‘ beschäftigen sich mit gedächtnisstiftenden schrifttragenden Artefakten generell. Die konzeptionellen Grundlagen beziehen sich u.  a. darauf, Gedächtnismedien sowohl in Hinblick auf ihre „produktionsseitige als auch […] rezeptionsseitige Funktionalisierungen in den Blick nehmen“ und nach möglichen Zusammenhängen zwischen der Materialität der Artefakte und den Zielgruppen von Gedächtnismedien zu fragen (www.materiale-textkulturen.de). Buchforschung bedient entsprechende Fragestellungen und gehört in diese Kontexte. Auffallend ist allerdings, dass in das Konzept dieses Sonderforschungsbereichs die universitäre Buchwissenschaft nicht einbezogen ist.

484 

 VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis

Für die Anschlussfähigkeit der Buchforschung wäre die Ausarbeitung eines von ihrem Medium ausgehenden transdisziplinären Ansatzes zur Gedächtnis- und Erinnerungsforschung lohnend und notwendig. Bislang fehlt ohnehin eine klare Positionierung der Buchforschung innerhalb der vielfältigen Ansätze zur Thematik des kulturellen Gedächtnisses. Dazu wären zunächst begriffliche Klärungen zu leisten. Neben diesen konzeptionellen Desideraten empfehlen sich eine Reihe von inhaltlichen Feldern für systematische Forschungen, die auch an den theoretischen Perspektiven anderer gedächtsnisforschender Disziplinen anschließen. Potential liefern materialitätsorientierte sowie sammlungsgeschichtliche Ansätze, die sich den bislang zu wenig beforschten Fragen widmen, inwiefern etwa Ausstattungsmerkmale wie Beschreibstoff, Schrift, Typografie, Format, paratextuelle Gestaltung u.  a. m. die Rezeption von Texten und Werken mit identitätsbildender Wirkung beeinflussen, bzw. an der konkreten Sammlungs- und Nutzungsgeschichte bestimmter historischer Bestände Kanonisierungsprozesse von und Wertzuschreibungen an Bücher nachvollziehbar machen. Erwähnt wurde auch das Desiderat eines systematischen Ansatzes, der sich den Übergängen der unterschiedlichen medialen Tradierungsformen und den Brüchen und Leistungen in Hinblick auf Textüberlieferung und kulturellem Gedächtnis widmet. Dazu gehört eine von Michael Giesecke angemahnte soziokulturelle Studie zum Übergang der oralen in die handschriftliche ‚Informationsverarbeitung‘. Vor allem aber bietet sich hierin auch eine Auseinandersetzung mit der digitalen Transformation, die in diesem Beitrag aus dem Kontext Überlieferung und kulturelles Gedächtnis bisher ausgeklammert wurde. Bibliotheken stehen wie alle kulturgutbewahrenden Einrichtungen vor der Anforderung einer umfangreichen Digitalisierung ihrer Bestände. Die technische Reproduktion der originalen Objekte sowie die Verwaltung und Bereitstellung der digitalen Kopien mit den zugehörigen Metadaten geben seit dem Beginn von Massendigitalisierungsvorhaben Anlass zu einer fortwährenden Diskussion darüber, ob und inwieweit die Originalität und authentischen Überlieferung von Büchern sowohl als Werke wie auch als Artefakte erreicht und gewährleistet werden kann. Forschungsfragen ergeben sich etwa dazu, wie die beliebige Reproduzierbarkeit von Textträgern, die praktisch unbeschränkten Kopien der Kopie die Wahrnehmungs- und Gedächtnisfunktionen in soziokulturellen Zusammenhängen beeinflussen und verändern kann. Versprechen besonders kommerzielle Träger zwar im Idealfall die Demokratisierung von Bildung und die Freiheit der Information, so ist gerade in Hinblick auf identitätsbildende Narrative und Kanonisierung von Literatur zu untersuchen, inwieweit durch eine Trennung von in Bibliotheken aufbewahrten originalem kulturellem Erbe und durch kommerzielle Plattformen verwaltete Reproduktionen unterschiedliche Bewertungsebenen dessen, was als kulturelles Gedächtnis verstanden wird, entstehen. Bern-

Literatur 

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hard Serexhe weist zurecht auf die Bedeutung von Forschungen dazu hin, „in welcher Form das kulturelle Gedächtnis  – Literatur, bildende Kunst, historische Dokumente, Filme, Fotografien – den zukünftigen Generationen am besten überliefert werden sollte“ (Serexhe 2015, 64).

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VIII Makroskopische Perspektiven der Buchforschung

VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation Svenja Hagenhoff

1 Gegenstandsbereich 1.1 Bezugssystem Der Beitrag thematisiert die technischen Aspekte der Buchkommunikation als System. Das System enthält Medien als Artefakte, die basal der Speicherung und der Verbreitung von Kommunikaten dienen. Die Artefakte müssen hierfür mobil und relativ robust sein. Die zu speichernden und zu verbreitenden Kommunikate müssen mithilfe eines nichtflüchtigen Zeichensystems dargeboten werden. Über die verschiedenen Epochen hinweg – von der Antike bis zur ‚digitalen‘ Gegenwart – genügen lediglich die Schrift und das statische Bild als flächenpositionierte, mehrheitlich visuell (seltener: haptisch) zu rezipierende Zeichensysteme diesen Fixierbarkeitsbedingungen. Buchkommunikation wird von Institutionen begleitet, die die Spielregeln einer Gesellschaft darstellen. Als menschengemachte Beschränkungen menschlicher Interaktion vermindern sie als Verhaltensrichtlinien Unsicherheiten. Diese Richtlinien können legale, normativ-moralische oder kulturell-kognitive Ausprägungen annehmen und Buchkommunikation priviligieren, verhindern oder in bestimmte Richtungen lenken. Das Beschriebene liefert den sozialen Kontext, in dem Technologie oder Technik als Untersuchungsgegenstand besprochen werden sollen. Der Aufsatz nähert sich dem Gegenstand Technologie im System der Buchkommunikation in drei Perspektiven. In der Perspektive ‚Menschen, Maschinen und Autoagenten‘ stehen erstens abstrakte Akteure im Fokus, die die Buchkommunikation funktional mittels Arbeitsleistung ermöglichen. Die Technisierung ist hier ein Prozess der fortschreitenden Mechanisierung und Autoagilisierung, damit verbunden ist in einem soziotechnischen System auch die Verschiebung von Rollen und Möglichkeiten und die Neuverhandlung von Machtkonstellationen. Die Perspektive ‚Versorgen und Entsorgen‘ widmet sich zweitens dem Umstand, dass das System der Buchkommunikation einerseits (knappe) Ressourcen als Inputfaktoren benötigt, andererseits auch Gegenstände erzeugt, die aus dem System als Abfall oder ausgedientes Objekt wieder ausgleitet werden. Knappheit ist ein zentraler Motor der Entwicklung von neuen Technologien, die substituierend oder recyclierend eingesetzt werden. Gleichzeitig ist die Entwicklung von Technologien in Form komplexer Material- oder Rohstoffverbünde auch die Ursache für Entsorgungsprobleme. Buchhttps://doi.org/10.1515/9783110745030-021

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 VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation

kommunikation kann drittens nur dann tatsächlich stattfinden, wenn Rezipienten Zugang zu den Kommunikaten haben. Dieses setzt zum einen ein zweckadäquat zu handhabendes Medienobjekt voraus. Die Beschaffenheit des Nutzungsobjekts wirkt darauf, wie mit diesem umgegangen werden kann und ob es überhaupt als Problemlöser in einer Kommunikationssituation dient. Buchkommunikation findet aber auch nur dann statt, wenn die Kommunikate zur Zirkulation gelangen. Bücher, die nicht gelesen werden und über die niemand spricht, sind reine Massenspeicher. „Zirkulation ist daher das zentrale Kriterium aller Kommunikationsmedien“ (Bickenbach und Maye 2009: 21). Die Bedingungen des Zugangs zu Kommunikaten sind dabei ein nur schwer sortierbares Konglomerat aus Parametern technischer, logistischer, finanzieller, sozialer, intellektueller oder motivationaler Art.

1.2 Techniken und Technologien Im Rahmen dieses Beitrags wird unter Technik bzw. Technologie abstrakt ein planvolles Vorgehen (Technik) oder ein Artefakt (Technologie) verstanden, das zur Lösung eines Problems bewusst eingesetzt wird. Das Vorgehen oder das Artefakt ist menschengemacht und künstlich und unterscheidet sich damit von natürlichen Problemlösern, wie z.  B. Sonne als Licht- oder Wärmequelle. Von den ebenfalls menschengemachten schönen Künsten unterscheiden sich Techniken und Technologien durch die Nützlichkeit im Sinne der erwarteten problemlösenden Wirkung, die sich abstrakt in Vereinfachung, Entlastung, Ersatz, Steigerung oder Stabilisierung entfalten kann. Die techniksoziologische Literatur (z.  B. Schrape 2021 und die dort verarbeitete Literatur) unterscheidet idealtypisch drei Ausprägungen der Technisierung. (1) Sachtechniken sind als Artefakte oder Dinge vergegenständlicht. Sie weisen beschreibbare Eigenschaften auf wie Größe, Form, Gewicht, Material, Energieverbrauch, Funktionsumfang oder Kompatibilität. Üblicherweise wird mit Sachtechniken mechanische Materialität in Verbindung gebracht, die mit Berührbarkeit einhergeht (Handpresse: aufklappen, zuklappen, Druck ausüben). Sie umfassen argumentativ konsequent aber auch unberührbare, digitale Objekte, wie Webseiten oder Apps als Laufzeitumgebungen oder Software als Werkzeug (siehe Abschnitt 4.1). (2) Handlungstechniken sind habitualisierte Abläufe. Sie können in Form einge­ übter körperlicher Bewegungen (z.  B. Handsatz im Druck mit Bleilettern, Blättern in einem Kodex) oder durch den Einsatz autoagiler Sachtechniken selbst­ tätig (automatisch) vollzogen werden (z.  B. autojustierender Satz eines digitalen Mediums). Abläufe zeichnen sich durch eine Kette von einzelnen Arbeits- oder Handlungsschritten aus, die sich wiederholen können oder in Abhängigkeit von Bedingungen ausgelassen oder aktiviert werden. Rammert (2016: 11) nennt

1 Gegenstandsbereich 

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Abläufe habitualisiert, wenn Handlungen quasi-automatisch ablaufen, also ohne bewusstes Nachdenken darüber, warum etwas wie praktiziert wird. Habitualisierung bedeutet jedoch nicht, dass Handlungen einfach autoagilisierbar sind: komplexe Routinen bzw. Praktiken sind oftmals nur schwer explizierbar und beschreibbar, was die Voraussetzung dafür ist, dass Handlungen durch eine zu gestaltende Technologie selbsttätig vollzogen werden (siehe Abschnitt 3.1). Auch der Umgang mit Ausnahmen oder sehr spezifischen Konstellationen kann auf der Basis von Erfahrungen gut routiniert erfolgen, aber nicht zwingend autoagil werden. (3) Zeichen- oder Symboltechniken umfassen Möglichkeiten einer regelhaften Codierung und Decodierung von Informationen, Kommunikaten oder Botschaften. Die Verwendung von Sprache als regelhaft eingesetztem Vokabular erlaubt es, Sachverhalte zu beschreiben, Argumentationsketten aufzubauen oder Schlussfolgerungen zu ziehen (Funken und Ellrich 2008: 219) und hierdurch Verständigung und Verhandlung in Gesellschaft bzw. innerhalb von Personengruppen zu praktizieren. Bilder und Schrift als Zeichensysteme ermöglichen seit Jahrtausenden die Fixierung von Aussagen, die damit zeitlich und je nach Trägermedium gegebenenfalls räumlich unabhängig genutzt werden können. Zeichen- und Symboltechniken erlauben auch die Verarbeitung von Informationen in Form von Rechenkalkülen, Vergleichen oder Sortierungen. Ong (2016: 87) bezeichnet die Technik des Schreibens bzw. die Schrift als die „wichtigste technologische Entwicklung der Menschheit“. Die drei Ausprägungen von Technisierung sind idealtypischer Art und treten oft in enger Verwobenheit auf: „Unter Technik verstehen wir demnach die Gesamtheit der in der Gesellschaft kreativ und künstlich eingerichteten Wirkzusammenhänge, die aufgrund ihrer Form, Funktionalität und Fixierung in verschiedenen Trägermedien [Sach-, Handlungs-, und Symboltechniken] zuverlässig, dauerhaft und wiederholbar erwünschte Effekte hervorbringen“ (Rammert 2016: 12). Das kodexförmige Buch kombiniert z.  B. die Sachtechnik des gebundenen Stapels aus Beschreibstoff (z.  B. Papier), die Handlungstechnik des Aufschlagens und Blätterns und die flächenorientierte Zeichentechnik der Schrift- und Bildkommunikation (siehe II.1 Materielle Semantiken in diesem Band), die lesend rezipiert wird (siehe III.1 Lesen in diesem Band).

1.3 Soziale Zusammenhänge und technische Funktionsträger Techniken und Technologien als Problemlöser sind keine isolierten Entitäten (Bleilettern, Drucken, Künstliche Intelligenz, Kodex), die qua ihrer Eigenschaften

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 VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation

(z.  B. groß, klein; leicht, schwer; präzise, grob; scharf, unscharf etc.) einfach funktionieren und die gewünschten oder gar darüberhinausgehende Effekte entfalten. Vielmehr findet sowohl die Herstellung und Entwicklung als auch die Nutzung und Verwendung dieser Problemlöser in komplexen Gefügen aus vorhandenen sozialen Prozessen und Praktiken (Organisationsstrukturen, Arbeitsabläufen, Usancen, Wissen, Erfahrung) sowie gesellschaftlichen Prämissen und Rahmenbedingungen (Gesetzen, Normen, Kultur) statt (in Anlehnung an Schrape 2021: 372). Dieses soziale Gefüge wirkt als Ermöglicher und Verhinderer des Einsatzes von Technik und Technologie. Einige Ermöglicher und Verhinderer können aktiv beeinflusst bzw. gestaltet werden, sie sind sichtbar (Förderung, Verbote). Andere sind tief in Denk- und Handlungsmuster eingeschrieben (Erfahrungen, Zuschreibungen, Überzeugungen). Sie sind zunächst unsichtbar und können kaum oder nur längerfristig beeinflusst werden. Ermöglicher und Verhinderer beeinflussen die Formgebung, Produktion und Diffusion neuer Techniken und Technologien und deren Wirkungen und Konsequenzen auf bzw. für die Gesellschaft. Die Assemblage aus den funktionalen Eigenschaften der technischen Problemlöser als Kombinationen aus Sach-, Handlungs- und Symboltechnik, ihrer praktischen Benutzbarkeit und ihres mit menschlichen Aktivitäten verschränkten faktischen Einsatzes in Prozessen oder Situationen und ihrer erwarteten Effekte einerseits sowie ihrer Einbettung in soziale Ermöglichungs- und Verhinderungsstrukturen andererseits wird als soziotechnisches System bezeichnet: „Der Druck ist in Europa weniger eine technologische Erst-Erfindung  – Buchdruck gab es schon in China und Korea – als eine komplizierte Verbindung von technologischer Innovation und einer speziellen Einbindung dieser neuen Technik in die Gesellschaft“ (Wegmann 1998: 372). Mit Latour (1990: 23) ausgedrückt erzeugen Medien als Ansammlungen von Technologien nicht einfach Vorteile oder Effekte (z.  B. Kommunikationsrevolutionen), sondern nur in der Zusammenführung mit Machtkonstellationen (Agonistik) können sie überhaupt Erklärungen ermöglichen.

2 Disziplinäre Zugänge Technik als Forschungs- und Lehrgegenstand wird in verschiedenen Disziplingruppen in unterschiedlicher Intensität und mit divergenten Erkenntniszielen behandelt. Grob vereinfachend werden im Folgenden die Disziplingruppen Technikwissenschaften sowie Kultur- und Gesellschaftswissenschaften unterschieden. Der Erkenntnisgegenstand der Technikwissenschaften ist die objektive Funktionalität von vorhandener oder als realisierbar erachteter Technologie: Im Fokus steht die Frage, ob und wie etwas geht, das grundsätzliche Erkenntnisziel ist erklärender und gestaltender Art, die Disziplinen arbeiten optionenerweiternd. Allen

2 Disziplinäre Zugänge 

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Technikwissenschaften ist gemein, dass die soziotechnischen Dimensionen in den originären Erkenntnisgegenständen und -zielen eher fehlen, was schon früh von z.  B. Mowshowitz (1984) für Computertechnologien bemängelt wurde. Jüngst ist dieses Defizit im Zusammenhang mit dem Hype-Thema Künstliche Intelligenz unter dem Stichwort Value Sensitive Design auf der Basis der Arbeit von Friedman und Nissenbaum (1996) wieder stärker in der Diskussion, aber ohne dass eine systematische Integration dieser Perspektiven in die Forschungs- und Lehrgegenstände der Technikwissenschaften stattfinden würde. Im Rahmen des wissenschaftlichen Diskurses um die Buchkommunikation sind die Arbeiten aus dem Fächerspektrum Maschinenbau, Werkstoffwissenschaft oder Elektrotechnik zunächst von nachrangiger Bedeutung, sind die im Fokus stehenden Erkenntnisse zu technischen Machbarkeiten und Funktionsweisen erst dann relevant, wenn sich daraus praktische Produkte oder Prozesse entwickelt haben, die im realen Leben zum Einsatz kommen und dann auf die Medienkommunikation einwirken. Die Veränderung oder Vergrößerung von Optionenräumen durch Technologieentwicklung führt allerdings dazu, dass die hier fokussierte Buchkommunikation in ihren Eigenschaften immer unspezifischer und unbestimmbarer wird und sich potenziell in einer allgemeinen Medienkommunikation auflöst: Die Fixierbarkeit eines Zeichensystems ist längst nicht mehr auf Schrift und statische Bilder limitiert; neue Materialien ermöglichen irgendwann ganz andere mediale Formate oder andere physische Schnittstellen zu den Wahrnehmungsorganen. Kuhn und Hagenhoff (2015 und 2017) schlagen daher auch vor, Medien als Eigenschaftsbündel aufzufassen und ihre konkreten, empirisch beobachtbaren Ausprägungen in abstrakten, mehrdimensionalen Eigenschaftsräumen zu positionieren sowie den Betrachtungs- und Analysefokus ohnehin weg vom Artefakt hin zur Kommunikation als Handlung zu lenken. Deutlich näher am Betrachtungsobjekt liegen die Gegenstände der Informatik, die sich der automatisierten Verarbeitung und Übertragung von Information bzw. Zeichen widmet (Paech und Poetzsch-Heffter 2013: 245). Da die Medienkommunikation selbst ein zeichenverarbeitender und -transportierender Apparat ist, müssten Fragen der geeigneten Codierung und Decodierung von Aussagen bzw. Informationen, ihrer Speicher- und Übertragbarkeit sowie der Autoagilisierung einzelner Bestandteile des Apparats (Produktion, Distribution und Rezeption) immanent auch Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchungen zur Buch- bzw. Medienkommunikation sein. Die Kultur- und Gesellschaftswissenschaften als Gruppe von Disziplinen, die das Miteinander von Menschen (Interaktionen, Praktiken, Regeln, Ordnungen, Strukturen), ihre Diskurse, Performances, hervorgebrachten Artefakte und den Umgang damit zum Gegenstand haben, widmen sich den Entstehungszusammenhängen, der Bedeutung und den Folgen von Technologien für Individuen oder Gruppen, den

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 VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation

Diffusionsprozessen von Technologie und den daraus resultierenden Beschaffenheiten von Institutionen, dies für gegenwärtige wie für vergangene Techniken. Das Erkenntnisziel ist sehr häufig beschreibender, erklärender, problematisierender oder reflektierender und sehr viel seltener gestaltender Art, wenn z.  B. Vorschläge zur Ausgestaltung von Regeln im Umgang mit Technik unterbreitet oder bewertet werden (sollten). Oftmals fehlt es in diesen Disziplinen an basalem technikwissenschaftlichem Verständnis. Schmidgen (2012) kritisiert ebenso wie Schäfer und Wessler (2020: 310), dass die Untersuchungsgegenstände Technik und Technologie daher im Zustand einer nur von außen beschreibbaren Black Box verbleiben. Passig (2017) argumentiert auf breiter Literaturbasis, dass auch menschliche Entscheidungsroutinen intransparent sind und plädiert dafür, an Technologien (konkret: Software) keine strengeren Maßstäbe anzulegen als an die ‚Black Box Mensch‘ auch. Auffällig ist, dass Technologien in der Regel als Auslöser und Treiber von Veränderung oder Wandel in der Medienkommunikation behandelt werden mit vermuteten ‚tiefgreifenden‘ Konsequenzen für das gesellschaftliche bzw. menschliche Miteinander oder die Conditio Humana an sich (siehe IV.3 Medienwandel in diesem Band). Vor allem bei gegenwartsbezogenen Veränderungsdiagnosen mangelt es dabei oftmals an der Benennung des Referenzzustands und -zeitpunkts, der benötigt würde, um einen Wandel grundsätzlich feststellen zu können und um fundierte Aussagen über Differenzqualitäten zwischen verschiedenen Problemlösern der Medienkommunikation (z.  B. Buchkommunikation, Social-Media-Kommunikation) treffen zu können (differenzierter hierzu Hagenhoff 2020: 4; allgemein König 1994).

3 Menschen, Maschinen und Autoagenten 3.1 Verteilung von Arbeit auf Mensch und Maschine Die Mechanisierung zielt darauf ab, dass Handlungen als Tätigkeiten zur Lösung eines Problems nicht exklusiv von Menschen und damit in Hand- und Kopfarbeit sowie Kraftaufwand vollbracht werden, sondern zumindest Teile der benötigten Aktivitäten von Maschinen als Arbeitsmittel vollzogen werden. Von der Mechanisierung verspricht man sich entweder höhere Wirkgrade oder aber Entlastung. Die Literatur hält verschiedene Modelle der Verteilung von Arbeit auf Mensch und Maschine bereit, angefangen von reiner Handarbeit über die Nutzung passiver Werkzeuge hin zu vollständig autoagilen Maschinen oder Systemen. Rammert (2003) unterscheidet für die genauere Bestimmung dieser Verteilung differenziert vier Dimensionen, die in Abbildung 1 verdichtet dargestellt werden.

Ausführung der Arbeitsschritte

Wahrnehmung der Umweltkonstellation

Steuerung & Regelung

Aktorik

Sensorik

Informatik

Passive Techniken Aktive Techniken

Reaktive Techniken

moderne Computer & Software als System, z.B. Steuerung von Förderbändern in der Medienlogistik, automatischer Satz für Druckmedien

in der Bauweise von Maschinen, wie Druckerpresse oder erste Papiermaschine, angelegt

Aktivität durch Mensch

flexibel programmiert & zentral geplant

Textverarbeitung: Anzeigen von Tippfehlern, Meldung der Überschreitung des bedruckbaren Bereichs der Seite

Handsatz angepasst auf Papierformat

fest verdrahtet & zentral geplant

sensitiv

autojustierend

Interaktive Techniken

Transaktive Techniken

Aktivität durch Technik

[keine spezifischen Beispiele in der Domäne der Medienkommunikation bekannt]

autonome Fahrzeuge

autonom und ohne zentrale Planung

Responsive Design elektronischer Medien in Abhängigkeit von Größe und Ausrichtung des Anzeigegeräts

Papiereinzug Zeilensatz mit der Setzmaschine

Papierbögen einlegen Zeile aus Lettern in den Winkelhaken montieren fremdabgestimmt

automatisch

Druckmaschinen oder Papiermaschinen zunächst mit Dampfantrieb, dann mit Zufuhr elektrischer Energie

Druckerpresse oder Papiermaschine: Bewegung durch menschliche Kraftanstrengung (ziehen, kurbeln) fremdbetätigt

automotiv / automobil

unbewegt

Ausprägungen von … bis Beispiele

Abb. 1: Dimensionen der Autoagilität von Maschinen oder Technologien sowie Aktivitätskontinuum.

Bewegung durch Zuführung von Energie

Motorik

Gegenstand der Autoagilität

3 Menschen, Maschinen und Autoagenten   499

500 

 VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation

Die Motorik fokussiert auf die Bewegung von Teilen und den hierfür nötigen Antrieb in Form von Energiezufuhr. Die menschliche Kraft ist dabei ein äußerst limitationaler Faktor und begrenzt den Wirkungsgrad von Maschinen erheblich. Die eigentliche Ausführung der Arbeit (Aktorik) kann fremdbetätigt oder automatisch erfolgen. Die Ausführung der Arbeit endet, wenn ein definiertes Ziel erreicht oder die bereitgestellte Energie verbraucht ist. Die automatische Aktorik setzt nichtmenschliche Bewegungsenergie wie Wasserkraft, Dampfkraft oder Elektrizität voraus. Sollen Prozesse in Abhängigkeit von Umweltbedingungen ablaufen, bedarf es der Wahrnehmung (Sensorik) dieser Umwelt. Fremdabgestimmte Technologien erfordern die menschliche Wahrnehmung der Umweltzustände und einen dann entsprechenden Umgang mit der Maschine. Autojustierende, also reagible Technologien erfordern eine Sensitivität für die Umweltzustände. Dazwischen liegen sensitive Technologien, die jedoch nicht selbstständig reagieren, aber z.  B. alarmieren. Die Steuerung und Regelung (Informatik) der Arbeitsausführung der Maschine kann zentral geplant und fest verdrahtet ausgestaltet sein, zentral geplant, aber flexibel programmiert oder ohne zentrale Planung auf Basis verteilter problemlösender Komponenten erfolgen. Historisch betrachtet funktioniert die Steuerung der Mehrheit der Maschinen in fest verdrahteter Form, ihre Funktions- und Arbeitslogik ist in ihrer Bauweise manifestiert. Ausnahmen von diesem Standardszenario sind der mechanische Webstuhl von Jaquard, dessen Bewegungen mittels Lochkarten anwendungsfallspezifisch (das zu webende Muster) flexibel gesteuert wurden, sowie die  – allerdings nie gebauten  – Rechenmaschinen von Charles Babbage. Dieses Prinzip der flexiblen Programmierung wurde mit der Entwicklung von Computern (als Universalmaschinen) und Software (als Spezifikationsroutinen) weiter elaboriert. Eine weitere Autonomiestufe ist die der autonomen Steuerung in verteilten Systemen ohne zentrale Planung. Voraussetzung hierfür ist die selbstständige Wahrnehmung der Umweltzustände und die autonome Anpassung der Aktivitäten der Teile des Systems. Rammert (2003) kombiniert diese Dimensionen zu einem Kontinuum des verteilten Handelns zwischen Mensch und Maschine bzw. Technologie, auf dem verschiedene Ausprägungen der Gesamtperformanz eines technischen Systems abgetragen sind (Abb. 1).

3.2 Am Ende des Kontinuums: Autoagieren Einen differenzierteren Blick erfordert das Autoagieren als Extremstufe der vier Dimensionen Motorik, Aktorik, Sensorik und Informatik. Bereits 1956 stellt Solow (153) zum einen fest, dass die Automatisierung – Solow benutzt wie häufig in der Literatur den Begriff Automatisierung als Sammelbegriff für die verschiedenen Facetten des Autoagierens – letztlich auch nichts anderes sei als das Wort „mecha-

3 Menschen, Maschinen und Autoagenten 

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nization“ bereits abdecke: „replacement of men by machines.“ Zum anderen könne Automatisierung dennoch eine andere Qualität haben: „What complicates mechanization concepts today and has let ‚automation‘ into the language without clear meaning is, apparently, one fact. Two human functions are theoretically replaceable—the providing of energy and the handling of information. Mechanization has long been replacing the first, and now it is replacing the second at an impressive rate.“ Automatisiert werden können auch geistige Prozesse – also solche in Dimension 4: Steuern und Regeln  – und nicht nur Bewegungen von Objekten. Krämer (1994: 157) führt aus, dass die Evolution von technischen Systemen neben ‚Werkzeugen‘ eben auch ‚Denk-zeuge‘ einschließt. Geistige Prozesse umfassen aber mehr als nur diejenigen der Steuerung und Kontrolle der Bewegungen von Objekten. Sie umfassen auch das Planen oder Interpretieren sowie das kreative Schöpfen oder Erdenken von Ausdrucksformen in Form von z.  B. Kunst, Musik, Literatur oder jeder Form von Kommunikat. Die obige Dimension Informatik ist daher zu eng ausgelegt. Nach Paech und Poetzsch-Heffter (2013: 245) hat Informatik das Ziel, „geistige Tätigkeiten von Lebewesen und nicht-physikalische Prozesse in Gesellschaften und Organisationen zu unterstützen und zu automatisieren“. Im System der Medienkommunikation lassen sich zwei größere übergeordnete Funktionszusammenhänge identifizieren, in denen auf der Basis von Verdatung und des Einsatzes algorithmischer Operationen geistige Tätigkeiten autoagil werden können. Algorithmen können große Mengen von Entitäten erstens sortieren, zuordnen oder selektieren. Der Funktionsbereich ist nötig, damit Menschen sich in größeren medialen oder kommunikativen Angeboten orientieren können. Dieses umfasst auf der einen Seite die Wahrnehmung und Auffindbarkeit relevanter Kommunikate oder Medien (hierzu Hagenhoff 2022). Auf der anderen Seite gehört hierzu auch die Vermeidung von Fehlentscheidungen, die zeitliche oder geldliche Kosten verursachen. Seinen Nutzen entfaltet der Funktionsbereich überall dort, wo die Menge der Entitäten, die selektierend verarbeitet werden sollen, sehr groß und vielschichtig ist: „Denn je komplexer das mediale System einer Kultur ist, desto ausgeprägter wird das Verlangen nach Meta-Informationen zum vorhandenen Wissen, also nach ordnenden, steuernden und transformierenden Funktionen der medialen Subsysteme (wie Deskriptionen, Übersetzungen, Interpretationen, Hilfssysteme)“ (Hartmann 2002: 257). Beck und Jünger (2018: 21) sprechen vom Publizitätsparadoxon: je einfacher die Möglichkeiten zu publizieren, desto größer das Angebot und desto kleiner aber auch die Chance der Wahrnehmung und der tatsächlichen Zirkulation des Kommunikats (siehe Abschnitt 5.2). Autoagilisierungspotenzial liegt dort vor, wo die manuelle Erfassung und Verarbeitung der Entitäten nicht mehr effizient oder vollständig geleistet werden kann. Entitäten können sowohl Artefakte (Buch, Notenblatt, Zeitungsartikel) als auch Aussagensysteme  – Argument,

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 VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation

Diskursbestandteil, Bilder; abstrakt: Zeichenfolgen, Pixelhäufungen oder Tonsequenzen – sein. Konkrete Beispiele für den Funktionszusammenhang Zuordnen, Sortieren und Selektieren sind die Sortierung von Buchtiteln zu Warengruppen (Buchhandel) oder Signaturbereichen (Bibliothek), die Empfehlung von passenden Werken für die Interessenslage individueller Rezipienten oder die Bewertung von Manuskripten auf ihre Passigkeit zum Verlagsprogramm oder ihre Ähnlichkeit zu bereits Erfolgreichem. Aber auch Instrumente wie Register und Verschlagwortung von Korpora, die sich als Bestandteil insbesondere von Buchmedien über die Jahrhunderte entwickelt haben (Duncan und Smyth 2019), sind Beispiele für grundsätzliche Ordnungs- und Finde-Technologien. Als Filter für Zuordnungs- und Auswahlroutinen dienen allgemeine Bedingungen, wie ‚ähnlich zu‘, ‚identisch mit‘ oder ‚relevant für‘. Für die Anwendung autoagiler Routinen müssen die Bedingungen in Form eines Modells als Repräsentation der Welt hinterlegt werden: Es bedarf einer Explikation eines Konstrukts wie ‚hinreichend ähnlich‘ oder ‚identisch mit‘, beispielsweise durch manuelles Tagging von digital vorliegenden Trainingsdatenbeständen, Anlegen von Wortlisten oder Definition eines Cut-Off-Scores in einem Kennzahlensystem (exemplarisch für die Ähnlichkeit von Büchern: Wojciechowski und Gorzynski 2016; Archer und Jockers 2016). Zusätzlich zu einem Modell wird ein konkreter Datenbestand benötigt, mit dem die zu sortierenden oder vergleichenden Entitäten repräsentiert werden. Zu unterscheiden ist die Arbeit auf Metadaten, die die eigentlichen Kommunikate mittels Attributen in Form eines strukturierten Datensatzes beschreiben und die Arbeit auf Basis der Kommunikate selber, die als digitaler Korpus vorliegen. Beide Varianten erfordern eine in der Regel aufwändige Aufbereitung der Datenbestände: Daten und ihre Analyse erhalten immer nur Sinn innerhalb spezifischer soziokultureller Entstehungs-, Deutungs- und Handlungskontexte, sie stehen niemals ‚einfach so‘ als kontextfreies Rohmaterial (Gitelman 2013) in der benötigten Qualität zur Verfügung. Für eine umfängliche Übersicht verschiedener Zugänge zur quantitativen, datenbasierten ‚Vermessung‘ und ‚Analyse von Kultur‘ sei auf Mohr et al. (2020) sowie die differenzierte Besprechung von Fuhse (2020) verwiesen, als grundlegende Abhandlung über ‚Engines of Order‘ ist Rieder (2020) zu nennen. Analysiert und repliziert der beschriebene Weltzugriff zunächst lediglich Bekanntes und hinreichend Ähnliches auf der Basis vorhandener sowie aufbereiteter Datenbestände und Korpora – prominente Beispiele sind poese.exe, The Next Rembrandt oder Portrait of Edmond De Belamy – stellt sich die Frage, ob oder in welchen Ausprägungen zweitens kreatives (Neu-)Schöpfen von Kulturgegenständen und Kommunikaten autoagil werden kann. Kreativität und Kultur-Machen gelten als Domäne, die originär und exklusiv dem Menschen vorbehalten sein könnte (Mersch 2019: 65). Als kreativ gelten Arbeitsergebnisse (das Folgende bei Reckwitz 2016: 185–214 und 249–270), die sich nicht aus allgemeingültigen Regeln

3 Menschen, Maschinen und Autoagenten 

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ableiten lassen und damit von bekannten Mustern abweichen. Sie sind insofern andersartig und unterscheidbar vom Bisherigen („schöpferische Alterität“, Bröckling 2013: 179) sowie einzigartig. Auf sozialer Ebene weicht das kreativ Neuartige vom Normalen und Erwarteten ab und hat damit zumindest das Potenzial zur Überraschung (Boden 2016: 67). Die „moderne Gesellschaft als soziales Regime“ des ästhetisch Neuen (im Gegensatz zur Nachahmungsästhetik) ist ein Ensemble von „Praktiken, Diskursen, Subjektivierungsweisen und Artefaktsystemen“, das nicht lediglich das Neue duldet, beobachtet oder präferiert, sondern es fördert und aktiv hervorbringt (Reckwitz 2016: 253). Dworschak (2014) polemisiert zum diesbezüglich offenbar als unbefriedigend wahrgenommenen Literaturmarkt: „Werfen nicht heute schon neun von zehn Buchtiteln die Frage auf, wofür es da überhaupt noch Verlage braucht? Das Schüttgut aus der Retorte kann ebenso gut – und viel billiger – ein Algorithmus auf den Markt kippen.“ Die Grenzen dieses Algorithmuskippens benennt Lauer (2020: 50–51): „Und die Fortsetzung von Martins Romanepos [A Song of Ice and Fire weitererzählt durch ein Machine Learning-Verfahren, S. 47] ist deshalb nicht überzeugend, weil bislang kein Machine Learning-System in der Lage ist, die multifaktoriell bestimmte Erzählweise menschenähnlich zu identifizieren und dann fortzuschreiben. Es werden daher nicht ausreichend motiviert neue Figuren eingeführt und auch die erzählte Handlung erscheint menschlichen Lesern nicht plausibel.“ Hall (1997: 2) spezifiziert hierzu: „Primarily culture is concerned with the production and exchange of meanings – the ‚giving and taking of meaning‘ – between the members of a society or group. […] Thus culture depends on its participants interpreting meaningfully what is around them, and ‚making sense‘ of the world, in broadly similar ways.“ Die Befähigung zu ‚making sense of the world‘ setzt im Sinne der Aufklärung voraus, dass der hierfür benötigte Geist (Denken) als personengebundenes Paradigma auf einer Einheit von „Verstand und Wille, von Berechnung und Urteilskraft, von intellektueller und moralischer Kompetenz“ beruht (Krämer 1993: 34). Brandom (2008) spezifiziert weiter, dass bedeutungsvolles Handeln die Fähigkeit der Beurteilung der kontextualisierten, praktischen Konsequenzen erfordert. Hierzu müssen relevante und irrelvante Implikationen unterschieden werden, wofür der Umgang mit Bedeutung und Sinn (Semantik) und nicht lediglich mit formaler Logik (Syntaktik) nötig ist. Dreyfus (1985 [1972]: 182) formuliert drei Größen, die intelligentem Verhalten zugrunde liegen: der Körper als Verankerungsort von Erfahrung; die Situation, die als Kontext Verhalten ordnet, was nicht identisch ist mit Regelhaftigkeit; die Rolle der Bedürfnisse und Zwecke, die Gegenstände als relevant und zugänglich klassifizieren. Fjelland (2020: 7) kommt zu dem Ergebnis, das die Überlegungen Dreyfus’ trotz der enormen Entwicklung autoagiler Routinen in den letzten 50 Jahren nach wie vor Gültigkeit haben, da Computer „are not in the world.“ Taylor et al. (2001: 137) differenzieren in diesem Zusammenhang soziale von materiellen Agenten (‚agency‘). Während

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 VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation

erstere intentional handeln, können letztere nur ohne eigene Intention handeln, sie stellen lediglich ausführende Apparate dar. Bunz (2019: 273) argumentiert, dass die Zuschreibung des Bedeutung-erzeugen-Könnens an die als Künstliche Intelligenz bezeichneten Technologien eine Fehlzuschreibung sei, denn „new AI systems are imitating the understanding of meaning by calculating it, but they are not understanding – they lack the ability to link their classifications in an integrated way to a wider, constantly shifting context.“ Bajohr (2022) bezeichnet die Ergebnisse solcher massendatenbasierter Kalkulationen als „Dumme Bedeutung“. Zusammengefasst können autoagile Routinen zum Neuschöpfen kultureller Artefakte eher als datenauswertende Brute-Force-Apparate bezeichnet werden, als dass sie schöpferische Alterität zu erzeugen vermögen.

3.3 Digitalisierung = Autoagilität & Vernetzung Im Zusammenhang mit den Aspekten der Mechanisierung bis hin zur Autoagilisierung ist der schillernde Begriff der Digitalisierung zu behandeln. Er kann in 5 argumentativen Schritten mit Leben gefüllt werden: (1) Etymologisch bedeutet Digitalisierung abzählbar. Digital sind alle Techniken, die mit einer abzählbaren (= festgelegten) Menge an Entitäten arbeiten. Alle gewünschten Aussagen oder Zustände werden regelbasiert durch Kombination und Rekombination einer begrenzten Menge an Entitäten erzeugt. Die Schrift als Zeichensystem ist daher qua Definition digital (für eine elaborierte Interpretation von Schrift als flächenpositioniertes Zeichensystem siehe die zahlreichen Arbeiten von Sybille Krämer). (2) Die für die Aussagensysteme oder Zustände benötigten Entitäten werden mit informationsarmen Zeichen, wie 0 und 1 oder + und – insofern geschickt kodiert, als auf Basis einer solchen Codierung auch gerechnet bzw. operiert werden kann. (3) Mit 0 und 1 binärcodierte Information ist elektrifizierbar. Elektrifizierung ermöglicht Unabhängigkeit von spezifischen Techniken und Materialitäten sowie einfachere Autoagilisierung mithilfe von Universalgeräten (Computer als Hardware) und Software (manifestierter Algorithmus). Elektrifizierung erleichtert Vernetzung zwecks Austausch von Signalen (technisch) oder Kommunikation (sozialwissenschaftlich). Elektronische Universalgeräte sind dabei potente Knoten im Netz der Zeichenzirkulation (Winkler 2004: 213). (4) Potenzielle Totalvernetzung von Hardware erfordert Ubiquität dieser Artefakte, dies wiederum setzt deren Miniaturisierung voraus. In Bezug auf nutzbare mobile Endgeräte ist das Jahr 2007 zu nennen, in dem die Einführung des iPhone den Beginn der Transformation von Hardware in ein Lifestyle-Produkt zur Bewältigung des Alltags markierte. (5) Die tatsächliche Totalvernetzung mit ubiquitärer Hardware erfordert abschließend miniaturisierte Software. Anstelle großer ‚Funktionsmonster‘, wie sie in beruflichen Zusammen-

3 Menschen, Maschinen und Autoagenten 

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hängen üblich sind, dienen funktionsisolierte Apps mit guter Usability als Alltagshelfer. Gleichzeitig sind sie der Quell großer Datenmengen, vor allem in Form von Nutzungs- und Interaktionsdaten (siehe Abschnitt 3.4). Zusammengefasst ist die Digitalisierung die Zerlegung von Informationen und Rechenoperationen in einen Binärcode (Universaltechnologie, konkret 0 und 1), der elektronisch und damit losgelöst von spezifischen Verarbeitungs- und Trägermaterialien mit hoher Geschwindigkeit in großen Mengen und potenziell automatisch und hochgradig vernetzt verarbeitet wird.

3.4 Verschiebung von Rollen, Macht und Möglichkeiten Die Mechanisierung hat das Verhältnis von Mensch und Maschinen verändert und verschoben (Heßler 2019: 236). In den Vor-Digitalen Zeiten haben Maschinen die Leistungsrolle beeinflusst. Durch die Mechanisierung hat sich das Wertschöpfungssystem neu konfiguriert, in dem sich Funktionen auf mehrere Akteure ausdifferenziert oder auf weniger Akteure zusammengezogen haben. Auch andere Arten von Akteuren (z.  B. aktuell Plattformbetreiber) als die bisher jeweils vorhandenen (z.  B. aktuell Verlage) können erforderlich werden. In der Tendenz wurden Wertschöpfungssysteme im Laufe der Zeit immer leistungsfähiger, indem die Wertschöpfung in kürzerer Zeit oder in größerer Menge pro Zeiteinheit erbracht wurde. Verändert hat sich auch die Rolle des Menschen mit seiner Arbeitskraft in der arbeitsteiligen Wirtschaft (Bainbridge 1987). Er hat im angestammten Prozess andere Aufgaben übernommen und z.  B. stärker Planungs-, Kontroll- oder Rüsttätigkeiten ausgeführt, statt Gerätschaften im operativen Prozess zu bedienen (Federkiel, Winkelhaken, Setzerschiff) oder Kraft aufzuwenden (Handpresse). Mechanisierung und technische Veränderung hat auch Menschen mit ihren spezifischen Fähigkeiten oder Rollen im relevanten Gefüge völlig verdrängt (z.  B. Lumpensammler oder Bleidrucker) sowie neue Fähigkeiten erforderlich gemacht: „The fact that Gutenberg had made books from movable metal type was suddenly only a 500-year-long footnote to history. The new machines have made the old mechanical approaches essentially irrelevant: The future of typography depends on the people who know the most about creating patterns of 0s and 1s; it depends on mathematicians and computer scientists“ (Knuth 1999: 7). Mit den Möglichkeiten, die die als Digitalisierung bezeichneten Technologien bieten, erfolgt potenziell eine stärkere Ertüchtigung auch der bisherigen Publikumsrolle: „[…] the word ‚publishing‘ means a cadre of professionals who are taking on the incredible difficulty and complexity and expense of making something public. That’s not a job anymore. That’s a button. There’s a button that says ‚publish‘ and when you press it, it’s done. In ye olden times of 1997, it was difficult

506 

 VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation

and expensive to make things public, and it was easy and cheap to keep things private. Privacy was the default setting. We had a class of people called publishers because it took special professional skill to make words and images visible to the public. Now it doesn’t take professional skills. It doesn’t take any skills. It takes a Wordpress install“ (Shirky 2012). Das Zitat zeigt zum einen eine (unterstellte) Verschiebung der funktionalen Beiträge in der Wertschöpfung des Medien- und Kommunikationssystems von den sehr spezialisierten Akteuren Drucker, Verleger und Medienlogistiker hin zu Entwicklern und Betreibern von relativ unspezifischer Hard- und Software. Es impliziert, dass spezifisches Know-how jenseits des Bereitstellens eben jener technischen Infrastrukturen nicht mehr erforderlich ist, somit jeder auf einmal geschaffener Infrastruktur Inhalte in die Öffentlichkeit kommunizieren kann. Spezifische, vor allem menschengebundene Fähigkeiten, die bisher etablierte Akteure relativ exklusiv besaßen und bereitgestellt haben, würden nicht mehr nötig sein. Zum anderen verdichtet das obige Zitat auch alle Hoffnung, die mit den Kommunikationsmöglichkeiten auf Basis der Internettechnologie im Sinne einer Ertüchtigung in Bezug auf größere soziale Teilhabe (siehe VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe in diesem Band) und mehr Demokratie verbunden sind (waren): Alle können mitmachen und nicht nur ihre Mitteilungen frei von Gatekeepern positionieren und zu Gehör bringen, sondern mit kreativen und kulturellen Beiträgen als New Creative Laborers (Duffy et al. 2019) (endlich) auch Geld verdienen. Das Beispiel Wattpad zeigt qua schierer Menge, dass zumindest für bestimmte Arten von Kommunikaten und Publika relevante Veränderungen im System der literarischen Kommunikation entstehen (z.  B. Kraxenberger und Lauer 2022). Die Bewegung von einem bisher eher passiv gedachten Rezeptionspublikum hin zu einem aktiven, selber kommunizierenden Akteur kann mithilfe der Konzepte der sekundären Leistungsrolle, der Sozialen Skripte sowie der rollentheoretischen Unterscheidung des Role Taking und Role Making weiter theoretisiert werden (zusammenfassende Übersicht bei Volkmann 2010). Kritisch wird diskutiert, dass die Plattformökonomien auf Seite der New Laborers ein neues Prekariat hervorbringen und die Macht zwischen diesen Akteuren einerseits und den Plattformbetreibern und den häufig dahinter sich befindlichen Auftraggebern für das Click Working extrem inhomogen verteilt ist (z.  B. Nachtwey und Schaupp 2022; Duffy et al. 2019). Ebenso wird kritisch beobachtet, welche bzw. wessen Regeln der Kommunikationssteuerung und -kontrolle die Betreiber von Plattformen umsetzen (z.  B. Flew 2021; Seemann 2021). Unter Beobachtung steht sowohl die Unterwerfung unter Regeln solcher Host-Staaten, die politischgesellschaftliche Partizipation einschränken als auch die individuell durch die Plattformeigner aufgestellten und damit rein privat institutionalisierten Regeln. Von sehr spezifischer und konsequenzenreicher Bedeutung für Mediensysteme sind die neuartigen Möglichkeiten der datenbasierten Echtzeit-Beobachtung des

4 Versorgen und Entsorgen 

 507

Mediennutzungs- und Rezeptionsverhaltens, die unter den Stichworten Reader Analytics (Benenson et al. 2019; Kuhn 2019; Lynch 2017), Science Tracking (Kunz 2022; Lamdan 2023; Siems 2021; Hagenhoff 2017) oder Audience Discovery oder Measurement (Andrews und Napoli 2006) verhandelt werden. Die Erwartungen an grundsätzlich mehr Partizipation, mehr Kommunikationsmöglichkeiten oder mehr Demokratie sind also auch mit den Möglichkeiten des Technologiepotpourris ‚Digitalisierung‘ nicht zwingend erfüllt. Vielmehr ergeben sich zunächst neue Informations- und Kommunikations-Regime verbunden mit der Erfordernis, die entstehenden Machtverhältnisse auszuleuchten und gegebenenfalls regulativ einzuhegen. Differenzierter muss medien- und kommunikationshistorisch untersucht werden, wie Macht zwischen den Besitzern bzw. Eigentümern relevanter Technologien (z.  B. Druckstöcke, Letternsätze, Produktionstechnologie für Bedruckstoffe) und denen, die die angebotenen Leistungen nutzen wollten, in anderen Epochen ausgestaltet war und worin genau die Differenzqualitäten struktureller Art zwischen verschiedenen Technologien als Ertüchtiger von Medienkommunikation und den hierfür nötigen Wertschöpfungssystemen liegen. Ein erster Ansatz für einen solchen Zugang findet sich z.  B. bei Leyrer und Hagenhoff (2022). Dolata und Schrape (2022: 22) argumentieren, dass Plattformen nicht nur technische Infrastrukturen sind, sondern mehr oder minder ausgereifte soziale Handlungsräume mit einer starken technischen Grundlage und integriertem Institutionengefüge. Die Trennung von technischen Problemlösern einerseits und der Aushandlung, Akzeptanz und Umsetzung von Spielregeln der Interaktion sowie der kulturellen Praktiken im Sozialraum wären damit stärker integriert und miteinander verwoben („a complex and black-boxed architecture“, Langlois et al. 2009: 416) als dies bei anderen Medien- und Kommunikationstechnologien, wie z.  B. bei Druckerzeugnissen, der Fall war.

