Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung: Von der Idee zum erfolgreichen Produkt [1. Aufl.] 9783662617618, 9783662617625

Das vorliegende Buch widmet sich den Modellen und Methoden der Produktentwicklung, mit dem Ziel, ein marktgerechtes Prod

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German Pages XII, 452 [464] Year 2020

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Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung: Von der Idee zum erfolgreichen Produkt [1. Aufl.]
 9783662617618, 9783662617625

Table of contents :
Front Matter ....Pages i-xii
Produktentwicklung in der Praxis (Eckhard Kirchner)....Pages 1-22
Produkte planen (Eckhard Kirchner)....Pages 23-34
Produkte definieren (Eckhard Kirchner)....Pages 35-72
Projekte definieren und managen (Eckhard Kirchner)....Pages 73-100
Neue Produkte entwickeln (Eckhard Kirchner)....Pages 101-188
Produktqualität sicherstellen (Eckhard Kirchner)....Pages 189-232
Sichere Produkte entwickeln (Eckhard Kirchner)....Pages 233-268
Produktkosten verstehen und beeinflussen (Eckhard Kirchner)....Pages 269-320
Produktvarianten (Eckhard Kirchner)....Pages 321-366
Prototypen entwickeln und einsetzen (Eckhard Kirchner)....Pages 367-404
Global entwickeln und produzieren (Eckhard Kirchner)....Pages 405-424
Back Matter ....Pages 425-452

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Eckhard Kirchner

Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung Von der Idee zum erfolgreichen Produkt

Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung

Eckhard Kirchner

Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung Von der Idee zum erfolgreichen Produkt

Eckhard Kirchner Fachbereich Maschinenbau Technische Universität Darmstadt Darmstadt, Deutschland

ISBN 978-3-662-61761-8 ISBN 978-3-662-61762-5  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-61762-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Vieweg ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Geleitwort

Studierende und Praktiker mit einem Buch in die Welt der Entwicklungsarbeit einführen und sie gar noch zu professioneller Entwicklungsarbeit befähigen zu wollen ist ein eigentlich unmögliches Unterfangen. Zu unterschiedlich sind die individuellen Voraussetzungen und Kompetenzen der Akteure, zu vielfältig die Aufgaben und Randbedingungen, zu heterogen die Produkte, Systeme und Branchen. Eine am Beispiel ausgerichtete Vermittlung von Sachverhalten, wie sie in den frühen Stadien der Entwicklungsmethodik praktiziert wurde, verbietet sich im Zeitalter einer globalisierten Welt mit ihren mechatronischen, adaptronischen und Cyber Physischen Systemen von vorne herein. Eine rein auf Vermittlung von Methoden basierte Entwicklungslehre kommt schnell an ihre Grenzen, wenn immer wieder neue Methodiken wie Scrum, Model-Based-Design oder Hardwarein-the-Loop im Markt der Entwicklungsmethoden propagiert werden und ihn bis zum Aufkommen der nächsten Methodikgeneration dominieren. Was tun, um die Vielfalt potentieller Leser angemessen anzusprechen? Das vorliegende Buch entstand auf der Grundlage eines Manuskripts für die Vorlesungen und Übungen in den Veranstaltungen “Produktinnovation” und “Angewandte Produktentwicklung” an der TU Darmstadt. In langjähriger und intensiver Zusammenarbeit mit meinem akademischen Oberrat Herrn Dr.-Ing. Hermann Kloberdanz entstand ein Manuskript, dem ein dreigliedriges Leitbild einer modernen Entwicklungslehre zugrunde liegt. Durchgehend werden bei der Darstellung von Systemen, Prozessen und Methoden die Grundlagen präsentiert und erörtert. Dabei spielen die jeweiligen Modelvorstellungen, die diesen Sachverhalten zugrunde liegen eine entscheidende Rolle. Nur wenn man sich ein prägnantes Bild von den Elementen, die einen Sachverhalt ausmachen und von den Beziehungen zwischen diesen Elementen macht, kann man den Sachverhalt verstehen, ihn an spezifische Randbedingungen anpassen und Ähnlichkeiten zu anderen Sachverhalten erkennen. Es ist meine Hoffnung nach vielen einschlägigen Arbeiten, dass sich unser so ungeheuer komplex erscheinendes Universum der Produkt- und Systementwicklung in den grundlegenden Modellen auf vergleichsweise wenige, in sich schlüssige und miteinander kompatible Basismodelle reduzieren lässt. Wenn diese Fiktion Realität würde, würde eine Entwicklungslehre nicht mehr aktuellen System- und Methodentrends nur folgen sondern sie als nachvollziehbare, einordenbare und damit auch beherrschbare Varianten und Ergänzungen von Grundsätzlichem begreifen. v

vi

Breiten Raum im vorliegenden Buch nehmen natürlich die Darlegungen von Entwicklungsmethoden ein. Hinter der Auswahl der hier behandelten Methoden stecken die Vorstellungen, wie sie in der Richtlinie VDI 2221 und in den Lehrbüchern “Konstruktionslehre” von Pahl-Beitz und den folgenden Herausgebern publiziert wurden und werden. Angereichert mit aktuellen Methoden und Vorgehensweisen sollte hiermit sowohl ein methodisches Rüstzeug für den Anfänger geschaffen werden, sich in eine konkrete Entwicklungsarbeit einzufinden ebenso wie Anregungen für den Praktiker, eigene Herangehensweisen an konstruktive Probleme zu reflektieren, zu verändern und zu professionalisieren. Eine derartige Methodenpräsentation kann unmöglich vollständig sein. Leitbild bei der hier vorgenommenen Auswahl war, ob sich eine derartige Methode in einen nachvollziehbaren Entwicklungsablauf sinnvoll eingliedert und ob sie für die Entwicklungsarbeit einen substantiellen Mehrwert liefert. Entwickler und Konstrukteure sind natürlich auch und vor allem Ingenieure. Ihr “Ingenium” ist auf Produkte, Systeme, Prozesse gerichtet und ihre Motivation auf deren Optimierung durch Technik. Den Mangel, das Defizit, den Fehler durch eine neue, vielleicht sogar fulminante Lösung zu beheben ist gleichsam der Urtrieb beim konstruktiven Arbeiten. Insofern haben reale, einprägsame Beispiele von neuen und optimierten Produkten, Systemen und Prozessen in einem derartigen Werk nicht nur eine schmückende und illustrierende Funktion, sondern treffen den Nerv des konstruktiv, nach Verbesserung suchenden Lesers. Gute Beispiele steigern damit in hohem Maße seine Motivation, sich mit den Ausführungen weiter zu befassen, die zu dieser Innovation geführt haben. Im vorliegenden Buch sind die Grundlagen einer Entwicklungsmethodik weitgehend aus den ursprünglichen von Dr. Kloberdanz und mir verfassten Vorlesungsmanuskripten übernommen. Herr Prof. Kirchner hat den bisherigen Bestand durch die neuen Kapitel 10 und 11 ergänzt und andere (insbesondere Kapitel 1, 4, 6 und 7) mit aktuellen und außerordentlich wichtigen methodischen Ergänzungen angereichert. Ein besonderes Verdienst von ihm sind die vielen anschaulichen und einprägsamen Praxisbeispiele aus seiner eigenen Erfahrung als Entwicklungsingenieur und Projektverantwortlicher. Diese Aufbauarbeit von Herrn Prof. Kirchner auf dem ursprünglichen Manuskript war wesentlich weil unumgänglich. Nach mehr als neun Jahren nach der Pensionierung und weitgehend abgeschnitten vom industriellen Entwicklungsgeschehen kann ich nicht mehr den Anspruch haben, eine aktuelle Entwicklungslehre publizieren zu können. Dass Herr Prof. Kirchner, immer noch engagiert unterstützt durch Herrn Dr. Kloberdanz, diese Arbeit fortgeführt, angereichert und belebt hat, freut mich ungemein. Ich hoffe und wünsche es dem Buch, dass auch die Leser meine so positive Einschätzung teilen.

Im Januar 2020

Prof. Dr. h.c. Dr. h.c. Dr.-Ing. Herbert Birkhofer

Vorwort

Das vorliegende Manuskript und der entsprechende Foliensatz zur Vorlesung Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung an der Technischen Universität Darmstadt entstand auf der Grundlage der Vorgängerveranstaltung Angewandte Produktentwicklung, die Herr Prof. Dr.-Ing. Dr.h.c. Dr.h.c. Herbert Birkhofer erarbeitet hat und die von Herrn Dr.-Ing. Hermann Kloberdanz während seiner Zeit als operativer Leiter des Fachgebiets weiterentwickelt wurde. Ich möchte mich bei beiden Herren ganz herzlich für die Erlaubnis zur Nutzung aller Unterlagen und für die Diskussionen bedenken, die zu diesem Buch zur gleichnamigen Lehrveranstaltung geführt haben. Das Grundgerüst der Lehrveranstaltung und dieses Buchs, viele beschriebene Methoden und das stringente Begriffsverständnis gehen auf die Gedanken von Herrn Prof. Birkhofer zurück. Es wäre daher angemessen, seinen Namen mit auf dieses Buch zu schreiben, um die Verbundenheit zu verdeutlichen. Dass nur ein Name auf dem Buch steht, ist der Wunsch von Herrn Kollegen Birkhofer, der mir seine Gründe ausführlich dargelegt hat und die ich respektiere. Wer Herbert Birkhofer persönlich kennt, wird seine Gedanken wiedererkennen! Mein vorrangiges Ziel bei der Neubearbeitung der Vorlesung war das Einarbeiten meiner eigenen Erfahrungen aus der industriellen Tätigkeit in der Produktentwicklung für eine enge Verknüpfung von Theorie und Praxis. Meinem Werdegang in der Automobilindustrie entsprechend habe ich zunächst viele Beispiele aus meiner Industriezeit eingearbeitet. Aber dann ist mir bei der Erarbeitung insbesondere des vierten Kapitels klar geworden, wie eng der Praxisbezug der Lehrveranstaltung trotz des hohen theoretischen Anspruchs in der Tradition meiner Vorgänger Gerhard Pahl und Herbert Birkhofer ist. Bei der Überarbeitung der einzelnen Kapitel haben mich die derzeitigen und einige ehemalige Mitarbeiter des Fachgebiets Produktentwicklung und Maschinenelemente der Technischen Universität Darmstadt tatkräftig unterstützt. Herr M.Sc. Kay-Eric Steffan hatte die Verantwortung für die Überarbeitung des siebten Kapitels, in dem die Fragen zur Entwicklung sicherer Produkte behandelt werden und hat mich in den Lehrveranstaltungen tatkräftig unterstützt und viele kleine Verbesserungen eingebracht. Ferner hat sich Herr Steffan in exzellenter Art und Weise um zitierfähiges Bildmaterial gekümmert, unterstützt in der Endphase durch Herrn Kris Rudolph, M.Sc. Herr Fabian Drüke, der als Tutor Übungsgrup-

vii

viii

pen im Bereich der Produktentwicklung betreut, hat das ganze Manuskript aus der Perspektive der Studierenden kritisch gelesen und mich so im Endspurt der Fertigstellung des Manuskripts mit seinen Anmerkungen tatkräftig unterstützt. Herr Dr.-Ing. Jan Würtenberger hat das bisherige Kapitel zur Beherrschung der Variantenflut in eine vollständig neue Form gebracht und so das neunte Kapitel erarbeitet. Herr Stefan Schork, M.Sc., hat erste Ergebnisse aus seiner wissenschaftlichen Arbeit im zehnten Kapitel zusammengestellt und hat mit seinem Verständnis der Entwicklung von und mit Prototypen dieses Thema wesentlich geprägt; er ist der eigentliche Autor des zehnten Kapitels. Das letzte, elfte Kapitel schließlich soll mehr sein als eine Sammlung meiner Erinnerungen an die Tätigkeit in der globalisierten Arbeitswelt. Es soll die Studierenden sensibilisieren für die Herausforderungen, denen Ingenieurinnen und Ingenieure in der Praxis des globalen Arbeitens täglich begegnen und neugierig auf den Beruf machen. Für die universitäre Lehre ist jedem Kapitel eine Übersicht wichtiger Begriffe und ausgewählter Lernziele vorangestellt, die auch dem Praktiker bei der Orientierung helfen können. Eine Priorisierung der Themen kann aber aus diesen Übersichten nicht abgeleitet werden. Mitten in der Schreibarbeit zu diesem Buch erschien die neue VDI-Richtlinie 2221, [216], während das Konzept der Lehrveranstaltung und das Manuskript auf der alten Richtlinie aufbauen, [219]. Da mir das Erklärungsmodell der alten Richtlinie trotz aller Kritik der Praxis für die grundständige Lehre als besser geeignet erscheint, bin ich bei den Darstellungen aufbauend auf der alten Ausgabe geblieben und blicke den aus dieser Entscheidung folgenden Diskussionen mit Spannung entgegen. Die Eindrücke aus der Corona-Krise des Jahres 2020 kamen zu spät, um diese aus Sicht des Produktentwicklers sinnvoll werten zu können. Im Sinne der Lesbarkeit wird meist auf die Verwendung beider Geschlechter wie z. B. Produktentwicklerinnen und Produktentwickler verzichtet, da i.d.R. die Rolle der Menschen in ihrer Organisation gemeint ist und nicht ein Individuum. Es wird daher meist nur die männliche Form verwendet, die weibliche ist implizit mit eingeschlossen. Weiterhin wird im Folgenden für eine einfachere Lesbarkeit auf Referenzen nur mit eckigen Klammern verwiesen, z. B. [32]. Auf Gleichungen hingegen wird immer nur mit der Nummer der Gleichung in runden Klammern verwiesen, z. B. (8.1). Ich hoffe, dass dieses Buch das Verständnis der Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung fördert und für die Studierenden eine wertvolle Ergänzung zum Besuch der Vorlesung ist. Gleichermaßen können hoffentlich auch die Ingenieurinnen und Ingenieure in der Praxis Anregungen für Organisation und Durchführung ihrer Entwicklungstätigkeiten in diesem Buch finden. Sollten Sie gleich welche Verbesserungspotentiale entdecken, sprechen Sie mich bitte an.

Darmstadt, im April 2020

Eckhard Kirchner

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

xi

1

Produktentwicklung in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Umfeld der Produktentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.2 Produktentwicklung im Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.3 Aufgaben der Produktentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.4 Strukturiertes Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1.5 Voraussetzungen einer erfolgreichen Produktentwicklung . . . . . . . 15 1.6 Werkzeuge der Produktentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

2

Produkte planen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.1 Notwendigkeit neuer Produkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.2 Identifikation neuer Produkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

3

Produkte definieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Motivation der Projektdefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Klären der Aufgabenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Erarbeiten der Anforderungsliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 36 38 53

4

Projekte definieren und managen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Motivation von Projektplanung und -management . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Planung der Produktentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Den Entwicklungsprozess managen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Weiterentwicklung des Produktentwicklungsprozess . . . . . . . . . . . .

73 73 76 83 99

5

Neue Produkte entwickeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 5.1 Motivation und Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 5.2 Grundlagen und Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 5.3 Fokussierung der Entwicklung neuer Produkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 5.4 Der Konzeptprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 5.5 Der Entwurfsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

ix

x

Inhaltsverzeichnis

6

Produktqualität sicherstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 6.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 6.2 Methoden zur Fehlererkennung und -behebung . . . . . . . . . . . . . . . . 198 6.3 Qualitätskontrolle in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 6.4 Rechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

7

Sichere Produkte entwickeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 7.1 Motivation und Grundbegriffe der Sicherheitstechnik . . . . . . . . . . . 234 7.2 Prinzipien der Sicherheitstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 7.3 Funktionale Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 7.4 Kritische Betrachtung der Sicherheit in der Produktentwicklung . 268

8

Produktkosten verstehen und beeinflussen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 8.1 Grundbegriffe des Produktkostenmanagements . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 8.2 Differenzierende Zuschlagskalkulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 8.3 Zusammenhang von Kosten und Preisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 8.4 Ansätze zur Beeinflussung von Produktkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 8.5 Wertanalyse – Kostensenken durch Anpassen an Kundennutzen . . 306 8.6 Zielkostenmanagement – Target Costing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 8.7 Kritische Betrachtung des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

9

Produktvarianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 9.1 Motivation und Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 9.2 Bauelementorientierte Bauweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 9.3 Baugruppenorientierte Bauweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 9.4 Methoden des Variantenmanagements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354

10 Prototypen entwickeln und einsetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 10.1 Motivation und Ziel der Entwicklung von und mit Prototypen . . . 368 10.2 Charakterisierung und Klassifizierung von Prototypen . . . . . . . . . . . 376 10.3 Fertigungsverfahren und ihre Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 10.4 Entwickeln mit Prototypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 11 Global entwickeln und produzieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 11.1 Rahmenbedingungen der globalen Entwicklung und Produktion . 406 11.2 Herausforderungen der globalen Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . 409 11.3 Festlegung von Verantwortlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 11.4 Führen der globalen Entwicklung und Produktion . . . . . . . . . . . . . . 421 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 A.1 Technische Parameter der TRIZ-Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 A.2 Relevante Prinzipien der TRIZ-Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 Bildquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437

Abkürzungsverzeichnis ALARP BAB CAD CFD CMMI

So gering wie möglich (As Low As Reasonable Possible) Betriebswirtschaftlicher Abrechnungs-Bogen Computer-Aided-Design Computational Fluid Dynamics Referenzmodell der mechatronischen Produktentwicklung (Capability Maturity Model Integration) DUT Device under Test (Prüfling) EBIT Gewinn vor Abschreibungen und Steuern (Earnings Before Interest and Taxes) EKK Entwicklungs- und Konstruktionskosten E/E/PE Elektrisch, elektronisch, programmierbar elektronisch EUC Equipment under Control (Entwicklungsgegenstand) FEM Finite Elemente Methode FFF Kunststoffschmelzverfahren (Fused Filament Fabrication) FGK Fertigungsgemeinkosten FK Fertigungskosten FLK Fertigungslohnkosten FMEA Fehler-Moglichkeits- und Einfluss-Analyse (Failure Mode Effect Analysis) FuSi Funktionale Sicherheit GKZ Gemeinkostenzuschlagssatz GPPE Ganzheitliche Produkt- und Prozessentwicklung GV Gestaltvariation HK Herstellkosten KMU Kleine und mittelständige Unternehmen KPI Leistungskennzahl (Key Performance Indikator) KVP Kontinuierlicher Verbesserungsprozess MBS Mehrkörpersimulation (Multi Body Simulation) MEK Materialeinzelkosten MGK Materialgemeinkosten MK Materialkosten MoB Make-or-Buy (Einkaufsentscheidung) PDM Produktdatenmanagment (Product-Data-Management) PEP Produktentwicklungsprozess PGE Produktgenerationsentwicklung PLM Produktlebenszyklusdatenmanagement (Product Lifecycle Management) PV Prinzipvariation

xi

xii

SEK SEF SK SLM SPS TCO UMEA

1 Abkürzungsverzeichnis

Sondereinzelkosten Sondereinzelkosten der Fertigung Selbstkosten Laserstrahlschmelzen (Selective Laser Melting) Speicherprogrammierbare Steuerung Lebenslaufkosten (Total Cost of Ownership) Unsicherheits-Wirkungs- und Einfluss-Analyse (Uncertainty Mode Effect Analysis) VR Virtuelle Realität (Virtual Reality) VTGK Vertriebsgemeinkosten VVGK Verwaltungs- und Vertriebskosten VWGK Verwaltungsgemeinkosten ÜV Übernahmevariation

Kapitel 1 Produktentwicklung in der Praxis

In diesem ersten Kapitel wird die Rolle der Produktentwicklung im Spannungsfeld der Anforderungen von Kunden, Lieferanten, Gesellschaft, Umwelt, Kolleginnen und Kollegen sowie weiteren Randbedingungen diskutiert. Ferner wird ein kurzer Überblick über die verschiedenen Aspekte der Produktentwicklung, ihre Modelle und Vorgehensweisen gegeben. Ergänzend zu [32] wird auch auf Werkzeuge der industriellen Produktentwicklung mit starkem Fokus auf der Automobilindustrie hingewiesen, die in Abschnitt 4.3 detaillierter behandelt werden. Wichtige Begriffe, die in diesem Kapitel erklärt werden und deren Verständnis für die Produktentwicklung essentiell ist, sind in Abbildung 1.1 in einer hierarchischen Darstellung zusammengetragen. Bei der Auseinandersetzung mit den Hintergründen der einzelnen Begriffe werden folgende Lernziele verfolgt:

Lernziele des 1. Kapitels: • Sie wissen, wie die Produktentwicklung in Unternehmen heutzutage aufgebaut ist und welche wesentlichen Aufgaben dort gelöst werden. • Sie wissen, dass die Produktentwicklung im Produktentstehungsprozess eine zentrale Rolle einnimmt und organisatorisch mit vielen Bereichen sowie mit Kunden und Lieferanten eng zusammenarbeitet. • Sie können den Unterschied zwischen den wichtigen Tätigkeiten Verifizieren und Validieren der Produktentwicklung erklären und sind für die Unterscheidung von Merkmal und Eigenschaft sensibilisiert. • Sie kennen die Bedeutung des kreativen und methodischen Arbeitens in der Produktentwicklung und können dieses auch an Beispielen erklären. • Sie können begründen, warum Kommunikation und Kooperation eine unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Entwicklungsarbeit sind. 2

Über die in diesem Kapitel genannten Referenzen hinaus wird auf die Literatur verwiesen, z. B. [20, 39, 70, 94, 100, 103, 114, 127, 149, 170, 211, 219, 234].

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Kirchner, Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61762-5_1

1

2

1 Produktentwicklung in der Praxis

Abb. 1.1 Zentrale Begriffe der Produktentwicklung

1.1 Umfeld der Produktentwicklung Unternehmen erstellen Produkte für Kunden und bieten diese auf Märkten an. Sie agieren dabei in einem Umfeld, das durch die Gesellschaft mit ihren Bedürfnissen, durch die Wirtschaft mit Kundenmärkten, Wettbewerbern, Zuliefermärkten und Finanzmärkten, durch nationale und internationale Gesetzgebung, Politik und vieles andere beeinflusst wird. Unternehmen müssen daher ihren Platz und ihr Selbstverständnis innerhalb dieses Netzwerks von Anspruchsgruppen regelmäßig analysieren und wegen des oft rapiden Wandels fortwährend überprüfen und regelmäßig anpassen; für die Anspruchsgruppen wird im englischen Sprachgebrauch meist der Begriff Stakeholder verwendet. Die Produktentwicklung muss diesem vieldimensionalen und sich kontinuierlich ändernden Spannungsfeld in besonderer Weise Rechnung tragen. Einige bestimmende Einflüsse auf die Produktentwicklung sind in Abbildung 1.2 gezeigt, insbesondere die Einflüsse der Gesellschaft als Sammelbegriff für die Kunden und der Politik als Legislative sind für die Produktentwicklung bestimmend. Zuerst müssen die Produkte auf die Märkte bzw. Kunden ausgerichtet sein, um Umsatz zu generieren und Gewinn zu ermöglichen. Natürlich müssen die entwickelten Produkte auch die Bedürfnisse des Unternehmens befriedigen, z. B. kurz-, mittel und langfristige Wettbewerbsvorteile sicherstellen oder das Unternehmen nachhaltig absichern. Zudem sind die vielfältigen Bedürfnisse des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Umfelds zu berücksichtigen, wobei den Umweltanforderungen eine wachsende Bedeutung zukommt. Die in Abbildung 1.3 gezeigten Produkte sind willkürlich gewählt. Es sind großteils physische Objekte, deren Produktion – d. h. Fertigung der Einzelteile, deren Montage und der Test des verkaufsfertigen Produkts – im Rahmen der Produktentwicklung mit berücksichtigt werden muss, um auch die Anforderungen der Produktion nicht nur mit Blick auf die Herstellbarkeit sondern auch hinsichtlich z. B. Ergonomie und Verletzungsrisiken angemessen zu berücksichtigen. Im Maschinenbau werden Produkte unabhängig von ihrem speziellen Typ – Bearbeitungs- oder Haushaltsmaschinen, Straßen-, Luft- und Wasserfahrzeu-

1.1 Umfeld der Produktentwicklung

3

Abb. 1.2 Einflussbereiche auf das Produkt (In Anlehnung an [32])

Abb. 1.3 Unterschiedliche Produktarten vornehmlich materieller, technischer Produkte

ge sowie stationäre Anlagen der Produktionstechnik – häufig mit Maschinen, Fahrzeugen, Prozessen usw. gleichgesetzt, es sind allesamt materielle Produkte. Immaterielle Produkte des Maschinenbaus wie Software, Simulationsprogramme oder sonstige IT-basierte Entwicklungswerkzeuge, Regel- oder Betriebsstrategien sind aber ebenfalls Gegenstand der Betrachtungen in diesem Buch. Fasst man den Produktbegriff noch weiter, so kann man auch alle dazugehörigen Servicedienste wie z. B. Beratung vor dem Kauf und Kundendienst nach dem Kauf in den Produktbegriff mit einschließen. Unter Produkten sind also nicht nur Güter zu verstehen, sondern auch Dienstleistungen aller Art, die mit oder ohne gegenständliche Produkte angeboten werden. Typische Dienstleistungen zeigt die Zusammenstellung in Abbildung 1.4. Für die gezeigten Dienstleistungen gleich

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1 Produktentwicklung in der Praxis

Abb. 1.4 Unterschiedliche Serviceleistungen

ob Kundendienst, Call-Center, Inspektion, Physiotherapie, Radiologie oder die Logistik muss sich das anbietende Unternehmen auch mit den Anforderungen und Möglichkeiten des Marktes auseinandersetzen, um die Wirtschaftlichkeit der angebotenen Dienstleistungen zu bewerten. Insbesondere bei Dienstleistungen im Gesundheitsbereich wie die in Abbildung 1.4 gezeigten Beispiele Physiotherapie und Radiologie ist zu prüfen, ob der Markt genügend Nachfrage generieren kann, d. h. ob nicht nur der räumliche Abstand zum nächsten ähnlichen Dienstleister groß genug ist, sondern ob auch genügend Kunden im wahrscheinlichen Einzugsbereich der Praxen leben. In der Literatur wird dieser Ansatz bzw. die resultierenden Produkte als ProductService-Systeme bezeichnet, wobei die Planung, Entwicklung und Realisierung reiner Dienstleistungen Service Engineering genannt wird, vgl. [45, 103]. Im Grunde muss es das Ziel eines jeden Unternehmens sein, die Bedürfnisse der Kundinnen und Kunden optimal durch einen spezifischen Mix aus materiellen und immateriellen Produkten sowie Dienstleistungen zu befriedigen. Für ein Wachstum von Umsatz, Marge und Gewinn ist es im Bereich technischer Produkte zudem notwendig, nicht erfüllte Kundenwünsche zu antizipieren und die Kunden mit neuen Produkten zu begeistern, um sie langfristig zu binden. Definition 1 Produkt Ein Produkt ist ein materielles oder immaterielles Erzeugnis, welches für einen Markt hergestellt und von Kunden genutzt wird. Für nicht-natürliche Produkte verwendet man auch den BegriffArtefakt. 3

Ergänzend zum Verständnis des Produktbegriffs ist für das Verständnis der Methoden der angewandten Produktentwicklung die folgende Definition des Begriffs Prozess hilfreich:

1.2 Produktentwicklung im Unternehmen

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Abb. 1.5 Handwerksbetrieb

Definition 2 Prozess Ein Prozess beschreibt eine zeitlich ablaufende Zustandsänderung, die einen Anfangszustand in den Endzustand transformiert. Die Zustände vor und nach einer Zustandsänderung sind real und konkret. Sie können beobachtet bzw. gemessen und beschrieben werden. 3

Mit dem Verständnis immaterieller Produkte liefert also der Produktentwicklungsprozess vor dem Hintergrund von Definition 2 alle notwendigen Unterlagen für ein neues Produkt.

1.2 Produktentwicklung im Unternehmen Die Rolle der Produktentwicklung in kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) sowie Großbetrieben unterscheidet sich vom Handwerk im Wesentlichen durch die stärkere Vernetzung, sowohl unternehmensintern als auch zu vielfältigen Lieferanten und Kunden. Während im Handwerk wenn überhaupt nur eine sehr geringe Aufgabenteilung vorherrscht – der Bäcker im Beispiel in Abbildung 1.5 übernimmt meist alle Teilfunktionen seines Kleinbetriebs in Personalunion und bedient die Schnittstellen zu Kunden und Lieferanten selbst – wird in größeren Unternehmen auch aufgrund des größeren Umsatzes arbeitsteilig gearbeitet. Beginnend mit der Entwicklung von Manufakturen als Ergänzung zum mittelalterlichen Handwerk und durch die fortschreitende Industrialisierung haben sich Arbeitsteilung und Spezialisierung immer weiter entwickelt mit dem Ziel der Schaffung eines gemeinsamen Endprodukts. Die Produktentwicklung wird vor diesem Hintergrund als eine Einheit der Unternehmensorganisation verstanden, die im Vergleich mit den anderen Unternehmensfunktionen wie in Abbildung 1.6 dargestellt meist den höchsten Grad an interner und externer Vernetzung aufweist. Häufig nutzen insbesondere Systemlieferanten wieder Unterzulieferer, im englischen Sprachgebrauch wird die direkte Beziehung eines Lieferanten zum Kunden meist als Tier 1 oder First Tier Supplier bezeichnet, während Unterlieferanten als Tier 2 bzw. auch Tier 3 bezeichnet werden, vgl. die Darstellung in Abbildung 1.6 rechts. Die hohe Vernetzung mit anderen Unternehmensabteilungen, mit internen und externen Kunden und zahlreichen Lieferanten ist ein Indiz für die herausge-

6

1 Produktentwicklung in der Praxis

Abb. 1.6 Schnittstellen der Produktentwicklung und Konstruktion im Unternehmen (Aufbauen auf [59])

hobene Bedeutung der Entwicklungsarbeit und die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit mit nahezu allen Unternehmensteilen. Ein großes Dilemma ist, dass die Produktentwicklung häufig für Fehlentscheidungen in anderen Unternehmensteilen oder Fehleinschätzung von Marktpotential oder Kundenwünschen verantwortlich gemacht wird, obwohl nur Zielvorgaben der anderen Entscheidungsträger möglichst gut umgesetzt werden. Abbildung 1.7 verdeutlicht als bekanntes Beispiel diese Herausforderung an die Produktentwicklung. Der Schlüssel zu einem erfolgreichen Produkt ist also als erster Schritt eine genaue Analyse der Kundenwünsche.

1.3 Aufgaben der Produktentwicklung Die Aufgaben der Produktentwicklung sind äußerst vielfältig und reichen von der Planung von Produkten und ihren Merkmalen und Eigenschaften über die Detailkonstruktion bis zur gemeinsamen Freigabe der Produktion mit der Fertigungsentwicklung, von Kunden- und Zulieferkontakten bis zur Erstellung von Gebrauchsanleitungen. Der abstrakten Darstellung in Abbildung 1.8 folgend kann man alle Tätigkeiten der Produktentwicklung als Problemlösen zusammenfassen. Das Problemlösen ist dabei weit umfassender zu verstehen als nur eine reine Informationsverarbeitung, wie man aus Abbildung 1.8 anhand der vielfältigen Einflüsse und der sich ergebenden Anforderungen erkennt. Oft liegt eine unklare Entwicklungsaufgabe vor, die Rahmenbedingungen sind heterogen und wi-

1.3 Aufgaben der Produktentwicklung

7

Abb. 1.7 Zur Rolle der Produktentwicklung: Kompromissfindung und Problemlösung

Abb. 1.8 Die zentrale Aufgabe der Produktentwicklung (In Anlehnung an [101])

dersprüchlich, der Lösungsweg unbekannt oder z. B. durch Schutzrechte Dritter blockiert. Die Wünsche des Kunden werden, wie in Abbildung 1.7 skizziert, nur unzureichend artikuliert und berücksichtigt. Hier sind kompetente Entwickler und Konstrukteure gefragt, die mit Kreativität und Erfahrung, aber auch mit Strategien und Methoden ein Problem in eine für alle Anspruchsgruppen min-

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1 Produktentwicklung in der Praxis

Abb. 1.9 Konstruktionsarten in der Praxis (Basierend auf [15])

destens akzeptable wenn nicht sogar überzeugende Lösung überführen, die im Allgemeinen neben den technischen bzw. funktionalen Anforderungen auch die Belange der Produktion und Montage nachhaltig sicherstellt.

1.3.1 Konstruktionsarten Nach [15] treten in der Entwicklungspraxis unterschiedliche Konstruktionsarten auf, die sich im Wesentlichen durch den Anteil rechnergestützter Tätigkeiten unterscheiden, vgl. Abbildung 1.91 . In der Praxis überwiegen Anpassungs-, Variantenkonstruktionen und Konstruktionen mit festem Prinzip. Der Anteil an Neukonstruktionen liegt bei deutlich unter 10 % und meist werden auch Produkte in der Werbung als neu bezeichnet, die technisch nicht mehr als eine optisch differenzierende Variantenkonstruktion sind, vgl. auch Abschnitt 5.2.3 und Abbildung 5.11. Einschränkend ist dabei allerdings anzumerken, dass auch bei Anpassungs- und Variantenkonstruktionen im Detail bei einzelnen Baugruppen oder Komponenten durchaus Neukonstruktionen notwendig werden können. Die Methoden der Produktentwicklung sind – insbesondere auf der Subsystem- oder Komponentenebene – aber immer anwendbar. I.d.R. treten in realen Produktentwicklungsprozessen alle Konstruktionsarten parallel auf. Insofern ist die häufig artikulierte Kritik an der Konstruktionsmethodik, sie sei ja nur für selten vorkommende Neukonstruktionen geeignet, so nicht zutreffend. Die Notwendigkeit des Rückgriffs auf bereits bestehende Referenzprodukte adressieren ALBERS und Mitarbeiter mit dem Modell der Produktgenerationsent1

Im Vergleich zur Quelle [15] werden in Abbildung 1.9 die Phasen des Produktentwicklungsprozess nach den VDI-Richtlinien als zeitliches Ordnungskriterium verwendet

1.3 Aufgaben der Produktentwicklung

9

Abb. 1.10 Zur Differentierung von Merkmalen und Eigenschaften

wicklung PGE, vgl. z. B. [6, 9, 10] sowie Abschnitt 5.3.2. In der PGE, die i.d.R. auf einem Vorgänger- oder Konkurrenzprodukt aufsetzend Neues schafft, wird in verschiedenen Detaillierungsstufen der Grad der Modifikation von Komponente, Subsystem und Endprodukt beschrieben.

1.3.2 Verifikation und Validierung Die Unterscheidung der Tätigkeiten Verifikation und Validierung ist für die Praxis wichtig; häufig werden die beiden Begriffe in der Praxis aber synonym verwendet. Daher sollen die beiden folgenden Definitionen helfen, Klarheit zu schaffen: Definition 3 Verifikation Verifikation ist eine Tätigkeit, in der überprüft wird, ob die getroffenen Annahmen zur Beschreibung von Produkten oder Prozessen zutreffen. 3 Definition 4 Validierung

Validierung ist eine Tätigkeit in der überprüft wird, ob das Produkt die formulierten Anforderungen an seine Eigenschaften kurzzeitig oder auch dauerhaft erfüllt. 3

Die Unterscheidung ist wichtig und wird hier soweit möglich begrifflich umgesetzt, so werden z. B. Simulationsmodelle durch Messungen im Versuch verifiziert während eine vorgegebene maximale Masse eines Produkt validiert wird.

1.3.3 Merkmale und Eigenschaften Im Rahmen der Produktentwicklung ist es die Hauptaufgabe, das neue Produkt so genau zu beschreiben, dass es dem Kunden angeboten werden kann, gleich, ob es sich um materielle, vgl. Abbildung 1.3, oder immaterielle Produkte handelt, Abbildung 1.4. Dabei wird man immer wieder feststellen, dass die Produkte durch unabhängige und abhängige Größen oder Charakteristika beschrieben werden. Im Folgenden werden dazu die Begriffe Merkmal und Eigenschaft benutzt, um im Sinne von WEBER unabhängige Merkmale und abhängige Eigenschaften voneinander zu differenzieren, [225, 226, 227].

