Theologische Grundstrukturen des Alten Testaments [Reprint 2012 ed.]
 3110038749, 9783110038743, 9783110841749

Table of contents :
Überblick
1. Kapitel: Interpretationsweisen des Alten Testaments
I. Die Problematik
II. Vorchristliche Interpretation
III. Christliche Interpretation
2. Kapitel: Altes Testament und Offenbarung
I. Das Alte Testament als Offenbarung?
II. Gott offenbart sich — offenbart er sich?
III. Mittel der Offenbarung
IV. Offenbarung und prophetische Verkündigung
V. Ergebnisse
3. Kapitel: Die Vielfalt der Daseinshaltungen
I. Einführung
II. Der Glaube der Mosezeit
III. Die Auseinandersetzung mit der Magie
IV. Die prophetische Daseinshaltung
V. Die Auseinandersetzung mit der Weisheit
VI. Die zeitgebundene und überzeitliche Bedeutung der Formen der alttestamentlichen Daseinshaltung
4. Kapitel: Die Einheit in der Vielfalt
I. Die Frage nach einem Mittelpunkt der Theologie des Alten Testaments
II. Das Miteinander von Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft
III. Gottesherrschaft
IV. Gottesgemeinschaft
V. Furcht und Vertrauen
5. Kapitel: Wandlungskraft und Wandlungsfähigkeit
I. Archaisches Gut und seine Verwendung
II. Tradition und Interpretation
III. Glaube und Gesellschaft
6. Kapitel: Entfaltungen
I. Die personale Struktur
II. Gottes Handeln an Völkern und Menschen
III. Gottes Handeln in der Natur und durch die Natur
IV. Die Korrelation zwischen Gott und Mensch
V. Glaube als Handeln
VI. Die Diesseitigkeit des Glaubens
7. Kapitel: Anwendungen
I. Der Sinn der Urgeschichte
II. Der Staat und das politische Handeln
III. Das soziale Leben
IV. Mensch und Technik
V. Die Zukunft des Menschen
Schluß: Altes und Neues Testament

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GEORG

FOHRER

THEOLOGISCHE GRUNDSTRUKTUREN DES A L T E N T E S T A M E N T S

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THEOLOGISCHE GRUNDSTRUKTUREN DES ALTEN TESTAMENTS

VON GEORG

FOHRER

WALTER DE GRUYTER BERLIN · NEW YORK 1972

THEOLOGISCHE BIBLIOTHEK HERAUSGEGEBEN K. A L A N D ,

K. G. K U H N ,

TÖPELMANN

VON

C. H. R A T S C H O W

UND

E.

SCHLINK

24. Β A Ν D

ISBN 3 11 003874 9 Library of Congress Catalog Card Number: 7 2 - 7 7 4 1 9 ©

1972 by Walter de Gruyter &c C o . , Berlin 30 (Printed in Germany)

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten.

Ohne

ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Casopisno in graficno podjetje »DELO«, Ljubljana, Jugoslawien

Der Universität Aberdeen und der Universität Glasgow für die Verleihung der Würde eines Doctor of Divinity und der Society for Old Testament Study für die Verleihung der Honorary Membership mit ehrerbietigem Dank zugeeignet

INHALT

Überblick 1. Kapitel: Interpretationsweisen des Alten Testaments I. Die Problematik II. Vorchristliche Interpretation III. Christliche Interpretation 1. Weissagungsbeweis 2. Allegorisch-christologische Auslegung 3. Typologische Deutung 4. Die alttestamentliche Messiaserwartung und Jesus Christus 5. Jes 53 und der Tod Jesu 6. Andere Interpretationsweisen 7. Fragwürdige dogmatische Voraussetzungen 2. Kapitel: Altes Testament und Offenbarung

1 3 3 6 10 11 12 13 17 22 28 29 33

I. Das Alte Testament als Offenbarung? II. Gott offenbart sich — offenbart er sich? III. Mittel der Offenbarung 1. Medien der Offenbarung 2. Offenbarung und Geschichte

33 35 38 38 42

IV. Offenbarung und prophetische Verkündigung

46

V. Ergebnisse 3. Kapitel: Die Vielfalt der Daseinshaltungen I. Einführung II. Der Glaube der Mosezeit III. Die Auseinandersetzung mit der Magie 1. Die magische Daseinshaltung 2. Die restaurative Daseinshaltung 3. Die kultische Daseinshaltung 4. Die national-religiöse Daseinshaltung IV. Die prophetische Daseinshaltung 1. Die Prophetie und ihre Daseinshaltung 2. Die prophetische Verkündigung 3. Prophetische und magische Daseinshaltung 4. Prophetische und kultisch-gesetzliche Daseinshaltung

49 51 51 55 57 57 60 62 67 71 71 73 80 81

VIII

Inhalt 5. Prophetische und national-religiöse Daseinshaltung 6. Zusammenfassung

84 85

V. Die Auseinandersetzung mit der Weisheit 1. Die weisheitliche Daseinshaltung 2. Die Auseinandersetzung mit der weisheitlichen Daseinshaltung . .

86 86 88

VI. Die zeitgebundene und überzeitliche Bedeutung der Formen der alttestamentlichen Daseinshaltung

93

4. Kapitel: Die Einheit in der Vielfalt I. Die Frage nach einem Mittelpunkt der Theologie des Alten Testaments II. Das Miteinander von Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft 1. Ps62io—is 2. Ps 66 3. Ps 1002 4. Am 32 5. Hos 5is—66 6. Das Mitsein Gottes

95 95 98 98 99 99 100 100 100

III. Gottesherrschaft 1. 'el qänna' 2. Heiligkeit Gottes 3. berît 4. masâl und sapät 5. König und Hirt

102 103 103 104. 106 107

IV. Gottesgemeinschaft 1. Verwandtschaftliche Begriffe 2. Gottebenbildlichkeit des Menschen 3. dâ'ât ' â lohîm 4. Personale Struktur des Glaubens 5. Schlachtopfer

107 107 108 109 109 109

V. Furcht und Vertrauen 1. Religiöse Grunderfahrungen 2. Angesichts des Handelns Gottes in Völkerleben und Natur 3. Im Leben des einzelnen 5. Kapitel: Wandlungskraft und Wandlungsfähigkeit I. Archaisches Gut und seine Verwendung 1. Sitten und Gebräuche 2. Gesetze 3. Mythen 4. Liedgattungen 5. Prophetie

110 110 111 111 113 113 113 115 116 117 118

Inhalt II. Tradition und Interpretation 1. Grundsätzliches 2. Erzählende Bücher 3. Weisheitsliteratur 4. Prophetenbücher III. Glaube und Gesellschaft 1. Einwirken des Glaubens auf die gesellschaftliche Struktur 2. Einwirken der gesellschaftlichen Struktur auf den Glauben

IX 120 120 121 122 123 126 126 126

6. Kapitel: Entfaltungen I. Die personale Struktur 1. Philologische und literarische Eigenarten 2. Theologiegeschichtlicher Durchblick 3. Einzelzüge 4. Beziehung zu Gott

133 133 133 - 137 138 140

II. Gottes Handeln an Völkern und Menschen 1. Gottes Handeln und Sichverbergen 2. Begebenheit und Deutung 3. Prophetische Geschichtsbetrachtung

141 141 143 144

III. Gottes Handeln in der Natur und durch die Natur 1. Naturgüter als Heilsgaben 2. Das Handeln Gottes mittels Naturkräften und Naturvorgängen . 3. Der Schöpfungsgedanke

149 149 152 153

IV. Die Korrelation zwischen Gott und Mensch 1. Begründung der Korrelation 2. Reaktion des Menschen 3. Reaktion Gottes 4. Verknüpfung der Reaktionen 5. Folgen

154 154 156 159 161 163

V. Glaube als Handeln 1. Die Einheit von Glaube und Handeln 2. Lebens- und Verhaltensregeln 3. Die prophetische Verkündigung VI. Die Diesseitigkeit des Glaubens 1. Das diesseitige Leben angesichts des Todes 2. Das diesseitige Leben als Gabe 3. Das diesseitige Leben als Forderung 4. Diesseitigkeit als Gegenwärtigkeit

164 164 165 169 171 172 175 181 183

7. Kapitel: Anwendungen I. Der Sinn der Urgeschichte 1. Urgeschichte und Wissenschaft 2. Mythos, Sage, Geschichtsbetrachtung

185 185 187

X

Inhalt 3. Der Mensch als Risiko Gottes 4. Die Krise des Menschen

192 200

II. Der Staat und das politische Handeln 1. Staatsbildung im Alten Orient 2. Staatsbildung in Israel 3. Wesen des israelitischen Staates 4. Kritik am Staat 5. Glaube und Staatsleben 6. Glaube und politisches Handeln

206 207 209 215 218 225 229

III. Das soziale Leben 1. Grundlegende Einsichten 2. Beurteilung und Kritik der sozialen Entwicklung 3. Armut und soziale Maßnahmen 4. Folgerungen für die Gegenwart 5. Wandlung des Menschen

231 232 236 242 248 250

IV. Mensch und Technik 1. Das heutige Problem 2. Die grundlegende Einsicht des Alten Testaments 3. Ablehnung der Weiterentwicklung 4. Bejahung der Weiterentwicklung 5. Die prophetische Stellungnahme

251 251 253 255 256 257

V. Die Zukunft des Menschen 1. Zukunftsgestaltung aufgrund des Gesetzes 2. Zukunftserwartung der eschatologischen Prophetie und der Apokalyptik 3. Modell der großen Einzelpropheten Schiaß: Altes und Neues Testament

260 261 263 268 274

ÜBERBLICK Die Darstellung geht im 1. Kapitel von der Einführung in die Problematik des rechten Verstehens des Alten Testaments aus, die sich im Vorhandensein verschiedener Interpretationsweisen äußert. Um die Entstehung dieser Problematik zu erfassen, ist bereits die vorchristliche Interpretation des Alten Testaments ins Auge zu fassen, die im Alten Testament selbst beginnt und im Judentum und in der von dessen Hauptstrang abgespaltenen Gemeinde der Samaritaner fortgesetzt wird. Vor allem ist die christliche Interpretation zu betrachten, die sich besonders als Weissagungsbeweis, als allegorische und als typologische bzw. als heilsgeschichtliche Deutung darstellt. Demgegenüber ist auf die Fragwürdigkeit der dogmatischen Voraussetzungen dieser Interpretationsarten hinzuweisen, die die Erörterungen des 2. Kapitels erforderlich machen. Das 2. Kapitel behandelt das Problem „Offenbarung und Altes Testament". Es geht von den Fragen aus, ob man das Alte Testament einfach als Offenbarung verstehen kann und ob oder wie sich Gott dem Menschen offenbart. Auf dieser Grundlage ist weiter nach besonderen Medien der Offenbarung — einschließlich der „Geschichte" — und nach dem Verhältnis von Prophetie und Offenbarung zu fragen. Das 3. Kapitel wendet sich der Vielfalt der religiösen und theologischen Strömungen im Alten Testament oder der Vielfalt der alttestamentlichen Daseinshaltungen zu. Vom Glauben der Mosezeit ausgehend, sind als Hauptrichtungen die Auseinandersetzung mit der Magie, die Auseinandersetzung mit der Weisheit und die prophetische Daseinshaltung zu beobachten. Gegenüber dieser Vielfalt ist im 4. Kapitel zu fragen, ob es nicht dennoch eine Einheit in der Vielfalt gibt, d. h. ob sich nicht ein Mittelpunkt der Theologie im Alten Testament findet. In der Tat ist ein solcher Mittelpunkt festzustellen, dessen beide Pole sodann zu erörtern sind: Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft. Dazu gehören als Entsprechung beim Menschen dessen Abstand und Verbundenheit in bezug auf Gott. Auf dieser Grundlage stellt das 5. Kapitel in der Gegenüberstellung von Altem und Neuem die aktive Wandlungskraft und die passive Wandlungsfähigkeit des alttestamentlichen Glaubens dar. Da ist einmal das archaische Gut, das unter dem Einfluß der Gedanken, die den Mittelpunkt der alttestamentlichen Theologie bilden, verwendet worden ist. Ebenso zeigt sich 1

Theologische Grundstrukturen

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Überblick

am Gegenüber von Tradition und Interpretation, wie unter der Einwirkung der zentralen Gedanken bestimmte Traditionen jeweils in neuer Weise interpretiert worden sind. Des weiteren gehört zu diesem Komplex das Verhältnis von Glaube und gesellschaftlicher Struktur; dabei geht es um die Änderungen jeweils eines dieser beiden Faktoren durch den Einfluß des jeweils anderen. Das 6. Kapitel behandelt Entfaltungen von Zügen des alttestamentlichen Glaubens, die für das Ganze des Alten Testaments bezeichnend sind, unter dem Einfluß der Gedanken, die den Mittelpunkt der alttestamentlichen Theologie bilden. Dazu gehören die personale Struktur des Verhältnisses von Gott und Mensch; das Handeln Gottes an Völkern und Menschen, das oft mißverständlich als das Geschichtshandeln Gottes bezeichnet wird; das Handeln Gottes in der Natur und durch die Natur — ein Gesichtspunkt, der bisher vernachlässigt worden ist; die Korrelation zwischen Gott und Mensch, da nach dem Alten Testament das Handeln und Verhalten Gottes und des Menschen aufeinander bezogen und durch einander bedingt sind; das Verhältnis von Glaube und Handeln zueinander, das im alttestamentlichen Glauben so eng ist, daß man geradezu von Glaube als Handeln sprechen kann; endlich die Diesseitigkeit des alttestamentlichen Glaubens mit den Folgerungen, die sich daraus ergeben. Das 7. Kapitel bringt Anwendungen der gewonnenen Erkenntnisse auf einige bedeutsame Themen. Als solche sind modellhaft ausgewählt worden: der Sinn der alttestamentlichen Urgeschichte, Staat und politisches Handeln, das soziale Leben, Mensch und Technik sowie Gesetz und Eschatologie bzw. Utopie in ihren Auffassungen über die Zukunft des Menschen. Der Schluß der Darstellung greift die einleitend berührte Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Alten und dem Neuen Testament auf. Aufgrund des in den vorhergehenden Kapiteln Gesagten ergibt sich nunmehr die Erkenntnis eines unmittelbaren und eigentümlichen Zusammenhangs zwischen beiden Testamenten, der als Beginn und Fortsetzung zu verstehen ist. Von da aus ergeben sich sowohl die fortdauernde Geltung der theologischen Grundgedanken des Alten Testaments als auch die neuerdings wieder erörterte Möglichkeit des Entwurfs einer gesamtbiblischen Theologie. Natürlich wäre es möglich gewesen, über den damit abgesteckten Rahmen hinaus weitere Fragenkomplexe und Problembündel zu untersuchen und zu behandeln. Doch war aus äußeren Gründen eine Begrenzung der Darstellung erforderlich. Jedem, für den ein nach seiner Auffassung wichtiges Thema unbeachtet geblieben oder übergangen zu sein scheint, steht es frei, eine Ergänzung oder Fortsetzung dieses Buches zu schreiben.

1. Kapitel INTERPRETATIONSWEISEN DES ALTEN TESTAMENTS I. Die Problematik Gewöhnlich nimmt man an, daß die Frage nach dem rechten theologischen Verstehen und der sachgemäßen Auslegung des Alten Testaments oder das Problem der alttestamentlichen Hermeneutik als eine Folge der Aufklärung und wiederum ihrer Infragestellung aufgekommen sei1. Für die Kirche vor der Reformation habe es so wenig wie f ü r Luther und die Kirche nach der Reformation eine besondere Sicht des Alten Testaments und ein besonderes Fragen nach seinem Verstehen gegeben. Man habe vielmehr grundsätzlich keinen Abstand zwischen dem Alten und Neuen Testament gesehen, denn der geschichtlich tatsächlich vorhandene und von den Theologen durchaus bemerkte Abstand sei theologisch bedeutungslos gewesen. Erst die Begegnung mit der Geschichtswissenschaft und ihrer historischen Kritik und in ihrem Gefolge mit der Religionsgeschichte habe eine Änderung der Lage eingeleitet. Denn als dann aufs neue die Forderung nach einer theologischen Erfassung des Alten Testaments und einer Theologie des Alten Testaments erhoben wurde, ergab sich das Dilemma, daß zwar die historisch-kritische und religionsgeschichtliche Untersuchung unaufgebbar war, ja sogar im Zuge der Wiederentdeckung des Alten Orients immer wichtiger wurde, demgegenüber aber eine theologische Betrachtung des Alten Testaments einschließlich der Fragen, ob der Gott des Alten Testaments zugleich der Gott Jesu und der Gott des Bekenntnisses der christlichen Kirche sei und ob Altes und Neues Testament eine innere Einheit oder einen Gegensatz bilden, unausweichlich wurde. In der Tat hat dieses Dilemma die umfangreiche und weitverzweigte Diskussion über die hermeneutischen Probleme wachgerufen, die nicht selten mit Leidenschaft und Erbitterung geführt worden ist. Jedoch trifft die soeben skizzierte Anschauung in dieser Weise nicht ganz zu. Gewiß hat erst das moderne Dilemma von historisch-kritischer und religionsgeschichtlicher Forschung einerseits und theologischer Aus1

l*

Vgl. C. Westermann, Zur Auslegung des Alten Testaments, in: Probleme alttestamentlicher Hermeneutik, 1960, S. 18f.

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Interpretationsweisen des Alten Testaments

legung andererseits die hermeneutische Diskussion angefacht. Aber die Reformation war davon nicht unberührt, sondern hat die Frage schon gekannt und in ihrem Sinn beantwortet. Luthers theologische Auslegung des Wortes Gottes in der Bibel bezieht eine — wie man sie bezeichnen kann — „historisch-kritische" Auslegung wie selbstverständlich ein 2 . Am deutlichsten wird dies wohl in der Vorrede auf den Propheten Jesaja von 1528: „Wer den heiligen Propheten Jesaiam nützlich lesen und desto baß verstehen der lasse i h m . . . diesen meinen Rat und Anzeigung nicht verachtet sein. Zum ersten, daß er den Titel oder Anfang dieses Buches nicht überhüpfe, sondern aufs allerbeste lerne verstehen... Denn derselbige Titel ist fast für eine Glosse und Licht zu halten über das ganze Buch und Jesaias auch selbst gleich mit Fingern seine Leser dahin weiset als zu einer Anleitung auf Grund seines Buchs... Den Titel aber meine und heiße ich nicht alleine, daß du diese Worte, Usia, Jotham Ahas, Jehiskia, der Könige Juda usw. lesest oder verstehest. Sondern vor dich nehmest das letzte Buch von den Königen und das letzte Buch der Chronica, dieselbigen wohl einnehmest, sonderlich die Geschichten, Reden und Zufälle, so sich begeben haben unter den Königen, die im Titel genennet sind, bis zu Ende derselbigen Bücher. Denn es ist vonnöten, so man die Weissagung verstehen will, daß man wisse, wie es im Lande gestanden, die Sachen drinnen gelegen sind gewesen. Wes die Leute gesinnet gewest oder für Anschläge gehabt haben, mit oder gegen ihre Nachbarn, Freunde und Feinde. Und sonderlich, wie sie sich in ihrem Lande gegen Gott und gegen den Propheten in seinem Wort und Gottesdienst oder Abgötterei gehalten h a b e n . . . Zudem wäre wohl auch gut, daß man wüßte, wie die Länder aneinander gelegen sind, damit die ausländischen unbekannten Worte und Namen nicht Unlust zu lesen und Finsternis oder Hindernis im Verstand machten. Und auf daß ich meinen einfältigen Deutschen einen Dienst dazu tue, will ich kürzlich anzeigen die Landschaft um Jerusalem oder Juda gelegen, darin Jesaia gelebt und gepredigt hat, damit sie desto besser sehen, wo sich der Prophet hinkehret, wenn er weissagt gegen Mittag oder Mitternacht usw." Ebenso klar sagt Luther im Proömium der Jesaja-Vorlesung von 1527, daß seine theologische Auslegung des Alten Testaments die grammatische und historische Auslegung als unentbehrliche und selbstverständliche Teile der Gesamterklärung einschließt. Ja, er bezeichnet dort die Geschichte als notwendiger denn die Grammatik: ,,Ad enarrandum prophetam opus est duplici cognicione. Prima grammatica, et haec potest ut potentissima haberi. Altera magis necessaria, videlicet cognicio historiae... Habita igitur primum grammatica, mox eundum est ad historias, 2

Darauf hat besonders A. Jepsen, Wissenschaft vom Alten Testament, in: Probleme alttestamentlicher Hermeneutik, 1960, S. 227ff., hingewiesen.

Die Problematik

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videlicet, quid fecerint reges illi, sub quibus prophetavit Esaias, et haec diligenter perspiciendae ac perscrutandae." Es ist unübersehbar, welches Gewicht Luther damit auf eine historische Auslegung legt und mit welchem Nachdruck er fordert, die Prophetenworte in ihrem geschichtlichen Zusammenhang zu verstehen. Das ist gewiß nicht alles, was sich über Luthers Deutung des Alten Testaments sagen läßt. Es ist ein Aspekt, neben dem zumindest der andere steht, der durch das Stichwort „was Christum treibet" angedeutet werden kann. Aber jener erste Aspekt ist vorhanden und spielt eine wichtige Rolle. Es kann nicht genug beachtet werden, daß grammatisch-historische und theologische Auslegung für Luther keinen Gegensatz bilden und daß die zweite zu der ersten nicht als ein Neues, Anderes und Höheres hinzutritt, sondern daß beide ein inneres Ganzes darstellen. Die theologische Auslegung schließt die grammatisch-historische ein und führt zur Erkenntnis des eigentlichen historischen Sinns. Diesen Weg zu gehen, mag heute infolge der Ausweitung der historisch-kritischen Methodik schwerer geworden sein; unmöglich ist es keineswegs. Ja, es ist geradezu erforderlich, in Anknüpfung an die skizzierte Auffassung Luthers und unter Einbeziehung der neuen Forschungsmethoden, die sich vom Beginn der historisch-kritischen Forschung an ergeben haben, nach einer neuen und dennoch an Luther orientierten Verstehensweise des Alten Testaments zu fragen. Denn inzwischen hat sich die Situation für Theologie und Kirche zu ändern begonnen. Es geht dabei nicht um die innertheologische und innerkirchliche Situation, nicht um Richtungen und Schulen, die kommen und gehen. Vielmehr handelt es sich um zwei andere Fragenkreise. Einmal geht es um das Verhältnis von Europa und Christentum, das man schon vor Jahren in einer neuen Weise charakterisiert hat: das Christentum zwar ein entscheidender Faktor in dem geschichtlichen Vorgang der Schaffung der europäischen Kultur, aber nicht mehr als eine Kraft betrachtet, die für die Gestaltung der Zukunft Europas oder für die Begegnung mit anderen Kulturen eine wesentliche Rolle spielen kann, sondern die durch Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft ersetzt wird; seine jetzige und künftige Aufgabe nicht der Versuch, die Reste der christlichen Kultur des früheren „Corpus Christianum" Europa zu erhalten und einige Menschen für die Kirche zu gewinnen, sondern die Bereitschaft, dem Naturwissenschaftler, Techniker und Wirtschaftler — Gläubigen und Ungläubigen — in einer sokratischen Evangelisation die Fragen nach dem

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Interpretationsweisen des Alten Testaments

Sinn seines Tuns und nach dem Sinn der Geschichte zu stellen und bei deren Beantwortung zu helfen, ebenso den ärmeren außereuropäischen Völkern in ihrer wirtschaftlichen und politischen Lage sowie in ihren religiösen Krisen zu helfen. Diese ganz untraditionelle Auffassung des Christentums und seiner Aufgabe berührt sich mit dem zweiten Fragenkreis: der ökumenischen Bewegung der Kirchen im weitesten Sinne des Wortes. Gleichzeitig mit den neuen Aufgaben bietet sich die Möglichkeit, eine neue weltweite Plattform zu schaffen, auf der die Lösung gemeinsam begonnen werden kann. Allerdings fragt es sich, ob dies ausreicht. Es fragt sich, ob in Zukunft nicht eine Zusammenarbeit der Gläubigen aller Hochreligionen nötig ist, um die ethischen und erzieherischen, sozialen und politischen Aufgaben der Menschheit bewältigen zu können. Versuche dazu sind in der Vergangenheit mehrfach unternommen worden und gescheitert. Dennoch handelt es sich nicht um eine Utopie oder um Schlimmeres, sondern um eine geschichtliche Notwendigkeit, der die römisch-katholische Kirche durch die Schaffung eines Sekretariats für die nichtchristlichen Religionen neben den Sekretariaten für die anderen christlichen Konfessionen und für die Ungläubigen Rechnung getragen hat. Der ökumenischen Vereinigung der meisten christlichen Kirchen müßte eine ökumenische Bewegung der Religionen oder genauer der religiös Gläubigen entsprechen. Ihr Ziel kann nicht die Vereinheitlichung oder Relativierung der Religionen, nicht ein weltweiter Synkretismus sein, wohl aber die praktische Zusammenarbeit gegen die gemeinsamen Feinde der Menschheit: Krankheit und Hunger, Tyrannei und Krieg. Dies entspräche zugleich den universalen Gedanken des biblischen Glaubens. II, Vorchristliche

Interpretation

In der Lage, in der Theologie und Kirche sich befinden oder in die sie hineingetrieben werden, reichen die üblichen und herkömmlichen Versuche, die Frage nach dem rechten Verstehen des Alten Testaments zu beantworten, nicht mehr aus, obwohl oder gerade weil sie meist auf ein ehrwürdiges Alter zurückblicken. Die jetzige und künftige Lage erfordert eine neue Überlegung. Bevor wir uns dem zuwenden, ist ein kritischer Blick auf die bisherigen Versuche wünschenswert und nötig. Der Vorgang der Interpretation beginnt schon in den Schriften des Alten Testaments selbst. Dies hängt mit ihrer bleibenden oder wachsenden Geltung zusammen. Zur Zeit ihrer Entstehung bedarf eine Schrift

Vorchristliche Interpretation

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gewöhnlich keiner Erklärung, wohl aber, wenn sie Lesern in anderer Zeit oder Umgebung nahegebracht werden soll, die bestimmter Vorkenntnisse bedürfen, um die manchmal unverständlich gewordene Schrift zu verstehen. Derartige erklärende Bemerkungen enthält schon das Alte Testament, vor allem in den Überschriften und Glossen, die nachträglich eingefügt worden sind. Dazu gehören die Überschriften der meisten Prophetenbücher und der 13 Psalmen, die aus einer Situation im Leben Davids hergeleitet werden. Doch ist der Vorgang der Interpretation noch umfassender. So ist von den Festen das ursprünglich kanaanäische Bauernfest Massot durch die Beziehung auf den Exodus israelitisch-jahwistisch interpretiert worden (Ex 23, 15; 34, 18) und dies bei der Zusammenlegung mit dem Passa, einem ursprünglich nomadischen Hirtenfest, auf dieses übertragen worden (Dtn 16,1-8). Ebenso wurde das bäuerliche Hüttenfest im Herbst interpretiert, weil Jahwe „die Israeliten bei der Herausführung aus Ägypten in Hütten hatte wohnen lassen" (Lev 23, 43). Das urdeuteronomische Rechtsbuch ist eine modernisierende Interpretation des älteren Bundesbuchs gewesen. Wie die Quellenschichten des Hexateuchs die alten Überlieferungen nacheinander mehrfach in neuer Weise interpretieren, so will noch das chronistische Geschichtswerk um 300 v. Chr. eine weitere Darstellung von ganz eigenem Charakter geben. Sogar die Prophetenworte sind oft in interpretierendem Sinn gesammelt worden. So hat man an die kleinen Sammlungen der Jesajaworte eschatologische Verheißungen angehängt, deren korrigierender Zweck besonders an Jes 32, 9 ff. deutlich wird, wenn die letzte, zusammenfassende Drohung des Propheten gegen Jerusalem in v. 9-14 durch eine angefügte Verheißung in v. 15-20 zeitlich begrenzt und eingeschränkt wird: „bis Geist aus der Höhe über uns ausgegossen wird". Eine ähnliche Auffassung zeigt die Anordnung der Prophetenbücher nach einem eschatologischen Schema, das zweigliedrig Unheil-Heil aufeinanderfolgen läßt (Amos, zweimal Micha) oder dreigliedrig Unheil über Israel — Unheil über die Völker — Heil aneinanderreiht (Jeremia-Septuaginta, Ezechiel, Zephanja, z. T. Jesaja). Solche Interpretation hat besonders mit der durch das Deuteronomium eingeleiteten Entwicklung des alttestamentlichen Glaubens zu einer „Buchreligion", zu einem lehr- und lernbaren Glauben, begonnen und sich in zunehmendem Maße während der allmählichen Festlegung eines Kanons heiliger Schriften fortgesetzt — wie immer man die theologische Bedeutung des Kanons selbst, den es in mehreren miteinander konkurrierenden Formen gibt, beurteilen mag. Im Laufe der Folgezeit hat man hermeneutische Regeln entwickelt, die

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Interpretationsweisen des Alten Testaments

zwar erst in den Normen der talmudischen Schriftauslegung überliefert sind, dort aber lediglich die erstmalige schriftliche Fixierung oder älteste überlieferte Fassung von Methoden darstellen, die längst bekannt waren. Sie sind der konkrete Ausdruck einer bestimmten Art der Textauffassung und -behandlung, die bereits vorhanden war und geübt wurde, bevor sie ihren Niederschlag in den exegetischen Normen gefunden hat. Die ältesten Normen sind die sieben Regeln Hillels, eine Zusammenfassung von Auslegungsmethoden aus der Zeit Herodes' I. (37—4 v. Chr.), und die auf Ismael (um 110—130 n. Chr.) zurückgeführten 13 Regeln für die halachische Auslegung. Sie kehren meist in der Baraita der 32 Normen wieder, die nach Eliezer ben Jose, dem Galiläer, benannt ist (130—160 n. Chr.), obwohl die jetzige Fassung vielfach erweitert und jünger ist3. Wahrscheinlich kann man die meisten Regeln als Kodifizierung älterer Verfahrensweisen aus der vorchristlichen Zeit betrachten. Es ist interessant, damit die Methoden der Pescharim, der Kommentare zu alttestamentlichen Büchern, zu vergleichen, die in Qumran eine eigene Literaturgattung gebildet haben 4 . Obschon sie eher eine private denn eine offizielle Literatur darstellen und wichtige Gedanken der Qumrantheologie in ihnen zurücktreten, geben sie doch einen Einblick in die eschatologisch bestimmte exegetische Methode, die in Qumran gepflegt wurde. Sie geht von der Voraussetzung aus, daß die Endzeit schon im Anbruch ist, und sucht Aufschluß über diese Gegenwart-Endzeit aus den Schriften der Propheten und Psalmen. Die Propheten wußten demnach um den vollen Gehalt und die eigentliche Bedeutung ihrer Worte gar nicht; erst dem essenischen „Lehrer der Gerechtigkeit" ist ihr letzter Sinn offenbart worden, den die Kommentare dann ausführen. Dies ist eine Verstehensweise, die sich bis in die typologische Deutung der Gegenwart fortgesetzt hat. Beide gehen davon aus, daß die alten Schriften oder die Propheten nicht geahnt und gewußt haben, was sie verkündigten, daß dies vielmehr erst einer späteren Zeit offenbar und klargeworden ist. Das spätere Judentum hat entweder das Gesetz, die Tora, verabso3

4

Vgl. u. a. W. Bacher, Die Aggada der Tannaiten, II 1890, S. 293—298; H. L. Strack, Einleitung in Talmud und Midras, 19305, S. 96—108. Vgl. u. a. W. H. Brownlee, Biblical Interpretation among the Sectaries of the Dead Sea Scrolls, BA 14 (1951), S. 60—62; Κ. Eiliger, Studien zum HabakukKommentar vom Toten Meer, 1953; F. F. Bruce, Biblical Exegesis in the Qumran Texts, 1960; R. Ν. Longenecker, Can we Reproduce the Exegesis of the New Testament?, Tyndale Bulletin 21 (1970), S. 7—13.

Vorchristliche Interpretation

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Iutieri und von ihm her das Ganze des Alten Testaments zu erfassen versucht. Es hat in einer philosophischen Deutung die Tora als Quelle aller Weisheit betrachtet. Oder es hat sich in die chassidische Mystik gesteigert. Demgegenüber folgte das Urchristentum weithin grundsätzlich der Methode von Qumran: Der volle und wahre Sinn des Alten Testaments wird erst mit Christus deutlich. Bevor wir uns dem zuwenden, ist ein Blick auf die Interpretation des Alten Testaments durch die Samaritaner zu werfen — jene Gemeinde, die sich wahrscheinlich in der hellenistischen Zeit von der Jerusalemer Gemeinde und ihren Ansprüchen getrennt und auf dem Boden des früheren Nordreichs Israel eine eigene Gemeinde gegründet hat. Ein bezeichnender Zug ihrer Interpretation wird in dem Traditionswerk „Memar Marqah" deutlich, das eine Art Midrasch zur alttestamentlichen Moseüberlieferung darstellt und weithin die Form eines Kommentars zu dieser Überlieferung hat 5 . In einer ausführlichen Untersuchung ist gezeigt worden 6 , wie der Memar gerade diejenigen Züge des alttestamentlichen Textes betont und weiterentwickelt, die Motive der Weisheitsliteratur enthalten. Als umfassender Mutterboden dieser Kommentierung ergibt sich in lexikalischterminologischer, formgeschichtlicher und traditionsgeschichtlicher Hinsicht die Welt der Weisheitslehre. Diese ist außerdem stark von der popularphilosophischen Tradition jüdisch-hellenistischer Schriftauslegung beeinflußt worden, in der auch Philo steht. So erweist sich, aufs Ganze gesehen, der Memar als Produkt einer lebendigen Weisheitsschule mit einer lebendig wachsenden Lehrtradition. Auf eine andere Art von Textbehandlung und -interpretation, die ebenfalls für die Samaritaner kennzeichnend ist, trifft man in der „Samaritanischen Chronik II", einer samaritanischen Bearbeitung der Bücher Josua bis Könige, Josua, Richter, Samuel, Könige und bestimmter Teile der Chronik-Bücher 7 . In ihr bemerkt man die Verfahrensweise anhand der Prophetenerzählungen und -notizen der Königs- und Chronikbücher 8 . Die samaritanische Chronik verfährt damit in drei verschiedenen Arten, von denen sich jede auf einen bestimmten Kreis zurückführen läßt: a) Der ursprüngliche „Chronist" hat die Erwähnungen von Propheten einfach 5 4 7 8

J. Macdonald (ed.), Memar Marqah, 1963. J. C. H. Lebram, Nachbiblische Weisheitstraditionen, VT 15 (1965), S. 167—237. J. Macdonald (ed.), The Samaritan Chronicle No. II, 1969. G. Fohrer, Die israelitischen Propheten in der samaritanischen Chronik II, in: In Memoriam Paul Kahle, 1968, S. 129-137.

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Interpretationsweisen des Alten Testaments

ausgelassen und dafür in Kauf genommen, daß er den alttestamentlichen Text verstümmeln oder umschreiben mußte. b) Die profanen Erweiterungen der Chronik nennen zwar einige Propheten, lassen aber die Bezeichnung „Prophet" weg oder sprechen von der bloßen Behauptung, es habe sich um einen Propheten gehandelt, c) Die priesterlichen Erweiterungen erwähnen einige Propheten, bezeichnen sie jedoch abwertend und herabsetzend als Wahrsager und Zauberer. Alle diese Verfahren hängen damit zusammen, daß die Samaritaner lediglich Mose als Propheten anerkennen und auf dem Wege über ihn sekundär noch Aron und Mirjam, so daß sie deswegen alle anderen Ansprüche ablehnen. Daher weisen sie auch den Anspruch der alttestamentlichen Propheten zurück — sei es, indem man sie gar nicht erwähnt, ihnen die Bezeichnung „Prophet" vorenthält oder ihnen verurteilenswürdige Betätigungen zuschreibt. Beide Züge — die weisheitliche Art der Kommentierung und die Ausschaltung der Propheten — läßt Wesentliches von der samaritanischen Interpretation des Alten Testaments erkennen. III. Christliche

Interpretation

Die Urkirche ist von Anfang an nie ohne eine heilige Schrift gewesen. Denn sie übernahm die heilige Schrift des Judentums, das Alte Testament, soweit es damals fertig vorlag, als etwas Selbstverständliches. Auf die Frage nach dem ewigen Leben verweist Jesus den Schriftgelehrten auf die Forderungen von Dtn 6, 5 und Lev 19, 18, daß man Gott und seinen Nächsten lieben soll: Tu das, dann wirst du leben! Im Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus läßt er Abraham dem reichen Mann in der Hölle antworten, als der um Warnung seiner Brüder bittet: „Sie haben Mose und die Propheten (d. h. das Alte Testament), laß sie die hören!" Man benutzte das Alte Testament für die liturgische Verlesung im Gottesdienst, betrachtete es als maßgebliche Autorität und schätzte es als Wort Gottes ein. Die Voraussetzung dafür war, daß die Schriften des werdenden Kanons die christliche Botschaft enthielten. Man wußte, was diese Botschaft besagte, ohne sich die Frage zu stellen, woher man es wußte. Die Voraussetzung aber, daß das Alte Testament die Offenbarung für die Kirche und die christliche Botschaft enthalte, zog eine zweifache Verwendung des Alten Testaments nach sich: den Weissagungsbeweis und die allegorische oder typologische Auslegung. Ohne sie konnte man nicht zur Identität zwischen dem Alten Testament und der christlichen Botschaft gelangen. Nachdem dann aus den urchristlichen Überlieferungen und

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Sammlungen das Neue Testament erwachsen war, blieb freilich die Voraussetzung der Einheit, des Einklangs und der Harmonie der ganzen Bibel bestehen, obwohl die mit ihr verknüpfte Auslegung des Alten Testaments vom Neuen Testament her — heiße sie nun Weissagungsbeweis, christologische, allegorische, typologische Deutung oder heilsgeschichtliche Betrachtung — eine Anmaßung gegenüber der lebendigen Wirksamkeit Gottes im alten Israel und eine Vergewaltigung des ursprünglich selbständigen Alten Testaments bedeutet. Dem müssen wir in der Prüfung der verschiedenen Verstehensweisen nachgehen. 1. Der Weissagungsbeweis dient nicht dem Verstehen des Alten Testaments allgemein oder in seiner Ganzheit. Er soll lediglich dem Nachweis dienen, daß Jesus von Nazaret entgegen dem äußeren Anschein doch der Messias ist. Freilich kann er genauso den Gegnern Jesu zum Nachweis des Gegenteils dienen. Schon das macht ihn unbrauchbar. Ferner wendet er sich nicht an den Glauben und an das Herz des Menschen, sondern an seine Einsicht, seinen Verstand und seine Spekulationsfähigkeit. Der Glaubende erfährt über Person und Werk Christi nichts, was er nicht schon aus der urchristlichen Tradition oder aus dem Neuen Testament wüßte. Außerdem hat in alttestamentlicher Zeit die Erwartung eines Messias nur eine geringe Rolle in Kreisen der nachexilischen Zeit gespielt, die eschatologisch dachten und in Treue zur früheren Dynastie einen davidischen Herrscher der Endzeit erhofften, daneben gelegentlich einen zweiten priesterlichen Messias (Sach 3 f.). Zu dieser Erwartung war in der Zeit Jesu die Menschensohn-Erwartung getreten, die völlig anderer Art ist. Der Weissagungsbeweis geht daher am Kern des Alten Testaments überhaupt vorbei. Ja, er ist meist exegetisch unmöglich, wie zwei Beispiele zeigen sollen9. a) Joh 19, 24 zitiert Ps 22, 19: „Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen über mein Gewand das Los." Der Psalm ist nicht messianisch, sondern das Gebet eines Kranken um Gottes Hilfe, die ihm — wie das Danklied in v. 23—31 zeigt — auch zuteil geworden ist. Da Jesus die Anfangsworte des Psalms am Kreuz gebetet hat, deutete man ihn messianisch und fand in v. 19 den Hinweis auf die römische Unsitte der Kleiderverteilung eines Hingerichteten. Leider verstand der Verfasser des Johannesevangeliums nichts von hebräischer Poesie und entnahm den parallelen Versgliedern von Ps 22, 19, die im hebräischen Text denselben Vorgang » Weitere Beispiele bei R. Bultmairn, Weissagung und Erfüllung, in: Probleme alttestamentlicher Hermeneutik, 1960, S. 28ff.

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meinen, zwei Handlungen: das Verteilen der Kleider und das Loswerfen über den Rock. Und da der zweite Vorgang begründet werden mußte, kam Joh 19, 23 zu dem ungenähten und daher unteilbaren Rock und trug infolge der messianischen Fehldeutung einen neuen Zug ins Evangelium ein. b) Die gleiche Beobachtung ergibt sich bei der Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem in Matth 21, 1—11. Da wird aus dem Esel von Sach 9, 9, auf dem der Friedenskönig reitet, durch das Nichtbeachten der Parallelität der Versglieder eine Eselin mit ihrem Füllen. Dagegen meint Sach 9, 9, das gewiß messianisch ist, nur ein einziges Tier. Der Weissagungsbeweis taugt nichts, er ist meist falsch und — für uns ganz belanglos. Wir sind keine Juden und erwarten keinen Messias. Wir brauchen den Umweg über diese Erwartung so wenig zu gehen wie denjenigen über das Gesetz. Daß damals bestimmte Kreise auf einen Messias warteten, ist eine historische Angelegenheit, nicht aber eine Glaubensfrage, die uns betrifft. Für uns geht es nicht darum, ob Christus der vom frühen Judentum ersehnte Messias war oder nicht, sondern ob er für uns und unsere Situation das Heil bedeutet. 2. Unbrauchbar ist auch die allegorisch-christologische Deutung. Gewöhnlich handelt es sich darum, daß man bei der Auslegung eines alttestamentlichen Textes an einer beliebigen Stelle auf ein Wort oder einen Gedanken stößt, bei dem sich eine Gedankenverbindung zu Christus herstellt. Ein solches Wort oder ein solcher Gedanke wird dann zum Schlüssel des ganzen Textes, der sich von da aus anscheinend neu erschließt und voll von mehr oder weniger offensichtlichen Anspielungen oder Hinweisen auf Christus zu sein scheint. Legt man dazu das Schema „WeissagungErfüllung" an, so sind alle Handhaben dafür gegeben, einen alttestamentlichen Text auf die gröbste Art zu mißhandeln und bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen, wie es von der alten Kirche an oft geschehen ist. Herder hat die allegorische Methode eigentlich unmöglich gemacht, indem er ihr eine ironische Nachahmung widmete und dabei Worte aus dem Hohenlied zitierte, denen er eine allegorische Erklärung hinzufügte: „Er hat mich in den Weinkeller geführt: erhaltet mich mit den Flaschen des geistlichen Weins im Sakramente. Fangt uns die Füchse, d. i. die Ketzer, so Christi Weinberge verderben, und die kleinen Füchse, d. i. die heimlichen Ketzer, so die Partikularkirchen verderben. Deine Zähne sind weiß, d. i. deine Lehrer sind einmütig und orthodox in Untersuchung der Ketzereien. Deine Lippen sind Purpurfäden, das Symbolum Nicaenum und Athanasianum. Dein Nabel wie ein runder Becher, ist der wiederhergestellte Kelch im Abendmahle, und dein Bauch wie

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ein Weizenhaufen, da die Irrtümer verworfen sind von Fegfeuer, Seelmessen und von Verdienst der Werke. Bis endlich die Töchter Jerusalems, d. i. das Chor der Theologen, singt: Unsre Schwester ist noch klein, die aus Gog und Magog hervorwachsende Kirche; noch hat sie keine Brüste, d. i. keine ordentlichen Lehrer. Wir wollen über sie bauen einen silbernen Palast für die Lehrer des Evangelii; denn dem himmlischen Salomo gebühren 1000 Silberlinge für den Weinberg, 200 den Hütern zum Gnadenlohne."10 3. Verbreiteter ist die typologische Deutung. Unter Typus versteht man eine Gestalt oder eine Begebenheit, die nicht um ihrer selbst willen gelebt oder sich ereignet haben, sondern deren Zweck und Wert darin bestehen, daß sie eine andere Größe — wieder eine Gestalt oder Begebenheit — andeuten, vorbilden oder weissagen. Sie haben also nicht um ihrer selbst willen Gewicht und Bedeutung, sondern um ihres Gegenbildes und ihrer Entsprechung willen. Obwohl man nun schwerlich sagen kann, daß alttestamentliche Gestalten oder Begebenheiten nicht um ihrer selbst willen da waren oder geschehen sind, sieht man doch im Alten Testament das Christusgeschehen typologisch vorgebildet, und zwar als Vorausbildung einer eschatologischen, unüberbietbaren Größe, die gegenüber dem Typus im Verhältnis der Steigerung oder der antithetischen Andersartigkeit steht. Wo immer im Alten Testament ein Handeln Gottes am Volk oder am Einzelmenschen bezeugt ist, besteht die Möglichkeit, in ihm eine Vorausschattung der neutestamentlichen Christusoffenbarung zu erblicken. Man kann die Typologie auch dahingehend einschränken, daß man von einer Strukturverwandtschaft in der Gotteserfahrung des Alten und Neuen Testaments oder einem Verhältnis der Analogie zwischen Altem und Neuem Testament spricht. Obwohl man in diesem Falle den Ausdruck Typologie besser gar nicht mehr verwenden sollte, ist es doch auch hier so, daß man als grundlegende Bestimmtheit des Alten Testaments seine Ausrichtung auf das Neue Testament hin, sein Gefälle zum Neuen Testament, seine Transparenz oder sein Offensein auf das Neue Testament hin postuliert. Doch gegen all dies melden sich schwere Bedenken. Im Alten Testament selbst spielt die Typologie keine Rolle 11 . Die dafür beigebrachten Belege, z. B. die Parallelisierung der erhofften Befreiung aus dem baby10

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J. G. Herder in: Herders Sämmtliche Werke, hrsg. B. Suphan, VIII 1892, S. 553 f. Dies ist gegenüber W. Eichrodt, Ist die typologische Exegese sachgemäße Exegese?, in: Probleme alttestamentlicher Hermeneutik, 1960, S. 208—226, festzuhalten, da er Typisches und Typologisches miteinander verwechselt.

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Ionischen Exil mit dem Exodus der Mosezeit durch Deuterojesaja, besagen etwas völlig anderes. Es handelt sich um Entsprechungsmotive, meist in der eschatologischen Prophetie, die die unbekannte und unvorstellbare Zukunft veranschaulichen und ausmalen sollen. Sie gehen davon aus, daß es gewiß typische Begebenheiten und ein sich wiederholendes Handeln Gottes gibt; aber typisch ist nicht typologisch. Denn in der Typologie wird gerade umgekehrt eine frühere Gestalt oder Begebenheit der Vergangenheit nachträglich und rückblickend auf etwas Gegenwärtiges und schon Bekanntes bezogen. Es handelt sich also um ein sehr gekünsteltes Verfahren, das ebenso wie die Allegorie eine besonders in der Spätantike übliche Art der Deutung alter Schriften war. Mit der Antike ist diese Methode vergangen und abgetan, so daß es einigermaßen verwunderlich scheint, daß sie bis heute ernsthaft vertreten wird. Immerhin benutzen wir keine spätantiken Öllämpchen mehr und betrachten einen Kranken nicht mehr als von Dämonen besessen. Tatsächlich ist es mit der Vorausschattung nicht immer zum besten bestellt. Das Neue Testament knüpft ja nicht an die alttestamentliche, sondern an die zeitgenössische jüdische Messias- oder Menschensohn-Erwartung an, so daß sich die alttestamentliche und neutestamentliche Auffassung durchaus nicht decken. Einerseits lehnt Jesus den politischen Gehalt der Messiashoffnung ab, den wir gerade im Alten Testament treffen. Andererseits trifft manche Vorausschattung, die man dem Alten Testament entnimmt, auf Jesus nicht zu. So bleibt es letzlich der Willkür und dem Einfallsreichtum des Exegeten überlassen, passende Typen und Antitypen zu entdecken. Nun könnte man sagen, daß der tiefere, auf Christus hinweisende Sinn der Worte des Alten Testaments den Menschen damals verborgen geblieben sei und erst nachträglich und rückblickend vom Neuen Testament aus erfaßt werden könne. Doch das bedeutete eine völlige Sinnentleerung des Alten Testaments. Was wäre das für ein Prophet, der nicht versteht, was er verkündet? Es wäre, als schriebe er, ohne selbst davon zu wissen, zwischen den Zeilen seiner Botschaft mit einer unsichtbaren Geheimschrift, die erst viele Jahrhunderte später mittels neuer chemischer Verfahren sichtbar gemacht werden könnte. Und was ist das für ein Gott, der zwar jahrhundertelang zu den Menschen spricht — aber so, daß er das Entscheidende absichtlich verhüllt und die auf ihn hörenden Menschen in die Irre führt? Die Qumrankommentare und die urchristliche Gemeinde konnten noch davon ausgehen, daß die Propheten um den vollen Gehalt ihrer Worte gar nicht wußten; heute kann man an dieser Voraussetzung nicht mehr festhalten. Die alttestamentliche Botschaft hat nicht den Zweck,

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geheimnisvoll auf etwas hinzuweisen, das erst späteren Eingeweihten einsichtig wäre, oder etwas anderes anzudeuten, das man wiederum schon kennen muß, um es erkennen zu können. Im Alten Testament ist ferner mit keinem Wort vorgegeben oder angedeutet, daß es überhaupt weitergeführt werden sollte oder müßte — geschweige denn, daß dies durch Christus und das Neue Testament zu geschehen hätte. Tatsächlich ist das Alte Testament unter anderem durch das Neue Testament weitergeführt worden. Doch heißt es die Dinge ins Gegenteil verkehren, wenn man dies schon im Alten Testament selbst angekündigt finden will. Es ist nicht vorausblickend angekündigt worden, sondern läßt sich nur rückblickend feststellen. Anderenfalls wäre das Alte Testament längst sachlich-theologisch überflüssig. Vorausbilder und Schatten sind nichts bleibend Gültiges, und der Chor der Erwartenden ist nach der Verwirklichung des Erwarteten überflüssig. Wenn im Neuen Testament Ziel und Erfüllung liegen — warum noch die Typen und Analogien, warum noch das Bilderbuch der schattenhaften Vorausdarstellung im Alten Testament? Die typologische Auslegung ist in Wirklichkeit einer der Feinde des Alten Testaments, indem sie ein unmittelbares Verhältnis zu ihm nur Israel oder der Menschheit vor Christus zuschreibt, indem sie seine Botschaft nicht in ihrem Selbstverständnis, sondern in einem von ihm her nicht gerechtfertigten Sinn darstellt und indem sie den modernen Menschen das Verstehen des Alten Testaments im historisch-kritischen Sinn und von da aus auch im theologischen Sinn eines Getroffenwerdens durch seine Botschaft unmöglich macht. Mit der typologischen Deutung oft verknüpft ist ein heilsgeschichtliches Verständnis des Alten Testaments, das weithin durch J. Chr. K. Hofmann bestimmt worden ist. Nach seiner Auffassung sind „Weissagung" nicht die Worte des Alten Testaments, sondern die Geschichte Israels, von der das Alte Testament zeugt. Es ist weissagende Geschichte, die in der Geschichte Christi und seiner Gemeinde ihre Erfüllung gefunden hat. „Weissagung" ist also nicht die Voraussage künftiger Begebenheiten, nach deren Eintreffen man Ausschau halten müßte, sondern die Geschichte selbst, sofern sie eine Bewegung ist, die auf ein Ziel hinführt und dieses Ziel ständig als Weissagung in sich trägt. Von der Erfüllung aus — also wieder rückblickend, in der Auslegung jedoch wieder als Vorausschau in die Geschichte hineingelesen — wird die Geschichte als Weissagung verständlich, indem der Sinn dieser Bewegung deutlich wird. Dieser Art der Interpretation Hofmanns und seiner Nachfolger, von Weissagung und Erfüllung zu sprechen, hat R. Bultmann mit Recht vorgehalten, daß sie

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eine durch Hegel beeinflußte Geschichtsphilosophie ist, die ihren christlichen Charakter nur dadurch gewinnt, daß Christus das Ziel der Geschichte ist12. Nicht Wellhausen, dem man dies gern vorwirft, sondern Hofmann war Hegelianer. Daher ermangelt sein Konzept der theologischen Relevanz. Wie steht es zudem mit der Heilsgeschichte im sog. deuteronomistischen Geschichtswerk, insbesondere in den Königsbüchern, in denen die Geschichte angeblich als ein Ablauf beschrieben wird, der durch fortgesetzt einfallendes Gotteswort in Bewegung gehalten und einem fortgesetzten Ziel zugeführt wird 13 ? Wie denn — ist der Untergang der beiden Staaten Israel und Juda ein von vornherein feststehendes gottgesetztes Ziel und der Weg dorthin eine Geschichte des Heils? Und wie steht es mit der Prophetie? Weist sie wirklich als Bezeugung des fortschreitenden Heilshandelns Gottes auf ein Ziel hin, das jenseits des Alten Testaments liegt14? Wo soll es denn liegen? Im frühen Judentum, dessen Schriften aus der Heilsgeschichte so gern ausgeklammert werden? Warum in Christus? Sind es nicht wieder die wenigen messianischen Verheißungen einiger nachexilischer eschatologischer Propheten, die zu dieser Annahme verführen? Denn aus der durchaus nicht-eschatologischen Unheilsdrohung und Umkehrforderung eines Amos, Jesaja und Micha oder der ebenso nichteschatologischen Erlösungsbotschaft des späten Hosea, Jeremía und Ezechiel läßt sich nichts dergleichen entnehmen. Tatsächlich handelt es sich in der heilsgeschichtlichen Konzeption um nicht mehr als um eine sehr hypothetische Konzeption, die der Geschichte nachträglich auferlegt wird und die trotz der Ablehnung evolutionistischer Gedankengänge entwicklungsgeschichtlich bestimmt ist. Wohl kann man aufgrund des Alten Testaments von einem zielstrebigen Handeln Gottes sprechen, das z. B. für die älteren Quellenschichten des Hexateuchs mit der Landnahme Israels, für die Priesterschrift mit der Setzung der endgültigen sakralen Ordnungen und für die Eschatologie gerade mit einem geschichtslosen Zustand endet. Diesem zielstrebigen Handeln mit einem jeweils begrenzten positiven Ziel steht jedoch ein ebensolches Handeln mit eindeutig negativen Ergebnissen gegenüber, z. B. im deuteronomischen

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Vgl. die Charakteristik von R. Bultmann a. a. O. S. 35f. So G. von Rad, Das Alte Testament ist ein Geschichtsbuch, in: Probleme alttestamentlicher Hermeneutik, 1960, S. 13. E. Jenni, Die alttestamemtliche Prophetie, 1962, S. 25.

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Urteil über die Königszeit und im prophetischen Urteil über die Geschichte Israels, oder sogar ein Handeln mit negativem Ziel, ζ. B. dem angedrohten Vernichtungsgericht über Israel in einem großen Teil der Prophetie. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, daß die Konzeption der Heilsgeschichte nicht nur durch die Nichtbeachtung der Geschichte des frühen Judentums, sondern auch und vor allem durch die großen Differenzen in Frage gestellt wird, die zwischen der Vorstellung der alttestamentlichen Erzähler und Schriftsteller von der Geschichte und ihrem tatsächlichen Verlauf bestehen. Dies gilt ebenso von der Frühgeschichte Israels von den Patriarchen bis zur Landnahme wie von dem Gesamtüberblick, den das chronistische Geschichtswerk geben will. Es hat gewiß seine guten Gründe, daß das Alte Testament Geschichte gerade so erzählt, wie es der Fall ist, daß es nicht Historie berichtet, sondern geschichtliche Begebenheiten und theologische Deutung untrennbar miteinander verbindet und Geschichte eigentlich wegen der mit der Darstellung gegebenen Deutung erzählt. Eben dies macht es jedoch unmöglich, eine Heilsgeschichte zu konstruieren. Eine solche Heilsgeschichte könnte sich nur auf dem konstruierten Geschichtsablauf der alttestamentlichen Erzählungen mit der eingeschlossenen theologischen Deutung, nicht auf dem tatsächlichen Geschichtsablauf aufbauen. Sie wäre daher eine letzten Endes verlogene Theologie, die auf einer Geschichte des „als ob" aufbaut — als ob die Geschichte so verlaufen sei, wie die Erzählungen es darstellen. So vermag auch die heilsgeschichtliche Konzeption zum Verstehen des Alten Testaments nichts beizutragen. 4. Läßt sich überhaupt eine Verbindung zwischen der alttestamentlichen Messiaserwartung und Jesus Christus herstellen? Das Problem, um das es geht, stellt sich durch das dem Namen Jesus beigefügte Wort „Christus". Obwohl dieses Wort bald wie ein persönlicher Name betrachtet worden ist, stellt es in Wirklichkeit die griechische Übersetzung des Wortes „Messias" dar, so daß Jesus Christus eigentlich „Jesus Messias" oder „Messias Jesus" heißt. Der Ausdruck „Messias" gibt das aramäische Wort rrfsiha' wieder, und dieses Wort geht auf das hebräische Wort masi"h „Gesalbter" zurück. Der Ausdruck beschreibt eine für das frühe Judentum und das Christentum bedeutsame Vorstellung. In der Zeit Jesu erwartete ein Teil des Judentums einen solchen Gesalbten oder Messias. Und nach den Evangelien gehörte es zur Botschaft Jesu und zur Verkündigung der Apostel, daß Jesus dieser erwartete Messias sei. Zur Begründung des damit erhobenen Anspruchs wird auf Worte des Alten Testaments verwiesen; denn die neu testamentliche Auffassung er2

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blickt bekanntlich in vielen Aussagen des Alten Testaments Verheißungen des kommenden Erlösers, die man daher messianische Verheißungen nennt. Die Hoffnung auf einen „Heiland", einen Heilbringer, zieht sich nach dieser Auffassung vom sog. Protevangelium in Gen 3, 15 durch das ganze Alte Testament hindurch; besonders die Propheten sollen den künftigen Erlöser angekündigt haben. Jesus von Nazaret ist sodann die Erfüllung der alttestamentlichen Verheißungen des Messias. Auf seine Person und sein Werk weist das Alte Testament hin; deswegen muß es wiederum von ihm her verstanden und gedeutet werden. Wie verhält es sich nun mit der alttestamentlichen Messiaserwartung? Trägt sie etwas zur Christologie und von da aus wieder rückwirkend zum Gesamtverständnis des Alten Testaments bei? a) Grundlegend ist die Zeit der eschatologischen Prophetie in der spätexilischen und nachexilischen Zeit. Diese eschatologische Prophetie vertrat zwei verschiedene Auffassungen darüber, wer in der erwarteten Heilszeit die Herrschaft auf Erden ausüben werde. Einige Propheten glaubten, daß Gott selbst als König herrschen und auf diese Weise die Gottesherrschaft vollenden werde; von Deuterojesaja an weisen zahlreiche Aussagen darauf hin. Andere dagegen nahmen an, daß an Stelle Gottes ein von ihm eingesetzter menschlicher König als sein Vertreter und Statthalter regieren werde. Eben diesen Herrscher pflegt man als Messias zu bezeichnen, wenn auch das Alte Testament diesen Titel nirgendwo für die später so bezeichnete Gestalt verwendet. Zu den messianischen Verheißungen, die den künftigen Herrscher ankündigen, gehört zunächst Jes 9, 1—6, ein Wort, das von dem Kind und Sohn auf dem Throne Davids mit den Thronnamen „wunderbarer Ratgeber, göttlicher Held, Beutebesitzer, Friedenswahrer" spricht. Jes 11, 1—9 nennt das Reis aus dem Wurzelstock Isais, d. h. der davidischen Dynastie, und seine Friedensherrschaft. Ähnlich sprechen Jes 11, 10 und 16, 5 von einem Sproß aus der Wurzel Isais bzw. von einem gerechten Herrscher und Richter, der mit David in Verbindung gebracht wird. Auch Jer 23, 5—6 (33, 15 f.) erwähnt einen Sproß Davids, der in Recht und Gerechtigkeit regieren wird. Ez 17, 22—24 verwendet dafür das Bild vom Schößling des Zedernwipfels. Mi 5, 1—3 spielt mit der Erwähnung Betlehems auf die Heimat der Davididen an, aus der der messianische Herrscher kommen wird. Hag 2, 20—23 bezeichnet Serubbabel, den davidischen Kommissar der Perser in Jerusalem, als den demnächstigen Messias, ebenso Sach 6, 9—15 in der symbolischen Krönungshandlung, die sich entgegen dem jetzigen umgestalteten Text ursprünglich auf Serubbabel bezogen hat. Da-

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neben wird in Sach 4 die Messiaswürde auf einen weltlichen und einen geistlichen Würdenträger verteilt: auf den Politiker Serubbabel und den Hohenpriester Josua. Schließlich handelt Sach 9, 9—10 von dem fürstlichen Einzug des Messiaskönigs in Jerusalem. Damit sind die überlieferten messianischen Verheißungen erfaßt. Andere Texte sind im Lauf der Zeit fälschlich messianisch gedeutet worden und besagen in Wirklichkeit etwas anderes. Dazu gehört vor allem Gen 3, 15 im Zusammenhang der Fluchworte über die schuldig gewordenen Menschen, das von der für immer zwischen Mensch und Schlange herrschenden Feindschaft spricht, die dazu führt, daß beide einander zu töten suchen. Ebensowenig ist die Ankündigung des Immanuel in Jes 7, 14 eine messianische Verheißung. Abgesehen davon, daß das von der Septuaginta mit „Jungfrau" übersetzte Wort im Hebräischen die „junge Frau" bezeichnet, so daß im hebräischen Text keineswegs von einer Jungfrauengeburt die Rede ist, stellt das von Jesaja angekündigte Zeichen nach dem ganzen Zusammenhang eine Unheilsdrohung und keine Verheißung dar. Andere alttestamentliche Worte, die manchmal messianisch gedeutet werden, beziehen sich in Wirklichkeit auf den regierenden oder auf einen von neuem erhofften König. Insgesamt enthält das Alte Testament nicht mehr als elf — oder bei Berücksichtigung des zweimaligen Vorkommens im Buch Jeremía zwölf — messianische Verheißungen. Diese geringe Zahl macht von vornherein deutlich, daß die Messiasvorstellung nicht im Mittelpunkt der eschatologischen Prophetie stand. Zudem rühren nur wenige Verheißungen von den Propheten her, in deren Büchern sie sich finden. Nur diejenigen in Hag 2; Sach 4 und 6 lassen sich von diesen beiden Propheten herleiten. Alle anderen stammen von unbekannten Propheten der nachexilischen Zeit aus dem 5. oder 4. Jh. v. Chr. Der spätere Titel „Messias", den man dem erwarteten Herrscher beigelegt hat, ist insofern treffend gewählt worden, als er die verkürzte Form der hebräischen Bezeichnung mesîah jhwh „Gesalbter Jahwes" bildet, die ursprünglich dem regierenden König zukam. Der Titel kennzeichnet die eschatologische Gestalt also ebenfalls als einen König. Es ist freilich zu beachten, daß der Perserkönig Kyros ebenso genannt wurde (Jes 45, 1) und daß man später von der Salbung des Hohenpriesters, der Priester, der Propheten und sogar der Patriarchen gesprochen hat. Demnach scheint die Bezeichnung in der späteren Zeit auszudrücken, daß ein Mensch mittels der Salbung in eine engere Beziehung zu Gott gesetzt werden soll, als es gewöhnlich der Fall ist. Daraus folgt, daß der Titel „Messias" den 2»

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eschatologischen Herrscher als einen bezeichnet, der in einem besonders engen Verhältnis zu Gott steht. Die Erwartung eines solchen Messias ist in der nachexilischen Zeit entstanden, als nach dem Untergang Judas und der Absetzung der davidischen Dynastie, nach dem babylonischen Exil und der Befreiung daraus sich in Juda unter persischer Oberhoheit eine neue Gemeinde gebildet hatte, die eschatologische Prophetie aber die ewige Heilszeit als verwirklichte Gottesherrschaft verhieß — eine Herrschaft, die sich vor allem in einem neuen israelitischen Reich auf dem Boden Palästinas abspielen sollte. Volk und Reich aber bedurften nach damaliger Auffassung eines Herrschers. Der eigentliche Herrscher würde zweifellos Gott selbst sein. Doch wo man der Ansicht war, daß er nicht leibhaftig auf Erden erscheinen und regieren könne, erwartete man, daß er einen irdischen Stellvertreter einsetzen werde, der für ihn und in seinem Auftrag regiert. Eben dies ist der Messias: der künftige König der eschatologischen Heilszeit, der die Regierung als Jahwes Stellvertreter auf Erden ausübt. Er ist der Herrscher in dem kommenden nationalen und religiösen Reich, das Gott eines Tages auf wunderbare Weise errichten wird. Die Messiaserwartung, so läßt sich daraus schließen, ist dort entstanden und hat dort eine Rolle gespielt, wo man erstens eschatologisch dachte und glaubte und wo man zweitens zugleich davidisch-königstreu war und daher einen solchen endzeitlichen Herrscher aus der abgesetzten davidischen Dynastie erwartete. Daß diese Vorstellung so selten begegnet, hat seinen Grund darin, daß solche Kreise, auf die diese beiden Bedingungen zutrafen, zahlenmäßig klein waren und keinen nachhaltigen Einfluß besaßen. Der Person nach ist der Messias durchweg ein sterblicher Angehöriger der abgesetzten davidischen Dynastie. Haggai und Sacharja, bei denen diese Erwartung erstmalig begegnet, denken an den in Jerusalem lebenden Enkel des Königs Jojachin: Serubbabel. Als diese Erwartung scheiterte, legte man sich nicht mehr auf eine bestimmte Person fest, sondern sprach allgemein von einem Sprößling oder Wurzelschoß aus dem Stumpf Isais, von einem Abkömmling der alten betlehemitischen Linie der früheren davidischen Dynastie. Der Messias ist also kein übernatürliches Wesen, das auf die Erde herabkommt. Er ist ein Mensch wie andere. Von diesen anderen unterscheidet er sich lediglich dadurch, daß er zu Gott als dessen Stellvertreter in einer besonders engen Beziehung steht und daß er der früheren Dynastie entstammt. Seine Aufgabe besteht nach den alttestamentlichen Aussagen darin, daß er als ein gerechter König regieren wird. Von der Ausnahme des zweiten

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priesterlichen Messias bei Sacharja abgesehen, der später in den Qumrantexten erneut erwähnt wird, hat man diesem Messias von Anfang an politische Aufgaben und politische Bedeutung im weitesten Sinn des Wortes zugeschrieben. Er ist eine eschatologisch-politische Gestalt. Für die alttestamentliche Erwartung bringt er also nicht das Heil und ist kein Heiland. Das künftige Heil wird nach allen alttestamentlichen Aussagen von Gott selbst geschenkt. Die Aufgabe des Messias besteht konkret darin, daß er Volk und Land als kriegerischer Held gegen alle Angriffe verteidigt, den steten Frieden sichert und Glück und Wohlergehen, Ruhe und Sicherheit, Ordnung und Brüderlichkeit schafft. In alledem ist er der irdische Herrscher der Heilszeit. b) Das Neue Testament knüpft nicht unmittelbar an die alttestamentliche Erwartung, sondern an die weiterentwickelte, zeitgenössische jüdische Messiaserwartung an; dem entspricht es, daß alttestamentliche und neutestamentliche Auffassung vom Messias sich nicht decken. Zwar erwartete auch das Frühjudentum einen nationalen, politischen und diesseitigen Messias. Aber er unterscheidet sich von der alttestamentlichen Gestalt vor allem dadurch, daß die Erwartung viel partikularistischer auf das Judentum bezogen und daß der Messias als Heilbringer und Heiland erwartet wird. Eben diesen nationalen Messiasgedanken hat Jesus abgelehnt; doch auch manches, was vom alttestamentlichen Messias ausgesagt wird, trifft auf die Verkündigung Jesu und das Neue Testament nicht zu. Daneben findet sich im Frühjudentum die Erwartung einer anderen, über- und anderweltlichen, universalen Gestalt. Dies ist der „Menschensohn". Anscheinend hat der Verfasser von Dan 7 um 165 v. Chr. von einer derartigen Erwartung gewußt, den „Menschensohn" jedoch auf Israel umgedeutet. Daher gehen die Menschensohn-Vorstellungen der folgenden jüdischen Apokalyptik nicht auf eine messianische Umdeutung von Dan 7 zurück, sondern auf eine ältere Vorstellung, die anscheinend in Dan 7 bereits einmal umgedeutet worden war. Dieser Menschensohn scheint nach den geläufigen Vorstellungen von göttlicher, engelhafter Art zu sein, verborgen bei Gott bis zu seiner Erscheinung auf Erden, umgeben von einer himmlischen Gemeinde von Gerechten und Auserwählten. Diese Erwartung stammt freilich nicht aus dem Bereich alttestamentlicher Vorstellungen. Eher scheint sie eine Abwandlung der altorientalisch-mythischen Vorstellung vom göttlichen Urmenschen zu sein15. Diese Vorstellung ist kos15

Vgl. die überzeugende Beweisführung von S. Mowinckel, He that Cometh,

19592.

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mischer Art, der Urmensch der Kosmos selbst in menschlicher Form gedacht, der Menschensohn-Messias daher ein präexistentes Wesen, das als Paradieskönig ein neues, goldenes Zeitalter mit paradiesischem Glück bringen wird. Darin spricht sich die Hoffnung auf einen Heiland aus, der mehr als der national-politische Messias vermag und den Sieg der göttlichen Macht über die Gewalten der Welt, über Sünde und Tod bringt und der den Sieg der Gottesherrschaft auf Erden erringt. Von daher ist es verständlich, daß die Evangelien den Gedanken vom Menschensohn aufnahmen und verwendeten. Wie seinerzeit das Judentum den Urmensch-Mythos übernommen und in neuer Deutung verwendet hat, um seine Hoffnungen auszudrücken, so übernahmen die Evangelien den im Judentum aus dem Urmensch-Mythos erdeuteten MenschensohnGedanken, um dem Judentum klar zu machen, daß diese seine Hoffnungen in der Person Jesu verwirklicht seien. Was ergibt sich aus alledem? Entgegen einer verbreiteten Auffassung ist festzustellen, daß der Messias im Alten Testament keineswegs im Mittelpunkt steht, nicht einmal in der eschatologischen Prophetie, und daß er auch in den Heilserwartungen nur eine untergeordnete Rolle spielt. Es verhält sich nicht so, daß die Messiaserwartung die Krönung der alttestamentlichen Theologie darstellt; vielmehr ist sie nur in bestimmten Kreisen lebendig gewesen und hat auch in ihnen nicht den Mittelpunkt, sondern lediglich einen Nebenzug gebildet. Der Messiasgedanke wurde in solchen Kreisen vertreten, deren Glaube eschatologisch und deren allgemeine Haltung durch die Treue zur früheren davidischen Dynastie bestimmt war. Ihre geistige Stütze besaßen sie in den Nachfolgern jener heilverheißenden Kultpropheten, die von den großen Einzelpropheten der vorexilischen Zeit schroff bekämpft und abgelehnt, teilweise sogar als falsche Propheten bezeichnet worden waren. An diesen Zusammenhängen gemessen, stellt sich der alttestamentliche Messiasgedanke als ein fragwürdiges politisch-theologisches Gebilde dar. Daher wäre es falsch, das Alte Testament messianisch zu deuten und die Messiaserwartung als das Bindeglied zwischen dem Alten und Neuen Testament zu betrachten. 5. Unter den Sprüchen Deuterojesajas finden sich einige, die sich in besonderer Weise auf einen „Knecht Jahwes" beziehen und die nicht organisch mit ihrer Umgebung verknüpft sind, sondern eine eigene Gruppe bilden, die thematisch zusammengehört. Die beiden Sprüche in Jes 42, 1—4 und 42, 5—7 legen in der Form eines Gotteswortes den Auftrag und das Wirken des Knechtes fest. In zwei weiteren Sprüchen, die im Ich-Stil des menschlichen Sprechers gehalten sind, 49, 1—6 und 50, 4—9,

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spricht der Knecht von seinen inneren Zweifeln und Kämpfen, wie es auch in den Konfessionen oder Klageliedern Jeremias geschieht. Den Anlaß dafür haben offensichtlich die Erfolglosigkeit und Anfeindung, ja sogar die Bedrohung und Verfolgung des Knechtes geliefert. Die beiden letzten Sprüche 50, 10—11 und 52, 13—53, 12 blicken auf das abgeschlossene Leben und Wirken des Knechtes zurück und setzen seine Hinrichtung nach einem Gerichtsverfahren voraus. Sie unterscheiden sich auch stilistisch von den anderen Sprüchen, die deutlich vom Stil Deuterojesajas geprägt sind. Daher stammen die beiden letzten Sprüche wohl von anderen und verschiedenen Verfassern, die zu einer jeweils neuen Deutung des Lebens, Leidens und Sterbens des Knechtes gelangt sind. Wer ist dieser „Knecht Jahwes"? Diese Frage hat die unterschiedlichsten Antworten gefunden, seitdem der Kämmerer den Philippus fragte: „Von wem redet der Prophet solches, von sich selber oder von jemand anders?" Ja, die Frage ist wohl noch älter. Einerseits ist in Jes 49, 3 nachträglich das Wort „Israel" eingefügt worden, so daß man den Knecht mit Israel gleichsetzen wollte. Demgegenüber beschreibt der Prophet von Jes 61 seine Tätigkeit mit Ausdrücken der Knecht-Jahwe-Sprüche (61, 1—2) und hat den Knecht offensichtlich als einen Propheten betrachtet; Sir 48, 10 setzt den Knecht mit Elia gleich, so daß er ebenfalls als Prophet verstanden wird. Diese Auffassung scheint nach allen bisherigen Erwägungen am wahrscheinlichsten zu sein. Dafür sprechen auch Jes 49, 5—6 und 50, 4—5, die sich nur auf einen Einzelmenschen und zwar auf einen Propheten beziehen können. Wenn aber der „Knecht Jahwes" ein Prophet war, dann Deuterojesaja selbst, der in den beiden ersten Sprüchen sein prophetisches Selbstverständnis entwickelt und in den beiden folgenden Sprüchen wie in einer Art prophetischen Testaments den Sinn seiner Aufgabe und seines Lebens festzuhalten sucht. Die beiden letzten Sprüche — also auch Jes 52, 13—53, 12 — stammen aus dem Kreise seiner Anhänger, die sein scheinbares Scheitern neu durchdacht haben und zu eigenen Deutungen seines Leidens und Sterbens gelangt sind. a) Der Abschnitt Jes 52, 13—53, 1216 ist in poetischer Form gehalten und gliedert sich in sechs Strophen, von denen jede fünf Langverse enthält. Die erste und die letzte Strophe, die den Rahmen bilden, sind als Gottesworte formuliert, die von ihnen umrahmten Strophen dagegen wer16

Für die Einzelheiten vgl. G. Fohrer, Stellvertretung und Schuldopfer in Jesaja 52, 13 - 53, 12 vor dem Hintergrund des Alten Testaments und des Alten Orients, in: Das Kreuz Jesu, 1969, S. 7—31.

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Interpretationsweisen des Alten Testaments

den einer Mehrzahl von Israeliten, einem Wir, in den Mund gelegt und sind in der Art eines Dankliedes gehalten. Inhaltlich ist der Spruch folgendermaßen aufgebaut: die 1. Strophe enthält ein einleitendes Gotteswort über den Erfolg des Knechtes, die 2.—3. Strophe (erster Teil des ,,Wir"-Wortes) reden vom Leben und Leiden des Knechtes, die 4.—5. Strophe (zweiter Teil des ,,Wir"-Wortes) vom Leiden und Sterben des Knechtes, die 6. Strophe bildet ein zusammenfassendes Gotteswort. Stellt man die Aussagen über Leiden und Sterben, Stellvertretung und Sühnetod des „Knechtes Jahwes" zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: 1. Allgemeine Aussagen über das Leiden (in den Rahmenstrophen): Sein Aussehen war nicht mehr menschlich, seine Erscheinung nicht mehr menschenähnlich. Die Mühsal seines Lebens wird betont. Sein Leiden.

2. Aussagen über das Leiden im Leben des Knechtes und seine Bedeutung (2.—4. Strophe): Wie eine Wurzel aus trockenem Erdreich. Keine schöne Erscheinung, ohne liebliches Aussehen. Verachtet, von Menschen gemieden, ein Mann der Schmerzen, vertraut mit Krankheit. Wie einer, vor dem man das Antlitz verhüllt. Verachtet, so daß er nicht geschätzt wurde. Wir hielten ihn für gezeichnet, von Gott geschlagen und erniedrigt. Er ward bedrängt und war gebeugt. Dazu treten andere Aussagen: Er trug unsere Krankheiten und lud sich unsere Schmerzen auf. Er war durchbohrt ob unserer Auflehnung, zerschlagen wegen unserer Vergehen. Er ward zu unserem Heil gezüchtigt, durch seine Wunde wurden wir geheilt. Jahwe hat ihn unser aller Verschuldung treffen lassen.

3. Aussagen über das Leiden im Sterben des Knechtes (4.—5. Strophe): Aus Haft und Urteil abgeführt. Abgeschieden aus dem Land der Lebenden. Zu Tod getroffen. Sein Grab bei Frevlern, seine Grabstätte bei Übeltätern.

4. Aussagen über den Hintergrund des Todes (5. Strophe): Jahwe gefiel es, ihn zu schlagen, als er sein Leben als Schuldopfer hingab.

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5. Zusammenfassende Aussagen über die Stellvertretung, ohne daß zwischen Leben und Tod unterschieden wird (6. Strophe): Er schafft durch sein Leiden vielen Heil und lädt ihr Vergehen auf sich. Er hat sich preisgegeben und ließ sich zu den Empörern rechnen. Er trug die Sünde der Vielen und trat für die Empörer ein. An diesem Überblick fallen vor allem drei Besonderheiten auf: Die Aussagen über die Stellvertretung begegnen zunächst nur in Verbindung mit dem Leiden im Leben des Knechtes, dagegen nicht in Verbindung mit dem Leiden im Sterben. Hier wird deutlich im Text unterschieden. So verhält es sich jedenfalls in den Worten der „Wir". Erst das abschließende Gotteswort in der 6. Strophe spricht allgemein von Stellvertretung, ohne zwischen Leben und Sterben zu unterscheiden. Es wäre von da aus möglich, die Stellvertretung auch auf das Sterben zu beziehen. Doch ist diese Möglichkeit eher zu verneinen, weil die abschließende Strophe keine neuen Verbindungen schaffen, sondern die vorher genannten bekräftigen will. Daher ist wohl zu sagen: Im Text ist die Rede vom stellvertretenden Leiden im Leben des Knechtes, dagegen nicht von einem stellvertretenden Leiden im Sterben. Die Vorstellung von der Stellvertretung wird allein mit dem Leiden im Leben in Verbindung gebracht. Das Leiden im Sterben verbinden die „Wir" nicht mit der Vorstellung von der Stellvertretung, sondern bezeichnen die Hingabe des Lebens als Schuldopfer Casam). So tritt neben die Vorstellung von der Stellvertretung durch das Leiden im Leben die Vorstellung vom Opfer im Tode. Mit dem Leben wird der Stellvertretungsgedanke, mit dem Sterben der Opfergedanke verbunden. Stellvertretung und Opfer des Lebens werden teils als freiwilliges Tun des Knechtes, teils als ein Handeln Gottes bezeichnet. Das widerspricht sich allerdings nicht, da im Alten Testament öfters ein Geschehen in solcher zweifachen Weise charakterisiert werden kann. Die menschliche Tat geschieht sowohl freiwillig als auch von Gott gewollt. b) Was läßt sich über den Stellvertretungsgedanken sagen? Man hat immer wieder versucht, auf altorientalische Wurzeln zurückzugreifen und in den babylonischen Riten eines Ersatzkönigs eine Parallele zu finden. Eine neue Untersuchung von hetitologischer Seite scheint allerdings diese Versuche endgültig als untauglich erwiesen zu haben 17 . Die babylonischen

17

H. M. Kümmel, Ersatzkönig und Sündenbock, ZAW 80 (1968), S. 289—318.

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und hetitischen Rituale des Ersatzkönigs gehören in völlig andere Zusammenhänge und lassen sich nicht heranziehen. Letztlich muß man sagen, daß Jes 52, 15 die Lage richtig gesehen hat: Was in dem Knecht-JahweSpruch gesagt wird, ist Nieerzähltes und Niegehörtes! Es bestehen keine wirkliche Parallele und kein Vorbild für die Vorstellung von der Stellvertretung durch das Leiden im Leben des Knechts. Dieser Gedanke ist von den Verfassern von Jes 53 offenbar erstmalig und — wenn man von der Anspielung auf Mose in Ex 32, 32 absieht — einmalig geäußert worden. Um so wichtiger wird die Frage nach den Vorstellungen, die damit verbunden sind. Da muß zunächst erwähnt werden, daß sowohl die falsche Deutung des Leidens im Leben des Knechtes, die zurückgewiesen wird — daß es sich nämlich um eine Strafe für seine eigene Sünde gehandelt habe —, als auch die neue Deutung, die vorgetragen wird — daß nämlich der Knecht die von den anderen Menschen verwirkte Strafe trage —, von der Voraussetzung des Vergeltungsglaubens ausgehen, daß alles Leiden als eine von Gott verhängte Strafe für menschliche Sünde gelten müsse. Dieser Glaube, der von der deuteronomischen Theologie an begegnet und später zu einer religiösen Lehre ausgebaut wurde, die teilweise sogar mit Sünden der werdenden Kinder im Mutterleib rechnete, um angeborene Mißbildungen zu erklären, wird im Alten Testament ebenso lebhaft vertreten wie leidenschaftlich bekämpft. Den wohl kräftigsten Protest erhebt bekanntlich das Buch Hiob in den Reden Hiobs. Die Stellvertretungsvorstellung dagegen geht unbefangen vom Vergeltungsglauben aus und wendet ihn in eigener Weise an: Da der Knecht sündlos war und deswegen nicht für seine eigene Sünde leiden mußte, jedoch wirklich gelitten hat, ergibt sich der Schluß, daß er für fremde Sünde gelitten hat. Denn gelitten hat er. Leiden bedeutet, daß auf ihn wegen der Sünde eine Strafe gelegt wurde. Wenn es nicht seine eigene Sünde war, deretwegen die Strafe ihn traf, dann muß es die Sünde anderer gewesen sein. Und da er sich gegen dieses Leiden nicht gewehrt und dagegen nicht protestiert hat, ist ferner zu schließen, daß er es freiwillig auf sich genommen hat, um den anderen zu helfen. Außer dem Vergeltungsglauben ist ein weiterer Gedanke mit der Stellvertretungsvorstellung verbunden: die Vorstellung von Tausch und Übertragung. Der Knecht hat mit den anderen getauscht. Er hat ihre Strafleiden übernommen, so daß sie abgebüßt sind und die Sünde damit geahndet und erloschen ist. Die anderen übernehmen umgekehrt seine Sünd- und Straflosigkeit. Das ist möglich, weil der Knecht sündlos und daher nicht strafverfallen war, weil er das Strafleiden der anderen freiwillig und bewußt in Stellvertretung für sie auf sich genommen hat und weil er

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das Leiden geduldig und ergebungsvoll getragen hat, ohne sich dagegen aufzulehnen. c) Der Schuldopfergedanke oder die Vorstellung von der Hingabe des Lebens als Schuldopfer. Das in Jes 53, 10 verwendete Wort 'asam ist mehrdeutig, weil es in einzelnen Fällen „Verschuldung", einmal „Schuldbetrag" und einmal „Entschädigung" bedeutet. In den weitaus meisten Fällen bezeichnet es jedoch das „Schuldopfer". Diese Bezeichnung scheint in Jes 53,10 am besten dem Zusammenhang zu entsprechen; auch der dem Opferkultus entstammende Ausdruck „es gefiel Jahwe, ihn zu schlagen" weist auf den kultischen Gebrauch hin. Das Schuldopfer, das zu den Opferarten Israels gehörte18, diente weder als Gabe oder Dank noch zur Herstellung der Gemeinschaft oder zur Unterstützung einer Bitte noch zur Beschwichtigung des göttlichen Zorns wie andere Opferarten, sondern sollte Sühne bewirken. Es wurde wenigstens seit der ausgehenden vorexilischen Zeit dargebracht; in der nachexilischen Zeit ist es durch das Sündopfer verdrängt worden. Zur Zeit Deuterojesajas war es also bekannt. Seiner Bestimmung nach handelte es sich um das Opfer eines Einzelmenschen, der es durch den Priester darbringen ließ, wenn er sich unwissentlich gegen eines der göttlichen Gebote vergangen hatte. Der Blutritus, nach dem das Blut des Opfertieres ringsherum an den Altar gesprengt wurde, war dabei der wichtigste Akt der Opferhandlung. Auch das Blut des Knechtes Jahwes war ja bei seiner Hinrichtung vergossen worden und diese Hinrichtung wird Jes 53,10 mit der Opferhandlung gleichgesetzt. Der Knecht war das Opfertier, das Gott als der amtierende Priester „schlug", d. h. schlachtete, da ihm dies „gefiel", d. h. da er den Knecht als opferwürdig annahm. Für wen aber wurde dieses Opfer dargebracht? Was mußte gesühnt werden? Gewöhnlich sagt man: Das Opfer geschah für die anderen Menschen zur Sühnung ihrer Sünden. Doch dagegen spricht: 1. daß durch das stellvertretende Leiden im Leben des Knechtes die Strafe schon abgebüßt und damit die Sünde beseitigt war und 2. daß es sich um ein Opfer zugunsten eines Einzelmenschen und nicht um ein Opfer zugunsten einer Mehrzahl von Menschen handelt. Daher muß man annehmen, daß das Opfer für den Knecht Jahwes selbst dargebracht wurde und dargebracht werden mußte zur Sühnung seiner möglicherweise unwissentlich begangenen Ver18

Vgl. dazu R. Rendtorff, Studien zur Geschichte des Opfers im alten Israel,

1967.

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gehen gegen ein göttliches Gebot. Der Knecht wurde nicht nur als Opfer dargebracht, sondern dieses Opfer erfolgte auch zu seinen Gunsten. Das dürfte der hintergründigen theologischen Argumentation mit dem Stellvertretungsgedanken durchaus entsprechen. Die Wirkung des stellvertretenden Leidens im Leben des Knechtes setzte ja voraus, daß dieser sündlos war. War es nicht der Fall, so wäre sein Leiden vergeblich gewesen und hätte nichts bewirkt. Da er aber unwissentlich gegen ein göttliches Gebot gesündigt haben konnte, mußte vorsorglich ein Schuldopfer dargebracht werden — in diesem Falle der Knecht selbst, wie es der umfassenden Stellvertretung entsprach. Sein Tod als Schuldopfer diente der unverbrüchlichen Sicherung dessen, was das stellvertretende Leiden im Leben bewirkte. Der Tod des Propheten — so meinen die Verfasser von Jes 53 — war gewiß ein Opferund Sühnetod, jedoch nicht zugunsten anderer Menschen, sondern zunächst zugunsten des Propheten selbst, damit die Wirkung seines stellvertretenden Leidens im Leben gegen Nichtigkeit geschützt werden sollte. d) Welche Folgerungen ergeben sich daraus? Jes 52, 13—53,12 ist für den Christen dadurch wichtig geworden19, daß das Neue Testament mehrfach daraus zitiert oder es inhaltlich heranzieht, daß seine Aussagen auf das Leiden und Sterben Jesu bezogen werden, ja daß Apg 8 den Text als Weissagung auf Jesus Christus deutet (allerdings nicht vom hebräischen Text, sondern von der griechischen Übersetzung aus). Aber der alttestamentliche Spruch bezieht sich auf einen „Knecht Jahwes", der zur Zeit der Abfassung von Jes 53 bereits gelitten und den Tod gefunden hatte. Leiden und Tod werden nicht angekündigt, sondern vorausgesetzt. Alles ist bereits geschehen. Es handelt sich also nicht um eine Ankündigung oder Verheißung. Darüber hinaus ist zu sagen: Weder entspricht das stellvertretende Leiden im Leben des Knechtes dem stellvertretenden Leiden im Tode Jesu, noch entspricht das Schuldopfer des Knechtes wegen möglicher unwissentlich begangener Vergehen der neutestamentlichen Auffassung des Opfertodes Jesu für die anderen. Man kann höchstens sagen: Aussagen des Neuen Testaments verstehen Leiden und Tod Jesu nach einer bestimmten Deutung, die dem ursprünglichen Sinn des Textes nicht gerecht wird. Daher tragen auch die Aussagen über Leiden und Tod in Jes 53 nichts zu einer christologischen Interpretation des Alten Testaments bei. 6. Mit alledem sind die Verstehens- und Interpretationsweisen des Alten Testaments bei weitem nicht ausgeschöpft. Abgesehen vom Standpunkt » Vgl. dazu H. W. Wolff, Jesaja 53 im Urchristentum, 19523; E. Fascher, Jesaja 53 in christlicher und jüdischer Sicht, 1958.

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sektiererischer Richtungen, daß das Alte Testament unmittelbar und vollständig im Leben und im Gottesdienst zu gelten habe, handelt es sich meist um eine gewisse Abwertung — sei es, daß man das Alte Testament zum Heidentum rechnet (F. Schleiermacher), als Kontrast zum Neuen Testament wertet (E. Hirsch), als Geschichte des Scheiterns betrachtet (R. Bultmann) oder parallel zur heidnischen Religion, Philosophie und Mystik als Vorbereitung der höchsten Offenbarung in Christus versteht (Clemens Alexandrinus bis F. Heiler). Doch ist es unnötig, auf diese und andere Auffassungen einzugehen. 7. Die Wurzeln der erwähnten Verstehensweisen liegen in fragwürdigen dogmatischen Voraussetzungen, die meist gar nicht mehr vorausgeschickt werden. Eine solche Voraussetzung besagt, daß das Alte Testament von Christus und also vom Neuen Testament her zu verstehen sei. So verhält es sich nicht nur in dem Christozentrismus oder -monismus mancher Theologen, die das Glaubensbekenntnis praktisch auf den 2. Artikel reduzieren, sondern auch dort, wo man dem Scheitern des Alten Testaments den neuen Anfang in Christus gegenüberstellt, während dieser sich umgekehrt von einer bestimmten Glaubensströmung des Alten Testaments her verstanden, auf es verwiesen und dann allerdings auch von jener Glaubensströmung abweichende Anschauungen des Alten Testaments abgelehnt hat. Die genannte Voraussetzung ist historisch und theologisch falsch. Will man im Zusammenhang mit dem Alten Testament von Offenbarung sprechen, ein Reden und Handeln Gottes mit Israel annehmen, so muß das Neue Testament als exegetische Norm ausscheiden. Hat es Offenbarung vor Christus und ohne Christus gegeben — und dies setzt das Alte Testament voraus —, so ist dies auch nach Christus noch Offenbarung. Es ist nicht angängig, daß „die ganze atl. Botschaft im Rahmen christlicher Theologie kerygmatisch auf ihren Charakter als 'Vorläufiges', auf ein 'Zwar-noch-nichtganz', aber 'Immerhin-schon-etwas' reduziert w i r d . . . Wenn das Wort Gottes an die Propheten ergeht, dann ist es ein Ganzes und Vollkommenes, und dann will es auch von uns so, als ein Ganzes und ein Vollkommenes, gehört sein." 20 Man kann dem nicht durch den Hinweis auf den hermeneutischen Zirkel ausweichen, also von einem mehr oder weniger naiven christlichen Vorverständnis des Alten Testaments oder der subjektiven Voraussetzung der Auslegung in der Glaubensentscheidung des Auslegers ausgehen. Dann macht man aus der Not eine Tugend. Wirkliches Verstehen muß 20

So treffend S. Herrmann, Das Prophetische, in: Probleme alttestamentlicher Hermeneutik, 1960, S. 359.

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kritisch erarbeitet werden und kann nicht aus einer Vorentscheidung fließen. Selbst wenn man schon nicht voraussetzungslos an das Alte Testament herantritt, sollte man es wenigstens vorurteilsfrei tun. Eine zweite Voraussetzung ist die Vorstellung von der „Irrtumslosigkeit" der Bibel, der biblischen Schriften oder der biblischen Schriftsteller, manchmal begleitet von einem bestimmten Schriftverständnis, das besonders auf reformierter Seite zur typologischen Deutung führt. Die Annahme der Irrtumslosigkeit im strengen Sinn nötigt ja dazu, die allegorische oder typologische Deutung einzelner alttestamentlicher Stellen im Neuen Testament als maßgebend und verpflichtend fur das Verstehen des Alten Testaments zu betrachten und nachzuvollziehen. Wenn das Neue Testament in allem irrtumslos ist, dann auch in seiner allegorischen oder typologischen Verwendung alttestamentlicher Stellen; dann muß man das Alte Testament rückblickend in solcher Weise deuten. Oder die Annahme der Irrtumslosigkeit bezieht sich auf die Bibel als ganze, sieht das Alte Testament als Altes ins Neue aufgenommen oder das Neue als letzten Zuwachs, der wie jeder frühere Zuwachs das Sinngefüge des schon vorliegenden Teils noch einmal verwandelt und neu bestimmt, so daß das Alte Testament unter dem Vorzeichen des Neuen Testaments zu lesen wäre. Trifft dies schon nicht zu, weil jeder jüngere Zuwachs nicht als gültige Interpretation eines schon fixierten Teils des Alten Testaments gelten kann und darf, ζ. B. junge eschatologische Zusätze nicht als Interpretationsschlüssel der Jesajaworte, so bedarf der Begriff der Irrtumslosigkeit nach der historisch-kritischen, der überlieferungsgeschichtlichen und überhaupt der modernen Forschung einer grundlegenden Prüfung. Die Erzählungen von der Eroberung der Städte Jericho und Ai in Jos 6—8 sind sicher nicht im herkömmlichen Sinn irrtumslos; denn nach den archäologischen Ergebnissen hat Josua die Städte nicht erobert und konnte sie auch nicht erobern, weil sie zu seiner Zeit bereits in Trümmern lagen, nicht besiedelt waren und überhaupt nicht als Städte bestanden. Bei näherer Beleuchtung erweisen sich solche Voraussetzungen wie die genannten oft als falsch. Damit fallen wiederum umgekehrt die von ihnen gestützten und getragenen Verstehensweisen des Alten Testaments. Es ist nicht angängig, das Alte Testament unter dogmatischen Voraussetzungen christlicher oder jüdischer Prägung zu verstehen und zu interpretieren. Es ist ebensowenig erlaubt, wie Plato mittels neuplatonischer Kategorien oder Kant von Hegel aus zu deuten. Anders der Dichter. Er kann die tragisch-heroischen Gestalten der griechischen Dramatik als Mythologie oder Faust und Hamlet immer neu deuten. Der Exeget darf jedoch keine

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dichterischen Variationen über ein alttestamentliches Thema schreiben, sondern ist gehalten, das Alte Testament in der gleichen Art zu untersuchen und zu erklären wie alle andere Literatur, d. h. die Regeln der grammatischen Interpretation, der formalen Analyse, der Beleuchtung von den zeitgeschichtlichen Bedingungen aus anzuwenden, nach gleichen oder ähnlichen Literaturformen und der Herkunft der verwendeten inhaltlichen Motive und Traditionen zu fragen sowie die Erkenntnisse über die besondere Art des Vorstellens und Denkens der Volksgruppe, der die Verfasser angehört haben, zu beachten. Er hat sich dem Werk, das er verstehen will, grundsätzlich von „außen" und nicht von „innen" zu nähern. Das Verstehen des Alten Testaments erfordert daher keinen Glauben, kein Sichhineinstellen als Vorbedingung. Grundsätzlich vermag auch der Nichtglaubende, falls er sein Nichtglauben nicht wiederum zum Verstehensprinzip erhebt, richtig zu verstehen und darzulegen, was die Bibel aussagt, auch wenn er den in der Aussage enthaltenen Anspruch nicht annimmt. Das Alte Testament als eine Sammlung von überwiegend religiös bestimmten Schriften ist im Zusammenhang mit dem geschichtlichen Werden und Sichwandeln des alttestamentlichen Glaubens entstanden. Um es zu verstehen, muß man daher von der Eigenart und dem Selbstverständnis dieses Glaubens in seinem geschichtlichen Werden und Sichwandeln ausgehen. Das kann sich freilich nicht auf ein Nachzeichnen der theologischen Gedankengänge oder eine Nacherzählung des Selbstzeugnisses Israels beschränken, sondern erfordert ein kritisches Vorgehen. Denn der alttestamentliche Glaube und seine Theologie haben sich verschieden ausgedrückt, an manchen Stellen rein und unverfälscht, an anderen Stellen überfremdet, hier richtig — dort weniger sachgemäß, ja vielleicht sogar stark überdeckt. Nicht alles kann auf der gleichen Ebene gesehen oder auf sie gehoben werden; vielmehr ist theologisch zu differenzieren. Daß nach II Reg 9 der Prophet Elisa auf einen angeblichen Befehl Jahwes hin den Offizier Jehu zum König salbt, dieser ein furchtbares Blutbad veranstaltet und danach als gottwohlgefällig bezeichnet wird, entspringt einer wesentlich anderen Glaubenshaltung als die Mahnungen Jesajas an die judäischen Könige seiner Zeit, von Krieg und Aufstandsversuchen zu lassen. Der Ausruf in Ps 137: „Heil dem, der deine (Babylons) Kinder packt und sie am Fels zerschmettert!" steht in einem unaufhebbaren Gegensatz zu der Schau Gottes, der den Kriegen bis ans Ende der Erde steuern und die Waffen vernichten wird (Ps 46), und der Völker, die zu seinem Tempel wallfahren werden, um sich von ihm belehren zu lassen und in seinen Pfaden zu wandeln (Jes 2,2—4). Man muß solche unterschiedlichen Auffassungen erkennen

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Interpretationsweisen des Alten Testaments

und gegeneinander abwägen; dazu gehört die Würdigung der geschichtlichen Entfaltung des alttestamentlichen Glaubens, die kritische Sonderung, die Suche nach theologischen Maßstäben, um das Gültige, Bleibende, Entscheidende und Richtige zu erkennen. Das Gesagte schließt ein, daß das Alte Testament nicht einfach mehr als Offenbarungsurkunde oder -zeugnis betrachtet werden kann. In ihm kommen vielmehr verschiedenartige Daseinshaltungen zu Wort, die weithin typisch menschliche und nicht gottgewollte oder göttlich geoffenbarte Haltungen sind. Sogar für den prophetischen Glauben, bei dem man am ehesten von Offenbarung sprechen kann, ist eine Einschränkung zu machen, da die überlieferten Prophetensprüche nicht ,,Wort Gottes" sind, sondern ein Ineinander von göttlicher Erkenntnis und prophetisch-menschlicher Deutung, Auslegung und Verarbeitung darstellen. Die göttliche Botschaft geht über den prophetischen Mittler und wird durch ihn mitgeformt; sie begegnet innerhalb eines Glaubens, der durch sie in einer bestimmten Zeit und Lage geschaffen worden ist. Das göttliche Wort und sein glaubendtheologisches Verständnis sind praktisch nicht zu trennen, sondern treten als eine Einheit auf, die von einer persönlichen Erfahrung ausgeht, eine dadurch bedingte Auslegung einschließt und in der damaligen Ausdrucksweise theologisch geprägt ist. Gehen wir davon aus, daß ein göttliches Wort oder ein göttliches Handeln zugrunde liegen, so betreffen sie nicht nur den damaligen Menschen, sondern bilden einen Anruf und eine Botschaft, die immer wieder vernehmbar werden können. Diese werden jedoch im Zusammenhang eines Glaubens übermittelt, der durch sie in bestimmter Zeit und Lage geschaffen worden ist, und im Zusammenhang einer Theologie, die die menschliche Formulierung jenes Glaubens darstellt. Ihre Form ist durch die menschliche Daseinshaltung geprägt, die sich als Antwort auf den göttlichen Anruf und als Entscheidung dafür ergeben hat. Daher wird sie zum Anruf für uns nur dann, wenn wir diese Daseinshaltung als eine für uns mögliche verstehen und die Forderung zur Entscheidung für sie auch auf unsere Lage beziehen. Aufgrund des Gesagten ergibt sich die Notwendigkeit, einerseits die Frage nach der Offenbarung Gottes im Alten Testament zu stellen, andererseits die verschiedenartigen alttestamentlichen Daseinshaltungen genauer zu betrachten, zumal sie weithin typisch-menschliche und nicht geoffenbarte oder gottgewollte Haltungen sind. Außerdem ist danach zu fragen, ob es nicht eine Daseinshaltung gibt, die sich davon grundlegend unterscheidet und anders zu beurteilen ist.