4 Versorgen und Entsorgen 4.1 Ressourcen als wertvolle Ermöglicher Ressourcen sind positive Gegebenheiten, Objekte, Mittel, Materialien, Merkmale oder Eigenschaften (Schubert und Knecht 2015: 3), die Menschen bewusst einsetzen, um spezifische Aufgaben, hier Herstellung, Distribution und Rezeption von Büchern, zu bewältigen. Nicht alle Ressourcen sind Technologien (z.  B. Sonnenlicht, Wasserkraft), aber alle Technologien können Ressourcen sein. Ressourcen lassen sich abstrakt über ihre Eigenschaften charakterisieren (hierzu im Folgenden Schubert und Knecht 2015). In Bezug auf ihre Funktions-

508 

 VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation

tüchtigkeit sind diese immer relational und nie absolut funktional. Ihre Funktionstüchtigkeit und Zweckmäßigkeit sind kontextualisiert. Auf gut ausgebauten Straßensystemen können kodexförmige Bücher mittels LKW zu den Distributionsstellen transportiert werden, während in unwegsameren Gegenden ein Transport mit Lasttieren angemessen sein kann (Maultierbibliotheken in den Anden; Pack Horse Library in Kentucky). Wie Ressourcen von Entscheidungsträgern bewertet werden, ist auch nicht alleine von deren objektiven Eigenschaften und aktuellen Kosten abhängig, sondern auch von längerfristigen Zielen, individuellen Sinnzuschreibungen und Wertesystemen und dem sozialen oder kulturellen Umfeld (z.  B. Arlinghaus 2015 für die Wahl zwischen Pergament und Papier). Unternehmeri­ sches Handeln erfordert zeitlich stabile Ressourcen, also solche, die längerfristig zugänglich sind im Gegensatz zu sogenannten passageren Ressourcenerlebnissen. Unterschieden werden zudem potenzielle und aktivierte Ressourcen. Erstere sind als Optionenraum zu verstehen, dessen Elemente nicht alle genutzt werden müssen (siehe Abschnitt 5.1). Letztere sind diejenigen Ressourcen, die als brauchbar erkannt und deswegen gewählt werden. Von erheblicher Bedeutung in Beziehungsgeflechten zwischen Akteuren einer arbeitsteiligen Wirtschaft sind Verfügungsrechte über Ressourcen bzw. Handelsgegenstände. Verfügungsrechte sind keine eigenständigen Ressourcen, sondern sie referenzieren immer auf etwas (z.  B. ein Manuskript) und legen fest, was der Vertragsnehmer mit dem ‚Etwas‘ tun darf. Sie bestimmen somit maßgeblich den Wert der Ressource. Ressourcen sind in der Regel knapp, so dass über die Art der eingesetzten Res­ sour­cen nachgedacht werden muss. Vorhandene Limitationen motivieren aber auch dazu, über technologische wie organisatorische Innovationen nachzudenken und andere Arten von Ressourcen zu entwickeln oder Prozesse und Produkte so zu verändern, dass weniger oder andere Ressourcen zum Einsatz kommen können. Ein prominentes Beispiel ist die Entwicklung des Holzschliffpapiers anstelle des Hadernpapiers, dessen Rohstoff Lumpen mit der zunehmenden Expansion von Schriftmedien immer knapper wurde (zur Papierknappheit z.  B. Mellen 2015). Eine spezifische Ausprägung von Knappheit ist die Endlichkeit. Endliche Rohstoffe als spezifische Ausprägung von Ressourcen sind qua Definition nicht nur temporär knapp, sondern auch grundsätzlich. Erneuerbare Rohstoffe wachsen nach. Rohstoffe sind Ergebnisse natürlicher Prozesse, sie sind damit keine Technologie. Sie werden ausgebeutet und eingesetzt, um sie zu nutzbaren technologischen Ressourcen umzuarbeiten, wie Beschreibstoffe (Papyrus, Holzfasern), Klebemittel (Knochen), Tinte und Druckfarben (Walnüsse, Erdöl, Ruße), Lettern (Holz, BleiZinn-Antimon), Handpressen (Holz) oder Druckmaschinen oder Kabel zur Datenübertragung (Kupfer, Quarzglas). Im Zusammenhang mit Technologie muss die (knappe) Materialität bzw. (vordergründig nicht knappe) Immaterialität von Ressourcen und daraus erzeugten

4 Versorgen und Entsorgen 

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Artefakten differenzierter diskutiert werden (siehe zur Bedeutung von Materialität in der Buchforschung II.1 Materielle Semantiken in diesem Band). Üblicherweise schreibt man den Digitaltechnologien (Software, Algorithmen, Telekommunikation) Immaterialität zu, während Materialität den anfassbaren, wägbaren, zerlegbaren oder aufbewahrbaren Gegenständen, wie Bleiletter, Druckmaschine, Druckfarbe, Papier, vorbehalten scheint (Soentgen 2014: 226). Gleichwohl sind Algorithmen oder Software, aber auch E-Books oder digitale Hörbücher nicht flüchtig oder vergänglich. Sie sind speicherbare, transportierbare und fassbare, also in Eigenschaften beschreibbare Objekte. Sie haben eine Größe (Lines of Code, Anzahl Zeichen, Dateivolumen) und verbrauchen daher Platz. Sie sind insofern externalisiert, als sie von der Gedankenwelt eines einzelnen Menschen durch aufschreiben oder aufzeichnen losgelöst sind und daher von verschiedenen Menschen benutzt und wahrgenommen werden können. Nach Leonardi (2012) sind als materiell solche Eigenschaften zu bezeichnen, die dauerhaft sind und Stabilität und Präsenz ermöglichen. Weiterführend ist es daher, Materialität und Immaterialität nicht mehr dichotom zu denken, indem dem einen mechanische, dem anderen digitale Objekte zugeordnet werden, sondern ein Kontinuum zwischen Materialität und Immaterialität zuzulassen. Vollständige Materialität manifestiert sich dann in mechanischer Materialität, die Artefakte sind tangibel (Schreib- und Setzwerkzeuge, Beschreibstoffe, Geräte und Maschinen, Kabel, Gebäude, Mobiliar und Grundstücke). Ein nicht unerheblicher Teil des Werts dieser Gegenstände entstammt häufig ihrer Materialität. Vollständige Immaterialität ist gegeben bei Intangibilität und Flüchtigkeit im Sinne fehlender Speicherbarkeit, Lagerbarkeit, Transportierbarkeit. Immaterielles hat keine Ästhetik, es ist nicht mit den Sinnen wahrnehmbar. Reputation und Images eines Unternehmens oder einer Person sind immateriell. Sie entstehen als Ergebnis eines öffentlichen Deutungsprozesses. Ebenfalls ist die Zeit eine solche Ressource, die in Form von Arbeitszeit eingesetzt wird und maßgeblich die Personalkosten bestimmt, oder als persönliches Budget auf Buchrezeption und andere Mediennutzungen oder Freizeitgestaltungen aufgeteilt werden muss. Know-how und Erfahrung inkorporieren Handlungstechniken, die oftmals nur schwer expliziert und von Körpern losgelöst werden können (implizites Wissen). Zwischenstufen auf dem Kontinuum erfüllen Objekte, die in verschiedenen Intensitäten und Kombinationen wahrnehmbar, abrufbar, lagerbar oder speicherbar sind, gegebenenfalls expliziert oder kodifiziert werden müssen, aber nicht direkt anfassbar sind. Hierunter fallen Software oder Algorithmen, Glyphen als konkrete Designmanifestation von Schriftzeichen, die gesamte optische Buchgestaltung mit Cover und Satz. Gegenstände, die keine Anteile mechanischer Materialität enthalten, sind in ihrem Wert sehr schwer zu fassen, wie die Frage der bilanziellen Bewertung von E-Books verdeutlicht. Der Wert ergibt sich dann – je nach Kontext – abgeleitet aus der investierten Arbeitszeit oder aus Zuschreibungen, die eng mit

510 

 VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation

dem Habitus bestimmter Milieus verbunden sind, in die Individuen sich nach Bourdieu mit der Wahl von Gütern einschreiben (Hoklas und Lepa 2017).

4.2 Ausgedient und wieder zugeführt Eine besondere Rolle kommt den Konzepten des Abfalls bzw. Recyclings zu. Abfall wird verstanden als etwas zu Beseitigendes oder zu Entsorgendes. Abfall verbleibt im Prozess der Herstellung und Benutzung von Etwas als Rest nach Abzug der verbrauchten oder der Benutzung zugeführten Anteile. Die Kategorisierung von Dingen als Abfall und Nicht-Abfall ist allerdings mehrheitlich weniger den Eigenarten der Dinge an sich geschuldet, sondern eine soziale Konstruktion oder ökonomische Notwendigkeit (Weber 2014: 157): Ob man etwas wegwirft oder (auch) noch (für etwas anderes) benutzen kann ist in der Zeit und den jeweiligen gesellschaftlichen Usancen kontextualisiert. Von Bedeutung bei der Entscheidung darüber, ob Stoffe oder Artefakte wieder- und weitergenutzt und nicht endgültig entsorgt werden, sind neben der kulturellen Akzeptanz von Sekundärrohstoffen die relativen Preise von Material-, Energie- und Arbeitskraft, die Reparaturfreundlichkeit von Artefakten und die Verfügbarkeit von Experten hierfür sowie die erforderlichen Techniken und deren Effizienz dafür (Pfister 2013: 28). Abfall im Sinne des endgültigen Ausbrechens aus dem Stoffkreislauf in Form des umfänglicheren Wegwerfens (Verbrennen, Lagern) ist in der Geschichte der Menschheit ein relativ neues Phänomen, das erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufgetreten ist (Weber 2014: 157). Erst seit den 1950er Jahren stellt es in Bezug auf Volumen und Materialzusammensetzung eine erhebliche Herausforderung dar, geschuldet der Entwicklung des Werkstoffs Kunststoff (Reith 1994: 51). Zuvor wurden ‚Reste‘ aller möglicher (naturnaher) Materialien mehrheitlich gesammelt und einer erneuten Stoffverwertung zugeführt (Recycling, Sekundärmärkte): Die europäische Papierherstellung des späten Mittelalters bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts basierte ausschließlich aus der Lumpenverwertung. Weniger neu ist das Phänomen des Abfalls in Form von (unkontrollierbaren) Absonderungen von (schädlichen) Reststoffen in Luft und Wasser. Allerdings fehlt es insbesondere in Bezug auf frühere Epochen an fundiertem und systematischem Wissen hierzu sowie zum regulativen Umgang mit dem Problem (Reith 1994: 52). Fragen der Entsorgung bzw. des Recyclings treten auch in Bezug auf das gesamte, aufwändig erzeugte physisch-materielle Buchartefakt auf, wenn dieses in seiner originären Verwendung (Lesen, Benutzen, Aufbewahren) ausgedient hat und auch auf Sekundärmärkten keine Abnehmer mehr findet bzw. der eigentlichen Verwendung niemals zugeführt wurde (Überproduktion, Fehl- oder Mangeldrucke). Abbildung 2 zeigt Formen des Recyclings nach Windmüller (2014).

4 Versorgen und Entsorgen 

Wieder… …verwendung ohne erneute Stofftransformation

…verwertung mit erneuter Stofftransformation

Erneute Nutzung in vorgefundener Form nach Entfernen der Gebrauchsspuren

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Weiter… Nutzung in einer anderen Funktion

Beispiele: • Palimpsest • Pfandgüter

Beispiele: • Einwickel-/Einpackpapiere, Ausfüttermaterial • Bücherstapel als Hocker

Aus altem Material wird neues Material mit gleicher Funktion

Aus altem Material wird neues Material mit einer anderen Funktion

Beispiele • aus altem grafischen Papier wird neues grafisches Papier • Neugießen eines Bleisatzes aus eingeschmolzenem Satz

Beispiele: • aus altem grafischen Papier wird Dämmstoff oder Hygienepapier • aus Lumpen wird Hadernpapier

Abb. 2: Formen des Recyclings nach Windmüller (2014).

Die Forschungsliteratur widmet sich dem Thema Recycling insgesamt differenziert erst unter den gegenwärtigen Aspekten der umweltbezogenen Nachhaltigkeitsaspekte (hierzu z.  B. Reith 2008), dies allerdings kaum in der Domäne der Medien- und Kommunikationsforschung, während die historiografische Forschung zwar die verschiedenen Phänomene des Recyclings partikular beschreibt, aber als Forschungsgegenstand kaum systematisch ausleuchtet. Das Thema der Buchentsorgung bzw. -verwertung ist in der Forschung ebenfalls nur wenig präsent (zur Makulatur Fuchs 2020, differenzierter zum Begriff Bellingradt 2020). In der gegenwärtigen Buchbranche wird es überhaupt nicht thematisiert, im Gegenteil, es liegt ein Tabuthema vor (Hirschi und Spoerhase 2013; Hagenhoff 2016). Exemplarische Arbeiten, die sich aus verschiedenen Perspektiven dem Recycling von Beschreib- und Bedruckstoffen widmen, sind Bellingradt (2020), Birat (2019) und Wirth (2014). Bellingradt behandelt auch das Lumpengeschäft. Böschen et al. (2004) stellen grundlegend fest, dass in der Wissenschaft eine Perspektive auf die Einbettung von Stoffen in gesellschaftliche Handlungszusammenhänge und deren dortige Funktionsentfaltung fehlt. Sie schlagen vor, den Umgang mit Stoffen in Form epochenübergreifender ‚Stoffgeschichten‘ zu untersuchen.

Hersteller, Distributor

Grosso

Grosso

ArtefaktHerstellung

En Detail

En Detail

TrägerstoffHerstellung

Artefaktentsorgung

Rohstoffgewinnung

Abb. 3: Wertschöpfungssystem der Buchhwirtschaft mit verschiedenen Distributionsformen.

ReDistribution

Distribution 1b

Distribution 1a

BuchProduktion

Käufer / Rezipienten

Konsum

Vernichtung

Weiterverwendung

Unentgeltlich

Entgeltlich

Distribution 2

Produktion bzw. Handel auf anderen Märkten

512   VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation

5 Zugang zu Kommunikaten 

 513

4.3 Integrierte Sicht: Ein vollständiges Wertschöpfungssystem In Abbildung 3 ist das Wertschöpfungssystem der Buchwirtschaft insofern vollständig abgebildet, als sekundäre Distributionswege sowie die Re-Distribution ebenfalls dargestellt sind. Der Begriff ‚Trägerstoff‘ steht für Bedruck- und Beschreibstoffe oder auch elektronische Anzeigeflächen, der Begriff ‚Grosso‘ steht für Varianten der Distribution an Geschäftskunden als Intermediäre (z.  B. Zwischenhandel in Form von Barsortimenten, Messen), der Begriff ‚En Detail‘ für die Distribution der Bücher an die schlussendlichen Konsumenten bzw. Rezipienten (z.  B. Bucheinzelhandel, Kolporteure, Lotterien, Lesegesellschaften, Bibliotheken). In der Distribution 1 handeln Akteure in einer primären Leistungsrolle als professionelle Marktteilnehmer. Professionell bedeutet, dass die Rolle zumindest auf Dauer angelegt ist und deswegen eine Organisiertheit aufweist (z.  B. Berufe, Regelwerke) sowie von den Rollenträgern mit erwerbswirtschaftlicher Absicht betrieben werden kann und meistens wird (siehe V.2 Berufsbilder und Rollenanforderungen im Buchhandel in diesem Band). Die Distribution 1a ist dabei der primäre Markt, die Distribution 1b der sekundäre Markt, auf dem gebrauchte Ware gehandelt wird (z.  B. Antiquariate; zur ökonomischen Modellierung von Sekundärmärkten Tietzel 1995: 74–76). Distribution 2 bedient ebenfalls sekundäre Märkte für gebrauchte Gegenstände, hier dominiert aber die sekundäre Leistungsrolle. Die handelnden Akteure gehen eigentlich nicht der Distribution von Büchern oder sonstigen Medien nach, sondern betätigen sich hier nur temporär oder spontan und ohne erwerbswirtschaftliche Absicht (z.  B. Verkauf auf Flohmärkten) oder gar im Gemeinwohlauftrag (z.  B. Kommune als Akteur, die ein Bücherregal im öffentlichen Raum zum privaten Tausch platziert). Als Re-Distribution bezeichnet man die Aktivitäten, die nicht auf den Konsum hinlaufen (Publikumsrolle), sondern von ihm weg. Die Produktion bzw. der Handel auf anderen Märkten umfasst Aktivitäten in der Zulieferung (Produktion und Handel mit Rohstoffen, wie Haut, Lumpen, Holz oder Altpapier zur Produktion von Bedruckstoff) wie auch Aktivitäten der Weiterverwertung von Material, das im Buchhandel keine Verwendung mehr findet (Weiterverwendung von bedrucktem Papier in Form von Einwickel- oder Packpapier oder Weiterverwertung zu Baustoff oder Hygienepapier).

5 Zugang zu Kommunikaten 5.1 Mediale Artefakte Medien sind gleichermaßen Rezeptions- und Nutzungsobjekte. Die Rezeption von Inhalten ist keine abstrakte Handlung, sondern wird beeinflusst von der Beschaf-

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 VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation

fenheit des Artefakts, manifestiert in seinen materiellen Eigenschaften: Wir lesen Texte und handhaben dabei und zu diesem Zweck mediale Artefakte. Die Forschung hält zwei größere Ansätze bereit, die für die theoretische Durchdringung der Beschaffenheit von Artefakten fruchtbar gemacht werden können. Das sozial- und verhaltenswissenschaftliche Konzept der Affordanzen (Angebote) geht auf Gibson (1986) zurück. In seiner Abhandlung zur ‚Direct Visual Perception‘ argumentiert er, dass die Objekte der Umwelt dem Menschen (bzw. Lebewesen) direkte Angebote (Affordanzen) zu deren Nutzung bzw. zur Handlung unterbreiten, die sich aus ihren wahrnehmbaren Eigenschaften (Oberflächen) in Relation zum (menschlichen) Körper ergeben. Die Objekte sind qua ihrer Beschaffenheit nutzbar (beschreibbar, lesbar, sitzbar etc.), werden aber auf konkrete Art genutzt in Abhängigkeit von der Beschaffenheit des Körpers: Ein Objekt auf Kniehöhe eines großen Menschen ist als Sitzgelegenheit für solche Personen (gut) nutzbar, für kleine Personen nur schlecht oder gar nicht. Objekte sind nach Gibson zunächst einmal grundsätzlich potenzialreich qua ihrer Existenz, das Potenzial manifestiert sich aber divergent qua divergenter Nutzungshandlungen. Objekt und handelndes Subjekt sind dabei ein untrennbares Paar (McGrenere und Ho 2000). „This makes the concept a powerful one for thinking about technologies because it focuses on the interaction between technologies and the people who will use them“ (Gaver 1991: 79–80). Die Affordanzen von Objekten können nach Gaver (1991) offensichtlich (selbsterklärend) sein oder versteckt. Objekte können auch qua ihrer Beschaffenheit Affordanzen suggerieren, die gar nicht vorhanden sind (falsche Affordanz). Ob eine Affordanz offensichtlich, versteckt oder falsch wahrgenommen werden kann und ein Objekt auch problemlösend eingesetzt bzw. so empfunden wird, ist nicht völlig frei von Erfahrungen und Kontext: realweltliche Artefakte, wie kodexförmige Bücher, binden Kultur, machen diese eindrücklich sichtbar und vergegenwärtigen sie; sie schaffen soziale Strukturen durch ihre Beschaffenheit, ihr symbolisches Kapital und ihre Kommunikationsleistung. Ihre Präsenz und der habituelle Umgang mit ihnen verweisen auf kulturelle Muster, Vorstellungen, Praktiken und Wissen (z.  B. Bosch 2016: 543). Für neue mediale Formate – Kodex statt Rolle, Datei in Lese-App statt Kodex – sind noch keine Nutzungsroutinen ausgeprägt bzw. die bisher erlernten Routinen dominieren die Handlungspraktiken und führen zu Dissonanzen im Umgang mit dem neuen Objekt. Gibson betont in seinem Konzept die direkte Wahrnehmbarkeit der Eigenschaften von Objekten. Objekte sind bei ihm mit dem Körper erfahrbar, typischerweise dreidimensional. Sie kommunizieren ihr Potenzial direkt qua ihrer Form. Ein Kodex fordert zum Blättern auf. Im Zuge der Transformation von ‚physisch‘ nach ‚digital‘ verlieren Medien ihre spezifischen Eigenschaften als Artefakte, die sie aufgrund ihrer mechanischen Materialität hatten: ehemals dreidimensionale Objekte werden flach (hierzu Spoerhase 2018), olfaktorisch und haptisch neutral, statt eine feste Größe zu haben, werden sie

5 Zugang zu Kommunikaten 

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digital aus Nullen und Einsen responsive an der Oberfläche einer Anzeigetechnologie ausvisualisiert. Potenziell entfernt die ‚Digitalisierung‘ die Artefakte aus der spezifischen Wahrnehmung und damit auch aus dem öffentlichen Raum. Der Affordanzansatz hat intensiven Eingang in die Literatur zur Medienforschung verschiedener disziplinärer Ausprägungen genommen (Übersichten, Kritik und Benennung von Fehlstellen z.  B. bei Hoklas und Lepa 2017; Zillien 2008). Bock et al. (2021) unterscheiden bei kommunikativen Medien Affordanzen der Bedienbarkeit und Affordanzen der Kommunizierbarkeit von Inhalten. Am Beispiel von Twitter zeigen sie auf, dass der extrem begrenzte Platz zur Kommunikation von Inhalten zu vereinfachter Syntax oder der Nutzung von Emojis anstelle von schriftsprachlichen Äußerungen führt. Die Usability- oder Gebrauchstauglichkeitsforschung stammt aus dem Industriedesign und der Softwareergonomie. Artefakte ‚entstehen‘ oder ‚sind‘ hier nicht einfach voraussetzungslos, sondern können gestaltet werden, und besitzen somit ein Design, das bewusst und zielorientiert entsteht. Im Fokus der Gestaltung steht idealtypisch die Funktionstüchtigkeit der Artefakte unter Berücksichtigung der Ergonomie: Das Artefakt soll seine Aufgabe nicht einfach nur erfüllen, sondern dies unter Berücksichtigung menschlicher Fähigkeiten (gegeben durch körperliche Eigenschaften von allerdings Durchschnittsbenutzern) und der spezifischen Benutzungssituation in Form z.  B. eines Arbeits- oder Benutzungsprozesses. Mit der Gebrauchstauglichkeitsforschung liegt ein Zugang mit recht langer Tradition vor. Die Arbeiten fokussieren jedoch meistens weniger auf inhaltstragende Medien als auf funktionsorientierte Dinge des Alltags, wie z.  B. Türklinken, Sitzmöbel oder Küchengeräte sowie Software als Arbeitsinstrument im vornehmlich beruflichen Umfeld. Eine Ausnahme stellen die zahlreichen häufig stark manualorientierten Arbeiten zur Gestaltung von (mobilen) Webseiten dar, die mit der Diffusion des WWW als breitentaugliche Spielart der Internettechnologie aufgekommen und zum Gegenstand auch der (praxisorientierten) Forschung geworden sind. Ein Überblick über die Traditionen und Ansätze sowie die verschiedenen disziplinären Verankerungen findet sich bei Hagenhoff und Kuhn (2015) oder Kunz (2021). In Bezug auf die Gestaltung von Medien als Nutzungs- und Rezeptionsobjekte gilt es daher, die etablierten Aspekte und Regeln der Gebrauchstauglichkeit von Artefakten um solche des Kommunikationsdesigns von Objekten zu ergänzen (Kuhn und Hagenhoff 2017). Jakobs (2013) bezeichnet diese Melange als kommunikative Usability. Sichergestellt werden soll hierüber, dass das Artefakt nicht nur bestmöglich handhabbar ist und z.  B. aufgeschlagen liegen bleibt, gehalten werden kann, Seiten gegriffen und umgeblättert werden oder Textstellen markiert werden können, sondern der Inhalt angesteuert, gefunden und durch den physiologischen Teil des Lese- bzw. Rezeptionsprozess auch bestmöglich entnommen werden kann. Die typografische Gestalt des Textes sowie seine zahlreichen Paratexte (Glie-

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 VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation

derungen, Verzeichnisse; Duncan und Smyth 2019) dienen der und ermöglichen die Benutzbarkeit und Rezeption (z.  B. Metz 2020; Spitzmüller 2013) (siehe II.2 Gestaltung in diesem Band). Desiderate in der Forschung wie in der praktischen Umsetzung bestehen vor allem an der Stelle, wo die Fläche – Seite aus Bedruckstoff, Anzeigefläche– als Zeichenträger und -präsentator von Schrift eine fluide Größe aufweist und das Konzept der Seite als formatierte Fläche aufgelöst wird: „Digital documents in this sense have no edges“ (Gitelman 2014: Kapitel ‚Introduction‘). Das Gesamtgefüge des Typographischen Dispositivs kann daher vorab nicht mehr sinnvoll fixiert werden. Stattdessen werden die Beziehungen zwischen den Elementen im responsive Design autoagil gesteuert. Rausch (2018, ab Min. 10:40) argumentiert aus einer praktischen Sicht heraus, dass gute Typografie im Digitalen dann realisierbar sei, wenn es gelänge, dem Computer zu sagen, was visuell gewünscht ist. Typografie passiere im Digitalen daher live im Programmcode. Eine aleatorische, also regelfreie Positionierung von Zeichenelementen auf der Ausgabefläche, wie sie im Responsive-Modus üblich ist, ist dabei nicht zwingend hinzunehmen, vielmehr kann das typografische Regelwerk in Form wohlgeformter Ausdrücke als abstrakter Entwurf so implementiert werden, dass eine Laufzeitumgebung dieses Regelwerk in eine adäquate optische Darstellung transformieren kann.

5.2 Zirkulation der Kommunikate Medienkommunikation ist nur dann effektiv, wenn Inhalte tatsächlich zur Zirkulation gelangen, also mindestens rezipiert, wohl auch weiterdiskutiert werden können. Das Veröffentlichen im engen Sinne, also das Herstellen von Vervielfältigungsstücken oder das Bereitstellen in elektronischer Form (Posting im Web, E-Book-Datei), ist dabei lediglich eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Das Veröffentlichte muss von potenziellen Rezipienten gefunden werden (Wahrnehmung, Sichtbarkeit), tatsächlich zugänglich sein (kaufbar, ausleihbar, downloadbar, abspielbar, aufrufbar) und faktisch rezipiert werden können (Lesebzw. Decodierfähigkeit). Der Fall ‚FairLesen‘ (Leyrer 2022) verdeutlicht beispielsweise, wie von einer Branche gesetzte, bestimmten unternehmerischen Motivationen folgende Regelwerke die potenzielle Zirkulation von aktuellen Buchtiteln in Form von E-Books beeinträchtigen. Durch Regelwerke gestützt hingegen wird in der BRD die Verbreitung von Presseerzeugnissen als Medien auf dem Meinungsmarkt über die Konstrukte Neutralitätspflicht und das Diskriminierungsverbot (Schult 2017: 69–72). Diese Regeln gelten für den Vertrieb papierbasierter Presseerzeugnisse und kommen bei der Distribution elektronischer Varianten über betriebssystemabhängige digitale Kioske allerdings nicht zur Anwendung.

5 Zugang zu Kommunikaten 

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Eine Bedingung der Zirkulation sind somit Netzwerke und Infrastrukturen, die sowohl geografische wie auch Kommunikations- und Resonanzräume erschließen (siehe IV.2 Mediensysteme in diesem Band). Winkler (2004: 212) führt zu ersterem Aspekt aus, dass im Laufe der Medien- und Kommunikationsgeschichte Zeichenträger immer kleiner und leichter geworden sind. Er versteht die Mediengeschichte als einen „Prozess der Immaterialisierung“, verstanden als Loslösung der zu zirkulierenden Zeichen von ihrer Masseträgheit, wodurch sich die Zeichenzirkulation stetig vereinfacht hat. Der konzeptionelle Endpunkt der Leichterwerdung und Erleichterung der Zirkulation in dieser Logik liegt in ihrer Elektrifizierung und der Möglichkeit, Zeichen als Impulse über Kabel und später Luftschnittstellen zu transportieren und zu distribuieren. Als Basis hierfür gilt die Entwicklung der elektromagnetischen Telegrafie durch Gauß und Weber im frühen 19. Jahrhundert (zur Verbreitung von Nachrichten mithilfe der Telegrafie siehe Bonea 2016). Kreuzer (1975) argumentiert in Bezug auf den zweiten Aspekt, dass das Werk eines oder einer Autor*in nur dann „in die Literatur eingehen“ und als solche gelten kann, wenn es einen Sichtungsapparat aus öffentlicher Besprechung durchlaufen hat und von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird (analog Habermas 2022: 32). Alle anderen Werke sind gegebenenfalls für individuelle Rezipienten wertvoll, aber eben „literarisch nicht existent.“ In dieser Logik ist Zirkulation erst dann gegeben, wenn ein Kommunikat einen Effekt in Gesellschaft oder Öffentlichkeit als Diskursraum erzeugt und sich Effekte nicht auf individuelle Rezipient*innen beschränken, die durch das Lesen eines Buchs z.  B. Zerstreuung oder Flow-Erleben erfahren haben. Zu unterscheiden wären in dieser Argumentation Kommunikate (hier als Literatur bezeichnet) von Büchern bzw. Buchtiteln, die zunächst keinen anderen Stellenwert hätten als andere individuell-mikroskopische Problemlöser auch (Socken gegen Kälte, Nudeln gegen Hunger, Buch gegen Langeweile). Welche Parameter auf die Zirkulation von Kommunikaten wie wirken (können) ist in der Medien- und Kommunikationsforschung bisher weder systematisch umfassend, modellorientiert noch empirisch unterfüttert oder epochenunabhängig ausgearbeitet worden. Unbenommen davon ist der Wert von Arbeiten zu singulären Aspekten oder spezifischen Epochen: Behringer (2003) z.  B. zeigt mit seiner Arbeit zu Postgeschichte auf, wie Organisationsleistungen und Standardisierung die Bewegung von Artefakten – Presseerzeugnissen – im Raum ermöglichen und die zirkulationsrelevante Größe der Transportzeit beeinflussen. Friebel (2001), Kaplan (2015) oder Stamm (2015) verdeutlichen, dass und wie die technologischen Entwicklungen in der Herstellung von Papier (hier: der Wechsel des Rohstoffs) einen erheblichen Schub für die Distribution von Inhalten generiert haben, die als Nachrichten zu klassifizieren sind und im medialen Format der Zeitung transportiert werden. Das Medium wurde erheblich billiger und damit für größere Teile einer Gesellschaft zugänglich, da es erschwinglicher wurde. Weit unschärfer

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 VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation

zu fassen sind Phänomene der Zirkulationsbeeinflussung auf der Seite der Rezipienten, wie die individuelle oder gesamtgesellschaftliche Stimmungslage oder die Empfänglichkeit für bestimmte Inhalte oder Autor*innen; hierzu hat Willms (2018) gearbeitet. Bachleitner (1989), Assumpção (2022) oder Sapiro (2022 und 2010) untersuchen die Bedeutung von Übersetzungen literarischer Werke und fokussieren damit auf den sprachlichen Zugang zu Literatur als Voraussetzung für deren Verhandlung durch die Öffentlichkeit. Parameter, die einen Buchtitel zum Bestseller bzw. Bestread machen, untersuchen Habitzel und Mühlberger (1996), Clement et al. (2007) oder Li et al. (2013). Hesmondhalgh und Lotz (2020) setzen den Begriff der Medienzirkulationsmacht (media circulation power) und diskutieren am Beispiel von Oberflächen von Videoportalen Mechanismen, die darauf wirken, ob Inhalte das Publikum erreichen. Ein größeres wissenschaftliches Feld, welches sich mit der  – explizit so formulierten – Zirkulation von Wissen als spezifisches Kommunikat beschäftigt, ist die Wissensgeschichte. Kilcher und Sarasin (2011: 10) arbeiten heraus, dass diese Hemmnisse, Umwege, Engpässe und Blockaden identifizieren und damit auf die differenzierten Bedingungen fokussieren will, die auf die Verteilung von Wissen positiv oder negativ wirken. Gleichwohl liegt ein Modell im Sinne des Benennens dieser Einflussgrößen und ihrer Wirkrichtung und -mächtigkeit nicht vor. Vielmehr finden sich in der Literatur stärker Phasen- oder Funktionsmodelle, in denen die einzelnen Funktionen – Wissen erwerben, Wissen suchen, Wissen organisieren – exemplarisch anhand von Handlungstechniken (z.  B. Exzerpieren), Sachtechniken (z.  B. Index, Zettelkasten, Brief, Enzyklopädie, Journal), Organisationen (z.  B. Bibliothek) illustriert werden. Zu nennen sind hier z.  B. Zedelmaier (2015) oder Burke (2000 und 2012), die Wissen zudem auf wissenschaftliches Wissen verengen. Fruchtbar gemacht werden können Arbeiten, die sich mit der Verbreitung von Entitäten – Innovationen, Krankheiten, Getreidesorten, Medikamenten – in einem sozialen System (Markt, Branche, Gesellschaft) beschäftigen. Die Adoptions- und Diffusionstheorie erarbeitet Parameter, die relevant dafür sind, ob und wann die Entitäten von Individuen adoptiert, also gekauft oder benutzt werden, worüber dann die Diffusion in das soziale System hinein stattfindet. Eine zentrale Arbeit zur Adoptions- und Diffusionsforschung stammt von Rogers (1995 [1962]), deren Basis z.  B. von Gerlach (2014) genutzt wird, um die verbraucherseitige Akzeptanz von E-Books zu analysieren. Diffusionsmodelle erfassen die Verbreitung von Entitäten analytisch durch stark vereinfachende mathematische Modellierungen. Von Interesse ist die Geschwindigkeit der Diffusion in Abhängigkeit der Ausprägung von Parametern, die auf die Diffusion wirken. Relativ prominent sind Epidemiemodelle. Sie gehen davon aus, dass Entitäten (z.  B. neue Produkte) dann in ein soziales System hineindiffundieren, wenn Informationen über diese Entitäten vorhanden sind, da nur informierte Individuen den untersuchten Entitätstyp adoptieren können: „Diffusion is

5 Zugang zu Kommunikaten 

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the process by which an innovation is communicated through certain channels over time among the members of a social system“ (Rogers 1995 [1962]: 5). Epidemiemodelle arbeiten mit dem Konzept der Ansteckung: Informationen werden über soziale Kontakte von Individuum zu Individuum weitergegeben. Da Epidemiemodelle die Verbreitung von Informationen modellieren, eignen sie sich prinzipiell gut, um die Zirkulation von Kommunikaten zu analysieren, weswegen hier das häufig genutzte und adaptierte Modell von Bass (1969) kurz erläutert wird (Abb. 4). In dem Modell sind Individuen einerseits empfänglich für Informationen über den betrachteten Entitätstyp aus unpersönlicher Kommunikation, die von außerhalb des Systems angetragen werden (externer Einfluss). Andererseits sind Individuen empfänglich für Informationen aus persönlicher Kommunikation (interner Einfluss). Die beiden Personenkreise werden als Innovatoren und Imitatoren bezeichnet. Innovatoren adoptieren eine Entität (konkret: Kauf eines neuen Produkts) aufgrund der Informationen, die sie aus den Medien oder dem Handel direkt empfangen, Imitatoren adoptieren die Entität in Abhängigkeit vom Verhalten anderer Individuen, zu denen sie im kommunikativen Kontakt stehen. Unmittelbar angewendet werden kann das Modell – die empirischen Herausforderungen zunächst außer Acht gelassen – auf die Diffusion von Medien also z.  B. neue Buchtitel. Für die spezifischere Analyse der Zirkulation von Inhalten kann es modifiziert werden: Mit dem Verbreitungskanal der Innovatoren könnte der Umstand modelliert werden, dass ein Buch von Individuen rezipiert und der Inhalt aufgenommen wird (individueller Rezeptionsapparat). Voraussetzung hierfür ist der Kauf oder die Leihe des Titels als exogener Einfluss. Der Verbreitungskanal der Imitatoren modelliert, dass über ein Buch bzw. seinen Inhalt gesprochen wird (systemischer Sichtungsapparat nach Kreuzer), wobei die Qualität der Informiertheit dabei zunächst egal ist: Ein Titel kann auch Gesprächsgegenstand unter Personen sein, die ihn gar nicht rezipiert haben und ihrerseits auf der Basis von Hörensagen sprechen. Keuschnigg (2012a und 2012b) wendet die Adoptions- und Diffusionstheorie sowie -modelle an, um die Konzentration der Nachfrage auf Bestseller im Buchmarkt zu analysieren. Ebermann (2017) nutzt den Theorierahmen auf Basis von Rogers, um die Verbreitung von Twitter-Postings zu analysieren. Gehrke (2004) modelliert die Verbreitung von digitalen Objekten (Musik, Filme, Software) differenziert nach Kaufobjekten und Raubkopien. Soziales System Bereitstellung von Informationen über die Medien oder den Handel

externer Einfluss

Innovatoren

interner Einfluss

Imitatoren interner Einfluss

Abb. 4: Logik von 2-Faktor-Epidemiemodellen.

520 

 VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation

Für die Zirkulation ist die Frage nach Offenheit und Geschlossenheit bzw. Inklusion und Exklusion bei kommunikativen Handlungen zweifelsfrei hoch virulent. Die Arbeiten der Medien- und Kommunikationsforschung fallen in diesem Aspekt in der Regel wenig differenziert aus. Sie fokussieren sich stark auf das Entstehen von Teilöffentlichkeiten (Fragmentierung, Disrupted Spheres), deren Entstehen kritisch betrachtet wird, da sie dem Habermas’schen Ideal der Integration von Gesellschaft nicht entsprechen. Der Fokus der Diskussion liegt auf Konzepten wie Agenda Setting, Framing, Gatekeeping oder Indexing. Differenziertere Zugriffe auf Aspekte von Einschließen und Ausschließen, Inkludieren und Exkludieren liefern Dobusch und Dobusch (2022) und Westerbarkey (2014), eine wenig rezipierte Arbeit mit grundsätzlichen Überlegungen ist Klapp (1978).

6 Desiderate Buchkommunikation kann wie gezeigt als soziotechnisches System erfasst werden. Naheliegende prozess- oder phasenorientierte Zugänge erscheinen hierfür jedoch defizitär, denn technologische Aspekte in Produktion, Distribution und Rezeption von Buchmedien hätten schnell (erneut) konkrete Technologien oder Technologiekonglomerate in den phänomengetriebenen Fokus gerückt: Bleilettern, Handpressen, Content-Management-Systeme, Künstliche Intelligenz, Kodizes, E-Books und E-Reader haben Eigenschaften, Vor- und Nachteile, und gar empirisch klar belegte, aber oftmals auch wenig überraschende, mikroskopische Effekte, wie ‚schneller‘ (Schnellpresse statt Handpresse statt manuell Abschreiben) oder ‚anders in Form und Material‘ (Kodex statt Buchrolle, E-Book statt Kodex). Der Verzicht auf diesen Aufschluss des Themas hat zudem die (nächste) Erzählung einer technologiegetriebenen Bruchgeschichte vermieden (mechanisches Buch um 1500, industrielles Buch um 1800 und digitales Buch um 2000), die ihr immanentes loses Ende in der eng abgesteckten Gegenwart und dort in ›der Digitalisierung‹ findet und – wenig überraschend  – das Vorhandensein zahlreicher epistemischer Desiderate konstatiert (hierzu auch VIII.2 Transformation und Kontinuität von Buch- und Lesekulturen in diesem Band). Stattdessen wurden drei Perspektiven durch den Gegenstand gezogen, die zwar eher eklektisch denn analytisch und damit zumindest potenziell vollständig zusammengestellt sind, aber der Forderung Max Webers (1922: 166) genügen, stärker leitend für das wissenschaftliche Tun die gedanklichen Zusammenhänge von Problemen zu wählen anstelle der sachlichen Zusammenhänge von (akut ‚spannenden‘) Dingen – kodexförmige Bücher, Hörbücher, E-Books und Social Media. Als Perspektiven wurden gewählt

Literatur 

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(1) das komplexe Zusammenspiel von sozialen und materiellen Agenten (von Verteilung von Arbeit und Funktionen bis Rollen- und Machtverschiebungen), (2) Entscheidungsmomente und Optionen des Umgangs mit benötigten (versorgen) Ressourcen und nicht mehr benötigten (entsorgen) Artefakten sowie (3) die Momente von medienbasierter Kommunikation, die tatsächlich Kommunikation erzeugen (rezipientenseitiger Umgang mit dem Medienobjekt und Zirkulation von Kommunikaten). Grundsätzlich würde die Buchforschung gewinnen, würden epochennivellierende Blicke eingenommen und stärker die gedanklichen Zusammenhänge als Konstante zum Analysegegenstand werden. Die Analyse müsste hierzu verlagert werden von einer Technologieorientierung (Schreiben, Drucken, digitales Bereitstellen und die vermuteten Effekte) und von lebensweltlich ad hoc beobachtbaren, aber beliebigen Ausprägungen von Problemlösern, hin zu einer Analyse von Praktiken, Handlungen, Motiven und Entscheidungsnotwendigkeiten von medial kommunizierenden Akteuren, Akteursgruppen und ‚Gesellschaft‘ als größeres, gruppenübergreifendes Gefüge. Im Sinne einer soziotechnischen Konturierung ist Technologie darin ein Parameter in komplexen Konstellationen des Zusammenspiels vieler Parameter. Für die verschiedenen strukturellen Zugänge in Form gedanklicher Zusammenhänge (wie z.  B. ‚Zugang zu und Zirkulation von Kommunikaten‘ oder ‚Verfügbarkeiten und Machtkonstellationen um kritische Ressourcen‘) gälte es, Modelle als Portfolio aus relevanten Parametern und Wirkkräften abstrakt theoriebasiert zu erarbeiten und mit konkreten Beispielen der Ausprägungen der Wirkgrößen aus verschiedenen Epochen als Folien zu hinterlegen.

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VIII.2 Transformation und Kontinuität in Buch- und Lesekulturen Ute Schneider

1 Gegenstandsbereich Buch- und Lesekulturen werden häufig in ihren historischen Ursprüngen, Entwicklungslinien und historischen wie gegenwärtigen Folgen erforscht. Hierbei müssen in der Regel Transformationsprozesse dargestellt werden, um ihre verschiedenen Zustände (Vorher / Nachher) zu differenzieren sowie Brüche und Kontinuitäten einzelner Elemente zu identifizieren und zu charakterisieren. Diese können nach verschiedenen Schwerpunkten analysiert werden, erfordern aber als soziale und kulturelle Phänomene grundsätzlich eine Untersuchung auf der Makroebene der kollektiven Wertzuschreibungen an buch- und lesebezogene Praktiken. „Kultur materialisiert sich in Objekten“ (Lüddemann 2019: 61), die Sinn- bzw. Bedeutungsträger sind und kulturelle Formate darstellen, ‚Objekt‘ bezieht sich im hier skizzierten Kontext auf Schrift- und Lesemedien (z.  B. Flugblatt, Flugschrift, Zeitung und Zeitschrift, Kodex, E-Book). Die Kultursoziologie bietet verschiedene spezifische Zugänge zum Kulturbegriff: Bei Bourdieu (1987) ist Kultur ein symbolischer Raum, bei Luhmann (1989) das Gedächtnis sozialer Systeme, bei Reckwitz (2000) sind es Praxisformationen. Für einen historischen Vergleich auf der Makroebene ist ein Kulturbegriff geeignet, der von einem kollektiv gültigen und weitgehenden Bedeutungssystem ausgeht. ‚Kultur‘ wird hierbei als „Set von Regeln, die soziales Verhalten, Wahrnehmungsmuster und Kommunikationsformen normieren“ (Döveling und Sommer 2016: 2) verstanden. Auf diesen Regeln basierend und unter Berücksichtigung von medialen und sozialen Entwicklungen und Diskursen beeinflusst die jeweils epochenspezifische staatliche Buch- und Kulturpolitik bestehende Buch- und Lesekulturen. Dazu gehören juristische Kodifizierungen von urheberrechtlichen Angelegenheiten und Zugangsregelungen zum Buchmarkt ebenso wie die staatliche Lenkung von Rezeptionsprozessen durch Zensurmaßnahmen. An der Herausbildung der Lese- und Buchkultur in einer Gesellschaft sind im epochenspezifischen Kontext über Jahrhunderte auch wirkmächtige (Bildungs-)Institutionen beteiligt, die als Stützungssysteme für die Herausbildung, die funktionale Konturierung und die Stabilisierung des Buchgebrauchs und der Lesekultur dienen. Diese Institutionen sind primär Schule, Universität, Kirche bzw. Religion, da sie den Umgang mit Büchern beeinflussen und sogar normativ regeln können. Ebenso sind die sozialen und kulturellen Stützungssysteme wie außerschulische Bildungseinrichtungen und staatliche Einrichtungen in Betracht zu ziehen (siehe https://doi.org/10.1515/9783110745030-022

1 Gegenstandsbereich 

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hierzu im Detail  VI.3 Stützungssysteme, V.4 Institutionen und Organisationen der Literaturvermittlung und VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen in diesem Band).

1.1 Buchkultur Der Begriff ‚Buchkultur‘ ist definitorisch nicht fixiert und kommt in den einschlägigen Wörterbüchern und Lexika der Buchforschung nicht vor. Sein Gebrauch erfolgt in der Regel wenig reflektiert, dient vor allem unscharfen Aussagen zu Phänomenen des Buchgebrauchs und muss daher hier kurz umrissen werden, um im historischen Vergleich systematische Leitkategorien der Analyse von Transformationsprozessen ableiten zu können. Unter ‚Buchkultur‘ als Begriff für „alles, was mit Büchern zusammenhängt“ hat beispielsweise Paul Raabe die „Positionsbestimmung des Buches als Ware und zugleich als Mittler geistiger Inhalte“ verstanden: „Sie umschreibt, um es auf eine knappe Formel zu bringen, die Rolle des Buches und der Bücher im Kontext der Gegenwart“ (Raabe 2001: 27–28). Dies ist allerdings wenig konkret und verweist bereits auf die enormen Schwierigkeiten der Anwendung eines weitreichenden, bei Raabe von der technischen Buchherstellung bis zur Lektüre alle Aspekte von Büchern allumfassenden, Buchkulturbegriffs zum historischen Vergleich von Epochen (Herstellungstechniken, Produktionsvolumen, Vertriebswege, Rechtskodifizierungen etc.). Gleichwohl ist z.  B. die von ihm genannte Quantität der Buchproduktion ein Indiz für die Verbreitung buchkultureller Werte in einer Gesellschaft und wird in handelshistorischen Studien stets angeführt. Als Maßstab für eine Epochenunterscheidung ist allein das Produktionsvolumen allerdings wenig tauglich, denn die Verlagerung von thematischen Schwerpunkten in der Buchproduktion scheint eine eher geeignete Kategorie, um kulturelle Transformationsprozesse zu erkennen. Fundiertere Überlegungen zum Begriff ‚Buchkultur‘ sind bei Stephanie Kurschus (2015) zu finden, die ähnlich wie Raabe eine allumfassende Definition vorschlägt, allerdings die Kategorien Werte und Traditionen unter Rückbindung an die Anthropologen Clyde Kluckhohn und Alfred  L. Kroeber aufgreift und deren allgemeinen Kulturbegriff auf Bücher projiziert: „It encompasses values, tradition, and the institutions, which are communicating and building on these values and traditions, as well as key actions associated with the book“ (Kurschus 2015: 139). Kurschus hat dabei auf die nationalen Unterschiede der Buchkultur rekurriert, gleichzeitig aber auch auf den wandelbaren Charakter von Buchkultur und ihrer Definition hingewiesen: „Therefore, a definition of that concept ‚book culture‘ cannot be constant […] it becomes clear that book culture is in transition“ (Kurschus 2015: 138).