10

1 Produktentwicklung in der Praxis

Definition 5 Merkmal Ein Merkmal ist ein Attribut eines Strukturelements eines technischen Systems (z. B. Datenformat, Form, Lage, Werkstoff) und wird durch den Entwickler festgelegt. 3 Definition 6 Eigenschaft

Die Eigenschaft eines Objekts ist eine Folge festgelegter Merkmale und kann vom Produktentwickler nicht direkt beeinflusst werden. 3

Die Unterscheidung wird anhand von Abbildung 1.10 deutlich. Der skizzierte quaderförmige Klotz ist durch Länge L, Breite B und Höhe H sowie durch einen als homogen angenommenen Werkstoff definiert, die vier Merkmale beschreiben den Klotz eindeutig. Dessen Gewicht G und Dehnsteifigkeit c in Längsrichtung als zwei Eigenschaften werden durch die Merkmale eindeutig beschrieben, G = L ·B ·H ·ρ

und

c=

E·B·H , L

(1.1)

dabei sind über den Werkstoff dessen Dichte ρ und Elastizitätsmodul E festgelegt, auch dies sind von der Wahl des Werkstoffs als Merkmal abhängige Eigenschaften. Gewicht und Steifigkeit lassen sich nur über die Merkmale einstellen, aber nicht ohne weiteres direkt vorgeben. In der neuen VDI-Richtlinie zur methodischen Entwicklung technischer Produkte und Systeme [216] wird in Anlehnung an PONN & LINDEMANN [176] eine Eigenschaft, die besonders herausgehoben werden soll, ebenfalls als Merkmal bezeichnet. Dieses Begriffsverständnis wird hier nicht angewendet. Konsequenter Weise wird daher in diesem Buch auch im Kontext des Kano-Modells in Abschnitt 3.3.3.4 von Begeisterungseigenschaften und Grundeigenschaften gesprochen, während in der Literatur die Begriffe Begeisterungsmerkmal und Grundmerkmal verwendet werden. Der Produktentwickler kann i.d.R. nur Merkmale direkt festlegen, die häufig für den Endkunden uninteressant sind; die für den Kunden wichtigen Eigenschaften sind jedoch eine Folge vieler Einzelmerkmale.

1.4 Strukturiertes Vorgehen Das Vorgehen der Produktentwicklung ist in den meisten mittleren und großen Unternehmen klar strukturiert und wird im Rahmen des Produktentwicklungsprozess sowohl hinsichtlich der Termine als auch der Verantwortlichkeiten festgelegt. Innovative Unternehmen haben zudem vor der eigentlichen Entwicklung noch Vorentwicklungsphasen, die auch organisatorisch im Organigramm des Unternehmens ausgewiesen sind, vgl. Abbildung 1.11. Die Vorentwicklung stellt dann der Serienentwicklung funktional erprobte Konzepte für Komponenten und Subsysteme zur Verfügung, die dann schrittweise in die Serienprodukte einfließen. Forschungs- und Technologieprojekte vor dem Beginn der Entwicklung neuer Serienprodukte erbringen Funktions- und Machbarkeitsnachwiese im

1.4 Strukturiertes Vorgehen

11

Abb. 1.11 Projektgliederung der Gesamtentwicklung in einem Großunternehmen und Phasen des Entwicklungsprozesses (Nach [127])

Vorfeld unter Umständen parallel ablaufender Entwicklungsprojekte, die ebenfalls in Entwicklungsphasen untergliedert sind, vgl. Abbildung 1.11. In kleineren Unternehmen werden aufgrund der geringeren Spezialisierung der Mitarbeiter die Vorentwicklungsarbeiten oft von der Serienentwicklung mit bearbeitet. Die Ergebnisse der Entwicklungsphasen werden meist elektronisch dokumentiert und sind als Handbücher, Methodenbeschreibungen sowie Produktionsunterlagen wie z. B. Zusammenbauzeichnungen oder Messstellenplänen verfügbar. Im Rahmen der hohen Arbeitsteilung – bei den großen Automobilherstellern beträgt deren Wertschöpfungsanteil pro Fahrzeug nur noch etwa 50 % – werden zunehmend Entwicklungsaufgaben an (System-) Lieferanten vergeben. Einen exemplarischen Ablauf einer Fremdvergabe eines Auftrags an einen Zulieferer durch ein Unternehmen im Investitionsgüterbereich zeigt Abbildung 1.12; es ist offensichtlich, dass auch bei der Einbindung von Entwicklungspartnern Schleifen im Entwicklungsprozess vorgesehen werden müssen. Im Automobilbereich muss auch die Entwicklung beim Lieferanten dem Ablaufplan des übergeordneten Systems beim Kunden folgen. Die Phasenmodelle und Ablaufpläne unterschiedlicher Unternehmen unterscheiden sich im Einzelnen durchaus. Im Kern lassen sie sich fast durchweg auf die Darstellung in Abbildung 1.13 zurückführen, die so bereits in den 70er Jahren in der VDI-Richtlinie 2221 dargestellt wurde. Das Verständnis des grundlegenden Ablaufs von Produktentstehung und Produktentwicklung der Richtlinie [219] liegt der in diesem Buch beschriebenen Vorgehensweise zugrunde, auch wenn die neue Richtlinie [216] einzelne Teilprozesse abweichend beschreibt. Im Rahmen der Produkt- und Geschäftsfeldplanung werden die Wettbewerbssituation, die Absatzmöglichkeiten sowie die Fähigkeiten des eigenen Unternehmens analysiert und aus dieser Analyse eine Produktidee abgeleitet, vgl. Kapitel 2. Im anschließenden Projektdefinitionsprozess als erstem Teilprozess der Produktentwicklung wird die Produktidee abstrahiert, in eine Aufgabenstellung transfor-

12

1 Produktentwicklung in der Praxis

Abb. 1.12 Beispielhafter Ablauf des Produktentwicklungsprozess bei Vergabe der Konstruktion an externe Dienstleister (In Anlehnung an [32])

miert und durch Spezifikationen und eine Anforderungsliste möglichst umfassend und präzise beschrieben; dieser Prozess wird in Kapitel 3 behandelt. Die wesentlichen Schritte im Rahmen der Projektplanung und -definition werden in Kapitel 4 beschrieben. Das Entwicklungsprojekt wird strukturiert und es werden die verfügbaren Ressourcen – personelle Kapazitäten, Prüf- und Fertigungseinrichtungen sowie Zeit und Budget – festgelegt. Im Konzeptprozess werden idealerweise mehrere Lösungskonzepte auf prinzipieller Ebene erarbeitet, in ihren Eigenschaften beschrieben und das am besten geeignete Konzept für die weitere Bearbeitung ausgewählt. Diese Schritte werden in Kapitel 5 erläutert. Im Entwurfsprozess wird das Konzept in seine Baugruppen und Bauteile gegliedert und mit Anordnungsstudien, Berechnungen, Simulationen und Versuchen für materielle Produkte ein maßstäblicher Produktentwurf erarbeitet. Im Ausarbeitungsprozess werden die im Entwurf festgelegten Bauteile feingestaltet, wobei die endgültige Geometrie, aber auch die Oberflächen-, Toleranz- und sonstige Fertigungsangaben ergänzt werden. Der Entwurfs- und der Ausarbeitungsprozess werden hier nicht detailliert besprochen, der Fokus liegt auf dem

1.4 Strukturiertes Vorgehen

a)

13

b)

Abb. 1.13 Die Phasen der Produktentstehung (a) und der Produktentwicklung (b) (In Anlehnung an [219])

neuen Produkt und seinen Eigenschaften. Die Gestaltung einschließlich der relevanten Grundregeln und Gestaltungsprinzipien sowie Fragen der Auslegung werden in der Maschinenelemente-Literatur beschrieben. Während die Arbeiten im Entwurfsprozess mehrheitlich kreativer, synthetisierender Art sind, müssen im Ausarbeitungsprozess auch einige administrative Arbeiten wie etwa das Erstellen von Stücklisten für materielle Produkte erledigt werden. Vielfach werden die einzelnen Teilprozesse im Entwicklungsprozess durch Meilensteine oder sogenannte Gates abgeschlossen, vgl. Abbildung 1.14. In jedem sogenannten Gate-Review findet dabei eine Überprüfung der erreichten Ergebnisse statt, die zu positiven (Go-) oder negativen (No Go-) Entscheidungen führen kann. Das Gate als Tor zum nächsten Teilschritt darf nur bei positiver Entscheidung durchschritten werden, häufig ist auch ein Passieren unter Auflagen zur Nacharbeit möglich, im Englischen als conditional approval bezeichnet, vgl. auch Abschnitt 4.3.3. Das Durchlaufen eines solchen Gate-Prozesses hat erhebliche Vorteile gegenüber einem unstrukturierten Vorgehen: • Die Gefahr von Fehlentwicklungen wird deutlich reduziert. • In den Gate-Reviews fließt eine Vielzahl an Meinungen und Erfahrungen in den konkreten Entwicklungsstand ein, dadurch wird das Entwicklungsergebnis besser abgesichert und dokumentiert. • An der Gate-Struktur lassen sich notwenige Kapazitäten und Bearbeitungszeiten festmachen, wodurch der Gesamtprozess planbar und steuerbar wird.

14

1 Produktentwicklung in der Praxis

Abb. 1.14 Entwicklungsprozess als Gate-Prozess

Die Arbeitsteilungen und Organisationsformen der Produktentwicklung befinden sich in einem stetigen und schnellen Wandel. Die strikte Abfolge Konzipieren, Entwerfen, Konstruieren, Bereitstellen der Fertigungsunterlagen, Arbeitsvorbereitung, Einkauf und Produktion weicht zunehmend teamorientierten, parallel verlaufenden Prozessen. Wo früher von einer Arbeitsstelle zur anderen Papiere und Dokumente übergeben wurden, bildet heute ein zentrales Datenmodell über alle Entwicklungsphasen und alle beteiligten Disziplinen eine gemeinsame Plattform, vgl. z. B. [56]. Personen mit unterschiedlichsten Aufgabenstellungen arbeiten damit gleichzeitig am Entwicklungsprojekt. Die traditionelle sequenzielle Arbeitsweise wenig arbeitsteiliger Organisationen bedurfte einer klaren hierarchischen Organisationsform: Jede Arbeitsteilung verlangte nach einer Gruppenleitung; mehrere Gruppen zusammen bilden eine Abteilung, dann eine Hauptabteilung, einen Bereich und schließlich ein Unternehmen. Aber auch hier fand ein grundlegender Wandel statt. Hierarchiestufen verschwanden, die Unternehmenshierarchien wurden flacher, auch große moderne Betriebe kennen heute kaum mehr als drei oder vier Stufen. Andere Unternehmen – insbesondere im Bereich der sogenannten New Economy – gehen noch weiter, indem sie fast vollständig auf die traditionelle Hierarchie verzichten. Die Basisgliederung nach dem Gate-Konzept bleibt als generelle Strategie und Struktur des Entwicklungsprozesses bestehen. Die Gates definieren Arbeitsergebnisse, die zum definierten Zeitpunkt erbracht, kontrolliert und freigegeben werden müssen. Die Prozesse zwischen den Gates sind jedoch weitaus freier und vor allem abteilungsübergreifender zu gestalten. So kann in einem Konzeptprozess für ein kritisches Bauteil durchaus ein vorläufiger Entwurf mit einer FEM-Berechnung überprüft werden, um das Bauteilkonzept abzusichern, obwohl diese Schritte eigentlich erst im Entwurfsprozess anstehen, wenn alle notwendigen Geometrieinformationen vorliegen. Derartige Überlegungen sind bei der Optimierung von Entwicklungsplänen mit dem Ziel der Verkürzung der Entwicklungsdauer essentiell, vgl. Abschnitt 4.3.2.

1.5 Voraussetzungen einer erfolgreichen Produktentwicklung

15

Abb. 1.15 Relevante Gesichtspunkte und Teilgebiete innerhalb einer Produktentwicklung

Im Grunde lässt sich das Strukturieren eines Entwicklungsprozesses mit dem Studienplan vergleichen. Zu bestimmten Zeiten werden in Prüfungen Ergebnisse fällig; wie man das geforderte Ergebnis erreicht (durch Besuch von Vorlesungen und Übungen, durch Selbststudium, durch Nachfragen bei Kommilitonen oder durch geschicktes Taktieren mit Lücken in der Prüfung), bleibt jedem selbst überlassen. Doch anders als im Studium, wo eine mit Tricks bestandene Prüfung unter Umständen ohne Folgen bleibt, führen nicht sorgfältig erledigte Entwicklungsaufgaben im Produktentwicklungsprozess später häufig zu enormen Problemen in Form von (vermeidbarer) Mehrarbeit, Produktionsausfällen, Rückrufaktionen oder noch schwerwiegenderen Folgen.

1.5 Voraussetzungen einer erfolgreichen Produktentwicklung Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Produktentwicklung lassen sich verschiedenen Bereichen zuordnen, um die beschriebenen Konflikte zu lösen.

16

1 Produktentwicklung in der Praxis

Abb. 1.16 Symbolhafte Unterscheidung von Generalist und Spezialist

1.5.1 Wissen und Erfahrung Die Produktentwicklung ist eine Aufgabe, die eine Fülle an Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kompetenzen erfordert, um die Anforderungen von Unternehmen, Markt, Kunden und Lieferanten zu erfüllen. Der Versuch2 , die vielfältigen Gesichtspunkte, die in einem Entwicklungsprozess relevant sind, ohne eine chronologische Ordnung aufzulisten, ergab die Vielzahl an Themen, die in Abbildung 1.15 aufgeführt sind. Die Eintragungen in Abbildung 1.15 geben dabei die Einzeldisziplinen des Ingenieurwesens an, die bei einer Befragung von Studierenden als ihre persönliche Sicht der Produktentwicklung genannt wurden. Die Auflistung umfasst dabei sowohl physikalisch-technische Grundlagen als auch Spezialdisziplinen sowie angrenzende Themengebiete aus den Unternehmen. Die gezeigte Anzahl der relevanten Themen in Abbildung 1.15 ist bemerkenswert hoch, obwohl sicher noch weitere Themen genannt werden können, die sich bei genauerer Analyse der Erwartungen der Beteiligten, die in den anderen Bereichen nach Abbildung 1.6 arbeiten, ergeben. Es gibt vermutlich nur wenige Tätigkeiten mit vergleichbarer, vielschichtiger Thematik und ähnlich vielen Schnittstellen innerhalb und außerhalb der Organisation. Dies macht die Produktentwicklung in der Praxis sehr interessant, stellt aber für Anfänger die Gefahr dar, sich in der möglichen Vielzahl der Konflikte zu verlieren und dabei das große Ganze – aber auch das wirklich Wesentliche – aus dem Auge zu verlieren. Die Bedeutung von Wissen in der Produktentwicklung wird nach [32] auch durch eine Untersuchung deutlich, die zeigt, dass nur etwa ein Drittel der Arbeitszeit für Entwicklungstätigkeiten im engeren Sinne aufgewendet wird: • 32 % Entwicklung und Konstruktion (eigentliche Wertschöpfung), • 22 % Informationsbeschaffung und -aufbereitung, 2

Abbildung 1.15 geht auf [32] zurück und wurde um Themen beispielsweise der additiven Fertigung von Studierenden ergänzt.

1.5 Voraussetzungen einer erfolgreichen Produktentwicklung

17

Abb. 1.17 Gliederung der entwicklungsrelevanten Themen

• 23 % Informationsweitergabe, • 23 % Sonstiges. Dabei nimmt der Anteil entwicklerischer Tätigkeiten meist mit zunehmender Führungsverantwortung ab. Viel Zeit benötigen Informationsbeschaffung, -strukturierung und -weitergabe in großen Organisationen aufgrund von Besprechungen, bei denen nicht immer alle Beteiligten aktiv und permanent in die Diskussion eingebunden sind, vgl. Abschnitt 11.4.2. In größeren Innovationsvorhaben werden bis zu 50 % der Zeit für Abklärungen, Untersuchungen und Wissensbeschaffung eingesetzt, wobei Letztere auch Prinzipversuche teils mit Prototypen im Labor oder am Prüfstand mit einschließt, vgl. Kapitel 10. Für das Folgende ist die Unterscheidung verschiedener Berufsbilder innerhalb des Ingenieurwesens wie in Abbildung 1.16 skizziert wichtig. Häufig hängt die Wahl einer der beiden Optionen Spezialist oder Generalist für den eigenen Berufsweg von der persönlichen Neigung ab; Zwischenformen sind natürlich gerade auch in kleinen und mittelständigen Unternehmen (KMU) häufig. Die Spezialisten verfügen im Allgemeinen über das größere Detailwissen auf einem kleinen Spezialgebiet – häufig einem der in Abbildung 1.15 aufgelisteten Teilgebiete des Ingenieurswesen. Dem Generalisten fehlt dieses Spezialwissen, dafür verfügen diese Menschen fachlich über ein breiteres Wissen. Oft sind die Generalisten als Moderatoren und Vermittler der Konfliktlösung – auch aufgrund ihrer besseren kommunikativen Fähigkeiten – als Projektleiter tätig. Meist werden diese Generalisten hier mit dem Produktentwickler gleichgesetzt, die das Detailwissen vieler Spezialisten zusammenführen, um damit ein erfolgreiches Produkt zu entwickeln. Doch nur durch die Einbindung des Detailwissens der Spezialisten der unterschiedlichen Disziplinen wird erreicht, dass das gewünschte Produkt zur rechten Zeit, in der geforderten Qualität und zu den geplanten Kosten das Unternehmen verlässt. Wenn man die relevanten Wissensbereiche der Produktentwicklung, welche die Generalisten und Spezialisten in den Produktentwicklungsprozess einbringen, auf höherer Aggregationsebene zusammenfasst, ergibt sich die in Abbildung 1.17 gezeigte Struktur, die im Folgenden diskutiert wird.

18

1 Produktentwicklung in der Praxis

1.5.2 Grundlagenwissen Viele Themen aus der Gruppe des Grundlagenwissens in Tabelle 1.1 werden fachspezifisch oder interdisziplinär in eigenständigen Lehrveranstaltungen im Rahmen der wissenschaftlich orientierten Ingenieursausbildung behandelt. Ein Mindestmaß an Grundlagenwissen sollten alle an der Entwicklung Beteiligten gleichermaßen mitbringen, ohne jedoch Spezialist auf einem der Gebiete zu sein. In der Produktentwicklung muss dieses vorwiegend theoretische Wissen in den Lösungsfindungsprozess für die im Rahmen der Entwicklung auftretenden Probleme sowohl durch Abstraktion als auch durch Konkretisierung anwendbar gemacht werden, es wird operationalisiert.

1.5.3 Detailwissen der Fachdisziplinen Auch für das notwendige Sachwissen ist eine Gliederung in Hauptgruppen wie in Tabelle 1.2 gezeigt möglich. Das oft als Detailwissen der Fachdisziplinen bezeichnete Sachwissen ist oft anwendungsspezifisch beschrieben und unterstützt im weitesten Sinne die Planung und Durchführung von Produktentstehungsprozessen. Spezialisten bringen das jeweils notwendige Detailwissen in den Produktenwicklungsprozess ein.

Tabelle 1.1 Grundlagenwissen für die Produktentwicklung

Tabelle 1.2 Sachwissen der Produktentwicklung

1.5 Voraussetzungen einer erfolgreichen Produktentwicklung

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Abb. 1.18 Oben Anforderungen und Nachteile von Entwicklungsmethoden, unten Erfolgsfaktoren und Anwendungsbarrieren (Nach [23])

1.5.4 Methodenwissen und Kompetenz Definition 7 Methode Methoden sind bewährte Vorgehensweisen, die ausgehend von definierten Eingabegrößen in festgelegten Arbeitsschritten ein definiertes Arbeitsergebnis erzeugen. 3 Der Einsatz von Methoden3 nach Definition 7 stellt in vielen Unternehmen eine Maßnahme dar, um die Effektivität – die richtigen Dinge tun – und die Effizienz – die Dinge richtig tun – der Produktentwicklung zu erhöhen sowie die Qualität der Ergebnisse während des gesamten Produktlebenszyklus sicherzustellen.

Viele Strategien, Vorgehensweisen und Methoden, z. B. die Methoden des Projektmanagements oder des Simultaneous Engineering, vgl. Kapitel 4, der Qualitätsplanung, vgl. Kapitel 6, des Kosten- und Komplexitätsmanagements, vgl. Kapitel 8 und 9, sowie zur Entwicklung umweltverträglicher Produkte sind in der Praxis mittlerweile zu Unternehmensstandards geworden. Diese Methoden gehören zum anerkannten Grundrepertoire eines jeden guten Entwicklers, der zunehmend neben seiner Entwicklungstätigkeit wie bereits beschrieben auch der Aufgabe eines Projektmanagers nachkommen muss. Viele Methodeneinsätze enden jedoch in der Praxis nach wie vor unbefriedigend: Das Ziel der Effektivitäts- oder Effizienzsteigerung der Produktentwicklung wird 3

Eingabegrößen und Arbeitsergebnis werden dem englischen Sprachgebrauch folgend oft als Input und Output bezeichnet.

20

1 Produktentwicklung in der Praxis

verfehlt. Abbildung 1.18 listet allgemeine Anforderungen an Entwicklungsmethoden sowie deren Nachteile auf und nennt Erfolgsfaktoren und Anwendungsbarrieren des Methodeneinsatz aus einer Studie. In manchen Fällen führen Misserfolge in der Methodenanwendung beim Anwender in der Folge zu einer generellen Ablehnung von Methoden und beim Management häufig zu einer grundlegenden Skepsis gegenüber Neuerungen im Bereich der Entwicklungsprozesse. Jedoch wird häufiger durch den Methodeneinsatz ein besseres Ergebnis der Entwicklung erreicht, der Nachweis der Vorteile der methodischen Herangehensweise ist jedoch sehr schwierig. Oft gilt für den Methodeneinsatz in der Praxis, dass bei ohnehin schwacher methodischer Orientierung der Mitarbeiter und der Unternehmen die Umsetzung der Methoden noch schwächer erfolgt, als dies zu erwarten wäre. Stattdessen lässt sich das Tagesgeschäft in vielen Produktenwicklungen zutreffend aber wenig schmeichelhaft als Von der Hand in den Mund oder ähnlich beschreiben. Generell lässt sich jedoch feststellen, dass mit zunehmender Unternehmensgröße und steigendem Organisationsgrad der Anteil methodisch motivierter Tätigkeiten stark ansteigt. Dabei zeigen die Erfahrungen aus der industriellen Praxis nach [234], dass folgende Voraussetzungen für einen erfolgreichen Methodeneinsatz gegeben sein müssen: • Kenntnis der Methoden und Prozesse: Die genaue Kenntnis und das Verständnis von Methoden (Ziele, Wirkungsweise, Aufbau, etc.) müssen vorhanden sein, um geeignete Methoden auswählen und erfolgreich anzuwenden. • Fähigkeit zum Abgleich zwischen Aufgabe und Methode durch die handelnden Personen, nicht jede Aufgabe muss methodisch gelöst werden, wenn pragmatische Ansätze effizienter sind. • Methoden müssen situationsbezogen eingesetzt werden, die für die Aufgabe am besten geeignete Methode oder Teile von Methoden müssen identifiziert, ggf. angepasst und teils auch flexibel angewendet werden. • Methodisches Arbeiten darf nicht allein den Entwicklern überlassen werden. Das Management muss den Methodeneinsatz eindeutig fördern und kontinuierlich einfordern und dies auch vorleben. • Die individuellen Fähigkeiten des Anwenders dominieren die Anwendung. Daher ist die Qualifikation der handelnden Personen von großem Einfluss. Weiterbildungsmaßnahmen zur Befähigung eines souveränen Umgangs mit Methoden sind ein wichtiger Baustein zur langfristigen Erfolgssicherung. Es wird anhand dieser Aufzählung deutlich, dass ein solides Methodenwissen in der Produktentwicklung einen deutlichen Vorteil bedeuten kann. Darüber hinaus sind Kreativität, Selbstvertrauen, Entschlossenheit und Entscheidungsfreudigkeit wichtige Eigenschaften des Produktentwicklers, das berühmte “Bauchgefühl” ist aber häufig ebenfalls unerlässlich.

1.5 Voraussetzungen einer erfolgreichen Produktentwicklung

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1.5.5 Kommunikation und Kooperation Ein besonderes Kennzeichen erfolgreicher Produktentwicklung ist die Bedeutung von Kommunikation und Kooperation, vgl. [32]: • Etwa 30 % der Entwicklungsarbeit geschieht in Teams und • ungefähr ein Drittel der Arbeit von Teams beschäftigt sich mit dem Prozess und seinen Anforderungen an Dokumentation und Austausch der Ergebnisse und nur zwei Drittel mit der eigentlichen Entwicklungsaufgabe. Als Gegenpol zum Mehraufwand für die Abstimmung aller Projektbeteiligten untereinander lassen sich folgende Vorteile durch Teamarbeit erreichen: • Wissenszuwachs durch die Gruppe: Gegenseitige Bereicherung durch Zusammenfügung verschiedener Ideen, implizites Wissen wird expliziert, erhöhte Transparenz. • Kontrolle durch die Gruppe: Aufdecken von Widersprüchen, Hinterfragen von traditionellen Planungen und eingefahrenen Denkmustern. • Motivationsförderung durch die Gruppe: Steigerung der Zufriedenheit, Akzeptanz durch Mitgestaltung, Mitbestimmung und Kooperationserlebnis. Eine Analyse kritischer Situationen in Unternehmen zeigte, dass Probleme in der Entwicklungsarbeit weniger in der Technik, sondern eher im menschlichorganisatorischen Bereich liegen, wo Ausbildung nach [94] nur sehr bedingt greift. Sobald Menschen eng zusammenarbeiten entstehen Konflikte; menschliche Widerstände treten auf und müssen überwunden werden, Dominanzen einzelner müssen akzeptiert oder abgebaut werden. Dies kann dazu führen, dass insbesondere sehr große Entwicklungsprojekte gebremst werden, in ernste Krisen geraten und dadurch das eigentliche Ziel gefährdet wird. Der Flughafen BER oder der Bahnhofsneubau Stuttgart 21, vgl. [42, 119, 178, 223] sind hier gute Beispiele, zumal auch bei diesen Projekten die Kommunikation zwischen allen beteiligten Interessengruppen zu organisatorischen Themen und den technischen Details fehlte. Kommunikations- und Kooperationsprobleme können als ernsthafte Gefährdung von Entwicklungsprojekten identifiziert werden, wie die folgenden einseitig negativen Kurzcharakterisierungen der Mitarbeiter in ihren Rollen im Unternehmen nach [32] zeigen: • Individuen – schätzen die Sachlage falsch ein, – ermitteln Informationen nicht verständlich oder unvollständig und – nehmen Informationen falsch auf. • Teams bzw. Gruppen – arbeiten mangels Motivation nicht effizient zusammen, – sind ineffektiv wegen persönlicher Differenzen und – schotten sich ab und verfolgen eigene Ziele. • Führung

22

1 Produktentwicklung in der Praxis

– – – –

setzt keine klaren Ziele, stößt Mitarbeiter durch diktatorisches Verhalten vor den Kopf, begründet Maßnahmen nicht verständlich und propagiert Leitbilder ohne sie zu leben.

Doch gerade in Krisensituationen kann sich die Überlegenheit von Teamarbeit gegenüber Einzelarbeit beweisen, wenn die unterschiedlichen Teammitglieder ihre Erfahrungen und unterschiedlichen Denkansätze in eine gleichberechtigte Diskussion einbringen. Man spricht dann von kollektiver Intelligenz oder im englischsprachigen Umgang von crowd intelligence.

1.6 Werkzeuge der Produktentwicklung Der aktuelle Produktentwicklungs- und Innovationsprozess ist ohne die tiefe Integration von modernen computergestützten Werkzeugen nicht mehr denkbar. Das wohl wichtigste Werkzeug ist neben dem CAD- und PLM/PDM-System zur Erzeugung von Geometriedaten und deren Handhabung entlang des Produktlebenszyklus ein Programm zur Erzeugung, Versionierung und Verwaltung der Anforderungen an das Produkt. Diese Werkzeuge bilden eine wesentliche und zentrale Arbeitsplattform, welche auch die Arbeitsweise in der Produktentwicklung maßgeblich verändert hat. Das eigentliche CAD-Programm wird ergänzt durch PDM- und PLM-Systeme, um die anfallenden Produktdaten über den gesamten Prozess zu verwalten und zu koordinieren. Mittlerweile wird von ersten Produkten bereits ein eigener digitaler Zwilling während der Produktion erstellt, der stets als genaues Abbild des materiellen Produkts zur Verhaltenserklärung und -beeinflussung genutzt werden kann, vgl. [49, 214]. Weitere sehr wichtige Werkzeuge sind Simulationsprogramme für Strömungs-, Umform-, Dynamik- oder Festigkeitsberechnung sowie Tools für die Aufgaben des Projektmanagements. Vom Produktentwickler als Moderator des Entwicklungsprozesses und der Konfliktlösung wird ein grundlegendes Verständnis vom Einsatzziel und den Anwendungsgrenzen aber auch den Anforderungen der Berechnungsmethoden verlangt, um die Möglichkeiten der virtuellen Produktentwicklung abschätzen zu können. Zusätzlich brauchen Forschung und Industrie gleichermaßen Ingenieurinnen und Ingenieure, die innovative Produkte schaffen, die neue Ideen als Erfindungsmeldungen auf dem Weg zu neuen Patenten dokumentieren und nicht nur Bekanntes nachvollziehen. Deshalb muss die Förderung von Kreativität und ihre Rolle in der Produktentwicklung und in der Ausbildung einen hohen Stellenwert einnehmen, um künftig Produkte schaffen zu können, die dem Kunden und Nutzer einen Mehrwert bieten, um so die Grundlage für nachhaltiges Wachstum im Unternehmen zu bilden. Auf einige Kreativitätstechniken wird in Abschnitt 5.4.3 eingegangen.

Kapitel 2 Produkte planen

Die Planung neuer Produkte ist eine der wichtigsten Maßnahmen von Unternehmen zur Sicherung ihrer Zukunft. Daher stehen das Beleuchten und Hinterfragen von Produktideen aus mehreren Blickwinkeln sowie die Definition von Solleigenschaften neuer Produkte zur Erfüllung der Marktbedürfnisse im Fokus dieses Kapitels. Die in Abbildung 2.1 hierarchisch geordneten Begriffe spielen eine entscheidende Rolle, um die folgenden Ziele dieses Kapitels zu erreichen:

Lernziele des 2. Kapitels: • Sie kennen die Ziele einer Produktplanung und wissen, diese in den Kontext der Produktentstehung bzw. des Produktlebenszyklus einzuordnen. • Sie können erklären, warum die Produktplanung eine überragende Bedeutung für den Unternehmenserfolg hat. • Sie können die Teilschritte Analyse der Produktposition, Analyse der Kunden und Wettbewerber, Markt- und Technologieplanung, Ideengenerierung sowie Auswahl erläutern und Beispiele dafür geben, was in diesen Arbeitsschritten gemacht wird. 2

Ferner ist es für dieses Kapitel wichtig, dass die Produktentwicklung nicht zwingend wie in Kapitel 1 diskutiert ein materielles Produkt hervorbringen muss. Auch für immaterielle Produkte, Dienstleistungen oder Geschäftsideen sind die Ausführungen anwendbar. Die Konkretisierung der Produktidee, die nach Abbildung 2.2 am Anfang des Produktentstehungsprozess und damit auch der Entwicklung steht, liefert vor dem Hintergrund der Anforderungen des Marktes und unter Berücksichtigung der Fähigkeiten des Unternehmens ein erstes Bild des neuen Produkts. Dieses Bild beschreibt, was das neue Produkt leisten oder besser machen soll als der Vorgänger und was es kosten darf. Die Produkt- und Geschäftsfeldsplanung erfolgt unter Einbeziehung von Organisationseinheiten wie z. B. Marketing und Vertrieb und setzt sich mit Absatzmöglichkeiten und Preisen auseinander. Diese Details sprengen jedoch den hier Rahmen, der Fokus liegt auf der Erarbeitung der Produktidee als Startpunkt der Produktentwicklung.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Kirchner, Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61762-5_2

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24

2 Produkte planen

Abb. 2.1 Zentrale Begriffe der Produktplanung

Abb. 2.2 Der Prozess der Produkt- und Geschäftsfeldplanung als Start in den Produktentstehungsprozess

Die Spezifikation der technischen Anforderungen an das Produkt im Rahmen der Projektdefinition als erster Schritt der Produktentwicklung ist in Kapitel 3 beschrieben. Aufbauend auf der Produktidee und der formalisierten Beschreibung der Anforderungen folgt die Planung eines Projekts zur Strukturierung der Produktentstehung in Kapitel 4. Als weiterführende Literatur sei außer auf die in diesem Kapitel genannten Referenzen zur Produktentwicklung beispielhaft auf das Thema Projektmanagement bei ALBERS & HERRMANN [12] oder EVERSHEIM [73] verwiesen. Weiterführende Informationen zum Marketing und zur Betriebswirtschaftslehre finden sich beispielsweise bei KRAME & KRAMER, KREUTZER oder SPECHT [143, 146, 207].

2.1 Notwendigkeit neuer Produkte

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Abb. 2.3 Der Produktlebenszyklus erfordert Nachfolgeprodukte

2.1 Notwendigkeit neuer Produkte Die Notwendigkeit neuer Produkte ergibt sich meist aus dem Lebenszyklus der aktuellen Produkte, vgl. Abbildung 2.3, dem Produktlebenszyklus1 . Typischerweise verursacht ein Produkt während der Entwicklung und Markteinführungsphase zunächst Kosten, denen kein Erlös entgegensteht; das neue Produkt verursacht einen Verlust. In der Wachstumsphase überschreiten dann die Erlöse aus dem neuen Produkt erstmalig die bis dahin kumulierten Kosten, es kommt zum sogenannten Break Even Point, an dem die kumulierten Kosten mit den kumulierten Erlösen im Gleichgewicht sind, vgl. auch Abschnitt 8.3. Es schließt sich die Reifephase an, bis schließlich die Sättigung eintritt; der Absatz und damit die Erlöse werden wieder geringer, der Beitrag des Produktes zum Unternehmensgewinn sinkt merklich. Meist startet die Entwicklung der Nachfolgegeneration bereits, wenn das laufende Produkt die Sättigungsphase noch nicht erreicht hat und mit seinem Gewinn die Entwicklung der Nachfolgegeneration mitfinanziert. Der Wiederanstieg des Umsatzes in Abbildung 2.3 ist meist bereits auf die Markteinführung der Nachfolgegeneration zurückzuführen. Als Beispiel für den Zusammenhang zwischen dem Absatz und der Entwicklung und Produktion von Nachfolgegeneration ist in Abbildung 2.4 oben der jährliche 1

Der Produktlebenszyklus einer Produktgeneration ist vom Produktlebenslauf des einzelnen Produkts zu unterscheiden, im Englischen wird trotz der unterschiedlichen Bedeutung der Begriffe für beide der Ausdruck Product Life Cycle verwendet.

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Abb. 2.4 Verkaufszahlen des Volkswagen Passat in Deutschland für die Jahre 2001 bis 2013 und Vergleich mit den Produktgenerationen von 1973 bis 2014

Absatz im deutschen Markt für die verschiedenen Generationen des VW Passat gezeigt. Abgesehen von der insgesamt rückläufigen Tendenz der Absatzzahlen ist zu erkennen, dass die wiederkehrenden leichten Anstiege der Absatzzahlen mit der Einführung neuer Fahrzeuggenerationen korrelieren. Es ist weniger wichtig für den Absatz, ob die Produkte vollkommen neu entwickelt oder nur modifiziert wurden: Für den normalen Kunden und damit dem Gros der potentiellen Käufer ist ein neues Fahrzeug als Statussymbol attraktiver als das alte Modell. Wichtig ist dabei in erster Linie für den normalen Kunden die optische Differenzierung zwischen dem aktuellen Modell und dem Vorgänger, z. B. zwischen der roten Fahrzeugvariante B7 und der weißen B6 links unten in Abbildung 2.4.

2.2 Identifikation neuer Produkte

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Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die kontinuierliche Weiterentwicklung materieller und immaterieller Produkte für ein Unternehmen eine notwendige Voraussetzung ist, um sich nachhaltig im Markt durchsetzen zu können. Dabei kommen die verschiedenen Konstruktionsarten – Neu-, Anpassungs- und Änderungskonstruktion – zum Einsatz, die in Abbildung 1.9 eingeführt wurden, um im Rahmen der wirtschaftlichen Möglichkeiten bzw. der notwendigen Fokussierung der Entwicklungsarbeit ein als neu wahrgenommenes Produkt zu erarbeiten. Neue Produkte sind jedoch noch keine hinreichende Voraussetzung für Erfolg. Eine zuverlässige Prognose der Absatzzahlen ist der Schlüssel zu einer realistischen Abschätzung der zu erwartenden Umsätze bzw. Erlöse aus dem neuen Produkt. Bei einer zu niedrigen Schätzung der Absatzzahlen besteht die Gefahr einer schlechten Rentabilitätsbewertung eines neuen Produkts, bei zu hoch geschätzten Absatzzahlen ergibt sich eine zu positive Bewertung der Erlöse, die sich in zu hohen Entwicklungs- und Produktionskosten niederschlagen kann. Für Details sei auf die wirtschaftswissenschaftliche Literatur verwiesen, vgl. z. B. [162].