2. Kapitel ALTES TESTAMENT UND OFFENBARUNG Beim Thema „Offenbarung und Altes Testament" ist es zweckmäßig, zunächst die Frage zu behandeln, ob man das Alte Testament als ganzes nicht schlicht und einfach als Offenbarung Gottes verstehen und hinnehmen kann. Das Alte Testament selbst geht davon aus, daß Gott sich dem Menschen offenbart hat und offenbart; doch erhebt sich angesichts der Aussagen des Alten Testaments die Frage: Offenbart er sich wirklich? Auf der sich ergebenden Grundlage ist weiter zu fragen: Kennt das Alte Testament nicht besondere Medien der Offenbarung, und wie beurteilt es sie? Offenbart Gott sich nicht ferner im geschichtlichen Geschehen, ereignet sich vielleicht Offenbarung als Geschichte? Wie verhält es sich schließlich mit der Offenbarung durch das göttliche Wort, und ist solche Offenbarung nicht am besten in der prophetischen Verkündigung erkennbar?

I. Das Alte Testament als

Offenbarung?

Zunächst stellt sich die Frage: Kann man nicht das Alte Testament als ganzes, als das Buch, das uns vorliegt, als Offenbarung Gottes verstehen und hinnehmen? Diese Auffassung ist oft vertreten und in der nachreformatorischen Zeit mit der Lehre von der Verbalinspiration begründet worden, d. h. mit der Lehre von der wortwörtlichen Eingebung der heiligen Schriften durch Gott. Die Schrift, so sagte man, sei das Wort Gottes, das dieser durch den heiligen Geist den biblischen Schriftstellern diktiert habe. Die Verfasser der biblischen Bücher sind danach lediglich Schreiber gewesen — nur Mittel und Werkzeuge, deren sich Gott zur Niederschrift seiner Worte bedient hat. Aber abgesehen davon, daß diese Auffassung auch andere Wirkungen ausgeübt hat, als sie ausüben sollte, und mit dazu geführt hat, daß man eine gegensätzliche These entwickelte und das Alte Testament als primitiv, untermenschlich und jeder göttlichen Autorität bar betrachtete, ist die Lehre von der Verbalinspiration nicht haltbar. Daher ist es auch nicht möglich, das Alte Testament als ganzes schlicht und einfach als Offenbarung zu betrachten. a) Wir besitzen den ursprünglichen Text der alttestamentlichen Bücher 3

Theologische Grundstrukturen

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Altes Testament und Offenbarung

nicht mehr, sondern benutzen einen Text, der vom frühen Judentum etwa von 100 v. Chr. an in dieser Weise festgelegt und fixiert worden ist. Bis zu diesem Vorgang hatte sich aus dem ursprünglichen Text der einzelnen Bücher und Abschnitte eine Reihe von verschiedenen Versionen entwickelt, die voneinander abweichende Lesarten hatten. Zu den Handschriften, in denen der Text auf so verschiedenartige Weise dargeboten wird, gehören auch die seit 1947 in Qumran am Toten Meer gefundenen Rollen und Fragmente. Erst das Frühjudentum hat in einer lange Zeit währenden Arbeit einen einheitlichen und verbindlichen Text geschaffen. Doch damit lag erst ein Teil dessen vor, was den heutigen Text des Alten Testaments ausmacht. Es gehört zur Eigenart der semitischen Sprachen und also auch des Hebräischen, daß man anfänglich nur die Konsonantenzeichen geschrieben hat und später einige Konsonantenzeichen zusätzlich dazu verwendete, um in bestimmten Fällen auf Vokale hinzuweisen. Erst vom 5. Jh. n. Chr. an, als das Hebräische längst eine tote Sprache war und die Überlieferung über die Aussprache des Bibeltextes immer dürftiger wurde, hat man damit begonnen, die Vokale durch besondere Zeichen unter und über den Konsonanten zu vermerken. Dies beruhte eindeutig nicht auf einer Inspiration, sondern stellte einen jahrhundertelangen sprachwissenschaftlichen Vorgang dar. b) Der auf diese Weise im Verlauf fast eines Jahrtausends endgültig festgelegte und mit Vokalzeichen versehene Text ist jedoch keineswegs fehlerfrei. Vielmehr begegnet man in jedem alttestamentlichen Buch drei Arten von Fehlern: 1. Von Lesern und Abschreibern sind Zusätze und Glossen in den Text eingefügt worden — Bemerkungen, die den Text erklären und ergänzen, manchmal auch ändern oder berichtigen sollten. 2. In den Konsonantentext haben sich Fehler eingeschlichen. Zum größten Teil sind es Lese- und Schreibfehler, da ähnlich aussehende hebräische Buchstaben beim Diktieren oder beim Abschreiben der Buchrollen gelegentlich miteinander verwechselt worden sind. Manchmal handelt es sich sogar um absichtliche Änderungen aus dogmatischen Gründen. 3. Die Vokalisierung des Konsonantentextes ist ebenfalls manchmal falsch oder fehlerhaft und gibt nicht das wieder, was man als ursprünglichen Text vermuten muß. Als man die Unzulänglichkeit der Lehre von der Verbalinspiration erkannte, hat sich — besonders unter dem Einfluß Spinozas — eine andere Auffassung gebildet: Nicht die Sache, das einzelne biblische Buch, galt als inspiriert, sondern der Mensch, der Verfasser des Buches. Die Schrift galt als Wort Gottes in dem Sinne, daß es an Menschen gebunden, von Menschen

Das Alte Testament als Offenbarung

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gelehrt und verkündet worden ist zu verschiedenen Zeiten und unter unterschiedlichen Verhältnissen. Das einzelne biblische Buch war dann nicht mehr eine Selbstoffenbarung Gottes, sondern eine menschlich-geschichtliche Offenbarungsurkunde oder ein Offenbarungszeugnis. Aber diese These läßt sich am Alten Testament nicht durchführen, wie einige Beispiele zeigen: Inwiefern sollen manche Reden des Buches Hiob als inspiriert gelten, die man eher als Gotteslästerung denn als Gottesverehrung bezeichnen müßte? Inwiefern sind die Psalmen inspiriert, die persönliche oder Gemeindelieder und -gebete darstellen, mit denen der Mensch sich in Anbetung, Bitte und Klage oder Dank an Gott wandte? Wie verhält es sich mit dem Abschnitt Prov 22,17—23,11, der fast wörtlich aus einem ägyptischen Weisheitsbuch ins Hebräische übersetzt worden ist? Inwiefern waren die Verfasser des Hohenliedes inspiriert, die ganz weltliche und oft sinnlich-erotische Liebes- und Hochzeitslieder gedichtet haben? Wie steht es mit dem Buche Esther, das sich mit einer politischen Angelegenheit befaßt — der verhinderten Verfolgung von Juden und ihrer blutigen Rache an ihren Feinden — und in dem der Name Gottes wohlweislich kein einziges Mal verwendet worden ist? Solche Fragen lassen sich beliebig vermehren, ohne daß man eine auch nur annähernd befriedigende Antwort finden kann. Dies alles zusammen bedeutet, daß wir das Alte Testament als ganzes, als das Buch, das uns vorliegt, nicht schlicht und einfach als Offenbarung Gottes verstehen und hinnehmen können. Darum müssen wir einen anderen Weg gehen und das Alte Testament selbst daraufhin befragen, was es über die göttliche Offenbarung sagt oder was sich aus ihm erschließen läßt. II. Gott offenbart sich — offenbart er sich?

Das Alte Testament setzt voraus und sagt aus, daß Gott sich dem Menschen offenbart hat — aber hat er sich wirklich offenbart? Es gibt eine Reihe von Aussagen oder Erzählungen, die die Möglichkeit einer Offenbarung in verschiedener Weise einschränken. Das Alte Testament handelt von der Offenbarung Gottes in bezug auf sein Wirken im Leben und Schicksal der Völker und Menschen. Es spricht nicht vom Sein und Wesen Gottes, wie es an sich und in seiner ganzen Fülle ist, sondern vom Sein und Handeln Gottes in bezug auf den Menschen. Als Mose am Sinai darum bittet, die Herrlichkeit Gottes schauen zu dürfen, antwortet dieser (Ex 33, 19f.): „Ich will meine ganze Güte vor dir vorüberziehen lassen und den Namen Jahwe vor dir ausrufen" — d. h. mein 3»

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Altes Testament und Offenbarung

Wesen offenbaren, soweit es den Menschen betrifft — „nämlich, daß ich gnädig sein werde, wem ich gnädig bin und mich erbarmen werde, wessen ich mich erbarme". Das ist Gottes Wesen für den Menschen, wie es Mose offenbart werden soll: Güte, Gnade und Erbarmen. Aber: „Du kannst mein Angesicht nicht sehen; denn kein Mensch kann mich schauen und (dann noch) am Leben bleiben." Das bedeutet: Der Mensch sieht mich nicht, wie ich an sich bin. Denn das Gesicht enthüllt für das antike Verständnis die innerste Persönlichkeit. Und diese wird bei Gott dem Menschen nicht offenbart, sondern bleibt verborgen. Dem Menschen wird nur dasjenige vom Wesen Gottes offenbart, was ihn betrifft. Was den Menschen betrifft, das ist in der älteren Zeit Israels vor allem das erhoffte Eingreifen Gottes in den Kampf zugunsten seines Volkes. So schildert es das großartige Deboralied in Jdc 5. Gott naht vom Sinai her, wo die erste Gotteserscheinung, die erste Theophanie, stattgefunden hat, und erscheint aufs neue — nicht in sichtbarer Gestalt, wohl aber deutlich wahrnehmbar, etwa im Sturm und Gewitter. Die Wirkung seines Kommens zeigt sich in der Furcht der Menschen oder im Aufruhr der Natur. Diese Schilderungen des Kommens und des Eingreifens Jahwes in die Schlacht zugunsten seines Volkes dienen als Symbol und Abbild des göttlichen Wesens und Sichoffenbarens. Das jäh hereinbrechende und aller menschlichen Abwehr spottende Naturelement erscheint als Ausdrucksmittel für die Erfahrung der schrecklichen Gegenwart Gottes. Demgegenüber steht eine andere Schilderung der Theophanie vor Elia in I Reg 19, 9ff.: Gott zieht vorüber, aber er ist nicht in Sturm, Erdbeben und Feuer, sondern in der Regungslosigkeit der Windstille, des Aufhörens aller starken Luftbewegung. Gott kommt und offenbart sich nicht in furchtbaren Geschehnissen und gewitterhaften Katastrophen, sondern in der Stille. Er ist nicht der Schlachten-, Kriegs- und Katastrophengott, sondern ein Gott, dessen Walten und Wesen der leisen Windstille vergleichbar ist. Die Naturerscheinungen, auch die Windstille, verkörpern nicht Gott selber, sondern sind die sein Wesen verdeutlichenden Bilder und die Begleiterscheinungen seines Auftretens. Die Windstille, die Elia die Gegenwart Gottes anzeigt und aus der Gott zu ihm spricht, ist zudem ein Symbol für die flüsternde Rede, wie sie der Prophet als die Rede eines aus nächster Nähe Sprechenden vernimmt. Die Gestalt Gottes ist in die Unsichtbarkeit eingegangen, aus der das göttliche Wort als das allein den menschlichen Sinnen faßbare am göttlichen Wesen herausklingt1. Elia verkündigt den sich im „Wort" of1

W. Eichrodt, Theologie des Alten Testaments, II 1961", S. 4.

Gott offenbart sich — offenbart er sich?

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fenbarenden Gott der großen Propheten. Diese Offenbarung besteht in einem Auftrag für Elia, nicht in Enthüllungen über Gott. Offenbarung bedeutet hier, daß Gott sich unmittelbar an einen Menschen wendet und diesem einen bestimmten Auftrag erteilt. Das Alte Testament spricht jedoch ebenso davon, daß Gott die Propheten durch einen Lügengeist betören und ihnen eine falsche Offenbarung übermitteln kann. Als nach I Reg 22 der König Ahab seine Hofpropheten wegen eines geplanten Feldzugs befragt, kündigen sie ihm den Sieg an. Doch der dann eigens herbeigeholte Prophet Micha ben Jimia spricht im Gegensatz zu den Hofpropheten von einer bevorstehenden Niederlage und erklärt die Ankündigung der Hofpropheten folgendermaßen: „Ich sah Jahwe auf seinem Thron sitzen, und das ganze Himmelsheer stand vor ihm zu seiner Rechten und zu seiner Linken. Jahwe sagte: Wer will Ahab betören, daß er gegen Ramot-Gilead zieht und dort fällt? Da machte der eine den Vorschlag, der andere jenen. Dann trat der Geist heraus, trat vor Jahwe hin und sagte: Ich will ihn betören. Jahwe fragte ihn: Wodurch? Er erwiderte: Ich will hingehen und im Munde aller seiner Propheten zum Lügengeist werden. Da sagte er: Du vermagst zu betören, geh hin und tue so." Hier wird damit gerechnet, daß Gott absichtlich eine falsche und lügenhafte Offenbarung ergehen läßt, um einen Menschen wie den israelitischen König ins Verderben zu schicken. Ebenso läßt er nach der einleitenden Erzählung des Buches Hiob dem Satan, der an der uneigennützigen Frömmigkeit Hiobs zweifelt, freie Hand, so daß dieser zur Erprobung Hiobs dessen Familie und Besitz vernichten und ihn selbst mit schwerer Krankheit schlagen kann. Wieder anders wird das offenbarende Reden Gottes in der großen Gottesrede des Buches Hiob geschildert. Seine Antwort auf die herausfordernden Fragen des aufbegehrenden Hiob lautet freilich anders, als dieser und seine Freunde erwartet haben. Nach der Theologie der Freunde Hiobs, die sich vorher mit ihm auseinandergesetzt haben, hätte Gott den Frevler zerschmettern müssen — doch gerade dies tut er nicht. Ebensowenig billigt er das aufbegehrende und trotzige Verhalten Hiobs, sondern führt ihm das Unsinnige seines Verhaltens vor Augen, indem er ihm die Weltordnung aufzeigt, die zahlreichen Beispiele nennt, die menschliche Einsicht und menschliches Können übersteigen, und damit auf ähnliche Paradoxien hinweist, wie Hiob sie in seinem Leben beklagt. Wer angesichts dessen Gott zurechtweisen will, müßte wie Gott selber sein! Damit sieht Hiob sich vor die Entscheidung gestellt, ob er die Ursünde des Menschen auf sich nehmen will, wie Gott sein zu wollen. Dann allerdings müßte er sich bei der Durch-

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Altes Testament und Offenbarung

setzung einer gerechten Weltordnung sogleich selber richten! Der Augenblick, der ihn zum Weltenherrscher erhöbe, stempelte ihn gleichzeitig zum todeswürdigen Verbrecher. Die Aufforderung Gottes an ihn, alles Hochmütige zu erniedrigen und zu demütigen, ist daher zugleich an Hiob selbst gerichtet. Er muß sich entscheiden, ob er der alte bleiben oder ganz ein Neuer werden will. Gott offenbart sich — aber offenbart er sich wirklich? Die angeführten Beispiele zeigen, daß er nur dasjenige von seinem Wesen, seinem Wollen und seinen Absichten preisgibt, was den Menschen betrifft, an den er sich wendet. Er wendet sich an den Menschen — vielleicht durch die Vermittlung von Propheten —, um ihm einen Auftrag zu erteilen wie Elia, um ihn irrezuführen wie Ahab oder um ihn vor die tiefste Entscheidung über seine Existenz zu stellen wie Hiob. Offenbarung ergeht im konkreten Gegenüber von Gott und Mensch und richtet sich an diesen Menschen zu seinem Heil oder Unheil, zu seiner Beauftragung oder mit der Forderung der Entscheidung. Nur wer dies erfährt, kann Offenbarung beschreiben oder bezeugen. Sie ist keine objektiv faßbare Erscheinung, sondern ein persönliches Erleben und Erfahren, das den Menschen betrifft.

III. Mittel der

Offenbarung

An dieser Stelle kann man fragen: Kennt des Alte Testament nicht besondere Medien der Offenbarung, durch die sie sehr wohl bestimmbar und beschreibbar ist? Spricht nicht die alttestamentliche Theologie von der göttlichen Offenbarung in dem objektiv wahrnehmbaren geschichtlichen Handeln Gottes, so daß sich Offenbarung in der Geschichte oder als Geschichte ereignet? 1. So stellt sich als erstes die Frage nach besonderen Medien der Offenbarung, durch die sie bestimmbar wäre. a) Das Losorakel bestand aus zwei Orakelstäbchen, die der Priester in einer Tasche trug und durch die er die göttliche Weisung oder den göttlichen Entscheid und damit die göttliche Offenbarung für einen bestimmten Fall einholen konnte. Es scheint so, daß man die Tasche solange geschüttelt hat, bis eines der Stäbchen heraussprang und eine positive oder negative Antwort anzeigte. Die negative Antwort erfolgte durch das Stäbchen mit Namen Urim, was vielleicht „verflucht" heißt, die positive Antwort durch das Stäbchen Tummim, was vielleicht „schuldlos" heißt. Dieses Losorakel ist ein sehr altertümliches Offenbarungsmittel, das schon in recht früher Zeit keine Rolle mehr gespielt hat.

Mittel der Offenbarung

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b) Im Traum treffen wir auf den ersten Blick auf eine anscheinend sehr belangreiche Möglichkeit, die göttliche Offenbarung einzuholen. Er wird als Mittel, durch das Gott sich an den Menschen wendet, in einer ganzen Reihe von Erzählungen verwendet, so in der Josephgeschichte und im Buch Daniel, ebenso in den Erzählungen über Gideon (Jdc 7), Saul und Salomo und weiterhin bis in die Spätzeit. Allerdings sehen wir, daß die Verwendung oder Erwähnung von Träumen als Offenbarungsmittel auf bestimmte Kreise beschränkt gewesen ist: auf die im Nordreich Israel verfaßte elohistische Erzählungsschicht der Genesis, die in der frühen Zeit mit den Heiligtümern verbundene kultische Prophetie, die nicht selten bedenkliche Züge aufweist, und die epigonenhafte Prophetie der Spätzeit sowie die Apokalyptik. Diese Begrenzung auf bestimmte Kreise ist insofern auffällig, als sonst im Alten Orient der Traum als Offenbarungsmittel der Gottheit eine viel größere Rolle als in Israel spielt. Hier ist also das übliche Verfahren eingeschränkt worden. Der Traum wird außerdem nicht nur seltener als sonst im Alten Orient verwendet, sondern auch als Offenbarungsmittel im Alten Testament sogar abgelehnt. Vor allem Jeremía hat den Traum geradezu mit den „falschen Propheten", d. h. einem Teil der damaligen Kultpropheten, die sich anscheinend auf Träume berufen haben, in Verbindung gebracht (Jer 23; 27; 29). Die große Prophetie hat also den Traum als Offenbarungsmittel scharf abgelehnt und seine Bedeutung weiter eingeengt. c) Der Jahwebote als das wichtigste Himmelswesen unter Jahwe begegnet vor allem in den Erzählungen der Bücher Genesis, Exodus, Numeri und Richter, so in den Erzählungen von der Flucht der Hagar (Gen 16) und der befohlenen Opferung Isaaks (Gen 22). Daran wird von vornherein ersichtlich, daß wie beim Losorakel eine urtümliche Vorstellung vorliegt, die man später, z. B. in den Prophetenbüchern, nicht mehr findet. Dieser Jahwebote ist dort, wo er auftritt, Offenbarung Gottes selber, wie ein Bote oder ein Gesandter im Alten Orient, der eine Botschaft überbringen soll, seinen Auftraggeber vergegenwärtigt. Auffällig ist auch, daß in manchen Erzählungen die Namen Gottes und des Jahweboten miteinander abwechseln, indem einmal von Gott und einmal vom Jahweboten gesprochen wird, während man sie in anderen Fällen klar voneinander unterscheiden kann. Danach war der Bote für jene alte Zeit eine sichtbare Manifestation Gottes und konnte mit ihm als eins, aber auch für sich gesondert gesehen werden. Diese Auffassung ist in der antiken Denkweise begründet: Man kann sich die besonderen Erscheinungsformen als selbständig handelnd vorstellen, zu gleicher Zeit jedoch die Einheit einer solchen selbständigen Form mit dem göttlichen Wesen festhalten.

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d) Im Alten Testament ist häufig von der Herrlichkeit oder Ehre Gottes die Rede. Der dafür verwendete hebräische Ausdruck kabôd bedeutet ursprünglich „Schwere, Wucht", sodann das „Gewichtige", das jemanden auszeichnet und ihm Ansehen verleiht, etwa Reichtum, Macht oder Erfolg. Von daher erhält das Wort die Bedeutung „Ehre, Herrlichkeit". In dieser Bedeutung wird der Ausdruck auch für die Offenbarung Gottes gebraucht und geradezu als eigenständige Erscheinungsform Gottes zum Zweck seiner Offenbarung verstanden, die fast unabhängig von Gott auftreten kann. Insbesondere für das priesterliche Verständnis ist diese „Herrlichkeit" ein Abglanz des jenseitigen Gottes, ein Herrlichkeitszeichen, durch das er seine Gegenwart im Tempel oder in der Stiftshütte kundtut. Sie ist sozusagen die sichtbare Seite des unsichtbaren Gottes und kennzeichnet das wirkliche Eintreten des überweltlichen Gottes in die Sichtbarkeit, ohne daß seine Jenseitigkeit angetastet wird. e) Der Name Gottes gehört zu dem Bereich der Offenbarungsmittel in zweifacher Weise entsprechend der zweifachen Bedeutung, die der Name für den antiken Menschen besitzen konnte. Einmal vermittelt die Kenntnis eines Namens eine Wesensbeziehung zu dessen Träger, die bis zur Verfügungsgewalt reichen kann. Sinngemäß garantiert die Kenntnis des Jahwenamens die göttliche Gegenwart. In älterer Zeit glaubt man, durch den Namen die Gegenwart Gottes von Fall zu Fall herbeirufen zu können. Als die Bedeutung des Jerusalemer Tempels wächst, wandelt sich diese Auffassung ein wenig: Man nimmt die ständige Anwesenheit des in seinem Namen offenbaren Gottes an dieser Kultstätte an. Der Tempel ist geradezu die Stätte, „wo Gott seinen Namen wohnen läßt" (Jer 7,1—15), d. h. an der er persönlich gegenwärtig ist. Die andere Bedeutung des Namens liegt darin, daß er die persönliche Eigenart seines Trägers, seine Daseinsform, sein Wesen ausdrückt. Der Name Gottes ist daher Gott selbst. Das wird deutlich, wenn sein Name als Subjekt eines Tuns oder Verhaltens genannt wird: „Ich preise deinen Namen, Jahwe, daß er gütig ist, daß er mich aus aller Not errettet hat" (Ps 54, 5 f.), oder wenn der Name als Mittel des göttlichen Handelns angerufen wird: „Hilf mir durch deinen Namen" (Ps 54, 3). Gemeint ist mit alledem nicht Gottes Gegenwart, sondern sein Tun, Verhalten und Wirken, das vor allem helfender Art ist. f) Schließlich wird im Alten Testament der Geist Gottes als Offenbarungsmittel genannt. Der Glaube an ihn hat sogar eine größere Rolle gespielt, als die alttestamentliche Überlieferung erkennen läßt. Dies wird deutlich, wenn wir ihn gegenüber dem Jahweboten abgrenzen. Während dieser die

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persönliche Vergegenwärtigung Gottes ist, wird der Geist stärker als eine von Gott ausgehende oder selbständige Kraft empfunden, die jemanden erfüllt und in Bewegung setzt. Er ist eine unpersönliche Kraft, ein Einblasen oder Anblasen durch Gott, das Erfülltwerden mit Kraft, Leben und göttlichen Gaben. So kann der Geist Jahwes die Propheten aufnehmen und wegführen (I Reg 18, 12; II Reg 2, 16; Ez 3, 12; 8, 3; 11, 1; 37, 5). Er kann jemanden dazu bringen, daß er etwas tut (Jdc 3, 10; 6, 34; 11, 29; 13, 25; I Sam 11, 6), jemanden mit Kraft erfüllen (Jdc 14, 6.19; 15,14), lebendig machen (Ps 104, 30), mit Weisheit erfüllen (Gen 41, 38) und den Menschen erneuern (Jes 44, 3ff.; Ez 36, 26f.; Sach 4, 6). Schließlich kann der Geist inspirieren, zum Verkündigen zwingen und dem Menschen die göttliche Offenbarung vermitteln (Num 24, 2; Jes 42, 1; 61, 1; Ez 11, 5; Joel 2, 28f.; Mi 3, 8; Sach 7, 12; II Chr 15, 1; 20, 14). Eine Prüfung der Überlieferung des Alten Testaments ergibt, daß eine derartige Offenbarungsvermittlung durch den Geist für die Gruppe der Kultpropheten charakteristisch gewesen ist. Da sie den tragenden Strom der Prophetie darstellte, hat die Geistoffenbarung eine viel größere Rolle gespielt, als aus dem Alten Testament zu ersehen ist. Aber die großen Einzelpropheten von Arnos und Hosea bis Jeremía und Ezechiel, die sich in vielem von den Kultpropheten unterscheiden, tun dies auch im Hinblick auf die Geistoffenbarung. Sie wenden sich nicht ausdrücklich dagegen und polemisieren nicht gegen die Geistoffenbarung, sondern schweigen von ihr und bringen vor allem ihren eigenen Offenbarungsempfang nicht mit der unpersönlichen Kraft des Geistes in Verbindung. Vielmehr berufen sie sich auf das Wort, das genau artikuliert ist und einen klar umrissenen Inhalt aufweist. Darin liegt eine unausgesprochene, aber eindeutige Verurteilung dessen, worauf sich die Kultprophetie beruft. Nur Ezechiel macht eine Ausnahme, indem er sich nicht nur auf das Wort, sondern auch auf den Geist beruft; aber er will sich damit nicht den Kultpropheten nähern, sondern nimmt die Offenbarung durch den Geist Gottes ebenfalls für sich in Anspruch, um auf diese Weise auszudrücken, daß die Kultpropheten sich nicht einmal auf den göttlichen Geist berufen können, wie sie vorgeben, so daß sie überhaupt keine echte Offenbarung haben. In einigen der betrachteten Fälle — beim Losorakel, Traum und Jahweboten — haben wir archaische, urtümliche Erscheinungen angetroffen, die im Alten Testament selbst im Lauf der Zeit beiseitegeschoben oder die als falsch und unzulänglich verurteilt worden sind. Wir erkennen in den Vorstellungen von der Herrlichkeit und dem Namen Gottes eine spe-

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zifisch priesterliche Theologie, die vor allem von der prophetischen Theologie her kritisiert und teilweise abgelehnt worden ist; das gleiche gilt für die Berufung auf die Geistoffenbarung durch die Kultpropheten. In allen Fällen liegt eine inneralttestamentliche Kritik an solchen Offenbarungsmitteln vor, die wir berücksichtigen müssen. Wenn das Alte Testament selbst derartige Kritik übt, dann ist es höchst fraglich, ob die kritisierten Offenbarungsmittel theologisch bedeutsam sind. 2. In ganz andere Zusammenhänge treten wir mit der Frage, die die alttestamentliche Theologie seit langem beschäftigt: ob es nicht Offenbarung im sogenannten geschichtlichen Geschehen oder Geschichtshandeln Gottes gebe, ob sich Offenbarung nicht in der Geschichte oder als Geschichte ereigne? Darin liegt eine verbreitete Auffassung vor. Daß der alttestamentliche Glaube geschichtstheologisch bestimmt sei, daß sich alle wesentlichen Bekenntnis- oder Glaubensaussagen des Alten Testaments auf die Geschichte als den Ort des göttlichen Handelns an Israel beziehen und daß Gottes Offenbarung oder Handeln sich in der oder durch die Geschichte ereigne, ist ein weithin anerkannter Grund- und Hauptsatz geworden, der besonders für die sogenannten Geschichtsbücher und für die Propheten des Alten Testaments betont wird. Es scheint so — und das ist einer der Gründe für den Erfolg dieser Auffassung — , als erfasse man in dieser Geschichtsgebundenheit den wahren Unterschied des biblischen Glaubens von allen anderen Religionen, die eine ungeschichtliche oder zeitlose Grundlage haben. Es scheint so, als erfasse man den Offenbarungscharakter des biblischen Glaubens als eine Folge seiner Geschichtsgebundenheit. So müßte man dann eigentlich nur danach fragen, in welcher Weise sich das Reden vom Geschichtshandeln Gottes in der Prophetie oder in den Geschichtsbüchern widerspiegelt. Freilich verbirgt sich hinter der glatten Fassade der Auffassung vom Geschichtshandeln Gottes im einzelnen eine Fülle von verschiedenen und einander sogar widersprechenden Ansichten. Vor allem bestehen weitgehende Unterschiede und sogar Gegensätze über die Art und Bedeutung dessen, was man „Geschichte" nennt — Gegensätze, die sich in mancherlei kunstvollen, gelegentlich auch gekünstelten, begrifflichen Unterscheidungen bemerkbar machen, die man in die wissenschaftliche Arbeit einführt. Dazu gehören die Unterscheidungen zwischen „Sage" und „Urgeschichte", „Heilsgeschichte" und „Weltgeschichte" oder die nur in der deutschen Sprache mögliche Unterscheidung zwischen „Geschichte" und „Historie". Derartige Unterscheidungen benutzt die alttestamentliche Theologie, während das Alte Testament selbst, dessen Glaube angeblich durch die Geschichte

Mittel der Offenbarung

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bestimmt sein soll, überhaupt keinen Begriff für „Geschichte" aufweist. So erheben sich gegen diese Konstruktion mancherlei Bedenken, von denen einige zur Sprache kommen müssen. a) Die These von Gottes Offenbarung in der Geschichte oder durch die Geschichte ist einseitig und in dieser Einseitigkeit bedenklich. Sie erfaßt lediglich einen Teil der Fülle und Gesamtheit des Lebens. Im Alten Testament gibt es mindestens zwei nicht unwichtige Bereiche, für die diese Auffassung nicht zutrifft: die Weisheitsliteratur und einen großen Teil der Psalmen. Ferner hat das Gesetz in der späteren Zeit eine zeit- und geschichtslose Gültigkeit erhalten. Selbst wenn man die Auffassung auf die sogenannten Geschichtsbücher anwendet, gerät man in Schwierigkeiten. So finden sich zahlreiche mythische Vorstellungen und Motive von durchaus nichtgeschichtlicher Art; ihr Auftreten in den verschiedenen Erzählungen schließt keineswegs ein, daß sie damit „historisiert" und „entmythisiert" wären. Den Rahmenstücken des Richterbuchs, die die Einzelerzählungen umgeben und aneinanderreihen, liegt eine Geschichtsauffassung zugrunde, die nicht der herkömmlichen alttestamentlichen Darstellung entspricht, die auf ein Ziel ausgerichtet ist, sondern die von zyklischer Art ist, wie sie sonst außerhalb des Alten Testaments im Alten Orient begegnet. Diese Auffassung ist am Kreislauf der Jahreszeiten orientiert, geht von der regelmäßigen Wiederkehr der Ereignisse aus und ist auf die Geschehnisse der Richterzeit übertragen worden. Schließlich muß man den Begriff „Geschichte" theologisch überdehnen, um solch verschiedenartige Erzählungen wie diejenigen von der Schöpfung, der Sintflut, dem Traum Jakobs in Betel, der Rettung aus Ägypten oder dem Untergang des Nord- und des Südreichs darunter zu vereinigen. Solange wir sagen, daß diese Erzählungen Gott als handelnd und gegebenfalls den Menschen als antwortend darstellen, entspricht es dem Text. Sobald wir den Begriff „Geschichte" benutzen, müssen wir die übergreifende Einheit der Erzählungen aufspalten, weil jede Einzelerzählung in einem unterschiedlichen Verhältnis zu dem steht, was wir heute „Geschichte" nennen können. Dann erhalten wir den in der alttestamentlichen Theologie bekannten Konflikt zwischen dem alttestamentlichen und dem historisch-kritischen Geschichtsbild. Tatsächlich ist die These vom Geschichtshandeln Gottes eine Antwort auf die apologetischen Erfordernisse des 19. Jh. Es war eine Antwort, mittels derer man damals die materialistischen, skeptischen und immanenten Geschichtsphilosophien zurückwies, die den biblischen Glauben zu relativieren drohten, weil doch niemand die Geschichte so ernst nehme wie

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die Bibel2. Diese These wird weiterhin beibehalten, obwohl die Gefahren für den biblischen Glauben heute von anderen Seiten drohen: von Biologie, Anthropologie, Chemie u. a. So ist die ganze Auffassung eigentlich nicht mehr als ein Relikt des 19. Jh. b) Die Auffassung vom Geschichtshandeln Gottes als dem Kern des biblischen Glaubens ist begrifflich ungenau. Gott handelt doch nicht rückwirkend in die Vergangenheit hinein. Wenn man damit ausdrücken will, daß er in früheren Zeiten je und dann gehandelt hat und daß er weiterhin handelt, dann sollte man besser von seinem Handeln in der jeweiligen Gegenwart reden. Es ist ein Handeln, das sich auf eine inzwischen vergangene Gegenwart bezogen hat wie das von Amos erwähnte Erwecken von Nasiräern und Propheten (Am 2, 11), das bestimmte Lebensmöglichkeiten für die Zukunft geboten hat wie der feste Grundstein im jerusalemischen Regierungsviertel Zion (Jes 28, 16) oder das sich in der Gegenwart des Propheten oder in einer künftigen Gegenwart wiederholen kann, wenn Gott sich wie zur Zeit Davids erheben und wüten wird (Jes 28, 21). Da ist stets ein Handeln Gottes in der jeweiligen Gegenwart in bezug auf das Leben und Geschick von Völkern und Menschen gemeint. Doch muß man dabei beachten, daß Gott nach einer im Alten Testament verbreiteten Anschauung nicht ständig handelt und nicht immer am Werke ist, sondern vielleicht zunächst zuschaut wie sommerliche Hitze über dem Licht, bis er dann „plötzlich" eingreift (Jes 18), oder daß er anscheinend gar nicht unmittelbar eingreift, sondern den Verlauf der Dinge fast unmerklich bestimmt, wie der Vergleich mit dem sanft dahinfließenden Siloawasser besagt (Jes 8, 6), oder daß Gott die Herzen der Menschen zu diesem oder jenem Tun bewegt (Gen 24). c) Mit dem Glauben an Gottes Wirken in der Natur und mit dem Schöpfungsglauben treten Momente hinzu, die nicht mehr unter den Begriff „Geschichte" subsumiert werden können. Es ist ohne jeden Bezug zur Geschichte, zum Dasein und Geschick der Völker und Menschen, daß Gott dem Löwen wie dem Raben sein Futter verschafft, dem Zebra, Wildesel und Wildstier eine Freiheit gegeben hat, die sie für menschliche Zwecke unbrauchbar macht und den Strauß wie den Falken mit Eigenarten versehen hat, die dem Menschen sogar unsinnig erscheinen, wie die Gottesrede des Hiobbuches ausführt (Hi 38, 39 ff.). Wie er den Leviatan geschaffen hat, um mit ihm zu spielen (Ps 104, 26), so stürzt sein Erscheinen 2

Dies hat J. Barr, Revelation through History in the Old Testament, Interpretation 17 (1963), S. 193-205, eindrücklich gezeigt.

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am Jahwetage mit allem Hohen und Erhabenen auch die Zedern des Libanon, die großen Bäume von Basan und die hohen Berge und Hügel (Jes 2, 13 f.). Dies alles ist nicht „Geschichte" und nicht „Geschichtshandeln", dennoch göttliches Wirken an seinen Geschöpfen in der jeweiligen Gegenwart. d) Der mit den Worten Gott—Geschichte—Offenbarung umrissene Komplex erfaßt nur einen Ausschnitt aus dem Handeln Gottes im Gesamten der Welt und des Lebens: das Handeln Gottes im Leben und Geschick von Völkern und Menschen in der jeweiligen Gegenwart. Im Gegensatz zu den Apologeten des 19. Jh., die mit der These vom Geschichtshandeln Gottes und der darin erfolgten Offenbarung den biblischen Glauben verteidigen wollten, müssen wir heute sagen, daß dieser Glaube des Alten Testaments vom Handeln Gottes im Leben und Geschick von Völkern und Menschen in der jeweiligen Gegenwart gar nicht so einmalig und einzigartig ist, wie man gemeint hat, und daß er keineswegs für das Alte Testament oder die Bibel allein kennzeichnend ist, so daß man daraufhin den biblischen Glauben von anderen Religionen unterscheiden könnte. Vielmehr hat es analoge Anschauungen im Alten Orient außerhalb Israels gegeben. Das zeigt eine neuere Untersuchung über „Geschichte und Götter" im Alten Orient 3 . Sie weist an Hand zahlreicher altorientalischer Texte nach, 1. daß in anderen Religionen in der Umwelt Israels die Sphären des göttlichen Handelns ebenfalls Natur und „Geschichte" (das Leben von Völkern und Menschen) sind; 2. daß geschichtliche Ereignisse als göttliche Taten gedeutet werden; 3. daß der König als das Werkzeug gilt, durch das die Gottheit in der Welt handelt; 4. daß das göttliche Wort die Ereignisse in Natur und Menschenwelt bewirkt; 5. daß die Gottheiten genauso wie Jahwe absichts- und zielvoll in der Welt handeln und 6. daß geschichtliche Ereignisse, d. h. Ereignisse im Völker- und Menschenleben, als göttliche Offenbarung gelten oder als solche gedeutet werden. Diese Untersuchung entzieht der herkömmlichen Auffassung, daß das göttliche Geschichtshandeln als Offenbarung eine eigentümlich und ausschließlich alttestamentliche bzw. biblische Botschaft sei, die Grundlagen. Damit soll freilich der Gedanke nicht aufgegeben werden, daß der alttestamentliche Glaube sich in entscheidenden Zügen von allen anderen Religionen des Alten Orients unterscheidet. Nur die alttestamentliche Vorstellung vom Handeln Gottes im Leben und Geschick von Völkern und Menschen gehört nicht zu den Unterscheidungsmerkmalen, sondern zu den Ähnlich3

B. Albrektson, History and the Gods, 1967.

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keiten oder Parallelen mit anderen altorientalischen Religionen; sie gehört zu den religiösen und theologischen Grundanschauungen des Alten Orients einschließlich Israel. e) Schließlich ist ein solches Handeln Gottes oder der Götter nicht an sich Offenbarung, weil es aus sich heraus nicht ohne weiteres verständlich ist. Die Geschehnisse im Leben und Geschick der Völker und Menschen sind gewöhnlich mehr- oder vieldeutig und bedürfen daher der Deutung oder Interpretation, damit man sie als Handeln Gottes und nicht als Zufall oder ähnliches versteht und damit man erkennen kann, um was für eine Art von Handeln es geht und was es bezweckt. Solche Deutung und Interpretation aber kann nur durch das erklärende Wort erfolgen. Daher muß man das Augenmerk auf die Offenbarung durch das göttliche Wort richten, um die entscheidenden Merkmale zu erfassen, die den biblischen Glauben von den anderen altorientalischen Religionen abheben. Denn im Alten Testament ist der Inhalt der Offenbarung in mancher Hinsicht einzigartig. Er bezieht sich auf Gottes Absichten, Entschlüsse und Taten, auf seine Gaben und Ansprüche, die ihn von den anderen Göttern des Alten Orients unterscheiden. Darum ist der wesentliche und spezifische Inhalt des alttestamentlichen Glaubens letztlich von dem herzuleiten, was das Alte Testament als göttliche Offenbarung durch das Wort darstellt. IV. Offenbarung und prophetische

Verkündigung

Treffen wir mit dem über das Wort Gottes Gesagten endlich doch ein eindeutiges Kriterium von Offenbarung, das eine klare Näherbestimmung ermöglicht? Wenn es das Wort Gottes ist, dann müßte Offenbarung am besten in der prophetischen Verkündigung greifbar sein, die sogar feste Formeln verwendet, vor allem: „So hat Jahwe gesprochen" und „ist der Ausspruch Jahwes". Doch auch hier gilt es, nicht vorschnell zu urteilen. Das Alte Testament selbst hat bereits Schwierigkeiten gesehen: Ist es wirklich immer klar, daß die prophetische Verkündigung auf göttlicher Offenbarung beruht? Dtn 18 erklärt dazu: „Der Prophet, der sich vermessen hat, in meinem Namen etwas zu verkündigen, dessen Verkündigung ich ihm nicht aufgetragen habe, oder der im Namen anderer Götter reden sollte — ein solcher Prophet muß sterben. Und wenn du bei dir denken solltest: Wie sollen wir erkennen, daß Jahwe etwas nicht geredet hat? (so wisse:) Wenn ein Prophet im Namen Jahwes redet und der Spruch sich nicht erfüllt und nicht eintrifft, dann ist das ein solches Wort, das Jahwe nicht gesprochen hat." Etwas anders läßt Jer 28 es den Propheten

Offenbarung und prophetische Verkündigung

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Jeremía in seiner Auseinandersetzung mit dem Heilspropheten Chananja ausdrücken: „Die Propheten, die vor mir und dir seit alters gewesen sind, haben über mächtige Völker und große Reiche von Krieg, Unheil und Seuche prophezeit. Dagegen bei dem Propheten, der Heil prophezeit, gilt: Am Eintreffen des Prophetenwortes wird der Prophet erkannt, den Jahwe wirklich gesandt hat." Dtn 18 fordert also in jedem Falle das Eintreffen des vom Propheten Angekündigten, Jer 28 nur das Eintreffen der Heilsankündigung. Doch abgesehen von diesem Unterschied suchen beide Texte einen Maßstab anzugeben, an Hand dessen man prüfen kann, ob das als Offenbarung Verkündigte wirklich auf Offenbarung beruht oder Offenbarung ist. Offensichtlich war es damals schon nicht leicht, dies zu erkennen. Daher rührt die Auseinandersetzung innerhalb der Prophetie selbst, wobei einige der großen Propheten der vorexilischen Zeit andere als „falsche Propheten" ablehnen und zurückweisen. Daß solche Formeln wie „So hat Jahwe gesprochen" nicht ausreichen, um einen Prophetenspruch als Offenbarung zu kennzeichnen, wird verständlich, wenn wir uns vor Augen führen, auf welche Weise ein Prophetenspruch entstand und welche Stadien er bis zum Augenblick der mündlichen Verkündigung durch den Propheten durchlaufen mußte. Es handelt sich um vier Stadien: a) Das erste Stadium und also die letzte Quelle aller prophetischen Tätigkeit ist ein Augenblick persönlicher Gottergriffenheit. In ihm kommen der „Geist" oder das „Wort" Gottes über den Propheten. In einem solchen Augenblick persönlicher Gottergriffenheit macht der Prophet eine „geheime Erfahrung" 4 . Man kann zumindest vier solcher Erfahrungen erkennen: die Vision (die innere Schau, z. B. Jes 6), die Audition (das innere Hören, z. B. Jer 4, 5—8. 13—16. 19—22), die plötzliche Eingebung (z. B. Jes 7, 10—17) und das wunderbare Wissen (z. B. der „Feind aus dem Norden" in der Frühzeit Jeremias). Solche geheimen Erfahrungen sind die Keimzelle der prophetischen Verkündigung gewesen. b) Das zweite Stadium ist die Deutung und Auslegung der einzelnen Erfahrung durch den Propheten. Sie ist ganz von dem Gottesglauben beherrscht, in dem der Prophet lebt und der wiederum durch die Wucht der neuen Erfahrung eine Steigerung und Neufärbung erfährt. Denn die neue geheime Erfahrung wird so gedeutet, daß das neue Erleben sich in das schon bestehende Gesamtbild vom Wesen und Willen Gottes eingliedert und es von neuem vergegenwärtigt. 4

So nach H. Gunkel, Die Propheten, 1917, S. 1—31.

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Altes Testament und Offenbarung

c) Das dritte Stadium ist die verstandesmäßige Bearbeitung des Erlebnisses. Was der Prophet in der geheimen Erfahrung erlebt hat, soll ausgesprochen und verkündigt werden; so erfordert es der göttliche Zwang, der auf dem Propheten liegt und dem dieser sich so wenig entziehen kann, wie man sich der Furcht entziehen kann, wenn in der Nähe plötzlich ein Löwe brüllt (Am 3, 7). Wenn aber das Erlebte ausgesprochen werden muß und nach außen hin wirksam werden soll, muß es in vernünftige und verständliche Worte übersetzt werden. Diese Ubersetzung in die Rede des Alltags erfolgt so selbstverständlich, daß der Prophet manchmal von sich aus eine sachgemäße Begründung hinzufügt oder verstandesmäßige Folgerungen zieht und in sein Wort einfügt. d) Dem läuft als viertes Stadium die künstlerische Ausformung parallel, die ebenfalls ganz selbstverständlich erfolgt. Nach damaligem Verständnis muß jedes Orakel, auch das prophetische, grundsätzlich in poetisch gebundener Rede erteilt werden. Daher gibt es kein wirkliches Prophetenwort, das nicht in Versform gehalten ist. Wir müssen aus dem Gesagten weitere. Folgerungen ziehen. Wir sehen, daß die geheime Erfahrung grundlegend ist, das uns vorliegende einzelne Prophetenwort aber nicht einfach „das Wort Gottes" darstellt, sondern mehrere Stadien durchlaufen hat und ein Ineinander von gottgegebener Erkenntnis und prophetischer Deutung, Auslegung und Verarbeitung ist. Wir können nur theoretisch zwischen dem Offenbarungsempfang durch das Erleben geheimer Erfahrungen und der anschließenden Deutung und Formulierung der erhaltenen Erkenntnisse durch den Propheten unterscheiden. Die göttliche Offenbarung geht über den menschlichen Mittler und wird durch ihn geformt. Daher wird die göttliche Botschaft auch in der Prophetie nicht als eine objektiv faßbare theoretische Lehre oder als eine zeitlose allgemeingültige Wahrheit übermittelt, sondern begegnet innerhalb eines Glaubens, der durch diese Offenbarung in bestimmter Zeit und Lage geschaffen worden ist. Wir können zwischen dem göttlichen Wort der Botschaft und ihrem glaubenden und theologischen Verständnis durch den Propheten praktisch nicht trennen. Beides tritt uns als eine Einheit entgegen, die von einer persönlichen Erfahrung ausgeht, eine dadurch bedingte Auslegung einschließt und in der damaligen Ausdrucksweise theologisch geprägt ist. Schließlich kann man daran erkennen, wie „falsche Prophetie" entsteht. Entweder lag überhaupt keine geheime Erfahrung zugrunde, so daß alles Gesagte völlig in der Luft hängt, oder die geheime Erfahrung ist vom

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Propheten in falscher Weise gedeutet, ausgelegt oder verstandesmäßig bearbeitet worden. So besteht durchaus die Möglichkeit, daß auf dem Wege von der geheimen Erfahrung bis zur mündlichen Verkündigung aus dem in der geheimen Erfahrung Erlebten etwas ganz anderes und vielleicht sogar Gegenteiliges geworden ist. In manchen Fällen ist dies wohl auch geschehen. Schon das macht es unmöglich, Prophetenwort und Offenbarung miteinander gleichzusetzen oder jedes Prophetenwort ohne weiteres als geoifenbart zu betrachten. Selbst wenn man eine ursprüngliche Offenbarung an den Propheten annehmen will, ist damit keineswegs die Sicherheit gegeben, daß das einzelne Prophetenwort das Geoffenbarte wirklich wiedergibt. Wir müssen sogar noch einen Schritt weitergehen: Woher wollen wir wissen, daß einem Propheten tatsächlich eine Offenbarung zuteil geworden ist und daß er es nicht nur irrtümlich oder fälschlich behauptet? Wir wissen nur und können nur sagen, daß er eine geheime Erfahrung gehabt hat. Eine solche Erfahrung aber läßt sich formal und äußerlich von den Erfahrungen anderer Menschen nicht unterscheiden. Die prophetische Verkündigung wird durch geheime Erfahrungen nicht als auf Offenbarung beruhend legitimiert und nicht in einer Weise äußerlich beglaubigt, die jedem Menschen einsichtig gemacht werden könnte. Sie erhebt nur den Anspruch, das Wort Gottes wiederzugeben und auf Offenbarung zu beruhen. Über die Annahme und Ablehnung dieses Anspruchs muß der von dieser Verkündigung Angeredete entscheiden — in eigener Verantwortung f ü r Leben und Tod. Er kann sich dazu nur an den Inhalt der Verkündigung halten und prüfen, ob er wahr und echt ist, d. h. ob er lediglich die typische menschliche Daseinshaltung bestätigt und den Menschen in Sicherheit wiegt oder sie erschüttert und in Frage stellt und statt ihrer eine neue Daseinshaltung vor Gott und in der Welt fordert oder verheißt — eine Daseinshaltung, die von der bisherigen nicht nur gradweise, sondern grundsätzlich verschieden ist und dem göttlichen Willen mehr entspricht als das bisherige Leben. V. Ergebnisse Wenn wir das ganze Alte Testament überblicken, dann ergeben sich zwei wichtige Erkenntnisse: 1. Offenbarung ergeht im konkreten Gegenüber von Gott und Mensch und richtet sich an einen bestimmten Menschen oder Menschenkreis. Offenbarung ist daher eine persönliche Erfahrung; nur wer sie erlebt, kann 4 Theologische Grundstrukturen

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Altes Testament und Offenbarung

Offenbarung bezeugen oder beschreiben. Sie ist keine objektiv faßbare Erscheinung, sondern ein persönliches Erleben, das den Menschen trifft. Dies ist heute besonders gegenüber einer Theologie zu betonen, die von soziologischen Kriterien ausgeht und den Glauben nach seinem gesellschaftlichen oder gesellschaftskritischen Nutzen bewertet, die dabei nicht beachtet, daß die Propheten von einem durchaus persönlichen Erleben ausgegangen sind und dennoch gesellschaftskritische Folgerungen daraus gezogen haben — Folgerungen freilich, die gottgemäßer sind als diejenigen der theologischen Revolutionäre —, und die nur noch dem äußeren Anschein nach Theologie ist, sich in Wirklichkeit jedoch zu einer Magd der Soziologie und Gott zu einer gesellschaftlichen Funktion degradiert. 2. Wird von einem Menschen oder Propheten die als persönliche Erfahrung erlebte Offenbarung weitergegeben und verkündigt, so kann er seine Erfahrung dem Zuhörer nicht formal und äußerlich als eine Offenbarungserfahrung nachweisen und sie nicht äußerlich beglaubigen, so daß sie ohne weiteres einsichtig würde. Er kann nur den Anspruch erheben, das auf Offenbarung beruhende Wort Gottes weiterzugeben. Die Berechtigung, aber auch die Verantwortung, diesen Anspruch anzunehmen oder abzulehnen, liegt beim Zuhörer. Er entscheidet damit zugleich über sich selbst — über sein Leben und seinen Tod. Er kann sich dabei nicht an äußere Kriterien halten, die ja nicht zur Unterscheidung von anderen menschlichen Erfahrungen befähigen. Vielmehr muß er vom Inhalt der Verkündigung ausgehen und danach entscheiden, ob ihm Offenbarung begegnet — anders gesagt, ob sein bisheriges, typisches menschliches Daseinsverständnis dadurch bestätigt oder ob es erschüttert und in Frage gestellt und ihm eine neue Daseinshaltung vorgezeichnet wird, die nicht mehr dem sündigen, gottlosen Leben entspricht, sondern dem göttlichen Willen gerecht wird. Darin liegt das Kriterium, das zu einer solchen Unterscheidung und damit zur Erkenntnis von Offenbarung befähigt.

3. Kapitel DIE V I E L F A L T DER D A S E I N S H A L T U N G E N I. Einführung Als Folge der Erschließung des Alten Orients, die das Ergebnis einer umfassenden Ausgrabungstätigkeit ist1, wird die alte Frage nach Verständnis und Geltung des Alten Testaments seit einigen Jahrzehnten verschärft. Hatte man vorher vom Alten Orient nur unzureichende Kunde aus dem Alten Testament selbst und einigen griechischen Historikern gehabt, so ließen ihn die Ausgrabungen in ungeahnter Größe wiedererstehen. Die Wiederbelebung des Interesses hatte mit der Arbeit jener Gelehrten begonnen, die Napoleon auf seinem Zug nach Ägypten (1798/99) zur Erforschung des Landes mitnahm. Ihnen folgten mancherlei andere Expeditionen, die die Denkmäler des Landes genauer untersuchen wollten. Das Stadium wissenschaftlicher Ausgrabungen begann erst, als nach 1880 Vertreter verschiedener Nationen die Erlaubnis hierzu erhielten. In Mesopotamien begannen die Ausgrabungen bald nach 1840. Der erste großartige Fund war die Entdeckung der Bibliothek des Königs Assurbanipals mit etwa 30000 Tontafelbruchstücken. Die entscheidenden Arbeiten in Mesopotamien wurden ebenfalls erst gegen Ende des letzten Jahrhunderts begonnen. Mitten in dieser Welt des Alten Orients zwischen Ägypten, Mesopotamien und Kleinasien lag Palästina, auf dessen Boden die Israeliten in ihrer geschichtlichen Zeit wohnten und das Alte Testament entstand. Zwar bildete Palästina nur einen kleinen Ausschnitt aus dem gesamten Raum des Alten Orients, aber infolge seiner zentralen Lage zwischen den großen Reichen am Nil und Euphrat-Tigris hatte es besondere Bedeutung. Es war stets der Schauplatz der Begegnung und des Ringens der politischen und kulturellen Kräfte des Vorderen Orients. Mit der Möglichkeit der Beeinflussung oder Abhängigkeit seiner Bewohner mußte grundsätzlich gerechnet werden. Bald zeigten mannigfache Untersuchungen die Einwirkungen der

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Vgl. W. F. Albright, Archaeology and the Religion of Israel, 1946; J. Finegan, Light from the Ancient Past, 1947; M. Noth, Die Welt des Alten Testaments, 1962"; D. W. Thomas (ed.), Archaeology and Old Testament Study, 1967.

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altorientalischen Kulturen auf die Israeliten und ihren Glauben. Der sog. Babel-Bibel-Streit nach der Jahrhundertwende war ein Symptom dieser Lage. Zeitlich konnte man bald die Geschichte des Alten Orients bis ins 4. Jt. v. Chr. zurückverfolgen. Inzwischen sind die Ausgrabungen weitergeführt worden und haben bis auf die ersten Stadtsiedlungen wie Jericho im 8. Jt. v. Chr. geführt. Ging man von den Anfängen im 4. Jt. aus und berücksichtigte die Höhepunkte im 3. Jt. v. Chr., so erschien bereits die Zeit Moses und Josuas als eine Spätzeit. Sie setzt die Entfaltung der altorientalischen Kultur schon voraus. Die spätere Geschichte Israels rückte aufgrund der neuen Erkenntnisse in umfassende Zusammenhänge. Die Landnahme in Palästina erfolgte als eine der zahlreichen Völkerbewegungen, die aus Steppe und Wüste ins Kulturland drängten. Die Gründung von Staat und Königtum geschah in einer Zeit politischer Schwäche der Großmächte und war nur in ihr möglich. Der Untergang der. später getrennten Staaten Israel und Juda war durch den neuen Aufstieg der Großreiche Assyrien und Babylonien bedingt. Erhob sich damit die bedrängende Frage, wieviel vom Alten Testament überhaupt noch israelitisch und nicht altorientalisches Erbgut sei, so hat sich die Lage durch neuerliche Ausgrabungen in Syrien-Palästina weiter verschärft. Als bedeutsamste Funde haben sich mehr und mehr die aus dem nordsyrischen Ras Schamra, dem früheren Ugarit, erwiesen2. Seit 1929 findet man immer wieder neue Texte, die dem Boden Kanaans selbst entstammen und die ersten Überreste der kanaanäischen Literatur darstellen. Die Sprache scheint trotz verschiedener Besonderheiten ein Dialekt des kanaanäischen Zweiges der semitischen Sprache, also dem Hebräischen verwandt zu sein. Die Texte erweisen sich als von größter Bedeutung für unsere Kenntnis der kanaanäischen Kultur und Religion, auf die die Israeliten bei ihrer Einwanderung in Palästina getroffen sind. Zum erstenmal erhalten wir ein eindrückliches Bild dieser Kultur und Religion im 15. Jh. v. Chr., zum erstenmal beginnen die vorisraelitischen Einwohner des Landes 2

C. F.-A. Scheaffer (ed.), Ugaritica, I—VI 1939—1969; ders. (ed.), Le Palais Royal d'Ugarit, I—V 1955—1965. Dazu u. a. G. R. Driver, Canaanite Myths and Legends, 1956; J. Aistleitner, Die mythologischen und kultischen Texte aus Ras Schamra, 19642; C. H. Gordon, Ugaritic Textbook, 1965; J. Gray, The Legacy of Canaan, 19652; G. Fohrer, Die wiederentdeckte kanaanäische Religion, in: Studien zur alttestamentlichen Theologie und Geschichte (1949 bis 1966), 1969, S. 3—12.

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für uns Wesen von Fleisch und Blut zu werden. Entgegen früheren Anschauungen, die den Kanaanäern nur eine Primitivkultur und -religion zubilligen wollten, stoßen wir auf eine Hochkultur, die der ägyptischen und babylonisch-assyrischen verwandt ist und auf gleicher Stufe neben ihnen steht, ja, die einen großen Einfluß auf den östlichen Mittelmeerraum und das griechische Vorstellen und Denken ausgeübt hat. Die kanaanäische Religion war eine bäuerlich bestimmte Hochreligion. Die Fruchtbarkeit des Bodens und der Ertrag der Ernte stehen im Mittelpunkt und bilden den Hauptgegenstand der Mythen und Kulte. Wie jede derartige Religion war sie grausam, sinnlich und orgiastisch. Es gab eine Gruppe von Hochgöttern, die ein Pantheon in der Art anderer altorientalischer Religionen bildeten. Zu ihm gehört eine ältere Gruppe um die Götter El und Aschera; El ist der Gott des Himmels und der Weisheit, König und Vater der Götter, neben dem sein Weib Aschera, die Mutter von 70 Göttern, steht. Dazu tritt eine jüngere Gruppe um Baal, Mot und Anat. Baal und Mot sind dahinsterbende und wiederauflebende Götter, die sich in der Herrschaft über die Erde ablösen. Die Züge, die sie getrennt tragen, sind später in Adonis vereint. Baal ist vor allem der Gott der Vegetation der fruchtbaren Zeit des Jahres. Mit seinem Dahinscheiden erlischt alle Fruchtbarkeit auf Erden und beginnt erst mit seiner Wiederkehr in der Regenzeit von neuem. Mot wird nach dem Mythos von der Göttin Anat zerhauen, geworfelt, gemahlen und aufs Feld gesät. Er stellt wohl das Korn dar und muß daher wie dieses neu erstehen. Die bisherige Forschung hat eine Fülle von Übereinstimmungen mit dem Alten Testament auf sprachlichem und lexikalischem, stilistischem und literarischem, kultur- und religionsgeschichtlichem Gebiet erkannt. Freilich wäre es falsch, die These der Abhängigkeit Israels von Babylonien—Assyrien durch diejenige einer ebensolchen von kanaanäischer Kultur und Religion zu ersetzen. Aber angesichts der Fülle von Übereinstimmungen, die zu den schon vorher gekannten Parallelen zu ägyptischen und mesopotamischen Erscheinungen hinzutreten, erhebt sich in verschärftem Maße die Frage nach dem Verständnis und der Geltung des Alten Testaments. Nach seinem Verständnis: Wieviel vom Alten Testament ist überhaupt noch israelitisch? Wieviel ist nicht altorientalisches Erbgut, sondern ihm eigentümlich? Nach seiner Geltung: Gibt es etwas im Alten Testament, das anders und mehr ist als das altorientalische Kulturgut, das doch mit seiner Zeit vergangen ist? Ist das Alte Testament nur die Literatur eines Volkes mit einer altorientalischen Mischkultur, oder birgt es anderes und mehr als das, so daß es heute noch Geltung beanspruchen kann?

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Die erste Frage wird vor allem den Historiker und Religionswissenschaftler interessieren, obwohl sie unausgesprochen in der zweiten mitschwingt und in ihrer Beantwortung Inbegriffen ist. Die zweite Frage aber geht zumindest jeden Christen an. Sie ist geschichtlich und theologisch zugleich: Ist in jener Welt des Alten Testaments etwas enthalten, das uns betrifft und heute noch Geltung beanspruchen kann — auch angesichts der Lage, die sich durch die Erschließung des Alten Orients ergeben hat? Gerade die zahlreichen Übereinstimmungen mit altorientalischem Gut zeigen, daß das Alte Testament eine andere Anschauung der Welt und andere Denkformen als wir hat. Mit innerer Wahrhaftigkeit können wir sie uns nicht einfach zu eigen machen. Wir können nicht mehr davon ausgehen, daß die Erde eine Scheibe ist, die auf Säulen ruht und über der sich das Himmelsgewölbe wie eine Schale wölbt, und daß dies mit dem beide umgebenden Urmeer der gesamte Kosmos sei. Dies und vieles andere können wir nicht mehr hinnehmen, sonst leben wir im Glauben in einer anderen Welt als im täglichen Leben. Das Eigentümliche des Glaubens aber ist es, das ganze Leben und den ganzen Menschen zu umfassen. Mit welchem Recht gilt dann das Alte Testament als ein für Juden und Christen heiliges Buch, mit welchem Recht ist es Gegenstand theologischer Forschung? Hat es lediglich eine zeitgebundene Bedeutung gehabt, so daß es nur noch den Historiker beschäftigen kann, oder besitzt es überzeitliche und bleibende Bedeutung, so daß es nach wie vor jeden Menschen anspricht? Der Weg zur Lösung dieser Fragen muß der geschichtlich-menschlichen Seite einerseits und der Bezeugung des Glaubensanspruchs andererseits gleicherweise gerecht werden. Beides wird deutlich, sobald man die Daseinshaltung des alttestamentlichen Menschen vor Gott und in der Welt ins Auge faßt. In der Daseinshaltung ist die Schicht gegeben, in der die Reaktion des Menschen auf den Glauben und damit das Einwirken dieses Glaubens auf das menschliche Dasein ersichtlich wird. Die Daseinshaltung kann wiederum nur mit den Mitteln der kritischen Wissenschaft erforscht und dargestellt werden; letztere bildet also die unentbehrliche Voraussetzung für das Verstehen des Alten Testaments. Die Daseinshaltung stellt sich im Alten Testament in einer bestimmten Geschichte dar, in deren Rahmen sie in verschiedener Weise Wirklichkeit geworden ist. Daher müssen ihre Ausprägungen und Umgestaltungen im Rahmen jener Geschichte erfaßt werden. Der äußere Verlauf der Geschichte ist längst bekannt, während der innere erst infolge der Erschließung des Alten Orients einsichtig zu werden beginnt. Die innere Geschichte Israels aber ist die Geschichte der Auseinandersetzung des alttestamentlichen

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Glaubens mit zwei ihm entgegengesetzten oder gar feindlichen Mächten, deren Anerkennung und Abwehr die typische menschliche Daseinshaltung bestimmt haben: der Auseinandersetzung mit der Magie und der Weisheitslehre. Es handelt sich um die Auseinandersetzung mit den beiden großen Versuchen des Menschen, seines Lebens Herr zu werden und sich seiner sicher zu fühlen, sein Dasein vor dem Einbruch jener mehr oder weniger bekannten überweltlichen, jenseitigen Macht zu sichern, die es erschüttert und in Frage stellt. Im Verlauf dieser Auseinandersetzung und schließlichen Überwindung dieser beiden Mächte ist der alttestamentliche Glaube gewachsen und die besondere Daseinshaltung geformt worden, durch die das Alte Testament die Bedeutung gewonnen hat, die es in der Geschichte des christlichen Glaubens tatsächlich hatte und die es auch heute noch beanspruchen darf. II. Der Glaube der Mosezeit Grundlegend f ü r die Ausprägung des alttestamentlichen Glaubens sind die Erfahrungen der Mosezeit geworden. Allerdings sind die geschichtlichen Erinnerungen von Sagen und Legenden überwuchert. Gerade infolge der überragenden Bedeutung jener Zeit wurden zum Kern der Berichte immer neue Züge, Einzelheiten und Erzählungen hinzugefügt. So ist das Geschichtliche heute schwer zu greifen und schimmert oft nur noch durch 3 . Man darf den Erzählungen wohl entnehmen, daß wie in anderen Fällen eine nicht näher bestimmbare Gruppe von nomadischen Israeliten in einer bedrohlichen Zeit nach Ägypten gewandert und dort nach und nach zu Fronarbeiten gezwungen worden ist. Als der Verlust ihrer Freiheit sie schwer bedrückte, erstand ihr in Mose der Retter. Er rief die Geknechteten im Namen des Gottes Jahwe, der sie bei sich in der Wüste haben wollte, zur Flucht auf. Die Flucht wurde unternommen. Sie führte wahrscheinlich entlang der Mittelmeerküste am Sirbonischen See östlich des Nildeltas vorüber. Die Gefährlichkeit der an diesem See entlangführenden Straße und der Seen nördlich von Suez für den Marsch größerer Menschengruppen ist hinreichend bezeugt 4 . Die verfolgenden Ägypter — wohl ein Trupp der 3

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Daher rühren vor allem die unterschiedlichen Mosebilder. Vgl. dazu R. Smend, Das Mosebild von Heinrich Ewald bis Martin Noth, 1959; Eva Osswald, Das Bild des Mose in der kritischen alttestamentlichen Wissenschaft seit Julius Wellhausen, 1962. O. Eißfeldt, Baal Zaphon, Zeus Kasios und der Durchzug der Israeliten durchs Meer, 1930.

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Grenzwache — erlagen mit ihren schweren Kriegswagen der Gefahr. Das Erhoffte war eingetreten: Jahwe hatte geholfen, die Flucht war gelungen! Im weiteren Verlauf der Wanderung ist Mose mit den israelitischen Nomaden zum Gottesberg in der Wüste gelangt, der Sinai, Horeb oder einfach „Gottesberg" genannt wird. Dort hat Mose die Schar zu einer Gemeinde konstituiert, durch die Bindung an den Gott Jahwe innerlich geeint und ihr zugleich einen neuen Glauben gegeben. Im Namen dieses Gottes hat er ihnen neue und das ganze Leben regelnde Verhaltensordnungen verkündet, die solch unauslöschlichen Eindruck gemacht haben, daß Jahrhunderte später neue Gesetze mit der Autorität Moses begründet worden sind (ζ. B. Lev 17—26 und das deuteronomische Gesetz). Aus unbekannten Gründen ist die Mosegruppe bald darauf weitergezogen, vielleicht vom Kulturland im Norden angelockt, in dem schon Stammverwandte lebten. Nach einem Kampf mit den Amalekitern gelangte sie ins Ostjordanland, das zunächst besetzt wurde, soweit es noch nicht besiedelt war. Dort ist Mose gestorben. Mose ist Offenbarungsempfänger, Kultstifter und inspirierter Führer in einer Person, vielleicht die gewaltigste Gestalt, die aus Israel hervorgegangen ist. Alle Späteren sind von ihm abhängig und berufen sich auch auf ihn. In der Kraft seines Glaubens hat er die Aufgabe vollbracht, zu der er sich berufen wußte: die widerstrebenden, eigenwilligen, „murrenden" Nomaden zu einer im Glauben gegründeten Einheit zusammenzuschließen, aus der in Palästina durch Einbeziehung einer Reihe von Stämmen ein Volk wurde, das sich ein Land eroberte und einen Staat schuf, in dem der Glaube weiterentwickelt wurde. Freilich ist der Glaube der Mosezeit nur in Umrissen erkennbar. Sicher ist, daß Jahwe der einzige Gott der Israeliten sein sollte. Der Glaube Israels an den Einen wird stets auf Mose zurückgeführt, obwohl er keinen theoretischen Monotheismus vertreten, sondern die Existenz anderer Götter für andere Völker wohl nicht bestritten hat. Immerhin ist Jahwe von Anfang an kein Lokalgott, sondern der Volksgott. Er ist in seiner Macht nicht auf den Sinai, nicht einmal auf Palästina beschränkt, sondern auch in Ägypten, am Meer und in der Steppe mächtig. Er zieht mit seinem Volk auf der Wanderung mit. Er ist mächtiger als alle anderen Götter, darum konnte er die Seinen aus Ägypten retten. Entsprechend dem Erlebnis am Sinai erscheint er als gewaltiger, erhabener, leidenschaftlicher und zorniger Gott; als ein Gott des Rechts und der Gerechtigkeit, der Sitte und Sittlichkeit will; als ein kriegerischer Gott, der die Seinen schützt und der zornig auf ihre Feinde losfährt, dem man im Kriege dienen soll; ein Gott

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heiligen Willens, der unbedingtes Vertrauen und rücksichtslosen Gehorsam fordert. Zweifellos hat es in der Mosezeit auch eine gewisse kultische Verehrung Jahwes gegeben, so daß die Ansicht, sie habe in der Wüstenzeit gefehlt (ζ. B. Am 5, 25), nicht zutrifft. Denn an dem Berge, auf dem Gott sich offenbart, weiht Mose ihm einen Altar. Ein Gottesbild dagegen scheint es von Anfang an nicht gegeben zu haben; der bildlose Kultus wird wahrscheinlich zutreffend auf Mose zurückgeführt. Ist nach all dem die Ansicht mancher Propheten und anderer israelitischer Gruppen, daß die Wüstenzeit die ideale Zeit des Volkes gewesen sei, schwerlich richtig, so ist sie doch grundlegend und bestimmend f ü r die weitere Ausgestaltung des alttestamentlichen Glaubens geworden. III. Die Auseinandersetzung mit der Magie 1. Die Daseinshaltung des alttestamentlichen Menschen ist weitgehend durch die Magie und die Auseinandersetzung mit ihr bestimmt worden. Aus ihrer eigenen Vorzeit brachten die israelitischen Stämme außer dem Glauben der Mosezeit manche magischen Vorstellungen und Praktiken mit. Vermehrt wurden sie in Palästina durch das Einströmen ägyptischer und babylonisch-assyrischer Kulte, die teilweise oder völlig von der Magie durchsetzt waren. Besonders die Bündnispolitik und die Vasallenstellung Israels und Judas während der späteren Königszeit bedingte diese Entwicklung. Am gefährlichsten war die kanaanäische Vegetations- und Fruchtbarkeitsreligion, die erst recht auf magischer Grundlage beruhte. Daher bildet die Auseinandersetzung zwischen Jahwismus und Baalismus einen wesentlichen Zug der vorexilischen Geschichte Israels. Wie dem Kanaanäer erschien dem seßhaft gewordenen Israeliten die Wüste von Dämonen bevölkert. Einem von ihnen, Asasel, soll noch nach dem Ritual der nachexilischen Priesterschrift alljährlich ein tierisches Abwehropfer dargebracht werden (Lev 16). Die Fruchtbarkeit der Felder hängt von anderen Dämonen ab, deren Gunst man sich durch mancherlei Gaben sichert. Bei der Ernte erhalten sie die ersten Früchte und die letzte Getreideecke, die man f ü r sie stehen läßt (Lev 19, 9). Weinstöcke, Öl- und Obstbäume dürfen nicht restlos abgeerntet werden, sonst wird der Dämon zornig und zieht fort. Dann verdorrt das Feld, und der Baum geht ein. Noch Hiob spielt darauf in seinem Reinigungseid an: Wenn mich mein Acker je verklagt und seine Furchen über mich geweint,

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weil ohne Entgelt ich den Ertrag verzehrte, des Ackergeistes Seele seufzen ließ, dann sollen Disteln statt des Weizens wachsen und statt der Gerste Unkraut sprossen!

(Hi 31, 38—40)

An der Schwelle des Hauses halten Dämonen Wache (Ex 12, 7; 21, 6; Dtn 6, 9; 11, 20; I Sam 5, 5; II Reg 12, 10). Vor dem Bau eines Hauses oder einer Ortschaft werden Grund und Boden durch ein Opfer an den Dämon des Ortes geschützt. Hiel baut das zerstörte Jericho um den Preis seines ältesten und jüngsten Sohnes wieder auf; ihre Leichen wurden im Fundament der Mauern beigesetzt (I Reg 16, 34). Zahlreiche derartige Funde von Kinderskeletten an verschiedenen Orten Palästinas scheinen dies zu bestätigen. Man führte ferner Krankheiten auf das Wirken dämonischer Mächte zurück. Nach einer alten Erzählung ging bei der Befreiung Israels aus Ägypten der „Verderben Bringende" bei Nacht umher und forderte seine Opfer. Nur von den Häusern der Israeliten wurde er durch das Blut an den Türen ferngehalten (Ex 12). Im Volksglauben sind noch andere Dämonen lebendig; Ps 91, 5—6 spielt auf dergleichen an: Du brauchst dich vor nächtlichem Schrecken nicht zu fürchten, nicht vor dem Pfeile, der am Mittag fliegt, nicht vor der Pest, die in nächtlichem Dunkel schleicht, nicht vor der Seuche, die am Mittag wütet. Die gefährliche Glut der Mittagssonne erscheint als Pfeilschuß eines Dämons. Auch die anderen Gefahren, Pest und Seuche, werden als von einem Dämon ausgehend betrachtet. Es gehört zu seinem Wesen, daß er nachts von Haus zu Haus schleicht. Auch bei Geisteskrankheiten ergreifen Dämonen vom Menschen Besitz; sie plagen den König Saul, der dadurch zu den unsinnigsten Handlungen getrieben wird; sie treiben die „Verrückten" um. Es gab immer Männer und Frauen, die sich auf das geheimnisvolle Handwerk verstanden, auf die dämonischen Mächte Einfluß zu gewinnen oder sie sich dienstbar zu machen. Die zahlreichen Namen, die das Alte Testament für sie hat, zeigen, wie vielgestaltig diese Erscheinung war. Sie konnten nach damaligem Glauben Krankheiten beschwören, Menschen bannen und lösen, Unglückstage herbeiführen, Regen machen und die Totengeister befragen. Der König Manasse bestellte Totenbeschwörer und Zeichendeuter und betrieb selbst Wahrsagerei und Zauberei (II Reg 21, 6). Das Volk hielt von solchen Praktiken mehr, als man gemeinhin anzunehmen geneigt ist. Man fürchtete sich vor der ständigen Bedrohung durch die Dämonen und die zauberischen Kräfte des Nachbarn. Man nahm

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daher seinerseits magische Handlungen vor, um sich zu schützen und dem Nächsten zu schaden. In manchen Psalmen scheint noch die Ansicht durch, daß das über einen Menschen hereingebrochene Unheil aus einem Zauber herrührt, der durch einen Gegenzauber gebrochen werden kann 5 . Bei Ausgrabungen in Palästina hat man Fluchtafeln gefunden, die Flüche und Verwünschungen des Feindes enthalten, ferner kleine Figuren, deren Hände und Füße umwickelt sind, wodurch der damit gemeinte Feind durch Gefängnis, Krankheit oder Tod gebunden werden sollte. Magische Kräfte besitzt nach damaligem Verständnis der Mensch in seinem Auge. Darum mußte man sich vor dem bösen Blick in acht nehmen. Zum Schutz trug man Amulette, die sich in reicher Zahl gefunden haben. Es gab blaue Perlen gegen den bösen Blick, silberne Händchen zur Bewachung der Kinder, Bilder und Symbole von Göttern und Dämonen, die deren Schutz sichern sollten. Magische Kräfte liegen im Wort des Menschen; es enthält die Mächte des Segens und des Fluches6. Glück oder Unglück der Gegenwart werden oft als Wirkung von Segens- oder Fluchsprüchen verstanden, die die Ahnen über die Nachkommen gesprochen haben (ζ. B. Gen 27; 48; Num 22—24). Ein solches Wort wirkt unmittelbar und unwiderruflich. Der Segen kann nicht wieder entzogen, aber auch nicht mehrfach gespendet werden, denn jeder Mensch hat nur einen Segen zu vergeben (Gen 27). Magische Kraftwirkungen gehen von der Leiche aus, daher werden bestimmte Trauergebräuche angewandt 7 . Man zerreißt die Kleider (Lev 10, 6; Jdc 11, 35; II Sam 1, 2.11; 13, 31; II Reg 19, 1), setzt sich in Asche (Jer 6, 26; Mi 1, 10), streut Erde auf sein Haupt (I Sam 4, 12; II Sam 1, 2) oder zieht an Stelle der gewöhnlichen Kleider ein besonderes Gewand an (II Reg 19, 1; Jes 3, 24; Jer 4, 8; 6, 26). Dies geschieht, damit man für den Toten unkenntlich wird und seine unheilvolle Kraft nicht zu spüren bekommt. Umgekehrt sucht man die eigene Lebenskraft auf den soeben Verschiedenen zu übertragen, indem man sich das Haupt- und Barthaar abschert oder ausrauft (Lev 21, 5; Dtn 14,1; 21,12; Jes 3,24; Jer 16,6; 41, 5; 47, 5; Mi 1,16), sich am ganzen Körper oder doch wenigstens an Armen und Händen blutig ritzt (Lev 19, 28; 21, 5; Jer 41, 5; 47, 5); denn in Haar und Blut ist die Lebenskraft greifbar vorhanden. 5 6

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Vgl. N. Nicolsky, Spuren magischer Formeln in den Psalmen, 1927. Vgl. J. Hempel, Die israelitischen Anschauungen von Segen und Fluch im Lichte altorientalischer Parallelen, in: Apoxysmata, 1961, S. 30—113. Vgl. P. Heinisch, Die Trauergebräuche bei den Israeliten, 1931.

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Die Bedeutung der Magie für den Glauben des Volkes kann schwerlich überschätzt werden. Eine erstaunlich große Zahl von Handlungen, deren magischer Hintergrund noch ganz deutlich ist, hat das tägliche Leben des Israeliten erfüllt. Man kann mit Salz schädliche Quellen gesunden lassen (II Reg 2, 19 ff.), mit Mehl giftige Speisen unschädlich machen (II Reg 4, 28 ff.). Der Hirt sucht mit Hilfe geschälter Zweige den Wurf der Schafe zu beeinflussen (Gen 30, 37ff.); die Frau verwendet Früchte, um durch ihre Zauberwirkung die Abneigung des Mannes zu beseitigen (Gen 30,14 ff.). Die des Ehebruchs verdächtige Frau muß ein Zauberwasser trinken, in das ein auf ein Blatt geschriebener Fluch gemischt wird; wenn sie schuldig ist, sollen ihr davon der Bauch anschwellen und die Hüften schwinden (Num 5,11 ff.). Man brauchte magische Handlungen bei der Ablegung des Eides und zur Ermittlung der Wahrheit. Der Blutrache liegt die Vorstellung zugrunde, daß die Lebenskraft einer Familie oder einer Sippe durch die Tötung eines ihrer Angehörigen geschwächt wird und daß dies durch die entsprechende Schädigung der schuldigen Familie ausgeglichen werden kann. Der bekannte Satz „Auge um Auge, Zahn um Zahn" besagt, daß der Schuldige von seinem Leibe oder Eigentum dasjenige hergeben oder wiedererstatten muß, woran er sich vergangen hat. Die gleiche Lebenskraft, die er dem Geschädigten geraubt hat, muß er sich selbst zugunsten seines Widersachers nehmen lassen. Sogar die Auffassung vom Opfer ist weitgehend durch die Magie bestimmt. Denn ein Geschenk und seine Annahme bedeuten eine Übertragung der Lebenskraft vom einen auf den anderen. So wird die Macht der Gottheit durch die gespendete Nahrung vom Menschen erhalten oder gefördert. Was es aber auch sein mag, stets sind die magischen Vorstellungen und Gebräuche Ausdruck einer bestimmten Daseinshaltung. Der Mensch, der in ihnen lebt, glaubt die großen Mächte des Lebens zu seinem Nutzen und zum Schaden des anderen beeinflussen und lenken zu können. Sie sollen ihm dazu dienen, des eigenen Daseins Herr zu werden, es gegen alle Gefahren zu sichern und zu seinem Höhepunkt zu führen. Sicherung vor den Mächten des Schicksals und Dienstbarmachung dieser Mächte — das ist die typische Daseinshaltung des magischen Menschen. 2. Gegenüber der Anpassung und Baalisierung des Glaubens, wie sie sich in der magischen Daseinshaltung unter dem Einfluß der kanaanäischen Kulte findet, steht die schroffe Ablenkung der kanaanäischen Kultur und Religion in den in Palästina noch vom nomadischen Ideal bestimmten Kreisen, vor allem in den Jahweorden, als deren maßgebliche Vertreter die Nasiräer und Rechabiten betrachtet werden dürfen. Sie haben zweifellos

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die Gefahr erkannt, die dem alten Glauben drohte, und wollten ihr wirksam begegnen. Sie haben richtig gesehen, daß die Kultur, die Israel in Palästina übernahm und entwickelte, mannigfache Elemente der kanaanäischen Religion in sich trug und deren Einströmen begünstigte. Daher haben sie sich gegen die Einflüsse kanaanäischen Wesens gewendet, wo sie sie fanden, und mit der fremden Religion zugleich die bäuerliche Kultur Kanaans abgelehnt. Bei den Nasiräern handelt es sich ursprünglich um Männer, die ihr ganzes Leben in den Dienst Jahwes stellten; aus der lebenslänglichen Verpflichtung ist später ein Gelübde auf Zeit geworden (Num 6). Aus Am 2,11—12 ergibt sich, daß die Nasiräer den Genuß von Wein ablehnten; wahrscheinlich stammt auch das Verbot des Haarschneidens (Num 6) aus alter Zeit. Durch beide Maßnahmen gaben die Nasiräer kund, daß sie die kanaanäische Kultur für unvereinbar mit dem Glauben der Wüstenzeit hielten. Größere Bedeutung als sie haben die Rechabiten erlangt (vgl. II Reg 10, 15ff.). Der Gründer des Ordens, Jonadab ben Rechab, lebte zu der Zeit, als Jehu im Nordreich Israel die Dynastie Omri stürzte und mit ihr den Baalglauben auszurotten suchte. Er und seine Anhänger wollten zur Einfachheit des Nomadenlebens zurückkehren. Was ging ihren Gott, den Jahwe der Wüste, der Ackerbau und die aufblühende Stadtkultur an? Daher verzichteten die Rechabiten auf den Besitz von Äckern und Weingärten, bestellten kein Land und tranken keinen Wein, bauten keine Häuser, sondern lebten in Zelten (Jer 35). Ähnliche Gedanken klingen gelegentlich in einer Quellenschicht des Hexateuchs an, die man deswegen am besten als nomadische Quellenschicht bezeichnet; neben dem Jahwisten und Elohisten ist sie die dritte Quellenschicht der älteren Zeit. Der Acker gilt ihr als verflucht (Gen 3, 17ff.). Zwischen ihm und dem Menschen besteht Feindschaft (Gen 4,12); auch eine gewisse Ablehnung des Weines als Symbol der kanaanäischen Kultur wird erkennbar (Gen 9, 21 f.; 19, 30ff.). So bewundernswert dieses Festhalten an den Idealen der Frühzeit des Glaubens erscheinen mag, so gefährlich war diese restaurative Daseinshaltung. Was besonders die Rechabiten wie das Heimweh nach einem verlorenen Paradies umtrieb, waren die Zustände und Verhältnisse einer vergangenen Zeit. Was sie begeisterte, gehörte der Geschichte an und hinderte sie, ihr Augenmerk auf die Gegenwart und die Zukunft zu richten. Hätten diese restaurativen Kreise ihr Ziel erreicht und ihre Ansichten durchsetzen können, so wären Glaube und Volk zur Unfruchtbarkeit verurteilt

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worden. Ob mit oder gegen ihren Willen — sie lebten inmitten des Kulturlandes. Und in ihm das Leben des Nomaden führen zu wollen, war keine Bewährung des Glaubens, sondern im Grunde ein Versagen. Es galt gerade, in Auseinandersetzung mit den neuen Verhältnissen den Weg zu finden, der lebensfähige neue Elemente in das Dasein einbezog. Es galt gerade, das Neue nicht als Ganzes oder von vornherein abzulehnen, sondern das, was sich nicht als berechtigtes Anliegen erwies, zu überwinden und den Glauben auf eine höhere Stufe zu führen. Es galt gerade, sich nicht in die Vergangenheit zu flüchten, sondern Gottes Willen in der lebendigen Gegenwart zu erkennen und im Dasein Gestalt gewinnen zu lassen. 3. Ein solcher Versuch, den Glauben in der neuen Umwelt eine neue Gestalt gewinnen zu lassen, liegt in dem durch den Kultus, teilweise auch durch das Gesetz bestimmten Glauben vor, der vom Priestertum immer neue Impulse erhielt und weitgehend als der offizielle Glaube Israels betrachtet werden darf. In ihm liegt eine Umgestaltung des Glaubens der Mosezeit vor, die sich im Verlauf der Auseinandersetzung mit der Magie gebildet hat. Der kultisch bestimmte Glaube ist durch ein Nebeneinander von Verbot und Kompromiß gekennzeichnet. Man wollte weder völlige Anpassung des Jahweglaubens an das Kanaanäertum noch völlige Ablehnung der kanaanäischen Elemente, sondern ging einen mittleren Weg. Verboten und scharf verfolgt wurden Magie und Zauberei samt allem, was mit ihnen unmittelbar zusammenhing, also ein erheblicher Teil des Volksglaubens. In dieser Hinsicht gab es keine Rücksicht. Auf Zauberei stand gewöhnlich die Todesstrafe; denn sie stellte die Grundlage des Glaubens, die alleinige Verehrung Jahwes, in Frage (Ex 22, 17; Dtn 18, lOff.). Daher wurden magisch begründete Trauergebräuche verboten (Dtn 14,1 f.). Wenn man ein Böckchen nicht in der Milch seiner Mutter kochen soll (Ex 34, 26), dann wird damit eine auf Milchzauber beruhende Sitte abgelehnt, die in den ugaritischen Texten erwähnt wird: „Schlachte (oder: bereite?) ein Ziegenböckchen in Milch, ein Lamm (?) in Rahm" (52,14). Die Nichtbeachtung solcher Verbote und das erneute Einströmen fremder Kulte führte mehrfach zu Kultusreformen, die ganz oder teilweise von der Priesterschaft als Hüterin des Kultus ausgingen. Sie begannen bald nach der Trennung der beiden Reiche Israel und Juda und erfolgten zunächst im Südreich, das dem Glauben der älteren Zeit näher stand als das Nordreich. Schon aus dem schroffen Auftreten des Königs Asa gegen die sonst besonders geehrte Königsmutter (I Reg 15, 12 f.) folgt, daß

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er im Einvernehmen mit dem Priestertum gegen die von der Königsmutter propagierten oder vertretenen fremden Kulte handelte. Daß solche Reformbestrebungen von den Priestern ausgingen, zeigt bald darauf das Vorgehen des Oberpriesters Jojada gegen den Baalkult der Königin Atalja (II Reg 11). Zu der Reformgruppe, in der das deuteronomische Gesetz entstanden ist oder weiterentwickelt wurde, haben vor allem die Landpriester gehört, die an den judäischen Heiligtümern außerhalb Jerusalems tätig waren. Neben dem Verbot magisch bestimmter Sitten und Riten steht die Auswahl dessen, was bis zu einem gewissen Grade annehmbar oder in der neuen Lage erforderlich schien. Es wurde übernommen und assimiliert. Konnte der kanaanäische Gott El nicht in seiner Eigenschaft als Vater oder Gatte in Jahwe aufgehen, so doch als Gott des Himmels und der Weisheit. Konnte die Stiernatur Baals, die den Ausgangspunkt für magische Vorstellungen bot, nicht auf Jahwe übertragen werden, so konnte dieser doch an Stelle Baals zum Herrn des kanaanäischen Kulturlandes und zum Spender aller Fruchtbarkeit werden. In dem von Salomo errichteten Tempel zu Jerusalem thront Jahwe in einem unzugänglichen, kleinen und lichtlosen Raum, durch Hof und Halle von seinen Verehrern getrennt, erhaben und zurückgezogen wie die Götter Ägyptens und Babyloniens. Die Vorstellungen, die diesem Tempelbau zugrundeliegen, sind nichtisraelitischen Ursprungs und nicht dem Wesen des Jahweglaubens entsprungen, sondern aus dem kanaanäischen Bereich entlehnt. Die Architekten und Bauleute sind denn auch kanaanäischer Herkunft gewesen: Phönizier aus der mit Salomo befreundeten und verbündeten Stadt Tyrus. Die Bezeichnungen der alttestamentlichen Opfer stimmen teilweise mit den kanaanäischen überein. Daß dies nicht nur darin begründet ist, daß es sich um zwei miteinander verwandte semitische Sprachen handelt, läßt sich daraus ersehen, daß die Israeliten in ihrer Frühzeit das Brandopfer nicht gekannt und es erst in Palästina übernommen haben. Dem Opfer geht wie im kanaanäischen Bereich eine gründliche Körperreinigung des Opfernden voraus. Der Altar ist der „Tisch Gottes" (Mal 1, 7 analog dem ugaritischen Text 51, I, 39). Wenn daher im Alten Testament gelegentlich die Ansicht vertreten wird, daß das Opfer nicht in der Wüstenzeit von Jahwe geboten und eingesetzt, sondern später eingeführt worden sei (Am 5, 25; Jer 7, 22), dann trifft dies insofern zu, als der größere Teil des israelitischen Opferwesens in Palästina unter kanaanäischem Einfluß entwickelt worden ist. Die Anfänge liegen freilich in mosaischer Zeit; zum

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Jahweglauben der Mosezeit hat sicher ein gewisser Opferkultus gehört. Aber der Ausbau ist später erfolgt. Genauso wie in anderen Kulten sprechen die Priester das Beschwörungsgebet (Num 10, 35f.), den Segen (Num 6, 24ff.) oder den Fluch (Num 5, 21 ff.). Sie kennen die Arten der Zeichendeutung und der Orakelfindung (I Sam 14, 37ff.; 23, 9ff.). Nur geschah alles nicht im Namen der kanaanäischen Götter oder durch den Zwang machthaltiger Worte und Handlungen, sondern im Namen des Gottes Israels. Diese Hinweise, die sich um viele vermehren lassen, machen die weitgehende Aufnahme ursprünglich fremder Vorstellungen deutlich. Im Kultus nimmt der Gott Israels die Züge der Landesgötter an und wird wie sie verehrt. Der starke ethische Wille im Gottesglauben tritt zugunsten der geheimnisvollen Lebensmacht der Gottheit und ihres Wirkens im Raum der Natur zurück. An die Stelle der schrecklichen Erhabenheit Jahwes tritt die Übermittlung heiliger Segensmacht. Gott schützt sein Volk nicht mehr wie einst nur von Fall zu Fall in Zeiten kriegerischen Geschehens, in Sturm und Wetter auf den Wolken einherfahrend. Ständig schenkt er dem Volk seinen Segen, damit die Viehherden und die Früchte des Ackers gedeihen. Alle Ereignisse des bäuerlichen Lebens werden auf Gott bezogen. Im Kultus kann der Mensch an der göttlichen Sphäre in gefühlsmäßigem Überschwang oder ekstatischer Erhebung Anteil erhalten. Auch dieser Kultus ist — wie die umgewandelte Gottesvorstellung — nicht in einer Offenbarung Gottes begründet. Er ist letzten Endes auch nicht durch Israel selbst geschaffen worden, sondern schließt sich an den Kultus des eroberten Landes an. An seinen Heiligtümern, die die Israeliten vielfach übernommen haben, auf seinen Altären, mit seinen Riten wird er ausgeübt, aber auf den Gott Israels als den alleinigen Herrn des Volkes bezogen. An den Heiligtümern versammeln sich die kultfähigen Männer der Landschaft, um für und mit dem göttlichen Segenspender die großen bäuerlichen Feste des Jahres zu feiern: das Fest der Brote, die aus der ersten Gerste des Jahres gebacken werden, das Fest der Ernte zum Abschluß der Getreideernte und das Fest der Lese zum Abschluß der Obstund Weinernte. Gewährt Jahwe dem Bauern seinen Segen, so bringt dieser ihm dafür seine Opfer als Dank und Bitte dar. Die Opfergaben werden am Heiligtum verzehrt, nachdem Jahwe und die Priester ihren Anteil erhalten haben. Man sitzt beim Schlachtopfer mit Jahwe zu Tisch und ist fröhlich in der Gewißheit, daß man auch im nächsten Jahr wieder reichen Segen erlangen kann.