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 VIII.2 Transformation und Kontinuität in Buch- und Lesekulturen

Der Medienwissenschaftler Knut Hickethier hat in seiner Definition des Begriffs ‚Medienkultur‘ dagegen ausgeführt, dass Kultur den Rahmen für kommunikative Vorgänge stellt und zugleich auch das in diesem Rahmen Befindliche regelt: „Kultur stützt sich deshalb auf Kommunikation, weil sie [...] Regeln des Zusammenlebens durch Diskurse festlegt und das Verhalten der Menschen durch Diskurse steuert“ (Hickethier 2010: 223). Diese Diskurse sind stets wertbasiert und wertorientiert. Der Kulturwissenschaftler Stefan Lüddemann hat in dieser Hinsicht präzisiert, dass sich über Kultur „nur in evaluierender, also wertender Weise sprechen“ lässt (Lüddemann 2019: 95). Wertend heißt, es muss einen Maßstab geben, der als Referenz fungiert. Lüddemann verweist auf die damit verbundenen permanenten Wertekonflikte der Kultur, also z.  B. Elitekultur gegen Massenkultur oder Pop versus Klassik. Unter ‚Buchkultur‘ wird im Zusammenhang mit diesen drei Bestimmungen im Folgenden der auf dem positiv wertbesetzten sozialen Konsens beruhende Umgang mit Büchern in einer Gesellschaft verstanden, der sowohl durch Transformationsprozesse wie Kontinuitäten charakterisiert ist. Er grenzt sich zu den kollektiv internalisierten Funktionen der Buchnutzung im individuellen Umgang mit dem Buch ab (siehe III.2 Kollektive Funktionen der Buchnutzung in diesem Band), der zwar die Buchkultur einer Gesellschaft oder Epoche mitprägt und vor allem stabilisiert, aber eben diesen kulturellen, sozialen, geistigen und damit epochenspezifischen Einflüssen unterliegt bzw. aus ihnen entsteht (siehe III.3 Kulturelle Praktiken des Buchgebrauchs in diesem Band).

1.2 Lesekultur In der Lese- und Lesergeschichte werden historische Transformationsprozesse in der Regel über Zäsuren beschrieben, die technischen, ökonomischen oder sozialen Veränderungen folgen (siehe auch IV.3 Medienwandel in diesem Band). In der einschlägigen Literatur zur Rezeptionsforschung wird dies als Transformation der ‚Lesekultur‘ gefasst, obwohl in der Buchforschung auch andere Aneignungsformen von Büchern wie das Betrachten von Illustrationen eine wesentliche Rolle spielen. Erich Schön ist einer der wenigen, der auf die normative Komponente verwiesen hat, die dieser begrifflichen Verengung eigen ist, denn ‚Lesekultur‘ beschreibt als Begriff weder „einfach das faktische Lesen, noch umfaßt er jedes Lesen, nicht einmal jenes, das von bestimmten Normvorstellungen bloß akzeptiert oder toleriert wird. Der Begriff ist vielmehr reserviert für ein Verhalten das sich – innerhalb der gleichen sozialen Schicht – klarer Wertschätzung erfreut“ (Schön 1995: 138–139). Dabei ist bemerkenswert, dass sich die positive Sanktionierung auf das Lesen selbst und nicht auf seine didaktischen Funktionen wie z.  B. Wissenserwerb oder Sprachverständnis bezieht (Schön 1995: 139). Die Engführung der Lesekultur auf das ästhe-

2 Periodisierungsvorschläge 

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tische Lesen belletristischer Literatur bei Schön erscheint dagegen problematisch, denn damit würden viele andere Lesepraktiken, wie z.  B. das kontemplative Lesen religiöser Texte herausfallen, und Aussagen zu Transformationsprozessen blieben damit unvollständig. ‚Lesekultur‘ ist im Folgenden daher allgemeiner Teil der medialen Praktiken einer Gesellschaft und des Subjekts (Reckwitz 2008: 105–106). Sie gehört zum individuellen Lebensstil, der allerdings durch die Gesellschaft, das soziale Milieu etc. beeinflusst ist und gelenkt wird. Zu den spezifischen medialen Praktiken zählen die Nutzung unterschiedlicher Lesemedien, die erlernten Lesepraktiken im engeren Sinn wie Lesetechniken (z.  B. laut / leise, intensiv / extensiv, monothematisch / vergleichend), die überindividuell eingeübt werden, und das Leseverhalten (z.  B. häufig / selten, regelmäßig / sporadisch), sowie die Lesezeiten und -orte mit Einrichtung von Leseatmosphären sowie epochentypisch bevorzugten Lesestoffen und Genres (siehe auch III.1 Lesen in diesem Band). Hinzu kommen Praktiken der gemeinschaftlichen Lektüre und Formen der anschließenden Kommunikation über das Gelesene (siehe auch VII.2 Vergemeinschaftung in diesem Band). Fast alle Praktiken werden in Sozialisationsprozessen tradiert und sind deshalb wie diese selbst im Zusammenhang mit sich verändernden medialen Bedürfnisse sozialen, kulturellen und geistigen Transformationsprozessen unterworfen.

2 Periodisierungsvorschläge Die übergreifende Periodisierung der Buch- und Lesekultur ist in unterschiedlichen Disziplinen und unter verschiedenen Kriterien für Epocheneinteilungen versucht worden. Sie fällt deshalb u.  a. in der Medien-, Kommunikations-, Literatur- oder Technikgeschichte jeweils anders aus. Die in der Buchforschung bisher dominierende Periodisierung als Buchhandelsgeschichte ergibt sich z.  B. aus der Eigenschaft des Buchs als Handelsgut. Die Periodisierung einer Handelsgeschichte resultiert dabei nicht nur aus ökonomischen Entwicklungen, die sich aus ihr selbst ableiten lassen, sondern ist z.  B. auch in den allgemeinwirtschaftlichen, politischen, juristischen und sozialen Rahmenbedingungen des Handels zu suchen. Die Frage, inwiefern z.  B. die politische Ereignisgeschichte Epochen in der Buchgeschichte inhaltlich scheidet, wird kontrovers diskutiert (siehe Geschichtsschreibung des Buchhandels / Fragenkreise 2004). Tatsächlich wird die Buch- und Lesekultur bis zu einem gewissen Grad vom jeweiligen Bücherangebot gesteuert, das in seiner Quantität und Qualität, seiner Zugänglichkeit und Lenkung zwar nicht hauptsächlich, aber auch politischen Rahmenbedingungen unterliegt. Kriege und Zensurmaßnahmen stehen z.  B. der freien Entfaltung einer Buch- und Lesekultur, die den Bildungs-, Informations- und Unterhaltungsbedürfnissen des Publikums

532 

 VIII.2 Transformation und Kontinuität in Buch- und Lesekulturen

folgt, entgegen. Dennoch ist es wenig zielführend, Zäsuren in der Buch- und Lesekultur parallel zur politischen Geschichte zu führen, denn mit einem politischen Systemwechsel (von der Monarchie zur Demokratie, zur Diktatur) oder sozialem Wandel (von der Ständegesellschaft zur Klassengesellschaft, zu Milieus etc.) verbindet sich nicht zwingend ein (abrupter) Wechsel der Lesepraktiken oder des Umgangs mit Büchern. Längerfristige Transformationsprozesse im Leseverhalten sind generell weit häufiger in der Geschichte zu beobachten als schlagartige Veränderungen. Ähnliches gilt auch für Ereignisse der Technik- oder Mediengeschichte, da z.  B. Erfindungen wie der Buchdruck mit beweglichen Bleitypen nicht sofort zu einem lesenden und Bücher kaufenden Massenpublikum führt, sondern dieses erst mit der Industrialisierung 400 Jahre später entsteht. Unter handelshistorischer Perspektive sind in der Buchforschung deshalb stattdessen unterschiedliche Phasen der Zugänglichkeit zum gedruckten Buch in den einschlägigen Buchhandelsgeschichten (Kapp und Goldfriedrich 1886–1913, Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert 2001  ff.) abgegrenzt worden. Die für das Handelsgut Buch relevanten Entwicklungen und Transformationsprozesse werden hier aus seiner Materialität auf der einen und aus seinem ideellen Wert auf der anderen Seite begründet. Die wachsende Buchhandlungsdichte wird dabei als wesentlicher Faktor des Zugangs und Erwerbs von Büchern genannt, der wiederum die Voraussetzung für privaten Buchbesitz ist. Mit der allmählichen Einführung des Urheberrechts ab der Spätaufklärung mit nationaler Kodifizierung im frühen Jahrhundert und internationaler Abkommen im späten 19. Jahrhundert werden auch die Errichtung buchhändlerischer Firmennetze und noch mehr die durchgreifende Industrialisierung der Buchherstellung zu weiteren Indikatoren der Beschreibung der Buchkultur in den deutschen Staaten. Die Erleichterung des Bucherwerbs durch bessere Zugänglichkeit und Verbilligung, die zu einem höheren Produktionsvolumen und im Privathaushalt zu größerem und in sozialer Perspektive üblicheren Buchbesitz führen, werden so als relevante Faktoren von Transformationsprozessen der Buchkultur konturiert. Als Phasen der Buchhandelsgeschichte werden dann aber nur der Wanderhandel bis zum Erscheinen des ersten Meßkatalogs (1450–1564), die Dominanz des Messehandels (1564–1764) sowie daran anschließend die Entwicklung zum modernen Buchhandel mit Gründung des Börsenvereins des deutschen Buchhandels 1825 genannt. Auf den kollektiven Umgang mit dem Buch hatten diese handelshistorischen Einschnitte jedoch kaum Auswirkungen, die buchhandelsgeschichtlichen Annäherungen bilden die komplexen Transformationsprozesse von Buch- und Lesekulturen daher nur unzureichend ab.

2 Periodisierungsvorschläge 

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2.1 Medien- und Kommunikationsgeschichte Die Buchhandelsgeschichte folgt nicht denselben Periodisierungen wie die Medienund / oder Kommunikationsgeschichte, wenngleich sie davon beeinflusst wurde und wird (zu Konzepten der Medienhistoriografie im Überblick Kuhn 2018: 53–78). Bücher (hier als gedruckte Kodizes bzw. Trägermedien gedacht, zu einem weiteren Buchbegriff siehe I Theoretische Perspektiven und Gegenstände in diesem Band) entfalten ihre kulturellen und sozialen Leistungen und Funktionen stets im Kontext mündlicher Informationsmedien oder anderer schriftlicher Medien, z.  B. Flugblätter, die Aktuelles vermeldeten, oder Flugschriften, die als typisches Debattenmedium in lateinischer oder deutscher Sprache aktuelle religiöse und / oder politische Kontroversen verhandelten. Es folgten Neue Zeytungen, dann die periodischen Zeitungen ab 1605, ab den 1660er Jahren auch die wissenschaftliche und danach die literarische Zeitschrift, schließlich im 19. Jahrhundert die großen Familien- und Unterhaltungszeitschriften, flankiert von neuen visuellen Medien wie dem Panorama und der Fotografie, dann Ende des Jahrhunderts mit den ersten, noch mobilen Kinos, im 20.  Jahrhundert schließlich Rundfunk, Fernsehen, zuletzt das Internet und soziale Medien. In den sich verändernden medialen Konstellationen wird dabei die Positionierung von Büchern in Form ihrer medialen Leistungen und Funktionen zur Grundlage von Periodisierungen. Diese werden in der Gesellschaft dann primär in Zeiten diskutiert, in denen jeweils neue Medien eine kritische Masse in der alltäglichen Mediennutzung der Menschen erreicht haben. Die Diskussionen über den Wert und Nutzen von verschiedenen Medien oder die Gefahr, die vermeintlich von neuen Medien ausgeht, ist eine Folge des Aufkommens neuer Artefakte, „denen noch keine eingespielte Praktik entspricht und die – unter Einbeziehung alter Wissens- und Praxiselemente – die Entwicklung partieller neuer Praktiken […] herausfordern“ (Reckwitz 2008: 122). Der ungeübte Umgang mit neuen Medien zieht Verunsicherungen nach sich, die Diskurse auslösen und Buch- und Lesekulturen verändern. Ihre Transformationsprozesse werden deshalb stets ab einem gewissen Zeitpunkt der Verbreitung neuer Medien kritisch kommentierend von der (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit begleitet, Vor- und meistens vor allem Nachteile verschiedener Medien gegeneinander aufgewogen, wobei das Referenzmedium in fast allen dieser Diskurse das gedruckte Buch ist (Grampp 2009, siehe auch IV.3 Medienwandel in diesem Band). Als erster Einstieg in eine Identifizierung von tragfähigen epochenspezifischen Unterscheidungsmerkmalen im Medienkontext können quellenbelegte Veränderungen in Bewertungspraktiken, im Buchkonsum, im Buchbesitz und seiner Verwahrung im privaten Raum gedeutet werden. Diese werden in historisch kommunizierten ‚Krisensituationen‘ des Buchs und den sie umgebenden Diskursen sichtbar, z.  B. der Diskussion der Industrialisierung der Buchkultur und der entstehenden

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 VIII.2 Transformation und Kontinuität in Buch- und Lesekulturen

Massenmärkte am Ende des 19. Jahrhunderts oder der Kontroverse zu gedruckten und digitalen Buchformaten in der Gegenwart. Die Wertzuschreibungen an Bücher in Krisenzeiten thematisieren häufig den veränderten Umgang mit dem Buch ab dem Zeitpunkt X. Allerdings kommen Theorien des Medienwandels in der Regel ohne expliziten Verweis auf einen veränderten kollektiven Umgang mit Büchern aus (Überblick bei Kinnebrock et al. 2015). Theorien der Mediengeschichtsschreibung (siehe dazu z.  B. den Forschungsüberblick bei Averbeck-Lietz 2015) können dennoch Impulse für weitere Überlegungen zu Transformationsprozessen der Lese- und Buchkultur geben. Tradierte und in der Mediengeschichtsschreibung anscheinend konsensuale Transformationsprozesse sind das einer erkennbaren Buchkultur vorgelagerte Ereignis der Einführung der Schrift (Oralität / Literalität), dann als buchmediale Einschnitte die Ablösung der Rolle und Einführung des Kodex, die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Bleitypen und Ablösung des Handschriftenzeitalters (Handschrift / Druck), schließlich der Übergang von analog zu digital. Bisweilen werden die Veränderungen von Wahrnehmungsdispositiven im 19. Jahrhundert (Fotografie) und in den 1920er Jahren (flächendeckende Einführung des Kinos) oder die Erfindungen von Rundfunk und Fernsehen als relevante Stationen für eine erkennbare Veränderung der Buchkultur genannt. Die Anlehnung von Transformationsprozessen der Buchkultur an die Durchsetzung neuer Medien ist ein gängiges Modell, allerdings unter Berücksichtigung unterschiedlicher Folgeerscheinungen. Ein Beispiel für diesen medienhistorischen Zugriff ist das Tsunami-Modell von Glaubitz et al., das mediale Umbrüche um 1900 und um 2000 über Transformationsprozesse in einem ‚prä-emergenten Feld‘ sowie die darauffolgenden ‚Emergenzereignisse‘ identifiziert. Diese diffundieren in ‚Plurifurkationslinien‘ und erreichen schließlich ihr maximales ‚Rekognitionsniveau‘, so dass das Emergenzereignis als Auslöser eines medialen Wandels verantwortlich gemacht werden kann (Glaubitz et al. 2011: 26). Gemeinsam ist den erkannten Stationen, dass ihnen ein technikbasierter Transformationsprozess zugrunde liegt, dessen Diskussion in der Buchforschung als Basis für die Analyse von Wandlungen nur bedingt geeignet ist. Hinzu kommt, dass eine technikbestimmte Mediengeschichte die „aporetische Annahme historischer Leitmedien“ erforderlich macht (Siegert 2011: 95), die die historische Abfolge von Kulturen beschreiben sollen. Siegert nennt als Beispiele die Begriffe Buchkultur, Briefkultur, Computer- bzw. digitale Kultur und verweist auf die Zuschreibung von sozialen und ökonomischen Effekten an diese Leitmedien. Ein für die Untersuchung buchkultureller Transformationsprozesse effektiverer Zugang ist die Identifizierung von Stationen diskursiver Mediengeschichte, denn im „Diskurs, nicht in der Technik lösen Medien einander ab“ (Kümmel et al. 2004: 7), und wertbesetzte Argumentationsmuster werden deutlich. Kümmel et al. haben darauf hingewiesen, dass nicht die technischen Erfindungen das entscheidende

2 Periodisierungsvorschläge 

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Ereignis bei der Durchsetzung medialer Innovationen sind, sondern die Diskurse, die technische Erfindungen erst zum Ereignis werden lassen. Transformationsprozesse und Periodisierungen können somit mit der Analyse der Büchern zugeschriebenen Werte ansetzen, und zwar unter Einbeziehung der wertenden Instanzen. Dies ist in der Buchforschung in erster Linie für drei Krisensituationen zur Anwendung gelangt, nämlich (1) bei der Untersuchung des Übergangs vom Handschriftenzeitalter zum Buchdruck und der kritischen Einschätzung von Gutenbergs Erfindung durch Zeitgenossen (z.  B. Müller 1988), (2) in der Geschichtsschreibung der Lesekultur für die Emergenz der unterhaltenden Romanliteratur in der Zeit der Spätaufklärung und ihrer negativen Beurteilung durch kulturkritische Stimmen (z.  B. Schneider 2015a) sowie (3) für die Dynamik der Verbreitung von Rundfunk und Film in der Weimarer Republik (z.  B. Lange 2010). Ähnlich wie Kümmel et al. argumentiert Rudolf Stöber, der darauf aufmerksam macht, dass erst im Institutionalisierungsprozess neuer Medien, und nicht schon mit ihrer Erfindung neue Epochen identifiziert werden können (Stöber 2008: 36), wobei er drei Phasen unterscheidet, die musterhaft bei der Durchsetzung neuer Medien aufeinander folgen: Invention, Innovation und Diffusion. Letztere ist für die Akzeptanz eines neuen Mediums in einer Gesellschaft besonders relevant und ist durch Faktoren wie Verbilligung, Standardisierung, Mehrwert für die Nutzer*innen, Leistungssteigerungen, Bedienungsvereinfachung und Zugänglichkeit gekennzeichnet (Stöber 2008: 41). Vilém Flusser (1996) hat aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht dagegen Vorschläge zur Unterscheidung von Kommunikationsstrukturen unterbreitet, die sich in Transformationsprozessen bzw. Krisen erkennen lassen. In einem Stufenmodell hat er „drei charakteristische Situationen“ (Flusser 1996: 51–78) für Strukturwandlungen von Kommunikation benannt: die Situation „gedruckte Bücher“, die Situation „Manuskripte“ sowie die Situation „Technobilder“, die alle spezifische Codes zur Übertragung von Informationen nutzen. Flussers Ansatz grenzt innerhalb dieser Situation verschiedene Kommunikationsebenen ab, die er an soziale Schichten und Kulturen anbindet. Seine theoretischen Ausführungen zu kommunikationshistorischen Einschnitten / Zäsuren, die sich auf den krisenhaften Wechsel dieser Codes beziehen, sind von der Buchforschung jedoch kaum rezipiert worden.

2.2 Sozial- und Kulturgeschichte Erheblich häufiger als für Bücher werden Zäsuren in der Lesegeschichte vorgeschlagen, vermutlich, weil der Umgang mit Büchern als erstes mit Lesen assoziiert wird. In der Regel erfolgt eine Epocheneinteilung, die sich aus sichtbaren sozialen Zäsuren, Veränderungen der Lesepraktiken selbst sowie einem gewandelten Umgang mit dem Buch begründen lässt.

536 

 VIII.2 Transformation und Kontinuität in Buch- und Lesekulturen

Der französische Historiker Roger Chartier plädiert z.  B. für ein theoretisches Konzept, in dem es um die Untersuchung von Wandlungen der Lesepraktiken im europäischen Kontext geht. Die Analyse und Benennung von verschiedenen Lesepraktiken birgt den Vorteil, sich nicht ausschließlich in politischen, soziologischen oder kulturellen Entwicklungsprozessen bewegen zu müssen, sondern deren Grenzen überschreitend Lesevorlieben und -techniken einbeziehen zu können. Aus den dort erkennbaren Unterschieden lassen sich dann Epochen und punktuelle Umbrüche des Lesens identifizieren (Chartier 1990 und 1999). So datieren er und Guglielmo Cavallo eine erste ‚Leserevolution‘ zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert, als das laute vom leisen Lesen und der monastische Buchgebrauch mit seiner Konservierungs- und Gedächtnisfunktion vom Buch als Gegenstand und Werkzeug geistiger Arbeit abgelöst wurde (Chartier und Cavallo 1999: 41–42). Die Lesepraxis, die nach Chartier eine zweite Leserevolution während der Reformation und damit eine weitere Zäsur beschreibt, ist das Modell der spirituellen Erfahrung beim Lesen der Bibel, das „eine Beziehung zum geschriebenen Text von besonderer Intensität“ (Chartier und Cavallo 1999: 52) definiert. Unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Leser*innen wurden Gläubige zum Lesen angehalten, und zwar im lutherischen wie calvinistischen Protestantismus, im Pietismus wie in der katholischen Kirche. Die letzte Leserevolution ereignet sich nach Chartier heute mit den digitalen Lesemedien, die, relativ undifferenziert, ‚andere‘ Lesetechniken und -praktiken hervorbringen (Chartier und Cavallo 1999: 45). Die Einteilung von Epochen über die vorherrschende Lesepraxis und die Konturierung von historischen Umbrüchen durch ihre Veränderung ist von ihrer Grundidee pragmatisch und anschaulich. Diskussionswürdig bleiben allerdings die konstruierten Einschnitte, denn wenn man Lesepraktiken nicht auf Lesetechniken reduziert, werden Veränderungen im Kontext ihrer Medien und Funktionen weitaus häufiger sichtbar als nur einmal in den letzten 500 Jahren. Zu anderer Auffassung als Chartier und Cavallo gelangen daher sozialgeschichtliche Studien aus den 1960er und 1970er Jahren, die das Lesepublikum und sein Leseverhalten analysiert haben. Rolf Engelsing (1969) und anderen datieren eine erste Leserevolution ab 1750, vor allem im ausgehenden 18. Jahrhundert. Diese erste Leserevolution wird dann von einer zweiten Leserevolution im 19. Jahrhundert unterschieden, die im Gegensatz zur ersten keine qualitativen Änderungen der Lesepraxis mit sich brachte, sondern durch ein massives quantitatives Anwachsen des Lesepublikums bestimmt wird. Die von Rolf Engelsing (1969, 1973, 1974) wiederholt aufgestellte These des Übergangs vom intensiven zum extensiven Lesen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts während der Aufklärung ist allerdings ebenfalls durch neue Forschungsperspektiven, wie dem mentalitätsgeschichtlichen Ansatz von Erich Schön (1987) sowie später von Roger Chartier (1990) und Robert Darnton (1998), kritisiert bzw. modifiziert worden.

3 Theoretische Perspektivierung: Transformationsprozesse und Kontinuitäten 

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Die Kriterien zur Identifizierung von abgrenzbaren Epochen der Lesekultur differieren somit je nach Intention und Zugang. Sozialhistorische, kulturhistorische, mentalitätsgeschichtliche oder literaturgeschichtliche Perspektiven treffen deshalb zwar jeweils ähnliche, aber selten identische Entscheidungen für die Epochenidentifizierung. Die Reduktion von Transformationsprozessen auf ereignishafte ‚Revolutionen‘ bietet zudem nur einen pragmatisch-anschaulichen Ansatz zur Einordnung bestimmter Phänomene, blendet aber deren komplexe und zeitlich übergreifende Elemente in ihrer Entwicklung und Kontinuität teilweise aus.

3 Theoretische Perspektivierung: Transformationsprozesse und Kontinuitäten Theoretische Ansätze, die sich mit kulturellem Wandel auseinandersetzen, unterscheiden sich sowohl in der inhaltlichen Frage, was unter kulturellem Wandel zu verstehen ist, als auch in der Frage, welche Dimensionen der Betrachtung notwendig sind, um Transformationsprozesse erkennen zu können. Das inhaltliche Panorama des kulturellen Wandels umfasst in der Kultursoziologie u.  a. (schematischer Vergleich bei Junge 2009: 117): die Veränderung der Relation von sozialem und personalem Selbst, ausgehend von der Orientierungsfunktion der Kultur für handelnde Akteure (Goffman 1977), den Sittenwandel (Kommunitarismus, Bellah 1985), den Wandel von Skripten, Frames und Präferenzen (Rational-Choice-Theorie, Esser 1991 und 2001), die Veränderung der Kulturindustrie (Adorno und Horkheimer 1969), die Modernisierung und Rationalisierung (Habermas 1981), den Wandel der Semantik (Luhmann 1995), den Habituswandel (Bourdieu 1987 und 1988) oder den Wandel der Subjektkultur (Reckwitz 2000). Diese terminologische Vielfalt basiert auf unterschiedlichen Kulturbegriffen, deren Anwendung eine Identifizierung von ‚Vorher / Nachher‘-Relationen in der Buch- und Lesekultur willkürlich wirken ließen. Im Folgenden wird daher stattdessen nach analytischen Ebenen gefragt, welche die Unterscheidbarkeit von Zuständen von Buch- und Lesekulturen sowie ihrer Transformationsprozesse und Kontinuitäten in der Makroperspektive sinnvoll in die Buchforschung integrieren können. Der Kommunikationswissenschaftler Heinz Bonfadelli hat aus sozial- und kommunikationswissenschaftlicher Perspektive z.  B. bereits vier relevante Dimensionen der Leseforschung benannt (Bonfadelli 2015: 66), die für einen historischen Vergleich geeignet sind und als erste Annäherung dienen können. Diese Dimensionen sind die Sachdimension, die Sozialdimension, die Zeitdimension und die Raumdimension. Sie sind auch für eine Untersuchung des Umgangs mit dem Buch anwendbar, und können für Transformationsprozesse und Kontinuitäten der Lese- und Buchkultur exemplarisch thematisiert werden. Diese und die in den oben genann-

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 VIII.2 Transformation und Kontinuität in Buch- und Lesekulturen

ten buchhistorischen, medien- und kommunikationswissenschaftlichen sowie kultursoziologischen Ansätzen aufgeführten Dimensionen sollen im Folgenden als Ausgangsbasis dienen und in unterschiedlicher Gewichtung für die Konstruktion historischer Vergleiche von Lese- und Buchkulturen fruchtbar gemacht werden. Einen groben Rahmen bietet hierzu der Soziologe Gunnar Otte, der auf der Makroebene wirksame Bedingungen verortet, die einerseits das Handeln von Akteuren und andererseits die kollektiven Auswirkungen des Denkens, Handelns und Interagierens beeinflussen (Otte 2018: 90). Die Konturierung dieser Bedingungen und ihr Vergleich erfordern deshalb die Identifizierung von sozialen Normen, die kulturelles Handeln leiten. Sind diese benannt, können anschließend kulturelle Hierarchien beschrieben werden, die einen Dissens über Werte auslösen können und damit die Grundlage für die Herausbildung oder Veränderung von Teil- oder Subkulturen in der Gesellschaft liefern (Otte 2018: 94). Die analytisch getrennt zu betrachtenden Ebenen, die zur Charakterisierung von Transformationsprozessen von Buch- und Lesekulturen identifiziert werden können, sind für ihn soziale Strukturen sowie kulturelle Formate und Dimensionen. Das Soziale als Ort der Buch- und Lesekultur verlangt als Kollektivphänomen somit erstens die Untersuchung „wie Kultur auf der Makroebene als ‚öffentliche Kultur‘ konzipiert werden kann“ (Otte 2018: 89) (Sozialdimension). Hierzu sind empirische Daten über statistische Auswertungen zu integrieren, z.  B. aus der Buchmarktforschung oder Lese- und Leserforschung. Wichtig sind z.  B. Quantitäten und Qualitäten des Lesens in differenzierten funktionalen Kontexten oder der Buchbesitz bzw. die Buchzirkulation in der Gesellschaft. Diese können in sozialstrukturellen Modellen (z.  B. Soziale Ungleichheit) differenziert, interpretiert und für verschiedene Zeitabschnitte hinsichtlich konstanter und sich verändernder Elemente verglichen werden. Diese Ebene ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts empirisch mehrfach im Kontext der allgemeinen Buchmarktforschung als auch in statistischen Erhebungen zum Leseverhalten der Bevölkerung recht regelmäßig analysiert worden (kontinuierlich seit den 1950er Jahren z.  B. für Buch und Buchhandel in Zahlen, zusammenfassend für die Allensbacher Erhebungen siehe Muth 1993). Die dabei erfragten Lektürequantitäten und manchmal auch der Buchbesitz sind Ausdruck der Buch- und Lesekultur einer Gesellschaft, können hier aber nicht zur Feststellung einer epochalen Zäsur herangezogen werden, da Veränderungen in der sozialstrukturellen Zuordnung von Buch- und Lesekultur über die Jahrzehnte der Erhebungen kaum bemerkenswert sind. Selbst mit Einführung neuer Publikationsformate wie dem Taschenbuch sind keine neuen Leserschichten erschlossen worden. Dauerhafte Effekte sind über wenige Jahrzehnte generell nicht nachweisbar. Ob aktuelle Entwicklungen in der Mediennutzung einen empirisch beweisbaren Wandlungsprozess einleiten, kann deshalb momentan noch nicht geklärt werden.

3 Theoretische Perspektivierung: Transformationsprozesse und Kontinuitäten 

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Buch- und Lesekulturen können zweitens als Konstruktion über Formate und Dimensionen untersucht werde (Lüddemann 2019: 57–59). Formate sind die konkreten Erscheinungen der jeweiligen Buch- und Lesekultur, da sie „konkreter Ausformungen bedarf, um in Erscheinung treten, aber vor allem auch erlebbar und lernbar gemacht werden zu können“ (Lüddemann 2019: 59). Dazu gehören insbesondere Bücher und buchbezogene Objekte, die sinnbehaftet, bisweilen auratisch aufgeladen sind und als Bedeutungsträger fungieren (Sachdimension), weiterhin Orte, die diese Objekte beherbergen und gleichzeitig Bühne für auf sie bezogene Praxisformen sind. Zu diesen Praktiken zählen auch die objekt- und ortsbezogenen Diskurse (Lüddemann 2019: 60–64). Während Formate zeitlich konkret vergleichbare kulturelle Erscheinungen sind, sind Dimensionen abstrakte kulturelle Horizonte der Buch- und Lesekultur (Lüddemann 2019: 81–83) wie Wahrnehmungen von Zeit (Zeitdimension, nacheinander, vorher / nachher), Raum (Raumdimension, Situierung, Zentrum und Peripherie, Metropole und Land) oder Qualität mit Bezug zu Büchern oder dem Lesen, z.  B. als Freizeitkultur, urbane Kultur, Alltags- oder Subkultur, Hoch- vs. Populärkultur. Soziale Strukturen und abstrakte kulturelle Dimensionen als Einflussfaktoren auf epochale Buch- und Lesekulturen unterliegen weiterhin äußeren Einflüssen, die sich nicht aus ihren Transformationen selbst erklären lassen, sondern von außen herangetragen werden, z.  B. aus staatlichen, bildungspolitischen, medialen oder anderen institutionellen Kontexten stammen. Diese sind zur Charakterisierung von Transformationsprozessen und Kontinuitäten in Buch- und Lesekulturen zu berücksichtigen.

3.1 Sozialdimension Die für historische Untersuchungen jeweils ins Kalkül zu ziehende Sozialstruktur, die auf demografischen Merkmalen der Bevölkerung wie z.  B. Alter, Geschlecht, Bildung, ökonomische Situation beruht, ist immer mit sozialer Ungleichheit verbunden, die sich in unterschiedlichen sozialen Ständen, Klassen, Schichten und Milieus niederschlägt. Mit sozialer Ungleichheit wird bis in die Spätmoderne und in die postindustrielle Gesellschaft in der Regel eine hierarchische Anordnung von sozialen Lagen assoziiert, die in ihren Differenzierungen zur Analyse von Buchund Lesekulturen forschungsrelevant sind. Kultursoziologische Ansätze wie die Ausführungen Pierre Bourdieus (1988) zur kulturellen Teilhabe, zum Habitus und Lebensstil sind in der Buchforschung mehrfach aufgegriffen worden, meist allerdings zur Erklärung von verlegerischen Entscheidungen, weniger als Analyse buchkultureller Phänomene oder gar zur Beantwortung von Fragen des historischen Vergleichs. Dennoch können Bourdieus Arbeiten Anregungen für die Untersuchung

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 VIII.2 Transformation und Kontinuität in Buch- und Lesekulturen

von buchkulturellen Entwicklungen über mehrere Jahrhunderte durch die konsequente Konzentration auf soziale Lagen und ihr kulturelles Kapital liefern. Erprobt sind unter der Berücksichtigung verschiedener Gesellschaftsgruppen sozialgeschichtliche Ansätze. Einzelstudien wie z.  B. von Engelsing zum Hamburger Bürgertum während der Aufklärung oder zum genderspezifischen Leseverhalten (Signori 2009; Banki und Wittler 2020) thematisieren in sozialgeschichtlicher Perspektive meist quellengesättigt die sozialen Veränderungen des Lesepublikums und die Neuerungen in Lesepraktiken und den Motiven für die Buchnutzung während des 18.  Jahrhunderts. Der Literaturwissenschaftler Jost Schneider (2004) hat vor dem Hintergrund der Literaturgeschichte als Kommunikationsgeschichte Abstand von den in der Literaturwissenschaft üblichen Epocheneinteilungen (Barock, Aufklärung, Klassik, Romantik, Realismus etc.) genommen. Er konstruiert neue ‚Zeitalter‘ in sehr langen Zeitabschnitten, die sich auf sozialstrukturelle Merkmale beziehen: (1) Literarische Kommunikation im Stammeszeitalter, ca. 4.  Jh.  v. Chr. bis 8. Jh. n. Chr.; (2) Literarische Kommunikation im feudalistischen Zeitalter, 9. Jh. bis 1789; (3) Literarische Kommunikation im bürgerlichen Zeitalter, 1789 bis 1918; (4) Literarische Kommunikation im demokratischen Zeitalter, seit 1918. Einzelne soziale Schichten werden in ihren Lebensumständen, ihren Bildungsvoraussetzungen, ihrem Freizeitverhalten und ihren Mediennutzungsgewohnheiten vorgestellt. In der Buchforschung blieb dieser Ansatz weitgehend ohne Resonanz, vermutlich wegen der engen Fokussierung auf die Literatur- und nicht auf die Buchrezeption. Dennoch wird hier anschaulich vor Augen geführt, dass literarisches Interesse sozial determiniert und differenziert ist und unter welchen sozialen Voraussetzungen wie gelesen wird bzw. Bücher konsumiert werden. Ähnlich lange Perioden wie Schneider grenzt Hans-Martin Gauger (1994) voneinander ab. Er spricht von insgesamt sechs Lesekulturen, die von der vorhellenistischen Lesekultur bis heute andauern. Ohne dies explizit zu benennen, werden in Gaugers Abfolge der Lesekulturen – wenn auch grob – sozialstrukturelle Veränderungen deutlich, die unmittelbaren Einfluss auf buchkulturelle Phänomene haben. Nach Gauger dauerte eine vorhellenistische Lesekultur bis 400 v. Chr. Von einer ausgeprägten Buchkultur kann kaum gesprochen werden, aber Schrift diente der Bewahrung von Texten und der Hilfestellung beim Memorieren, Gauger spricht von einer „schriftgestützte[n]… lesenden Mündlichkeit“ (Gauger 1994: 29). Bereits in der zweiten identifizierten Lesekultur, der hellenistisch-römischen von 400 v. Chr. bis 500 n. Chr., lässt sich ein sozial wirksamer Buchgebrauch erkennen, der individuelles Lesen als Mittel zur Bildung beinhaltet. In dieser Phase lassen sich soziodemografische Faktoren parallel zur Lesekultur führen: Lektüre war Muße der Gebildeten und Wohlhabenden, wozu auch Frauen gehörten. Büchersammlungen existierten sowohl im ‚binnenöffentlichen‘ Raum der Gelehrten als auch in Schulen. Nach einer Lücke von ca. 300 Jahren begann nach Gauger die dritte, frühmittelalter-

3 Theoretische Perspektivierung: Transformationsprozesse und Kontinuitäten 

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liche Lesekultur, die sich fast ausschließlich auf Klöster und die soziale Gruppe der lesenden Mönche zu monastischen Zwecken reduzieren lässt und die von 800 bis 1150 andauerte. Eine Ausnahme vom klerikalen Lesen bildeten adlige Leserinnen, für die lateinische Lektüre zur Bildungsnorm gehörte. Die darauffolgende vierte Lesekultur, die scholastische, bezeichnet Gauger als hoch- und spätmittelalterliche Lesekultur bis 1300. Nicht nur das gelehrte Lesen ist hier kennzeichnend, sondern es existierte eine zweite Lesekultur jenseits der Gelehrsamkeit, eine volkssprachliche, deren Leser*innen nicht des Lateinischen mächtig sein mussten. Gauger betont auch hier die Rolle der lesenden Frau als Adressatin der Literatur (Gauger 1994: 35) und spricht von einer „Aufspaltung“ des Lesens in zwei Kulturen. Diese existieren in der fünften Lesekultur weiter. Sie umfasst die frühneuzeitliche Lesekultur von 1300 bis 1800, in der weitere soziale Stände wie städtische Bürger, insbesondere Kaufleute, und auch Handwerker als Leser*innen identifiziert werden können. An diese Lesekultur schließt sich die sechste, moderne und bis heute andauernden Lesekultur an. Bei Gauger deutet sich die gesamte Problematik der historischen Vergleichsmöglichkeiten bereits an: Transformationsprozesse buchkultureller Praktiken können gruppenspezifisch sein wie im Falle des monastischen Lesens, gleichzeitig differenzieren sich kulturelle Rezeptionspraktiken aus, die an spezifische soziale Stände oder Berufsgruppen gebunden sind, weil sie der Ausübung professioneller Tätigkeiten dienen. 3.1.1 Konstante 1 – Wertebasierte Buchkultur der Funktionseliten Sozialstruktur und Leseverhalten zu korrelieren ist bis heute eine gängige Praxis der empirischen Sozialforschung. Sozialstrukturelle Entwicklungen werden häufig als Erklärung oder auch als Auslöser von Veränderungen der Buch- und Lesekultur genannt. Dabei wird häufig übersehen, dass sich zwar soziale Stände, Klassen, Schichten, Milieus im historischen Verlauf ablösen, die jeweiligen Funktionseliten trotz unterschiedlicher sozialer Konturen aber kulturelle Konstanten innerhalb einer Gesellschaft bilden, und bis weit in die Postmoderne ähnliche Werthaltungen gegenüber Büchern und der Kulturtechnik Lesen einnehmen. Davon zeugt z.  B. der bis heute in Deutschland geltende reduzierte Mehrwertsteuersatz für Bücher und die Buchpreisbindung. Die damit verbundenen Wertzuschreibungen an das Buch (siehe auch VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik in diesem Band) sind empirisch allerdings selten untersucht worden, obwohl sie eine jahrhundertelange Tradition aufweisen und deshalb auch in ihren Kontinuitäten beschrieben werden können. Die theoretische Paarung von sozialem Status und buchkulturellen Praktiken ist z.  B. schon für antike Hochkulturen belegt. Benjamin Hartmann (2015: 712) hat für die römische Kaiserzeit feststellen können, dass in dieser Zeit wie auch

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 VIII.2 Transformation und Kontinuität in Buch- und Lesekulturen

schon im Hellenismus Buchkultur ein Bestandteil der Elitenkultur war und auf die männliche Oberschicht beschränkt blieb. Der wertbesetzte normative Umgang mit dem Buch ist in dieser Zeit daran zu erkennen, dass Buchbesitz „zum festen Bestandteil des gehobenen Lebensstils“ (Hartmann 2015: 713) geworden war. Voraussetzung war die Zugänglichkeit zu einem Buchmarkt, der in dieser Zeit die bibliophilen Interessen der Käufer bediente. Die von Hartmann angeführten zeitgenössischen Klagen über „Leute, die Bücher nicht läsen, sondern lediglich zum Schmuck ihrer Wände besäßen“ (Hartmann 2015: 713) legen den wertbesetzt normativen, wie auch den symbolischen Umgang mit dem Buch bereits in der Antike nahe. Eine Möglichkeit, Kultur und Sozialstruktur im Hinblick auf Kontinuitäten und Transformationsprozesse in den Wertzuschreibungen an Bücher zu verknüpfen, ist somit die Frage nach dem in einer elitären sozialen Schicht oder einem elitären Milieu angesehenen Leitmedium (Überblick zum Konzept bei Müller et al. 2009). „Unter dem Begriff ‚Leitmedium‘ wird dasjenige Medium verstanden, das innerhalb eines bestimmten Zeitraumes die gegenüber anderen Medien umfassendste Verbreitung erfährt und damit zusammenhängend die größte Wirkung in gesellschaftspolitischer, weltanschaulicher und kunstästhetischer Hinsicht erzielt“ (Nelles 2002: 25). In der Gelehrtenkultur, die zur Elitenkultur der Frühen Neuzeit gehörte, galt das Buch unzweifelhaft als Leitmedium ihrer Professionen. Buchbesitz war bis weit ins 18. Jahrhundert unabdingbar zur Ausübung gelehrter Tätigkeiten, da der Zugang zum Arbeitsinstrument Buch ansonsten umständlich und langwierig war (Engl 2020; Schneider 2015a). Mit und nach der Aufklärung etablierte sich durch die stetig weiter ausdifferenzierten Disziplinen und Wissenssysteme die Zeitschrift jedoch zunehmend als neues Leitmedium, ohne die gelehrte Buchkultur obsolet zu machen (Kuhn 2018: 196–201). Außer den Gelehrten pflegten gleichzeitig auch höfische Kreise als politische Elite eine erkennbare und distinkte Buchkultur, die qualitativ und quantitativ zur Repräsentationskultur ihres Standes gehörte (Schneider 2015a), und zwar bis in die Moderne. Das Buch als Leitmedium gesellschaftlicher Funktionseliten wurde dann in der bürgerlichen Kultur vom ausgehenden 18. bis weit ins 19. Jahrhundert als distinktives Symbol bedeutend. Friedrich Tenbruck (1986: 263–264) hat darauf hingewiesen, dass durch die bürgerliche auch die Kultur der Moderne an sich weiter und neu gedeutet werden kann. Er hat dabei die „Verselbständigung der Kultur“ (Tenbruck 1986: 264) betont, die zum Mittel und Raum sozialer Verständigung wird. Tenbruck weist den Transformationsprozessen der bürgerlichen Buch- und Lesekultur dabei eine entscheidende Rolle zu: „Erst diese Umwandlung der Gesellschaft in ein Lesepublikum verflüssigte die Kultur zu einem gemeinsamen Besitz“ (Tenbruck 1986: 271). Danach wäre der bürgerlichen Buch- und Lesekultur des 18.  Jahrhunderts zusätzlich eine Rolle als Impulsgeber für den generellen sozialen und kulturellen Wandel zuzuweisen: Lesen und Buchbesitz wurden im (städtischen) Bürgertum

3 Theoretische Perspektivierung: Transformationsprozesse und Kontinuitäten 

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sozial und kulturell wünschenswert (dazu Schneider 2013), denn das bürgerliche Selbstverständnis war darauf ausgerichtet, ein vernünftig handelndes Mitglied der Gesellschaft zu werden und zu sein, das mit ästhetischem Urteilsvermögen, sozialer Verantwortung und politischer Willensbildung ausgestattet war. Um dieses Ziel zu erreichen, war die ‚richtige‘, nämlich moralisch-ethisch belehrende Lektüre zur sittlichen Unterweisung unerlässlich. Im 19. Jahrhundert wurde das Buch deshalb im gehobenen bildungsbürgerlichen Milieu erstmals auch kunstästhetisches Leitmedium und erfuhr in der bürgerlichen Elite nun „die gegenüber anderen Medien umfassendste Verbreitung […] und damit zusammenhängend die größte Wirkung in gesellschaftspolitischer, weltanschaulicher und kunstästhetischer Hinsicht“ (Nelles 2002: 25). Bücher wurden als Leitmedium zum Symbol einer Hochkultur mit hohem sozialen Integrationspotenzial über ihre Texte. Das als sozialer Stand etablierte Bürgertum wurde neben Kirche und Schule zur maßgebenden Kontrollund Lenkungsinstanz des Umgangs mit Büchern, und damit auch der Buch- und Lesekultur (Schneider 2015b: 773–777): Die in die Gesellschaft diffundierenden Wertzuschreibungen reichen von ästhetischen bis zu symbolischen Eigenschaften von Büchern, die mit Prestige, Status oder Wissen verknüpft waren, und damit zu kulturell wertvollen und repräsentativen Objekten wurden. Konkrete Buchformate fungieren dabei als Bedeutungsträger mit kulturellem und symbolischem Gehalt (siehe VI. Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik in diesem Band). Das Buch war somit kein epochales Leitmedium, nicht Leitmedium in einer bestimmten Zeitspanne, auch nicht Leitmedium bezogen auf seine Reichweite, seinen Verbreitungsraum (territorial, national, global), aber es war Leitmedium der kulturellen Elite oder eines Teils dieser Elite, also in einem sozial recht klar abgrenzbaren Raum. Das Buch als Leitmedium der gesellschaftlichen Funktionseliten lässt sich kontinuierlich über Jahrhunderte nachweisen. Eine soziale Veränderung, eine Transformation ist allenfalls bei den Angehörigen der jeweiligen Eliten zu erkennen, die alle eine ähnliche Buchkultur repräsentieren und einen ähnlichen Umgang mit dem Buch praktizieren. Dazu gehört der private Buchbesitz, dessen Wert und Funktion in der Sozialisation vermittelt und dessen Gebrauch in Routinen eingeübt werden. Das konkrete Format, das Objekt Buch fungiert als Bedeutungsträger mit kulturellem und symbolischem Gehalt. Dies gilt bis ins 20. Jahrhundert, in dem sich erste Tendenzen einer veränderten Einschätzung des Mediums Buch durch die Funktionseliten nach dem ersten Weltkrieg und dann massiver zur Jahrtausendwende ankündigen. Kultursoziologisch lässt sich eine Vorher / NachherAussage von der ausgehenden Antike bis fast in die Gegenwart für die Funktionseliten einer Gesellschaft kaum seriös belegen.