2.2 Identifikation neuer Produkte Die Frage, welche neuen Produkte für Unternehmen interessant sind, ist Gegenstand der strategischen Produktplanung. Die Produktplanung umfasst auf der Grundlage der Unternehmensziele die systematische Suche und Auswahl zukunftsträchtiger Produktideen und deren weitere Verfolgung. So lassen sich einige Kriterien angeben, die Indikatoren für den möglichen Projekterfolg, aber keine Garantie hierfür sind.

2.2.1 Strategische Produktplanung Zunächst ist es von Bedeutung, dass das neue Produkt am Markt nachgefragt wird; idealerweise identifiziert man für das neue Produkt sogar ein Angebotsdefizit, das derzeit weder vom eigenen Unternehmen noch von den Wettbewerbern bedient wird, vgl. Abbildung 2.5. Die entsprechenden Teilsegmente des Marktes sind in der Abbildung mit 1 bzw. 2 gekennzeichnet und grün bzw. gelb hinterlegt. Ferner ist es wichtig, dass das eigene Unternehmen zur Herstellung dieses neuen Produkts einen Technologievorsprung gegenüber den Wettbewerbern besitzt und diesen weiter ausbauen will, z. B. im Rahmen einer Patentinitiative oder durch Investitionen in neue Produktionsanlagen bzw. deren Automatisierung. Somit ist es denkbar, ein Produkt anzubieten, das am Markt nachgefragt wird, für das ein Angebotsdefizit besteht, für das es wenig Wettbewerber gibt und welches für das eigene Unternehmen einen deutlichen Vorsprung gegenüber dem Wettbewerb bedeuten kann.

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Abb. 2.5 Strategische Produktplanung – Erläuterungen der farbigen Bereiche im Text

Dieser Idealzustand für die Entwicklung eines neuen Produkts ist in Abbildung 2.5 als Bereich 1 grün markiert. Weniger erfolgversprechend wird die Situation bereits, wenn ein Wettbewerber technologisch gleich gut ist und man sich durch den Technologievorsprung nicht differenzieren kann, vgl. Bereich 2 in Abbildung 2.5. Für die Bereiche 3 und 4 hingegen ist eine Produktentwicklung nicht mehr zu empfehlen, da man entweder keinen Technologievorsprung nutzen kann oder es kein Angebotsdefizit gibt und man jeweils mit starkem Wettbewerb rechnen muss, was häufig zu schlechteren Preisen2 führt. Diese eher qualitative Argumentation wird im Folgenden anhand von Modellen der strategischen Produktplanung weiter konkretisiert. Die Produktplanung umfasst die folgenden Arbeitsschritte • • • •

Analyse der Produktposition, vgl. Abschnitt 2.2.2, Markt- und Technologieplanung, vgl. Abschnitt 2.2.3, Analyse der Kunden und Wettbewerber, vgl. Abschnitt 2.2.4, Ideengenerierung und Auswahl, vgl. Abschnitt 2.2.5,

die in den nachfolgenden Abschnitten erläutert werden.

2

Es kann sinnvoll sein, Punkte der Ausprägungen 3 bzw. 4 in Abbildung 2.5 trotz der schlechten Wirtschaftlichkeit anzubieten bzw. entsprechende Projekte anzunehmen, wenn diese Projekte für die eigene Firma der Schlüssel zu größeren, lukrativen Projekten sind. Derartige Mischkalkulationen durch gebündelte Vergabe sind z. B. in der Automobilbranche üblich.

2.2 Identifikation neuer Produkte

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Abb. 2.6 Boston Portfolio-Matrix

2.2.2 Analyse der Produktposition – Boston Portfolio-Matrix Bevor ein Unternehmen die Entwicklung neuer Produkte anstößt, liegt es nahe die Geschäftsmöglichkeiten mit den bereits etablierten Produkten auszuschöpfen. Ferner ergeben sich auch aus der kritischen Analyse der Stellung der aktuellen Produkte im Wettbewerb wertvolle Hinweise zur Gestaltung des künftigen Produktportfolios. Abbildung 2.6 zeigt ein qualitatives Beispiel eines Produktportfolios, für das auch die Bezeichnung Portfolio Matrix oder Boston-Matrix verwendet wird. Die Portfoliomatrix wird detailliert in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur beschrieben, z. B. [195]. Das Produktportfolio zeigt die aktuelle Stellung von Produkten (graue Kreise) in Bezug auf ihr Marktwachstum und ihren Marktanteil und lässt Schlüsse auf die Notwendigkeit von Produktoptimierungen und -innovationen bzw. die Position der Produkte in ihrem Produktlebenszyklus zu. Das Marktwachstum wird dabei basierend auf den Verkaufszahlen des eigenen Produkts und der Kenntnis der Weiterentwicklung der Wettbewerbsprodukte im Rahmen der Absatzplanung abgeschätzt. Im Laufe eines Produktlebenszyklus verschiebt sich die Position der Produkte meist im Uhrzeigersinn beginnend von der Position im Quadrant I (poor dog) durch Wachstum in den Quadrant II. Die Bezeichnung question mark deutet an, dass der Durchbruch noch nicht erreicht ist, der Marktanteil des Produkts ist noch zu niedrig. Setzt sich das Produkt am Markt durch, wird es zum star mit häufig hohem Wachstum und guter Gewinnentwicklung, Quadrant III. Sobald sich das Produkt am Markt auf hohem Niveau stabilisiert hat, wird es als cash cow bezeichnet und im Quadrant IV verortet. Ein hoher Marktanteil und ein guter Deckungsbeitrag sichern auf gleichbleibendem Niveau Umsatz und Gewinn.

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2 Produkte planen

Abb. 2.7 Zur Entstehung von Innovationen (In Anlehnung an [5])

In der Sättigungsphase kommt der Rückgang des Marktanteils zurück in den Quadranten I. Wurde die Zielsetzung des Produkts verfehlt, so bleibt die Wachstumsphase aus und das Produkt verharrt im Quadranten I. Die Ausführungen zur Boston Portfolio-Matrix motivieren die folgende Definition, vgl. [5, 205], um den Charakter von Innovationen umfassend zu beschreiben, wie in Abbildung 2.7 dargestellt: Definition 8 Innovation Eine Innovation ist die erfolgreiche, nachhaltige Realisierung einer Neuheit, einer kreativen Idee oder Invention mit erweitertem Kunden- und Herstellernutzen. 3

Innovationen setzen somit nach Definition 8 in Anlehnung an [205] zumindest mittelfristig einen Markterfolg voraus und können somit erst retrospektiv als solche klassifiziert werden, wenn sich das Produkt am Markt durchsetzen konnte, vgl. Abbildung 2.7.

2.2.3 Markt- und Technologieportfolio Mit dem in Abbildung 2.8 skizzierten Wechsel vom Verkäufer- zum Käufermarkt und dem damit verbundenen wachsenden Wettbewerbsdruck müssen sich Unternehmen permanent an den Kundenbedürfnissen orientieren. Während in den 1940er Jahren kriegsbedingt Mangelwirtschaft herrschte, so müssen mittlerweile die Verkäufer ihre Produkte bewerben, teils mit Rabatten verkaufen und können diese nicht einfach an die Meistbietenden verteilen. Die Orientierung an den Kundenbedürfnissen beginnt bei der Bestimmung der Zielgruppe, führt über die systematische Analyse von Kundenbedürfnissen und die frühe Einbindung der Kunden in die Produktentwicklung, bis hin zur umfassenden Betreuung der Kunden in der Nutzungsphase, vgl. [207].

2.2 Identifikation neuer Produkte

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Abb. 2.8 Entwicklung der Märkte seit den 1940er Jahren vom Verkäufermarkt zum Käufermarkt (Eigene Darstellung aufbauend auf [5])

Die Orientierung an den Wettbewerbern und ihren Produkten dient der Standortbestimmung des eigenen Unternehmens hinsichtlich bestehender Differenzierungsmerkmale, künftig realisierbarer Differenzierungspotentiale sowie attraktiver Imitationsmöglichkeiten sowohl im Sach-, als auch im Dienstleistungsbereich. In Verbindung mit der genauen Analyse der Kundenbedürfnisse können auf diese Weise Wettbewerbsvorteile3 gesichert, ausgebaut oder neu generiert werden. Falsches Antizipieren der zukünftigen Marktentwicklung kann zu katastrophalen Fehlentscheidungen führen, so hat z. B. Nokia den Trend zum Smartphone verpasst. Nach den Jahren 1998 bis 2011 als Marktführer in der Telekommunikationsbranche verschwand die Marke Nokia zeitweise fast völlig vom Markt, den Markennamen nutzt heute der einstige Wettbewerber Microsoft. Bei der Produkt- und Prozessplanung – also auf strategischer Ebene – sind der Absatzmarkt, die eigenen Produkte und die des Wettbewerbers sowie die künftige technologische Entwicklung von essentieller Bedeutung.

3

Das Sichern von Wettbewerbsvorteil erfolgt z. B. durch Patente. Eine Patentfamilie beschreibt den gleichen Inhalt für verschiedene nationale Gültigkeitsbereiche – D, GB, US, CN usw. – , eine Gruppe von Patenten beschreibt verschiedene Lösungsmöglichkeiten, bei denen häufig auch naheliegende Umgehungslösungen geschützt werden. Neuheitsschädliche Sperrveröffentlichungen nehmen dem Wettbewerber die Möglichkeit, neue Schutzrechte anzumelden, da die Veröffentlichung den Erfindungsgegenstand neuheitsschädlich vorwegnimmt.

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a)

2 Produkte planen

b)

Abb. 2.9 Markt- und Technologieportfolio – die Durchmesser der Kreise entsprechen den Umsätzen der fiktiven Produkte

2.2.4 Analyse der Kunden und Wettbewerber Eine zentrale Rolle für den Erfolg eines Produktes am Markt spielen die Wünsche der Kunden. Wie zuvor diskutiert bieten vor allem nicht befriedigte Wünsche der Kunden ein hohes Potential für neue Produkte. Die Kundenwünsche können durch direkte Befragungen in persönlichen oder telefonischen Interviews oder bei einem größeren Kundenkreis mittels realer oder virtueller Fragebögen erhoben werden. Aber nicht nur das eigene Unternehmen bemüht sich um die Kunden, sondern natürlich auch der Wettbewerb. Dementsprechend erschließen sich eventuell auch aus den Aktivitäten der Wettbewerber sehr interessante Informationen. Hierzu können mithilfe von Recherchen öffentlich zugängliche Dokumente wie Geschäftsberichte, Kataloge, Web-Seiten, Unternehmensstatistiken, Messeauftritte sowie Presseveröffentlichungen und Publikationen in der Fachliteratur, aber auch neue Patentanmeldungen ausgewertet und verwertet werden. Die Grenzen bei der Analyse der Wettbewerber sind mehrheitlich ethischer Art. Die Tatbestände der Geschäftsspionage und der Produktpiraterie werden in vielen Unternehmen sehr eng interpretiert und werden häufig in intern wie extern geltenden Verhaltensregeln für die Mitarbeiter – im Englischen als Business Code of Conduct bezeichnet – geregelt, vgl. z. B. [18, 52, 206]. Diese firmeninternen Regelwerke beschreiben verkürzt, dass die Grenzen der legalen Marktrecherche überschritten werden, wenn die Rechte Dritter leiden. Die Regeln unterbinden so Preisabsprachen und Kartellbildung und schützen das geistige Eigentum. Auch interne Informationen – wie etwa gegenüber dem Wettbewerb gewonnene und verlorene Aufträge samt Stückzahlen und weiterer Angaben zum Lieferumfang sowie möglichst auch der Konditionen (Preis, Nachlass, Gewährleistung etc.) – sind hier von Interesse, soweit diese im Rahmen der gesetzlichen Randbedingungen zugänglich sind.

2.2 Identifikation neuer Produkte

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Um die strategische Position am Markt zu bestimmen, kann die eigene Wettbewerbsstärke in Relation zu der Attraktivität der bedienten Märkte gesetzt werden. Um den Zusammenhang zwischen eigener Wettbewerbsstärke und Marktattraktivität übersichtlich darzustellen, bietet sich das Marktportfolio an, vgl. Abbildung 2.9.a. In diesem wird die Marktattraktivität über der Unternehmensstärke im Wettbewerb meist in Form einer qualitativen Darstellung aufgetragen. Ziel des Marktportfolios ist die Bewertung eines Produkts hinsichtlich seiner Attraktivität im Vergleich mit dem direkten Wettbewerb. Häufig wird der Umsatz mit den einzelnen Produkten durch die Größe der kreisförmigen Eintragungen im Portfolio symbolisiert. Nach [126] versteht man dabei, vgl. Abbildung 2.9.a, unter der Marktattraktivität das finanzielle Marktvolumen, dessen prognostizierte Entwicklung – wachsend oder schrumpfend – und die Intensität des Wettbewerbs, meist gemessen an der Zahl der potentiellen Wettbewerber für ein spezielles Produkt. Die Wettbewerbsstärke fasst den Marktanteil des Produkts, seine Entwicklungschance, das Differenzierungspotential sowie dessen Profitabilität zusammen. Dabei werden zur Ermittlung von Marktattraktivität und Wettbewerbsstärke nur marktrelevante und produktspezifische Größen herangezogen. Analog dazu wird im Technologieportfolio die technologische Positionierung des Produktes vorgenommen, vgl. Abbildung 2.9.b. Die Technologieposition beschreibt die Umsetzungsstärke des Unternehmens bezogen auf ein spezifisches Produkt, die sich im Wesentlichen in Vorteilen der Fertigungstechnologie sowie einem umfassenden Patentschutz niederschlägt. Unter Technologieattraktivität wird der Reifegrad des Produktes verstanden, d. h. die Akzeptanz der Technologie im Markt. Als ein Beispiel kann hier die Brennstoffzellentechnologie herangezogen werden, die technisch voll entwickelt ist, derzeit aber für die Anwendungen im Bereich der Kraftfahrzeugtechnik noch wenig attraktiv erscheint, da die notwendige Infrastruktur zur flächendeckenden Versorgung mit Wasserstoff über ein Tankstellennetz noch nicht gegeben ist. Die im Markt angebotenen Brennstoffzellenfahrzeuge bleiben ohne Infrastruktur ein Nischenprodukt, die Technologieattraktivität ist derzeit noch nicht ausreichend. Für die beiden in Abbildung 2.9 gezeigten Portfoliodarstellungen gilt gleichermaßen die Aussage, dass Produkte generell im oberen rechten Quadranten des Portfolios anzustreben und auszubauen sind. Produkte im linken unteren Segment des Portfolios, d. h. Produkte in wenig attraktiven, hoch umkämpften Märkten bei meist schlechter Profitabilität, sollten aufgegeben werden, solange diese nicht als direkte Schlüssel zu anderen Produkten bzw. zu profitablem Umsatz angesehen werden können. Für die in den beiden Portfolios mit den Ziffern 2 und 3 markierten Produkte ist zu überprüfen, ob diese für den Markt attraktiver gestaltet werden können oder ob mit einer anderen Fertigungstechnologie Vorteile gegenüber dem Wettbewerb zu erzielen sind. Bei [126] werden die beiden in Abbildung 2.9 gezeigten Portfoliodarstellungen weiter zu einem einzigen Diagramm verdichtet, was aber für die Interpretation der Produktposition und die zielgerichtete Ableitung und Umsetzung von Maßnahmen in der Produktentwicklung keine deutlichen Vorteile bietet.

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2 Produkte planen

2.2.5 Market Pull und Technology Push Die Generierung innovativer Produkt- und Prozessideen kann sowohl durch die zweckorientierte Nachfrage der Kunden als sogenannter Market Pull als auch durch den eher mittelorientierten Technologieschub der unternehmensinternen Leistungspotentiale Technology Push induziert werden. Hierbei entscheiden letztendlich jedoch immer die Passgenauigkeit von Unternehmensstärken und Marktchancen über den Erfolg der jeweiligen Innovation, vgl. [187] oder [207]. Als ein Beispiel für Produkte, die sich infolge von Market Pull durchgesetzt haben, kann man moderne Smartphones nennen, die einen deutlichen Mehrwert gegenüber einem konventionellen kabelgebundenen Telefon bieten. Ein weiteres Beispiel für einen Technology-Push aus dem Bereich der Mobilelektronik ist der Entfall der Kopfhörerbuchsen beim Marktführer Apple. Für den Hersteller bot sich die Chance, den Bauraum anderweitig nutzen zu können und über spezielle, drahtlose Kopfhörer ein neues Marktsegment und damit Absatzpotential zu erschließen während der Kunde zunächst keinen Vorteil im Entfall erkennen kann. Die Einführung der Startstoppsysteme im PKW-Bereich hingegen ist als Technology Push einzustufen. Mit dieser Technologie wird für die Firmen bei vergleichsweise kleinen technischen Investitionen ein deutlicher Vorteil hinsichtlich der Emissionsbewertung der Fahrzeuge im Zyklus4 erreicht. Für die Kunden hingegen, denen die notwendigen zusätzlichen Bedienschritte als unkomfortabel erscheinen und diese Schritte nicht ausführen, bietet die Technologie keinen Mehrwert.

4

Im bisherigen sogenannten Neuen Europäischen Fahrzyklus NEFZ konnte durch die StartStopp-Technologie in den Standphasen durch das Abschalten des Verbrennungsmotors ein Emissionsvorteil erzielt werden.

Kapitel 3 Produkte definieren

Dieses Kapitel ist der Vorgehensweise bei der Projektdefinition gewidmet, im Fokus steht die Abstraktion der Aufgabenstellung und die Ermittlung der Anforderungen an das Produkt. Die Annahme in diesem Kapitel ist zunächst, dass die Produktidee mit den verfügbaren Ressourcen prinzipiell umsetzbar ist und dass das künftige Produkt die – in Zusammenhang mit Abbildung 2.5 diskutierten – Anforderungen des Markts erfüllt und mit den unternehmenseigenen Technologien umsetzbar ist. Die Überprüfung der Machbarkeit der Produktidee, d. h. die Verträglichkeit des notwendigen Entwicklungsaufwandes mit den verfügbaren finanziellen und materiellen Ressourcen, wird dann im folgenden Kapitel analysiert, wenn das Produktenwicklungs- oder Produktentstehungsprojekt im Detail geplant und überprüft wird bzw. die Werkzeuge dazu vorgestellt werden. Im Zusammenhang mit der Analyse der Aufgabenstellung und dem Erstellen der Anforderungsliste werden daher die folgenden Lernziele verfolgt.

Lernziele des 3. Kapitels: • Sie wissen, dass es sich bei dem Projektdefinitionsprozess um den Entwicklungsschritt mit der größten Tragweite für das Entwicklungsergebnis und für den Projekterfolg handelt. • Sie kennen die Methoden zum Klären der Aufgabe und können diese selbstständig auf beispielhafte Aufgaben anwenden. • Sie können eine Anforderungsliste erstellen und die notwendigen Methoden anwenden. • Sie wissen, dass die Projektdefinition zwar wesentlich durch die Produktentwicklung initiiert und getragen wird, die Verantwortung für das erarbeitete Ergebnis allerdings bei allen Unternehmensbereichen liegt, die im Rahmen der Produktentwicklung zusammenarbeiten. • Sie wissen auch, dass bei der Projektdefinition einerseits mit unscharfen Informationen gearbeitet wird, die getroffenen Festlegungen andererseits aber Basis für Entscheidungen mit erheblicher Tragweite im Entwicklungsprozess bis hin zum Projektabbruch sein können und Sie können diesen Zusammenhang an einem Beispiel erklären. 2 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Kirchner, Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61762-5_3

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3 Produkte definieren

Abb. 3.1 Zentrale Begriffe des Projektdefinitionsprozesses

Wichtige Begriffe, die in diesem Kapitel besprochen werden, sind in Abbildung 3.1 hierarchisch dargestellt. Insbesondere wird für ein vertieftes Verständnis neben den im Text genannten Referenzen beispielhaft auf die Literatur [13, 51, 65, 118, 181, 235] verwiesen. Wichtig für das Verständnis dieses Kapitels ist, dass im Projektdefinitionsprozess zunächst das Produkt und anschließend das Projekt zur Umsetzung des Produkts definiert und geplant werden.

3.1 Motivation der Projektdefinition Entwicklungsprojekte als Schlüssel zu neuen Produkten müssen gründlich geplant werden, dabei wird der richtige Grad der Detaillierung häufig als so genau wie notwendig und so grob wie möglich beschrieben. Außerdem müssen die Planungsvorgaben im weiteren Verlauf der Entwicklung kontinuierlich überwacht werden, um Abweichungen des Ist-Stand vom Soll-Stand schnell zu erkennen und Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Die Karikatur in Abbildung 1.7 ist in diesem Kontext ein häufig verwendetes Bild; die verschiedenen Projektbeteiligten interpretieren die Wünsche des Kunden falsch, gleich ob aus Gleichgültigkeit, ingenieurmäßiger Detailverliebtheit oder Missachtung der geäußerten Kundenwünsche. Die Ursachen von Fehlentwicklungen im Projektablauf liegen häufig in einer mangelnden Klärung der Aufgabenstellung und unzureichender Kommunikation innerhalb der Projektorganisation. Die Einbettung der Projektdefinition und der vorbereitenden Schritte für ein zielgerichtetes Projektmanagement in den Produktentwicklungsprozess zeigt Abbildung 3.2. Ohne eine sorgfältige Klärung der Aufgabe mit allen Projektbeteiligten, vgl. Abschnitt 3.2, einer gut dokumentierten Anforderungsliste, vgl. Abschnitt 3.3, und ein vorausschauendes und proaktives Projektmanagement unter Zuhilfenahme entsprechender Werkzeuge, Kapitel 4, nützt die beste Produktidee nichts. Das

3.1 Motivation der Projektdefinition

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Abb. 3.2 Schritte der Projektdefinition – Der Projektdefinitionsprozess als Teilschritt des Produktentwicklungsprozesses

Ziel des Projektmanagements im Allgemeinen und des Projektdefinitionsprozesses im Speziellen ist dabei, den Entwicklungsprozess unter Einbeziehung der bestmöglichen Werkzeuge zu steuern, um bei minimalen Entwicklungskosten ein robustes Produkt zu erarbeiten, das der Kunde schätzt. Um der Bedeutung einer geklärten Aufgabenstellung Rechnung zu tragen, ist es unerlässlich vor Beginn der eigentlichen Entwicklungsarbeit zunächst einen Projektdefinitionsprozess zu durchlaufen, in dem das Projekt als Mittel zum Produkt geplant wird. Dieser Projektdefinitionsprozess basiert wie in Abbildung 3.2 gezeigt im Wesentlichen auf drei Arbeitsschritten: 1. Klären der Aufgabenstellung: Zuerst wird die Aufgabenstellung möglichst vollständig, detailliert und präzise erfasst und beschrieben. Dabei kann es wie in diesem Abschnitt ausgeführt durchaus vorkommen, dass die ursprünglich angenommene Aufgabenstellung verändert, ergänzt oder gar verworfen wird, vgl. Abschnitt 3.2. 2. Anforderungsliste erstellen: Die so geklärte Aufgabe wird dann in einer für die Produktentwicklung geeigneten Form dokumentiert. Die Anforderungsliste ist das zentrale, entwicklungsbegleitende Dokument im gesamten Produktentstehungsprozess, siehe Abschnitt 3.3, und kann für Produkt- und Fertigungsentwicklung genauso genutzt werden wie für ein materielles Produkt oder ein Projekt, z. B. die Verlagerung einer Produktionsmaschine.

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a)

3 Produkte definieren

b)

Abb. 3.3 Folgen unzureichender Klärung der Aufgabestellung und Berücksichtigung der Lebenslaufprozesse am Beispiel des im Herbst 2017 eröffneten Martinsbühler Tunnels in Erlangen: Links Tunnel im April 2020, rechts Überflutung und Sperrung nach dem ersten Schneeregen am 12.11.2017

3. Entwicklungsprozess als Projekt planen und managen: Der gesamte Produktentstehungsprozess muss vor Beginn der eigentlichen Entwicklungsarbeit gründlich geplant werden. Diese Planung muss den Entstehungsprozess in einzelne Abschnitte mit klaren Ergebnissen gliedern, diesen Abschnitten Ziele, Zeiten und Ressourcen zuordnen und die Vorgaben für Zeiten, Kosten und Qualität beinhalten, vgl. Kapitel 4. Aufgrund der unterschiedlichen inhaltlichen Ausprägungen – Aufgabenklärung und Anforderungsermittlung versus Projektplanung – sind diese drei Schritte über zwei Kapitel verteilt. Die Klärung der Aufgabenstellung und das Erstellen der Anforderungsliste thematisieren die Abschnitte 3.2 und 3.3 und legen den Fokus auf die Eigenschaften des Produkts. Die Planung der Entwicklungsarbeit ist hingegen Gegenstand des folgenden Kapitels.

3.2 Klären der Aufgabenstellung Dieses dreischrittige Vorgehen – insbesondere die geklärte Aufgabenstellung – bringt im späteren Verlauf des Entwicklungsprozesses eine Reihe von Vorteilen, die jedoch einen erhöhten Arbeitsaufwand in den frühen Phasen der Produktentwicklung erfordern. Die folgenden Vorteile lassen sich allgemein angeben, wenn auch nicht stringent1 nachweisen: • Vermeidung unklarer Ziele als Ursachen zeit- und kostenintensiver Verzögerungen bei späteren Entscheidungsprozessen.

1

Eine stringente Beweisführung ließe sich an dieser Stelle nur durch zweimalige Entwicklung – einmal mit geklärter Aufgabenstellung und entsprechender Anforderungsliste und einmal ohne – des gleichen Produkts realisieren, alternative wissenschaftliche Ansätze finden sich bei [39]. Im akademischen Umfeld werden häufig Projekte von mehreren Teams parallel mit und ohne Methodenunterstützung bearbeitet, um über den empirischen Vergleich die Methodenwirksamkeit nachzuweisen, vgl. z. B. [175] aber auch [183].

3.2 Klären der Aufgabenstellung

39

• Reduktion der Gefahr unnötiger Iterationen und damit verbundener Doppelarbeit aufgrund von Fehleinschätzungen. • Frühzeitige Einbindung der Auftraggeber in den Produktentstehungsprozess und Absicherung des Verständnisses für die richtige Aufgabenstellung. • Nutzung der geklärten Aufgabenstellung und der Anforderungsliste als Richtschnur für ein späteres Abnahmeprotokoll am Projektende. • Bereitstellung einer klaren Arbeitsunterlage für den Produktentwickler für eine effiziente Entwicklungsarbeit. • Maßstab für den Abgleich von geplantem und erzieltem Arbeitsfortschritt und Indikator für Maßnahmen zur Planherstellung bei größeren Abweichungen zwischen Soll und Ist. In Abbildung 3.3 ist ein Beispiel gezeigt, bei dem mit aller Wahrscheinlichkeit nach die fehlende Klärung der Aufgabenstellung und die Berücksichtigung der Umgebungsbedingungen im Betriebsablauf des Produkts – der Brücke – zu großen Problemen führt. Die Pumpen, die nahe der Brücke verbaut wurden, reichen nicht aus, um bei Stark- oder Schneeregen das Wasser, das sich in der Senke unterhalb der Brücke sammelt, wegzupumpen. Die Folge waren anfangs regelmäßige Sperrungen der Brückendurchfahrt bei Starkregen und Nachbesserungen am Bauwerk. Für das Folgende ist es wichtig, ein genaues Verständnis technischer Funktionen zu formulieren, damit man die gewünschte Funktion des Produktes klar beschreiben kann, im zuvor beschriebenen Beispiel die Funktion der Pumpe unter der Brücke. Dazu wird die folgende Definition genutzt: Definition 9 Funktion Der Begriff der technischen Funktion entspricht dem beabsichtigten oder ermöglichten Zweck des technischen Produkts im Sinne der auszuübenden Wirkungen. Die technische Funktion beschreibt den Zusammenhang zwischen Eingabegrößen (Stoff, Energie, Information) – den Ursachen – und Ausgabegrößen – den Wirkungen. 3

3.2.1 Grundlagen der Aufgabenklärung Zu Beginn der Entwicklungsarbeit liegt üblicherweise eine Vorstellung des zu entwickelnden Produktes in Form einer mehr oder weniger detailliert formulierten Produktidee vor. Die Identifikation, Überprüfung und Plausibilisierung der Produktidee im Rahmen der Produktplanung ist Gegenstand von Kapitel 2. Die Aufgabe der Produktentwicklung besteht nun darin, diese Produktidee in eine konkrete und detaillierte Produktdokumentation mit einer klaren Aufgabenbeschreibung des Produkts bzw. der Entwicklungsaufgabe und einer strukturierten Anforderungsliste weiterzuentwickeln. Dabei muss das Produkt so definiert, entwickelt und später produziert werden, dass es allen Anspruchsgruppen nach Abbildung 1.2 gerecht wird. Die in der Industrie oft zitierte Maxime der Kundenorientierung bei Entwicklungsvorhaben darf jedoch nicht dazu führen, dass zu-

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3 Produkte definieren

sätzlich geltende Bedingungen, Gesetze und Verordnungen, welche jedoch die Entwicklungsaufgabe nachhaltig bestimmen, vernachlässigt werden. Ein Entwicklungsprojekt so zu definieren, dass es den gewünschten Erfolg für alle Anspruchsgruppen – häufig am Beispiel von nur zwei Parteien als win-winSituation bezeichnet – bringt, ist also eine ebenso schwierige wie wichtige Aufgabe der Produktentwicklung. Erschwerend kommt hinzu, dass Informationen über Markt, Wettbewerber, Kunden und Kaufverhalten nicht beliebig verfügbar sind und oft nur den derzeitigen Zeitpunkt abbilden, nicht aber die Situation zum Zeitpunkt der Markteinführung. Ferner sind technische oder gesetzgeberische Änderungen durch Patente oder neue Verordnungen2 kaum realistisch abschätzbar. Häufig ist man folglich auf Schätzungen angewiesen, die sich in einem dynamischen Umfeld schnell ändern können und deren Rahmenbedingungen und insbesondere die in diesem Rahmen getroffenen Annahmen gut dokumentiert werden sollten. Infolge der häufigen Notwendigkeit der Schätzung von Eingangsgrößen soll deshalb kein Entwicklungsprojekt ohne gründliche Klärung der Aufgabenstellung und systematische Ermittlung der Anforderungen begonnen werden. Eine umfassende und gründliche Projektdefinition ist die erste und im Grunde genommen wichtigste Phase einer Produktentwicklung, vgl. Abbildung 3.2.

3.2.2 Methoden zur Klärung der Aufgabenstellung Die verschiedenen Methoden zur Klärung der Aufgabenstellung zielen durch systematisches Hinterfragen der Erwartungen aller Anspruchsgruppen nach Abbildung 1.2 und durch die daraus resultierenden Modifikationen bzw. Ergänzungen der Erwartungen auf ein gemeinsames Verständnis der Entwicklungsaufgaben ab. Dies impliziert insbesondere, dass alle Projektbeteiligten die gemeinsam identifizierte Aufgabenstellung als ihre eigene Aufgabe erkennen, annehmen und künftig aktiv treiben. Ohne eine klare und von allen akzeptierte Aufgabenstellung für das gemeinsame Projekt ist der Erfolg des Produkts keinesfalls zu erwarten, ebenso wenig ein regulärer Verlauf der Entwicklung oder eine nachhaltige Produktion. Auch wenn es den Anschein hat, dass die genaue Beschreibung der Entwicklungsaufgabe nicht sehr schwierig sein sollte, so erweist es sich in der Praxis immer wieder, dass es sich hierbei um kein triviales Problem handelt. Häufig weiß der Kunde überhaupt nicht, was er benötigt, da er die technischen Möglichkeiten nicht kennt oder er artikuliert seine Wünsche nicht adäquat. Nicht selten 2

Als Beispiel sei auf die Diskussion zur Bestimmung der Abgasemissionen nach der Worldwide harmonized Light vehicles Test Procedure, kurz WLTP, verwiesen, über deren Inkrafttreten mehrere Jahre lang spekuliert wurde, vgl. z. B. https://www.vda.de/de/themen/umwelt-undklima/WLTP-realitaetsnaehere-Ergebnisse-beim-Kraftstoffverbrauch/WLTP-Wieso-ein-neuesTestverfahren.html.

3.2 Klären der Aufgabenstellung

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ist der Grund schlicht die mangelnde Auseinandersetzung mit der Produktidee bzw. dem Projektziel, vgl. Abschnitt 2.2. In vielen Fällen wird auch aus falsch verstandener Geheimhaltung nicht über die wichtigsten Details gesprochen. Das Erstellen einer beidseitigen Geheimhaltungsvereinbarung zu Projektbeginn ist ein notwendiges Zeichen des guten Willens und nicht von Misstrauen. Das Klären der Aufgabenstellung hat also folgende Ziele: • Das Entwicklerteam erfasst und beschreibt den wesentlichen Kern der Aufgabe und versteht, welches Ziel verfolgt wird und welche Probleme der Realisierung im Weg stehen können. • Es wird überprüft, ob die Aufgabenstellung richtig gewählt wurde oder ob eine geänderte Aufgabenstellung zu einem besseren Produkt führen kann. • Durch den gemeinsamen Zwang, die Aufgabe als für alle Beteiligten akzeptablen Kompromiss zu verschriftlichen, müssen alle ihre individuellen Standpunkte hinterfragen. Dabei soll durch Diskussionen zwischen den Entwicklern und mit den Auftraggebern sukzessive ein immer präziseres Bild von der zu bearbeitenden Aufgabe entstehen, das Verständnis für mögliche Probleme geweckt sowie eine Vorstellung über die angestrebten Ergebnisse geschaffen werden. Auf Basis der Informationen, die in den Projektbesprechungen häufig formlos erarbeitet und zunächst nur protokolliert werden, soll die Entwicklungsaufgabe möglichst kurz, prägnant und präzise formuliert werden. Hilfreich – aber schwierig – ist es oft, diese in einem prägnanten Satz zusammenzufassen. Die Aufgabe wird wie am Beispiel von Abbildung 1.7 verdeutlicht in manchen Fällen weder vom Kunden richtig beschrieben noch vom Auftragnehmer richtig verstanden. Beim Klären der Aufgabe als Einstieg in den Projektdefinitionsprozess, vgl. Abbildung 3.4, wird daher die Produktidee zunächst mehrfach hinterfragt und auf den eigentlichen Kern zurückgeführt um sicherzustellen, dass sie von den Entwicklern verstanden ist und auch das richtige Produkt definiert wurde, vgl. Abbildung 1.7 unten rechts. Dieser Prozess ist besonders auf das Verständnis der Aufgabe und auf eine möglichst abgesicherte und präzise Formulierung der Aufgabenstellung ausgerichtet. Im Rahmen der Aufgabenklärung werden die Vorgaben der verschiedenen Interessensgruppen, vgl. Abbildung 1.2, systematisch hinterfragt: • Was ist das eigentliche Problem, das der Endkunde mit dem Erwerb des Produkts bzw. der Inanspruchnahme einer Dienstleistung lösen will? Was ist das Problem bzw. die Motivation des Kunden, was will er erreichen? • Sind die Kundenwünsche tatsächlich in der formulierten Beschreibung repräsentiert oder verbirgt sich dahinter eine andere Absicht, die unbewusst nicht vom Kunden artikuliert wird? • Zieht der Kunde wirklich den maximalen Nutzen aus dem angedachten Produkt. Kann vielleicht eine Ausweitung oder Eingrenzung der Entwicklungsaufgabe ein neues Produkt mit zusätzlichem Kundennutzen ergeben oder sich

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3 Produkte definieren

Abb. 3.4 Arbeitsschritte im Projektdefinitionsprozess

das Produkt bei geringfügiger Modifikation der Entwicklungsaufgabe günstiger herstellen lassen? • Welche Bedeutung und welchen Stellenwert hat das Projekt bzw. das Produkt für den Kunden bzw. für sein Unternehmen? • Welche Bedeutung und welchen Stellenwert hat das Projekt bzw. das Produkt für das eigene, produzierende oder entwickelnde Unternehmen? • Welche Geltungsfunktionen, vgl. Abschnitt 8.5, weist das Produkt auf und lässt sich damit ein höherer Preis rechtfertigen, den der Kunde akzeptiert? Das Klären der Aufgabenstellung liegt im ureigenen Interesse der Produktentwicklung und wird deshalb i.d.R. von der Entwicklungsabteilung initiiert und wird maßgeblich von den Entwicklern moderiert. In den Klärungsprozess einbezogen werden dabei im Allgemeinen folgende Projektbeteiligte: • Produktentwickler, die anschließend mit der Entwicklung des Produktes beauftragt werden, denn so erhalten sie Informationen aus erster Hand und haben die Möglichkeit, direkt ihre Fragen zu adressieren. • Aufgabensteller oder Verantwortliche für die Aufgabe, die Informationen zur Zielsetzung und Hintergrundinformationen liefern. Da Aufgabenstellungen oft durch Kunden initiiert werden, stellen üblicherweise die Unternehmensleitung sowie Marketing und Vertrieb die Ansprechpartner für die Aufgabenklärung dar. • Nach Möglichkeit Mitarbeiter aus weiteren Abteilungen, die fallweise hinzugezogen werden, wenn z. B. technische Schwachstellen den Anstoß zu einer Überarbeitung eines Produkt geben. Dann sind Mitarbeiter des Kundendienstes und des Service wichtige Ansprechpartner, da diese den umfassendsten und detailliertesten Überblick über auftretende Probleme haben. • Mitarbeiter aus den Bereichen Produktionsplanung, Logistik und Einkauf, um die Belange der Wertschöpfung und des Materialflusses zu berücksichtigen. • Ein oder mehrere (potentielle) Kunden, deren Einbeziehung in die Gespräche zwar grundsätzlich sinnvoll, aber nicht immer machbar und auch mit Blick auf Abstraktionsvermögen und Methodenkompetenz nicht ganz unkritisch ist.