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Darauf — von Gott etwas zu erlangen — ist der ganze Kultus abgestimmt. In der älteren Literatur fehlen Bußgebet und Lobpreis, aber auch das Dankgebet weitgehend. Dagegen ist das Bittgebet häufig. Man bat um Rettung aus Gefahr, um reiche Ernte, Regen und Kindersegen. Vielfach wurde gleichzeitig mit dem Bittgebet ein Opfer dargebracht oder für den Fall der Erhörung versprochen (Gen 28, 20ff.; I Sam 1, 11). Der Beter suchte durch Weinen und Klagen (I Sam 1, 7 ff.) oder durch Trauerbräuche und asketische Übungen (II Sam 12, 16; I Reg 21, 27) das Mitleid Jahwes zu erwecken. Auch das Gesetz, an dessen Überlieferung und Weiterbildung das Priestertum gearbeitet hat, dient der Gewinnung der Gunst Gottes und der Vergewisserung seiner Gnade. Zwar spielt es in der vorexilischen Zeit nicht die entscheidende Rolle wie später. Erst vom deuteronomischen Gesetz an beginnt es in wachsendem Maße in den Vordergrund zu treten. Aber die Voraussetzungen dafür sind vorher geschaffen worden. Nicht umsonst wird demjenigen, der das Gesetz hält, der göttliche Segen verheißen, demjenigen aber, der es nicht beachtet, sein Fluch angedroht. Die Forderungen des Gesetzes werden zur Richtschnur menschlichen Handelns, ihre Erfüllung zur gültigen Lebensform. Man kann dieser, vor allem in der nachexilischen Zeit vertretenen, Anschauung weder einen tiefen Ernst noch die Bereitschaft zum Gehorsam gegen den göttlichen Willen absprechen. Die innere Zustimmung zum Gesetz wird immer wieder spürbar, die über den Buchstaben hinausgehende Erfüllung fehlt nicht. Die einzelnen Gesetze können sogar dem grundlegenden Verhalten gegenüber dem Mitmenschen untergeordnet und dieses in umfassender Weise als Liebe zum Nächsten bezeichnet werden (Lev 19, 18). Diese Norm reicht weit über jede bloß äußerliche Erfüllung des Buchstabens des Gesetzes hinaus und umfaßt auch die gesetzlich nicht erfaßbare Hilfe für die Schwachen und Bedrängten. An Stelle bestimmter Gebote oder Verbote steht der Aufruf an den menschlichen Liebeswillen, aus dem jeweils die äußere Handlung in der konkreten Situation folgt. Insgesamt aber steht die Daseinshaltung des gesetzlich bestimmten Menschen auf derselben Stufe wie die des kultischen Menschen. Zunächst erhalten die kultischen Gebote dasselbe Schwergewicht wie die ethischen, wenn ihre Bedeutung nicht sogar überwogen hat. Wird dadurch die Sakralisierung und Ritualisierung des Lebens gefördert, so steht daneben als Gefahr der gesetzlichen Haltung die Einengung des Lebens in die Grenzen des Rechts, seine Regulierung und Schematisierung. Der Nachdruck liegt auf dem rechten äußeren Handeln. Da die innere Zustimmung J

Theologische Grundstrukturen

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und Hingabe nicht geschaut und ergriffen und daher nicht als Maßstab genommen werden kann, muß das äußere Tun und Lassen, das man sehen und beurteilen kann, als Maßstab dienen: Fromm und gerecht ist derjenige, der die im Gesetz niedergelegten Forderungen Gottes erfüllt. Schließlich sucht der Mensch durch sein Tun die göttliche Herrschaft zu fördern und die göttliche Gnade für sich zu erlangen. Er möchte mittels seiner Gesetzestreue den göttlichen Willen in einer menschlichen Lebensform sichtbare Gestalt gewinnen lassen. Er versucht letztlich, mit Hilfe des Gesetzes über Gott zu verfügen und ihn durch sein Handeln einzufangen. Es ist deutlich, daß der mit Kultus und Gesetz verknüpfte Glaube die Auseinandersetzung mit der magischen Daseinshaltung eingehend betrieben hat. Zugleich wird aber der alte Glaube umgestaltet, wie es durch die in Palästina gegebene Lage geboten war. Es war ein Ringen verschiedener Daseinshaltungen des Menschen vor Gott und in der Welt, in dem es um Sein oder Nichtsein ging. Aber diese Auseinandersetzung vollzog sich letztlich auf der gleichen Ebene8. Zwar sucht der kultische Mensch nicht mehr mit magischen Praktiken Macht und Lebenskraft zu gewinnen und sich zugleich gegen fremde Mächte zu sichern. Aber er möchte doch durch sein kultisches Handeln und durch das Befolgen des Gesetzes die göttliche Gnade für sein Volk und sich selbst erwerben. Er versucht mit Hilfe des Kultus und des Gesetzes, Gottes Gnade einzufangen und über Gott zu verfügen. Zwar wendet der Priester sich an Gott und nicht an die dämonischen Mächte. Er hat die göttliche Vollmacht für sein Amt, während beim Magier keine Sicherheit dafür gegeben ist, daß er die heraufbeschworenen Mächte wirklich meistern kann. Der Priester ruft die göttliche Kraft und Hilfe im Dienst der größeren Gemeinschaft oder mit deren Billigung im Dienste kleinerer Gruppen oder einzelner Menschen herbei, verfolgt aber nicht wie in der Magie die eigennützigen Interessen einzelner zum Schaden der Gemeinschaft. Doch ist nicht zu übersehen, daß Magie und Kultus sich beide in der Regel besonderer, machtwirkender Worte und Handlungen bedienen, die ein Ergebnis anstreben, das durch gewöhnliche Mittel nicht erreicht werden kann. In beiden Fällen handelt es sich darum, eine Kraft und ein Vermögen oder den Beistand und das Eingreifen der göttlichen Macht zu erlangen, die über das gewöhnliche, jedem Menschen ohne weiteres verfügbare Maß hinausgehen. 8

Vgl. zum Folgenden S. Mowinckel, Psalmenstudien, I 1921, S. 59ff.

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Der Unterschied zwischen magischer und kultischer Daseinshaltung ist im wesentlichen soziologisch bedingt. Der Magier dient seinen eigenen oder seines Auftraggebers Interessen, der Priester dient den Interessen der Gesamtheit. Daher ist der Priester rite vocatus, während der Magier seine Kunst aufgrund eigener Mächtigkeit ausübt. Daher verfolgt der Magier, da die eigennützigen Interessen des einen gewöhnlich mit dem Schaden eines anderen verbunden sind, meist eine böse Absicht und wendet sich an die zwiegesichtige dämonische Macht, während der Priester die Hilfe der gütigen Gottheit herbeiruft oder die zornige zu beschwichtigen sucht. Die kultische Daseinshaltung stellt ähnlich wie die magische den Versuch der Sicherung des Daseins mit Hilfe Gottes dar, nicht aber die Preisgabe an Gott. Die kultische Haltung ist gekennzeichnet durch die entschlossene Wendung zur Auseinandersetzung angesichts der neuen Lage, in der Israel sich in Palästina befand, wodurch sich in Ablehnung und Aneignung kanaanäischen Gutes eine Umgestaltung des alten Glaubens vollzog. Das Bedeutsame daran war zweifellos die Bekämpfung der Magie. Sie erfolgte durch die restlose Beziehung des Kultus auf Jahwe und die Betonung der Einheit von Glaube und Ethos durch das Gesetz — mag dies auch im zeitbedingten und daher weitgehend überholten Gewände des alttestamentlichen Kultus und des alttestamentlichen Gesetzes geschehen sein. Letztlich aber sind magische und kultisch-gesetzliche Daseinshaltung nicht grundsätzlich, sondern nur gradweise unterschieden. Denn der Mensch sucht durch sein kultisches Handeln und das Befolgen des Gesetzes Gottes Segen und Gnade zu erlangen. Er sucht wie der magische Mensch sein Dasein mit Hilfe Gottes zu sichern. Was dieses Dasein von Gott her in Frage stellt, wird übersehen oder umgedeutet. So steht der entschlossenen Wendung gegen die Magie das Steckenbleiben in dem für den Menschen typischen Versuch gegenüber, sein Leben mit Hilfe des an das Volk gebundenen und durch Kultus und Gesetz erreichbaren Gottes zu sichern. 4. Ebenso wie die Volksreligion mit ihrer magisch begründeten Daseinshaltung forderte die volkstümliche Überlieferung der Erzählungen aus der Frühzeit des Volkes die Kritik heraus, besonders soweit mythische Elemente darin lebendig waren oder lokale kanaanäisch-palästinische Sagen und Legenden ohne unmittelbare Beziehung auf den eigenen Glauben und das eigene Volk umliefen. Diese Kritik erfolgte durch zwei der älteren Erzähler im Hexateuch, die als Jahwist und Elohist bezeichnet werden, weil der eine von Anfang an den Gottesnamen Jahwe verwendet, der 5!

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Die Vielfalt der Daseinshaltungen

andere dagegen zunächst die Gottesbezeichnung Elohim und erst von der Mosezeit an den Namen Jahwe. Sie schalteten die fremden oder volkstümlichen Elemente dort aus, wo es nötig und möglich war, so daß die Erzählungen in ihrer alten Form kaum noch greifbar sind. Nur vereinzelt schimmern noch urtümliche Züge durch; im allgemeinen wird Fremdes scharf abgelehnt, so die Darstellung der Gottheit durch das Stierbild (Ex 32) und die Verehrung anderer Götter (Jos 24). Neben der Ablehnung stehen wiederum die Übernahme und Aneignung. Man übertrug kanaanäische Mythen auf den eigenen Gott. Dazu gehört das mythische Element vom Chaoskampf mit Leviatan (Jes 27, 1 ; Ps 74,14) und Tannin (Jes 51, 9; Ps 74, 13), die wie Rahab und Tehom als Feinde der Gottheit erscheinen. Beide werden in den ugaritischen Mythen als Feinde des Gottes Baal genannt (z. B. 67, I, 1; 126, V, 31 f.). Wie Baal den Ansturm von „Fürst Meer" und „Herrscher Strom" (68,15—17.22) abzuwehren hat, so daß die im Aufruhr gegen das Kulturland befindliche Flut in ihre Schranken zurückgewiesen werden muß, so kämpft Jahwe gegen Meer und Flüsse (Hab 3, 8) und erscheint das Meer als mythische Macht (Jes 51, 10; Hi 7, 12; 26, 12). Die Übernahme mesopotamischer Mythen ist besonders in der Urgeschichte der Genesis erkennbar. Die erste Schöpfungserzählung (Gen 1,1 —2, 4 a) weist mehrere enge Berührungen auf: Wasser und Finsternis als Merkmale des Chaos, die Entstehung der Welt durch Spaltung der Urflut (Tiamat — Tehom) und den Aufbau der Welt. Aber das eigentlich Mythische ist ausgeschieden, denn Gott erschafft die Welt durch sein Wort. In der zweiten Schöpfungs- und Paradiesgeschichte (Gen 2,4 b—3, 24) sind einzelne Züge mesopotamischen Ursprungs: der aus der Erde geschaffene Mensch, der von himmlischen Wesen bewachte Hain, die Vorstellung von der Lebensspeise, die Verführung des Mannes durch eine Frau und das Nichterlangen der Gottgleichheit. Längst erkannt ist auch die mesopotamische Herkunft der Sintfluterzählung (Gen 6—8). Wahrscheinlich sind diese und andere mythische Elemente den Israeliten durch die Kanaanäer vermittelt worden. Darauf weist die feste Verankerung in den alttestamentlichen Erzählungen und ihre Umgestaltung hin; sie müssen lange vor Aufnahme der engeren Beziehungen zu Babylonien in der Königszeit bekannt gewesen sein. Auch ägyptische Sagen sind übernommen worden und haben teilweise die eigenen geschichtlichen Erinnerungen überwuchert. Dazu gehören die Erzählungen von der Frau Potiphars und ihre Verführungsversuche an

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Joseph (Gen 39), von der Rettung Ägyptens aus der Hungersnot (Gen 41), vielleicht sogar die ganze Josepherzählung, die möglicherweise auf eine ägyptische Urfassung zurückgeht; ferner die Erzählungen vom Kindermord, Moses Aussetzung und Rettung (Ex 1) und vom Wettkampf der Zauberer (Ex 7, 11 f.; 8, 14f.). Man hat schließlich die Heiligtümer Kanaans auf den eigenen Gott übertragen, indem man sie mit den Ahnen Israels in Verbindung brachte. Sie haben sich dort aufgehalten, und Jahwe hat sich ihnen als der „Schild Abrahams" (Gen 15,1), der „Verwandte Isaaks" (Gen 31, 42), der „Verteidiger" oder „Kämpe Jakobs" (Gen 49,24) oder der „Stein Israels" (Gen 49, 24) geoffenbart. Es ist der gleiche Gott, den Israel seit Mose verehrt; daher gehören jene Heiligtümer rechtmäßig ihm. An dieser Stelle verschmilzt die Kritik der Erzähler mit dem kultischen Interesse. Auch um die Verankerung der ursprünglich fremden Kultstätten im eigenen Glauben zu rechtfertigen, wird die Überlieferung von den Vätern des Volkes in solch starkem Maße herangezogen. Aber nicht diese Verwurzelung der Erzähler im kultischen Bereich ist entscheidend. Entscheidend für die neue Umgestaltung des Glaubens ist vielmehr das nationale oder volksgebundene Element, das in dem Nachweis des mächtigen Handelns Gottes im Seßhaftwerden Israels in dem ihm von seinem Gott zugewiesenen Kulturland seine geschichtliche Berechtigung sucht. Hierin und in der Zusammenfassung der Einzelgeschichten und Geschichtenkränze zu geschlossenen Werken liegt die Bedeutung jener großen Erzähler. Grundlegend ist der Glaube an die Erwählung Israels durch Gott. Besonders für die erste Zeit bildet die Urgeschichte bis zu Abraham hin lediglich den dunklen Untergrund, von dem sich der Bericht von der Erwählung der Väter um so strahlender abhebt. Da das Interesse vor allem dem erwählten Volk gilt, scheiden die Erzähler alle Nebenglieder schnell aus und streben ihrem eigentlichen Ziel zu. Vor allem die Genesiserzählungen werden durch den Gedanken der Erwählung zusammengehalten. So steht manchmal die Gefahr des Erlöschens der erwählten Sippe durch die Unfruchtbarkeit der Ahnfrau (Sara und Rahel) oder ihre unmittelbare Gefährdung (Gen 12, lOfif. ; 20; 26) im Hintergrund. Isaaks Opferung, Jakobs Flucht, Josephs Bedrohung durch den Mordversuch seiner Brüder und den Verkauf nach Ägypten sollen die Weisheit Gottes zeigen, der seinen Plan der Erwählung zu einem glücklichen Ende führt. Die Landverheißungen an die Väter (Gen 12, 7; 13, 14ff.; 15, 7; 17, 4if.; 26, 3ff.; 28, 13ff.; 35, 11 f.; 48,4) sind der Ausdruck für den Rechtsanspruch des Volkes

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auf das eroberte Kulturland, der durch die göttlichen Verheißungen in der Vorzeit begründet werden soll. Ist der religiös-nationale Erwählungsglaube neben dem kultischen Interesse ein Hauptgrund für die starke Betonung der Vätertradition, so liegt ein weiterer in dem gerade von den Erzählern vertretenen großisraelitischen Gedanken. Sie schreiben nach der Trennung des durch David und Salomo begründeten Gesamtreichs in die beiden Teilreiche Israel und Juda. Angesichts dieser Trennung verankern sie den großisraelitischen Gedanken mittels der Vätertradition in der Vorzeit: eine Ahnenreihe — ein Volk! Ein ähnliches Ziel verfolgt die Landnahmetradition, die den langwierigen, erst zur Zeit Davids abgeschlossenen Vorgang der allmählichen Durchdringung und Einnahme des verheißenen Landes umfaßt. Sie schließt die feindliche oder friedliche Auseinandersetzung mit den Kanaanäern und den Anschluß neuer israelitischer Gruppen und Stämme ein. Ist die Landnahmetradition damit einerseits Zeugnis für den großisraelitischen Gedanken, so stärkt sie andererseits den Erwählungsglauben. Volks- und Glaubensgrenzen fallen zusammen. Jahwe überschreitet wohl die Grenzen des Landes, nicht aber die des Volkes9. Es ist bemerkenswert, daß der Jahwist den Namen Gottes, Jahwe, von oder vor Nichtisraeliten und Heiden nicht aussprechen läßt. Es darf nicht übersehen werden, daß bei diesen Erzählern auch die Impulse des alten Glaubens und frühprophetische Einflüsse wirksam sind, so daß der Verkehr Gottes mit den Menschen sich häufig in der Form des prophetischen Erlebens abspielt. Vor allem setzt sich gegenüber den kanaanäischen Vorstellungen das Wissen um das Handeln Gottes im Geschick der Völker und Menschen anstatt im naturhaften Kreislauf des Jahres durch. Maßgeblich für die Daseinshaltung dieser Erzähler ist jedoch das nationale Element. Durch das Zusammenfallen von Volks- und Glaubensgrenzen wird Gott nicht nur in die Schranken des Kultus, sondern auch in die der Nation eingeschlossen. Der Mensch fängt ihn nicht nur durch den Kultus ein, sondern auch durch die Bindung an das Volk. Er glaubt sich nicht nur durch die Ausübung des Kultus gesichert, sondern auch durch seine Zugehörigkeit zum erwählten Volk. Darum setzt das Volk alle Hoffnungen auf den ,,Tag Jahwes" (vgl. Am 5, 18—20), an dem der Feind niedergeworfen und Israel siegen wird. Darum hofft man während der Belagerung Jerusalems durch Nebukadnezar bis zur letzten Minute 9

Der Ausdruck „Richter (Herrscher) der ganzen Erde" Gen 18, 25 beruht auf prophetischem Einfluß.

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auf wunderbare Rettung, weil Gott sein Volk und seinen Tempel nicht im Stich lassen kann. So ist diese auf den nationalen Glauben gegründete Daseinshaltung ebenfalls eine für den Menschen typische Haltung. Auch die Folgen sind typisch. Hat die kultisch-gesetzliche Daseinshaltung dazu geführt, daß das Ritual den Glauben überwucherte, das Leben in unzählige Gebote und Verbote gepreßt und eine kaum zu übertreffende Werkgerechtigkeit gezüchtet wurde, so bewirkt die nationale mit der Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar eine verwüstete Stadt, einen entweihten Tempel und ein deportiertes Volk. Die späteren Aufstände in der Römerzeit führen zur endgültigen Katastrophe. Die Kämpfer jener Zeit leben völlig in der religiös-nationalen Daseinshaltung. Sie verstehen unter der Herrschaft Gottes in der Welt zugleich die Freiheit ihres Volkes. Beides wollen sie nicht geduldig erwarten, sondern durch die Brechung der Fremdherrschaft kämpfend verwirklichen. So entfachen sie die schwelende Glut immer wieder zum lodernden Feuer, das schließlich das eigene Heim verzehrt und seine Bewohner in die Fremde treibt.

IV. Die prophetische

Daseinshaltung

1. Den Höhepunkt der Geschichte des alttestamentlichen Glaubens bildet das Auftreten der großen Einzelpropheten. Sie wissen sich durch Gottes Willen zu einer neuen Daseinshaltung gerufen, in der sie leben und zu der sie ihr Volk von seinen Irrwegen rufen sollen. In dem kurzen Zeitraum von rund zwei Jahrhunderten steht von Amos und Hosea über Jesaja und Micha bis zu Zephanja, Jeremía und Ezechiel eine Reihe von Propheten auf, die sich von den Berufspropheten, die die kultische und national-religiöse Daseinshaltung vertreten, ebenso unterscheiden wie vom Epigonentum der späteren eschatologischen Prophetie 10 . In diesen Propheten leben die Erfahrungen, Eindrücke und Impulse der mosaischen Zeit in geläuterter Form wieder auf. Sie erfahren von neuem Gottes wunderbares Wesen und seinen heiligen, Entscheidung fordernden Willen. Sie wissen sich von Gott gerufen, von ihm gedrängt und gezwungen. Der göttliche Geist ist über sie gekommen und hat sie übermannt, die göttliche Kraft hat sie überwältigt und treibt sie zum Reden 10

Vgl. J. Hempel, Worte der Profeten, 1949; E. Balla, Die Botschaft der Propheten, 1958; G. Fohrer, Studien zur alttestamentlichen Prophetie (1949—1965), 1967.

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und Handeln, das göttliche Wort ist ihnen unauslöschlich eingebrannt und muß verkündigt werden. Die prophetische Daseinshaltung ist begründet in einem neuen Verstehen Gottes, geboren aus dem Geheimnis persönlichen Erlebens, aus göttlicher Offenbarung, die der Prophet empfängt. Er erfährt Gott als heilige Leidenschaft und lodernde Glut, die alles der Vernichtung anheimzugeben willens ist, was seinem Wesen widerspricht. Der Mensch versteht diesen heiligen und welterhabenen Gott nur, wenn er seinen Willen im Eingriff und in der Erschütterung seines Daseins erfährt. Als einzige Möglichkeit scheint dem Menschen der demütige Verzicht auf alles eigene Handeln und die hingebende Beugung unter Gottes Willen übrigzubleiben, lediglich die völlige Unterwerfung unter Gott und das Bezwungenwerden durch ihn offenzustehen. Aber die Propheten erleben nicht nur, daß vor dieser Erhabenheit alles Menschliche in den Staub sinkt; sie erleben vielmehr auch, daß diese heilige Macht den Menschen nicht willenlos knechtet, sondern daß der angerufene Mensch vor eine persönliche Entscheidung gestellt wird. Er wird vor die Entscheidung gestellt, ob er zu diesem Gott und seinem Willen Ja oder Nein sagen will. Das Ja wird von den Propheten als Glaube, Liebe und Gehorsam umschrieben: Glaube als das unbedingte Vertrauen auf den unsichtbaren Gott. Liebe als Hingabe des Menschen mit all seinen Kräften in die Hand Gottes, Gehorsam als Offensein für den göttlichen Willen und Bestimmtsein des eigenen Lebens durch ihn. Grundlegend für die neue Daseinshaltung ist die Berufung. Sie bildet weder das Ergebnis eines inneren Zusammenbruchs mit anschließender Bekehrung noch das einer befreienden Aufklärung. Sie bedeutet vielmehr die Beugung unter das göttliche Gericht, das über die typische menschliche Daseinshaltung ergeht, wie es Jesaja an sich selbst erfährt (Jes 6) und wie die Propheten es zu verkündigen haben. Der Sinn der prophetischen Berufung ist die Preisgabe der typischen menschlichen Daseinshaltung und das Hineingestelltwerden in eine neue. Die Propheten verhalten sich demgegenüber nicht alle gleich. Jesaja ist sofort bereit: „Hier bin ich, sende mich!" (Jes 6). Ezechiel verschlingt im ekstatischen Schauen bereitwillig die gereichte Schriftrolle (Ez 1, 1—3, 15). Jeremia dagegen macht Ausflüchte: „Ich verstehe nicht zu reden, ich bin noch zu jung" (Jer 1,4—10) und hat wiederholt in schwerem, innerem Ringen gestanden: Ich nahm mir vor: Ich will an ihn nicht mehr denken, nicht mehr in seinem Namen reden!

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Die prophetische Daseinshaltung Da war's in meinem Herzen wie glühendes Feuer, ein Brand in meinen Gliedern! Ich konnt's nicht aushalten und nicht ertragen!

(Jer 20,9)

Nach alledem wird die prophetische Daseinshaltung auf ein Offenbarungserlebnis zurückgeführt. Gehen wir davon aus, so ergibt sich zunächst das psychologische Merkmal der Offenbarung 11 . Der Prophet hat eine geheime Erfahrung gehabt und muß sie als Botschaft Gottes verstehen, weil er sich dessen bewußt ist, daß sie nicht seine eigene Tat oder das Ergebnis seines Nachdenkens oder ihm anderweitig vermittelt ist. Neu hinzukommende Erfahrungen werden ihm nur verständlich, wenn er sie mit seinen bisherigen Erfahrungen und Überzeugungen vom Wesen und Wirken Gottes in Verbindung bringen kann. Es ergibt sich ferner das theologische Merkmal der Offenbarung. Sie bestätigt nicht einfach die typische menschliche Daseinshaltung, sondern erschüttert sie und stellt sie in Frage. Darüber hinaus läßt sie eine neue Daseinshaltung erstehen, die von der bisherigen nicht nur gradweise, sondern grundsätzlich verschieden und die nicht mehr eine für den Menschen typische, sondern von besonderer Art ist. In ihr gibt der Prophet alle magischen, kultisch-gesetzlichen und nationalen Sicherungen preis, die sonst so eifrig gepflegt werden. Er läßt jede Sicherung fahren; und indem er es tut, ist er in aller Ungesichertheit in Gott geborgen. Er gibt sich selber auf; und indem er sich aufgibt, nimmt Gott ihn auf. Er gibt sein bisheriges Dasein preis; und indem er es preisgibt, fängt Gott ihn auf und schenkt ihm ein neues Dasein. Dieses neue Dasein aber bedeutet beides: Überwindung und Erfüllung der typischen menschlichen Daseinshaltung. 2. Die Verkündigung der Propheten, in der sie die an sie ergangene Offenbarung bezeugen, umschließt die Auseinandersetzung mit den anderen Daseinshaltungen: mit dem Verlangen nach Sicherheit, Ruhe und Sattheit an Stelle des freudigen Gehorsams und der restlosen Hingabe, die Gott fordert. Denn es ist die Quelle anderer falscher Gedanken und Handlungen, die die Propheten schelten. Da sie keine Denker und Dogmatiker sind, rügen sie zunächst diese einzelnen Sünden, die ihnen in die Augen fallen. Sie haben den verschiedenen Ständen und Schichten ihres Volkes mit uner11

Vgl. F. Häußermann, Wortempfang und Symbol in der alttestamentlichen Prophetie, 1932.

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hörtem Freimut Worte entgegengeschleudert, wie man sie zuvor nicht gehört hatte. Immer wieder wenden sie sich in scharfen Worten gegen die Führung des Volkes, der sie eine Politik vorwerfen, die sich auf die eigene Macht und auf Bündnisse stützt (Hos 10,13—15; Jes 31, 1—3), Recht und Gerechtigkeit aber offen mißachtet: Mein Volk — sein Herrscher ist ein Kind, Wucherer herrschen über es. Mein Volk, deine Leiter führen dich irre und verwirren deine Wege. Der Herr steht bereit, um den Prozeß zu führen, tritt auf, um seinem Volke Recht zu schaffen. Der Herr geht ins Gericht mit den Ältesten seines Volkes und seinen Beamten: ,, Ja ihr, ihr habt den Weinberg niedergebrannt, was ihr den Armen raubtet, ist in euren Häusern. Was fällt euch ein! Ihr zerschlagt mein Volk und zermalmt das Gesicht der Armen!"

(Jes 3, 12—15)

Das Königtum hat f ü r die Propheten seinen Nimbus verloren, sie erhoffen nichts Gutes mehr von ihm: Sie machen Könige, ohne mich zu fragen, setzen Beamte ein, von denen ich nichts weiß.

(Hos 8, 4a)

Die Propheten wenden sich gegen die Mißachtung der schlichten Lebensweise durch die Reichen und Vornehmen, die sich dem Lebensgenuß und der Schwelgerei hingeben, während ihr ethisches Empfinden verroht: Wehe den Sorglosen in, ,Zion" und den Sicheren auf Samarías Berg, den Vornehmen des „ersten aller Völker", den „Herren" des Hauses Israel! Sie wähnen fern den Unglückstag und führen selbst Untergang und Verderben herbei! Sie liegen auf Elfenbeinbetten und räkeln sich auf ihren Ruhelagern; sie essen junge Widder aus der Herde gleich, die Kälber mitten aus der Mast; sie plärren zu dem Klang der Harfe, dichten wie David lauter Lieder; sie trinken ihren Wein aus Schalen, versalben nur das beste öl.

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Die prophetische Daseinshaltung Drum werden sie auch an der Deportierten Spitze ziehen, dann ist es aus mit dem Gelage der Sich-Räkelnden!

(Am 6,1-7)

Sie wenden sich gegen die Großgrundbesitzer, die sich durch unlautere Machenschaften bereichern und schließlich allein vollberechtigte Staatsbürger sind: Wehe denjenigen, die Haus an Haus reihen und Feld an Feld fügen, bis sonst kein Raum mehr ist und ihr allein ansässig seid im Lande! (Jes 5, 8) Sie wenden sich gegen die Richter und Ältesten, die das Recht beugen, wenn ihnen deswegen ein Vorteil winkt: Ich kenne eure vielen Sünden und eure großen Missetaten, die ihr den Gerechten anfeindet, Bestechung annehmt, jedoch den Armen vor Gericht beiseite stoßt! (Am 5,12) Sie wenden sich gegen die Kaufleute, die sich auf Kosten der anderen bereichern wollen und ihre betrügerischen Geschäfte nur höchst ungern durch einen Ruhe- oder Feiertag unterbrechen lassen: Hört dies, die ihr den Armen nachstellt, um die Elenden aus dem Weg zu schaffen, und sagt: „Wann geht der Neumond nur vorüber, daß wir verkaufen können, der Sabbat, daß wir Korn anbieten? Daß wir das Maß verkleinern und die Preise steigern, betrügerisch die Waage fälschen?" Geschworen hat der Herr beim Stolze Jakobs: „Niemals will eure Taten ich vergessen!" (Am 8,4-7) Auch den Priestern werfen sie vor, daß sie die Leute durch den Kultus verführen und ausplündern: Hört dies, ihr Priester, denn euch gilt das Gericht! Denn ihr seid eine Schlinge in Mizpa, ein ausgespanntes Netz auf dem Tabor und eine tiefe Grube in Schittim. Aber ich werde zur Fessel für euch alle!

(Hos 5,1-2)

Sogar die Hof- und Kultpropheten verstricken sich in Schuld. Sie mahnen nicht zur Umkehr auf die Wege Gottes, sondern verheißen dem Volk, was es gern hört:

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Wenn einer windige Reden hielte und Lügen vorlöge: „Ich will dir predigen von Wein und Rauschtrank" — der wäre ein Prophet für dieses Volk!

(Mi 2,11)

Das ganze Volk ist auf dem falschen Wege, den es eingeschlagen hat, verdorben und verkommen; nicht nur die führenden Schichten, sondern auch die arbeitenden und armen. Der einfache Mann ist nicht besser als die Oberschicht: Es gibt ja keine Treue, keine Liebe, keine Gottesgemeinschaft mehr im Lande. Sie morden nur und stehlen, sie schwören falsch und lügen, sie ehebrechen und üben Gewalt und häufen Blutschuld auf Blutschuld!

(Hos 4 , 1 b-2)

Alle diese einzelnen Vergehen haben ihren Grund in einer bestimmten Gesamthaltung des Menschen, aus der die einzelnen Übertretungen folgen. Diese falsche Daseinshaltung beruht auf der Verweigerung des freudigen Gehorsams und der restlosen Hingabe, die Gott fordert, in der Auflehnung gegen Gott und im Abfall von ihm: Weh ihnen, daß sie mir entwichen! Fluch ihnen, daß sie von mir abfielen!

(Hos 7,13a)

Das Volk verharrt in dieser Haltung und verschließt sich bewußt jeder besseren Einsicht: Höre es, Himmel, vernimm es, Erde, der Herr spricht: , ,Ich habe Söhne großgebracht und aufgezogen, doch sie haben sich gegen mich aufgelehnt. Ein Stier kennt seinen Eigentümer, ein Esel seines Herren Krippe — doch Israel erkennt nichts mehr, mein Volk ist ohne Einsicht!"

(Jes 1, 2-3)

In der falschen, der typischen menschlichen Daseinshaltung ist die Schuld des Menschen begründet. Jesaja faßt sie als Hochmut und Selbstüberhebung auf, Amos als Undankbarkeit, Hosea als innere Abneigung und Feindschaft gegen Gott, Jeremia als verlogene Bosheit und Schlechtigkeit. Sie übt eine

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Die prophetische Daseinshaltung

solche Macht über den Menschen aus, daß jede Hoffnung auf Änderung aussichtslos erscheint und aus dem Verschließen vor dem göttlichen Willen eine tätige Feindschaft gegen Gott wird. Daher sehen die Propheten ein gewaltiges Strafgericht über ihr Volk voraus. Nachdem alle Mahnungen und Schicksalsschläge vergeblich gewesen sind (Am 4, 6 ff.), ist das bittere Ende in Kürze zu erwarten, ohne daß ihm jemand zu entrinnen vermöchte: Der Herr hat mich schauen lassen: Da war ein Korb mit reifem Obst. Und er fragte: „Was siehst du, Amos?" Da antwortete ich: ,,Einen Korb mit reifem Obst." Darauf sprach der Herr zu mir: „Reif für das Ende ist mein Volk Israel, ich will ihm länger nicht verzeihen! Die Fürstinnen in dem Palaste werden heulen, viel sind der Leichen überall!"

(Am 8, 1-3)

Das Gericht wird hereinbrechen. Gott sendet den Feind, dann werden die Mauern erstürmt und die Paläste geplündert (Am 3, 9 ff.). Er schreitet richtend durch sein Volk, dann herrscht überall Trauer, und die Totenklage wird angestimmt (5, 16 f.). Er bringt den Unglückstag herbei, dann wankt der Zug der Deportierten durch das verwüstete Land (6,1—7), dann geht die Sonne am Mittag unter und verfinstert sich die Erde am hellen Tage (8, 8—10). Er bringt Hunger über das Land, dann werden seine Bewohner entkräftet umherschwanken, bis sie vor Ermattung liegen bleiben (8,11—-14). Und er wird ihnen überallhin nachspüren, wo sie sich verbergen zu können wähnen, um sie dem Untergang anheimzugeben (9, 1—4). Die Propheten erwarten dieses Strafgericht in verschiedener Form. Mehrfach schauen sie es durch Naturkatastrophen vollzogen: Es erging das Wort des Herrn an mich: Du Menschenkind, wenn sich ein Land durch Treubruch gegen mich versündigt, so werde ich meine Hand wider es ausrecken und ihm den Brotkorb höher hängen und ihm Hungersnot senden. Oder ich werde wilde Tiere über dies Land bringen und es entvölkern; es wird zur Wüste werden,

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die niemand mehr durchwandert der wilden Tiere wegen. Oder ich schicke Pest in das genannte Land und gieße meinen Grimm über es aus, um Mensch und Vieh ganz aus ihm auszurotten.

(Ez 14, 12f. 15. 19)

Oder das Gericht wird durch verheerende Kriege vollzogen, in denen die Greuel der damaligen Kriegführung wüten: Samarien muß es büßen! Die Männer werden durchs Schwert fallen, die Säuglinge wird man zerschmettern, den Schwangeren den Leib aufschlitzen!

(Hos 14,1)

Als Mittel des Gerichts werden auch Revolution und Anarchie genannt, in denen einer des anderen Feind ist: Sieh, ich will wegnehmen aus Juda und Jerusalem Stütze und Stab, Ritter und Krieger, Richter, Prophet und Wahrsager, Höfling und Offizier, Zauberer und Beschwörer. Knaben will ich zu ihren Fürsten machen, Buben sollen über sie herrschen! Dann soll Mann wider Mann andrängen, ein jeder gegen seinen Nächsten stürmen, der junge Bursche wider den Alten und der Geringe wider den Vornehmen!

(Jes 3, 1-5)

So sicher wird das Gericht eintreffen, so unentrinnbar wird es sein, daß Jeremía zur sofortigen Totenklage auffordert. Denn später, wenn die Leichen der Letzten seines Volkes unbegraben im Lande umherliegen, wird niemand mehr da sein, der sie anstimmen kann: Ihr Frauen, hört das Wort des Herrn, lauschet, was er euch sagt! Lehrt eure Töchter diese Klage, eine die andere dies Leichenlied: „In unsere Fenster ist der Tod gestiegen, in unsere Wohntürme eingedrungen,

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Die prophetische Daseinshaltung die Kinder auf der Straße wegzuraffen, die jungen Männer auf den Plätzen. Der Menschen Leichen liegen im Land herum — wie Garben hinter einem Schnitter; und niemand hebt sie auf!"

(Jer 9,19-21)

Das Gericht, das die Propheten verkünden, ist nicht einfach die juristische Strafe für die Schuld. Wenn die Schuld in dem falschen Trachten des Volkes nach Sicherheit begründet ist, wenn sie darin besteht, an Stelle von Gehorsam und Hingabe gegenüber dem göttlichen Willen ein gesichertes Dasein zu leben — aus dem Geschaffenen, Irdisch-Natürlichen und Vergänglichen, wobei man von Gott absieht oder ihn nur als Garanten der Sicherheit sucht —, dann führt diese Schuld mit innerer Notwendigkeit ins Gericht. Das in falsche Bahnen gelenkte Dasein muß mit innerer Folgerichtigkeit zerbrechen, die typische menschliche Daseinshaltung muß zum typischen Ende alles Menschlichen führen. Die Propheten haben sich angesichts solcher furchtbaren Erkenntnisse die Frage gestellt, ob das Gericht über die falsche Daseinshaltung unvermeidlich ist und das Letzte sein muß. Sie haben nach der Möglichkeit eines neuen Menschen gefragt, der den Willen Gottes erfüllt und in der ihnen selbst geschenkten Daseinshaltung lebt. Als solche Möglichkeit erschien ihnen die radikale Umkehr des Menschen von seinem falschen Wege zu Gott, die eine völlige Wandlung und Erneuerung bedeutet. Mag Israel dann ein armes und geringes Volk sein — es wird in einem neuen Dasein leben: Beim Namen des Herrn wird Zuflucht suchen, was übrig bleibt von Israel. Sie werden nicht mehr Unrecht tun, keine Lügen mehr reden; in ihrem Mund wird keine trügerische Zunge mehr gefunden. Sie werden friedlich auf der Weide ruhen, niemand wird sie erschrecken!

(Zeph 3, 12f.)

Dazu tritt bei einigen Propheten der Gedanke, daß Gott die Todverfallenen erlösen und ihnen neues Dasein schenken wird. Wie sie selbst durch die göttliche Offenbarung in eine neue Daseinshaltung hineingestellt worden sind, so müssen die anderen aus ihrer früheren erlöst und mit der neuen begnadet werden. So verheißt Ezechiel ein neues fleischernes Herz

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an Stelle des steinernen, verbunden mit der Begabung des göttlichen Geistes: Ich will ein neues Herz euch geben, das steinerne aus eurem Leib entfernen und ein fleischernes Herz euch geben. In euer Herz will ich meinen Geist legen und so bewirken, daß ihr in meinen Satzungen wandelt, meine Gebote haltet und sie erfüllt.

(Ez 36, 26f.)

3. Die Propheten haben durch ihre neue Daseinshaltung die Magie überwunden und erfüllt. Dies wird am Beispiel ihrer symbolischen Handlungen deutlich. In diesen wird an und mit einem ausgewählten Symbol, das einen anderen Gegenstand meint, etwas vollzogen, das symbolisch nachahmt, was sich in Wirklichkeit ereignen soll. So nimmt Ezechiel einen Ziegelstein, der Jerusalem darstellt, und stellt allerlei Belagerungsgerät darum auf, um die baldige Belagerung der Stadt durch Nebukadnezar anzukündigen (Ez 4, 1—3). Die Handlung soll sich durch das Symbol auf das Dargestellte, durch das Abbild auf das Urbild beziehen. Solche symbolischen Handlungen haben ihren eigentlichen Ursprung in magischen Handlungen, wie sie sich bei allen Völkern finden. Diese magischen Handlungen tragen nach dem Willen dessen, der sie ausführt, ihre Wirksamkeit in sich selbst. Der Prophet dagegen erwartet nicht, daß die Gegenstände seiner Handlung krafthaltig und das Geschehen kraftwirkend ist, daß auf den Vollzug seiner Handlung die Wirkung automatisch folgen muß. Er symbolisiert statt dessen den gewünschten Erfolg. Ihn Wirklichkeit werden zu lassen, bleibt Gott anheimgestellt. Ist dadurch die Magie überwunden 12 , so wird die prophetische Handlung doch in der Gewißheit ausgeführt, daß das symbolisierte Geschehen sich tatsächlich ereignen wird. Sie ist die wirksame Ankündigung eines Ereignisses, das Gott nach seinem Willen heraufführen wird. Damit ist das berechtigte Moment erfüllt, das die magische Handlung enthält: das Bewußtsein, daß eine die Zukunft symbolisierende Handlung von Erfolg ge12

Beispiele für einfache Ausschaltung, nicht Überwindung der Magie bei P. Wendland, Symbolische Handlungen als Ersatz oder Begleitung der Rede, Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 37 (1916).

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krönt sein muß, wenn sie aus der Gemeinschaft mit Gott geboren ist. Diese Voraussetzung, die der Magie fehlt, ist in der prophetischen Daseinshaltung gegeben. Daher wird in der prophetischen Handlung — neben der Überwindung der Magie — der tiefste Wunsch des magischen Menschen erfüllt: Das Symbolisierte kann eintreffen. 4. Die Propheten zerschlagen ebenso die kultisch-gesetzlichen Schranken, die zur Sicherung des Daseins errichtet worden sind. Sie haben die Wirklichkeit Gottes als die völlige Infragestellung ihres Daseins erfahren. Angesichts dieses Gottes muß der ganze Kultus, der ihn verharmlost, zerbrechen und seinen Untergang finden. Priestertum und Tempel sind für die Vernichtung reif. All das, womit man Gott bisher zu dienen und worin man ihn zu fassen geglaubt hat — Gottesbilder und Altäre, Opfer und Gebete, Gesänge und Reigen, Gelübde und Feiertage —, all dies sind untaugliche Mittel, um sich Gottes Segen zu sichern. Darum verfluchen die Propheten den Kultus und verwenden die Namen der Heiligtümer zu höhnischen Wortspielen (Am 5, 5). Während immer neue Altäre errichtet werden, verdirbt das Volk mehr und mehr. Der ganze kultische Betrieb dient letztlich nur der Sünde (Hos 8, 11—13; 10, lf.). Überall im Lande zeigen sich die verwüstenden Folgen dieses Kultus; er ist im Grunde selbst schon die Sünde! Denn er bewirkt nicht nur, daß man Gottes in ihm sicher zu sein glaubt und Gottes Segen erlangen zu können wähnt (Am 4,1—4); er verleitet auch dazu, daß das Volk sich auf die Erfüllung der kultischen Pflichten beschränkt und in ihrer Ableistung Gottes Willen erfüllt glaubt. Es befolgt seine angelernten Rituale und wähnt, damit vollen Gehorsam geleistet und im Leben des Alltags freie Hand zu haben (Jes 29, 13 f.). Was den erbitterten Zorn der Propheten wachruft, ist die Feststellung, daß das Volk, das sich im Kultus Gottes Schutz und Nähe zu sichern glaubt, seine ethischen Forderungen nicht mehr ernst nimmt und seinen Willen nicht die bestimmende Macht des Lebens sein läßt. Dieses Volk hat keine Treue, keine Liebe, keine Gottesgemeinschaft mehr. Stunde für Stunde läßt sich beobachten, wie es Gottes Gebote übertritt. Und solange dies der Fall ist, nützt der Kultus gar nichts, sondern ist eher ein Zeichen für die Verdorbenheit des Volkes. An seiner Stelle sollten Recht und Gerechtigkeit gepflegt werden: Hört das Wort des Herrn, ihr Sodomsfürsten! Vernimm die Weisung unsres Gottes, du Gomorravolk! 6

Theologische Grandstrukturen

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„Was soll ich mit der Menge eurer Schlachtopfer?" fragt der Herr. , ,Ich bin der Brandopfer von Widdern, des Fettes der Mastkälber satt. Am Blut von Stieren und von Böcken habe ich kein Gefallen. Kommt ihr, mein Angesicht zu schauen, Wer hat von euch verlangt, meine Vorhöfe zu zertreten? Bringt doch nicht mehr unnütze Gaben dar! Weihrauch ist mir ein Greuel! Das Einberufen einer Festversammlung kann ich nicht ertragen, Feiertag ist Sünde! Eure Neumond- und Vollmondfeste haßt meine Seele. Sie sind mir lästig geworden, ich bin es müde, sie zu tragen. Wenn ihr eure Hände nach mir ausstreckt, verhülle ich meine Augen; auch wenn ihr noch so viel Gebete sprecht, höre ich euch nicht. An euren Händen klebt ja Blut! Wascht euch, reinigt euch! Hört auf, Böses zu tun, lernt Gutes tun! Suchet das Recht, helft den Bedrückten! Schaffet der Waise Recht, führt den Prozeß der Witwe!"

(Jes 1,10-17)

Damit soll nicht an die Stelle des Kultus das Gesetz treten. Auch seine einwandfreie Erfüllung besagt noch nichts, ist vielmehr nur wieder der Versuch des frommen Menschen, Gott durch sein Handeln zu verpflichten und einzufangen. Man darf nicht beim Wortlaut des Gesetzes stehen bleiben, sondern muß seinen Geist erkennen und erfüllen. An die Stelle sachlicher Leistung und äußerlicher Befolgung muß die persönliche Hingabe treten. In ihr soll der Mensch auf den Willen Gottes eingehen und das starre Gebot lebendig machen, so daß seine tiefste Absicht erkennbar wird.

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Entscheidend sind weder Kultus noch Gesetz an sich, sondern der von Gott ergriffene und gehaltene Mensch. Die Propheten verurteilen den Kultus nicht einfach wegen der Übernahme und Aneignung ursprünglich fremder Elemente, das Gesetz nicht einfach wegen seines Schemas von Leistung und Belohnung. Vielmehr verurteilen sie beides, soweit der Mensch in dem allen Rechte gegenüber Gott beansprucht, anstatt seinen Willen anzuerkennen; soweit er sich mit ihrer Hilfe Gottes Segen sichern will, anstatt sich von ihm in Anspruch nehmen zu lassen. Ist damit die kultisch-gesetzliche Daseinshaltung überwunden, so liegt in der prophetischen Haltung auch ihre Erfüllung beschlosssen. Die Propheten sprechen ethische Mahnungen aus, weil sich in ihrer Befolgung in erster Linie die Ergriffenheit des Menschen durch Gott und seine glaubende Hingabe an ihn ausdrücken. Es sind Forderungen Gottes, die der Mensch nur gehorsam erfüllen kann. Die Propheten sind also nicht Vorkämpfer eines religiösen Ethizismus gewesen. Denn die ethischen Forderungen und Grundsätze tragen ihren Wert nicht in sich selbst, sondern erhalten ihn durch ihre Bezogenheit auf Gott. Der von Gott ergriffene und gehaltene Mensch muß ganz einfach nach ihnen leben, da er aus dem Willen Gottes lebt. Sie bestimmen das äußere Gepräge und Gehaben des glaubenden Menschen, sie formen seine Außenseite zur Mitwelt hin. Glaube und Vertrauen, Hingabe und Gehorsam erweisen sich gegenüber dem Mitmenschen als Recht und Gerechtigkeit, Redlichkeit und Wahrhaftigkeit. Damit ist wiederum nicht ein Sein und eine Tugend, sondern ein Tun und Verhalten gemeint. „Recht und Gerechtigkeit üben" bedeutet nicht „rechtlich gesinnt sein", sondern „für Gerechtigkeit im täglichen Leben und wechselseitigen Verhalten eintreten". „Redlichkeit und Wahrhaftigkeit suchen" bedeutet nicht „nach sittlicher oder religiöser Wahrheit streben", sondern „für Redlichkeit und Wahrhaftigkeit im täglichen Leben und wechselseitigen Verhalten eintreten". Bestimmten tatsächlich Treue, Liebe und Gehorsam das Dasein, zeigten sie sich in Gerechtigkeit und Liebe zum Mitmenschen, so könnte es wahre Gottesverehrung geben. Aber wo ist sie möglich? Der von prophetischem Geist beeinflußte Erzähler fand sie bei Abraham. Kann nur der Kultus des glaubenden Menschen, dessen ganzes Dasein durch den übergewaltigen und leidenschaftlichen Willen Gottes geformt wird, Gott angenehm sein, so fand sich nur in der fast vollzogenen Opferung Isaaks (Gen 22) jene Bereitschaft zur Hingabe, jenes Opfer ohne menschlichen Zweck, nur als Tat des Glaubens! An Stelle der dreist berechnenden Frömmigkeit Jakobs, der den Kultus in Betel von der Erfüllung seiner Bitten abhängig macht 6·

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(Gen 28, 20ff.), steht das Vertrauensverhältnis zu Gott, das in den tröstenden Worten Abrahams Ausdruck findet: „Gott wird sich schon ein Schaf zum Opfer ersehen!" Für die Propheten freilich erfüllt sich das Anliegen des Kultus im Gebet. Das bezeichnendste Beispiel ist das Leben Jeremias; es ist erfüllt von innerem Ringen mit Gott im Gebet (Jer 12, 1—6; 15, 15—20; 17, 13—18; 20, 7—13), von Fürbitten für sein irrendes Volk (Jer 7,16—20; 11,14; 14,11 ff.) und von der Versenkung in Gott im Gebet, wodurch dem Propheten Gottes Wille klar wird (Jer 42,1—7). Das kultische Daseinsverständnis ist überwunden und im Gebet im tiefsten erfüllt. 5. Die Propheten haben schließlich die nationalen Schranken gesprengt. Der Gott, von dem sie ergriffen sind, ist anders, als die Anhänger des nationalen Glaubens ihn sich vorstellen. Er läßt über sich nicht zugunsten eines Volkes oder Staates verfügen und ist nicht der Garant der nationalen Macht oder völkischen Kultur. Vor der schrecklichen Offenbarung seines Willens verblassen Volk und Staat, göttliches Königtum und Erwählungsglaube, vorteilhafte Bündnisse und siegreiche Schlachten. Vor ihm muß die ganze israelitische Kultur, die ihn verharmlost, zerbrechen und in einem schauerlichen Gericht ihren Untergang finden. Die alleinige Bindung Gottes an Israel wird überwunden. Gott hat Israel aus allen Völkern erwählt und kennt nur es? Ja, aber höchstens, um all seine Sünden an ihm heimsuchen zu können (Am 3, lf.)! Das Volk hofft mit heißer Sehnsucht auf den „Tag Jahwes", an dem er die Feinde Israels vernichten und seinem Volk den Sieg verleihen wird? Dieser Tag wird auch für Israel Finsternis und kein Licht bringen (Am 5,18—20)! Das Volk verläßt sich darauf, daß Jerusalem und sein Tempel unverletzlich sind? Das sind trügerische Hoffnungen, denn der Zion wird völlig verwüstet werden (Mi 3, 12; Jer 7, 1—15)! Es gibt keine Sicherheit durch die vermeintliche Bindung Gottes an Israel! Gottes Walten ist im Schicksal aller Völker zu erkennen. Wie er beim Auszug aus Ägypten in die Geschicke Israels eingegriffen hat, so hat er die Philister aus Kaphtor und die Aramäer aus Kir geleitet (Am 9, 7) und führt nun andere Völker gegen Israel heran. Wie für Jesaja Assyrien das Werkzeug Gottes war, so war es Babylonien für Jeremía und Ezechiel. Ebenso führt er Nebukadnezar gegen Tyrus und Ägypten (Ez 28—32). Diese Vorstellung von Gott als dem Führer fremder Völker ist eindeutig eine Erkenntnis der Propheten und in ihrer neuen Daseinshaltung begründet.

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Aus dem Nationalgott wird der Herr der Welt. Die nationale Geschichte weitet sich zur Weltgeschichte aus und wird in ihren Rahmen eingespannt. Der Blick erhebt sich über die Grenzen des Volkes zu einer glaubenden Deutung des Weltgeschehens. Darin liegt zugleich wieder die Erfüllung des nationalen Glaubens, der Gottes Offenbarung nicht im Kreislauf der Jahreszeiten und in der Fruchtbarkeit des Ackers, sondern in den das natürliche Geschehen durchbrechenden Ereignissen der Menschen- und Völkerwelt sah. Es mußte nur die Bindung an das Volk und das nationale Erleben überwunden und Gott als Herr der Völker und der Weltgeschichte erkannt werden. Allen Völkern gilt nun Gottes Wille; daher wenden die Propheten sich oft mit einem Gotteswort an sie (z.B. Jer 46—51; Ez 25—32; 35). Alle Menschen wissen, was gut ist und was der Herr von ihnen fordert (Mi 6, 8); daher wird ihnen das Gericht angedroht, wenn sie sich dagegen vergangen haben (Am 1), oder Moab bedroht, weil es an den Edomitern schändlich gehandelt hat (Am 2, 1 ff.). Alle Menschen dienen letztlich dem einen Gott; daher kann es heißen: Vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne mein Name groß unter den Völkern ist; und allerorten wird ihm Rauchopfer und reine Gabe dargebracht.

(Mal 1,11)

6. Insgesamt überwindet die prophetische Daseinshaltung die typischen menschlichen Versuche der Lebenssicherung durch den Zwang der Magie, das Einfangen Gottes im Kultus, den Leistungsgedanken und die Werkgerechtigkeit des Gesetzes und die Bindung Gottes an das Volk im nationalen Glauben. An die Stelle dieser Sicherungen tritt die völlige Hingabe des glaubenden Menschen an Gott als Merkmal dieser besonderen und überzeitlichen Daseinshaltung. Sie bedeutet freilich kein weltabgeschiedenes Leben in stiller Einfalt, Innigkeit und Sanftmut, sondern gerade die entschlossene Hinwendung zur Welt und eine leidenschaftliche Wirksamkeit im Dienste Gottes und zur Anerkennung seines Willens auf allen Lebensgebieten. Sie fordert zugleich einen Gehorsam, der nur Gehorsam, aber keine Leistung oder Sicherung sein will; einen Glauben, der die Hingabe eigener Kraft und Sorge einschließt; ein Vertrauen, das die Preisgabe eigenen Mühens und Planens voraussetzt. Diese prophetische Daseinshaltung ist nichts Selbstverständliches, sondern letztlich nur als Geschenk zu begreifen. Freilich ist sie auch vom Menschen

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nicht unabhängig. Denn die Propheten unterscheiden sich in manchen Dingen untereinander und stehen „der" prophetischen Daseinshaltung verschieden nahe. Der eine ist ihr näher gekommen als der andere. Sie wandelten auch nicht unangefochten auf lichten Höhen, sondern haben — wie das Beispiel Jeremias zeigt — um ihren Glauben ringen müssen. Wenn sie also begnadet waren — und sie waren es! — dann nur so, daß sie immer wieder begnadet wurden. Die prophetische Daseinshaltung ist nicht statischer, sondern dynamischer Art.

V. Die Auseinandersetzung mit der Weisheit 1. Im prophetischen Daseinsverständnis liegt schließlich die Überwindung der zweiten Macht beschlossen, die neben der Magie (und Mythologie) der orientalischen Kulte die Ausprägung und Umgestaltung des alttestamentlichen Glaubens bestimmt hat: die Überwindung der Weisheitslehre. Die Lehre von der Lebensweisheit hat ihren Ursprung vor allem in Ägypten 13 . Dort war sie zunächst die Standesmoral und Lebensregel f ü r das Beamtenheer der Pharaonen, erlangte dann aber allgemeingültige Bedeutung. Sie verheißt „eine Lehre für das Leben, um eine Rede beantworten zu können, um einen richtig zu stellen auf den Weg des Lebens, um einen auf Erden gedeihen zu lassen, um sein Herz vom Bösen wegzulenken, um einen aus dem Munde der gemeinen Leute zu retten, während er im Munde der gebildeten Menschen gepriesen wird". Auf solche Weise sucht der alte Weise seinem Sohn die Gesetze der Welt klar zu machen und ihn über sein Verhalten in allen Lebenslagen zu belehren. Dies kann eine nur hausbackene Nützlichkeitsmoral sein; regelmäßig findet sich die Begründung: Wenn du dies und das tust, wirst du davon diesen und jenen Nutzen haben! „Lache, wenn der Gastgeber lacht! Das wird seinem Herzen sehr wohltun, und was du tust, wird angenehm sein!" „Krümme deinen Rücken vor deinem Vorgesetzten! Es ist übel, wenn man seinem Vorgesetzten widerstrebt." „Wenn du vernünftig bist, nimm dir eine Frau!" Es kann sich auch um Mahnungen zu Bescheidenheit und Selbstbeherrschung und um Warnungen vor der Leidenschaft handeln: „Der Bescheidene ist wie ein Baum,

13

Vgl. H. Greßmann, Israels Spruchweisheit im Zusammenhang der Weltliteratur, 1925; W. Baumgartner, Israelitische und altorientalische Weisheit, 1933; H. H. Schmid, Wesen und Geschichte der Weisheit, 1966.

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der in einem Garten wächst. Seine Früchte sind süß, sein Schatten ist angenehm." Die Lebensweisheit ist demnach ausgesprochen praktisch ausgerichtet; ihr geht es darum, wie man am besten des Lebens Herr wird. Sie will das erfahrbare, tatsächliche Leben bewältigen und geht von dem natürlichen Lebenswillen des Menschen aus. Sie befaßt sich mit der Frage des Menschen, der sich noch von keiner Seite mit Beschlag belegt und völlig frei glaubt, der unbeschwert in der Welt steht: Was bietet mir das Dasein? Wie schaffe ich mir eine möglichst große Befriedigung im Leben? Wie sichere ich mich vor seinen Gefahren? Auf diese Fragen, die den aufgeklärten Weisen beschäftigen, der eingesehen hat, daß es mit Hilfe der Magie nicht geht, lautet die von einem zuversichtlichen Glauben getragene Antwort: Es ist möglich, klug und vorsichtig alle Anstöße zu vermeiden und allen Gefahren zu entkommen, wenn man willig auf die weisen Lebensregeln achtet, die gelehrt werden und vielfach ehrwürdig und bewährt sind. Mit ihrer Hilfe kann man sein Dasein zum Höhepunkt führen und sich vor allen Gefahren sichern. Dieses im Grunde bürgerlich-aufgeklärte Ideal 14 glaubt der Weise leicht erreichbar. Wer die Regeln des Daseins kennt und zu beachten weiß, ist vor allem gesichert und erreicht sein Ziel. Er wird das Böse meiden, da er weiß, daß es in der Welt seine gerechte Strafe findet. Das Böse macht sich letztlich mit Bösem, das Gute mit Gutem bezahlt. Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein! Das ganze Weltgeschehen folgt in seinem Ablauf festen Gesetzen. Auch die Gottheit hält sich an sie und ist der Garant dieser Ordnung, deren inneres Gefüge und Wesen dem Weisen einsichtig ist. Der Weise hat den Schlüssel zu den Gesetzen von Welt und Dasein und handelt entsprechend. Der Tor kümmert sich nicht darum und geht zugrunde. Diese optimistische Daseinshaltung hat in Israel Anhänger gefunden; seit der Zeit Salomos kann damit gerechnet werden. Denn Salomo hat den israelitischen Staat nach dem Muster der altorientalischen Königreiche ausgebaut. Seitdem gab es einen Beamtenstand, der zunächst wie in Ägypten die Weisheitslehre getragen hat. Sobald er in Israel entstanden war, konnte auch die Weisheitslehre eindringen. Später hat sie sich von ihm gelöst und weite Kreise des Volkes erfaßt. Der von ihr weitgehend geprägte Vergeltungsglaube wurde eine der grundlegenden Lehren des Judentums. Die Weisen gehörten neben Priestern und Propheten zu den führenden Schichten des Volkes. 14

W. Zimmerli, Die Weisheit des Predigers Salomo, 1936, S. 9.

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2. Die Überwindung dieser Lebensweisheit ist bereits bei Jesaja gegeben, der sich als einziger Prophet ausdrücklich mit ihr befaßt hat 15 . Zu seiner Zeit scheint sie in der Hauptsache auf die Hofbeamten beschränkt gewesen zu sein. Denn er wendet sich gegen die „Weisen", die ihre politischen Pläne selbstsicher auf ihre Weisheit gründen, sich auf ihre eigene Einsicht und die Kraft ihrer ägyptischen Bundesgenossen verlassen, Gottes Weisheit aber bezweifeln. Ihre Weisheit verschließt sich in ihrer Selbstsicherheit gegen die rechte göttliche Weisheit. Dennoch ist Gott allein weise und macht die Weisheit der irdischen Weisen in Israel, Ägypten und Assyrien zunichte. Jesaja sprengt die Schranken dieser Weisheit, durch die der Mensch sich sichern zu können wähnt. Es gilt nicht, klug und weltgewandt nach einem Ausweg zu suchen und dabei vorsichtig und behutsam nach rechts und links zu schauen, sondern aus dem Glauben heraus zu handeln: Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht! Bei Abkehr (von Krieg) und Vertragstreue kann euch geholfen werden, in Stillehalten und Zuversicht liegt eure Kraft.

(Jes 7, 9)

(Jes 30,15)

Die Auseinandersetzung mit der Weisheitslehre vollzieht sich hauptsächlich in nachexilischer Zeit, also auf dem Grunde ihrer bereits vollzogenen und vorausgesetzten prophetischen Überwindung. Trotzdem vermochte man nur selten einen dem prophetischen ähnlichen Höhepunkt zu erreichen; sonst hat man die Daseinshaltung der Lebensweisheit einfach abgelehnt, sie mit gewissen Änderungen in den eigenen Glauben eingebaut oder ihr die Überzeugung von der nicht zu behebenden Unsicherheit des Daseins entgegengesetzt — durchweg mit einem gewissen Einfluß prophetischer Gedanken. Die Ablehnung der Weisheitslehre findet sich nur gelegentlich. In einigen Psalmen scheinen die gescholtenen „Frevler" nicht eigentlich gottlos zu sein, sondern ihr Dasein auf eine kluge Lebensweisheit — anstatt auf das göttliche Gesetz — zu gründen und daher im Leben meist Erfolg zu haben. Manchmal scheint mehr der Neid darüber als der Eifer für das Gesetz die Frommen auf den Plan gerufen zu haben. Meist wird die Weisheitslehre übernommen und in den eigenen Glauben eingebaut. So verhält es sich in vielen Psalmen und vor allem in den Sammlungen von Weisheitssprüchen, die im Buch Proverbia vereinigt sind. 15

J. Fichtner, Jesaja unter den Weisen, in: Gottes Weisheit, 1965, S. 18—26.

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Aus diesem ergibt sich auch die Normalgestalt des israelitischen Weisen: „Klug, rechtschaffen, mit frommer Scheu vor Gott, aber in guter Zuversicht, daß er das Leben meistern und sein menschliches Verlangen zu sättigen vermag, scharf und verachtungsvoll sich abgrenzend vom Toren, der solche Einsicht nicht hat — das ist die Gestalt des israelitischen Weisen." 16 Für das praktische Verhalten ist der Vergeltungsglaube bestimmend geworden. Er geht von dem Grundsatz aus, daß in der Welt Gutes mit Gutem belohnt, Böses mit Bösem geahndet wird. Gott ist gerecht. Er verteilt Glück und Unglück nicht willkürlich, sondern segnet den Frommen und bestraft den Frevler. Jeder muß ernten, was er gesät hat. Wer fromm und unschuldig ist, gerät nicht in Not, nur der Frevler und Gottlose wird vernichtet. Wer leidet, hat es auch verdient, daß ihn das Unheil trifft. Er wird gewiß nicht ohne Grund geplagt. Wer also in Unglück und Not gerät, tut gut daran, nach seinen offenen und verborgenen Sünden zu forschen. Verhält sich dies alles aber so, dann kann man aus dem Unglück, das einen Menschen trifft, mit Recht folgern, daß er gesündigt hat und sein Unglück die Strafe für seine Sünde ist. Wem es gut geht, der ist gut, und wem es schlecht geht, der muß schlecht sein. Diese Anschauung hatte schwerwiegende Folgen. Geriet jemand in Unglück, so war den anderen klar: Auch er war ein heimlicher Sünder, Gott selbst hatte ihn gezeichnet! Man begann an ihm irre zu werden, die Verwandten verließen ihn, die Freunde kannten ihn nicht mehr. Niemand kümmerte sich um ihn, so daß er schließlich vergessen war wie ein Toter. Jedoch mußte man bald erkennen, daß der Vergeltungsglaube vor der Wirklichkeit des Lebens nicht bestehen konnte. Gab es nicht fromme und gerechte Leute, denen es schlecht ging? Kannte man nicht umgekehrt einen Mann, dessen Ruchlosigkeit stadtbekannt war, dem aber alles gelang und der nichts zu entbehren brauchte? Gab es also nicht Unglück ohne Schuld und Schuld ohne Unglück? Naturgemäß ergaben sich durch die Übernahme der altorientalischen Weisheit in den alttestamentlichen Glauben gewisse Änderungen. Empfiehlt die ägyptische Weisheitslehre den Beruf des Beamten, so die alttestamentliche den Ackerbau; wendet sich die ägyptische als Standesmoral hauptsächlich an die Beamten, so die alttestamentliche als allgemeinmenschliche Weisheit an das ganze Volk. Dies zeigt sich besonders an dem

" W. Zimmerli a. a. O. S. 11.

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Interesse für die Pflichten der Kinder gegenüber den Eltern, an der höheren Wertung der Frau, der schärferen Verurteilung von Unzucht und Ehebruch, der Betonung der Freundschaft und der Sorge für Arme und Schwache. Auch der prophetische Einfluß macht sich bemerkbar — nicht nur in einigen der genannten Einzelzüge, sondern vor allem in der gelegentlichen Umprägung des WeisheitsbegrifFs. Gottesfurcht, Gerechtigkeit und Weisheit können einen untrennbaren Zusammenhang bilden. Die Lebensregeln stehen zwar weithin auf der Ebene der orientalischen Weisheit oder sind ihnen gleich, aber sie werden auf den Gott Israels begründet und bezogen. Allerdings steht dabei der Gedanke im Hintergrund, daß der Mensch sich so verhalten muß, weil Gott noch auf Erden Vergeltung übt. Letztlich triumphiert daher die Daseinshaltung des sich weise gegen alle Gefahren sichernden Menschen. Eine dritte Art der Auseinandersetzung findet sich im Buche des Predigers (Kohelet). Er ist von der Haltung der Weisheit ausgegangen und hat wie sie die Frage gestellt: Wie kann ich mein Dasein zu seinem Höhepunkt und seiner Erfüllung führen und es gegen alle Gefahren sichern? Er kennt ferner die Haltung der theologischen Weisheit, die das Ganze des Daseins in ein System fassen und dadurch bewältigen will. Zugleich kennt er die Botschaft der Propheten von der Nichtigkeit des Menschen vor dem Herrn der Welt, der völlige Unterwerfung und hingebende Beugung verlangt. Aber der Weise hat dies lediglich rational bedacht und nicht in der lebendigen Begegnung mit Gott erfahren wie die Propheten. Daher versteht er dieses Wissen nicht als Ruf zur Entscheidung und gelangt nicht zu jenem Glauben, jener Liebe und jenem Gehorsam, die der eigenen Hingabe entsprechen, sondern erfährt die Erschütterung nur als Begründung der Unsicherheit des Daseins. Kohelet ist der Typ des an der Weisheit zweifelnden Weisen. Die zufriedene, selbstsichere Haltung der Weisheit angesichts des Lebens erscheint ihm falsch und unsinnig und der Versuch eines umfassenden theologischen Systems zum Scheitern verurteilt. Es gibt nichts Einmaliges, Bleibendes und Endgültiges, es gibt keine Sicherungen. Zwar empfindet Kohelet die Welt als eine ungeheuere, eherne Gesetzmäßigkeit, in der sich ständig alles wiederholt. Aber sie ist dem Menschen nicht einsichtig und erscheint daher als Willkür und Regellosigkeit. Man kann daraufhin auch nicht zu Gott fliehen. Zwar zweifelt Kohelet nicht an seinem Wirken; aber der Mensch kann von ihm, dem Fernen und Unbekannten, nicht das Ganze des Lebens erlangen, sondern — sofern Gott es gewährt — nur einen Anteil daran. Letztlich stehen hinter allem

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an Stelle eines erkennbaren Sinns der Welt und des Lebens lediglich das Nichts und der Tod. In dieser Lage ist Kohelet nicht den Weg gegangen, der in ägyptischen und babylonischen Texten gewiesen wird, einfach den Schlußstrich unter sein Leben zu setzen und dieses Dasein fortzuwerfen, das für den Lebenswillen des Menschen nur das Wort „Nichtigkeit" hat. Kohelet hat sich vielmehr auf das Mögliche beschränkt. Ist dem Menschen die Erfüllung des Daseins und seine Sicherung verwehrt, so halte er sich an das, was ihm gegeben ist — und das, solange er kann und der Tod ihn nicht hinwegrafft! Er erkenne, was sein Anteil ist und genieße ihn, solange er ihm gewährt wird! Er genieße sein Dasein, wie jeder Tag es ihm bietet! Neben dem Weg Kohelets gibt es den von der prophetischen Überwindung der Weisheitslehre bestimmten Weg, den die Dichter des Buches Hiob und des Ps 73 gegangen sind 17 : „Der Mensch erkennt seine ausweglose Situation — und anerkennt sie als seine Situation. Er erkennt hinter allem Geschehen den Herrn der Welt, der ihm immer wieder alle eigenen Sicherungen aus der Hand schlägt — und anerkennt ihn als seinen Herrn. Seine autonome Lebenshaltung, in der er fordernd der Welt und Gott entgegengetreten war, bricht zusammen. Er erkennt in ihr seine tiefste Schuld, verliert sein Leben vor Gottes Gericht." Er erlebt dann, daß Gott sich ihm zuwendet: „Daß Gott dem Menschen da, wo er an dem Leben aus irdischer Möglichkeit verzweifelt, das Leben aus seiner Möglichkeit verspricht." Er kann sie als Glaubender ergreifen. Der Dichter des Buches Hiob 18 hat erfahren, daß das Leben nicht sanft und harmonisch verläuft, sondern nach Unsinn, Verwirrung und Wahnsinn schmeckt. Er hat die Versuche seiner Freunde, die die wohlanständige Gesellschaft und fromme Gemeinde vertreten, durchschaut. Sie versuchen, Hell und Dunkel angenehm und maßvoll zu verteilen, den dunklen, geheimnisvollen Urgrund des Lebens zu verschleiern und zuzudecken, die Tagseite des Daseins unermüdlich zu verherrlichen, seine nächtliche Kehrseite dagegen zu unterschlagen und zu verschweigen und die schrillen Disharmonien des Lebens als rauschende Akkorde verstehen zu lernen. Sie glauben sich Gottes sicher und wähnen, sein Tun berechnen zu können. Gut und Böse, Freude und Leid, Glück und Unglück entsprechen sich jeweils und sind richtig verteilt. Bedauernd oder vorwurfsvoll blickt man auf den Unglücklichen herab, den Gottes Hand getroffen hat, und preist 17 18

W. Zimmerli a. a. O. S. 35 f. Vgl. G. Fohrer, Das Buch Hiob, 1963.

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Die Vielfalt der Daseinshaltungen

mit mildem Lächeln die erhabene Gerechtigkeit des Allmächtigen, der alles so weise regiert. Hiob dagegen durchschaut die Sinnlosigkeit jeder anscheinend sinnvollen Antwort auf die Frage nach den Rätseln des Daseins und nach dem Sinn von Leben und Leid. Er erkennt die Unvernunft jeder rationalen Lösung, die Unzulänglichkeit jeder klugen Theorie. Darum gibt er vor der Erschütterung seines Daseins durch den Einbruch des Leides alle Sicherungen preis. Er entscheidet sich zur Absage an das bequeme Herkommen und sichere Rechnen und zum Aufbruch ins Neue und Unbekannte. Und da er sich entschlossen hat und sich, alles quälenden Fragens müde, in den Abgrund wirft, um zu erfahren, was seine Tiefe birgt, hebt sich ihm diese entgegen und ist nicht mehr dunkler und unbekannter Abgrund, sondern Gottes Hand, die ihn auffängt und hält. Er schaut die Wirklichkeit dieses Gottes und gibt sich bedenkenlos und vorbehaltlos in seine Arme, um die Antwort auf die in seinem Herzen brennenden Fragen in der vertrauensvollen Hingabe an Gott zu finden: Ich weiß nun, daß du allvermögend bist und kein Gedanke dir verwehrt. Ich hab' im Unverstand gesprochen von Dingen, die zu hoch und wunderbar für mich. Vom Hörensagen warst du mir zuvor bekannt, nun aber hat mein Auge dich geschaut. Drum widerrufe ich und bereue in Staub und Asche!

(Hi 42,1-6)

So legt er alle Not und alles Leid in der Gewißheit hin, daß Gott die Lösung aller Fragen hat, ja daß die Lösung in der vorbehaltlosen Hingabe und völligen Gemeinschaft mit Gott besteht. Auch der Dichter des Ps 73 hat in aller Not die Nähe Gottes erfahren und die Gewißheit restlosen Geborgen- und Geführtseins erhalten: Und dennoch blieb ich stets bei dir, du hältst mich an deiner Rechten. Du leitest mich nach deinem Rat und führst mich an der Hand hinter dir her!

(Ps 73, 23 f.)

Gott ist ihm immer nahe, auch in dunklen und undurchsichtigen Stunden. Im entscheidenden Augenblick hat er sich fest an diesen Gott geklammert, dessen Nähe er mitten im Leid inne geworden ist, dessen Gemeinschaft ihm Heil und Freiheit schenkt. Gott ist ihm Sinn und Ziel des Daseins. Demgegenüber gibt es nichts Höheres, nicht einmal gleich Begehrenswertes:

Die Auseinandersetzung mit der Weisheit Wen könnt' ich neben dir im Himmel suchen? Nichts außer dir begehr' ich sonst auf Erden! Wenn sich auch Leib und Seel verzehren, bleibt Gott doch allezeit mein Teil! Ja, die dich lassen, kommen um; du tilgest jeden, der dir untreu wird. Für mich aber ist Gott das Glück, beim Herrn hab' Zuflucht ich gefunden!

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(Ps 73, 25-28)

VI. Die zeitgebundene und überzeitliche Bedeutung der Formen der alttestamentlichen Daseinshaltung Die verschiedenen Ausprägungen des alttestamentlichen Glaubens enthüllen einerseits die verschiedenen Formen der typischen menschlichen Daseinshaltung, die auf Sicherung bedacht ist. Sie begegnet in den Bildern des magischen, kultisch-gesetzlichen, nationalen und weisen Menschen. Andererseits findet sich die besondere Daseinshaltung des prophetischen Menschen in seiner gläubigen Hingabe an Gott. Es könnte scheinen, als löse sich sowohl durch die Vielfalt als auch durch die genannte Zweiteilung die Einheit des Alten Testaments auf. Jedoch eine gewisse Einheit deutet sich zunächst im inneren Zusammenhang der verschiedenen Glaubensrichtungen an. Sie besteht nicht nur in der ständigen Auseinandersetzung der verschiedenen Daseinshaltungen untereinander und mit den benachbarten Religionen und Weltanschauungen, sondern vor allem in der Auseinandersetzung um das menschliche Streben nach Sicherung — in der Welt und vor Gott — und in der Überwindung dieses Strebens durch die Preisgabe an den sich offenbarenden Gott und den hingebenden Gehorsam vor ihm. Zeitlich bedingt und daher nur von zeitgebundener Bedeutung ist die Art, in der die typische Daseinshaltung des Menschen dem Betrachter entgegentritt: im Gewand der antiken Magie, des israelitischen Kultus und Gesetzes, des Glaubens an die Erwählung Israels, des Verflochtenseins in die altorientalische Weisheitslehre. Überzeitlich ist das darin sich ausprägende Streben nach Sicherheit — Sicherheit in der gefahrbringenden Welt und angesichts des das Dasein in Frage stellenden Gottes. Denn dieses Streben nach Sicherheit liegt dem Denken und Wollen des Menschen in jedem Zeitalter zugrunde. Es hüllt sich in ein jeweils wechselndes Gewand, das durch die in der jeweiligen Zeit herrschenden Vorstellungen bestimmt wird.

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Die Vielfalt der Daseinshaltungen

Von überzeitlicher und damit bleibender Bedeutung sind ferner die Bekämpfung der Magie im Kultus und die Befreiung von ihr durch die Weisheitslehre, die Einheit von Glaube und Ethos im Gesetz und das Wissen um das Handeln Gottes im Geschick der Völker und Menschen — mag dies alles wiederum nur im zeitbedingten Gewände israelitischer Vorstellungen und Gebräuche entgegentreten. Überzeitlich ist vor allem die besondere Daseinshaltung der Propheten, wenn sie auch teilweise in zeitgebundener Einkleidung begegnet. In ihrem Kern, als Dasein in glaubender Hingabe und gehorsamem Dienst aufgrund der völligen Gemeinschaft mit Gott, hat sie bleibende Bedeutung.

4. Kapitel DIE EINHEIT I N D E R VIELFALT

1. Die Frage nach einem Mittelpunkt der Theologie des Alten Testaments Von der Darstellung der geschichtlichen Entfaltung des alttestamentlichen Glaubens aus stellt sich die Frage, die auf das entscheidende Problem der Theologie des Alten Testaments führt: Gibt es im alttestamentlichen Glauben einen Mittelpunkt, von dem man ausgehen kann und um den alles kreist? Daß diese Frage nicht unbedingt bejaht werden muß, sondern verneint werden kann, zeigt die Darstellung der Theologie des Alten Testaments durch G. von Rad 1 . Danach ist der Gegenstand dieser Theologie die Welt der Zeugnisse vom Wirken Gottes in der Geschichte — ob es sich nun um Geschehnisse handelt, die zeitlich hinter den Zeugen liegen wie im Hexateuch, oder ob es sich um Geschehnisse handelt, die zeitlich vor den Zeugen liegen wie bei den Propheten. Damit fällt jedoch die Theologie des Alten Testaments in eine Vielfalt von Geschichtstraditionen und Erwählungstraditionen auseinander, so daß man von einem systematisch-theologischen Aufbau einer alttestamentlichen Theologie absehen und statt dessen eine Reihe von theologischen Strömungen innerhalb des Alten Testaments vorführen muß 2 .

1 2

G. von Rad, Theologie des Alten Testaments, I 19665, II 1965". Abgesehen davon ist zu fragen, ob eine Theologie des Alten Testaments sich auf die Geschichte und ihre Überlieferungen ausrichten kann. Einmal ist das Reden vom Wirken Gottes in der Geschichte unzutreffend; man muß vielmehr von seinem Handeln im Leben und Schicksal der Völker in der jeweiligen Gegenwart und von seinem Wirken in Schöpfung und Natur sprechen. Ferner finden sich die prophetischen Erwählungstraditionen noch nicht bei den vorexilischen großen Einzelpropheten, sondern erst in der eschatologischen Prophétie der spät- und nachexilischen Zeit und auch dort nur in der Form von Einzelmotiven. Vgl. dazu G. Fohrer, Prophetie und Geschichte, in: Studien zur alttestamentlichen Prophetie (1949-1965), S. 265-293; ders., Die Struktur der alttestamentlichen Eschatologie, ebd. S. 32-58.

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Die Einheit in der Vielfalt

Kann man demgegenüber sagen, daß Gott der Mittelpunkt der alttestamentlichen Theologie ist? So meint L. Köhler in seiner Darstellung der Theologie des Alten Testaments: „Daß Gott da ist, dieser Satz ist die große Gabe des Alten Testaments an die Menschheit." 3 Jedoch das Alte Testament stellt Gott nicht isoliert in den Mittelpunkt, sondern spricht von ihm in bezug auf sein Wirken in Leben und Geschick der Völker und Menschen, in Schöpfung und Natur. Es sagt, daß Gott sich mit uns einläßt und wir uns mit ihm einlassen sollen, daß Gott mit uns zu tun hat und wir mit ihm zu tun haben — in Gericht oder Heil. Es spricht nicht vom Sein oder Wesen Gottes, wie es an sich und in seiner ganzen Fülle ist, sondern vom Sein und Handeln Gottes in bezug auf den Menschen, wie an Ex 33,19f. deutlich wird (vgl. 2. Kap. II). Das Alte Testament spricht gewöhnlich von Gott und seinem Verhältnis zum Menschen und von der Korrelation, die zwischen dem Handeln Gottes und der Entscheidung des Menschen besteht. Ein Beispiel dafür ist Jes 1, 18f.: Wenn ihr willig seid und gehorcht, sollt ihr das Gut des Landes essen; wenn ihr euch aber weigert und widerspenstig seid, werdet ihr vom Schwert gefressen! Daraus ergibt sich eine weitere Frage: Wenn es im Alten Testament gewöhnlich um das Verhältnis zwischen Gott und Mensch geht, ist dann nicht der Begriff „Bund" als Ausdruck dieses Verhältnisses ein Mittelpunkt einer Theologie des Alten Testaments? Davon ist W. Eichrodt in seinem Werk ausgegangen und hat seine alttestamentliche Theologie auf dem Begriff des „Bundes" aufgebaut 4 . Demgegenüber ist zu sagen: 1. Die Vorstellung von einer bert"t („Bund") in bezug auf Jahwe und Israel — bei der zudem die übrige Welt noch gar nicht berücksichtigt ist — hat nur in zwei Perioden der Geschichte des alttestamentlichen Glaubens eine Rolle gespielt: zunächst während der nomadischen Frühzeit in der Religion der Vätergötter der Patriarchen und im Glauben Moses, der ähnlich zu verstehen ist, danach erst wieder von der deuteronomischen Theologie an. In den vielen Jahrhunderten zwischen Mose (gegen Ende des 13. Jh.) und der deuteronomischen Theologie (gegen Ende des 7. Jh.) hat die Vorstellung von einer solchen berit in Glaube und Theologie Israels über3 4

L. Köhler, Theologie des Alten Testaments, 1936, S. 1. W. Eichrodt, Theologie des Alten Testaments, I 1957«.

Die Frage nach einem Mittelpunkt der Theologie des AT

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haupt keine Rolle gespielt5. 2. Das Verständnis von b rît als Verhältnisbegriff und die Übersetzung durch „Bund·" sind wieder fraglich geworden, wie es auch in früheren Jahrzehnten nahezu Allgemeingut der alttestamentlichen Wissenschaft gewesen ist, daß berît nicht „Bund" bedeutet. So hat Jepsen dargelegt, daß bei einer berit einer dem anderen oder zwei einander eine feierliche Zusage geben, ein Versprechen ablegen, eine Verpflichtung übernehmen, obschon dabei die Vorstellung von berit als Verhältnisbegriff noch eine Rolle spielt 6 . Noch eindeutiger hat E. Kutsch gezeigt, daß berît die Selbstverpflichtung und die Verpflichtung eines anderen, daneben die gegenseitige Verpflichtung (als deren Ergebnis ein Vertrag geschlossen werden mag) bedeutet 7 : „Wo Gott Subjekt der berit ist, erscheint diese als Gottes Selbstverpflichtung in Form seiner gnädigen Zusage oder als die Verpflichtung, die Gott den Menschen auferlegt." 8 Beides, die zeitliche Begrenzung des Vorkommens der b rît-Vorstellung im religiösen Bereich und die Bedeutung des Begriffs als „Verpflichtung" im weiteren Sinn schließen die Möglichkeit aus, einen „Bund" Gottes mit Israel als den Mittelpunkt der alttestamentlichen Theologie zu betrachten, von dem aus ein einheitliches Verstehen des Alten Testaments möglich wäre. Das gleiche gilt bei Hinzuziehung des in 1. Kap. III, 4 Gesagten f ü r eine Auffassung, die die Mitte des Alten Testaments in Erwählung, Bund und Messiaserwartung erblickt 9 . Es gibt noch andere Versuche, eine solche Mitte des Alten Testaments zu bestimmen. Man sieht sie darin, daß Jahwe der Gott Israels und Israel

5

Vgl. dazu G. Fohrer, Altes Testament - „Amphiktyonie" und „Bund"?, in: Studien zur alttestamentlichen Theologie und Geschichte (1949—1966), 1969, S. 84 — 119. Noch weiter einschränkend L. Perlitt, Bundestheologie im Alten Testament, 1969: ein Ergebnis der deuteronomisch-deuteronomistischen Bewegung. 6 A. Jepsen, Berith, ein Beitrag zur Erfassung einer alttestamentlichen Denkform, in: Verbannung und Heimkehr, Festschrift W. Rudolph, 1961, S. 161 bis 179. 7 E. Kutsch, Gesetz und Gnade. Probleme des alttestamentlichen Bundesbegriffs, ZAW 79 (1967), S. 18—35; ders., Der Begriff IV "Ί3 in vordeuteronomischer Zeit, in: Das ferne und nahe Wort, Festschrift L. Rost, 1967, S. 133—143. » E. Kutsch in: ZAW 79 (Anm. 7), S. 34. 9 R. de Vaux, Anwesenheit und Abwesenheit Gottes in der Geschichte nach dem Alten Testament, Concilium 10 (1969), S. 729—736; F. Garcia Cordero, Carácter histórico de la revelación biblica, Burgense 11 (1970), S. 63—80. 7

Theologische Grandstrukturen

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Die Einheit in der Vielfalt

das Volk Jahwes sei10, befindet sich damit jedoch im wesentlichen im Fahrwasser der religiös-nationalen Daseinshaltung (vgl. 3. Kap. III, 4). Oder man beschränkt sich auf das erste Gebot des Dekalogs 11 , übersieht dabei jedoch, daß damit nur ein Teilmoment der Vorstellung von der Gottesherrschaft erfaßt wird. Dies zeigt, daß der Mittelpunkt des alttestamentlichen Glaubens nicht zu eng gefaßt werden darf. Dennoch dürfte es möglich sein, von einem Mittelpunkt des alttestamentlichen Glaubens und der Theologie des Alten Testaments zu sprechen. Er begegnet in zwei Vorstellungskomplexen: Herrschaft Gottes und Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch. Gewiß finden sich im Alten Testament eine Vielzahl von religiösen und theologischen Auffassungen und große Unterschiede zwischen den einzelnen theologischen Richtungen und Strömungen. Doch die beiden Vorstellungen von Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft bilden das einigende Element in der Vielheit. Beide Vorstellungskomplexe sind miteinander verbunden und gehören wie die zwei Brennpunkte einer Ellipse zusammen. II. Das Miteinander

von Gottesherrschaft

und

Gottesgemeinschaft

Einige Beispiele sollen das gemeinsame Vorkommen der beiden Vorstellungskomplexe zeigen und erläutern. 1. Der dritte Teil von Ps 62 (v. 10—13), eines Vertrauensliedes des einzelnen, ist in der Art der Weisheitsdichtung gehalten und will aus dem vorher Gesagten eine allgemein geltende Lehre ziehen. Der Dichter dieses Psalms denkt geradezu systematisch; seine Worte sind sorgfältig überlegt. Dies wird auch daran deutlich, daß er am Schluß einen Zahlenspruch verwendet, in dem er als göttliche Offenbarung zwei Dinge aufzählt, die zusammengehören : Eins hat Gott gesprochen, zwei waren es, die ich hörte: daß die Macht Coz) Gottes ist und dein, Herr, die Verbundenheit 10

(häsäd)12.

R. Smend, Die Mitte des Alten Testaments, 1970. » W. H. Schmidt, Das erste Gebot, 1969. 12 Für diese Bedeutung vgl. N. Glueck, Das Wort hesed im alttestamentlichen Sprachgebrauch als menschliche und göttliche gemeinschaftsgemäße Verhaltensweise, 19612; daher W. Baumgartner, Hebräisches und aramäisches Lexikon zum Alten Testament, Liefg. 1, 19673: „Gemeinschaftspflicht in Ver-

Das Miteinander von Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft

99

Die Stellung dieser Verse am Schluß des Psalms ist beachtenswert. In ihnen beschreibt der Dichter, worauf sich sein Vertrauen auf Gott gründet. Er ist in seiner theologischen Reflexion zu der Einsicht gelangt, daß sowohl Gottes Macht als Grundlage seines Herrschens als auch seine Verbundenheit als Ausdruck seiner Gemeinschaft in seinem Handeln am Menschen wirksam sind. Der ganze Inhalt des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch wird durch diese beiden zusammengehörigen Vorstellungen erfaßt. Dabei ist es von Belang, daß zum Ausdruck dessen ein Zahlenspruch verwendet wird. Denn die darin erfolgende Aufzählung bedeutet zugleich eine Koordination -und drückt die Zusammengehörigkeit beider Aussagen aus. Die eine ohne die andere oder die Unterordnung der einen unter die andere würde für den Dichter keine angemessene Bestimmung des Inhaltes seines Glaubens darstellen. Macht und Verbundenheit, Herrschaft und Gemeinschaft gehören aufs engste zusammen. 2. In Ps 66 sind diese beiden Vorstellungskomplexe lockerer miteinander verbunden. Der Psalm geht von den wunderbaren und furchtbaren Taten aus, die Gott in der Fülle seiner Macht in den Tagen Moses und Josuas und bei der Rettung aus dem babylonischen Exil getan hat und die er weiterhin tun wird — er, der durch seine Kraft ewig herrscht (msl; ν. 7).

Seine Herrschaftstaten aber geschehen wegen des Gemeinschaftsverhältnisses, in dem er mit Israel steht. Das gleiche drückt im zweiten Teil des Psalms das Danklied eines einzelnen aus, der in seinem Leben eine ebensolche wunderbare Herrschaftstat erlebt hat, die ihn aus der Not rettete. Denn, so sagt er: Gepriesen sei Gott, der nicht genommen hat seine Verbundenheit von mir.

So sind Herrschaft Gottes und Gemeinschaft mit Gott wieder miteinander verbunden. 3. Ein weiteres Beispiel liegt in Ps 100, 2 vor:

wandtschafts-, Freundschafts-, Gast-, Zugehörigkeits- od. Dienstverhältnis; Verbundenheit, Solidarität, Loyalität." Weitere Lit. bei G. Fohrer, Umkehr und Erlösung beim Propheten Hosea, in: Studien zur alttestamentlichen Prophétie (1949—1965), 1967, S. 222—241. 7»

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Die Einheit in der Vielfalt

Erkennt, daß der Herr Gott ist! Er hat uns geschaffen, wir sind sein; wir sind sein Volk und die Schafe seiner Weide. Gott ist der Schöpfer, der Israel — und den Menschen überhaupt — gemacht hat. Darum ist er sein Herr, von dem Israel abhängig und auf den es angewiesen ist. Eng damit verknüpft ist der Gedanke der Verbundenheit: sein Volk und die Schafe seiner Weide. Beides gehört zusammen; einerseits Gottes Herrschaft und die Abhängigkeit des Menschen von ihm, andererseits die Hinwendung Gottes zum Menschen und die Gemeinschaft mit ihm. 4. Auf dieser Grundlage wird dann die Argumentation verständlich, die Amos gegenüber einem Einwand gegen seine Gerichtsbotschaft gebraucht: Nur euch habe ich „erkannt" von allen Geschlechtern der Erde? Darum will ich an euch ahnden all eure Sünden! (Am 3, 2) Der Einwand, den Amos aufgreift, geht von dem engen Verhältnis aus, in dem Jahwe zu Israel steht. Allerdings umschreibt das Wort „erkennen" die Bedeutung des Verbs jadä' höchst unvollkommen, weil das hebräische Verb geradezu ein Vorläufer für das später verwendete Verb bahär „erwählen" ist und eine persönliche, intime Gemeinschaft bis zum Geschlechtsverkehr bezeichnen kann. Am besten wäre es daher, das Verb mit dem Begriff „vertraut sein" oder „Gemeinschaft haben" wiederzugeben, so daß Amos den Einwand so aufgegriffen hat: Nur mit euch bin ich vertraut (oder: habe ich Gemeinschaft) von allen Geschlechtern der Erde? Diesem Vertrautsein stellt Amos das Herrscherrecht Jahwes zur Seite, alle Sünden zu ahnden. 5. In umgekehrter Weise geht Hos 5, 15—6, 6 von der Strafe aus und fordert vom Volk an Stelle eines kultischen Bußliedes und der dargebrachten Opfer, daß Israel die rechte Gemeinschaft mit Gott wiederherstellen soll: Verbundenheit (häsäd) will ich und keine Schlachtopfer, Gottesgemeinschaft (dd'ât ,âlohîm) und keine Brandopfer. 6. Die beiden Vorstellungskomplexe sind ursprünglich wohl in einem einzigen Ausdruck enthalten: in der Redewendung vom Mitsein Gottes

Das Miteinander von Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft

101

mit einem oder mit den Menschen, die im Alten Testament fast hundertmal begegnet, insbesondere in den erzählenden Büchern (vor allem Genesis, Josua, Samuel und Chronik) 13 . Da nach den bisherigen Feststellungen die Aussage im Alten Orient außerhalb Israels anscheinend sehr selten war, wird man sagen können, daß sie und die darin sich ausdrückende Glaubensvorstellung typisch israelitisch und alttestamentlich sind. Am besten lassen ihren Sinn die Patriarchenerzählungen erkennen, in denen die Redewendung mit konkretem Bezug begegnet: Das Mitsein Gottes wird einzelnen Menschen verheißen oder es wird im Blick auf sie festgestellt — im Zusammenhang mit Wanderungen — rückblickend, gegenwärtig oder vorausschauend. Die Erzähler verwenden die Redewendung als konkrete Verheißung oder Feststellung, nach der Gott das Geleit auf einer Wanderung verheißt oder nach der man ein solches Geleit feststellt. Der Gott der jeweils mit der Redewendung bezeichneten Nomaden oder Halbnomaden begegnet also als die mitziehende, geleitende, schützende und führende Gottheit. Darin dürfte ein Element frühisraelitischen nomadischen Denkens und Glaubens vorliegen. Einen ähnlich konkreten Haftpunkt weist die Redewendung auch in den Texten auf, die die Mosezeit, die Landnahme- und die Richterzeit betreffen — Zeiten, in denen das nomadische Element noch grundlegend war. Weithin umschreibt das Mitsein Gottes für die nomadische Frömmigkeit seine Verbundenheit und Gemeinschaft. Der Gott, der sein geleitendes Mitsein verheißt, geht mit dem Menschen mit — mit seinem Segen, seinem Beistand oder seiner Hilfe im Kampf. Er geleitet die Seinen, er streitet auch für sie. Sein Mitsein im Kampf führt also nicht auf eine sakrale Institution eines heiligen Krieges, sondern gehört in den großen Vorstellungskomplex der Gottesgemeinschaft. Zugleich klingt der andere Aspekt an: die Gottesherrschaft. Indem Jahwe kämpft und siegt, erweist er sich als der Herr, der mächtiger als Menschen, Völker und Heere ist. Es ist in diesem Zusammenhang nicht unwichtig, daß Jahwe mehrfach als der Gott bezeichnet wird, der aus Ägypten rettete, der dann mitzog und der in alledem mit Israel war. Jahwes Mitsein im Streit für die Seinen ist dynamische Macht. Solches Mitsein wird dann auch an die Bedingung des Gehorsams gebunden (I Reg 11, 38; II Chr 15, 2), den Israel seinem Gott als dem Herrn und Herrscher schuldet. Während die Redewendung in den Daviderzählungen zur bloßen Beistandsformel wird, scheint sie in ihrer ursprünglichen nomadisch-frühisraelitischen » H. D. Preuß, „ . . . ich will mit dir sein!", ZAW 80 (1968), S. 139—173; D. Vetter, Jahwes Mit-Sein, ein Ausdruck des Segens, 1971.

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Die Einheit in der Vielfalt

Form den Keim der Doppelaussage von der Gottesherrschaft und der Gemeinschaft mit Gott zu enthalten. III.

Gottesherrschaft

Nach den bisherigen Beispielen für das Miteinander von Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft sollen nunmehr die beiden Vorstellungskomplexe im einzelnen beleuchtet werden, zuerst derjenige der Herrschaft Gottes. Das erste Gebot des Dekalogs „Du sollst keinen anderen Gott haben" 14 setzt nicht voraus, daß es lediglich den einen Gott gibt und daß alle anderen Götter nur Wahngebilde und Nichtse sind, wie es erst von Deuterojesaja an zum anerkannten Grundsatz des alttestamentlichen Glaubens geworden ist. Vielmehr geht das erste Gebot davon aus, daß die fremden Götter als wirkliche Mächte existieren und daß ihre Existenz eine ständige Versuchung dazu bildet, vom eigenen Gott abzufallen und ihnen zu dienen. Für das ältere Israel gilt dies in erster Linie von dem faszinierenden Vitalismus der kanaanäischen Religion, die die Fruchtbarkeit des Ackers, die Zeugung neuen Lebens und die Bezwingung des Schicksals durch begeisternden Rausch und gesteigertes Lebensgefühl versprach. Dem tritt das erste Gebot entgegen, das geradezu das Muster eines Verbots der Verehrung anderer Götter darstellt. In ihm spricht sich der ausschließliche Herrschaftsanspruch Gottes als der allein anzuerkennende Herrschaftsanspruch überhaupt aus. Ob dieses Gebot nun aus der Zeit Moses stammt oder nicht — auf jeden Fall durchzieht der Widerstreit zwischen der unbedingten Forderung auf die alleinige Anerkennung des göttlichen Herrn und ihrer Bedrohung durch die andersartige politische und kulturelle Wirklichkeit Palästinas die religiöse Geschichte Israels. Die Einwirkungen anderer Kulturen und Religionen haben sowohl zu schweren Gefährdungen als auch "zu immer neuen Präzisierungen des Gedankens der ausschließlichen Herrschaft Gottes geführt. Einmal wird Gottes Walten als Herrscher betont, indem man ihn als Herrn der Zebaot bezeichnet. Diese Heere sind wohl zunächst die Wesen der göttlichen Sphäre, darunter depotenzierte Götter, die ihm dienen. Sie treten als sein Kriegsheer auf (Jos 5,14), als seine Boten, sein Hofstaat und 14

Das jetzt den Satz beschließende „neben mir" bzw. „gegen mich" ist eine spätere Erweiterung.

Gottesherrschaft

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seine Ratsversammlung (I Reg 22; Hi 1—2), als die Sarafen, die seinen Thron umschweben und ihn besingen (Jes 6, 2f.), und als die Keruben, die seinen Thron durch die Welt tragen (Ez 1). Werden ihm auf diese Weise alle Wesen der göttlichen Sphäre untergeordnet, so wählen die Propheten gern die Bezeichnung „Jahwe Zebaot", wenn sie die ganze Machtfülle ihres Gottes betonen wollen, bis schließlich Deuterojesaja verkündigt, daß lediglich dieser eine Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit existiert und daß alle anderen, die man Götter nennt, bloß Erfindungen von Menschen sind. Es gibt nur diesen einen Gott, daher auch nur seinen Herrschaftsanspruch! Ferner wird die Herrschermacht Gottes auf der Erde ausgeweitet, als man erkennt, daß er nicht nur im Fall der Not vom Gottesberg nach Palästina eilt, um Israel im Kampf gegen seine Feinde zu helfen, sondern daß er ständig im Bereich der Fruchtbarkeit wirkt. Die Verfügungsgewalt darüber wird dem kanaanäischen Gott Baal ab- und Jahwe zugesprochen. Es ist Elia, der dies mit besonderem Nachdruck tut und der den Herrschaftsanspruch seines Gottes kräftig betont. Die letzte Folgerung ist dessen Anerkennung als Schöpfer von Welt und Mensch, so daß Ps 8, 2 ihn deswegen als Herrscher voller Hoheit besingt, dessen Name auf der ganzen Erde mächtig ist. Da der Name das Wesen beschreibt, soweit es durch den Namen kundgetan wird, bedeutet dies: Gottes Wesen, soweit es für den Menschen erkennbar ist, ist sein Herrschertum über die Welt. Demgemäß sollen im folgenden einige Aspekte dieses Herrschertums erläutert werden. 1. Gott ist ein ,el qänna\ ein eifernder, nicht ein eifersüchtiger Gott 15 . Der Ausdruck bezeichnet ursprünglich das Behaupten der eigenen Rechte unter Ausschluß anderer Ansprüche oder gegenüber anderen angeblichen Rechten. Es ist das sich eifernde Einsetzen für den eigenen Anspruch und das eigene Recht. Ebenso verhält es sich bei der Anwendung auf Gott: Er ist ein Gott, der seine Herrschaft mit keinem anderen teilen will — weder mit Menschen noch mit einem anderen Gott. Er fordert für sich allein die Anerkennung seiner Herrschaft; darauf hat er ein unbezweifelbares Recht, das gewöhnlich mit der Rettung Israels aus Ägypten begründet wird. Insgesamt charakterisiert der Ausdruck die Energie der göttlichen Forderung. Er stellt zwar nicht den ältesten, wohl aber den treffendsten Begriff für den Herrscherwillen Gottes dar. 2. Neben dem Eifern steht in Jos 24,19 und Ez 39, 25 die Heiligkeit Gottes. Sie ist eine andere Seite seines Rechtseifers, der sich auf die Durch15

Vgl. neuerdings H. A. Brongers, Der Eifer des Herrn Zebaoth, VT 13 (1963), S. 269—284; B. Renaud, Je suis un dieu jaloux, 1963.