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 VIII.2 Transformation und Kontinuität in Buch- und Lesekulturen

3.1.2 Konstante 2 – Buchkonsum in der Massenkultur Die Entstehung der medialen Massenkultur in Abgrenzung zur literarischen Hochkultur entwickelt sich ab dem 18. Jahrhundert, ausgehend vom bürgerlichen Buchals allgemeinem Kulturkonsum (North 2003). Dabei vollzog sich eine Dichotomisierung kulturell wertvoller und trivialer Bücher, abhängig von ihren jeweiligen informierenden oder unterhaltenden Inhalten. In der ab der Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommenden, sofort stark kommerzialisierten Populärkultur als „Gegenpol zu Hoch- und Elitenkultur“ (Maase 2003: 48) waren ‚kulturell wertvolle‘ Bücher daher auch nie Leitmedien (siehe Hügel 2003: 18–19): Es dominierten stattdessen Bücher und Medien, die leicht konsumierbar waren und auf reine Unterhaltung zielten, wie z.  B. Familienzeitschriften und Heftromane, später auch audiovisuelle Medienformate. Bücherlesen gehört somit zwar zum medialen Alltag und Zeitvertreib sowie zur Unterhaltung, steht in der medialen Massenkultur jedoch weder an erster Stelle, noch stehen hochkulturelle Inhalte im Mittelpunkt. Über die kommerziellen und industriellen Aspekte dieser massenhaften Buch- und Lesekultur werden Lesen und Buchnutzung stattdessen zu spezifischen Konsumpraktiken der Unterhaltung und Zerstreuung. Adorno und Horkheimer (1969) spiegeln diese Entwicklungen in ihren Ausführungen zur Entstehung und zu den Folgen der Kulturindustrie in der modernen Gesellschaft. In der Massenkultur hat das Medium Buch eine andere kulturelle Funktion als in der Kultur der Eliten, denn „Massenkultur ist Marktkultur“ (Maase 2003: 49). Die kritische Theorie der Frankfurter Schule kann die Ausprägungen der Massenkultur und ihre Ursachen, Konsequenzen und Werthaltungen dabei zwar erklären, bietet jedoch außer der Reduktion des Buchs auf seinen Warenwert kaum Erklärungen für die damit verknüpften Transformationsprozesse von Buch- und Lesekulturen. Die Transformationsprozesse der Buch- und Lesekulturen hin zur Massenkultur sind somit auch nicht als deutliche Zäsur zu beschreiben, sondern eher als langsame Diffusion und Transformation elitärer Buch- und Lesekulturen, wobei einerseits hochkulturelle bürgerliche Werthaltungen beibehalten und zur sozialen Distinktion hervorgehoben werden, andererseits aber auch durch populärkulturelle Werthaltungen erweitert werden (Schneider 2013 und 2015b). Die Partizipation der bürgerlichen Eliten an populärkulturellen Phänomenen steht diesem Ansatz dabei nicht entgegen: Populärkultur ist Unterhaltungskultur, die erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sozial distinktiv wirkt (Hügel 2003: 18). Hügels Vorschlag eines Phasenmodells, das Leitmedien und Rezeptionshaltungen in ihren Entwicklungen verfolgt, führt sechs unterscheidbare, recht kurze Phasen der Populärkultur von 1850 bis 2000 auf, wobei nur in den ersten beiden Phasen bis um 1890 Lesemedien als Unterhaltungsmedium dominieren. In der Massenkultur der Moderne gewinnen audiovisuelle Medien und unterhaltende Events dagegen mehr und mehr an Bedeutung. Gleichwohl bietet die belletristische Buchproduk-

3 Theoretische Perspektivierung: Transformationsprozesse und Kontinuitäten 

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tion für jedes soziale Milieu adäquate Publikationen. Diese Vielfalt der Produktion wurde durch die durchgreifende Industrialisierung der Buchherstellung in allen Produktionsstufen ermöglicht und beschleunigt: Publikationen wurden erheblich billiger und die Quantität erreicht nie gekannte Größenordnungen (Kastner 2003). Der Konsum als Aneignungsform von Büchern in der Massenkultur kann für die Buchforschung deshalb konzeptuell als Erweiterung des Spektrums von Buch- und Lesekulturen fruchtbar gemacht werden, nicht aber als Zäsur (Revolution).

3.2 Zeitdimension Zeit als kulturelle Dimension (hierzu theoretisch z.  B. Beck 1994) ist in der Buchforschung vor allem in den Studien zum kulturellen oder kollektiven Gedächtnis berücksichtigt worden, aber nur dann, wenn dem Buch die Funktion als Trägermedium dieses Gedächtnisses zugewiesen wird (siehe VII.3 Überlieferung und kulturelles Gedächtnis in diesem Band). Üblich ist weiterhin Forschung zur zeitlichen Veränderung von Lesepraktiken oder Lesetechniken in ihrer historischen Entwicklung. Hierbei ist die kulturelle Dimension zu berücksichtigen, die aus der Verknüpfung von Zeit- und Buch- bzw. Lesekulturen entsteht, und die deren Transformationsprozesse und Kontinuitäten mitbestimmt. Dabei stehen Fragen nach den jeweils zweckgebundenen Tageszeiten des Lesens in unterschiedlichen Buchkulturen genauso im Mittelpunkt wie jahreszeitlich bedingte Lesepraktiken, z.  B. das Lesen in der Sommerfrische ab dem 18. Jahrhundert oder später am Strand (Schneider 2023), sowie Lesezeiten in Abhängigkeit von Lebensabschnitten. Diese kulturellen Zeitdimensionen im Leseverhalten sind unterschiedlich stark erforscht: Während empirische Studien zur Mediennutzung des 20. und 21. Jahrhunderts stets auch die Frage nach der Quantität der Lesezeit am Tag, der Woche, im Monat oder Jahr stellen (siehe VII.1 Soziale und kulturelle Teilhabe in diesem Band) und damit eine recht umfassende Antwort auf Fragen nach der Veränderung der durchschnittlichen Lesezeit in Dekaden oder auch jährlich geben, bleiben Fragen nach der Veränderung von Lesezeiten im Tagesablauf, der Jahreszeit oder Lebenszeit fast unbeantwortet. Für den Umgang mit dem Buch fehlen solche Studien sogar gänzlich. Im historischen Verlauf erkennbare Transformationsprozesse der Buch- und Lesekulturen in Abhängigkeit von Lesezeiten unterliegen dabei auf den ersten Blick recht simplen strukturellen Einflüssen: den zeitlichen Ritualen der Kirche, z.  B. im Jahresverlauf, und den Schulzeiten, in denen Buchgebrauch und Lesen in feste Zeiten eingebunden sind, der Arbeitszeit und der Freizeit sowie weiteren äußeren Bedingungen wie z.  B. den Lichtverhältnissen. Entsprechende Entwicklungen lassen sich für die Zeitdimension also vor allem in den Veränderungen der Lebensverhältnisse, der Alltagsstruktur, der Freizeitkultur und der technischen Neuerungen

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 VIII.2 Transformation und Kontinuität in Buch- und Lesekulturen

suchen. Zu letzteren gehört z.  B. künstliches Licht. Lesen im Winter, in den Abendstunden oder nachts, in dunklen Räumen wie Bibliotheken oder privaten Wohnungen wurde flächendeckend erst nach Ablösung des Kerzenlichts durch Öllampen und vor allem durch das elektrische Licht möglich, vor allem in ihrer Breitenwirkung. Erste Fragen nach den Lesepraktiken in verschiedenen Tageszeiten und ihrer potenziellen Veränderung sind aber erst in den letzten Jahren in angelsächsischen Forschungen zum Gegenstand geworden. Wie fruchtbar die intensive Analyse der Lesezeiten sein kann, zeigt z.  B. ein Studie von Christopher Ferguson (2020) zum Aufkommen des nächtlichen Lesens in England, das bald auch zur alltäglichen kulturellen Praxis in anderen europäischen Ländern wurde: Vor der Moderne sorgten die Kosten und potenziellen Gefahren, die mit künstlichen Lichtquellen verbunden waren, dafür, dass das nächtliche Lesen eine elitäre Gepflogenheit von gesellschaftlich und finanziell privilegierten oder außergewöhnlich motivierten Leser*innen war. Für den Großteil der Bevölkerung blieb das Lesen in der Nacht eine ungewohnte, außergewöhnliche Praktik (Ferguson 2020: 9). Dennoch kann Ferguson zeigen, dass sich diese Praktik im Laufe des 19. Jahrhunderts erheblich ausweitete. Er interpretiert die neue Lesezeit als ein Orientierungsverhalten am Lebensstil, der zuvor nur wohlhabenden Eliten vorbehalten war, und somit als einen demokratischen Baustein. Ruth Geiser hat gezeigt wie fruchtbar die Auswertung autobiografischer Zeugnisse von Leserinnen sozial niedriger Schichten im ausgehenden 19. und beginnenden 20.  Jahrhundert im Hinblick auf die Lichtverhältnisse und die sich daraus ergebenden Lesemöglichkeiten sein kann (Geiser 1995). Sie konnte aus ihren Quellen belegen, dass die „soziale Kontrolle nirgendwo so ausgeprägt ist, wie in der Lichtgemeinschaft unter einer Lampe“ (Geiser 1995: 261), und Licht als Sozialisationsmittel eingesetzt wurde, um z.  B. Kindern den richtigen Platz zuzuweisen, in einem Raum, der durch die Lampe strukturiert wird. „Im sozialen Leben gibt es [aber] auch eine Eigenzeit, die jeder Mensch mit sich trägt“ (Nowotny 1993: 37). Diese Eigenzeit ist ein Resultat der in der Aufklärung entdeckten und betonten menschlichen Individualität und Subjektivität. Eigenzeit blieb allerdings „noch ganz eingebettet in die private Sphäre, den Blicken der anderen entzogen, die geheime Zeit des werdenden Ichs“ (Nowotny 1993: 39). Diese intime Privatheit der entstehenden Moderne war der passende Rahmen für das individuelle, intime Lesen, das sich der sozialen Kontrolle verweigert. Die Transformationsprozesse der Lesepraktiken zwischen Öffentlichkeit und Privatheit in der Aufklärung sind vielfach in der historischen Buchforschung thematisiert worden. Eine genaue Untersuchung, wie und ob diese Praktiken ihre Impulse von neuen Zeitpraktiken erhielten, müsste aber anhand von Fallbeispielen noch weiter untersucht werden. Vielfach belegt sind beispielsweise geschlechtsspezifische Zeitökonomien (Banki 2022), die mit bestimmten Lesepraktiken in Verbindung gebracht werden, ohne jedoch Epochengrenzen zu markieren.

3 Theoretische Perspektivierung: Transformationsprozesse und Kontinuitäten 

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Helga Nowotny datiert den Ursprung der Eigenzeit ins 19. Jahrhundert, als im Zuge der Industrialisierung im Kampf der organisierten Arbeiterbewegung der Erholungsbedarf in arbeitsfreier Zeit als kollektiver Anspruch erhoben wurde (Nowotny 1993: 38). „In der Zeit zwischen 1750 und 1800 wurde die moderne Industriegesellschaft geboren und mit ihr verstärkte sich die zunächst räumliche, später auch inhaltliche und bewusstseinsmäßige Trennung von Arbeitszeit und Freizeit“ (Opaschowsky 2008: 29). Die individuelle freie Zeit dient sozialen Tätigkeiten, vielfältigen kulturellen Unternehmungen (Lesen, Kino, Theater etc.), dem Sport und nicht zuletzt der Mediennutzung. Seit der Moderne haben sich damit typische Freizeitgestaltungen etabliert, von denen die Auseinandersetzung mit Literatur und das Sammeln von Büchern neben dem Sport eine der ältesten Freizeitbeschäftigungen sein dürfte. Für die römische Republik Ende des 3.  Jahrhunderts ist die Anlage von opulent ausgestatteten Privatbibliotheken bezeugt und Lesen war eine „Art ‚Musenkult‘“ (André 2002: 181). Freie Zeit für das Lesen zu nutzen, spricht für eine frühe Lesekultur als Freizeitkultur, die allerdings in der Antike kein routiniert praktiziertes Massenphänomen war: „Die Generation Ciceros hat eine Ethik geistig anspruchsvoller Freizeitkultur entwickelt und damit eine Basis geschaffen, auf der die Elite der Kaiserzeit aufbauen wird“ (André 2002: 183). In der individuellen Freizeitkultur der Kaiser waren reichhaltige, auch Modeströmungen entsprechende Privatbibliotheken, bisweilen mehrere eines Besitzers, geradezu Standard und wurden von den Zeitgenossen als Ausdruck von Snobismus verstanden (André 2002: 267). Diese Lesekultur war die Lesekultur einer Elite, gleichwohl eingebunden in ein spezifisches Zeitformat. Die zeitstrukturelle Verlagerung der Lesezeit in die Nacht ist eine bisher nur sporadisch untersuchte Entwicklung der Lesekultur, die weniger als Transformation, sondern eher als Erweiterung der Lesezeit gesehen werden muss. Ähnlich verhält es sich mit dem Lesen im Verlauf der Jahreszeiten. Sommerlektüre ist ein Resultat der verlängerten Freizeit, in der sich das wohlhabende Bürgertum in wochenlangen Sommerfrischen und Badeurlauben mit Lektüre die Zeit möblierte. Die sozialen und ökonomischen Veränderungen während der industriellen Moderne führten zur Entstehung einer spezifischen Sommerlektüre, auf die auch der Buchhandel reagierte. Die Sommerreise bot dem Bürgertum die freie Zeit zur leichten Lektüre, vorwiegend Romane, die in preiswerten Ausgaben in der Sommerfrische gelesen wurden (Harrington-Lueker 2019; Schneider 2023). Diese Praktik wird bis heute unabhängig von analogen oder digitalen Lesemedien ausgeübt und ist somit ein kontinuierliches Element der Buch- und Lesekultur geblieben. Die Zeitdimensionen von Buch- und Lesekulturen wurden in der Buchforschung häufig bagatellisiert, sind somit jedoch ein wesentlicher Faktor ihrer Transformationsprozesse und Kontinuitäten und daher in Abgrenzungs- und Periodisierungsvorhaben zu berücksichtigen. Dabei muss zwischen sich verändernden Zeitstruk-

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 VIII.2 Transformation und Kontinuität in Buch- und Lesekulturen

turen und Zeitwahrnehmungen (‚Eigenzeit‘; zur Unterscheidung von Lesezeit und Wahrnehmung von Lesezeit siehe auch Kuhn 2018b) unterschieden werden, die beide in ihren Ausprägungen Buch- und Lesekulturen nachhaltig prägen und charakterisieren.

3.3 Raumdimension Räume sind sowohl abstrakte kulturelle Konstruktionen (Dimensionen, siehe Abschnitt 3) als auch konkrete kulturelle Situierungen (Formate, siehe Abschnitt 3) von Buch- und Lesekulturen (hierzu allgemein theoretisch Löw 2012 [2001]), die einzeln oder zusammen Transformationsprozessen unterliegen. Räume sind gleichzeitig über zeitgebundene Orte von Büchern situativ, sozial und medial bestimmbar. Situative Räume sind Manifestationen von Lesesituationen und buchbezogenen Praktiken an typischen Orten, z.  B. durch alltägliche Routinen in Beruf und Freizeit. Solche Räume reichen z.  B. von der Überbrückung von beliebigen alltäglichen Wartezeiten bis zu ‚elastischen Leseräumen‘, die zur Überwindung von Fahrtund Reisezeiten dienen. Sie werden durch Bücher als kulturelle Objekte (materiell wie medial) hervorgebracht (z.  B. Taschenbuch- als Reisebuchformat), und wirken gleichzeitig auf sie zurück (z.  B. Mobilität auf E-Books), und oft bewusst eingerichtet und genutzt. Die damit verbundene Topografie des Buchs umfasst z.  B. auch die Werkstätten seiner Produktion, den Umschlagplatz seines Handels sowie seinen Aufbewahrungsraum und den Ort der Buchnutzung. Transformationsprozesse und Kontinuitäten kultureller Orte und Topografien stehen häufig mit soziotechnischen und ökonomischen (siehe VIII.1 Soziotechnische Aspekte der Buchkommunikation in diesem Band) und damit mit sozialstrukturellen Entwicklungen bzw. Erweiterungen (siehe unten) in Zusammenhang. So werden Bücher stark vereinfacht z.  B. in der Frühen Neuzeit in Druckwerkstätten hergestellt und verkauft, ab dem 19. Jahrhundert in Großdruckereien produziert und über den Kolportagebuchhandel vertrieben und ab dem 20. Jahrhundert zunehmend in Softwareschmieden programmiert und über Webshops zugänglich gemacht. Der über situative Räume und Topografien sichtbare soziale Raum in seinen Transformationsprozessen und Kontinuitäten umschreibt dabei die Institutionen und sozialen Beziehungen, in denen Bücher hergestellt, verbreitet und genutzt werden. Damit sind sowohl soziale Räume gemeint, in denen Lesen oder buchbezogene Praktiken regelhaftes und manifestes Element der Institution sind, wie z.  B. in der Schule oder in Lesegesellschaften, als auch solche sozialen Beziehungen, deren dominierende Funktion nicht im (gemeinsamen) Lesen liegt, die aber dennoch Raum zum Vorlesen und Lesen bieten, z.  B. in der Familie, in den Peergroups, sowie solche, in denen Lesen die sozialen Beziehungen erst konstituiert, z.  B. in (virtuel-

3 Theoretische Perspektivierung: Transformationsprozesse und Kontinuitäten 

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len) Leseclubs. Soziale Räume sind in der Regel organisiert und werden oft durch Zugangsregeln konstituiert. Das Bürgertum im 19. Jahrhundert ist z.  B. ein solcher sozialer Raum, die gesellschaftspolitischen Bewegungen im 20. Jahrhundert ebenso (siehe VII.2 Vergemeinschaftung in diesem Band), die Schule ein weiterer (siehe VI.3 Stützungssysteme in diesem Band). Der soziale Raum des Buchs ist vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit in erster Linie ein institutionell gebundener Raum, vor allem durch die Institution Religion. Zu den sozialen Räumen von Buch- und Lesekulturen gehören auch die institutionalisierten Praktiken ihrer Herstellung (z.  B. Verlagsbuchhandel) und Verbreitung (z.  B. Sortimentsbuchhandel), die durch Normen (z.  B. Urheberrecht), Traditionen (z.  B. Typografie) und Werthaltungen (z.  B. Kulturgut) geprägt sind. Der in den Buchformaten und Nutzungsorten sichtbare, und über den sozialen Raum institutionalisierte mediale Raum bezeichnet schließlich die Position von Büchern im komplexen Mediensystem (siehe IV.1 Mediensysteme in diesem Band) sowie ihre Wahrnehmung in der Gesellschaft. Diese unterliegen, je nach historischem Medienverbund, ebenfalls komplexen Transformationsprozessen. Da Bücher keine allgemein bestimmbaren Medien mit klar definierten Eigenschaften sind (siehe hierzu I Theoretische Perspektiven und Gegenstände in diesem Band), ändern sich auch ihre Funktionen und Bedeutungen, damit ihre sozialen und situativen Räume und damit wiederum auch spezifische Buch- und Lesekulturen. Während die kulturellen Zeitdimensionen in ihren transformativen Einflüssen auf Buch- und Lesekulturen kaum erforscht sind, finden sich zu den räumlichen Dimensionen und ihren Veränderungen erheblich mehr Studien der Buchforschung. Früh wurde z.  B. das öffentliche Bibliothekswesen räumlich untersucht, z.  B. sowohl topografisch über die (nationale wie internationale) Verbreitung von Bibliotheken verschiedener Art, und wie sich diese insbesondere auf nationale, lokale und soziale Lesekulturen ausgewirkt haben oder noch auswirken (Hauke und Werner 2016). Auch als abstrahierte kulturelle Lese-, Wissens- oder soziale Beziehungsräume wurden und werden Bibliotheken intensiv in ihren Veränderungen erforscht, z.  B. im Kontext des Sammelns (Sommer 2011: 143; siehe III.3 Kulturelle Praktiken des Buchgebrauchs in diesem Band). Ähnliches gilt für die topografische Beschreibung der Buchhandelsdichte und anderen Buchverkaufsstellen in Städten oder Landstrichen in ihren Auswirkungen auf soziale und mediale Räume von Büchern. Insbesondere die Veränderungen der Zugänglichkeit zum Buch wird handels- wie sozialgeschichtlich dabei recht detailreich in den einschlägigen Buchhandelsgeschichten nachgezeichnet (schon Kapp und Goldfriedrich 1886–1913, passim). Soziale und mediale Räume von Lese- und Buchkulturen zeigen sich hier bis weit in die Moderne an erkennbaren Stadt-LandGefällen im Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung, in der Konfrontation der

550 

 VIII.2 Transformation und Kontinuität in Buch- und Lesekulturen

Gesellschaft mit Literatur und Schriftlichkeit sowie im Zugang zu unterschiedlichen Lesemedien und medialen schriftbasierten Angeboten (zu Stadt und Literatur siehe Heyl 2013). Während einzelne Raumdimensionen in der Buchforschung gut untersucht sind, fehlt es in ihren Studien oft an ihrer Integration und Zusammenführung, z.  B. über Erschließungskonzepte über Zentren und Peripherien von Buch- und Lesekulturen (Stagl 1998: 39–40). Dies findet sich ähnlich bei Andreas Reckwitz in praxeologischer Sicht: „Im Falle räumlicher Atmosphären ist nicht das einzelne Ding von Bedeutung, sondern die dreidimensionale Situierung von Dingen, die auf diese Weise relational einen Raum bilden. Dieser Raum wiederum wird von den Subjekten nicht ‚benutzt‘, sondern man tritt in ihn ein und erfährt ihn auf eine bestimmte Weise“ (Reckwitz 2016: 175). Diese relationalen Raumgefüge als kulturelle Konstruktionen verschiedener Dimensionen sind in ihrer Einrichtung, Transformation, Kontinuität und Wirkung bisher zu wenig untersucht. Neben der praxeologischen und raumsoziologischen Perspektivierung sind hierzu systematische Analysen von Bildquellenmaterial gefordert, denn der kollektive Umgang mit Büchern wurde spätestens seit der Aufklärung auch medial unterstützt, indem z.  B. in den beliebten Almanachen oder Zeitschriften Kupferstiche mit (idealisierten) Lesesituationen vorgestellt wurden. Bilder vom Lesen in der Natur, vom (Vor-)Lesen im geselligen Kreis, die Darstellung von Lesemöbeln – die Motive der Illustrationen trugen zur Kontinuität bestimmter Aspekte des Umgangs mit Büchern in Lese- und Buchkulturen bei.

4 Desiderate Die bisherige Buchforschung suggeriert eine Abfolge von historisch eindeutigen Umbrüchen und Einschnitten, die sich bei genauem Hinsehen sowohl in der Leseals auch in der Buchkultur aber als eine stetige Erweiterung und Differenzierung von kulturellen Praktiken und sozialen Öffnungen erweisen. Diese Erweiterungen vollziehen sich nicht abrupt und übergreifend (z.  B. als ‚Revolutionen‘), sondern sind Ergebnisse meist jahrzehntelanger (teilweise jahrhundertelanger) Transformationsprozesse einzelner Dimensionen, wobei Kontinuitäten überwiegen. Gleichwohl gibt es im Kontext einzelner lese- und buchkultureller Dimensionen kurzzeitige Brüche, die sich aber nicht in dem Maß aus neuen Technologien oder medialen Angeboten entwickeln, wie in der Medien- und Technikgeschichte gerne behauptet. Vielmehr gewinnen differenzierte Sozial-, Zeit- und Raumdimensionen im ‚Vorher / Nachher‘-Vergleich an Bedeutung. Die Bündelung von zeitlich dicht aufeinander folgenden Phänomenen wie die Veränderungen der Zeiteinteilung und -wahrnehmung sowie der Lichtverhältnisse

4 Desiderate 

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während der Industrialisierung, die Verbilligung von Büchern, die das Medium sozial und räumlich weiträumig zugänglich machten oder die Konfrontation mit Texten durch Veränderungen der medialen Räume von Büchern im Mediensystem scheinen dabei eine erheblich größere Wirkung auf Buch- und Lesekulturen gehabt zu haben als politische Ereignisse, Technologien oder neue mediale Angebote. Erst mit den zusammenfallenden Transformationsprozessen vieler unterschiedlicher Dimensionen rund um das Lesen und Bücher wird das 19. Jahrhundert daher zum epochalen Einschnitt, und kann als Referenzgröße (soziologisch als Umbruch zur ‚Moderne‘) eines allgemeinen Vorher- / Nachher-Vergleichs ‚der‘ Lese- und Buchkultur konstruiert werden. Da sich aber selbst hier kulturelle Transformationsprozesse in Sozial-, Zeit- und Raumdimensionen unterschiedlich entwickeln und nur Erweiterungen des ‚vorher‘ Üblichen darstellen, erscheinen universelle Periodisierungen unabhängig von konkreten Forschungsgegenständen zwar pragmatisch, wissenschaftlich aber wenig aussagekräftig zu sein. Walter  L. Bühl plädiert in diesem Sinn dafür, Kultur als „ein in Bewegung befindliches, funktionsfähiges bzw. adaptionsfähiges System“ zu verstehen (Bühl 1986: 125), was „menschliche Gemeinschaften befähigt, sich an die verändernde ökologische Umwelt und an die sich wandelnden Zielsetzungen […] anzupassen“ (Bühl 1986: 125). Dies gilt auch für die Betrachtungen von Buch- und Lesekulturen in ihren Transformationen: Zu betrachten sind immer historische Transformationsprozesse einzelner Systemelemente sowie die damit verknüpften Systemveränderungen und -kontinuitäten. Diese deuten bisher auf kontinuierliche Erweiterungen (Raum- und Zeitdimension) und Differenzierungen (Sozialdimension) hin, mit denen sich die kulturellen Funktionen und sozialen Leistungen von Büchern verändern: So lässt z.  B. sich eine historische Abfolge des Lesens vom kognitiven Hilfsmittel, professioneller Erfordernis, politischer und literarischer Partizipation, kultureller Identitätsbildung und Vergemeinschaftung bis zum Ausdruck individueller Lebensstile detaillierter erklären (Schneider 2014). Kontinuitäten als Stabilisierungen von Lese- und Buchkulturen entstehen dagegen über Sozialisationsprozesse, welche Elemente der Aneignung von Büchern und von Lesepraktiken tradieren. Dies geschieht überindividuell, denn kollektive Buch- und Lesekulturen geben den Umgang mit dem Buch und die tradierten Muster der Lesekultur, also Werteordnungen vor. „Damit kann die relative Stabilität der Buchkultur erklärt werden, denn inkorporiertes Wissen beschränkt die reflexive Auseinandersetzung mit dem Buchgebrauch und erzeugt dadurch einen hohen Widerstand gegen dessen Transformationen“ (Kuhn 2023: 92).

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 VIII.2 Transformation und Kontinuität in Buch- und Lesekulturen

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 VIII.2 Transformation und Kontinuität in Buch- und Lesekulturen

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Literatur 

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VIII.3 Internationale Vergleiche von Buchund Lesekulturen Christoph Bläsi und Dörthe Fröhlich 1 Gegenstandsbereich Es geht in diesem Beitrag um die vergleichende Betrachtung von Buchkulturen. Buchkultur hat einerseits als vortheoretischer Werkstattbegriff eine so weite wie uneinheitliche Extension, während andererseits eine über einzelne Forschungstraditionen hinaus allgemein anerkannte Begriffsfassung von Buchkultur bis dato nicht existiert. Den Überlegungen dieses Beitrags liegt folgende Arbeitsbegriffsfassung zugrunde, nach der die Lesekultur Teil der Buchkultur ist: Buchkultur aggregiert die Gesamtheit der buchbezogenen Praktiken, Institutionen, Gesetze und Regeln sowie Strukturen und Prozesse einer Gesellschaft bzw. von Teilbereichen einer Gesellschaft; wirkmächtig wird das Konzept vor allem dann, wenn es über vom Prinzip her gut beschreibbare (z.  B. Institutionen, Gesetze und Regeln) bzw. sogar zahlenmäßig erfassbare (z.  B. Titelproduktion, Lesegewohnheiten) Gegebenheiten hinaus greift und zugrunde liegende Werthaltungen, Traditionen, Interaktionsformen und materielle Einschreibungen in den Blick nimmt.

Als Betrachtungseinheiten für internationale Vergleiche von Buchkulturen können neben Kultur- und Sprachräumen, die sich oft als Nationen oder Länder abgrenzen lassen, auch historisch gewachsene oder sich im Hinblick auf Ethnie, Religion, Politik oder Wirtschaft anderweitig auszeichnende Gemeinschaften (siehe VII.2 Vergemeinschaftung in diesem Band) dienen. Im Bewusstsein dieser Differenzierungen sollen nachfolgend als die am häufigsten genannten Betrachtungseinheiten vereinfachend jeweils nur Länder explizit erwähnt werden. Um Länder oder anders spezifizierte Regionen oder Gemeinschaften hinsichtlich ihrer Buchkultur entweder umfassend oder auch gezielt auf bestimmte Dimensionen hin vergleichen zu können, ist es wichtig, dass durch Methoden der beschreibenden Statistik jeweils möglichst kommensurable  – also auf gleichen Voraussetzungen basierende und deshalb vergleichbare – Zahlen vorliegen. Dabei ist davon auszugehen, dass jeder operationalisierte Begriff von Buchkultur auch ein mit Paaren aus Eigenschaften und Werten ausdrückbares Substrat hat, von denen z.  B. die Zahl der jährlichen Neuerscheinungen (Eigenschaft) und 77.272 (Wert) eines wäre – das Beispiel ist für Deutschland und das Jahr 2020 (Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2021: 81). Welche Daten grundsätzlich dafür genutzt werden können, wie und wo diese erhoben, zusammengestellt und veröffentlicht werden https://doi.org/10.1515/9783110745030-023

1 Gegenstandsbereich 

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und welche Probleme dabei auftreten, behandeln Abschnitt 2: Einzelerhebungen und Abschnitt 3: Strukturierte Zusammenstellungen. In der beschreibenden Statistik bleibt die abschließende Bewertung einzelner Eigenschaft-Wert-Paare oder auch des Vergleiches solcher Paare aus verschiedenen Ländern eine Aufgabe des Interpretierenden, der oder die diese Ergebnisse kontextualisieren muss. Es gibt aber auch aus Basis-Paaren aggregierte bzw. zusammengestellte Eigenschaft-Wert-Paare, die den Ansatz einer normativen Bewertung schon in sich tragen. Ein wichtiger aggregierter Wert ist die sogenannte Bibliodiversität, eine ausgezeichnete Menge aus Werten der von den Autoren sogenannten Gesundheit eines Buch-Ökosystems (siehe Abschnitt 4: Aggregierte Größen mit normativer Perspektive). Anschließend werden über die beschreibende Statistik hinaus gehende Ansätze in den Blick genommen. Zum einen sind viele Kenndaten einer Buchkultur, die man sich wünschen könnte – man denke z.  B. an die gesellschaftlichen Wertzuschreibungen dem Medium gegenüber – schwer operationalisierbar und zum anderen sind im gegebenen Zusammenhang interventionelle Interessen  – typischerweise die, eine gegebene Buchkultur auf irgendeine Weise besser zu machen – naheliegend. Das ist der Grund, warum buchpolitische Maßnahmen  – mit Kategorisierungsansätzen, Beispielmaßnahmen etc.  – in Abschnitt  5: Buchpolitische Maßnahmen eingehender betrachtet werden. Zum anderen fördert der Vergleich von Ländern nach Kennzahlen sowie nach nicht-numerischen Kenndaten große Unterschiede und gelegentlich auch Gemeinsamkeiten zwischen Ländern zu Tage. Eine im Zusammenhang des Vergleichs von Buchkulturen unausweichliche Frage ist deshalb, ob man Gründe für die festgestellten Unterschiede (und Gemeinsamkeiten) identifizieren kann. Auch wegen der hohen Zahl an zu berücksichtigen Parametern und da sich mutmaßlich relevante Daten wie solche zur geistesgeschichtlichen Entwicklung in einem Land nicht angemessen für solche Zwecke darstellen und für einen pragmatischen Vergleich funktionalisieren lassen, liegen bisher allerdings lediglich Ansätze vor, Länder nach ihrer Buchkultur, wie sie sich anhand von Kenngrößen und Kenndaten darstellt, in einem ersten Schritt in Cluster jeweils größerer Ähnlichkeit einzuteilen. Diese Ansätze auf dem Weg zur Beantwortung der Frage nach dem Warum (Abschnitt 6: Von der Beschreibung zur Analyse) werden ergänzt um einen Ansatz der kulturvergleichenden Sozialforschung (Abschnitt 7: Kulturdimensionen als anregender werteorientierter Ansatz). Es finden sich zwar für Buchkulturen im Besonderen bis dato keine expliziten Anwendungsbeispiele in dieser Forschungstradition, allerdings stellt die praktizierte Operationalisierung von Kultur anhand von werteorientierten Kulturdimensionen für zukünftige Forschungsvorhaben einen nutzenstiftenden Ausgangspunkt dar.

558 

 VIII.3 Internationale Vergleiche von Buch- und Lesekulturen

2 Einzelerhebungen Um Buchkultur beschreibbar und zwischen verschiedenen Ländern vergleichbar zu machen, ist es zunächst naheliegend, einzelne quantifizierbare Kenngrößen aus relevanten Arbeiten der beschreibenden Statistik als Vergleichsparameter heranzuziehen. Dieser Vorgehensweise liegt die Annahme zugrunde, dass Buchkulturen verschiedener Länder – ähnlich wie andere soziale Phänomene oder Strukturen einer Gesellschaft – distinktive Merkmale aufweisen, deren Analyse im Sinne des insbesondere in den Sozial- und Geisteswissenschaften verbreiteten Ansatzes der international vergleichenden Forschung Unterschiede und Gemeinsamkeiten erkennbar werden lässt (Hantrais 2009). Das primäre Ziel dieser Forschung ist die Gegenüberstellung eben jener Unterschiede und Gemeinsamkeiten sowie (siehe Abschnitt  6) die anschließende Entwicklung von möglichen Erklärungsansätzen bzw. die Einordnung in übergreifende Fragestellungen oder Theorien (Andreß et al. 2019: 2). Der methodische Zugang kann dabei – je nach zugrunde liegender theoretischer Ausrichtung der jeweiligen Disziplin – sehr unterschiedlich erfolgen und neben den angesprochenen quantitativen und qualitativen Vorgehensweisen auch eine Kombination aus beiden Methoden umfassen (Hantrais 2009). Die auf diese Weise betrachteten kulturellen Parameter können das komplexe Gesamtkonstrukt einer Buchkultur mit ihren vielschichtigen Ausprägungen zwar nur punktuell und stark simplifiziert abbilden, bieten aufgrund des aus diesem Umstand resultierenden Fehlens eines adäquaten universellen Modells jedoch geeignete Indikatoren für eine potenzielle Vergleichsanalyse (Kurschus 2015: 142). Die für diese Analysen zugrunde gelegten Daten werden häufig nicht in separaten länderübergreifenden Einzelstudien erhoben, sondern – äquivalent zu dem überwiegenden Vorgehen anderer kulturvergleichender Studien (Minkov 2013: 52–53) – für den konkreten Untersuchungsgegenstand der Buchkulturen größtenteils aus den Ergebnissen bestehender statistischer Erhebungen entnommen und zusammengestellt. Diese wiederum werden – je nach Land – von unterschiedlichen Stellen erfasst respektive publiziert (Wischenbart und Ehlig 2008: 4). Zu nennen sind hier neben nationalen und internationalen Institutionen und Organisationen auf staatlicher und nicht-staatlicher Ebene vor allem private Marktforschungsinstitute sowie verschiedene Branchenorganisationen wie etwa Verleger*innen-, Buchhändler*innen- oder Autor*innenverbände (Norrick-Rühl 2019: 29–34). Analog zu dem vielzitierten Doppelcharakter des Buchs als Wirtschafts- und Kulturgut (Volpers 2002) sind für den internationalen Vergleich von Buchkulturen sowohl ökonomische Kenngrößen im Bereich der Buchproduktion und -distribution als auch den Akt der Buchrezeption betreffende Parameter relevant, die tendenziell dem kulturellen Sektor zugeordnet werden (Kovač et al. 2017: 10). Daraus ergeben sich Faktoren wie Umsatzentwicklung, Titelproduktion, Lizenzverkäufe, Anteil

2 Einzelerhebungen 

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der verschiedenen Vertriebskanäle, Art der Verkaufsstellen, Anzahl der gelesenen Bücher oder Bibliotheksausleihen. Exemplarisch kann für den Bereich der Buchproduktion und -distribution die für Deutschland jährlich vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels herausgegebene Statistik Buch und Buchhandel in Zahlen genannt werden, welche auf Basis der gesammelten Daten unterschiedlich ausführliche Auswertungen u.  a. für die Bereiche Umsatzentwicklung oder Titelproduktion sowie weitere betriebswirtschaftliche Kennzahlen beinhaltet (Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2021). Ähnliche Publikationen finden sich auch für andere Länder wie z.  B. Les chiffres de l’édition des französischen Verleger*innenverbandes Syndicat national de l’édition (Syndicat national de l’édition 2021) oder StatShot Annual des US-amerikanischen Verleger*innenverbandes Association of American Publishers (Association of American Publishers 2021), wobei sowohl die inhaltliche Ausrichtung als auch Umfang und Tiefe der erhobenen Daten teilweise erheblich divergieren. So betrachtet die Analyse The Canadian Book Market der Organisation BookNet Canada in erster Linie die Umsatzentwicklung des kanadischen Buchmarkts mit besonderem Fokus auf vertiefende Indikatoren unterschiedlicher Genres (BookNet Canada 2022), während für Brasilien der in Zusammenarbeit der Câmara Brasileira do Livro sowie dem Sindicato Nacional dos Editores de Livro erarbeitete Bericht Produção e vendas do setor editorial brasileiro lediglich die von dem Dienstleister Nielsen im Bereich der Produktion und Distribution erhobenen Daten aufzeigt (Nielsen BookData 2022). Ähnliches gilt für Studien, welche den Bereich der Buchrezeption näher untersuchen: Neben Daten, die etwa die durchschnittliche wöchentliche Lesezeit oder die Nutzung von Bibliotheken abbilden, wie es z.  B. in den von den jeweiligen Verleger*innenverbänden beauftragten Untersuchungen Hábitos de Lectura y Compra de Libros en España für Spanien (Federación de gremios de editores de España 2022) und Osservatorio sulla lettura e i consumi culturali degli italiani (Associazione Italiana Editori 2022) für Italien der Fall ist, finden sich auch Studien mit spezielleren Schwerpunkten. Als Beispiele können hier die Erhebungen Práticas de Leitura dos Estudantes dos Ensinos Básico e Secundário des portugiesischen Centro de Investigação e Estudos de Sociologia und dem Plano Nacional de Leitura (Centro de Investigação e Estudos de Sociologia 2021) sowie die Annual Literacy Survey des National Literacy Trust in Großbritannien (Clark und Picton 2021) aufgeführt werden, die sich auf die Darstellung des Leseverhaltens von Kindern und Jugendlichen konzentrieren. Ein direkter und vor allem methodisch belastbarer Vergleich verschiedener buchkultureller Parameter aus den beispielhaft angeführten Statistiken – welche in der Regel auch als Grundlage für die in Abschnitt 6 näher beschriebenen Erklärungsansätze dienen – ist häufig nur eingeschränkt möglich. Die Gründe hierfür liegen einerseits in der nicht gewährleisteten Verfügbarkeit in einzelnen Ländern

560 

 VIII.3 Internationale Vergleiche von Buch- und Lesekulturen

und andererseits in der limitierten Vergleichbarkeit der entsprechenden Daten (Kurschus 2015: 176). Festzuhalten ist zunächst, dass die Ergebnisse von in diesem Kontext relevanten Erhebungen häufig nicht bzw. nicht vollumfänglich öffentlich zugänglich sind. Während einige Institutionen die von ihnen erhobenen Daten oft samt Erläuterungen zu der genutzten Methodik unentgeltlich – teilweise sogar zusätzlich in englischer Sprache  – veröffentlichen, beschränken andere den kostenfreien Zugriff etwa auf ihre Mitglieder und verlangen für andere Interessierte eine entsprechende Gebühr oder stellen die Ergebnisse von vornherein nur kostenpflichtig zur Verfügung (Norrick-Rühl 2019: 29). Weitaus problematischer ist jedoch der unabhängig von der grundsätzlichen Zugänglichkeit bestehende elementare Mangel an umfassenden Daten einzustufen. So gehen die Studien bei der Erfassung diverser Parameter häufig selektiv vor: Insbesondere solche Statistiken, die von den jeweiligen Branchenverbänden erhoben werden, sind bei der Datenerhebung in der Regel auf die Hilfe ihrer Mitglieder angewiesen und bilden dementsprechend oft nur einen begrenzten Ausschnitt der realen Verhältnisse ab (Norrick-Rühl 2019: 30–31). Hinzu kommt analog dazu die von Porter Anderson treffend als ‚Amazon Dilemma‘ (Anderson 2018) betitelte Problematik, dass verschiedene sogenannte Big Player keinerlei – vordergründig für ökonomische Kenngrößen essenzielle – Informationen über ihre geschäftlichen Tätigkeiten kommunizieren (Norrick-Rühl 2019: 31). Des Weiteren wird in vielen Ländern die Erhebung von statistischem Datenmaterial zur Beschreibung der jeweiligen Buchkultur entweder nur in sehr unregelmäßigen Intervallen (Fröhlich et al. 2021: 5) oder aber überhaupt nicht durchgeführt (Zell 2013 und 2018), mit der Folge, dass diese Länder für internationale Untersuchungen kaum oder keine Beachtung finden können. Darüber hinaus  – und das ist ein zentraler Befund  – können vorhandene Datensätze häufig nur bedingt für einen länderübergreifenden Vergleich von Buchkulturen genutzt werden, da ihnen bezüglich Erhebung und Auswertung verschiedene Konzepte zugrunde liegen und Standardisierungen in diesem Bereich in der Regel fehlen (Kovač et al. 2017: 9–10). Nach Madden (2005) sind in diesem Kontext zwei Aspekte besonders relevant: zum einen Unterschiede bezüglich des generellen methodischen Vorgehens, zum anderen die uneinheitliche Definition respektive Klassifikation von zentralen Begrifflichkeiten, welche beide zudem durch kulturelle Unterschiede, etwa auf sprachlicher (O’Hagan 2017: 8–9) oder struktureller Ebene (Madden 2005: 304–305), beeinflusst werden. Zurückzuführen sind diese Problematiken auf den bereits erwähnten Umstand, dass für die Gegenüberstellung von Buchkulturen oder anderen kulturellen Aspekten eines Landes in der Regel Daten zugrunde gelegt werden, die originär für nationale Zwecke erhoben wurden und schon von daher nur eingeschränkt auf Vergleichbarkeit hin angelegt und für Vergleiche tauglich sind. Ungeachtet dessen können ähnliche Schwierigkeiten auch

3 Strukturierte Zusammenstellungen 

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bei multinationalen Einzelstudien auftreten; auch diese bedürfen deshalb eine besondere Umsicht bei der Auswertung und Präsentation der Ergebnisse (Jowell 1998: 169).

3 Strukturierte Zusammenstellungen Neben den im vorherigen Abschnitt angesprochenen Einzelstudien finden sich – vorwiegend branchennahe – Überblicksstudien bzw. Ansätze, die im Bewusstsein der dargestellten potenziellen Inkommensurabilitäten statistische Daten für eine Vielzahl von Ländern zusammenstellen und interpretieren. Anders als es bei den in Abschnitt 6 herangezogenen Konzepten der Fall ist, liefern diese Studien in der Regel keine explizite Klassifizierung von Buchkulturen oder gar Erklärungsansätze, sondern konzentrieren sich auf die Darstellung etwaiger aus den Daten ableitbarer Gemeinsamkeiten und Unterschiede in verschiedenen Kategorien. Als erstes kann auf eine von der Federation of European Publishers im Jahr 2017 veröffentliche Studie mit dem Titel The Book Sector in Europe: Facts and Figures verwiesen werden (Federation of European Publishers 2017). Diese versucht durch die Zusammenstellung von sehr verschiedenen messbaren Faktoren den europäischen Buchsektor als eine über wirtschaftliche Aspekte des Buchhandels hinausgehende Größe beschreibbar zu machen. Die Datenbasis bilden vom Verleger*innenspitzenverband selbst durchgeführte jährliche Erhebungen unter seinen Mitgliedern, welche zudem um Daten aus nationalen und internationalen Statistikdatenbanken – zu nennen ist hier für Europa z.  B. die des Statistischen Amtes der Europäischen Union Eurostat – ergänzt werden. Betrachtet werden neben Umsätzen, Titelproduktion oder Lizenzverkäufen auch die Anzahl der Unternehmen und Beschäftigten in der Buchbranche sowie das Vertrauen in diese. Darüber hinaus werden auch Zahlen zu den durchschnittlichen Konsumausgaben privater Haushalte für Bücher oder zum Anteil regelmäßiger Leser*innen an der Gesamtbevölkerung aufgeführt. Aufschlussreich ist, dass die Ergebnisse in der Regel sowohl auf den europäischen Buchsektor als Ganzes hochaggregiert werden als auch den aktuellen Status auf der Ebene einzelner Länder darlegen. Eine weitere Perspektive nimmt eine von der World Intellectual Property Organization in Zusammenarbeit mit der International Publishers Association durchgeführte Studie zur Beschreibung des globalen Buchhandels respektive zum Vergleich der von ihm subsumierten internationalen Buchmärkte ein (World Intellectual Property Organization 2020). Inhaltlich bildet dieser Ansatz hauptsächlich ökonomische Parameter ab, die in erster Linie den Buchmarkt als im Sinne der diesem Beitrag zugrunde liegenden Begriffsfassung zwar wesentlichen, jedoch nicht alleinigen Teil einer Buchkultur beschreiben. Mithilfe eines eigens konzipier-

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 VIII.3 Internationale Vergleiche von Buch- und Lesekulturen

ten Fragebogens werden Daten zu Faktoren wie z.  B. den generierten Umsätzen und der Titelproduktion von insgesamt 63 Ländern gesammelt sowie Unterschiede und Entwicklungen aufgezeigt. Die zugrunde gelegten Daten werden im eigentlichen Sinne nicht neu erhoben, sondern vielmehr von unterschiedlichen Organisationen aus den teilnehmenden Ländern aus bereits vorhandenen nationalen Studien zusammengestellt und anschließend ausgewertet. Komplementiert werden diese Angaben zudem durch weitere Ergebnisse aus anderweitigen Quellen wie etwa der International ISBN Agency oder dem Nielsen BookScan. Dabei handelt es sich zum Teil um ergänzende, zum Teil aber auch um gedoppelte, aus anderen Quellen schon erfasste Kennzahlen, wodurch sich zu einigen Parametern erheblich divergierende Ergebnisse ergeben. Unter anderem aufgrund der Vielzahl an genutzten Statistiken mit jeweils individuellem methodischem Vorgehen kann auch hier nur eine begrenzte Vergleichbarkeit der Daten zu den verschiedenen Buchmärkten gewährleistet werden. Langfristiges Ziel ist es dementsprechend, einerseits eben jene länderübergreifende Vergleichbarkeit der gesammelten Daten zu verbessern und andererseits die Anzahl der inkludierten Länder zu erhöhen. Einen gänzlich anderen Aspekt greift der von Rüdiger Wischenbart, Miha Kovač und Michaela Anna Fleischhacker verfasste und unregelmäßig erscheinende Diversity Report auf: Im Fokus steht dort der eher dem kulturellen Sektor zuzuordnende Bereich der Literaturübersetzungen in Europa sowie damit in Zusammenhang stehende Faktoren wie relevante Marktentwicklungen oder die Literaturförderung (Wischenbart et al. 2020). Aufbauend auf den Ergebnissen der vorangegangenen Ausgaben zielt der Bericht darauf ab, die Entwicklung des Feldes der Literaturübersetzungen in rund einem Dutzend europäischen Buchmärkten abzubilden. Hierzu wurde anhand der Auswertung von nationalen Statistiken etwa von Verleger*innenverbänden, Nationalbibliotheken oder Statistikbehörden sowie der zusätzlichen Recherche in Quellen wie Bestsellerlisten oder Verkaufskatalogen kontinuierlich eine entsprechende Datenbasis zu Übersetzungen zwischen 14 europäischen Sprachen aufgebaut. Die Studie erfasst dabei vier wesentliche Bereiche: die Entwicklung des Anteils von Literaturübersetzungen auf verschiedenen Buchmärkten und in unterschiedlichen Sprachen, die Verteilung und den Anteil von Literaturübersetzungen einzelner Autor*innen unter den Bestsellern verschiedener Länder, Fallstudien zu diversen Autor*innen bzw. Werken und deren Übersetzungen und Adaptionen sowie die Auswirkungen von Literaturpreisen als finanzielle Förderung von Literaturübersetzungen. Außerdem nimmt die Studie neben klassischen Geschäftsmodellen des Buchhandels auch neuere Entwicklungen wie etwa die Professionalisierung des Selfpublishings oder die crossmediale Vermarktung von Inhalten in den Blick. Einen weiteren Ansatz, der explizit die Buchkulturen der Welt als Ganzes abbilden und vergleichbar machen soll, haben Rüdiger Wischenbart und Holger

3 Strukturierte Zusammenstellungen 

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Ehling für die UNESCO sowie die weiteren Interessensgruppen der International Publishers Association, der International Federation of Booksellers und der International Federation of Library Associations erarbeitet (Wischenbart und Ehling 2008). Das von ihnen erstellte Konzeptpapier dient der Ausarbeitung einer Methodik sowohl für die Erfassung als auch für die Integration von verschiedenen – bis dato überwiegend uneinheitlichen – Datensätzen. Basierend auf einer Kombination aus Primär- und ergänzender Sekundärforschung soll auf diese Weise eine große Bandbreite an komplexen Informationsquellen für die Analyse von Buchkulturen verwertbar gemacht werden. Hierzu werden insgesamt elf Indikatoren postuliert: die Anzahl der publizierten Titel, die inhaltsbezogene Kategorisierung der Bücher, die Anzahl der Verlage, die Umsätze der Verlage, die Anzahl der Sortimentsbuchhandlungen, die Buchverkäufe, die Exporte durch Verlage und die Importe durch den Handel sowie die Anzahl der Bibliotheken, der Bücher in Bibliotheken und der Bibliotheksnutzer*innen. Die definitorische Abgrenzung der aufgeführten Indikatoren wird umfassend diskutiert und beschrieben. Um der unterschiedlichen Tiefe der bereitgestellten Informationen Rechnung zu tragen, werden für jeden Indikator zudem klar umrissene Abstufungen erarbeitet, die auch bei einer ungleichen bzw. unvollständigen Datenlage zumindest in Teilaspekten einen Vergleich ermöglichen sollen. Auf die von Wischenbart und Ehling vorgeschlagene Weise sollen Buchkulturen inklusive der dazugehörigen Buchmärkte verschiedener Länder in Zukunft beschrieben und gegenübergestellt sowie ihre potenzielle Einbindung in globale Entwicklungen modelliert werden. Der Harmonisierung von Daten zur Lesekultur als spezifischem Teil der Buchkultur widmet sich schließlich das von verschiedenen Vertreter*innen des europäischen Buchhandels initiierte Projekt Aldus Up, das als ersten Schritt eine von zukünftigen Lesestudien zum Zwecke der Vergleichbarkeit zu implementierende Grundmenge an methodischen Festlegungen vorgelegt hat (Fröhlich et al. 2022). Im Hinblick auf die bis dato sowohl auf begriffsfassender respektive inhaltlicher als auch auf methodischer Ebene stark divergierenden Studien zum Thema Lesen (siehe III.1 Lesen in diesem Band) hat diese Initiative den Zweck, entsprechende Erhebungen zu vereinheitlichen und auf diese Weise die erfassten Daten auf länderübergreifender Ebene vergleichbar zu machen. Aufbauend auf den Ergebnissen einer explorativen Studie in 20 europäischen Ländern (Fröhlich et al. 2021) wurden aus diesem Grund allgemeine Anforderungen an das methodische Vorgehen sowie eine Reihe von grundlegenden Variablen bestimmt, die zukünftig als gemeinsame Basis für die verschiedenen nationalen Erhebungen zum Vergleich von Kennzahlen im Bereich des Lesens fungieren sollen. Die in Form von konkreten Fragestellungen operationalisierten Variablen ergründen neben wesentlichen sozio-demografischen Merkmalen der Teilnehmenden in Bezug auf Geschlecht, Alter, Wohnsitz und Bildung vor allem deren Leseverhalten, wobei hier von einem engen Lesebegriff ausgegangen wird,

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 VIII.3 Internationale Vergleiche von Buch- und Lesekulturen

der das Lesen von Büchern in der Freizeit als auf jeden Fall abzudeckenden Kern bestimmt, Erweiterungen in einzelnen Ländern aber nicht ausschließt. Das eigentliche Leseverhalten wird anhand von drei grundlegenden Variablen hinsichtlich der Anzahl der gelesenen Bücher, der Häufigkeit des Lesens und der durchschnittlich mit dem Lesen verbrachten Zeit betrachtet, welche zudem zwischen Printbüchern, E-Books und Hörbüchern differenzieren. Die Reduzierung auf dieses Grundgerüst an Variablen soll dazu dienen, die Integration der Variablen in bereits bestehende Studien zu erleichtern und gleichzeitig die individuelle Schwerpunktsetzung, gegebenenfalls auch wieder durch die Ergänzung weiterer Variablen, zu ermöglichen.