3.2 Klären der Aufgabenstellung

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Die Erfolgsfaktoren für die Aufgabenklärung liegen hauptsächlich in einer gezielt geführten Diskussion. Hier greifen die unterstützenden Methoden an, vgl. Abbildung 3.4 und Tabelle 3.1, von denen die wichtigsten Ansätze zur Aufgabenklärung hier besprochen werden: • Fragencheckliste zur Aufgabenklärung, vgl. Abschnitt 3.2.3, • Abstraktion der Aufgabenstellung, vgl. Abschnitt 3.2.4, • Modellierung der Nutzungsprozesse (Prozessmodell), vgl. Abschnitt 3.2.5. Tabelle 3.1 fasst die Methoden zusammen und enthält einige knappe Kommentare, welche bei der Entscheidung zur Methodenauswahl helfen können.

3.2.3 Fragencheckliste zur Aufgabenklärung Das Werkzeug Fragencheckliste zur Aufgabenklärung beruht auf dem Prinzip, die Aufgabenstellung als Ganzes zu sehen und bereits erkennbare Details und Hintergründe kritisch zu hinterfragen sowie lösungseinschränkende Vorfixierungen zu vermeiden. Diese lösungseinschränkenden Vorfixierugen sind typisch für mangelndes methodisches Vorgehen, auch die stereotype Aussage Das haben wir schon immer so gemacht gehört zu diesen Vorfixierungen; Innovationen sind dann kaum zu erwarten. Die Aufgabenklärung mit Hilfe der in Abbildung 3.5 dargestellten Fragencheckliste stellt eine einfache Methode dar, um die Diskussion bei der Aufgabenklärung gezielt und umfassend zu führen und zu moderieren. Mit Hilfe einer Liste vorformulierter Fragen wird – meist angeleitet durch einen Moderator – die Diskussion zielgerichtet und schrittweise auf unterschiedliche Aspekte der Aufgabe gelenkt, die zum Verständnis der Aufgabenstellung hilfreich sind. Die Fragen dienen dabei als Gedächtnisstütze und sind hauptsächlich als Anregung zum Nachdenken zu verstehen, so dass die Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann und an Produkt und Unternehmen sowie an den Erfahrungsschatz des Teams angepasst werden sollte.

Tabelle 3.1 Methoden zum Klären der Aufgabenstellung

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3 Produkte definieren

Abb. 3.5 Fragenliste zur Aufgabenklärung

Aus der Beantwortung der unterschiedlichen Fragen können eine formlos formulierte Entwicklungsaufgabe sowie wichtige Anforderungen für das Erstellen der Anforderungsliste abgeleitet werden.

3.2.4 Abstraktion der Aufgabenstellung Die erste Formulierung von Entwicklungsaufgaben enthält oft schon unter dem Eindruck von offensichtlichen ökonomischen oder technischen Schwächen oder getrieben durch Fixationen beteiligter Personen konkrete Lösungsvorschläge. Diese schränken die Möglichkeiten der Lösungssuche ein und erhöhen das Risiko, das optimale Produkt zu verfehlen. Um dieser Problematik bewusst entgegenzuwirken kann die Methode der Abstraktion der Aufgabenstellung angewendet werden. Die Abstraktion ist dabei das bewusste Reduzieren einer Aufgabenbeschreibung, um Aspekte, welche am Kern der Aufgabe gemessen unwesentlich sind, wegzulassen. Diese Abstraktion kann durch folgende Strategien erreicht werden, Abbildung 3.6 verdeutlicht die Wichtigkeit der Abstraktion der Aufgabenstellung anhand verschiedener Lösungen derselben Entwicklungsaufgabe: • Weglassen von erläuternden oder präzisierenden Attributen: Entwickle ein Garagentor anstelle von Entwickle ein hochklappbares Garagentor. • Umformulieren der konkreten Aufgabe in eine übergeordnete Problemlösung: Entwickle eine Zugangssicherung für PKW-Garagen statt Entwickle ein Garagentor.

3.2 Klären der Aufgabenstellung

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Abb. 3.6 Lösungen der Aufgabe Entwickle ein Garagentor

• Zusammenfassen von Subsystemen zu übergeordneten Systemen: Entwickle einen sicheren Diebstahlschutz für PKWs statt Entwickle eine Zugangssicherung für PKW-Garagen. Anhand von Abbildung 3.6 ist offensichtlich, dass sich die Vorfixierung eines hochklappbaren Garagentors mögliche funktionsgleiche Varianten von links nach rechts mit vertikaler Rollmechanik, mit außen liegenden, horizontal drehenden Halbtoren oder mit horizontaler Schiebemechanik ausgeklammert wurden. Die schrittweise Abstraktion erweitert das mögliche Lösungsfeld kontinuierlich. Die Abstraktion der Aufgabenstellung führt zum Kern der Aufgabe und damit zum eigentlich Zweck des Produkts und zu dem, was der Kunde wirklich will, vgl. Abbildung 1.7. Damit werden Vorfixierungen auf bestimmte Lösungen oder Lösungsideen aufgelöst und der Blick auf ein weiter gefasstes Lösungsfeld ermöglicht. Daher sind auch die meisten in Abbildung 1.7 gezeigten Varianten Lösungen entsprechend der weiter gefassten Aufgabe des Kunden, viele gehen aber teils deutlich an den Anforderungen an das eigentliche Produkt vorbei. In diesem Zusammenhang ist beim Abstrahieren kontinuierlich zu prüfen, ob man den sinnvollen Betrachtungsrahmen für das Produkt verlässt; am Beispiel von Abbildung 3.6 wird ein Hersteller von Garagentoren kaum über elektronische Wegfahrsperren als Lösung der abstrahierten Aufgabenstellung nachdenken. Betrachtet man die in Abbildung 3.7 dargestellte Aufgabe, einen neuen Wagenheber für einen PKW zu entwickeln, so erkennt man, dass nahe liegende Lösungen die benötigte Energie zum Anheben des Fahrzeugs auf unterschiedliche Art aufbringen, wenn man sich vom ersten Bild eines Wagenhebers gedanklich löst und die Aufgabe unter Zuhilfenahme eines Black-Box-Modells betrachtet. Mit zunehmender Abstraktion wird man zunächst den Lösungsraum auf weitere, verfügbare Energieformen ausdehnen. Abstrahiert man die Aufgabe weiter, muss nicht das ganze Fahrzeug, sondern lediglich das zu wechselnde Rad angehoben werden, was z. B. mit einer hydropneumatischen Federung möglich ist. Geht man beim Abstrahieren noch weiter, so kommt man zu Lösungen, welche das zugrunde liegende Problem – im Beispiel des Wagenhebers den Reifen zu wechseln – vollständig vermeiden, z. B. pannensichere Reifen mit guten Notlaufeigenschaften3 . In mehreren Stufen kann so durch zunehmende Abstraktion der Aufgabenstellung das Lösungsfeld erweitert werden, wobei jedoch die Lösungsvielfalt nicht zwingend auf die im Unternehmen umsetzbaren Lösungen beschränkt ist. 3

Siehe auch Abbildung 7.14.

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3 Produkte definieren

Abb. 3.7 Abstraktion der Aufgabenstellung am Beispiel eines PKW-Wagenhebers (AS=Abstraktionsstufe)

Bei der Abstraktionsmethode ist es daher ratsam, den Grad der Abstraktion schrittweise zu erhöhen und dabei immer wieder zu überprüfen, ob die so erreichte Aufgabenformulierung noch sinnvoll ist oder ob man sich zu stark von dem Entwicklungsziel entfernt hat. Man kommt jedoch schnell zu Lösungen, die jede Realisierungschance vermissen lassen, was bei den Teilnehmern zu Unverständnis oder auch Unmut führen kann, was aber den Prozess der gedanklichen Lösung von getroffenen Vorfixierungen vorantreibt. Wichtig ist auch das Verständnis, dass das Abstrahieren von Aufgabenstellungen erhebliche Ansprüche an das Vorstellungsvermögen der Anwender und an deren Bereitschaft stellt, auch scheinbar abwegige Ideen anzudenken und zu diskutieren.

3.2.5 Modellierung der Nutzungsprozesse mit dem Prozessmodell Das Arbeiten mit dem Modell technischer Prozesse, dem sogenannten Prozessmodell, ist eine sehr umfangreiche und mächtige Methode. Sie wird hier im Hinblick auf die Klärung der Aufgabenstellung in einer sehr verkürzten Form mittels des Prozessstrukturmodell angewendet, eine detaillierte Auseinandersetzung findet sich bei [116]. Die Grundlagen des Modells technischer Prozesse werden hier lediglich verkürzt wiedergegeben. Zunächst lässt sich der Zweck eines Produkts einfach und treffend mit Hilfe von Prozessen während der Nutzung des Produkts – den Nutzungsprozessen – beschreiben. Der Zweck, zu dem das Produkt benötigt wird, wird also gemäß Definition 2 in Form einer Zustandsänderung insbesondere durch den Zielzustand dargestellt bzw. als Endzustand abgebildet. Beispielsweise kauft ein Kunde einen

3.2 Klären der Aufgabenstellung

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Abb. 3.8 Beispiel des Prozesses “Kuchen backen“

Backofen – ein technisches Produkt im Sinne der Produktentwicklung – primär, um den von ihm gewünschten Prozess – im Beispiel in Abbildung 3.8 “Kuchen backen“ – durchzuführen und so z. B. den Zielzustand “fertiger Kuchen auf dem Esstisch“ erreichen zu können. Dabei ist das Backen aber nur ein Teilschritt entlang des Gesamtprozesses von den Zutaten bis zum verzehrfertigen Kuchen und der Backofen wird auch in anderen Nutzungsprozessen4 des Kunden eine zentrale Rolle spielen. Das Prozessmodell besteht aus folgenden Elementen, vgl. Abbildung 3.8: • Ausgangspunkt ist ein Anfangszustand, der für die Durchführung des Prozesses notwendig oder vorgegeben ist und durchaus auch unerwünscht oder gar schädlich sein kann, z. B. kontaminiertes Erdreich. • Der Endzustand stellt das erwünschte Ziel dar, das durch den Prozess erreicht werden soll. Das Objekt liegt dann in der gewünschten Form, dem Ergebnis vor, z. B. chemisch unbedenkliches, natürliches Bodenmaterial. • Eine Zustandsänderung – auch als Zustandstransformation – führt den Anfangsin einen Zwischen- oder Endzustand über. • Ein Nutzungsprozess beschreibt eine zeitlich ablaufende Zustandsänderung und stellt den Produktzweck dar. Dieser Vorgang ist immer zeitbehaftet, dem Prozess kann eine Prozesszeit zugeordnet werden. Die standardisierte Beschreibung von Prozessen erfolgt durch ein Vorgangspfeilnetz, das gerichtet durchlaufen wird, vgl. Abbildung 3.8 bis 3.11. die Prozesse können reversibel oder irreversibel sein. Bei der Beschreibung von Aufgabenstellungen mit Hilfe des Prozessmodells liegen oftmals recht komplizierte Prozesse vor. Das Verständnis für den Gesamtprozess kann maßgeblich unterstützt werden, wenn man diesen in mehrere Teilprozesse aufteilt. Das Aufteilen in Teilprozesse ergibt Prozessstrukturen in Form von Prozessfolgen oder Prozessnetzwerken. Bei der Prozessanalyse werden gegebene Produkte zum besseren Verständnis hinsichtlich der mit ihnen durchführbaren Prozesse untersucht. In Abbildung 3.9 wird das Beispiel “Kuchen backen“ aus Abbildung 3.8 mit Hilfe von Teilprozessen sowie Prozessvariationen dargestellt. Der Gesamtprozess ist oben dargestellt; in der Bildmitte werden die Teilschritte vereinfacht dargestellt. Ferner werden Teilprozesse parallelisiert, häufig motiviert durch eine kürzere Gesamtprozessdauer. Im Beispiel ist der Kuchen durch paralleles Vorheizen 4

Es gibt also am Beispiel des Backofens keine eindeutige Zweck-Mittel-Zuordnung, der Backofen ist ein Mehrzweckgerät.

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3 Produkte definieren

Abb. 3.9 Beispiel einer detaillierten Prozessstruktur am Beispiel “Kuchen backen“

des Ofens und Tischdecken schneller verzehrfertig, Details zur Prozessvariation und den verschiedenen Variationsarten werden in Abschnitt 5.2.3 besprochen. Die Prozessvariationen schließlich zeigen verschiedene Alternativen, welche sich durch den unterschiedlichen Anteil extern erbrachter Leistungen voneinander unterscheiden. Je höher der Anteil der Fremdleistungen, umso höher natürlich auch der Preis für den Kuchen, allerdings ist auch der eigene Zeitaufwand für die Herstellung geringer. Die Suche nach Prozessvarianten mit dem Prozessstrukturmodell, die zum gleichen Endzustand führen und die sich häufig vom als Normal betrachteten Gesamtprozess durch die Nutzung extern erbrachter Leistungen differenzieren, ist ein wichtiges Werkzeug bei der Suche nach alternativen Prozessen als Basis neuer Produkte. Die Folge solcher Prozessvarianten ist häufig die Veränderung der eigenen Wertschöpfung und der Kosten durch die höhere oder auch niedrigere Inanspruchnahme von Fremdleistungen. Die Suche nach Prozessvarianten kann also auch als Mittel zur Erhöhung der eigenen Wertschöpfung, vgl. Abschnitt 5.3.1, oder zur gezielten Reduktion der Arbeitsbelastung des Unternehmens durch Einbindung externer Leistungen eingesetzt werden. Betrachtet man beispielsweise eine Maschine zur CD-Herstellung, wird man zunächst nur die technologisch anspruchsvolle Komponenten und deren Anordnung erkennen, vgl. Abbildung 3.10.a. Vermutlich werden die Funktionswiese und das verwirrende Zusammenspiel den Betrachter beeindrucken, aller-

3.2 Klären der Aufgabenstellung

a)

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b)

Abb. 3.10 Prozessanalyse einer CD-Herstellungsmaschine. a) Ansicht der Maschine (Aus [32]), b) Prozessstruktur

Abb. 3.11 Innovation durch Prozessvariation am Beispiel eines Bohrdübels

dings wird er die Art und Weise, wie die CD hergestellt wird, nicht direkt erkennen. Analysiert man die Maschine mit Hilfe des Prozessmodells, vgl. Abbildung 3.10.b, so wird offensichtlich, dass es sich um einen linearen (sequentiellen) Prozess handelt, wobei die Maschinenkomponenten den einzelnen Prozessschritten fest zugeordnet sind. Mit Hilfe der Prozessvariation kann nun diskutiert werden, ob durch Parallelisieren von Teilprozessen der Durchsatz der Maschine erhöht oder durch Hinzufügen von weiteren Teilprozessen die Wertschöpfung gesteigert werden kann. Das Parallelisieren von Teilprozessen setzt am Teilprozess mit der längsten Taktzeit an, der für die Gesamttaktzeit der Maschine bestimmend ist. Verdoppelt man beispielsweise durch eine zweite Einheit für den langsamsten Teilprozess die Kapazität an der Engstelle, so kann die Gesamtausbringung erhöht und so die Profitabilität gesteigert werden. Mit der Prozessanalyse blendet man bewusst bekannte Produkte und Anwendungen aus, um durch die damit erreichte Fokussierung auf das Wesentliche die unbedingt notwendigen Teilprozesse und ihr Zusammenwirken zu erkennen. Prozessanalyse und Prozessvariation werden bevorzugt bei innovativen Neuentwicklungen eingesetzt. Mit der Prozessvariation können vorhandene Prozessstrukturen hinsichtlich der Anordnung oder Reihenfolge und Ein- bzw. Ausgliederung von Teilprozessen innerhalb der Systemgrenze verändert werden, um neue und vielleicht noch bessere Strukturen zu erzeugen. Betrachtet man beispielsweise die Aufgabe Wärmedämmplatten an Bauwerken befestigen, so erkennt man, dass dieser Prozess aus vielen nacheinander folgenden

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3 Produkte definieren

Abb. 3.12 Oben: Bohrdübel, Spezialbohrhammer und Spezialbohrer des Bohrdübel-Systems, unten Montageschritte (Bildquellen: [125])

Teilprozessen besteht, vgl. Abbildung 3.11 oben. Mit Hilfe des Prozessmodells kann man durch Parallelisieren bzw. Integrieren dieser Prozesse eine einfachere Prozessstruktur und eine entsprechende abstrakte Aufgabenstellung formulieren. Die folgende Produktentwicklung führte in diesem Beispiel zu einem innovativen System von Bohrhammer, Bohrer und Dübel, mit dem die Wärmedämmplatten in kürzerer Zeit angebracht werden können, wie es durch die Definition des Prozesses in Abbildung 3.11 unten angestrebt wurde. Der gezeigte Bohrdübel ermöglicht durch seine integrierte Führungshülse das Zusammenfassen mehrerer Prozessschritte, die Verdickung des Dübels verspannt diesen in radialer Richtung im Dämmmaterial. Das Ergebnis des Entwicklungsprojektes einschließlich der wesentlichen Produkte – Bohrhammer, Bohrer und Bohrdübel – sowie einer vereinfachten Darstellung des Montageprozess zeigt Abbildung 3.12. Es ist offensichtlich, dass die Anzahl der Montageschritte durch das Bohrdübel-System reduziert wird, dies ist ein wesentlicher Vorteil in der Vermarktung, da weniger Arbeitszeit zur Verarbeitung des Bohrdübels in der Montagephase notwendig ist. Die aus der Analyse mit dem Prozessmodell folgende Aufgabenstellung für die Entwicklung war also die Konzeption eines Befestigungssystems und eines entsprechenden Werkzeugs für die schnellere Befestigung von Wärmedämmplatten. Das Festlegen von geforderten bzw. gewünschten Prozessen sowie das Vermeiden unnötiger Prozesse ist unabdingbar für die Entwicklung marktgerechter Pro-

3.2 Klären der Aufgabenstellung

51

dukte. So kann die Entwicklung von Produkten, welche zu viele Prozessschritte erfordern, durch die gezielte Analyse von Fertigungs- und Nutzungsprozessen mit dem Prozessmodell vermieden werden. Typische Ursachen für Produkte mit vermeidbaren Prozessen oder Eigenschaften sind beispielsweise: • Übertriebener Perfektionismus der Entwickler, die zu falsch oder überdimensionierten Produkten führen, sogenannten overdesigned products, • Fehleinschätzung der Kundenwünsche resultierend aus einer unzureichenden Markt- und Kundenanalyse, • Darstellung überflüssiger Funktionen aus einem falschen Imageverständnis heraus und Angebot von Funktionen, von denen die Kunden real nur einen Bruchteil5 nutzen kann, • Multifunktionale Komplettprodukte wie beispielsweise Smartphones, die mit ihrem uniform festgelegten Funktions- und Prozessumfang für eine Vielzahl von Anwendern konzipiert sind, die aber für den einzelnen Nutzer häufig zu viele Funktionen enthalten. Zusammenfassend kann Folgendes festgehalten werden: Bei der Prozessanalyse werden gegebene oder auch projektierte Produkte hinsichtlich der mit ihnen durchführbaren Prozesse untersucht, um sie besser zu verstehen, die Aufgabenklärung wird anhand von Prozessstrukturen durchgeführt. Der oft unübersichtliche Gesamtprozess wird in überschaubarere Teilprozesse gegliedert. Ein erster, wichtiger Schritt bei der Entwicklung innovativer Produkte ist daher das Festlegen der geeigneten Prozessstrukturen nach einer Prozessanalyse und -variation sowie der darin enthaltenen Teilprozesse: • Ist der Anfangszustand aus Kundensicht richtig und vollständig definiert? Welche Alternativen gibt es und erfüllen diese die Kundenwünsche noch besser? Können vorgelagerte Prozesse sinnvoll integriert werden und ergeben sich dabei neue Lösungsmöglichkeiten? • Ist der beschriebene Endzustand wirklich das erwünschte Ziel oder kann man die Prozesskette noch weiter denken? Können nachgelagerte Prozesse in das neue Produkt integriert werden, um z. B. die Wertschöpfung zu erhöhen? • Ist die erstellte Prozessstruktur wirklich die optimale? Welche Varianten gibt es und welche Varianten könnten noch kundennäher oder bedienerfreundlicher sein? Zur Beurteilung von Prozessstruktur-Varianten sind die Teilprozesse weiter durch Lösungsideen zu konkretisieren. Nur so ist in den meisten Fällen eine Diskussion der neuen Ideen mit den anderen Teammitgliedern und Entscheidungsträgern sowie eine fundierte Beurteilung der Varianten möglich.

5

Ein gutes Beispiel sind Hi-Fi-Geräte der high-end-Klasse, die häufig nur den gewünschten Klang liefern, nicht aber die Funktionsüberflutung des mittelpreisigen Segments.

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3 Produkte definieren

Abb. 3.13 Modell der Ganzheitlichen Produkt- und Prozessentwicklung – GPPE in Anlehnung an BIRKHOFER [36]

3.2.6 Ganzheitliche Produkt- und Prozessentwicklung Das Modell der Ganzheitlichen Produkt- und Prozessentwicklung – kurz GPPE – wurde ursprünglich im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 392 an der TU Darmstadt als Grundlage für die Entwicklung umweltgerechter Produkte entwickelt und basiert auf dem Prinzip des Life-Cycle-Thinkings. Seit Anfang der 2000er Jahre wurde das Modell an der TU Darmstadt von BIRKHOFER und Mitarbeitern weiterentwickelt bzw. modifiziert. Das Modell basiert auf der Verknüpfung des Produktlebenslaufs mit dem Produktentwicklungsprozess. Die Produktionsphase bildet den Anknüpfungspunkt der in vertikaler Richtung angeordneten Produktentwicklung, vgl. Abbildung 3.15, mit dem horizontal dargestellten Produktlebenslauf. Die Idee dahinter ist, die beiden Prozessketten gleichberechtigt und frühzeitig im Rahmen des Projektdefinitionsprozesses zu betrachten. Der Produktentwicklungsprozess bzw. die Prozesskette der Produktentwicklung basiert dabei auf der ursprünglichen VDI-Richtlinie 2221, vgl. [219]. Bei der ganzheitlichen Betrachtung werden neben den funktionalen Aspekten des zu entwickelnden Produkts auch die Fragen der Rohstoffgewinnung bzw. -beschaffung, der Fertigung sowie Montage der Komponenten, der Nutzung sowie schließlich der Entsorgungsphase betrachtet. Eine pauschal detaillierte Beschreibung aller Prozesse rund um ein neues Produkt führt zu Ineffizienz und Blindleistung, es ist daher wichtig, die richtigen Prozesse zu identifizieren und zu analysieren, um das neue Produkt besser zu gestalten. Besser kann dabei beispielsweise mehr Funktionalität, einen besseren Wirkungsgrad oder geringere

3.3 Erarbeiten der Anforderungsliste

a)

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b)

Abb. 3.14 Motivationsbeispiel zur Erarbeitung der Anforderungsliste: a) Original Halterung aus Aluminium-Druckguss (Aus [32]), b) Erste handschriftliche Fassung einer vereinfachten Anforderungsliste

Herstellkosten bedeuten. In der Praxis wird meist nach allen drei Arten der Verbesserung gleichzeitig gestrebt. Das GPPE dient als Ausgangspunkt für viele Ansätze zur Methodenentwicklung für neue Vorgehensweisen und Modelle, vgl. [69, 95, 105, 153, 155], und kann auf verschiedene Betrachtungsweisen angepasst werden, vgl. Abschnitt 10.4.2. Weiterführende Details zu diesem Modell finden sich in der Literatur, vgl. [36, 116]. In der speziellen Form von Abbildung 3.13 unterscheidet sich die Darstellung des GPPE vom Original nach BIRKHOFER durch die explizite Nennung von Montage und Logistik, was insbesondere mit Blick auf materielle Produkte mit geringer Wertschöpfungstiefe des verantwortlichen Unternehmens extrem wichtig ist, Kraftfahrzeuge sind hier oft ein sehr gutes Beispiel. Auch in [137] wird eine weitere Abwandlung des GPPE benutzt, die Gliederung der Lebenslaufphasen muss sich am zu entwickelnden Produkt orientieren. Die Darstellung wie in Abbildung 3.13 ist nicht eindeutig, das gedankliche Modell allerdings schon, wie die Anpassung des GPPE auf die Entwicklung von Prototypen zeigt, vgl. Abschnitt 10.4, Abbildung 10.23 sowie [198].

3.3 Erarbeiten der Anforderungsliste Das systematische Erarbeiten einer geordneten Anforderungsliste ist eine der wichtigsten Tätigkeiten des in Abbildung 3.2 skizzierten Projektdefinitionsprozess, denn eine gut strukturierte Anforderungsliste ist häufig eine notwendige Voraussetzung eines erfolgreichen Entwicklungsprojekts auf dem Weg zu nachhaltiger Produktinnovation.

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a)

3 Produkte definieren

b)

Abb. 3.15 Motivationsbeispiel zur Erarbeitung der Anforderungsliste: Anforderungsliste nach dem zweiten und dritten Termin (Nicht befüllt Spalten der Anforderungsliste wurden ausgeblendet, um die Lesbarkeit zu erhöhen. Aus [32])

3.3.1 Das Erstellen der Anforderungsliste als wertschöpfende Tätigkeit Als Motivation wird folgendes Beispiel aus [32] betrachtet, bei dem in Zusammenarbeit mit einem Unternehmen neue Lösungen für die Befestigung von Deckenleuchten in Operationssälen erarbeitet wurden. Die bisherige Lösung als Ausgangspunkt der Entwicklung war ein aufwändiges Aluminium-Druckgussteil, vgl. Abbildung 3.14.a, der Entwicklungsleiter stellte sich ein wesentlich preiswerteres Kunststoff-Spritzgussteil vor. Ein erster Termin mit dem Unternehmen bzw. dem Entwicklungsleiter ergab für die Anforderungsliste nicht mehr als die sechs Stichpunkte in Abbildung 3.14.b, was symptomatisch für die Sicht vieler Entscheider auf die vorbereitenden Arbeiten einer methodischen Produktentwicklung ist: Viele Entscheider halten die Projektdefinition als Teil des Produktentwicklungsprozess für nicht wertschöpfend. Der Einsatz einer vorbereiteten, anforderungsähnlichen Checkliste in einem zweiten und schließlich dritten Termin führte zur deutlichen Konkretisierung der Anforderungen, die teils durch den Einsatz strukturierender Methoden erheblich reduziert werden konnten. Beispielsweise wurde die Anforderung an die Temperaturbeständigkeit von ϑzul ≥ 250◦ C im ersten Termin auf schließlich ϑzul ≥ 120◦ C reduziert, die deutlich niedrigere maximale Einsatztemperatur erleichtert den geforderten Kunststoffeinsatz. Selbst nach einem dritten Besuch mit einer bereinigten Anforderungsliste gab es immer noch Änderungen der Anforderungen, trotzdem konnte die eigentliche Entwicklungsarbeit nach drei Gesprä-

3.3 Erarbeiten der Anforderungsliste

55

Abb. 3.16 Zunehmende Konkretisierung der Aufgabe vom Lastenheft zur Anforderungsliste

chen zur Festlegung der Anforderungen beginnen und auch die formalen Aspekte der Anforderungsliste waren deutlich verbessert worden, vgl. Abbildung 3.15. Entwickler müssen während des Entwicklungsprozesses oft aus einer großen Anzahl möglicher Lösungen die – unter den getroffenen Annahmen – Optimale für die gestellte Aufgabe herausfinden, um zu einem erfolgreichen Produkt zu gelangen. Sie müssen dabei häufig Entscheidungen mit großer Tragweite treffen und benötigen daher eine gesicherte Entscheidungsgrundlage, die möglichst genau festlegt, was das optimale Produkt für den konkreten Fall auszeichnet. Die dazu benötigten Informationen müssen deshalb möglichst vollständig erfasst und leicht zugänglich, aber dennoch sicher dokumentiert werden. Zusätzlich werden sie im Laufe der Entwicklung ständig ergänzt und konkretisiert bzw. präzisiert. Nicht selten umfassen die Anforderungslisten daher mehrere hundert Zeilen detaillierter Anforderungen an das zukünftige Produkt. Bei komplexen Produkten wie beispielsweise einem Elektroantrieb für ein modernes Kraftfahrzeug werden teils auch mehrere Zehntausend Requirements dokumentiert, mit Kunden und Lieferanten diskutiert und fortlaufend aktualisiert. Im Rahmen der Aufgabenklärung wird das Lastenheft, das sich aus der Analyse der Kunden bzw. der Markanforderungen ergibt zunächst in ein Pflichtenheft übersetzt, vgl. Abbildung 3.16. Das Pflichtenheft beschreibt die für Kunde und Markt sichtbaren Vorteile des neuen Produkts gegenüber Vorgängervarianten, vgl. Abbildung 2.4, bzw. dem Wettbewerb, es kann auch als Versprechen an den Kunden interpretiert werden. Aus dem Pflichtenheft wird im Rahmen der Ableitung der Anforderungsliste die Aufgabe in ein technisch umsetzbares und messbares Problem übersetzt. Die Kompromissfindung zwischen den Wünschen und Forderungen der verschiedenen Anspruchsgruppen ist dabei oft eine Herausforderung. Eine formlose, unstrukturierte Dokumentation der anfallenden Informationen erweist sich allerdings für die Entwickler als wenig hilfreich, weil die akut benötigten Informationen nicht schnell genug gefunden werden können und die gefundenen Angaben sich im Bedarfsfall oft als unvollständig oder nicht konkret

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3 Produkte definieren

Abb. 3.17 Audi Q2, Seat Ateca, VW Tiguan und Skoda Kodiaq basieren auf dem modularen Volkswagen-Baukasten für Quermotoren MQB (von rechts nach links)

bzw. eindeutig genug erweisen. Deshalb haben sich rechnerunterstützte Anforderungsdokumentationen durchgesetzt, die von Auftraggeber und Kunde häufig gemeinsam benutzt werden, vgl. [11, 16, 63]. Das Ziel des Arbeitsschrittes Erstellen der Anforderungsliste ist folglich das Erarbeiten eines strukturierten Dokuments – der Anforderungsliste – in dem die im Entwicklungsprozess benötigten Informationen vollständig dokumentiert sind. Damit die Dokumentation effizient genutzt werden kann, müssen die Anforderungen in der Anforderungsliste in einer präzisen, schnell erfassbaren Form und logisch strukturiert festgelegt werden. Ferner müssen die Angaben soweit wie möglich messbar und quantitativer Art sein, um neben einer einfacheren Verfolgung des Entwicklungsfortschritts auch die rechnergestützte Auswertung der Anforderungserfüllung zu ermöglichen. Somit ist das Erstellen der Anforderungsliste ein elementarer Bestandteil der wertschöpfenden Entwicklungsarbeit.

3.3.2 Grundlagen und Modelle In der Praxis werden unterschiedliche Dokumente zur Beschreibung der Entwicklungsaufgabe verwendet, die bereits in Abbildung 3.16 stichwortartig genannt sind. Man unterscheidet: • Das Lastenheft wird üblicherweise vom Kunden erstellt und enthält dessen Wünsche und Vorstellungen, oft handelt es sich dabei um eine Idealvorstellung, die nicht in allen Belangen erfüllt werden kann oder muss. • Das Pflichtenheft wird zwischen Auftragnehmer und Kunden verhandelt und festgelegt. Damit hat es den Charakter einer Vereinbarung und dient als Vertragsgrundlage für die Abnahme eines Produkts, es enthält die Spezifikation des späteren Produkts. • Die Anforderungsliste übersetzt das Pflichtenheft in eine für die Konstruktion und die anderen technischen Disziplinen verständliche und messbare Form

3.3 Erarbeiten der Anforderungsliste

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Abb. 3.18 Anfang der Anforderungsliste für einen Wälzlagerprüfstand

und ergänzt Informationen, die für die Entwicklung erforderlich sind, dem Kunden aber unter Umständen nicht zugänglich gemacht werden sollen. Beispielsweise wird im Pflichtenheft ein Kaufpreis vereinbart, der für die Entwicklungsabteilung unerheblich ist, da sie sich an einem Kostenziel orientiert, vgl. Abschnitt 8.6. Außerdem benötigen die Produktentwickler zusätzlich zum Termin der Markteinführung weitere Meilensteine wie z. B. der Abschluss der Konzeptentwicklung oder Freigabe für den Prototypenbau, um den Entwicklungsprozess planen und steuern zu können. Auch wird im Pflichtenheft häufig nur ein spezielles Produkt unter den gegenwärtigen Randbedingungen beschrieben. Aus strategischen Überlegungen kann es aber interessant sein von Anfang an eine vollständige Produktfamilie mit mehreren Varianten zu planen oder Möglichkeiten für eine zukünftige Leistungssteigerung vorzusehen. Abbildung 3.17 zeigt ein Beispiel vier verschiedener Fahrzeuge basierend auf dem gemeinsamen modularen Querbaukasten MQB des VolkswagenKonzerns. In solchen Aspekten geht die Anforderungsliste deutlich über das Pflichtenheft hinaus, da der Baukasten i.d.R. für den Kunden nicht sichtbar sein soll, vgl. auch Abbildung 9.18. Die gezeigten Fahrzeuge nutzen innerhalb der Baukastenstruktur die gleichen, nicht sichtbaren Teile und unterscheiden sich optisch trotzdem deutlich und haben auch teils unterschiedliche Radstände, denn das Baukastenmerkmal ist der Abstand der Pedalbox von der Vorderachse als nicht für den Kunden sichtbare Größe. Einen beispielhaften Auszug einer Anforderungsliste zeigt Abbildung 3.18, auf die Anforderungen an die Anforderungsliste selbst wird im Folgenden eingegangen. Offensichtlich ist schon jetzt, dass quantitative Angaben vor qualitativen zu

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3 Produkte definieren

Abb. 3.19 Entwicklung einer Armbanduhr: Lastenheft, Pflichtenheft und Anforderungsliste

bevorzugen sind. Hinsichtlich unscharfer Forderungen, wie beispielsweise “besser als die Konkurrenz”, stellt sich die Frage, wie man solch eine Forderung bewertet und wie viel “besser” tatsächlich notwendig ist?

3.3.3 Methoden zum Erarbeiten der Anforderungsliste Zum Erarbeiten der Anforderungsliste werden die – im Folgenden kurz vorgestellten – Arbeitsschritte oft parallel bzw. überlappend durchlaufen: • • • • •

Anforderungen ermitteln, Anforderungen formulieren, Anforderungen priorisieren, Anforderungsliste erarbeiten, Zielkonflikte erkennen.

Diese Arbeitsschritte werden nach [170] durch unterschiedliche Methoden unterstützt. Die parallele Bearbeitung der Anforderungsliste nach Subsystemen – im Bereich der Fahrzeugentwicklung beispielsweise Infotainment, Motor, Getriebe, Fahrwerk, Rohbau, Innenraum u.v.m. – stellt sicher, dass Widersprüche und Zielkonflikte frühzeitig erkannt und die Anforderungslisten für die Subsysteme früher verfügbar sind. Abbildung 3.19 zeigt beispielhaft die Konkretisierung der Entwicklungsaufgabe anhand der Kaskade von Lastenheft, Pflichtenheft und Anforderungsliste; die Angaben werden von Dokument zu Dokument konkreter.

3.3 Erarbeiten der Anforderungsliste

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Abb. 3.20 Beispiel für Checkliste zur Anforderungsermittlung – Teil 1 von 2

3.3.3.1 Anforderungen ermitteln Checklisten sind eines der wichtigsten und einfachsten Hilfsmittel zur Anforderungsermittlung. Die Abbildungen 3.20 und 3.21 zeigen zwei umfangreiche, aber nicht vollständige Beispiele. In den Checklisten werden Einflussfaktoren aufgelistet, welche für die Durchführung von Entwicklungsaufgaben von Bedeutung sein können. Durch ein schrittweises Abarbeiten der Checklisten wird untersucht, ob sich aus den allgemeinen Einflussfaktoren konkrete Anforderungen an die ufgabenstellung ableiten lassen. Damit soll ein Vergessen wichtiger Einflussfaktoren und relevanter Einflüsse weitgehend ausgeschlossen werden.