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setzung seines Herrschaftswillens richtet und sich bei dem „Heiligen Israels" auf Israel konzentriert. Der „Heilige Israels" ist derjenige, der den Herrschaftsanspruch gegenüber Israel erhebt. In sehr umfassender Weise verwendet Jes 6, der Bericht über die Berufung des Propheten, den Begriff „heilig": Der Gesang der Sarafen bekundet a) die Unnahbarkeit des göttlichen Herrschers, seine Verschiedenheit von allem Geschöpflichen, seine Erhabenheit, Unbedingtheit und Ausschließlichkeit und b) seine die Welt durchdringende und erfüllende Macht, seine schlechthinnige Weltmächtigkeit, da sein kabôd („Herrlichkeit"), der die Erde füllt, ursprünglich seine „Schwere" oder „Wucht" ist. Dazu tritt, daß c) Jesaja die Heiligkeit Gottes als ethische Willensmacht erfährt, die im ganzen menschlichen Leben herrschen will, so daß der sündige Mensch erkennt: „Weh mir, ich bin verloren!" Wenn Jesaja ferner den Menschen als „Fleisch" bezeichnet, d. h. als irdisch, vergänglich, ohnmächtig, kraftlos, und Gott durch „Geist", d. h. durch absolute und wirkende Kraft und Macht, gekennzeichnet sieht (Jes 31, 3), dann ist der Begriff „Geist" nahezu gleichbedeutend mit der dreifachen Heiligkeit Gottes, die er im Berufungserlebnis erfahren hat. Er bezeichnet den grundsätzlichen Unterschied zu allem Nichtgöttlichen (dem „Fleisch"), die wirkende Macht Gottes in der Welt, die die Sünder straft, und die Richtung auf ein religiös-ethisches Ziel — die Anerkennung der göttlichen Weltherrschaft durch den Menschen. 3. Der Begriff berît ist für den sachlichen Zusammenhang ertragreich, auch wenn er nicht „Bund" oder „Vertrag" bedeutet und wenn sich aus angeblichen Parallelen zu den hetitischen Vasallenverträgen kein „Bundesformular" erschließen läßt. Gewiß wäre bei der herkömmlichen Auffassung das Verhältnis Jahwe—Israel als das eines Großkönigs zu seinem Vasallen gekennzeichnet und das Bild der Herrschaft Gottes nochmals bereichert. Doch dieser Weg ist nicht gangbar. Es wurde schon gesagt, daß bcrît die Selbstverpflichtung oder die Verpflichtung eines anderen bedeutet und daß dort, wo Gott ihr Subjekt ist, seine Selbstverpflichtung in Form der gnädigen Zusage oder die Verpflichtung, die er dem Menschen auferlegt, gemeint ist. Ebensowenig ist der Nachweis eines ¿»"nf-Formulars nach Analogie der Vasallenverträge gelungen16. Dies zeigt schon ein Blick auf die Sinaiüberlieferung, für die man die Dekaloge in Ex 20 und 34 als Formular betrachtet. Schon die geschichtliche Frage, wie eine Gruppe von Israeliten im Wüstengebiet Nordarabiens, wo man den Sinai wohl lokalisieren muß, 16

Vgl. insbesondere die Kritik von F. Nötscher, Bundesformular und „Amtsschimmel", BZ NF 9 (1965), S. 181-214.

Gottesherrschaft

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das Verhältnis zu ihrem Gott nach dem Muster hetitischer Vasallenverträge aus dem kleinasiatischen Gebiet hätte dokumentieren können, ist kaum zu beantworten. Woher sollten sie solche Verträge kennen? Sofern wirkliche Parallelen mit ihnen vorliegen, ist eher an spätere Bearbeitung und Überformung der Überlieferung zu denken, zumal man aus dem gesamten Vertragsmaterial des Alten Orients (den vorhetitischen Verträgen, den Verträgen aus Syrien und Assyrien und den hetitischen Vasallen- und Paritätsverträgen) eine gemeinsame Vertragsform für internationale Vereinbarungen erschließen kann, die während der gesamten vorhellenistischen Zeit verwendet worden ist. Daher wäre eine spätere Angleichung der Sinaiüberlieferung durchaus möglich. Aber die angeblichen Parallelen sind überhaupt fragwürdig. Die Selbsteinführung „Ich bin Jahwe" in E x 20,2 ist gattungsmäßig der Selbsteinführung des Oberherrn in den Verträgen nicht gleich. Denn diese lautet z. B. „So spricht die Sonne Murschilisch". Die alttestamentliche Parallele dazu aber lautet: „So spricht Jahwe". Ferner läßt sich die Erwähnung der Herausführung aus Ägypten nicht mit der sog. Vorgeschichte des Vertragsschlusses gleichsetzen. Diese lautet ζ. B. „Obwohl du krank warst, habe ich, die Sonne, dich doch in die Stellung deines Vaters eingesetzt". Ein solcher Satz ist der Form und der Sache nach etwas anderes als die Erwähnung der Herausführung aus Ägypten, die nicht einen historischen Rückblick, sondern das grundlegende Bekenntnis Israels darstellt. Außerdem gibt es keinen altorientalischen Vertrag, in dem allein der Oberherr eine Verpflichtung auf sich nähme ohne jede Gegenleistung des Niedrigeren, wie Jahwe es in der berit an Abraham tut (Gen 15). Umgekehrt wird in den Fällen, in denen Jahwe eine berît als Verpflichtung auferlegt wie am Sinai, an keiner Stelle eine Verpflichtung erwähnt, die er seinerseits als der Mächtigere übernähme. Dennoch ist der Begriff berît kennzeichnend für die Vorstellung von der Gottesherrschaft. Denn die Setzung der berit, das Eingehen einer Selbstverpflichtung Gottes oder das Auferlegen einer Verpflichtung durch ihn, setzt überall seine Herrscherstellung und Herrschermacht voraus. Seine ber(t gegenüber den Patriarchen ist seine gnädige Zusage als Selbstverpflichtung, ihnen oder ihren Nachkommen das Land Kanaan als Besitz zu geben, so daß er über das Land und seine bisherigen Einwohner verfügen kann. E r gibt David die Zusage (als Selbstverpflichtung, daher der „Schwur" Ps 89,4 und 132,11), daß er dessen Nachkommenschaft in der Königsherrschaft festigen und den Thron für alle Generationen bauen will, daß also der Thron Davids für immer Bestand haben und immer von einem Davididen besetzt sein soll. Wer kann einem Herrscher eine solche Zusicherung geben, wenn nicht

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Die Einheit in der Vielfalt

ein noch Mächtigerer? Er legt auch eine berit auf und verpflichtet dadurch den Menschen, so besonders nach der Sinaiüberlieferung. In Ex 19, 5 ist das Hören auf seine Stimme und das Bewahren seiner berît die Voraussetzung dafür, daß Israel sein Eigentumsvolk werden wird. Nach Ex 24, 3—8 schreibt Mose „alle Worte Jahwes" in ein Buch, und die Israeliten versichern zweimal, daß sie alles tun wollen, „was Jahwe gesagt hat"; nach dem Textzusammenhang ist damit das Rechtsbuch in Ex 20, 22—23,19 gemeint. In Ex 34, 27 ist die Rede von einer berit, einer Verpflichtung Moses und Israels aufgrund einer Reihe von Geboten, die in v. 11—26 angeführt und nach v. 28 auf Tafeln geschrieben werden. In diesen Fällen ist die berlt eindeutig das „Gesetz", das Jahwe als Herrscher erläßt und für das er Gehorsam fordert. Beide Aspekte — Zusage Gottes als Selbstverpflichtung und dem Menschen auferlegte Verpflichtung — sind dort vereint, wo die neue berît verheißen wird (Jer 31, 31—34): Die Sinai-b e rit, das „Gesetz", haben die Israeliten gebrochen, aber Gott setzt einen Neuanfang. Im Blick auf das Vergangene bedeutet dies: Er vergibt und gedenkt der Verfehlungen nicht mehr, im Blick auf die Zukunft: Er gibt ein neues Gesetz, jedoch den Israeliten ins Herz, so daß sie den göttlichen Willen in sich tragen und willig und fähig sind, ihn zu tun. Gott gibt nicht nur eine neue Verpflichtung, sondern schenkt zugleich die Möglichkeit, sie zu befolgen und zu halten. Auch dies gehört zur Gottesherrschaft, für deren Verwirklichung der Herrscher sich einen neuen Menschen schafft. 4. Zur ausdrücklichen Bezeichnung des Herrschens wird das Verb masäl verwendet, so in dem Satz Gideons: „Ich will nicht über euch herrschen, und mein Sohn soll nicht über euch herrschen; Jahwe soll über euch herrschen" (Jdc 8, 23). Die verhältnismäßig schmale Grundlage, die dieses Verb bietet, wird durch das Verb sapät verbreitert 17 . Wenn sapât mit Jahwe als Subjekt gebraucht wird, vor allem in den Psalmen, dann bedeutet es gewöhnlich nicht „richten", sondern „herrschen". Das Richten gehört zu den Tätigkeiten des Herrschers. Ein Beispiel bildet Jes 33, 22: Der Herr ist unser sopet, der Herr ist unser Gesetzgeber, der Herr ist unser König. 17

Vgl. dazu I. H. Eybers, Die Semitiese Stam sh-p-t, Diss. Pretoria 1955; ders., The Stem ä-p-t in the Psalms, in: Studies on the Psalms, Die Ou Testamentiese Werkgemeenskap in Suid-Afrika, 1963, S. 58—63; W. Richter, Zu den „Richtern Israels", ZAW 77 (1965), S. 40—71.

Gottesherrschaft

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In dieser dreifachen Aussage steht sopet parallel mit den beiden Ausdrücken „Gesetzgeber" und „König", so daß es am besten mit „Herrscher" übersetzt wird. 5. Außerdem sind die Titel „König" und „Hirt" zu nennen. Obwohl der Königstitel zum erstenmal von Jesaja erwähnt wird (Jes 6, 5), ist er sicher älter, zumal der Prophet ihn so selbstverständlich gebraucht, wie es mit einem längst bekannten Ausdruck geschieht. Tatsächlich ist der Titel ein Erbe Kanaans, wo vom Königtum der Götter El und Baal über die anderen Götter gesprochen wurde18. Im Alten Testament besteht ein Zusammenhang zwischen dem Titel „König" für Gott, der Bezeichnung Jahwe Zebaot und der Lade als seiner Repräsentation (Jes 6, 5; Jer 46, 18; 48, 15; 51, 57; Ps 24, 9 f.), außerdem im Blick auf Jerusalem (Jes 52, 7; Jer 8, 19). Diese Zusammenhänge legen die Annahme nahe, daß der Königstitel zur Zeit Salomos oder bald danach auf Jahwe übertragen worden ist. Jedoch bezeichnet er nicht mehr die Herrschaft über die Götter wie im kanaanäischen Bereich, sondern Gottes Herrschaft über Israel, also über Menschen, und zwar sowohl seine Macht und Verfügungsgewalt als auch seinen Schutz und seine Fürsorge. Das Bild oder der Titel des Hirten ist ursprünglich für den sumerischen König oder Gott Dumuzi (Tammuz) und sodann für den irdischen König verwendet worden. Erst gegen Ende des 7. Jh. wird der Begriff häufiger als Bezeichnung für Gott gebraucht. Er bezeichnet den Schutz und die Hilfe, die dem Herrscher als Aufgabe und Vorbild vor Augen gehalten werden. IV.

Gottesgemeinschaft

Neben der Gottesherrschaft bildet die Gemeinschaft mit Gott den zweiten Brennpunkt. Damit ist die erlebbare und für den damaligen Glauben auch erlebte Wirklichkeit einer unmittelbaren Gemeinschaft zwischen Gott, dem Herrscher, und dem Menschen in dieser seiner Welt gemeint. Dieses Verhältnis ist freilich weder naturgegeben und die typische Äußerung der israelitischen Seele noch der israelitischen Volksreligion als solcher inhärent und aus ihr und ihrer nomadischen Vorzeit herausgewachsen, auch wenn es in ihr schon begegnet. Vielmehr wird es gewöhnlich auf die Offenbarung Gottes gegründet, die durch Mose und die Propheten vermittelt wird. Folgende wichtige Aspekte solcher Gemeinschaft sind zu erwähnen. 1. Die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch kommt in den ver18

Vgl. W. H. Schmidt, Königtum Gottes in Ugarit und Israel, 19662.

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Die Einheit in der Vielfalt

wandtschaftlichen Begriffen zum Ausdruck, durch die das Verhältnis zwischen Gott und Israel oder zwischen Gott und Mensch umschrieben wird. Für die Frühzeit Israels ist dies vor allem durch Eigennamen zu belegen, die mit den Wörtern 'ab „Vater", 'ah „Bruder" und 'äm „Verwandtschaft, Familie" gebildet worden sind. Diese Elemente weisen stets auf das Verhältnis zwischen Gottheit und Mensch hin und verwenden dafür verwandtschaftliche Ausdrücke, z. B. Abiram/Ahiram „Mein (göttlicher) Vater/Bruder ist erhaben" und Ammiel „Der Gott meiner Verwandtschaft ist (mein) Gott". Der mosaische Jahweglaube hat diese Vorstellung aufgenommen. Die Ereignisse am Sinai waren ein einmaliges Geschehnis, das die ständige Beziehung zwischen Jahwe und der Moseschar im Sinne einer fortdauernden Lebensgemeinschaft begründen sollte. Diese Lebensgemeinschaft wird ebenfalls mit einem Verwandtschaftsausdruck umschrieben. Die Moseschar stellt den 'äm Jahwes, die „Verwandtschaft" oder „Familie Jahwes" (später: „Volk Jahwes") dar. Es spricht einiges dafür, daß diese Redeweise aus der Moseschar stammt und von ihr nach Palästina mitgebracht worden ist. Denn auffälligerweise finden sich Suffixformen des Wortes 'äm, in denen das Suffix Jahwe bezeichnet, in gehäuftem Maße gerade im Buche Exodus (Ex 3,7.10; 5,1.23; 7,16; 8,16ff.; 9,1.13; 10,3). In Palästina ist dann, nachdem die Moseschar in den schon ansässigen israelitischen Stämmen aufgegangen ist, der aus diesen Stämmen bestehende 'äm Israel, die Verwandtschaft oder Sippe Israel, als ganzer zum 'äm Jahwes geworden. Damit war die Voraussetzung dafür gegeben, daß die Propheten die Verwendung verwandtschaftlicher Ausdrücke übernommen haben, um die Gemeinschaft Jahwe—Israel als ein personhaftes Lebensverhältnis zu kennzeichnen. Die Ausdrucksweise „mein Volk" (Am 7, 8.15; 8, 2; Jes 1, 3; 3, 15) erinnert noch an die Verwandtschaftsbezeichnung und weist auf jeden Fall auf die Gemeinschaft zwischen Jahwe und Israel hin. Die Israeliten sind die „Söhne" Jahwes, wenn auch verderbt, verlogen und schlimmer als das Vieh des Vaters (Jes 1, 2 f.4; 30, 9), der sie als Vater aus Ägypten gerufen hatte (Hos 11, Iff.). Für Jesaja ist Jahwe ferner der Liebhaber oder Bräutigam, der für seinen „Weinberg" alles vortrefflich bereitet hatte (Jes 5,1—7). Amos kennzeichnet das Verhältnis zwischen beiden mittels des Verbums jadä' als eine intime, eheartige Gemeinschaft, und Hosea und Jeremía betrachten es sogar unter dem Bild der Brautschaft oder Ehe (Hos 1; 2, 18; 3; Jer 2, 2; 3, 6ff.). 2. Der Mensch wird in Gen 1, 26 f. als imago dei bezeichnet, geschaffen als ein Bild und nach der Ähnlichkeit Gottes. Diese theologische Terminologie soll einerseits eine unmittelbare positive Beziehung der Gemeinschaft

Gottesgemeinschaft

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umschreiben, da auch zwischen Vater und Sohn das Verhältnis von Urbild und Abbild besteht (Gen 5, 3), andererseits jede Gleichheit oder Vermischung von Gott und Mensch ausschließen. Eine Folge der Gemeinschaft besteht darin, daß der Mensch an der Herrschaft Gottes beteiligt, nämlich mit der Herrschaft über die Erde beauftragt wird. 3. Vor allem S. Mowinckel hat auf die Bedeutung des Ausdrucks dä'ät ,âlohîm hingewiesen19. Das darin verwendete Verb jadä' wird gewöhnlich mit „erkennen" übersetzt. „Erkennen" aber bedeutet im Alten Testament das intime Vertrautsein mit dem Charakter, der Denkweise, der Seele eines anderen. „Gott erkennen" bedeutet demgemäß: in einem persönlichen und gegenseitigen Verhältnis des Vertrautseins, in einem Gemeinschaftsverhältnis mit ihm stehen, so daß man dadurch die Richtung, die Qualität, den Inhalt und die Direktive des eigenen Lebens erhält. Das bedeutet eine Herzenskenntnis, die das Herz des Menschen fordert (Dtn 6, 5); sie verlangt die Anerkennung Gottes im ganzen Leben (Mi 6, 8). 4. Von da aus erklärt sich auch die personale Struktur des alttestamentlichen Glaubens, auf die noch gesondert einzugehen ist: das Wissen um oder das Vertrauen auf die Führung durch Gott, ζ. B. in den Klage- und Dankpsalmen; die personale Art der Ethik nach den apodiktisch formulierten Lebens- und Verhaltensregeln, die den Einzelmenschen anreden; die innere Auseinandersetzung mit der Not und Bedrohung des Lebens wie in den Psalmen und im Buche Hiob; die personale Art des Glaubens an Gott als den Schöpfer, der stets zum Menschen in Beziehung gesetzt wird. 5. Der Gedanke der Gemeinschaft mit Gott wirkt sogar in die Opferpraxis hinein. Das Schlachtopfer ist das Mahl einer Gemeinschaft von Menschen, bei dem zugleich der wertvollste Teil des geopferten Tiers Gott dargebracht wird, so daß dieser gleichfalls am Mahl teilnimmt. Wie die Opfernden unter sich bei der Opfermahlzeit eine Gemeinschaft bilden, so wird Gott durch den ihm gleichzeitig dargebrachten Anteil am Opfer einbezogen. So bekundet oder bewirkt das Schlachtopfer die Gemeinschaft der teilnehmenden Menschen miteinander und die Gemeinschaft dieser Gruppe mit Gott.

19

S. Mowinckel, Die Erkenntnis Gottes bei den alttestamentlichen Propheten, 1941. Weitere Lit. bei G. Fohrer, Umkehr und Erlösung beim Propheten Hosea (Anm. 12), S. 228f. Anm. 16.

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Die Einheit in der Vielfalt V. Furcht und Vertrauen

Der Doppelheit von Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft entspricht beim alttestamentlichen Menschen eine Doppelheit der Reaktion darauf. Sie läßt sich auf die Formeln Furcht und Vertrauen, Abstand und Verbundenheit, Erfahrung der Bedrohlichkeit Gottes und Erfahrung der Verbundenheit mit ihm bringen. Wesentlich ist, daß jeweils beides einander nicht ausschließt und ebensowenig unverbunden nebeneinandersteht, sondern wie die Vorstellungen von Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft unauflöslich zusammengehört 20 . 1. Furcht und Vertrauen sind religiöse Grunderfahrungen Israels. Im ganzen Alten Testament findet sich eine klare Erkenntnis des großen Abstandes Gottes vom Menschen. Darauf wird immer wieder hingewiesen (vgl. Ez 28,2.9; Jes 31, 3; Hos 11,8), wobei sich die Erfahrung der Kleinheit, Geringheit und Unwürdigkeit des Menschen gegenüber dem übermächtigen und heiligen Gott ausspricht. Sie drückt sich wiederum in Scheu und Furcht aus, und diese wirken bis in konkrete Maßnahmen und Bräuche hinein. Dazu gehören die Vorsichtsmaßregeln, die beim Betreten des Heiligtums zu beachten sind und verhindern sollen, daß kultisch Unreines, Profanes oder Entweihtes vor den heiligen Gott gebracht wird, aber auch die Einzugstora wie Ps 15, die vom Besucher des Heiligtums ethisch-religiöse Reinheit fordert. Die Furcht vor Gott ist am stärksten, wenn der Mensch ihm begegnet und ihm unmittelbar gegenübersteht. So zeigen es vor allem die Erzählungen von den Gotteserscheinungen. Nach Jakobs Traum in Betel erscheint ihm beim Erwachen die Stätte furchtbar; er fürchtet sich, weil er ahnungslos an einer Stätte geweilt hat, an der Jahwe gegenwärtig ist (Gen 28, lOff.). Diese Furcht vor dem nahen Gott wird von der Prophetie als das normale religiöse Verhalten betrachtet und wirkt bis in die Schilderungen des Zornes Gottes und des Tages Jahwes, an dem sich dieser Zorn entladen wird. Einen Höhepunkt bildet die Ausmalung der Theophanie, die Darstellung der Erscheinung Jahwes (z. B. im Deboralied Jdc 5). Selbst wenn die Theophanie zugunsten Israels erfolgt, wird der furchtbare und grausige Charakter der Gotteserscheinung betont (vgl. auch Hab 3). Freilich handelt es sich nicht um Furcht im Sinne von Angst, sondern in erster Linie um Ehrfurcht. Außerdem sind damit Elemente des Vertrauens auf Gott und ein Wissen um die Möglichkeit, aufgrund dieses 29

Vgl. vor allem J. Hempel, Gott und Mensch im Alten Testament, 1926.

Furcht und Vertrauen

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Vertrauens zu leben und die göttlichen Segenskräfte zu erlangen, unauflöslich verbunden (Ps 42—43; 84, 3). 2. Furcht und Vertrauen, Abstand und Verbundenheit zeigen sich angesichts des Handelns Gottes im Völkerleben und in der Natur. Jahwes Macht bewährte sich der alten Zeit vor allem im Krieg. In ihm erlebte man seine verzehrende und vernichtende Macht, insbesondere da sie sich gegen die Feinde des Volkes wendete. Dies wird wieder aufgenommen in der prophetischen Gerichtsdrohung, die Jahwe das Gericht vornehmlich durch Kriege vollstrecken sieht, erst recht in der eschatologischen Prophetie, die wenigstens teilweise ein Gericht über alle Völker oder die Zerschmetterung der bestehenden politischen und militärischen Mächte durch Jahwe erwartet, teilweise aber auch erhofft, daß der Krieg für immer ausgeschaltet wird und der ewige Friede beginnt. Überall begegnet der Glaube an die schlechthinnige Überlegenheit Gottes über den Menschen und die Völker, einerseits geboren aus der Erfahrung des Abstandes des Menschen, auch des mächtigsten, in seiner Schwäche gegenüber Gott, andererseits getragen von dem Vertrauen auf ihn, der sein Volk nicht im Stich läßt und der seine Macht auch in der Zukunft erweisen wird. Aber Jahwe erscheint nicht nur als der Kriegsgott, sondern auch als der Wundertäter, der Wundersames wirkt. Die ägyptischen Plagen sind Naturkatastrophen, die als Maßnahmen Jahwes zur Befreiung der Israeliten erscheinen. Daneben steht das Staunen über das Absonderliche, Nichtalltägliche und Außergewöhnliche. Dies zeigen sowohl die älteren Prophetenlegenden in den Königsbüchern als auch die Erzählungen von der Wüstenwanderung der Mosezeit, die später von der eschatologischen Prophetie aufgegriffen werden. Ja, bei Deuterojesaja überbieten solche Naturwunder die älteren Vorstellungen vom Eingreifen Jahwes in das Geschick der Völker durch den Krieg (vgl. Jes 43, 16f.). 3. Furcht und Vertrauen, Abstand und Verbundenheit im Leben des einzelnen werden sogleich an den Erzählungen der Genesis deutlich. In ihnen lebt der Glaube an die göttliche Führung im Leben des einzelnen und hat sich geradezu klassische Ausdrucksformen geschaffen. Daneben wird vor allem bei Geburt, Krankheit und Tod, also in den entscheidenden Augenblicken im Werden und Vergehen des einzelnen Menschen, das Erfahren der göttlichen Macht besonders hervorgehoben. Dabei wird die Besonderheit des alttestamentlichen Glaubens in drei Richtungen deutlich: in der Ausschaltung anderer Gottheiten, in der Ablehnung der Magie und in der Verknüpfung von Macht und Wissen Jahwes. Durch die damit verknüpfte Steigerung der Macht Jahwes wurde einer-

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Die Einheit in der Vielfalt

seits eine starke Erfahrung des Abstandes lebendig. Wahrscheinlich war sich der einzelne Mensch des Abstandes, der ihn von Gott trennte, in noch stärkerem Maße bewußt als die Gesamtheit des Volkes oder der Gemeinde. Andererseits war damit immer der Ausdruck glaubenden Vertrauens verbunden, das sich sogar eine eigene Liedgattung, das Vertrauenslied, geschaffen hat. Dieses Vertrauen gründete sich einmal darauf, daß der einzelne Mensch Anteil an dem Gott seines Volkes hat; da Jahwe seinem Volk verbunden ist, ist er auch dem einzelnen Israeliten verbunden. Ferner sind die Bewährungen des göttlichen Schutzes im eigenen Leben zu nennen; vor allem in den Dankliedern des Psalters bekennt der einzelne, Gottes Hilfe und Schutz in Krankheit oder Todesgefahr erfahren zu haben. Dazu tritt schließlich das Vertrauen auf die Überwindung der Sünde, die Gott vergibt, oder auf die Schuldlosigkeit, die er anerkennt; beides begegnet in den Klageliedern des Psalters: die Beteuerung der eigenen Unschuld, wo der Beter von Feinden bedroht oder verfolgt wird, und das Bekenntnis der eigenen Schuld und Sünde, wo er sich in Krankheit und Todesgefahr befindet und um Vergebung bittet. Stets wirkt das Moment der Verbundenheit und des Vertrauens auf Gott entscheidend ein.

5. Kapitel WANDLUNGSKRAFT U N D WANDLUNGSFÄHIGKEIT Der alttestamentliche Glaube hat Altes aufgenommen und in der Aufnahme umgewandelt. Diese Umwandlung ist besonders unter dem Einfluß der den theologischen Mittelpunkt bildenden Vorstellungen von Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft geschehen. Der alttestamentliche Glaube ist aber selbst auch Wandlungen ausgesetzt gewesen, die die Vorstellungen von Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft geändert oder erweitert haben. Daher ist sowohl von seiner aktiven Wandlungskraft als auch von seiner passiven Wandlungsfähigkeit zu sprechen.

I. Archaisches Gut und seine Verwendung 1. Sitten und Gebräuche archaischen Ursprungs hat das alte Israel in den Jahweglauben mitgebracht 1 . Solches Gut umgibt einschneidende Ereignisse im menschlichen Leben. Dazu gehört die Beschneidung, die operative Entfernung der Vorhaut. Diese Sitte findet sich bei den Israel herkunftsmäßig verwandten Ammonitern, Moabitern und Edomitern sowie — f ü r Priester gefordert — in Ägypten, dagegen nicht bei Assyrern, Babyloniern und Philistern, anscheinend auch nicht bei Kanaanäern oder Phöniziern. Ursprünglich war sie vielleicht ein Ritus der Mannbarkeit oder eine Weihe für die Ehe (vgl. Gen 34, 14ff.). Doch schon die aus einer frühisraelitischen Tradition stammende kleine Erzählung von der Beschneidung des Mosesohnes durch seine Mutter (Ex 4, 24—26) hat ein anderes Ziel; sie soll den Übergang zur Kinderbeschneidung begründen oder diese legitimieren. Es kann sein, daß man die Beschneidung in diesem Stadium als Schutz vor Dämonen betrachtete. Danach ist sie in den alttestamentlichen Glauben aufgenommen worden; die Bedrohung Moses durch Jahwe in Ex 4 deutet bereits darauf hin. Die Priesterschrift setzt in Gen 17 die Beschneidung in der Zeit Abrahams an, legitimiert sie von daher und betrachtet sie als Zeichen der Zugehörigkeit zu Jahwe. Es gibt ferner urtümliche Verbote, die religiös bedingt sind und deren Übertretung bestimmte Strafen nach sich zieht. Religionsgeschichtlich be1

G. Fohrer, Geschichte der israelitischen Religion, 1969, S. 17 ff.

8 Theologische Grandstrukturen

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Wandlungskraft und Wandlungsfähigkeit

zeichnet man solche Verbote mit dem Ausdruck „Tabu". So kannte Israel ein Fleischtabu, das nicht nur als unrein geltende Tiere (ζ. B. das Schwein) oder bestimmte Teile kultisch reiner Tiere (Blut und Fett), sondern auch das Fleisch von Tieren, die nicht von Menschen erjagt oder geschlachtet worden waren, zu essen verbot (Lev 17, 15; 22, 8). Damit verknüpft ist das Bluttabu, weil das Leben „im Blut" ist (Lev 17, 14), so daß erst das ausgeblutete Tier als tot galt und zum Verzehr freigegeben wurde (Gen 9, 4). Ebenso war die Sexualsphäre, wie aus zahlreichen Gesetzesbestimmungen zu ersehen ist, von mancherlei Tabus umgeben (Lev 15, Iff.). Dieses archaische Gut ist von der Wandlungskraft des alttestamentlichen Glaubens erfaßt worden und hat als Folge dessen später neue Bedeutung erhalten. Als man im babylonischen Exil keinen regelrechten Kultus ausüben und keine Opfer darbringen konnte, da es in Babylonien kein Jahweheiligtum gab, hat man statt dessen kultische Ersatzformen entwickelt. Dazu griff man auf altes Gut zurück. So wurde die Beschneidung im Gegensatz zu den Babyloniern, die sie nicht kannten, zu einem wichtigen Ritus. Sie symbolisierte die Zugehörigkeit zum Volke Jahwes und galt geradezu als Bekenntniszeichen. Man hat ferner die alten Speise- und Reinheitsvorschriften weiter ausgedehnt und verfeinert. Man hat sie sorgsam beachtet, um zu zeigen, daß man sich in einem fremden, unreinen Land befand, in dem man sich nicht zu Hause wußte, und daß man einem anderen Gott angehörte als die Bewohner dieses Landes. Auch der „Bann", die restlose Vernichtung der Kriegsbeute, erklärt sich am ehesten als Folge der Tabuierung der Beute, die aus dem Bereich eines anderen Gottes stammte und deren Vernichtung ursprünglich ihrer „Reinigung" im kultischen Sinne diente. Diese Sitte hat einen neuen Sinn erhalten, als sie auf den alttestamentlichen Glauben bezogen und zum Jahwebann wurde. Nunmehr bezog sich der Bann nicht mehr auf die Beute, die zwar kultisch gereinigt werden sollte, indem man sie vernichtete, sondern richtete sich gegen den Feind Jahwes, der mit seiner Habe dem siegreichen Gott Jahwe geweiht wurde. Das Tabu wandelte sich zu einer Weihung für Jahwe. Dies hat äußerlich wenig geändert, wohl aber die Folge gehabt, daß der Bann selten angewendet wurde, weil die völlige Vernichtung des besiegten Feindes durch den Sieger dem Wesen des alttestamentlichen Glaubens nicht gemäß war. Nur in den drei Fällen von Num 21, 1—3; Jos 6—7 und I Sam 15 scheint der Bann vollstreckt worden zu sein. Im Deuteronomium findet eine weitere praktische Abschwächung statt. Das deuteronomische Gesetz fordert zwar das Erschlagen, Ausrotten und Vertilgen der Kanaanäer, insbesondere durch den Bann. Doch als es

Archaisches Gut und seine Verwendung

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gegen Ende des 7. Jh. bekannt wurde, waren die Kanaanäer schon assimiliert und bildeten keine eigene Bevölkerungsgruppe mehr. So klingt die deuteronomische Forderung zwar strenger und radikaler, war aber von rein theoretischer Art. Der Bann konnte praktisch gar nicht mehr ausgeübt werden. 2. Aus dem Bereich der Gesetze ist zunächst das Altargesetz in Ex 20, 24—26 zu nennen2. Die Anordnung, einen Altar aus Erde aufzuschütten oder aus unbehauenen Steinen aufzuschichten, wenn Gott jeweils die Veranlassung gibt, ihn an einem Ort kultisch zu verehren, stammt — wenn nicht der Formulierung, so doch dem Inhalt nach — aus der Frühzeit des alttestamentlichen Glaubens. Es handelt sich um eine urtümliche Anordnung aus der Zeit der wandernden Nomaden, die schnell einen Erdaltar aufschütteten oder aus Feldsteinen aufschichteten. Später ist diese Anordnung in ein Rechtsbuch aufgenommen worden, das während der israelitischen Königszeit, wahrscheinlich im Nordreich Israel, entstanden ist. In diesem sog. Bundesbuch hat man die alte Anordnung neu verwendet; sie erhielt polemischen Sinn und richtete sich gegen einen luxuriösen und verfeinerten Altarbau, wie ihn Hos 10, 1 dem Nordreich vorwirft. Die Kriegsgesetze in Dtn 20; 23, 10—15 und 24, 5 sind in dieser Form zweifellos erst im Verlauf der jüngeren Königszeit entstanden. Dennoch gehen sie auf archaische Vorstellungen zurück, wie sich aus der Parallelität eines ugaritischen Textes aus dem Keret-Epos zu Dtn 20, 5—7 ergibt 3 . In beiden Fällen geht es um die Teilnahme an einem Kriegszug — im ugaritischen Text um das Aufgebot aller Kräfte, im deuteronomischen Text um die Feststellung derjenigen, die nicht an einem Kriegszug teilnehmen müssen. Dabei setzt der ugaritische Text ähnlich wie Dtn 20, 7 voraus, daß ein Mann, der gerade eine Frau heimgeführt, aber noch keinen Ν ichkommen gezeugt und dadurch den Bestand der Familie gewährleistet hit, nicht am Kriegszug teilnehmen muß. In Dtn 20, 7 steht die Eheschließung sogar erst bevor, so daß noch weiter vorgegriffen wird. In beiden Fällen ist gemeint, daß ein Mann erst dann an einem Feldzug und einer Schlacht teilnehmen soll, wenn gewiß ist, daß er nicht kinderlos bleibt, falls er in der Schlacht umkommen sollte. Ein religiöser Ursprung für diese Sitte ist sicher anzunehmen. Ebenso sicher ist, daß eine sehr alte Sitte vorliegt, die in Dtn 20 in dem ursprünglichen Sinn aufgegriffen wird, 2

3

8*

Vgl. D. Conrad, Studien zum Altargesetz Ex 20, 24—26, Diss.-Druck 1968; (E. Sellin-) G. Fohrer, Einleitung in das Alte Testament, 1969", S. 147. W. Herrmann, Das Aufgebot aller Kräfte, ZAW 70 (1958), S. 215—220.

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daß die Lebensgrundlage für den einzelnen wie für das Volksganze dadurch gesichert werden soll, daß wenigstens ein Sohn vorhanden oder zu erwarten ist, wenn der Mann in der Schlacht fällt. Darüber hinaus ist in Dtn 24, 5 eine neue Verwendung der Sitte erkennbar, insofern als ein Motiv religiöser Humanität in die Bestimmung aufgenommen wird. Maßgeblich wird nunmehr der Gesichtspunkt, daß das persönliche Lebensglück des einzelnen nicht jäh abgebrochen werden soll, bevor es seine Erfüllung gefunden hat. Auch in diesem Fall wird eine urtümliche Vorstellung aufgegriffen, jedoch entsprechend dem religiös-humanitären Charakter des deuteronomischen Gesetzes abgewandelt. 3. Mythen stellen ebenfalls urtümliche und archaische Elemente dar. Freilich hat es keinen eigenen israelitischen Mythos gegeben, noch hat das Alte Testament einen Mythos als ganzen übernommen. Es finden sich nur einzelne mythische Motive, die übernommen worden sind4. Sie begegnen vor allem in zwei Bereichen: in der Urgeschichte Gen 1—11 sowie in der eschatologischen Prophetie und in entsprechenden Psalmen. Die Urgeschichte kann man geradezu als eine Sammlung von Sagen mythischen Inhalts bezeichnen, in denen grundlegende Ereignisse des menschlichen Daseins behandelt werden. Über die Einzelmotive hinaus waren auch der Zusammenhang und die Abfolge der Erzählungen in einem mythischen Text, dem Atrachasis-Epos, vorgebildet. Jedoch sind solche Erzählungen oder Motive von Israel nicht unverändert übernommen, sondern in den alttestamentlichen Glauben eingegliedert und dadurch abgewandelt worden. Sie wurden vom Polytheismus, mit dem der Mythos verknüpft ist, weil er in der Welt der Götter spielt, gelöst und auf den Gott Israels bezogen. Der kosmogonische Mythos wurde dem alttestamentlichen Schöpfungsglauben untergeordnet, der auf das Verhältnis Gott— Mensch bezogen ist. Man kann daher nicht sagen, daß im Alten Testament der Mythos historisiert worden sei; vielmehr wird er aus der polytheistischen Beziehung gelöst und in die alttestamentliche Auffassung der personalen Beziehung zwischen Gott und Mensch übertragen. Nach Ezechiel, der im babylonischen Exil aus seiner dortigen Umwelt mythische Motive aufgreift, haben dies in größerem Maße die mit Deuterojesaja beginnende eschatologische Prophetie und Psalmen der exilisch-nachexilischen Zeit getan; das Vorkommen mythischer Motive in Prophetentexten und Psalmen kann daher geradezu als ein Merkmal später Entstehung der Texte gelten. Im einzelnen werden mythische Motive benutzt, um die künftigen Taten 4

Vgl. Annemarie Ohler, Mythologische Elemente im Alten Testament, 1969.

Archaisches Gut und seine Verwendung

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Jahwes zu schildern. Man schildert sie in Analogie zu den Taten anderer Götter, indem man mythische Motive verwendet. Während in der Urgeschichte etwas über die Beziehung zwischen Gott und Mensch ausgesagt werden sollte, stellen die mythischen Elemente in der eschatologischen Prophetie und den späten Psalmen Entsprechungsmotive dar. Sie sollen eine Entsprechung zwischen dem, was künftig geschieht, und dem, was schon einmal geschehen ist, herstellen, um die eschatologischen Ereignisse, die ein Prophet ankündigt, mit Hilfe bekannter Vorstellungen zu veranschaulichen und zu erläutern. Da sich in dem künftigen Geschehen etwas völlig Unbekanntes, kaum Vorstellbares und daher eigentlich nicht Beschreibbares ereignen wird, kann man nur versuchen, es mit Hilfe von Vorstellungen, Gedanken und Bildern zu verdeutlichen, die jedermann geläufig sind. So dienen die mythischen Motive der Beschreibung der künftigen Gottesherrschaft. 4. Auch in den Liedgattungen sind weitgehend fremde Stoffe verarbeitet und bewältigt worden. Dafür lassen sich vier Gesichtspunkte nennen. Einmal ist in manchen Fällen der fremde Stoff abgelehnt worden, wenn er sich nicht in den alttestamentlichen Glauben eingliedern und assimilieren ließ. Daher gibt es keine Ernte- oder Kelterlieder, die man aus dem kanaanäischen Bereich gekannt hat und die mit dem kanaanäischen Kult verbunden waren. Ebensowenig finden sich die aus dem Alten Orient bekannten Preis- und Loblieder auf den König; sie hätten der Unterordnung des Königs unter Jahwe widersprochen. Ferner sind fremde Kultlieder profanisiert worden. Dies gilt für das Leichenlied, das ursprünglich wenigstens teilweise im Totenkultus und im Leichenlied auf eine Gottheit verwurzelt war. Ähnliches trifft wenigstens teilweise für das Liebes- oder Hochzeitslied zu, soweit seine Stoffe aus Kultakten der Vegetationskulte stammten. Des weiteren sind ursprünglich profane Lieder vom alttestamentlichen Glauben erfaßt und durchdrungen worden. An dieser Stelle ist das Siegeslied zu nennen, das die Großtaten Jahwes besingen soll, also nicht den Ruhm der Krieger und den Glanz des Sieges, sondern das Handeln Jahwes, das den Sieg herbeigeführt hat. Schließlich sind fremde Stoffe, vor allem solche magischen Ursprungs, durch Anpassung an den alttestamentlichen Glauben geändert worden. Dies gilt für den Hymnus, der ursprünglich die Kraft und den Sieg der Gottheit gewährleisten und vergegenwärtigen sollte, im Alten Testament aber den Sinn hat, Verehrung und Anbetung für Gott zu bezeugen, oder für das Klagelied, das ursprünglich Beschwörung und Gegenzauber gegen die

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Wandlungskraft und Wandlungsfähigkeit

einem Menschen durch die magischen Kräfte eines anderen drohenden Gefahren bilden sollte, im Alten Testament aber zur Bitte an Gott um Hilfe wird. 5. Auch in der Prophetie wirken archaische Vorstellungen nach und werden in neuer Weise verwendet5. Im alten Israel hat man offenbar keinen ausschließenden Gegensatz zwischen der Prophetie einerseits und der Zukunftserforschung durch die Mantik oder der Zukunftsgestaltung durch die Magie andererseits erblickt. Vielmehr hat man damit gerechnet, daß ein Prophet im Namen Jahwes das gleiche erkennen oder bewirken könne wie ein Mantiker oder Magier. So werden vor allem in den volkstümlichen Prophetenerzählungen den Propheten mancherlei mantische Züge zugeschrieben, wobei es gleichgültig ist, ob dergleichen mit Recht geschehen sein mag oder nicht (vgl. I Reg 13—14; II Reg 1; 6). Ferner weisen die Prophetenlegenden öfters krasse wunderhafte Züge auf, die nicht selten von geradezu magischer Art sind; zumindest zeitweilig konnte man eine derartige Wirksamkeit von Propheten erwarten und als ein Merkmal prophetischen Tätigseins betrachten (vgl. II Reg 2—6). Häufig ist es der Prophet selbst, der um geheime Dinge weiß oder der durch sein Wort oder durch seine Handlung etwas bewirkt. Manchmal aber ist es nicht der Prophet, der Unbekanntes erahnt oder weiß, sondern Jahwe, der ihm dies kundtut (I Reg 14, 5), und ist es nicht der Prophet, der aus eigener Vollmacht handelt und aufgrund seiner Kräfte etwas Wunderbares wirkt, sondern der auf Jahwes Befehl (I Reg 13, 3) oder unter Berufung auf seinen Willen (II Reg 4, 43) handelt. Er wirkt durch das Aussprechen eines Jahwewortes (I Reg 17, 14), oder Jahwe greift selbst ein (II Reg 6, 18.20). Daraus wird ersichtlich, daß das archaische Element in einem neuen Sinn verwendet wird. Es bekundet die Vorstellung von der Wirkungskraft des prophetischen Redens und Handelns — einer Wirkungskraft, die mit dem Willen und der Macht Jahwes begründet wird. Auch die symbolischen Handlungen der Propheten weisen eine Beziehung zur Magie auf. Sie gleichen magischen Handlungen, die sich bei fast allen Völkern und Kulturen feststellen lassen und haben in diesen sogar ihren Ursprung. Dennoch sind sie mit magischen Handlungen weder identisch noch völlig gleich. Dies zeigt sich äußerlich daran, daß der Prophet sie weder auf eigenen Wunsch noch nach dem Willen anderer Menschen vornimmt, sondern sich auf einen Befehl Gottes bezieht, den er erhalten 5

Vgl. G. Fohrer, Prophetie und Magie, in: Studien zur alttestamentlichen Prophetie (1949—1965), 1967, S. 242—264.

Archaisches Gut und seine Verwendung

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hat. Er deutet die Handlung in den meisten Fällen gleichzeitig mit der Ausführung oder zu einem späteren Zeitpunkt, während eine magische Handlung nicht gedeutet wird, und formuliert die Deutung gewöhnlich als ein Gotteswort. Er erwartet schließlich das Eintreten des symbolisierten Geschehens nicht aufgrund seiner Mächtigkeit, sondern aufgrund der Zusage Gottes, daß er das Geschehen herbeiführen wird. Demnach haben die symbolischen Handlungen eine neue Eigenart erhalten, weil sie sich auf den Willen und die Macht Gottes gründen. Sie symbolisieren den Willen Gottes, das Angekündigte wirklich werden zu lassen, die Macht Gottes, seinen Willen auszuführen, und die künftige Tat Gottes. Die entscheidende Rolle spielt daher wieder der Gedanke der Wirkungsmächtigkeit. Die symbolische Handlung des Propheten will eine wirkungsmächtige Ankündigung sein, nur daß die Wirksamkeit nicht der Handlung selbst eigen ist, sondern in der Macht Jahwes begründet ist, der sie ausführen läßt. Die Wirksamkeit des prophetischen Wortes ist genauso zu verstehen. Das vom Propheten verkündigte Gotteswort wirkt wie ein Hammer, der Felsen zerschlägt (Jer 23, 29), es führt ähnlich wie der Regen das aus, wozu es ausgesandt ist (Jes 55, lOf.), es haut wie ein Schwert drein und tötet (Hos 6, 5), es schlägt in Israel ein, daß das ganze Volk es fühlt (Jes 9, 7), und wird im Prophetenmund zu Feuer, das das Volk wie Brennholz verzehrt (Jer 5, 14). Daher kann das Land die Worte eines Propheten nicht beliebig lange ertragen (Am 7, 10); denn wenn Jahwe seine Stimme erhebt, dann verdorren die Viehweiden und die Wälder des Karmel (Am 1,2). Demnach eignet dem Jahwewort, das der Prophet verkündigt, eine Wirkungskraft, die sonst dem magisch-zauberischen Wort zugeschrieben wird. So scheint das prophetische Wort wohl einen ähnlichen Ursprung zu haben wie die prophetische symbolische Handlung und in einem ähnlichen Verhältnis zum magischen Wort zu stehen wie jene zur magischen Handlung. Doch sind die Prophetensprüche natürlich keine Zauberworte in dem Sinn, als ob sie das Unheil oder Heil, das sie ankündigen, tatsächlich aufgrund der in ihnen selbst enthaltenen Kraft bewirkten. Die Propheten binden nach der damaligen Anschauung zwar die Zukunft und führen sie herbei, aber nicht durch eine ihrem Wort immanente Kraft, sondern weil sie das Wort Gottes verkündigen, der das in seinem Auftrag Gesprochene verwirklichen wird. Der Gedanke der Wirksamkeit spielt schließlich für die Reihungen der prophetischen Fremdvölkersprüche eine Rolle. Dies zeigt ein Vergleich mit dem ägyptischen Ritual zur Ächtung feindlicher Völker, Fürsten und Dinge. Dabei wurden Fluchworte über die Feinde des Pharao gesprochen,

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Wandlungskraft und Wandlungsfähigkeit

deren Namen auf Krüge geschrieben und diese Krüge in einer magiehaltigen Handlung an heiliger Stätte zerbrochen, damit diejenigen, deren Namen auf den Krügen standen, wie diese vernichtet würden. Dabei wurden die zu verfluchenden Völker oder Menschen auf den Krügen in einer festen geographischen Ordnung aufgezählt (Süden — Norden — Westen — Ägypten als Zentrum). Es ist wahrscheinlich, daß in Am 1, 3—2, 16 wie in den nachträglichen Reihungen von Fremdvölkersprüchen die prophetische Nachahmung der Redegattung solcher Ritualtexte vorliegt, zumal Jeremía in der symbolischen Handlung des Krugzerbrechens das Ritual selbst nachgeahmt hat (Jer 19). Bei Amos folgen aufeinander, wenn man von späteren Zusätzen absieht: Aram (Norden), Philister (Westen), Ammon/Moab (Osten) und Israel (Mitte). In Ez 25 lautet die Reihenfolge: Ammon (Nordosten), Moab (Osten), Edom (Südosten) und Philister (Westen). Ähnlich verhält es sich in Zeph 2: Philister (Westen), Moab und Ammon (Osten), Ägypten (Süden) und Assyrien (Norden). Auch auf die von Jesaja herzuleitenden Fremdvölkerworte kann man hinweisen: Jes 14, 24—27 gegen Assyrien (Osten), 14, 28—32 gegen die Philister (Westen), 17, 1—6 gegen Damaskus und Nordisrael (Norden), Jes 18 und 20 über Ägypten (Süden) und Jes 22 gegen Jerusalem (Mitte). Diese Anordnung der Fremdvölkersprüche soll offensichtlich darauf hinweisen, daß es sich um wirksame Ankündigungen handelt. Auch in diesem Fall bedeutet die Aufnahme archaischer Vorstellungen und ihre Abwandlung im Rahmen des alttestamentlichen Glaubens, daß das, was der Prophet sagt und tut, machtwirkend und wirkungskräftig ist. II. Tradition und Interpretation 1. Es läßt sich beim Lesen des Alten Testaments mühelos feststellen, daß Traditionen, die den Erzählern, Propheten oder Psalmisten bekannt waren, von ihnen jeweils aufgegriffen und verwendet worden sind. Wichtig ist dabei, daß solche Traditionen nur selten übernommen, in aktualisierender Art von neuem verkündigt oder wieder in Erinnerung gerufen werden. Vielmehr werden sie gewöhnlich in einer bestimmten Interpretation verwendet 6 . Die Tradition wird bei ihrer Übernahme und Verwendung gewöhnlich gleichzeitig interpretiert; und sie wandelt sich meist in der Interpre6

Zum ganzen Abschnitt vgl. im einzelnen G. Fohrer, Tradition und Interpretation im Alten Testament, in: Studien zur alttestamentlichen Theologie und Geschichte (1949—1966), 1969, S. 54—83.

Tradition und Interpretation

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tation, so daß sie einen anderen und sogar einen gegenteiligen Sinn erhalten kann. Es handelt sich darin meist um eine jeweils eigene Verarbeitung und Bewältigung der Tradition. Sie macht die alten Vorstellungen und Stoffe auf diese Weise zu Hilfsmitteln, mittels derer der Interpret seine Gedanken ausdrückt. Es handelt sich um die wichtigste und häufigste Form der Auseinandersetzung mit der Tradition. In den sich wandelnden Verhältnissen und angesichts neuer Fragen sucht man sie zum Sprechen zu bringen und durch ihre Interpretation zu neuen Einsichten zu gelangen. Besonders die Propheten suchen ihre anderweitig gewonnenen neuen Einsichten mittels ihrer eigenen Interpretation von Traditionen auszudrücken. An solcher Wandlung des Alten zu Neuem wird die Wandlungskraft des alttestamentlichen Glaubens deutlich. 2. In besonders starkem Maße sind die erzählenden Bücher des Alten Testaments dadurch gekennzeichnet, daß sie Traditionen verschiedenster Art aufgreifen und in immer neuer und anderer Weise interpretieren. Allein ein Vergleich des chronistischen Geschichtswerks mit den älteren Darstellungen vom Pentateuch bis zu den Königsbüchern zeigt, welche Umwandlung der Überlieferung noch in nachexilischer Zeit möglich war. Nicht anders verhält es sich mit den älteren Darstellungen selbst. Die Traditionen, die den erzählenden Büchern zugrunde liegen, sind mannigfacher Art. Allein für die Genesis ergibt sich eine bunte Reihe. In der Urgeschichte sind mancherlei mythische Motive in einer auf das personale Verhältnis Gott—Mensch im Verlauf des geschichtlichen Geschehens bezogenen Interpretation verwendet worden. In den Erzählungen über die Patriarchen geht die Interpretation so weit, daß es kaum mehr möglich ist, die im Mittelpunkt stehenden Gestalten in ihrer wirklichen Geschichtlichkeit zu erfassen, obwohl sie sicher geschichtliche Einzelgestalten gewesen sind. Gerade die in den Quellenschichten des Hexateuchs erfolgte Interpretation hat offenbar bezweckt, über den geschichtlichen Horizont hinauszugehen und die Erzählungen so zu gestalten, daß die Patriarchen als verschiedene Typen des Menschen vor Gott und in der Welt erscheinen. So ist Abraham der Typ des glaubenden Menschen, Isaak der des duldend hinnehmenden, Jakob der des zuerst falsch und dann richtig hoffenden und harrenden und Joseph der des hochmütigen, der zur Demut geführt wird. Daß schließlich die Quellenschichten des Hexateuchs als ganze die Tradition im Blick auf ihre zeitgenössischen Verhältnisse interpretiert haben, lassen die jüngeren Darstellungen des Deuteronomiums und der Priesterschrift am besten erkennen. Vor allem die Priesterschrift sieht sich einem völlig anderen Israel als demjenigen der Frühzeit oder der Königszeit

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Wandlungskraft und Wandlungsfähigkeit

gegenüber. Für dieses Israel entwirft sie programmatisch eine Lebensordnung unter Verwendung älterer Gesetze, Kultordnungen und Sammlungen priesterlichen Berufswissens, wobei die Gesetzesabschnitte mehrfach bearbeitet und auf den neuesten Stand gebracht worden sind. Zugleich wird die Geschichte, aus der das Gesetz hergeleitet wird, durch einen abgestuften Übergang von der Geschichte des Kosmos zur Geschichte Israels und durch die Gliederung in vier Perioden (Schöpfung — Noah — Abraham — Mose), die mit den immer volleren Offenbarungen Jahwes verknüpft sind, neu interpretiert. Ebenso ist in den folgenden erzählenden Büchern zu beobachten, wie die Tradition immer wieder interpretiert worden ist. Durch den deuteronomistischen Rahmen des Richterbuchs erscheinen die Helden und Führer einzelner Stämme nunmehr als die Retter des ganzen Volkes, so daß sich aus der künstlichen Aneinanderreihung der einzelnen Episoden der Anschein einer fortlaufenden Geschichtsdarstellung ergibt. Die Erzählung in Jdc 19—21, die ursprünglich vom Sich-Lossagen Benjamins von Ephraim und von seiner Verselbständigung gehandelt hat, ist ebenfalls gesamtisraelitisch interpretiert worden. Auffällig ist die verschiedenartige Wertung Davids, d. h. die Interpretation seiner geschichtlichen Gestalt. Die Erzählungen von seinem Aufstieg I Sam 16 — II Sam 5*; 8* schildern den trotz aller Anfeindungen edlen und untadligen Helden. Dagegen spielt David in der Thronfolge-Geschichte in II Sam 9—20; I Reg 1—2 eher eine ungünstige, wenig beachtenswerte und nicht gerade rühmliche Rolle. In den deuteronomistischen Bemerkungen der Königsbücher erscheint er wiederum als das Idealbild des gottesfürchtigen und gehorsamen Herrschers (I Reg 11, 33.38), der als Maßstab zur Beurteilung der anderen Könige dienen kann (I Reg 9, 4; II Reg 18, 3; 22, 2). Hier wird der interpretierende Charakter der Darstellung ganz deutlich. 3. In den zur Weisheitsliteratur im weiteren Sinn gehörigen Büchern läßt sich die Doppelheit von Tradition und Interpretation in einer für diese Literatur charakteristischen Eigenart erkennen. Der Weisheitslehre liegt ein gemeinorientalisches Ideal der Bildung und Formung des ganzen Menschen zugrunde. In Ägypten ist das angestrebte Ideal der „Schweigende" oder der „rechte Schweiger"; sein Gegenbild wird der „Heiße" genannt, der seinen Begierden unterlegene und unbeherrschte Mensch. Ähnlich findet sich in Israel als Ideal der Weisheitslehre der „Kaltblütige" (Prov 17,27) im Gegensatz zum „Hitzkopf" (Prov 15,18), der „Langmütige" im Gegensatz zum „Jähzornigen" (Prov 14, 29), der Mensch mit „gelassenem Sinn", der der verzehrenden Leidenschaft nicht nachgibt, sondern

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seine Affekte und Triebe beherrscht (Prov 14, 30). Daher ist es nicht verwunderlich, daß die israelitische Weisheitslehre von den Traditionen der altorientalischen Weisheit stark beeinflußt, wenn nicht gar abhängig war. Bald aber hat die israelitisch-jahwistische Interpretation der Weisheitslehre eingesetzt und diese schließlich völlig durchdrungen. Die Weisheitslehre wurde nationalisiert und in das Israelitentum eingefügt. Das bedeutete, daß sich die Bindung an den Beamtenstand lockerte und löste und die Weisheit sich an den Menschen überhaupt wendete. Ferner wurde die ursprünglich nicht an eine bestimmte Religion gebundene, sondern interreligiöse Weisheitslehre dem alttestamentlichen Glauben angepaßt und zugeordnet. Daraus erklärt sich die große Rolle, die gegenüber der bloßen Weltklugheit die ethische Weisung und das ethische oder fromme Verhalten entsprechend den Forderungen des alttestamentlichen Glaubens einnehmen. Häufig ist der Jahwename statt der allgemeinen Bezeichnung „Gott, Gottheit" eingeführt oder die „Jahwefurcht" als Anfang oder Ausgangspunkt der Weisheit bezeichnet worden (Prov 1, 7; 9, 10; Ps 111, 10). Schließlich ist in einem nochmaligen Interpretationsvorgang der Weisheitsbegriff theologisch durchdacht und ein systematisch-theologisches Lehrganzes hergestellt worden (vgl. Prov 1—9; Hi 28; 32—37). Die Neuinterpretation der alten Weisheit, die im Verlauf von Jahrhunderten erfolgt ist, stellt eine bedeutende theologische Leistung dar. Sie erfaßte durch die Einbeziehung von Schöpfung und Offenbarung in das Weisheitsdenken diejenigen Gebiete, die von der frühen Weisheit, die sich auf das Klug- und Kundigsein im Leben beschränkt hatte, nicht beachtet worden waren. Doch das endlich entwickelte theologische System wies seine eigenen Einseitigkeiten und Unzulänglichkeiten auf und mußte deswegen fast notwendig die Kritik wachrufen. Sie äußert sich in den Büchern Hiob und Kohelet, die demgegenüber jeweils neue, vom theologischen System abweichende Interpretationen der alten Weisheitstradition vertreten. So versucht Kohelet, andere Traditionen aufzugreifen und in Auseinandersetzung mit der Weisheitslehre seiner Zeit neu zu formulieren. Hiob lehnt die geltende Weisheit zunächst radikal ab, bis sich seine ihr entgegengesetzte Auffassung in seiner Begegnung mit Gott wandelt und zu einer Stellung führt, die über den Gegensätzen liegt und in ein neues Dasein führt. 4. Auch in den Prophetenbüchern werden Traditionen in jeweils neuer Interpretation verwendet. Dabei sind die Traditionen meist so gut erkennbar und bekannt, daß man nicht erst aus der Neuinterpretation die alte Tradition erschließen muß, sondern umgekehrt von den Traditionen ausgehen und ihre prophetische Neuinterpretation beobachten kann. Wesentlich ist, daß

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Wandlungskraft und Wandlungsfähigkeit

die Propheten Traditionen nicht nur aufgenommen, sondern gleichzeitig auch neu interpretiert haben, ja daß sie sogar neue Einsichten, die sie unabhängig von der Tradition oder im Gegensatz zu ihr gewonnen haben, mittels uminterpretierter traditioneller Vorstellungen ausgedrückt haben. Die Propheten haben also die übernommenen Traditionen nicht nur rezitiert, aktualisiert oder radikalisiert, sondern sie haben sie um- und neuinterpretiert, um ihre eigenen Gedanken auf diese Weise auszudrücken. Die Neuinterpretation des herkömmlichen Glaubens wird am Berufungsbericht Jesajas deutlich. Als er seinen Auftrag erhalten hat, fragt er: „Wie lange, Herr?" (Jes 6,11). Er bemüht sich darum, das neue Erleben in sein bisheriges Glauben und Denken einzuordnen. Dieses aber ist für den Israeliten durch die feste Erwartung bestimmt, daß Jahwe letztlich das Heil und nicht den Untergang Israels will. Und Jesaja geht bei seiner Berufung wie selbstverständlich von dem Glauben an die vorgegebene grundsätzliche Heilssituation aus, in der Israel lebt. Daher ist es für ihn unvorstellbar, daß Verhärtung und Gericht den ganzen und ständigen Inhalt seines Auftrags bilden sollen. Die Antwort auf seine Frage aber enthält ein entschiedenes Nein zu seiner Erwartung und verhängt die völlige Vernichtung Israels. Sie stürzt die herkömmlichen Glaubenserwartungen Jesajas um, so daß er sie aufgeben und Neuland betreten muß. Solche Wandlung zeigt sich im einzelnen an der Neuinterpretation vieler Ausdrücke und Begriffe in der prophetischen Verkündigung. Amos wandelt den Erwählungsglauben ironisch ab. Er kann sich nicht auf die Rettung aus Ägypten gründen, weil Jahwe nicht nur Israel, sondern auch seine „Erbfeinde", die Aramäer und Philister, zu ihren jetzigen Wohnsitzen geführt hat (Am 9, 7). Daß Jahwe mit Israel vertraut ist, begründet an Stelle eines Anspruchs Israels höchstens, daß Jahwe seine Sünden an ihm heimsucht (Am 3,1 f.). Genauso wird der Glaubenssatz, daß die Israeliten Jahwes Söhne seien, neu interpretiert. Während sie sich selbst als nach freier Wahl angenommene Kinder Gottes betrachteten, wandelt Hosea dies dahin ab, daß das Kind Israel sich als undankbar erwiesen und sich gegen seinen Vater vergangen hat (Hos 9, 10; 11, Iff.). Jesaja verschärft dies noch: Söhne Jahwes — gewiß, aber schlimmer als das Vieh des Vaters, weil sie sich gegen ihn aufgelehnt haben (Jes 1, 2 f.). Ebenso kehrt Hosea die Bezeichnung Israels als „mein (Jahwes) Volk" in der Benennung seines Sohnes „Nicht-mein-Volk" um (Hos 1, 8). Jesaja vermeidet vom syrischephraimitischen Krieg an diese Bezeichnung überhaupt und spricht nur noch verächtlich von „diesem Volk da". Während Hos 10,1 und Jes 3,14 unbefangen das Bild des Weinstocks und Weingartens als Symbol des

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bäuerlichen Palästina auf Israel anwenden, deutet Jeremia es kritisch um: Die Edelrebe hat sich in eine entartete, wilde Rebe verwandelt (Jer 2,21). Ez 15 sieht von der Frucht des Weinstocks ab, beurteilt nur sein Holz und gelangt zu dem vernichtenden Ergebnis, daß es lediglich als Brennholz taugt. Nicht anders verfahren die Propheten mit dem Bild der Ehe für das Verhältnis zwischen Jahwe und Israel. Hos 1—3; Jes 1,21; Jer 2,2; 3,1.6—25 interpretieren es so, daß sie an ihm den Gegensatz zwischen der unschuldigen Frühzeit und der verderbten Gegenwart des Volkes illustrieren. Einst bestand das richtige Verhältnis zwischen Jahwe und Israel wie zwischen Mann und Frau; jetzt ist die Frau abtrünnig geworden und treibt Unzucht. Ezechiel ändert die Deutung nochmals im Blick auf Jerusalem, indem er als weitere Tradition ein Märchen vom ausgesetzten und geretteten Kind hinzunimmt (Ez 16). Er rechnet Jerusalem zur Welt des Heidentums, so daß die Sünde sein Dasein von Anfang an bestimmt hat. Überhaupt ist die prophetische Interpretation der israelitischen Geschichtstraditionen bezeichnend. Hosea versteht den gefeierten Ahnherrn Jakob als das hinterlistige und tückische Urbild des Israel seiner Zeit (Hos 12, 3—7) und sieht die Sünde mit der Landnahme in Palästina in vollem Maße beginnen, als der Jahweglaube in eine Baalreligion verfälscht wurde (Hos 9,10; 10,1 f.; 11,1—7; 13, 5—8). Jesaja gibt in 9,7—20; 5,25 bis 29 eine Interpretation verschiedener Stadien der Geschichte des Nordreichs Israel. Er will daran zeigen, daß diese Jahrzehnte oder Jahrhunderte im Gegensatz zur frommen Tradition keine Heilsgeschichte, sondern Entscheidungsgeschichte für das Volk waren. Da es sich aber immer wieder falsch, nämlich gegen Jahwe, entschieden hat, ist die Geschichte zu einer Geschichte voller Unheil geworden — Unheil, das die widerspenstigen Sünder zunächst zur Umkehr bewegen soll, dann aber — da sie sich dazu nicht haben bewegen lassen — der Vernichtung entgegenführt. Auch Ezechiel interpretiert die Geschichte neu (Ez 20, 4—31 a), indem er bestimmte Motive auswählt, beiseite läßt oder zusätzlich zur alttestamentlichen Geschichtsbetrachtung einführt. Er will zeigen, daß Israel von Anfang an sündig gewesen ist und schon in Ägypten Götzendienst getrieben hat und bis in die Gegenwart trotz der immer härteren Drohungen und Maßnahmen Jahwes ungehorsam und aufrührerisch geblieben ist. Diese Interpretationen der Tradition dienen den Propheten dazu, die neue Einsicht ihres Glaubens auszudrücken. Da sie Israel nicht mehr in einer vorgegebenen Heilssituation, sondern in einer Unheilssituation erblicken, gibt es für sie keine Rückkehr zur Tradition, sondern nur noch in weiterführender Interpretation der Traditionen des alten Glaubens den

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Weg in ein neues Verhältnis zu Gott. Die einzige Möglichkeit der Rettung besteht darin, daß Israel durch die Tradition hindurch und über die Tradition hinweg, die seine Sünde nicht verhindert hat, den Weg in ein neues Dasein unter der Herrschaft Gottes und in der Gemeinschaft mit Gott geht. III. Glaube und

Gesellschaft

1. Das Einwirken des alttestamentlichen Glaubens auf die gesellschaftliche Struktur Israels ist schon oft hervorgehoben worden. Es zeigt sich am Zurücktreten der Blutrache oder an der Aufhebung der nomadischen Gastfreundschaft und Schutzpflicht zugunsten des Jahweglaubens durch Jael, die den kanaanäischen Heerführer, der in ihrem Zelt Zuflucht gesucht hat, als einen Feind Jahwes erschlägt (Jdc 4,18 ff.). Das gleiche gilt für die Begrenzung, ja geradezu die Ablehnung des Königtums und der damit bestimmten Staatsform und ihres Repräsentanten. Gewiß ist das Königtum auch im Namen der nomadischen Freiheit abgelehnt worden, wie es in der Jotamfabel geschieht (Jdc 9, 8—15); nach ihr erklärt sich nur der unnütze Dornstrauch dazu bereit, König zu werden, während alle Fruchtbäume sich dazu nicht hergeben. Doch das Königtum ist ebenso im Namen des alttestamentlichen Glaubens begrenzt und abgelehnt worden. Schon unter den Erzählungen über die Entstehung des Königtums gibt es einige, die dem Königtum kritisch gegenüberstehen (vgl. I Sam 8; 10, 17—27; 12). Später begegnet diese kritische Einstellung in der Prophetie. Vielleicht das bezeichnendste Beispiel für die Einwirkung des Glaubens auf die Gesellschaft bietet die Einführung des deuteronomischen Gesetzbuches, das Staat, Regierung und öffentliches Leben in Juda entscheidend beeinflußt und geformt hat. Man hat es geradezu als eine Art Grundgesetz oder Staatsverfassung Judas bezeichnet, die allen, vom König bis zum letzten Glied des Volkes, jeweils ihre Aufgaben und Rechte zuweist, aber auch ihre Grenzen festlegt. Wohl kein anderes Gesetz hat die Struktur der israelitischen Gesellschaft in solchem Maße bestimmt. 2. Umgekehrt läßt sich eine Einwirkung der gesellschaftlichen Struktur auf den Glauben beobachten. Dabei geht es weniger um die Wandlungskraft des alttestamentlichen Glaubens als vielmehr um seine Wandlungsfähigkeit unter dem Einfluß anderer Kräfte. Zunächst ist dafür auf die Folgen der palästinischen Situation zu verweisen. Nachdem der Glaube der nomadischen Moseschar in Palästina von den israelitischen Stämmen angenommen war, wurde er von der ganz anderen gesellschaftlichen Struktur

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berührt, in der sich die Israeliten in Palästina befanden. Ihre Lebensweise hatte sich im Übergang zum Ackerbau und später auch zum Stadtleben der Lebensweise der kanaanäischen Bevölkerung angenähert. So ergaben sich notwendig engere Beziehungen zu dieser Welt, auch wenn sie ihrem Wesen nach als fremd empfunden wurde. Die Israeliten konnten die Errungenschaften des Kulturlandes nicht ohne die Gedanken und Erfahrungen erlangen, aus denen sie gespeist wurden. Mit der neuen Lebensweise und der gesellschaftlichen Organisation im Bauern- oder Stadtleben waren die Vorstellungs- und Verhaltensweisen aufs engste verquickt, die die Israeliten bei den Landesbewohnern vorgefunden hatten. Sie mußten sich entweder dieser Lebensweise annähern und sie vielleicht sogar übernehmen oder sich kritisch mit ihr auseinandersetzen. Ein erstes Beispiel für die aus der palästinischen Situation sich ergebenden Folgen hängt mit der Ackerbaukultur zusammen. Nicht nur bei den Kanaanäern, sondern auch bei den Israeliten scheint die Anschauung geherrscht zu haben, daß über den Regen und damit über Fruchtbarkeit und Gedeihen der Vegetationsgott Baal verfüge, während Jahwe in den Geschicken der Völker und Menschen am Werke sei, seinem Volk Israel Hilfe und Schutz gegenüber anderen Völkern gewähre und in Kampf und Schlacht über ihm walte. Dies mußte den israelitischen Bauern dazu führen, den kanaanäischen Gott Baal als bedeutsame Macht anzuerkennen und zu verehren. So haben es gewiß eine größere Zahl von Israeliten gehalten — zumindest diejenigen im Karmelgebiet, wie die Eliaüberlieferung erkennen läßt. Darüber hinaus besagen die Stierbilder, die an den nordisraelitischen Staatsheiligtümern als Symbole Jahwes dienten und aus dem Baalkultus übernommen worden waren, doch genug über die unter dem Einfluß der gesellschaftlichen Struktur des Bauerntums beginnende Umwandlung Jahwes in eine Erscheinungsform Baals. Demgegenüber hat Elia versucht, die dem Jahweglauben gemäßen Folgerungen aus der neuen Situation zu ziehen, oder sie zumindest für berechtigt erklärt, falls er sie schon vorgefunden haben sollte7. Angesichts einer übermäßig langen Dürre, die die kanaanäische Religion mit ihrem jahreszeitlichen Zyklus nicht erklären konnte, verkündete er, daß Jahwe die Unterbrechung des Zyklus bewirkt habe und daß er und nicht Baal den Regen zurückgehalten habe und allein wiederbringen könne. Damit erschien nun Jahwe erstmalig als Spender des Regens. In der veränderten Situation des israelitischen Bauerntums hat Elia auf diese Weise das Gottesbild des 7

Vgl. G. Fohrer, Elia, 19682.

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Jahweglaubens ausgeweitet und der gesellschaftlichen Struktur angepaßt: Israel verdankt die Kulturgüter des Landes allein seinem Gott Jahwe, der nicht nur Hilfe und Schutz vor den Feinden gewähren, sondern zudem ständig seinen Segen walten lassen kann. Damit wurde die Verehrung Jahwes zu einem lebenswichtigen Anliegen des israelitischen Bauern erhoben; sie entsprach der gesellschaftlichen Struktur seines Lebens. Ein zweites Beispiel ergibt sich aus der Struktur der gebildeten Schicht Israels, die im Zusammenhang mit dem Königtum und der Organisation des Staates entstanden ist. Damals ist mit der Weisheitslehre ein wichtiges Bildungs- und Erziehungsmittel in Israel eingeführt worden, zunächst auf den Königshof und die der Ausbildung der führenden Schicht dienenden Schulen beschränkt, später in steter Ausdehnung auf weitere Kreise des Volkes begriffen8. Es wurde bereits erwähnt, daß ihr ein Ideal der Bildung und Formung des ganzen Menschen zugrunde lag, das die führende Schicht der israelitischen Gesellschaft prägte und von dieser aus wieder imstande war, das gesamte Leben mitsamt dem Glauben zu beeinflussen. Besonders deutlich wird dies an der Rolle des Vergeltungsglaubens. Die weisheitliche Lebensauffassung wies zweifellos einen gewissen eudämonistischen oder utilitaristischen Zug auf, der auf den alttestamentlichen Glauben eingewirkt hat: Jedes Verhalten, wie es auch geartet sein mag, entspricht nicht nur einer bestimmten Grundhaltung, aus der es hervorgeht, sondern führt auch zu einem bestimmten Ergebnis oder erstrebt einen bestimmten Zweck oder Erfolg. Ja, Verhalten und Ergehen eines Menschen entsprechen einander. Eine gute Tat muß immer einen guten Erfolg nach sich ziehen, eine Missetat dagegen Unheil. Diese Ansicht bildet die Grundlage des Vergeltungsglaubens. Er ist auf dem Weg über die Weisheitslehre in den alttestamentlichen Glauben eingedrungen und hat vor allem in der Spätzeit zu heftigen Auseinandersetzungen geführt, wie das Buch Hiob zeigt. Ein drittes Beispiel sind die Maßnahmen und Reaktionen, die sich aus dem Entstehen eines durchgebildeten israelitischen Staates ergeben haben. Seit David und Salomo lebten Israeliten und Kanaanäer in einem Staat unter einer gemeinsamen Regierung neben- und miteinander und besaßen grundsätzlich gleiche Rechte und Pflichten. Aus politischen Gründen war es unerläßlich, daß sie einander nicht nur rechtlich gleichgestellt waren, sondern daß man darüber hinaus versuchen mußte, eine allen gemeinsame ideologische Grundlage zu schaffen. Letzteres konnte praktisch nur mit8

Vgl. G. Fohrer, Die Weisheit im Alten Testament, in: Studien zur alttestamentlichen Theologie und Geschichte (1949—1966), 1969, S. 242—274.

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tels einer allen gemeinsamen Staatsreligion geschehen. Ihre Bildung wurde durch Salomo mit dem nach kanaanäischem Vorbild in Jerusalem gebauten Jahwetempel eingeleitet. Damit begann — bedingt durch die gesellschaftliche Struktur der Bevölkerung des Staates — ein staatlich geförderter Synkretismus, der auf eine Verschmelzung von alttestamentlichem Glauben und kanaanäischer Religion hinauslief 9 . Dieser Vorgang hat jahrhundertelang gedauert. Er ist gelegentlich durch kultische Reformen unterbrochen und zurückgedrängt worden, aber erst durch die Maßnahmen des Königs Josia in der deuteronomischen Reform zum Stillstand gebracht und zum Teil rückgängig gemacht worden. In Nordisrael blieb der Prozeß im wesentlichen auf die beiden Staatsheiligtümer in Betel und Dan beschränkt. Sonst wurde das kanaanäische Element zurückgedrängt. Nur die Dynastie Omri suchte Israeliten und Kanaanäer gleichmäßig zu behandeln, führte dadurch jedoch ihren eigenen Untergang durch den Putsch Jehus herbei, nachdem sich die religiöse Opposition in Elia, Elisa und anderen zu Wort gemeldet hatte. Weiten Kreisen des israelitischen Volkes mußte die politisch bedingte tolerante Haltung gegenüber den Kanaanäern bedenklich erscheinen, weil sich aus der Rücksicht auf die gesellschaftliche Struktur des Staates gefährliche religiöse Folgen — die synkretistischen Bestrebungen — ergaben10. Aus deren Ablehnung resultierte eine völlig andere Grundhaltung, die ihrerseits die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu beeinflussen suchte. Sie findet sich in den Quellenschichten des Jahwisten (Ex 34,11—12) und des Elohisten (Ex 23, 28.32—33): „Siehe, ich will vor dir die Amoriter, die Kanaanäer, die Hetiter, die Peresiter, die Hiwwiter und die Jebusiter vertreiben. Hüte dich wohl davor, der Bevölkerung des Landes, in das du kommst, Zusicherungen zu geben. Sie könnte sonst, wenn sie unter dir wohnen bleibt, zu einem Fallstrick werden." Ähnlich äußert sich die andere Quellenschicht. Diese Aussagen bilden formal und inhaltlich jeweils einen geschlossenen Zusammenhang mit drei Gliedern: a) Forderung der Vertreibung der Kanaanäer, um die Zusage des Landbesitzes an Israel zu verwirklichen; b) Warnung an Israel, durch vertragliche Zusicherungen Ausnahmen von solcher Vertreibung zu machen; c) mit der Begründung, 9

10

9

Vgl. J. A. Soggin, Der offiziell geförderte Synkretismus in Israel während des 10. Jahrhunderts, ZAW 78 (1966), S. 179—204. Vgl. G. Fohrer, Israels Haltung gegenüber den Kanaanäern und anderen Völkern, JSS 13 (1968), S. 64—75; G. Schmitt, Du sollst keinen Frieden schließen mit den Bewohnern des Landes, 1970. Theologische Grundstrukturen

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daß dies religiöse Gefahren, nämlich die Verführung zum Abfall von Jahwe, nach sich ziehen müsse. Formal ist die Forderung der Vertreibung grundlegend. Der wirkliche Ausgangspunkt der den Kanaanäern feindlichen Haltung aber ist jener Synkretismus, der durch die tolerante politische Haltung gefordert schien oder begünstigt wurde. Sachlich ist daher das dritte Motiv maßgeblich: die religiöse Gefährdung infolge der Umbildung der gesellschaftlichen Struktur der Staatsbevölkerung durch die Einbeziehung der Kanaanäer. Diese Gefährdung wäre vermieden worden, wenn Israel mit den Kanaanäern nicht Verträge geschlossen hätte, die sie zum Bleiben berechtigten (vgl. Jos 9), sondern sie bis zum letzten Mann vertrieben hätte. Darin spricht sich eine echte religiöse Opposition gegen die politische und gesellschaftliche Struktur des israelitischen Staates gerade wegen ihrer religiösen Folgen aus. Noch schroffer ist sie im deuteronomischen Gesetz formuliert, das weniger vom Vertreiben als vielmehr vom Erschlagen, Ausrotten und Vertilgen der Kanaanäer redet. Daran läßt sich erkennen, in welchem Ausmaß die gesellschaftliche Struktur auf den alttestamentlichen Glauben eingewirkt hat — sowohl durch den staatlich geförderten Synkretismus als auch durch die von ihm geweckte Opposition mit ihrer schroffen Haltung gegenüber den Kanaanäern. Außer den Folgen der palästinischen Situation stellten sich später Folgen der wirtschaftlichen Entwicklung ein. Schon die wirtschaftlichen Unternehmungen Salomos leiteten in Israel eine soziale Umschichtung ein. Obschon der Handel königliches Monopol war, gelangte doch ein für das arme Palästina verhältnismäßig großer Reichtum ins Land. Allmählich bildete sich eine kleine Schicht von reichen Städtern, vor allem in Jerusalem; entgegengesetzt zu ihr entstand eine Schicht von Besitzlosen, die in der Folgezeit anwuchs. Diese Situation verschärfte sich durch den Übergang von der Naturalund Tauschwirtschaft zur Geldwirtschaft, der sich im weiteren Verlauf der Königszeit vollzog. Zugleich stellte das in Israel weithin verwirklichte Königtum altorientalischer Prägung das eigene und staatliche Wohl über dasjenige der „Untertanen" und legte diesen Steuerlasten und Frondienste auf. Begünstigt wurde dagegen jene Minderheit, die zur Geldwirtschaft überging und sich am Handel beteiligte, so daß sie zu Reichtum und Macht gelangte. Sie konnte daher ihren Besitz auf Kosten der breiten Volksschichten in zunehmendem Maße ausdehnen. Die Prophetensprüche, die sich darauf beziehen, lassen vermuten, daß dieser Prozeß der sozialen und wirtschaftlichen Umschichtung im 8. Jh. noch im Gange war.

Glaube und Gesellschaft

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Insbesondere der Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft, den das Königtum eingeleitet und gefördert hat, führte zu einer tiefreichenden gesellschaftlichen Umschichtung. Zwar wurde zugunsten der Mehrheit der Bevölkerung, die weiterhin Bauern oder Viehzüchter blieb oder bleiben wollte, die Bestimmung getroffen, daß bei Darlehen kein Zins verlangt werden dürfe (Ex 22, 24, später Lev 25, 36f.; Dtn 23, 20), tatsächlich aber setzte sich die allgemeine altorientalische Entwicklung durch. Am Ende standen^ich einerseits der König mit seinem Hof und die Masse der Untertanen gegenüber, andererseits die reichen und machtbewußten Patrizier, Großgrundbesitzer, Großkaufleute oder Handwerker und die durch die Leistungen an den Staat mitgenommenen, durch die Besitzer von Geld und Sachgütern übervorteilten breiten Volksschichten einschließlich der verarmten oder zu Hörigen herabgedrückten Bauern und Viehzüchter. Auf den alttestamentlichen Glauben wirkte diese Änderung der gesellschaftlichen Struktur unmittelbar nur insofern ein, als die hörig gewordenen Bauern und Viehzüchter von ihren Herren in eine andere Sakral- und Kultgemeinschaft überführt werden konnten als diejenige, in der sie groß geworden waren. Das heißt, daß sie gegen ihren Willen zur Teilnahme an fremden Kulten in einer anderen Kultgemeinschaft genötigt werden konnten. Eine stärkere Einwirkung auf den alttestamentlichen Glauben ist vornehmlich an der Reaktion auf die veränderte gesellschaftliche Struktur und ihre Folgen erkennbar. Sie zeigte sich einmal in den Forderungen, die an den König erhoben wurden 11 . Er sollte Sozialherrscher sein und die göttliche Gerechtigkeit verkörpern. So sagt es Ps 45, 7f. von einem wahrscheinlich nordisraelitischen König. Dem judäischen König wird in Ps 101 bei der Thronbesteigung eine Proklamation in den Mund gelegt, in der er sich in v.2a.5.7 zu solchen Forderungen bekennt. Selbst wenn der Dichter wie in Ps 72 vom Weltherrscher redet, unterbricht er sich doch zweimal, um die königliche Hilfe für die Armen und Elenden zu erwähnen (v.4.12). Daher lautet die elementare Forderung an den König stets, daß er gerecht herrscht und Recht schafft. Neben der Warnung vor Ungerechtigkeit findet sich diejenige vor Anhäufung großen Reichtums aus den Abgaben der ausgeplünderten Untertanen (Prov 29,4). Daß derartige Forderungen an den König erhoben werden, daß Warnungen ausgesprochen werden, daß man dem König 11

9*

Vgl. A. Alt, Der Anteil des Königtums an der sozialen Entwicklung in den Reichen Israel und Juda, in: Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel, III 1959, S. 348—372.

132

Wandlungskraft und Wandlungsfähigkeit

Grenzen zu setzen sucht, innerhalb deren er sich zu bewegen hat, wird nur verständlich als Antwort des alttestamentlichen Glaubens auf die gesellschaftliche Umschichtung infolge der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Reaktion zeigt sich ferner und noch eindeutiger in den Worten der Propheten 12 . Sie wandten sich gegen diejenigen, die der Besitzgier und dem Machthunger die Zügel schießen ließen. Amos verurteilte den Kornwucher der Kaufleute (Am 8,4—7). Jesaja und Micha wandten sich gegen das „Bauernlegen" durch die Mächtigen im Lande (Jes 5, 8; Mi 2, 1 f.).,Es sind die führenden Schichten, die das eigene Volk schlimmer als ein fremdes Heer ausplündern (Jes 3,12—15). In noch krasseren Worten spricht Mi 3, 3 von den Führern Israels. Insbesondere ging es den Propheten darum, daß nicht nur einige wenige den Grund und Boden allein besaßen. Denn sie verfügten damit nicht nur über das Grundelement des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, sondern auch über die Wohnmöglichkeiten des Menschen — ganz abgesehen von den politischen und religiösen Folgen. Freilich kannte die Prophetie kein absolutes menschliches Eigentum und ging nicht von einer Ideologie über privaten oder öffentlichen Besitz aus, weil für sie der Boden Palästinas nur menschlicher Pachtbesitz aus der Hand Jahwes darstellte. Von da aus galt die Anhäufung solchen Besitzes in einer Hand als Versündigung gegen Gott, wie auch die Jagd nach Geld oder die Gier nach Lebensgütern als gottwidrig verurteilt wurden. Kritik und Forderung der Propheten folgten aus ihrem Glauben und waren religiös-ethisch bedingt: Soziales Handeln ist zugleich religiöses Tun und Heiligung Gottes; der Glaubende ist zugleich ein sozial denkender und handelnder Mensch (vgl. Ez 18, 5—9). Die prophetische Bewältigung der Wandlung der gesellschaftlichen Struktur ihrer Zeit berücksichtigte nicht nur das Heil, sondern auch das Wohl des Menschen. Die Entscheidung für Gott erweist sich daher am rechten Verhalten zum Mitmenschen in Gerechtigkeit und Liebe.

12

Vgl. auch H. Donner, Die soziale Botschaft der Propheten im Lichte der Gesellschaftsordnung in Israel, OrAn 2 (1963), S. 229—245.

6. Kapitel ENTFALTUNGEN I. Die personale Struktur Der alttestamentliche Glaube weist Grundelemente und durchlaufende Achsen auf, die nicht auf eine Strömung beschränkt sind, sondern das ganze Alte Testament durchziehen, weil sie mit den zentralen Vorstellungen der Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft zusammenhängen. Sie stehen auch untereinander in Beziehung, so daß sie als ein großes Ganzes betrachtet werden müssen. In ihnen entfalten sich die Vorstellungen der Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft in einer jeweils besonderen Weise. 1. Die personale Struktur des Denkens ist an philologischen und literarischen Eigenarten zu erkennen. Vier Beispiele sollen dies zeigen. Sie sind nicht typisch israelitisch, sondern finden sich ebenso in anderen Sprachen und Kulturen. Daher begründen sie nicht eine Eigenart des alttestamentlichen Glaubens; dessen personales Denken ist vielmehr dem Menschen überhaupt angemessen. Erstens ist vor kurzer Zeit auf eine Eigentümlichkeit der semasiologischen Entwicklung hingewiesen worden: Das Sachwort wird Personenwort, d. h. ein Wort, das ursprünglich eine Sache bezeichnet, wird für eine Person gebraucht 1 . Das gibt es in vielen Sprachen. Die Entwicklung kann in einem zweifachen Vorgang verlaufen, indem ein abstraktes Substantiv oder Sachwort zuerst zu einem persönlichen Adjektiv wird und dieses dann weiter zu einem Substantiv, ζ. B. akkadisch qurbum „Nähe, Verwandtschaft" zu „nahe, verwandt" und zu „Verwandter, Nächster". Auch das Hebräische kennt die Personifizierung von abstrakten Substantiven: mäl'ak* mâssab täsab tälmid

„Sendung, Gang" wird zu „Bote, Gesandter, Engel", „Standort, Aufstellungsort" wird zu „Posten, Wache", „Sitzen, Wohnen(lassen)" wird zu „Beisasse", „Lehre" wird zu „Schüler" (als Gegenstand des Lehrens).

Ähnlich geht mäläk „König" auf semitisches malk zurück, das entweder aus einem Adjektiv „ratsam, rätlich" zu einem Substantiv „Ratschlag" 1

W. Eilers, Zur Funktion von Nominalformen, WdO 3, 1—2 (1964), S. 80—145.

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Entfaltungen

und dann zu „Ratgeber, Führer, König" personifiziert wurde oder sofort als Adjektiv substantiviert und auf die Person bezogen wurde. In diesen Zusammenhang gehört schließlich die Gleichsetzung eines Titels mit seinem Träger oder einer Tätigkeit mit demjenigen, der sie ausübt. Das bekannteste Beispiel ist qohälät, ein feminines Partizip von qahäl, das zunächst die Tätigkeit des Leitens und des Redens in der Gemeindeversammlung bezeichnete und sodann die Person des Leiters und, Redners der Versammlung. Ebenso verhält es sich mit den Ausdrücken sopärät und pokärät hä-sebajim in Esr 2, 55.57. Sie haben zuerst die Tätigkeit bezeichnet: Schreibertätigkeit und Gazellenfänger-Tätigkeit, danach diejenigen, die die Tätigkeiten ausübten, und sind schließlich zu Personennamen geworden. Es gibt zweitens nicht wenige Substantive und Verben, die personale Beziehungen ausdrücken, wie es in anderen Sprachen der Fall ist. Es ist bezeichnend, daß sie im Hebräischen aus dem profanen Bereich in den theologischen übertragen wurden und dann für theologische Aussagen gebraucht werden. Das ist möglich, weil der Glaube eine personale Struktur aufweist. Zu den personalen Begriffen, die nur auf Personen, auf Gott oder Mensch, bezogen werden, gehört sädäq2. Auch wenn ein Wort, ein Maß oder Gewicht damit bezeichnet werden, handelt es sich um Bezüge des personalen Zusammenlebens. Dieses soll dem sädäq, der rechten Ordnung, entsprechen und in tfdaqa, in einem rechten Verhalten, das auf Ordnung zielt, geschehen. Der Stamm hanän drückt in seiner profanen und theologischen Verwendung das gemeinschaftsgemäße Verhalten des Herrn gegenüber seinem gemeinschaftstreuen Knecht aus 3 . Ein solches Verhalten kann man von Gott erbitten oder erwarten. Die ältere Weisheitsliteratur gebraucht den Ausdruck für ein menschliches Verhalten gegenüber den armen oder minderberechtigten Angehörigen des Volkes in den starken sozialen Spannungen während der Königszeit. Auch häsäd bezeichnet das Verhältnis zu anderen, mit denen man im Verhältnis der Verwandtschaft, Freundschaft, Gastlichkeit oder des Dienstes steht, daher die Gemeinschaftspflicht, Verbundenheit oder Solidarität 4 . Sie entsteht, sobald zwischen 2

3

4

A. Jepsen, p*TX und ilp*TX im Alten Testament, in: Festschrift H.-W. Hertzberg, 1965, S. 78—89. K. W. Neubauer, Der Stamm ch η η im Sprachgebrauch des Alten Testaments, Diss.-Druck 1964. N. Glueck, Das Wort hesed im alttestamentlichen Sprachgebrauch als menschliche und göttliche gemeinschaftsgemäße Verhaltensweise, 19612.

Die personale Struktur

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zwei Personen eine engere Beziehung zustande kommt. Obwohl darin Rechte und Pflichten eingeschlossen sein können, handelt es sich nicht um ein Recht-Pflicht-Verhältnis, sondern um ein Verhältnis der persönlichen Gemeinschaft. Ein Begriff aus dem Familienrecht ist das Verb ga'äl: auf einen Menschen oder eine Sache, die einem Verwandten gehörten, Anspruch erheben, aus fremder Verfügung in die eigene zurückfordern 5 . Es ist ein personaler Begriff. Der go'el hatte die Pflicht, die Angehörigen seiner Familie oder Sippe aus der Sklaverei loszukaufen oder ihr Eigentum, das in andere Hände geraten war, zurückzukaufen. Die männlichen Verwandten eines Verstorbenen sollten seine Witwe von ihrer Kinderlosigkeit erlösen, wenn sie kinderlos zurückgeblieben war, oder bei einem gewaltsamen Tode als Bluträcher die Schuld durch den Tod des Mörders oder Totschlägers einlösen. Für Deuterojesaja wird das Verb ein grundlegender theologischer Begriff. Theologisch wichtig geworden ist ebenfalls — um ein letztes Beispiel zu nennen — das Verb jasä', das ein rettendes Eingreifen einer dritten Person zugunsten eines Bedrohten gegen dessen Bedränger meint6. Die Rettung wird dem Bedrohten zuteil infolge eines Schutz- und Abhängigkeitsverhältnisses, in dem er zu einem Stärkeren oder Mächtigeren steht, der ihn aus seiner Not rettet. Solche Rettung erfolgt einerseits zugunsten von Personen in Situationen, die oft durch den feindlichen Willen anderer Personen entstanden sind, andererseits durch das Eingreifen von Personen und nur selten durch das Einschalten von technischen Mitteln. Auch Gott rettet auf diese Weise. Ein persönliches Verhältnis zwischen Gott und Mensch und also eine personale Struktur des Glaubens setzen drittens viele altorientalische und israelitische Personennamen mit theophoren Zusätzen voraus 7 . Denn sie sollen ihre Träger in einen direkten Kontakt mit Gott bringen. Dabei rühren die Namen, die dies durch die Zusätze 'ab „Vater" und 'ah „Bruder" angeben, aus der Zeit einer archaischen Stammesreligion her. In ihr haben sie, wie auch der jüngere Zusatz 'äm „Verwandtschaft, Familie", die Sippe oder den Stamm als mit der Gottheit verwandt bezeichnet. Im späteren Israel kann der einzelne Mensch diese Namen tragen, die nunmehr seine persönliche Beziehung zu Gott ausdrücken wollen. 5 J. J. Stamm, Erlösen und Vergeben im Alten Testament, 1940. * G. Fohrer, σψξω, σωτηρία, αωτήρ und σωτήριος im Alten Testament, in: Studien zur alttestamentlichen Theologie und Geschichte (1949—1966), 1969, S. 275—293. 7 M. Noth, Die israelitischen Personennamen im Rahmen der gemeinsemitischen Namengebung, 1928.

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Entfaltungen

Ferner sind zwar nicht so sehr die Bekenntnisnamen und Vertrauensnamen zu nennen, die meistens ziemlich allgemeine Aussagen über Gott enthalten, obwohl die Träger der Namen sich zu ihm bekennen oder ihr Vertrauen zu ihm ausdrücken. Wohl aber sind die Danknamen und die Wunschnamen als ausgesprochen personale Namensformen zu nennen. Von ihnen erkennen die ersteren ein Handeln Gottes am Träger des Namens, das in der Vergangenheit liegt, dankbar an, während die letzteren sich auf ein zukünftiges Handeln Gottes am Träger des Namens beziehen, nach dem dieser verlangt. Viertens wirkt sich in literarischer Hinsicht die personale Struktur des Denkens darin aus, daß Stammes- und Volkssagen ausgestaltet wurden zu Erzählungen von einzelnen Personen, die wie solche und nicht wie Stämme oder Völker leben, leiden und kämpfen 8 . Dies hängt mit der Vorstellung zusammen, daß Stämme und Völker wie die Familien von je einem Vater abstammen, der sie gezeugt hat, und daß dieser Vater in und mit der von ihm herrührenden Gemeinschaft weiter lebt, an ihrem Schicksal Anteil nimmt und mit ihr geradezu zu einer Einheit verschmelzen kann. Dies bildet die Grundlage dafür, daß besonders die Stammes- und Volkssagen des Buches Genesis mit Zügen personaler und familienhafter Art ausgeschmückt werden und dies in solch starkem Maße, daß sich manchmal schwer entscheiden läßt, ob es sich um Einzelpersonen oder um Personifikationen von Gemeinschaften handelt. Der Unterschied zwischen den ursprünglichen Notizen oder Sagen und den ausgestalteten Erzählungen wird deutlich, wenn man miteinander vergleicht: a) die Notiz von der Ausweisung der Söhne der Ketura durch Abraham (Gen 25, 1—6) und die Erzählungen von der Flucht der schwangeren Hagar oder der Vertreibung der Hagar und ihres Sohnes durch Abraham (Gen 16; 21, 8—21); b) die Liste der Söhne des Nahor (Gen 22, 20—24) und die Erzählung von der Geburt der Söhne Jakobs (Gen 29, 15—30,24; 35,16—20); c) die palästinischen Sagen von Joseph und seinen Brüdern (Gen 34; 35, 21—22a; 38) und die in Ägypten spielende Josephnovelle (Gen 37; 39—48; 50). Man sieht an diesen und anderen Erzählungen, wie die Frauen und Mütter als Gestalten von Fleisch und Blut geschildert werden, obwohl sie wahrscheinlich in den meisten Fällen keine historischen Personen 8

O. Eißfeldt, Die Genesis der Genesis, 19612; ders., Stammessage und Menschheitserzählung in der Genesis, 1965; ders., Achronische, anachronische und synchronische Elemente in der Genesis, in: Kleine Schriften, IV 1968, S. 153 —169.

Die personale Struktur

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waren, sondern als Erzeugnisse der erzählerischen Dichtung zu betrachten sind. Man sieht, wie die Beziehungen der Frauen zu den Männern lebendig ausgeschmückt werden, wofür die Erzählungen von der Gefährdung der Patriarchenfrauen (Gen 12, 10—20; 20; 26, 1—11) und von der Werbung um Rebekka (Gen 24) weitere Beispiele liefern. Man sieht schließlich, wie das Verhältnis der Eltern und Kinder zueinander erzählerisch ausgestaltet wird. Immer handelt es sich um die breite Ausmalung mit Motiven personaler und familienhafter Art. 2. Ein Teil der theophoren Namen zeigt, daß schon die ursprüngliche Stammesreligion der vormosaischen Zeit durch ein persönliches Verhältnis der Sippen oder Stämme zur Gottheit bestimmt war. Es ist sicher kein Zufall, daß gerade die Erzählungen von der Patriarchenzeit personenund familienhaft ausgestaltet worden sind. Die Wurzeln der personalen Struktur des alttestamentlichen Glaubens liegen bereits in der Frühzeit. Sie sind im Glauben Moses und der Propheten und in der weiteren Entwicklung bewahrt und entfaltet worden. In der Zeit der Patriarchen ist der Glaube an die „Götter der Väter" nicht durch Institution und Amt charakterisiert, sondern durch das persönliche Erleben und Handeln einzelner Menschen9. Wenigstens einige der Patriarchen sind als geschichtliche Gestalten zu verstehen: Abraham, Isaak und Jakob, außer denen es noch andere gegeben haben dürfte, deren Überlieferungen nicht mehr erhalten sind. Man erzählte von jenen Patriarchen wegen des „Gottes der Väter" oder der Götter der Väter, denen noch nach der Landnahme in Palästina an einigen Heiligtümern ein zeitweiliger Kult gewidmet war. Diese Sippen- oder Stammesgötter wurden angenommen und verehrt aufgrund einer Offenbarung, die der Gründer oder Führer der Sippe oder des Stammes persönlich erhielt. Er war der Empfänger der Oifenbarung und der damit verbundenen Verheißung, sodann der Stifter des Kultes und der Führer der Sippe oder des Stammes. Auf seiner Person beruhte die Religion seiner kleinen Gemeinschaft, deren Gottheit ursprünglich nicht mit einem lokalen Heiligtum, sondern mit einer Gruppe von Menschen verbunden war. Bei der Darstellung der Berufung und Beauftragung Moses in der Quellenschicht des Jahwisten finden sich die gleichen Elemente wie bei den

« A. Alt, Der Gott der Väter, in: Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel, I 1953, S. 1—78, ungeachtet einiger Einschränkungen und Weiterführungen.