4 Aggregierte Größen mit normativer Perspektive In den Abschnitten 2 und 3 wurden gängige Größen vorgestellt, die für verschiedene Länder zur Verfügung stehen und anhand derer Buchkulturen verglichen werden. Der Zusammenhang zwischen diesen Größen und dem Zustand einer Buchkultur aus – z.  B. in einem Vergleich – wertender Perspektive scheint zunächst intuitiv, da eine hohe Zahl von jährlichen Neuerscheinungen pro Kopf der Bevölkerung eher als gutes Zeichen bzw. im Vergleich als eher besser interpretiert werden könnte. Ein solcher Schluss wäre aber unterkomplex, da der direkte Zusammenhang einer solchen Zahl mit normativen Setzungen der Funktionalität der Buchkultur eher schwach ist. Erhobene Größen müssen stattdessen – typischerweise als aggregierte Größen  – im Zusammenhang mit gesetzgeberischen und zivilgesellschaftlichen Maßnahmen gesehen werden, die bestimmte Größen so beeinflussen sollen, dass ein als (international oft unterschiedlich ausgelegter) positiv bewerteter Zustand der Buchkultur erreicht wird.

4.1 Bibliodiversität Eine solche aus verschiedenen statistischen Daten aggregierte Größe zur relationalen Betrachtung von Buchkulturen im internationalen Vergleich, die in sich selbst bereits wertende Schlüsse über Buchkulturen zulässt, ist die Bibliodiversität. Das von Benhamou und Peltier (2011) propagierte Konzept sieht dieses als ein multidimensionales, das – wie andere Maße kultureller Diversität auch – drei Kriterien hat: Vielfalt, Ausgewogenheit und Unterschiedlichkeit (Benhamou und Peltier 2011: 14–15). Zudem – das ist bei der enormen Zahl an verfügbaren Buchtiteln in den meisten Buchmärkten einerseits und zum Teil extrem hohen Bestseller-Anteilen andererseits offensichtlich – müsse der Unterschied zwischen angebotener und genutzter Diversität beachtet werden (Benhamou und Peltier 2011: 15).

4 Aggregierte Größen mit normativer Perspektive 

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„Diversity increases in direct proportion to the number of titles published (which reflects variety). Diversity is maximized when all the titles have similar market shares (balance) and when the contents of each title are as ‚different‘ as possible (disparity)“ (Benhamou und Peltier 2011: 15). Auf der Basis dieser Überlegungen zogen Benhamou und Peltier bei den praktischen Anwendungen ihrer Idee für jedes eingeschlossene Buch den Titel, das Genre und die Ursprungssprache heran und untersuchten in diesen Dimensionen für den französischen Buchmarkt Vielfalt, Ausgewogenheit und Unterschiedlichkeit (Benhamou und Peltier 2011: 17–21). Ein Ergebnis der beispielhaften Untersuchungen für den französischen Buchmarkt im Hinblick auf Ursprungssprachen ergab, dass einem sinkenden Anteil an Übersetzungen aus dem Englischen zwischen 1997 und 2002 ein steigender Anteil an Übersetzungen aus einer ganzen Reihe anderer Sprachen gegenüberstand, was die Diversität erhöht habe (Benhamou und Peltier 2011: 21).

4.2 Die Gesundheit eines Buch-Ökosystems Summarische Aussagen über Buchkulturen haben schon wegen der dazu notwendigen Auswahl der heranzuziehenden Größen etwas Normatives. Ein besonders enges Verhältnis zur Grundfrage der Vergleichbarkeit liegt dann vor, wenn man nach einem an alle Länder gleichermaßen angelegten Maßstab summarische Aussagen über verschiedene Märkte bzw. Kulturen treffen möchte; auch in diesem Fall bedarf es vergleichbarer bzw. kommensurabler Daten. So ist es das Hauptanliegen der Arbeit von Kovač, van der Weel, Philips und Wischenbart (Kovač et al. 2017), auf die Relevanz von vergleichbaren Buchstatistiken hinzuweisen sowie einen entsprechenden Diskurs und Maßnahmen anzuregen; dieser Vorstoß schließt z.  B. an den in Abschnitt 3 thematisierten Ansatz von Wischenbart und Ehling (Wischenbart und Ehling 2008) an. Zunächst ist auch hier von Zahlen zu Titelproduktion, Bibliotheksausleihen und Lesegewohnheiten die Rede. Vor allem angesichts der vielfachen Transformationen auf den Buchmärkten schlagen Kovač et al. aber in einem gewissermaßen normativen Schwenk insbesondere auch Indikatoren „to measure the health of the book ecosystem“ (Kovač et al. 2017: 15) vor. Zur ‚Gesundheit von Buch-Ökosystemen‘ gehören Buchverkäufe und Bibliotheksentleihungen pro Kopf, Buchausgaben pro Kopf, die Zahl der Neuerscheinungen pro 1 Mio. Einwohner*innen (das dann auch geteilt zum einen durch die Zahl der insgesamt produzierten Einheiten und zum anderen durch die Zahl der Buchleser*innen), die Zahl der Buchleser*innen und das Verhältnis zwischen der mit Lesen verbrachten Zeit und der gelesenen Bücher pro Leser*in. Diese zum Teil auch leicht aggregierten Größen könnten als Operationalisierungen von solch normativen Größen wie ‚book consumption compared to national income‘, ‚diversity of book production‘ (siehe

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 VIII.3 Internationale Vergleiche von Buch- und Lesekulturen

Abschnitt 4.1), ‚sustainability of book production‘ (Zahl der Neuerscheinungen geteilt durch Zahl der insgesamt produzierten Einheiten) oder ‚depth of reading‘ (mit Lesen verbrachte Zeit geteilt durch gelesene Bücher) dienen (Kovač et al. 2017: 15). Die hier vorgeschlagenen, an Buchkulturen anzulegenden komplexeren Maße mit normativem Gehalt, Bibliodiversität und die Gesundheit eines Buch-Ökosystems, zeigen, dass die Verfügbarkeit von vergleichbaren bzw. kommensurablen Daten aus verschiedenen Buchkulturen eine unverzichtbare Voraussetzung für vergleichende Ansätze und damit ein wichtiges Desiderat darstellt. Sie zeigen aber auch, dass es notwendig ist, aus diesen Daten sowie deren Aggregaten in einem Prozess, der auf breitere Wissensquellen der Buchforschung zurückgreift, die auszuwählen, die auch dazu geeignet sind, Vergleichen zugrunde liegende Fragen angemessen zu beantworten.

5 Buchpolitische Maßnahmen Im vorgeschlagenen Konzept von Buchkultur, das diesem Beitrag als Orientierung dient, ist der Aspekt der rechtlichen (siehe VI.2 Rechtliche Rahmenbedingungen in diesem Band) und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die durch buchpolitische Maßnahmen geschaffen werden, enthalten – und zwar in einem Sinne, nach dem die Buchpolitik einerseits als eine Auswirkung der in einem Land etablierten, übergreifenden Buchkultur angenommen wird, andererseits aber umgekehrt diese Buchkultur mitprägt. In jedem Fall muss der Vergleich der buchpolitischen Gegebenheiten in verschiedenen Ländern wichtiger Bestandteil einer vergleichenden Betrachtung von Buchkulturen sein. Im Folgenden sollen unter buchpolitischen Maßnahmen nur solche verstanden werden, die mit der Absicht verknüpft sind, das Medium Buch und das Lesen von Büchern zu fördern (siehe VI.3 Stützungssysteme in diesem Band). Hier ist auch der Zusammenhang zu den Wertzuschreibungen gegenüber dem Buch und dem Lesen zu sehen, die auf oberster Ebene die Begründung für buchpolitische Maßnahmen darstellen (siehe VI.1 Kulturelle Wertzuschreibung und Symbolik in diesem Band): Bücher – bzw., genauer betrachtet: ihr Gebrauch – werden als meritorisch angesehen, es werden ihnen positive externe Effekte zugeschrieben. Dies lässt ein höheres Maß an Buch-Konsum wünschenswert erscheinen als es als Ergebnis einzelner Kosten-Nutzen-Abwägungen vor allem auf der Seite von Käufer*innen zu verzeichnen wäre, da angenommen wird, dass ein Individuum als Effekt seines Lesens auch andere Individuen bzw. die Gesellschaft positiv beeinflusst. Der Politik bzw. in Rechtsstaaten genauer dem Gesetzgeber fällt dabei die Aufgabe zu, eine Vielfalt von Interessen – dass Bücher positive externe Effekte haben, ist nur eine vereinfachende, zusammenfassende Sprechweise, die zudem die wirtschaftlichen

5 Buchpolitische Maßnahmen 

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Interessen der Buchbranche zunächst nicht explizit adressiert – angemessen auszutarieren. Im häufigen Fall, dass dieses Austarieren verschiedener Interessen nicht explizit erfolgt und auch kommuniziert wird, müssen implizit die ergriffenen Maßnahmen selbst Zeugnis über zugrunde liegende Werthaltungen und Interessen geben. Wie komplex sich das Tableau der verschiedenen Interessen bei genauerem Hinschauen darstellen kann, haben Bläsi und Fröhlich (2022) für das Lesen gezeigt.

5.1 Kategorisierung buchpolitischer Maßnahmen Wenn man buchpolitische Maßnahmen als wichtige Größen beim Vergleich verschiedener Buchkulturen heranzieht, muss man dafür das komplexe Feld möglicher buchpolitischer Maßnahmen durch eine plausible Kategorisierung und entsprechende Benennung der einzelnen Typen von Maßnahmen handhabbar machen. Die umfassendste aktuelle Arbeit zum Gesamtfeld buchpolitischer Maßnahmen kommt aus Norwegen: Rönning und Slaatta (2020) versuchen, systematisch mögliche buchpolitische Maßnahmen zusammenzustellen und in Kategorien einzuteilen. Rönning und Slaatta legen ihren Überlegungen – und das spannt den Bogen zu Positionen, die die Situation von Büchern und Lesen vor allem in Zeiten der Digitalisierung und im Hinblick auf Diversität gefährdet sehen – zugrunde, dass die technologische Entwicklung kapitalintensiv sei und einen aggressiven Wettbewerb auslöse sowie dass die Kultur- und Wissensindustrien nur Massenunterhaltung und Bestseller hervorbrächten, wenn sie sich ausschließlich unter Marktbedingungen entwickelten, zulasten von Breite und Diversität kultureller Ausdrucksmöglichkeiten (Rönning und Slaatta 2020: preface). Obwohl Rönning und Slaatta begrifflich nicht hinreichend genau zwischen Literatur im Sinne von Belletristik und Büchern im Allgemeinen trennen und ein letztlich nicht konsequent durchdachtes und nicht zielführendes multidimensionales Kategoriensystem entwickeln, machen sie augenfällig, in welch komplexem Umfeld sich Buchpolitik bewegt. Bücher spielen nach diesem Kategoriensystem – in Verfolgung von Kernwerten institutionell zu unterstützend  – zunächst eine Rolle in Bildung und Erziehung, in der Kunst, in der Arbeits- und Berufswelt und auf dem Markt, alle jeweils als Teile der übergreifenden öffentlichen Sphäre aufgefasst (Rönning und Slaatta 2020: 9–11). In diesen sogenannten Sphären haben Bücher verschiedene kommunikative Funktionen (Rönning und Slaatta 2020: 11–12), in der öffentlichen Sphäre darf man dabei z.  B. an sogenannte Debattenbücher denken, im Hinblick auf Kunst an Bücher als Kunstform. Des Weiteren benennen sie vier grundsätzliche Handlungsbereiche, nämlich gesetzgeberische Maßnahmen, ökonomische Maßnahmen, Bildungsmaßnahmen und Infrastruktur-Maßnahmen (Rönning und Slaatta 2020: 8). Außerdem gibt es nach Rönning und Slaatta drei Politikfelder, nämlich Kulturpolitik, Wirtschaftspoli-

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 VIII.3 Internationale Vergleiche von Buch- und Lesekulturen

tik und Wissenspolitik: Motivationen, für das Wohl des Buchs (und auch des Lesens) einzutreten, kann man in der Kultur (z.  B. Sprache), der Wirtschaft und dem Wissen (Bildung, Wissenschaft) verorten, mit Zuständigkeit in vielen Ländern auf oberster Ebene bei den entsprechenden Ministerien. Angesichts der begrifflichen Unschärfen und des in der Form übertrieben ausdifferenzierten Kategoriensystems ist es unausweichlich, eine naheliegendere, einfacher zu handhabende Kategorisierungsoption heranzuziehen – und Rönning und Slaatta tun das als zusätzliche Option dann auch selbst: Ansatzpunkte für buchpolitische Maßnahmen und diese selbst sind danach systematisch dadurch Kategorien zuzuordnen, dass man den Lebenszyklus bzw. die Wertschöpfungskette oder auch, wie Darnton es nennt, den ‚book circuit‘, in den Blick nimmt; Rönnig und Slaatta nennen das Konstrukt den ‚literary cycle‘ (Rönning und Slaatta 2020: 12–14). Wie Darnton – aber anders als z.  B. die typischen Wertschöpfungs-Betrachtungen der Medienökonomie (siehe V.1 Buchökonomie in diesem Band) – schließen Rönning und Slatta dabei systematisch Schritte nach der Veröffentlichung eines Buchs mit ein, wie z.  B. Besprechungen, öffentliche Debatten oder auch die Beforschung. Es geht dann darum, für jeden der Punkte dieses ‚cycles‘ zu fragen, wie man Bücher und Lesen fördern kann. So können nach Rönning und Slaatta Politik-Instrumente das Einkommen von Autor*innen beeinflussen oder im Hinblick auf bestimmte Genres auf die Profitabilität von Verlagen wirken. Sie können die Vielfalt der verfügbaren Bücher erhöhen oder zu niedrigeren Buchpreisen führen, indem Steuern gesenkt werden. Maßnahmen können dabei interagieren oder sich gegenseitig verstärken oder kompensieren oder auch eine Vorbedingung für andere Maßnahmen darstellen (Rönning und Slaatta 2020: 14). Für die konkrete Zusammenstellung möglicher Maßnahmen entscheiden sich Rönning und Slaatta primär für die Kategorisierung in gesetzgeberische Maßnahmen, ökonomische Maßnahmen, Bildungsmaßnahmen und Infrastruktur-Maßnahmen. Es werden unter den gesetzgeberischen Maßnahmen solche im Zusammenhang mit dem Schutz der freien Meinungsäußerung und der Autor*innenrechte behandelt (Rönning und Slaatta 2020: 14–31), letzteres unter Einschluss der Regelung der kollektiven Rechteverwertung sowie des sogenannten ‚public lending right‘ bei Bibliotheksentleihungen. Unter den ökonomischen Maßnahmen (Rönning und Slaatta 2020: 33–47) behandeln Rönning und Slaatta Buchpreisbindungs-Regelungen, indirekte Subventionierung durch reduzierte Mehrwertsteuersätze und direkte Subventionierung durch Kaufförderungs- und Stipendienmodelle, jeweils mit Beispielen aus verschiedenen Ländern. Was die Buchpreisbindung angeht, gehört dazu eine Tabelle der Gegebenheiten in 20 Ländern (Rönning und Slaatta 2020: 38–39). Kaufförderungsmodelle können nicht-selektiv oder selektiv (auf bestimmte Bücher oder Typen von Büchern beschränkt) sein und Stipendien, z.  B. in Form von Literaturpreisen, nicht nur vom Staat vergeben werden, sondern auch

5 Buchpolitische Maßnahmen 

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von privaten Institutionen. Eingriffe des Staates in die Forschungs- und Bildungspolitik mit der Förderung von Büchern und Lesen als zumindest einem der schwer trennbaren Ziele können zwar auch als buchpolitische Maßnahmen gesehen werden (Rönning und Slaatta tun das), im deutschen Diskurs  – die Arbeit von Fischer (siehe unten) zeigt das – werden entsprechende Maßnahmen aber z.  B. eher im Zusammenhang mit Finanzierungsmodellen (in der Bildungsmedienforschung) und im Zusammenhang mit Open Access (in der Forschung zum wissenschaftlichen Publizieren) behandelt. Die Erwähnung möglicher konkreter Maßnahmen soll deshalb hier unterbleiben – mit einer Ausnahme: Buchpolitische Maßnahmen im Interesse von Kindern (Rönning und Slaatta 2020: 65–67) werden zwar als separates Unterkapitel aufgerufen, aber nicht flächendeckend abgehandelt, es bleibt bei sehr allgemeinen Ausführungen. Ähnliches gilt für Eingriffe des Staates in die Infrastruktur, die bisher eher im Zusammenhang mit breiteren Auswirkungen der EU-Gesetzgebung oder spezieller mit der einzuhegenden Dominanz von Amazon (Thompson 2021: 172–194) diskutiert werden. Auch hier soll aber eine Gruppe von Maßnahmen bei Rönning und Slaatta nicht unerwähnt bleiben: Maßnahmen zur Unterstützung von Bibliotheken werden – abgesehen davon, dass sie im föderalen Deutschland Ländersache sind – von Rönning und Slaatta (2020: 76–77) ebenfalls eines Unterkapitels für würdig befunden, allerdings aber fast ohne die Erwähnung konkreter Maßnahmen.

5.2 In-Beziehung-Setzen zu spezifischen Ausgangssituationen Einige Jahre vor Rönning und Slaatta hatte sich Ernst Fischer (2008) – allerdings von einer anderen Grundfragestellung im Bereich des Buch-Lobbyings kommend – in einem Beitrag schon einmal eine ähnliche Aufgabe gestellt: „Behandelt werden die ‚klassischen‘ Felder der Buchpolitik wie Mehrwertsteuer, Preisbindung und direkte Subventionierung des Buchsektors […], wobei neben der Frage nach den Auswirkungen der europäischen Integration auch der Vergleich von Ländern untereinander zum Tragen kommen soll“ (Fischer 2008: 113–114). Die hier angeschlagene europäische Perspektive schließt also den für diesen Beitrag relevanten Aspekt des Vergleiches explizit ein. Außerdem stellt Fischer deutlicher als Rönning und Slaatta die Frage, wovon es abhängt, dass in bestimmten Ländern bestimmte buchpolitische Rahmenbedingungen geschaffen und Maßnahmen unterschiedlich kombiniert werden sowie selbst in ihrer Wirksamkeit mit örtlichen Gegebenheiten zusammenhängen. Diese Frage öffnet den Blick von einem rein deskriptiven Vergleich buchpolitischer Maßnahmen hin zu ihren systematischen oder kontingenten Wirkungen (wenn es dazu Erkenntnisse oder zumindest Daten gibt) sowie zu den Gründen, warum sie ergriffen werden und in einer bestimmten Weise wirken.

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 VIII.3 Internationale Vergleiche von Buch- und Lesekulturen

Weil es an ausdifferenzierten Ausführungen zu spezifischen Unterzielen der Förderung von Buch und Lesen (mit z.  B. explizierten Soll-Größen) in fast allen Ländern fehlt, sich die in den meisten Ländern geäußerten oder zu erschließenden Top-Level-Ziele aber nicht wesentlich unterscheiden, kommt Fischer zu dem Ergebnis, dass der Vergleich von buchpolitischen Maßnahmen zunächst nicht notwendigerweise maximale Komplexität aufruft. Die kulturpolitischen Top-Level-Ziele verschiedener Länder seien sehr ähnlich und die Förderung des Lesens, der Vielfalt der Buchproduktion und in einigen Ländern eines dichten und leistungsfähigen Buchhandelsnetzes unstrittig (Fischer 2008: 152–153). Wenn man das als Ausgangspunkt der Untersuchung nimmt, vereinfacht das die Übersicht, weil man unterschiedliche Top-Level-Ziele nicht als wesentlichen Faktor berücksichtigen muss. Dass es klare Zusammenhänge zwischen verschiedenen Buchkulturen und dort jeweils verfolgten buchpolitischen Maßnahmen gibt, wurde schon ausgeführt. Fischer ergänzt diese Einsicht aber um die Position, dass auch die Wirksamkeit von buchpolitischen Maßnahmen von der Buchkultur abhängig sein kann, im Speziellen z.  B. von der Struktur des Marktes, von der Marktkultur oder der Mentalität des Publikums (Fischer 2008: 123). Im Hinblick auf direkte Subventionen, ein offensichtliches Mittel von Buchpolitik, beschränkt sich Fischer wegen der kaum bewältigbaren Menge der tatsächlich ergriffenen Maßnahmen auf eine unsystematische Darstellung, um die Vielfalt der Möglichkeiten, auch was die institutionelle Aufhängung in verschiedenen Ländern angeht, zu demonstrieren. Zu den angeführten Beispielen gehören u.  a. verschiedene Leseförderungsmaßnahmen und die direkte Unterstützung von Verlagen und Sortimentsbuchhandlungen in Italien, der – nicht zuletzt genau aufgrund von Interventionen – gute Zustand des öffentlichen Bibliothekswesens in Skandinavien und ein Bündel an Maßnahmen in Norwegen (Fischer 2008: 135–142). Am Beispiel Deutschland zeigt er darüber hinaus, dass über Ziele und Buchkultur hinaus nicht nur die in einem Land gegebene generelle Haltung gegenüber Staatseingriffen, sondern z.  B. auch das Bewusstsein, nach dem sich die Buchbranche als Teil der Kreativindustrie sieht, Auswirkungen auf die konkrete Ausgestaltung der Buchpolitik haben kann. Im Falle einer dezidierten Zurückhaltung des Staates kann das dazu führen, dass dieser nicht selbst tätig wird, sondern Aufgaben der Buch- und Leseförderung von spezifischen zivilgesellschaftlichen Institutionen übernommen werden – „[g]erade der Vergleich mit Frankreich und anderen Ländern öffnet die Augen für den Umstand, dass es (z.  B.) in Deutschland eine staatliche Buchpolitik nicht nur nicht gibt, sondern dass eine solche durchaus unerwünscht wäre“ (Fischer 2008: 147). Fischer betont, dass in Marktgesellschaften buchpolitische Maßnahmen auf der in konkreten Situationen erzielten Analyse basieren, dass kulturell definierte Ziele nicht erreicht werden können durch das freie Spiel der Kräfte auf dem Markt allein (Fischer 2008: 154). Die in Ländern unter-

6 Von der Beschreibung zur Analyse 

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schiedlichen – wenn auch leider meist nicht weit explizierten – Detail-Ziele und kontingenten Verhältnisse haben deshalb unterschiedliche Maßnahmen zur Folge. Fischers Fazit ist somit, dass jedes Land seinen individuellen ‚policy mix‘ finden müsse (Fischer 2008: 155). Fischer ist die explizierte Beobachtung zu verdanken, dass (meist unterspezifizierte) gemeinsame allgemeine Ziele auf sehr unterschiedliche Situationen stoßen (von denen ein Teil unterschiedlichen Buchkulturen zuzurechnen ist) und deshalb Maßnahmen bzw. Kombinationen von Maßnahmen sehr individuell kalibriert und beurteilt werden müssen. Ein Aspekt, der dazu anregen könnte, dieser Empfehlung eines dezentralen Vorgehens im Einzelfall zuwider zu handeln, ist der, dass länderübergreifenden Bedrohungen, wie die durch die US-amerikanischen Plattformen in den letzten Jahren, wohl auch auf übergeordneter Ebene begegnet werden muss. Außerdem werden von Fischer, zum Teil auf der Basis von Studienergebnissen, einige erste Überlegungen zur situationsabhängigen Wirksamkeit bzw. zu den Vorund Nachteilen bestimmter Maßnahmen angeführt, als möglicher Einstieg in eine vertiefte Analyse – bei der im Sinne des Beitrags produktiv eine vergleichende Perspektive zwischen Ländern eine Rolle spielen kann.

6 Von der Beschreibung zur Analyse Überlegungen zum Verhältnis zwischen buchpolitischen Maßnahmen zur Erzeugung bestimmter ‚Zustände‘ und der tatsächlich zu konstatierenden Buchkultur in einem Land führen zur weitergehenden, anspruchsvollen und tiefere Einsichten versprechenden Frage, warum sich die Buchkulturen verschiedener Länder unterscheiden. Ein erster Schritt ist es, zu versuchen, Länder in Gruppen größerer Ähnlichkeit zu clustern und dieses Ergebnis dann zum Ausgangspunkt weiterer Untersuchungen bzw. (z.  B. historischer) Detailanalysen zu machen.

6.1 Clustering Stephanie Kurschus (2015) zieht für ihre Überlegungen zum Vergleich verschiedener europäischer Länder im Hinblick auf die Gegebenheiten um Bücher und Lesen den in diesem Beitrag schon als Werkstattbegriff eingeführten Begriff der Buchkultur als Aggregat von – das ist notwendig für eine statistische Cluster-Analyse – Parametern in der Form von Zahlen heran. Ihre Begriffsfassung von Buchkultur ist, mit Bezug auf einen Kulturbegriff von Kroeber und Kluckhohn: „It encompasses values, tradition, and the institutions, which are communicating and building on these values and traditions, as well as key actions associated with the book“ ­(Kurschus 2015:

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 VIII.3 Internationale Vergleiche von Buch- und Lesekulturen

139). Kurschus geht schon ausweislich des Titels ihrer Arbeit, in dem Buchkulturen im Plural erscheinen, von der naheliegenden, plausiblen und vorher auch schon von anderen geäußerten Annahme aus, dass es eine europäische Buchkultur nicht gibt, sondern nur verschiedene europäische Buchkulturen, die sich jedoch – das ist das zentrale Vorhaben der Arbeit – in Gruppen von diesbezüglich ähnlicheren Ländern, infolge z.  B. regionaler Entwicklungen unterscheidbare Typen anordnen lassen sollten. Kurschus‘ Vorgehen basiert auf einer Operationalisierung von Parametern der Buchkultur, wie sie sie versteht, in Variablen und dem anschließenden Versuch, „[b]y statistical analysis, in this case clustering, the shared characteristics of European book culture“ (Kurschus 2015: 22) zu identifizieren. Zu offensichtlichen Teil-Operationalisierungsansätzen von Buchkultur zählen im Zusammenhang mit den bisher hier präsentierten Überlegungen erwartbare Größen wie die Titelproduktion sowie die Rolle des Buchs in einer Gesellschaft in einem abstrakteren Sinne, die jedoch (nicht nur) nach Kurschus „is difficult to assess. A number of factors have to be taken into consideration – none of them are based on ‚hard‘, or quantifiable, facts. The book has developed its status in a given nation, for example, through its historic development and its association with a given religion and moral values“ (Kurschus 2015: 188). Kurschus hat die Rolle des Buchs für ihre Analyse operational reduziert und nutzt dafür zwei Variablen: Eine davon ist eine quantifizierbare Größe aus der Eurobarometer-Survey kultureller Werte, die andere eine subjektive Bewertung durch die Autorin, die sich auf Literatur über die Buchkultur einzelner Länder stützt (Kurschus 2015: 188). Eine Cluster-Analyse von 18 Ländern im Hinblick auf die ausgewählten Variablen erbringt das Ergebnis, dass die deutsche Buchkultur am ähnlichsten ist zur österreichischen und noch relativ ähnlich zur niederländischen, ungarischen und französischen; die Unterschiede sind demnach am größten zur Buchkultur in Estland und Italien. In einem zweiten Durchgang reduziert Kurschus die Zahl der beim Clustering betrachteten Variablen auf das Bruttosozialprodukt pro Kopf, die Zahl der Leser*innen pro 1.000 Einwohner*innen, die Zahl der Bibliotheksentleihungen pro 1.000 Einwohner*innen, die Zahl der Personen pro 1.000 Einwohner*innen, die Literatur als Teil der Kultur sehen, sowie die Zahl der veröffentlichten Titel pro 1.000 Einwohner*innen. Danach ist die deutsche Buchkultur am ähnlichsten zu der in Tschechien, der Slowakei, Frankreich, Österreich, Ungarn und Schweden. Am weitesten entfernt zu Deutschland sind nach diesem zweiten Clustering Portugal und Luxemburg. Als Gründe für Letzteres nimmt Kurschus an, dass in Luxemburg das Bruttosozialprodukt und die Zahl der Leser*innen gegenüber der Tendenz aller Länder ungewöhnlich weit auseinanderfallen und in Portugal die große Zahl an Titeln einerseits und der niedrige Umsatz sowie niedrige Leser*innenzahlen andererseits. Schon ohne elaborierteres statistisches Werkzeug instruktiv sind Kurschus‘ Versuche, aus den Variablen Paare herauszugreifen und

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deren Korrelation für verschiedene Länder zu betrachten. Das wird vorgenommen für das nationale Bildungsniveau auf der einen und die Zahl der Leser*innen pro 1.000 Einwohner*innen auf der anderen Achse; hier ergibt sich z.  B., dass es in Italien und Litauen mehr Leser*innen gibt, als es nach dem Bildungsniveau zu erwarten wäre, während das in Bulgarien, Litauen und Polen umgekehrt ist. Bei der Gegenüberstellung von Bruttosozialprodukt pro Kopf und Zahl der Leser*innen pro 1.000 Einwohner*innen weichen dann z.  B. Irland (weniger Leser*innen als aufgrund des Bruttosozialproduktes zu erwarten) auf der einen und Lettland und Ungarn auf der anderen Seite (mehr Leser*innen als zu erwarten) signifikant ab. Insbesondere wegen der schon systematisch eine Blackbox darstellenden verwendeten Methode des Clusterings geben Kurschus‘ Ergebnisse nur Anlässe, nach tieferen Gründen dafür zu suchen, warum sich ein Land in einem Cluster mit einem anderen Land findet oder eben gerade nicht. Sowohl die begründet ausgewählten herangezogenen Parameter als auch die zum Teil intuitiven Ergebnisse dürften für die nächsten Schritte aber hilfreich sein.

6.2 Clustering mit einem Fokus auf volkswirtschaftliche Aspekte Jahre vor Kurschus ist für Appelman und Canoy (2002) die Einteilung europäischer Länder in Ähnlichkeits-Gruppen, was die Gegebenheiten um Buch und Lesen angeht, nur Vehikel für die zentrale Argumentation, dass verschiedene Gegebenheiten in verschiedenen Ländern verschiedene buchpolitische Maßnahmen nahelegen. Appelman und Canoy ziehen dabei für ihre (nicht wie später bei Kurschus auf präzisen Kennzahlen und einer statistischen Auswertung beruhenden) Gruppenbildung als Länder-‚characteristics‘ die Bestimmungsgrößen Bevölkerungsdichte, InternetNutzung, Zahl der Titel pro 1 Mio. Einwohner*innen und Zahl der Leser*innen pro 1 Mio. Einwohner*innen sowie Größe der Gruppe der Sprecher der Sprache heran. Andere ebenfalls als relevant angenommene Kriterien – wie die Haltung gegenüber Staatseingriffen generell (in Frankreich z.  B. eher positiv, in Großbritannien eher negativ) – gehen als ‚preferences‘ diskursiv erst später in die Argumentation ein. Die vier Cluster, die anhand der ‚characteristics‘ entstehen, sind Skandinavien und die Niederlande (für die angenommen wird, dass das, was der Markt bewirkt, sehr nahe bei dem ist, was politisch auch gewünscht ist), Südeuropa (Italien, Spanien, etc.), die sogenannten großen Drei (Deutschland, Frankreich, Großbritannien) sowie schließlich die Länder, die mit größeren Ländern die Sprache gemeinsam haben (z.  B. Belgien, Schweiz, Irland). Durchaus in Anerkennung, dass dieser Beitrag wichtige Grundlagenarbeit – z.  B. eben für Kurschus – geleistet hat, ist kritisch anzumerken, dass die Zuordnung eines Landes in eine andere Gruppe gelegentlich durchaus diskutabel wäre oder bestimmte Angehörige einer Länder-Gruppe schon von den

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 VIII.3 Internationale Vergleiche von Buch- und Lesekulturen

Autor*innen selbst als ‚outliers‘ identifiziert werden. Überdies ist offensichtlich, dass die Kategorisierung insofern den eigenen Ansprüchen nicht genügen kann, als Appelman und Canoy potenzielle und im weiteren Sinne buchbezogene Bestimmungsgrößen selbst in wesentlich größerer Differenziertheit einführen als ihre zwei Indikatoren Titelanzahl und L ­ eser*innenanzahl pro 1 Mio. Einwohner*innen dann auch nur ansatzweise abbilden können: „Culture and sociology (e.  g. religion, traditions, book reading): Leisure activities (book reading vs. other activities), the general approach of people towards buying books (instead of borrowing), and the cultural traditions (e.  g. number of people that write books) all contribute to how close market outcomes approach cultural objectives“ (Appelman und Canoy 2002: 595). Der gegenüber dem Verfahren von Kurschus geringeren Belastbarkeit in Sachen empirische Methodik steht als Vorteil gegenüber, dass die Zugehörigkeit von Ländern zu Gruppen, wenn auch mit den angeführten Ungenauigkeiten, jeweils anhand der ‚characteristics‘ begründet und deshalb auch diskutiert und zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen genommen werden kann. Auch auf die diesem Ansatz zugrunde liegenden Einsichten wird in neuen Anläufen zum Clustering von Buchkulturen, vor allem aber bei der Suche nach Gründen für Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen diesen zurückzukommen sein.

6.3 Nicht vergleichende Top-Down-Ansätze Ebenfalls eine Kommensurabilität der aus verschiedenen Ländern herangezogenen Daten setzen Ansätze voraus, die Gegebenheiten um Bücher und Lesen weltweit bzw. über Länder hinweg beschreiben und analysieren, auch wenn es sich dabei im engeren Sinne nicht um Vergleiche handelt. Der Frage nach globaleren Entwicklungen haben sich in diesem Sinne in jüngerer Zeit vor allem Kovač und Wischenbart (2019) sowie Steiner (2018) gewidmet. Kovač und Wischenbart sehen dabei – auf der Basis von Daten, die zum Teil nicht wie bei den meisten anderen Ansätzen aus der nationalen Aggregation stammen, sondern z.  B. auch von Verlagen oder als Ergebnisse journalistischer Recherchen – vor allem vier globale Trends: die starke Zunahme der Zahl von veröffentlichten Buchtiteln, die Abnahme der Zahl von Bestsellern und die Verringerung der Durchschnittsauflagen, die zunehmende Bedeutung von Selfpublishing und neuen Akteuren in Form eines, so nennen sie es, neuen Buch-Ökosystems und als Folge all dessen die Abnahme der Verlagseinnahmen pro Titel, was für Verlage die Abhängigkeit von Bestsellern erhöht habe. All diese Entwicklungen hätten in entwickelten Märkten die Position der größten Akteure (starke Autor*innen-Marken, große Verlagsgruppen, Amazon) gestärkt, weil ein großes Volumen effektiveres Handeln mit kommodifizierten Inhalten ermöglicht (Kovač und Wischenbart 2019: 223), und eine bisher eher durch mittel-

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große lokale bzw. regionale Unternehmen geprägte Branche zutiefst erschüttert (Kovač und Wischenbart 2019: 220–221). Aus einer normativen Perspektive sehen Wischenbart und Kovač zwar einerseits die ökonomische Logik, dass im Bereich der Digitalisierung oft Zentralisierung einen stärkeren Effekt hat als Originalität, Diversität und Reichtum des Contents, das aber andererseits potenziell die durch unabhängiges, kleinteiliges Publizieren beförderte Meinungsvielfalt gefährdet (Kovač und Wischenbart 2019: 223). Die – auf Unternehmensebene vor allem durch die Bildung von Konglomeraten – gestärkte Position der größten Akteure ist auch nach Steiner (2018) ein zentraler globaler Trend; dadurch könne man mit besseren Erfolgsaussichten versuchen, vor allem im Zuge der Digitalisierung unvermeidliche Risiken z.  B. durch mehr Marketing, vorgezogenen Lizenzierungs-Pitches und den Vertrieb über alternative Kanäle gekennzeichnete ‚Big Books‘ (Steiner 2018: 121) auszugleichen. Diesem Trend stünde allerdings der entgegengesetzte, die Kleinteiligkeit des Selfpublishings, gegenüber (das allerdings zu einem Teil durch die großen US-Plattformen erst ermöglicht wird). Dadurch ergäben sich parallele Prozesse von Konzentration und Diversifikation. Auf der Basis eines grafisch anschaulich dargebotenen Gesamtblicks unter Nutzung der offensichtlich sehr konsensuellen Kenngrößen Buchproduktion (Titel), (Buch-)Konsum (Umsatz) sowie Wohlstand (Bruttosozialprodukt, jeweils pro Kopf) verschiedener Länder zeigt sich nach Kovač und Wischenbart außerdem, dass sich heute u.  a. mit Deutschland, Großbritannien, den USA, Spanien, Italien und Frankreich, aber auch mit Japan und Korea nach wie vor die Weltordnung des späten 19. und des 20. Jahrhunderts widerspiegelt, in der einige Nationen aus Europa und Nordamerika sowie Japan und Korea im weltweiten Geschäft mit Wissen, Bildung und Unterhaltung (in dem Bücher ein zentrales Element sind) dominierten (Kovač und Wischenbart 2019: 221); allerdings schließen einige Nationen der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) sowie Polen, Türkei und Mexiko mit ihren neuen Mittelklassen sowie buch- und sonstigen industriepolitischen Maßnahmen auf. Die herausgehobene aktuelle Stellung von vor allem Norwegen, Deutschland, Österreich und der Schweiz ergibt sich dabei auch aufgrund des dort durch besonders aktive Buchpolitik gebotenen Schutzes vor ungehinderten Markteinflüssen, die besondere Stellung von Großbritannien und Spanien durch den privilegierten Zugang zu ‚natürlichen‘ Exportmärkten. Ein weiterer, interessanter Aspekt, den Kovač und Wischenbart anfügen, kann und muss im gegebenen Kontext auch methodologisch gelesen werden: „Building a conventional infrastructure that expect learners as well as passionate individual readers to pick up books one copy at a time, seems too costly from a public planning perspective. As we have seen in the cases of China and the Philippines, digital books and, even more so, digital learning tools appear to offer an appropriate alternative approach“ (Kovač

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 VIII.3 Internationale Vergleiche von Buch- und Lesekulturen

und Wischenbart 2019: 222). Wenn das eine Fahrt aufnehmende Entwicklung ist, bedeutet das nämlich, dass – vor allem mit Blick auf das Selfpublishing und digitale Lehr- und Lernmittel – wesentliche Bewegungen auf den Buchmärkten nur dann überhaupt im Blick bleiben, wenn die zugrunde liegenden Daten in den einzelnen Ländern auf angemessene und untereinander, also auch mit denen aus traditionelleren Buchmärkten vergleichbare Weise neuen Gegebenheiten Rechnung tragen.

7 Kulturdimensionen als anregender werteorientierter Ansatz Ein für den konkreten Bereich der Buchkultur bisher kaum beachteter Zugang, sich dem internationalen Vergleich von Kulturen anzunehmen, bilden Forschungsansätze der kulturvergleichenden Sozialforschung. Diese rekurrieren bei ihrer Begriffsfassung von Kultur weniger die in den vorherigen Abschnitten überwiegend herangezogenen strukturellen Kulturelemente, sondern stellen im Sinne einer mentalistischen Betrachtungsweise Kultur als gedankliches Konstrukt oder Sinnsystem dar (Vivelo 1981: 51), welchem man sich über die Aggregation individueller Einstellungen oder Werthaltungen von einzelnen Subjekten einer Betrachtungseinheit nähern kann (Rippl und Seipel 2015: 18). Kulturen werden in diesem Sinne also grundsätzlich als „systems of shared meanings“ (Smith und Bond 1998: 69) aufgefasst, welche mit der jeweiligen Gesamtkultur eines Landes korrelieren. Diesen Ansätzen liegt der prinzipiell auch auf Buchkulturen anwendbare Gedanke zugrunde, dass Individuen einer Gesellschaft charakteristische Denk- und Verhaltensmuster als Reaktion auf universelle  – also in allen Kulturen gleichermaßen auftretende – Problemstellungen und Herausforderungen aufweisen, deren konkrete Ausprägung zwischen den jeweils betrachteten Ländern jedoch differiert (Thomas und Utler 2012: 42). Ferner wird angenommen, dass in Folge von Sozialisationsprozessen eine Verbindung zwischen dem Individuum auf der einen und der Kultur auf der anderen Seite besteht, da allgemeingültige Werthaltungen, die als Beurteilungskriterium von Einstellungen oder Handlungen dienen, in diesen Prozessen vor den spezifischen individuellen Werthaltungen Einzelner entstehen. Nach dieser Schlussfolgerung lassen sich durch die Erhebung von individuellen Wertepräferenzen demnach Rückschlüsse auf die sozial geteilten Werte ziehen, die eine Kultur ausmachen (Rippl und Seipel 2015: 17–18). Die eigentliche Kategorisierung einzelner Kulturen bzw. dezidierter Teilbereiche dieser Kulturen erfolgt im Rahmen der kulturvergleichenden Forschung schließlich anhand sogenannter Kulturdimensionen, mit deren Hilfe verschiedene als kulturbezogen angesehene Werthaltungen erfasst und in der Regel auf einem Kontinuum zwischen zwei gegensätzlichen Ausprägungen verortet werden können.