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3 Produkte definieren

Abb. 3.21 Beispiel für Checkliste zur Anforderungsermittlung – Teil 2 von 2

Aufgrund der Unterschiedlichkeit der Aufgabenstellungen und der Menge an Informationen enthalten Checklisten zum Ermitteln von Anforderungen lediglich verallgemeinerte Listen mit Suchbegriffen. Um Checklisten effizient anwenden zu können, enthalten diese oft ordnende Gesichtspunkte, gleichzeitig wird damit auch ein gegliederter und übersichtlicher Aufbau der Anforderungslisten unterstützt. Beispielsweise kann sich die Checklistengliederung zur Ermittlung von Anforderungen an dem Lebenszyklus eines Produkts orientieren, wie es in Abbildung 3.20 und 3.21 gezeigt ist. Damit wird sichergestellt, dass keine wesentlichen Prozesse, in denen das Produkt beteiligt ist, übersehen werden. Je nach Unternehmensstruktur und hergestellten Produkten sind unterschiedliche Checklisten hilfreich. Stehen beispielsweise im Investitionsgüterbereich oder im Anlagenbau die herzustellenden Endprodukte und deren Nutzung im Mittelpunkt, wird auch die Ermittlung der damit verbunden Anforderungen eine zentrale Position in der Checkliste einnehmen. Andererseits werden bei einfachen Massengütern eher die Anforderungen aus Sicht der Produktion und Logistik

3.3 Erarbeiten der Anforderungsliste

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eine zentrale Rolle einnehmen. Wichtig bei der Arbeit mit Checklisten ist die flexible Anwendung im Sinne der Übertragung auf die jeweilige Situation und die Ausweitung um das aktuelle Stichwort herum. Weiter empfiehlt sich die Anpassung der Checklisten an das Unternehmen und dessen jeweilige Produkte, nicht benötigte oder weniger relevante Fragen werden zurückgestellt und z. B. qualitätsrelevante Aspekte stärker fokussiert. Im Rahmen der kontinuierlichen Verbesserung – im Englischen als Continous Improvement bezeichnet – werden Werkzeuge wie die Fragelisten in Abbildung 3.20 und 3.21 in regelmäßigen Abständen überprüft, dabei wird insbesondere nach größeren Projekten nach Verbesserungspotentialen in den Modellen und Methoden der Produktentwicklung gesucht. Diese als sogenannte Lesson Learned identifizierbaren Potentiale werden durch verschiedene organisatorische Maßnahmen zur Qualitätssicherung entdeckt und gehoben, vgl. Abschnitt 6.3.2. Als zweite Methode zur Ermittlung der Anforderungen an das Produkt hat sich die Analyse der Produktumgebung als zielführend erwiesen. Da jedes technische Produkt in einer spezifischen Produktumgebung eingesetzt wird, welche durch die Nachbarsysteme beeinflusst wird, müssen diese über Anforderungen berücksichtigt werden. Beispielhafte Nachbarsysteme, mit denen das Produkt in Wechselwirkung steht bzw. stehen kann, sind: • Technische Produkte (Maschinen, Baugruppen, Geräte, Medien usw.), • Personen (Bediener, Wartungspersonal, Mitarbeiter, Passagiere, Sonstige), • Umwelt (Klima, Natur, Boden, Wasser, usw.). Dabei kann unterschieden werden zwischen aktiven Systemen, welche auf das Produkt einwirken, und passiven Systemen, auf welche das Produkt einwirkt. Für die verschiedenen Betriebszustände eines Produkts in der Nutzungsphase müssen die in Abbildung 3.22 skizzierten Systeme mit den zugehörigen Ein- und Ausgangsgrößen konkret ermittelt werden. Häufig ist auch bei der Analyse der Produktumgebung in der Nutzungsphase zwischen Betrieb und Stillstand wie in Abbildung 3.21 zu unterscheiden. Das Ermitteln unterschiedlicher Anforderungen für Betrieb und Stillstand des Produkts kann durch gezieltes Fragen nach den Subsystemen und den dazwischen auftretenden Wirkungen erfolgen: • Welches sind die Nachbarsysteme (Maschinen, Personen, Umweltkomponenten) und welche Beziehungen hat das Produkt zu diesen Systemen? • Welche erwünschten Beziehungen (Einwirkungen, Rückwirkungen) sind vorhanden? • Welche unerwünschten Beziehungen (Stör- und Nebenwirkungen) können auftreten? • Wie ist die Art, Dauer und Häufigkeit der Beziehungen? Die Methode Analyse der Produktumgebung empfiehlt sich insbesondere dann, wenn die Produktumgebung weitgehend bekannt oder vorgegeben ist. Die Analyse der Produktumgebung ist besonders hilfreich für das Ermitteln von Anforderungen in der Nutzungsphase, wenn es um Gebrauchseigenschaften und Wechselwirkungen zu Nachbarsystemen geht. Bei Maschinenelementen, die als Stan-

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3 Produkte definieren

Abb. 3.22 Produkt und Nachbarsysteme zur Ermittlung von Anforderungen

dardteil hergestellt werden und die in verschiedensten Anwendungen zum Einsatz kommen oder auch bei PKWs, bei denen Fahrer, Straßenzustand und Fahrstil unbekannt sind, ist die Methode hingegen kaum anwendbar, weil die konkrete Produktumgebung weitgehend unbekannt ist. In beiden Fällen muss also oft auf Basis erfahrungsbasierter Mittelwerte entwickelt werden.

3.3.3.2 Anforderungen formulieren Um eine lösungsneutrale Entwicklung ohne Vorfixierungen auf bestimmte Lösungen zu ermöglichen und um die Entwicklungsergebnisse im Rahmen des Projektmanagements bewerten zu können, gelten für die Beschreibung von Anforderungen inhaltliche und formale Regeln. Inhaltlich sollen Anforderungen wie folgt beschrieben werden, Beispiele sind in Tabelle 3.2 gegeben: • Lösungsneutral: Durch eine neutrale Formulierung kann eine Einschränkung bei der Ideenfindung vermieden werden. Die Forderung maximale Kraft F = 1000 N lässt im Gegensatz zur Formulierung maximale hydraulische Kraft Fhydr = 1000 N die Art der Krafterzeugung offen, da kein Wirkprinzip durch die Wortwahl vorgegeben wird. • Positiv formuliert: Die positive Formulierung ist aus Motivationsgründen besser geeignet als negative Formulierungen, da dann auch das Ergebnis positiv dargestellt werden kann. Etwas erreicht zu haben ist besser zu vermitteln, als etwas verhindert zu haben: Der Terminplan wurde eingehalten! ist als positive Nachricht besser als die inhaltsgleiche Aussage Verzögerungen wurden im Projekt verhindert! • Anspruchsvoll, aber erreichbar: Anforderungen an die Produktentwicklung müssen eine Herausforderung darstellen, jedoch muss die Erreichbarkeit des Gesamtziels auch gegeben sein. So ist immer wieder die Situation anzutreffen, dass beispielsweise eine Reduzierung der Kosten eines Produkts um mindestens 30 % bei gleichzeitiger Qualitätsverbesserung gefordert wird. Sind geraume Zeit keine gravierenden Verbesserungen am Produkt oder den Unternehmensprozessen erfolgt oder wurden deutliche technologische Leistungssteigerungen in produktrelevanter Form erreicht, so wird diese Zielsetzung sicherlich vermittelbar sein. Ist das Produkt aber bereits seit Langem immer wieder schrittweise optimiert worden, so ist die Forderung kaum umsetzbar.

3.3 Erarbeiten der Anforderungsliste

63

Um Anforderungen formal einheitlich zu beschreiben, wird eine Unterscheidung nach Beschreibung und Daten vorgenommen. Diese Unterscheidung korreliert mit der Beschreibung von Produkten durch Merkmale bzw. Eigenschaften und durch Werte, meist in der Form einer Beschreibung und entsprechenden Zielgrößen bzw. Daten. Selbst subjektive Bewertungen lassen sich durch die Vorgabe von klaren Kriterien für die Bewertung in der Anforderungsliste erfassen, wenn als Eigenschaft z. B. ein Komfortkriterium und als Wert eine Zielnote und eine definierte Referenzskala6 angegeben werden. Tabelle 3.3 gibt ein Beispiel für den Aufbau der einzelnen quantifizierten Anforderungen. Bei der Beschreibung der Anforderung muss sorgfältig auf die korrekte Bezeichnung geachtet werden, als Daten sollten möglichst Zahlenwerte mit gängigen Einheiten angegeben werden. Sind jedoch nur qualitative Angaben möglich, sollten diese, wenn möglich durch einen Vergleich beispielsweise mit bekannten Produkten konkretisiert werden.

3.3.3.3 Anforderungen priorisieren Da sich aus den verschiedenen Anforderungen Widersprüche ergeben können, ist es wichtig, die verschiedenen Anforderungen zu priorisieren. Einerseits gibt es Anforderungen, die in jedem Fall erfüllt werden müssen, andererseits gibt es Anforderungen, bei denen der Anforderungsgeber bereit ist, Kompromisse einzugehen. Daher wird grundsätzlich zunächst unterschieden zwischen den zwei Anforderungsarten: • Forderungen: Müssen in jedem Fall eingehalten werden. • Wünsche: Erfüllung ist wünschenswert, Einhaltung ist aber nicht zwingend erforderlich.

Tabelle 3.2 Beispiele schlecht und gut formulierter Anforderungen Schlecht formuliert

Gut formuliert

Günstig Verwendung von rostfreiem Stahl Möglichst leicht

Herstellkosten kleiner als . . . EUR Korrosionsfreie Ausführung bei Seewassereinwirkung (> 1 Woche) Masse geringer als 20 kg

Tabelle 3.3 Beispiele quantifizierter Anforderungen mit Merkmal oder Eigenschaft und Wert Merkmal oder Eigenschaft

Wert

Minimale Blechdicke (Merkmal) Dicke t ≥ 2 mm Maximale Produktabmessungen (Merkmal oder Länge l, Breite b, Höhe h alle < 100 mm Eigenschaft) Maximales Produktgewicht (Eigenschaft) kleiner 100 N

6

Ein Beispiel wird in Abschnitt 5.4.8 anhand von Tabelle 5.15 im Zusammenhang mit dem Bewerten von Prinziplösungen vorgestellt.

64

3 Produkte definieren

Abb. 3.23 Paradoxon der Konstruktion: Abhängigkeit der idealen Lösung von den Anforderungen am Beispiel der Wahl des Anziehverfahrens von Schraubenverbindungen (Aus [138])

Die Nichteinhaltung von Forderungen hat i.d.R. erhebliche Konsequenzen für die Produktentwicklung bzw. für den Projektablauf. Wird während der Entwicklung festgestellt, dass Forderungen nicht eingehalten werden können, führt dies zu Maßnahmen von konstruktiven Änderungen oder geänderten Betriebsstrategien bis hin zum Projektabbruch. Beispiele für gestoppte Produktentwicklungen finden sich in der Automobilindustrie, wenn Vorgaben hinsichtlich Verbrauch, Emissionen oder Sicherheit nicht erfüllt werden, teils wird trotz bereits geleisteter Entwicklungsaufwände in Millionenhöhe ein Projekt gestoppt, wenn wichtige Forderungen nicht umsetzbar sind. Wird die Entwicklung trotz der erkannten Nicht-Erfüllung der Forderungen zu Ende geführt, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ein mittelmäßiges oder gar unverkäufliches Produkt entwickelt wird. Die Nichterfüllung von Wünschen führt dazu, dass der Kunde das Produkt hinsichtlich dieses Wunschaspekts nicht optimal beurteilt. Dadurch wird zwar das Risiko erhöht, dass der Kunde ein Wettbewerbsprodukt kauft, es führt i.d.R. jedoch nicht zu einer generellen Ablehnung des Produkts. Die Priorisierung der Anforderungen erfolgt meist nach einer der beiden im Folgenden beschriebenen Arten: • Die Priorisierung nach Anforderungsarten – Festforderungen, Bereichsforderungen, Zielforderungen und Wünsche – ist der allgemein übliche Weg, um die Bedeutung von Anforderungen für den Anforderungsgeber festzuhalten. • Werden allein Kundenanforderungen betrachtet, können Anforderungen auch nach dem Kano-Modell priorisiert werden, das im Folgenden vorgestellt wird. Anforderungen haben unterschiedliche Bedeutung für den Anforderungsgeber, die im Rahmen des Priorisierens der Anforderungen nach Anforderungsarten gegeneinander abgewogen werden. Ein Beispiel für eine solche notwendige Priorisierung zeigt Abbildung 3.23, nach [138] ergibt sich das richtige Anziehverfahren für die Schraubenverbindung als Kompromiss aus der Priorisierung der Anforderungen Kosten oder Beanspruchbarkeit. Bei der Formulierung quantitativer Forderungen und Wünsche kann nach der Art des zulässigen Wertebereichs für eine Größe x unterschieden werden, vgl. Abbildung 3.24.

3.3 Erarbeiten der Anforderungsliste

65

Abb. 3.24 Zur Festlegung der Anforderungsarten

FF Festforderungen, bei denen die Größe x ohne einen zulässigen Toleranzbereich einen bestimmten Wert x soll annehmen muss, !

x = x soll .

(3.1)

BFBereichsforderungen, die einen Toleranzbereich enthalten, der unbedingt erfüllt werden muss. Dabei sind verschiedene Toleranzangaben möglich, die sich in Abhängigkeit von Minimal- und Maximalwert x min und x max ergeben: x min ≤

x

≤ x max ,

x min ≤ x,

(3.3)

x ≤ x max , x≤

∗ x min

oder

∗ x max

(3.2)

≤ x,

(3.4) (3.5)

Hierbei ist im Allgemeinen nur eine der vier aufgeführten Formen (3.2) bis (3.5) für eine einzelne Forderung bzw. einen Wunsch möglich. Die Bereichsforderung nach (3.2) schließt einen Bereich ein, während durch (3.5) das In∗ ∗ tervall x min bis x max für die Variable x ausgeschlossen wird. ZF Zielforderungen, die möglichst genau erfüllt werden sollen ohne dass genaue Grenzen angegeben werden können. Abweichungen sind möglich, führen aber zu einer schlechteren Bewertung, x − x → Minimum. (3.6) opt Analog zu den Forderungen lassen sich prinzipiell auch Wünsche klassifizieren. Der Grad der Erfüllung der Forderungen (3.1) bis (3.6) kann schließlich als Kriterium für die Beurteilung von Varianten dienen, vgl. Abschnitt 5.4.8: • Die Nichterfüllung einer Fest- oder Bereichsforderung, FF oder BF, führt zum Ausschluss von Varianten. • Zielforderungen und Wünsche können zur Bewertung von Lösungen herangezogen werden, um die zulässigen Lösungen miteinander zu vergleichen. In der praktischen Anwendung zeigt sich, dass insbesondere die Diskussion über die Art einzelner Anforderungen innerhalb des Entwicklungsteams und mit den Auftraggebern und den Kunden besonders wichtig ist. Die Bedeutung von Anforderungen wird oft von den Beteiligten unterschiedlich eingeschätzt, was zu Fehlentwicklungen und Abnahmeproblemen führt, wenn wichtige Anforderungen nicht erfüllt werden oder unwichtige zu vermeidbaren Problemen führen.

66

3 Produkte definieren

Abb. 3.25 Anforderungsarten am Beispiel einer Kopfstütze

Anforderungen bilden die Grundlage für teilweise richtungsweisende Entscheidungen im Entwicklungsprozess, schlecht ausgearbeitete Anforderungen können je nach Art der Formulierung dazu führen, dass objektiv gute Lösungsvarianten verworfen oder objektiv schlechte gut bewertet werden. Dazu ist es notwendig, Kriterien für die Auswahl- und Bewertungsmethoden der Anforderungsliste festzulegen. Aus Zielforderungen, die eher den Charakter von Wünschen aufweisen und die Grundlage der Grundlage für Bewertungskriterien von Lösungsvarianten bilden, werden Kombination mehrerer Zielforderungen oder Wünsche als Bewertungskriterien abgeleitet, während Soll- und Bereichsvorgaben als Auswahlkriterien genutzt werden, auf das Auswählen und Bewerten wird in Abschnitt 5.4.8 eingegangen. Ein Beispiel für die Unterteilung der einzelnen Anforderungen in Forderungen und Wünsche ist anhand einer Kopfstütze in Abbildung 3.25 dargestellt. Die Klassifikation des qualitativen Wunsches nach einem passenden Design entsprechend Abbildung 3.24 ist dabei aufgrund des fehlenden Wertes für den Wunsch “passend” nicht möglich. Wird jedoch das Design durch Angabe von Materialien, Farben und Mustern konkretisiert, so ist auch dieser Wunsch bewertbar.

3.3.3.4 Anforderungen priorisieren – Das Kano-Modell Das Kano-Modell bzw. die Kano-Methode, vgl. [194], basiert auf der Grundidee, dass Eigenschaften des Produkts hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Kundenzufriedenheit bestimmte Charakteristiken zeigen. Die Eigenschaften des Produkts werden dabei, wie in Abbildung 3.26 anhand eines Beispiels gezeigt, in drei Klassen eingeteilt: • Grundeigenschaften, die erfüllt sein müssen, damit die Kunden das Produkt überhaupt annehmen,

3.3 Erarbeiten der Anforderungsliste

67

Abb. 3.26 Kano Modell am Beispiel eines Fahrrades

• Qualitäts- oder Leistungseigenschaften, deren Erfüllung vorausgesetzt, aber nicht explizit hervorgehoben wird, • Begeisterungseigenschaften, die das Produkt vom Wettbewerb differenzieren und den Kunden begeistern können. Bei den Grundeigenschaften setzt der Kunde voraus, dass sie erfüllt sind. Eine vollständige Erfüllung der Grundeigenschaften reicht aber nicht aus, um ein Produkt aus Kundensicht attraktiv zu finden. Eine Nichterfüllung der Grundeigenschaften hingegen führt zwangsläufig zu einer Verärgerung des Kunden, der sich dann wahrscheinlich für ein anderes Produkt entscheidet. Ein typisches Beispiel einer Grundeigenschaft für einen PKW ist die Ausstattung mit einer Servolenkung, während eine Lenkradheizung (noch) als Begeisterungseigenschaft wertbar ist. Bei Qualitäts- bzw. Leistungseigenschaften handelt es sich i.d.R. um explizit vom Kunden eingebrachte Anforderungen, die als Stand der Technik angenommen und vorausgesetzt werden. Der Kunde vergleicht alternative Produkte vorwiegend anhand dieser Eigenschaften. Die Qualitäts- bzw. Leistungseigenschaften entsprechen der Erwartungshaltung des Kunden und müssen daher im geforderten Umfang erfüllt werden. Ist dieses gewährleistet, so lässt sich mit zusätzlichen Qualitäts- bzw. Leistungseigenschaften die Kundenzufriedenheit merklich bis zu einem gewissen Punkt steigern, jedoch nicht darüber hinaus. Der Kunde erwartet z. B. für Fahrer und Beifahrer jeweils einen Airbag als zusätzliche Sicherheitseinrichtung. Eine Erhöhung der Anzahl der Airbags beispielsweise durch zusätzliche Seitenairbags mag den typischen Käufer eines Mittelklasse-Fahrzeugs noch beeindrucken, weitere Airbag-Systeme im Fond werden aber nicht unbedingt von ihm in seine Wertung einbezogen. Bei hochpreisigen Fahrzeugen hingegen wird üblicherweise eine umfangreichere Grundausstattung vorausgesetzt, die eben auch mehrere Airbags im Fond enthalten soll. Der größte Einfluss auf die Kundenzufriedenheit und damit die Kaufentscheidung lässt sich mit den Begeisterungseigenschaften erzielen, da Kunden nicht

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3 Produkte definieren

mehr nur zufriedengestellt, sondern vielmehr begeistert werden wollen. Die Erwartungshaltung des Kunden soll übertroffen werden. Das überproportional starke Anwachsen der Kundenzufriedenheit zeigt, dass relativ wenig Begeisterungseigenschaften ausreichen, um sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Es ist aber zu beachten, dass die Zuordnung zu Begeisterungseigenschaften nur vorübergehender Natur ist, sehr schnell werden sie zu Leistungs- oder zu Grundeigenschaften. Navigationssysteme, Abstandswarnsysteme und einfache autonome Fahrfunktionen dienen hier als Beispiel aus dem PKW-Bereich. Airbags sind bereits Standard, bei Navigationssystemen wird teils noch über Leistung bzw. Preis differenziert, Abstandswarnsysteme sind derzeit in den meisten Fahrzeugsegmenten noch Begeisterungseigenschaften, werden aber bei hochpreisigen Fahrzeugen zunehmend zum Standard. Die Priorisierung von Anforderungen nach dem Kano-Modell ist insbesondere für Konsumgüter, die für den Endverbrauchermarkt entwickelt werden, interessant. Hier spielen psychologische und motivationale Faktoren eine größere Rolle als bei der Entwicklung von Investitionsgütern und Zulieferkomponenten. Insbesondere ist darauf zu achten, dass Produkte für die Endkunden differenzierende Begeisterungseigenschaften aufweisen, um den Produkterfolg auch durch Erfüllung einer bisher nicht befriedigten Nachfrage sicherzustellen, vgl. auch Abbildung 2.5.

3.3.3.5 Anforderungsliste erarbeiten Um einen schnellen, gezielten und sicheren Zugriff auf Informationen der Aufgabenstellung zu ermöglichen werden die Anforderungen in Listenform zu einem Dokument, der Anforderungsliste, zusammengefasst. Die Anforderungsliste enthält in vielen Fällen zusätzliche weitere organisatorische Daten und Hinweise, dadurch wird die Anforderungsliste zu einem umfassenden Informationsspeicher für die Produktentwicklung. Organisatorische Hinweise sind beispielsweise Quellen von Anforderungen oder Änderungen im Laufe der Entwicklungszeit. Als ein Beispiel für diese mitgeltenden Dokumente sind unternehmensspezifische Materialstandards oder allgemeine Prüfprozeduren oder Dokumente zu Qualitätssicherung anzusehen, die von vielen größeren Unternehmen erstellt werden und ebenfalls einer Versionierung unterliegen. Die Anforderungsliste enthält somit alle qualitativen und quantitativen Anforderungen an das zu entwickelnde Produkt sowie sämtliche Bedingungen, die in der Produktentwicklung berücksichtigt werden müssen. Sie ist ein nach formalen Gesichtspunkten aufgebautes Dokument für die Produktentwicklung, Abbildung 3.27 zeigt ein Beispiel. Die Anforderungsliste ist demzufolge eine Sammlung der Anforderungen an ein Produkt, die folgende wichtige Kriterien erfüllt: • schriftlich formuliert, • weitgehend vollständig,

3.3 Erarbeiten der Anforderungsliste

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Abb. 3.27 Beispiel für den Aufbau einer Anforderungsliste. Erläuterungen der farbigen Hinterlegungen: blau – Gliederung, rot – Anforderungsarten, grün – Beschreibung der Anforderungen, violett – möglichst quantitative Werte der Anforderungen, orange – Quellen und Verantwortliche bei Änderungen oder Rückfragen

• • • • • •

möglichst quantifiziert, strukturiert, beispielsweise nach Lebenslaufphasen, mit Prioritäten versehen, durch graphische Darstellungen ergänzt, auf mitgeltende Dokument einschließlich deren Version referenzierend, mit organisatorischen Hinweisen (Auftrag, Verantwortlichkeit, Änderung, ...) versehen.

In der Praxis haben sich die folgenden grundsätzlichen Vorteile der Arbeit mit Anforderungslisten gezeigt, welche den Mehraufwand der Klärung der Aufgabenstellung rechtfertigen: • Der Informationsaustausch wird vereinfacht, neue Mitarbeiter bzw. Mitglieder im Entwicklungsteam werden schnell auf einen Kenntnisstand gebracht, der eine produktive Mitarbeit ermöglicht, das Einarbeiten nach längerer Pause wird erleichtert. • Die Anforderungen werden übersichtlich und komprimiert gespeichert, eine Computerunterstützung ist in Form verschiedener Werkzeuge verfügbar und hilfreich, z. B. bezüglich der Änderungsorganisation bzw. des Versionsmanagements oder zur Sortierung nach unterschiedlichen Gesichtspunkten. • Auftraggeber und Entwickler verständigen sich auf gemeinsame Basis und verantworten die Anforderungsliste gemeinsam. Dem Endkunden beispielsweise in der Fahrzeugtechnik wird die Anforderungsliste i.d.R. jedoch nicht zugänglich gemacht. • Die Anforderungsliste ist die Entscheidungsgrundlage für Produktvalidierung und Produktionsabnahme, ein kontinuierlicher Abgleich mit den Freigabezielen ist möglich.

70

3 Produkte definieren

Abb. 3.28 Beispielhafte Zielkonflikte aus Anforderungen

• Das Beurteilen von Varianten und die Entscheidung für ein umzusetzendes Konzept wird durch Kriterien, welche der Anforderungsliste entnommen werden, erheblich erleichtert. Für das Erstellen der Anforderungsliste haben sich in der Praxis folgende Hinweise bewährt: • Sammeln der Anforderungen mit Hilfe von Checklisten und anderen Methoden, vgl. Abbildung 3.20 und 3.21 sowie die Erläuterungen ab Seite 59. • Ordnen der Anforderungen durch Gliederung nach Lebenslaufphasen oder nach Funktion, Wirkprinzip, Gestaltung usw. und Einteilen nach Anforderungsart, vgl. Seite 65. • Schriftliche Dokumentation in einem Formblatt als Anforderungsliste oder in einem Computerprogramm zum Anforderungsmanagement sowie Dokumentation der Quellen einer Anforderung für spätere Aktualisierungen und Rückfragen, vgl. Abbildung 3.27. • Vorgegebene geometrische Angaben, wie beispielsweise vorgegebene Schnittstellen, oder auch andere geeignete Sachverhalte – z. B. Zeitfolgen einer Ablaufsteuerung – durch Skizzen veranschaulichen und als Anlagen zuordnen, vgl. Abbildung 3.25. • Anforderungsliste prüfen und vom direkten Kunden bzw. Auftraggeber bestätigen lassen, häufig wird dieser Schritt in den Systemen zur Bearbeitung der Anforderungen auch vom Kunden gefordert und elektronisch abgelegt. • Kontinuierliche Überprüfung der Anforderungsliste, dabei werden einzelne Einträge unter Berücksichtigung der Folgen geändert. Eine strikte Versionskontrolle, die in den gängigen Softwarepaketen meist bereits integriert ist, wird empfohlen. Da Anforderungslisten erhebliche Umfänge annehmen können, ist schon bei mäßig komplizierten Produkten eine rechnergestützte Verarbeitung und Dokumentation der Anforderungen unbedingt anzuraten. Im Bereich der Automobilent-

3.3 Erarbeiten der Anforderungsliste

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Abb. 3.29 Antriebssystem eines Audi mit Allradantrieb. Grün markiert ist die schnell drehende Längswelle, rot markiert das Hinterachsgetriebe

wicklung fallen für Subsysteme wie Motor, Getriebe, elektrisches Antriebssystem oder Rohbau einige tausend Anforderungen an. Geeignete Suchsysteme in den Programmsystemen – z. B. DOORS (Dynamic Object Oriented Requirements System) oder PTC Windchill – erleichtern den Zugriff auf bestimmte Anforderungen erheblich.

3.3.3.6 Zielkonflikte erkennen Es kommt oftmals vor, dass sich die Anforderungen an ein neu zu entwickelndes Produkt widersprechen, Abbildung 3.28 zeigt einige plakative Beispiele aus dem Automobilbau. Man spricht dann von Zielkonflikten, die als negative Wechselwirkungen zwischen Anforderungen identifiziert und durch einen Kompromiss zu begrenzen sind. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass derartige Zielkonflikte bereits früh im Produktentwicklungsprozess erkannt werden. Abbildung 3.28 zeigt beispielhafte Zielkonflikte anhand der Eigenschaften eines Kraftfahrzeugs, es ist offensichtlich, dass ein großes Fahrzeug zwar mehr Raum für Personen und Ladung bietet, durch Mehrgewicht und steigendem Luftwiderstand aber zu Mehrkosten und einem höheren Kraftstoffverbrauch führt. In der Entwicklung können viele dieser Zielkonflikte bzw. Widersprüche durch technische Innovationen aufgelöst werden. Die Forderung nach geringen Massen und geringem Bauraum verlangt beispielsweise für die mechanische Leistungsübertragung eine schnelllaufende Welle, da so die Drehmomente und damit der erforderliche Wellendurchmesser reduziert werden können, vgl. Abbildung 3.29. Die Forderung nach einer hohen Biegeeigenfrequenz der Welle führt zur Notwen-

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3 Produkte definieren

digkeit einer zusätzlichen Lagerung, um die Biegeschwingungsamplituden zu reduzieren. Weitere Forderungen wie die nach geringen Herstellkosten, variabler Wellenlänge etc. sprechen jedoch gegen dieses zusätzliche Stützlager. Außerdem ist bei einer schnell drehenden Längswelle, vgl. Abbildung 3.29, ein größeres Hinterachsgetriebe notwendig, um die Übersetzung zur Radgeschwindigkeit zu realisieren, die Bodenfreiheit kann dadurch abnehmen oder wieder andere Kompromisse erfordern. Eine innovative Antriebslösung ohne diese Welle beseitigt den Zielkonflikt dadurch, dass entweder das Antriebskonzept auf reinen Frontantrieb gleicher Motorposition umgestellt wird oder dass der mechanische, verbrennungsmotorische Antrieb der Hinterachse durch einen elektrischen ersetzt wird, der keine Längswelle mehr benötigt. In allen Projekten werden also Kompromisse erforderlich, die mit dem Auftraggeber bzw. dem Kunden rechtzeitig zu besprechen sind, um eine für beide Seiten akzeptable Lösung zu identifizieren. Bei der Entwicklung von Einzelprodukten, wie beispielsweise Sondermaschinen, sollte diese Kompromissfindung mit Abschluss des Vertrags abgeschlossen sein. Bei der kundenneutralen Entwicklung von Serienprodukten ist es Aufgabe des Managements, so früh wie möglich die notwendige Kompromissfindung und die entsprechende Lösungssuche einzuleiten, um mögliche innovative Lösungen nicht von vornherein aufgrund zu geringer Entwicklungszeit auszuschließen. Das Erkennen und Diskutieren von Zielkonflikten bereits im Stadium der Projektdefinition kann Anlass für innovative Lösungsideen sein, die den scheinbaren Widerspruch zwischen Anforderungen auflösen. Erst durch das Bewusstmachen von Zielkonflikten wird das Auflösen dieser Konflikte durch innovative Lösungen ermöglicht.

Kapitel 4 Projekte definieren und managen

In diesem Kapitel wird die Definition eines Projekts besprochen, dessen Zweck die Umsetzung eines neuen Produkts basierend auf einem erkannten Marktbedarf und einer Produktidee ist; ferner werden ausgewählte Werkzeuge des Projektmanagements vorgestellt. Die Identifikation der Produktidee wird in Kapitel 2 beschrieben. Um konkret planen zu können, muss zunächst aus der Produktidee eine Anforderungsliste abgeleitet werden, die Vorgehensweise wird in Kapitel 3 detailliert dargestellt. Aus der Anforderungsliste und den gewünschten Produkteigenschaften lässt sich der Entwicklungsbedarf abschätzen, der nun strukturiert wird. Im Zusammenhang mit der Definition, Detailplanung und Verfolgung von Projekten sollen daher die folgenden Lernziele vermittelt werden:

Lernziele des 4. Kapitels: • Sie kennen die Motivation einer Entwicklung nach geregelten Prozessen und können die notwendigen Voraussetzungen nennen, welche in der Planungsphase für eine erfolgreiche Produktentwicklung zu erfüllen sind. • Sie kennen grundlegende Werkzeuge des Projektmanagements zur Verfolgung des Entwicklungsfortschritts und zur Ressourcenplanung. • Sie können Maßnahmen zur Reduktion der Entwicklungszeit identifizieren und die notwendigen Voraussetzungen der Maßnahmen nennen. • Sie können die Folgen später Fehlererkennung erklären und daraus Argumente für eine strukturiere Entwicklung ableiten. • Sie können die Arbeitsschritte in den Phasen definieren und eine Abschätzung der erforderlichen Zeiten und Kapazitäten vornehmen und prüfen. 2

Die für dieses Kapitel relevanten Begriffe enthält Abbildung 4.1.

4.1 Motivation von Projektplanung und -management Die praktische Motivation eines strukturierten Projektmanagements und einer kurzen Entwicklungszeit lässt sich aus Abbildung 4.2 ableiten. Zunächst ist zu © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Kirchner, Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61762-5_4

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74

4 Projekte definieren und managen

Abb. 4.1 Zentrale Begriffe des Projektmanagements

Abb. 4.2 Beschleunigung der Produktentwicklung: Verkürztes Zeitfenster zur Gewinnerzielung (oben) und Potentiale aus einer Optimierung der Entwicklungsprozesse (unten)

beobachten, dass die Kunden in immer kürzeren Abständen neue Produkte erwarten und angeboten bekommen, so wie dies bereits am Beispiel der Gene-

4.1 Motivation von Projektplanung und -management

75

Abb. 4.3 Die Bedeutung der frühen Phasen der Produktentwicklung

Abb. 4.4 Die Bedeutung früher Fehlererkennung – die Zehnerregel (Nach [149])

rationen des VW Passat über der Zeitachse in Abbildung 2.4 ersichtlich ist. Die Produkte müssen folglich in einer immer kürzeren Zeitspanne entwickelt und danach in angemessener Qualität produziert werden. Da die moderne Entwicklung in den frühen Phasen deutlich mehr Ressourcenaufwand erfordert als früher, verschiebt sich der Beginn der finanziellen Amortisation des neuen Produktes zeitlich nach hinten, vgl. Abschnitt 8.3. Parallel wird das neue Produkt früher von einem Vorgänger abgelöst und vom Markt genommen. Das Zeitfenster der Gewinnerzielung wird dadurch nochmals verkürzt. Zeitgleich wird in der Studie, die Abbildung 4.2 zu Grunde liegt, bestätigt, dass sich durch Optimierung der Entwicklungsprozesse sowohl Zeit als auch Kosten einsparen lassen, ferner kann der Änderungsaufwand deutlich reduziert werden. Der Schlüssel hierzu liegt im Projektmanagement.

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4 Projekte definieren und managen

Abb. 4.5 Werkzeuge für die Blechbearbeitung (Aus [167])

Die Reduktion des Änderungsaufwandes und die Kosten für eine Änderung lassen sich anhand von Abbildung 4.3 erklären. Während zu einem frühen Zeitpunkt der Entwicklung noch konzeptionelle Änderungen umsetzbar sind, die ein erkanntes Problem tatsächlich lösen und es nicht nur kaschieren, sind in den späten Phasen nur noch sehr kleine Änderungen möglich, die häufig mit hohen Kosten bei gleichzeitig geringer Wirkung verbunden sind. Eine frühe Erkennung möglicher Fehler ist daher essentiell für den wirtschaftlichen Erfolg eines neuen Produktes. Hinzu kommt, dass nach der häufig als Zehnerregel bezeichneten Gesetzmäßigkeit sich die Kosten einer Änderung in der nächsten Phase des Produktentwicklungsprozesses in etwa verzehnfachen, vgl. Abbildung 4.4. Dieses lässt sich am Beispiel eines Werkzeugs für die Blechbearbeitung im Automobilbau verdeutlichen wie es in Abbildung 4.5 gezeigt ist. Während eine Konzeptänderungen oder eine Zeichnungsänderung noch ohne wesentliche Folgen für das eigentliche Werkzeug bleiben, muss bei einer Änderung vor Serienanlauf je nach Entwicklungsstand entweder ein noch nicht gehärtetes, großes Werkzeug geändert werden, was noch mit moderatem Aufwand möglich ist, oder aber das bereits gehärtete Werkzeug wesentlich aufwändiger, durch Schleifen bzw. Auftragsschweißen und anschließendes Nachhärten, bearbeitet werden. Wird das Teil bereits verbaut, sind die Änderungskosten infolge der Umbauarbeiten und der eventuell notwendigen Validierung wesentlich höher, ein Rückruf bereits ausgelieferter Fahrzeuge ist schließlich extrem teuer, wenn nicht unmöglich.