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Entfaltungen

Patriarchen 1 ". Wie sie erscheint Mose als Offenbarungsempfänger, charismatischer Führer und Kultstifter einer in urwüchsigen Verhältnissen lebenden Gruppe. Teilweise schildert der Jahwist ihn auch nach der Art eines Propheten: Er empfängt den Willensbeschluß Gottes und hat ihn den Israeliten weiterzusagen, und zwar unter Verwendung der Botenformel und des „Ich" des Auftraggebers (Ex 3, 16f.). Die Erzählung von seiner Berufung folgt in großen Zügen dem Schema der prophetischen Berufungsberichte; in der Darstellung des Jahwisten erinnert manches an das Berufungserlebnis Jesajas, in derjenigen des Elohisten an das Erlebnis Jeremias. So begegnet von den Patriarchen über Mose und andere „Berufene" bis zu den großen Propheten immer wieder das Element der Berufung. Immer wieder spielen Menschen, die sich zu einer Aufgabe berufen und vom göttlichen Geist erfüllt wissen, eine maßgebende Rolle. Dieses Element, das durchaus personal ist, bildet die wichtigste Quelle für die Erhaltung und die weitere Entfaltung der personalen Struktur des Glaubens, deren Wurzeln in der alten Stammesreligion und in der Religion Moses liegen. Bei den Propheten kommt hinzu, daß ihre Tätigkeit sich einerseits mit der persönlichen Vertretung Gottes vor dem Volk in der prophetischen Verkündigung und andererseits mit der persönlichen Vertretung des Volkes vor Gott in der Fürbitte verbindet. Dadurch wird bei den Propheten die personale Seite noch verstärkt. 3. Fragt man nach ausgeprägten Zügen der personalen Struktur des Glaubens, so läßt sich einmal ein stark persönlich orientiertes Wissen um — oder: Vertrauen auf — die Führung durch Gott nennen. Es ist verständlich, daß sich dergleichen vor allem in denjenigen Klagepsalmen und Dankpsalmen findet, in denen sich der Einzelmensch in seiner Not bittend an Gott wendet oder für die ihm zuteil gewordene Hilfe und Rettung dankt. Obschon diese Lieder in der Spätzeit als Formulare und Agenden von jedem Beter benutzt werden konnten, sind sie doch nicht zu diesem Zweck geschaffen, sondern als persönliche Lieder für ein Individuum gedichtet worden. Gute Beispiele für den Glauben an die Führung durch Gott bilden die Erzählung von der Werbung um Rebekka (Gen 24) und die Josephnovelle. Während die erste die günstige Lenkung des Schicksals durch Gott fast profan mit den Ausdrücken „glücken lassen", „begegnen lassen" und „bestimmen" umschreibt, erklärt in der zweiten Joseph seinen Brüdern ausdrücklich: „Ihr gedachtet mir Böses zu tun. Aber Gott gedachte

10

Vgl. G. Fohrer, Überlieferung und Geschichte des Exodus, 1964.

Die personale Struktur

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es zum Guten zu w e n d e n . . . " (Gen 50, 20). Der Gedanke an die persönliche Führung durch Gott beherrscht noch die Denkschrift Nehemias 11 . Ein zweiter Zug ist die personale Bestimmtheit der Ethik. Dafür ist auf die Reihen von gleich gebildeten Sätzen mit Geboten oder Verboten zu verweisen, die apodiktisch formulierte Lebens- und Verhaltensregeln darstellen12. Sie empfehlen oder befehlen ein bestimmtes Tun oder Lassen und sollen auf den Menschen einwirken, damit er sein Leben in einer Weise gestaltet, die den Pflichten gegenüber der Gemeinschaft oder dem Willen Gottes entspricht. Sie richten sich an den einzelnen Menschen und reden ihn oft als „ D u " an. Das ist schon in dem ursprünglichen Dekalog der sog. lärwä -Reihe in Lev 18 der Fall, der die Lebensverhältnisse der nomadischen Sippe voraussetzt und wahrscheinlich aus der nomadischen Frühzeit Israels stammt 13 . Er enthält Sittenregeln über das sexuelle Zusammenleben, d. h. Lebens- und Verhaltensregeln, die das tägliche Leben der Individuen innerhalb der Sippe normativ bestimmen sollen. Es gibt mannigfache jüngere Reihen von Lebens- und Verhaltensregeln: die Dekaloge des Jahwisten (Ex 34) und des Elohisten (Ex 20), die Kult- oder Heiligtumsregeln (Ex 23), „Katechismen" (Lev 19) und „Beichtspiegel". Alle richten sich an die Person des Einzelmenschen, der zu einem Leben und Verhalten gemäß den geheiligten, gottgewollten Regeln aufgerufen wird. Es mag genügen, darauf hinzuweisen, daß bei den Propheten und in den Psalmen neben oder an Stelle der Tatethik eine Gesinnungsethik tritt 14 . Sie urteilt nicht einfach über die Taten des Menschen, sondern über die Regungen seines Herzens und seine innere Haltung, aus der die Taten folgen. Dadurch wird der personale Charakter der Ethik erheblich verstärkt. Ein dritter Zug der personalen Struktur des Glaubens ist die innere Auseinandersetzung mit der Not und Bedrohung des Lebens, wie sie sich konkret in Krankheit und Leid äußern 15 . Vor allem die Psalmen zeigen die Vergeistigung und Verinnerlichung der Auffassung der Krankheit, die 11

Vgl. G. von Rad, Die Nehemia-Denkschrift, ZAW 76 (1964), S. 176—187. G. Fohrer, Das sogenannte apodiktisch formulierte Recht und der Dekalog, in: Studien zur alttestamentlichen Theologie und Geschichte (1949—1966), 1969, S. 120—148. 13 K. Elliger, Das Gesetz Leviticus 18, in: Kleine Schriften zum Alten Testament, 1966, S. 232—259. » B. Gemser, Gesinnungsethik im Psalter, OTS XIII, 1963, S. 1—20. 15 P. Humbert, Maladie et médecine dans l'Ancien Testament, RHPhR 44 (1964), S. 1—29. 12

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Entfaltungen

Verbindung des physischen Leidens mit dem inneren Leid der Seele, ja, die Ausdehnung des Begriffs der Krankheit auf die seelischen Leiden und die Vorstellung von Gott als dem Arzt auch im ethischen und geistigen Bereich. Dies alles ist die Grundlage und Voraussetzung für das Buch Hiob, dessen Dichter die Frage nach dem richtigen Verhalten im Leide in einer ganz persönlichen Art behandelt 16 . Es ist eine Frage, die die Gestalten seiner Dichtung zutiefst erregt und bewegt und mit der er, der Dichter selbst, im eigenen Leben und Erleben gerungen hat. Ganz auf die Person des Einzelmenschen zugeschnitten ist auch die Antwort, die er auf die Frage nach dem Verhalten im Leide gibt: demütiges und hingebungsvolles Schweigen aus dem Ruhen in Gott — und dies aufgrund der Einsicht, daß das Leid auf einem rätselvollen und undurchschaubaren, aber doch sinnvollen Handeln Gottes beruht, und aufgrund der Gewißheit der Gemeinschaft mit Gott, die alles andere nebensächlich erscheinen läßt (Hi 40, 3—5; 42, 2—6). Als vierter Zug sei endlich die personale Bedeutung des Schöpfungsglaubens genannt, der in einem anderen Zusammenhang darzustellen ist (vgl. III, 3). 4. Es scheint klar zu sein, daß der alttestamentliche Glaube eine durchaus personale Struktur aufweist. Er wird gekrönt durch die Vorstellungen von der persönlichen Herrschaft Gottes über den Menschen und der persönlichen Gemeinschaft des Menschen mit Gott. Das gesamte Handeln Gottes wird einerseits betrachtet als Ausdruck seiner Herrschaft über Welt und Natur, Mensch und Tier, als ein Bemühen um das Durchsetzen seines Herrscherwillens und seines Herrschaftsanspruchs. Er übt seine Herrschaft aus in der Sorgepflicht des Herrschers f ü r seine Untertanen und im Kampf gegen die Widerspenstigen und Abtrünnigen bis zu ihrer Vernichtung. Andererseits übt er seine Herrschaft nicht um ihrer selbst willen aus, sondern sie bildet die Voraussetzung und Grundlage für ein personales Gemeinschaftsverhältnis zwischen Gott und Mensch. Das zweifache Ziel des ganzen Denkens, Wollens und Tuns Gottes ist nach der Meinung des Alten Testaments die Gottesherrschaft und die Gottesgemeinschaft. Ihnen ist alles andere ein- und untergeordnet. Alles bezieht sich darauf, das zweifache Ziel zu erreichen. Was also die Ganzheit und Fülle des Lebens als einen Gesamtvorgang begreifen läßt, ist das Ringen um die Verwirklichung der persönlichen Herrschaft Gottes und der persönlichen Gemeinschaft des Menschen mit ihm. " G. Fohrer, Das Buch Hiob, 1963.

Gottes Handeln an Völkern und Menschen

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II. Gottes Handeln an Völkern und Menschen Nach dem einhelligen Zeugnis des Alten Testaments handelt Gott im Leben und Geschick der Völker und Menschen. Man bezeichnet dies häufig als sein Geschichtshandeln. Doch ist bereits dargelegt worden (2. Kap. III, 2), daß eine solche Kennzeichnung des göttlichen Handelns sachlich und begrifflich unzutreffend ist, da das Alte Testament ein Handeln in der jeweiligen Gegenwart meint: in einer vergangenen, augenblicklichen oder künftigen Gegenwart. Entscheidend ist, daß sich das Handeln in einer solchen Gegenwart auf Völker und Menschen bezieht und ihnen gilt. 1. Gott handelt an Israel und lenkt sein Geschick. Er hat es aus Ägypten befreit und bei seiner Verfolgung Roß und Wagenkämpfer ins Meer geworfen (Ex 15, 21). Er hat ihm während der Wanderung durch die Wüste geholfen, indem er ihm Wasser, Manna und Wachteln verschaffte (Ex 15, 25; 16; 17, 1—8; Num 11; 20, 1—11). Er hat ihm im Krieg bei der Eroberung Kanaans, in den Kämpfen der Richterzeit und bei der Abwehr der Philister geholfen; denn „Jahwe ist ein Krieger" (Ex 15, 3) und Israel „ein Siegervolk durch Jahwe" (Dtn 33, 29), da bis zur Zeit Davids die Kriege Israels oft als von Jahwe geführt und gewonnen galten. Doch Gott greift auch strafend und rächend in das Geschick Israels ein. Er war es, der Saul verworfen (I Sam 15, 26), das Haus Jerobeams und Ahabs vernichtet (I Reg 14, 10; II Reg 9, 7—9) und den Untergang der Reiche Israel und Juda beschlossen hat (II Reg 17, 22f.; 23, 27; 24, 20). Dieses ständige und fortdauernde Handeln Gottes an Israel wird mehrfach in umfassenden Darstellungen geschildert. In der Königszeit beschreiben der Jahwist im Südreich Juda und der Elohist im Nordreich Israel die Geschichte ihres Volkes von der Schöpfung der Welt bzw. von der Berufung Abrahams bis zur Landnahme in Palästina als Auswirkung des Handelns Gottes. Später schildert die deuteronomistische Schule die Mosezeit in der Einleitung zum Buch Deuteronomium; sie beurteilt die Geschichte der Richterzeit in einer zweifachen Bearbeitung des Richterbuchs — in den Rahmenbemerkungen um die Richtererzählungen und in Jdc 2, 11—19 — und die Geschichte der Königszeit von Salomo bis zum Untergang der beiden Teilreiche in den Königsbüchern. Noch in der Spätzeit bildet das chronistische Werk in den Büchern der Chronik, Esra und Nehemia eine letzte umfassende Darstellung. Es ist für das Alte Testament selbstverständlich, daß Gott ebenso an anderen Völkern handelt und ihre Geschicke lenkt. Die Erzählungen über die Befreiung Israels aus Ägypten besagen zugleich, daß Jahwe in Ägypten

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eingegriffen und mancherlei Plagen über das Land gebracht hat, um den Pharao — wenn auch zunächst vergeblich — zur Entlassung der Israeliten zu bewegen. Vor allem die Propheten sprechen vom Handeln Jahwes an anderen Völkern; es scheint geradezu zum Wesen der prophetischen Tätigkeit gehört zu haben, außer Sprüchen für Israel auch solche für oder über andere Völker zu verkündigen17. Jahwe hat nicht nur Israel in sein Land gebracht, sondern auch die Philister aus Kaphtor und die Aramäer aus Kir herbeigeführt (Am 9, 7). Ägypten ist sein Volk und Assur das Werk seiner Hände (Jes 19, 25). Er hat den persischen König Kyros bei seinem Namen gerufen, ihn als seinen „Hirten" und „Gesalbten" eingesetzt, damit er den göttlichen Willen ausführt (Jes 41, 25; 44,28; 45,1—3). Ebenso zieht Gott nicht nur Israel, sondern auch andere Völker zur Rechenschaft und ahndet ihre Frevel. Er bestraft die Vergehen von Damaskus, der Philisterstädte, von Ammon und Moab, wobei es sich durchaus nicht um Vergehen gegen Israel handeln muß (Am 1, 3—8. 13—15; 2, 1—3). Er zieht den König von Babylonien zur Verantwortung, wie er es schon mit dem König von Assyrien getan hat (Jer 50, 18). Er vernichtet Stadtstaaten und Großreiche von Ägypten bis Babylonien und Elam (Jer 46—51). Freilich weiß das Alte Testament auch davon zu sagen, daß Gott nicht pausenlos und in einem fort am Werke ist. Es mag sein, daß er lange wartet — für manchen vielleicht zu lange —, um dann plötzlich einzugreifen (Jes 18), daß er den Verlauf der Begebenheiten fast unmerklich bestimmt und lenkt, darin den sachten und stillen Siloawassern vergleichbar (Jes 8, 5ff.), oder daß er nicht selbst handelt, sondern einfach die Herzen der Menschen zu einem bestimmten Tun bewegt (Gen 24). Dennoch hat sich Israel oft die Frage gestellt: Wo ist Gott, was tut Gott? Und die Antworten reichen vom Murren des Volkes in der Wüste bis zum Zweifel am Wirken Gottes überhaupt. Wie die Israeliten Mose vorwerfen, daß er sie aus Ägypten führen wolle, um sie dem Tode preiszugeben (Ex 14, 11), und daß er sie in die Wüste führe, damit sie verhungern und verdursten (Ex 16, 3; 17, 3), so fragt Gideon angesichts der Bedrückung durch die Midianiter: „Wenn Jahwe wirklich mit uns ist, warum trifft uns dies alles? Wo sind all seine Wundertaten, von denen unsere Väter uns erzählt haben: ,Ja, Jahwe hat uns aus Ägypten heraufgeführt!' Aber jetzt hat uns Jahwe verstoßen" (Jdc 6, 13). 17

G. Fohrer, Vollmacht über Völker und Königreiche. Beobachtungen zu den prophetischen Fremdvölkersprüchen anhand von Jer 46—51, in: Festschrift J. Ziegler, 1972.

Gottes Handeln an Völkern und Menschen

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Diese Klage verschärft sich in den vorwurfsvollen Fragen, ob Gott denn schlafe (Ps 44, 24) und warum er sich in Notzeiten verberge (Ps 10, 4), und kann zum Zweifel an seiner Wirksamkeit werden, da er weder Glück zu geben noch zu schaden vermöge (Zeph 1, 12), oder gar zum Zweifel an seiner Existenz überhaupt (Ps 14, 1). Verbirgt Gott sich im Weltgeschehen oder zieht er sich aus ihm manchmal ganz zurück, wie der traurige Tod des frommen Königs Josia vermuten lassen könnte, über den der Erzähler schnell hinweggeht, weil er ihn nicht erklären kann, wenn Gott wirklich die Geschicke der Völker und Menschen lenkte (II Reg 23, 29)? Propheten und Psalmen antworten darauf: Gott verbirgt sich nur scheinbar. Sein Verhalten ist Strafe für die Frevel, ruft zur Umkehr auf und bereitet sein neues Eingreifen vor. Einen anderen Weg geht der Dichter des Buches Hiob; für ihn beruht das scheinbar sinnlose Erleiden auf einem zwar rätselvollen und undurchschaubaren, aber doch sinnvollen Handeln Gottes, dem sich der Mensch in der Gewißheit der Gottesgemeinschaft einfügt, die alles andere nebensächlich werden läßt. Das unerklärliche Handeln des Herrschers wird in der Gemeinschaft mit ihm ertragen und getragen. 2. Für das Verständnis der Darstellung vergangener Begebenheiten im Alten Testament ist der Zusammenhang zwischen Begebenheit und Deutung wichtig. Das Alte Testament stellt Begebenheiten der Vergangenheit, in denen es das Handeln Gottes erblickte, nicht objektiv dar; denn vergangene Begebenheiten als solche wären für es bedeutungslose Abstraktionen. Sie erscheinen vielmehr als Grundlage einer Deutung und in Beziehung zu ihr; die vergangene Begebenheit und ihre jeweilige Deutung sind untrennbar miteinander verbunden und voneinander abhängig. Die Überlieferung kann immer neu gedeutet werden; und dies geschieht, um die Beziehung zur jeweiligen Gegenwart des Deutenden herzustellen. Man erzählt von vergangenen Begebenheiten als dem früheren Handeln Gottes an Völkern und Menschen eigentlich wegen der mit und in der Darstellung gegebenen Deutung für die neue Gegenwart. Daher ist es oft schwierig, den historischen Hintergrund der Überlieferungen zu erfassen; er kann von der Deutung mehr oder weniger verdeckt sein. Daß das Alte Testament bewußt und absichtlich die Tradition für eine neue Gegenwart deutet, wird an Gen 18, 17—19 ersichtlich: „Jahwe dachte: Soll ich vor Abraham geheimhalten, was ich (in Sodom) tun will, da Abraham doch zu einem großen und starken Volk werden soll, in dem sich alle Völker der Erde segnen sollen? Denn ich habe ihn erkoren, damit er seinen Söhnen und seinem Hause nach ihm gebietet, Jahwes Weg zu

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halten, indem sie Recht und Gerechtigkeit üben, damit Jahwe über Abraham bringen kann, was er ihm zugesagt hat." Gleich der erste Satz macht deutlich, daß Abraham das Gericht über Sodom nicht bloß als äußeres Geschehen, als ein Faktum wahrnehmen und betrachten soll. Vielmehr soll er erfahren, daß Gott es ist, der an Sodom handelt. Er soll das Ganze von dieser Deutung aus verstehen. Noch eindeutiger erklärt der zweite Satz, daß Abraham darum wissen soll, damit er seinen Nachkommen warnend davon erzählen kann, damit sie die Gebote Jahwes besser halten als die Leute von Sodom und damit Gott seine Verheißung verwirklichen kann. Das Geschehen um Sodom erhält in der Erzählung also sogleich seine Deutung und Bedeutung. Es wird nicht um seiner selbst willen und nicht um einer historischen Erinnerung willen berichtet, sondern als ein beispielhaftes Geschehen erzählt, das warnen soll. Genauso ist an der Erzählung von der Vertreibung der Hagar und des Ismael in Gen 21, 8 if. vor allem die Deutung wichtig, mittels derer der Erzähler das Besondere an Israel klarmachen möchte. Er will erklären, warum das Israel seiner Zeit sich von anderen Völkern unterscheidet und worin dieser Unterschied begründet ist. 3. Am wichtigsten ist die Frage, von welchem Handeln Gottes an Völkern und Menschen in den jeweiligen Gegenwarten des Geschichtsverlaufs die Propheten reden, in welcher Weise und aus welchen Gründen sie es tun und wie sich dies im Spannungsfeld der Vorstellungen von Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft ausnimmt 18 . Zwei Betrachtungsweisen in der Darstellung und Beurteilung der geschichtlichen Ereignisse als Auswirkung des Handelns Gottes an Völkern und Menschen, zu dem die korrelative menschliche Entscheidung und Antwort hinzugehört, lassen sich unterscheiden. a) Die Propheten spielen auf Ereignisse der Vergangenheit vorwiegend in anklagenden, drohenden und diskutierenden Sprüchen an, so daß diese Ereignisse eine Rolle für die Begründung, Ankündigung und Rechtfertigung des bevorstehenden göttlichen Strafgerichts spielen. Genauer gesagt, beschreiben die Propheten unter Hinweis auf das Handeln Gottes in der Vergangenheit, daß und warum Gott erneut handeln und vernichtend strafen muß und will, falls Israel nicht zu ihm umkehrt, oder — seltener — daß und warum er vielleicht dennoch erlösend eingreifen wird. 18

G. Fohrer, Prophetie und Geschichte, in: Studien zur alttestamentlichen Prophétie (1949—1965), 1967, 265—293; J. Vollmer, Geschichtliche Rückblicke und Motive in der Prophetie des Arnos, Hosea und Jesaja, 1971.

Gottes Handeln an Völkern und Menschen

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Grundsätzlich erblicken die Propheten im Handeln Jahwes in und an Israel nicht sein ausschließliches Tun, sondern einen Ausschnitt aus seinem Handeln an Völkern und Menschen überhaupt und insgesamt. Es ist allerdings ein Sonderfall seines weltumfassenden Wirkens, bedingt durch sein enges Verhältnis zu Israel, das sein Volk ist oder sein sollte. Dieses Verhältnis wird als in der Frühzeit begründet angesehen, insbesondere durch die Rettung aus Ägypten (Jer 2, 6; Hos 11, 1). Die Folgezeit gilt den Propheten als die ideale Zeit, in der ein ungetrübtes Verhältnis zwischen Jahwe und Israel herrschte. Hosea und Jeremia beschränken es auf die Moseund Wüstenzeit (Jer 2, 2 Hos 9,10). Für Jesaja bestand es noch in der Zeit Davids oder Salomos, als Jerusalem treu und ehrbar war (Jes 1, 21; 14, 32; 28,16; 29, 1). So hätte es immer bleiben sollen, zumal aus der Landzuteilung in Palästina (Jer 7, 7; Am 2, 9), aus der Gabe von Getreide, Most und Öl (Hos 2,10), aus dem Erwecken von Nasiräern und Propheten (Am 2,11) sich die Verpflichtung Israels zum Gehorsam ergab. Doch aus der von Gott gebotenen heilvollen Anfangsmöglichkeit entfaltete sich keineswegs eine Heilsgeschichte, sondern eine völlige Sündengeschichte. Israel fiel beim Bekanntwerden mit dem kanaanäischen Kult und dem Wohlleben im Kulturland von Gott ab (Jer 2, 7; Hos 9, 10; 10, 1 f.; 13, 5—8) und blieb durch seine Geschichte hindurch (Hos 1, 4; 9, 9; 10, 9) bis in die prophetische Gegenwart abtrünnig. Der Weingarten setzt faulende Beeren an (Jes 5, 2), die Söhne sind verderbt, verlogen und schlimmer als das Vieh des Vaters (Jes 1, 2f.4; 30, 9). Jeremia beschreibt es in geradezu klassischer Weise: Ich hatte einst gedacht: Wie will ich dich hervorheben unter meinen Söhnen und dir ein köstliches Land geben, den prächtigsten Besitz! Ich wähnte, „Vater" würdest du mich nennen und dich nicht von mir wenden. Jedoch wie eine Frau die Treue ihres Freundes wegen bricht, so wurdet ihr mir untreu, ihr Israeliten. (Jer 3, 19f.)

Freilich hat Gott es in der Vergangenheit nicht ruhig hingenommen, daß das Volk von ihm abfiel, weil sich aus dem zwischen ihnen bestehenden Verhältnis von Herrschaft und Gemeinschaft sein Recht ergab, Israel für die Sünde zur Verantwortung zu ziehen (Am 3, 2). Darum hat er durch die Propheten und die Worte seines Mundes dreingehauen und getötet (Hos 6, 5). So ist die Geschichte Israels nicht nur eine Sündengeschichte, sondern auch eine Geschichte voller gottgesandter Plagen, die als leicht zu 10

Theologische Grundstrukturen

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begreifende Mahnungen zur Umkehr auffordern sollten (Jes 9, 7ff.; Am 4, 6 ff.). Daher läßt sich sagen: Israels Sünde einerseits und Gottes mahnende und warnende Plagen sowie seine sonstigen Bemühungen andererseits sind für die Propheten die beiden hauptsächlichen Faktoren zum Verstehen der palästinischen Geschichte Israels als Ineinander des göttlichen Handelns und des menschlichen Verhaltens. In alledem hat Gott die Ereignisse der Vergangenheit „bewirkt" und „gebildet" (Jes 22, 11). Genauso wird er es weiterhin tun — durch das Aussenden seines Wortes (Jes 9, 7; 28, 13), sacht und still wie die Siloawasser (Jes 8, 6), durch plötzliches Eingreifen (Jes 18,4f.; 29, 5; 30,13), etwa mittels der Theophanie (Jes 2,12ff.; 28,2; 29, 5ff.) oder der Beauftragung anderer Völker (Jes 5, 26ff.; 7, 18ff). Da alle göttlichen Bemühungen vergeblich gewesen sind, wird das künftige Handeln Gottes an Israel — und an anderen Völkern — darin bestehen, daß er das endgültige Vernichtungsgericht herbeiführt — es sei denn, daß sich die bisher verweigerte Umkehr, das Aufsuchen Gottes und das Tun des Guten noch in letzter Minute ereignen oder daß Gott selbst helfend und erlösend eingreift und ein neues Verhältnis herstellt oder einen neuen Menschen schafft (Jer 31, 31—34; Ez 36, 26f.). b) Die zweite Betrachtungsweise in der prophetischen Bezugnahme auf das frühere Handeln Gottes an Völkern und Menschen besteht in deren Anwendung auf sein künftiges Handeln. Wie die Propheten unter Berufung auf die geschichtlichen Ereignisse darlegen, daß und warum Jahwe in allernächster Zukunft erneut handelnd eingreifen, vernichten muß oder erlösen will, so veranschaulichen sie mit ihrer Hilfe, wie und zu welchem Ziel Jahwe handeln will: im Kampf tobend wie zur Zeit Davids — jedoch nicht für, sondern gegen Juda (Jes 28, 21), um ein Strafgericht zu vollstrecken wie an Sodom und Gomorra (Jes 1, 10; Hos 11, 8) oder wie am Heiligtum von Silo (Jer 7,12—14), oder die äußere Situation der idealen Mose- und Wüstenzeit wiederherstellend, um ähnliche innere Verhältnisse zu erzielen (Hos 3; 12, 10). Die Verwendung derartiger Motive dient der konkreten Ausmalung der künftigen Ereignisse: Gott wird in einer Weise handeln, die seinem früheren Handeln ähnlich ist, für ihn typisch ist und sich wiederholt. So handelt es sich bei den verwendeten Motiven um Entsprechungen aufgrund der Wiederholbarkeit von Einzelakten des göttlichen Handelns, die sein künftiges und erst angekündigtes Handeln verstehbar machen. Das Unbekannte und vielleicht Unvorstellbare wird mit Hilfe des aus der Überlieferung Bekannten veranschaulicht. Die spätere eschatologische Prophetie hat diese

Gottes Handeln an Völkern und Menschen

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Methode angesichts der weltumfassenden endzeitlichen Ereignisse, die sie ankündigt, in besonders großem Maße benutzt. Die prophetische Betrachtung des göttlichen Handelns an Völkern und Menschen weist mehrere Eigenarten auf, die noch erwähnt werden müssen. Wie die prophetische Verkündigung überhaupt gänzlich gegenwartsbezogen ist, so gilt auch die Ankündigung des künftigen Handelns Gottes ihrer Gegenwart. Denn sie soll durch das angedrohte Gericht zu einem anderen Verhalten bewegen: „Bessert euren Wandel und eure Taten, so will ich bei euch wohnen an dieser Stätte", sonst aber den Tempel wie denjenigen von Silo zerstören (Jer 7, 1—15). Oder die Gegenwart soll sich von den eschatologischen Propheten in der gegenwärtigen Not durch die Ankündigung des endzeitlichen Heils trösten lassen und in angespanntem Hoffen und Harren darauf hinleben. Genauso beziehen sich die Aussagen über die vergangenen Ereignisse als früheres Handeln Gottes auf die Gegenwart. Ihr werden das ursprünglich ungetrübte Verhältnis zu Jahwe und das darauf folgende jahrhundertelange Sündigen vor Augen gehalten, aus dem das mahnende und warnende Handeln Gottes durch allerlei Plagen zur Umkehr führen sollte, während nach diesem vergeblichen Bemühen in der gleichfalls sündigen Gegenwart das Maß voll ist und das Strafgericht bevorsteht. In der eschatologischen Prophetie dient der Blick in die Vergangenheit der Begründung der baldigen Wende zum Heil: Gott hat das Gericht herbeigeführt, die Sünde ist gesühnt, nun läßt er ein Neues beginnen. In der Prophetie besitzen also die Hinweise auf das Handeln Gottes an Israel in der Vergangenheit keinen selbständigen Wert, sondern sind Mittel der gegenwartsbezogenen Verkündigung, um ihren Inhalt mitzubegründen oder in der Form von Entsprechungsmotiven zu veranschaulichen. Ferner hat für die Propheten das frühere Handeln Gottes an Völkern und Menschen keine „Heilsgeschichte" bewirkt; denn sein Handeln hat auch negative Ergebnisse erbracht oder gar ein negatives Ziel angestrebt. Heilsgeschichte und Sünden- oder Unheilsgeschichte halten einander zumindest die Waage; die Propheten sehen eine Verflechtung von heil- und unheilvollem Handeln Gottes und überwiegend sündhaftem Handeln des Menschen in den verschiedenen Zeiten. Ob aber zum Heil oder Unheil führend — stets war die Geschichte eine Entscheidungsgeschichte, war die jeweilige Gegenwart eine Entscheidungssituation für Volk und Mensch — Entscheidung zwischen dem weiteren oder erneuten Abfall von Gott und der Rückkehr zu ihm. Dabei sind die bisherigen Entscheidungen durchweg falsch getroffen worden, so daß Israel sich sein Glück verscherzt hat (Jes 48, 18). Diese Abfall- und Sündengeschichte bestimmt nun einer10*

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seits die dem Vernichtungsgericht als künftigem Handeln Gottes zudrängende Situation der Gegenwart und fordert andererseits eben deswegen eine neue, gegenwärtige Entscheidung, die wieder die Zukunft bestimmen wird (Jes 1, 19f.; Jer 4, 3f.; 18, 7—10). Die Propheten fordern die gegenwärtige Entscheidung, weil Gott in Korrelation dazu handelt, falls er nicht einmal ausdrücklich davon absieht und etwas tut oder unterläßt um seiner Ehre oder Liebe willen. Gewöhnlich aber gehören die Vergebungsbereitschaft Gottes und die Willigkeit des Menschen zusammen und bilden zwei Teile oder Aspekte eines einzigen Vorgangs: der Rettung des sündigen und todverfallenen Menschen, der das Angebot der Umkehr ergreift. Umgekehrt herrscht ein Einklang in der tödlichen Krise des Nichtglaubenden und Nichtwilligen: Die Unwilligkeit des Menschen und die von Gott gewirkte Verblendung und Betäubung lassen den zur Umkehr Unwilligen sich immer tiefer ins Verderben verstricken (Jes 29, 9 f.). Das gesamte Handeln Gottes an Völkern und Menschen, insbesondere an Israel, ist schließlich auf ein zweifaches Ziel gerichtet. Einerseits ist es ein Ausdruck seiner Herrschaft über Welt und Mensch, ein Bemühen um das Durchsetzen seines Herrscherwillens und Herrschaftsanspruchs im Ausüben der Sorgepflicht des Herrschers und ein Kampf gegen die Widerspenstigen und Abtrünnigen bis zu ihrer Vernichtung. Andererseits übt Gott diese Herrschaft nicht um ihrer selbst willen aus; vielmehr bildet sie die Voraussetzung und Grundlage für die enge und personhafte Gemeinschaft zwischen Jahwe und Israel, Gott und Mensch. Dieses zweifache Ziel des göttlichen Handelns wird auch von der prophetischen Verkündigung ausgesagt. Sie erblickt in den vergangenen Ereignissen das Bemühen des göttlichen Ehemanns und Vaters, für seine Frau Israel und seine Söhne zu sorgen, die Anerkennung seines Herrschafts- und Gemeinschaftswillens zu erreichen oder zu erzwingen. Sie fordert ihre Gegenwart zur Entscheidung für die bisher verweigerte Anerkennung des Herrschaftsanspruchs und Annahme der Gemeinschaft auf. Sie erwartet für die Zukunft entweder die Vernichtung durch den Herrn und König Jahwe bei weiterem Beharren in der Ablehnung oder die Umwandlung der Unwilligen und sogar die endzeitliche Umgestaltung von Welt und Mensch durch das erlösende Handeln Gottes. Was in der Geschichte nach einem ersten glücklichen Beginn trotz göttlichen Helfens, Mahnens und Strafens verfehlt worden ist — die Durchsetzung und Anerkennung der Gottesherrschaft und die Herstellung und Annahme der Gottesgemeinschaft —, wird aufgrund der Entscheidung in der Gegenwart in der unmittelbar bevor-

Gottes Handeln in der Natur und durch die Natur

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stehenden Zukunft entweder durch die Vernichtung der Widerspenstigen als endgültig verfehlt besiegelt oder durch das erlösende Handeln Gottes dennoch in wunderbarer Weise verwirklicht. Das Ringen um die Verwirklichung der Gottesherrschaft und der Gottesgemeinschaft läßt daher die „geschichtlichen", vergangenen Ereignisse im Geschick der Völker und Menschen als einen Gesamtvorgang erscheinen und begreifen. III. Gottes Handeln in der Natur und durch die Natur Als Folge der Hervorhebung des göttlichen Handelns an Völkern und Menschen ist ein anderer Aspekt der Theologie des Alten Testaments weitgehend außer acht geblieben: das göttliche Handeln in der Natur und durch die Natur, das ebenfalls zum Bereich der religiösen Erfahrung gehört 19 . Wie der Israelit in der Natur Gott als den Handelnden erfährt, so erlebt er sich selbst als den von diesem Handeln Betroffenen, als denjenigen, dem dieses Handeln gilt. Daher wird ihm Gottes Handeln in der Natur und durch die Natur zum Heil oder zum Unheil. Der eigentlich biblische Zug daran kommt besonders dort zum Ausdruck, wo diese Erfahrung nicht bloß in dem gegenwärtigen Augenblick oder dem Zyklus eines Jahresablaufs erblickt, sondern auf das Geschick Israels im ganzen und auf sein Ergehen im Rahmen großer Zeitabläufe bezogen wird. Im einzelnen tritt der Bereich der Natur vor allem so in Erscheinung, daß Naturgaben als Inhalt des Heils zugesagt werden, daß sich Gottes Handeln zur Durchsetzung seines Willens mittels Naturkräften und Naturvorgängen ereignet und daß die Welt des Menschen wie dieser selbst als göttliche Schöpfung verstanden werden. 1. Naturgaben als Inhalt des Heils nennt sogleich die Patriarchenüberlieferung der Genesis. Grundlegend f ü r sie ist die Heilszusage, unter der die Patriarchen aufgebrochen und gewandert sind: die Landverheißung, die den traditionsgeschichtlichen Kern der Patriarchenüberlieferung überhaupt bildet. Die Verheißung des Kulturlandes ist der Ausgangspunkt für das tatsächliche Wandern und Leben der nomadischen Frühisraeli ten, das Streben nach dem Kulturland der Ausgangspunkt f ü r ihr Denken und Glauben gewesen. Dieses Element hat beim Werden der Hexateuchüber19

J. Haspecker, Religiöse Naturbetrachtung im Alten Testament, Bibel und Leben 5 (1964), S. 116—130; ders., Natur und Heilserfahrung in Altisrael, ebd. 7 (1966), S. 83—98; G. von Rad, Aspekte alttestamentlichen Weltverständnisses, EvTh 24 (1964), S. 57—73.

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lieferungen auch den Kristallisationskern gebildet, um den sich die weiteren Erzählungen gelagert haben. Es ging von Anfang an um das Leben im Kulturland, das fruchtbar und verlockend vor den Israeliten lag. Daß die konkreten Heilserwartungen der Patriarchensippen in diesem Bereich lagen, zeigen die Erzählungen der Genesis deutlich und unbefangen. Sobald Abraham und Lot sich eine Zeitlang in Kanaan aufgehalten haben, gedeihen ihre Herden so, daß der Weideraum knapp wird (Gen 13, 2ff.). Als Lot sich deswegen von Abraham vor die Landwahl gestellt sieht, entscheidet er sich wie selbstverständlich für die fruchtbare und üppige Jordansenke (Gen 13,10f.). Isaak kann sogar in einem Hungerjahr hundertfältig ernten, weil Jahwe ihn segnet (Gen 26, 1 ff.). Er ist überaus reich an Herden und Besitz und damit an Einfluß, so daß man ihn zwar beneidet und verdrängen möchte, sich aber zugleich gezwungen sieht, sich friedlich mit ihm zu verständigen, weil er offensichtlich „ein von Jahwe Gesegneter" ist (Gen 26,13 if.). Auch Jakob betrachtet seinen Besitz, den er aus dem Nichts gewonnen hat, als eine Gabe Jahwes (Gen 32, 11; 33, 11). Ebenso lassen die Segenssprüche der Patriarchen für ihre Söhne erkennen, welche Vorstellungen herrschen. Isaak spricht über Jakob: „Siehe, der Geruch meines Sohnes ist wie der Geruch des Ackers, den Jahwe gesegnet hat. Gott gebe dir vom Tau des Himmels und von den fruchtbaren Gefilden der Erde, Getreide und Wein in Fülle" (Gen 27, 27 f.). Jakob gibt vor seinem Tode den Segen der Familie an Joseph weiter, der an Stelle Rubens als Erstgeborener eingesetzt wurde (Gen 49, 25 f.). Dabei wird die Heilsgabe, die man von Gott erwartet, in Naturgütern, im Gedeihen der Herden oder des Ackers erblickt. Die Patriarchenverheißungen sind äußerlich dadurch gekennzeichnet, daß sie von Jahwe selbst den Patriarchen zugesprochen werden. Durchweg erscheinen sie als die zweifache Zusage von Landbesitz und Nachkommenschaft (ζ. B. Gen 12,1 ff.). In zahlreichen Patriarchenerzählungen werden sie nach verschiedenen Seiten hin erläutert, wobei verschiedene Aspekte zum Vorschein kommen — so Gen 12, 10 ff. die Dürre und Hungersnot, die zur zeitweiligen Abwanderung Abrahams nach Ägypten führen und dadurch alles in Frage stellen, was ihm verheißen war; 13, 1 ff. die Knappheit des Weideraums angesichts des Wachstums der Herden mit dem Abzug Lots aus dem Lande; 24 die Brautwerbung um Rebekka für Isaak, in Zusammenhang mit der eine Rückwanderung der Sippe in ihr Ursprungsland Mesopotamien unter Berufung auf die besondere Zusage Jahwes abgelehnt wird; 26 die Weisung Jahwes an Isaak, trotz einer Hungersnot im Lande zu bleiben, und die Belohnung ihrer Befolgung durch besondere

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Fruchtbarkeit. Als Jahwe die Landzusage an Jakob erneuert, weil dieser wegen der Zwistigkeiten mit seinem Bruder Esaù Kanaan doch verlassen muß (Gen 28,13 if.), kommt als neues Element der Landverheißung die Zusage einer sicheren Zurückführung hinzu. Diese Zusage wird beim Zug Jakobs nach Ägypten wiederholt (Gen 46, 3 ff.). Im Zusammenhang damit steht das zweite Element der Verheißungen: die Zusage reicher Nachkommenschaft. Man kann das Land nur richtig besitzen, wenn aus einer kleinen Sippe eine mächtige Gefolgschaft und ein werdendes Volk wird. Daher tritt sofort die Verheißung der Nachkommenschaft zu derjenigen des Landbesitzes hinzu. Die alten Vorstellungen, die in natürlichen Erwartungen und Wünschen wurzeln und ausschließlich auf materielle und natürliche Güter hinzielen, sind ganz in den religiösen Bereich hineingenommen und eingefügt worden, vor allem unter dem Gesichtspunkt, daß solches Heil nur von Gott erwartet und empfangen werden kann. Doch wird dies in der ältesten Schicht der Patriarchenüberlieferung wenig oder gar nicht von der religiös-ethischen Bewährung des Menschen durch die Befolgung des göttlichen Willens im ganzen Leben abhängig gemacht. Es klingt zwar in der jüngeren Bearbeitung an, spielt aber keine entscheidende Rolle. Dies zeigt, daß die mit Naturgaben verbundenen Verheißungen in sehr frühe Zeit zurückreichen, bevor das religiös-ethische Element des Jahweglaubens die Formung der Überlieferung bestimmt hat, und daß sie sich von da aus durch die weitere Überlieferung hindurchziehen. Die Tradition über die Mosezeit von der Rettung aus Ägypten bis zur Besetzung Palästinas fügt sich dem an. Die Rettung aus Ägypten gilt durchweg als die grundlegende Heilserfahrung Israels — ganz gleich, welche Gruppe von Israeliten sie einmal erlebt hat. Doch der tiefere Hintergrund liegt nicht in der Rettungstat selbst; vielmehr soll diese den Ausgangspunkt für den späteren Landbesitz bilden. Von Anfang an erwartet die Moseschar ein Land, „das von Milch und Honig fließt". Dieser Ausdruck begegnet erstmalig in der Moseüberlieferung und scheint mit ihr eng verflochten zu sein. Ex 3, 7f. erklärt deutlich, daß die Hinausführung aus Ägypten nicht ein isoliertes Geschehen ist, sondern im Rahmen einer umfassenderen Zielsetzung erfolgt: „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen . . . Darum bin ich herabgestiegen, um es aus der Hand der Ägypter zu befreien und aus diesem Land in ein schönes und weites Land zu führen, in ein Land, das von Milch und Honig fließt." Auszug aus Ägypten und Einzug in Palästina sind also eine Gesamtbewegung, für die der Ausgangspunkt und die Zielsetzung besonders wichtig sind. Dabei scheint die Formel

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vom Land, das von Milch und Honig fließt, von der Moseschar im Blick auf die Zielsetzung geprägt worden zu sein; sie ist weitergetragen worden und hat eine Rolle bis in die Spätzeit hinein gespielt. 2. Die Naturkräfte und -mächte werden nach der Tradition ferner als Mittel benutzt, durch die Jahwe seine Absichten durchsetzt und beispielsweise in der Mosezeit die Wanderung nach Palästina gegen alle Widerstände in Gang bringt und sichert. Die Plagen, die Ägypten getroffen haben, sind überwiegend Naturereignisse oder Naturkatastrophen, die von Jahwe verhängt werden, um den Auszug in Bewegung zu setzen. Auch die Vernichtung der ägyptischen Verfolger am Meer vollzieht sich nach der älteren Darstellung durch Naturvorgänge, die Jahwe in seinen Dienst nimmt. Solche Naturkatastrophen, die die Feinde Israels vernichtend treffen und ihm selbst daher als Heils- und Rettungstaten Jahwes erscheinen, sind die Gerechtigkeits-, Heils- oder Großtaten Jahwes zur Durchsetzung seines Willens. Ähnlich wurde nach der Überlieferung über den Zug Israels die Knappheit der vorhandenen Hilfsmittel durch wunderbare Naturgaben ergänzt — sei es durch die Gewährung von Speise (Manna und Wachteln) oder durch das Spenden von Wasser. Die Mutlosigkeit, das Murren und Aufbegehren der Israeliten werden von Jahwe zunächst hingenommen; er antwortet darauf, indem er durch die notwendigen natürlichen Gaben Abhilfe schafft. Doch dann weist die Überlieferung einen gewissen Umschwung auf; in einer späteren Periode ahndet Jahwe das gleiche Verhalten des Volkes durch harte Strafen, indem er die Naturkräfte als Strafmittel gegen Israel einsetzt: Die Erde öffnet sich, und die gegen Mose oder Jahwe revoltierenden Gruppen versinken im Erdspalt; Feuer geht von Jahwe aus und verzehrt die Aufrührer (Num 16). Giftige Schlangen überfallen das murrende Volk (Num 21, 4ff.), sogar die Gabe der Wachteln verkehrt sich für die Murrenden in Unheil (Num 11). Der Wendepunkt für diesen Umschwung im Einsetzen der Naturkräfte liegt in dem Geschehen am Sinai. Vorher hilft Jahwe der Schwäche und dem mangelnden Vertrauen der Israeliten dadurch, daß er ihnen Naturgaben zur Verfügung stellt. Nachdem das Volk am Sinai jedoch die Hingabe an Gott unter Treue und Gehorsam gelobt hat, wird jeder Abfall durch Murren, Ungehorsam oder Untreue sofort mittels der Naturkräfte und Naturmächte geahndet. Dies gilt nicht nur für einzelne Gruppen, die sich auflehnen und deswegen vernichtet werden, sondern auch für die Moseschar als ganze, als es nach dem Bericht der Kundschafter zu einer allgemeinen Revolte kommt. Da wird verhängt, daß

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sie solange in der Wüste wandern muß, bis die verantwortliche lebende Generation gestorben ist und eine neue Generation lebt, die an jener Revolte nicht beteiligt war. Der eigenmächtige Versuch, Palästina dennoch zu erreichen, scheitert kläglich (Num 14). Sogar Mose und Aron verfallen wegen des Mangels an Vertrauen und Gehorsam der Strafe des Ausschlusses von dem vor ihnen liegenden Ziel Palästina. Auch Mose darf das Land nur von ferne schauen; betreten darf er es nicht. Dieser Vorstellungskreis wird später von der Prophetie aufgegriffen. Nach der Eliaüberlieferung hat Elia im Gegensatz zum herkömmlichen Glauben oder zu den kanaanäischen Kulten dem kanaanäischen Gott Baal die Verfügungsgewalt über den Regen und die Fruchtbarkeit abgesprochen und sie Jahwe zugesprochen. Jahwe ist es, der den Regen gibt oder versagt und der dadurch für die Menschen Fruchtbarkeit oder Hungersnot als Heil oder Unheil bewirkt. Die großen Einzelpropheten aber haben in Naturkatastrophen mahnende oder warnende Plagen Gottes erblickt (Am 4, 6 ff.) oder das bevorstehende Vernichtungsgericht unter anderem in der Form derartiger Ereignisse erwartet (Ez 14, 12ff.). 3. Wie die Zusage von Naturgaben durch Gott sich auf den Menschen bezieht und wie Gott mittels Naturkräften und Naturvorgängen seinen Willen in der Menschenwelt durchsetzen will, so ist auch der Schöpfungsgedanke auf den Menschen bezogen. Mit seiner Hilfe soll die hohe und überragende Stellung des Menschen in der Welt umschrieben oder erläutert werden: Der Mensch ist das Ziel (Gen 1, 1—2, 4a) oder die Mitte alles Geschaffenen (Gen 2,4 b—25), fast den Himmelswesen gleich (Ps 8) und mit der Herrschaft über die Erde beauftragt. Es soll dargelegt werden, daß das Weltgefühl des glaubenden Menschen nicht von der Angst, sondern von zuversichtlichem Loben bestimmt ist (Ps 104). Der Mensch soll daran erinnert werden, daß für sein Leben maßgeblich ist, daß Gott der Herr alles Geschaffenen und der in der Welt gegenwärtig machtvoll Handelnde ist (Dtn 10,14; Jer 27, 5; Ps 24,1; 33; 148; Hi 12, 7—11). Der Mensch weiß ebenso, daß Gott Vergeltung üben kann, weil und sofern er Schöpfer und Weltregent ist (Prov 3, 19f.; 8, 22—31; 14, 31; 17, 5; 20, 12). Deuterojesaja fügt den Schöpfungsgedanken in die Eschatologie ein; weil Gott der Schöpfer ist, darf der Mensch dessen gewiß sein, daß er auch der endzeitliche Erlöser sein wird. Gleicherweise wird der Schöpfungsgedanke im Buche Hiob solchen Zwecken dienstbar gemacht20. Er dient der Klage über Gott, der dem 10

G. Fohrer, Das Buch Hiob, 1963, S. 517—519.

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leidenden Menschen das Leben nicht erspart hat (Hi 3, 20 ff.), und der Anklage, daß der Schöpfer sein Geschöpf vernichten will (Hi 7, 17f.; 10, 3.8—12). Damit wird die Botschaft Deuterojesajas in ihr Gegenteil verkehrt: Der Schöpfer ist zugleich der Zerstörer. Dagegen dient der Schöpfungsgedanke dem Eliphas dazu, unter Hinweis auf die unendlich überlegene Macht und Reinheit des Schöpfers die natürliche Schwäche, Ohnmacht und Unzulänglichkeit des Menschen zu begründen (Hi 4, 17—21). In anderer Weise sucht die Gottesrede dem Hiob das Unsinnige seines Verhaltens im Leide vor Augen zu führen, indem er an Hand der Beispiele, die alle menschliche Einsicht und alles menschliche Können übersteigen, auf seine Kleinheit hingewiesen und vor die Paradoxie von sinnvoller Ordnung und Undurchschaubarkeit gestellt wird (Hi 38, 1—40, 2.6—14). Ähnlich verhält es sich mit Hi 28 und Prov 8, nach denen der rationale Erkenntniswille der Weisheitslehre in der Welt vieles Wunderbare bemerkt, zugleich aber einsieht, daß sich ihm das eigentliche Weltgeheimnis entzieht. Dies gilt erst recht für Kohelet, für den das göttliche Walten zu tief verborgen ist, als daß er mit ihm in Berührung kommen könnte (Koh 3,10f.); hier führt der Schöpfungsgedanke zur Resignation. Demgegenüber begründet der die Unerreichbarkeit und Unfaßlichkeit Gottes ebenso betonende Verfasser der Elihureden mit dem Schöpfungsgedanken den für ihn wichtigen Satz, daß Gott gerecht und ohne Ansehen der Person richtet (Hi 34,19 f.). Ferner begründet er durch ihn wie Hiob die Gleichheit der Menschen (Hi 31, 15; 33, 6). In Hi 26, 5—9 wird aus ihm der tröstliche Gedanke entwickelt, daß Gott sogar über die Unterwelt Macht besitzt. In zwei anderen Zusätzen wird das schöpferische Handeln Gottes mit seinem Walten im Menschenleben in Beziehung gebracht: Nach Hi 26,10—14 sind die Schöpfungstaten nur Werke am Rande des eigentlichen Handelns Gottes im Menschenleben; nach Hi 36, 27—37, 13 ist das Naturwalten Gottes seinem Walten im Menschenleben untergeordnet und dient nur dazu, fördernd oder strafend auf Erden einzugreifen. Ungeachtet der Fülle der Gesichtspunkte bleibt die völlige Beziehung des Schöpfungsgedankens auf Leben und Geschick des Menschen gleich. IV. Die Korrelation

zwischen Gott und Mensch

1. Eine der Eigenarten des alttestamentlichen Glaubens ist seine personale Struktur. Sie charakterisiert den Glauben von der Zeit Moses an und wird nicht zuletzt durch die Propheten erhalten und verstärkt. Das Ziel des Glaubens ist das, was die Mitte des Alten Testaments bildet: die

Die Korrelation zwischen Gott und Mensch

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Herrschaft Gottes über den Menschen und die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch. Einerseits gilt das ganze Handeln Gottes an Völkern und Menschen als Ausdruck seiner Herrschaft über die Welt, wobei auch sein Walten in der Natur und durch die Natur einbezogen wird. Andererseits übt er seine Herrschaft nicht um ihrer selbst willen aus; vielmehr bildet sie die Voraussetzung und Grundlage für seine persönliche Gemeinschaft mit dem Menschen. Was verbindet all diese Elemente miteinander? Welche Beziehung besteht zwischen dem Handeln Gottes und der Entscheidung und dem Verhalten des Menschen in einem personal bestimmten Glauben? Wie können Herrschaft Gottes und Gemeinschaft mit Gott verwirklicht werden, da dies doch nicht unabhängig ist von der Entscheidung des Menschen, der unter dieser Herrschaft und in dieser Gemeinschaft leben soll? Wie verhält sich Gott, je nachdem die Entscheidung und das Verhalten des Menschen richtig oder falsch sind? Gewöhnlich beantwortet man solche Fragen, indem man den Gedanken der Vergeltung nennt: Belohnung für die richtige Entscheidung und das rechte Verhalten des Menschen, Bestrafung der Widerspenstigen und Frevler. Doch dieser Glaube an eine zweiseitige Vergeltung ist erst in der deuteronomischen Theologie klar ausgeprägt und später besonders für die Weisheitsliteratur kennzeichnend, die immer wieder einschärft, daß der Fromme Lohn zu erwarten hat, der Frevler dagegen Strafe. Denn sie setzt voraus, daß das Leben nach einer bestimmten Gesetzmäßigkeit verläuft, die der Mensch erkennen und befolgen kann. Danach muß eine gute Tat stets einen guten Erfolg nach sich ziehen, eine Missetat dagegen Unheil. Die Weisheitslehre steht und fällt mit dem Satz, daß Verhalten und Schicksal des Menschen einander entsprechen. Diese Entsprechung geht auf Gott zurück, der wegen seiner Gerechtigkeit das Gute belohnen und das Böse bestrafen muß. Eine andere Antwort geht von der Vorstellung aus, daß jede Tat eine Sphäre schafft, die den Menschen heil- oder unheilwirkend umgibt 21 . Eine gute Tat muß ihrem Charakter entsprechend glücken und einen guten Erfolg haben, eine schlechte dagegen Unglück und Unfrieden schaffen. Doch ist diese Auffassung im Alten Testament höchstens in Resten an21

J. Pedersen, Israel, I—II 1926, S. 336—377 u. ö; Κ. H. Fahlgren, Sedaqa nahestehende und entgegengesetzte Begriffe im Alten Testament, 1932, S. 4; K. Koch, Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament?, ZThK 52 (1955), S. 1—42.

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Entfaltungen

zutreffen. Sie wurzelt in der archaischen Gleichsetzung von Guttat und Heil und von Frevel und Unheil. Im alttestamentlichen Glauben ist dieser magische Mechanismus dem personhaften Handeln Gottes untergeordnet worden. Der enge Zusammenhang zwischen Verhalten und Schicksal des Menschen ist in dem Eingreifen Gottes aufgrund von Entscheidung und Verhalten des Menschen begründet. Immerhin zeigt diese magisch-dynamische Vorstellung, daß zwischen Verhalten und Schicksal des Menschen eine Korrelation besteht. Im alttestamentlichen Glauben ist es Gott, der diese Korrelation durch sein Eingreifen herbeiführt. So treffen wir letztlich auf die Korrelation zwischen dem Handeln Gottes und dem Handeln des Menschen. Darin liegt auch die Antwort auf die Fragen nach der Beziehung zwischen der Offenbarung und dem Handeln Gottes und der Entscheidung und dem Verhalten des Menschen in einem Glauben mit personaler Struktur, nach der Verwirklichung der Herrschaft Gottes und der Gemeinschaft mit Gott unter Berücksichtigung der Entscheidung des Menschen und nach dem Verhalten Gottes je nach der von Menschen getroffenen Entscheidung: Es besteht eine Korrelation zwischen dem Handeln Gottes, der Entscheidung und dem Verhalten des Menschen und den daraufhin wieder erfolgenden Maßnahmen Gottes. Zwischen den Absichten, den Entschlüssen und den Taten der beiden besteht ein Einklang, da alles mit Rücksicht oder im Hinblick auf den anderen geschieht. Es handelt sich also um eine lebendige persönliche Korrelation. Auch der Vergeltungsglaube beruht darauf; nur sucht er die Beziehung stärker als einen gesetzmäßigen Ablauf unter Betonung des Zusammenhangs von Ursache und Folge zu fassen. Das Ursprüngliche und Archaische mag einmal jener magisch-dynamische Mechanismus der vorjahwistischen Zeit gewesen sein, daß Guttat Heil schafft und Freveltat Unheil. Dieser magische Mechanismus ist im Jahweglauben gefallen, und an seine Stelle ist eine lebendige persönliche Korrelation getreten. Diese ist später im Vergeltungsglauben als gesetzmäßiger und mechanischer Ablauf systematisiert worden. Entscheidend für das Verstehen des Alten Testaments ist die Korrelation. 2. Um die Korrelation im einzelnen erfassen und darstellen zu können, ist es nützlich, sie in zwei Aspekte aufzugliedern und diese nacheinander zu behandeln. Der erste Aspekt umfaßt die Entscheidung und das Verhalten des Menschen als Reaktion auf das Handeln Gottes. Was damit gemeint ist, sollen einige Beispiele zeigen. a) An Hand der Überlieferungen des Hexateuchs wird die Struktur dieses Aspektes der Korrelation sogleich deutlich. Von den Patriarchen,

Die Korrelation zwischen Gott und Mensch

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die sicher historische Gestalten waren, hat man erzählt wegen der sog. „Götter der Väter". Es waren Sippengötter, ob man sie nun als Vätergötter oder als die nomadische Form einer El-Religion bezeichnen will. Die Erzählungen der Genesis lassen noch erkennen, wie es zu ihrer Verehrung gekommen ist: Sie wurden von den Patriarchen, den inspirierten Sippengründern oder Sippenführern, aufgrund einer Offenbarung angenommen. Diese Offenbarung stand an erster Stelle, danach erfolgte die Entscheidung, den sich offenbarenden Gott zu wählen und zu verehren. Der gleiche Vorgang hat sich bei Mose wiederholt. In den Erzählungen von seiner ersten Begegnung mit Jahwe sind die Elemente wie in der Patriarchenüberlieferung miteinander verbunden, wieder beginnend mit der Offenbarung oder Theophanie und der darauf folgenden sofortigen oder zögernden Entscheidung Moses. Daß der mosaische Jahweglaube nicht eine Spielart der Sippengötterreligion geworden ist, beruht auf Faktoren, die in diesem Zusammenhang außer acht bleiben können. Wichtig ist jetzt die Grundstruktur der Entscheidung des Menschen als Reaktion auf die vorhergehende Offenbarung Gottes. b) Die Propheten gehen überwiegend davon aus, daß Israel nach dem vorangehenden Handeln Gottes eine falsche Entscheidung getroffen hat, nämlich gegen Gott — eine Entscheidung, die sich verhängnisvoll auswirken wird: Ich habe Söhne großgebracht und aufgezogen, doch sie haben sich gegen mich aufgelehnt.

(Jes 1, 2)

Dieses Wort Jahwes in Jes 1 gibt geradezu den Grundton an, der in den meisten Prophetenworten laut wird. Er ist so bekannt, daß es kaum nötig sein dürfte, darüber viel zu sagen. Die Propheten sehen den größten Teil der Geschichte Israels unter solchen Vorzeichen. Es war eine Geschichte der Entscheidungen. Nach der Offenbarung und den helfenden Taten Gottes, die an erster Stelle stehen, sollte Israel sich zum Vertrauen auf ihn und zur Treue gegenüber ihm entscheiden und sich in den Versuchungen seiner Umwelt bewähren. Darin jedoch hat es versagt und sich falsch entschieden. Nach Hosea haben die Israeliten sich dem Baal geweiht, sobald sie das Kulturland betreten hatten, und wiederholten seither diese falsche Entscheidung für den Baal anstatt für Jahwe immer wieder. Nach Amos hat Jahwe Israel aus Ägypten nach Palästina geführt wie andere Völker zu ihren Wohnsitzen, hat das Land für es erobert und ist allein mit ihm von allen Völkern des Kulturlandes in ein enges Verhältnis getreten. Doch Israel hat sich nicht voll Dankbarkeit für Jahwe entschieden, son-

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dem sich gegen seinen Willen gewendet. Nach Jesaja war Jerusalem, als Jahwe Zion gründete und dort einen Grundstein legte, eine Stadt der Gerechtigkeit und eine treue Stadt. Doch auch ihre Oberschicht entschied sich voll Stolz und Hochmut falsch, so daß ihre Worte und Taten gegen Jahwe gerichtet sind. Also: immer eine negativ verlaufende Korrelation. c) Anders verhält es sich in vielen Psalmen. So ist der Dichter des Klagepsalms 13 des göttlichen Handelns zu seinen Gunsten so gewiß, daß er das Gelübde tut, Jahwe zu besingen, und das Gelübde sogleich erfüllt, indem er es ausspricht: Ich traue auf deine Verbundenheit, mein Herz soll über deine Hilfe frohlocken. Ich will dem Herrn singen, der sich meiner annimmt.

Dagegen bekennt sich der Dichter des Klagepsalms 22 zu Gott, nachdem dieser ihm wirklich geholfen hat. Er verkündet seine Entscheidung der Gemeinde: Mein Lied gilt deiner Treue in großer Versammlung. Meine Gelübde löse ich ein vor denen, die ihn fürchten.

Erst recht findet sich dergleichen in den Dankliedern, so in Ps 30: Ich will dich preisen, Herr, denn du zogst mich empor und ließest meine Feinde sich nicht freuen über mich. Herr, mein Gott, ich schrie zu dir um Hilfe, und du hast mich geheilt.

Oder Ps 66: Jauchzet Gott zu, alle Lande, besinget seines Namens Herrlichkeit, verherrlicht sein Lob! Sagt zu Gott: Wie staunenswert sind deine Taten!

An diesen Taten, für die alle Welt danken soll, erkennt man das Handeln Gottes an Völkern und Menschen. Man spürt darin seinen kabôd, d. h. ursprünglich: seine Wucht, die die Erde erfüllt, dann: seine Herrlichkeit und Majestät. Etwas davon sollen ihm der Dank und das Lob zurückgeben. Das ist der eigentliche Sinn des Dankens und Lobens: Gott den kabôd zurückgeben, mit dem er seine Taten gewirkt hat, also in lebendiger Korrelation mit ihm stehen.

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d) In der Weisheitsliteratur ist das Buch Hiob ein treffendes Beispiel für die Korrelation als Reaktion des Menschen auf das Handeln Gottes: die zweimalige Entscheidung des vom Unglück geschlagenen Hiob für Gott in der Legende vom frommen Hiob in Hi 1—2, die Klage und Anklage Hiobs gegen Gott und die Aufforderung seiner Freunde zum Bekennen der Schuld und zur Buße in dem folgenden Gedicht und die endgültige Entscheidung Hiobs im Anschluß an die Gottesrede. 3. Nach dem ersten Aspekt — der positiven oder negativen Entscheidung des Menschen im Anschluß an ein Handeln Gottes — fassen wir den zweiten Aspekt der Korrelation ins Auge: das Handeln Gottes als Reaktion auf die Entscheidung und das daraus folgende Verhalten des Menschen. Dafür wieder einige Beispiele. a) Die zweite jahwistische Quellenschicht des Hexateuchs, die ich die nomadische nenne, erzählt in der Genesis die Urgeschichte in eigentümlicher Weise. Da gerät der Mensch immer wieder in die Situation des Kulturlandes oder erzielt kulturelle Errungenschaften: Er lebt im Gottesgarten, schafft das Nomadentum mit Musikanten und Schmieden, entdeckt den Weinbau und baut Stadt und Tempelturm. Immer wieder aber vermißt sich das ungebärdige Geschöpf oder wird in die Lage versetzt, seine Grenzen zu überschreiten, sich göttliche Kräfte anzueignen oder den Himmel zu stürmen. Eine erste Möglichkeit bietet der Lebensbaum in Eden, der in einem anderen Strang der Überlieferung als der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse erwähnt wird und der ein nicht endendes Leben hätte geben können. Danach sind es die Ehen der Himmelswesen mit menschlichen Frauen, durch die göttliche Lebenskraft in das Menschengeschlecht fließt und aus denen infolgedessen die Riesen hervorgehen. Schließlich ist es der Bau von Stadt und Turm, den die Menschen dank ihrer vereinten Kräfte beginnen und nach dessen Vollendung ihnen nichts mehr unmöglich sein würde, was sie vorhaben. Aber nach jedem Schritt, der begonnen oder getan wird, greift Gott ein, um den Menschen in seine Schranken zu weisen und sein Geschöpf zu zähmen, indem er es aus dem Garten vertreibt, sein Lebensalter begrenzt oder die Menschheit zerstreut. Sein Handeln erfolgt immer aufgrund der menschlichen Vorhaben und steht in Beziehung zu ihnen. Soweit es ein strafendes Handeln ist, läßt sich sagen, daß die eine Tat „spiegelnde Strafe", wie sie im Alten Testament häufig begegnet, ein Ausdruck solcher Korrelation ist. b) In der Prophetie beobachten wir dies in der Schilderung der zweiten Begegnung Jesajas mit Ahas. Der Prophet bietet dem König ein Zeichen an, das ihm zeigen soll, daß Gott die Welt beherrscht und daß der König

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daher die Mahnung zum Vertrauen auf ihn beherzigen kann. Als Ahas es jedoch ablehnt, ein Zeichen zu erbitten, kündigt nach dieser falschen Entscheidung Jesaja ein Zeichen an, das Jahwe selbst geben und das natürlich ein Unheilszeichen sein wird. Die Antwort Gottes auf die Glaubenslosigkeit des Ahas ist Unheil: „Jahwe wird Tage bringen, die nicht gekommen sind seit dem Tage, da Ephraim sich von Juda getrennt hat." Sehr deutlich ist die Korrelation in Jes 1, 19—20 ausgedrückt: Wenn ihr willig seid und gehorcht, dürft ihr das Gut des Landes essen; wenn ihr euch aber weigert und widerspenstig seid, werdet ihr vom Schwert gefressen.

Gott handelt nicht ohne oder gegen den Menschen, er ist natürlich aber auch nicht von dessen Entscheidung und Verhalten abhängig. Vielmehr besteht zwischen dem Handeln beider ein Einklang. Die Willigkeit des Menschen und die Bereitschaft Gottes zur Vergebung gehören ebenso zusammen und bilden eine Einheit wie die Weigerung des Menschen und das darauf folgende Gericht. Es sind jeweils zwei Teile eines einzigen Vorgangs: der Rettung oder der Vernichtung des sündigen Daseins. c) Bleibt das korrelative Eingreifen Gottes aus, so entsteht die Situation, die sich in vielen Klagepsalmen widerspiegelt. Es ist die Klage des verfolgten Gerechten: Ich aber wandle in Unschuld, erlöse mich und sei mir gnädig!

(Ps 26,11)

Ich frage Gott, meinen Fels: Warum vergißt du mich? Warum muß ich in Trauer gehen, vom Feind bedrängt? (Ps 42,10)

Der Fromme kann in Anfechtung geraten, wenn er in seinem Leide das Glück der Gottlosen sehen muß, ohne daß Gott eingreift. Dann kann er wie Jeremía den Vorwurf erheben: Warum glückt das Treiben der Frevler, können alle, die treulos handeln, sicher sein?

(Jer 12,1)

Mit anderen Worten: Warum funktioniert die Korrelation nicht? Das ist auch die Frage, die das Leben der Verfasser von Ps 49 und Ps 73 erschüttert hat. Von ihnen hofft der erste auf einen gerechten Ausgleich nach dem Tode:

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Gott kauft mich von ihr (der Unterwelt) los und entreißt mich ihr (Ps 49,16) während der andere die Lösung in der Gemeinschaft mit Gott im Diesseits erblickt: Wen könnt' ich neben dir im Himmel suchen? Nichts außer dir begehr' ich sonst auf Erden! Wenn sich auch Leib und Seele verzehren, bleibt Gott doch allezeit mein Teil! (Ps 73,25f.) d) In der Weisheitsliteratur bildet das Eingreifen Gottes je nach der Entscheidung und dem Verhalten des Menschen die Grundlage für den zweiseitigen Vergeltungsglauben: Belohnung für den Gerechten, Strafe für den Frevler. Dies wird geradezu klassisch ausgedrückt in dem Weisheitsspruch: Heil dem Gerechten, denn (ihm) geht's gut, denn die Frucht ihrer Taten essen sie! Wehe dem Frevler, (ihm) geht's schlecht, denn die Tat seiner Hände wird ihm angetan!

(Jes 3, lOf.)

Daran entzünden sich wiederum der Protest Hiobs und die Skepsis Kohelets, so daß fast die ganze Weisheitslehre um die Frage der Korrelation zwischen dem Verhalten des Menschen und dem darauf folgenden Handeln Gottes kreist. Ja, für das ganze Alte Testament ist sie so wichtig, daß man geradezu an eine umfangreiche himmlische Buchführung denkt: Da ist ein Buch über die Taten der Menschen (Jes 65, 6; Mal 3, 16; Dan 7, 10), ein Buch über die Schicksale der Menschen (Ps 56, 9; 87, 6; 139, 16) und ein Buch des Lebens mit den Namen derer, die zum Leben bestimmt sind (Ex 32, 32f. I Sam 25, 29; Ps 69, 29; Dan 12, 1). Sie bieten besonders für den Glauben der jüngeren Zeit die Handhaben für das Eingreifen Gottes. 4. Bisher sind die beiden Aspekte der Korrelation zwischen der Offenbarung oder dem Handeln Gottes und der Entscheidung oder dem Verhalten des Menschen getrennt betrachtet worden. Doch oft sind sie mitteinander verknüpft, sei es in einfacher oder in mehrfacher Aneinanderreihung. a) Die einfache Aneinanderreihung zeigen drei Beispiele aus der prophetischen Wirksamkeit Jesajas. Zuerst seine Berufung zum Propheten. Da sendet ihn der Auftrag Gottes zu seinem Volk, das ständig den Willen Gottes hören und sein Handeln sehen soll, indem Jesaja ihm die göttliche Offenbarung in der jeweiligen Situation übermittelt. Aber diese Offen11 Theologische Grundstrukturen

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barung ergeht an ein Volk unreiner Lippen, für das sie zur Krise wird: Es soll hören und sehen, ohne zu verstehen und zu erkennen. Denn Unglaube und Sünde entfalten und steigern sich in Wechselwirkung mit der Offenbarung erst recht. Der Mensch steigert sich in seine Schuld hinein, so daß das Gericht unabwendbar wird. Daher erhält Jesaja auf seine Frage „Wie lange?" als Antwort die Ankündigung der völligen Vernichtung. Also: Offenbarung oder Handeln Gottes — Verhärtung Israels — Vernichtung als Folge. Ähnlich verhält es sich in der Androhung des Gerichtes in Jes 29, 9 f. Wenn Gott das Gericht vollstreckt, werden die Judäer zwar merken, daß etwas vor sich geht, es in seiner wirklichen Bedeutung jedoch nicht fassen. Sie werden wie betrunken und betäubt sein durch das, was geschieht und was sie nicht verstehen können. Das beruht zunächst auf ihrem Ungehorsam, der die Fähigkeit des Menschen, das göttliche Handeln zu verstehen, zerstört und abtötet. Außerdem bewirkt Gott ihre Verblendung und Betäubung, verschließt ihre Augen und verhüllt ihre Häupter, so daß sie sich immer tiefer ins Verderben verstricken. Also: Gottes Handeln — Unwilligkeit des Menschen — Betäubung durch Gott. Das gleiche Schema beobachten wir in der Beurteilung der Assyrer durch Jesaja. Zunächst hat Gott sie zu seinem Werkzeug bestimmt. Er pfeift sie aus der Ferne herbei (5, 26), damit sie Damaskus und Samaria besiegen (8, 1—4) und Juda verwüsten (7, 20). Aber in den letzten Jahren seiner Wirksamkeit muß Jesaja feststellen, daß die Großmacht eine andere Entscheidung getroffen hat. Sie will nicht ein gehorsames Werkzeug sein, sondern aus eigener Vollmacht handeln und mit den Völkern nach eigenem Gutdünken verfahren. So läßt Jesaja es den assyrischen König in 10, 8—14 wie in einer Regierungserklärung oder in einem Bericht über einen Feldzug erklären. Darauf wird nun wieder Gott entsprechend reagieren. Er wird das unbrauchbare Werkzeug zerbrechen und fortwerfen, er wird die Assyrer zerschlagen (14, 24—27). b) Diese Aneinanderreihung kann mehrfach erfolgen und die Korrelation damit auf größere Zusammenhänge ausgedehnt werden. So finden wir es schon in den Erzählungen von den Plagen, die über Ägypten und den Pharao gebracht werden, um die Freilassung der Israeliten zu erzwingen. Die Darstellung des Jahwisten22, bei dem Jahwe (und nicht Mose oder Aron) der Handelnde ist, bildet mit der Reihenfolge von 6 Plagen und der abschließenden 7. Plage der Tötung der Erstgeburt geradezu einen 22

Vgl. G. Fohrer, Überlieferung und Geschichte des Exodus, 1964.

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Vorläufer der prophetischen Geschichtsbetrachtung in erzählender Form. Nur der zeitliche Standpunkt des Erzählers ist verschieden. Während die Propheten sich im Zeitpunkt nach der letzten vorbereitenden Plage und vor dem endgültigen Schlag befinden, schildert der Jahwist in seinem Rückblick den ganzen Ablauf: die jeweilige Forderung Gottes, die Israeliten zu entlassen, und die Plage, danach die sofortige oder spätere negative Entscheidung des Pharao und daraufhin die erneute Forderung und Plage. Es ist interessant zu sehen, daß auch Am 4, 6—12 dieses Schema aufweist. Es ist ein in sich geschlossener Text, nicht eine Sammlung von selbständigen Sprüchen, und in v. 6—11 ein Rückblick auf geschichtliche Ereignisse, nicht eine Weissagung. In 4, 6—11 führt Amos ebenfalls 6 Plagen an: Hunger, Dürre, Durst, Getreidekrankheiten und Heuschrecken, Krieg und Pest, Zerstörungen (wohl durch Erdbeben). Doch nach den Plagen, die Gottes Handeln waren, hat Israel sich negativ entschieden: „Aber ihr seid nicht zu mir umgekehrt!". Also: Plage — falsche Entscheidung — neue Plage usw. bis zu dem bevorstehenden siebten und vernichtenden Schlag, dessen Ankündigung in v. 12 allerdings nur mehr eingeleitet wird. Eine ähnliche Schilderung findet sich in Jes 9, 7—20 und 5, 25—29. Sie befaßt sich wie Am 4 mit der Geschichte des Nordreiches Israels, die sie in vier Schritten durchmißt: Die erste Plage bestand in den Kriegsnöten, die die Philister und Aramäer gebracht haben (9, 7—11), die zweite in den Unruhen der Revolution Jehus (9, 12—16), die dritte im Bürger- und Bruderkrieg während der Wirren nach dem Sturz der Dynastie Jehus (9, 17—20) und die vierte in einem Erdbeben (5, 25). Jedesmal war Jahwes Hand noch ausgereckt, um abzuwarten, wie Israel sich entscheiden würde. Aber da das Volk zu dem, der es schlug, nicht umkehrte, und Jahwe Zebaot nicht suchte, erfolgte die nächste Plage, bis nunmehr der fünfte endgültige Schlag bevorsteht: die Vernichtung durch die Assyrer (5, 26—29). 5. Die Korrelation zwischen Gott und Mensch ist nach alledem ein Grundzug des alttestamentlichen Glaubens, der seiner personalen Struktur entspricht. Das bedeutet, daß das nach der richtigen Entscheidung des Menschen gewährte Heil kein Verdienst und rechtlich einklagbarer Lohn und daß die auf die falsche Entscheidung folgende Strafe kein juristischer Akt ist, sondern daß beides aufgrund einer persönlichen wechselseitigen Beziehung gewährt oder verhängt wird. Das Prinzip der Korrelation hat weiter zur Folge, daß die alttestamentliche Geschichte nicht als eine Heilsgeschichte, sondern als eine Entscheidungsgeschichte zu gelten hat und daß von da aus das Verhältnis des Men11*

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sehen zu Gott überhaupt in diesem Sinne der sich wiederholenden Entscheidungssituation gesehen werden muß. Schließlich soll das Ziel dieser Entscheidungsgeschichte die volle Herrschaft Gottes und Gemeinschaft mit Gott sein. Während die eschatologische Prophetie der exilischen und nachexilischen Zeit ihre äußere Verwirklichung in der Welt erwartet hat (wie Jes 2, 2—4) und damit gescheitert ist, verwirklichen sie sich nach der endgültigen Entscheidung Hiobs und der Auffassung des Dichters von Ps 73 im Leben des glaubenden Menschen hier und jetzt. V. Glaube als Handeln 1. Ein wesentliches Strukturelement des Jahweglaubens ist die sehr enge Verknüpfung von Glaube und Handeln 23 . Von Anfang an erscheint Jahwe als ein Gott ethischen Willens, ein Gott der Sitte und Sittlichkeit. Der Mensch kann ihm nicht im Kultus Genüge leisten und seinen Segen nicht auf diesem Wege erlangen. Vielmehr fordert Jahwe unbedingtes Vertrauen und völligen Gehorsam gegen seinen Willen. Er erhebt seinen Herrschaftsanspruch mittels ethischer Forderungen und wünscht die Entscheidung des Menschen f ü r sich mittels ihrer Anerkennung. Diese Forderungen betreffen das Verhältnis des Menschen nicht nur zu Gott, sondern auch zum einzelnen Mitmenschen und zur Gemeinschaft. Daher ist der Jahweglaube von Anfang an ein praktisch auszuübender Glaube des Handelns nach gottgewollten Lebens- und Verhaltensregeln. Der Dekalog in Ex 20, 1—17, der nach der Ansicht der Quellenschicht des Elohisten die Grundlage für das Verhältnis zwischen Jahwe und Israel bilden soll, zeigt diese religiöse Struktur in seinen Anordnungen f ü r das Verhalten gegen Gott und den Mitmenschen. Auch wenn nur seine drei ersten Verbote aus der Mosezeit stammen sollten, entspricht die Bedeutung, die der Elohist ihm beimißt, der alttestamentlichen Glaubensstruktur. Glaube und Handeln sind einander also aufs engste zugeordnet. Glaube an Gott ohne das dem göttlichen Willen gemäße Handeln im täglichen Leben ist für das Alte Testament ein leerer Wahn. Glaube besteht weder in der Annahme und Bejahung religiöser Lehren noch im religiösen Empfinden und Gefühl. Glaube ist vielmehr sowohl Vertrauen auf Gott, das 23

Zur alttestamentlichen Ethik vgl. J. Hempel, Das Ethos des Alten Testaments, 1964=; J. L'Hour, La morale de l'alliance, 1966; H. van Oyen, Ethik des Alten Testaments, 1967.

Glaube als Handeln

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Ehrfurcht, Hingabe und Liebe einschließen kann, und Unterwerfung unter seinen ethischen Willen als auch die stete praktische Ausübung dessen, was Vertrauen und Willensanerkennung in sich enthalten. Das Leben unter der Gottesherrschaft und in der Gottesgemeinschaft zielt ganz auf deren Verwirklichung im Dasein des Menschen und in seiner Umwelt als dem wesentlichen Element des Glaubens ab. Darum folgt für das Alte Testament nicht erst das rechte Handeln aus dem Glauben als ein weiterer Schritt. Vielmehr ist das rechte Handeln nach den gottgewollten Lebens- und Verhaltensregeln ein nicht herauslösbarer Bestandteil des Glaubens. Genau genommen, lassen Glaube und Handeln sich nicht nebeneinanderstellen und nicht isoliert betrachten oder leben, sondern bilden eine Einheit. Glaube ist Handeln, und rechtes Handeln ist nur dem Glaubenden möglich. Dies ist in der Erzählung von Gen 20 die selbstverständliche Voraussetzung sowohl Abrahams, der in der Stadt Gerar keine „Gottesfurcht" und daher kein ethisch verantwortliches Handeln vermutet, als auch des Königs Abimelech, der die Einheit von Glaube und Handeln demonstriert. Das Alte Testament ist voll von Beispielen für dieses Verständnis des Glaubens als des rechten, dem göttlichen Willen gemäßen Handelns. Noah glaubt, wenn er sich auf göttliche Anordnung hin in anscheinend unsinniger Weise daran macht, im Binnenland einen riesigen Schiffskasten zu bauen. Abraham glaubt, wenn er gehorsam seine Heimat, seine Verwandtschaft und seine Familie verläßt und sich zu einem unbekannten Land aufmacht und wenn er in der Erprobung durch Gott zum eigenhändigen Opfer seines Sohnes und Erben bereit ist. So kann und darf es weder einen Zwiespalt zwischen Glaube und Handeln geben noch die Beschränkung des Glaubens auf das innere Leben des Menschen, der äußerlich nach anderen Grundsätzen und Maßstäben handeln könnte. Wo sich dergleichen feststellen läßt, ist der Glaube unecht oder tot. Denn Glaube ist gottgemäßes Handeln zur Verwirklichung der Gottesherrschaft in der Gemeinschaft mit Gott. 2. Auf dieser Grundlage hat der alttestamentliche Glaube mannigfache Lebens- und Verhaltensregeln gebildet, sich die Lebensregeln der Weisheitslehre angliedern können und sich sogar in letzter Folgerung zu Vergeltungsglaube und Gesetzesfrömmigkeit verstiegen. Auch wenn man solche Haltungen wie die zuletzt genannten als Verirrungen ablehnen muß, weil sich in ihnen menschliche Konsequenzmacherei und menschliches Streben nach Sicherung vor Gott durchgesetzt haben, bleibt die Einheit von Glaube und Handeln in den alttestamentlichen Lebens- und Verhaltensregeln

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sichtbar. Diese begegnen in Reihen von gleichartigen Gebots- oder Verbotsreihen in apodiktischer Formulierung 24 . Entgegen einer noch immer vertretenen Auffassung enthalten solche Reihen mit 10 oder 12 apodiktisch formulierten Sätzen gewöhnlich kein „Recht" und keine „Gesetze". Sie können nicht als grundlegende Bewertungsnorm, als norma normans, gelten, weil sie nicht auf gesetzliche Einzelregelungen hin angelegt sind, sondern schlicht und einfach dem einzelnen Menschen ein bestimmtes Tun und Lassen befehlen oder empfehlen. Gesetze, die sich mit Handlungen, die in apodiktisch formulierten Regeln angeordnet oder untersagt sind, strafrechtlich befassen, sind unabhängig von diesen entstanden. Die apodiktisch formulierten Sätze können ferner nicht als Bestimmungsnorm, als in der Gerichtsverhandlung verwendbare Gesetze, gelten, weil sie keine rechtlichen Sanktionen vorsehen und keine schon begangene Tat voraussetzen, die zu ahnden sie herangezogen werden könnten. Vielmehr wollen sie auf den einzelnen Menschen einwirken, damit er sein Leben gemäß dem göttlichen Willen gestaltet. So ist der Dekalog in Ex 20, 1—17 keineswegs „Recht". Zu den meisten seiner Forderungen finden sich erst im sog. Bundesbuch entsprechende rechtlichgesetzliche Bestimmungen oder Prozeßvorschriften mit Angabe des Tatbestandes und der rechtlichen Sanktion. Diese Rechtssätze sind aber ebenso unabhängig vom Dekalog entstanden wie dieser von ihnen; sie sind vor allem aus dem kanaanäischen oder sonstigen altorientalischen Recht übernommen worden. In diesem Nebeneinander von Dekalog und sog. Bundesbuch drückt sich aus, daß ersterer gerade nicht als „Recht" betrachtet worden ist. Man muß ihn statt dessen als eine Reihe von Lebens- und Verhaltensregeln für Israel bezeichnen, die die Grundlage für das Lebensverhältnis zwischen Jahwe und dem Volk darstellt. Daran ändert die Einsicht nichts, daß der Dekalog keine ursprüngliche Reihe ist, sondern sekundär aus Sätzen mehrerer Reihen zusammengestellt wurde. Dies folgt aus den unterschiedlichen Satzformen, die in ihm begegnen. Man hat zwar mehrfach versucht, diese in eine gleichförmige Fassung zu bringen; aber jeder Versuch der Änderung, Kürzung oder Erweiterung eines jeweils großen Teils von ihnen ist ganz und gar willkürlich und zum Scheitern verurteilt. Statt dessen ist anzunehmen, daß die

24

Zum Folgenden vgl. im einzelnen G. Fohrer, Das sogenannte apodiktisch formulierte Recht und der Dekalog, in: Studien zur alttestamentlichen Theologie und Geschichte (1949—1966), 1969, S. 120—148.

Glaube als Handeln

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Dekalogsätze wenigstens drei verschiedenen ursprünglichen apodiktischen Reihen entnommen worden sind. Fünf Verbote in Sätzen mit je vier Hebungen können aus einer Reihe stammen, die die Pflichten gegenüber Jahwe und dem Nächsten behandelte: I II III IX X

Du Du Du Du Du

sollst sollst sollst sollst sollst

keinen anderen Gott haben. dir kein Gottesbild machen. den Jahwenamen nicht zu Nichtigem aussprechen. nicht als Lügenzeuge gegen deinen Nächsten aussagen. nicht nach dem Haus deines Nächsten trachten.

Drei Verbote in Sätzen mit je zwei Hebungen stammen aus einer Reihe, die auch in Jer 7, 9; Hos 4, 2 in vollerer Form verwendet worden ist: VI Du sollst nicht töten. VII Du sollst nicht ehebrechen. VIII Du sollst nicht stehlen. Zwei Gebote mit je drei Hebungen stammen aus einer Reihe, die auch in Lev 19, 3 vorausgesetzt ist: IV Gedenke an den Tag des Sabbats. V Ehre deinen Vater und deine Mutter. Ein anderer, der sog. kultische Dekalog liegt in Ex 34, 14—26 in der Quellenschicht des Jahwisten vor. In der Schlußbemerkung 34, 27—28 werden die im jetzigen Text stark erweiterten Sätze ausdrücklich als die „Zehn Worte" bezeichnet. Sie weisen zwei Grundformen auf, die im einzelnen variieren. Einmal finden sich vier positiv formulierte Anordnungen, die sich auf das Massotfest, den Sabbat, das Wochenfest und die Erstlinge der Ackerfrüchte beziehen. Sie befassen sich mit besonderen Tagen des Jahres, da auch die Darbringung der Erstlingsgarben nach Lev 23, 9ff. zumindest in der älteren Zeit nicht am Erntefest, sondern „am Tag nach dem Sabbat", also wohl am ersten Tag der Erntezeit, erfolgen sollte. Daher ist es durchaus möglich, daß sie einer Satzreihe mit Anordnungen für die besonderen Tage des Jahres entnommen sind, allerdings nicht mehr im ursprünglichen Wortlaut vorliegen: III V VI IX

Das Massotfest sollst du halten. Sechs Tage sollst du arbeiten, aber am siebten Tage ruhen. Das Wochenfest sollst du dir halten. Das Beste der Erstlinge des Ackers sollst du in das Haus Jahwes bringen.

Ferner lassen sich sechs negativ formulierte Anordnungen erkennen, von denen vier sich mit Fragen des Opferwesens befassen. Es handelt

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sich um die Verbote, vor Jahwe mit leeren Händen zu erscheinen, Schlachtopferblut zusammen mit Gesäuertem darzubringen, das Fleisch des Passa über Nacht aufzubewahren und ein Böckchen in der Milch seiner Mutter zu kochen. Wieder liegt die Annahme am nächsten, daß die Verbote einen Auszug aus einer Reihe über die Darbringung von Opfern darstellen: IV VII VIII X

Du sollst nicht mit leeren Händen vor mir erscheinen. Du sollst nicht schlachten das Blut meines Opfers zu Gesäuertem. Es soll nicht über Nacht bleiben das Schlachtopfer. Du sollst nicht kochen das Böckchen in der Milch seiner Mutter.

Die beiden ersten Verbote des jahwistischen Dekalogs entsprechen den beiden ersten Verboten in Ex 20. Vielleicht entstammen sie einer älteren gemeinisraelitischen Reihe, die sich in Juda und Nordisrael verschieden entwickelt hat: I Du sollst nicht niederfallen vor einem anderen Gott. II Gegossene Gottesbilder sollst du dir nicht machen. Abgesehen von diesen beiden Verboten ist demnach der jahwistische Dekalog aus anderen Reihen als der elohistische zusammengestellt worden, nämlich aus zwei Reihen über die besonderen Tage des Jahres und über Opferbestimmungen. Es mag sich um judäische Heiligtumsregeln gehandelt haben, die der Belehrung der Laien dienten. Eine sehr alte Zehnerreihe, die ursprünglich wohl in der nomadischen Frühzeit Israels beheimatet war und das Zusammenleben in der Großfamilie durch bestimmte Einschränkungen der sexuellen Betätigung schützen und umhegen sollte, ist in Lev 18,7—17 verarbeitet worden. Man hat sie zunächst als Jahweordnung proklamiert und als Verbot bestimmter Verwandtschaftsgrade für die dauernde Verbindung der Ehe uminterpretiert und sodann in ein allgemeines Gesetz gegen die Unzucht eingegliedert, um den Heiligkeitscharakter und die Kultfähigkeit der Gemeinde zu sichern. Eine im Anschluß an Ex 34 gebildete Reihe liegt in Ex 23,10—19 vor; sie ist später um die Bestimmung über das Sabbatjahr und das Gebot der dreimaligen Festfeier erweitert worden. In diesem Dekalog befassen sich die drei ersten Sätze mit dem Sabbat, dem Verbot anderer Götter und dem Massotfest. Die weiteren sieben Sätze folgen genau der Ordnung des jahwistischen Dekalogs in Ex 34, der darüber hinaus die drei ersten Sätze ebenfalls enthält. Daß Ex 23 von Ex 34 abhängig ist, ergibt sich daraus, daß die Reihenfolge in Ex 23 sich nicht an den ursprünglichen, sondern an den bereits erweiterten Text von Ex 34 anschließt und zumindest die Auffüllung in 34, 22 f. voraussetzt.

Glaube als Handeln

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In Lev 19, 3—12 läßt sich ein pluralischer Dekalog erkennen. Seine vier ersten und letzten Sätze sind mühelos zu bestimmen; sie sind im Anschluß an solche des Dekalogs von Ex 20 gebildet. Schwieriger ist es, die beiden mittleren Sätze in v. 5—8 und 9—10 zu erfassen. Doch kann man in ihnen wie in der Formulierung eines Teils der anderen acht Sätze den Geist der sozialethischen Forderungen des Deuteronomiums erkennen, auf dem der Nachdruck liegt. Demnach handelt es sich um eine Reihe, die jünger als das Deuteronomium ist. Sie bildet eine Lebens- und Verhaltensregel, die wegen des vorangestellten Elterngebots vielleicht als ein häuslicher „Katechismus" bezeichnet werden kann. Darauf folgt ein singularischer Dekalog in Lev 19, 13—18. Er ist das Beispiel einer Reihe, die in junger Zeit nach dem Muster älterer Reihen gebildet worden ist. Ihre sozialethischen Forderungen zum Schutz des Schwachen und des Nächsten überhaupt vor Übergriffen im täglichen Leben und vor Gericht gründen sich auf die prophetische und die deuteronomistische Theologie. So bildet die Reihe eine Art von frei verfaßtem „Katechismus" über das rechte Leben und Verhalten. Daß es daneben auch Kurzreihen gegeben hat, zeigen die Sätze über die Tabu-Personen in Ex 22, 17.20f.27 und über die Befreiung vom Kriegsdienst in Dtn 20, 5—8. Alle diese Beobachtungen und Feststellungen lassen deutlich erkennen, daß der alttestamentliche Glaube ein solcher des Lebens und Verhaltens nach den geheiligten, gottgewollten Regeln aufgrund der Einheit von Glaube und Handeln ist. 3. Die prophetische Verkündigung setzt die innere und äußere Einheit von Glaube und Handeln voraus und befaßt sich gerade weitgehend mit dem Zwiespalt oder Bruch zwischen beiden, der gerügt wird. Wo die Propheten nicht den Abfall von Jahwe und das Fehlen des Glaubens — damit auch des rechten Handelns — beobachten und anklagen, richtet sich ihre Rüge vor allem dagegen, daß man zu glauben behauptet, das entsprechende Handeln jedoch vermissen läßt. Ein großer Teil der prophetischen Anklage Israels oder einzelner Gruppen und Schichten beruht auf der Feststellung, daß das menschliche Handeln und Verhalten dem Glauben nicht entsprechen. Dies gilt für alle Lebensgebiete, sogar für das politische Handeln. Als Jesaja seinem König zu Beginn des syrisch-ephraimitischen Krieges entgegentritt, um ihn vor weiteren Kriegsvorbereitungen und dem Hilferuf an die Assyrer zurückzuhalten, ermahnt er ihn mit dem abschließenden Satz „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht!" zum rechten Handeln aus Glauben.

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Anstatt sich auf die Verteidigung Jerusalems vorzubereiten und doch zu zittern wie Espenlaub, anstatt die Assyrer herbeizurufen und dann doch als ihr Vasall die Freiheit zu verlieren, die er retten möchte, soll der König sich völlig anders verhalten: gar nichts unternehmen und doch zuversichtlich sein! Denn anstatt auf seine politischen und militärischen Maßnahmen soll der König auf Gott vertrauen, der die Weltgeschehnisse lenkt, und sein Handeln danach ausrichten. Anstatt menschliche Kräfte zu mobilisieren, soll er aus der Überzeugung leben und handeln, daß Gott die Weltgeschicke bestimmt. Auf solche Weise fordern die Propheten immer wieder ein dem Glauben gemäßes rechtes Handeln. Dem entspricht die Forderung nach dem Tun des Rechten und Guten im gesamten täglichen Leben, die dem Sich verlassen auf den „nur" religiösen Heilsweg des Kultus gegenübergestellt wird. Jesaja belehrt die dem Gericht Verfallenen darüber, daß nicht ein gesteigerter Kultus retten kann, sondern daß es gilt, Glaube und Leben wieder in Einklang zu bringen und darum Gutes anstelle von Bösem zu tun (Jes 1, 10—17). Amos stellt dem Kultus als einer bloß menschlichen Veranstaltung die Forderung nach ständigem, unaufhörlichem Handeln aufgrund von Recht und Gerechtigkeit gegenüber (Am 5, 21—25). Nicht die Heiligtümer soll man aufsuchen; vielmehr soll man Gott suchen, um leben zu bleiben. Gott suchen aber bedeutet: das Gute suchen und lieben (Am 5,4—6.14—15). Diese Gleichsetzung macht die Einheit von Glaube und Handeln besonders deutlich. Daß diese Grundhaltung nicht nur vom schuldig gewordenen Menschen zu fordern ist, sondern auch für den zu Gott umgekehrten oder von Gott erlösten Menschen gilt, ist gleichfalls nicht zu übersehen. Ein solcher Mensch vermag ja in der Gemeinschaft mit Gott zu leben und in seinem Dasein die Gottesherrschaft zu verwirklichen. Deswegen spricht Jer 31, 31—34 ausdrücklich von der neuen Verpflichtung der Erlösten und der neuen Einheit von Glaube und Handeln bei ihnen: Es kommt die Zeit, daß ich Israel eine neue Verpflichtung geben werde. Nicht eine solche wie ihren Vätern, als ich sie bei der Hand nahm und aus Ägypten führte, und die sie dann gebrochen haben. Sondern so wird die Verpflichtung sein, die ich nach dieser Zeit Israel geben will:

Glaube als Handeln

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Ich lege meine Weisung in ihr Inneres und schreibe sie in ihre Herzen. Dann will ich ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein. Dann brauchen sie einander nicht mehr gegenseitig zu belehren: Seid mit dem Herrn vertraut! Denn alle werden sie mit mir vertraut sein vom Kleinsten bis zum Größten. Denn ich vergebe ihnen ihre Schuld, gedenke ihrer Sünde nicht mehr.

Der Inhalt der neuen Verpflichtung wird der gleiche sein wie in der Mosezeit. Es geht nach wie vor darum, den göttlichen Willen zu tun und ein Dasein vor Gott zu leben. Dies ist möglich, weil Gott seinen Willen nicht mehr äußerlich als Gesetz aufschreiben läßt, sondern ihn ins Herz und Innere des Menschen legt. Gottes Weisung trägt der Mensch dann im Herzen, so daß sie ein Teil seines Daseins und er innerlich mit ihr eins wird. Dann fallen das Wissen um den göttlichen Willen und das Tun zu einer Einheit zusammen. Alle ohne Ausnahme in der Gemeinde Israel sollen in Vertrautheit und Gemeinschaft mit Gott leben. Zugleich werden sie seinen Willen tun, so daß ihr Glaube Handeln ist.

VI. Die Diesseitigkeit des Glaubens Die eschatologische Erwartung, die das göttliche Heil mit dem Hereinbrechen einer neuen Weltzeit verbindet, ist eine späte Form des Glaubens, die sich im Alten Testament mit Sicherheit erst bei dem unter dem Namen Deuterojesaja bekannten Propheten des Exils beobachten läßt 25 . In ihr tritt an die Stelle des prophetischen Entweder-Oder — Zerbrechen und Untergang des schuldigen Daseins oder Entscheidung für die Wandlung des Menschen durch Umkehr oder Erlösung — ein Vorher-Nachher: jetzt noch Unheilszeit, die bald von der ewigen Heilszeit abgelöst werden wird. Doch dem liegt letztlich der gleiche Gedanke zugrunde, der den prophetischen Glauben beherrscht: daß das Verhältnis des Menschen zu Gott über sein Dasein entscheidet und daß in jedem Augenblick die Frist abgelaufen sein kann, in der eine entscheidende Stellungnahme als Umkehr zu 25

Vgl. G. Fohrer, Die Struktur der alttestamentlichen Eschatologie, in: Studien zur alttestamentlichen Prophetie (1949—1965), 1967, S. 32—58.