7 Kulturdimensionen als anregender werteorientierter Ansatz 

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Die Kulturdimensionen fungieren in diesem Fall also als Kriterien zur Einordnung von Kulturen durch die Betrachtung und Analyse bestimmter Variablen und ermöglichen somit einen Vergleich von kulturellen Systemen in unterschiedlichen Ländern (Barmeyer 2011: 93). Das Konstrukt der Kulturdimensionen als Möglichkeit der Operationalisierung von Kultur – und damit grundsätzlich auch der Buchkultur – wird in unterschiedlicher Form von verschiedenen Forschenden aufgegriffen (Hall und Hall 1990; Schwartz 1992; Trompenaars und Hampden-Turner 1993; House et al. 2004); als bekanntester Vertreter gilt jedoch der niederländische Organisationspsychologe Geert Hofstede (Hofstede 1980 und 2001). Auf der Basis eines umfangreichen Datensatzes, der aus der Untersuchung der vordergründig arbeitsbezogenen Einstellungen von rund 116.000 Beschäftigten des multinationalen Computerkonzerns IBM in mehr als 70 Ländern in den 1960er und 1970er Jahren entstanden ist (Hofstede 2001: 41), versuchte dieser, die distinktiven Werthaltungen einer Gesellschaft und damit deren Kultur abzubilden, wobei hier von der nicht unumstrittenen Annahme einer kulturellen Homogenität von Gesellschaften ausgegangen wird, die Kultur und Nation gleichsetzt (McSweeney 2002). Unter Zuhilfenahme von Korrelations- und Faktorenanalysen identifizierte Hofstede zunächst vier und später sechs wesentliche Dimensionen zur Beschreibung von Kulturen: Machtdistanz, Unsicherheitsvermeidung, Individualismus und Kollektivismus, Maskulinität und Feminität, Langund Kurzzeitorientierung sowie Genuss und Zurückhaltung (Hofstede 2001: 29). Die Dimension der Machtdistanz betrachtet zunächst die generelle Art und Weise des Umgangs mit sozialer Ungleichheit hinsichtlich Kriterien wie materiellem Wohlstand, gesellschaftlichem Ansehen oder Macht sowie die daraus resultierende Gestaltung der Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern einer Kultur. Kulturen mit einer hohen Machtdistanz weisen demzufolge eine erhöhte Akzeptanz von ungleicher Machtverteilung auf, während Kulturen mit niedriger Machtdistanz ein geringeres Machtgefälle und somit typischerweise flachere Hierarchien besitzen (Hofstede 2001: 79–143). Die zweite Dimension misst den Grad der Unsicherheitsvermeidung einer Kultur und manifestiert sich durch den Umgang mit unbekannten Situationen oder anderen Unwägbarkeiten durch den Rückgriff auf Regeln, Technologien oder Religion. Kulturen mit einer hohen Unsicherheitsvermeidung zeichnen sich durch eine geringere Risikobereitschaft aus und versuchen demzufolge, das Zusammenleben in der Gemeinschaft durch das Aufstellen von klaren Vorschriften oder Gesetzen zu reglementieren (Hofstede 2001: 145–208). Die Dimension des Individualismus und Kollektivismus veranschaulicht die Qualität der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Stehen Individuen in einer engen Verbindung zu einer sozialen Bezugsgruppe und ordnen persönliche Ziele denen der Gemeinschaft unter, spricht Hofstede von Kollektivismus, ist diese Verbindung eher lose und wird die Autonomie des Einzelnen als wichtiger erachtet,

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 VIII.3 Internationale Vergleiche von Buch- und Lesekulturen

handelt es sich um Individualismus (Hofstede 2001: 209–278). Die Dimension mit den Ausprägungen Maskulinität und Feminität bildet schließlich die Art und Gewichtung von Geschlechterrollen ab: Maskuline Kulturen zeichnen sich nach dieser Ansicht durch eine klare Rollenverteilung aus, wobei Männer konventionell männliche Werte wie Bestimmtheit oder Härte innehaben und Frauen weiblich gelesene Werte wie Bescheidenheit oder Sensibilität vertreten. In femininen Kulturen hingegen kommt es zu Überschneidungen hinsichtlich der Rollenverteilung, sodass Männer auch weibliche Werte vertreten können und umgekehrt (Hofstede 2001: 279–350). Das ursprüngliche Modell mit vier Kulturdimensionen wurde später um eine fünfte Dimension erweitert, welche auf den Ergebnissen der sogenannten Chinese Value Survey von Michael Harris Bond beruht (Hofstede und Bond 1988). Das Kontinuum der Langzeit- oder Kurzzeitorientierung beschreibt den Grad der zeitlichen Planung eines Individuums oder einer Gesellschaft: Bei einer langfristigen Ausrichtung liegt der Fokus auf zukünftigen Gegebenheiten und zeichnet sich etwa durch Sparsamkeit oder Beharrlichkeit aus, während die kurzfristige Ausrichtung sich auf die Gegenwart respektive die Vergangenheit bezieht, z.  B. in Bezug auf den Respekt für Traditionen oder die Erfüllung sozialer Pflichten (Hofstede 2001: 351–372). 2010 ergänzte Hofstede auf Basis der aus der World Values Survey abgeleiteten Erkenntnisse seines Kollegen Michael Minkov schließlich die Dimension des Genusses und der Zurückhaltung (Hofstede et al. 2010: 44–45). Diese thematisiert die Frage, inwiefern Individuen einer Kultur der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und Wünsche nachgehen oder versuchen, diese zurückzuhalten bzw. zu kontrollieren, um sich so den gesellschaftlichen Normen anzupassen (Hofstede et al. 2010: 277–298). Hinsichtlich jeder der genannten Dimensionen wurde für die untersuchten Länder schließlich ein spezifischer Wert zwischen Null und Einhundert ermittelt, anhand dessen nicht nur die wesentlichen Wertvorstellungen als zugrunde gelegtes Kernkonzept von Kultur miteinander in Bezug gesetzt, sondern auch verglichen werden konnten. Ähnlich zu dem in Abschnitt 5 thematisierten Umstand, dass z.  B. die Haltung einer Gesellschaft zu Staatseingriffen bei der In-Bezug-Setzung von Buchkulturen als Ganzes und buchpolitischen Maßnahmen als Teil dessen berücksichtigt werden muss, könnten Kulturdimensionen demnach beim Vergleich von Buchkulturen und – weitergehend – bei der Suche nach den Gründen für Gemeinsamkeiten und Unterschiede gewissermaßen als feste Punkte eine wichtige Rolle spielen. Kurschus etwa hatte versucht, Länder mit ähnlicher Buchkultur zu clustern, wobei als Variablen, die Werte und Haltungen fassen sollten, zum einen eine Eurobarometer-Größe und zum anderen eine von Kurschus auf der Basis der Literatur über die Buchkulturen der Länder selbst vergebene Größe eingegangen waren, was

8 Desiderate 

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höheren Ansprüchen an Objektivität und Reproduzierbarkeit jedoch nicht gerecht wird. An dieser Stelle könnte man stattdessen z.  B. mit Dimensionen in der Folge von Hofstede als Werte und Haltungen repräsentierende Konstrukte arbeiten. Aufgrund der Kompositionalität und Transparenz dieser Dimensionen würde es damit möglich, kausale Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Werten und Haltungen und auf dem Buchmarkt feststellbaren Verhältnissen zu postulieren.

8 Desiderate Ein theoriegeleitetes, universelles Modell für den Vergleich von Buchkulturen gibt es (noch) nicht. Ein weiteres Problem ist die nur selektiv gegebene Verfügbarkeit und Kommensurabilität von Zahlen und Daten aus verschiedenen Ländern bzw. die großen Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, alternativ länderübergreifende Datenerhebungen zu konzipieren und durchzuführen. Die mangelhafte Datenlage wird sowohl von Wissenschaftler*innen als auch von Praktiker*innen vielfach beklagt, gleichzeitig lassen sich von verschiedenen Branchenverbänden und anderen Zusammenschlüssen Anstrengungen in Richtung einer Verbesserung der Situation finden. Für internationale Vergleiche gibt es vereinzelt Ansätze, zu Buchkulturen verfügbare Zahlen zu Kennzahlen auf einer normativen Überlegung eher zugänglichen Ebene zu verdichten; hierher gehören z.  B. das Konzept der Bibliodiversität von Benhamou und Peltier und das der Gesundheit von Buch-Ökosystemen von Kovač et al. Für theoriegeleitete Arbeiten noch grundlegender als die schlechte Datenlage ist das Problem, dass es kein hinreichend einheitliches Verständnis davon gibt, was Buchkultur ist und vor allem, welche Parameter operationalisiert für eine Buchkultur stehen können – zu Ersterem gibt es in diesem Beitrag einen Vorschlag zur weiteren Verständigung. Vielversprechende Forschungsanstrengungen, die den Weg zu künftigen erhellenden Buchkultur-Vergleichen bereiten könnten, sind die verschiedenen Ansätze, Länder im Hinblick auf eine Auswahl an buchkulturellen Gegebenheiten zu clustern sowie Kulturvergleiche aus anderen Gegenstandsbereichen. Zu ersteren gehören die Versuche von Appelman und Canoy und – zum Teil darauf aufbauend, aber stärker Erkenntnisse aus den Geisteswissenschaften heranziehend und methodisch anders angelegt – von Kurschus. Letztere beziehen sich in erster Linie auf Kulturdimensionen als Möglichkeit der Operationalisierung von Kultur innerhalb der kulturvergleichenden Sozialforschung, mit Hofstede als prominentestem Vertreter. Die beiden Problembereiche der Daten auf der einen und einer fehlenden operationalisierbaren Begriffsfassung von Kultur, insbesondere Buchkultur, auf der anderen Seite sind wohl nicht in einem integrierten wissenschaftlichen Prozess zu lösen. Vielmehr steht zu erwarten, dass die von Wissenschaftler*innen ver-

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 VIII.3 Internationale Vergleiche von Buch- und Lesekulturen

schiedener Disziplinen vorangetriebenen Arbeiten im hermeneutisch-theoretischen Bereich einerseits und im datengetrieben-empirischen Bereich andererseits zunächst mehr oder weniger unabhängig voneinander weiterarbeiten und die Frage des Zusammenführens zu einem späteren Zeitpunkt auf der Basis der bis dann erreichten verbesserten Ergebnisse noch einmal gestellt werden muss. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass nicht wenige Bemühungen im Zusammenhang mit Zahlen und Daten zu Buchmärkten bzw. Buchkulturen, auch mit deren länderübergreifenden Betrachtung, ihren Sitz im Leben in der Kreativindustrie haben, spezieller in der Praxis der internationalen Buchbranche (Verlage, Messen, Verbände, etc.) bzw. Gegenstand kultur- und buchpolitischer Diskurse sind. Dort sind diese Zahlen und Daten Grundlage für das strategische Management von Buchunternehmen und Steuerungsgrößen für Intervention und damit eine Voraussetzung für eine gelingende staatliche und zivilgesellschaftliche Förderung von Büchern und Lesen. Rönning und Slaatta sowie Fischer haben zu Letzterem wichtige Gedanken beigesteuert und insbesondere die große Menge an Möglichkeiten der Buchpolitik dargelegt und kontextualisiert. Bedeutung und spezifische Erscheinungsformen von Buchkultur und Buchkulturen sind Ergebnisse historischer Entwicklungen (siehe IV.3 Medienwandel und VIII.2 Transformation und Kontinuität von Buch- und Lesekulturen in diesem Band), entlang derer das Buch die Entfaltung menschlicher Zivilisation, moralischer Werte und wissenschaftlichen Fortschritts begleitet hat (Kurschus 2015: 349). Ihre wissenschaftliche Untersuchung muss aber auch in jüngeren Phasen der Geschichte geänderte Wertvorstellungen – z.  B. im Hinblick auf den freien Zugang zu Information, Bildung und Wissen (Kurschus 2015: 349) – sowie natürlich die umwälzenden Folgen der Digitalisierung auch der Buchwelt systematisch in den Blick nehmen. Beim Vergleich von Buchkulturen ist überdies zu berücksichtigen, dass es um viel mehr geht als um einen vordergründigen Wettbewerb um gut klingende Kennzahlen und um nationale Wirtschafts- und Kulturpolitik: Es geht darum, wie es in einem Land kontrastiv um den aktuellen Stand und die Entwicklungspotentiale des Mediums Buch als zentralem Kultivierungsbeitrag bestellt ist. Schon von daher wären von internationalen Initiativen oder Zusammenschlüssen vorangetriebene, also von der Anlage her internationale Erhebungen wünschenswerter und auch erfolgversprechender als die nachträgliche Zusammenführung von mit einem nationalen Horizont erhobenen Daten. Ähnliches gilt für die Theoriebildung zum Konzept der Buchkultur – auch hier ist schon bei der Formulierung darauf zu achten, dass eine wirklich globale Perspektive eingenommen wird und eine Engführung auf bestimmte Weltregionen und Kulturtraditionen vermieden wird.

Literatur 

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 VIII.3 Internationale Vergleiche von Buch- und Lesekulturen

Hofstede, Geert. Culture’s Consequences: Comparing Values, Behaviors, Institutions and Organizations Across Nations. 2. Aufl. Thousand Oaks u.  a. 2001. Hofstede, Geert. Culture’s Consequences: International Differences in Work-Related Values. London, Beverly Hills 1980. Hofstede, Geert; Hofstede, Gert Jan, und Michael Minkov. Cultures and Organizations: Software of the Mind – Intercultural Cooperation and its Importance for Survival. 3., überarb. und erw. Aufl. New York u.  a. 2010. Hofstede, Geert, und Michael Harris Bond. „The Confucius Connection: From Cultural Roots to Economic Growth.“ Organizational Dynamics 16.4 (1988): 5–21. House, Robert J.; Hanges, Paul J.; Javidan, Mansour; Dorfman, Peter W., und Vipin Gupta. Culture, Leadership, and Organizations: The GLOBE Study of 62 Societies. Thousand Oaks 2004. Jowell, Roger. „How Comparative is Comparative Research?“ American Behavioral Scientist 42.2 (1998): 168–177. Kovač, Miha; Phillips, Angus; van der Weel, Adriaan, und Rüdiger Wischenbart. „Book Statistics: What Are They Good for?“ LOGOS 38.4 (2017): 8–17. Kovač, Miha, und Rüdiger Wischenbart. „Globalisation and Publishing.“ The Oxford Handbook of Publishing. Hrsg. von Angus Philips und Michael Bhaskar. Oxford 2019: 207–225. Kurschus, Stephanie. European Book Cultures: Diversity as a Challenge. Wiesbaden 2015. Madden, Christopher. „Making Cross-Country Comparisons of Cultural Statistics: Issues and Good Practices.“ Cultural Trends 14.4 (2005): 299–316. McSweeney, Brendan. „Hofstede’s Model of National Cultural Differences and Their Consequences: A triumph of Faith – a Failure of Analysis.“ Human Relations 55.1 (2002): 89–117. Minkov, Michael. Cross-Cultural Analysis: The Science and Art of Comparing the World’s Modern Societies and their Cultures. Los Angeles u.  a. 2013. Nielsen BookData. Produção e vendas do setor editorial brasileiro: Ano base – 2021. 2022. Norrick-Rühl, Corinna. Internationaler Buchmarkt. Frankfurt am Main 2019. O’Hagan, John. „European Statistics on Participations in the Arts and their International Comparability.“ Enhancing Participation in the Arts in the EU: Challenges and Methods. Hrsg. von Victoria M. Ateca-Amestoy, Victor Ginsburgh, Isidoro Mazza, John O’Hagan und Juan PrietoRodriguez. Cham 2017: 3–17. Rippl, Susanne, und Christian Seipel. Methoden kulturvergleichender Sozialforschung: Eine Einführung. 2., aktual. Aufl. Wiesbaden 2015. Rönning, Helge, und Tore Slaata. Ambitious Literary Politics: International Perspectives. Genf, Oslo 2020. Schwartz, Shalom H. „Universals in the Content and Structure of Values: Theoretical Advances and Empirical Tests in 20 Countries.“ Advances in Experimental Social Psychology 25 (1992): 1–65. Smith, Peter B., und Michael Harris Bond. „Culture: The Neglected Concept.“ Social Psychology Across Cultures. Hrsg. von Peter B. Smith und Michael Harris Bond. 2. Aufl. London u.  a. 1998: 38–69. Steiner, Ann. „The Global Book: Micropublishing, Conglomerate Production, and Digital Market Structures.“ Publishing Research Quarterly 34 (2018): 118–132. Syndicat national de l’édition. Les chiffres de l’édition: Rapport statistique du SNE 2020–2021. Paris 2021. Thomas, Alexander, und Astrid Utler. „Kultur, Kulturdimensionen und Kulturstandards.“ Handbuch Stress und Kultur. Hrsg. von Petia Genkova, Tobias Ringeisen und Frederick T. L. Leong. Wiesbaden 2012: 41–58. Thompson, John B. Book Wars: The Digital Revolution in Publishing. Cambridge 2021. Trompenaars, Fons, und Charles Hampden-Turner. Riding the Waves of Culture: Understanding Cultural Diversity in Business. London 1993. Vivelo, Frank Robert. Handbuch der Kulturanthropologie: Eine grundlegende Einführung. Stuttgart 1981.

Literatur 

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Volpers, Helmut. „Der internationale Buchmarkt.“ Medienwissenschaft: Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. 3. Teilband. Hrsg. von Joachim-Felix Leonhard, Hans-Werner Ludwig, Dietrich Schwarze und Erich Straßner. Berlin, New York 2002: 2649–2660. Wischenbart, Rüdiger; Kovač, Miha, und Michaela Anna Fleischhacker. Diversity Report 2020: Trends in Literary Translation in Europe: Authoring and Publishing Models, Market Developments and Sponsorship Policies in Austria, Czech Republic, Germany, France, Italy, Poland, Slovenia, Spain, and Sweden. Wien 2020. Wischenbart, Rüdiger, und Holger Ehling. A Study on International Book Statistics: Framework – Approaches – Solution Strategies – Outlook. Wien, Frankfurt am Main 2008. World Intellectual Property Organization. The Global Publishing Industry in 2018. Genf 2020. Zell, Hans M. „How Many Books are Published in Africa? The Need for More Reliable Statistics.“ The African Book Publishing Record 39.4 (2013): 397–406. Zell, Hans M. „African Book Industry Data and the State of African National Bibliographies.“ The African Book Publishing Record 44.4 (2018): 363–389.

Autor*innen Philip Ajouri ist seit 2019 Professor für Buchwissenschaft am Gutenberg-Institut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien, JGU Mainz. Promotion 2005, Habilitation 2016; Venia Legendi für das Fach Neuere deutsche Literatur. 2014–2018 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Literaturarchiv Marbach und Professurvertretungen. 2010 Feodor-Lynen-Stipendium der Alexander von HumboldtStiftung am King’s College London. Publikationen und Forschung: Geschichte der Werkausgaben, Kolportage, bildliche Darstellungen des Buchs, Antiqua und Fraktur, Verlagsarchive. Christoph Bläsi ist seit 2009 Professor für Buchwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Vor einer Professur an der Universität Erlangen-Nürnberg (2004–2009) war er – mit einer Promotion in Deutscher Philologie / Metalexikographie – in verschiedenen deutschen Verlagen tätig. Aktuelle Schwerpunkte umfassen KI-Anwendungen im Verlagswesen, (ökonomische Aspekte von) Bildungsmedien und die Vereinheitlichung von nationalen Lesestudien (im Creative Europe-geförderten Projekt Aldus Up) sowie das Open Access-Publizieren in den Geistes- und Sozialwissenschaften (im BMBF-geförderten Projekt AuROA). Heinz Bonfadelli war seit 1994 Extraordinarius und von 2000 bis 2015 Ordinarius für Publizistikwissenschaft am IKMZ Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich. Seit Herbst 2015 emeritiert. Schwerpunkte: Mediennutzung und (Buch-)Lesen; Medienwirkungen, speziell Wissenskluft-Perspektive und Digital Divide; Migration und Medien; Wissenschafts-, Gesundheits- und Umweltkommunikation. Marco Thomas Bosshard ist Professor für Spanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Europa-Universität Flensburg. Zwischen 2007 und 2017 verantwortete er die iberoromanische Belletristik im Verlag Klaus Wagenbach, zwischen 2017 und 2020 das DFG-Forschungsprojekt Buchmessen als Räume kultureller und ökonomischer Verhandlung. Seit 2021 leitet er das deutsch-spanische Teilprojekt im BMBF-Forschungsverbund Antisemitismus im europäischen Schulunterricht. Buchwissenschaftlich und literatursoziologisch ausgerichteten Arbeiten sowie Veröffentlichungen zu lateinamerikanischen Literaturen, den historischen Avantgarden, romanischer Versepik und Erinnerungskulturen. Ina Brendel-Kepser ist Professorin für Neuere deutsche Literatur und Literaturdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Lesen als kulturelle Praxis, gendersensible Leseförderung, Kinder- und Jugendliteratur und ihre Didaktik, Literarische Wertung, Literarisches Schreiben, digitale Rezeptionsprozesse. Projekte: www.illustratorsinresidence.de, www. boysandbooks.de. Jan Eichelberger ist seit 2016 Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Immaterialgüterrecht und IT-Recht am Institut für Rechtsinformatik der Leibniz Universität Hannover. Studium, Promotion und Habilitation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Referendariat und anwaltliche Tätigkeit in Berlin. Forschungsschwerpunkte: Haftungsrecht, Immaterialgüter- und Lauterkeitsrecht, Medizinrecht, Privatversicherungsrecht, Verfahrensrecht, jeweils auch speziell in Bezug auf Digitalisierung und Innovation. Petra Feuerstein-Herz war von 1990 bis Ende 2021 an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel im Bereich Alte Drucke tätig. Referendariat für den Höheren Dienst an Wissenschaftlichen Bibliotheken https://doi.org/10.1515/9783110745030-024

Autor*innen 

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1988 bis 1990, Promotion 2004. Publikationen und Forschung zur Buch- und Bibliotheksgeschichte, Wissenschaftsgeschichte der frühen Neuzeit; Schwerpunkte historische Sammlungsgeschichte, antiquarischer Bestandsausbau, Materialität des Buchs, Naturgeschichte und Geschichte der Alchemie. Dörthe Fröhlich arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Statistischen Bundesamt in Wiesbaden. Nach ihrem Masterabschluss in Buchwissenschaft war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Gutenberg-Institut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz tätig. Im Rahmen des EU-Projekts „Aldus Up“ widmete sie sich der Leseforschung im europäischen Kontext mit Schwerpunkten in den Bereichen Lesegewohnheiten sowie Leseförderung. Peter Gentzel ist seit 2019 Juniorprofessor für Digitale Transformation der Medienkommunikation an den Departments für Medienwissenschaft und Kunstgeschichte sowie Digital Humanities and Social Studies der FAU Erlangen-Nürnberg. Promotion 2013 im Promotionskolleg Communication and Digital Media an der Universität Erfurt. Schwerpunkte: Kommunikations- und Medientheorien (insbesondere Mediatisierung, Cultural Studies, Praxistheorien), qualitative, partizipative und ko-kreative Methoden, Soziologie und Kultur digitaler Kommunikation, kritische Kommunikations- und Medienforschung sowie Digitalisierung des urbanen Raums. Claas Friedrich Germelmann ist seit 2014 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Europarecht an der Leibniz Universität Hannover und Geschäftsführender Direktor des dortigen Instituts für Internationales Recht. Studium und Promotion zum Dr. iur. an der FU Berlin, LL.M.Studium in Cambridge, Referendariat im Kammergerichtsbezirk in Berlin, Habilitation in Bayreuth. Venia legendi für die Fächer Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht sowie Rechtsvergleichung. Forschungsschwerpunkte: Öffentliches Kulturrecht, (vergleichendes) Verfassungsrecht, Europarecht, deutsches, europäisches und internationales Wirtschaftsrecht, Energie- und Klimaschutzrecht. Svenja Hagenhoff ist seit 2011 Professorin im Institut für Buchwissenschaft der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg. Promotion 2001, Habilitation 2007. Publikationen und Forschung zu Mediensystemen, Systemanalysen, Medienwirtschaft, Digitalisierung, Daten und Software. Schwerpunkte: Schrift- und Lesemedien als Artefakte, Technologien in Prozessen und Systemen, Systemische Sichten auf Medien und Kommunikation. Heiko Hartmann ist seit 2013 Professor für Buch- und Medienwirtschaft an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) Leipzig. Promotion 1998 mit einer Arbeit zum mittelalterlichen Gralsroman. 16 Jahre verschiedene Positionen in Sachbuch- und Wissenschaftsverlagen (1998–2001 Redakteur, Bertelsmann Lexikon Verlag; 2001–2010 Cheflektor, De Gruyter; 2010–2013 Verlagsleiter, Akademie Verlag). 2009 bis 2014 Honorarprofessor für Praktische Verlagskunde an der FU Berlin. Schwerpunkte in Forschung und Lehre u.  a. aktuelle Probleme der Buchökonomie sowie philologische Projekte im Bereich der Mediävistik. Axel Kuhn leitet seit 2022 das von der DFG geförderte Projekt Debattenmedium, Streitschrift oder Propaganda? Leistungen politischer Kulturmagazine in der politischen Kultur der Berliner Republik. Promotion 2008, Habilitation 2017; Venia Legendi für das Fach Buchwissenschaft. Von 2020 bis 2022 Vertretung des Lehrstuhls für Buchwissenschaft an der FAU Erlangen-Nürnberg. Publikationen und Forschung zu Medienwandel, Medientheorie, digitalen Medien und Publizistik; Schwerpunkte: Zeitschriftenforschung, digitale Transformationen von Buch- und Lesekulturen, Lesen.

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 Autor*innen

Gerhard Lauer ist Gutenberg-Professor für Buchwissenschaft an der Universität Mainz. Promotion 1994, Habilitation 2000. Von 2002 bis 2017 Professor für Deutsche Philologie an der Universität Göttingen, 2017 bis 2021 Professor für Digital Humanities an der Universität Basel. Forschung und Publikationen zur Literatur- und Buchgeschichte und zur digitalen Transformation des Lesens. Christian Meierhofer ist Privatdozent mit einer Heisenberg-Stelle der DFG am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Bonn. Promotion 2009, Habilitation 2017; Venia Legendi für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Allgemeine Literaturwissenschaft. Seit 2020 Lehrstuhlvertretungen in Mainz und Karlsruhe. Publikationen und Forschung zur Literatur-, Wissens- und Mediengeschichte seit 1500; Schwerpunkte: Historische Presseforschung, Literatur der Frühen Neuzeit, nichtfiktionale und populäre Gattungen, Sachliteratur. Irina Rajewsky ist seit 2022 Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, mit Schwerpunkten im Bereich der Medienkomparatistik (Inter- und Transmedialitätsforschung), der Narratologie sowie der Fiktionalitäts- und Performativitätstheorie, unter besonderer Berücksichtigung auch von Fragen des digitalen Wandels. Ihr Grundlagenband Intermedialität (UTB 2002) ist zu einem fächerübergreifenden Standardwerk geworden; seitdem hat sie zahlreiche weitere, national wie international breit rezipierte Beiträge zur Inter- und Transmedialitätsforschung vorgelegt. Sandra Rühr ist seit 2017 Akademische Oberrätin am Institut für Buchwissenschaft an der FAU Erlangen-Nürnberg. Sie hat 2007 über die Mediengeschichte des Hörbuchs promoviert und 2004 ihren Magisterabschluss in Buchwissenschaft, Theater- und Medienwissenschaft sowie Neuere Deutsche Literaturgeschichte erworben. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Audiomedien und ihre Funktionen, Literaturveranstaltungen als Ereignisse und Gestaltung und Wirkung von Independent Magazinen und Buchkunst. Ute Schneider ist Professorin für Buchwissenschaft am Gutenberg-Institut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 1994 Promotion, 2001 Habilitation über die Berufsgeschichte des Lektors im literarischen Verlag. Aktuelle Forschungsprojekte: DFG-Netzwerk Forschungsfeld Lesen – Lesen als Totalphänomen sowie SFB 1472 Wissenschaft im Taschenbuch der Bundesrepublik 1955–1980 (Teilprojekt). Schwerpunkte: aktuelle und historische Dimensionen des Lesens, Geschichte des Buchgebrauchs von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert sowie die Wechselwirkungen zwischen Wissenschaftsgeschichte und Verlagswesen. Christoph Benjamin Schulz ist Literaturwissenschaftler und Kunsthistoriker. Er promovierte 2012 mit einer Arbeit zur Kulturgeschichte des Blätterns und war Mitglied verschiedener DFG-Projekte respektive Netzwerke. Seine Forschungen widmen sich den Facetten der Materialität und Medialität literarischer Kommunikation, wie unter anderem Strategien der Ästhetisierung und Semantisierung des Buchs. Er beschäftigt sich mit historischen Buchformen und Gattungen und deren Rezeption in der Moderne und darüber hinaus mit Künstlerbüchern, konzeptuellen Literaturen des 20. Jahrhunderts und Kinderbüchern. Neben seinen wissenschaftlichen Tätigkeiten hat er Ausstellungsprojekte für renommierte Museen entwickelt. Katharina Walter leitet seit 2023 das Museum für Druckkunst Leipzig. Master of Arts Kulturwissenschaft 2013. Von 2013 bis 2018 wissenschaftliche Mitarbeit im Exzellenzcluster Bild Wissen Gestaltung. Ein interdisziplinäres Labor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Publikationen und Forschung

Autor*innen 

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zur Materialität und Medialität von Schrift; Schwerpunkte: Kulturtechnik der Typografie, Mediengeschichte des Schriftsatzes im 19. und 20. Jahrhundert, Schriftgestaltung und Leseforschung, Theorien und Diskurse der Typografie. Nikolaus Weichselbaumer ist seit 2022 Juniorprofessor für Buchwissenschaft an der JGU Mainz und leitet die von der DFG geförderten Projekte Erkennung von Schriftartgruppen zur OCR-Verbesserung und ‚Werck der bücher‘ Transitions, experimentation, and collaboration in reprographic technologies, 1440–1470. Promotion 2015. Publikation und Forschung zu frühem Buchhandel, Typografiegeschichte und digitalen Methoden der Buchforschung; Schwerpunkte: Schriftgießerei und Schriftenhandel, Mustererkennung und altes Buch, Bibliometrie.

Register

Gegenstände der Buchforschung Gegenstände der Buchforschung sind die in den Beiträgen dieses Handbuchs genannten inhaltlichen Dimensionen der Buchforschung in theoretischer Abstraktion (das heißt unabhängig von historischen und empirischen Gegenstandsausprägungen, zu diesen siehe Begriffe aus der Buchforschung). Sie sind einerseits nach Perspektiven auf Bücher differenziert, andererseits nur als Elemente in zusammenhängenden Netzwerken denkbar, die zusammen einzelne Forschungsfelder der Buchforschung konturieren (siehe hierzu auch I Theoretische Perspektiven und Gegenstände der Buchforschung, Abschnitte 3.1 und 4.1). Affekte, die im Zusammenhang mit Büchern und in literalen Kulturen entstehen 21, 27, 111, 113, 120, 139–143, 154  f., 178, 244, 326, 390, 448, 450, 454, 456 – Atmosphären, die mit der Präsenz von Büchern zusammenhängen 21, 154  f., 531, 550 – Emotionen, die durch Bücher entstehen 134, 138, 141–143, 148, 153  f., 172, 180, 262, 265, 275, 386, 390, 412, 415, 417, 455 – Empathie, die durch Bücher hervorgerufen wird 125, 262 – Stimmungen, die von Büchern beeinflusst werden 21, 120, 125, 134, 142, 148, 154 Aneignung von Büchern und literalen Kulturen 56, 101, 135, 138, 149–152, 154, 168, 177, 230, 232, 234, 236, 240, 419, 440, 450, 482, 530, 551 – Agency von Büchern 25, 32, 503 – Domestizierung von Büchern 149–151, 407 – Handlungen mit Büchern 21, 23, 28, 31, 35, 59, 79, 87, 112, 117, 136  f., 139, 141, 143, 145, 148  f., 151–153, 172, 220, 222, 232  f., 239, 244, 314, 317, 323, 325, 335  f., 339, 346  f., 352, 389, 418, 441, 450  f., 483, 497, 513  f., 521, 576 – Konsum von Büchern 16, 21, 59, 110, 118, 135  f., 138, 144  f., 147, 150–152, 234–236, 238, 273, 309, 317, 321, 418, 472, 513, 533, 540, 544  f., 566, 575 – Rituale mit Büchern 61, 134  f., 152, 244, 309, 325, 466, 545 – Routinen mit Büchern 21, 76, 134  f., 139, 143, 148–150, 152, 234, 239  f., 244, 290, 294, 322, 408, 448, 514, 543, 548 https://doi.org/10.1515/9783110745030-025

Arbeit an Büchern 50, 214, 235, 239, 279  f., 285, 291, 294, 376, 493  f., 496, 498, 500, 521, 567 – Arbeitsorganisation und Arbeitsteilung im Buchhandel 53, 219  f., 235, 254, 280, 290, 302, 505, 508 Ästhetik von Büchern 18, 20, 26  f., 62, 73  f., 88, 90, 95, 99, 110, 135, 141, 162  f., 167–171, 173  f., 177, 192, 201, 211, 234, 238, 261, 264, 275, 310, 390, 393, 395, 471, 509, 543 – Ästhetische Erfahrung und Genuss von Büchern 21, 110, 114  f., 134, 138, 209, 348 – Ästhetische Sinnhorizonte und Strategien literaler Kulturen 200, 390, 448, 543 – Olfaktorische Wahrnehmung von Büchern 514 – Sinnlichkeit, sinnliche Wahrnehmung von Büchern 21, 122, 134, 147, 152, 154, 162, 174  f., 509 – Taktile Wahrnehmung von Büchern 20, 56, 62, 99, 192  f., 201, 262, 264, 273, 476, 493, 514 – Visuelle Wahrnehmung von Büchern 19, 56, 62, 99, 122  f., 126, 173, 193, 201, 493 Berufe im Zusammenhang mit der Produktion, Distribution und Nutzung von Büchern 22, 218, 254, 279–282, 285, 287  f., 290–295, 309, 513, 567 – Berufsausbildung für literale Kulturen 14, 17, 22, 31, 53, 279–281, 283  f., 287, 291, 298, 310 – Berufsbilder literaler Kulturen 235, 280, 285  f., 288, 290  f., 294  f. – Berufsrollen literaler Kulturen 280, 284, 286–292, 294

592 

 Register

Bildung als literale Kultur 17, 19–22, 36  f., 113, 118  f., 137, 144, 168, 216, 220, 251, 253, 261, 264, 273, 282, 340–342, 346, 353, 388, 394, 398, 405  f., 409, 412, 414  f., 418  f., 432, 472, 484, 531, 540, 567  f., 575, 580 – Bildungsdiskurse um Literalität 387–389 – Bildungseinrichtungen literaler Kulturen 40, 379, 388  f., 528 – Bildungsmedien, Bücher als 31, 316, 386–388, 398 – Bildungssysteme literaler Kulturen 38, 346, 385  f., 389

– Gedruckte Buchformate, Druckschriften, Drucke 7–10, 13, 20, 25, 49, 51  f., 54, 57, 59, 62, 68, 96, 99  f., 103, 125, 143, 171, 193, 258  f., 261, 265  f., 272, 274  f., 302, 316, 351  f., 356, 364, 370  f., 378, 380  f., 413, 467, 472, 476, 507, 532, 534 – Hybride Buchformate 96, 99, 316, 386, 419 – Manuskripte, Handschriften 7  f., 10, 20, 35, 49, 52  f., 59, 69, 191, 467, 475  f.

Buchdruck 6, 8  f., 12, 19  f., 26, 49, 51, 55, 57–60, 68  f., 90, 163, 252, 335, 356, 394, 414, 449  f., 465, 469, 471  f., 478  f., 494–496, 532, 534  f. – Druck- und Satztechniken 7, 20, 53–55, 102, 471 – Druck- und Satztechnologien 53, 62, 69, 76  f., 86, 521

Buchgestaltung 7  f., 14, 18–20, 25, 28–30, 56  f., 63, 68, 70–79, 98, 100, 103  f., 140, 142, 155, 163, 193, 238  f., 360, 371, 476, 484, 509, 515 – Buchdesign 20, 63, 68, 72  f., 238–240, 242, 261, 515 – Buchgestaltungspraxis 50, 63, 70, 79 – Gestaltungsströmungen und Designschulen 69  f., 72–74, 78

Bucheinzelhandel 9, 21, 251–255, 257–260, 264, 269–271, 273, 275, 280–282, 298, 302  f., 314, 380, 435, 453, 513, 548  f. – Gebrauchtbuchhandel 85, 169, 279, 288, 371, 380, 513 – Online-Buchhandel 254, 259  f., 269–272, 281, 417 – Stationärer Buchhandel 212, 252–254, 259  f., 265, 270–273, 279, 288, 417, 563, 570

Buchhandel, Buchbranche 5, 7, 12, 14  f., 21, 25, 30, 38, 40, 49, 59, 84  f., 143, 166, 220  f., 251–253, 256  f., 260, 269–276, 279–288, 290–294, 298, 301–305, 308  f., 324, 342, 351  f., 355–358, 360–363, 365  f., 370, 385, 417, 502, 511, 513, 532, 547, 561–563, 567, 570, 575, 580 – Struktur und Organisation des Buchhandels 12, 260, 298, 301–304, 308

Buchentsorgung und -verwertung 493, 507, 510  f. – Buchrecycling 446, 510  f.

Buchkommunikation 16  f., 19–21, 23, 25–28, 209–212, 214  f., 219–222, 231, 237, 239, 261, 287, 291, 293, 353, 356, 359, 396, 409, 415, 439, 443, 446, 448, 450  f., 470, 472, 478, 493  f., 497  f., 507, 516, 521 – Kommunikationsangebote und -formen des Buchs 35, 136, 209, 314, 480 – Kommunikationskanäle des Buchs 17, 136, 148, 209, 218, 238, 242, 263, 336 – Kommunikationssituationen und -bedingungen des Buchs 317, 341  f., 494

Buchformate, Buchgattungen 7  f., 10, 19–23, 27  f., 33, 35–37, 54, 69, 84–90, 94, 96  f., 100–102, 143, 171, 192, 209, 212  f., 215  f., 218, 235, 251, 261, 267–269, 271  f., 319, 340, 360, 408, 453, 467, 472  f., 476, 484, 497, 514, 517, 528, 538, 543, 549 – Buchdigitalisate 55, 57, 69, 372, 481, 484 – Digitale Buchformate, elektronische Buchmedien, Bücher als Software 49, 57, 59  f., 62, 69, 88, 95  f., 100, 119, 143, 172, 194, 221, 231  f., 234, 237, 239  f., 242  f., 255, 258, 262, 265  f., 272–275, 316, 371, 373, 386  f., 389, 391, 464, 468, 478, 494, 498, 500, 504–506, 509, 514, 516, 519, 534, 536

Buchkunst 7, 13, 18, 74, 100, 163, 168, 173, 191, 262, 358, 471, 567 – Buchobjekte 91, 100 – Künstlerbücher 63, 85, 88, 90, 100–103, 171, 193

Gegenstände der Buchforschung 

Buchmärkte 220  f., 251, 253, 255  f., 258, 260  f., 271, 273, 275, 290, 367, 369, 503, 528, 542, 567, 570, 573 – Akteure auf Buchmärkten 253, 368, 513 – Bedingungen und Strukturen von Buchmärkten 255  f., 264, 267  f., 271, 283, 287, 292  f., 567, 570 – Buchmarktentwicklungen und -strategien 251, 260, 263, 267–269, 275, 281, 287, 562 – Buchmarktforschung 12  f., 23, 118  f., 121, 136  f., 141, 166, 222, 268, 274, 538 Buchmedien (als) 3, 12, 17, 33, 35, 39, 49, 58  f., 136, 138, 143, 146, 209–212, 282, 308, 336, 391, 407, 414, 439, 456, 470, 566, 580 – Audiomedien 36, 59, 63, 99, 208, 217, 237, 240, 270, 272, 317, 387, 509, 520, 564 – Bildmedien 59, 63, 261 – Gedächtnismedien 483 – Leitmedien 534, 542–544 – Lesemedien 37, 95, 217, 232, 241, 244, 391, 405–407, 409, 416, 431, 528, 531, 536, 544, 547, 550 – Massenmedien 27, 90, 103, 236, 240, 405, 416, 446, 478 – Schriftmedien 32  f., 35, 37, 61, 217, 241, 243  f., 261, 385  f., 391, 405–407, 409, 412, 414, 419, 431, 473  f., 476, 508, 528, 533 – Speichermedien 20, 49, 58  f., 86, 90, 100, 383, 465, 467  f., 493 – Trägermedien 10, 20, 26, 28, 49, 51  f., 73, 86, 147  f., 191–193, 201, 217, 261, 264, 354, 360, 372, 378–380, 408, 464, 470, 479, 495, 516  f., 533, 545 – Verbreitungsmedien 86, 90, 100, 242, 493 Buchnutzer*innen als Zielgruppen 22, 85, 251, 253, 255  f., 259  f., 263–265, 267  f., 272, 274, 342, 437, 483 – Zielgruppenadressierung 252, 263, 276, 324, 387, 396 – Zielgruppenanalysen 275 Buchnutzung, Mediennutzung 13, 19, 21, 23  f., 28  f., 31, 35  f., 84, 86, 109, 118  f., 134–148, 151–156, 162, 167, 175, 179, 194, 202, 209, 216–218, 232–236, 238–244, 253, 263,

 593

274–276, 317, 348, 371, 389, 396, 406  f., 409, 416, 418, 446, 455, 465, 467, 482, 495  f., 507, 509, 530, 538, 544, 547  f. – Affordanzen von Büchern 238, 244, 348, 508, 514  f. – Bedürfnisse, die mit Büchern befriedigt werden 21, 120, 139–142, 144, 155, 244, 251, 260–262, 264, 267  f., 396, 431  f., 451, 455, 503, 531 – Dispositionen und ihr Einfluss auf Buchnutzung 26, 56, 150, 152  f., 156, 174, 347 – Erlebnisse mit Büchern 122, 134, 138, 140, 142, 150, 152, 154  f., 176, 178, 254, 262, 273, 324, 395  f., 436 – Gebrauchstauglichkeit, Usability von Büchern 218, 505, 515, 535 – Gratifikationen durch Bücher 31, 139, 141  f., 144, 292, 396 – Modalitäten der Nutzung von Büchern 142, 192, 235, 406, 408, 419, 452 – Motivationen zur Nutzung von Büchern 13, 21, 137–139, 141  f., 148, 234, 396, 540 – Wirkungen von Büchern 7, 21, 111, 120, 124–126, 139, 142, 147  f., 152, 154, 156, 211, 243, 326, 340, 386, 390, 406, 484, 496 – Zeitbezogene Aspekte der Nutzung von Büchern 59, 61, 99, 118, 120, 144, 149, 151, 172, 176, 209, 216–218, 221, 233, 237, 242  f., 274, 322  f., 410  f., 446, 448, 455, 539, 545–547, 550, 559, 564–566 Buchökonomie, Buchwirtschaft literaler Kulturen 8, 14, 16–18, 20  f., 25, 30, 32, 37, 166, 221, 231  f., 235, 238  f., 251  f., 255, 260  f., 264, 275  f., 287, 289  f., 292, 294, 301  f., 315, 325  f., 405  f., 415–417, 444, 450  f., 476, 482, 505, 508, 556, 566–568 – Kommerzialisierung literaler Kulturen 37, 73, 285, 305, 316, 321, 325, 447  f., 544 – Konzentrationsprozesse in der Buchwirtschaft 212, 252, 269  f., 272, 575 – Ökonomisierung der Buchwirtschaft 231, 428 – Spezialisierung in der Buchwirtschaft 220 – Wettbewerb in der Buchwirtschaft 12, 22, 230, 251, 256, 264, 267, 269, 273, 275, 367  f., 567

594 

 Register

Buchsystem (als) 17, 19, 23, 27  f., 31, 35, 50, 208, 211, 215  f., 220, 301, 414, 493, 506 – Funktionssystem 11, 407 – Handlungssystem 220, 445 – Informationssystem 10, 12, 59 – Leistungssystem 257 – Ökosystem 451, 551, 557, 565  f., 574, 579 – Soziales System 16, 36, 38, 140, 326, 469, 518 – Soziotechnisches System 255, 451, 493, 496, 520 – Technisches System 498, 500  f. Datafizierung literaler Kulturen 59  f., 212, 229, 237  f., 241–243, 395, 452, 579 – Datensammlung in literalen Kulturen 18, 39, 51, 119, 222, 237  f., 240  f., 244, 260, 392, 481, 560  f., 579 – Datensätze und -formate in literalen Kulturen 121, 234, 239  f., 451, 502, 505, 559  f., 563, 566, 574 – Datenverarbeitung in literalen Kulturen 237–240, 478, 502, 504, 506, 563 – Metadaten in literalen Kulturen 59, 102, 272, 484, 502 Dienstleistungen, Services von oder im Zusammenhang mit Büchern 22, 230, 235, 240, 255, 258  f., 261, 264–267, 276, 281, 285, 371 Diskurse und Debatten um Bücher und literale Kulturen 4, 16, 21  f., 29, 31, 39, 50, 56, 59–61, 75, 216, 233, 239  f., 242, 253, 344, 353, 362, 388, 393, 395, 416  f., 431  f., 435, 445, 473, 497, 502  f., 517, 528, 530, 533, 535, 539, 567  f., 580 Förderung literaler Kulturen 22, 111, 163, 315, 319, 324, 355, 367, 385, 420, 496, 562, 566, 568–570, 580 – Leseförderung 25, 118, 121, 123, 385, 389–391, 395, 398, 414, 570 – Stützungssysteme literaler Kulturen 385  f., 389, 392, 394, 396–398, 528 Funktionen und Leistungen von Büchern 16  f., 19–22, 24, 26  f., 29, 32  f., 35  f., 58  f., 61, 73  f.,

84–86, 95, 117, 134–140, 146, 148, 151–153, 155  f., 167  f., 171–173, 175  f., 209–211, 213, 215  f., 218, 221, 235, 238, 261, 263  f., 275, 302, 315, 322, 325, 338, 359, 368  f., 394, 407, 412, 414, 416, 419  f., 428, 439, 456, 464–467, 469, 476, 484, 501, 514, 521, 530, 533, 536, 543  f., 549, 551, 567 – Dysfunktionalität von Büchern in literalen Kulturen 20, 237, 240, 415 – Funktionalität von Büchern in literalen Kulturen 8, 16  f., 20, 28, 51, 85, 140  f., 155, 195, 234, 236, 242, 414, 495  f. Gemeinschaften, Communities im Zusammenhang mit Büchern oder literalen Kulturen 20, 22, 27, 134, 139, 150  f., 155  f., 162, 169, 176, 266  f., 298, 353, 395, 417, 428  f., 434, 436–456, 470, 472, 556, 577 – Bücher in sozialen Bewegungen 20, 69, 153, 234  f., 416, 429, 438  f., 444–446, 549 – Buch- und Lese- als Mediengemeinschaften 29, 441, 449–452 – Buch- und Lese- als politische Gemeinschaften 445  f. – Buch- und Lese- als Wissensgemeinschaften 436 – Imaginierte Buch- und Lesegemeinschaften 448, 450, 454–456 Geschäftsmodelle und Erlösmodelle des Buchhandels 22, 235, 238  f., 241, 251–253, 257–260, 264  f., 269–271, 273, 275  f., 562 Geschichte literaler Kulturen 25, 36  f., 116, 473, 479–481 – Bibliotheksgeschichte 51, 164 – Buchgeschichte 7, 16, 24, 50, 62, 84–86, 88, 90, 94–96, 98, 100  f., 103, 135, 140, 317, 483, 531, 538 – Buchhandelsgeschichte 9, 12, 16, 19, 280, 282–284, 286–288, 298, 341, 529, 531–533, 549 – Kommunikationsgeschichte 9, 233, 517, 531, 533 – Lese(r*innen)geschichte 24, 110, 115, 432, 530, 535 – Literaturgeschichte 7, 13, 60, 113, 115, 175, 287, 310, 340, 392, 472  f., 531, 537, 540

Gegenstände der Buchforschung 

– Materialgeschichte 7  f., 53, 62 – Mediengeschichte 9, 58, 60, 62, 74, 195  f., 229, 233, 323, 476  f., 481, 517, 531–534, 550 – Publikationsgeschichte 7, 51, 54, 84 – Schriftgeschichte 7, 9  f., 51  f., 68  f. – Technikgeschichte 53, 63, 74, 481, 531  f., 550 – Verlagsgeschichte 19, 26, 175, 283, 285  f., 289, 317 – Wissenschaftsgeschichte 4  f., 19  f., 40, 57, 73, 212, 429, 483 Grundrechte in ihren Auswirkungen auf literale Kulturen 22, 351, 354 – Informationsfreiheit 352–356, 359–363, 365  f., 369 – Kunstfreiheit 358  f., 363, 366 – Meinungsfreiheit 352–354, 356–359, 362  f., 365  f., 568 – Pressefreiheit 222, 352  f., 356  f. – Religionsfreiheit 359 – Warenverkehrsfreiheit 368 – Wissenschaftsfreiheit 358  f., 366 Handeln mit Büchern in literalen Kulturen 139  f., 149–151, 177, 281  f., 437, 440, 452, 466, 504, 538 – Freizeithandeln mit Büchern 110, 118, 144, 152, 222, 274, 390, 405, 419  f., 448, 509, 540, 547  f. – Kollaboratives Handeln mit Büchern 388  f., 419 – Kommunikatives Handeln mit Büchern 18, 210, 428, 445, 449  f., 455 – Professionelles Handeln in der Buchproduktion und -distribution 22, 252, 288–290, 292, 294, 314, 467, 508 – Soziales Handeln mit Büchern 20, 28, 117, 146, 148, 169, 208, 219, 346, 393, 405  f., 439, 454 Herstellung, Produktion, Vervielfältigung von Büchern 5, 11, 15  f., 18–20, 22, 24  f., 32, 35  f., 54, 56, 59  f., 99  f., 103, 110, 193  f., 202, 210  f., 236, 242  f., 251  f., 256, 259, 282, 287, 302  f., 314, 325, 352, 356–358, 367, 370–372, 374  f., 378–380, 383, 385, 394, 419, 435, 446, 467, 470  f., 475  f., 482, 496  f., 507, 513, 516, 520, 532, 548  f., 558  f., 570, 575

 595

– Herstellungsverfahren von Büchern 20, 22, 52, 55, 60, 235  f., 238, 257, 302, 356, 379, 510 Identitäten im Zusammenhang mit Büchern und literalen Kulturen 21  f., 117, 120, 126, 137, 141, 145, 150  f., 165  f., 173, 282, 320, 406, 420, 439–448, 450, 452  f., 470, 472  f., 481  f. – Buch- als Medienidentitäten 441, 449 – Bücher als Identifikationsangebot 124, 135, 395, 406, 441, 445, 447–449, 455, 471, 482 – Identitätskonstruktionen, -inszenierungen und -zuschreibungen an Bücher und Lesen 90, 134, 136–138, 145  f., 150, 162, 169, 174–176, 418, 429, 433  f., 436, 440–442, 446–449, 451–453, 455, 470, 484 – Kollektive literale Identitäten 136, 141, 433, 440–442, 445, 470, 473, 551 Innovationen im Zusammenhang mit Büchern und literalen Kulturen 86, 230  f., 238  f., 241  f., 252, 255, 273, 276, 387, 496, 508, 518  f., 535 – Innovationszyklen in literalen Kulturen 243 Institutionalisierung, Institutionen des Buchs 11, 17, 20, 22  f., 28–32, 35  f., 110  f., 113, 117, 120, 140, 143, 147  f., 162, 211, 214  f., 219  f., 222, 239, 241  f., 293, 298, 301, 305, 309, 314  f., 318–320, 324, 326  f., 344, 351, 385, 393  f., 416, 418, 429, 449, 467, 471  f., 481, 493, 498, 507, 548, 556, 567  f. – (Buchbezogene) Konventionen literaler Kulturen 20, 57, 85  f., 90, 113, 145, 148, 166, 199–201, 338, 394 – (Buchbezogene) Normen literaler Kulturen 4  f., 21  f., 76, 112, 117, 211, 220  f., 239, 256  f., 347, 395  f., 407, 420, 456, 467, 470, 474, 483, 496, 528, 538, 541, 549, 578 Interaktionen mit Büchern 21, 28, 59, 77, 100, 118, 124  f., 142, 145, 152, 162, 171, 208, 220, 230, 233, 304, 346, 443, 447–455, 493, 497, 507, 556 – Soziale Buchinteraktionen 125, 138, 144, 149, 152, 239, 347 – Symbolische Buchinteraktionen 149

596 

 Register

Intermediäre in Buchhandel und Buchkultur 22, 208, 222, 256, 259, 266  f., 271, 279, 286, 513 – Aggregatoren im Buchhandel 268 – Disintermediation im Buchhandel 272 – Zwischenbuchhandel 21, 221, 251  f., 254  f., 260, 264, 266, 273, 279, 298, 513 Kommunikationssysteme, Bücher als Teil bestimmter 17, 21, 26, 59, 147, 208–212, 215  f., 218, 220  f., 255, 430, 506 – Kommunikationskontrolle literaler Kulturen 111  f., 215, 354, 364  f., 434, 496, 528, 546 – Kommunikationssteuerung literaler Kulturen 221, 229, 237, 239, 316, 386, 391, 506, 528 Kommunikation über oder in Bezug auf Bücher – Anschlusskommunikation an Buchnutzung und Lesen 21, 26, 112, 120, 141, 143, 345, 390, 406, 436  f., 531 – Digitale Kommunikation zu Büchern 232, 237, 241, 451 – Interpersonale Kommunikation zu Büchern 143 Kompetenzen im Zusammenhang mit Büchern oder literalen Kulturen 21, 119, 152, 218, 244, 264, 280  f., 284, 288–291, 293, 386–389, 391, 405, 408, 412, 419  f., 453 – Lesefähigkeiten 21, 111, 119, 390  f., 405, 420, 443, 468, 516 – Lesekompetenzen 118  f., 386, 389  f., 407  f., 417, 420 Körperlichkeit literaler Kulturen 19, 31, 35, 60, 145, 152  f., 244, 326, 494, 503, 509, 514  f. – Inkorporierung literaler Kulturen 79, 148, 171, 418, 509 Kulturen, in denen Bücher relevant sind 24, 32, 36, 39, 117, 136, 209, 241, 287, 291, 294, 301, 405–407, 415  f., 496, 568, 577 – Alltagskulturen 232, 447, 539, 544  f. – Erinnerungskulturen 464, 477, 480 – Eventkulturen 321 – Freizeitkulturen 539, 545, 547 – Hochkulturen 26, 110, 145  f., 153, 321, 339, 435, 453, 539, 543  f.