4.2 Planung der Produktentwicklung Die Produkt- und die nachfolgende Projektplanung finden im Vorfeld der eigentlichen Produktentwicklung statt. Dabei spielen strategische, ökonomische und organisatorische Überlegungen für die Unternehmen bzw. Organisationen we-

4.2 Planung der Produktentwicklung

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Abb. 4.6 Vorgehensweise nach der VDI-Richtlinie 2221 Methodik zum Entwickeln und Konstruieren technischer Systeme und Produkte (Aus [184])

sentliche Rollen. Diese vorgeschalteten Aktivitäten haben aus Unternehmenssicht eine große Bedeutung und liefern wertvolle Erkenntnisse für die Produktentwicklung. Eine enge Zusammenarbeit zwischen der Projektplanung und der Produktentwicklung ist eine notwendige Voraussetzung für den Produkterfolg. Häufig wird dabei in den Unternehmen ein Projekt geplant, um die Entwicklung eines neuen Produktes zu strukturieren. In diesem Kapitel steht daher die Projektplanung und das Projektmanagement im Fokus sowie gängige Planungsmittel und Ansätze zur Erkennung von Schwachstellen der Projektplanung, die ebenso wie technische Defizite oder Ressourcenengpässe den Erfolg der Produktentwicklung gefährden können. Eine generelle und allgemeine Vorgehensweise zum Erstellen eines Projektplanes kann es aufgrund der Vielzahl möglicher Produkte, vgl. Abbildung 1.3 und 1.4, nicht geben. Trotzdem findet sich in der VDI-Richtlinie1 [219] ein Vorgehensmodell, mit dem man zur methodisch strukturierten Produktentwicklung gelangt. 1

Die Überarbeitung dieser Richtlinie für komplexe, mechatronische Systeme lief bis ins Jahr 2019 unter der Federführung der wissenschaftlichen Gesellschaft für Produktentwicklung WiGeP, vgl. [26], da die alte Richtlinie [219] aus den 1990er Jahren hauptsächlich auf mechanische Produkte fokussiert und nicht hinreichend auf die Belange mechatronischer und vor allem komplexer Produkte zugeschnitten war. Für die Lehre jedoch wird die klare Gliederung des Entwicklungsprozesses der alten Richtlinie weiter genutzt, um die grundlegenden Vorgehensmodelle zu erklären. Die neue Richtlinie [216] zielt auf mehr Praxiskompatibilität und greift eine Vielzahl aktueller Modelle und Methoden auf.

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4 Projekte definieren und managen

Abb. 4.7 Ähnliche Produkte trotz unterschiedlicher Prozesse – Vergleich der Produktentwicklungsprozesse von DaimlerChrysler, BMW und Volkswagen/Audi (Aus [184])

4.2 Planung der Produktentwicklung

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Abb. 4.8 Gründe für das Scheitern von Entwicklungsprojekten (Aus [68])

Die Arbeitsschritte und Arbeitsergebnisse der einzelnen Phasen der Produktentwicklung, Planung, Konzeption, Entwurf und Ausarbeitung sind in Abbildung 4.6 in allgemeiner Form gezeigt. In der Praxis sind allerdings die Grenzen der Phasen oft nicht trennscharf zu unterscheiden. Konkretisiert man dieses Vorgehensmodell unter Berücksichtigung von Produkt und Unternehmen, so kommt man zu spezifischen Entwicklungsprozessen, die auf die jeweiligen Produkte und deren Komplexität, aber auch auf die Unternehmen zugeschnitten sind. Dabei werden in den einzelnen Phasen immer wieder Analyse- und Syntheseschritte durchlaufen, die Entwicklung verläuft i.d.R. iterativ und nicht rein sequentiell. Die Analyseschritte umfassen Tätigkeiten, welche dem Verständnis eines Systems dienen. Als Ergebnis der Analyse werden meist Vorgänge erklärt oder bestimmte Maßzahlen angegeben, z. B. die Masse einer Komponente. Als Synthese hingegen werden Tätigkeiten verstanden, welche das Erschaffen eines neuen Systems – eines materiellen Produkts oder auch einer Dienstleistung – ermöglichen, z. B. eine alternative Gestaltung der Komponente mit einer niedrigeren Masse. In Abbildung 4.7 sind die Entwicklungsprozesse für ähnliche Produkte unterschiedlicher Unternehmen am Beispiel der Fahrzeugentwicklung gezeigt. Der Detailablauf und die Nomenklatur der gezeigten makroskopischen Aktivitäten unterscheiden sich auf den ersten Blick, die wesentlichen Elemente folgen aber der Struktur der VDI-Richtlinie 2221 nach Abbildung 4.6.

4.2.1 Ziel der Projektplanung Wesentliche Ziele der Projektplanung auf dem Weg zu neuen Produkten sind die Strukturierung der Abläufe, die Vermeidung negativer Überraschungen, die

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4 Projekte definieren und managen

Abb. 4.9 Schwimmbahnen als Hilfsmittel für die Aufteilung der verschiedenen Einzeltätigkeiten im Projekt auf die verschiedenen Spezialisten

Reduktion der Entwicklungskosten sowie das Sicherstellen der Produktqualität. Durch die Projektplanung wird sichergestellt, dass nicht nur alle äußeren Einflüsse auf das Produkt, vgl. Abbildung 1.2, soweit sinnvoll berücksichtigt werden, sondern auch dass alle Projektbeteiligten im Unternehmen durch ihre aktive Einbindung in den Projektdefinitionsprozess über die Projektziele und damit über das neue Produkt hinreichend informiert sind, siehe auch Abbildung 1.14 Phase TP 1. Durch die Einbindung aller Beteiligten und Kommunikation entsprechend Abschnitt 1.5.5 kann bereits der Grund mit der häufigsten Nennung für das Scheitern von Projekten in der Studie nach Abbildung 4.8 deutlich reduziert werden. Klar formulierte Ziele und Anforderungen, vgl. Kapitel 3, sind eine notwendige Voraussetzung für ein erfolgreiches Projekt.

4.2.2 Werkzeuge zur Projektplanung Ein wesentlicher Schwerpunkt der Projektplanung ist das Verteilen der einzelnen Tätigkeiten im Rahmen des Entwicklungsprojekts auf die verschiedenen Ressourcen wie beispielsweise Spezialisten, Abteilungen, Prüfstände, Fertigungseinrichtungen, Werke oder Logistikzentren. Dazu wird häufig eine Darstellung in Form von Schwimmbahnen genutzt, meist als Swim Lane Diagram bezeichnet, vgl. Abbildung 4.9. Sortiert man die Tätigkeiten anschließend in der Reihenfolge der sinnvollen Abarbeitung, so erhält man einen Projektplan, Abbildung 4.10 zeigt

4.2 Planung der Produktentwicklung

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Abb. 4.10 Swim-Lane-Darstellung am Beispiel der Fertigung eines Losrades eines Schaltgetriebes

mit der Fertigung eines Zahnrades für ein Fahrzeuggetriebe ein vereinfachtes Swim Lane Diagram eines technischen Beispiels. Wie in Abbildung 4.10 erkennbar, wird im Rahmen der Fertigung eines Zahnrades2 eine vergleichsweise komplexe Prozesskette durchlaufen, diverse Logistikvorgänge sind notwendig, um die Bauteile weiter zu verteilen. Die Organisationseinheit für die spanende Bearbeitung ist für verschiedene Prozessschritte verantwortlich, ebenso wie die Wärmebehandlung. Wichtig ist dabei insbesondere, dass für einen reibungsfreien Durchlauf des Produkts bzw. einer Fertigungschar2

Betrachtet wird ein Losrad eines Handschaltgetriebes, vgl. Abbildung 5.22, bei dem neben der Laufverzahnung eine Lagerlauffläche bearbeitet werden muss, ferner wird ein Kupplungskörper angeschweißt, Details siehe [135].

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4 Projekte definieren und managen

Abb. 4.11 Informationsfluss in der Planungsphase der Produktentwicklung (Nach [106])

ge gleichartiger Bauteile immer die Ressourcen möglichst rasch verfügbar sind, um möglichst wenig Material zeitgleich im Umlauf halten zu müssen. Die Losgrößen einzelner Chargen richten sich einerseits nach dem Bedarf in der Montage und andererseits an den sinnvollen Mindestlosgrößen für eine wirtschaftliche Komponentenfertigung. Um Projekte als Schlüssel zu neuen Produkten richtig zu planen, ist es notwendig die Informationen zu erforderlichen personellen und materiellen Ressourcen auf der Grundlage der antizipierten Einzeltätigkeiten im Rahmen des Projekts zu strukturieren. Durch Identifikation der erforderlichen Ressourcen können wie in Abbildung 4.11 skizziert Arbeits-, Zeit- und Kapazitätspläne usw. ermittelt und die Kosten bewertet werden. Nach der Planung und Ermittlung aller Entwicklungskosten, der Abschätzung der Produktkosten sowie der Investitionen in Infrastruktur und Fertigungseinrichtungen wird in der Praxis die Wirtschaftlichkeit der Projekte bewertet. Häufig wird diese Bewertungsphase einschließlich der Zielkostenermittlung, vgl. Abschnitt 8.6, dem Entwicklungsprozess entsprechend Abbildung 1.14 vorgelagert, um sicherzustellen, dass das richtige Produkt zum richtigen Preis entwickelt wird. Die Wirtschaftlichkeit wird oft im Prozess der Produkt- und Geschäftsfeldplanung bewertet, vgl. Abbildung 2.2. Anschließend kann, wie in Abbildung 2.5 skizziert, ideal ein Produkt zur Deckung eines Angebotsdefizits im Markt möglichst ohne direkten Wettbewerb bei eigener technologischer Kompetenz zum richtigen Zeitpunkt angeboten werden. In der Praxis werden zur Identifikation möglicher Schwachstellen der Planung häufig graphische Werkzeuge eingesetzt, einige von ihnen sind beispielhaft in Abbildung 4.12 gezeigt, eine etwas detailliertere Darstellung findet sich auch in Abschnitt 4.3.3. Für eine vollständige Auflistung der sich rasch weiterentwi-

4.3 Den Entwicklungsprozess managen

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Abb. 4.12 Werkzeuge zu Erkennen von personellen oder materiellen – fertigungs- oder prüfstandsbezogenen – Kapazitätsengpässen (Nach [113])

ckelnden Werkzeuge wird auf die Literatur zum Projektmanagement verwiesen, z. B. [106, 113]. Folgende Informationen kann man aus den in Abbildung 4.12 gezeigten Darstellungen gewinnen: a) Das Balkendiagramm visualisiert die Zuordnung der Arbeitspakete zu Terminen im Projektfortschritt. Immer wieder werden Meilensteine (Beispielhaft durch Symbole ∆ wie in Abbildung 4.12.a oder 3 wie in Abbildung 1.14) eingeplant, um die Aktivitäten zu synchronisieren und Entscheidungen zu treffen. Die Darstellungsform, die häufig auch als Gantt-Chart bezeichnet wird, kann ebenfalls genutzt werden, um Verantwortlichkeiten bzw. Ressourcen für die Aktivitäten zu planen. Abhängigkeiten von Vorgängeraktivitäten können genutzt werden, um die Weitergabe von Informationen oder Teilarbeitsergebnissen in der Entwicklung zu planen. b) Der Netzplan, vgl. Abbildung 4.12.b, verdeutlicht in qualitativer Art die Abhängigkeiten von Arbeitspaketen. Auch hier kann man die Arbeitspakete über einer Zeitachse darstellen und kann dies als Basis zur Erstellung des Balkendiagramms und damit der Detailplanung für das Projekt nutzen. c) Im Belastungsplan schließlich wird in den Spalten pro Zeiteinheit für jede Ressource die kumulierte Belastung durch alle parallel bearbeiteten Projekte dargestellt, vgl. Abbildung 4.12.c. Als Ressource werden dabei sowohl Menschen mit bestimmten Fähigkeiten, Prüfstände, Maschinen, Lagerplätze aber auch Prototypen oder Fahrzeuge verstanden. Die einzelnen, verschieden gefüllten Blöcke in Abbildung 4.12.c entsprechen dabei unterschiedlichen Projekten, d. h. Arbeitspaketen in verschiedenen, parallel laufenden Produktentwicklungsprojekten, die jedoch gemeinsam und gleichzeitig auf die Ressourcen des Unternehmens aber auch von Lieferanten zugreifen.

4.3 Den Entwicklungsprozess managen In der Praxis wird der Produktentwicklungsprozess wie bereits angedeutet häufig als Schlüssel zu einem neuen Produkt angesehen und als separates Projekt geplant und anschließend gesteuert, d. h. Arbeitsergebnisse werden beurteilt und Zeit- und Kostenpläne auf ihre Einhaltung überprüft. In diesem Abschnitt werden

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4 Projekte definieren und managen

die Grundgedanken zur Definition der Arbeitspakete in einem Projekt sowie zur Parallelisierung und zeitlichen Raffung der Aktivitäten besprochen sowie einige wichtige Werkzeuge der Praxis als Weiterführung von Abschnitt 4.2.2 vorgestellt.

4.3.1 Strukturieren des Projekts Es ist die Aufgabe des Projektmanagements, die Tätigkeiten, welche im Rahmen der Entwicklung erledigt werden müssen, entsprechend den Ausführungen aus Abschnitt 4.2 sinnvoll zeitlich zu ordnen und die notwendigen materiellen oder personellen Ressourcen zur Bearbeitung zur Verfügung zu stellen. Um die verschiedenen Teildisziplinen, die an der Produktentwicklung beteiligt sind, in regelmäßigen Abständen mit einem einheitlichen Kenntnisstand zu versorgen, werden Meilensteine als gedankliche Sammelpunkte im Projekt geplant. Tabelle 4.1 zeigt eine typische Abfolge von Meilensteinen innerhalb des Produktentwicklungsprozesses und der Fragen, zu denen Einigkeit aller Beteiligten zum Meilensteintermin erzielt werden muss. Eines der wichtigsten Ergebnisse eines solchen Meilensteins ist die gemeinsame Datenbasis aller beteiligten Fachdisziplinen für den nächsten Entwicklungsabschnitt, damit alle Arbeiten basierend auf denselben Annahmen und Daten erfolgen. Als Entscheidungstermin kann der Meilenstein bei wenigen, nicht signifikanten Abweichungen passiert werden, bei größeren Abweichungen kann – um den weiteren Entwicklungsfortschritt nicht zu verzögern – eine Genehmigung unter Auflage von Nacharbeit erteilt werden, vgl. Abschnitt 1.4. Bei drastischen Abweichungen des aktuellen Entwicklungsstands vom Plan bleibt das Tor versperrt, der Meilenstein ist nicht bestanden. Abbildung 1.14 zeigt eine weitere

Tabelle 4.1 Meilensteine als Kernelemente des Gate Konzepts der Produktentwicklung

4.3 Den Entwicklungsprozess managen

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Darstellung der im Englischen als Gates bezeichneten Entscheidungstermine, die helfen, den modernen Gesamtentwicklungsprozess in Teilprozesse (TPi) zu gliedern. Auch in Abbildung 4.7 sind im direkten Vergleich der Entwicklungsprozesse dreier Fahrzeughersteller einige Bezeichnungen einzelner Meilensteine eingetragen, die sich naturgemäß in den Namen und etwas in der zeitlichen Abfolge unterscheiden, nicht jedoch in den grundlegenden, zur Entscheidung anstehenden Fragestellungen. Bei komplexen Produkten und langer Entwicklungszeit werden meist gerade auf Subsystemebene zusätzliche Meilensteine definiert. So werden beispielsweise im Rahmen eines Fahrzeugentwicklungsprojekts für wichtige Subsysteme wie das Antriebssystem, die Rohkarosserie, den Innenraum usw. eigene Gates definiert. Das Antriebssystem wird wiederum in Motor, Getriebe und Integrationsteile oder in Batterie, Umrichter, Elektromotor und Getriebe zerlegt und detailliert geplant. Dabei ist es wichtig, dass in den Entwicklungsteams kooperativ und offen zusammengearbeitet wird. Bei der Festlegung der Meilensteine wird häufig das Schwimmbahnmodell benutzt, das bereits in Abschnitt 4.2.2 vorgestellt wurde, vgl. Abbildung 4.9 und 4.10. Für einzelne Organisationseinheiten werden in der Schwimmbahndarstellung teils Maschinen, Werkzeuge oder Mitarbeiter als Ressourcen zeilenweise dargestellt, während die Zeiteinheiten Wochen, Tage oder Stunden den Prozess entlang der Zeitachse mit den Einzeltätigkeiten und den Abhängigkeiten zeigen. So lassen sich Informationsströme visualisieren und Defizite aufdecken, die dazu führen können, dass einzelne Arbeitsschritte nicht beginnen können, weil die notwendigen Informationen noch nicht alle vorliegen.

4.3.2 Entwicklungsprozesse parallelisieren und raffen Der Schlüssel zum Erreichen kurzer Entwicklungszeiten infolge immer kürzerer Produktlebenszyklen ist das Simultaneous Engineering, wörtlich übersetzt gleichzeitige Ingenieurarbeit. Diese Übersetzung ist allerdings etwas irreführend, da das Simultaneous Engineering eine Vielzahl von Aspekten, Effekten und Maßnahmen auf unterschiedlichsten Ebenen umfasst. Grundsätzlich handelt es sich beim Simultaneous Engineering um ein innovatives Integrationskonzept, das Ende der 1980er Jahre von der Industrie entwickelt wurde, um auf den stark zunehmenden Wettbewerbsdruck speziell aus Japan und USA zu reagieren, [59]. Die Aspekte globaler Entwicklung, die notwendig werden, um Entwicklung und Produktion an mehreren Standorten auf unterschiedlichen Kontinenten zu verteilen, werden in Kapitel 11 diskutiert. In diesem Abschnitt liegt der Fokus zunächst auf der Parallelisierung von Arbeitspaketen innerhalb eines Unternehmens an einem Standort. Die Strategie des Simultaneous Engineering basiert zunächst auf den folgenden grundlegenden Annahmen:

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4 Projekte definieren und managen

• den gesamten Produktentstehungsprozess als ein Projekt zu betrachten, nicht nur die Produktentwicklung oder die Produktionsverfahrensentwicklung, • den Entwicklungsprozess in Teilschritte zerlegen, die bei vorbestimmten Eingabegrößen zu definierten Ergebnissen zum geplanten Termin führen, • den Produktentstehungsprozess insgesamt effektiver und effizienter zu gestalten und damit zu beschleunigen. Den Grundgedanken beim Simultaneous Engineering bilden somit die Integration und Parallelisierung von Arbeiten. Auf die Ansätze zur erfolgreichen Parallelisierung wird im Folgenden eingegangen, die eine notwendige Voraussetzung für kurze Entwicklungszeiten ist. Der Integrationsgedanke wird dabei teilweise auch über die Unternehmensgrenzen hinaus umgesetzt und umfasst auch die nahtlose Integration – im Englischen seamless integration – anderer Unternehmen in den Entwicklungsprozess, beispielsweise von Entwicklungsdienstleistern. Während aller Arbeiten stehen dabei die folgenden inhaltlichen Aspekte im Vordergrund: • starke Kundenorientierung auf alle Kunden intern, die Arbeitsergebnisse zur richtigen Zeit in ausreichender Qualität erwarten, aber auch auf Firmenkunden und Endnutzer des Produkts, • Betonung der frühen Phasen der Produktentstehung und der Produktentwicklung, • kontinuierliche Bewertung der erzielten Arbeitsergebnisse unter den Gesichtspunkten Qualität, Kosten und Zeit (Time) – QKT, vgl. Abbildung 4.13. Die Einführung des Simultaneous Engineering im Unternehmen hat eine beachtliche Dimension, denn die Vorgehensweise erfordert die Abkehr von traditionellen Denk- und Arbeitsweisen, vgl. auch Abschnitt 1.2. Diese setzt wiederum Umdenken und Verhaltensänderung von einem Großteil der Mitarbeiter voraus, für eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen wird auf die Literatur verwiesen. vgl. z. B. [94]. Wegen des hohen Koordinationsaufwands der Arbeiten beim Simultaneous Engineering kommt dem Projektmanagement eine zentrale Bedeutung zu, damit sichergestellt ist, dass die einzelnen Arbeitspakete logisch aufeinander aufbauen und immer alle notwendigen Eingabegrößen – CAD-Daten, Versuchsergebnisse, Berechnungsergebnisse, Prozessmodelle, Software, Marktstudien, usw. – verfügbar sind. Konkret muss das Projektmanagement: • Arbeiten und Abläufe transparent machen und übersichtlich darstellen hinsichtlich logischer und zeitlicher Abhängigkeiten, • Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter rechtzeitig informieren und Arbeiten spätestens zum geplanten Termin beginnen, • Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Management sensibilisieren, dass zu spät abgegebene Ergebnisse oft wertlos sind, weil sonst aufgrund fehlender Informationen Annahmen getroffen und anschließend verifiziert werden müssen, um das Projekt nicht zu gefährden, • Fehler und Probleme rechtzeitig und lösungsorientiert kommunizieren,

4.3 Den Entwicklungsprozess managen

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Abb. 4.13 Magisches Dreieck – die Zielsetzung des Simultaneous Engineering

• Empfänger von Informationen darauf hinweisen, dass sie im Sinne des gemeinsam verabschiedeten Projektplans und der gemeinsam festgelegten Ziele für das Produkt auch eine Holschuld haben, • Kapazitätsplanung im Sinne des Multi-Projektmanagements für alle Projekte und alle anfallende Arbeiten durchführen, um Ressourcenengpässe – Material, Menschen, Maschinen, Prüfeinrichtungen, Produktionsanlagen – zu vermeiden. In der Praxis wird den hohen Anforderungen an das Projektmanagement häufig dadurch Rechnung getragen, dass eine organisatorische Rollenverteilung vorgenommen wird. Beispielsweise ist eine Chefingenieurin oder ein Chefingenieur für den Produktentwicklungsprozess und das technische Produkt als solches verantwortlich während eine Programmmanagerin oder ein Programmmanager für den Produktentstehungsprozess und damit für Fertigung, Einkauf, Logistik und Kosten zuständig ist. An neu zu entwickelnde Produkte werden in allen praktisch relevanten Fällen gleichzeitig mehrere hohe und scheinbar widersprüchliche Anforderungen gestellt, wie beispielsweise • erfolgreiche, d. h. marktgerechte Produkte, die z. B. kostengünstig und zugleich umweltgerecht sind, • hoher Qualitätsstandard der Produkte bei geringem Ausschuss in der Produktion, • zeitgleiche Reduzierung von Entwicklungszeit und -kosten, allgemein als Time to Market bezeichnet. Die erfolgreiche Entwicklung von neuen Produkten ist für die nachhaltige Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen von ausschlaggebender Bedeutung. Häufig wird daher die schnelle und effiziente Entwicklung von Produkten und die Reduzierung von Entwicklungszeiten und Entwicklungskosten mit dem sogenannten Magischen Dreieck bildlich zusammengefasst. Vernachlässigt man die notwendige Kompromissfindung, die sich immer wieder auf die drei Entwicklungsziele Qualität, Kosten und Zeit (Timing) zurückführen lassen, so kippt das magische Dreieck in Abbildung 4.13 und das Projekt verfehlt alle

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4 Projekte definieren und managen

Abb. 4.14 Das Wasserfallmodell der konventionellen Produktentwicklung

drei Ziele. Aufgrund der essentiellen Bedeutung der Balance zwischen den Zielen kommt dem Projektmanagement im Rahmen des Produktentstehungs- und Produktentwicklungsprozesses eine zentrale Rolle zu, beispielsweise werden diese drei Entwicklungsziele regelmäßig an allen Meilensteinen des Produktentwicklungsprozess überprüft, vgl. z. B. Abbildung 1.14 oder 4.12.a. Um die Vorgehensweise der Simultanenous Engineering in der modernen, arbeitsteiligen Welt richtig zu verstehen, wird zunächst eine klassische, sequentiell ablaufende Entwicklung angenommen, die durch das in Abbildung 4.14 skizzierte Wasserfallmodell plakativ darstellbar ist. Der sequentielle Ablauf nach dem Wasserfallmodell führt zu langen Entwicklungszeiten, die sequentielle Bearbeitung fördert auch das sogenannte Silodenken, die Silos sind die einzelnen Fachabteilungen. Moderne Formen der Arbeitsorganisation teils in Büros ohne feste Arbeitsplätze oder der zunehmende Anteil von Heimarbeitsplätzen als remote offices funktionieren nur in Organisationen mit einer offenen und effizienten Kommunikation, in der entsprechend Informationen kontinuierlich geteilt werden. Die planerischen Aktivitäten der klassischen Produktentstehung umfassen im Wesentlichen die Bereiche Marketing, Einkauf und Vertrieb, Entwicklung und Konstruktion, Herstellprozessplanung, Fertigungsentwicklung und Logistik eines Unternehmens. Im Allgemeinen wird dabei die Produktplanung im Rahmen der Produkt- und Geschäftsfeldplanung, vgl. Abbildung 2.2, von Marketing und Vertrieb verantwortet. Es schließt sich die eigentliche Produktentwicklung unter Führung der Bereiche Entwicklung und Konstruktion an. Basierend auf der fertigen technischen Dokumentation des Produktes werden dann durch die Fertigungsplanung und die Fertigungsverfahrensentwicklung die Herstellprozesse erarbeitet, wobei meist Fertigungs- und Montageprozesse den Schwerpunkt bilden. Bei materiellen Produkten folgt die Fertigung, vgl. Abbildung 2.2 links.

4.3 Den Entwicklungsprozess managen

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Abb. 4.15 Produktentstehung beim Simultaneous Engineering

Das Simultaneous Engineering unterscheidet sich daher in zweierlei Hinsicht vom konventionellen, weitgehend sequentiell ablaufenden Vorgehen, welches in Abbildung 4.15 symbolisch dargestellt ist: • Sowohl Produktplanung als auch Produkt- und Prozessentwicklung werden integriert von einem interdisziplinären Entwicklungsteam vorgenommen, • während des gesamten Produktentstehungsprozesses werden die Arbeiten soweit wie möglich überlappend durchgeführt, d. h. parallelisiert. Bei vielen Projekten im Rahmen des Simultaneous Engineering werden die Aspekte der Kundenorientierung und der Integration noch weitergetrieben, indem Vertreter der Kunden und/oder der Lieferanten und ggf. Entwicklungspartner mit in das Entwicklungsteam aufgenommen werden. Projektteam und Projektarbeit erhalten damit einen beachtlichen Umfang. Durch eine Parallelisierung der Arbeiten der Bereiche Produktplanung, -entwicklung und Prozessentwicklung soll hauptsächlich die Entwicklungszeit verkürzt werden, im Englischen als Time to Market bezeichnet. Die Arbeiten der nachgelagerten Abteilung werden bereits gestartet, während die Arbeiten des laufenden Prozesses noch nicht abgeschlossen sind. Eine Parallelisierung einfach durch einen frühzeitigen Start von Folgeprozessen beispielsweise nach Fertigstellung von 70 % der Arbeiten des laufenden Prozesses allein ist allerdings nicht Erfolg versprechend. Die zeitliche Überlappung muss sorgfältig geplant und vom Projektmanagement kontinuierlich überwacht werden, damit das Ziel des Simultaneous Engineering erreicht werden kann. Jeder Prozess benötigt folglich einen definierten Anfangszustand, damit er erfolgreich ausgeführt werden kann. Beispielsweise werden detaillierte CAD-Daten benötigt, um eine Festigkeitsberechnung mit der FE-Methode durchführen zu

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4 Projekte definieren und managen

Abb. 4.16 Prinzip des Parallelisierens von Teilprozessen: a) konventionelle Entwicklungsaktivität im sequentiellen Prozess, b) Parallelisierung der zweiten Teilhälfte der betrachteten Entwicklungsaktivität mit dem Folgeschritt

können. Meist bestimmt das Vorliegen des Endergebnisses der Vorgängeraktivität den frühestmöglichen Zeitpunkt, um mit der nächsten Aktivität starten zu können. Bei einer detaillierten Betrachtung der Planungs- und Entwicklungsprozesse wird allerdings ersichtlich, dass es fast immer möglich ist, einen bestimmten Prozess in kleinere Teilprozesse aufzuteilen, für die wiederum Zwischenergebnisse definiert werden können. Das Vorliegen dieser Zwischenergebnisse ermöglicht dann einen etwas früheren Beginn der Folgeaktivitäten. Am Beispiel der Festigkeitsberechnung mit der FEM können beispielsweise Nachbarbauteile, die nicht im Fokus der Analyse stehen und bereits als Grobstruktur im CAD-System vorliegen, schon vernetzt werden, um die Steifigkeit der Bauteile korrekt abzubilden. Eine Aussage über die Spannungen an Kerbstellen ist dann für die Nachbarbauteile nicht möglich, sie können aber bereits für die FE-Berechnung aufbereitet werden. Für den erfolgreichen Start eines Teilprozesses wird nicht immer die vollständige Information des vorangehenden Prozessschrittes benötigt. Die Aufteilung von Arbeitspaketen in Teilprozesse wie in Abbildung 4.16 skizziert führt unter Berücksichtigung der Voraussetzungen an die vorliegenden Eingangsdaten zu einem umfangreichen Netzwerk mit vielen Optimierungsmöglichkeiten und Optionen zur Verkürzung der Entwicklungszeit. Dabei wird versucht, die Teilprozesse soweit zu parallelisieren, dass sie im Idealfall gleichzeitig beginnen können. In der Praxis ist jedoch das vollständige Parallelisieren der Arbeiten aufgrund der unterschiedlichen Bearbeitungszeiten der Aufgaben und der unvollständig vorliegenden Eingangsinformationen nicht möglich. Bereits anhand der vereinfachten Darstellung in Abbildung 4.16 ist erkennbar, dass beim Simultaneous Engineering der Koordination der Arbeiten und damit auch dem Projektmanagement eine wichtige Bedeutung zukommt. Ebenfalls ist es wichtig, beim Aufteilen von Arbeitspaketen in Teilschritte stets die Sinnhaftig-

4.3 Den Entwicklungsprozess managen

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Abb. 4.17 Teilprozesse parallelisieren in allen Phasen des Produktentstehungsprozess

Abb. 4.18 Vereinfachtes Balkendiagramm eines Simultaneous Engineering Projekts

keit der Aufteilung zu hinterfragen, damit nicht mehr Koordinationsaufwand generiert wird, als tatsächlich im Gesamtablauf an Zeitvorteil erzielt werden kann. Zudem ist zu beachten, dass, wie in Abbildung 4.17 skizziert, die Maßnahmen des Simultaneous Engineering auch auf die Bereiche der Prozess- und Produktionsverfahrensentwicklung ausgedehnt werden. Auch hier kann durch Parallelisieren der Einzelvorgänge wie im Balkendiagramm in Abbildung 4.18 anhand des Produktentwicklungsprozesses dargestellt, die Gesamtzeit bis zum Markteintritt deutlich verkürzt werden. Um das Simultaneous Engineering sinnvoll nutzen zu können, sind einige Anmerkungen zu beachten, die hier lediglich zusammenfassend dargestellt werden: • Simultaneous Engineering: Die Arbeiten beim Simultaneous Engineering weisen bestimmte Charakteristiken auf, die in Abbildung 4.19 skizziert sind: – Strukturierung der Arbeiten hinsichtlich inhaltlicher und zeitlicher Aspekte und parallele Erledigung der Aufgaben – Präzises Arbeiten mit ungenauen Daten, – Beurteilen der erreichten Teilergebnisse zur Vermeidung bzw. Verkürzung von Entwicklungsschleifen,

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4 Projekte definieren und managen

Abb. 4.19 Charakteristika der Arbeiten beim Simultaneous Engineering

– Erzeugen und Bewahren einer Kooperationsoffenheit im Projekt durch ständige Beteiligung der Teammitglieder und Fairness im Team. Die Beherrschung dieser typischen Arbeitsweise entscheidet wesentlich über den Erfolg von Simultaneous Engineering Projekten. • Projektteam: Die Zusammensetzung des Projektteams hat aufgrund der anspruchsvollen Arbeiten bei Simultaneous Engineering Projekten hinsichtlich aller drei Dimensionen des magischen Dreiecks Abbildung 4.13 einen großen Einfluss auf Verlauf und Ergebnis des Projekts und stellt somit eine wichtige Einflussgröße dar. Die Teamarbeit kann durch eine geschickte Teamzusammensetzung positiv beeinflusst werden: – Mitarbeiter aus den wichtigsten an der Produktentwicklung beteiligten Abteilungen bzw. Bereichen und Vertretern aus den betroffenen Bereichen der Produktion sowie spätere Produktbetreuer aus Vertrieb und Service, – Mitarbeiter bevorzugen, die später persönlich mit bzw. an dem Produkt arbeiten, – Mitarbeiter mit Entscheidungskompetenz und detaillierten Kenntnissen der Abläufe auf Arbeitsebene, – Personen mit wichtigen außerfachlichen Kompetenzen: · Teamfähigkeit, Flexibilität, Konsensbereitschaft, · Überblick und Kenntnisse von Methoden der Produktentwicklung, · Fähigkeit zum selbstkritischen und unternehmerischen Denken, · Bewusstsein für die Bedürfnisse anderer Abteilungen, · Kooperationsbereitschaft. • Projektleitung: Der Projektleiterin bzw. dem Projektleiter kommt in Simultaneous Engineering-Projekten eine zentrale Bedeutung zu. Mit ihrem bzw. seinem Geschick kann sie/er maßgeblich zum Projekterfolg beitragen, verantwortet aber auch einen möglichen Misserfolg mit. Die Aufgaben der Projektleitung bestehen im Wesentlichen in der Koordination der Arbeiten: – Verteilung und Aktualisierung der wesentlichen Projektinformationen (z. B. Anforderungslisten),

4.3 Den Entwicklungsprozess managen

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– Einladung aller erforderlichen Personen zu Besprechungen (z. B. DesignReviews, Meilensteine), – Projektkontrolle: Termine, Kosten (Entwicklungskosten und Zielkosten), – Erkennen von unbewussten oder notwendigen Abweichungen von getroffenen Festlegungen (z. B. Anforderungen, Schnittstellen, Konzepten), – Planung und rechtzeitige Bereitstellung von Kapazitäten, – Bereitstellung von Hilfsmitteln und wichtigen externen Informationen (z. B. Informationen der Geschäftsleitung oder Marktinformationen), – Herbeiführung von notwendigen Entscheidungen (z. B. Meilensteine), – Berichterstattung gegenüber der Geschäftsführung, – Erkennen und Beseitigen von Störungen und Konflikten im Team (Konfliktmanagement), – Überwachen, ob einzelne Aspekte im Team über oder unterbewertet sind, und im Zweifelsfall entscheiden im Sinne von “best for the company”. Der Projektleiter ist dabei nicht der eigentliche Problemlöser sondern der Moderator und Organisator, im Sinne der zuvor besprochen Rollenteilung ist er Programmmanager und nicht Chefingenieur. Eine zu tiefe Einbindung des Projektleiters bzw. Programmmanagers in die Problemlösung führt über das resultierende Defizit in der Projektorganisation dann oft zu Folgeproblemen. Die technische Problemlösung verantwortet der Chefingenieur. • Projektorganisation: Eine funktionierende, häufig räumlich eng vernetzte Organisation für das spezielle Projekt ist insbesondere bei kritischen Projekten eine wichtige Voraussetzung für das Simultaneous Engineering: – Das Unternehmen ist in seinem Aufbau in einer Projektorganisation aufgebaut (z. B. Einzelfertigung im Anlagenbau). – Parallel zur normalen Aufbauorganisation sind Mischformen möglich. – Projekte sind singulär und auch parallel möglich, die Projektleiter sind mit der nötigen Entscheidungskompetenz ausgestattet.

4.3.3 Projektmanagementwerkzeuge nutzen Ein einfaches und wichtiges Werkzeug des Projektmanagements im Rahmen des Simultaneous Engineering ist die Vorgangsliste, die gleichzeitig zum KostenControlling und für das Berichtswesen benutzt werden kann und häufig – mit einer Zeitdimension ergänzt – als Balkendiagramm dargestellt wird. Zunächst erstellt man die Vorgangsliste in chronologischer Reihenfolge und ergänzt danach die realistisch erreichbaren Zieltermine. So erhält man zum einen die graphische Darstellung als Balkendiagramm, ein Beispiel ist in Abbildung 4.17 vereinfachend mit den makroskopischen Phasen der Produkt- und Prozessentwicklung dargestellt. Im Balkendiagramm können die zeitliche Überlappung und das Parallelisieren von Arbeiten gut sichtbar gemacht werden. Ordnet man die einzelnen Teilschritte der Entwicklung hingegen tabellarisch an, so kann man die Termine

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4 Projekte definieren und managen

Abb. 4.20 Beispiel einer Vorgangsliste eines Simultaneous Engineering Projekts auch zur Nutzung als Berichtswesen

und Verantwortlichkeiten in Klartext ergänzen und gelangt zur Darstellung als Vorgangsliste, die in Abbildung 4.20 gezeigt ist. Bei der Erstellung der Vorgangsliste und der abgeleiteten Darstellungsformen sollten die folgenden Hinweise beachtet werden, um eine möglichst effiziente Bearbeitung sicherzustellen: • Mit einer Grobgliederung nach den Phasen der Produktentstehung beginnen. Diese können gleichzeitig zur Festlegung von Meilensteinen mit entsprechenden Entscheidungen genutzt werden. • Anschließend detaillierter planen im Sinne eines Top-Down-Ansatzes. Hierbei allerdings nach Möglichkeit so grob wie möglich planen, um die Ziele des magischen Dreiecks zu erfüllen, vgl. Abbildung 4.13. • Alle notwendigen Arbeiten für eine erfolgreiche Produkt-, Prozess- und Produktionsentwicklung aufführen, dabei auf Kernkompetenzen beschränken und Routinearbeiten zusammenfassen, um den Gesamtplan überschaubar zu halten. • Für alle Arbeiten jeweils Ergebnis, Termin und Verantwortliche wie in Abbildung 4.20 festlegen und die Erwartungen an die Beteiligten kommunizieren. • Erledigung der Arbeiten mit Abschlussdatum versehen, das so gewährleistet ist, dass der nachfolgende Prozessschritt fristgerecht beginnen kann.