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Gott möglich ist. Dadurch gewinnt das Hier und Jetzt des menschlichen Lebens eine überragende Bedeutung; sie entspricht dem ganz und gar diesseitigen Charakter des alttestamentlichen Glaubens. 1. Der Glaube an ein jenseitiges Leben nach dem Tode ist dem Alten Testament unbekannt. Man weiß nichts davon, daß die Toten auferstehen und durch das Dunkel des Todes in das Licht des ewigen Lebens eingehen sollen. Fast alle die wenigen Worte, auf die man sich zur Stützung der gegenteiligen Ansicht beruft, besagen nichts dergleichen. Ezechiel hat die Vision von der Wiederbelebung der Totengebeine; in ihr erlebt er im Geiste, wie die auf dem Felde verstreut liegenden Knochen wieder zu lebendigen Menschen werden, nicht aber zu seligen Auferstandenen (Ez 37,1—14). Es ist für ihn ein Symbol dessen, was sich an dem ins Exil deportierten Volke Israel ereignen wird. Die verschiedenen Psalmenverse, die man anführen könnte, drücken nur die Gewißheit aus, daß der Beter aus Gefahr oder Krankheit errettet wird und am Leben bleibt. Erst in der spätesten Schrift des Alten Testaments, die schon nahe an der Schwelle zum Neuen Testament steht, findet sich ein Auferstehungsglaube. In Dan 12, 2 wird angesichts des anscheinend bevorstehenden Weltendes die Auferweckung aller Toten verkündet — zu ewigem Leben oder zu ewiger Schmach26. Dieser Auferstehungsglaube ist im Rahmen der religiösen und theologischen Nebenströmung der Apokalyptik in dem sich bildenden Judentum des 2. Jh. v. Chr. entstanden. Diese Welt und das, was vor Augen liegt, erschien nicht mehr als letzte und einzige Wirklichkeit, sondern erhielt einen verborgenen Hintergrund. Der Jude lernte an ein jenseitiges Reich Gottes glauben und daran, daß der Mensch an diesem Reich durch den Tod hindurch Anteil haben könne. Auch die Weltgeschichte erhielt einen unsichtbaren Hintergrund und ein übersinnliches Ziel. Wie das Leben des einzelnen mündete sie in eine jenseitige Daseinsform: in ein überirdisches Reich Gottes. Doch noch zur Zeit Jesu waren diese Erwartungen nicht unangefochten. Die Sadduzäer lehnten die Lehre von der Totenauferstehung ab, weil sie nicht im Alten Testament enthalten sei. In der Tat wartet für die Vorstellung des alttestamentlichen Menschen auf alles Leben ein unerbittliches Ende. Man weiß zwar von einigen Frommen, die den Tod nicht zu schmecken brauchten, weil sie von Gott vorher entrückt und dann nicht mehr gesehen worden sind (Gen 5,24; II Reg 2,11). Im allgemeinen aber gilt der Tod als unabwendbar und endgültig und das Eingehen in die Unterwelt als das Schicksal des Menschen nach dem 26

Vgl. dazu O. Plöger, Das Buch Daniel, 1965, S. 171 f.

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Tode 27 . Der hebräische Ausdruck „Scheol" für diese Unterwelt zeigt, daß sie weder dem Hades der Griechen noch der Hölle oder dem Fegefeuer späterer Zeiten gleich ist. Der Ausdruck bedeutet eigentlich das Nicht-Land, das Un-Land, den Bereich, der im hebräischen Sinne nicht „ist", in dem es nichts Wirkendes, Aktives, Dynamisches gibt. Es ist ein Bereich völliger Kraftlosigkeit und daher auch Vergessenheit, der mit Tor und Riegel von allem Leben getrennt ist. In dieses Land der Vergessenheit geht das Schattenbild ein, das sich vom Gestorbenen loslöst, um dort ein gespensterhaftes Dasein zu führen. In der Unterwelt spielt sich in Schweigen, Stille und Kraftlosigkeit etwas dem früheren Dasein Ähnliches ab. Rang und Stand gelten weiter; man befindet sich in dem Zustand, in dem man das Diesseits verlassen hat. Die Könige thronen mit den Zeichen ihrer Würde, die Krieger erscheinen in ihrer Rüstung, der Prophet trägt seinen Mantel. Aber die Kraftlosigkeit der Schattenwesen schließt jedes wirkende und laute Leben aus. Daher können die Totengeister nur zirpen. Es gibt keine Gemeinschaft untereinander, so daß man nicht auf ein Wiedersehen mit anderen hoffen kann. Man weiß nichts von den Ereignissen in der Welt der Lebenden: Zu Ehren kommen seine Söhne — doch er weiß es nicht; sie sinken hin in Schande — er erfährt es nicht.

(Hi 14, 21)

Ebenso ist man von Gott getrennt: Wer in die Grube erst gefahren, hoffet nicht mehr auf deine Gnade.

(Jes 38,18)

Daran denkt der Beter, der Gott sein Leid klagt und ihn um Hilfe bittet, damit er ihn nicht sterben lassen möge. Wenn er seiner Krankheit erliegt, hat er nichts mehr zu erwarten. Es bleibt nur jenes schattenhafte Dasein in Dunkel und Vergessen: Kannst du an Toten Wunder tun, stehen die Schatten auf, um dich zu preisen? Rühmt man im Grabe deine Liebe und deine Treue in dem Totenreich? Wird deine Wundermacht im ewgen Dunkel kund, im Lande des Vergessens dein gerechtes Walten? 27

(Ps 88,11—13)

Vgl. vor allem F. Schwally, Das Leben nach dem Tode nach den Vorstellungen des alten Israel und des Judentums, 1892; F. Roux, La vie après la mort chez les Israélites, 1904; A. Bertholet, Die israelitischen Vorstellungen vom Zustand nach dem Tode, 1914; G. Quell, Die Auffassung des Todes in Israel, 1925; L. Wächter, Der Tod im Alten Testament, 1967.

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Außerdem hat Gott ja einen Anbeter weniger, wenn dieser Mensch stirbt: Die Unterwelt dankt dir ja nicht, der Tod kann dich nicht preisen!

(Jes 38,18; vgl. Ps 115,17)

Mit dem Tode ist alles aus: die Gemeinschaft mit Gott, das Zusammensein mit anderen Menschen, der Anteil am Leben. Das Ich des Menschen ist eben unauflöslich mit dem Diesseits verknüpft. Was er tut und läßt, denkt und sagt, glaubt und liebt, hat nur in diesem Leben Sinn und Wert. Mit seinem Tode erlischt alles. Zurück bleibt lediglich die Erinnerung an ihn und sein Werk. Sogar das Schattenbild in der Unterwelt ist offenbar nur ein Übergangsstadium. Es währt lediglich so lange, als man sich auf Erden an Person und Werk des Toten noch erinnert, als es noch Menschen gibt, die seinen Namen wissen und denen er vielleicht erscheint. Wenn dies nicht mehr zutrifft, ist es, als wäre er nie gewesen. Ein Mensch und seine Welt sind ausgelöscht: Wie eine Wolke schwindet und vergeht, so kommt nicht wieder, wer ins Grab gesunken. Nie kehrt er in sein Haus zurück, und seine Heimat sieht ihn nimmermehr. (Hi 7, 9—10)

Darum hängt der alttestamentliche Mensch am Leben, bevor er das Geschick erleidet, das aller Menschen harrt: Nur eine kurze Spanne Zeit ist mir beschieden; laß ab von mir, daß es mir leichter werde, bevor ich ohne Rückkehr hingeh' ins Land der finstern Todesschatten, ins Land des mitternächtgen Dunkels, wo Wirrsal nur und Chaos herrscht. (Hi 10, 20—22)

Welche Folgerung ergibt sich daraus? Da der Tod ein völliger Abschluß ist und in jedem Augenblick eintreten kann, wird das gegenwärtige Leben entscheidend. Der Mensch muß es so einrichten, daß es seinen vollen und tiefen Sinn schon jetzt erreicht. Nur im Diesseits kann er erleben und erfahren, was es zu erleben und zu erfahren gibt. Das Leben dient nicht der Vorbereitung auf ein Jenseits, sondern erhält seinen eigentlichen Wert durch den gegenwärtigen, unwiederbringlichen Augenblick. Gerade die Furcht vor dem Schattendasein in der Unterwelt läßt den alttestamentlichen Menschen den Wert und Sinn dieses Lebens inne werden. Auch Gottes Herrschaft beschränkt sich auf das Diesseits; auf dieser Erde, die die eine Welt Gottes ist, soll sie errichtet werden. Er ist ein Gott

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der Lebenden, nicht der Toten. Die Toten sind für immer von ihm getrennt, darum hält er sich an die Lebenden. Sie will er für sich gewinnen, sie sollen ihm dienen, sie seine Herrschaft anerkennen und verbreiten. Auf diese Weise erlangt das diesseitige Leben höchste Bedeutung. Seinen eigentlichen Inhalt aber erhält es durch den Glauben. Auch er hat mit dem, was nach dem Tode sein wird, nichts zu schaffen. Glaube und Jenseits haben nichts miteinander zu tun, Glaube und Diesseits gehören zusammen. Darum soll der Glaube das Leben des Menschen bestimmen. Der Mensch soll sein Dasein aus der Hand Gottes als Geschenk entgegennehmen, damit sich in ihm hier und jetzt ereigne, was es wahrhaft lebenswert macht: die Erfüllung des Diesseits durch den Willen Gottes, die Aufrichtung seiner Herrschaft in dieser Welt und die Gemeinschaft mit ihm im Menschenleben. 2. Von dieser Grundlage aus sieht der alttestamentliche Mensch die Welt und das Leben. Frei und offen steht er ihnen gegenüber, das Diesseits erhält seinen vollen Wert. Allerdings verherrlicht er es nicht. Er spricht es nicht heilig, preist es nicht als vollkommen und genießt es nicht um seiner, selbst willen. Weltseligkeit und Weltsüchtigkeit sind ihm fremd. Denn er weiß um das Schlimme, das ihn treffen kann, und um das Böse, das so oft geschieht. Der alttestamentliche Mensch lebt nicht um des Lebens selber willen, sondern weil es ihm gegeben oder auferlegt ist. Daher schätzt er es nicht gering und betrachtet es nicht als unwichtig. Er öffnet vielmehr Augen und Herz für alles, was es zu erleben gibt. Er kennt weder Weltschmerz und Weltmüdigkeit noch Weltverachtung und Weltflucht. Selbst Kohelet denkt nicht daran, sein Leben fortzuwerfen, weil es ihm keine Erfüllung bieten kann. Statt dessen fordert er, daß der Mensch sich an das halte, was ihm gegeben ist. Er erkenne, was „sein Teil" im Leben ist und genieße es, solange es ihm gewährt wird. Aber er tue das nicht in epikuräischer Sattheit, sondern in einer tätigen Existenz: Wohlan, iß dein Brot mit Freude, trink guten Mutes deinen Wein! An diesem deinem Tun hat Gott Gefallen. Zu jeder Zeit seien deine Kleider weiß, Öl fehle deinem Haupte nicht! Genieß das Leben mit der Frau, die du liebst, alle die Tage deines nichtgen Lebens! Das ist dein Teil an deinem Leben ja und Mühen,

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mit dem du dich unter der Sonne abmühst. Alles, was deine Hand zu tun findet, das tu mit Kraft! Es gibt kein Tun und Abrechnen mehr in der Unterwelt, in die auch du gehen mußt. (Koh 9, 8—10) Einerseits steht der Mensch dem Leben illusionslos gegenüber. Das Leid, das ihn trifft, empfindet er schmerzlich und bitter: Ich bin in Aufruhr, kann nicht schweigen, Tage des Elends überfielen mich. In Trauer geh ich, ohne Trost, vor allen Leuten klage ich mein Leid. Ich bin ein heulender Schakal geworden, zu den klagenden Straußen hab ich mich gesellt. Zum Trauerlied ward meiner Harfe Klang, und meine Flöte klagt und weint. (Hi 30, 27—31) Das Leid ist vom Leben ja nicht zu trennen. Die Unbilden des Wetters machen dem Menschen zu schaffen. Die Kälte läßt ihn nachts oft nicht schlafen, die Sommerhitze dörrt seinen Leib fast aus. Mit Schmerzen muß die Frau gebären, mit Kummer und Tränen sieht sie die Kinder ins Grab sinken. Nutzlos ist vielfach die Arbeit des Mannes, Dornen und Disteln trägt sein Acker, Trockenheit und Heuschrecken nehmen ihm die Ernte, Raubtiere fallen in seine Herde ein. Der Arme und Geringe sieht sich vom Reichen und Mächtigen bedrückt und seine letzten Kleidungsstücke gepfändet. Den Fremden, Witwen und Waisen versagt oft ein bestechlicher Richter jede Hilfe. Und wenn der Feind ins Land fällt, muß man sich auf das Schlimmste gefaßt machen. Erobert er eine Ortschaft, wird man einem grauenvollen und schmerzhaften Tode ausgeliefert. Ist der Sieger gnädig, so begnügt er sich vielleicht damit, allen ein Auge auszustechen oder einen Daumen abzuhacken; danach wird man als Sklave verkauft. Das Leben kann sehr schwer sein: Im Kriegsdienst lebt der Mensch auf Erden, als Söldner bringt er seine Tage hin. Ja, wie ein Knecht, der nach dem Schatten lechzt, und wie ein Tagelöhner, der den Lohn erwartet.

(Hi 7,1—2)

Doch ist es wenigstens immer ein Leben, in dem man Gott begegnen kann, und nicht jenes Schattendasein, in dem man sogar von ihm getrennt sein wird. Kommen nicht auch Leid und Not von Gott? Er ist doch der

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Die Diesseitigkeit des Glaubens

Urgrund allen Seins und Lebens, in dessen Hand der Mensch das Geschick der Erde weiß, in dem er die letzte und unmittelbare Ursache alles dessen sieht, was sein Dasein formt. Darum haben viele Menschen nicht gezögert, alles — auch das Schrecklichste und Furchtbarste — Gott selbst zuzuschreiben. Es kommt von dem Gott, der heilig und erhaben über der Welt thront, voll geheimnisvoller Absichten und verborgener Abgründe. Alles empfängt der Mensch aus seiner Hand und muß rückblickend erkennen: Du tatest deinem Knechte Gutes, Herr, nach deinem Wort. Bevor ich leiden mußte, ging ich irre, nun aber achte ich auf dein Versprechen.

(Ps 119, 65.67)

Der alttestamentliche Mensch fühlt sich auch bedroht durch die Erwartung einer Weltkatastrophe, in der das Chaos über ihn hereinbricht und die Grundlage seiner Existenz zerstört. Er fühlt sich durch die Unsicherheit bedroht, ob es morgen wieder Tag werden und die Sonne scheinen wird und ob im nächsten Jahr wieder Sommer und Ernte sein werden. Er ist bedroht durch die ungreifbare, heimliche und unbestimmte Angst, die Erdbeben und Naturkatastrophen in ihn gesenkt haben. Er ist erschreckt von den Geheimnissen und Rätseln der Natur, aus der ihm immer wieder etwas schreckhaft Unerwartetes entgegentritt. Er ist schließlich erfüllt von dem düsteren und angstvollen Glauben an Dämonen und unheimliche Gewalten, deren Wirken er überall in seinem Leben zu spüren meint: in Krankheit, Unglück und Not. So dringt es von allen Seiten auf ihn ein und droht seinen kleinen Lebensbereich zu verschlingen. Es ist wieder der Glaube, der ihn das ertragen läßt — der Glaube, daß Gott die Welt hält und trägt. Daher hat die Zusicherung Gottes in der Sintflutgeschichte solch hohes Gewicht (Gen 9, 13 ff.), am eindrücklichsten in der älteren Fassung: Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht sollen nicht aufhören!

(Gen 8, 22)

Steht der Mensch der Wirklichkeit illusionslos und sogar angsterfüllt gegenüber, nur gehalten durch seinen Glauben, so ist er andererseits für alles offen, was groß, wunderbar und schön im Diesseits ist. Voll Staunen und Bewunderung schaut er den kunstvoll gefügten Weltbau, der ihn die Größe seines Schöpfers ahnen läßt; so angesichts des Himmelsgewölbes: 12

Theologische Grundstrukturen

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Die Himmel rühmen Gottes Ehre, das Firmament verkündet seiner Hände Werk. Ein Tag ruft es dem andern zu, und eine Nacht verkündet es der andern. Ihr Schall durchtönt die ganze Welt, bis an der Erde Enden dringen ihre Worte:



dem Sonnenball schuf er ein Zelt im Meer. Und der strahlt wie ein Bräutigam, der aus der Kammer tritt, und freut sich wie ein Held, die Bahn zu laufen. Er geht am einen Himmelsende auf, läuft bis ans andre Ende um, nichts kann vor seiner Glut sich bergen". (Ps 19, 2—7) Angesichts der Erdscheibe kann der Dichter des Hiobbuches Gott die Frage stellen lassen: Wo warst du, als die Welt ich baute? Sag es mir doch, wenn du so weise bist! Weißt du, wer ihre Maße hat bestimmt, wer über sie die Meßschnur hat gespannt? Worin sind ihre Pfeiler eingesenkt, und wer hat ihren Grund gelegt beim Jubelruf der Morgensterne, beim Jauchzen aller Engelchöre?

(Hi 38,4—5)

Der wohlgefügte Bau der Erde ist auf Pfeilern errichtet; sie sind tief in das Urmeer eingesenkt, das sie von allen Seiten umgibt. Gott hat die Erde fest darin gegründet, so daß sie sicher steht. Wenn sie im Toben der Urgewalten einmal schwankt, hält er sie fest. Er weist dann das Urmeer, das die Erde bedroht, in seine Schranken wie bei der Schöpfung: Wer hat das Meer verwahrt, als es geboren, als sprudelnd es hervorbrach aus dem Schoß? Als ich ihm Wolken zum Gewände und Dunkelheit als Windeln gab? Als ich ihm seine Grenze setzte und hinter Tür und Riegel es verschloß und ihm befahl: „Bis hierher und nicht weiter! Hier soll sich legen deiner Wogen Trotz!"

(Hi 38, 8-11)

Auf der Erde selbst ist alles weise geordnet. Mancher Fromme hat sich gedrängt gefühlt, dies in einçm Psalm zu rühmen und Gott zu preisen:

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Die Diesseitigkeit des Glaubens Du bist's, der Quellen in die Täler rieseln läßt, sie fließen zwischen Bergen hin. Sie tränken alle wilden Tiere, die Zebras löschen ihren Durst. Die Vögel unterm Himmel nisten drüber und singen in den Zweigen. Du bist es, der die Berge tränkt aus seinen Söllern, das Land wird satt von deines Himmels Naß; der für die Tiere Gras läßt sprießen und Saatgrün für des Menschen Ackerwerk. Du bist's, der aus dem Boden Brot hervorbringt und Wein, der dann des Menschen Herz erfreut, so daß sein Angesicht vor Freude strahlt und Brot ihm Kraft verleiht.

(Ps 104,10—15)

Daher dankt man Gott für die Ernte, die er im Ablauf des Jahres schenkt: Du suchst die Erde heim, du tränkst sie und machest sie sehr reich. Mit einem Gottesbach voll Wasser bereitest ihr Getreide du. Du tränkst die Furchen, senkst die Schollen, du lockerst sie mit Regenschauern, segnest ihr Gewächs. Du krönst das Jahr mit deiner Güte, vom Überflusse triefen deine Spuren. Der Steppe Auen triefen, die Hügel gürten sich mit Jubel, die Berge kleiden sich in Schafe, die Täler hüllen sich in Korn. (Ps 65,10-14) Ebenso ist der Ablauf jedes Tages von Gott geordnet: Du bist es, der den Mond als Maß der Zeiten schuf, die Sonne anwies, wann sie heim muß. Du bringst die Finsternis, dann wird es Nacht; in ihr reget sich alles Wild im Wald. Die Löwen brüllen nun nach Beute, verlangen von Gott ihre Nahrung. Geht dann die Sonne auf, ziehn sie davon und strecken sich auf ihren Lagern aus. Nun geht der Mensch an seine Arbeit und bis zum Abend an sein Tagewerk.

(Ps 104,19—23)

Größtes Wunder der Schöpfung aber ist der Mensch, der im Diesseits eine besondere Stellung in der ihn umgebenden Natur einnimmt. Denn 12*

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der alttestamentliche Mensch hat sich nicht nur einfach als Teil der Natur empfunden, vom Tier nur gradmäßig unterschieden. Vielmehr versteht er sich als andersartig und seinsmäßig von allen natürlichen Dingen und Kräften unterschieden. Wie Gott die ganze Welt regiert, so ist der Mensch der von ihm bestellte König der Erde, so daß er darin den himmlischen Mächten nur wenig nachsteht: Wenn ich deinen Himmel schaue, deiner Finger Werk, Mond und Sterne, die du hast bereitet — was ist doch der Mensch, daß du seiner gedenkst, und das Menschenkind, daß du dich seiner annimmst?! Doch du gabst ihm fast göttliche Würde, kröntest ihn mit Ehre und mit Hoheit, machtest ihn zum Herrscher über deiner Hände Werk, legtest alles ihm zu Füßen! (Ps 8,4—7) Ein ungebrochenes Kraftgefühl und eine stolze Freude an dem, was der Mensch vermag, klingen in den letzten Worten wider. Freilich sind sie verbunden mit dankbarer Beugung vor dem allgewaltigen Herrscher der ganzen Welt. Denn er hat zum Staunen des Menschen dies schwache und ohnmächtige Geschöpf mit königlicher Würde gekrönt. Nicht auf sich selbst steht der Mensch, sein Selbstgefühl ruht auf Gottes Tat. Durch sie nimmt er eine Sonderstellung in der Welt ein: Er allein ist zur Gemeinschaft mit Gott berufen! Damit der Mensch auf Erden nicht einsam ist und alles allein erleben muß, gibt es Freundschaft zwischen den Menschen. Das Alte Testament erzählt die Geschichte von der Freundschaft zwischen David, dem strahlenden und siegreichen Helden, und Jonatan, dem Sohne jenes Königs Saul, der David neidisch und haßerfüllt verfolgt. Allein diese Freundschaft, die sich in jeder Not bewährt, aus jeder Gefahr einen Ausweg für den Freund findet und über den Schlachtentod Jonatans hinaus währt, macht die Namen der beiden Freunde unsterblich. David klagt um Jonatan: Wie sind die Helden gefallen im Kampfgetümmel! Ich trage Leid um dich, mein Bruder Jonatan, wie warst du mir so lieb! Deine Liebe war mir wundersamer als Frauenliebe!

(II Sam 1, 25-26)

Gott hat den Menschen aber auch als Mann und Frau geschaffen, damit einer im anderen die ihm entsprechende Ergänzung findet:

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Die Diesseitigkeit des Glaubens Das ist endlich Bein von meinem Bein, Fleisch von meinem Fleisch!

(Gen 2, 23)

Die Liebe zwischen Mann und Frau kommt besonders in den Liebes- und Hochzeitsliedern des Hohenliedes zum Ausdruck. Sie besingen den Zauber der Liebe, die Vorzüge der Liebenden, ihre Sehnsucht zueinander, ihre Leidenschaft und Hingabe, die Freude über ihre Verbindung. In einem dieser Lieder sagt das Mädchen zum Geliebten: Leg mich wie das Siegel an dein Herz, wie den Reif an deinen Arm! Stark ist wie der Tod die Liebe und die Leidenschaft streng wie die Unterwelt. Ihre Brände gleichen Feuerbränden, ihre Flammen erregenden Flammen. Wasserfluten können sie nicht löschen, Ströme spülen sie nicht fort. Gibt auch einer seines Hauses ganzen Reichtum, darf ihn jemand drum verachten?

(Cant 8, 6—7)

3. Die bisherigen Erkenntnisse bedürfen von anderen Gesichtspunkten aus der Ergänzung: Das diesseitige Leben ist vor allem eine große Forderung an den Menschen. Er kann sich ihr nicht dadurch entziehen, daß er sich in Innerlichkeit und Erbaulichkeit flüchtet, daß er sich in der Welt nur auf einen neuen Himmel und eine neue Erde vorbereiten möchte oder sich zu erbaulicher Betrachtung und Versenkung völlig von ihr löst. Ihm ist eine Verpflichtung auferlegt, die er ernsthaft ergreifen und verantwortungsbewußt ausführen muß. Es geht um nichts Geringeres als darum, daß Gott in dieser Welt und diesem Leben seine Herrschaft ausüben will. Daher ist es dem alttestamentlichen Menschen nicht gestattet, sich auf das rein religiöse Gebiet zurückzuziehen und Gottes Herrschaft auf Tempel, Priestertum und Gottesdienst zu beschränken. Er soll vielmehr seine ganze Kraft gebrauchen, damit der göttliche Anspruch in seinem eigenen Leben und seinem ganzen Lebensbereich anerkannt und erfüllt wird. Dies gilt nicht als hartes und vielleicht bitteres Gesetz. Das Wissen um die Gemeinschaft mit Gott und das Erleben der diesseitigen Werte als göttlicher Gaben ist vielmehr so groß, daß daraus unmittelbar die Verpflichtung gegen den Schöpfer und Geber solcher Gaben ebenso folgt wie die Bereitwilligkeit zu Gehorsam und Hingabe. Das ganze Tun und Lassen wird durch die göttlichen Willensforderungen bestimmt, die Antrieb und Norm sind. Der Mensch soll gerecht und gut

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handeln, wie Gott es tut. Darum soll er Vater und Mutter ehren und auf sie Rücksicht nehmen, für seine Kinder Entbehrung und Entsagung tragen, für den Verwandten und Nächsten eintreten. Er soll sich dem Freunde verpflichtet wissen, in jeder Gefahr für sein Volk zur Hilfe bereit sein, Recht und Sitte heilig halten. Er soll jedes Vergehen von der Lüge bis zum Mord verurteilen, Gutes nicht mit Bösem vergelten, sondern sich auch durch erlittenes Unrecht nicht daran hindern lassen, Gutes zu tun. Er soll den Fremden uneigennützig und gastfreundlich aufnehmen, selbst wenn es das eigene Leben kostet, jede Grausamkeit verachten, den Schwachen und Hilflosen mitleidig helfen und sich für den Bedrückten einsetzen. Diese Forderungen sind nicht selbstverständlich. Daher hebt sich der Ernst der Verpflichtung scharf von den Anschauungen der Völker in der Umgebung des Alten Testaments ab. Diese Lage spiegelt sich auf dem Gebiet des Rechts wider. In der milderen Festsetzung des Strafmaßes, in dem Fortfall der Verstümmelung als Strafe und in den Bestimmungen über den Sklaven werden der Wert des Menschen und die Achtung vor seinem Recht erstmalig anerkannt. Wichtiger noch ist eine andere Beobachtung. Indem all diese Forderungen als göttlicher Wille gelten, verlieren sie ihre Beschränkung auf eine geschichtliche Lage. Sie werden unbedingt und allgemein gültig. Das wird noch deutlicher, wenn der Mensch nicht auf einige Einzelfälle festgelegt wird, sondern auf wenige wichtige Grundsätze, nach denen er sein ganzes Handeln richten kann. Solche Grundsätze sind Verbundenheit und Treue, Recht und Gerechtigkeit. Nach ihnen soll der Mensch leben. So wird jeder in seinem ganzen Lebensbereich voll verantwortlich gemacht, ohne dem göttlichen Anspruch ausweichen zu können. Immer wieder erzählt das Alte Testament von Menschen, deren Leben trotz ihrer Fehler und Schwächen durch die Hingabe an Gott bestimmt gewesen ist und die in Friedfertigkeit und Selbstlosigkeit, Versöhnlichkeit und Brüderlichkeit seine Herrschaft verwirklicht haben. Wo das ganze Leben als von Gott gesetzte Aufgabe gilt, wo im Diesseits die Gemeinschaft mit ihm gesucht und seine Herrschaft errichtet werden soll, kann die Art und Weise des Gottesdienstes nicht gleichgültig sein. Wie das Handeln im täglichen Leben ist auch der Gottesdienst als Ausdruck des Glaubens verstanden worden, der beiden zugrunde liegt. Kultus und Ethos, Gottesdienst und rechtes Handeln werden miteinander verbunden. Das zeigt die belehrende Antwort des Priesters auf die Frage der Tempelbesucher:

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Die Diesseitigkeit des Glaubens „Herr, wer darf in deinem Zelt zu Gast sein, wer auf deinem heiigen Berge weilen?" Wer untadlig wandelt, tut, was recht ist, und gewissenhaft die Wahrheit sagt; wessen Zunge nicht verleumdet, wer auch einen nachteiligen Schwur nicht ändert; wer nichts Böses seinem Freunde zufügt, auf den Nächsten keinen Schimpf lädt; wem verächtlich der Verworfne ist, doch die Gottesfürchtgen ehrt; wer sein Geld nicht gegen Zinsen leiht, gegen Schuldlose keine Bestechung nimmt — wer so handelt, kommt nicht zu Fall!

(Ps 15)

Die Propheten müssen freilich feststellen, daß ihre Zeit von der Anerkennung Gottes in Leben und Gottesdienst weit entfernt ist. Sie sind empört, weil niemand mit den Forderungen Gottes Ernst macht. Man glaubt, seine Gemeinschaft im Gottesdienst zu haben, seinen Schutz erfahren und das Leben als seine Gabe annehmen zu können, ohne daraus die notwendige Folgerung zu ziehen und auch seine Gebote zu beachten. Die Propheten folgern daraus jedoch nicht, daß die gegenseitige Beziehung von Glaube und Diesseits nicht zutreffe; vielmehr liegt der Fehler bei den Menschen, die den verhängnisvollen Zwiespalt in ihrem Leben beseitigen und Gott ernst nehmen müssen. Sie schließen auch nicht, daß es besser sei, sich aus der nun einmal so bösen Welt zurückzuziehen und sie ihrem Schicksal zu überlassen, sondern wissen sich gerade dazu aufgerufen, in Zorn und Liebe um die Anerkennung des göttlichen Willens auf allen Lebensgebieten zu ringen. 4. Es erhebt sich die Frage, welche Bedeutung die Verbindung von Glaube und Diesseits beanspruchen kann. Sie besagt, daß sich dasjenige, was über das Dasein des Menschen entscheidet, hier und jetzt abspielt. Die Botschaft des Alten Testaments richtet sich an jeden Menschen und ruft ihn in die Entscheidung, weil jeder für sich selbst verantwortlich ist. Der schuldig gewordene Mensch fällt unter Gottes Gericht; er verfehlt den Sinn seines Daseins. Ihm müßte aber auch das Heil geschenkt werden können, ohne daß es an eine gewisse Zeit oder einen bestimmten Weltzustand gebunden wäre. Wie die Forderung gilt die göttliche Verheißung dem einzelnen Menschen — und das nicht erst in einer fernen Zeit und neuen Welt, sondern hier und jetzt. Im Diesseits ist der Mensch gefordert,

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hier und jetzt soll er seinen falschen Weg erkennen und umkehren, hier und jetzt sich ein neues Dasein schenken lassen und es leben. Ist ferner Gott der Schöpfer und Herr der Welt, so muß er im Diesseits herrschen und seine Herrschaft in ihm errichten. Es läßt sich weder in eine ungewisse Ferne verlegen noch auf einen bestimmten Raum beschränken noch mit irgendeinèr Kultur gleichsetzen. In dieser Welt aber ist Gottes Herrschaft nicht sichtbar und greifbar; vielmehr ist sie im Glaubenden lebendig. Gottes Herrschaft kommt nicht in irgendeiner Zukunft oder verbunden mit einer Umwandlung dieser Welt, sondern ist für jeden einzelnen Menschen in der Kraft des Glaubens hier und jetzt im Diesseits da. Wenn ein Mensch in Gemeinschaft mit Gott lebt, ist für ihn auch Gottes Herrschaft auf Erden wirksam und mächtig. Insgesamt bedeutet die Diesseitigkeit des alttestamentlichen Glaubens seine Gegenwartsbezogenheit und läßt die verschiedenen Aspekte der Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft als deren jeweilige Gegenwärtigkeit verstehen: Diesseitigkeit der personalen Beziehung zwischen Gott und Mensch als gegenwärtige Glaubensstruktur, Diesseitigkeit der unmittelbaren Beziehungen zwischen Gott und Mensch als Gegenwärtigkeit dieser Beziehungen, Diesseitigkeit des göttlichen Handelns in Leben und Geschick von Völkern und Menschen sowie in der Natur und durch die Natur als Gegenwärtigkeit solchen Handelns und Diesseitigkeit der Korrelation zwischen Gott und Mensch als Gegenwärtigkeit des im Einklang miteinander geschehenden Handelns und Sichentscheidens.

7. Kapitel ANWENDUNGEN I. Der Sinn der Urgeschichte 1. Viele Jahrhunderte hindurch hat das Verhältnis der Urgeschichte, also der Erzählungen am Anfang der Genesis, zu den Erkenntnissen der Naturwissenschaft keine Frage bedeutet; für manche Menschen trifft dies heute noch zu. Es ist für sie wirklich alles so gewesen, wie das Alte Testament es berichtet. Aus dem Urchaos schuf Gott die Welt in sechs Tagen, in zwei großen Dreiklängen. Der erste umfaßt das Weltall: Licht—Himmel—Erde und Meer, der zweite ist in ähnlicher Weise auf die Erde bezogen: Gestirne — Wassertiere und Vögel — Landtiere und Mensch. Der Mensch ist der Herrscher über die anderen Geschöpfe, geschaffen nach der Ähnlichkeit Gottes. Am siebten Tag herrscht die große Ruhe. Das begann, wenn wir einer 250 Jahre alten Berechnung glauben wollen, am 26. Oktober des Jahres 4004 v. Chr., vormittags 9 Uhr, nach anderen Rechenkünsten schon im Jahre 4128. Seither, so müßte man annehmen, wölbt sich über der flachen, runden Scheibe der Erdoberfläche der Himmel wie ein Gewölbe — genauso, wie es sich dem Auge des naiven Menschen an einem wolkenlosen Tage darstellt und wie es nachts mit leuchtenden Sternen besetzt scheint. Oder war es anders? So müßte man an Hand der zweiten Erzählung in Gen 2, 4 b ff. fragen. Da ist der Urzustand nicht ein wässeriges Chaos, sondern eine wasserlose Steppe, in dei nichts gedeihen kann und die erst das notwendige und lebenfördernde Wasser erhalten muß. Es wird keine bestimmte Zeit angegeben, innerhalb deren alles geschieht. Die Schöpfungsordnung ist anders: Zuerst wird der Mensch geschaffen, aus dem Erdenstaub geformt und von Gott angehaucht, danach der paradiesische Garten mit Bäumen aller Art — darunter der des Lebens und derjenige der Erkenntnis des Guten und Bösen. Es folgen Tiere und Vögel (aber keine Fische), denen der Mensch Namen gibt, unter denen er aber vergeblich nach einem Gefährten f ü r seine Einsamkeit sucht, und daher schließlich aus seiner Rippe die Frau — als Bein von seinem Bein und Fleisch von seinem Fleisch. Doch der paradiesische Urzustand ist nicht gebliefcen. Die sprechende

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Schlange verführt die Frau und diese den Mann. In Ungehorsam und Sünde rauben sie sich das verbotene Wissen, um wie Gott zu sein, aber es ist wie ein Feuer, das die ganze Welt ergreift. In fast grotesker Ironie wird erzählt, wie der Mensch sich verstecken muß und zu seiner Verteidigung die Schuld auf andere schiebt. Dann folgt der Fluch: die Feindschaft zwischen Mensch und Schlange, die Unterordnung der Frau unter den Mann und das schmerzvolle Gebären, die Bearbeitung des verfluchten Ackers durch den Mann im Schweiße seines Angesichts; und am Ende wartet nach der Vertreibung aus dem Paradies der Tod. Nach diesen ersten Erfahrungen ist die Sünde weiter gewachsen. Mit Kain und Abel kommt der Mord in die Welt und die ihn sühnende Blutrache. Der Acker trinkt das Bruderblut, daher wird ein Teil der Menschen ihm entfremdet und lebt in Städten. Die Schöpfung der Kultur ist das Werk derer, die vom Acker fortmußten und neue Lebensinhalte suchten. Danach siegt der Tod langsam über das sich noch wehrende Leben. Er setzt sich allmählich durch, so daß die Lebensdauer der Menschen abnimmt. Während Adam noch 930 Jahre alt wurde, waren es bei Noahs Vater nur noch 777 Jahre. Von da an nähert sich die Menschheit dem Zustand, in dem sie sich heute befindet. Lange hat Gott gegenüber dem Bösen stillgehalten, ohne die sündig gewordene Welt zu vernichten. Aber einmal hat er eingegriffen. Es war der zerstörende Einbruch der Sintflut, als alles nur noch böse war. Nur Noah und seine Familie wurden gerettet. Doch danach wollte Gott dergleichen nicht mehr und setzte sich selbst in den Jahreszeiten eine Schranke. Er hat den völligen Vernichtungswillen aufgegeben und eine bleibende Ordnung für das Leben auf der Erde festgesetzt. Allerdings ist sie härter als die frühere. Die Sünde ist wirklich nicht aus der Welt geschaift. Aus Noahs Nachkommen entsteht die Menschheit, nach seinen Söhnen in drei große Gruppen gegliedert. Ihr Charakter lebt in ihren Nachkommen fort, ebenso Fluch oder Segen der Väter, wie besonders an dem schamlosen Kanaan zu ersehen ist. Trotz der ursprünglichen Verwandtschaft aber verstehen sich die Menschen bald nicht mehr. Sie wollten einen riesigen Turm bauen und den Himmel stürmen. Da fuhr Gott hernieder und verwirrte ihre Sprache, so daß sie sich nicht mehr verständigen konnten und sich zerstreuten. Die Völker sind die durch die Sünde hervorgerufenen Grenzen des Menschen. Haben diejenigen Recht, die daran festhalten und erklären: „Ja, so war es?" Die Grundlagen dieses Weltbildes sind doch anscheinend durch die

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Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft nicht nur in Frage gestellt, sondern gänzlich aus den Angeln gehoben worden. Diese Wissenschaft zeigt uns den Aufbau eines ganz anderen Weltalls als jener Erdscheibe mit dem Himmelsgewölbe; statt dessen vielmehr Milchstraßen, Sonnen, Planeten und Monde in wahrhaft astronomischen Ziffern; ihren Aufbau aus Stoffen aller Art und deren Aufbau wieder aus Molekülen, Atomen und den Einzelteilen der spaltbaren Atome. Es ist nicht einmal der Gedanke von der Hand zu weisen, daß es in einem oder mehreren der vielen anderen Sonnensysteme einen Planeten gibt, auf dem Leben und menschenähnliche Wesen existieren. Die Wissenschaft erforscht die Gesetze des Geschehens, die Bewegung himmlischer und irdischer Körper nach Beharrungsvermögen und Schwerkraft; die Umwandlung der Energie, des Arbeitsvermögens; den Stoffund Energieaustausch zwischen den Lebewesen und ihrer Umgebung. Die Wissenschaft erzählt uns die Geschichte der Natur, den Wechsel von Land und Meer auf der Erdoberfläche; die Entstehung und Abtragung von Gebirgen im Verlauf von Jahrmillionen; die Ausbreitung und Umwandlung von Pflanzen- und Tierarten. Sie untersucht die Zusammensetzung von Gesteinen, Erdboden, Wasser und Luft; die Vielheit der Pflanzen und Tiere und ihre Verwandtschaftsverhältnisse; ihren Aufbau aus Organen, Geweben, Zellen, Protoplasma und Kernen, Chromosomen und Genen. Die Wissenschaft stellt fest: Der Bestand der Erde, wie sie jetzt mit ihren Ländern und Meeren, ihren Pflanzen, Tieren und Menschen vor uns liegt, ist in einer langen Geschichte geworden, auf langen Wegen, mit vielen Umwegen, unter der Herrschaft der Naturgesetze. Damit ist der enge Rahmen des Weltbildes, das die biblische Urgeschichte voraussetzt, in der Tat zersprengt. Es läßt sich nicht verheimlichen, daß die Fortschritte der Naturwissenschaft und ihre Anwendung auf immer weitere Gebiete des Lebens einen Zwiespalt und Gegensatz offen haben zutage treten lassen: den Konflikt zwischen Glauben und Forschen, Glauben und Wissen. Die Urgeschichte ist eine der Stellen, in deren Verständnis der Konflikt zum Vorschein kommt. An dieser Stelle muß daher die Auseinandersetzung und Klärung beginnen. Gelingt es, diese Geschichten in ihrem eigentlichen Sinn zu verstehen, so ist damit ein Weg für die Möglichkeit des Glaubens in unserer naturwissenschaftlich-technischen Welt überhaupt gebahnt. 2. a) An erster Stelle ist zu überlegen, woher die Erzählungen der Urgeschichte stammen und was sie ursprünglich bedeutet haben. Es zeigt sich sogleich, daß ein Teil von ihnen nicht aus Israel herrührt, sondern von

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anderswoher ins Alte Testament aufgenommen worden ist. Es handelt sich um mythische Stücke und Motive, die man in der Urgeschichte verarbeitet hat; sie stammen vor allem aus dem sumerisch-babylonischen Bereich. So weist der erste Schöpfungsbericht mehrere enge Beziehungen zum Mythos auf: Wasser und Finsternis als Merkmale des Chaos, die Entstehung der Welt durch Spaltung der Urflut, den Aufbau des ganzen Weltbildes. In der zweiten Schöpfungs- und Paradiesgeschichte sind einzelne Züge mesopotamischen Ursprungs: der aus der Erde gebildete Mensch, der von himmlischen Wesen bewachte heilige Hain, die Vorstellung von der Lebensspeise, die Verführung des Mannes durch eine Frau, das Nichterlangen der Gottgleichheit. Hinzu kommen andere Züge, die ihren Ursprung nicht in dem wasserreichen Gebiet des Zweistromlandes haben, sondern aus Schöpfungsmythen stammen müssen, wie man sie sich in der öden Steppe erzählt hat. Längst erkannt ist sumerisch-babylonische Herkunft der Sintflutgeschichte, die im Gilgameschepos erzählt wird. Nach ihm hat der Sintflutheld Unsterblichkeit und Gottgleichheit erlangt, indem er sich siegreich durch die Wasserfluten hindurchgerettet hat. Auch andere Erzählungen enthalten mythische Motive. Im ersten Teil der Kain-Abel-Geschichte hat es sich ursprünglich um ein rituelles Töten gehandelt; darauf folgte die symbolische Flucht des Totschlägers, der durch eine Marke geschützt wurde, die seinen sakralen Charakter anzeigte. Die Liste der Urväter mit den langen Lebensjahren geht auf den Sintflutmythos zurück, in dem sie als die Könige vor der großen Flut erscheinen. Die Geschichte von den Riesen, die aus Ehen zwischen Göttersöhnen und Menschentöchtern hervorgangen sind, stammt aus einem Mythos über gigantische und halbgöttliche Wesen, die sich gegen die Gottheit auflehnten und deshalb in die Unterwelt hinabgestoßen wurden. Angesichts dieser ziemlich langen Liste ist es nötig, sich darüber klar zu werden, was der Mythos eigentlich ist. Es ist um so nötiger, als das Wort Mythos — auf die Bibel angewendet — einen nicht gerade guten Klang erhalten hat. Wenn man sagt, daß eine Erzählung ein Mythos sei, verbindet man damit nur zu leicht die Vorstellung, daß das Erzählte unzutreffend und für einen einigermaßen klugen Menschen unglaubwürdig sei. Von mythischen Stücken und Motiven in der Urgeschichte zu sprechen, bedeutet daher für viele, die Bibel nicht mehr als Wahrheitsquelle anzusehen, sondern als eine Sammlung phantastischer Erzählungen für geistig

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harmlose Menschen. Man versteht dabei unter Wahrheit gewöhnlich eine geschichtlich oder naturwissenschaftlich festliegende und objektiv erweisbare Wahrheit. Aber solche Art von „Wahrheit" ist nicht die einzige für den Menschen bedeutsame, nicht einmal unbedingt die höchste Art von Wahrheit. Es gibt geistige und seelische Wahrheiten, deren Gehalt tiefer reicht als bei jenen, die auf äußeren Nachweisen beruhen. Hierzu gehört der Mythos. Der Mythos spielt in der Welt der Götter, zumindest haben die Götter entscheidenden Anteil am erzählten Geschehen. Dieses Geschehen wird zwar in der Form eines einmaligen, meist urzeitlichen Ereignisses dargestellt, ist aber eigentlich ein typisches, das sich stets wiederholt oder wiederholen kann. Es wird durch das Mittel der Personifikation und der Darstellung von Götter- oder Heldenschicksalen in einer von allerlei göttlichen Mächten erfüllten Welt veranschaulicht und faßbar gemacht, während es in Wirklichkeit um die Daseinserfahrung und -haltung des Menschen in dieser Welt geht. Daher meint der Mythos eigentlich ein inneres Geschehen. Die objektive Welt bleibt, was sie war, doch sie wird durch eine Wandlung im erkennenden menschlichen Subjekt wahrgenommen, als ob sie verwandelt sei. Der Mythos umschließt sowohl die Infragestellung der geltenden Formen und des Gebundenseins an sie als auch die unbesiegliche und unerschöpfliche Freude am Leben. Er umfaßt Aufgang und Niedergang, die zusammen erst das Ganze des Lebens bilden, so daß an Stelle von Leben und Tod, die miteinander kämpften, das wahre Sein erscheint, das von den einzelnen Begebnissen nicht berührt wird. Der Mythos sucht dabei den Weg vom vordergründigen Einzelnen zum hintergründigen Ganzen zu offenbaren, damit der Mensch ihn gehen kann. Da es also nicht darum geht, daß dies oder jenes auf Erden getan wird, sondern zuvor im Menschen selbst das Entscheidende geschieht, scheinen die Ereignisse unwirklich und phantastisch, auf einer nahezu traumhaften Bühne spielend. Sie reichen in die Tiefen des Menschen, wo Widerstände überwunden und Kräfte geweckt werden, die der Verwandlung des Menschen und durch ihn der Welt dienen können, sobald die unbesiegliche Kraft des Lebens und seine innere, unzerstörbare Ewigkeit in wechselnden Formen erfaßt wird. Der Mythos steht oft mit dem Ritus in Verbindung. Er ist dann Gestaltung eines mächtigen Geschehens als eine Art Begehung im Wort. Wie er typisches Geschehen in Gestalt von Einzelschicksalen veranschaulicht, so wird dieses Geschehen durch die Begehung im Ritus vergegenwärtigt und hervorgerufen, ja gewissermaßen magisch bewirkt. Mythos und

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Ritus haben die Aufgabe, diejenigen Symbole zu liefern, die den Menschen vorwärtstragen, und den anderen Bildern entgegenzuwirken, die ihn zurückhalten wollen. Sie lehren ihn, der Vergangenheit abzusterben und sich der Zukunft zu öffnen, oder entkleiden ihn seines privaten Wesens und hüllen ihn in den Mantel seiner Berufung. Daran läßt sich der Maßstab geschichtlicher Wahrheit nicht anlegen; in Mythos und Ritus geht es nicht um ein historisches Wissen, sondern um ein machtvolles Handeln und Geschehen. Ebensowenig hat der Mythos mit der Naturwissenschaft zu tun; er bildet auch nicht ihren primitiven Anfang. Denn er sucht nicht nach natürlichen Ursachen und Kräften und kennt keine naturwissenschaftlich begründeten Handlungen. Daher hat die von Mythen herkommende oder mit mythischen Motiven erfüllte alttestamentliche Urgeschichte überhaupt nichts mit Naturwissenschaft zu tun und hat auch in jener alten Zeit durchaus nicht beansprucht, naturwissenschaftliche Erklärungen zu geben. Das wird besonders daran klar, daß es im Alten Orient neben und unabhängig von den Mythen sehr wohl die Anfänge einer Naturwissenschaft im weitesten Sinne gegeben hat, ohne daß die Mythen deswegen verschwanden. Gewiß ist das im Mythos erzählte Geschehen in die Formen des damaligen Wissens um Welt und Leben gekleidet, das Geschehen selbst aber hat nichts mit Wissenschaft zu tun; wir können den Mythos also nicht gegen seinen Willen und seine Absicht dazu benutzen, uns solche Kenntnisse aneignen zu wollen. Wir dürfen aus der alttestamentlichen Urgeschichte, die von Mythen herkommt, keine naturwissenschaftlichen Kenntnisse beziehen wollen. b) An zweiter Stelle ist zu fragen, was im Alten Testament aus diesen Mythen geworden ist und wie man verfahren ist, als man sie übernommen hat. Die Voraussetzungen, die dazu geführt haben, daß die Form des Mythos zum Ausdruck menschlicher Daseinserfahrung und -haltung entstand, fehlen im alttestamentlichen Glauben. Er beruht nicht auf Vielgötterei und Magie. Wirklicher Mythos setzt wenigstens zwei Götter als Spieler und Gegenspieler voraus. Das Alte Testament aber kennt nur den einen wirklichen Gott, neben dem kein anderer Macht hat oder besteht. Da er allein Recht und Anspruch auf Verehrung hat und es außer ihm nur untergeordnete göttliche Wesen gibt, kann ein eigentlicher Mythos gar nicht entstehen und bestehen. In der Gemeinschaft mit diesem Gott benötigt der Mensch zudem die helfenden Symbole von Mythos und Ritus nicht. Denn Gott selbst ist es, der den Menschen von seiner eigenen Vergangenheit erlösen und vorwärtstragen kann.

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Daher sind im Alten Testament nicht einfach fremde Mythen als ganze übernommen worden, sondern nur einzelne mythische Stücke und Motive. Mit der Übernahme sind sie zugleich verarbeitet worden, da sich die Notwendigkeit ergab, sie in den alttestamentlichen Glauben einzugliedern. Im Wissen um die alleinige Erhabenheit Gottes sind darum die Mythen von der Entstehung der Welt dem Schöpfungsglauben untergeordnet worden. Das eigentliche Mythische wird ausgeschieden, wenn Gott die Welt durch sein Reden bildet. Was der alttestamentliche Mensch sagen will, drückt er zudem in Erzählungen aus, die in der Zeit spielen. In der Zeit spielt aber eine andere Art der Erzählung, die sich in der Urgeschichte findet: die Sage. Mit ihrem sakralen Gegenstück, der Legende, ist sie die beliebteste Erzählungsform des Alten Testaments. Im Unterschied zum Mythos schwebt die Sage nicht über Raum und Zeit, sondern geht von der Besonderheit und Bedeutsamkeit einmaliger Gegebenheiten aus. Dazu gehören vor allem geschichtliche Gestalten und Ereignisse, auffallende Naturerscheinungen und menschliche Charakterzüge. Solche Sagen sollen in der Urgeschichte erklären, warum die Schlange auf der Erde kriecht, warum die Menschen trotz ihrer ursprünglichen Verwandtschaft in viele Völker gegliedert sind und verschiedene Sprachen sprechen, warum es Städte und eine städtische Kultur gibt, warum die Kanaanäer derart degenerierte Menschen sind, auf denen ein Fluch zu lasten scheint. Die einzelnen Erzählungen zeigen, daß die Sage keine Geschichtsschreibung, aber doch geschichtsgebunden ist. Sie sucht nicht das außerhalb der Zeit Liegende auszusprechen wie der Mythos, sondern das Walten der geheimnisvollen Mächte der Welt und des Lebens im Bereich des irdischen Geschehens zu erfassen. In diesem zeitlichen Geschehen will sie einen Blick in die Hintergründe des Daseins ermöglichen. Sage und Legende nehmen im Alten Testament die Stelle ein, die für andere Völker die Mythen innehaben. Sage und Legende besagen im Grunde nichts anderes als der Mythos, sondern meinen — ins Zeitliche übertragen — das gleiche. Zudem kommt die Bezogenheit auf den einen Gott hinzu, so daß das Gesagte im echten Sinne religiös wird. Es geht nicht um allgemeine Erfahrungen und Einsichten des Menschen, sondern um seine Wandlung vor und für Gott, der den Menschen selber aus seiner Vergangenheit der Sünde in die Zukunft heilvollen Lebens vor Gott und in der Welt führt. Der zweite Schritt zum Verständnis der Urgeschichte besteht demnach

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in der Erkenntnis, daß in ihr mittels zeitgebundener Erzählungen eine Gotteserfahrung und Menschenerkenntnis bezeugt werden soll, die sich in einmaligen Gegebenheiten und Ereignissen vollzogen haben. c) Schließlich ist ein dritter Schritt zu tun, um zu verstehen, was die Erzählungen der Urgeschichte eigentlich besagen wollen. Es gilt, das religiös und theologisch Wesentliche und Grundsätzliche zu erfassen, das in konkreten und bildhaften Erzählungen im Mantel zeitgebundenen Geschehens dargestellt wird. Es ist nötig, die Urgeschichte dieses Mantels zu entkleiden und die Bilder zu deuten, um zum Kern vorzudringen. Denn es handelt sich nicht um Geschichtsberichte, sondern um theologische Geschichtsbetrachtung. Geschichte wird nicht objektiv darzustellen gesucht; geschichtliche Ereignisse als solche wären für den Israeliten nur bedeutungslose Abstraktionen. Sie erscheinen vielmehr als Grundlage einer religiösen oder theologischen Deutung und stehen in Beziehung zu ihr. Das geschichtliche Ereignis und seine Deutung sind untrennbar miteinander verbunden und voneinander abhängig. Daher kann die Geschichte in den verschiedenen Erzählungsschichten immer neu gedeutet werden, ohne daß eine Deutung unglaubwürdig wirkt oder als endgültig betrachtet wird. Man erzählt die Geschichte also eigentlich nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen der in der Darstellung gegebenen religiösen oder theologischen Deutung. Insbesondere kann die Gesinnung, Absicht oder Haltung des Menschen nur mit Hilfe konkreter Einzelbeispiele erläutert oder grundsätzlich in zeitlichen Einzelereignissen, die aufeinander gefolgt sind, als ein Gewordensein dargelegt werden. Alles, was über den Menschen grundsätzlich oder in bezug auf sein Hier und Jetzt zu erkennen und zu sagen ist, enthüllt sich aus der Deutung bestimmter geschichtlicher oder urgeschichtlicher Ereignisse. Dies gilt in vollem Umfang auch für die Urgeschichte. Sie soll etwas theologisch Grundlegendes erläutern, das für alle Menschen gilt; daher steht es am Anfang vor der Aussonderung Israels. Alles, was in der Urgeschichte gesagt wird, soll grundsätzlich für den Menschen überhaupt gelten. Dies soll an den Beispielen der Erzählungen von Schöpfung und Fall und der Sintfluterzählung gezeigt werden. 3. In Gen 1—3 liegen zwei Erzählungen vor, die Grundlegendes über das Wesen des Menschen aussagen. Die erste Erzählung über die Schöpfung von Welt und Mensch umfaßt Gen 1, 1—2,4f.; sie gehört zur priesterschriftlichen Quellenschicht aus der Zeit um 500—400 v. Chr., obwohl sie älteres Gut verarbeitet. Die zweite Erzählung in Gen 2, 4 b—3, 24 erzählt von der Schöpfung und vom Fall des Menschen. Diese Erzählung

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gehört zur Quellenschicht des Jahwisten, die im 9. Jh. v. Chr. anzusetzen ist. a) Die erste Erzählung schildert äußerlich die Schöpfung der Welt nach damaligem Verständnis, sachlich handelt sie vom Festsetzen der Existenz des Menschen. Auf dessen Erschaffung am sechsten Tage zielt die ganze Erzählung hin. Der Mensch ist das Ziel und die Spitze einer Pyramide, die Krönung der Schöpfertätigkeit Gottes und die Krone alles Geschaifenen: „Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, nach Gottes Bilde schuf er ihn; und schuf sie als Mann und als F r a u " (1, 27). Eigentlich ist diese uns bekannte Übersetzung ungenau. Wie vorher nicht jeweils ein einzelnes Tier, sondern die Tiere geschaffen werden, so besagt der Ausdruck 'adam, der an dieser Stelle zur Bezeichnung einer Gesamtheit verwendet wird: Gott schuf die Menschen oder die Menschheit, und zwar männlich und weiblich. Zu dieser Schöpfung des Menschen oder zum Geschaffensein des Menschen gehören die geschlechtliche Verschiedenheit der Menschen, die schöpfungsmäßig und also göttlicher Wille ist, und die ihm verliehene Kraft, die ihn zur Fortpflanzung und Vermehrung befähigt (1, 28). Beides hat der Mensch aus der Hand Gottes erhalten. Grundlegend wichtig ist aber, daß die Menschheit nach dem Bilde Gottes geschaffen ist. Im Hebräischen finden sich an dieser Stelle zwei Ausdrücke, die „Bild" und „Ähnlichkeit" bedeuten. Sie bezeichnen einmal die völlige und sodann die nur annäherungsweise Gleichheit eines Bildes oder einer Statue mit dem lebendigen, urbildlichen Modell. So ist nach Gen 1 der Mensch nach dem Modell oder Muster Gottes oder der Gott umgebenden Himmelswesen geschaffen, ihm oder ihnen aber doch nicht völlig gleich, sondern nur ähnlich. Auf diese Weise soll die besondere Würde des Menschen umschrieben werden, ohne daß dabei die Erhabenheit Gottes angetastet wird. Der Mensch ist einerseits Geschöpf wie die Tiere und nicht selbst Schöpfer. Er stellt andererseits eine andere Art dar als die Tiere, über die er zum Herrn eingesetzt wird. Er ist weder Gott noch Tier, sondern steht zwischen ihnen als ein eigenes Wesen, das nach Gottes Bild geschaffen ist. So erhält er sein eigenes Gepräge, das nicht aufhört, sondern nach Gen 5, 1.3; 9, 6 in der Menschheit fortdauert. Es schließt ein, daß einerseits ein großer Abstand zwischen Gott und Mensch besteht, andererseits aber auch eine tiefe Kluft zwischen Mensch und Tier, auf die besonders Ps 8 hinweist. Die Folge der Ebenbildlichkeit ist nach Gen 1, 28 die Beauftragung des Menschen mit der Herrschaft über die Welt. Es ist die Aufgabe, die aus der Gabe folgt. Daher kann und darf der Mensch sich ihr nicht entziehen, sondern muß sie ausüben. Aber er muß sie als ein Ebenbildlicher ausüben 13

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— in seiner Sonderstellung zwischen Gott und Tier. Gibt er diese Sonderstellung auf, will er sich Gott gleichsetzen oder sinkt er zum Tier herab, so kann er seine Herrschaft nicht mehr recht ausüben. Sie wird zur Gewalt und Despotie des sich göttergleich wähnenden Menschen, der nicht mehr im Auftrag handeln will, oder zum bloßen Machtkampf auf der tierischen Triebebene im Streben nach dem Sieg des Stärkeren. Daß dem Menschen dann nach Gen 1, 29 ausschließlich pflanzliche Nahrung zugewiesen wird, soll die recht ausgeübte Herrschaft als einen paradiesischen Frieden kennzeichnen, der Töten und Schlachten nicht kennt. Freilich weiß der Erzähler, daß es sich in Wirklichkeit längst nicht mehr so verhält, wie das Ende seiner Sintfluterzählung in Gen 9, 1—7 besagt. Die tatsächlichen Lebensverhältnisse und Lebensordnungen sind nicht einfach die schöpfungsmäßigen, sondern von diesen wegen der menschlichen Bosheit in einigen Punkten unterschieden. Der Mensch zwar ist und bleibt Ebenbild und soll nach wie vor herrschen. Aber er ist ein böse gewordenes Ebenbild, in dessen Herrschaft immer wieder die Bosheit durchzubrechen sucht. Dies ist eine Erkenntnis, die heute genauso gilt wie damals. Überall auf der Welt sehen wir sowohl die Gewalt und Despotie des sich göttergleich wähnenden Menschen, der nichts mehr von einem göttlichen Auftrag wissen will, als auch den reinen Machtkampf im Streben nach dem Sieg des Stärkeren wie in der Tierwelt. In dieser Möglichkeit des Absinkens zur Bosheit liegt für die Erzählungsschicht, die mit Gen 1 beginnt, das Risiko Gottes bei der Schaffung des Menschen. Gott hat dem Menschen seine Sonderstellung verliehen und hat ihn mit der Herrschaft über die Welt beauftragt, aber er hat ihm gleichzeitig die Freiheit gelassen, sich für die rechte Ausübung der Herrschaft oder für ihre Verderbnis zu entscheiden. Damit ist er ein Risiko eingegangen, und er mußte dies tun. Jede Einschränkung der menschlichen Entscheidungsfreiheit hätte bedeutet, daß der Mensch nicht mehr jene Sonderstellung eingenommen hätte, die ihm durch die Ebenbildlichkeit verliehen worden ist. Das Risiko, das Gott mit der Schöpfung und Beauftragung des ebenbildlichen Menschen einging, war unvermeidlich — so läßt die Erzählung durchblicken. Praktisch hat sich dies meist so ausgewirkt, daß Gott das Nachsehen hatte und daß der Mensch ein böse gewordenes Ebenbild war, in dessen Herrschaft mehr als genug die Bosheit durchgebrochen ist. Zugleich stellt der Text von Gen 1 den Leser immer wieder vor die Frage, ob es so bleiben oder wieder so werden muß, wie es geworden ist. Er stellt den Menschen vor die Frage, ob das Risiko Gottes immer so ausgehen muß, wie es ausgegangen ist, oder ob der Mensch die ihm als Ebenbild

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Gottes übertragene Herrschaft nicht auch in rechter Weise auszuüben vermag. Darum will der Text dem Menschen dazu verhelfen, daß er sich über sich selbst klar wird, daß er erkennt, in welchem Maße Gott ihn als eigenes Risiko geschaffen hat, und ob er erkennt, daß daraus f ü r ihn eine Aufgabe folgt — die Aufgabe nämlich, sich selbst recht zu verstehen und das von Gott gesetzte Risiko nicht zu einem Verlust Gottes werden zu lassen. Dies bedeutet für den Menschen: Er muß sich als ein abhängiges Geschöpf verstehen — mit besonderer Beziehung zu Gott, nach dessen Modell er geschaffen ist und von dem er sich gleichzeitig unterscheidet — mit einer Sonderstellung in der Welt — und mit der Aufgabe der Weltbeherrschung. Diese verschiedenen Kennzeichen gehören zusammen und bedingen einander. Daher kann der Mensch die Welt nur recht beherrschen und sich als das Ebenbild Gottes verstehen, das er ist, wenn und sofern er sich selbst als unter der Herrschaft Gottes als des Schöpfers lebend weiß. b) In der zweiten Erzählung, die in Gen 2, 4 b beginnt, ist der Mensch nicht das Ziel und die Spitze einer Pyramide, sondern der Mittelpunkt eines Kreises — das erste und einzelne Geschöpf, um das herum die ihm nahe Welt aufgebaut wird. Was die erste Erzählung in theologischer Begrifflichkeit als Ebenbildlichkeit bezeichnet, wird in dieser zweiten, älteren und urtümlicheren Erzählung anders und konkreter ausgedrückt: Der Mensch ist an sich Staub oder „staubern" und also geringwertig. Erst daß er am göttlichen Lebensodem Anteil erhält, macht ihn lebendig und hebt ihn hervor. Sein Eigenes und seine Besonderheit sind ihm also gegeben worden; was am Menschen Besonderes ist, hat er von Gott. Daneben besteht ein großer Unterschied gegenüber Gen 1 in der Bestimmung des Menschen. In der zweiten Erzählung ist nicht die Rede davon, daß er mit der Weltherrschaft beauftragt wird. Vielmehr soll er — so wird sehr urtümlich erzählt — f ü r Gott in dessen Baumgarten oder Park arbeiten und ihn bewachen. Er steht demnach in einem bestimmten Dienstverhältnis und in einer starken Abhängigkeit, die ihn zum Gehorsam verpflichtet. Dieser Gehorsam wird ihm auch auferlegt durch das Speiseverbot — nämlich durch das Verbot, von den Früchten des Baumes des Erkennens von gut und böse zu essen. Zugleich macht der Erzähler deutlich, daß Gott bereits bei der Erschaffung der Menschen ein Risiko eingegangen ist — denn er hat nicht von vornherein das richtige Mittel zur Hand, um sein Ziel zu erreichen. Er erschafft zunächst den 'adam. Im Unterschied zu Gen 1 handelt es sich dabei um einen einzelnen Menschen, der nicht weiter differenziert ist und der das 13*

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einzige Exemplar seiner Gattung darstellt. Es erweist sich als erforderlich, für ihn ein Gegenüber oder einen Partner zu erschaffen. Zu diesem Zweck bildet Gott zunächst die Tiere; er unternimmt damit ein Experiment, um herauszufinden, ob die von ihm geschaffenen Tiere der Partner des Menschen sein können. Doch dies ist nicht der Fall. Die Tiere können nicht der Partner des 'adam sein; vielmehr gibt dieser ihnen ihre Namen und übt damit ein Hoheitsrecht über sie aus. Erst dies entspricht in etwa der Beauftragung des Menschen mit der Herrschaft über die Welt, von der Gen 1 redet. Der zweite Versuch, der natürlich ebenso risikohaft ist, besteht darin, daß Gott eine von den Rippen des Menschen nimmt und diese zur Frau gestaltet. Daß Gott damit ein Risiko eingegangen ist, zeigt sich daran, daß der 'adam auf diese Weise geteilt wird. Das von ihm genommene Stück wird zur Frau, und der übrigbleibende Teil wird zum Mann. So wird der 'adam, der Mensch, geteilt, und zwar in Mann und Frau. Das mit der Erschaffung des 'adam begonnene und mit seiner Teilung in Mann und Frau fortgesetzte Risiko Gottes ist deutlich: Er wollte einen Bediensteten für seinen Baumgarten haben und hat nunmehr zwei geschlechtlich unterschiedene Personen erhalten, die jeweils einen Teil des zuerst erschaffenen 'adam darstellen. Zwar sind sie sich dadurch nahe, und der Mann kann die Frau als Bein von seinem Bein und Fleisch von seinem Fleisch begrüßen; aber der in sich einheitliche 'adam ist gespalten. Er kann, so meint wohl der Erzähler, erst dadurch wieder zur Einheit werden, daß Mann und Frau sich vereinigen und zu einem Leibe werden (2, 24). Das Risiko Gottes, das er durch seine Experimente eingegangen ist, hat also gewiß zu einem Erfolg geführt. Doch das erzielte Ergebnis steht nicht mehr ganz im Einklang mit dem, was mit der Schöpfung ursprünglich beabsichtigt war; dieses Ziel kann erst jeweils wieder durch die Vereinigung der beiden Teile zu einem Leib wenigstens zeitweilig erreicht werden. c) Doch mit alledem ist das Risiko Gottes nicht beendet. Denn der zweite Erzähler schließt an die Erzählung von der Schöpfung des Menschen und seiner Teilung in Mann und Frau in Gen 3 die Erzählung vom Fall an. Sie zeigt einmal das notwendige Dilemma der Menschen und die Entscheidung, die sie treffen. Die Erzählung zeigt ferner das weitere Risiko, das in ihrer Lebensweise und in ihrem Streben für Gott liegt. Gott steht vor der Frage und vor dem Risiko: Soll der in Mann und Frau geteilte Mensch ein unbewußt lebendes, ein kindlich-naives Wesen sein und bleiben, wie es wohl zunächst gedacht war, oder wird er sich zu einem wirklich voll bewußten Menschen entwickeln, der gleichzeitig vor der Möglichkeit zum Ungehorsam gegenüber Gott steht? Dieses Problem und seine Lösung

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will die Erzählung vom Fall zeigen. Sie macht zugleich deutlich, daß das Risiko zuungunsten Gottes ausgeht. Denn der Mensch erliegt der an ihn herangetragenen Versuchung und ißt vom Baum des Erkennens von gut und böse. Dabei ist „gut und böse" ein formelhafter Ausdruck für „alles" — vom Guten bis zum Bösen. „Erkennen" ist das Erfahren und Vertrautwerden und wird mit bezug auf die Person des Erfahrenden gebraucht. Die vom Erkenntnisbaum essenden Menschen werden daher mit allem und auch restlos mit sich selbst vertraut. Das menschliche Erfassen weitet sich über die ursprünglichen Schranken hinweg aus. Eine vorher ungeahnte Lebenssteigerung beginnt, da der Mensch jener Geheimnisse vertraut und mächtig wird, die jenseits seiner ursprünglichen Möglichkeiten liegen. Es ist der Augenblick, in dem der Mensch seiner voll bewußt wird •— vom Erzähler nicht als historische Erinnerung wiedergegeben, sondern als etwas Grundlegendes erzählt, das sich in jedem Menschenleben wiederholt. Der Mensch tut den Schritt vom Kind zum Erwachsenen oder vom instinktgebundenen Naturwesen zum Wesen von geschichtlich-menschlicher Existenz. Die Folge für den Menschen ist, daß das kindhaft umhegte Leben im Garten ein Ende findet. Die Menschen werden aus dem Garten ihrer Kindheit hinausgeschickt in die Welt mit ihren Nöten. Gott hat verloren und ist mit seinem Risiko unterlegen — auch wenn er weiterhin für die Menschen sorgt. Es bleibt künftig offen, ob die Menschen sich an ihn halten oder ohne ihn völlig ihre eigenen Wege gehen. Der Mensch wird sich dabei nicht nur der eigenen Geschlechtlichkeit und der Fähigkeit zur Schaffung neuen Lebens bewußt, sondern sieht sich auch Nöten gegenüber, die er vorher nicht gekannt hat (3,14—19). Er lebt nicht mehr unbewußt in dem großen Ganzen der Welt und des Lebens, sondern steht dem als bewußter Mensch mit eigener Existenz gegenüber. Er muß ständig mit der in der Schlange verkörperten versucherischen Macht ringen. Die Frau muß bestimmte Bedingungen auf sich nehmen, um zu ihrem Sein als Frau und Mutter zu finden, und Gefahren wagen, um ihr Sein zu leben. Der Mann sieht sich der Forderung der oft erfolglosen Arbeit und der Sorge für den Lebensunterhalt als seiner Existenzbedingung gegenüber. Und das Wissen um den am Ende der Lebensgeschichte des einzelnen wartenden Tod überschattet alles. Das Finden des eigenen Wesens und der eigenen Existenz ist also gleich dem Verlieren des Paradieses. Die gefundene menschliche Existenz ist das verlorene Paradies. Nimmt man dies alles als grundsätzliche Aussage, so will die Erzählung vom Fall des Menschen sagen: Es ist das bleibende Risiko Gottes, das er mit jedem Menschen eingeht, der geboren wird und heranwächst, daß

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dieser durch sein eigenes Wesen und durch das, was von der Schöpfung her in ihm angelegt ist, sich notwendig vor die Frage gestellt sieht, ob er ein unbewußt lebendes, kindlich-naives Wesen bleiben oder ob er sich zu einem voll bewußten Menschen entwickeln will, der diese Entwicklung freilich nur mit dem gleichzeitigen Ungehorsam gegenüber Gott vollziehen kann. Es ist das Risiko Gottes, ob der Mensch einsieht, daß er durch das fast notwendigerweise erfolgende Schuldigwerden einen Schritt tut und etwas auf sich lädt, das nicht so bleiben kann und bleiben soll; ob er daher bereit ist, sich nicht ganz von Gott loszusagen, sondern ihn um die Vergebung dieser Schuld zu bitten und erneut den Weg zu ihm zu finden — diesmal nicht als unbewußt lebendes, kindlich-naives Wesen, sondern als seiner selbst bewußter Mensch, der eine klare Entscheidung für Gott trifft. Gott ist dem Risiko der Entscheidung des Menschen für oder gegen Gott ausgesetzt, und er hat dieses Risiko in der Schöpfung des Menschen selbst angelegt. d) Außer den beiden bisher erwähnten Erzählungsschichten ist in der Urgeschichte wahrscheinlich noch eine dritte Erzählungsschicht in einzelnen Erzählungen oder Erzählungsresten vertreten. Auch sie ist für unser Thema von Belang. Denn auch sie erblickt im Menschen ein Risiko Gottes. Zunächst ist an den Erzählungen, die ihr zuzuschreiben sind, deutlich ein nomadischer Zug erkennbar; sie scheint in israelitischen Kreisen entstanden zu sein, die an den Lebensgewohnheiten der nomadischen Frühzeit festhalten wollten. Von da aus erklärt es sich, daß der Mensch, der als Nomade verstanden wird, immer wieder in die Situation des Kulturlandes gerät oder kulturelle Errungenschaften erzielt: Auch er bewohnt den Gottesgarten, wie aus Gen 2, 8 f. als Teil dieser Quellenschicht zu schließen ist, er schafft das Nomadentum mit Musikanten und Schmieden (Gen 4, 20ff.), entdeckt den Weinbau (Gen 9, 20) und baut Stadt und Tempelturm (Gen 11, 1—9). Doch dabei sieht sich das noch ungebärdige Geschöpf entweder in die Lage versetzt oder es vermißt sich, seine Grenzen zu überschreiten, sich göttliche Kräfte anzueignen oder gar den Himmel zu stürmen. In diesem Verhalten seines Geschöpfes liegt das Risiko des Gottes, der es ins Leben gerufen hat. Er hat diesen Menschen geschaffen als noch ungezähmtes und ungebärdiges Geschöpf, das titanische Gelüste in sich birgt. So sucht es, wo ihm die Möglichkeit offen zu sein scheint, seine Grenzen zu überschreiten, sich göttliche Kräfte anzueignen oder den Himmel zu stürmen —• so durch den Lebensbaum im Gottesgarten, mittels dessen der Mensch vielleicht ewiges Leben hätte gewinnen können. Denn in Gen 2—3 scheinen einige Bruchstücke verarbeitet zu sein, nach denen der Mensch den Zugang

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zum Lebensbaum suchte, jedoch vertrieben wurde, damit die göttliche Lebenskraft in ihm nicht übermächtig werden könne und er ewig lebe. Nach 6, 1—4 strömt durch die Ehen der Himmelswesen mit Menschenfrauen die göttliche Lebenskraft in die Menschheit ein, so daß die Riesen entstehen. Auch in diesem Fall besteht die Möglichkeit der Vermischung zwischen göttlicher und menschlicher Natur, die auf solche Weise vielleicht ewig dauern könnte. Sodann erzählt 11, 1—9 von dem gigantischen Unternehmen des Stadt- und Turmbaues, der der Entfaltung von Macht und Ruhm in ungeahntem Ausmaß dienen soll. In diesen Erzählungen wird als ein Grundzug des Menschen erkannt, daß er die ihm gesetzten Schranken zu sprengen sucht oder zu sprengen droht. Er möchte oder könnte Anteil an der göttlichen Natur erhalten und immer größere Macht erwerben, so daß die Grenzen zwischen Gott und Mensch zu verwischen beginnen und Gott sein ungebärdiges Geschöpf immer wieder zähmen muß. Denn das ist ein weiterer Zug der Erzählungen, daß Gott jeweils eingreift und sein Geschöpf zu zähmen sucht, indem er es in seine Schranken weist: Er vertreibt es aus dem Gottesgarten, er begrenzt nach den Ehen der Himmelswesen mit menschlichen Frauen das Lebensalter, er zerstreut die zahlreich gewordenen Menschen beim Stadt- und Turmbau in alle Welt und verwirrt ihre Sprache. Nach dieser Darstellung sind es vor allem die Errungenschaften des Kulturlandes, die den Menschen überheblich machen und das göttliche Eingreifen nach sich ziehen. Es ist das Risiko Gottes, daß er den Menschen ungezähmt und ungebändigt in die Welt des Kulturlandes entlassen hat und daß dieser Mensch dort das Risiko zuungunsten Gottes entscheidet. Erst das jeweilige Eingreifen Gottes, das den Menschen in seine Grenzen zurückweist, ändert von Fall zu Fall die Situation. Dies ist also nach der dritten Erzählungsreihe das Risiko Gottes, das er mit der Erschaffung des Menschen eingegangen ist: daß das noch ungebärdige und ungezähmte Geschöpf immer von neuem versucht, titanenhaft über seine Grenzen hinauszugelangen, göttliche Wesenheit und göttliche Macht an sich zu reißen, um schließlich vielleicht selbst Gott zu werden. Nur steuert nach dieser dritten Erzählungsreihe Gott diesen Versuchen, indem er katastrophenartig in das Geschick des Menschen eingreift. e) Zusammenfassend läßt sich sagen: Der Mensch erscheint nach den Erzählungen der Urgeschichte in verschiedener Hinsicht als Risiko Gottes. 1. Das Risiko liegt darin, ob der Gott ebenbildliche Mensch die ihm übertragene Herrschaft in rechter Weise ausübt, nämlich in seiner Sonderstellung zwischen Gott und Tier, oder ob er sie ausübt als Gewalt und Despotie des sich göttergleich wähnenden Menschen oder im bloßen Machtkampf auf

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der tierischen Triebebene im Streben nach dem Sieg des Stärkeren; es fragt sich, ob der Mensch die Welt in rechter Weise beherrschen will als das, was er ist: als ein von Gott abhängiges Geschöpf, das sich selbst als unter der Herrschaft Gottes lebend weiß. 2. Das Risiko Gottes liegt darin, ob der zur Findung eines Partners geteilte 'adam, der nun als Mann und Frau getrennt lebt, wieder zu einer echten Einheit in einem Leibe zurückzufinden vermag. Das Risiko liegt darin, ob der nicht mehr unbewußt lebende, kindlich-naive Mensch, sondern der seiner selbst bewußte Mensch in der Schuldhaftigkeit verharrt, in die er durch sein Bewußtwerden gerät, ob er sich ganz von Gott abkehrt oder ob er sich ihm wieder zuwendet in einem neuen Gehorsam auf einer neuen Ebene. 3. Es fragt sich, ob der Mensch weiterhin und immer wieder titanenhaft über die ihm zugedachten Grenzen hinausstrebt oder ob er sich von Gott zähmen lassen will zu einem Menschen Gottes. 4. a) Die Sintfluterzählung liegt in Gen 6—8 vor; auch 9,1—17 läßt sich noch hinzufügen. Genau genommen sind es zwei Erzählungen, die später miteinander verbunden worden sind. Die ältere von beiden gehört zur Quellenschicht des Jahwisten und ist trotz der Vereinigung mit der jüngeren fast vollständig erhalten; nur am Anfang ist die Weisung an Noah, die Arche zu bauen, und ein kurzer Bericht über die Ausführung dessen der ausführlicheren Schilderung der jüngeren Erzählung zum Opfer gefallen. Dann aber fährt der alte Erzähler fort: Da sprach Jahwe zu Noah: Geh mit deinem ganzen Hause in die Arche, denn dich habe ich vor mir gerecht befunden in diesem Geschlecht. Von allen reinen Tieren nimm dir je sieben Stück, Männchen und Weibchen; von den unreinen Tieren ein Paar, Männchen und Weibchen. Auch von den Vögeln des Himmels je sieben Männchen und Weibchen, damit auf der ganzen Erde Nachwuchs am Leben bleibe. Denn noch sieben Tage, dann will ich regnen lassen auf die Erde, 40 Tage und 40 Nächte, und alle Wesen, die ich gemacht habe, vom Erdboden vertilgen. Da tat Noah ganz, wie ihm Jahwe geboten hatte. Noah ging mit seinen Söhnen, seiner Frau und den Frauen seiner Söhne vor den Wassern der Flut in die Arche, und Jahwe Schloß hinter ihm zu. Von dem reinen Vieh und dem Vieh, das nicht rein ist, und von den Vögeln und von allem, was auf der Welt kriecht, gingen sie zu Noah in die Arche hinein, wie Gott dem Noah befohlen hatte. Und nach den sieben Tagen kamen die Wasser der Flut über die Erde. Der Regen strömte auf die Erde 40 Tage und 40 Nächte, und das Wasser stieg und hob die Arche so hoch, daß sie über der Erde dahinschwamm. Alles, was Lebensodem in seiner Nase hatte und auf dem Trockenen lebt, das starb. So wurden alle Wesen auf dem Erdboden vertilgt; vom Menschen bis zum Vieh, bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln des Himmels wurden sie von der Erde

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vertilgt. Nur Noah blieb übrig und was bei ihm in der Arche war. Nach 40 Tagen wurde dem Regen vom Himmel her Einhalt geboten. Und das Wasser nahm allmählich zurückgehend auf Erden wieder ab. Da öffnete Noah das Fenster der Arche, die er gemacht hatte, und sandte die Taube aus zu sehen, ob das Wasser auf der Erde weniger geworden wäre. Aber die Taube fand keine Stätte für ihren Fuß; so kehrte sie zu ihm in die Arche zurück, denn es war noch Wasser auf der ganzen Erde. Da streckte er seine Hand aus, griff sie und brachte sie zu sich in die Arche hinein. Dann wartete er weitere sieben Tage und sandte abermals die Taube aus der Arche aus, da kehrte die Taube gegen Abend zu ihm zurück — und siehe, sie hatte ein frisches ölblatt in ihrem Schnabel. Da merkte Noah, daß das Wasser weniger auf Erden geworden war. Und er wartete nochmals sieben Tage und sandte die Taube aus; da kehrte sie nicht mehr zu ihm zurück. Nun entfernte Noah das Dach der Arche und hielt Ausschau und siehe — der Erdboden war trocken. Da baute Noah Jahwe einen Altar und nahm von allem reinen Vieh und allen reinen Vögeln und brachte Brandopfer auf dem Altar dar. Die jüngere Sintfluterzählung gehört zur Priesterschrift und unterscheidet sich in bemerkenswerter Weise von der älteren. Zunächst gilt dies f ü r Einzelheiten: 1. Von allen Tieren wird je ein Paar ohne Unterschied zwischen reinen und unreinen in die Arche mitgenommen. 2. Die Flut steigt 150 Tage und dauert bis zum völligen Trocknen der Erde ein Jahr und 10 Tage statt insgesamt 61 Tage. 3. Die Ursache der Flut ist nicht der Regen, sondern das Zusammenströmen der oberen und unteren Wasser. 4. N o a h sendet n u r einmal einen R a b e n aus. 5. D i e Zeitangaben erfolgen nach dem angenommenen Lebensalter N o a h s , beginnend mit seinem 600. Lebensjahr. Hinter diesen Einzelheiten steht aber eine grundsätzliche Verschiedenheit. Die Flut wird in dieser jüngeren Erzählung mäbbul genannt, das eigentlich nicht die Sintflut, sondern einen Teil des Kosmos bezeichnet, den G o t t nach Gen 1 geschaffen hat: die Sammlung der oberen Wasser, das Himmelsmeer des antiken Weltbildes. Diese Wasser stürzen durch die geöffneten Himmelsfenster auf die Erde; zugleich brechen die Quellen des Urmeers unter der Erde auf. Es beginnt eine Katastrophe, die nicht nur die Erdoberfläche betrifft, sondern sich über das ganze Weltgebäude erstreckt. Was G o t t bei der Schöpfung geschieden hatte — die Wasser oben und unten —, stürzt wieder zusammen. Ein zweites Chaos bricht über die Welt herein, so daß sie wieder in das ursprüngliche Tohuwabohu zurückzusinken beginnt. Die Flut ist ein Weltuntergang, in ihr geht die erste Welt unter! Es hängt damit zusammen, daß a m 1. 1. des 601. Jahres N o a h s die Wasser wieder versiegt sind, so daß die Erde wieder wie bei der Schöpfung aus dem Wasser aufgetaucht ist. D a ß dies a m 1 . 1 . der Fall ist, soll an das N e u j a h r erinnern; mit dem Verlaufen der Wasser beginnt ein neues Jahr

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für die Welt, beginnt eine neue Welt. Die erste Welt ist vergangen, eine neue hat begonnen. Deswegen wiederholt der Erzähler auch die Schöpfungsworte für die Tiere und etwas später für die Menschen: Seid fruchtbar und mehret euch. Deswegen gibt er in Gen 9, 1—17 die Lebensordnung für die neue noachitische Welt. Nur kurz ist auf eine dritte Erzählung hinzuweisen, in der ursprünglich ebenfalls ein Teil einer Untergangsgeschichte enthalten war. Nach dem Untergang von Sodom und Gomorra ist in Gen 19, 30—38 von Lot und seinen Töchtern die Rede und davon, wie diese den Vater betrunken machen, um von ihm Kinder zu haben. Jetzt enthält diese anstößige Erzählung ein hartes Urteil über Lot und sein Haus, das mit Blutschande befleckt ist. Ursprünglich aber stammt sie von den Höhlenbewohnern bei Zoar am Toten Meer. Dort ist sie nicht spöttisch oder verächtlich erzählt worden, wie später in Israel, sondern rühmend: Es war eine große Katastrophe gewesen, nach der sonst niemand übriggeblieben war. Nur ein Vater und seine beiden Töchter waren entronnen, hatten in einer Höhle Zuflucht gefunden und das drohende Aussterben der Menschheit durch die heroische Tat der Töchter verhindert. Der erhaltene Teil erzählt also die Katastrophe nicht, sondern setzt sie voraus. Immerhin ersieht man daraus, daß es noch manche Erzählungen über sintflutartige (oder sintbrandartige) Katastrophen gegeben haben kann, die uns nicht erhalten sind. b) Es ist längst bekannt, daß die Sintfluterzählungen an wesentlich ältere mesopotamische Darstellungen anknüpfen. Auch bei anderen Völkern hat man nach ähnlichen Sagen gesucht und sie vielfach auch gefunden. Doch eine genaue Überprüfung schließt die Annahme aus, daß die Flutsagen der ganzen Menschheit gemeinsam und auf ein einziges großes Ereignis — das in der Bibel erzählte — zurückzuführen seien. Die Sintflutsagen sind nicht ein allen Völkern der Erde gemeinsames Erbteil oder Gut. Sie fehlen vielmehr großen Völkergruppen ganz. In Vorderasien finden sie sich, von den Sumerern ausgehend, in Babylonien und Israel. Der Einfluß dieser Überlieferungen läßt sich in späterer Zeit im Orient verschiedentlich erkennen. Daher sind wahrscheinlich auch die griechischen und indischen Erzählungen nicht ohne mesopotamischen Einfluß entstanden; eine Beziehung zwischen den Sumerern und den urzeitlichen Indern scheint heute nachweisbar, andererseits ist auch die Einwirkung des Alten Orients auf die griechische Mythologie, besonders über die Phönizier, deutlich geworden. In den übrigen Teilen Europas und Asiens und in Afrika scheinen keine selbständigen Sintflutsagen zu bestehen. Teilweise sind solche Erzählungen

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unter dem Eindruck der alttestamentlichen Überlieferung entstanden und mit einheimischen Motiven verwoben oder nur in das Gewand einer einheimischen Erzählung gehüllt worden. Teilweise wird in Asien auch nur davon erzählt, wie ein Land (ζ. B. Tibet) ursprünglich ganz unter Wasser stand, bis ein Gott dies Wasser ablaufen ließ, so daß das Land besiedelt werden konnte. Außer im Vorderen Orient und seinem Einflußgebiet finden wir Sintflutsagen nur noch von Borneo an im südlichen Teil des Stillen Ozeans und in Amerika. Daraus ergibt sich wieder, daß die Sintflutsagen nicht auf ein einziges großes Ereignis, die Sintflut schlechthin, zurückgeführt werden dürfen, sondern an mehr lokale Ereignisse angeknüpft haben und überall selbständig entstanden sind. Man kann weder an einem gemeinsamen Ursprung der Sagen noch an einem allen gemeinsamen Ereignis festhalten; die Sagen sind vielmehr aufgrund von Ereignissen entstanden, die sich in einem begrenzten Raum abgespielt und jeweils nur eine Menschengruppe betroffen haben. Es fragt sich, ob wir wenigstens auf einem solchen begrenzten Raum das Ereignis fassen können, von dem eine Sintflutsage erzählt. Als man vor Jahren die Stadt Ur in Mesopotamien ausgrub, stieß man in großer Tiefe — d. h. für eine sehr weit zurückliegende Zeit — auf eine Schicht von reinem Sand, unter der aber nicht der alte Mutterboden lag, sondern wieder Reste menschlicher Kultursiedlung. Man Schloß daraus mit Recht, daß eine große Überschwemmung stattgefunden habe, vor und nach der die Stadt besiedelt war. Seitdem ist oft davon die Rede, daß an dieser Stelle die Sintflut archäologisch erfaßt sei. Tatsächlich aber ist dies keineswegs der Fall. Denn einmal hat man in Kisch, nördlich von Ur, ebenfalls Überschwemmungsschichten gefunden, die zu einer ganz anderen Periode gehören als in Ur. Dagegen hat man für die Schicht von Ur in Kisch nichts Vergleichbares entdeckt. Es handelt sich also um jeweils verschiedene, zeitlich auseinanderliegende Überschwemmungen, die örtlich begrenzt waren. Ferner bildet eine solche Überschwemmungsschicht weder in Ur noch in Kisch eine Trennungslinie zwischen verschiedenen Perioden und Kulturen. Vorher und nachher finden sich Reste gleichartiger Kulturen, so daß die Überschwemmung keinen tiefgehenden Einschnitt gebildet haben kann. Wenn wir nach einer stichhaltigen Erklärung der Sintflutsagen suchen, müssen wir zweierlei auseinanderhalten: die geschichtlichen Erinnerungen

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und die Erfahrung oder Erkenntnis, die mit ihrer Hilfe ausgedrückt werden soll. Es verhält sich bei den Sintflutsagen wie bei den meisten alten Erzählungen: Sie sind keine historischen Berichte, keine Abschnitte aus einem Geschichtsbuch, sondern benutzen alte Erinnerungen als das Material, mit dem eine tiefere Erfahrung ausgedrückt werden soll, oder als das Gewand, in das eine wichtige Erkenntnis gehüllt werden soll. c) Zum eigentlichen Verständnis der Sintfluterzählungen sind wir noch nicht vorgedrungen. Wie in anderen Fällen werden auch in ihnen mit Hilfe von Bildern, denen uralte Katastrophen zugrunde liegen, besondere Erfahrungen ausgedrückt: Das Elend und die Übel des irdischen Daseins gaben schon früh Veranlassung, einen Trost in der Vorstellung von einem früheren glücklicheren Zustand zu suchen, im Glauben an eine bessere Vorzeit. In diesen Zusammenhang gehören die Sintfluterzählungen hinein; sie sollen den Übergang von der glücklichen Vorzeit in die jetzige leidvolle Zeit erklären. Sie sollen begründen, warum es jetzt nicht mehr so ist wie früher. Und sie tun es mit dem Hinweis auf jene Katastrophe, die einen völligen Wandel in allen Dingen heraufgeführt hat. Es ist eben so, wie die priesterschriftliche Erzählung es darstellt: Die erste „paradiesische" Welt ist untergegangen, eine andere Welt ist begründet worden, in der wir leben. So wollen die Sintfluterzählungen von einer Krise erzählen, die zu Untergang und Ende der glücklichen Vorzeit geführt hat — von einer Krise, die nicht zur Genesung geführt hat, sondern zu Tod und Verderben, aus denen nur wenige heil entkommen sind, um ihr Dasein in einer veränderten Welt unter anderen Lebensbedingungen zu gestalten. Doch es wäre wieder ein Mißverständnis, wenn wir darin doch nur wieder ein Mittel erblicken wollten, mit dem man einmal geschichtliche Zusammenhänge erklären wollte. Nur vordergründig haben die Erzählungen solche geschichtlichen Funktionen. In Wirklichkeit geht es dem Menschen um seine jeweilige Gegenwart und um seine Existenz in ihr. Auch die alttestamentlichen Erzählungen sollen nicht nur etwas geschichtlich Gewordenes erklären; vielmehr wollen sie grundlegende Deutungen der menschlichen Existenz liefern, die dem jeweiligen Leser gelten und die in das Gewand geschichtsgebundener Darstellung gekleidet sind. Daher sind die in der „Urzeit" spielenden Ereignisse der Sintfluterzählungen gemeint als Ausdruck menschlicher „Grund"-Erfahrungen — im Gewände von Katastrophenbildern, wie man sie kennt. Welches ist diese Grunderfahrung? Es ist die Erfahrung des Am-EndeSeins und des Zunichteseins, die der Mensch immer wieder durchleben

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muß. Der Mensch mit seiner Welt, die er beherrschen soll und will, und mit seiner Kultur, die er aufgebaut hat, sieht sich je und dann am Ende und vor dem Nichts. Er sieht mächtigere Gewalten am Werk, die seine Herrschaft als eine Illusion enthüllen und seine Kultur in Frage stellen. Und er selbst ist diesen Gewalten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert und ein Spielball in ihrer Hand. Diese Erfahrung drücken die Sintfluterzählungen aus; sie sind ein altes Bild und Gleichnis für die Krise, in der der Mensch sich immer wieder einmal erblickt. Sie wollen ihm sagen, daß eine solche Krise mit dem menschlichen Sein und Tun unauflöslich verbunden und gegeben ist, daß man ihr nicht zu entrinnen hoffen kann und daß sie unausweichlich von Gewalten über den Menschen gebracht wird, auf die er keinen Einfluß hat. Die Ursachen für diese Krisen werden in den Sintfluterzählungen verschieden umschrieben. Manche führen sie auf die Willkür der Götter zurück; sie erblicken die Ursache in einem Schicksal, das einfach über den Menschen kommt, ohne sein eigenes Zutun. Manche sehen die Ursache aber auch in einer Verfehlung des Menschen; er selbst ist schuld, die Krise ist die strafende Folge seiner Schuld. Am tiefsten wird das wohl in der älteren biblischen Erzählung ausgedrückt: Als aber Jahwe sah, wie groß der Menschen Bosheit auf Erden war, und daß jegliches Gebilde ihrer Herzensgedanken nur noch böse war allezeit, da reute es Jahwe, daß er den Menschen auf Erden gemacht hatte, und er bekümmerte sich in seinem Herzen. Und Jahwe sprach: Ich will den Menschen, den ich geschaffen habe, vom Erdboden wegtilgen..., denn es reut mich, daß ich sie gemacht habe.

Das ist ein Urteil von äußerster Schärfe: das gesamte innere Leben des Menschen nur noch böse allezeit. Darin ist doch wohl die eigentliche Ursache für alle Krisen, in die die Menschheit geraten ist und gerät, kurz und in geradezu klassischer Weise angegeben: Es ist das, was die Bibel die Sünde nennt. Alles Elend des Menschengeschlechts, alle Krisen der Menschheit und ihrer Kultur haben ihren letzten Grund in der Schuld des Menschen vor Gott und in der Welt. Es stellt sich die Frage, ob es eine Rettung aus solcher Krise gibt. Da ist es bezeichnend, daß die sumerisch-babylonische Erzählung den geretteten Helden am Schluß zu einer Art Gott erhebt und in ein Land der Seligen bringt. Er wird ein für allemal dem Elend entrückt, um in einem göttergleichen Zustand zu leben. Das ist sozusagen die heidnische Lösung: Man kann der Krise nur entkommen, indem man aus allem irdischen Elend zu den Göttern entrückt wird. Es gibt nur diese Möglichkeit,

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die aber so unwahrscheinlich ist, daß die Krise fast notwendig zum Untergang führt. Auch hier scheint der Schluß der älteren biblischen Erzählung treffender zu sein: Als Noah das Brandopfer darbrachte, da sprach Jahwe bei sich selbst: Ich will die Erde nicht noch einmal um des Menschen willen verfluchen, denn die Gebilde des menschlichen Herzens sind doch böse von Jugend an. So will ich nicht noch einmal alles Lebendige vernichten, wie ich getan habe. Hinfort, solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. Gott entschließt sich zu einer Selbstbeschränkung seiner strafenden Heiligkeit. Und wir bemerken den harten und im Letzten unauflöslichen Gegensatz, auf dem dies beruht: Der gleiche Befund, der das Strafgericht vorher begründet hat, läßt nunmehr die göttliche Gnade und Nachsicht offenbar werden. Dieser Gegensatz von strafender Gerechtigkeit und tragender Gnade durchzieht die ganze Bibel; und in der Sintflutgeschichte steht wie so oft der Hinweis auf die Gnade und Geduld Gottes am Schluß als das Letzte und Eigentliche. Erfahren wird diese Gnade in dem unbegreiflichen Bestand der Dinge trotz menschlicher Sünde. Auch das ist kein geschichtlicher Hinweis, sondern eine Mahnung an den jeweiligen Leser. Er soll dieser göttlichen Zusage sein Vertrauen schenken. Daher müssen wir sagen: Was die Krise überwinden läßt, ist das Vertrauen auf die Zusage Gottes. Es ist das Vertrauen als eigentliche Mitte des Glaubens. Wenn die Menschheit sich durch ihre Schuld immer wieder in Krisen stürzt, braucht sie in ihnen doch weder unterzugehen noch eine Rettung von der unwahrscheinlichen Möglichkeit einer Entrükkung in ein Land der Seligen zu erwarten. Rettung und Überwindung liegen vielmehr im Glauben an den Gott beschlossen, dessen Zusage unverbrüchlich ist. Es gilt weder Resignation und Verzweiflung noch Heroismus und Kampf, sondern zuversichtliches Vertrauen auf die ewige Gnade.