– Massenkulturen 153, 530, 544  f. – Medienkulturen 187  f., 195, 202, 209  f., 385, 388 – Nationalkulturen 150, 310, 347, 449, 470, 472, 577 – Partizipationskulturen 236, 451 – Populärkulturen 25  f., 110, 115, 145  f., 327, 336, 397  f., 450, 453, 539, 544 Kunst als literale Kultur 21  f., 24, 26, 36, 39, 63, 73  f., 95, 114, 189, 195, 209, 211, 290, 302, 304, 321, 325, 346, 358, 363, 371, 373, 396, 501, 567 Lebensstil, Bücher und Literalität als 21, 118–121, 137–139, 144–146, 151, 155, 176, 256, 309, 397, 418, 440, 447, 531, 546, 551 – Bücher als Statussymbole 118, 134, 137, 146, 167  f., 176, 260, 280, 412, 447, 541, 543 – Bücher und Literalität in verschiedenen Milieus 21, 118, 120, 134, 137–139, 144–146, 155, 397, 409, 440, 447  f., 453  f., 510, 531, 539, 542  f. – Buchgeschmack 26, 90, 134, 138, 162, 171, 176, 211, 238, 240, 244, 268, 418 – Literalität als Habitus 26, 77, 79, 135, 144  f., 151, 165, 174, 177, 280, 290, 292, 418, 447, 510, 539 – Literalität als kulturelles Kapital 79, 120, 289  f., 412, 418, 420, 540 – Literalität als ökonomisches Kapital 120, 289  f., 305, 418 – Literalität als soziales Kapital 120, 165, 262, 289  f., 293, 418 – Literalität als symbolisches Kapital 78  f., 167, 177, 289, 305, 325, 418, 514 Lebenswelten, Bücher in 19, 21  f., 24, 35  f., 38, 59, 134, 137, 143, 150  f., 154, 326, 343, 405, 419, 440, 442, 444, 447, 449–452 – Bücher als Empowerment 395, 407, 453 – Bücher als Mittel der Distinktion 120, 134  f., 138, 145, 150, 175  f., 418, 420, 440  f., 445, 454, 456, 472, 542, 544, 577 – Bücher im Alltag 21, 61, 110, 134–138, 140, 143, 145, 147  f., 150–156, 162, 218, 222, 232  f., 235  f., 238  f., 241  f., 244, 274, 290, 294, 348, 407  f., 420, 441, 445, 448, 451, 504, 515

Gegenstände der Buchforschung 

– Bücher in sozialen Beziehungen 20, 28, 113, 238, 440, 443, 446, 450–452, 455, 548 – Soziale Ungleichheit literaler Kulturen 21, 38, 136, 139, 144, 147, 391, 405, 418, 453, 538  f., 577 Lehren und Lernen mit Büchern 119, 280, 316  f., 379, 382  f., 386  f., 389, 391, 406, 419 – Bücher als Lehr- und Lernhilfen 316, 387 – Bücher als Lehr- und Lernmittel 316, 318, 359, 386–388, 576 Lesen, Vorlesen 3, 16  f., 19, 21  f., 24, 29–32, 35  f., 53, 56  f., 75, 88  f., 96, 99, 109–120, 122–128, 134–139, 146, 148, 151, 155, 166, 171, 208, 217  f., 222, 240, 263, 274, 317, 323  f., 336, 386, 389  f., 398, 405–409, 411, 413–420, 435, 437, 441, 445, 448, 450, 456, 468, 476–478, 495, 510, 514, 517, 529  f., 535  f., 538, 540–542, 544–548, 550  f., 559, 563  f., 566–571, 573  f., 580 – Leseerfahrungen, Leseerleben 88, 115, 123, 436 – Lesegewohnheiten, Leseverhalten 25, 70, 118, 120  f., 138, 178, 255, 274  f., 407, 436, 531, 536, 538, 540  f., 545, 556, 559, 563–565 – Lesehaltungen, Lesemotivationen 118  f., 386, 390, 408, 412 – Leseprozesse, Lesemodi, Lesestrategien, Lesetechniken 35, 70, 109, 111, 113, 124, 135, 386, 389  f., 408, 418, 436, 515, 531, 536, 545 – Leseverstehen, Leseleistungen 57, 78, 111  f., 114, 116, 119, 123, 126, 316, 389  f., 412, 419, 476 Leser*innen 7, 21  f., 25, 56  f., 91, 101, 111–119, 121  f., 124, 126, 145  f., 178, 252  f., 256, 264  f., 268, 271, 274  f., 286, 288, 314, 324  f., 336, 341  f., 356, 370, 389, 393, 395  f., 406, 408, 417  f., 437, 440, 442, 536, 541, 546, 561, 565, 572  f. – Implizite Leser*innen 24, 114 – Nichtleser*innen 118, 411 – Reale Leser*innen 115 – Vielleser*innen 118, 172, 175, 411

 597

Literale Kulturen 3, 16, 21–23, 29  f., 32–36, 38, 40, 58, 60, 84  f., 90, 112, 120, 305, 308, 336, 344, 418, 468, 501, 514, 565, 572, 576  f. – Buchkulturen 11, 15, 21, 29, 135, 140, 202, 222, 385  f., 389  f., 392, 394, 396–398, 414, 435, 446, 448, 528, 530–534, 537–539, 541–545, 547–551, 556–558, 560–567, 570–572, 574, 576–580 – Lesekulturen 22, 121, 222, 385  f., 389–391, 396–398, 414, 419, 528, 530–535, 537–545, 547–551, 556, 563 – Manuskriptkulturen 51  f., 534  f. – Publikationskulturen 18, 32, 419 – Schriftkulturen 241, 385, 394, 469, 471, 473–475 Literalität 38, 222, 405–409, 412, 418–420, 472, 474 – Digital Literacy 405 – Literacy 119, 389  f., 405 Literatursysteme, Bücher als Teil bestimmter 21, 210  f., 222  f., 302, 326, 390, 396 – Literarische Kommunikation 25, 116, 396, 506, 540 – Literarisches Feld 26, 40, 192, 289, 304  f., 308, 320, 325  f., 385, 436, 450 – Literaturbetrieb 13, 25, 36, 117, 210, 308, 315, 318, 320, 324, 327, 336, 365, 385, 393, 395 – Literaturvermittlung 19, 21  f., 29, 223, 282, 305, 314  f., 317  f., 321, 323, 327, 385, 393, 396  f., 434 Management im Buchhandel 22, 235, 251  f., 254–257, 266, 275 Marketing im Buchhandel 22, 235  f., 243, 251–254, 256  f., 263, 271, 280, 302, 314, 321, 347, 393, 562, 575 – Kommunikationspolitik im Buchhandel 260, 275 – Marken, Branding im Buchhandel 259, 262, 264–266, 272  f., 285, 318, 371, 450, 574 – Merchandising im Buchhandel 265 – Preispolitik im Buchhandel 251, 259, 269, 351, 367  f. – Produktpolitik im Buchhandel 257, 264, 275

598 

 Register

– Programmpolitik im Buchhandel 257, 260, 267 – Public Relations im Buchhandel 216 – Werbung im Buchhandel 57, 216, 221, 238, 241, 251  f., 315, 317, 339, 342, 395, 417 Märkte literaler Kulturen 22, 36, 251, 257, 259, 264, 368, 513, 565, 574 – Buchmärkte 12, 21  f., 30, 110, 121, 252, 266, 269–274, 283, 288, 294, 304, 308  f., 341  f., 359, 369, 381, 385, 395, 397, 417, 519, 559, 561–565, 576, 579  f. – Contentmärkte 264 – Dienstleistungsmärkte 264 – Exportmärkte 575 – Gebrauchtbuchmärkte 381, 513 – Informationsmärkte 369 – Literaturmärkte 503 – Lizenzmärkte 259, 264 – Massenmärkte 287, 305, 534 – Medienmärkte 22, 36, 223, 251–253, 256, 261, 264, 273–275 – Meinungsmärkte 516 – Nebenmärkte 260, 272 – Werbemärkte 240, 264 – Zeitschriftenmärkte 273 Materialität von Büchern und in literalen Kulturen 6, 8–10, 16, 18–21, 25, 27–29, 31, 34  f., 49  f., 54, 56, 58–63, 72, 76  f., 84, 87, 91, 100–104, 134, 152  f., 167, 170, 189, 191, 193, 201, 218, 237  f., 242–244, 261, 302, 315–317, 323, 338, 348, 408, 464, 468, 470, 473, 475  f., 483, 494, 504, 508  f., 514, 532, 556 – Bücher als Artefakte 5, 10, 19  f., 23  f., 30, 33, 35, 50  f., 54–56, 58, 60  f., 87, 134, 147–149, 151–153, 155, 191, 209, 217  f., 221  f., 244, 428, 442, 456, 464–466, 474, 482–484, 493  f., 497, 501, 503  f., 509  f., 514  f., 521 – Bücher als Materialobjekte 8, 19, 24, 39, 49–51, 59, 147, 172, 241, 263, 335 – Materialien, die für Bücher verwendet werden 7, 9  f., 20, 50–52, 58, 70, 77, 86, 319, 335, 468  f., 476, 484, 493, 495, 497, 505, 507–511, 513, 516 – Materialsemantiken von Büchern 20, 50, 63, 146

Medialität von Büchern und in literalen Kulturen 6, 8, 20, 25, 28, 34  f., 49, 58, 88, 134, 152, 188  f., 191, 196, 315  f., 475, 478, 480 – Bücher in intermedialen Bezügen 190, 193, 199 – Bücher in intermedialen Relationen 21, 25, 187, 189, 193, 196, 198, 251, 253, 256, 261, 269, 271, 273, 322, 416, 450, 481 – Bücher in transmedialen Relationen 187–189, 198  f., 235  f., 450, 453 – Intramediale Bezugnahmen in Büchern 251, 256, 261, 269, 271, 273 – Medienkombinationen von oder in Büchern 190, 199 – Medienwechsel im Zusammenhang mit Büchern 190, 198 – Multimediale Aspekte von Büchern 198, 275, 308, 324 Mediensysteme, Medienkonstellationen und Medienkonfigurationen, Bücher als Teil von 16  f., 21, 26, 35, 58, 60, 143, 187, 190, 193–200, 209  f., 213–218, 416, 442, 501, 506, 533, 549, 551 – Bücher im Medienverbund 21, 96, 188, 216, 222, 236, 387, 549 – Bücher im Medienvergleich 21, 29, 73, 137, 188, 210, 215  f. – Medienkonvergenz in literalen Kulturen 21, 29, 63, 188, 202, 216, 218, 235  f., 238, 241, 243, 251, 264, 269, 273  f., 451, 453 – Medienspezifik des Buchs 20, 86, 100, 211, 218, 261, 263, 336, 441  f., 449, 452, 455, 470 Medienwandel in literalen Kulturen 18, 21, 27, 202, 229–234, 236, 238, 241  f., 244, 293, 416  f., 498, 528, 534 – Globalisierung literaler Kultur(en) 37, 121, 212, 237  f., 283, 308, 321, 361, 428, 444, 447, 452, 477, 479, 561, 563, 574  f., 580 – Mediatisierung literaler Kultur(en) 29, 37, 121, 196, 229, 233–235, 238, 241  f., 244, 387, 417, 428, 447, 449  f., 455 – Medienumbrüche in literalen Kulturen 60, 103, 146, 190, 195, 244, 484, 520, 530, 532, 534  f., 550

Gegenstände der Buchforschung 

Meinungen im Zusammenhang mit Büchern 145, 240, 354, 357–359, 363  f., 370, 406, 416, 435 – Bücher als Basis von Meinungsvielfalt 264, 416, 575 – Meinungsäußerungen über Bücher 216, 353, 355, 357, 364, 568 – Meinungsbildung über Bücher 22, 38  f., 209, 253, 315, 324, 353, 356, 359, 407, 414, 416, 445 Netzwerke, in die Bücher eingebunden sind 9, 12, 20, 31  f., 35, 57, 59–61, 77, 149, 166, 221, 235, 239  f., 267, 290, 293, 301, 303, 319, 392, 395, 429, 433–435, 439, 445, 447, 450–453, 469, 504, 532 – Bücher in Akteurnetzwerken und Akteurgruppen 220, 303, 521 – Konnektivität in literalen Kulturen 235, 451–453 Nutzungsobjekte, Bücher als 23, 27  f., 134, 218, 442, 494, 513, 515, 539 – Fetisch 175, 454 – Leseobjekte 35, 136 – Medienobjekte 19, 30, 134, 143, 147, 150, 212, 494, 521 – Rezeptionsobjekte 218 Öffentlichkeiten, die sich über Bücher konstituieren 20, 324, 382, 417, 520 – Bürgerliche Öffentlichkeit 416, 433, 444, 472 – Fachöffentlichkeiten 391 – Gegenöffentlichkeiten 446 – Gesellschaftliche Eliten 220, 305, 407, 430, 468  f., 530, 541–544, 546  f. – Kulturelle Öffentlichkeiten 27 – Literarische Öffentlichkeiten 56, 394 – Politische Öffentlichkeiten 209, 215, 417 Öffentlichkeit literaler Kulturen 22, 27, 57, 111, 140, 147, 208–210, 212, 214  f., 218–220, 230, 236, 240, 284, 286, 302, 315, 318, 320, 322, 327, 359, 364, 377–379, 382, 393, 407  f., 416  f., 419, 430, 434, 445, 452, 506, 515, 517  f., 533, 538, 546, 567

 599

– Aufmerksamkeit auf und durch Bücher 118, 125, 142, 147  f., 216, 274, 315, 322, 325, 327, 446, 453 – Desinformation, Falschinformation durch Bücher 356, 360, 370, 394 – Informationen durch Bücher 38, 58, 236, 238, 251, 273, 353  f., 359  f., 370, 396, 406, 416, 418, 443, 447, 479, 484, 519, 580 – Kritik, Buchkritik, Literaturkritik 7, 10, 22, 29, 150, 305, 314  f., 325, 327, 385, 394  f., 407, 434  f., 453 – Privatheit in literalen Kulturen 57, 111, 135, 140  f., 150  f., 322, 406, 452, 532  f., 543, 546 – Skandalisierung in literalen Kulturen 417 Ordnungssysteme von Büchern 20, 51, 69, 84  f., 88, 96  f., 101–104, 502 Organisationen literaler Kulturen 11, 21–23, 36, 120, 219  f., 252, 254, 293, 298  f., 301, 303, 308, 315, 327, 393, 417, 438, 445, 455, 473, 501, 518, 558, 562 – Akademien 304  f., 429, 443 – Archive 11, 13  f., 40, 85, 323, 351, 355, 361, 372, 379, 465, 479, 481–483 – Bibliophile Gesellschaften 13, 163  f., 169, 173 – Bibliotheken 7, 13–15, 22, 25, 40, 59, 85, 94, 169, 219, 222, 242, 256, 271, 285, 314, 323, 344, 346  f., 351, 361  f., 367, 372, 379, 381, 410, 429, 465, 473, 481–484, 502, 513, 518, 546, 549, 559, 563, 565, 568–570, 572 – Buchmessen 22, 216, 301–304, 308–310, 321, 513, 580 – Literaturhäuser 223, 315, 318, 320, 323 – Museen 101, 164, 323  f., 372, 379 – Schulen, Hochschulen, Universitäten 25, 78, 89, 111, 113, 118  f., 121, 305, 314–318, 323, 386, 390  f., 397, 405, 415, 420, 445, 528, 540, 548  f. – Verbände 12–14, 21  f., 40, 137, 163  f., 166, 215, 217, 221, 254, 279, 281, 284, 291, 298  f., 301, 303, 308, 310, 420, 558–563, 579  f. Organisiertheit, Strukturen literaler Kulturen 4, 12, 17, 21  f., 28, 30–32, 35  f., 68, 72, 78, 119  f., 147, 151, 156, 208  f., 211, 215, 219–221, 235, 237, 241, 253–255, 257, 260, 268, 280, 283,

600 

 Register

286, 301, 304  f., 308, 319, 347  f., 386, 388, 434, 436, 449, 451  f., 454–456, 467, 469, 497, 508, 513, 549, 556, 558 – Organisationsformen literaler Kulturen 21, 31, 35, 220, 241, 255, 298, 496 – Organisationsleistungen literaler Kulturen 20, 219, 221, 517 Politik als literale Kultur 16, 20  f., 32, 36  f., 39, 209, 212, 214, 216, 221, 234, 240, 282, 294, 298, 301  f., 308, 325, 340, 352, 405–407, 409, 411, 413, 415–417, 419, 446, 451, 543, 556, 566 – Bildungspolitik 39, 121, 318, 389, 414, 420, 539, 569 – Buchpolitik 340, 528, 557, 566–571, 573, 575, 578, 580 – Kulturpolitik 288, 315, 319, 325, 340, 367, 414, 420, 528, 567, 570, 580 – Medienpolitik 414 – Wirtschaftspolitik 568, 580 – Wissenspolitik 568 Praktiken, die sich über oder mit Büchern entfalten 5, 10, 12, 21, 23, 29–33, 35  f., 55  f., 59, 61  f., 74, 76  f., 79, 86  f., 99, 111, 135, 137, 146  f., 151–153, 155  f., 162, 166  f., 171, 179  f., 197, 210, 218, 222, 231–234, 236, 238  f., 242–244, 290, 294  f., 315–317, 319–321, 323–325, 327, 347  f., 385  f., 388, 408  f., 419, 436, 446, 451, 454, 467, 473  f., 482, 495–497, 503, 507, 514, 521, 528, 532, 535, 548, 556 – Buchkommunikationspraktiken 32, 232, 239, 242 – Buchkonsumpraktiken 448, 544 – Buchnutzungspraktiken 20, 32, 36, 235, 238, 449, 451, 470 – Buchrezeptionspraktiken 20, 35, 62, 235, 390, 395  f., 398, 541 – Lesepraktiken 56, 71, 109, 111, 113, 120, 135, 152, 244, 389, 391, 413, 420, 445, 467, 528, 531, 536, 540, 545  f., 551 – Medienpraktiken 152, 187–189, 195  f., 200 – Zeitpraktiken 546 Praxis, Praxisformationen literaler Kulturen 24, 31, 35, 77, 137, 151  f., 166, 169, 172, 176, 178  f.,

235, 238, 280, 295, 314, 325, 407, 436, 456, 469, 539 – Literale als ästhetische Praxis 145, 152  f., 179, 320, 531 – Literale als kulturelle Praxis 35, 162, 189, 210, 390, 393, 396, 407  f., 415 – Literale als politische Praxis 407 – Literale als soziale Praxis 232, 407, 418 – Literale als symbolische Praxis 60, 63, 162 – Literale als wissenschaftliche Praxis 6 Produkte, Produktangebote im Buchhandel 22, 239  f., 251  f., 255–259, 261–268, 272  f., 282, 303, 309, 314, 316, 367–369, 497, 508, 531 – Medienangebote und Medienprodukte 240, 251, 259, 263, 265, 275, 315, 317, 408, 501 Publikum 6  f., 139, 143, 208, 236, 252, 267, 310, 315, 320, 322–325, 394, 434, 450, 468, 474, 505  f., 518, 570 – Lesepublikum 12, 135, 431  f., 536, 540, 542 Publizieren, Veröffentlichen von Büchern 25, 100, 210–212, 214, 252  f., 258, 266–268, 291, 295, 318, 351  f., 355–357, 359  f., 362, 364  f., 377  f., 391, 393, 398, 419, 429, 475, 501, 516, 568  f., 575 – Bücher als Publikationen 7, 10  f., 20, 84, 88  f., 94, 99–101, 103, 267, 319  f., 323, 353, 358, 372, 391, 393, 471, 545, 563 – Lizenzierung im Zusammenhang mit Büchern 222, 256, 259, 264, 266  f., 274, 372, 376, 382, 388, 558, 561, 575 – Selfpublishing, Selbstverlag 25, 253, 266, 271, 280, 562, 574–576 Qualitäten von Büchern 25, 84, 142, 256, 262  f., 279, 292, 320, 327, 394, 397, 531, 538  f. – Bewertungen der Qualitäten von Büchern 9, 22, 75, 111, 118, 138  f., 143, 177, 263, 394–396, 412, 436, 502 Quantitäten von Büchern 467, 470, 538 – Buchproduktion 310, 431, 469, 529, 531, 545 – Druckproduktion 6, 68  f., 472 – Reichweite von Büchern 238, 242, 253, 266, 273, 322, 397, 411, 413, 434, 443, 543

Gegenstände der Buchforschung 

Räume literaler Kulturen, in die Bücher eingebettet sind 35, 60, 87, 147, 153–155, 172, 174, 177, 305, 309, 320, 323, 455, 539, 548 – Digitale Räume 315 – Erkenntnisräume 56 – Geografische Räume 50, 214, 410, 471, 517, 543, 556, 572 – Handlungsräume 507 – Interaktionssräume 450 – Kommunikationsräume 239, 293, 408 – Kulturräume 134, 150, 155, 440, 467, 556 – Medienräume 450, 549, 551 – Soziale Räume 135, 507, 543, 548  f. – Sprachräume 556 Rezeption von Büchern 5, 8, 15, 23–25, 32, 35, 56, 71, 76, 78, 95, 100  f., 115, 117, 176, 211, 216, 218, 222, 233–236, 243, 260, 263, 268, 274, 316, 324, 355, 359, 385, 390, 393  f., 398, 406, 412, 418  f., 465, 475  f., 484, 493, 495, 497, 507, 509, 513, 515  f., 519  f., 528, 540, 558  f. – Rezipient*innen in literalen Kulturen 75, 78, 208, 211, 256, 264, 275, 287, 356, 361, 395, 472, 494, 502, 513, 516–518, 521 Rollen in der Produktion, Verbreitung und Nutzung von Büchern 11, 22, 116  f., 141, 149  f., 236, 255, 280, 292  f., 323, 393, 396, 434, 436, 440, 493, 505, 521, 578 – Handlungsrollen 211, 219, 288, 293 – Leistungsrollen 211, 219  f., 288, 505, 513 – Professionelle Rollen 21, 253, 255, 280, 282, 285, 287  f., 290, 293  f., 396, 513 Sammlungen, sammeln von Büchern 7  f., 21, 85, 101, 103, 162–167, 169–176, 179, 344, 465, 472, 481  f., 540, 547, 549 – Privatsammlungen, private Bibliotheken 95, 135, 145, 171, 482, 547 Schreiben 22, 24, 32, 60, 86, 112, 238, 335  f., 389, 406, 408, 413–416, 419, 452, 468, 470, 495, 521 – Schreibmaterialien 49, 468 – Schreibpraktiken 51, 135, 152, 420, 467 – Schreibwerkzeuge 8, 51  f., 509

 601

Social Media und Bücher 36, 85, 210, 236, 240, 253, 265  f., 273  f., 315, 395, 406, 416, 441, 450  f., 520, 533 – Social Reading 223, 265, 315, 395, 437, 451–453 – Social Writing 315 Sozialisationsprozesse literaler Kulturen 21, 120, 136, 148, 236, 243  f., 280  f., 283, 290–293, 391, 531, 551, 576 – Lesesozialisation 21, 31, 111, 113, 135, 138, 386, 395, 531 – Literale Enkulturation 244, 391, 543 – Schriftspracherwerb 111, 113, 126  f. Techniken, die sich mit und über Bücher entfalten 9, 19  f., 23, 35, 58, 76, 79, 96, 112, 232  f., 302, 449, 467, 493–496, 498, 504, 510 – Aufzeichnungstechniken 50, 59 – Handlungstechniken 494, 509, 518 – Kommunikationstechniken 386 – Kulturtechniken 22, 29, 36, 53, 61, 76, 386, 408, 414, 418  f., 541 – Medientechniken 60 – Nutzungstechniken 35 – Produktions- und Herstellungstechniken 8, 23, 49  f., 52, 54, 469, 529 Technische Infrastrukturen, Technologieentwicklung in ihrem Einfluss auf literale Kulturen 201, 218, 221, 237–242, 268, 388, 418, 452, 493, 495, 497, 506  f., 517, 545, 567 – Apparaturen 20, 50, 303 – Automatisierung 238, 375, 388, 392, 494, 497, 500  f., 505 – Digitalisierung 37, 60, 64, 87, 95, 103, 125, 153, 187  f., 190, 192  f., 229, 231, 241, 253, 265, 267, 271, 273, 275, 371, 391, 393  f., 406, 418  f., 479, 504  f., 507, 515, 520, 567, 575, 580 – Erfindungen 8  f., 50, 59, 62, 163, 371, 414, 465, 468  f., 496, 534  f., 550 – Handwerk 52  f., 55, 90, 302 – Maschinen 20, 50, 52, 55, 76  f., 303, 493, 498, 500, 505, 509 – Mechanisierung 53, 60, 493  f., 498, 500, 504  f. – Miniaturisierung 504 – Programmierung 20, 95, 500, 516

602 

 Register

– Standardisierung 60, 74, 90, 146, 217, 239, 267, 472, 517, 535, 560 – Virtualisierung 88, 116, 479 – Werkstätten 52, 68, 87, 93, 100, 471, 548 – Werkzeug 20, 50, 52, 498 Technologien, die Bücher hervorbringen, verbreiten und ihre Nutzung ermöglichen 9, 20  f., 23, 28, 35, 39, 49, 60, 68, 76  f., 79, 95, 99  f., 193, 212, 215, 217  f., 221, 230  f., 237–239, 242, 257, 259, 261, 276, 303, 374, 389, 395, 451  f., 469, 471, 478, 493–498, 500, 502, 504  f., 507  f., 520  f., 551, 577 – Aufzeichnungstechnologien 50, 136 – Kommunikationstechnologien 58, 469, 478, 507 – Medientechnologien 60, 62, 450, 507 – Netzwerktechnologien 451 – Produktionstechnologien 507 – Speichertechnologien 136 – Übertragungstechnologien 136, 217 Traditionen literaler Kulturen im Zusammenhang mit Büchern 13, 20, 22, 59, 76, 86, 99, 140, 209, 282, 336, 340, 348, 465–468, 475  f., 479  f., 529, 541, 549, 556, 578 – Tradierung literaler Kulturen 6, 14, 19, 84, 87, 292  f., 321, 385, 392, 394, 397, 447, 464, 468–470, 473  f., 480, 531, 551 Typologien im Zusammenhang mit Büchern 84  f., 102, 111, 118, 137, 143, 213  f., 221  f., 231, 287, 321  f., 432, 567  f., 572 Überlieferung 8–10, 19, 22, 35–37, 58, 87, 397, 464–470, 473–475, 477  f., 480  f., 483  f. – Archivierung von Büchern 11, 96, 213, 221, 473 – Aufzeichnung in Büchern 51  f., 87, 509, 540 – Bücher als Überlieferungsobjekte 477 – Gedächtnis literaler Kulturen 87, 446, 464–467, 471, 473–484, 536, 545 Unternehmen, die Einfluss auf literale Kulturen nehmen – Konzerne 239, 262, 283, 574 – Medienunternehmen 251  f., 255  f., 258 – Meinungs- und Marktforschungsinstitute 12  f., 118, 137, 166, 217, 268, 274  f., 558

– Presseunternehmen 265, 357 – Technologiekonzerne 210  f., 223, 237  f., 240, 265, 271, 274, 280, 418, 451  f., 505  f., 571, 575 Veranstaltungen und Events literaler Kulturen 22, 265, 318  f., 321–323, 432, 438 – Buch- und Literaturpreise 22, 78, 171, 216, 305, 309, 315, 319, 324–326, 562, 568 – Lesungen 314  f., 320–323, 327, 432, 438, 448 – Literaturveranstaltungen 223, 315, 321  f. Verbreitung, Distribution von Büchern 5, 8, 11, 15  f., 19, 22–25, 32, 35  f., 59, 193, 202, 210  f., 230  f., 235, 239, 242  f., 252, 255, 264, 271  f., 287, 314  f., 352, 356–358, 378, 380, 385, 393, 396, 467, 470, 482, 496–498, 507, 513, 516–520, 543, 548  f., 558  f. – Buchlogistik 221, 259, 266  f., 271, 494, 506, 508 – Buchverleih 381  f., 559, 565, 568, 572 – Buchvertrieb, Buchvertriebskanäle 56, 251  f., 254, 259  f., 269, 271  f., 279  f., 282, 285, 287, 302  f., 347, 351  f., 368, 372, 378, 380, 516, 529, 559, 575 – Zugänglichkeit von Büchern 87, 143, 208, 222, 351, 359, 361  f., 369, 372, 378, 382, 388, 391, 393, 395, 409, 494, 517, 531  f., 535, 542, 549, 551 Vergemeinschaftung über Bücher 18, 21  f., 138, 150  f., 169, 176, 323, 428–433, 435–437, 439–454, 456, 551 – Gemeinschaftlichkeit im Zusammenhang mit Büchern 265, 322, 388, 440, 442, 446, 448, 450, 454 Vergesellschaftung über Bücher 117, 121, 481 – Demokratisierung in literalen Kulturen 22, 36, 209, 214, 264, 340, 352  f., 356, 386, 405, 407, 416, 419, 445, 484, 506  f., 546 – Exklusion in literalen Kulturen 240, 405, 520 – Inklusion und Integration in literalen Kulturen 22, 37, 117, 145, 150, 175, 208, 346, 405  f., 408, 415, 418, 441, 443  f., 453, 520, 543 – Partizipation und soziale Teilhabe in literalen Kulturen 36, 146, 235  f., 253, 353–355, 386, 388  f., 405–407, 409, 413, 416–420, 506  f., 539, 551

Gegenstände der Buchforschung 

Verlagsbuchhandel, Verlage 12  f., 21  f., 26, 85, 143, 163, 219, 222, 251–273, 275  f., 279–285, 289  f., 292  f., 298, 302–304, 314, 336, 347, 357, 361, 367–369, 376–379, 383, 417, 473, 503, 505, 549, 563, 568, 570, 574, 580 – Verlagsprogramme 252  f., 261, 266  f., 502 Ware, Bücher als 12, 137, 165, 251, 263, 368, 371, 418, 513, 529, 531  f., 544 – Kommodofizierung von Büchern 150  f., 574 – Warencharakter von Büchern 117, 285, 325 – Warenzirkulation von Büchern 417, 538 Werthaltungen gegenüber Büchern 5, 10, 20–22, 24, 35  f., 78, 109  f., 117–119, 135–137, 141, 144, 150, 162, 167, 169–171, 176, 214, 220, 257, 284, 288, 326, 428, 434  f., 441  f., 446  f., 451, 529, 535, 538, 541, 543  f., 549, 556, 567, 572, 576  f., 579 – Wertmuster und -systeme literaler Kulturen 282, 292, 326, 355, 391, 395  f., 420, 470, 508, 551 – Wertvorstellungen und -zuschreibungen zu und an Bücher 12, 15, 18, 22, 77–79, 137, 140, 143, 146  f., 150, 153, 162, 171, 326, 335–339, 341  f., 344–346, 348, 357, 385, 395  f., 441, 445, 473, 475, 482–484, 509, 528, 530, 534, 541–543, 557, 566, 576, 578, 580 Wertschöpfung im Buchhandel 22, 256  f., 259, 267, 308, 378, 417, 505  f., 568 – Professionalisierung im Buchhandel 72, 214, 236, 253, 280, 290  f., 315, 562 – Wertschöpfungsketten im Buchhandel 5, 235, 251, 256, 259, 264, 267  f., 285, 303, 513, 568 – Wertschöpfungssysteme des Buchhandels 23, 276, 505, 507, 513 Wissenschaft als literale Kultur 5, 10  f., 17, 20–22, 32, 36–39, 57, 73, 209, 212, 221, 267, 285, 287  f., 291, 294, 302, 304, 318  f., 347, 371–374, 379, 382  f., 385, 391–394, 398, 429, 471, 518, 568  f. – Wissenschaftskommunikation mit Büchern 38, 211–213, 393  f.

 603

Wissenskulturen und Wissenssysteme literaler Kulturen 6, 8–11, 17, 21  f., 32  f., 36, 39, 51, 56  f., 73, 111, 120, 124, 126, 136, 148, 152  f., 208, 213, 242, 254, 262, 316, 323, 326  f., 338, 346, 353, 387, 389, 391, 394, 396, 407, 416, 431, 441, 464, 466, 468, 474, 479–481, 496, 501, 506, 509, 514, 518, 542, 568, 575, 580 – Wissensordnungen literaler Kulturen 20, 22, 31, 36, 153, 346, 436 – Wissensorganisation und Wissensrepräsentation über Bücher 56  f., 69, 348, 387, 518 – Wissensproduktion im Zusammenhang mit Büchern 4, 6, 32, 36, 38, 57, 242 – Wissensspeicherung über Bücher 84, 348, 393, 429, 536 – Wissensvermittlung und Wissenserwerb über Bücher 36, 38, 233, 239, 241  f., 282, 316, 318, 386, 393  f., 406, 414  f., 518, 530, 543 Zeichenhaftigkeit, Symbolik von Büchern 19–22, 28, 61, 95, 138, 144–148, 150–154, 156, 165, 167, 176, 233, 326, 335–339, 341, 343–345, 348, 428, 447, 449, 454, 456, 472, 475  f., 483, 516, 542  f. – Buchbedeutungen 10, 24  f., 28, 68, 71, 74–76, 116, 139  f., 143, 147–155, 166  f., 169  f., 172, 175, 192, 335, 338–341, 344, 346  f., 470, 543, 549 – Bücher als Bild- und Objektzeichen 20, 52, 58, 147, 167, 192, 528, 539 – Bücher als Zeichensysteme 5, 20, 28, 49, 51, 74, 146  f., 152, 213, 215, 218, 237, 243, 336, 338, 446, 464, 493, 495, 497, 504 – Codes, Codierung und Decodierung im Zusammenhang mit Büchern 35, 56, 59  f., 62, 74, 77  f., 96, 148, 150, 152, 211, 217, 387, 397, 418, 495, 497, 504, 516, 535 – Schriftzeichen und Schriftsysteme 10, 20, 28, 52, 58, 61, 68, 72, 75, 87  f., 123, 136, 167, 218, 237, 322, 338, 344, 386, 466, 468  f., 471  f., 474–476, 478, 484, 493, 495, 497, 504, 509, 516, 540

Theoretische Perspektiven der Buchforschung Theoretische Perspektiven der Buchforschung sind die in den Beiträgen dieses Handbuchs genannten theoretischen Ansätze der Buchforschung als begründete Vorschläge der Thematisierung und Analyse literaler und buchbezogener Phänomene. Als Perspektiven weisen sie verschiedene Reichweiten und Detailgrade auf, zurückzuführen einerseits auf die notwendigen Selektions- und Anpassungsleistungen theoretischer Konzepte an die Buchforschung, andererseits auf die notwendige interdisziplinäre Integration über ein zusammenhängendes Theorienetz (siehe hierzu auch I Theoretische Perspektiven und Gegenstände der Buchforschung, Abschnitte 3.2 und 4.1). Ästhetik, Theorien der sinnlichen Wahrnehmung – Alltagsästhetik 145, 152 – Ökologische Naturästhetik 154 – Produktionsästhetik 24, 29, 198, 322 – Rezeptionsästhetik 24, 29, 114  f., 322  f.

– Editionstheorie 54, 56, 392 – Textual Bibliography 55, 190

Berufswahltheorien 294

Geschichtsschreibung 31, 480 – Begriffsgeschichte 339–343, 345, 348 – Bürgertumsforschung 135, 472, 543 – Ereignisgeschichte 531 – Experimentalgeschichte 63 – Geistesgeschichte 24, 29, 60 – Ideengeschichte 24, 29, 339, 341–343, 345 – Kulturgeschichte 12, 22, 24  f., 30, 55, 95, 286, 320, 340  f., 343, 535, 537 – Medienarchäologie 17, 63 – Medienhistoriografie 533  f. – Mentalitätsgeschichte 24, 135, 536  f. – Metapherngeschichte 342  f., 345, 348 – Mikrogeschichte 31, 298, 303 – Organisationsgeschichte 31, 319 – Problemgeschichte 31, 335, 345, 348 – Prosopografie 9, 283, 285–287, 290 – Schule der Annales 24  f., 115, 135 – Sozialgeschichte 12, 24  f., 29, 53, 55, 72, 115  f., 127, 135, 286, 340, 429, 431  f., 474, 535–537, 540, 549 – Toronto School 58, 136, 474, 477 – Unternehmensgeschichte 31, 284 – Wirkungsgeschichte 7, 9, 115 – Wirtschaftsgeschichte 53, 55, 286 – Wissensgeschichte 9, 31, 57, 518

Bibliothekswissenschaft 169 – Bibliothekarische Klassifikationssysteme 101 Bildungsforschung, Bildungsmedienforschung 31, 387, 569 Didaktik, Fachdidaktik, Literaturdidaktik 31, 316, 386  f., 390  f. – SAMR-Modell 388 Differenzierungs- und Ungleichheitstheorien 30 – Digital Divide 391, 405 – Lebensstilanalyse 118  f., 121, 144–146, 151 – Soziale Ungleichheit 144, 146, 538 – Wissens- und Kommunikationskluft / Knowledge Gap 405 Diskurstheorie, Diskursanalyse 17, 29, 57, 238, 339, 344  f., 392, 475, 477 – Critique Génetique 392  f. – Kollektivsymbolik 339, 344 Editionsphilologie 8, 10, 56, 71  f., 75, 317, 392, 465, 475, 483 – Analytical Bibliography 54  f. – Bibliografie 8, 51, 54, 190 – Critical Bibliography 55 https://doi.org/10.1515/9783110745030-026

Erkenntnistheorie, Epistemologie, Historische Epistemologie 56  f., 63, 84, 212, 230, 483

Geschichtstheorie, Geschichtswissenschaft 24, 51, 136, 430

Theoretische Perspektiven der Buchforschung 

– Diachronie 86, 98, 195, 200, 238, 242–244, 298, 343, 480 – Genealogie 50, 52, 85, 196, 229, 392 – Historisierung 4, 229, 231, 241, 244, 321 – Memorial-Forschung 480 – Oral History 480 – Synchronie 24, 49, 195, 229–231, 243, 245, 298, 309, 343 – Teleologie 85, 346, 483 – Traditionstheorie 479 Gestaltungstheorie 14, 30 – Designtheorie 68, 73 Handlungstheorie 28–30, 34, 119, 151, 156, 314, 439 – Interaktionismus 165 – Rollentheorie 29, 149, 285, 290, 293, 506, 537 – Soziales Handeln 147, 149, 177 – Soziale Skripte 506, 537 – Symbolischer Interaktionismus 28, 149, 346, 348, 439, 441, 445, 452 – Theorie der rationalen Entscheidung / Rational Choice Theory 28, 142, 244, 537 Hermeneutik, Historische Hermeneutik, Literarische Hermeneutik 111, 114  f., 317 – Grammatik 111, 113 – Rhetorik 111, 322 – Stilistik 111 Historische Hilfswissenschaften – Analytische Druckforschung 13, 55, 77 – Buch- und Bibliothekskunde 10, 50  f., 53, 134, 163 – Einbandkunde 8, 53 – Historische Semantik 339, 342  f. – Inkunabelkunde 8  f., 51–54 – Kodikologie 8, 10, 52 – Literärgeschichte 9 – Makulaturforschung 8, 53 – Paläographie 8, 10, 52, 68 – Paläotypie 52, 68 – Papier- und Wasserzeichenkunde 8, 10, 52 – Papyrologie 52 – Typenkunde 8

 605

Informationstheorie, Informationsökonomie 30, 50, 58  f., 212, 387 – Boundary Objects 346–348 – Communication Circuit 25, 58, 568 – Gatekeeper-Forschung 395, 520 – Kybernetik 58 – Literary Cycle 568 – Ökonomie der Aufmerksamkeit 315, 395 Kognitions- und Neurowissenschaften 30, 110, 124, 126  f. – Bayes’sche Gehirn-Hypothese 124 – Bewusstseinstheorien 123  f. – Embodied Cognition 126 – Global Workspace Theory 123 – Integration Information Theory 124 – Kognitive Dissonanz 142 – Kompetenzkonzept 119, 316 – Propositionsmodell / Konstruktion-Integrationsmodell 124 – Situationsmodell 124, 126 – Theorie der Informationsverarbeitung 389 – Wahrnehmungsphysiologie 84 Kommunikationstheorie, Kommunikationswissenschaft, Publizistik 18, 27, 31, 34, 58, 138, 209, 216, 314, 474 – Agenda Setting 417, 520 – Drei-Ebenen-Modell des Kommunikations- und Mediensystems 210 – Encoding / Decoding-Modell 418 – Journalistische Kommunikation 212 – Kommunikologie 535 – Massenkommunikation 236 – Meinungsführerschaft / Opinion Leader 144 – Öffentliche Kommunikation 209  f., 214, 219, 416 – Politische Kommunikation 209, 413 – Theorie der sozialen Präsenz / Social Presence Theory 136 – Zweistufenfluss der Kommunikation / TwoStep-Flow of Communication 143 Kritische Theorie 17, 537, 544 – Bereicherungsökonomie 164 Kulturtheorie, Kulturwissenschaft 29  f., 50, 58, 60, 84, 136, 147, 150, 156, 317, 347, 387

606 

 Register

– Bibliodiversität 557, 564, 566, 579 – Cultural Memory Studies 476  f. – Cultural Studies 15, 18, 150, 233, 409, 414 – Domestizierung 149–151, 407 – Feministische Theorie 16 – Gabentausch 262, 325 – Gender Theory 18 – Kultur der Digitalität 388 – Kulturtechnik 29, 61 – Kulturvergleichende Sozialforschung 576, 579 – Marxismus 16 – Ökonomie des symbolischen Tauschs 166, 177, 325 – Postkolonialismus 16, 18 – Theorie des kulturellen Gedächtnisses 29, 136, 320, 466, 481, 545 – Theorie populärer Events 321  f., 324 Kunsttheorie, Kunstgeschichte 30, 73  f., 86, 98, 100 Lese- und Lesertheorien 70, 109–111, 113–115, 117  f., 120, 127, 137, 537 – Historische Leseforschung 115, 483 – Interaktionstheorie 125 – Konstruktivitätstheorie des Lesens 123 – Lesedidaktik 317 – Lesekompetenzmodell 389 – Lesepsychologie 114, 123, 126 – Lesesozialisationsforschung 389 – Mehrebenenmodell des Lesens 390 – Moralische Korrespondenztheorie des Lesens 112 – Simulationstheorie 125 – Subjektivistische Lesertheorie 116 – Theory of Mind / Theory-Theory 125 – Zwei-Wege-Modell 123, 126 Linguistik 30, 74, 314, 316, 386 – Deutsch als Fremdsprache 319 – Neurolinguistik 124 – Schriftlinguistik 74 – Soziolinguistik 77 – Sprechakttheorie 341 – Textsortentheorie 318

Literaturtheorie, Literaturwissenschaft 50, 56, 70, 86, 135, 317, 323, 386, 390  f. – Autortheorie 318 – Empirische Literaturwissenschaft 29, 210, 314, 326, 435 – Erzähltheorie 188 – Fiktionstheorie 188 – Gattungstheorie 86 – Interkulturelle Literaturwissenschaft 319 – Komparatistik 52, 54, 191 – Lesbarkeit der Welt 71 – Literarische Wertung 325  f., 396  f. – Literatur als Gesellschaftskritik 211 – Paratexttheorie 25, 56, 72  f., 317 – Russischer Formalismus 114 – Schrift- und Buchmetaphorik in der Weltliteratur 71 – Soziologie der literarischen Form 211 – Soziologie der literarischen Institution 211 – Soziologie des literarischen Geschmacks 26, 211 – Textkritik 9  f., 51, 54  f. – Texttheorie 54, 56, 61, 323 – Theorie Literarischer Vermittlungshandlungen 314 Materialität 50, 60, 62, 84, 148  f., 156, 244 – Historische Materialitätsforschung 20, 465 – Material Cultural Studies 61 – Materialismus 117 – Materielle Kultur 29, 86, 148, 483 – Radikaler Materialismus 60 Medientheorie, Mediennutzungs- und Medienwirkungstheorien 27, 31, 138  f., 142–144 – Gratifications sought / Gratifications obtained (GS/GO) 141 – Kultivierung 116, 135, 155 – Media Exposure / ErwartungsBewertungsansatz 143 – Medienbindung 143 – Nutzen- und Belohnungsansatz / Uses and Gratifications Approach 13, 27, 139  f., 144, 244 – Publikumsforschung 143 – Sekundäre Leistungsrolle 506 – Selective Exposure-Hypothese 142

Theoretische Perspektiven der Buchforschung 

Medientheorie, Medienwissenschaft 16, 29, 50, 58, 60, 196, 387 – Intermedialität 187, 189, 195–197, 201, 322 – Medienensembles 243 – Mediengemeinschaften 449 – Medienkonvergenz 188, 235 – Medienrepertoires 243 – Medientechnisches Apriori 17 – Medientheorie 230 – Medienumgebungen 243 – Medienvergleich 216  f., 222 – Multimodalität 202 – Polymedia 243 – Remediation 187, 196  f. – Transmedialität 187 – Transmedia Storytelling 188  f. – Tsunami-Modell 534 Metatheorie, theoretische Paradigmen, wissenschaftstheoretische Turns 116 – Affective Turn 24 – Cultural Turn 18, 24 – Dekonstruktion 16, 63, 475 – Funktionalismus 60, 139, 141, 155, 254, 346, 473 – Individualisierungsthese 150, 442, 447, 452 – Konstruktivismus 4, 15, 113, 136, 139, 153, 176, 455 – Linguistic Turn 24 – Material Turn 20, 50, 71, 84, 96, 103 – Mediatisierungsforschung 29, 233  f., 238, 244 – Media Turn 21 – Mentalismus 576 – Performative Turn 24 – Positivismus 4, 6, 63, 72, 79, 113  f., 117, 392 – Postcolonial Turn 24 – Poststrukturalismus 17, 56, 116, 323, 475 – Practice Turn 24, 31 – Realismus 4 – Spatial Turn 24 – Strukturalismus 114–116, 142, 147, 304 – Textualismus 346 – Visual Turn 24 Ökonomie, Betriebswirtschaftslehre 23, 31, 251  f., 264, 299 – Kostentheorie 259 – Managementlehre 251–253, 256