4.3 Den Entwicklungsprozess managen

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Abb. 4.21 Detaillierte Visualisierung des Entwicklungsablaufs als Balkendiagramm (GanttChart)

Eine weitere Darstellungsform ist der Netzplan, vgl. die Beispiele in Abbildung 4.12.b oder auch Abbildung 3.9 bzw. Abbildung 3.11, der die Abhängigkeiten der einzelnen Schritte, nicht aber deren zeitliche Dimension darstellt. Um die Durchführbarkeit des Projekts zu beurteilen, muss im Unternehmen für eine Vielzahl der Projekte dann ein Belastungsplan wie in Abbildung 4.12 gezeigt erarbeitet werden. Dadurch wird ebenfalls eine gleichmäßige Auslastung aller Ressourcen sichergestellt sowie die dauerhafte Überlastung kritischer Ressourcen vermieden. Eine kurzzeitige Überlastung ist hinnehmbar und teils auch positiv für die Menschen, eine dauerhafte Überlastung schädigt die Mitarbeitenden nachhaltig und ist zu vermeiden. Für das Projektmanagement stehen eine Reihe leistungsfähiger IT-Werkzeuge zur Verfügung, welche die Projektleitung unterstützen sollen und beispielsweise die Dokumentation mit Hilfe von graphischen Darstellungen vereinfachen oder die Erstellung von unterschiedlichen Darstellungsformen (Liste, Balkenplan, Netzplan) sowie das Berechnen von Terminen automatisieren. Ferner können die Belastungen der verschiedenen Ressourcen – z. B. Menschen, Prüfstände und Produktionsanlagen – durch die Projekte dargestellt und beispielsweise mit Urlaubsplänen abgeglichen werden. Der Ablauf der Aktivitäten wird im Balkendiagramm – im Englischen als GanttChart bezeichnet – als Kette logisch aufeinander aufbauender Einzelschritte dargestellt, dabei können Abhängigkeiten, Beteiligte usw. im Diagramm angegeben sein, vgl. Abbildung 4.21, auch die verschiedenen Hierarchien der Tätigkeiten, mögliche Unterbrechungen sowie Wiederholungen werden gezeigt. Identifiziert man alle Aktivitäten, die einen direkten zeitlichen Einfluss auf den zeitlichen Ablauf und den Endtermin eines Projekts haben, so erhält man den

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4 Projekte definieren und managen

Abb. 4.22 Detailplanung anhand des kritischen Pfades der Entwicklung

Abb. 4.23 Ampelfarben zur Darstellung des Projektstatus

kritischen Pfad, vgl. Abbildung 4.22. Verzögert sich ein Arbeitspaket auf dem kritischen Pfad, so wirkt sich die Verzögerung direkt auf den Endtermin des Projekts und damit den möglichen Markteintritt aus. Eine wirkungsvolle Umplanung zur Verkürzung der Entwicklungszeit beginnt beim kritischen Pfad, idealerweise wird eine Parallelisierung von Tätigkeiten angestrebt, sodass keine Tätigkeit alleine auf dem kritischen Pfad liegt. Diese Art der Planung erhöht jedoch das Risiko von Verzögerungen, da eine verspätete Maßnahme alleine schon ausreicht, um die termingerechte Fertigstellung zu gefährden. Die Möglichkeiten der Verkürzung durch die starke Parallelisierung der Tätigkeiten beinhalten aber auch das Einrichten zeitlicher Puffer, die unvorhergesehene Verzögerungen abfedern können. Weitere wichtige Werkzeuge zum Verdeutlichen und Kommunizieren des Projektstatus sind die Ampelfarben, vgl. Abbildung 4.23, denen jeweils ein bestimmtes Verständnis des Projektstatus hinterlegt ist. Die übliche Interpretation ist die Folgende:

4.3 Den Entwicklungsprozess managen

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Abb. 4.24 Spinnennetzdarstellung zum qualitativen oder quantitativen Vergleich verschiedener Produkte hinsichtlich wichtiger Eigenschaften

• Grün: QKT sind im Plan, es gibt keine nennenswerten Probleme, man braucht keine Hilfe. • Gelb: Q oder K oder T weicht vom Plan ab, es existieren nennenswerte Probleme, für die Maßnahmen zur Behebung der Planabweichung identifiziert und eingeleitet wurden. Wenn die Maßnahmen wirken, kann das Defizit behoben werden. Häufig führen die Maßnahmen jedoch zu nicht geplanten Mehrkosten und beeinträchtigen das Entwicklungsbudget. Man kann Hilfe beim Management anfordern, um z. B. mehr Prüfstände nutzen zu können. • Rot: Q und K und T weichen erheblich vom Plan ab, es gibt gravierende Probleme und es wurde noch keine Maßnahme identifiziert, um die Probleme zu lösen. Meist bekommt man Hilfe, die man eigentlich nicht will und welche sich z. B. in täglichen Berichten an das (Top-) Management oder der Einschaltung von Beratern oft als weitere Beeinträchtigung des Arbeitsablaufs darstellt. Häufig ist es auch hilfreich, wenn der Projektleiter dem Management ein politisch motiviertes Rot zeigt, um auf eine drohende und schwerwiegende Projektschieflage hinzuweisen. Im Englischen wird auch der Begriff wake-up-call benutzt, ein Zeichen an das Management, dass der Erfolg des Projekts gefährdet ist. Eine weitere häufig genutzte Art der Darstellung ist das Spinnennetz, vgl. Abbildung 4.24, bei der üblicherweise außen die besten Bewertungen zu finden sind. Liegen die Bewertungen einer Variante im Vergleich mit den Alternativen immer oder zumindest häufig weiter außen, so ist diese Variante zu bevorzugen. DieDar-

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4 Projekte definieren und managen

Abb. 4.25 Cockpit-Darstellung zur Managementinformation

stellung in Abbildung 4.24 ist so gewählt, dass die beste Produktvariante immer den Maximalwert 1 zugewiesen bekommt, weiter innen liegende Varianten werden schlechter bewertet. Der Vorteil dieser Darstellung ist, dass sie sehr schnell optisch erfasst und verarbeitet werden kann und daher von vielen Entscheidern gefordert wird. Abwandlungen zum Darstellen von Trends sind ebenfalls denkbar. Auch das Cockpit-Diagramm in Abbildung 4.25 reduziert die Inhalte sehr stark und setzt quantitative Bewertungsgrößen voraus, in der Praxis häufig als Key Performance Indicators bezeichnet, kurz KPI. In der Abbildung sind dies die Kriterien Finanzen, Kunden und Prozesse, alternative Kriterien sind denkbar. Steht der Zeiger im grünen Bereich, so befinden sich die zugrundeliegenden Indikatoren im Bereich der Soll-Vorgaben, bei leichten bis mittleren Abweichungen dreht der Zeiger ins Gelbe wie in der mittleren Darstellung. Rot ist selbsterklärend und ein Anzeichen für die Notwendigkeit der Einleitung tiefgreifender Maßnahmen. Die rechts neben den Zeigerdiagrammen gezeigten Balkencharts erklären das Zustandekommen der gemittelten Größen, im unteren Beispiel der Prozesse werden vier einzelne Metriken bewertet, wahrgenommene Servicequalität, Systemverfügbarkeit, Supportqualität und Softwarequalität. Die Detailangaben können

4.4 Weiterentwicklung des Produktentwicklungsprozess

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Abb. 4.26 Nachhaltigkeit der Entwicklungsprozesse – CMMI-Level (Quelle: [113])

dann Ansatzpunkte für Verbesserungsmaßnahmen liefern, etwa die schlechte Bewertung der Kundentreue mit Blick auf das makroskopische Kriterium Kunden in Abbildung 4.25. Alle Darstellungen in den Abbildungen 4.23 bis 4.25 reduzieren den Informationsgehalt auf wenige Zahlen und sollen den Projektstatus für die Unternehmensleitung aus vielen Projekten aggregieren. Für die Ableitung von Maßnahmen bei Abweichungen vom Soll sind diese Darstellungen nicht geeignet, wohl aber für die Erkennung der Problembereiche. Für die Maßnahmenerarbeitung eignet sich eine Vorgangsliste nach Abbildung 4.20, die deutlich mehr Detailinformationen enthält und die Basis zur Ableitung von Notfallmaßnahmen im Projekt sein kann. Die gezeigten Darstellungen sind bei weitem nicht vollständig und müssen immer vor ihrem spezifischen Hintergrund von Projekt und Unternehmen interpretiert werden.

4.4 Kontinuierliche Weiterentwicklung des Produktentwicklungsprozess Etabliert man beispielsweise im Rahmen einer Prozesslandschaft nach dem Normensystem IATF 16949, vgl. Abschnitt 6.4.2, ein System der kontinuierlichen Verbesserung der Projektplanung, vgl. Abschnitt 6.3.2, so gelangt man zu mehr Nachhaltigkeit in den Entwicklungsprojekten und den entsprechenden Prozessen. Die Einzelprojekte laufen zunehmend nach der gleichen Planungsphilosophie und ähnlichen Vorgaben ab und erlauben die Messbarkeit sowie auch das parallele Arbeiten an mehreren Projekten. Im Bereich der Automobilentwicklung und mechatronischer Produkte wird diese Nachhaltigkeit der Projekte und Prozesse über den CMMI-Level (Capability Ma-

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4 Projekte definieren und managen

turity Model Integration) beurteilt, häufig werden gerade für sicherheitskritische Produkte von den Kunden bestimmte CMMI-Level der Projekt- und Prozessorganisation der Lieferanten gefordert, vgl. Abbildung 4.26. Insbesondere im Bereich der Software-Entwicklung wird die Einhaltung der CMMI-Standards von vielen Kunden gefordert, vgl. [169]. Nachhaltige und wiederholbare Entwicklungsprozesse, die von den Mitarbeitern beherrscht und kontinuierlich verbessert werden, setzen die Standardisierung der Vorgehensweise und eine parallele Steuerung mehrerer Projekte voraus und sind somit häufig der Schlüssel zu großen Aufträgen.

Kapitel 5 Neue Produkte entwickeln

In diesem Kapitel wird der eigentliche kreative Prozess der Entwicklung neuer Produkte vorgestellt, um basierend auf der Produktidee, vgl. Kapitel 2, den angestrebten Produkteigenschaften, vgl. Kapitel 3, der Projektplanung, vgl. Kapitel 4, die Grundlagen für ein erfolgreiches neues Produkt zu schaffen. Dabei stehen der Konzeptprozess und seine Arbeitsschritte im Mittelpunkt, die jedoch nicht vollständig ausgeführt werden können, da dies den Rahmen sprengen würde. Das Kapitel erhebt nicht den Anspruch, vollumfänglich handlungsanleitend und handlungsunterstützend zu sein. Vielmehr soll dieses Kapitel zeigen, dass neue Produkte keineswegs nur kreativ entwickelt werden können, sondern dass mit einer strukturierten, methodenunterstützten Arbeitsweise Produktinnovationen in sehr vielen Fällen auch für bereits am Markt etablierte Produkte erzielt werden können. Das methodische Vorgehen integriert dabei immer Erfahrung und Kreativität und befähigt selbst Anfänger, verblüffende und für Unternehmen attraktive Lösungen zu erarbeiten. Ferner werden einige Grundlagen und Modelle der Produktentwicklung eingeführt sowie Werkzeuge vorgestellt, welche die Fokussierung der Produktentwicklung auf das Wesentliche unterstützen sollen. Dabei werden die folgenden Lernziele verfolgt:

Lernziele des 5. Kapitels: • • • • •

Sie können die Grundbegriffe der Modell- und Systemtheorie erklären. Sie können die verschiedenen Variationsarten voneinander abgrenzen. Sie kennen ausgewählte Methoden zur Fokussierung der Produktentwicklung. Sie kennen Methoden zur Priorisierung von Entwicklungstätigkeiten. Sie kennen die Grundbegriffe der Produktgenerationsentwicklung und deren Annahmen. • Sie verstehen die Methoden zum Ermitteln der Produktfunktionen sowie zum Festlegen der Teilfunktionen grundlegend und können diese anwenden. • Sie können eine prinzipielle Gesamtlösung synthetisieren und die Methoden zur Auswahl und Bewertung von Lösungsalternativen anwenden. • Sie kennen die Arbeitsschritte der Phasen der Produktentwicklung, verstehen die notwendigen Methoden und können deren Prinzipien wiedergeben.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Kirchner, Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61762-5_5

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5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.1 Zentrale Begriffe der Produktentwicklung und des Konzeptprozess

Lernziele des 5. Kapitels (Forsetzung): • Sie kennen die Schritte beim Gestalten und Ausarbeiten. • Sie haben verinnerlicht, dass meist die Kombination von methodischen und kreativem Arbeiten zum optimalen Ergebnis führt. 2

Die zentralen Begriffe dieses Kapitels sind in Abbildung 5.1 angegeben. Für eine vertiefte Diskussion der Schritte des Konzeptprozesses wird auf die allgemeine Literatur zur Produktentwicklung verwiesen, vgl. z. B. [60, 149, 170, 189] aber auch [58] sowie auf die relevanten Richtlinien des VDI, [217, 219, 220, 221]. Schließlich wird auf einige Arbeiten der Darmstädter Schule für Produktentwicklung verwiesen, aus denen dieses Kapitel in großen Teilen hervorgegangen ist, vgl. [29, 30, 31, 34, 35, 37, 41, 94, 96, 180].

5.1 Motivation und Rahmenbedingungen Neue Produkte – gleich ob völlig neu entwickelt oder nur modifiziert und optisch vom Vorgängerprodukt differenziert – sind wie in Kapitel 2 ausgeführt der Schlüssel zu nachhaltigem Wohlergehen und Wachstum von Unternehmen. Die Erarbeitung der Anforderungsliste für das neue Produkt und die Planung des Entwicklungsprojekts stehen in den Kapiteln 3 und 4 im Vordergrund, womit auch die Motivation einer erfolgreichen Entwicklung neuer Produkte gegeben ist.

5.1 Motivation und Rahmenbedingungen

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Abb. 5.2 Produktentstehungsprozess, Produktentwicklungsprozess und Konzeptprozess – Prozessverständnis in Anlehnung an die VDI-Richtlinie 2221 ff. [217, 219, 220, 221]

Die Grundlage des methodischen Entwickelns ist hier der Konzeptprozess mit den fünf in Abbildung 5.2 gezeigten Schritten, die in Abschnitt 5.4 ausführlich vorgestellt werden. In den Abschnitten 5.2 und 5.3 werden einige für den Produktentwicklungsprozess im Allgemeinen und für den Konzeptprozess im Speziellen hilfreiche Modelle und Methoden vorgestellt.

5.1.1 Die Entwicklung neuer Produkte als Kern des Produktentstehungsprozesses Wichtig ist das Verständnis, dass der Konzeptprozess der wesentliche Schritt im Rahmen der Entwicklung neuer Produkte ist, welche die Kunden später begeistern. Trotzdem wird der Konzeptprozesses in manchen Unternehmen noch immer nicht konsequent durchlaufen. Abbildung 5.3 zeigt exemplarische Kenngrößen verschiedener Produktgenerationen eines CD-Metallisierers nach [32] und verdeutlicht den Vorteil der methodischen Produktentwicklung. Ohne den Methodeneinsatz wurden von Typ A zu Typ C die Kenngrößen schlechter, insbesondere hat die Produktivität abgenommen. Nach einem strukturiert durchlaufenen Konzeptprozess wurden mit den folgenden Generationen deutlich wettbewerbsfähigere Produkte auf den Markt gebracht. Ein weiteres Beispiel einer erfolg-

104

5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.3 Normierte Kennzahlen verschiedener Produktgenerationen eines CD-Metallisierers (Nach [32])

reichen Produktentwicklung ist der in Abbildung 3.10 gezeigte Bohrdübel, der mittels Prozessvariation – die Methode wird in Abschnitt 3.2.5 beschrieben – entwickelt wurde. Im Laufe der fortschreitenden Entwicklung im Produktentstehungsprozess werden die Funktionen des neuen Produkts und damit dessen Leistungsfähigkeit, qualitätsrelevante Kennwerte und zur Herstellung aufzuwendende Kosten immer konkreter festgelegt. Zu Beginn der Entwicklungsarbeiten – in den sogenannten frühen Phasen der Produktentwicklung – sind Lösungen für das Produkt speziell bei Neuentwicklungen noch weitgehend beeinflussbar, daher bestehen hier die meisten Einflussmöglichkeiten auf Funktionalität, Qualität und Kosten. Umgekehrt sind die Entwicklungsmethoden dabei im Verhältnis zu nachfolgenden Prozessen der Produktrealisierung in vielen Fällen nicht sehr aufwändig, vgl. Abbildung 4.2. Mit wenig Mehraufwand frühzeitig in der Entwicklung können Probleme in der Produktion häufig vermieden werden. Die Produktinnovation kann daher forciert werden, indem die frühen Phasen intensiver bearbeitet werden. Dies gilt insbesondere für den Projektdefinitions- und den Konzeptprozess. Durch geringen Mehraufwand kann hier das größte Potential im gesamten Entwicklungsprozess erschlossen werden. Mit einer Intensivierung der frühen Phasen der Produktentwicklung kann außer dem entwickelten Produkt auch der Entwicklungsprozess selbst positiv beeinflusst werden. Dieses Vorgehen wird als Frontloading bezeichnet, der Vergleich mit der konventionellen Entwicklung ohne Betonung der frühen Phasen ist in Abbildung 5.4 gezeigt. In vielen Fällen wird durch das Frontloading der kumulierte Entwicklungsaufwand als Fläche unter den Kurven reduziert. Durch eine sorgfältige Aufgabenklärung und Konzeptentwicklung können in den nachfolgenden Entwicklungsprozessen in erheblichem Umfang Aufwand, Entwicklungszeit und Kosten eingespart werden. Häufig werden insbesondere der Entwurfs- und Ausarbeitungsprozess, die sich wie in Abbildung 5.2 mittig dar-

5.1 Motivation und Rahmenbedingungen

105

Abb. 5.4 Qualitativer Verlauf des Entwicklungsaufwands (Entwicklungsleistung) bei Projekten ohne und mit betonten frühen Phasen

a)

b)

Abb. 5.5 Intuitives (a) und diskursives (b) Vorgehen in der Produktentwicklung

gestellt an den Konzeptprozess anschließen, durch einfachere Lösungen erheblich erleichtert. Können außerdem bereits vorhandene Lösungen aus der eigenen Produktion oder von Lieferanten für ein neues Produkt weiter genutzt werden, so reduziert dies Aufwand und Risiko der Entwicklung weiter, zudem entfallen durch die Nutzung existierender Subsysteme und das verfügbare Erfahrungswissen häufig auch Änderungsaufwände und Probleme beim Produktionsanlauf.

5.1.2 Intuitives und diskursives Vorgehen Bei der Entwicklung innovativer Produkte müssen in den frühen Phasen sehr grundsätzliche Probleme gelöst werden. Als Werkzeuge zum Problemlösen unterscheidet man intuitive und diskursive Vorgehensweisen, vgl. Abbildung 5.5. Oft wird versucht, das Problem in einem Zug zu lösen, d. h. man wird so lange nachdenken bis die Lösung offensichtlich ist. Dabei wird nicht überlegt, wie man am besten bei der Problemlösung vorgeht bzw. ob der Lösungsweg strukturiert

106

5 Neue Produkte entwickeln

werden kann. Dieses Vorgehen wird als intuitives Vorgehen bezeichnet. Intuitives Problemlösen ist eine spezifisch menschliche Denkform und basiert auf dem sogenannten Multiplen Denken, vgl. [168]. Man nimmt an, dass dabei mehrere Denkprozesse simultan und weitgehend im Unterbewusstsein ablaufen. Die Prozesse können zu einem positiven Ergebnis führen, das als plötzlicher Einfall zutage tritt, allerdings kann dieser Einfall nicht garantiert werden. Beim diskursiven Vorgehen hingegen wird versucht, das Problemlösen zu strukturieren und die Teilaspekte der Aufgabe sequentiell zu bearbeiten, die Teilschritte bauen dabei sinnvoll aufeinander auf und das Endergebnis wird wie in Abbildung 5.5.b skizziert über Zwischenzustände erreicht. Dabei kann sich der Konstrukteur bzw. Entwickler auf die Bearbeitung der jeweiligen Teilaspekte konzentrieren. Seine mentale Belastung wird verringert und gleichzeitig die Kreativität gefördert. Tabelle 5.1 stellt wichtige Merkmale der beiden Vorgehensweisen im direkten Vergleich einander gegenüber. Die richtige Auswahl und Anwendung von Methoden – sowohl im Rahmen einer intuitiv als auch in einer diskursiv geprägten Entwicklung – sind in vielen Entwicklungsprojekten ein ausschlaggebender Erfolgsfaktor. Das Wissen über Methoden, vgl. Definition 7, und die Fähigkeit und Fertigkeit in der Anwendung – die sogenannte Methodenkompetenz – der Mitarbeiter und Vorgesetzten sind neben fachlichen und sozialen Kompetenzen bei der Entwicklung von Produkten ein wichtiger Schlüsselfaktor. Obwohl der Nachweis der Vorteile der Methodenanwendung in der Praxis oft schwierig ist, lassen sich abschließend folgende allgemein anerkannte Fakten nach [32] für eine methodisch geprägte Vorgehensweise nennen: • Die effiziente und effektive Bearbeitung der Problemstellung wird unterstützt durch eine Reihe von Hilfsmitteln, z. B. Programme zur Versionskontrolle und Verarbeitung von Anforderungen oder genormte oder allgemein anerkannte Formblätter, z. B. die Anforderungsliste, vgl. z. B. Tabelle 3.3. • Man erhält ein definiertes Ergebnis durch abgestimmte, aufeinander aufbauende Teilprozesse und Methoden im Sinne eines Methodenbaukastens, vgl. auch Definition 7.

Tabelle 5.1 Intuitives und diskursives Vorgehen im Vergleich Intuitives Vorgehen

Diskursives Vorgehen

• Stimuliert den Lösungsprozess durch äußere Randbedingungen und Motivation • Kann unterstützt werden durch Kreativitätstechniken • Ist bei guten Entwicklern und vertrauten Problemstellungen schnell und effizient • Ergibt gute Ergebnisse bei erfahrenen Experten • Ist schlecht zu managen, da der kreative Einfall nicht erzwungen werden kann

• Besteht aus abgeschlossenen Teilschritten • Ist in Arbeitsschritten und Zwischenzuständen beschreibbar • Geht logisch folgerichtig vor • Ist kontrollierter und damit beherrschbarer • Wird durch viele Entwicklungsmethoden angeregt und unterstützt

5.2 Grundlagen und Modelle

107

Abb. 5.6 Modellarten: a) Erklärungsmodell – Polarlichter, b) Prognosemodelle – PleuelKolben-Zusammenbau, c) Planungsmodell – Bundestag (In Anlehnung an [5])

• Die Methoden sind oft als handlungsführende Beschreibung formuliert, d. h. was ist konkret von wem zu tun, worauf ist zu achten usw. • Teamarbeit ist i.d.R. sinnvoll, fördert und fordert Kommunikation und Moderation; wichtige Rollen sind in Abschnitt 4.3.2 ab Seite 91 beschrieben.

5.2 Grundlagen und Modelle In diesem Abschnitt werden einige Begriffe eingeführt, welche für das Verständnis der Methoden und Modelle der Produktentwicklung notwendig sind. Die Ausführungen sind knapp gehalten und es wird für Details auf die genannten Quellen verwiesen, insbesondere [170, 188, 208].

5.2.1 Modelltheorie Modelle sind mit dem Verständnis der folgenden Definition die wahrscheinlich am häufigsten genutzten Werkzeuge der Ingenieure: Definition 10 Modell Modelle sind allgemeine, partiell vereinfachte Abbilder realer Systeme, die einem bestimmten Zweck dienen. 3

Die verschiedenen Modelle, die wissenschaftlich aber auch in der Praxis verwendet werden, lassen sich im Rahmen der Modelltheorie einordnen und bestimmten Zwecken zuordnen, vgl. [208]. Man kann anhand von Abbildung 5.6 zunächst drei verschiedene Motivationen unterscheiden, warum Modelle nach Definition 10 notwendig sind: • Zur Begründung und Erklärung von Phänomenen, z. B. der Entstehung von Polarlichtern, vgl. Abbildung 5.6.a. • Zur Hypothesenbildung und Prognose von Wirkzusammenhängen: In 500 Betriebsstunden versagt der Motor, weil die Kolbendichtung abgenutzt ist, vgl. Abbildung 5.6.b. • Zur Planung und Steuerung von Verhalten, beispielsweise durch gesetzliche Regelungen, Abbildung 5.6.c.

108

5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.7 Original, maßstabsgerechtes physikalisches Modell und virtuelles Modell einer technischen Beschreibung (Aus [5])

Dabei ist im Rahmen der Produktentwicklung die zuverlässige und gültige Modellerstellung und -verwendung unbedingt sicherzustellen, insbesondere ist die Gültigkeit der Modelle der technischen Mechanik zu nennen, die auch für die Auslegung der Maschinen- und Konstruktionselemente herangezogen werden, vgl. [107, 108, 109, 110, 138, 166, 191, 192, 196, 197]. Modelle sind dabei wie in Abbildung 5.7 an einem plakativen Beispiel verdeutlicht stets Abbildungen von Originalen, dabei können die Originale selbst Modelle sein, wenn es beispielsweise um die Dokumentation von Schutzrechten an maßstabsgerechten Funktionsmodellen geht. Jedes Modell wird aufgrund seines Zwecks durch mindestens drei Merkmale gekennzeichnet, die sich alle in Abbildung 5.7 wiederfinden: • Abbildungsmerkmal: Ein Modell ist stets Abbild oder Repräsentation eines natürlichen oder künstlichen Originals. • Verkürzungsmerkmal: Ein Modell erfasst im Allgemeinen nicht alle Attribute des Originals, sondern nur diejenigen, welche dem Modellersteller bzw. Modellnutzer relevant erscheinen. • Pragmatismusmerkmal: Modelle sind ihren Originalen nicht eindeutig zugeordnet. Die Modelle ersetzen die Originale immer nur für bestimmte Fragestellungen, innerhalb bestimmter Zeitintervalle und unter Einschränkung auf bestimmte gedankliche oder tatsächliche Operationen. Gerade das Pragmatismusmerkmal beschränkt oft die Gültigkeit der Modelle. Der Pragmatismus, der mit der Reduktion des Modells auf das Wesentliche einhergeht, ist aber zwingend notwendig, um die Modelle im Rahmen des wirtschaftlich Sinnvollen in der Praxis erarbeiten und nutzen zu können. Die im Rahmen der Motivation der Auseinandersetzung mit der Modelltheorie genannten Modelltypen lassen sich noch genauer spezifizieren und mit hier benötigten Inhalten in direkte Verbindung bringen: • Problemmodelle bilden die Abweichungen des Ist-Zustands vom angestrebten Soll-Zustand ab. Sie dienen der komplexitätsreduzierenden Dekomposition von komplexen Problemen in überschaubare Teilprobleme, um ein verbessertes Problemverständnis zu erlangen, vgl. z. B. Abschnitt 3.2. • Ziel-/Anforderungsmodelle nützen der gezielten Klärung der Aufgabenstellung durch Anforderungen, vgl. Abschnitt 3.3. Veränderte strategische Unternehmensziele oder Erkenntnisse während der Entwicklung führen mit zuneh-

5.2 Grundlagen und Modelle

• •







109

mendem Konkretisierungsgrad zur dynamischen Anpassung der Anforderungen und der Ziele. Prinzipmodelle1 dienen der Abbildung der Wirkstruktur zur geometrischstofflichen Realisierung des Produktkonzepts, vgl. Abschnitt 5.4.2 und 5.4.6. Entwicklungs-/Strukturmodelle dienen der zielgerichteten Abstraktion des Entwicklungsprozesses und der Entscheidungsfindung und nutzen weitere Partialmodelle zur Spezifikation des zu entwickelnden technischen Produkts, z. B. Balkendiagramme mit Darstellung des kritischen Pfads wie in Abbildung 4.21. Zu ihnen zählen Prozess- und Funktionsmodelle, aber auch Prinzipund Handskizzen sowie technische Zeichnungen. Verhaltensmodelle bilden die funktionalen Zusammenhänge technischer Produkte zur Voraussage des Verhaltens ab. Hierzu können Simulationen dynamischer Systemzustände basierend auf definierten Eingangsgrößen durchgeführt werden, aber auch die Modelle der Elektrotechnik und der technischen Mechanik, vgl. [107, 109], die in der Festigkeits- und Schwingungslehre sowie in der Regelungstechnik eingesetzt werden, zählen zu diesem Modelltyp. Verifikationsmodelle befassen sich mit der Analyse von Produkteigenschaften zur Beurteilung der haptischen Wahrnehmung eines Produkts und der Produktqualität, vgl. Definition 3, des Weiteren umfassen sie Funktionstests mit Prototypen, vgl. Kapitel 10. Validierungsmodelle fokussieren gemäß Definition 4 den Funktionstest des realen Produkts in seiner Einsatzumgebung unter praxisnahen Bedingungen, meist werden an die Validierungsmodelle bestimmte Anforderungen bezüglich der Fertigungsprozesse gestellt, die physische Modelle aus Serienwerkzeugen erfordern, vgl. Abschnitt 10.4.3 und Tabelle 10.1.

In Abbildung 5.8 sind zur Illustration verschiedene Modelle einer einfachen Schweißkonstruktion gezeigt, die für verschiedene Dimensionierungsaufgaben von den Querschnitten der Konstruktionselemente bis hin zu den Schweißnähten genutzt werden können. Diese werden im Laufe der Entwicklung bzw. Gestaltung von links nach rechts bzw. von (a) nach (d) nacheinander angewendet und zunehmend komplexer. Häufig sind jedoch bei realen Produkten viele Personen parallel am Produktentstehungsprozess beteiligt, um im Rahmen des Simultaneous Engineering verschiedene Aktivitäten mehr oder weniger zeitgleich durchführen, vgl. Abschnitt 4.3.2. Die Folge der Parallelisierung der Arbeiten ist eine große Anzahl an verschiedenen Modellen des Produkts für unterschiedliche Zwecke, die aufgrund ihres speziellen Zwecks jedoch häufig nicht miteinander kompatibel sind. Dieser in Anlehnung an ALBERS als Reduktions-Dilemma bezeichnete Widerspruch zum Ziel der ganzheitlichen Bildung und Nutzung durchgängiger Modelle kann in 1

Man kann die Prinzipmodelle weiter unterscheiden nach Wirkprinzipmodellen, welche die Funktionserfüllung des zu entwickelnden technischen Produkts konkretisieren und Verfahrensprinzipmodellen, welche die stofflich-geometrische Änderung des entwickelten technischen Produkts im Fertigungsprozess festlegen. Gestaltmodelle schließlich bilden die geometrischen Eigenschaften des technischen Produkts in technischen Zeichnungen, virtuellen 3DCAD-Modellen und Prototypen ab.

110

5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.8 Prinzipmodell und verschiedene Entwicklungsmodelle eines Schweißträgers: a) Prinzipmodell, b) einfach statisch überbestimmtes Dimensionierungsmodell für den Querträger (analytisches Verhaltensmodell), c) detaillierteres, dreifach statisch unbestimmtes Modell für die Schweißnahtberechnung (Entwicklungsmodell), d) FE-Strukturmodell zur rechnerischen Verifikation der Absenkung des Lastangriffspunkt (numerisches Verhaltensmodell) (In Anlehnung an [232])

vielen Fällen durch Entwickeln eines gemeinsamen Verständnisses bei der Bildung und Nutzung von Modellen und eines Regelwerks für eine durchgängige Nutzung von Modellen gelöst werden, vgl. [5]. Viele moderne Werkzeuge der modellbasierten Entwicklung, vgl. [16, 63], unterstützen die Lösung des Reduktions-Dilemmas mittlerweile durch entsprechende Softwaretools.

5.2.2 Systemtheorie Der folgende Abschnitt befasst sich mit der Systemtheorie und damit mit dem Thema Modellierung technischer Systeme, die Ausführungen orientieren sich hier an [95] und gehen inhaltlich auf [188] zurück. Ausgehend vom Systembegriff wird das Verständnis technischer Systeme kurz beschrieben, vgl. Abbildung 5.9. Definition 11 System Systeme bestehen aus Elementen, die miteinander in Beziehungen stehen und die über Merkmale und Eigenschaften beschrieben werden. Subsysteme untergliedern das Gesamtsystem hierarchisch. Das System ist in eine Umgebung eingebettet und von dieser durch die Systemgrenze abgegrenzt. 3

Die Elemente eines Systems sind dabei nach [122] nach bestimmten Regeln geordnet und durch Beziehungen miteinander verknüpft. Zusätzlich wird das System durch eine Systemgrenze von der Umgebung abgegrenzt und steht mit ihr durch Ein- und Ausgangsgrößen in Beziehung, vgl. [59]. Nach ROPOHL bestehen

5.2 Grundlagen und Modelle

111

Abb. 5.9 Funktionales, strukturales und hierarchisches Konzept zur Modellierung von Systemen (Aus [95])

drei unterschiedliche Sichtweisen auf Systeme, [188], die jeweils einen wesentlichen Aspekt eines Systems betonen und die damit ebenfalls ein Verkürzungsmerkmal aufweisen, [208]. Man unterscheidet • funktionales Konzept, • strukturales Konzept und • hierarchisches Konzept. Abbildung 5.9 zeigt die verschiedenen Konzepte im Vergleich. Das funktionale Konzept stellt den Zusammenhang zwischen Eingangs- und Ausgangsgrößen des Systems in den Vordergrund, wobei die Art und Weise dieses Zusammenhangs durch die das System charakterisierenden Eigenschaften gegeben sind. Hierbei wird das System als sogenannte Blackbox aufgefasst, dessen makroskopische Eigenschaften von außen wahrnehmbar sind, die inneren Beziehungen sind jedoch oft weder im Detail beschrieben noch für den Nutzer relevant. Das funktionale Systemdenken sieht also bewusst von der Gestaltung und vom inneren Aufbau des Systems ab und beschränkt sich auf sein Verhalten in der Umgebung. Als Beispiel kann der vom Fahrer wahrnehmbare Zusammenhang zwischen dem Betätigen des Fahrpedals und der resultierenden Geschwindigkeitsänderung seines Fahrzeuges genannt werden. Für die meisten Autofahrer ist die Art des Antriebs, die Gestaltung des Anfahrvorgangs und der Gangwahl eine vollkommen nebensächliche Information, das Fahrzeug ist für diese nur ein Fortbewegungsmittel. Das strukturale Konzept begreift das System als eine Ganzheit miteinander verknüpfter Elemente. Entsprechend stehen beim strukturalen Konzept zum einen die Vielfalt der Abhängigkeiten zwischen den Elementen und zum anderen die Beschaffenheit der Elemente selber im Mittelpunkt des Interesses. So werden beim strukturalen Konzept beispielsweise die Subsysteme des Fahrzeugs miteinander verknüpft, die funktional und in der Detaillierungstiefe gleichartig beschrieben werden, um das Verhalten des Gesamtsystems zu verstehen. Das hierarchische Konzept schließlich hebt den Umstand, dass die Teile eines Systems wiederum als Systeme, das System selbst aber seinerseits als Teil eines umfassenderen Systems angesehen werden können, hervor. Entsprechend hängt es von der gerade betrachteten Stufe ab, ob eine Ganzheit (System) entweder ein Teil einer nächsthöheren Ganzheit (Supersystem), oder aber ein Teil des Sys-

112

5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.10 Beispiel für den Systembegriff im Rahmen des hierarchischen Konzepts in der Fahrzeugtechnik am Beispiel der Kette vom Supersystem Verkehr bis zum Subsystem Wälzkörper (Die Abhängigkeiten sind aus Gründen der Übersicht nicht alle eingetragen)

tems gleichzeitig eine Ganzheit der nächstniedrigeren Stufe (Subsystem) bildet. Eine Systembetrachtung kann also auf verschiedenen Detaillierungsebenen stattfinden, wobei die Ebenen voneinander abhängig sind. Entsprechend kann der Systemgedanke zur tiefen detaillierten Analyse ebenso eingesetzt werden wie zur weitgreifenden Synthese von Zusammenhängen. Abbildung 5.10 zeigt ein entsprechendes Beispiel aus der Fahrzeugtechnik. Im System Getriebe innerhalb des Supersystems Antriebstrang bildet der Planetensatz ein Subsystem. Betrachtet man den Planetensatz als System, so wird das Wälzlager als Subsystem betrachtet und so weiter. Das Wälzlager als einfaches Maschinenelement lässt sich zuletzt in Ringe, Käfig, Schmierstoff und Wälzkörper zerlegen, im Beispiel in Abbildung 5.10 Nadeln. Die Grenze und die Art des zu betrachtenden Systems wird also auch durch den Zweck der Modellbildung bestimmt, vgl. [59].