IL Der Staat und das politische

Handeln

In neuerer Zeit hat der Staat in zunehmendem Maße immer weitere Gebiete des Lebens seiner Hoheit unterstellt und in seine Verwaltung einbezogen. Vielfach sieht er sich darin von politischen Parteien oder von

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kleineren und größeren Gruppen seiner Bevölkerung bestärkt und unterstützt. Viele wenden sich wie selbstverständlich an den Staat und erwarten von ihm als Verteilapparat oder Wohlfahrtsstaat die Lösung ihrer Probleme und die Behebung ihrer Nöte. Daneben wird am Staat und seinen Funktionen auch in einem auffälligen Ausmaße Kritik geübt. Verschiedene Staats- und Gesellschaftsformen stehen in folgenschwerer Auseinandersetzung miteinander und stellen sich gegenseitig in Frage. In dieser Lage ist es nützlich, daß wir uns über Werden und Wesen des Staates nach den geschichtlichen Gegebenheiten Israels und den Aussagen des Alten Testaments klar werden. Vielleicht fällt von dort aus ein Licht auf die Fragen unserer Gegenwart, besonders wenn wir die Kritik nicht vergessen, der der Staat schon damals ausgesetzt war. Wie ist er entstanden, worauf beruht seine Existenz, wodurch besteht er? Ist er theologisch als Schöpfungs- oder Erhaltungsordnung Gottes zu verstehen? Wo liegen seine Aufgaben und wo seine Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen? Wie soll der Glaubende sich verhalten, wenn er sich vor die Notwendigkeit politischen Handelns gestellt sieht? 1. Zu der Frage, wie es zur Bildung eines Staates und zu einem staatlichen Leben gekommen ist, sind viele Theorien erwogen worden. Unabhängig von ihnen können wir uns an mehreren Stellen des Alten Orients ein Bild der geschichtlichen Gegebenheiten machen und die Gründung staatlicher Gemeinschaften beobachten. Zunächst ist unleugbar, daß menschliches Zusammenleben ohne Staatswesen in bestimmten Lebens Verhältnissen möglich ist. Die Israeliten selbst sind ein Beispiel dafür. Sie haben vor allem in ihrer nomadischen Zeit ohne Staatsform, Staatsgebiet, Staatsrecht und Staatsautorität gelebt, wie es für das Nomadentum überhaupt bezeichnend ist. Die Grundlage des Zusammenlebens ist die Gemeinschaft der Familie und Sippe, die den einzelnen trägt. Familiengemeinschaft ist stets notwendig, eine staatliche Gemeinschaft nicht immer. •Nach der Landnahme in Palästina setzt sich diese lockere, aber doch geordnete Form des Zusammenlebens in den Ortsgemeinden fort. Die Ortsgemeinde ist in der ersten Zeit ihres Bestehens die feste Niederlassung einer Sippe, die unabhängig und selbständig lebt. Dies ist in Palästina immerhin rund zwei Jahrhunderte der Fall gewesen, bis sich ein Staatswesen als notwendig erwies. Es erwächst aus mancherlei Vorstufen, die aus der Seßhaftwerdung folgen, und aus der äußeren Lage, die sich für die seßhaft Gewordenen ergibt. Für die bäuerliche und städtische Bevölkerung erweist sich die Bildung eines Staates als notwendig.

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Ältere Formen der Staatsbildung sind in Mesopotamien und Ägypten zu beobachten — ebenfalls bei einer seßhaften Bevölkerung. Es ist nicht unwichtig, diese Formen zum Vergleich mit Israel heranzuziehen. In Mesopotamien haben zuerst die Sumerer ein staatliches und kulturelles Leben entfaltet. Sie sahen sich dazu gezwungen, um die Fruchtbarkeit der Flußebenen auszunutzen und ihr Leben zu sichern. Im Zusammenhang mit den Hochwasserperioden der Flüsse mußte ein Netzwerk von Deichen und Dämmen geschaffen werden. Man mußte die Strömung des Wassers regeln, damit es nicht zerstörend wirkte, und das Land mit Hilfe von Kanälen künstlich bewässern. Die Ernte und damit das Leben hingen von den Dämmen und Kanälen ab. Außerdem galt es, dieses Dasein gegen die Gier und Eifersucht der Nachbarn zu schützen. Der Sumerer war ferner davon überzeugt, daß das Leben von höheren Mächten gelenkt werde. Daher mußte man sie sich geneigt machen und ihnen gefallen. Durch Zeremonien und Opfer suchte man Sicherheit dafür zu schaifen, daß die Fluten der Flüsse Fruchtbarkeit und nicht Zerstörung brachten, daß Mensch und Tier den Krankheiten entgingen oder wiederhergestellt wurden, daß man die Feinde schlagen und selbst die Felder und Herden der Nachbarn gewinnen konnte. Auf diesen Grundlagen entstand eine Reihe kleiner, einigermaßen geordneter Staatswesen. Sie waren jeweils um eine bestimmte Stadt zusammengeschlossen und also Stadtstaaten. Sie galten zunächst als Eigentum einer Gottheit, der auch das Land ringsum gehörte. Ihr Sitz war der Tempel, in dessen Magazinen die Ernte gesammelt und von dem aus das Land zur Bearbeitung vergeben wurde. Der Tempel war das geistige, politische und wirtschaftliche Zentrum. Die Führer dieser Stadtstaaten waren infolgedessen Priesterkönige, Statthalter der Gottheit, Oberpriester und Kriegsherren. Das Volk ließ sich in unmittelbarer Nähe des Tempels und der Königswohnung nieder, die beide durch starke Mauern und Gräben gesichert waren. Das Ganze hat man nicht mit Unrecht mit einem mittelalterlichen Klostergut verglichen. Jahrhundertelang blieb es bei einem Nebeneinander vieler solcher Stadtstaaten. Nur gelegentlich haben einzelne Dynastien besondere Macht in ihrer Hand vereinigen können und größere Gebiete beherrscht. Dabei wurde allerdings keine Zentralgewalt geschaffen. Die einzelnen Stadtstaaten wurden unterworfen, aber sie brauchten im wesentlichen nur einen jährlichen Tribut zu entrichten. Abgesehen davon blieben Leben und Stadtregierung unverändert. Es enstand nur eine lockere Einheit kleiner Stadtstaaten, die von den Königen der Herrscherstadt überwacht wurden. Es

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war eine sehr lose Föderation, nicht aber ein zentralisierter Staat unter der Regierung eines einzigen Herrschers und seiner Beamten. Die Urform des mesopotamischen Staates ist also der Stadtstaat und seine Zusammenfassung mit anderen in einem föderalistischen Staatswesen, das als Ganzes sehr schwach ist. Anders ist die Lage in Ägypten. Auch dieses Land lebte von der Regulierung des auf die Uferränder übertretenden Wassers, das aber nicht die wütende und zerstörerische Kraft des Euphrat und Tigris besaß. Dementsprechend wird Palästina mit Ägypten verglichen: „Das Land, in das du hineinziehst, ist nicht wie das Land Ägypten, das du — hättest du es besät — wie einen Gemüsegarten durch mit deinem Fuß betriebene Schöpfräder hättest bewässern müssen" (Dtn 11,10). Da wird gesehen, wie entscheidend Wirtschaft und Siedlung für dieses Land waren. Auf ihnen beruhte weitgehend auch die Organisation des Staates. Grundlegend war die Geschlossenheit dörflicher Siedlung, weil die Bewässerung naturgemäß nur durch die gegenseitige Abstimmung der verschiedenen Interessen auf einer größeren Strecke des Wasserlaufs geregelt werden konnte. Dies führte folgerichtig weiter zu staatlicher Planwirtschaft, die in fester Organisation das Notwendige leisten konnte. Die Eigenart des Landes brachte wie von selbst die staatliche Einigung herbei. Schon früh teilte man das Land in Gaue ein, baute einen gegliederten Verwaltungsapparat auf, schuf eine geordnete Rechtspflege und schrieb ein für ganz Ägypten bestimmtes Gesetzbuch nieder. Dadurch erhielt der Gesamtstaat damals schon seine für die Folgezeiten grundlegenden Einrichtungen. Von vornherein drängte in Ägypten alles zum Einheitsstaat mit einer Zentralregierung, die im König gipfelte. Er hatte einen ständig wachsenden Beamtenapparat und ein stehendes Heer; mit ihrer Hilfe konnte er seinen Willen überall durchsetzen. Im Königtum verkörperte sich sogar die letzte Einheit als sittliche Ordnung. Der König war der „Verwirklicher des Guten", „der gute Gott", der die ethische Ordnung im Kosmos garantierte. Das Königtum verkörperte die Idee einer einheitlichen Weltordnung und suchte eine entsprechende Lebensordnung zu verwirklichen. 2. In Israel ist die Staatsbildung auf andere Weise vor sich gegangen. Sie setzt die Ansiedlung der Sippen und Stämme im Kulturlande voraus, auf die hin sich allmählich verschiedene Vorstufen eines Staatswesens entwickelten. Als erste ist die Umbildung der nomadischen Organisation zu nennen. Diese mußte sich den neuen Verhältnissen anpassen. So wandelten Sippe 14

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und Stamm sich in den Orts- und Gauverband um. Damit war die Grundlage für die Bildung einzelner Territorien geschaffen. Nicht mehr die personelle Zugehörigkeit zu Sippe oder Stamm, sondern die Niederlassung im Ort oder Gau war entscheidend, so daß auch ursprünglich Sippen- oder Stammesfremde in diese Gemeinschaften aufgenommen werden konnten. Freilich liegt in jedem Territorium zugleich die Bestrebung, sich selbständig zu machen und für sich allein zu bestehen. Daher führte die Bildung der Orts- und Gauverbände eigentlich nur zum Entstehen kleiner Territorien mit föderativer und zentrifugaler Kraft, die der Gründung eines Gesamtreiches hinderlich waren. Stets haben die Gaue als israelitische Stammesterritorien ein gewisses Eigenleben geführt und Salomo denn auch bei der Einteilung des Reiches Israel in Verwaltungsbezirke als Grundlage gedient. Josua und die sog. großen Richter gehören noch ganz in den Bereich des sich in Gauen konsolidierenden Stammeslebens. Sie waren Stammeshelden und sind erst nachträglich von der Überlieferung als Führer Gesamtisraels betrachtet worden. Tatsächlich handelt es sich um Heerbannführer einzelner Stämme, die sich durch ihre kriegerischen Erfolge als von göttlicher Kraft erfüllt auswiesen. Wie weit der Einfluß solcher Stammeshelden reichen konnte, zeigt das Beispiel Josuas: Nachdem und weil er im Namen des neuen Gottes Jahwe den Sieg errungen (Jos 10, 1—15) und sich zum Anführer seines Stammes emporgeschwungen hatte, verpflichtete er die Sippen seines Stammes auf diesen Gott und erhob das Heiligtum bei Sichern zum Stammesheiligtum (Jos 24). Daneben ist es zur Bildung von kleinen Herrschaften oder Stadtstaaten gekommen, wie sich aus den Angaben über die sog. kleinen Richter folgern läßt. So herrschten Tola in Samir auf dem Gebirge Ephraim (Jdc 10, 1—2), Jair innerhalb der Landschaft Gilead, wohl im Ort seiner Bestattung Kamon (Jdc 10, 3—5), Ibzan in Betlehem (Jdc 12, 8—10), Elon in Ajjalon (Jdc 12, 11—12) und Abdon in Piraton (Jdc 12,13—15). Da das Schema der Angaben über sie den Notizen über Saul und die späteren Könige nachgebildet ist, sollen sie als Herrscher hingestellt werden. Dann aber müssen sie den kanaanäischen Stadtkönigen ähnlich gewesen sein, so daß sich in Israel mehrfach der Übergang von der Stammes- zur Stadtstaatverfassung findet. Ferner bildete sich die patriarchalische Ordnung des Stammeslebens um. Der Einfluß der Ältesten erwuchs mehr und mehr aus ihrem Besitz. Es bildete sich eine Ordnung heraus, in der die werdenden Großgrundbesitzer die ihnen rechtlich gleichstehenden Eigentümer kleineren Besitzes tatsächlich von sich abhängig machten, die Ämter bekleideten und sich als

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eine Art Adel fühlten, der in den Territorien über die eigentliche Macht verfügte. Den zentrifugalen Kräften der Territorien wirkte die Notwendigkeit gemeinsamer Verteidigung gegen übermächtige Feinde entgegen. Wenigstens von einem Fall wissen wir, in dem sich die Heerhaufen einiger Stämme für kurze Zeit in der gemeinsamen Verteidigung ihrer Unabhängigkeit zusammenfanden. Es ist die Deboraschlacht (Jdc 4—5). Darin liegt ein gewisser Ansatzpunkt für einen ständigen Zusammenschluß von Stammesterritorien, sobald der äußere Druck stark genug war und eine überragende Persönlichkeit erschien, der alle zu folgen bereit waren. Es besteht weiter die Möglichkeit, daß ein Heiligtum mehreren Stämmen als Kultstätte dient. Der Grund für solche Kultgemeinschaft liegt teils in der besonderen Bedeutung einer bestimmten heiligen Stätte, die diejenige aller anderen Heiligtümer im weiteren Umkreis übertrifft, teils in der Aufspaltung eines eingewanderten Urstammes in mehrere neue Stämme, die noch am Mutterheiligtum des Urstammes festhalten, weil es ihre höhere Einheit vergegenwärtigt. Ein Beispiel für den ersten Fall ist die gemeinsame Benutzung des Taborheiligtums durch die umwohnenden Stämme Manasse, Sebulon, Isaschar und Naphtali. Ein Beispiel für den zweiten Fall ist die frühe Kultgemeinschaft der Lea-Stämme, für die vielleicht das Fleiligtum bei Sichern in Frage kommt; sie bestand nur in der Zeit, bevor andere Israeliten den Jahweglauben nach Palästina brachten. Eine derartige gemeinsame Benutzung eines Heiligtums betraf nur wenige Stämme, deren Zahl infolge der äußeren Gegebenheiten schwankte. Soweit ein gemeinsamer Kultus der Stämme am Heiligtum anzunehmen ist, stellte er eine kultisch-religiöse, nicht aber eine politische Einheit zwischen ihnen her. Die Annahme eines sakralen Bundes der angeblichen zwölf Stämme Israels dagegen läßt sich nicht halten. Das Alte Testament erwähnt eine derartige Einrichtung nicht, so daß sie nur aus der Parallele der griechischitalischen Amphiktyonien — der Vereinigungen der ein Heiligtum „Umwohnenden" — erschlossen worden ist. Aber was die griechischen und italischen Gruppen auch gewesen sind, als sie solche Amphiktyonien bildeten — mit semitischen Nomaden lassen sie sich nicht ohne weiteres vergleichen, so daß man nicht einfach analoge Einrichtungen voraussetzen darf. Auch die Zwölfzahl kommt in allen möglichen Zusammenhängen vor und weist als solche keineswegs auf einen sakralen Bund hin. Es hat wohl auch niemals genau zwölf israelitische Stämme in Palästina gleichzeitig gegeben, die einen entsprechenden Bund gebildet haben könnten. 14·

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Denn die Zwölfersysteme der Stämme Israels geben nicht die getreue geschichtliche Wirklichkeit wieder, sondern gleichen sie in verschiedener Weise an eine vorgegebene Theorie der Zwölfzahl an. Zumindest drei solcher Systeme sind zu unterscheiden. Den jüngsten Zustand spiegeln Num 1 und 26 wider, beide aus der jüngeren Richterzeit stammend; an Stelle des ausgeschiedenen Stammes Levi wird Joseph in Ephraim und Manasse zerlegt. Etwas ältere Verhältnisse hat das System von Gen 49 im Auge, das Levi noch aufweist, aber Benjamin an Stelle von Dina einfügt. Es gibt schließlich ein noch älteres System, das Ephraim, Manasse und Benjamin nicht kennt, wohl aber außer dem ungeteilten Stamm Joseph die Stämme Levi und Dina; es führt also vor die Entstehung Benjamins und die Auflösung Josephs in Ephraim und Manasse (Gen 29, 31—30, 24). Da nun diese drei Stämme schon durch das aus der Richterzeit stammende Deboralied (Jdc 5) bezeugt sind, muß das älteste System früher und demnach in der Zeit gegen Ende der Landnahme angesetzt werden. Jedoch ist damals der Jahweglaube den in Palästina lebenden Israeliten wahrscheinlich noch nicht bekannt gewesen, weil er erst von der Moseschar als letzter der einwandernden Gruppen gegen 1200 v. Chr. mitgebracht wurde. Infolgedessen kann das älteste System keinesfalls eine JahweAmphiktyonie voraussetzen. Alle Zwölfersysteme Israels beruhen vielmehr, wie die Sechser- und Zwölfersysteme anderer Stämme (Gen 22, 20—24; 25, 2.13—16; 36, 10—14. 20—28), auf dem genealogischen Denken der Nomaden. Sie sind auf die Reinheit ihrer Abstammung stolz, so daß sie sie hüten und pflegen. Daher weisen sie auf die Verwandtschaft der lebenden Generation mit dem Stammvater und auf die Verwandtschaft mit anderen Stämmen hin, deren Väter als die Brüder des eigenen erscheinen, so daß die Heirat mit ihren Nachkommen die Blutreinheit bewahrt und also erlaubt ist. Die auf diese Weise entstehenden Stammtafeln können sowohl als lange Ketten von Stammesund Sippenregistern auftreten wie bei den islamischen Gelehrten als auch in verkürzter Form mit wenigen eindrucksvollen Namen wie in der volkstümlichen Tradition. In diesen Zusammenhang gehören die Zwölfersysteme der israelitischen Stämme. Sie weisen nicht auf Amphiktyonien hin, sondern sind volkstümliche verkürzte Genealogien in ideal-geschichtlicher oder -geographischer Form. Neben diesem Nachwirken des nomadischen Denkens bemerken wir im Alten Testament eine davon unabhängige geschichtlich-geographische Gesamtanschauung der Lage Israels. Sie stammt ebenfalls aus sehr früher Zeit, weiß aber nichts von zwölf Stämmen, geschweige denn von einer

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Amphiktyonie. So liegt der endgültigen Abfassung des Buches Josua ein System der Grenzbeschreibungen israelitischer Stämme zugrunde, das aus der vorstaatlichen Zeit herrühren kann. Es weiß aber nichts von einer Zwölfzahl von Stämmen, so daß die spätere Angleichung daran recht mühevoll war. Ebenso ist die auf der gleichen Gesamtanschauung beruhende Übersicht der zunächst selbständig gebliebenen nichtisraelitischen Stadtstaaten in Jdc 1 vom Schema der zwölf Stämme Israels unabhängig. In diesen Listen ist das nomadische genealogische Denken durch eine auf die geschichtliche geographische Lage Israels in Palästina bezügliche Anschauung ersetzt, so daß die Theorie der Zwölfzahl beiseite gelassen wird; eine Amphiktyonie ist gleicherweise unbekannt. Als vorstaatliche Einrichtung Israels, die die Stämme schon auf sakraler Grundlage geeint hätte, läßt sie sich daher schwerlich erweisen. Ungeachtet dessen wird damit doch auf eine wesentliche Vorbedingung zur Staatsbildung hingewiesen. Es ist der Jahweglaube, den die Moseschar nach Palästina brachte. Er breitete sich unter den dort schon ansässigen Stämmen schnell als einigendes Band aus, besonders dank der missionierenden Tätigkeit der priesterlichen Leviten und des Einflusses maßgeblicher Einzelgestalten wie des Josua, der seinen Stamm auf den neuen Glauben verpflichtete. Zugleich beginnt sich eine eigene israelitische Kultur zu entfalten, die ebenfalls als gemeinsames Bindeglied wirkt. Man darf die Vorstufen der Staatsbildung nicht überschätzen; allein hätten sie schwerlich ausgereicht. Die letzten Anstöße gab vielmehr die äußere Lage Israels. Damals bestand kein Großreich im Alten Orient, so daß Palästina ohne fremden Oberherrn war. Seine Völker konnten die eigenen Kräfte entfalten, entbehrten allerdings auch des Schutzes einer Großmacht und waren gegenüber Angreifern auf sich selbst gestellt. Die Israeliten sahen sich insbesondere von den Philistern bedrängt, die in der Nachfolge der Ägypter den Anspruch auf Oberherrschaft über ganz Palästina erhoben und sich das Land unterwerfen wollten. Die mit ihren Erfolgen verbundene Schwächung der Israeliten nutzten die Ammoniter aus und suchten das von Mittelpalästina her gewonnene israelitische Siedlungsgebiet im Ostjordanland zu erobern. So war die Freiheit der israelitischen Stämme ebenso bedroht wie ihr Glaube und ihre Kultur. In dieser Notlage kam es zur Wahl Sauls zum ersten König, nachdem er sich durch militärische Erfolge gegenüber den Ammonitern als großer Stammesheld und als von Gott mit besonderer Kraft erfüllt gezeigt hatte. Der Wahl durch das Volk geht schon seine Designation durch den Seher Samuel voraus, der das Königtum nach der älteren und treffenderen Dar-

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Stellung im Namen Jahwes begründet (I Sam 9—10,16). Er handelt in der Einsicht, daß der Glaube Israels nur noch in Zusammenhang mit der staatlichen Festigung durch das Königtum bestehen könne. Entgegen der späteren Anschauung (I Sam 8; 10, 17—27) ist das Königtum nicht im Gegensatz zum Jahweglauben entstanden, sondern schien durch ihn gerade gefordert. Aber das Neben- und Ineinander beider Überlieferungen ist doch bedeutsam. Sie sollen für den Augenblick seiner Entstehung die Aufgaben und Gefahren des Staates sichtbar machen. Die Rolle, die der alttestamentliche Glaube bei der Staatsgründung gespielt hat, weist darauf hin, daß der Staat einen Raum für die Freiheit des Menschen und seines Glaubens schaffen soll, der sonst durch die Knechtschaft bedroht ist. Zugleich wird vor der Gefahr der innerstaatlichen Knechtschaft gewarnt und der mögliche Übergriff des Staates auf andere Lebensgebiete vor Augen gestellt. Die Verwirklichung dessen lag freilich noch in der Zukunft. Das Königtum Sauls bildet erst ein Übergangsstadium vom Stammesleben zum voll ausgebildeten Staat. Es ist zwar kein Stammeskönigtum, sondern Volkskönigtum, weil Saul von den meisten israelitischen Stämmen anerkannt ist. Es ist aber nationales, nicht territoriales Königtum; Saul herrscht nicht über ein bestimmtes Gebiet, sondern über Israel als eine Menschengruppe. Zudem ist es ein reines Heerkönigtum ohne eigentliche politische Funktionen; es ist durch den Krieg und zur Abwehr der Feinde gegründet und auf die Führung des israelitischen Heerbanns beschränkt. Insgesamt bildet das Königtum Sauls weder einen Neuanfang noch die Fortführung einer Amphiktyonie, sondern eine Erweiterung des bisherigen Stammesführertums. Noch in diesem Stadium der Staatsbildung sind also nomadische Nachwirkungen spürbar. Die letzten Schritte zum eigentlichen Staat haben David und Salomo getan. Zunächst hat David einen abgerundeten palästinischen Territorialstaat geschaffen, in dem Israeliten und Kanaanäer gemeinsam und gleichberechtigt lebten. Gemeinsam wurden sie zu Untertanen des Königs, die Steuern zahlen und Frondienste leisten mußten. Zwar waren die Widerstände groß, und mehr als eine Revolte brach aus. Aber auf die Dauer wurde der nomadische Freiheitsgeist gebrochen. Dafür sorgten das Beamtentum und das Söldnerheer, die David einführte und durch die er sich von der israelitischen Aristokratie und vom Heerbann der Vollbürger unabhängig machte. Hinzu kam, daß er sich in Jerusalem eine eigene Hauptstadt eroberte, die zu keinem Stammesterritorium gehörte. Nach und nach schuf David ein Großreich, das Salomo als großer Diplomat und Kaufmann in die internationalen Beziehungen seiner Zeit ein-

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zugliedern wußte — politisch, wirtschaftlich und kulturell. Unter David reichte es — bei Einbeziehung der Vasallen — von der ägyptischen Grenze bis zum Euphrat, unter Salomo ging der nördliche Teil wieder verloren. Damit war aus den kleinsten Anfängen heraus Schritt für Schritt ein großes Staatswesen entstanden, das ebenbürtig neben den Großmächten bestehen konnte, die sich sonst nur in Ägypten, Mesopotamien und Kleinasien finden. Dabei ist für den Aufbau und die Organisation des Staates weitgehend das ägyptische Vorbild maßgeblich gewesen, das in Palästina seit alters lebendig war und dessen Nachwirkung David nochmals in seiner zeitweiligen Tätigkeit als philistäischer Vasall kennenlernen konnte. In sich war das Reich freilich ein sehr kompliziertes Gebilde, das nur durch die Person des Königs und seine militärische Macht zusammengehalten wurde. Es war sozusagen ein personaler und persönlich bedingter Staat. Alles hing von der Kontinuität der persönlichen Reichsleitung ab, also von der streng dynastischen Bindung an das Geschlecht des Reichsgründers. Sobald sie bestritten wurde, wie nach dem Tode Salomos, zerfiel das Großreich; selbst der palästinische Kern spaltete sich in zwei israelitische Staaten. Religiöse Gründe wirkten dabei allerdings nur in geringem Maße mit. Hauptsächlich dokumentierte sich darin die Abneigung des im nördlichen Israel damals noch nachwirkenden Nomadentums gegen ein Staatswesen, das ganz den Gesetzen der übrigen altorientalischen Staaten mit ihrem absoluten Königtum folgte. 3. Fragen wir nunmehr nach dem Wesen des israelitischen Staates, der seine Formen weitgehend David und Salomo verdankt, so hat er naturgemäß vieles mit den anderen altorientalischen Staaten gemeinsam. Er unterschied sich von ihnen in einem bezeichnenden Punkt: in Stellung und Verständnis des Königs, der nach antiker Vorstellung den Staat gewissermaßen repräsentiert und dessen Rolle dem Wesen seines Staates gemäß war. Während der sumerische Stadtstaat als Gutsbesitz einer Gottheit mit dem wirtschaftlichen Zweck ihrer Versorgung mit allen Lebensbedürfnissen fast eine private Organisation darstellte, von einem Priesterkönig als Statthalter der Gottheit geleitet, hatte der nationale Staat in Mesopotamien eine politische Aufgabe. Er war eine Polizeimacht, die ihren Auftrag von der ausführenden Gewalt des Universums erhalten hatte. Diejenige Gottheit, die von der Götterversammlung mit der Sorge für die Ordnung im Kosmos betraut war, übte diese Befugnis auf Erden durch den König aus. Der König war also nicht ein inkarnierter Gott mit sakraler Weihe und Würde, sondern der zu göttlicher Würde erhobene Mensch, der divine König.

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Sein Amt bestand darin, im Inneren Gesetz und Ordnung aufrechtzuerhalten und Übeltäter zu bestrafen, das Land nach außen zu schützen und Kriege zu führen. Eine solche Beauftragung galt nur als zeitweilig und aufhebbar. Daher wurde jeder erfolgreiche Eroberer als der irdische Diener eines neu beauftragten Gottes betrachtet und anerkannt. Dagegen galt in Ägypten der Pharao zuerst als der sakrale König, der inkarnierte Gott. Er war der Berührungspunkt zwischen Göttern und Menschen als der göttliche Herrscher. In ihm verkörperte sich die letzte Einheit als sittliche Ordnung. Seine Verantwortung als Hirte für sein Volk schloß Macht und Fürsorge gleichermaßen in sich. Man setzte in ihm eine schöpferische Intelligenz voraus, eine besondere Fähigkeit zu herrschen und eine Gerechtigkeit, die mehr als bloßes Gesetz war. Als man später die Verbindung zwischen Gott und Welt im Sonnengott Re als dem Schöpfer gegeben sah, bedurfte man des Königs als unmittelbarer Manifestation des göttlichen Geistes nicht mehr. Er galt nicht mehr als Gott, sondern nur als vor allen anderen begnadeter Mensch. Die subjektiv geistige und persönlich gestaltete Sonderform trat in den Vordergrund. Es entstand eine revolutionäre Spannung, die sich in einem großen Aufruhr entlud. Schließlich begann der systematische Ausgleich dieser Spannungen. Es wurde eine Staatsordnung des inneren Gleichgewichts der Kräfte aufgebaut, die von der ständischen Gliederung des Volkes ausging. Der nüchterne Skeptizismus der Zeit machte sich auch in der Auffassung des Königtums geltend. Die früheren äußeren Formen wurden zwar wiederhergestellt, doch hatten sie nur den Wert eines Bekenntnisses zur Tradition und waren ohne Lebenskraft. Die Könige waren vielmehr Titanen des Willens, die sich durch die überragende Kraft ihres Menschentums Geltung verschafften. In Israel erschien der Herrscher wie im ganzen Alten Orient als der Gott-König, als der Weltherrscher und als der Sozialherrscher, in dem sich die göttliche Gerechtigkeit verkörperte. Aber er galt weder als Priesterkönig noch als wirklicher Gottessohn, weder als sakraler noch als diviner König, so daß es in Israel keine Königsvergötterung gab. Statt dessen war der König der „Gesalbte Gottes", von ihm bei der Krönung legitimiert. Diese Auffassung war ebenso durch das frühere Nomadentum wie durch den Glauben bedingt. Besonders deutlich wird die Sachlage an den Königspsalmen. Im Gottesdienst handelt nicht eigentlich der König als GottKönig, sondern primär das Volk, die Stadt oder die Gemeinde im Angesicht Gottes. Daher gibt es überhaupt nicht viele Königslieder. Die wenigen überlieferten Lieder sind innerlich auf den Glauben gegründet und dadurch

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zu einem Bekenntnis zu Gott als dem Lenker des Geschicks von Menschen und Völkern geworden. Gott und nicht der König steht im Mittelpunkt. Freilich blieb manche Forderung des Glaubens nur Theorie. Als das Königtum einmal eingesetzt war, folgte es seinen eigenen Gesetzen. Der König, der eigentlich nur ein sichtbarer Repräsentant des unsichtbaren Gottes und ein Werkzeug in seiner Hand sein sollte, mußte aus seinem Amt bald die politischen Folgerungen ziehen. Damit aber waren in einem Volk, dessen Kräfte in großem Umfang aus dem Gottesglauben flössen, Spannungen und Krisen unvermeidlich. In der Zeit des Königs Josia suchte das deuteronomische Gesetz die Spannungen aufzulösen. Es errichtete dem Königtum gewisse Schranken, die jede absolutistische und imperialistische Politik verhindern sollten (Dtn 17,14—20). Der König sollte daran gehindert werden, das Volk in willkürlich begonnene Kriege zu führen, fremde Einflüsse in seiner Regierung walten zu lassen und die Steuerlasten zu erhöhen. Nehmen wir die Einsetzung der Richter durch das Volk, die Errichtung eines obersten Gerichts am Heiligtum statt am Königshof und die Sozialgesetzgebung hinzu (Dtn 16, 18—20; 17, 8—13; 20—25), so erkennen wir einen fast revolutionären Versuch der Neugestaltung des Staates unter dem Einfluß des alttestamentlichen Glaubens. Während die Befugnisse des Königtums eingeengt und eine Art konstitutioneller Monarchie geplant werden, ruft das deuteronomische Gesetz das politische Gemeinschaftsbewußtsein und die tätige Mitverantwortung der Staatsbürger wach, die gemeinsam als die „Brüder" handeln sollen. Der neue Staatsgedanke ruht auf einer religiös-ethischen Entscheidung für den göttlichen Willen. Wer sie getroffen hat, trägt das Gesetz in sich und handelt aus seiner Absicht und Gesinnung heraus. Wenn vom Glauben das Leben nicht getrennt werden darf, sondern geheiligt werden soll, gilt dies auch vom staatlichen Leben und vom öffentlichen Handeln des einzelnen Menschen. So lehrt das deuteronomische Gesetz, daß die rechte innere Haltung des Menschen die lebendige Kraft einer Staatsverfassung ist. Ob sich das im täglichen Leben bewährt hätte, wissen wir nicht. Denn bald danach ist der Staat Juda untergegangen. In stärkerem Maße als auf der Ebene des Staates sah sich der israelitische Vollbürger in seinem Wohnort in das öffentliche Leben hineingezogen. Die Rechtsgemeinde griff ein, wenn ein Streit zwischen zwei Bürgern das Leben der Gemeinschaft berührte oder gefährdete. In diesem Falle wollte sie befrieden, den Streit schlichten und das Wohl der Gemeinschaft wahren, indem sie nach Möglichkeit die Anliegen aller Beteiligten gütlich ausglich.

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Solange diese Rechtsgemeinde die Versammlung freier, unabhängiger und mit ziemlich gleichem Besitztum versehener Bauern bildete, vermochte sie deren Streitigkeiten zu schlichten. Jedoch nach der Verschiebung der Besitzverhältnisse durch den Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft wurde das Recht nur zu leicht zugunsten der wirtschaftlich Mächtigen gebeugt. Die Rechtsgemeinde versagte nunmehr. Wiederum suchte das deuteronomische Gesetz nach Abhilfe. Es schränkte die Befugnisse der örtlichen Rechtsgemeinde ein und löste den Schiedsspruch aus der lokalen Befangenheit und Unfreiheit, um die soziale Ungerechtigkeit zu mindern, die sich eingeschlichen hatte. Statt dessen wurde am Tempel in Jerusalem ein oberstes Gericht eingesetzt, an das man sich in schwierigen Fällen wenden sollte, besonders bei Eigentumsfragen, Blutvergießen und tödlicher Mißhandlung (Dtn 17, 8—13). Dieses Gericht sollte unbeeinflußt von örtlichen Verhältnissen, unbefangen gegenüber dem abweichenden Gewohnheitsrecht verschiedener Landschaften, aber in tiefer Verpflichtung gegenüber dem göttlichen Rechtswillen urteilen. Auch in diesem Fall wissen wir nicht, ob die Neuordnung sich bewährt hätte, weil der Staat Juda bald danach zusammengebrochen ist. Unbeschadet dessen lehrt die Rechtsgemeinde, daß alles menschliche Zusammenleben auf der Grundlage des Rechts beruht und stets das von Gott gewollte Recht verwirklicht werden soll. Gott ist ein Gott des Rechts und der Gerechtigkeit. Er fordert die Befolgung seines Rechtswillens und die Bewährung in einem Verhalten, das die eigenen Ansprüche mit den Anrechten des Mitmenschen ausgleicht. Wer sein eigenes Recht sucht, muß zugleich dem anderen das seine zukommen lassen. 4. Wie das deuteronomische Gesetz zeigt, hat Israel sich nicht leichthin mit den Zuständen abgefunden, die im öffentlichen Leben zu beobachten waren. Auch sonst hat es nicht an kritischen Stimmen gefehlt. Das nomadische Erbe spricht sich aus, wenn das Königtum in revolutionärer Weise rundweg abgelehnt wird, wie es die Jotamsfabel beabsichtigt (Jdc 9, 8—15): Die Bäume suchen sich einen König, aber Ölbaum, Feigenbaum und Weinstock lehnen das Angebot ab: Soll ich meine Frucht lassen, mit der man Götter und Menschen ehrt, und kommen, um bei den Bäumen herumzuziehen?

Nur der fruchtlose, unnütze Dornstrauch gibt endlich eine zustimmende Antwort:

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Der Staat und das politische Handeln Wenn ihr mich im Ernste krönt, daß ich König über euch sei, kommt her und bergt euch in meinem Schatten; sonst geht Feuer vom Dornbusch aus, das die Libanonzedern verzehrt!

Demnach ist Königsein ein völlig fruchtloser Beruf, zu dem sich ein anständiger Mensch nicht hergibt. Außerdem ist es immer Tyrannis. Wird somit das Königtum im Namen der Freiheit abgelehnt, so in konservativen Kreisen auch aufgrund einer Verbindung von Nomadentum und Jahweglaube, die unauflöslich miteinander verbunden schienen. Galt die Stadt als durch den ersten Mörder Kain sozusagen „erfunden" (Gen 4,17) und besonders die Großstadt als Ausdruck menschlicher Sünde (Gen 11, 1—9), so auch das Königtum als eigentlich heidnische Einrichtung und nur geduldet — vielleicht bis zur Verwirklichung der Theokratie, der unmittelbaren Leitung des Volkes durch Gott (Jdc 8, 23; I Sam 8; 10,17—27). Die eigentliche Kritik am Staate findet sich bei den Propheten. Da das Königtum der Repräsentant dieses Staates und der Exponent seiner Politik war, richteten sich scharfe Angriffe gegen es. Hosea bringt nach häufigen Revolutionen, die dem Königtum den Nimbus des Gottgewollten und des Gottesgnadentums genommen haben, das Urteil Gottes: Sie machen Könige, ohne mich zu fragen, setzen Beamte ein, von denen ich nichts weiß.

(Hos 8, 4a)

Das Königtum ist aus einem Segen zum Fluch geworden, aus einer Gabe Gottes zu einer Plage und Strafe. Das Volk kann in seiner Not nicht auf die Staatsführung hoffen, denn ihre Politik führt ins Verderben. Das ist kein Zufall, sondern Gottes Wille. Diese Staatsführung nutzt nicht nur nichts, sondern ist sogar ein Mittel des göttlichen Gerichts: Ich gab in meinem Zorn dir einen König und nehme ihn in meinem Grimm dir wieder.

(Hos 13,11)

Von da aus erklären sich die prophetische Kritik an allen Großen und Mächtigen im Staate und die Rücksichtslosigkeit ihnen gegenüber. Da ist keinerlei Unterwürfigkeit, vielmehr ist der Prophet von seiner Überlegenheit gegenüber den Regierenden erfüllt. Groß ist Gott allein. Der König und seine Regierung sind nur Beauftragte und Diener Gottes und besonders strenge Rechenschaft schuldig. Wehe ihnen, wenn sie sich vergehen! Der Prophet sieht, daß das Unheil nicht nur von unten, sondern auch von oben ausgehen kann. Daher richtet er seine Anklage nicht nur gegen die Masse des Volkes, sondern auch gegen seine herrschende Schicht:

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Ich dachte mir: Das sind nur kleine Leute, die sind töricht! Sie kennen den Weg des Herrn nicht, die Forderung ihres Gottes. Ich will doch einmal zu den Großen gehen, mit ihnen reden; sie müssen doch den Weg des Herrn, die Forderung ihres Gottes kennen! Doch gleicherweise haben sie das Joch zerbrochen, den Strick zerrissen.

(Jer 5,4—5)

Die Gründe für solche scharfen Worte lagen in der Politik der Staatsführung. Daher verurteilten die Propheten manchmal die Methoden der Innenpolitik: Mein Volk — sein Herrscher ist ein Kind, Wucherer herrschen über es. Mein Volk, deine Leiter führen dich irre und verwirren deine Wege. Der Herr steht bereit, um den Prozeß zu führen, tritt auf, um seinem Volke Recht zu schaffen. Der Herr geht ins Gericht mit den Ältesten seines Volkes und seinen Beamten: „Ja ihr, ihr habt den Weinberg niedergebrannt, was ihr den Armen raubtet, ist in euren Häusern. Was fällt euch ein! Ihr zerschlagt mein Volk und zermalmt das Gesicht der Armen!"

(Jes 3, 12—15)

Jeremía erhob heftige Vorwürfe gegen den König Joj'akim: Weh dem, der sich sein Haus mit Ungerechtigkeit erbaut, seine Gemächer mit Unrecht; der seinen Nächsten ganz umsonst arbeiten läßt, ihm seinen Lohn nicht gibt; der denkt: ,,Ich baue mir einen geräumigen Palast mit weitläufigen Zimmern"; der sich Fenster dran ausbricht, ihn rot bemalt! Bist du denn dazu König, daß du dich für Zedernholz begeisterst? Dein Vater hat doch auch gegessen und getrunken, aber Recht und Gerechtigkeit geübt.

Der Staat und das politische Handeln Dein Auge und dein Sinn jedoch sind nur auf deinen eignen Vorteil aus, darauf, das Blut unschuldger Menschen zu vergießen und andere zu bedrücken!

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(Jer 22,13—17)

Dazu gehören ferner die prophetischen Worte zur Religionspolitik. Die Propheten haben dem Versuch, den alten Gottesglauben zur Staatsreligion zu erheben, stets ablehnend gegenübergestanden. Ihr Kampf gegen Heiligtümer und Priester und ihre Verachtung des ganzen Kultus sind zu einem Teil darauf zurückzuführen, daß all dies eifrig und gehorsam zur Stützung der Staatsreligion und der mit ihrer Hilfe betriebenen Politik ausgenutzt worden ist. Daher protestierten sie gegen die unheilige Allianz von Thron und Altar. Sie erkannten auch den Zusammenhang mit dem Niedergang des Rechts und dem Mißbrauch der politischen oder wirtschaftlichen Macht. Nur deshalb, so heißt es, sind die Richter bestechlich, lehren die Priester für Geld und wahrsagen die Propheten für Silber, weil sie sich Gottes sicher glauben und sich sagen: Er ist in unserer Mitte, deshalb wird kein Unheil über uns kommen (Mi 3,11). Das ist die Folge des Aufblühens der Staatsreligion, die die herrschenden Kreise befürworten, weil sie daraus für sich selbst und ihre Pläne Nutzen ziehen können. Insbesondere ist die prophetische Kritik deutlich, die die Politik des Königtums nicht mehr als gegeben hinnimmt, sondern ständig und unermüdlich dagegen streitet, wo sie die erlaubten Grenzen überschreitet und die Ehre Gottes durch die Einführung oder Förderung fremder Götterkulte verletzt. Noch der Abscheu, mit dem Jeremía und Ezechiel die Nachblüte dieser Religionspolitik in ihrer Zeit betrachten, läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Die prophetische Verurteilung der Außenpolitik ist ebenso scharf. Am liebsten möchten die Propheten diese treulose und ränkevolle Politik, mit deren Hilfe Israel zwischen den Großmächten eine Rolle spielen möchte, ganz beseitigt wissen. Denn letztlich zeigt sich in ihr die abgrundtiefe Dummheit und Verdorbenheit der Politiker, die dabei Gottes Willen doch nicht entgehen können: Ephraim ist wie eine Taube, leicht verführbar und dumm. Ägypten riefen sie um Hilfe an, nach Assur liefen sie. Sooft sie hingehn, werfe ich mein Netz über sie aus.

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Ich hole sie wie Vögel aus der Luft herunter, fang sie in einer Falle.

(Hos 7, 11-12)

Kein Verbündeter und keine Großmacht können helfen, wenn Gott Verderben und Untergang will. Die Großmächte sind vor Gott genauso ohnmächtig wie jeder andere Mensch. Darum muß jede Politik, die in eitlem Machtstreben auf der Weltbühne eine Rolle spielen will und dabei Gott außer acht läßt, von vornherein zum Scheitern verurteilt sein. Als zur Zeit des Propheten Jesaja das Südreich Juda vom Nordreich Israel und dem Aramäerreich von Damaskus überfallen wurde, verbreiteten sich Furcht und Schrecken in Jerusalem. Der König Ahas bereitete seine Hauptstadt auf die zu erwartende Belagerung vor und erwog einen Hilferuf an die Assyrer. Da trat Jesaja ihm entgegen, verglich die beiden feindlichen Fürsten mit qualmenden Resten von Holzscheiten und verhieß, daß ihre Pläne sich nicht verwirklichen würden, wenn Juda auf Gott statt auf menschliche Macht vertraute: Denn Arams Haupt ist nur Damaskus, das von Damaskus nur Rezin. Ephraims Haupt ist nur Samaria, das von Samaria nur der Rimaljasohn. Glaubet ihr nicht, so bleibt ihr nicht!

(Jes 7, 7-9)

Jasaja wandte sich gegen die anscheinend so kluge Politik, die Assyrer gegen die Eindringlinge zu Hilfe zu rufen, weil sie der Großmacht in Wirklichkeit nur den willkommenen Anlaß zum Eingreifen in Palästina bot und tatsächlich schwerwiegende Folgen gehabt hat. Statt dessen rief Jesaja zum wagenden Glauben auf. Zur gleichen Zeit wirkte im Nordreich Israel, das am Überfall auf Juda beteiligt war, der Prophet Hosea. Wie verhielt er sich als Angehöriger des angreifenden Staates? „Stoßt ins Horn in Gibea, in die Trompete in Rama, schlagt Lärm in Betel, scheucht Benjamin auf!" Ephraim soll dann zum Entsetzen werden am Tag der Heimsuchung! Den Stämmen Israels künd' ich Untrügliches!

(Hos 5, 8-9)

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Dieses Wort führt in die Zeit, als die Israeliten gegen Juda vorgedrungen waren, Benjamin erobert hatten und gegen Jerusalem selbst vorgehen wollten. Hosea sah dieses kriegerische Unternehmen völlig scheitern: Ein Gegenstoß Judas wird Benjamin zurückerobern und sogar das Kerngebiet des Staates Israel verwüsten. Hosea erblickte darin die Strafe Gottes f ü r Israel, das den Krieg heraufbeschworen hatte. Gott verurteilt den Vergewaltigungsversuch an Juda. Zusammen mit weiteren Worten über diesen Krieg (Hos 5, 10—14) zeigt dies, daß Hosea sich von Anfang an gegen die israelitische Bündnispolitik und ihre Folgen gewendet hat. Er stimmte grundsätzlich mit Jesaja überein; seine Haltung war zu dessen Neutralitätsforderung und Erwartung vom Ausgang des Konflikts parallel. Mehr als ein Jahrhundert später, als sich die Botschafter der syrischpalästinischen Kleinstaaten in Jerusalem versammelt hatten, um über den Abschluß eines Bündnisses gegen Babylonien und den Beginn des Aufstandes zu beraten, trat der Prophet Jeremía vor sie hin — ein Rinderjoch um den Hals — und forderte sie auf, von dem unsinnigen Bündnis zu lassen und unter der babylonischen Herrschaft zu bleiben, weil ihre Völker sonst zugrunde gingen. Das ist der Wille des Gottes, der der Herr der Kleinstaaten wie der Großmächte ist (Jer 27). Das Bündnis ist damals tatsächlich nicht zustande gekommen; vielleicht hat das ernste und entschlossene Auftreten Jeremias dazu beigetragen. Der Staat bot der Prophetie zahlreiche Angriffspunkte für ihre Kritik. Freilich richtete sich diese nicht gegen die Staatsordnung überhaupt. In ihrem Niedergang, in der Anarchie, konnte Jesaja gerade das vernichtende Gericht beginnen sehen (Jes 3,1—9). Der Staat wurde als geordnete Form menschlichen Zusammenlebens durchaus anerkannt und bejaht. Aber die naive Selbstverständlichkeit wurde bezweifelt, mit der man im Leben des Königs und in der Politik seiner Regierung das Walten Gottes erblickte. Der Wille von Staat und König ist nicht einfach und leichthin als der Wille Gottes zu bezeichnen. Die Propheten trugen vielmehr die Spannung zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Willen in das öffentliche Leben hinein. Sie zeigten in aller Deutlichkeit die Doppelseite des Staates, die das Nebeneinander der Überlieferungen von der Einsetzung Sauls zum König nur andeutet. Der Staat hat im menschlichen Zusammenleben eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Indem er es tut, ist er an sich weder göttlich noch widergöttlich. Aber die Erfahrung lehrt, daß er nur zu leicht und immer wieder von dem von Gott gewollten Recht abweicht und sich selbst gottähnliche Vollmacht und letztgültige Entscheidungen anmaßt. Wenn dies eintritt, muß man ihm widerstehen und ihn in seine Schranken

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zurückweisen. Aus diesem Grunde rügten und bekämpften die Propheten den Staat. Sie wandten sich gegen ihn, sofern und soweit er sich auf seine Heeresmacht und seine Bündnisse verließ, um damit Politik zu treiben, den wahren Herrn der Welt jedoch völlig aus den Augen verlor. Gewiß bedeutet dies nicht, daß die Propheten jede mit den Tatsachen rechnende Politik einfach verdammt hätten. Sie taten es nicht mehr oder weniger, als sie umgekehrt jede religiöse Utopie ablehnten. Sie rechneten durchaus mit den Tatsachen, aber wußten Gott darüber erhaben. Sie kannten auch große Zukunftspläne, aber waren sich darüber klar, daß Gott allein über die Zukunft verfügt und seine eigenen Wege geht. Die prophetische Haltung gegenüber dem Staat begegnet weitgehend in negativen Formulierungen. In ihnen verurteilten die Propheten vor allem die Gewalt als Gegenteil des Rechts, die in der Vergewaltigung der Kleinen und Schwachen triumphiert. In der Verwerfung der Gewalt betonten die Propheten das Recht und verteidigten es gegen das Unrecht. Sie setzten sich für den Rechtsstaat ein, den Gott will. Gott ist ein Gott des Rechts und der Gerechtigkeit; das Recht ist der Ausdruck seines Willens. Alle Sünde zieht den Verfall der Rechtsordnung nach sich. Solches Recht ist aber nicht einfach das staatlich-juristische Recht; Staatsrecht und Staatsgesetz ist nicht dem göttlichen Recht gleich. Denn es dient oft genug dem Unrecht, so daß die Propheten ihm oft genug mit Leidenschaft entgegentraten. Dem Satze „fiat justitia, pereat mundus" hielten sie das gottgewollte und gottgegebene Recht des Menschen entgegen. Längst bevor sie für das Staatsleben entdeckt wurden, waren die Propheten die Hüter der Rechte des Menschen. Aus diesen Rechten spricht Gott. Wer sie verletzt, greift Gott selbst an. Stets forderten die Propheten, daß die Unzulänglichkeiten beseitigt werden sollten. Die Behebung der Mißstände erwarteten sie aber nicht durch eine Änderung des Weltzustandes oder der Lebensverhältnisse, sondern durch eine Wandlung des Menschen. Vollzieht sich diese Wandlung, so erscheint dem neuen Menschen die ihn umgebende Welt anders und versteht er die Anforderungen menschlicher Gemeinschaft besser. Er bewirkt zudem durch sein eigenes Handeln und das Mithandeln anderer gleichgesinnter Menschen, daß seine Umgebung sich ändert und die Mißstände in seinem Umkreis beseitigt werden. So stellt Hos 2,18—22 fest, daß die Glaubenden in einer Sphäre des Friedens leben, mit einer Liebe und Treue, die derjenigen Gottes entsprechen. Jer 31, 31—34 sieht diese Menschen unter einem neuen Gotteswillen leben, unter dem sie freiwillig und von sich aus den grundlegenden

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Forderungen nachkommen, die als göttlicher Wille in ihr Inneres geschrieben sind. Ez 34, 23f.; 45, 9—17 sieht den Herrscher eines Staates, in dem diese Glaubenden leben, nicht mehr aus Eigennutz und Selbstherrlichkeit handeln; vielmehr wird er sich als Unterhirte unter dem göttlichen Oberhirten wissen, für dessen Herrschaft auf Erden er eintritt. Damit hängt das Wichtigste zusammen. Das Ziel allen Menschenlebens, auch der menschlichen Gemeinschaften, soll sein, daß Gott im Leben und durch das Leben der Glaubenden auf Erden herrscht und daß der Glaubende in Gemeinschaft mit ihm lebt. Die Aufgabe des Glaubenden besteht darin, diese Herrschaft und Gemeinschaft zu verwirklichen — in seinem eigenen Leben und in den Gemeinschaften, denen er angehört (vgl. z. B. Ez 43, 6—9). Demgemäß ist es Aufgabe des Staates als einer Form menschlicher Gemeinschaft, einen Raum zu schaffen, in dem jene Herrschaft und Gemeinschaft sich durch das Leben der Menschen entfalten können. Damit erhält er seine Aufgabe, sein Ziel und seine Grenze gesetzt. Er ist etwas Behelfsmäßiges; er hat seinen Wert nicht aus und in sich selbst, sondern soll dienenden Charakter tragen. Er ist nicht um seiner selbst willen da, sondern nur erforderlich, um den Raum und die geordneten Verhältnisse zu schaffen, in denen sich das Eigentliche des menschlichen Lebens abspielen und entfalten kann: die Gottesgemeinschaft des Menschen und die Gottesherrschaft auf Erden im menschlichen Leben. Daraus ergibt sich eine wichtige praktische Folge. Zwar ist der Gedanke des Rechts und der Gerechtigkeit die eigentliche Grundlage der Rechtsgemeinde gewesen und auch für das staatliche Leben immer wieder gefordert worden. Aber seine Geltung ist nur zu oft durch andere Einflüsse beschränkt worden; daraus rühren die Unzuträglichkeiten her, die die Propheten rügen. Es muß eben noch ein zweiter Grundsatz hinzutreten, den die Propheten hervorhoben und den das deuteronomische Gesetz in die Waagschale warf, als es einen Neubau von Staat und Rechtsgemeinde anordnete. Dieser Grundsatz ist das Gebot der Liebe. Nicht das Recht allein kann und soll herrschen, sondern Recht und Liebe müssen gemeinsam das menschliche Zusammenleben bestimmen und formen. Die volle Botschaft des Alten Testaments erhalten wir, wenn wir die beiden Grundsätze des Rechts und der Liebe zusammennehmen. 5. Welche Folgerungen für das Verständnis des Staates und das Verhältnis des Glaubenden zu ihm ergeben sich im einzelnen aus der Betrachtung des Alten Testaments? a) Dem Staat kommt gegenüber der grundlegenden Familiengemeinschaft nur zweitrangige Bedeutung zu, so daß er nicht das Recht zu stören15 Theologische Grundstrukturen

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den oder zerstörenden Eingriffen in die Familie besitzt. Zudem darf die Freiheit des einzelnen Menschen als des von Gott zu ihr Berufenen nicht beeinträchtigt werden. Entscheidend ist die prophetische Kritik, die dem Staat den Nimbus des Gottgewollten nimmt und ihm behelfsmäßigen und dienenden Charakter zuschreibt. So gewiß die Notwendigkeit des Staates gesehen und anerkannt wird, geht es doch angesichts des ständig zu beobachtenden Strebens des Staates auf Ausdehnung seiner Befugnisse darum, ihn zu beschränken und in seine Grenzen zu weisen. Die glaubensmäßig bedingte kritische Haltung, die das Alte Testament durchweg dem Staat gegenüber einnimmt, ist theologisch die allein gerechtfertigte. Die manchmal auffällige Staatsfreudigkeit in Theologie und Kirche weicht bedenklich von dieser Linie ab. Die Gleichsetzung des staatlich Gegebenen mit Gottes Ordnung ist jener Abfall vom göttlichen Willen, den die Propheten gegeißelt haben. Es ist gänzlich ausgeschlossen, den Staat als Schöpfungsoder Erhaltungsordnung Gottes zu verstehen; er ist in keinem höheren Sinn von Gott gewollt als jede beliebige andere menschliche Einrichtung. Der Hinweis auf Rom 13 kann die gegenteilige Ansicht nicht ausreichend stützen. Was immer Paulus damit sagen wollte — eine keineswegs leicht zu beantwortende Frage —, außer ihm spricht I Petr 2, 13 ff. vom Staat ausdrücklich als einer menschlichen Ordnung und erblickt Ape 13 im zeitgenössischen römischen Staat das Untier, das aus dem Meere aufsteigt, mit den Glaubenden streitet und sie niederzwingt. Nach allem kann der Christ den Staat nicht als göttliche, wohl aber als eine irdische, menschliche Ordnung bejahen. Gottes Ordnung ist nicht der Staat, sondern die Verwirklichung der Gottesherrschaft und -gemeinschaft im Leben der Glaubenden. b) Das Alte Testament fordert nachdrücklich, daß der Mensch Gott mit aller Kraft lieben soll, weil er sich ihm ganz schuldet (vgl. Dtn 6,4f.). Es gibt keinen Sonderbezirk im Menschen, der der Hingabe an Gott nicht unterworfen wäre. Nur aus diesem ganzheitlichen Verhältnis zu Gott heraus kann der Mensch dem Staate geben, was diesem zukommt. Er kann sich nicht neben Gott in gleicher Weise auch dem Staat zuwenden, sondern nur in seinem Verhältnis zu Gott und aufgrund der Bezogenheit auf ihn. Es ist demnach durchaus möglich, Gott und dem Staat zu dienen. Die Dienste schließen einander nicht aus, so daß es heißen müßte: entweder Gott oder der Staat. Aber man soll und kann darin nicht zwei Herren dienen, sondern nur dem einen Herrn und der menschlichen Gemeinschaft dann aufgrund dieses vorausgehenden Dienstes. Man kann und soll dem Staat dienen, soweit die völlige Hingabe an Gott es zuläßt. Dies schließt

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ein, daß es in dieser Hinsicht eine Grenze gibt. Freilich kann man sie nicht von vornherein genau festlegen, sondern nur allgemein umschreiben: Die Grenze liegt dort, wo die Hingabe an Gott einen weiteren Dienst im und am Staat nicht mehr gestattet. Was das im einzelnen praktisch bedeutet, muß in der jeweils besonderen Lage entschieden werden. c) Wie verhält es sich mit einer Absolutheitsforderung des Staates und des Staatsdenkens? In neuerer Zeit haben Hobbes und Hegel dieses Problem mit ihren Staatslehren eingeleitet. Auf ihnen beruhen weitgehend viele heutige Vorstellungen. Nach diesen Lehren verdankt der Mensch seine Existenz als Mensch dem Staat. Daher schuldet er ihm die Hingabe, die den Glaubenden gegenüber Gott als seinem Schöpfer erfüllt. Damit wird der Staat — der jeweils bestehende Staat! — zum absoluten Prinzip und höchsten Wert erhoben. Während der alttestamentliche Mensch aus einem ganzheitlichen Verhältnis zu Gott lebt und aus dieser Ganzheit heraus dem Staat das Seine geben kann, bis die zumutbare Grenze erreicht ist, haben sich in diesen Staatslehren die Verhältnisse umgekehrt. Der Mensch soll zum Staat in solch einer ganzheitlichen Beziehung stehen und dann, wenn es ihm persönlich so paßt, Gott das Seine geben, soweit die Grenzen des staatlichen Verpflichtetseins damit nicht überschritten werden. Es hängt damit zusammen, wenn man sich bemüht, das politische Prinzip überall in den Mittelpunkt zu stellen und den Menschen in erster Linie zu einem politischen und staatlich gebundenen Wesen zu machen. Die Folgen sind deutlich. Man hat darauf hingewiesen, daß Menschen, die in ihrem Privatleben von unantastbarer Rechtlichkeit sind, für ihre politische Partei — die für sie entscheidet, wer Freund und Feind ist — nicht nur lügen und betrügen, sondern auch foltern und töten. Das gleiche geschieht im Dienst des Staates. Denn die Partei oder der Staat verfügen über das, was man früher von Gott erhoffte: über die Möglichkeit der Vergebung alles dessen, was in ihrem Namen an Unmenschlichkeiten geschieht und getan wird. Jede eigene Überlegung und Entscheidung ist überflüssig. Die Partei- oder Staatsethik gebietet, was man tun und lassen soll. Der einzelne hat dem zu folgen, ohne daß er sich im Konflikt mit einer allgemeinmenschlichen oder gar göttlich gebotenen Ethik fühlen soll. Es kann keine Frage sein, daß derartige Anschauungen in ausschließendem Gegensatz zum biblischen Denken stehen. Ihnen gegenüber gibt es nur ein Entweder-Oder. Freilich sollte die Wahl nicht schwer fallen, wenn das Alte Testament mit seinem nüchternen Blick für die tatsächlichen Gegebenheiten uns die Augen öffnet. Wir sehen, daß jede Verabsolutierung des Staates angesichts der bloßen Beobachtung ein Unding ist, daß es nicht 15»

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nur einen einzigen Staat, sondern viele Staaten auf völlig verschiedenen und einander ausschließenden Grundlagen gibt. d) Wir stehen ferner vor der Frage nach der Pflicht zum Gehorsam und dem Recht zum Widerstand im Staat. Nun zeigt das Alte Testament, daß es zweifellos ein ethisches Recht zum Widerstand gegen das Böse im politisch-staatlichen Bereich gibt. An dem Verhalten der Propheten gegen das Königtum erkennen wir zudem, daß dieses Recht auch dann in Anspruch genommen werden darf, wenn diejenigen, gegen die sich der religiös-ethisch begründete Widerstand richtet, nicht nur im tatsächlichen Besitz der Macht, sondern formal gesehen sogar im Recht sind und die Legalität für sich haben. Freilich kann nicht jeder nach seinem freien Belieben und seiner bloßen Meinung solches Widerstandsrecht in Anspruch nehmen, sondern nur derjenige, den sein Gewissen treibt. Dennoch ergibt sich eine Schwierigkeit. Ist nicht jedes geordnete Leben im Staate durch die Freiheit der persönlichen Entscheidung bedroht oder unmöglich gemacht? Kann sich nicht eine grundsätzlich gemeinschaftsfeindliche und anarchistische Haltung herausbilden, die sich gewöhnlich mit mangelnder Kritik am eigenen Urteil verbindet? Kann man sich nicht gegen jede Ordnung auflehnen und dabei noch ein gutes Gewissen zu haben glauben? Eine solche anarchistische Haltung wird vom Alten Testament allerdings ebenfalls verurteilt, weil das Moment der gerechten Ordnung in ihm eine große Rolle spielt. Eben dies Beharren auf dem gottgewollten Recht und der Existenz des gerechten Menschen ist entscheidend. Es besagt, daß denen kein Widerstandsrecht zusteht, die sich nicht an ethische Grundlagen binden. Nur dort ist es anzuerkennen, wo es mit dem verbunden ist, was das Leben des Menschen in der Gemeinschaft nicht entbehren darf: Wahrung der Menschenwürde, Sicherung der menschlichen Freiheit und Herrschaft des Rechts. Das aber zeigt sich konkret in einem Miteinander von Freiheit und Verantwortung in der kleinsten Ordnung und in jedem einzelnen Tun. In jede staatliche Einrichtung und jedes politische Handeln kann sich das Böse einschleichen und Unrecht im Spiele sein. Wenn aus vielen derartigen kleinen Übeln das große Übel entstehen kann, geht es gerade um den Widerstand im Alltag und im Kleinen, damit es zum Widerstand im Großen und Äußersten möglichst erst nicht zu kommen braucht. Ein solches Widerstandsrecht, das im ethisch-religiösen Verhalten gründet, läßt sich freilich juristisch nicht festlegen. Es setzt seiner Art nach einen besonderen Notstand voraus, den die Staatsführung in ihre Überlegungen nicht aufnehmen kann. Wird dieses Recht in Anspruch genommen,

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so erfordert es einen revolutionären Akt — wie in der Revolution Jehus im Nordreich Israel —, der vorübergehend ein bestimmtes Recht außer Kraft setzt, um Unrecht zu beseitigen und neues Recht zu schaffen. Auch die Einführung des deuteronomischen Gesetzes mit seiner Neubegründung von Staat und Rechtsgemeinde ist ein solcher Akt gewesen, zu dem sich in diesem Falle der König selbst entschlossen hat. Läßt sich das Widerstandsrecht nicht festlegen, so muß in unserer Zeit ein anderer Grundsatz gesetzlich verankert werden: das Recht auf Verweigerung des Gehorsams gegenüber Anordnungen und Befehlen, die unsittlich sind und höhere Rechte als die des augenblicklichen Befehls verletzen. Ebenso muß die Staatsführung willens sein oder dazu aufgefordert werden, alle staatlichen Ordnungen so aufzubauen und alle Handlungen ihrer Beauftragten so vorzunehmen, daß eine Gehorsamsverweigerung unnötig und ein aktiver Widerstand überflüssig wird. e) Was das deuteronomische Gesetz wollte, als es von den „Brüdern" redete, kann zugleich die Grundlage des modernen Staatslebens sein. Es bedeutet, daß der Staatsbürger sich nicht als Untertan, sondern als Teilhaber der Herrschaft versteht, und daß die Träger der staatlichen Funktionen von dem Bewußtsein erfüllt sind, nicht eine abstrakte und absolute Staatsallmacht zu verkörpern, sondern Beauftragte im Dienste aller zu sein. 6. Welche Folgerungen ergeben sich aus der Betrachtung des Alten Testaments für die Frage, wie sich Glaube und politisches Handeln zueinander verhalten? Wir sehen, daß im alten Israel beides in urtümlicher Weise ineinander verflochten war. Die Besetzung und spätere Eroberung Palästinas galt zugleich als Gottes Wille in Erfüllung uralter Verheißungen. Der Krieg gegen die Feinde war zugleich ein von Gott gebotener und geführter Krieg. Was die Stammeshelden der Richterzeit zu ihren Taten trieb, waren das Streben nach der politischen Führung in ihrem Stamm oder dem Abschütteln politischer Fremdherrschaft oder manchmal die Sicherung des Stammesgebiets gegen neue Eindringlinge. Jedoch hatten sie die anderen Männer des Stammes nur hinter sich, weil ihre Unternehmungen zugleich als religiöse Taten galten und das religiöse Gefühl für den Kampf um Gott und sein Land entzündeten. Diese Verbindung ist nur in einer Frühzeit möglich und zerreißt, sobald ein festgefügtes Staatswesen entsteht, das eine Rolle in der großen Politik zu spielen sich anschickt. Daher zerbrach jene Einheit in Israel nach dem Tode Davids für immer. Sie wich einer Haltung, in der Glaube und Politik

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einander dienstbar zu machen suchten. Es geht darum, ob man unbeeinflußt vom Glauben politisch handeln kann und soll, nur der „Eigengesetzlichkeit" der Politik folgend, oder ob man den Glauben als maßgeblich anerkennen und die Politik an seinen Forderungen ausrichten kann und darf. Es ist die Frage danach, ob der Politiker die rauhe Wirklichkeit des Lebens anerkennen und sich in ihr durchsetzen soll, oder ob er in einer phantastischen und utopischen Scheinwelt leben darf, um religiöse Gedanken Tat werden zu lassen, damit sie das Leben eines Volkes bestimmen. Meist hat in Israel — wie auch sonst — die Politik den Glauben ihren Zwecken unterordnen und ihn für sie ausnutzen wollen. Man benutzte den Glauben zur Förderung des Staates, indem man ihn zur Staatsreligion erhob, oder betrieb infolge der internationalen Beziehungen und Bindungen eine heidnisch-religiöse Politik. Beispiele dafür sind die Könige Salomo mit dem Tempelbau im Palastbereich als Zeichen der Erhebung Jahwes zum Staatsgott und Manasse mit einem fast unvorstellbaren religiösen Synkretismus. Gelegentlich ist einmal die andere Möglichkeit verwirklicht worden. Staat und Politik wurden einer bestimmten Glaubenshaltung oder Theologie untergeordnet und nach ihr gestaltet. Der König Josia hat sich nach der Einführung des deuteronomischen Gesetzes bemüht, eine theologisch bestimmte Politik zu treiben. Er hat sich durch sie aber auch bewegen lassen, einem ägyptischen Heer entgegenzutreten, und in der Schlacht die Niederlage und den Tod gefunden. Alle diese Versuche fallen unter die prophetische Kritik an Staat und Politik. Ergibt sich aber aus der prophetischen Stellungnahme auch eine positive Weisung? Wie soll man denn politisch handeln? Es kann nur ein Handeln sein, das im Glauben gründet und aus dem Mut zum Wagnis des Glaubens hervorgeht. Damit soll der Mensch nicht durch den Hinweis darauf vertröstet werden, daß alles doch nicht so schlimm sein werde, wie es aussehe; daß man nur klug und besonnen handeln, tapfer und unerschrocken aushalten müsse; und daß es schon einigermaßen günstig auslaufen werde, wenn man nur die Hoffnung nicht verliere. So verhält es sich nicht. Allen großen Einzelpropheten ist ja die Erwartung des göttlichen Gerichts gemeinsam — die Gewißheit, daß das vor Gott und in der Welt schuldige menschliche Dasein mit innerer Notwendigkeit und Folgerichtigkeit zerbrechen und zugrunde gehen muß. Angesichts dieser Gewißheit fallen alle menschlichen Hoffnungen und alles Rechnen mit Tatsachen dahin. Politisches Handeln ist wie alles menschliche Tun nur aufgrund der

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gläubigen Zuversicht möglich, daß Gott richtet, um zu retten; daß er verwundet, um zu heilen; daß er in die Tiefe stößt, um zu sich zu erheben. Menschliches Handeln ist nur im Wissen um Gericht und Untergang des schuldigen menschlichen Daseins möglich — aber um Gericht und Untergang durch Gott, der dadurch zu Gnade und Leben führt. Politisches Handeln ist nur im Wissen um das Gerufensein durch Gott möglich, in der Erfahrung des Gestelltseins vor Gott, der je und dann aus dem Dunkel hervortritt und einen Zipfel seines Gewandes schauen läßt, der eine Hilfe gewährt und eine Verheißung schenkt. Das politische Handeln, das sich auf diesem Grunde vollzieht, muß einerseits bereit sein, die eigene Ohnmacht zu erkennen, nicht auf die eigene Kraft und Klugheit zu bauen und auf Selbsthilfe zu verzichten. Andererseits muß es auch vor Vernunftgründen hart bleiben und selbst in der hoffnungslosesten Lage das Äußerste wagen können. Welche Entscheidung jeweils am Platze ist, muß in jeder Lage neu entschieden werden. Damit ist das politische Handeln ganz auf die persönliche Entscheidung und Verantwortung des einzelnen gestellt. Die Propheten wollen gewiß keine Abhängigkeit des Glaubens von der Politik, aber sie erstreben auch nicht die Bevormundung des politischen Handelns durch den Glauben. Statt dessen fordern sie glaubende Politiker, die in eigener Verantwortung ihre Entscheidungen zu treffen wagen, weil sie wie in ihrem ganzen Dasein auch in politischen Fragen als Glaubende handeln. III. Das soziale Leben In großem Ausmaß sind die Auseinandersetzungen um die soziale Frage im 19. Jh. in Gang gekommen. Sie gehen angesichts der Umschichtung und des teilweisen Zusammenbruchs der Gesellschaftsordnung und des sozialen Systems in unseren Tagen, aber auch wegen des gleichzeitigen Beginns einer erneuten industriellen Umwälzung weiter. Man fragt nach den tragfähigen Grundgesetzen und Gestaltungsprinzipien des sozialen Lebens, ohne daß bisher abzusehen ist, wohin dieses Fragen führt und wie die Antworten lauten werden. Eins aber ist in dem allen deutlich: Man geht weithin zu einseitig von praktischen oder politischen Gesichtspunkten aus, während die Orientierung an den ewigen Lebensgesetzen fehlt und die Einsicht in die eigentlich tragfähigen Lebensgrundlagen verschüttet ist. U m so wichtiger scheint es, daß wir an der rechten Quelle suchen und nachfragen, die die Wurzeln der abendländischen Kultur gespeist hat. Insbesondere das Alte Testament kann unsere Aufmerksamkeit

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beanspruchen, weil es der sozialen Seite des Lebens breiten Raum gewährt. 1. Das Alte Testament enthält einige grundlegende Einsichten, die wegen ihrer Wichtigkeit am Anfang stehen müssen. a) Der Mensch ist das Ebenbild Gottes. Daher wird er in seinem Leben, seiner Freiheit und seiner Ehre hoch gewertet. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die alttestamentliche Auffassung von der sonstigen altorientalischen. Das Leben des Menschen steht über allen Sachwerten; daher wird es durch das sechste Gebot des Dekalogs unter göttlichen Schutz gestellt (Ex 20,13) und ein Eigentumsvergehen nicht mit der Todesstrafe geahndet. Die Ehre des Menschen wird durch das neunte Gebot geschützt (Ex 20,16), das eine falsche Anklage, eine zu Unrecht erfolgte Beschuldigung untersagt. Vor diesen Lebensrechten des Menschen muß sich dann auch die Wirtschaft beugen. Sie darf über die Schwachen und Schutzlosen nicht unaufhaltsam hinwegschreiten. Vor Gott gelten alle Menschen gleich viel — der Arme wie der Reiche, der Bauer wie der König. Daher konnte das deuteronomische Gesetz die Bruderschaft aller Israeliten verkünden. Ungeachtet dessen gilt zu jeder Zeit der Satz, daß Gott kein Ansehen der Person kennt. Daraus folgt der Anspruch auf gleiches Recht im sozialen Leben. Niemand kann aufgrund seiner Herkunft oder seines Besitzes irgendwelche Vergünstigungen beanspruchen. Niemand darf für seinen sozialen Stand die Alleinherrschaft anstreben. Die Gleichheit vor Gott verbietet Unterdrückung und Klassenkampf. Denn Gott wacht über Recht und Gerechtigkeit. Besitz und Eigentum sind eine Gabe Gottes, die jeder nutzen darf. Gott spendet die Güter der Erde und will Wohlstand für das ganze Volk. Jedem sollen seine Segnungen im eigenen festumfriedeten Lebensbereich zuteil werden. Jeder soll Besitz haben, frei und ungehindert an seinem Werke schaffen und dankbar und freudig den Ertrag entgegennehmen. Keinesfalls soll er der Sklave von Staat und Gesellschaft sein, denn sie haben keine Eigentumsrechte und Besitzansprüche. In der Ablehnung des absoluten Königtums verwirft das Alte Testament zugleich den Versuch, die Produktionsmittel oder gar den privaten Besitz überhaupt der Verwendung durch den einzelnen zu entziehen und diese der wie auch immer organisierten Gesellschaft zu übertragen. Ebensowenig gibt es eine allgemeine Gütergemeinschaft. Sie ist als ein Zeichen des endgültigen Niedergangs erst bei den Essenern in der Zeit des frühen Judentums zu beobachten. Aller eigene Besitz ist Gottes Gabe und steht unter seinem Schutz. Das zehnte Gebot des Dekalogs untersagt alle Machenschaften, die dazu dienen, den Besitz eines anderen an sich zu reißen (Ex 20, 17). Das „Begehren" ist nicht bloß

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eine Gesinnung, sondern schließt alle Handlungen ein, die aus ihr folgen. Es ist selbstverständlich, daß unter das Verbot zugleich alle staatlichen Maßnahmen fallen, die in den Besitzstand eines Menschen eingreifen — ein Umstand, der in der Sozialethik gewöhnlich ganz unzureichend gewürdigt wird. Allerlei gesetzliche Bestimmungen sollten verhindern, daß fremder Besitz geschädigt wird oder verloren geht. Es bestand Haftungs- und Schadenersatzpflicht des Mannes, der eine Zisterne offen läßt, so daß Vieh hineinfällt (Ex 21, 33f.), dessen stößiges Rind ein anderes tötet (21,' 35f.), dessen frei umherlaufendes Vieh in Acker und Weingarten Schaden anrichtet (22, 4f), der es bei der Verwahrung von Wertsachen (22, 6 f.) oder beim Viehhüten (22, 9—12) an der erforderlichen Sorgfalt fehlen läßt. Bezeichnend für die Achtung vor fremdem Besitz ist die Forderung, verlaufenes Vieh — auch des Feindes — dem Eigentümer zurückzugeben und dem unter der Traglast zusammengebrochenen Tier wieder auf die Beine zu helfen (Ex 23,4f.), die später auf die Rückgabe aller verlorenen und gefundenen Gegenstände erweitert wurde (Dtn 22,1—4). b) Die dem Alten Testament eigentümliche Auffassung von Eigentum und Besitz muß genauer erläutert werden. Zwar soll ein jeder Besitz haben, und das Gesetz sucht ihn gegen Übervorteilung und Ausbeutung ebenso zu schützen wie gegen die uneingeschränkte Macht des Staates. Jedoch betont das Alte Testament immer wieder, daß Gott der eigentliche Herr und Eigentümer alles dessen ist, worüber der Mensch verfügt. Es geht weder von der Theorie des privaten Eigentums des einzelnen noch von derjenigen eines kollektiven Besitzes aus. Vielmehr gelten alle Güter als von Gott verliehen und seinem Willen gemäß zu nutzen. Daher treffen die gebräuchlichen Begriffe Eigentum und Besitz beide nicht ganz zu. Am ehesten läßt sich von einem Lehenseigentum oder Pachtbesitz sprechen. Daraus ergeben sich bestimmte Folgen. Einerseits ist niemand dazu befugt, den im Gebrauch befindlichen menschlichen Besitz aufzuheben, weil er sonst in die göttlichen Rechte eingriffe. Auch Staat und Gesellschaft können die Besitzverhältnisse nicht aufheben. Andererseits wird das willkürliche Verfügungsrecht des einzelnen über seine Güter abgelehnt, das für das römische Recht bezeichnend war. Mit dem göttlichen Pachtbesitz oder Lehen kann und darf man nicht beliebig und willkürlich verfahren. Für seine Verwendung ist letztlich der göttliche Wille maßgeblich. Der Mensch soll seinen Besitz nutzen und mehren — jedoch nicht zu eigennützigen Zwecken. Vielmehr soll er sich dem gemeinsamen Wohl verpflichtet fühlen, dem die von Gott verliehenen Güter zu dienen haben. Die Verwendung

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wird ferner durch die religiösen und sozialen Pflichten eingeschränkt; der Nutznießer des göttlichen Pachtbesitzes soll willig die religiösen Abgaben leisten und für die sozial Schwächeren Sorge tragen. Diese Auffassung gilt insbesondere für den Besitz an Grund und Boden im israelitischen Bodenrecht. Es ging von dem Grundsatz aus, daß das in früher Zeit einmal von den ersten Siedlern einer Ortsgemeinde gerodete Land in der Hand der in ihr lebenden Sippen bleiben und nicht durch Verkauf an Ortsfremde verloren gehen sollte. Die einzelnen Sippen sollten im Besitz ihrer Anteile an der Ackerflur bei möglichst gleichbleibender Verteilung bleiben. Daher war ihre Verfügungsfreiheit eingeschränkt und das Erbrecht entsprechend gestaltet. Noch Nabot beharrte gegenüber dem Wunsch des Königs Ahab, seinen Grundbesitz zu erwerben, auf den Grundsätzen des Bodenrechts (I Reg 21). Er war völlig im Recht, wenn er einen Verkauf oder Umtausch ablehnte; er durfte gar nicht anders handeln. Die innere Begründung dessen lag darin, daß Gott als der eigentliche Herr und Eigentümer des Landes galt, in dem Israel lebte. Das Alte Testament versucht zu schildern, wie er es dem Volke als ständiges und erbliches Lehensgut zugesprochen und verliehen hat. Es stellt dar, wie das in Besitz genommene Land unter die Stämme aufgeteilt wurde, die es wieder den Sippen und Familien zuwiesen. Diese waren die erblichen Letztbesitzer und Nutznießer des Bodens, so daß der einzelne Familienvater seinen Anteil auf diesem Wege vermittelt erhielt. Er erhielt ihn, um ihn zu behalten. Denn das zugeteilte Land durfte nicht beliebig verkauft werden. Jeder sollte im Besitze des Familienanteils bleiben, damit er sein Leben fristen konnte. Geriet jemand in besondere Notlage und verkaufte sein Land den geltenden Bestimmungen zum Trotz, so konnte seine Sippe es zum gleichen Preis wieder einlösen. Gewiß sind diese Grundsätze des Bodenrechts bald durch zwei Bestimmungen erweicht worden. Einmal entstand rein privater Grundbesitz, wenn jemand abseits der Ackerflur der Ortsgemeinde selbst anbaufähiges Land in noch ungerodetem Gebiet schuf. Es war den Einschränkungen des Bodenrechts nicht unterworfen. Dies schildert das Weinberglied in Jes 5, 1—7, nach dem der Besitzer die volle Verfügungsgewalt über den angelegten Weingarten hat. Ferner fiel in gewissen Fällen herrenlos gewordener Landbesitz nicht zur erneuten Zuteilung an die Ortsgemeinde zurück, sondern wurde dem Krongut des regierenden Königs einverleibt. So verhielt es sich mit dem Besitz einer gestürzten und ausgerotteten Königsfamilie und allgemein einer ausgewanderten oder ausgestorbenen israelitischen Familie, viel-

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leicht auch mit dem Besitz desjenigen Verbrechers, der wegen Gotteslästerung und Majestätsbeleidigung hingerichtet wurde. Abgesehen davon aber hat es das Bodenrecht lange Zeit vermocht, jede Bodenspekulation und das Entstehen eines Großgrundbesitzes auf Kosten anderer zu verhindern. Und insgesamt ist die alttestamentliche Auffassung des Besitzes geeignet, den Grundgedanken lebendig zu erhalten, daß Besitz verpflichtet. Er verpflichtet dazu, gemäß dem Willen Gottes zu leben, der ihn gegeben hat, und ihn gemäß diesem Willen zu verwalten. c) Es ist selbstverständlich, daß zum Leben des Menschen die Arbeit gehört. Sie erhält alten Besitz und schafft neuen. Nach der älteren Schöpfungserzählung soll der Mensch sogleich den Gottesgarten als Baumgärtner bearbeiten und behüten (Gen 2,15). Der spätere Fluch (3,17f.) legt die Arbeit weder als Strafe auf noch verflucht er sie überhaupt. Er besagt vielmehr, daß die Arbeit außerhalb des Gottesgartens mühselig ist und das Leben schwer macht, zudem oft von Fehlschlägen bedroht und ohne Erfolg ist. Der sich seiner selbst bewußt gewordene Mensch erfährt derartige Nöte und Widerwärtigkeiten, nachdem die unergründlichen Zusammenhänge zwischen ihm und der Erde zerrissen sind. So sehr dann die Weisheitslehre zum Fleiß ermahnt und vor der Faulheit warnt, ist dem Alten Testament allerdings die moderne Vergötzung der Arbeit fremd. Man lebt nicht, um zu arbeiten, sondern arbeitet, um leben zu können. Der Israelii geht nicht in seiner Arbeit auf, sondern sucht nur soviel zu erlangen, daß er in Ruhe und Frieden unter seinem Weinstock und Feigenbaum sitzen kann. Er weiß außerdem, daß die Unrast des Erwerbstriebes den Menschen um den inneren Frieden bringt und das Arbeiten allein noch keinen Erfolg zeitigt, wenn nicht der Segen seines Gottes auf ihr liegt. So schenkt Gott letztlich den Besitz, der mit Hilfe der menschlichen Arbeit gewonnen wird. d) Trotz alledem entsteht und besteht im Leben Israels eine soziale Problematik in doppelter Weise. Im Laufe der Zeit machten sich starke soziale Unterschiede und Spannungen bemerkbar, deren Gründe in geschichtlichen Vorgängen liegen. Während die finanziellen Fragen zunächst nur eine geringe Rolle gespielt haben und jede Ortschaft oder Sippe für sich allein lebensfähig gewesen ist, vollzog sich im Verlauf der Königszeit der Übergang von der Naturalzur Geldwirtschaft. Er war nach der Eingliederung Israels in das altorientalische Staatensystem und infolge der Entfaltung seiner Kultur unvermeidlich; in seinen Auswirkungen ist er nur mit der industriellen Umwälzung des 19. Jh. n. Chr. zu vergleichen. Unter Salomo war der gesamte Handel

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noch ein Monopol des Königs, der die Erträgnisse für den Ausbau des Reiches benutzte. Mit ihm begannen auch die Bemühungen, das altorientalische absolute Königtum in Israel einzuführen, um das israelitische Volkskönigtum zu ersetzen. Dieses absolute Königtum stellte das eigene und staatliche Wohl über das der „Untertanen" und preßte sie durch Steuerlasten und Frondienste aus. Dagegen wurde eine Minderheit begünstigt, die ebenfalls zur Geldwirtschaft überging und sich am Handel beteiligte, so daß sie bald zu Macht und Reichtum gelangte. In Auswirkung dessen dehnte sie ihren Besitz auf Kosten der breiten Volksschichten in zunehmendem Maße aus. Einzelne Prophetenworte lassen vermuten, daß dies im 8. Jh. im großem Umfang im Gange war. Unabhängig davon hat es vorher und nachher stets Armut im Lande gegeben. Sie kann selbstverschuldet oder in den geringen Fähigkeiten eines Menschen begründet sein; angesichts der großen Verschiedenheit der Menschen untereinander ist es gar nicht möglich, in ihrem Wesen begründete soziale Unterschiede zu beseitigen. Armut kann ferner durch schwere Schicksalsschläge entstehen, die das Werk und den Erfolg eines Menschen zunichte machen. Sie kann durch die allgemeinen Lebensbedingungen hervorgerufen sein, in die hinein er geboren ist und denen er nicht zu entrinnen vermag. In jedem Falle erhebt sich die Frage nach dem Warum und die Forderung nach Abhilfe. 2. Der Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft, den das Königtum eingeleitet und gefördert hat, führte zu einer grundlegenden sozialen Umschichtung. Während die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung weiterhin Bauern und Viehzüchter blieb oder bleiben wollte, dabei freilich Gefahr lief, entrechtet und enteignet zu werden, bereicherte eine kleine Schicht sich skrupellos. Immer mehr freie Bauern verloren ihren Besitz, der in den Händen verhältnismäßig weniger Großgrundbesitzer vereinigt wurde. Die von ihrem Boden Verdrängten zogen zum kleineren Teil in die größeren Ortschaften oder die wenigen Städte, in denen sie eine Art von Proletariat bildeten. Zum größeren Teil wurden sie Pächter und Hörige der neuen Besitzer. In jedem Falle büßten sie mit dem Landbesitz ihre staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten ein, so daß die aus den freien Vollbürgern bestehende örtliche Rechtsgemeinde erschüttert und das Staatsgefüge in Mitleidenschaft gezogen wurde. Als Hörige traten sie ferner aus ihrer bisherigen Sakral- und Kultgemeinschaft aus und in diejenige ihres neuen Herrn über. Sie wurden also politisch, rechtlich und religiös entmündigt. Der Großbesitz an Land verlieh eine bedenkliche Macht über diejenigen, die in ein Abhängigkeitsverhältnis gerieten. Er wurde zur Ursache von

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Unfreiheit und Knechtschaft. An diesen Folgen wird nochmals der Vorzug des alten Bodenrechts deutlich. Am Ende standen sich — durch Abgründe voneinander getrennt — einerseits der König mit seinem Hofe und die Masse der Untertanen gegenüber, andererseits die selbstbewußten, vielfach von Glanz und Luxus umgebenen Patrizier, Großgrundbesitzer, Großkaufleute oder sogar Handwerker und die durch die Leistungen an den Staat ausgepreßten, durch die Besitzer von Geld und Sachgütern übervorteilten breiten Volksschichten, die verarmten oder sogar zu Hörigen herabgedrückten Bauern und Viehzüchter. Wie wird diese Sachlage im Alten Testament beurteilt? Es wendet sich nicht grundsätzlich gegen diese Wirtschaftentwicklung überhaupt, die auf eine Steigerung des Handels und der Produktion gerichtet ist. Vielmehr befaßt es sich mit den Menschen, die die Lage zum leichten Erwerb großen Geldgewinns und dessen schneller Zusammenballung zu umfangreichen Kapitalien und Sachgütern mißbrauchen. Denn es lehnt keineswegs den Reichtum an sich ab. Er ist an sich weder gut noch schlecht; entscheidend ist statt dessen, wie man ihn erwirbt und verwendet. Nicht zu beanstanden ist der Reichtum, der als der Ertrag der eigenen Arbeit rechtmäßig gewonnen und sinnvoll verwendet wird. Erwirbt man ihn jedoch mit Unrecht, aus Gewinnsucht und Habgier, unter Mißachtung des Lebensrechtes der anderen durch Betrug und Gewalt, so ist er frevlerisch gewonnenes Gut. Verwendet man ihn zur Ausübung von Machtgelüsten und für ein schwelgerisches Genußleben, so muß das im Namen Gottes gerügt werden. Daher schelten die Propheten ein derartiges Leben, das sich in luxuriösen Großbauten mit kostbarer Inneneinrichtung, in prächtiger Kleidung und verschwenderischer Lebenshaltung Ausdruck verschafft. Mit heftigen, polternden und zugleich ironischen Worten äußert sich Arnos: Wehe den Sorglosen in ,,Ζίοη" und den Sicheren auf Samarías Berg, den Vornehmen des „ersten aller Völker", den „Herren" des Hauses Israel! Sie wähnen fern den Unglückstag und führen selbst Untergang und Verderben herbei! Sie liegen auf Elfenbeinbetten und räkeln sich auf ihren Ruhelagern; sie essen junge Widder aus der Herde gleich, die Kälber mitten aus der Mast; sie plärren zu dem Klang der Harfe, dichten wie David lauter Lieder;

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sie trinken ihren Wein aus Schalen, versalben nur das beste Öl. Drum werden sie auch an der Deportierten Spitze ziehen, dann ist es aus mit dem Gelage der Sich-Räkelnden!

(Am 6, 1-7)

Jesaja, der sich über die Jerusalemer ähnlich äußert (Jes 5, 11—13), nimmt einmal die modischen Damen der Gesellschaft aufs Korn: Weil die Töchter Zions hochmütig sind, mit dünkelhaft gerecktem Nacken gehen, verführerische Blicke werfen, mit trippelnden Schrittchen einhergehen und mit ihren Fußspangen klirren, deshalb wird der Herr ihren Scheitel grindig und ihre Stirn kahl machen! Statt Balsamduft gibt es Modergeruch, statt des Gürtels den Strick, statt kunstvollen Lockengekräuseis eine Glatze, statt des feinen Gewandes härenes Zeug, Brandmal statt Schönheit!

(Jes 3, 16f. 24)

Jedoch waren die Propheten nicht bestrebt, ein Ideal nomadischer oder asketischer Enthaltsamkeit zu predigen. Vielmehr bekämpften sie einen schwelgerischen Lebensgenuß, der jedes bis dahin bekannte Maß weit überstieg und große Mittel erforderte, die dem allgemeinen Verbrauch entzogen oder durch unbezahlte Dienstleistungen aufgebracht wurden. Aus den Worten der Propheten spricht die leidenschaftliche Empörung über einen Luxus, der der gleichzeitigen Verarmung des Volkes spottete oder für sie keinen Blick mehr hatte. Doch nicht nur solche Auswirkungen, sondern vor allem die Praktiken jener Wirtschaftsentwicklung werden ins Auge gefaßt. Schon das zehnte Gebot des Dekalogs (Ex 20,17) sah den göttlichen Segenswillen durch das in die Tat umgesetzte Begehren nach dem, was dem Nächsten gehört, in Frage gestellt. Das Hinübergreifen in den Bereich des Mitmenschen und das hemmungslose Streben nach Reichtum verkehren die gottgewollten Verhältnisse. Sie lassen über das eigene und fremde von Gott gegebene Lehenseigentum willkürlich verfügen und die sozialen Kämpfe und Gegensätze entstehen. Besonders die Propheten wandten sich gegen diejenigen, die dem Machthunger und der Besitzgier die Zügel schießen lassen. Amos verurteilte den Kornwucher der Kaufleute:

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Hört dies, die ihr den Armen nachstellt, um die Elenden aus dem Weg zu schaffen, und sagt: ,,Wann geht der Neumond nur vorüber, daß wir verkaufen können, der Sabbat, daß wir Korn anbieten? Daß wir das Maß verkleinern und die Preise steigern, betrügerisch die Waage fälschen?" Geschworen hat der Herr beim Stolze Jakobs: „Niemals will eure Taten ich vergessen!" (Am 8, 4-7) Jesaja und Micha wandten sich gegen das „Bauernlegen" durch die Mächtigen im Lande: Wehe denjenigen, die Haus an Haus reihen und Feld an Feld fügen, bis sonst kein Raum mehr ist und ihr allein ansässig seid im Lande! Wehe denjenigen, die Böses planen auf ihrem Lager und es im Morgenlicht ausführen, weil sie dazu die Macht besitzen! Begehren sie Felder, so rauben sie sie, Häuser, so nehmen sie sie. Gewalt üben sie gegen Herr und Haus und gegen Mann und Eigentum.

(Jes 5, 8)

(Mi 2, 1-2)

Es sind die führenden Schichten, die das eigene Volk schlimmer als eine fremde Soldateska ausplündern. So läßt Jesaja Gott die Anklage erheben: Ja ihr, ihr habt den Weinberg niedergebrannt, was ihr den Armen raubtet, ist in euren Häusern. Was fällt euch ein! Ihr zerschlagt mein Volk und zermalmt das Gesicht der Armen!

(Jes 3, 14b-15)

Und Micha spricht in noch krasseren Worten von den Führern Israels: Sie fressen meines Volkes Fleisch und ziehen ihm das Fell über die Ohren, zerstückeln es wie Fleisch im Topf, wie Fleisch im Kessel.

(Mi 3, 3)

In alledem traten die Propheten für das Recht der wirtschaftlich Schwachen ein und wiesen auf den besonderen Schutz hin, dessen die Witwen, Waisen und Fremden bedürfen. Sie lehnten damit nicht die neue Wirtschaftsentwicklung als ganze ab, sondern prangerten den unerhörten Bruch

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des Rechts an, unter dem sie sich vollzog. Der Übergang zur Geldwirtschaft rechtfertigt nicht, daß man die Bauern durch Kornwucher und hohe Zinsen zu Schuldnern macht, ihnen das Land dann zu niedrigen Preisen nimmt und es sie als Pächter und Hörige bearbeiten läßt. Erfolg und angebliche Zweckmäßigkeit in wirtschaftlichen Fragen erlauben keine Entrechtung und Enteignung breiter Volksschichten. Über allen wirtschaftlichen Wünschen und Notwendigkeiten stehen die grundlegenden Rechte des Menschen. Seine Existenz gilt mehr als alle Sachwerte, ihre Gefährdung bedroht den Bestand der Gesellschaft. Daher hat jede Wirtschaftsgestaltung das gottgegebene Recht der wirtschaftlich Kleinen und Schwachen zu achten. Verletzt sie es, so muß ihr ein unerbittlicher Kampf angesagt werden. Insbesondere ging es den Propheten darum, daß nicht nur einige wenige den Grund und Boden allein besitzen. Denn sie verfügen damit nicht nur über das Grundelement des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, sondern auch über die Wohnmöglichkeiten des Menschen. Der Versuch Nietzsches, diese Stellungnahme der Propheten wie die gesamte Auffassung des Alten Testaments als Sklavenaufstand zu deuten, geht fehl. Die Propheten waren keine Vertreter des Sklaventums. Gewiß vertraten sie das Recht gerade des Schwachen und Schwächsten, jedoch von Gott aus und aufgrund des Glaubens. Sie vertraten das unverlierbare göttliche Recht der Entrechteten. Daher bedurften sie keiner politisch oder gefühlsmäßig gefärbten Ableitung ihrer Forderungen, sondern nur des Hinweises auf den göttlichen Willen. Ebensowenig lassen sie sich vom Boden des Geschichtsmaterialismus aus deuten, als lägen die Ursachen ihrer geschichtlichen Erscheinung wesentlich in wirtschaftlichen und sozialen Zuständen und sogar in dem damit verbundenen Klassenkampf beschlossen. Die Propheten haben zwar zu den Zuständen ihrer Zeit Stellung genommen, aber darin liegen nicht der Grund und das Motiv ihres Auftretens. Sie sind nicht aus einem „Proletariat" hervorgegangen, sondern aus den Kreisen der besitzenden Bauern und Viehzüchter oder aus den oberen Schichten. Sie haben ebensowenig in einem Zwiespalt mit ihrer „Klasse" gelebt, der sie zum „Proletariat" getrieben hätte. Jesaja erwartete bezeichnenderweise nicht eine Diktatur des Proletariats, sondern eine Regeneration der im Staate führenden Schicht (Jes 1, 21—26), durch deren einfache Beseitigung kein Idealstaat, sondern höchstens eine Anarchie als eine zum völligen Tode führende Form des göttlichen Gerichts entsteht (Jes 3, 1—9). Die Äußerungen der Propheten folgen aus ihrem Glauben und sind religiös-ethisch bedingt. Soziales Handeln ist zugleich religiöses Tun und

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Heiligung Gottes. Der glaubende Fromme ist der sozial denkende und handelnde Mensch: Wenn nun jemand gerecht ist, Recht und Gerechtigkeit übt, auf den Bergen nicht ißt und seine Augen nicht erhebt zu den Götzen des Hauses Israel; wenn er die Frau des Nächsten nicht verunreinigt und sich einer unreinen Frau nicht nähert, niemanden bedrückt, sein Pfand zurückgibt, keinen Raub verübt; wenn er sein Brot dem Hungrigen gibt und den Nackten mit einem Kleid bedeckt, nicht auf Wucher leiht, keinen Zins nimmt und seine Hand vom Frevel zurückhält; wenn er in meinen Satzungen wandelt und meine Rechte beachtet, sie zu tun — der ist gerecht; er soll bestimmt leben bleiben, spricht der Herr.