 607

– Marketingmanagement 251  f., 262, 264 – Medienbetriebslehre 251 Ökonomie, Institutionenökonomie 219, 254 – Geltungskonsum 165 – Transaktionskostentheorie 268 Ökonomie, Medienökonomie 14, 30, 251, 261, 275, 309, 568 – Beschaffungsmodell 258  f., 266 – Buchökonomie 251  f., 255, 260, 264, 275  f. – Distributionsmodell 259  f., 271  f. – Kapitalmodell 259, 269–271 – Leistungsangebotsmodell 258, 265 – Leistungserstellungsmodell 259, 267  f. – Marktmodell 260, 273, 275 – Medienmanagement 30, 252 – Plattformökonomie 30, 233, 238, 241, 451, 506 – St.-Galler-Management-Modell 252, 255  f. – Theorie der Unternehmensführung 254 Ökonomie, Volkswirtschaftslehre 23, 251, 264 Organisationstheorie 31, 219 – Bewegungsforschung 235, 445 – Bürokratietheorie 299 – Interessengruppenforschung 301 – Resilienzforschung 146 Phänomenologie 17, 50  f., 54  f., 71, 114  f., 154 – Phänomenologie der leiblichen Erfahrung 154 Philosophie – Dualismus, Konzeptioneller Dualismus 229, 231, 238, 241 – Grammatologie 477 – Kommunitarismus 537 – Medienphilosophie 196, 314 – Monismus, Monistische Theorie 376  f. – Widerspiegelungstheorie 345 Praxeologie, Praxistheorie 26, 31, 60–62, 76  f., 79, 135, 146  f., 151, 153, 156, 179, 244, 285, 294  f., 317–319, 321, 326  f., 335, 348, 392  f., 537, 550 Psychoanalyse 164

608 

 Register

Psychologie 113, 122, 136, 139, 141  f., 146, 175, 386 – Entwicklungspsychologie 125 – Kognitionspsychologie 110, 124–126, 389 – Medienpsychologie 391 – Neuropsychologie 124 – Sozialpsychologie 113, 124–126, 474 – Wahrnehmungspsychologie 110, 114, 122  f. Psychologische Theorien 29 – Mood-Management 141 – Sense of Community 437, 455 – Theory of Affordances 348, 515 Raumtheorie 146  f., 153, 156, 309, 548, 550 Rechtswissenschaft 31 – Eigentumsrecht 371 – Europäisches Binnenmarktrecht 368 – Immaterialgüterrecht 370–372 – Patentrecht 371 – Presserecht 351 – Steuerrecht 351 – Urheberrecht 351, 355, 370  f., 373, 377, 383 – Verfassungsrecht 351 – Verlagsrecht 351 – Wettbewerbsrecht 368 – Wirtschaftsrecht 366 Rezeptionstheorie 29, 114, 142, 323, 436, 530 – Absorption 124  f. – Flow 124  f., 134, 141, 517 – Involvement 142, 452 – Presence 142 – Transportation 142 Softwareergonomie – Usability 515 Soziologien 76, 138  f., 141, 144–146, 428 – Berufssoziologie 280, 285, 291 – Konsumsoziologie 145, 150, 309, 448 – Kultursoziologie 26, 29, 33, 117, 119, 121, 150, 164  f., 167, 175, 179, 289  f., 418, 473, 480, 528, 537–539, 543 – Literatursoziologie 25, 29, 33, 135, 211, 318, 320, 397, 437 – Mediensoziologie 33, 196, 391

– Organisationssoziologie 288 – Professionssoziologie 284, 291 – Techniksoziologie 494 – Wissenschaftssoziologie 4  f., 212 – Wissenssoziologie 318 Soziologische Theorien 301, 314, 326, 346, 387 – Feldtheorie 26, 30, 78, 288–290, 304, 308, 320, 325, 537 – Identitätstheorie 29, 149, 151, 436, 443 – Modell deliberativer Demokratie 416 – Netzwerktheorie 9, 30, 54, 292  f., 319, 451 – Rahmentheorie / Framing 140, 149, 323, 417, 445, 520, 537 – Sozialer Wandel 121, 230, 345, 443–445, 447, 449, 469 – Sozialisationstheorie 29, 121, 390 – Strukturwandel der Öffentlichkeit 445, 537 – Theorie der posttraditionalen Vergemeinschaftung 448  f. – Theorie der traditionalen Vergemeinschaftung 443  f., 446 Spieltheorie 142 Strukturfunktionalismus 345, 414, 416 – Schenkökonomie 165 Systemtheorie, Historische Systemtheorie 9, 14, 16, 18, 26, 30, 208  f., 230, 256, 301  f., 345, 397, 414, 432 – Bibliologie 16 – Erinnern und Vergessen 478 – Evolutionstheorie 26  f., 230, 241, 345 – Medium und Form 27 – Modell des kybernetischen Regelkreises 256 – Theorie funktionaler Differenzierung 27, 230, 346, 405 – Theorie sozialer Systeme 26  f., 30, 301  f., 304, 406, 478, 537 – Typografischer Informationskreislauf 9 Wissenschafts- und Techniktheorien 14, 25, 31, 61, 76, 244, 496 – Akteur-Netzwerk-Theorie 9, 32, 61, 76  f., 149, 302–304, 319, 321, 393 – Denkstil und Denkkollektiv 4, 318

Theoretische Perspektiven der Buchforschung 

– Diffusionstheorie 32, 230, 518  f., 534  f. – Infrastructure Studies 239 – Innovationstheorie 229, 241, 535 – Wissenschaftskommunikation 211 – Wissenschaftstheorie 4  f., 15, 20, 387

 609

Zeichentheorie, Semiotik 28, 34, 56  f., 74–76, 155, 309, 316, 338, 346, 348, 418 – Buchsemiotik 337, 348 – Kultursemiotik 28, 147  f., 310, 324 – Typographische Mimesis 75 – Typographisches Dispositiv 57, 71, 75  f., 516

Begriffe aus der Buchforschung Ablieferungspflicht 367 Abonnement 260, 268, 416 Agent*in 222, 279, 286, 309 Agentur 22, 256, 266  f., 286 Akquise 22, 255  f., 259, 266–268 Algorithmus 69, 116, 374, 388, 395, 418, 501, 503  f., 509 Almanach 89, 550 Alphabetisierung 24  f., 118, 419, 469, 549 Alphabetschrift 59  f., 468, 478 Alternative Medien 446, 450 Altpapier 513 Anthologie 101, 319, 397 Antiqua 472 Antiqua-Fraktur-Streit 69, 71, 74  f. Antiquariatsbuchhandel 85, 169, 279, 286, 288, 367, 513 Antiquar*in 279, 285  f., 288, 291 App 88, 95, 265, 274, 494, 505 Archivkatalog 84 Association of American Publishers 559 Audience Discovery 507 Auflage 252, 305, 367, 574 Auflagenhöhe 305 Aufstellbuch 97 Augmented Reality 96, 99 Ausgabe 52, 54, 77, 317, 347, 375, 392, 547 Ausstattung 8, 84, 163, 171, 261–263, 273, 468, 484 Autorengesellschaft 321 Autorenkollektiv 213 Autorenlesung 321 Autorenverband 279, 558 Autor*in 9, 12, 22, 24, 56  f., 59, 71, 79, 100  f., 114, 143, 211, 252  f., 256, 259, 264, 266  f., 274, 279, 282, 284, 286–289, 291, 293, 314, 318, 323, 325–327, 336, 341  f., 347, 352, 362  f., 376, 378, 435, 471, 473, 517  f., 562, 568 Autorschaft 36, 116, 211, 243, 285, 323, 357, 392, 453, 475 Avantgarde-Typographie 74 Backlist 266, 272 Barsortiment 221, 254, 259, 266, 513 https://doi.org/10.1515/9783110745030-027

Belegexemplar 367 Belletristik 211, 243, 262, 268  f., 271, 289, 302  f., 319, 359, 408, 432, 450, 531, 544, 567 Bestseller 146, 213, 266  f., 518  f., 562, 564, 567, 574 Bestsellerliste 562 Beutelbuch 90 Bibliodiversität 309, 557, 564, 566, 579 Bibliographic Code 56, 201, 337  f., 342, 348 Bibliomanie 168 Bibliophilie 7, 13, 21, 100, 162–165, 167–173, 175  f., 179, 285  f., 347, 446, 542 Bibliothekskatalog 84  f., 88, 101, 103 Bienenkorbbild 98 Big Data 237 Bildband 177, 262 Bilderbuch 191 Bildtafel 54, 88 Bildungsroman 346 Binärcode 217, 302, 504  f. Bindung 53, 90  f., 93, 102 Biografie 176, 218, 261, 284, 434 Bleidrucker 505 Bleisatz 76 Blog 35, 85, 197, 235, 261, 273, 315, 395, 406, 413, 436 Book-Crossing 450 Booker Prize 324 Bookishness 95, 191–193, 201 Book-Sharing 450 Bookstragram 451 Booktrailer 263 Booktube 395, 436, 451 Börsenblatt 310 Börsenverein des Deutschen Buchhandels 12–14, 137, 166, 213, 274  f., 279, 281, 284, 288, 291, 298  f., 301  f., 309  f., 411  f., 532, 559 Branchenpresse 253, 268, 286 Broschur 77 Bruno-Kreisky-Preis 216 Buchanzeige 339 Buchbinder 93 Buchblock 53, 88, 91, 93 Buchclub 435, 450

Begriffe aus der Buchforschung 

Buchdeckel 91–93, 338 Buchempfehlung 240  f., 315, 327, 395, 502 Bücherverbrennung 340 Buchführer 287 Buchgemeinschaft 171, 271 Buchgeschenk 21, 137, 140, 162, 165  f., 177–179, 262, 436, 482 Buchhändler*in 7, 9, 22, 220, 254, 256, 260, 279  f., 282, 288, 291, 310 Buchhandlung 12, 143, 222, 252, 258  f., 266, 269  f., 272, 280, 285, 302, 309, 438  f., 445, 532, 563, 570 Buchimage 143, 218 Buchjournal 310 Buchkunstbewegung 163, 285 Buchmalerei 73, 469 Buchmärkte 518 Buchpreisbindung 222, 257, 259, 264, 269–271, 298, 305, 351, 367–369, 541, 568  f. Buchreihe 89, 91, 170  f., 175, 258, 264, 266  f., 273, 285, 317, 336, 391 Buchrolle 19  f., 35, 39, 49, 69, 86–88, 335, 468, 514, 520, 534 Buchrücken 91–94 Buchschmuck 10, 471, 476 Bundesverband der Deutschen Zeitungsverleger 420 Bundesverband Druck und Medien 303 Celebrity Culture 450 Coffeetable-Book 174, 262 Comic 190, 197, 199, 201, 213, 265, 453 Comicbuchverlag 265 Community-Marketing 265 Conceptual Art 74 Consumed Diversity 309 Content-Management-System (CMS) 268, 520 Contentprovider 268 Content Syndication 272 Corporate Design 272 Corporate Publishing 259, 265 Cover 263, 509 Creative Commons Lizenzen 388 Crossmedia 235  f., 243, 268, 272, 274, 562 Datenbank 13, 260, 265, 267, 271  f., 373, 391, 561 Daumenkino 84

 611

Debattenliteratur 216 Deckungsbeitragsrechnung 259 Deep reading, Tiefenlesen 406 Designbetrieb 68 Deutsche Buchhändlerschule 14, 310 Deutscher Buchpreis 309 Deutsches Literaturarchiv Marbach 13 Dichterhaus 320, 323 Digitale Edition 378, 392, 398 Digitalisat, Digitalisierung 55, 57, 69, 372, 481, 484 Digitalsatz 379 Direktvertrieb 269–272 Druckausgabe 54, 393, 475 Druckbogen 53, 74 Druckerei 218, 303 Drucker*in 20, 22, 52  f., 90, 220, 471  f., 475, 506 Druckersprache 472 Druckerverleger 220, 287 Druckfarbe 261, 508  f. Druckkatalog 56 Druckmaschine 509 Druckplatte 379 Druckstock 507 Druckwerkstatt 22, 51  f., 68, 471, 548 E-Book 20, 35, 40, 62, 217, 262, 265  f., 270–272, 335, 360  f., 371, 380  f., 406, 417, 509, 516, 518, 520, 528, 548, 564 Echo-Kammer 240 E-Commerce 269, 272, 281 Edition 36, 71, 75, 77, 100, 267, 317, 370, 392, 398 Eigenzeit 546–548 Einband 10, 49, 53, 57, 261, 467  f. Einblattdruck 8, 98 Einwickelpapier 513 E-Journals 271 Elektronisches Papier 62 Elementare Typographie 70 E-Lending 381  f. Empfehlungssystem 238 Enkodierung 126 Entschleunigung 275 Enzyklopädie 176, 465, 518 Erbauungsbuch 94

612 

 Register

E-Reader 77, 95  f., 244, 272, 335, 520 Erfahrungsgüter 263 Erstauflage 273 Eskapismus 261, 415 Experimentelle Poesie 88 Extensives Lesen 115, 531, 536 E-Zine 35 Fachbuch 53, 263, 270, 272, 358, 446 Fachinformationsportal 35 Fachverlag 258, 260, 265, 267, 271  f. Fachzeitschrift 53, 210, 379, 387, 391 Faltbuch 89 Faltmontage 90 Falz 90 Familienzeitschrift 533, 544 Fan Fiction 452  f. Federation of European Publishers 561 Federkiel 52, 505 Fehldruck 53, 510 Feuilleton 284, 315, 321, 394 Filialist 254, 258, 269  f., 272 Filterblase 240, 413 Fixation 122 Flugblatt 221, 468, 528, 533 Flugschrift 471, 528, 533 Foreign Rights Manager 309 Formelschrift 61 Fotoalbum 85 Fotosatz 53, 62, 76 Foto-Text 190, 199 Fraktur 75, 472 Frankfurter Buchmesse 301, 308  f. Frauenbuchladen 438 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 216, 309 Fürstenbibliothek 482 Fußnote 69, 438 Gatekeeper 253, 395, 506, 520 Gebrauchsbuch 171 Gedichtbuch 101 Gegenwartsliteratur 320, 327, 393 Gemeinsame Normdatei (GND) 103 Genre 143, 199, 209, 243  f., 261, 263, 273, 280, 395, 531, 559, 565, 568 Geschenkbuch 262  f.

Gesinnungsverlag 216 Gestalter*in 20, 22, 63, 68, 72, 76–78, 279  f., 285, 347 Goethe-Institut 318  f. Graphic Novel 190, 199, 213, 319 Griffel 52 Grosso 513 Güter 146, 167  f., 221, 261, 371, 510 Hadernpapier 508 Handbuch 3–5, 23, 37, 40, 318, 391, 465 Handpresse 70, 494, 505, 508, 520 Handsatz 494 Haptik 20, 56, 62, 99, 193, 201, 262, 264, 273, 476, 493, 514 Hardcover 35, 143, 216, 269  f. Harlequinade 89  f. Heftroman 544 Heftung 49, 93 Herausgeber*in 77, 339 Hersteller*in 255, 279, 284  f., 395 Höhenkammliteratur 10, 19, 110, 314, 340, 544 Holzschliffpapier 508 Hörbuch 36, 270, 272, 509, 520, 564 Hörspiel 387 Hygienepapier 513 Hypertext 95, 418 Illuminierte Handschrift 191, 199 Illuminierung 100, 468, 476 Illustration 49, 103, 262, 317, 338, 373, 376, 476, 530, 550 Illustrator*in 85, 222, 285 Immaterialgüter 371  f. Immersion 124, 436 Imprint 262, 265  f., 273 Indexbildung 221  f. Influencer*in 266 Influencer-Marketing 266 Information Overload 391, 415 Inkunabel, Frühdruck, Wiegendruck 8  f., 20, 35, 51–53, 287, 468 Intensives Lesen 115, 531, 536 Interaktivität 95–99, 323, 389, 406, 419 Interface 96 Internationaler Typographischer Stil 69 International Federation of Booksellers 563

Begriffe aus der Buchforschung 

International Federation of Library Associations erarbeitet 563 International Publishers Association 563 Internet of Things 237 Jahrbuch 319 Jalousiebild 98 Journal 35, 212  f., 518 Jugendbuch 262, 273, 319 Jugendbuchverlag 266 Juristischer Kommentar 75 Kalender 89, 265 Kalenderblatt 468 Karten 265, 367 Karton 98 Karussellbuch 97 Katalog 8, 169, 324, 482 Katalogisierung 10, 51, 54 Kegelhöhe 53 Kernkompetenz 254 Kinderbuch 85, 88, 90, 94, 96, 103, 191, 258, 266, 268, 273, 319 Kinder- und Jugendschutz 363 Klappenbroschur 262 Klappentext 72, 263 Kleinstauflage 100 Kochbuch 261, 264 Kochbuchverlag 263 Kochzeitschrift 261 Kodex 5, 15, 19  f., 33, 35, 39, 49, 52, 69, 86–88, 100  f., 194, 221, 243, 335, 467  f., 494  f., 508, 514, 520, 528, 533  f. Kognitive Überforderung 412 Kolophon 54 Kolporteur, Kolportagebuchhandel 513, 548 Kommunikationsgrundrechte 352–356, 362–366 Konsumgüter 137, 150  f., 447 Kräuterbuch 77 Kulturgüter 5, 19, 26, 162, 168, 171, 175, 264, 270, 276, 309, 315, 351, 367  f., 418, 549, 558 Kulturindustrie 17, 153, 544 Kulturverleger 287  f. Kunstbuch 302 Kunstbuchverlag 268 Künstliche Intelligenz 371, 495, 497, 504, 520 Kupferstich 550

 613

Ladenpreis 12, 269  f., 362, 367, 568 Lage 19, 49, 53 Laienkritik 315, 395  f. Lammellenbild 98 Laufzeitumgebung 494 Lautiermethode 113 Lautschrift 61 Layout 20, 54, 57, 68–70, 75, 192  f., 201  f., 261, 263, 268 Lehrbuch 84  f., 259, 261, 264, 280  f., 318 Leipziger Buchmesse 309 Lektorat 281, 288, 294, 314 Lektor*in 22, 143, 219, 255, 267, 279–282, 284–286, 288, 290–292, 294, 303, 347 Lektüreschlüssel 317 Leporello 84  f., 88–90, 97 Lesbarkeit 20, 68, 70  f., 74 Leseanleitung 111  f. Leseaufgabe 389 Lesebändchen 338 Lesebühne 321 Lesecafé 438 Leseclub 390, 549 Lesegemeinschaft 435 Lesegerät 50, 257, 380 Lesegesellschaft 429–433, 513, 548 Lesegruppe 435–438, 448, 450, 452 Lesekabinett 431 Lesekreis 435  f. Lesemaschine 95 Lesemöbel 146, 550 Leserad 77 Lesereise 320 Leserevolution 115, 536 Lesesaal 57 Lettern 49, 79, 221, 242, 494  f., 507–509, 520 Letternguss 52 Lexikalisches Gedächtnis 123 Lexikon 49, 340, 391, 465 Lichtbildwerk 373 Lift-the-Flap-Buch 97 Line Extension 266 Linotype 77 Literarische Gesellschaft 315, 318, 321, 430, 443 Literarischer Salon 305, 433–435 Literaturausstellung 310 Literaturbüro 320

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 Register

Literaturfestival 223, 315, 321  f. Literaturhaus 223, 315, 318, 320, 323 Literaturnobelpreis 326, 336 Literaturplattform 211, 437 Literaturunterricht 314, 316, 389, 391 Literaturverfilmung 198 Literaturverlag 13, 287 Lochkarten 500 Lügenpresse 414, 416 Lumpensammler 505 Luxusdruck 171

Nebenrechte 258, 267 Neuauflage 266, 280 Neuerscheinung 140, 322, 394, 556, 564–566 Neue Typographie 72 Neue Zeytung 533 Neuromarketing 260 Non-Books 258  f., 261, 265 Notenblatt 501 Notenschrift 61 Novität 272, 324 Nutzungsrechte 266  f., 370, 376, 378

Mailingliste 235 Makrotypografie 75 Makulatur 511 Malbuch 85, 99 Manuskript 54, 259, 264, 266  f., 302, 324, 377, 502, 508 Markenlizenz 274 Marketing- und Verlagsservice des Buchhandels 310 Marktwert 170, 178 Massenpresse 416 Massenproduktion 170 Material Text 337–339, 476 Matrize 52 Mediacampus 14, 310 Medienkauffrau / Medienkaufmann 279, 281, 310 Mehrfachband 91–93 Mehrlingsbuch 91 Meritorische Güter 264, 566 Mesotypografie 74 Messehandel 532 Meßkatalog 532 Mikrotypografie 74 Miniaturbuch 94 Mix-and-Match-Buch 97, 103 Monografie 212, 304, 391 Musiknoten 367, 370, 464

Offene Lizenz 388 Offset-Druck 53 Onlinezeitung 235 Open Access 212, 259, 267, 393, 398, 569 Open Educational Resources (OER) 388 Open Science 393 Optical Character Recognition (OCR) 53, 69 Orakelbuch 96

Nachdruck 372 Nachsatzpapier 262 Nachschlagewerk 13, 84, 387 Nachzensur 364  f. National Book Award 324 Native Advertising 417

Packpapier 513 Paginierung 54 Papeterie 265 Papier 9, 19, 49, 52, 54, 72, 86  f., 90, 93, 98  f., 201, 218, 259, 261  f., 406, 419  f., 495, 509, 513, 516 Papierfläche 103 Papierherstellung 52, 510, 517 Papierknappheit 508 Pappe 93 Papyrus 49, 52, 86  f., 234, 242, 468, 508 Peer Review 391 Pergament 49, 52, 86  f., 508 Periodikum 12  f., 431 Periodische Presse 36, 215 Periodizität 20, 214, 217, 351  f., 472 Personalisierung 272, 274, 417 Persönlichkeitsrechte 353, 363, 377 Phonologie 123, 126 Plastik 98 Podcast 263, 274, 419 Poetry Slam 321 Populäres Sachbuch 269 Populärwissenschaft 213, 318 Pop-Up-Buch 96  f., 99 Prachthandschrift 468 Prägung 86, 98

Begriffe aus der Buchforschung 

Presse 215, 282, 357, 408, 416, 441, 446, 451 Presseartikel 408 Presseerzeugnis 516  f. Pressefotografie 165, 173 Pressendruck 53, 55, 100, 168, 171 Presseverlag 265 Pressewirtschaft 268, 301, 357 Printable Document Format (PDF) 88, 95 Print-on-Demand 266 Prix Goncourt 324 Produktindividualisierung 238, 240  f., 268, 316 Produktmarketing 263 Profession 285, 291 Propaganda 356 Publikumsverlag 254, 262, 266  f., 270, 273, 303 Publizität 397, 501 Pulitzerpreis 324 Pull-Marketing 273 Push-Marketing 273 Rabatt 270 Ratgeber 84  f., 262, 271, 273 Ratgeberverlag 263 Raubdruck 475 Reader Analytics 507 Reading Community 453 Recht der öffentlichen Wiedergabe 372, 378, 380  f. Recht der öffentlichen Zugänglichmachung 382 Redakteur*in 79 Redaktionsprozess 267 Reformationsschrifttum 471  f. Register 361, 479, 502 Registerschnitt 98 Registrierungspflicht 354 Reisebuch 548 Reisebuchverlag 263 Reiseführer 96, 264  f., 267, 272  f. Repositorium 388 Reproduktion 58, 243, 480, 484 Resource Description Access (RDA) 101 Responsive Design 515  f. Rezension 6, 263, 394  f. Rohrfeder 49, 52 Roman 35, 113  f., 146, 192  f., 261, 263, 336, 339, 374, 377–379, 434, 503, 535, 547 Romanbiografie 435

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Romance 265, 273 Rotationsdruck 242 Rotulus 87 Sachbuch 35, 85, 258, 262  f., 271–274, 318  f., 408, 446 Sachbuchverlag 258, 260, 265 Sachgüter 264 Sakkade 122 Sammelband 166, 373, 391, 432, 434  f., 437 Sammelwerk 377 Sammleredition 262 Satzspiegel 70 Scanning 406 Scherenschnitt 98 Schlüsseltechnologie 58 Schmuckschuber 262 Schnellpresse 520 Schnitt 91, 93 Schnittstelle 239, 419, 497 Schnittverzierung 262 Schreibmaschine 60 Schreibszene 60 Schreibtafel 335, 338, 343  f. Schriftart 53, 70, 86 Schriften 68–70 Schriftenhandel 68 Schriftgestaltung 63, 68  f., 72, 475 Schriftgießerei 68 Schriftsatz 53, 55, 60, 74, 338, 476, 509 Schriftsteller*in 101, 351 Schriftsystem 10, 136 Schriftzeichen 20, 28, 52, 58, 88, 167, 386, 509 Schulausgabe 317 Schulbuch 89, 270, 302, 316, 386–388, 397 Schulbuchverlag 254, 267 Schullektüre 25, 390, 397 Schutzumschlag 49, 262, 338 Science Tracking 507 Scrolling 406 Seite 10, 20, 49, 61, 69, 79, 84, 88–90, 97  f., 101, 412, 476, 515  f. Seitenfolge 88, 101 Seitenformat 70, 72, 88  f., 91, 93, 201, 338 Selbstvermarktung 323 Selbstzensur 364  f. Selfpublishing 25, 253, 266, 271, 280, 562, 574–576

616 

 Register

Serife 71 Setzerschiff 505 Setzmaschine 77 Signatur 54, 502 Single Source Publishing 267 Sinus-Milieus 137, 144, 260 Skimming 406 Skriptografie 469  f., 474  f. Skriptorium 68, 468 Smartphone 95  f., 99, 217 Sommerlektüre 547 Sortiment 265 Sortimenter*in 270, 272, 279, 282, 285, 290  f., 303 Sortimentsbuchhandel 21, 212, 252–254, 258, 260, 266, 270–272, 279–282, 288, 453, 549, 563, 570 Sozietät 429  f., 443 Sozietätsbewegung 429 Spationierung 76 Spatium 60 Spielbilderbuch 96–99 Stanzung 98 Steckalbum 97 Stempelschnitt 52 Storytelling 235 Storyworld 450 Streaming 257, 262, 272–274 Subkultur 234, 342, 448, 538  f. Suchmaschine 88, 388 Supplied Diversity 309 Syndicat national de l’édition 559 Szene 438, 448, 450 Tablet 95  f., 99, 217 Tagespublizistik 472 Taschenbuch 35, 143, 170, 175, 269  f., 285, 336, 376, 538, 548 Telefonbuch 85 Textausgabe 317, 387 Thriller 273 Tinte 10, 51, 508 Titelblatt 75, 339, 476, 479 Titelei 72  f., 317 Tontafel 20, 35, 49, 86, 234, 335, 468 Topsy-Turvy-Buch 97 Touchscreen 88, 96, 99

Trivialliteratur 146, 171, 175, 544 Tunnelbuch 97 Type 52–54, 60, 532, 534 Typeninventar 52 Typenrepertorium der Wiegendrucke 53 Typografie 20, 28, 54–57, 59, 61, 69–71, 73–75, 77, 95, 101, 168, 192  f., 201  f., 285, 290, 317, 338, 469, 472, 475  f., 479, 484, 515  f., 549 Typografische Ordnung 57 Typographeum 59 Überangebot 272, 274, 309, 510 Übersetzung 222, 267, 309, 319, 375, 518, 562, 565 Übersetzungsrechte 267 Umsatzsteuerprivileg 264, 298, 305, 541, 568  f. Unterhaltung 19, 22, 96, 209, 216, 236, 252  f., 255  f., 261, 264, 273, 327, 353, 394, 396, 406, 408, 414, 430, 432, 531, 544, 567, 575 Unterhaltungsliteratur 314, 396 Urheber*in 267, 354, 362, 370, 372  f., 376–378, 380  f., 383, 470 Urheberrecht 257, 351, 355, 371, 373–378, 383, 528, 532, 549, 568 Urheberschaft 358, 378, 475 User Generated Content 395, 451 Value Sensitive Design 497 Verband Freier Lektorinnen und Lektoren 279 Verbreitungsrechte 378–381 Verfügungsrechte 508 Verkaufskatalog 562 Verkehrsordnung für den Buchhandel 220 Verlagsvertreter*in 279, 285, 309 Verlegen 294, 355 Verleger*in 12, 22, 90, 213, 220, 252  f., 268, 279  f., 282–294, 305, 309, 352, 358, 375, 471, 475, 506 Verlegersortimenter 287 Verleihrechte 381 Versandbuchhandel 259, 269–271 Vertrauensgüter 263, 281 Vervielfältigungsrechte 378–380 Verwertungsgesellschaft 301, 381, 383 Verwertungsrechte 259, 264, 267, 378 Verzeichnis lieferbarer Bücher 221, 310 Vexierbuch 95

Begriffe aus der Buchforschung 

Virtuelle Forschungsumgebung 57 Visual Word Form Area 123, 126 Vlog 273 Volumen 87 Volvelle 96, 98 Vorlesewettbewerb 420 Vorsatzpapier 262 Vorzensur 364 Wanderhandel 532 Warengruppen 84  f., 253, 261–263, 269, 275  f., 502 Warenwirtschaftssystem 266 Wasserzeichen 52, 54 Wasserzeichenkartei 52 Wearables 237 Web 2.0 236, 395, 406, 413, 419, 451 Webseite 494, 515 Webshop 266, 271  f., 548 Website 35, 85, 102  f., 266, 272 Weißraum 201 Weltliteratur 397 Welttag des Buches 420

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Wendebuch 97 Werkausgabe 13, 75, 319, 392 Wettbewerb der schönsten deutschen Bücher 171 White-Label-Shop 266 Winkelhaken 505 Wirtschaftsgüter 264, 558 Wissenschaftsverlag 212, 260, 267, 271 Wortüberlegenheitseffekt 122 Zeitschrift 26, 35, 79, 136  f., 146, 169, 209, 217  f., 267, 274, 318, 369, 379, 383, 409, 429–431, 438, 528, 533, 542, 550 Zeitung 136  f., 209, 215, 217  f., 221, 229, 235, 274, 407–409, 411  f., 416  f., 420, 438, 449, 501, 517, 528, 533 Zensur 111  f., 364  f., 434, 473, 528, 531 Zensurverbot 364  f. Zettelkasten 518 Ziehbilderbuch 97 Zwischenbuchhandel 21, 221, 251  f., 254  f., 260, 264, 266, 273, 279, 298, 513

Personen Adorno, Theodor W. 537 Altenhein, Hans 284 Altmeppen, Klaus-Dieter 416 Anderson, Benedict 446 Antos, Gerd 316 Anz, Thomas 315, 394  f. Appadurai, Arjun 446, 450, 452 Arnold, Werner 482 Assmann, Aleida 136, 164, 170–173, 176, 464–467, 471, 473, 476  f., 480  f. Assmann, Jan 464, 466, 473, 476  f., 479 Augé, Marc 310 Auroux, Sylvain 468 Austin, John L. 341 Balbi, Gabriele 230 Balzer, Wolfgang 3, 15, 23, 34 Barthes, Roland 116, 475 Bass, Frank M. 519 Baudrillard, Jean 134, 147, 172, 174, 176 Beck, Klaus 208, 215, 219, 221, 501, 545 Beck, Ulrich 150, 447 Behmer, Markus 229, 232 Bellingradt, Daniel 9, 216, 469, 511 Benhamou, Françoise 564  f., 579 Benjamin, Walter 75, 147, 162, 174, 176 Bertschi-Kaufmann, Andrea 420 Bläsi, Christoph 567 Bloch, Marc 115 Blumenberg, Hans 71, 342  f., 348 Blumer, Herbert 149, 335, 346  f., 439 Böck, Margit 410 Bogeng, Gustav Adolf Erich 163, 168  f. Boghardt, Martin 13, 55 Böhme, Gernot 154  f. Boltanski, Luc 164  f., 169  f., 172 Bolter, Jay David 187, 196  f. Bonfadelli, Heinz 118, 120  f., 136, 139, 141, 143, 405–407, 409, 413, 415–417, 537 Bosch, Aida 134, 148, 150, 173–176, 514 Bosshard, Marco Thomas 304, 308–310 Bourdieu, Pierre 3  f., 26, 30–32, 40, 77–79, 120, 135, 151, 162, 165–167, 176  f., 179, 262, 289, https://doi.org/10.1515/9783110745030-028

293, 304  f., 308, 320, 325, 418, 420, 475, 510, 528, 537, 539 Bowers, Fredson 54  f. Brendel-Perpina, Ina 395 Burke, Peter 24, 115, 518 Cahn, Michael 14, 33, 35, 57 Callon, Michael 302, 319 Carrión, Ulises 100 Castells, Manuel 451  f. Cavallo, Guglielmo 110, 536 Chadwick, Andrew 215, 218 Chartier, Roger 24, 56  f., 110, 135, 190, 536 Chavis, David M. 437, 455 Christmann, Ursula 124, 414 Clausen, Lars 428, 444 Clement, Michel 253, 309, 417, 518 Corsten, Severin 14, 17 Couldry, Nick 233 Csíkszentmihályi, Mihaly 134, 136, 141, 168, 174, 176 Curtius, Ernst Robert 71, 342, 348 Dahrendorf, Ralf 292 Dann, Otto 430–433 Darnton, Robert 25, 58  f., 113, 190, 536, 568 Dawidowski, Christian 420 de Certeau, Michel 310 Dehaene, Stanislas 110, 123 de Jong, Ralf 70 de Man, Paul 71 Derrida, Jacques 71, 110, 323, 475, 477 Dickhaut, Kirsten 475, 481 Diekmann, Andreas 142 Dollinger, Petra 433  f. Donges, Patrick 210, 215  f., 417 Dreiskämper, Thomas 251  f., 258  f., 261, 263, 266, 269, 272, 275 Dreyfus, Hubert L. 503 Durkheim, Émile 4, 110 Dürr, Claudia 435–437 Eco, Umberto 74, 163, 167, 414 Eisenstein, Elizabeth L. 58

Personen 

Elleström, Lars 200 Elster, Ernst 113 Engelsing, Rolf 115, 135, 432, 536, 540 Erll, Astrid 466  f., 470, 476–478 Ernst, Thomas 211, 406 Escarpit, Robert 25, 135 Esposito, Elena 464, 466, 477–479 Esquerre, Arnaud 164  f., 169  f., 172 Esser, Hartmut 537 Febvre, Lucien 24, 115 Ferguson, Christopher 546 Figge, Friedrich 268 Fischer, Ernst 37  f., 112, 136, 284, 286, 289  f., 298, 308, 569–571, 580 Fischer-Lichte, Erika 323 Fish, Stanley 436 Fleck, Ludwik 4, 318 Flusser, Vilém 60, 535 Forssman, Friedrich 75 Foucault, Michel 17, 57, 344, 392, 473, 477 Franck, Georg 315 Friedman, Batya 497 Fritz, Angela 137, 415 Fröhlich, Dörthe 560, 563, 567 Fuhse, Jan 293, 502 Füssel, Stephan 5  f., 9, 11, 16  f., 36, 38, 49, 163, 168  f., 298, 309 Gauger, Hans-Martin 540  f. Genette, Gérard 25, 56, 72, 317, 323, 393 Gentzel, Peter 233, 238, 243  f. Gibson, James J. 514 Giddens, Anthony 447 Giesecke, Michael 9, 14, 17, 26, 33, 59, 469, 471, 484 Ginzburg, Carlo 298 Gläser, Martin 251  f., 255  f., 261, 264–266, 268  f., 272, 275 Goffman, Erving 149, 165, 323, 537 Goody, Jack 111, 474  f. Göttlich, Udo 242 Graf, Werner 121 Grampp, Sven 9, 16, 58, 149, 533 Greg, Walter W. 54  f. Griesemer, James R. 347 Groeben, Norbert 121, 124, 138, 420

 619

Grusin, Richard 187 Gumbrecht, Hans Ulrich 38, 59, 61 Günzel, Stephan 153 Habermann, Mechthild 111 Habermas, Jürgen 416, 444  f., 517, 520, 537 Habermas, Tilmann 134, 136, 153, 165–167, 174, 177 Haebler, Konrad 52  f. Hagemann, Jörg 75 Hagenhoff, Svenja 69, 95, 125, 212  f., 215, 217  f., 220  f., 261, 268, 417, 497  f., 501, 507, 511, 515 Hahn, Alois 170–172, 176, 464, 473 Hahn, Hans Peter 148, 150  f., 165, 178 Halbwachs, Maurice 464, 476, 479 Hallin, Daniel C. 214, 222 Hall, Stuart 150, 418, 440, 443, 447  f., 503 Hardtwig, Wolfgang 429–431 Hartley, Jenny 436 Hartmann, Frank 501 Hartmann, Heiko 260, 267 Hasebrink, Uwe 243 Haug, Christine 17, 432 Hauser, Robert 464, 466 Havelock, Eric A. 58, 474 Hayles, N. Katherine 191–193 Hepp, Andreas 232  f., 235, 237, 242  f., 321  f., 414, 441, 448–450, 452, 454 Hickethier, Knut 530 Hildebrand-Schat, Viola 63, 101 Hilgert, Markus 62 Hillebrandt, Frank 152, 165  f., 177  f., 295, 304 Hirschauer, Stefan 15, 152, 179 Hirsch, Eric 150 Hirschi, Caspar 212, 511 Hitzler, Ronald 442, 447  f. Hofstede, Geert 577–579 Honneth, Axel 447 Horkheimer, Max 537 Hradil, Stefan 144–146 Huey, Edmund B. 113 Hügel, Hans-Otto 544 Hurrelmann, Bettina 121, 138, 390, 420 Huse, Ulrich 264 Imhof, Kurt 417 Im Hof, Ulrich 429  f.

620 

 Register

Ingarden, Roman 24, 114 Innis, Harold A. 58 Iser, Wolfgang 24, 114 Jäger, Georg 12, 14, 16, 26, 115, 208, 282, 287  f., 292, 294, 298 Janello, Christoph 251, 417 Jarren, Otfried 208–210, 216, 219, 417 Jauß, Hans Robert 24, 114 Jenkins, Henry 188, 235  f., 451 Karr Schmidt, Suzanne 85, 98 Katz, Elihu 139 Keiderling, Thomas 17, 26, 49 Kerlen, Dietrich 27, 139, 255, 281 Keupp, Heiner 150, 440 Kintsch, Walter 124 Kittler, Friedrich 17, 60 Kneer, Georg 77, 117, 319 Knoblauch, Hubert 456 Knorr-Cetina, Karin 32, 234 Kocka, Jürgen 34, 135 Koppitz, Hans-Joachim 11, 15 Kopp, Vanina 482 Koselleck, Reinhart 340, 444, 479 Köster, Kurt 91, 94  f. Kovač, Miha 558, 560, 562, 565  f., 574  f., 579 Krämer, Sybille 61, 196, 501, 503  f. Krappmann, Lothar 150, 440 Krotz, Friedrich 149, 233, 428, 439–442, 447, 449, 452 Kuhn, Axel 22, 26  f., 30, 33  f., 39, 69, 95, 113, 125, 137, 151, 212, 216, 218, 385  f., 391, 414, 418, 436  f., 441, 497, 507, 515, 533, 542, 548, 551 Kuhn, Thomas S. 4, 10, 15, 38, 40 Kurschus, Stephanie 529, 558, 560, 571–574, 578–580 Kwakkel, Erik 85 Lachmann, Karl 392 Langenbucher, Wolfgang 32, 414, 420 Latour, Bruno 32, 76  f., 149, 302, 319, 321, 393, 496 Lauer, Gerhard 34, 38–40, 116, 192, 274, 503, 506 Law, John 302  f., 319 Lazarsfeld, Paul 143 Lévi-Strauss, Claude 147

Link, Jürgen 344 Long, Elizabeth 436 Löw, Martina 153  f., 548 Lucius, Wulf D. v. 163, 168, 171–173, 176, 251, 268  f. Luckmann, Thomas 280 Lüddemann, Stefan 528, 530, 539 Luhmann, Niklas 26, 301  f., 304, 326, 345  f., 406, 478  f., 528, 537 Lukács, Georg 117 Lund, Hannah Lotte 434  f. Maase, Kaspar 544 Magerski, Christine 210  f., 216 Mangen, Anne 406, 419 Mareis, Claudia 73 Martin, Henri-Jean 24, 135 Mauss, Marcel 110, 165, 177  f., 325 Maye, Harun 76, 323, 406, 494 McGann, Jerome J. 56, 190, 201, 337  f. McKenzie, Donald F. 55  f., 190 McKerrow, Ronald B. 54 McLuhan, Marshall 58, 60, 230, 323, 414 McMillan, David W. 437, 455 Mead, George Herbert 149, 346 Meckel, Miriam 216 Meierhofer, Christian 318 Merten, Klaus 208 Merton, Robert K. 4, 38 Meyer-Bialk, Kerstin 166 Migoń, Krzysztof 16, 33 Mohr, John W. 502 Morley, David 236, 243 Moser, Doris 324, 435–437 Mühlbrecht, Otto 163, 167  f. Müller-Oberhäuser, Gabriele 166 Muth, Ludwig 12, 137, 538 Nassehi, Armin 304 Neuhaus, Stefan 314, 317, 320, 385, 406 Nipperdey, Thomas 429  f. Nissenbaum, Helen 497 Noelle-Neumann, Elisabeth 13, 118, 137, 178  f., 414 Nora, Pierre 320 Nørgaard, Nina 192 Norrick-Rühl, Corinna 16, 309, 558, 560 Nowotny, Helga 546  f.

Personen 

Ong, Walter J. 58, 474  f., 495 Otte, Gunnar 118, 121, 538 Paasch, Kathrin 482 Parsons, Talcott 345  f. Pearce, Susan M. 164  f. Peirce, Charles Sander 74, 338 Perrin-Marsol, Alice 482 Philipp, Maik 121, 418, 420 Piaget, Jean 126 Plachta, Bodo 320, 385, 392 Pollard, Alfred W. 54 Popper, Karl 4 Porombka, Stephan 320  f., 392  f., 395 Posner, Roland 147 Pressman, Jessica 95, 192  f. Preußer, Ulrike 391 Prüsener, Marlies 430–432 Quadflieg, Dirk 165 Raabe, Paul 13, 36, 529 Radvan, Florian 316  f., 386  f. Rajewsky, Irina O. 188  f., 195  f., 198–200, 202 Rammert, Werner 494  f., 498, 500 Rautenberg, Ursula 5, 8, 10, 15–20, 23, 31, 33–36, 49–51, 70, 74  f., 86, 109, 138, 151, 162  f., 169, 174, 216, 218, 263, 335  f., 338, 346, 348, 467–471, 475 Reckwitz, Andreas 61, 76, 121, 151–153, 171, 174, 179  f., 244, 345  f., 407, 502  f., 528, 531, 533, 537, 550 Rehberg Sedo, DeNel 437 Remmert, Volker R. 211  f. Reske, Christoph 53  f., 62 Richter, Susanne 74 Ricœr, Paul 178 Rieder, Bernhard 502 Rochberg-Halton, Eugene 134, 136, 168, 174, 176 Rogers, Everett M. 230, 518  f. Roosendaal, Hans E. 213 Rosebrock, Cornelia 390 Rosengren, Karl Erik 140  f. Rössler, Patrick 173, 175 Rothacker, Erich 339, 342, 348 Ruchatz, Jens 187 Rucht, Dieter 416, 445  f.

 621

Rühl, Manfred 27, 33, 414 Rühr, Sandra 137, 323, 385  f. Ryan, Marie-Laure 188 Sandl, Marcus 465, 480  f. Sarasin, Philipp 17, 518 Saxer, Ulrich 14, 17, 33  f., 36  f., 40, 49, 110, 214–216, 414  f., 417 Schäfer, Hilmar 77, 151 Schanze, Helmut 189  f., 193, 195, 202, 288 Schatzki, Theodore R. 179 Schenda, Rudolf 115 Schenk, Michael 139  f., 143 Scherer, Wilhelm 117 Schleiermacher, Friedrich 115 Schmidt, Siegfried J. 302, 314 Schmitz-Emans, Monika 171, 191 Schmitz, Herrmann 154 Schmitz, Wolfgang 68, 210 Schneider, Jost 115, 540 Schneider, Ute 17, 25, 31, 109, 112, 115, 123, 151, 176, 211  f., 282, 284  f., 288, 291, 293, 407, 414, 417, 420, 431, 438, 456, 535, 542–545, 547, 551 Schön, Erich 24, 113, 135, 140, 414, 530  f., 536 Schrape, Jan-Felix 494, 496, 507 Schröter, Jens 187, 198 Schücking, Levin 117 Schulz, Christoph Benjamin 84  f., 88, 91, 95  f. Schulze, Gerhard 121, 145  f., 150, 321, 447 Schumann, Matthias 251 Schweiger, Wolfgang 139  f., 143 Searle, John 341 Seibert, Peter 433–435 Sennewald, Nadja 391 Serexhe, Bernhard 464, 481, 485 Shevchenko, Nadezda 482  f. Shillingsburg, Peter 476 Siegert, Bernhard 534 Silverstone, Roger 150 Simmel, Georg 117, 145 Skinner, Quentin 341–343 Smith, Adam 145 Sneed, Joseph D. 34 Sommer, Manfred 164, 166, 169–175, 549 Sondheim, Moritz 163, 167, 172, 174–176 Sorá, Gustavo 304, 309

622 

 Register

Spitzmüller, Jürgen 74, 77  f., 472, 516 Spoerhase, Carlos 62, 71, 191  f., 212, 327, 511, 514 Srubar, Ilja 479  f. Stagl, Justin 164, 173, 175, 550 Stanitzek, Georg 25, 73, 191  f. Star, Susan Leigh 239, 347 Stichweh, Rudolf 34 Stingelin, Martin 60 Stöber, Rudolf 230, 535 Stützel-Prüsener, Marlies 431  f. Świerk, Alfred 16  f., 19, 27 Taine, Hippolyte 117 Taubert, Niels 267 Tenbruck, Friedrich 428, 430, 542 Thimm, Caja 413 Thon, Jan-Noël 188  f., 200 Thurmann-Jajes, Anne 101 Tönnies, Ferdinand 443  f. Tschudin, Peter F. 52 Umlauf, Konrad 84, 281 van Dijck, José 233, 236, 239, 451 van Dijk, Jan 451 van Dijk, Teun 124 Veblen, Thorstein 145, 165 Voeste, Anja 74 Vogel, Anke 315, 385 von Bertalanffy, Ludwig 208

Vorderer, Peter 233, 414 Vowe, Gerhard 215 Walter, Katharina 62 Weber, Max 144, 149, 177, 446, 520 Wehde, Susanne 57, 71, 74–76, 191, 469, 472 Weichselbaumer, Nikolaus 53, 69, 79, 290 Weingart, Peter 38 Wells, Christopher 472 Welzer, Harald 464 Wenger-Trayner, Étienne 436 Werle, Dirk 345  f. Wiedenhofer, Siegfried 466, 471  f. Wilhelmy, Petra 433 Wilke, Jürgen 209, 229  f. Wilkes, Walter 53 Wimmer, Jeffrey 440–442, 455 Windgätter, Christof 56  f. Winko, Simone 325  f., 396  f. Winter, Carsten 150, 441, 449 Wirth, Uwe 198 Wirtz, Bernd W. 251, 255, 258  f., 264–267, 272 Wischenbart, Rüdiger 271, 558, 562  f., 565, 574–576 Wolf, Maryanne 405  f. Wolf, Werner 188, 198–202 Woolgar, Steve 32 Wundt, Wilhelm 113, 122 Zillien, Nicole 244, 405, 515 Zillmann, Dolf 141