(Ez 18, 5-9)

Die Grundlagen eines solchen Handelns sind Gerechtigkeit und Liebe, die für das gesamte Leben als grundlegend betrachtet werden. Die örtliche. Rechtsgemeinde hatte eine Ordnung des menschlichen Zusammenlebens in dem Sinne versucht, daß jedem das Seine zuteil werde und also Gerechtigkeit herrsche. Als sie an dem Übergang zur Geldwirtschaft zerbrochen war, haben die Propheten das Ganze des Lebens durch das Mit- und Ineinander von Gerechtigkeit und Liebe erneut unter den göttlichen Willen stellen wollen. Daher geht es in ihrer Botschaft nicht nur um das Heil, sondern auch um das Wohl des Menschen. Daher zeigt sich die Entscheidung für Gott gerade am rechten Verhalten zum Mitmenschen. Nicht Gottesdienst rettet den schuldigen Menschen vor dem verdienten Vernichtungsgericht, sondern rechtes soziales Handeln im täglichen Leben (Jes 1,10—17). Die Entscheidung für Gott und ihre Folgen sind nach der prophetischen Auffassung nicht Sache der Gemeinde, sondern der Person des einzelnen. 16 Theologische Grundstrukturen

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Die Gottesgemeinde ist nicht die kultisch versammelte Gemeinde, die sich im Gottesdienst immer neu konstituiert oder gar darin erschöpft, sondern wird durch die einzelnen Menschen gebildet, die infolge ihrer Umkehr zu Gott oder ihrer Erlösung durch ihn gerettet sind. Sie bewähren sich im Tun des göttlichen Willens, der allen ins Herz geschrieben wird (Jer 31, 31—34). Die Gemeinde konstituiert sich in der Entscheidung der menschlichen Existenz für Gott und der Bewährung dessen in sozialer Gerechtigkeit und Liebe. Sie ist dort, wo einer gemäß dem in den Prophetenworten ausgesprochenen göttlichen Willen lebt und handelt. 3. Trotz des prophetischen Eingreifens gibt es Armut. Das Alte Testament spricht oft von ihr und ist erschreckt und bestürzt über sie. Es kennt kein Armutsideal wie die essenische Gemeinde, die in den Qumran-Texten spricht. Deren freiwillige Armut stellt geradezu einen Heilszustand dar, da er der Vorbereitung auf die erwartete Gottesherrschaft dient. Gegenüber dieser Auffassung, die nur ein „Vermögen des Frevels" kennt, ist das Alte Testament über die erzwungene Armut, unter der manche Menschen leiden, bekümmert. Armut ist ein ärgerniserregender Zustand, der eigentlich nicht bestehen dürfte. Denn Gott will keine Armut; sein Erbarmen mit den Armen und Geknechteten ist tief in seinem Wesen gegründet. Daher ist das Ziel der sozialen Gesetzgebung, daß kein Armer im Lande sein soll. Weil sich dies aber nicht verwirklichen läßt, ist das Vorhandensein der Armut in Israel zu einem schweren sozialen Problem geworden. Warum gibt es Armut? Gelegentlich wird auf die selbstverschuldete Armut hingewiesen, die aus Untüchtigkeit und Faulheit herrührt. Durchweg geschieht es, um mahnend und erziehend auf die Jungen einzuwirken, die sich im harten Lebenskampf erst zurechtfinden müssen (Prov 6, 6ff.; 10,4f.). Anderwärts handelt es sich um Folgerungen aus dem Gedankenkreis der Vergeltungslehre mit ihrem rationalen und moralisierenden Lohnschema. Manchmal spricht auch der satte und selbstsichere Erfolgsmensch; er möchte die bestehenden Besitzverhältnisse rechtfertigen, sein geiziges Verhalten begründen und vielleicht noch sein Gewissen beruhigen. Daher redet er gern von der selbstverschuldeten Armut, obwohl sie oft genug von ihm selbst herbeigeführt worden ist. Es ist demgegenüber beachtenswert, daß die Propheten „arm" und „faul" nicht gleichsetzen, sondern die Ursachen der Not in Unterdrückung und Gewalttat, Bestechung und Betrug erblickten. Hinzu treten gerade in Palästina die vielfach schweren und ungünstigen Lebensbedingungen. Der Boden gab unter der primitiven Bearbeitung durch den antiken Menschen nicht sehr viel her, recht häufig riefen Mißernten und Heuschreckenplagen große Hungersnöte hervor oder vernichteten

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die einbrechenden Heere des Feindes die Kulturen. Man muß annehmen, daß die Israeliten weithin an chronischer Unterernährung gelitten haben. Man kann dies alles einfach hinnehmen und hat es vielfach getan. Man kann alle Katastrophen im Anschluß an Jesajas Beschreibung vom Tage Jahwes (Jes 2,12—17) als Auswirkungen der Heiligkeit und Weltmächtigkeit Gottes verstehen, der alles vernichtet, worauf der Mensch stolz ist und sich verläßt. Man kann ebenso Maßnahmen treffen, die der sozialen Not steuern sollen. So mahnen die Propheten oft genug zur Hilfe für die Schwachen und Benachteiligten; die Gesetze treffen allerlei Anordnungen. Es gilt in diesem Zusammenhang, nach derartigen sozialen Maßnahmen zu fragen. Für ihr Verständnis sind zwei Beobachtungen wichtig. Einmal rücken in den Psalmen die Begriffe „arm" und „fromm" nahe aneinander, so daß sie praktisch gleichgesetzt werden. Anderwärts gilt das Gebet des Armen als eine Bitte, die Gott sicher erhören wird. Dem Armen wird ein Vorrecht im Verkehr mit Gott zugesprochen; seine mindere Lebenslage wird dadurch gebessert, daß er bei Gott einen Vorzug vor anderen erhält. Daraufhin kann er hoffen, daß Gott auch für sein Recht eintreten und ihn der Armut entreißen wird. Manchmal werden die Begriffe „arm" und „gerecht" miteinander in Verbindung gebracht. Der Arme ist im Verhältnis zum Bedrücker gerecht. Er ist durch diesen unschuldig um seinen Anteil an den göttlichen Segensgütern gebracht worden, auf den er wie alle anderen Menschen einen Anspruch hat. Er ist gerecht im Gegensatz zu demjenigen, der sich auf seine Kosten bereichert und sich dadurch gegen den göttlichen Willen versündigt. Infolgedessen enthält der Begriff „arm" in derartigen Zusammenhängen einen Rechtsanspruch auf den zustehenden Anteil an dem von Gott gegebenen Pachtbesitz. Der Begriff enthält eine sozialethische Forderung. Ihr sucht das Alte Testament in verschiedener Weise gerecht zu werden. Die Ermahnung zur Wohltätigkeit findet sich selten und spät. In der Tat ist ihre Barmherzigkeit, die den Armen mit Almosen entwürdigt, zu einer durchgreifenden Hilfe nicht in der Lage. Dementsprechend wird die Wohltätigkeit im Alten Testament zunächst nur gelegentlich empfohlen, um krassen Übelständen abzuhelfen. Die Armen sollen an Opfermahlzeiten im Heiligtum teilnehmen dürfen oder zu den häuslichen Festmahlen eingeladen werden. Ezechiel betrachtet jemanden unter anderem dann als gerecht vor Gott, wenn er dem Hungrigen sein Brot gibt und den Nackten mit einem Kleid bedeckt. 16·

(Ez 18, 7)

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Von wenigen anderen Stellen abgesehen (ζ. B. Dtn 15, 11; Ps 41, 1) ist es hauptsächlich die Weisheitslehre, die die Wohltätigkeit empfiehlt und zu ihr ermähnt. Wer den Hungrigen verachtet, sündigt; wer sich aber der Elenden erbarmt — wohl ihm!

(Prov 14, 21)

Daher schildert Hiob in seinem Reinigungseid ausführlich seine liebevolle Sorge für die Armen (Hi 31, 16—23). Immer eingehender werden die Ermahnungen (vgl. Sir 4,1—10) und können doch kurz zusammengefaßt werden: Wer Liebe erweist, bringt Speiseopfer dar; wer Almosen gibt, spendet ein Dankopfer.

(Sir 35, 3 f.)

Mit den meisten dieser Worte befinden wir uns in verhältnismäßig später, nachexilischer Zeit. In ihr begegnet die Forderung der Mildtätigkeit und des Almosengebens nicht nur als eine neben anderen, sondern als die entscheidende Forderung. Und während Ezechiel das entsprechende Verhalten in den Zusammenhang mit dem gesamten rechtlichen Handeln eines Menschen stellt, so daß die Wohltätigkeit noch als etwas erscheint, worauf der Arme einen Rechtsanspruch hat, beginnt sie in der Spätzeit durch das Überwiegen des Motivs der barmherzigen Liebe den Charakter des Almosengebens anzunehmen. Die wohltätige Hilfe erfolgt nicht mehr unter Gleichen, sondern demütigt den Empfänger und zwingt ihn in eine unterwürfige Stellung. Als wirkliche soziale Maßnahmen bemerken wir zunächst Anordnungen zum Rechtsschutz der Armen und gegen eine weitere Verbreitung der Armut. In ihnen gehen die Grundsätze strenger Rechtlichkeit mit liebender Fürsorge Hand in Hand. Diese Maßnahmen beruhen auf der Gewißheit, daß Gott der Helfer und Beschützer der Armen und Schwachen ist. Er will den Fremden vor Willkür bewahren (Ex 22, 30; 23, 9), droht den Bedrückern der Witwen und Waisen seinen Zorn an (20, 21—23) und tritt der Vergewaltigung der Armen vor Gericht entgegen (23, 3.6). Die gleiche Haltung muß vom glaubenden Menschen erwartet werden. Daher werden die Grenzverrückung auf Kosten des Nachbarn (Dtn 19, 14), das Zinsnehmen (23, 20), das Pfänden lebenswichtiger Gebrauchsgegenstände (24. 2.10ff.) und die Ausbeutung des Lohnarbeiters (24,14f.) verboten. Schon in älterer Zeit war bestimmt worden, daß der gepfändete Mantel vor Sonnenuntergang zurückzugeben sei, weil er in der Nacht als Decke dient (Ex 22, 25 f.). Dabei wirkt der Gedanke ein, daß es nicht genügt, dem Armen gegenüber nach den Grund-

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Sätzen strenger Rechtlichkeit zu verfahren, sondern daß eine schützende Rücksichtnahme auf seine Lebensbedürfnisse nötig ist. Daher soll man ihm gerne leihen, was er in seinem Mangel braucht (Dtn 15, Tí.). Die Armen haben außerdem gewisse Rechte, die ihnen teilweise durch das israelitische Bodenrecht zugesichert werden. Wenn sie durch das bebaute Land gehen, dürfen sie unterwegs in den Äckern Ähren abrupfen und in den Weingärten Trauben pflücken, um den Hunger zu stillen, freilich nichts in Gefäßen mitnehmen (Dtn 23, 25 f.). Sie haben das Recht des Ährenlesens auf den abgeernteten Feldern, wobei gelegentlich recht ansehnliche Mengen gesammelt werden konnten (Ruth 2). Der Bauer soll sein Feld nicht bis zum äußersten Rand abernten und auf Äckern und in Weingärten keine Nachlese halten (Lev 19, 9f.; Dtn 24, 19ff.), damit den Armen genug überlassen wird. Damit ist diesen ein Recht auf einen Teil des Bodenertrages eingeräumt. Der Grundbesitzer seinerseits ist zu gesetzlicher Fürsorge verpflichtet. Und da sie ihm ebenfalls zuteil wird, wenn er verarmen sollte, handelt es sich um eine Art einfachster gegenseitiger Versicherung. Sie unterscheidet sich freilich in einem wesentlichen Punkt vom modernen Versicherungswesen. Der Bedürftige muß sich alles, was ihm zusteht, zugleich doch selbst erarbeiten, etwa durch die Nachlese auf dem Acker. Er bekommt weder ein Almosen noch eine zeitweilige oder dauernde Rente, sondern kann darauf hinweisen, daß er sich seinen Lebensunterhalt trotz seiner Armut weitgehend selbst erarbeitet hat. Daneben sieht Dtn 14, 28 f. eine Armensteuer vor, die in jedem dritten Jahr in Höhe von einem Zehntel des Gesamteinkommens dieses Jahres zu entrichten ist. Sie soll außer den Leviten, die keinen Grundbesitz haben, den Fremden, Witwen und Waisen als den Bedürftigsten zukommen, da für sie der vorher genannte Anteil am Bodenertrag offenbar nicht als ausreichend erachtet wird. Ob überhaupt oder wie lange diese Steuer wirklich erhoben worden ist, muß freilich dahingestellt bleiben. Schließlich hat die Sitte der Schwagerehe, die den Bruder eines Verstorbenen zur Ehe mit dessen kinderloser Witwe verpflichtete, neben den im Vordergrund stehenden familienrechtlichen Erwägungen auch noch einen wirtschaftlichen und sozialen Sinn. Sie dient der Versorgung der alleinstehenden Witwe, die sonst verelenden müßte. In alledem ist ein starker Zug sozialer Verantwortung spürbar, der die Armut einschränken und dem von ihr Betroffenen ein erträgliches Dasein sichern möchte. Wichtiger ist eine zweite Art von Maßnahmen. Das Eintreten für das Recht der Schwachen bedeutet, daß sie den gleichen Startpunkt wie die

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anderen erhalten sollen. Es geht darum, die Lebensaussichten der sozial Benachteiligten wiederherzustellen. Denjenigen, die sich selbst nicht helfen können, soll die Bahn geebnet werden, damit sie aus eigener Kraft ans Werk gehen können. Nicht Entschädigungen für das eingebüßte Gut oder die verlorene Kraft sind nötig, sondern Starthilfen, die dem Benachteiligten sein Lebensrecht geben, damit er sich um seinen Lebensunterhalt bemühen kann. Nicht Almosen oder Renten sind auszuteilen, sondern es ist das Recht zu gewährleisten, aufgrund dessen einer arbeiten und für die eigene Sicherheit weiterhin selbst Vorsorge treffen kann. Man soll den hilflosen und schwachen Gliedern des Volkes eine Hilfe geben, damit sie an jenen Gütern von Freiheit und Recht teilhaben können, die dem Menschen von Gott geschenkt und zur Verwaltung anvertraut sind. Dem dienen Maßnahmen, die die Pflicht zum bewußten Einstehen füreinander einschärfen und die Starthilfe schaffen sollen. Es ist bezeichnend, daß man sich nicht sogleich und immer wieder an den Staat wendet, sondern in erster Linie die Familie als die natürliche Hilfsgemeinschaft mobilisiert. Sie hat das Recht zum sofortigen Rückkauf von Grundbesitz, der in einer Notlage veräußert werden mußte (Lev 25, 26—28). Dieser Rückkauf erfolgt zum gleichen Preis wie der Verkauf, um jeden Bodenwucher auszuschließen. Die Familie hat ferner das Recht, einen Verwandten auszulösen, der sich selbst in die Schuldknechtschaft verkaufen mußte, um seine Schulden beim Gläubiger abzudienen (Lev 25,47ff.). Damit wird das Recht des Gläubigers zwar nicht angetastet, jedoch dahingehend eingegrenzt, daß es nicht zum Geschäft auf Kosten des Mitmenschen wird, den man ausnutzen kann. Und die Verwandtschaft des in Not Geratenen wird zur Mitverantwortung für eins ihrer Glieder aufgerufen. Ist die Auslösung eines in Schuldknechtschaft Geratenen nicht möglich, so darf der Gläubiger ihn doch nur sechs Jahre behalten und muß ihn im siebten Jahre ziehen lassen. Er hat ihm dabei einen entsprechenden Anteil von seinen Herden, seinen Getreidevorräten und seinem Wein mitzugeben (Dtn 15, 12ff.). Auch dies ist eine Starthilfe, die dem Freigelassenen den Übergang in ein selbständiges Leben erleichtern soll. In welcher Weise freilich solche Bestimmungen praktisch — wenn schon überhaupt — gehandhabt wurden, zeigt Jer 34, 8—16: Die Freilassung der Schuldner, von der im ganzen Alten Testament nur an dieser Stelle erzählt wird, erfolgt nur als eine vorübergehende Maßnahme in einer besonderen Notlage und wird nach deren scheinbarer Behebung sogleich wieder rückgängig gemacht. Ungeachtet dessen sieht das Gesetz vor, daß sie einen Teil des allge-

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meinen Schuldenerlasses bilden soll, der alle sieben Jahre stattzufinden hat (Dtn 15,1—11). Dadurch wäre in der Tat in regelmäßigen Abständen den sozial Schwachen ein neuer Ausgangspunkt gegeben. Während ihre Schulden erlassen werden, bleibt ihnen ihr Besitz erhalten, mit dem sie weiter wirtschaften können. Allerdings spricht daraus mehr die soziale Gesinnung des Gesetzgebers als seine Lebenskenntnis. Denn eine solche Bestimmung ist praktisch wohl nicht zu verwirklichen; von ihrer Handhabung ist denn auch nichts bekannt. Nicht viel anders verhält es sich mit dem Sabbat- oder Brachjahr (Lev 25, 1—7). Nach jeweils sechs Jahren soll das menschliche Nutzungsrecht am Boden und damit die Feldarbeit ruhen; was ohne Aussaat wächst, ist für Landarbeiter und Vieh bestimmt. So soll durch diesen Sabbat des Landes daran erinnert werden, daß Gott der eigentliche Eigentümer und der Bauer nur sein Lehensmann und Pächter ist, daß das Land eigentlich Pachtbesitz aller Glieder des Volkes ist und deswegen nun einmal sein Ertrag den Besitzlosen zur Verfügung steht. Jedes siebente Sabbatjahr aber soll ein Jobel- oder Erlaßjahr sein (Lev 25, 8 ff.). In ihm soll der inzwischen verkaufte Grund und Boden an seinen Vorbesitzer zurückfallen und nach den Störungen und Fehlentwicklungen der vorausgegangenen Jahrzehnte durch neue Verteilung der Urzustand wiederhergestellt werden. Es soll ein Neuanfang mit gleichem Start für alle sein. Es dürfte außer Frage stehen, daß diese Bestimmungen der priesterlichen Gesetzgebung über das Sabbat- und Jobeljahr niemals wirklich angewendet worden sind. Sie stellen ein sozialethisches Programm auf einer beachtenswerten theologischen Grundlage dar und lassen erkennen, wie nachdrücklich man den alten Gedanken der Herstellung der eigenen Lebensaussichten für den sozial Schwachen befolgen wollte. Daß es sich aber nur um eine theoretische und programmatische Systematisierung handelt, zeigt die ältere Vorschrift über das Sabbatjahr in Ex 23, lOf. Sie läßt noch erkennen, daß das siebte Jahr nicht für alle Äcker gleichzeitig als Brachjahr gelten sollte, sondern daß die Äcker eines Bauern abwechselnd, je nach dem Beginn ihrer Bewirtschaftung, brach liegen sollten. Es handelt sich also um eine landwirtschaftliche Maßnahme zur Erholung des Ackerbodens, die später einen völlig anderen Sinn erhielt. Gerade daran aber wird deutlich, daß allein der Mensch und nicht der Besitz als das unersetzliche Gut gilt. Die Gleichheit aller Menschen vor Gott schließt gleiches Recht im wirtschaftlichsozialen Leben ein; und um es aufrechtzuerhalten, um Ungleichheit und Unterdrückung abzuwehren, muß jeder willig Opfer bringen. In alledem liefert uns das Alte Testament kein soziales System, das ein-

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fach übernommen werden könnte. Seine Bestimmungen lassen sich nicht übernehmen, weil die damalige und die heutige Lage völlig verschieden sind. Wir erhalten zudem kein umfassendes Rezept für alle Schäden, sondern können erkennen, wie der alttestamentliche Mensch mit seinen Schwierigkeiten und Nöten gerungen und welche Lösungen er gefunden hat. Das Alte Testament zeigt also die Haltung des Menschen, aus der heraus die Probleme gelöst werden können. Es ist die Haltung des glaubenden Menschen. Was über das soziale Leben gesagt wird, ist demnach mit dem Grundthema des Alten Testaments verknüpft: mit der Verkündigung dessen, wie die Existenz des glaubenden Menschen beschaffen ist und wie sie sich verwirklichen kann. So soll auch gezeigt werden, wie das soziale Handeln und Verhalten des Glaubenden geartet sein muß, damit es vor Gott und in der Welt vor dem Nächsten bestehen kann. Daher finden wir kein System, sondern Beispiele für eine aus dem Glauben gewonnene Lösung der Probleme, die sich dem Menschen aus seinem Wesen und seiner Aufgabe, aus der Einschätzung und Verwendung der Güter der Erde stellen. 4. Das Alte Testament zeigt, wie man versucht hat, den Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft zu bewältigen. Zumindest in den von Glaube und Theologie ergriffenen Kreisen ist die Erkenntnis einer sozialen Verpflichtung ebenso vorhanden wie die Bereitschaft, am Werden einer neuen Ordnung mitzuwirken, ihr entscheidende Anstöße zu geben und sogar Opfer zu bringen. Es fragt sich nunmehr, was die Botschaft des Alten Testaments für unsere Zeit bedeutet. An vielen Stellen dürfte es unmittelbar erkennbar geworden sein, wie sie zu den gegenwärtigen Problemen in Beziehung steht. Es scheint ohne weiteres einsichtig zu sein, wie sich die Ziele, um die im Alten Testament gerungen wird, in ihrer unaufgebbaren Wahrheit und Geltung aufdrängen. An einigen Fragen soll dies erläutert werden. a) Seit der industriellen Umwälzung des letzten Jahrhunderts spricht man oft von der Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft, als ob eine fast göttliche Allmacht absolut herrschen und lediglich ihre eigenen Interessen berücksichtigen will. Je mehr dies zutrifft, desto weniger kann eine soziale Verpflichtung anerkannt werden. Die Rücksicht auf die Sache wiegt schwerer als die Rücksicht auf den Menschen. In Wahrheit muß umgekehrt über allen wirtschaftlichen Lehrsätzen der Rechtsschutz des Schwachen stehen. Der Mensch hat nicht der Wirtschaft zu dienen, sondern die Wirtschaft dem Menschen: darum muß sie sich seinen Bedürfnissen unterordnen. Nichts rechtfertigt eine entwürdigende Abhängigkeit, in die der arbeitende Mensch unter Berufung auf die Ertragsfähigkeit der Wirtschaft oder die

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Stärkung der staatlich-gesellschaftlichen Macht gezwungen wird. Leben und Freiheit des Menschen als gottgewollte Grundzüge seiner Existenz stehen über allen wirtschaftlichen Werten. Daher sind diejenigen Wirtschaftsformen zu verwerfen, die die menschliche Arbeit dem Nutzen einer kleinen Gruppe zuführen. Darunter fallen der Großgrundbesitz und die großen Handels- und Industriemächte ebenso wie die üblichen Kolonialmethoden der europäischen Staaten und die Versklavung ganzer Völker im Namen des sozialistischen Fortschritts. Als grundlegendes Gesetz muß gelten, daß alle Güter der Erhaltung von Leben, Freiheit und Selbständigkeit des Menschen dienen sollen. b) Auch die alttestamentliche Auffassung von Eigentum und Besitz birgt wichtige Grundgedanken. Zwar können wir das israelitische Bodenrecht nicht übernehmen, wohl aber seine Absicht beachten. Es will jedem Menschen einen Besitz zusichern und ihm insbesondere die Nutznießung seiner Arbeit gewährleisten. Das bedeutet zunächst, daß der freie Zugang zu den Produktionsmitteln nicht behindert werden darf und daß diese mehr als bisher in den Dienst des Mitmenschen — allerdings nicht des Staates oder einer anonymen Allgemeinheit — gestellt werden müssen; wie dies im einzelnen geschehen könnte, ist eine besondere Frage. Es bedeutet ferner, daß lebensnotwendige Gebrauchsgüter nicht aus der Wirtschaft herausgezogen und zurückgehalten werden dürfen, bis infolge des eintretenden Mangels ein Höchstpreis erzielt wird. Eine Ordnung, die dies zuläßt, entfernt sich vom Boden des Rechts und genehmigt den Wucher. Und eine Wirtschaft, die allein auf dem Grundsatz von Angebot und Nachfrage aufgebaut ist und ihre Preise danach einrichtet, bewegt sich stets am Rande des Wuchers entlang. c) In großen Teilen der Welt besitzt der arbeitende Mensch in der Gegenwart soviel Recht, Schutz und Freiheit wie selten zuvor. Wie verhält er sich dabei zu dem Industriebetrieb, in dem nicht nur Güter hergestellt werden, sondern zugleich zahlreiche Menschen einen großen Teil ihres Lebens gemeinsam verbringen? Es besteht zwar keine Lebensgemeinschaft, wohl aber ein Gemeinschaftsleben, ein „Konvivium". Die echten Lebensgemeinschaften, vor allem die Familie, umfassen das gesamte Leben und den gesamten Tag, einschließlich der Muße und des Schlafes. Das Konvivium des Betriebes neigt dazu, die ursprünglich zeitliche Begrenzung auf den Arbeitstag zu erweitern. Die Altersversorgung greift über ihn hinaus und bindet auf Lebenszeit. Gemeinsam werden Mahlzeiten eingenommen, Ruhezeiten verbracht und Ferienzeiten verlebt. In dieser Entwicklung spiegelt sich etwas für den Menschen Typisches wider. Im Konvivium

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des Betriebes sucht der einzelne Sicherheit, findet er Gleichgeartete, mit denen er eine Interessengemeinschaft eingeht, Schwächere, die er beherrschen kann, und Stärkere, von denen er sich führen läßt. Es bildet sich das Modell einer Gesellschaft, die noch durchaus unchristlich ist und in der für das gegenseitige Verhalten alle möglichen anderen Maßstäbe als die des göttlichen Gebotes gelten. Zudem neigt die Betriebsgemeinschaft dazu, den Menschen einzuschmelzen und seiner eigentlichen Lebensgemeinschaft, der Familie, zu entfremden. Damit gewinnt das vielgefeierte Wort, daß der Mensch im Mittelpunkt des Betriebes stehen solle, einen bedrohlichen Unterton. Manchmal sollte das Konvivium eher eingeschränkt als gefördert werden. 5. Legt das Alte Testament nun die Lösung der sozialen Probleme einfach in die Hand des Menschen? Zwar wird die Ungerechtigkeit in der Welt nicht daraus hergeleitet, daß sie als göttliche Schöpfung nur unvollkommen sei. Aber die eigentliche Ursache der sozialen Spannungen und Nöte wird ebensowenig in dem Mangel an Einsicht oder gutem Willen beim Menschen und in der Gerissenheit, Niedertracht oder Brutalität einiger weniger erblickt. Vielmehr liegt die eigentliche Ursache in dem sündigen Dasein des Menschen, in der Macht des Bösen in jedem Menschenherzen, das sich vor Gott und in der Welt mit Schuld belädt. Darum zielt die prophetische Verkündigung nicht auf soziale Reformen ab. Denn es wäre ein folgenschwerer Irrtum, mit Hilfe derartiger Reformen neue Lebensverhältnisse und durch sie eine neue Menschheit schaffen zu wollen. Das Alte Testament sieht es richtiger: Zuerst muß der Mensch umgewandelt und das Böse in ihm überwunden werden. Der Mensch muß „arm" vor Gott werden —• demütig und hingebend. Wer vor Gott „arm" ist, naht ihm in Demut und gibt ihm so die Ehre; er vertraut darauf, daß Gott ihm, dem Geringen, helfen wird und gibt ihm so die Macht. Der Mensch muß die von den Propheten gewünschte innere Wandlung infolge seiner Umkehr zu Gott oder seiner Erlösung durch Gott erfahren und ganz ein neuer Mensch werden. Dann wird er beginnen, sein glaubendes Dasein zu verwirklichen und sein Leben zu heiligen, um eine Insel der Gottesherrschaft zu bilden, die sich vielleicht je und dann mit anderen Inseln zu einem Kontinent zusammenfügt. Erst durch solches Wirken aus dem Glauben werden neue Lebensverhältnisse geschaffen und die Umwelt verwandelt. So ist der Glaubende der sozial denkende und handelnde Mensch, der dem Mitmenschen als seinem Nächsten in Gerechtigkeit und Liebe begegnet.

Mensch und Technik

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IV. Mensch und Technik 1. Auf Schritt und Tritt begegnen wir Erscheinungen, die ebenso bedenklich wie für unsere Zeit bezeichnend sind. Wir beobachten die Selbstentfremdung des Menschen im Vorgang einer Produktion, die auf einer ständig verfeinerten Arbeitsteilung beruht, den Verlust der Muße durch die Mechanisierung fast aller Lebensbereiche und die Bedrohung der Menschheit durch rein technische Macht. Daher erscheint die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu der von ihm geschaffenen Kultur und Technik allmählich als so grundlegend, daß man sich ihr immer von neuem zuwendet. Gewöhnlich geschieht es von einem der beiden möglichen entgegengesetzten Ausgangspunkte aus: Entweder beurteilt man vom heutigen Menschenbild aus Kultur und Technik oder sucht vom modernen Verständnis der Natur und Technik aus das Menschenbild zu erhellen und die zugehörige Kultur zu bestimmen. Es fragt sich jedoch, ob diese Fragestellungen ausreichen, um zu einer befriedigenden Antwort zu gelangen. Gewiß warnt man vor einer allzu optimistischen Auffassung unserer Bewältigung der Natur, die bis in die Welt der Atome einerseits und bis zum Flug ins Weltall andererseits reicht. Man weist auf die BewußtseinsIücke im Menschen gegenüber der modernen Macht- und Maschinenwelt hin und fragt, ob dieser Mensch die Fähigkeit besitze, die entfesselten Energien der Natur wieder zu binden. Das Besondere der modernen Technik wird darin erblickt, daß der Mensch die Natur auf förderbare, speicherbare, steuerbare und sicherbare Energie hin bewertet. Er hegt und pflegt sie nicht mehr, sondern nutzt und benutzt sie für industrielle Zwecke. Die Kehrseite dessen ist, daß der Mensch ebenfalls als Instrument erscheint und in die Planung einbegriffen wird. Wie die Maschine auf Planung, Normung und Automatisierung verweist, verstärkt sich beim Menschen die Neigung zum „Betrieb" und nehmen Staat und Gesellschaft immer mehr die Form eines bloß funktionierenden Schaltwerks an. Sogar die Künste werden durch die technischen Reproduktionstechniken und die fortschreitende Rationalisierung in die Problematik einbezogen. In gleicher Weise aber macht sich auch die zentrale Stellung des Menschen selbst bemerkbar, wie sich unübersehbar in der Naturwissenschaft zeigt. Bei der Beobachtung der kleinsten Elementarteilchen wurde es deutlich, daß der Vorgang der menschlichen Beobachtung das Ergebnis beeinfiußt und an die Stelle der reinen Naturbeschreibung die Reaktionsbeschreibung der Teilchen tritt. Man beschreibt also nicht mehr die Teilchen, sondern unsere Kenntnis der Teilchen. Die Methode des Menschen, sein Beobachten,

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verflicht sich untrennbar mit der an sich objektiven Beobachtung. Insofern ist das moderne naturwissenschaftliche Weltbild kein eigentlich naturwissenschaftliches mehr, da der Mensch letztlich nur sich selbst gegenübersteht. Wir leben jedenfalls in einer technischen und technisierten Welt. Wir wissen femer, daß diese Welt in ihrer Vollkommenheit und in ihren Mängeln von unseren Fähigkeiten und Einsichten abhängt. Wir können diesen technischen Bereich schließlich nicht sich selbst überlassen; tatsächlich ist die moderne Menschheit in großem Ausmaß damit beschäftigt, für den Bestand und die Fortentwicklung dieses Bereiches zu sorgen. Man hat mit Recht darauf hingewiesen, daß es verhängnisvolle Folgen für die Lebensgestaltung, ja für das Weiterbestehen der Menschheit hätte, wenn nur in einer einzigen Generation das technische Verständnis, die technische Fähigkeit oder der Wille zur Technik ausblieben. Es gibt keine Flucht aus der technischen Welt; man kann sie nicht verlassen, wie man ein Haus verläßt. Jeder Mensch ist in sie einbezogen und arbeitet an der Beseitigung ihrer Mängel ebenso wie an ihrer fortschreitenden Vervollständigung. Wie die technische Welt für uns unentrinnbar ist, so bildet sie auch einen Teil unserer Geschichte. Auf diesem Wege von der Antike bis zur Gegenwart ist die Technik immer tiefer in die Lebensgestaltung und Formung der Welt eingedrungen. Fassen wir dieses ihr Werden und Umsichgreifen ins Auge, so erkennen wir, daß die Technik aufgrund ihrer Geschichte, die sie in enger Verbindung mit anderen Bereichen des menschlichen Geistes zeigt, einen Bestandteil unseres geistigen Lebens überhaupt bildet. Daher ist es nicht möglich, die Frage nach dem Verhältnis zur Technik auf diejenige nach dem Verhältnis zur Maschine einzuengen. Dann wäre nur ein Teil der technischen Welt und dieser unabhängig von anderen geistigen und kulturellen Äußerungen gesehen. In Wirklichkeit reicht die Technik in unserer Zeit nicht nur über die Maschinenwelt, sondern auch über Natur und Materie hinaus. In Politik und Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft begegnen überall Technisierungen. Man hat in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, daß der Aufbau mathematischer Theorien, die wieder neue Entdeckungen und Erfindungen ermöglichen, mit Denktechniken arbeitet, so daß sich in diesen abstrakten Rechenverfahren die Technik im geistigen Bereich verkörpert und ein technischer Vorgang in der Welt der reinen Begriffe verwirklicht. Die modernen elektronischen Rechenmaschinen sind das bezeichnendste Beispiel dafür, wie Materie und Geist im Bereich der Technik in engsten Zusammenhang geraten.

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Damit wird die Berechtigung der gelegentlich geäußerten Ansicht deutlich, daß der Mensch die technische Welt nicht nur körperlich, sondern auch geistig bewohne. Da sie seinem Geist entstammt, trägt sie die Züge dieses Geistes und gehört dem Bereich dieses Geistes an. Umgekehrt erscheint das Dasein des Menschen als durch die technisch-kulturelle Welt bestimmt, die er sich geschaffen hat; und es erscheint in neuer Sicht, da diese Welt seiner Natur und seinem Geiste seinsgemäß ist. Die Geschichte zeigt die unaufhörlichen Versuche, diese Seinsgemäßheit zu fördern und zu vervollkommnen. Daher gehören technisches, kulturelles und geschichtliches Bewußtsein zusammen; sie formen gemeinsam an dem Bild und dem Selbstverständnis des Menschen. Unsere Zeit gesteigerter Technisierung ist eine Zeit, in der dem Menschen nachdrücklich die Frage nach seinem Wesen gestellt wird. Daß die Menschheit sich infolgedessen in einer schwierigen Lage befindet, ist verständlich. Sie steht dank ihrer technischen Entwicklung sowohl vor der Möglichkeit völliger Selbstvernichtung als auch vor derjenigen der Überschreitung der irdischen Grenzen ins Weltall hinaus. Diese Lage läßt sich nicht allein mit Hilfe der Vernunft auf rationalem Wege lösen, sondern fordert wenigstens in gleichem Maße die ethischen Kräfte heraus. Man hat nicht ohne Grund die Auffassung vertreten, daß erst mit der wachsenden Ausbildung der technischen Welt der Mensch auf die ethische Stufe seines Seins getreten und nunmehr das eigentliche ethische Jahrhundert angebrochen sei. Die Folgerungen, die die technisch-kulturelle Welt für die Menschheit heraufführt, werden weitgehend durch deren ethisches Verhalten bestimmt sein. Jene Welt ruft daher nicht nur die rationale, sondern auch die ethische Verantwortung des Menschen wach. Das Verhältnis des Menschen zu Technik und Kultur ist letztlich das Problem des Verhältnisses des Menschen zu sich selbst. Es ist ein ethisches Problem. Sind wir nun der Überzeugung, daß das Verhältnis des Menschen zu sich selbst zugleich das Problem des Verhältnisses zu Gott ist — zum göttlichen Willen und zur gottgewollten Bestimmung des Menschen —, so handelt es sich um ein religiös-ethisches Problem, das unentrinnbar ist. Aus diesem Grunde läßt sich das Alte Testament befragen. 2. Gibt uns aber das Alte Testament eine Antwort? Es steht doch eigentlich außerhalb der Geschichte der Technik, die erst in der griechischrömischen Antike langsam beginnt, deren Problematik sich nach vielen weiteren Jahrhunderten wirklich enthüllt hat und in der erst die tatsächliche Entfaltung der technischen Möglichkeiten diese Problematik heraufgeführt hat und also vorausgesetzt werden muß.

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In der Tat stoßen wir auf ein Hindernis, wenn wir uns an das Alte Testament wenden. Es liegt weniger in dem, was wir an technischer Entwicklung vorfinden, als in dem, was sich darin enthüllt. Für die technische Kultur Israels gilt — wie für nahezu alle Lebensgebiete — ein hartnäckiges Festhalten am Gewohnten und Herkömmlichen. Im Verlauf seiner ganzen Geschichte zeigen sich kaum einmal Änderungen in technischen Bezeichnungen oder Verfahren. Selbst in der Landwirtschaft, der ständigen Hauptbeschäftigung, bleibt sich weitgehend alles gleich. Höchstens in der Töpferei lassen sich einige Entwicklungsspuren feststellen. Angesichts dieses Festhaltens am Gewohnten kann von einer eigentlichen Weiterentwicklung und Entfaltung der technischen Kultur keine Rede sein. In unserer Welt wird in einem einzigen Jahr mehr entdeckt, erfunden und entwickelt als in Israel im Verlaufe von 1000 Jahren. Der alttestamentliche Mensch war das Gegenteil eines Entdeckers und Erfinders. Er suchte keine Abenteuer und war Überraschungen abgeneigt; er spürte dem Unerwarteten und Ungewöhnlichen nicht nach, sondern erschrak in der Regel und war voller Unsicherheit, wenn er auf dergleichen stieß. Er redete und tat gewöhnlich das, was er als Kind gelernt hatte und was er sein Leben lang in seiner Umgebung beobachtete. Erst die großen Einzelpropheten haben dieses Gehäuse der Bindung an das Gewohnte gesprengt; das machte sie ihren Zeitgenossen so unheimlich. In dieser geistigen Lage sollte man kaum erwarten, daß über das Verhalten des Menschen in einer technischen Welt etwas Belangvolles gesagt wird. Dennoch geschieht es, weil es sich letztlich um eine religiös-ethische Frage handelt. So erhält nach der jüngeren Schöpfungsgeschichte die von Gott geschaffene Menschheit zwei Aufträge, die als grundlegende Gebote für die menschliche Existenz gemeint sind und für alle Menschen gelten sollen. Der zweite dieser Aufträge lautet: „Füllet die Erde und macht sie euch Untertan!" Das ist nichts anderes als der Auftrag zu Kultur und Technik. Was bis heute auf diesen Gebieten geschehen ist und geschieht, soll als seine Erfüllung verstehen gelehrt werden. Die gesamte Kultur und Technik wird durch diesen einen Satz nicht nur als ein unveräußerliches Recht des Menschen betrachtet, sondern sogar als sein Auftrag und seine Verpflichtung, denen er nicht ausweichen kann, wenn er nicht seine Existenz als Mensch verlieren will. Trotz des Festhaltens am Gewohnten, das eine technische und kulturelle Weiterentwicklung hindert und ein stürmisches oder überstürztes Fortschreiten geradezu ausschließt, wird damit eine dauerhafte Grundlage für das Verständnis der ganzen Frage gelegt. Ja, das Festhalten am Gewohnten

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erweist sich sogar als förderlich. Die Stellungnahme zur Frage wird nicht durch äußere Notwendigkeiten herbeigezwungen, sondern kann sich allmählich und im Zusammenhang des großen Ganzen des alttestamentlichen Glaubens entfalten; daher erfolgt sie dann auch nicht oberflächlich, sondern ist tief genug gegründet, um wirklich standhalten zu können. 3. Gehen wir nach diesen grundsätzlichen Erörterungen den Äußerungen des Alten Testaments im einzelnen nach, so bemerken wir verschiedene Ansichten. Zunächst stellen wir mehrfach fest, daß sich das Festhalten am Gewohnten negativ auswirkt und sogar zur Bestreitung jeder kulturellen und technischen Weiterentwicklung führt. Die Israeliten haben vor ihrer Seßhaftwerdung in Palästina als nomadische oder halbnomadische Gruppen gelebt und sind auch später in einzelnen Landstrichen noch längere Zeit dabeigeblieben. Daher haben bestimmte Kreise die nomadische Lebensweise hartnäckig beibehalten und es entschieden abgelehnt, sich mit den neuen Verhältnissen im palästinischen Kulturlande auszusöhnen oder zu befreunden. Für diese Haltung ist die älteste Quellenschicht in den Büchern Genesis bis Josua zu nennen, die man die nomadische Quellenschicht nennen kann. Sie ist wahrscheinlich in den Kreisen der halbnomadischen Jahwegläubigen in Südjuda entstanden und steht der kanaanäischen Kultur mißtrauisch gegenüber. Sie stellt sich die ersten Menschen nicht als Ackerbauer, sondern als Nomaden vor, weil sie deren Lebensweise als ideal betrachtet. Die Erzählung vom Turmbau zu Babel denkt sich die bis dahin einheitliche Menschheit als nomadische Wandergruppe. Ihr Versuch fester Niederlassung in der geplanten Stadt mit dem riesigen Turm ist ihre Ursünde und ihre spätere Ansiedlung in Städten eine Folge des göttlichen Fluches. In der Mosezeit läßt die Quellenschicht den Aufenthalt Israels am Sinai unglücklich enden. Das Volk wird aus der Nähe Gottes ungnädig entlassen; die Lade ist nur ein unvollkommener Ersatz für die volle Gegenwart Gottes in der Wüste und der weitere Zug ins Kulturland keine freudige Wanderung zu einem ersehnten Ziel. Das palästinische Kulturland mit seinen Heiligtümern gilt als fragwürdig gegenüber der eigentlichen Heimat Jahwes und Israels: der Wüste mit dem Gottesberg. Nur das einfache nomadische Leben ohne verfeinerte Kultur und Technik ist gottwohlgefällig, ideal und vollkommen. In der älteren Zeit Israels, aus der diese Darstellung stammt, finden sich ferner die Gestalten der Nasiräer, in späterer Zeit die Rechabiten (vgl. 3. Kap. III, 2). Sie hielten die Kultur Palästinas für unvereinbar mit dem echten alten Jahweglauben der Wüstenzeit und wollten von der palästinisch-

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israelitischen Kultur zur Einfachheit des Nomadenlebens zurückkehren. Ihren Gott, den Jahwe der Wüstenzeit, gingen die bäuerliche Lebensweise und die Stadtkultur Palästinas nichts an. Sie glaubten ihm nur treu sein zu können, wenn sie auch im Kulturlande am Nomadentum festhielten. Es ist aber kein Zufall, daß es sich bei diesen Kritikern immer nur um kleinere Gruppen handelt, die keine nachhaltigen Spuren hinterlassen haben. Sie sind gewiß achtenswert und bewunderungswürdig in ihrem Protest gegen die kanaanäische Beeinflussung und Verfälschung des Jahweglaubens. Doch sie sind einem grundlegenden Irrtum erlegen. Sie haben den Glauben unauflöslich mit einer bestimmten Kulturstufe verbunden; sie wollten im Festhalten an dieser einmal geprägten Form des Glaubens zugleich die Uhr der Geschichte festhalten oder zurückdrehen. Was sie wie das Heimweh nach einem verlorenen Paradiese umtrieb, waren die Verhältnisse einer für immer vergangenen Zeit. Was sie begeisterte, gehörte der Vergangenheit an und hinderte sie, ihre Aufmerksamkeit auf Gegenwart und Zukunft zu richten. Ihre ursprüngliche Absicht war anerkennenswert; sie wollten den Glauben schützen und fördern und vor dem Untergang im Kanaanäertum bewahren. Aber ihre Methode war falsch; sie suchten eine bestimmte Kulturform zu bewahren oder wiederherzustellen, die sich überlebt hatte. Daher ist die Geschichte über sie hinweggeschritten. 4. Überwiegend finden wir im Alten Testament eine ganz andere Haltung gegenüber der bäuerlichen und städtischen Kultur, auf die die Israeliten in Palästina trafen. Sie bewertete Kultur und Technik durchaus positiv. Man übernahm von den Kanaanäern, was man vorfand und schmolz es in die eigenen Vorstellungen ein. In Auseinandersetzung mit dem Jahweglauben bildete sich auf diese Weise allmählich eine eigene israelitische Kultur, die jahrhundertelang lebendig gewesen ist. Zwar wurde sie im einzelnen infolge des Festhaltens am Gewohnten nicht viel weiter entwickelt, nachdem ein gewisser Stand erreicht war, aber zu dem Erreichten verhielt man sich positiv und zustimmend. Diese Haltung kommt sehr deutlich in einer anderen Quellenschicht der Bücher Genesis bis Josua zum Vorschein: in der des Jahwisten. Er bejaht die Ackerbaukultur und den damit verbundenen Kultus, die nationale Macht, den Staat und das Königtum. Daher läßt er Israel freudig vom Sinai Abschied nehmen und in das ihm versprochene Kulturland ziehen. Bei ihm begleitet Gott selbst das Volk, um sich in Palästina niederzulassen. Ein geradezu klassisches Symbol dieser Hochschätzung von Kultur und Technik ist der von Salomo in Jerusalem errichtete Tempel. Die neueren Ausgrabungen haben ergeben, daß er nach kanaanäisch-phönizischem

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Vorbild errichtet worden ist. Auf diesem Vorbild beruhen die rechteckige Form des Tempelhauses und seine Unterteilung in drei Räume. Kanaanäischer Herkunft sind auch die Holzverkleidung der Innenwände, die Ausstattung des Tempels mit den Säulen Jachin und Boas, dem ehernen Meer, den Waschbecken, dem großen Altar und die Ausschmückung der Wände und Geräte mit Abbildungen von Keruben, Löwen, Stieren, Palmen und Lilien. Der Bau ist bezeichnenderweise von Architekten und Bauleuten aus Tyrus errichtet worden. Freilich war er zunächst nur die Hofkapelle des Königs und ist erst allmählich für das ganze Volk bedeutsam geworden. Unabhängig davon aber hat Salomo der im israelitischen Bereich entstehenden Kultur und Technik voll zugestimmt, als er den Tempel bauen ließ und bei seiner Einweihung den Weihespruch ausrief: Jahwe hat die Sonne an den Himmel gestellt, der gesagt hat, er wolle selbst im Dunkel wohnen. Nun habe ich ein Haus gebaut zur Wohnung für dich, eine Stätte als deinen Wohnsitz für alle Zeit. (I Reg 8, 12 f.) Nun glaubte man Gott nicht mehr in erhabener Einsamkeit auf dem Sinai thronend, sondern auf dem Zion in der eigenen Mitte — in einem Hause, das den kulturellen und technischen Errungenschaften der Zeit entsprach. Eben sie wurden damit geheiligt und für würdig erklärt, für den weltmächtigen Gott eine Wohnstätte herzurichten. Nun kam Gott nicht mehr nur von Zeit zu Zeit im Wetter dahergebraust, um seinem Volke im Kampf zu helfen, sondern war ständig gegenwärtig und strahlte seinen Segen über das Land aus, in dem jene kulturellen und technischen Errungenschaften täglich angewendet wurden. Er wurde damals nicht nur zur offiziellen Staatsgottheit in Israel, sondern auch zum Schutzherrn menschlicher Kultur und Technik erklärt. Freilich begannen sich bald die Schattenseiten der uneingeschränkten Nutzung solcher Errungenschaften abzuzeichnen. Denn in dieser Kultur war ein starker kanaanäischer Einfluß wirksam, der mit dem ganzen Leben auch den alttestamentlichen Glauben durchdrang und zum Synkretismus führte. Gerade entgegengesetzt der Haltung der Kulturkritiker wurde der Glaube von der kanaanäisch gefärbten Kultur bestimmt. Zudem wurde diese Kultur bald säkularisiert und folgte ihren eigenen Gesetzen, so daß der Glaube auch von da aus bedroht wurde. 5. Bei den großen Einzelpropheten änderte sich die religiöse und theologische Grundhaltung, so daß sich auch die Stellungnahme zu Kultur und Technik ändern mußte. 17

Theologische Grundstrukturen

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Da der Prophetie vor allem an der Ausrichtung allen menschlichen Handelns auf den göttlichen Willen lag, mußte zunächst der bloß relative Wert der kulturellen und technischen Bestrebungen hervortreten. Wo der Mensch sich ihnen ganz hingibt und sich an den dadurch erzielten Genuß verliert, tritt die gefährliche Versuchung irdischen Glücks zutage, die den Menschen seiner eigentlichen Bestimmung entzieht. So bemerkt der geschärfte prophetische Blick von Hosea an, daß mit der Einwanderung in das reiche Kulturland der Abfall von Gott beginnt und daß seither die Sünde die Volksgeschichte durchzieht. Er bemerkt, wie die reichen Gaben Gottes zugleich Übermut und Gewissenlosigkeit, Selbstsucht und Gottvergessenheit haben wachsen lassen. Darum kann das angedrohte göttliche Gericht gerade im Entzug der kulturellen und technischen Errungenschaften bestehen. Dieses Urteil ist jedoch weder mit der Kulturfeindschaft der nomadischen Kreise noch mit der Kulturgleichgültigkeit der Mystik zu verwechseln. Von der ersteren unterscheiden sich die Propheten dadurch, daß sie in der Kultur und Technik Palästinas vorbehaltlos göttliche Gaben erkennen; sie lehnen nicht diese Gaben ab, sondern geißeln nur ihren Mißbrauch im Dienste menschlicher Selbstsucht. Von der Mystik trennt sie, daß sie nicht durch die Enttäuschungen des Lebens und die Erfahrung des unsinnlichen Glücks der mystischen Vereinigung mit Gott zur Gleichgültigkeit gegen das Irdische geführt werden; denn die Armut als Folge fehlender oder falsch angewendeter Kultur und Technik ist ihnen nicht gleichgültig, sondern gilt als Widerspruch zum Segenswillen Gottes, der behoben werden muß. Wie alle irdischen Güter gelten demnach Kultur und Technik weder als ihrem Wesen nach schädlich noch als für den Glaubenden unwichtig und wertlos, wohl aber als bloß relativ wertvoll. Denn in ihnen liegt nicht die letzte und eigentliche Bestimmung des Menschen; vielmehr können sie nur von ihr aus gepflegt werden. Dieses Eigentliche des Menschen aber erblickt die Prophetie in der Verwirklichung der Gottesherrschaft und der Gottesgemeinschaft, die das menschliche Dasein als eigenartige und eigenständige Größe bestimmen. Im Glauben wird der Mensch aufgerufen, aus allen irdischen Bindungen in das Wagnis bloßen und spannungsvollen Vertrauens und Hingebens herauszutreten. Als Antwort auf die göttliche Liebe soll sich die menschliche Liebeskraft von ganzem Herzen und ganzer Seele regen. Liegen darin Ziel und Erfüllung des Lebens, so wird aufgrund dessen der Gebrauch von Kultur und Technik von allem Schädlichen gereinigt und als Aufgabe und Verpflichtung verstanden.

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Diese prophetischen Gedanken sind in der jüngeren Schöpfungsgeschichte verwertet worden (Gen 1,1—2,4 a). Der nach dem Bilde Gottes geschaffene Mensch wird mit der Herrschaft über die Welt beauftragt. Die Ebenbildlichkeit mit Gott befähigt den Menschen, den Auftrag zu Kultur und Technik zu erhalten und auszuführen. Er kann und darf sich dem Auftrag nicht entziehen; es gehört zur Ordnung in der Welt, daß er ihn ausführt. Aber er muß ihn als Empfänger der Gabe der Ebenbildlichkeit, in seiner besonderen Stellung zwischen Gott und Tier ausführen. Verläßt er seinen Platz, um sich Gott annähern zu wollen oder zum Tier abzusinken, so kann er seinem Auftrag nicht mehr treu bleiben. Es entsteht die Gewalt und Despotie des sich göttergleich wähnenden Menschen, der nicht mehr im Auftrag und aus der Willensgemeinschaft mit Gott handeln will. Oder es entwickelt sich der bloße Machtkampf im Streben um den Sieg des Stärkeren auf der tierischen Triebebene. Stets fehlt die Fürsorge, die in den Auftrag zu wirklicher Herrschaft eingeschlossen ist. In rechter Weise kann der Mensch über die Welt nur herrschen und sie sich durch Kultur und Technik nutzbar machen, wenn er von dem zweifachen Wissen beseelt ist, daß er nach Gottes Bild geschaffen und ihm ähnlich ist, also göttliche Gaben hat, und daß er geschaffen ist, also von Gott abhängig und auf ihn angewiesen. Der Mensch ist zu Kultur und Technik aufgerufen, um den Herrschaftsanspruch Gottes auf Erden in seiner eigenen Herrschaft zu wahren und durchzusetzen, jedoch unter der Voraussetzung, daß er zugleich den göttlichen Herrschaftsanspruch auf sich selber anerkennt und ausüben läßt. Entscheidend ist also die Daseinshaltung des Menschen. Leben in Kultur und Technik kann die Erfüllung des göttlichen Auftrags bedeuten: Macht euch die Erde Untertan! Es kann aber auch das Tun des seiner selbst bewußten Menschen sein, der wie Gott sein will. Es ist nicht immer leicht zu sagen, was im einzelnen Fall zutrifft. Denn die Erzählung vom Sündenfall zeigt, daß im Auftrag des Menschen schon die Versuchung liegt, seine schöpferischen Kräfte auszuspielen. Und der Übergang von der bloßen Erfüllung des Auftrags zum göttergleichen Schöpfertum ist sogar für den glaubenden Menschen schnell vollzogen. Daran zeigt sich, daß die Prophetie recht hat, wenn sie zu ständiger Umkehr des Menschen zu Gott auffordert oder seine Wandlung von der göttlichen Vergebung und Erlösung erwartet. In der Tat ist kulturelles und technisches Handeln in rechter Weise nur unter ständiger Entscheidung des Menschen für seine eigentliche Bestimmung und bei ständiger Bitte um Vergebung und Erlösung möglich und sinnvoll. Denn das Leben ist ein Weiterschreiten von einer Entscheidung zur anderen, in der es jeweils um die Grundfrage der menschlichen Existenz geht. 17*

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Auch wenn der Mensch einmal die rechte Entscheidung getroffen und die innere Wandlung zum Neuen vollzogen hat, kann er die darin gewonnene Haltung nicht als einen Besitz festhalten. Sie erscheint vor ihm als etwas, das wieder neu errungen werden muß. Jede neue Lage ruft den Menschen wieder in die Entscheidung. Das ist die prophetische Forderung der Umkehr, die immer aufs neue vollzogen werden muß. Sie bedeutet also, daß der Mensch sich immer wieder über seinen Auftrag zu Kultur und Technik klar wird und sich dafür entscheidet, ihn wirklich als Auftrag und Verpflichtung unter der Herrschaft Gottes auszuüben, ohne schöpferischer Selbstherrlichkeit zu verfallen. Die Versuchung zu solchem Abirren bringt jeder neue Augenblick solcher Betätigung mit sich, so daß es weder Sicherung vor falschem Verhalten noch Gewähr für eine Kultur und Technik auf religiöser Grundlage gibt. Doch die Propheten weisen noch auf etwas anderes hin. Daß der Mensch sich recht entscheidet, ist nur durch die göttliche Gnade möglich. Denn das Dasein, in dem er in die Entscheidung gerufen wird, ist stets schuldig. Diese Schuld ist nicht ein Mangel oder eine Unvollkommenheit, über die man hinausgelangen könnte, sondern Sünde gegen Gott, die das Wesen des Menschen verderbt. Und was der damit beladene Mensch unternimmt und tut, ist ebenfalls dadurch bestimmt. Diese Schuld kann nicht vom Menschen ausgelöscht oder beiseite geschoben werden; nur Gott kann sie durch Vergebung und Erlösung tilgen, nachdem sie vor ihm bekannt worden ist. Wie die Umkehr ist diese Erlösung auf den Augenblick bezogen; sie verwirklicht sich im jeweiligen Augenblick der Gewährung und ermöglicht die Entscheidung zu einem neuen Dasein. Daher ist die immer neue Entscheidung, Kultur und Technik als Auftrag und Verpflichtung zu verstehen und auszuüben, sowohl die freie Entscheidung des Menschen als auch durch die Gnade Gottes geschenkt. Kulturelles und technisches Handeln ist für den Glaubenden nicht nur ein Tun aus den Geisteskräften, die ihm als Menschen zu eigen sind, oder aus der Beugung unter die Gottesherrschaft, die es zu wahren und durchzusetzen gilt, sondern vor allem ein Tun und Leben aus der göttlichen Gnade, die er sich immer aufs neue schenken lassen muß. V. Die Zukunft des

Menschen

Seit alters hat der Mensch nicht nur nach seiner Vergangenheit gefragt und seine Gegenwart zu bewältigen gesucht, sondern den Blick auch immer wieder auf die Zukunft — auf seine eigene Zukunft — gerichtet und nach

Die Zukunft des Menschen

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Mitteln und Wegen Ausschau gehalten, die ihm dazu verhelfen könnten, die Geheimnisse der Zukunft zu entschleiern und sie darüber hinaus zu beeinflussen oder zu gestalten. Alle möglichen Praktiken sind zu diesen Zwecken angewendet worden; manche werden auch im Alten Testament erwähnt und teilweise abgelehnt, teilweise in eingeschränkter Weise oder ganz gebilligt. Daneben hat das Alte Testament aber auch Modelle entwickelt, die in umfassender Weise der Zukunftsgestaltung dienen. Drei dieser Modelle sollen im folgenden behandelt werden. 1. Als erste Möglichkeit für einen auf die Zukunftsgestaltung gerichteten Glauben sei die Festlegung und Anwendung eines auf göttliche Anordnung gegründeten und von Gott legitimierten Gesetzes angeführt. Nach der Landnahme der Israeliten in Palästina reichte ihr ursprüngliches nomadisches Recht für die im Kulturland sich ergebenden Verhältnisse nicht mehr aus. Auch die Lebens- und Verhaltensregeln, die dem Jahweglauben entstammten oder entsprachen — wie die Gebote des Dekalogs oder Heiligtums- und Kultusordnungen —, konnten die für ein Zusammenleben in den neuen Verhältnissen erforderlichen Veränderungen nicht regeln. Es erwies sich als notwendig, die unumgängliche Veränderung der einstigen nomadischen Gesellschaft durch neue rechtliche Anordnungen vorzunehmen und zu gewährleisten. Dem diente vor allem die Übernahme des kasuistisch formulierten Rechts der Kanaanäer, das dem Recht der anderen semitischen Völker verwandt war. Es wurde, soweit erforderlich, den israelitischen Verhältnissen angepaßt und weiterentwickelt, außerdem mit der Autorität Jahwes und Moses begründet. Überwiegend hat es sich um mündlich überliefertes Gewohnheitsrecht gehandelt, das nicht schriftlich fixiert war. Daß sich darin nicht ein einmaliger Vorgang abgespielt hat — wenn auch ein Vorgang von wenigstens jahrzehntelanger Dauer —, zeigt das Entstehen neuer Rechtsbücher. Auch zu deren Verständnis muß das Verfahren der anderen semitischen Völker des Alten Orients herangezogen werden. Dort hat sich überall die Rechtspraxis weniger auf Gesetzbücher als vielmehr auf das gewohnheitsmäßig festgelegte und überlieferte Recht gestützt, für das lokale Sammlungen von Urteilen (nicht von Rechtsnormen) zur Verfügung standen. Die uns bekannten Rechtskodizes dagegen sollten offensichtlich nicht das gesamte geltende Recht darbieten, sondern Rechtsreformen begründen. In ihnen waren neue maßgebende Urteile des jeweiligen Königs zusammengestellt, die in Gesetzesform gebracht worden waren; sie sollten ältere Entscheidungen ändern.

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Genauso sind die alttestamentlichen Rechtsbücher zu verstehen, darunter das sog. Bundesbuch in Ex 20, 24—23, 9, das während der Königszeit entstanden ist. Man hat in ihm aus kleineren Sammlungen von Einzelurteilen oder -bestimmungen ein Rechtsbuch geschaffen, das nicht das gesamte geltende Gewohnheitsrecht darbieten, sondern eine Rechtsreform begründen sollte, bei der neue Bestimmungen oder in Satzform gebrachte Urteile ältere Entscheidungen änderten. Daß es dabei nicht um die Angleichung der israelitischen Gesellschaft an die kanaanäische Umwelt ging, sondern ein durchaus eigener Weg der Veränderung in der Zukunft eingeschlagen wurde, ergibt sich aus der Tendenz der Auseinandersetzung mit der kanaanäischen Kultur und ihrer Durchdringung mit den Kräften des Jahweglaubens. Die Rechtssätze und Rechtsbücher der vorstaatlichen und frühen bis mittleren Königszeit waren für die örtliche Rechtsgemeinde der freien Vollbürger bestimmt. Sie wurden in ihr angewendet, damit jedem das Seine zuteil werde und also Gerechtigkeit herrsche. Diese Rechtsgemeinde ist an dem Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft gescheitert und zerbrochen. Nach dem prophetischen Urteil war ihr Hauptmangel die soziale Ungerechtigkeit, insbesondere infolge der persönlichen Verflochtenheit des einzelnen in die schwebenden Fragen und Verfahren und infolge der unterschiedlichen Beurteilung der Tatbestände in den verschiedenen Ortschaften und Landschaften. An diesem Punkt hat das deuteronomische Gesetz gegen Ende des 7. Jh. v. Chr. eine tiefreichende Änderung begonnen und die örtliche Rechtsgemeinde eingeschränkt, indem es schwierige Rechtsfälle der örtlichen Enge entnahm, um sie dorthin zu verweisen, wo die Hauptstadt, der Tempel, die größere Weite des Blicks und die tiefere Verpflichtung gegenüber dem Gott Israels eine sachgemäßere Beurteilung zu gewährleisten schien. Das deuteronomische Gesetz hat also nicht nur die Kultstätte zentralisiert und vereinheitlicht, sondern auch den Weg zur Zentralisierung und Vereinheitlichung der Rechtspflege eingeschlagen. Darin wirkte es bewußt zukunftweisend, rechtsbildend und die Gesellschaft verändernd; man muß sich nur die Tragweite dieser Maßnahmen in der damaligen Zeit vor Augen führen! Doch noch weit darüber hinaus hat das deuteronomische Gesetz auf religiös-kultischem, staatsrechtlichem, politischem, rechtlichem und menschlich-ethischem Gebiet verändernd wirken wollen, ζ. B. durch die Verlegung der Festfeiern aus den Familien und Ortschaften in den Tempel zu Jerusalem, durch die humane Tendenz in Rechts- und Strafbestimmungen, durch die strenge sexuelle Ethik, durch die Festlegung eines allge-

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meinen Schuldenerlasses in jedem siebten Jahr (um den sozial Schwachen in regelmäßigen Abständen eine neue Anfangsmöglichkeit zu geben) und durch ein staatliches Gemeinschaftsethos, das alle Israeliten vom König bis zum Bauern und Kaufmann, ja bis zum israelitischen Sklaven zu Brüdern erklärte. Manches davon ist sicherlich Theorie geblieben wie der regelmäßige Schuldenerlaß; anderes rückt in die Nähe der Utopie wie die Brüderlichkeitserklärung. Und insgesamt wissen wir nicht, wie sich das deuteronomische Gesetz auf die Dauer bewährt hätte, weil es nach dem Tode Josias außer Kraft trat und der judäische Staat bald danach unterging. Doch ungeachtet dessen ist es ein hervorragendes Beispiel für die beabsichtigte Änderung des Lebens eines Volkes durch ein Gesetz. Der damit beschrittene Weg wird mit den späteren kultisch-ethischen Gesetzeskorpora weiterverfolgt. So entstand im babylonischen Exil das sog. Heiligkeitsgesetz als Programm für den künftigen Neuaufbau der Gemeinde in Palästina und als organisatorisches Gerüst dafür. Es ist unter den Deportierten entstanden, die —• wie in der Mosezeit außerhalb Palästinas lebend — auf den erneuten Einzug in das Land hofften. Für das neue Leben, das dort beginnen sollte, galten die Anordnungen des Heiligkeitsgesetzes als neue Zusammenfassung des göttlichen Willens. Es war entscheidend wichtig, diesen Willen zu befolgen, weil dies die große Wendung herbeiführen und die Zukunft festigen sollte. Es ging um die notwendige Veränderung der Gemeinde, die rein und heilig werden und bleiben muß, weil nur dann die Zukunft gewährleistet ist. In der späteren Geschichte des Judentums kann man immer wieder beobachten, wie eine derartige, durch das Gesetz gegenüber dem früheren Leben veränderte Gemeinde aussieht, aber ebenso, wie sie fast notwendig der Erstarrung und Veräußerlichung anheimfällt. Daran kann sich nun die ganze bekannte Kritik der gesetzlichen Frömmigkeit anschließen, die letztlich darauf hinausläuft, daß das gesetzliche Modell für einen auf die Zukunft gerichteten Glauben unmöglich ist, weil auch das eine Veränderung bezweckende Gesetz doch wieder auf Erhaltung und Festigung des Veränderten bedacht ist und weil darum Gesetz und Veränderung einander eigentlich ausschließen. 2. Das zweite Modell eines auf Zukunft gerichteten Glaubens ist die mehr oder weniger utopische Lösung der eschatologischen Prophetie, die seit Deuterojesaja vom ausgehenden babylonischen Exil an begegnet, und der später aus ihr hervorgegangenen Apokalyptik. Nicht denkerischer Radikalismus hat sie geschaffen, vielmehr beginnt sie mit dem inbrünstigen religiösen Aufbruch eines Mannes, der — in der Notzeit des Exils lebend

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— seine Gegenwart durch den Blick auf die Zukunft bewältigte und der für diese Zukunft eine von Gott herbeigeführte endzeitlich-ewige Veränderung und Neugestaltung der Welt erhoffte. In kühnem Gedankenflug, der durch die geschichtliche Situation provoziert war, suchte er nach Jahrzehnten bitterer Not jene veränderte Zukunft zu umreißen, zu der er den persischen König Kyros schon das Tor öffnen sah und die die düstere Gegenwart erträglich machte: die Überwindung der Macht des Unterdrückers Babylon, die Erlösung Israels aus dem Exil, seine Heimführung durch die Wüste nach Jerusalem, die Sammlung der in alle Welt Zerstreuten, die Rückkehr Gottes nach Jerusalem, die Umwandlung der irdischen Verhältnisse durch Wiederaufbau, paradieshaften Segen und Vermehrung des Volkes, schließlich die Einsicht der Menschen in die Untauglichkeit ihrer Götter und ihre Bekehrung zu dem einen Gott. Nachdem Kyros tatsächlich das babylonische Reich erobert und den judäischen Deportierten die Heimkehr gestattet hatte, machte zweimal ein Teil von ihnen von dieser Erlaubnis Gebrauch. Aber in Palästina erstand kein Märchenreich. Vielmehr herrschten lange Jahre nahezu bürgerkriegsähnliche Zustände, erwachsen aus den Auseinandersetzungen zwischen den Rückkehrern einerseits und den im Lande verbliebenen Judäern und den inzwischen eingewanderten Fremden andererseits. Die Propheten Haggai und Sacharja allerdings erblickten die Ursache für die Not darin, daß man den Neubau des Tempels in Jerusalem vernachlässigt habe. Abhilfe war also möglich, wenn man den Tempel errichtete. Wie sich auf diese Weise die Gegenwart bewältigen ließ, so würde daraus für die Zukunft eine Neugestaltung der Welt folgen: Gott wird die ganze Welt erschüttern, und die Völker werden daraufhin ihre Schätze zur Ausstattung des Tempels nach Jerusalem bringen, ja Gott wird alle politische und militärische Macht auf Erden vernichten, so daß ewiger Friede herrschen und ein davidischer Messias in dem göttlichen Friedensreich herrschen wird. In der Folgezeit haben noch weitere Propheten. Erwartungen eschatologischer Art geäußert. Am eindrucksvollsten ist das Bild, das der nicht mit Namen genannte Prophet von Jes 60 im 5. Jh. v. Chr. zeichnet — zugleich wieder ein Versuch, die notvolle gegenwärtige Welt zu bewältigen, indem ihre Veränderung und künftige Neugestaltung geschildert wird. In 10 Strophen schildert Jes 60 nacheinander: 1. den Anbruch der Heilszeit für Jerusalem (v. 1—3), 2. das Kommen der Völker und der Diaspora (v. 4—5), 3. das Mitbringen des Reichtums der Welt — von Osten (v. 6—7), 4. das Mitbringen des Reichtums der Welt — von Westen (v. 8—9),

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5. die Lage Jerusalems (v. 10—11), 6. den Tempel (v. 13—14), 7. die Umwälzung der Endzeit (v. 15—16), 8. die Auswirkung auf Leben und Staatsordnung (v. 17—18), 9. die kosmische Auswirkung (v. 19—20), 10. die Auswirkung auf Israel (v. 21—22). Auch das apokalyptische Buch Daniel ist aus einer Not- und Konfliktsituation erwachsen, die bald darauf in den Makkabäerkriegen zu Kampf und Sieg des Frühjudentums führte. Das Danielbuch allerdings hat den Sieg durch ein übernatürliches göttliches Eingreifen erwartet. Dieses Eingreifen wird die Lage grundlegend ändern und ein politisches Reich schaffen, das in einem irdischen Staat verwirklicht und von den jüdischen „Heiligen" verwaltet werden soll. In ihm herrscht der göttliche Wille unbeschränkt und unangefochten, jede böse Macht wird vernichtet, so daß das Reich ewig dauern wird, weil es keinen Keim der Uneinigkeit und Spaltung in sich trägt. Dazu tritt die Ankündigung der Auferstehung — der einen zum ewigen Leben, der anderen zur ewigen Schmach. Dabei sind mit den Frommen, die aus der Unterwelt der Toten zum ewigen Leben aufstehen, diejenigen gemeint, die die apokalyptischen Ideen des Danielbuches anerkennen. War schon die eschatologische Prophetie auf bestimmte Kreise beschränkt und keineswegs allgemein anerkannt, so steht hinter dem Verfasser des Danielbuches eine konventikelartige Gemeinschaft, die sich als das wahre Israel verstand und die Auferstehung erwartete, um dann das Gottesreich zu verwalten. Die nachdanielischen Apokalypsen haben das schon bekannte Vorstellungsmaterial zu neuen Modellen zusammengestellt. Gewöhnlich handelt es sich in der von ihnen erwarteten Veränderung um zwei Phasen: a) das End- oder Weltgericht, nunmehr nicht nur über die Menschen, sondern ausgedehnt auf das Böse: die gefallenen Engel, die Dämonen und Satan oder Belial als die Verkörperung des Bösen; vorher oder nachher die Auferstehung — der Gerechten und der Frevler vor dem Endgericht zur Feststellung ihres ewigen Geschicks oder nur der Gerechten nach dem Endgericht zur Teilnahme am ewigen Heil; b) das neue goldene Zeitalter — entweder mit Jerusalem und seinem Tempel als Mittelpunkt und mit materiell-sinnlich geschildertem Segen (äthiop. Henochbuch: jeder Selige soll 1000 Kinder zeugen und mit grenzenlosem Reichtum gesegnet sein) oder mit einem irdischen, messianisch regierten Reich, das mit Hilfe nationaler Vorstellungen gezeichnet wird, oder mit einem zukünftigen Reich in einem neuen Himmel und auf einer neuen

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Erde oder mit der Schaffung eines neuen Himmels und dem Beginn einer ewigen sündelosen Freude. Überblicken wir kurz die utopischen Züge und Motive in Eschatologie und Apokalyptik, so ergibt sich Folgendes: a) Die Gegenwart gilt als das sich dem Ende zuneigende Zeitalter der Sünde und der dadurch hervorgerufenen Not, als durch die gegenwärtige Sünde gekennzeichnet oder als eine chaosartige, notvolle Situation der Finsternis und Todeskrankheit. b) Die Umwälzung der Zeitenwende, die für Eschatologie und Apokalyptik gewöhnlich nahe bevorsteht, wird oft mit einer begrenzten oder einer umfassenden Welterschütterung verbunden. Sie betrifft die gerade herrschende Weltmacht, alle Völker oder Natur und Völker. Sie kann auch durch einen endzeitlichen Völkersturm gegen Israel oder Jerusalem, der dann den Anlaß für das Endgericht über eben jene Völker bildet, eingeleitet werden. Daneben findet sich, allerdings seltener, das polare Motiv eines wundersamen Hereinbrechens der Heilszeit ohne kriegerische Ereignisse. c) Die eschatologische Wende kann sich in partikularistisch-nationaler Art verwirklichen. Nach dieser Art vollstreckt Jahwe bei der Welterschütterung das Gericht an der Weltmacht oder an den Völkern, vor allem, sofern sie Israel oder Jerusalem bedrohen. Nur als Gerichtete und durch das erlebte Geschehen Bekehrte erhält ihr Rest einen Anteil am Heil. Seltener findet sich der andere Gedanke einer echt universalen Verwirklichung des Heils zugunsten aller Menschen, so Zeph 3, 9—10: Jahwe wird den Völkern neue, reine Lippen geben, so daß sie ihn anrufen, ihm gemeinsam dienen und in aller Welt Gaben darbringen. Öfters werden beide Arten miteinander verbunden; dann wird das Heil in universaler Art der ganzen Welt zugesagt, kann jedoch nur am national-religiösen Mittelpunkt Israels, in Jerusalem, erlangt werden. d) Gewöhnlich sollen sich die künftigen Geschehnisse in dem gegebenen irdischen Rahmen, in der Völkerwelt, abspielen. Die Erde bleibt bestehen, sie entfaltet nur eine paradiesische Fruchtbarkeit und ist die Stätte eines Friedensreiches. Demgegenüber finden sich auch Anschauungen, nach denen der Kosmos in die Ereignisse einbezogen oder diese gar als ein kosmisches Geschehen vorgestellt werden. Das Endgericht kann kosmische Auswirkungen haben, die das Ende der bestehenden Welt herbeizuführen vermögen. In diesem Fall wird Jahwe einen neuen Himmel und eine neue Erde, d. h. einen neuen Kosmos, schaffen, der unvergänglich sein wird. e) Dem entspricht es, wenn die künftige Heilszeit in zweierlei Art charakterisiert wird. Einmal erwartet man die Wiederherstellung des „Früheren",

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sozusagen der „guten alten Zeit", genauer der sündlosen, paradiesischen Urzeit. Andere erwarten ein Neuwerden, eine Umwandlung des Alten, eine Welterneuerung — bis hin zu einer Neuschöpfung des Kosmos. f) Das Heilsgut der Zukunft wird als wirkliche Segensfülle und materielles Wohlergehen verstanden. Grundlegend ist der wunderbare Wiederaufbau Jerusalems als einer märchenhaften Stadt, die zum Mittelpunkt der Welt und des ewigen Gottesreiches wird und in die ein gewaltiger Reichtum für den Bedarf des Tempels und der Heilsgemeinde fließt. Dazu treten die paradiesische Fruchtbarkeit des Landes, das Wachstum Israels durch zahlreiche Nachkommen, die Behebung körperlicher Gebrechen, die Langlebigkeit der Menschen (ein Hundertjähriger wird noch als junger Mann gelten, sagt Jes 65, 20) bis zu der einmal erwähnten Vernichtung des Todes (Jes 25, 8), die Einbeziehung der toten Gerechten durch die Auferstehung und der ewige Friede in Menschen- und Tierwelt. Daneben steht das religiösgeistige Heilsgut: die Beseitigung der vorhandenen Schuld, die Sündlosigkeit und die Weihe Israels für Jahwe. Beide Aspekte, äußere Segensfülle und religiöses Heil, lassen sich freilich nur künstlich voneinander trennen; für das damalige Verständnis gehören sie zusammen. g) Die Teilhabe am Heil kommt zunächst der israelitischen Gesamtgemeinde des neuen Zeitalters zu. Gewöhnlich werden dann die anderen Völker (oder ihr Rest) als ein zweiter, weiterer Kreis zugelassen; sie schließen sich Israel an aufgrund ihrer Bekehrung, einer Aufforderung Jahwes oder als Folge der Mission unter ihnen (die in diesem Zusammenhang erstmalig genannt wird). h) Hinsichtlich der Ausübung der Herrschaft in der Heilszeit glaubte man teilweise, daß Jahwe selbst als König herrschen wird. Andere Kreise, die noch der abgesetzten davidischen Dynastie anhingen, nehmen an, daß an Stelle Jahwes ein von ihm eingesetzter eschatologischer König aus davidischem Geschlecht als sein Statthalter oder Stellvertreter regieren wird. Nur Sach 4 und teilweise die Gemeinde von Qumran verteilen die Messiaswürde auf einen weltlichen und einen geistlichen Repräsentanten. Doch läßt sich die Zukunft so bewältigen und so gestalten, wie Eschatologie und Apokalyptik es erwarten? Ist dies die Antwort des Glaubens auf die Forderung nach Veränderung einer notvollen und unerträglichen Welt? Liegen in solcher Endzeiterwartung Maßstäbe oder Modelle vor, die die gültige Antwort eines auf die Zukunft gerichteten Glaubens darstellen? Diese Fragen lassen sich schwerlich bejahen. Die eschatologische Prophetie knüpfte an die einlinige und unverbrüchliche Heilserwartung für Israel an, die vor dem Exil unter anderem von

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kultprophetischen Kreisen vertreten, von den großen Einzelpropheten aber längst in Frage gestellt worden war. Dennoch setzte die eschatologische Prophetie sie auf einer neuen Ebene fort. Diese Heilserwartung und -Verkündigung jedoch vereinfachte und vereinseitigte das Gottesbild durch die Vernachlässigung anderer Aspekte oder verfälschte es im national-religiösen Sinn durch die Zuweisung des Heils an Israel und des Unheils an die anderen Völker. Ferner erhoffte die eschatologische Prophetie gewöhnlich nicht eine wesenhafte Wandlung und neue Daseinshaltung des Menschen, die ihn zu echter Weltveränderung und Weltgestaltung befähigen würde, sondern erwartete ein neues Zeitalter und eine neue Gestalt der Umwelt. Gott verändert nach ihr nicht den Menschen und durch ihn die Welt, sondern die Welt und erst auf dem Umweg über sie oder im Zusammenhang mit ihr den Menschen. Es war eine Umkehrung, die Gott nur noch mittelbar auf dem Wege über die äußeren Lebensverhältnisse auf den Menschen einwirken und überwiegend nicht mehr unmittelbar in sein Leben und Wesen eingreifen sah. Dem entsprach es, daß der Mensch in der erhofften Heilszeit einer immer neuen Entscheidung für Gott entnommen und in einen Ruhestand des Genießens versetzt sein würde. Der Blick auf die Endzeit war des weiteren darin begründet, daß die eschatologische Prophetie auf die unmittelbare Bewältigung und Gestaltung ihrer Gegenwart weitgehend verzichtete und für die Behebung ihrer Nöte beschwichtigend auf die bevorstehenden Änderungen in der Zukunft verwies. Sie resignierte vor der Aufgabe einer Gestaltung des Hier und Jetzt und vermochte ihrer Zeit keine richtungweisenden Impulse zu geben. Ihr gelang die Verbindung von Gegenwart und Zukunft nicht. Da sie schließlich die Zeitenwende, von der sie die Veränderung der Welt erhoffte, als nahe bevorstehend betrachtete, war sie von Anfang an eine Prophetie der scheiternden Hoffnung und vergeblichen Erwartung. Denn bald ließ sich die Einsicht nicht umgehen, daß das verheißene Heil sich nicht verwirklichte. Die Enttäuschung über sein Ausbleiben und die neue Vertröstung auf die demnächstige Zukunft waren die Folgen. 3. Wie verhält es sich gegenüber dem gesetzlichen und dem eschatologischutopischen Modell nun mit dem genuin prophetischen Modell des Glaubens, wie es sich den vorexilischen großen Einzelpropheten entnehmen läßt? Die prophetische Verkündigung fällt sogleich dadurch auf, daß sie weder gesetzliche Anordnungen erlassen hat, die vielleicht Veränderungen in der Zukunft hätten bewirken können, noch der schlimmen Gegenwart bloß

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Die Zukunft des Menschen

eine bessere Zukunft gegenübergestellt hat, sondern daß sie mit einer scharfen politischen, sozialen und kultischen Kritik an der Gegenwart einsetzt, die in Israel nicht ihresgleichen gehabt hat. Diese Kritik ereignete sich in wirtschaftlich-sozialer Hinsicht angesichts des Übergangs von der Natural- zur Geldwirtschaft während der Königszeit — eines Übergangs, der zu einer tiefreichenden gesellschaftlichen Umschichtung geführt hat. In dieser Lage wendeten sich die Propheten gegen diejenigen, die der Besitzgier und dem Machthunger die Zügel schießen ließen. So verurteilte Amos den Kornwucher der Kaufleute (Am 8,4—7). Jesaja und Micha wandten sich gegen das „Bauernlegen" durch die Mächtigen im Lande (Jes 5, 8; Mi 2, 1—2). Es sind die führenden Schichten, die das eigene Volk schlimmer als eine fremde Soldateska ausplündern. Daher läßt Jesaja Jahwe die Anklage gegen sie erheben (Jes 3, 14b—15). In noch krasseren Worten spricht Micha von den Führern Israels: Sie fressen das Fleisch meines Volkes und ziehen ihm das Fell über die Ohren, zerstückeln es wie Fleisch im Topf, wie Fleisch im Kessel.

(Mi 3, 3)

In alledem sind die Propheten für das Recht der wirtschaftlich Schwachen eingetreten und haben auf den besonderen Schutz hingewiesen, dessen die Witwen, Waisen und Fremden bedürfen. Sie haben die Lebensrechte derjenigen verteidigt, die bei einer Wandlung der gesellschaftlichen Struktur benachteiligt zu werden pflegen. Damit haben sie nicht die neue Wirtschaftsentwicklung als ganze abgelehnt, wohl aber den unerhörten Bruch des Rechts angeprangert, unter dem sie sich vollzog. Der Übergang zur Geldwirtschaft rechtfertigte für sie nicht, daß man die Bauern durch Kornwucher und hohe Zinsen zu Schuldnern machte, ihnen dann das Land zu niedrigem Preise nahm und es sie als Pächter und Hörige bearbeiten ließ. Zweckmäßigkeit und Erfolg in wirtschaftlichen Fragen, auf denen sich letztlich die gesellschaftliche Ordnung aufbaut, erlaubten für das prophetische Urteil keineswegs die Entrechtung und Enteignung breiter Volksschichten. Über allen Wünschen und Notwendigkeiten des wirtschaftlichen Lebens und der damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Struktur stehen die grundlegenden Rechte des Menschen. Seine Existenz gilt mehr als Sachwerte, ihre Gefährdung bedroht den Bestand der Gesellschaft. Doch dies alles gliedert sich in einen umfassenderen Zusammenhang ein, für dessen Verständnis zwei grundlegende Sätze zu beachten sind:

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Anwendungen

a) Die Propheten wollten nicht eine ferne Zukunft voraussagen und nicht auf eine Endzeit vertrösten, sondern ihre Gegenwart bestimmen und das Hier und Jetzt formen, weil dadurch die nahe Zukunft bestimmt wird. — b) Das Thema der prophetischen Botschaft war die Ankündigung, daß der schuldige und eigentlich dem Tode verfallene Mensch durch einen neuen Glauben gerettet werden kann. Im Gegensatz zur traditionellen Frömmigkeit und Theologie, die sich des Heils sicher fühlten, erkannten die Propheten die ungeheuere Schuld des Menschen gegen Gott und erblickten Israel und den Menschen überhaupt in einer grundsätzlichen Unheilssituation. Aus ihr folgt das gewaltige Strafgericht, das sie für die nahe Zukunft erwarteten und das sie in immer neuen Bildern ankündigten. Zugleich waren sie dessen gewiß, daß das Gericht nicht das ist, was Gott eigentlich will. Ezechiel hat dies in der Form eines Jahwewortes ausgedrückt: Habe ich denn Gefallen am Tode des Frevlers, nicht daran, daß er von seinem Wandel umkehrt und leben bleibt? (Ez 18, 23) Daher kann das Gericht nicht unvermeidlich sein, sowenig die falsche Daseinshaltung unüberwindlich ist. Deswegen schauten die Propheten auch die Möglichkeit eines neuen Heils in der nahen Zukunft: die Möglichkeit des Menschen, der den Willen Gottes aufgrund eines neuen und radikalen Glaubens vollkommen erfüllt, so daß Gott tatsächlich in der Welt herrscht. Die erste Art, wie es dazu kommen kann, ist die Umkehr, zu der alle großen Propheten aufgerufen haben. Daneben läuft eine zweite Linie, deren Stichwort nicht Umkehr, sondern Erlösung lautet. Alles wird zunächst von der erlösenden Tat Gottes erwartet, auf die das Handeln des Menschen zu folgen hätte. Von da aus wird der innere Zusammenhang der prophetischen Botschaft und des von ihr dargelegten Modells deutlich. Sie geht a) von der notwendigen Wandlung Israels bzw. des Menschen durch Umkehr oder Erlösung entgegen aller Erwartung oder Hoffnung aufgrund eines neuen, radikalen Glaubens aus. Die Wandlung bewirkt für die nahe Zukunft b) die Verwirklichung der Herrschaft Gottes im Leben der Umgekehrten oder Erlösten. Sie führt c) zur Herstellung einer wirklichen Gottesgemeinschaft in einem neuen Dasein. Sie gestaltet d) das ganze Leben Israels bzw. des Menschen um, der nunmehr den göttlichen Willen erfüllt und seine Welt dadurch bewältigt und gestaltet. Es kommt e) zu einer neuen Gemeinschaft der Glaubenden, die das wahre Gottesvolk ist. Die Aufgabe

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des einzelnen und der Gemeinschaft der Glaubenden ist es, die Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft auf dieser Erde durch ihr Leben zu verwirklichen und dadurch die Welt zu verändern. Es wäre falsch, wenn man dies als ein Modell des Rückzugs in ein abgeschiedenes Leben stiller Einfalt und inniger Gottseligkeit verstünde. Das prophetische Modell der Weltgestaltung ist vielmehr durch eine leidenschaftliche Hinwendung zur Welt gekennzeichnet — zu einer Welt, die nicht heil ist, sondern die der radikalen Kritik und der radikalen Veränderung im Sinne der Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft bedarf. Doch es geht primär nicht um eine Veränderung der Welt, sondern um eine Veränderung des Menschen, der dann die Welt verändern kann. Und diese Veränderung vollzieht sich nicht durch äußere Maßnahmen oder Aktionen, sondern durch einen neuen Aufbruch des Glaubens. Diese Veränderung soll sich nicht durch revolutionäre Aktionen ereignen — der von Elisa zeitweilig unterstützte Putsch Jehus gegen die Dynastie Omri wird später von Hosea eindeutig verurteilt! —, sondern durch ein gottbezogenes Denken und glaubendes Handeln. Fragt man also danach, wie man sich konkret verhalten soll, damit man Zukunft hat, so lautet die prophetische Antwort: mündiger Gehorsam des Menschen in Ausführung des göttlichen Willens, Lebensgestaltung gemäß diesem Willen je nach der Situation, Aushalten der Spannungen in einer nicht-heilen Welt, bis sie durch die Verwirklichung der Gottesherrschaft und -gemeinschaft geheilt wird. Wie dieser mündige Gehorsam gemeint ist, läßt sich aus Jes 1,16b—17 erschließen: Hört auf, Böses zu tun, lernt, Gutes zu tun! Trachtet nach Recht, leitet den Unterdrückten, schafft der Waise Recht, führt den Rechtsstreit der Witwe!

Recht für Witwen, Waisen und Unterdrückte zu schaffen, findet sich als Pflicht des Königs schon im Epilog des babylonischen Kodex Hammurabi und in den kanaanäischen Texten von Ugarit. Das Neue bei Jesaja liegt zunächst in der Interpretation der altorientalischen sozialen Tradition. Sie ist nicht mehr auf den König, sondern auf jeden einzelnen Israeliten und sogar auf jeden Menschen bezogen. Und sie ist in den Mittelpunkt der prophetischen Forderung gestellt, um die liebende Grundhaltung des Menschen als gottgewollt zu beschreiben.

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Anwendungen

Die Besonderheit der prophetischen Verkündigung kann ebenso in dem Verhältnis der Mahnung Jesajas zur israelitischen Tradition erfaßt werden, die ebenfalls Recht und Gerechtigkeit für die Schwachen forderte. Dafür ist zu beachten, daß die erste und grundlegende Forderung Jesajas lautet: Tut Gutes und nicht Böses! Die Einzelmahnungen, die darauf folgen, dienen dazu, die Grundforderung zu erläutern. Sie bilden nichts anderes als die beispielhafte und praktische Anwendung eines umfassenden Grundsatzes, der in noch anderen Situationen wieder anders anzuwenden wäre. Die Einzelanordnungen sind zu bloßen Beispielen geworden. An Stelle zahlreicher Gebote und Verbote und als ihre bisher unausgesprochene Grundlage erscheint in der prophetischen Interpretation der göttliche Wille in einer konzentrierten Grundform: Gutes tun. Die rechte Anwendung in der jeweiligen Situation ist Angelegenheit des mündigen Gehorsams des glaubenden Menschen. Ähnlich faßt Amos die Grundforderung: „Sucht das Gute und nicht das Böse!" — „Haßt das Böse und liebt das Gute!" Oder ein anderer Prophet: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, Und was fordert Jahwe von dir? Nichts als Recht tun, Verbundenheit lieben und demütig wandeln vor deinem Gott!

(Mi 6, 8).

Die Grundlagen des rechten Handelns sind Gerechtigkeit und Liebe, die für das gesamte Leben als grundlegend betrachtet werden. Die örtliche Rechtsgemeinde in Israel hatte eine Ordnung des menschlichen Zusammenlebens versucht. Als sie an dem Übergang zur Geldwirtschaft zerbrochen war, haben die Propheten das Ganze des Lebens durch das Mit- und Ineinander von Gerechtigkeit und Liebe erneut unter den göttlichen Willen stellen wollen. Darin liegt ihre Antwort auf die Wandlung der gesellschaftlichen Struktur ihrer Zeit; sie wollten eine Veränderung in der Zukunft nicht durch Umsturz, Gewalt, Revolution oder Anarchie, sondern durch einen umfassenden religiösen Aufbruch. Das gültige Modell des Alten Testaments für einen auf die Zukunft des Menschen und auf Veränderung gerichteten Glauben dürfte danach dasjenige der vorexilischen großen Einzelpropheten sein. Es geht von der notwendigen Wandlung Israels bzw. des Menschen durch Umkehr oder Erlösung aus — einer Voraussetzung, die die gesetzlichen, utopischen oder revolutionären Programme gewöhnlich übersehen — und führt zur Umgestaltung des ganzen Lebens Israels bzw. des Menschen, der den göttlichen

Die Zukunft des Menschen

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Willen erfüllen und seine Welt dadurch bewältigen und gestalten kann. Dies schließt ein, daß der Mensch sich weder auf ein Dereinst oder Jenseits ausrichtet noch sich in stille Innerlichkeit zurückzieht, sondern sich zu seiner Welt hinwendet, um sie durch seinen mündigen Gehorsam gegenüber dem göttlichen Grundwillen zu verändern.

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Theologische Grundstrukturen

SCHLUSS Die herkömmlichen christlichen Interpretationsweisen des Alten Testaments haben sich bei der einleitenden Übersicht und Kritik als unzulänglich erwiesen. Sie zeigen lediglich, daß das Nebeneinander von Altem und Neuem Testament für die christliche Theologie und Kirche häufig ein Problem dargestellt hat. Dabei ist die von Marcion bis A. Harnack manchmal vertretene Lösung, das Alte Testament schlicht und einfach als Teil der Bibel abzulehnen, aus vielerlei Gründen ausgeschlossen. Doch ebensowenig läßt sich die Auffassung annehmen, die das Alte Testament als Weissagung oder Verheißung und das Neue Testament als Erfüllung oder Verwirklichung betrachtet; denn sie entleert und entwertet das Alte Testament. Läßt sich das Verhältnis beider zueinander besser verstehen, wenn man von Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft als Mittelpunkt des alttestamentlichen Glaubens ausgeht und wenn man auf dieser Grundlage die Strukturelemente dieses Glaubens erfaßt? 1. Die prophetische Daseinshaltung, die die entscheidende Linie des alttestamentlichen Glaubens bildet, setzt sich im Neuen Testament fort und durchzieht es — von Johannes dem Täufer über die prophetische Art des Auftretens und der Verkündigung Jesu bis zu den Propheten der urchristlichen Gemeinde. Diese Gemeinde verwendet wie Israel altes Gut in neuer Weise, interpretiert die Traditionen, die sie übernimmt, in anderer Weise, wirkt auf die gesellschaftliche Struktur ein und wird wiederum von ihr beeinflußt. Der neutestamentliche Glaube ist wie der alttestamentliche durch seine personale Struktur, durch die Gewißheit vom Handeln Gottes an Völkern und Menschen sowie in der Natur und durch die Natur, durch die Vorstellung von der Korrelation zwischen Gott und Mensch und durch die enge Verknüpfung zwischen Glaube und Handeln bestimmt. Nur die Diesseitigkeit des Glaubens wird durch die Aufnahme des über das Alte Testament hinausführenden frühjüdischen Auferstehungsglaubens ersetzt, ohne allerdings die Gegenwärtigkeit des Glaubens als den tieferen Sinn der Diesseitigkeit zu beeinträchtigen. Trotz der Einschränkung läßt sich sagen, daß die wesentlichen Strukturelemente des Glaubens im Alten und Neuen Testament gleich sind. 2. Über das Alte Testament hinaus bilden Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft das gemeinsame Thema des Alten und Neuen Testaments

Schluß

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und die gesamtbiblische Botschaft. Jesus Christus ruft zur Umkehr auf, weil das „Himmelreich", d. h. die Gottesherrschaft, im Anbruch ist. Man hat mit Recht gesagt, daß es sich bei der Gottesherrschaft um das Ganze der Verkündigung Jesu Christi und der Apostel handle und daß die neutestamentliche Gesamtverkündigung des Evangeliums die Verkündigung von der Gottesherrschaft sei1. Damit verbindet sich der Gedanke der Christusherrschaft. Das Neue Testament spricht ebenso von dem anderen Pol: der Gemeinschaft mit Gott, mit Christus und der Gemeinschaft der Glaubenden untereinander. Von da aus gesehen, stehen Altes und Neues Testament zueinander nicht im Verhältnis von Verheißung und Erfüllung oder von Scheitern und Verwirklichung, sondern von Beginn und Fortsetzung. Jesus führt die alttestamentliche Botschaft weiter und aktualisiert sie in seiner Zeit. Das geschieht in eschatologisch-apokalyptischer Art, die angesichts des unmittelbaren Bevorstehens der Gottesherrschaft in einer neuen Weltzeit den Menschen in letzter Stunde zur Entscheidung ruft — in dem Wissen darum, daß das Verhältnis des Menschen zu Gott über sein Dasein entscheidet und daß in jedem Augenblick die Frist ablaufen kann, in der eine solche entscheidende Stellungnahme als Umkehr zu Gott möglich ist. Anders gesagt, hat Jesus das Bewußtsein, am Ende der bisherigen Weltzeit zu stehen und das Hereinbrechen einer neuen zu erleben, weil für den prophetischen Geist die Welt in Nichts versinkt, sobald er die Unbedingtheit des göttlichen Willens erfährt, und weil Jesus um diesen unbedingten Willen Gottes an den Menschen wieder neu weiß und ihn neu verkündigt. Er wendet sich ferner in Aufnahme der prophetischen Kritik gegen die jüdische Gesetzlichkeit seiner Zeit, bestreitet jeden Anspruch des Menschen an Gott, vor dem er nur wie ein Sklave ist, der seine Schuldigkeit tut, und faßt Gottes Willen an den Menschen in der allumfassenden und unbegrenzten Liebesforderung zusammen. Er verkündet die Gottesherrschaft als Herrschaft der Liebe und die Gottesgemeinschaft aufgrund der göttlichen Liebe. Ist dies alles zunächst eine neue Anwendung des alttestamentlichprophetischen Glaubens, so begegnet außerdem ein neues Element, weil die Person Jesu darin einbezogen wird. Er selbst, sein Auftreten und Wirken, seine Verkündigung sind die Zeichen der Endzeit. Er in seiner Person bedeutet die Forderung der Entscheidung, weil sein Ruf das letzte Wort Gottes vor dem Ende ist. An der Entscheidung gegenüber seiner 1

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K. L. Schmidt in: ThWNT I, S. 584.

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Schluß

Person fällt auch die Entscheidung gegenüber der Botschaft. Er ist geradezu die Verkörperung der erneuerten und weitergeführten alttestamentlichen Botschaft, die nunmehr nicht nur theologisch neu geprägt, sondern auch persönlich gebunden ist. Die Urgemeinde hat dieses Gekommensein Jesu selbst als die entscheidende Gottestat geglaubt und sich zu Jesus Christus bekannt. Indem sie sein Gekommensein als die entscheidende Tat glaubt, glaubt sie zugleich an die von ihm verkündigte Botschaft und bekennt sich zu der Gültigkeit der von ihm aufgenommenen und weitergeführten alttestamentlich-prophetischen Botschaft. Ihr Glaube, daß der prophetische Richter und Retter der gekreuzigte und auferstandene Jesus von Nazaret sei, besagt in diesem Zusammenhang nichts anderes, als daß für das Verhältnis des Menschen zu Gott bestimmend ist, ob er die Worte und Forderungen Jesu als Worte und Forderungen Gottes selbst versteht, ob er also die von Jesus verkündigte und verkörperte Auffassung als für sich maßgebend anerkennt. Außerdem bedeutet der Glaube der Urgemeinde ein weiteres neues Element. Die Propheten und Jesus geben ein Ziel an, wenn sie von einem besonderen Dasein des Menschen vor Gott und in der Welt sprechen, einem Dasein, das durch die Umkehr zu Gott zu erlangen oder durch die von ihm geschenkte Erlösung zu erhalten sei. Sie geben ein Ziel an, das sie ohne weiteres für erreichbar hielten. Demgegenüber will der Glaube der Urgemeinde an Jesus Christus als den eschatologischen Richter und Retter den Weg zu diesem Ziel weisen. Der Weg zum Ziel führt nach dieser Auffassung über Jesus Christus als den Mittler, so daß dadurch die alte Botschaft noch einmal erweitert worden ist. Doch dies alles steht vor dem Hintergrund und in dem großen Zusammenhang des gesamtbiblischen Themas Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft, auf das alles hinzielt.

w DE

G

Walter de Gruyter Berlin-Newark

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von Kurt Aland, Georg Kuhn, Carl Heinz Ratschow und Edmund Schlink Oktav. Ganzleinen Helmut Bintz

Das Skandalon als Grundlagenproblem der Dogmatik Eine Auseinandersetzung mit Karl Barth VIII, 163 Seiten. 1969. D M 32,— ISBN 3 1 1 (Band 17)

Reiner Preul

002644

9

Reflexion und Gefühl Die Theologie Fichtes in seiner vorkantischen Zeit VIII, 164 Seiten. 1969. D M 36,— ISBN 3 1 1 002645 7 (Band 18)

Klaus Krüger

Der Gottesbegriff der spekulativen Theologie VIII, 185 Seiten. (Band 19)

Ulrich Browarzik

1970.

D M 38,— ISBN

1 1 006355

3

7

Glauben und Denken Dogmatische Forschung zwischen der Transzendentaltheologie Karl Rahners und der Offenbarungstheologie Karl Barths Mit einem Geleitwort von Karl Rahner XII, 282 Seiten. 1970. D M 38,— ISBN 3 I i 006354 9 (Band 20)

Bernhard Klaus

Massenmedien in Dienst der Kirche Theologie und Praxis VIII, 215 Seiten. 1969. Kartoniert D M 9,80 ISBN 3 h 002646 5 (Band 21)

Friedrich Heyer

Die Kirche Äthiopiens Eine Bestandsaufnahme XVIII, 360 Seiten. 1971. D M (Band 22)

58,—

ISBN

3

11

001850

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