5.2.3 Variationsarten in der Produktentwicklung In der klassischen Entwicklungspraxis wird nach [170] zwischen den verschiedenen Konstruktionsarten Variantenkonstruktion, Anpassungskonstruktion sowie Neukonstruktion unterschieden, vgl. Abbildung 5.11. In Abschnitt 1.3 wird die Unterscheidung der Konstruktionsarten im Sinne von PAHL & BEITZ mehr quantitativ am Anteil von neuen Bauteilen vorgenommen.

5.2 Grundlagen und Modelle

113

Abb. 5.11 Klassische Einteilung der Konstruktionsarten nach [170] (Aus [5])

Abb. 5.12 Beispiel für eine Neukonstruktion im Sinne von PAHL & BEITZ [170] und Motivationsbeispiel der Produktgenerationsentwicklung: Google Glass als Kombination von Referenzprodukten (Aus [5])

Eine Variantenkonstruktion zeichnet sich dadurch aus, dass innerhalb vorgedachter Systemgrenzen die Abmaße und/oder die Topologie von Bauteilen bzw. Baugruppen variiert werden, im Wesentlichen sind nach [59] bei Variantenkonstruktionen die Werkstoffe sowie die Außengestalt bekannt. Ein typisches Beispiel für eine Variantenkonstruktion stellt das iPhone 6 bzw. das abgeleitete iPhone 6s dar, die sich optisch kaum differenzieren lassen, Gestalt und Außenmaße haben sich nicht verändert. Es gab lediglich Veränderungen im Inneren, wie z. B. der größere Arbeitsspeicher und eine bessere Kamera. Eine Anpassungskonstruktion liegt dann vor, wenn das Lösungsprinzip bzw. das prinzipielle Konzept des Produktes unverändert bleibt und lediglich die Gestaltung verändert wird. Sobald eine grundlegend neue Problemstellung gelöst wird, liegt nach [170] eine Neukonstruktion vor. Wenn dabei bekannte Lösungsprinzipien neu kombiniert werden, kann trotzdem von einer Neukonstruktion gesprochen werden, wie z. B. bei der Datenbrille Google Glass, vgl. Abbildung 5.12, die sich aus dem bekannten Lösungsprinzip einer herkömmlichen Brille sowie aus der bekannten Android-Software zusammensetzt, vgl. [5]. Die Einteilung der Konstruktionsarten – Variantenkonstruktion, Anpassungskonstruktion und Neukonstruktion – wie in Abbildung 1.9 ist aber in vielen praktisch relevanten Fällen nicht mehr zielführend, da in der Praxis meist vorhandene Vorgängerprodukte verbessert werden. Die praxisbezogene Produktentwicklung ba-

114

5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.13 Produktmodell-Pyramide

siert auf Referenzprodukten, die sich aus Subsystemen zusammensetzen, welche auf verschiedene Arten bzw. auf unterschiedlichen Konkretisierungsstufen variiert werden. Bei den Variationen auf unterschiedlichen Konkretisierungsstufen ist zu beachten, dass der Grad der Veränderung der neuen (Produkt-) Lösungen sowie der Aufwand der Umsetzung mit steigendem Abstraktionsgrad ansteigen. Im Klartext bedeutet dies, dass eine Variation auf Prozessebene eines höheren Aufwandes bedarf als beispielsweise eine Gestaltvariation. Die durch Variation neu entwickelten Produkte sind umso stärker verändert, je weiter oben die entsprechend genutzte Variationsart in der Produktmodell-Pyramide nach [59] verortet ist. Im Folgenden wird auf die Variationsarten anhand der ProduktmodellPyramide in Abbildung 5.13 näher eingegangen.

5.2.3.1 Prozessvariation (PrV) Bei der Prozessvariation werden Prozessstrukturen gezielt verändert, um das zeitliche Zusammenwirken der Teilprozesse zu optimieren sowie die Teilprozesse, welche innerhalb oder außerhalb des zu entwickelnden Systems liegen sollen, festzulegen. Somit erfordert die Prozessvariation die Festlegung einer Systemgrenze. Das Prozessverständnis aus Definition 2 ist eine notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Prozessvariation. Auf der Prozessebene kann die Reihenfolge bzw. die Anordnung von Prozessschritten geändert werden, ebenfalls kann ein Ein- oder Ausgliedern von Prozessschritten und schließlich die Verschiebung der Systemgrenze zu einer Produktvariation bzw. zu neuen Produkten führen. Das Betrachten von Prozessen kann auch der Ausgangspunkt für neue Geschäftsmodelle sein, um in der zu-

5.2 Grundlagen und Modelle

a)

115

b)

Abb. 5.14 Folgen der Prozessvariation: Laden eines Elektrofahrzeugs an einer Ladestation und konventionelles Tanken von flüssigem Kraftstoff

nehmend von Dienstleistungen geprägten Gesellschaft Tätigkeiten an Dritte zu vergeben, wie das plakative Beispiel in Abbildung 3.8 und 3.9 zeigt. Das Zusammenfassen von Prozessschritten kann zu innovativen Produktideen führen, wie es bereits anhand des Beispiels Bohrdübel in Zusammenhang mit Abbildung 3.11 gezeigt ist. Die Prozessstruktur wird durch Parallelisieren und Zusammenfassen zeitaufwändiger Vorbereitungsprozesse zu einem einzigen Arbeitsprozess stark vereinfacht. Eine solche Definition eines neuen Prozesses bzw. einer neuen Prozessstruktur durch eine bewusste Prozessvariation mit systematisch erzeugten Lösungsansätzen ist häufig der Ausgangspunkt für die Entwicklung eines innovativen Produkts, welches die Kundenanforderungen grundsätzlich besser erfüllen kann. Ziel einer Prozessvariation ist neben der Entwicklung eines neuen, innovativen Produktes oft auch die Vereinfachung des Nutzungsprozesses wie anhand des Beispiels Bohrdübel deutlich wird. Der durch Zusammenfassen von Prozessschritten entstandene innovative Bohrdübel bewirkt eine Zeiteinsparung sowie Vereinfachung bei der Anwendung, vgl. Abbildung 3.11. Eine typische Prozessvariation ist der Wechsel vom rein verbrennungsmotorischen Antrieb hin zur Elektromobilität, das Prinzip der Energiewandlung und Leistungsbereitstellung wird von chemisch-flüssigen Energieträgern und thermischer Reaktion im Verbrennungsmotor zu elektrochemischen Energieträgern und Elektromotoren variiert, vgl. Abbildung 5.14. Die Prozessvariation bedingt als Variation auf der höchsten Abstraktionsstufe sehr viele Änderungen auf untergeordneten Ebenen. Am offensichtlichsten werden die Auswirkungen für den Normalkunden bei der Zufuhr der Energie zur Lösung der Transportaufgabe wie in Abbildung 5.14 gezeigt. Neben der Verfügbarkeit von Ladesäulen sind die meist hohen Ladezeiten für Elektrofahrzeuge ein wesentlicher Unterschied zur Nutzung verbrennungsmotorisch betriebener Fahrzeuge mit ihrem leicht und schnell nach fühlbaren Flüssigkraftstoff. Auch mit Blick auf die Fertigung von Komponenten kann man mit der Verfahrensvariation Unterschiede erklären. Dazu wird in Abbildung 5.15 die Herstellung eines Planetenträgers betrachtet, der prinzipiell einteilig oder mehrteilig aufgebaut sein kann, im Bild sind zwei Beispiele gezeigt. Für die Herstellung des

116

5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.15 Prozessvariation am Beispiel der Herstellung eines Planetenträgers

einteiligen Planetenträgers bieten sich in Abhängigkeit von der Stückzahl verschiedene klassische Urformverfahren sowie die additive Fertigung an, alternativ ist die Fertigung durch subtraktive Fertigungsverfahren möglich. Es werden unterschiedliche Prozesse zur Fertigung kombiniert. Beim mehrteiligen Planetenträger ist die Menge der möglichen Variationen noch größer, denn zur Herstellung der Einzelteile sind wieder bei weitgehend gleicher Gestalt der Bauteile verschiedene Prozesse denkbar, gleiches gilt für die Verbindungstechnik, aufgeführt sind exemplarisch zwei elementare Schlussarten. Als neue Lösung kann sich eine Kombination von Formschluss und Umformen als Sicherung gegen Lösen ergeben, wenn die beigen Laschen, welche in die grüne Platte eingreifen, rückseitig etwas überstehen und in der montierten Position verstemmt werden, um durch den zusätzlichen Formschluss nach Umformen ein Lösen zu verhindern. Das neue Produkt ist dann das Ergebnis einer Prozessvariation.

5.2.3.2 Verfahrensvariation (VV) In der Literatur wird häufig nicht zwischen Prozess und Verfahren unterschieden. Jedoch ist diese Unterscheidung für die Entwicklung eines Produktes notwendig, da Verfahren nach [116] beschreiben, auf welche Art und Weise die mit Hilfe des Prozesses angestrebte Transformation stattfindet, vgl. Definition 2. Das verwendete Verfahren dient folglich der konkreten Realisierung von Prozessen, vgl. [193], dabei wird folgendes Begriffsverständnis vorausgesetzt: Definition 12 Verfahren Ein Verfahren steht für einen geregelten, in einzelne Schritte zerlegbaren, nachvollziehbaren und wiederholbaren Ablauf. 3

5.2 Grundlagen und Modelle

117

Abb. 5.16 Verfahrensvariationen zum Start von Verbrennungsmotoren: a) Kurbelstart am Beispiel des Citroen 2CV, b) Konzept für einen lastumkehrfähigen Riementrieb zur Nutzung eines Startergenerators im 12V-Bordnetz, c) Motorstart mit einem achsparallel zur Kurbelwelle angeordneten 48V-Motor mit Trennkupplung

Im Rahmen der Verfahrensvariation ist nun die verfahrenstechnische Umsetzung der gewollten Prozesse festzulegen, ein Prozess kann mit Hilfe von unterschiedlichen Verfahren realisiert werden. Die Umstellung des Fertigungsverfahrens ist hingegen keine Verfahrensvariation, es wird die Gestalt des Produkts im Sinne der ganzheitlichen Produkt- und Prozessentwicklung mit Blick auf das Fertigungsverfahren geändert, vgl. Abbildung 3.13, nicht aber das dem Prozess zugrunde liegende Verfahren wie in Abbildung 5.16. Die Änderung der Gestalt ist i.d.R. eine notwendige Voraussetzung der Fertigungsverfahrensvariation, die Variation des Fertigungsverfahrens findet nach der Produktmodellpyramide auf der Gestaltebene statt und setzt deutlich mehr Details und weniger Abstraktion voraus. Beim Beispiel zur Prozessvariation in Abbildung 5.15 ist offensichtlich, dass sich bei einteiliger und mehrteiliger Herstellung auch die Gestalt ändert. Abbildung 5.16 zeigt Prinzipvarianten zum konventionellen Ritzelstarter, dessen Funktionsweise in Zusammenhang mit den Abbildungen 5.33 und 5.34 analysiert wird. Alle Verfahrensvariationen erfüllen die Funktion Verbrennungsmotor über eine initiale Rotation der Kurbelwelle starten, nutzen aber eben unterschiedliche Prinzipien der Leistungsübertragung. Vor der Erfindung und Einführung des Ritzelstarters wurde direkt die Kurbelwelle über eine Kurbel manuell gedreht, moderne Alternativen sind ein Riemen-Startergenerator mit lastumkehrfähigen Riementrieb mit etwa 10 kW Leistung oder der Start über eine elektrische Maschine mit ca. 20 kW zwischen Motor und Getriebe, vgl. Abbildung 5.16.c.

5.2.3.3 Variation der Funktionsstruktur (FV) Mit der Funktionsbetrachtung werden bereits grundlegende funktionale Eigenschaften des Produktes festgelegt. Die Entwicklung und Variation der Funktionsstruktur ist daher ein wichtiger und eigenständiger Optimierungsschritt bei der Entwicklung von Neuprodukten. Ziel einer Variation der Funktionsstruktur ist ein

118

a)

5 Neue Produkte entwickeln

b)

Abb. 5.17 Beispiel zur Variation der Funktionsstruktur: a) Obenliegende Nockenwelle mit Zahnriementrieb (Übersetzung i = 2) als Antriebselement, b) Untenliegende Nockenwelle mit Steuerkette (i = 2) und Stößelstangen

verbessertes Zusammenwirken von Teilfunktionen. Die Funktionsstruktur kann mit Hilfe folgender Operationen variiert werden: • • • • •

Verschieben der Systemgrenze durch Ein- / Ausgliedern von Teilfunktionen, Aufteilen oder Zusammenfassen von Teilfunktionen, Parallelisieren von Teilfunktionen, Ändern der Reihenfolge (Anordnung) der Teilfunktionen, Veränderung der Verknüpfungen von Teilfunktionen.

Analysiert man das Beispiel der Verfahrensvariation des Motorstarts, so wird alleine durch die unterschiedlichen Anordnungen der Startvorrichtungen am Motor klar, dass die Verfahrensvariation auch eine Variation der Funktionsstruktur bedingt. Das Ziel der Variation der Funktionsstruktur ist also die Suche nach anderen Möglichkeiten zur Umsetzung einer Funktion bei gleichbleibendem Verfahren und Wirkprinzip. Als Beispiel hierfür kann die Variation der Funktionsstruktur am Beispiel des Ventiltriebs herangezogen werden. Während die meisten aktuellen Verbrennungsmotoren eine über einen Zahnriemen, eine Steuerkette oder einen Rädertrieb angetriebene oben liegende Nockenwelle nutzen, vgl. Abbildung 5.17.a, welche direkt auf die Ventile wirkt, so wurde früher die Nockenwelle entweder direkt bewegungsgetreu von der Kurbelwelle oder über eine Steuerkette angetrieben, vgl. Abbildung 5.17.b. Zwischen Nockenwelle und Ventil ist eine Stößelstange und ein Kipphebel angeordnet, um die Nockenerhebung in eine Ventilöffnung zu übersetzen. Man erkennt die unterschiedlichen Funktionsstrukturen der beiden Ventiltriebskonfigurationen bei gleichem Wirkprinzip der Nockenwelle zur Steuerung der Ventilbewegung.

5.2 Grundlagen und Modelle

119

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass durch Variation der Funktionsstruktur bereits in einer sehr frühen Phase der Produktentwicklung die Möglichkeit für neue Lösungen geschaffen werden, vgl. [59].

5.2.3.4 Variation des physikalischen Effekts (EV) Da die meisten technischen Produkte nach [186] auf physikalischen Effekten basieren, ist auch hier eine Variation möglich. Dabei gilt die folgende Definition physikalischer Effekte. Definition 13 Physikalischer Effekt Ein physikalischer Effekt ist eine physikalische Erscheinung bzw. der Ablauf eines physikalischen Geschehens. Ein physikalischer Effekt ist durch Gesetze (z. B. Erhaltungssätze) beschreibbar und für technische Anwendungen nutzbar. 3

Die Variation des physikalischen Effekts erfolgt durch Veränderung der inneren Eigenschaften des Referenzproduktes bzw. des bisherigen Konzepts. Innere Eigenschaften kennzeichnen den Aufbau des Objekts und resultieren aus elemen-

Tabelle 5.2 Auswahl an Merkmalen zur Variation innerer Eigenschaften Charakteristikum Wertmenge Art des Effektes Effektklasse Schlussart

Gravitation, Elastizität, Induktion, Wärmedehnung, . . . Mechanisch, pneumatisch, hydraulisch, elektrisch, magnetisch, optisch, thermisch, chemisch, biologisch, . . . Stoffschluss, Formschluss, Kraftschluss, . . .

Tabelle 5.3 Welle-Nabe-Verbindungen auf Basis unterschiedlicher physikalischer Effekte bzw. Schlussarten

120

5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.18 Reibbremse, Aquatarder und Hybridmodul – Variation des physikalischen Effekts zur Lösung der Aufgabe Fahrzeuggeschwindigkeit an der Gefällestrecke konstant halten

taren Merkmalen, die i.d.R. nicht mehr weiter unterteilbar sind. Eine Variation des physikalischen Effektes kann durch Austausch des Effektes oder durch Veränderung der Reihenfolge geschehen. Tabelle 5.2 zeigt eine Auswahl abstrakter Charakteristika zur Variation innerer Eigenschaften bzw. des physikalischen Effektes und gibt Beispiele für die unterschiedlichen Merkmale an. Ein Anwendungsbeispiel für die Variation des physikalischen Effekts ist in Tabelle 5.3 gezeigt, für die Details wird beispielhaft auf [138] verwiesen. Die verschiedenen Schlussarten Stoffschluss, Formschluss und Reibkraftschluss sind auch in Tabelle 5.2 genannt. Tabelle 5.3 konkretisiert somit die Variation des physikalischen Effekts am Beispiel “Schlussart” für eine Welle-Nabe-Verbindung. Die Unterscheidung beispielsweise der formschlüssigen Welle-Nabe-Verbindungen nach direktem oder indirektem Schluss – ohne oder mit Wirkkörper – zählt jedoch nicht mehr zu den Variationsmöglichkeiten des physikalischen Effekts. Ein weiteres Beispiel für eine Variation des physikalischen Effekts ist in Abbildung 5.18 gezeigt, die drei Lösungen erfüllen die gestellte Aufgabe Fahrzeuggeschwindigkeit an der Gefällestrecke konstant halten gleichermaßen. Alle Lösungen haben jedoch weitere Vorteile, die bei der Entscheidung berücksichtigt werden müssen: Die Reibbremse kann als einziges Prinzip auch als Notbremse verwendet werden, basierend auf dem Effekt der trockenen Reibung können auch die für eine Notbremsung erforderlichen Bremsleistungen bereitgestellt werden. Der Aquatarder funktioniert theoretisch auf unbegrenzt langen Strecken verschleißfrei und wandelt die kinetische bzw. potentielle Energie des Nutzfahrzeugs über Flüssigkeitsreibung ebenfalls in thermische Wärme. Das Hybridmodul kann die potentielle Energie an der Gefällestrecke in elektrische bzw. elektrochemische Energie wandeln. Weder Aquatarder noch Hybridmodul sind jedoch in der Lage, die notwendige Kurzzeitleistung beim Nothalt aufzunehmen. Trotzdem kann die Variation des physikalischen Effekts auch auf neue bzw. zusätzliche Funktionen führen, im Beispiel des Hybridmoduls das Rekuperieren und das elektrische Fahren.

5.2 Grundlagen und Modelle

121

5.2.3.5 Prinzipvariation (PzV) Unter einer Prinzipvariation wird die Veränderung des Wirkprinzips oder die Anordnung der Wirkprinzipien verstanden. Wirkprinzipien setzen sich aus Wirkelementen mit inneren Eigenschaften zusammen. Tabelle 5.4 zeigt eine Auswahl von Wirkelementen, welche im Rahmen einer Prinzipvariation variiert werden können. Die Suche nach neuen Lösungsprinzipien kann beispielsweise durch Anpassungen von Lösungsprinzipien aus bestehenden Produkten, welche vergleichbare Funktionen in anderen Zusammenhängen erfüllen oder durch die Nutzung von Konstruktionskatalogen oder Kreativitätstechniken erfolgen, vgl. [7] sowie Abschnitt 5.4.3. Eine Variation auf Ebene der Wirkprinzipien erfordert in der Praxis nach [6] oft eine erneute umfangreiche Qualitätsüberprüfung auf Bauteilebene und Stichprobenprüfungen auf Supersystemebene. Ein Beispiel für die Prinzipvariation der Wirkelemente ist in Tabelle 5.5 wieder am Beispiel von Welle-Nabe-Verbindungen gezeigt, der Konstruktionskatalog ist auf das Wirkprinzip Formschluss fokussiert, eine Teillösung aus der Variation der Funktionsstruktur in Tabelle 5.3. Da Formschluss mit und ohne Wirkelement realisierbar ist, gibt es zwei funktionsgleiche rein formschlüssige Lösungsprinzipien, weitere Kombinationen mit anderen Schlussarten sind prinzipiell denkbar aber aufgrund der fehlenden Eindeutigkeit hier nicht im Fokus.

Tabelle 5.4 Merkmale zur Variation der inneren Eigenschaften von Wirkelementen

122

5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.19 Prinzipvariation am Beispiel elektrischer Maschinen: a) Prinzipbild der Synchronmaschine mit fremderregtem Magneten im Rotor, b) Prinzipbild der Asynchronmaschine, c) Produktansicht von Stator mit Windungspaket und Rotor mit vergrabenen Dauermagneten, d) Produktbild einer Asynchronmaschine mit Kurzschlussläufer zur Induktion eines rotorinternen Wirbelstroms

Ein weiteres Beispiel für eine Prinzipvariation ist in Abbildung 5.19 am Beispiel elektrischer Antriebe gezeigt. Bei den Maschinen mit fremderregten Rotoren wird über Schleifringe der Rotor bestromt und ein Magnetfeld induziert, die Rotordrehgeschwindigkeit entspricht der Geschwindigkeit, mit welcher das im Stator induzierte Magnetfeld rotiert, vgl. Abbildung 5.19.a. Ein entsprechendes Pro-

Tabelle 5.5 Vereinfachter Konstruktionskatalog formschlüssiger Welle-Nabe-Verbindungen mit Beispielen für unmittelbaren und mittelbaren Formschluss sowie für kombinierten Schluss

5.2 Grundlagen und Modelle

a)

123

b)

Abb. 5.20 Gestaltvariation am Beispiel eines Kolbens: a) ebener Kolbenboden, b) Kolben mit Freiformfläche zur Unterstützung der Gemischbildung

duktbild einer Synchronmaschine mit Dauermagneten zeigt Abbildung 5.19.c, derartige Maschinen werden aufgrund ihrer hohen Leistungsdichte in der Elektromobilität bevorzugt verwendet. Bei der Asynchronmaschine hingegen, deren Prinzipbild in Abbildung 5.19.b gezeigt ist, wird im Rotor in der in sich geschlossenen Windung durch das von außen anliegende Magnetfeld ein Stromfluss induziert, welcher wieder über den Lorentz-Effekt ein Drehmoment auf die Rotorwelle hervorruft. Prinzipbedingt braucht die Asynchronmaschine eine Differenzgeschwindigkeit, zwischen der Drehgeschwindigkeit des Rotors und der Drehgeschwindigkeit des Statorfeldes stellt sich Schlupf ein. Die Asynchronmaschine ist einfacher und kostengünstiger im Aufbau2 , vgl. Abbildung 5.19.d.

5.2.3.6 Gestaltvariation (GV) Eine Variation des Wirkprinzips hat immer auch eine Variation der Gestalt zur Folge. Neuentwicklungen durch Gestaltvariation führen hingegen i.d.R. zu einer deutlichen Verbesserung der Leistungseigenschaften, vgl. Abschnitt 3.3.3.4, und werden durch Variation funktionsbestimmender Merkmale erreicht, wobei die Wirkflächenpaare und Wirkstrukturen erhalten bleiben. Für die Neuentwicklung von Subsystemen treten Gestaltvariationen häufiger auf als die Variation des Wirkprinzips. Eine Variation auf Gestaltebene kann auf folgende Weisen erreicht werden: • Veränderung der Gestalt von Wirkflächen oder Bauelementen, • Variation des Kraftflusses, • alternative Kopplung der Bauelemente.

2

Zudem wird durch den rotierenden Kurzschlussläufer der Asynchronmaschine bei nicht bestromtem Stator keine Spannung induziert, was als Vorteil hinsichtlich der Betriebssicherheit der Asynchronmaschine interpretiert werden kann. Bei der Synchronmaschine mit Permanentmagneten wird jedoch bei stromlosem Rotor bei Fremddrehung des Rotors in der Statorwicklung eine Spannung induziert.

124

5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.21 Gestaltvariationen von Keilwellenverbindungen: Links innenzentriert, rechts flankenzentriert

Eine Gestaltvariation ist beispielsweise beim Otto-Motor ersichtlich: das Prinzip ist schon lange bekannt, jedoch konnte durch Gestaltvariation insbesondere von Zylinderkopf und Kolben eine Verbesserung der Leistungseigenschaften erreicht werden, vgl. [7], obwohl insbesondere die Wirkflächen und Wirkstrukturen des Kurbeltriebs gleichgeblieben sind. Der einfache zylindrische Kolben in Abbildung 5.20.a mit ebenem Boden kann die Gemischbildung im Brennraum kaum unterstützen, der moderne Kolben mit einer komplexeren Gestalt des Bodens verbessert die Leistungseigenschaften des Verbrennungsmotors. Die Einprägung am linken Bildrand in Abbildung 5.20.b unterstützt zudem das Ventilöffnen, das Wirkflächenpaar zwischen Kolben und Luft-Kraftstoff-Gemisch bleibt jedoch trotz der Gestaltvariation erhalten. Eine Gestaltvariation kann systematisch erfolgen, indem prinzipielle Gestalteigenschaften geändert und neu kombiniert werden. Bei diesem Vorgehen muss jedoch eine große Anzahl von Varianten durchdacht und überprüft werden. Einige typische Merkmale konstruktiver Ausprägungen der Gestaltvariation sind in Tabelle 5.6 gezeigt. Als Fortsetzung des vorausgegangenen Maschinenelemente-Beispiels der WelleNabe-Verbindungen in Tabelle 5.3 und Tabelle 5.5 kann man beispielsweise die

Tabelle 5.6 Typische Merkmale häufig verwendeter Gestaltvariationen Typisches Merkmal

Häufig verwendet Gestaltvariation

Relative Lage der Wirkflächen Geometrische Umkehr Kraftleitungsweg durch die Bauelemente Verändern des Kraftflusses Relative Lage angetriebener, abgetriebener Kinematische Umkehr: und ruhender Elemente • Antriebswechsel • Abtriebswechsel • Gestellwechsel Kopplung der Bauelemente Austausch von Gelenken • Schubgelenk – Drehgelenk • 1 wertiges Gelenk – 2 wertiges Gelenk • Drehgelenk – Blattfedergelenk • Räumliche bewegliche Gelenkanordnung • Räumlich-elastische Gelenke

5.2 Grundlagen und Modelle

a)

125

b)

Abb. 5.22 Beispiel für Gestaltvariation: Sechsgang-Handschaltgetriebe M1X in Zwei-WellenBauweise und F40 in Drei-Wellen-Bauweise von Opel / GM (Aus [138] und [135])

unmittelbaren formschlüssigen Welle-Nabe-Verbindungen in Abbildung 5.21 als Gestaltvariationen auffassen. Die Form und Lage der Wirkflächen der Zentrierfunktion ändert sich, nicht aber das Prinzip des unmittelbaren Formschlusses für die Funktion der Momentenübertragung. Ein Beispiel für eine Gestaltvariation, bei dem die Gestalt der Wirkkörper und ihre Anordnung im Inneren, nicht aber die wesentlichen Schnittstellen nach außen variiert werden, zeigt Abbildung 5.22. Die beiden Getriebe weisen für den Kunden das gleiche Verhalten auf, durch die unterschiedlichen Momentenkapazitäten können die Getriebe für den Kunden nahezu unbemerkt ausgetauscht werden, Fahrzeugmasse und Motormoment bestimmen die Getriebegröße. Das kleinere Getriebe M1X kommt bei 220 Nm Momentenkapazität mit zwei Hauptwellen aus und baut demzufolge sehr kompakt. Das größere Getriebe F40 mit einer Kapazität von über 400 Nm erfordert breitere Verzahnungen, die nicht mehr auf zwei Wellen angeordnet werden können, eine zusätzliche Welle wird notwendig. Die Gestaltung der Komponenten des Subsystems Fahrzeuggetriebe ist auf der Ebene des Supersystems Fahrzeug häufig fast schon irrelevant. Es wird von einer indirekten oder mittelbaren Gestaltvariation gesprochen, wenn der Werkstoff, das Fertigungs- oder das Montageverfahren verändert bzw. variiert wird, vgl. [59]. ALBERS bezeichnet im Rahmen der Produktgenerationsentwicklung, vgl. Abschnitt 5.3.2, eine Variation des Fertigungskonzeptes bzw. Fertigungsverfahren als Prinzipvariation auf Ebene der Produktionstechnik, die Gestaltvariation wird mittelbar durch die Fertigungsprinzipvariation erreicht, wie bereits im Zusammenhang mit Abbildung 5.15 diskutiert. Der Planetenträger in Abbildung 5.23 kann als Beispiel für eine (mittelbare) Gestaltvariation genutzt werden, bei dem die Fertigungsverfahren variiert werden können. Bei kleinsten Stückzahlen wird die Kombination aus Planetenträger und Flanschplatte am einfachsten spanend aus einem Materialblock gefertigt. Bei niedrigen zwei und dreistelligen Stückzahlen kann ein Gussrohling mittels Feinguss vorteilhaft hergestellt und fertig bearbeitet werden, wie in Abbildung 5.23.a gezeigt. Bei großen Stückzahlen von mehreren Tausend Stück ist der Aufbau ei-

126

a)

5 Neue Produkte entwickeln

b)

Abb. 5.23 Mittelbare Gestaltvariation (Verfahrensvariation) bei der Herstellung eines Planetenträgers: a) Planetenträger in Feinguss-Ausführung für mittlere Stückzahlen, b) Planetenträger und Flanschplatte als Umformteile als Hochstückzahllösung

nes Stanz-Präge-Werkzeugs für die Flanschplatte und ein mehrstufiges Umformwerkzeug für den Planetenträger vorteilhaft, die beiden Einzelteile können dann mittels Laserschweißen vollautomatisch gefügt werden, vgl. Abbildung 5.23.b.

5.2.3.7 Übernahmevariation (ÜV) Eine andere Möglichkeit, neue Produkte zu entwickeln ist durch Übernahmevariation. Hierbei bleiben sowohl das Lösungsprinzip als auch das Gestaltprinzip gleich. Eine Übernahmevariation kann nach [6] in den frühen Phasen des Produktentwicklungsprozesses sinnvoll sein, um eine erste Beurteilung der Projektziele hinsichtlich ihrer Realisierbarkeit zu erreichen. Als Beispiel für eine Übernahmevariation auf Subsystemebene dienen hier die Sechsgang-Handschaltgetriebe aus Abbildung 5.22, welche alternativ in neuentwickelte Fahrzeuge eingebaut werden können. Wird die notwendige Momentenkapazität des Getriebe durch andere Motoren verändert, so kann eine Variante aus der anderen Getriebefamilie verwendet werden, es handelt sich um eine Übernahmevariation auf Subsystemebene. In diesem Fall bleiben die Bedienelemente sowie der Montageprozess im Fahrzeugwerk gleich, einzelne Bauteile zur Aufnahme des Getriebes in der Produktion aber auch im Fahrzeug müssen jedoch ggf. angepasst werden. Im Rahmen der Produktgenerationsentwicklung (PGE) findet die Weiterentwicklung der Produkte meist durch Neuentwicklung auf Subsystemebene statt. Die Produktgenerationsentwicklung wird ausführlicher in Abschnitt 5.3.2 diskutiert und dort als Werkzeug zur Fokussierung der Entwicklungstätigkeit genutzt. In der PGE treten i.d.R. die Variationsarten Prinzipvariation (PzV), Gestaltvariation (GV) und Übernahmevariation (ÜV) für Subsysteme gemeinschaftlich auf, um zu einem innovativen Produkt zu gelangen, vgl. [7]. Die Entwicklung einer

5.2 Grundlagen und Modelle

127

Abb. 5.24 Beispielhafte Darstellung einer Produktgenerationsentwicklung (Nach [7])

neuen Generation technischer Produkte basiert somit zu einem großen Teil auf Referenzprodukten wie Vorgängerprodukten oder Produkten von Lieferanten. Abbildung 5.24 verdeutlicht als Beispiel das gemeinschaftliche Auftreten von Übernahmevariation (Bremse), Prinzipvariation (Spoiler) sowie Gestaltvariation (Getriebe) durch einen Generationsvergleich verschiedener Porsche Modelle. Durch die Übernahmevariation der Bremsscheibe – der Werkstoff der Bremsscheibe wird von Gussstahl auf Keramik umgestellt – wird als Begeisterungseigenschaft, vgl. Abschnitt 3.3.3.4, eine Hochleistungsbremse mit besseren Leistungseigenschaften realisiert.

5.2.3.8 Unschärfe der Einteilung Das Erklärungsmodell der Variationsarten hat den Nachteil, dass die Einteilung nicht eindeutig ist. Es wird am Vergleich von Abbildung 5.15 und Abbildung 5.23 deutlich, dass je nach Blickwinkel die eine oder andere Variationsart als plausibel erscheint. Wichtig ist das Verständnis, dass man bei den abstrakteren Variationsarten vornehmlich Eigenschaften von Produkt oder Prozess bewertet während bei den konkreteren Variationsarten, die in der Produktmodellpyramide in Abbildung 5.13 eher unten eingetragen sind, Merkmale des Produkt bewertet werden, vgl. auch Definition 5 und 6.

128

5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.25 Unterschiedlich umfassendes Entwickeln am Beispiel der Komponenten einer Verpackungsanlage (Aus [32])

5.3 Fokussierung der Entwicklung neuer Produkte Nicht jedes Produkt muss im Rahmen der Produktentwicklung als Ganzes konzeptionell überdacht und neu entwickelt werden. Auch bei der Neu- oder Weiterentwicklung komplexer Produkte können durchaus bewährte Komponenten von bisherigen Produkten übernommen werden, wenn sie den Anforderungen an die neue Produktgeneration entsprechen. Um die meist aus Ressourcengründen notwendige Fokussierung zu unterstützen, werden in diesem Abschnitt zwei Ansätze vorgestellt und anhand von Beispielen belegt, die sich in der Entwicklungspraxis als zielführend erwiesen haben. In Abbildung 5.25 ist am Beispiel einer Verpackungsanlage gezeigt, dass es häufig ausreicht, sich bei einer Weiterentwicklung auf ein Subsystem – in diesem Fall die Schweißeinheit – zu konzentrieren und diese beginnend bei der Klärung der Aufgabe neu zu entwickeln. Alle anderen Subsysteme sollten dabei so wenig wie möglich verändert werden, um Entwicklungs- und Werkzeugkosten so gering zu halten wie möglich und um die Projektziele, vgl. Abbildung 4.13, nicht zu gefährden. Andere Subsysteme können entweder direkt übernommen werden oder sie werden unter Beibehaltung des gewählten Funktionsprinzips auf die neuen Abmessungen skaliert. Optimierungsarbeiten setzen bei bekanntem Funktionsprinzip bei der Gestaltung an, der Konzeptprozess, vgl. Abschnitt 5.4, wird bei festgelegtem Wirkprinzip nicht noch einmal durchlaufen, es werden meist kosten- oder leistungsbezogene Eigenschaften optimiert. Eine allgemeingültige Empfehlung für ein bestimmtes Vorgehen basierend auf den beiden vorgestellten Ansätzen zur Priorisierung ist nicht möglich, da für die richtige Fokussierung auch produkt- und unternehmensspezifische Kriterien wie

5.3 Fokussierung der Entwicklung neuer Produkte

129

etwa verfügbare Produktionsanlagen, nutzbare Schutzrechte und die Präsenz des Unternehmens auf den relevanten Märkten berücksichtigt werden müssen. Die Ansätze gehen von Wertschöpfungsaspekten bzw. von Überlegungen der Produktgenerationsentwicklung aus. Tabelle 5.7 zeigt ein Beispiel einer Entscheidungshilfe für die eigene Organisation von Arbeiten anhand der Wichtigkeit einer Tätigkeit und der gebotenen Eile. Die in Tabelle 5.7 verwendeten Kriterien lassen sich auch problemspezifisch anpassen, allerdings können die Empfehlungen nicht pauschal verallgemeinert werden. Man verdeutliche sich dies anhand der beiden Kriterien Fertigungstechnologie (Vorhanden im Unternehmen oder beim Lieferanten) und Wertschöpfungstiefe (Hoch oder niedrig) und überlege, welche Schlussfolgerungen sich für die eigene Produktion bzw. für den Zukaufanteil und die resultierenden organisatorischen Anpassungen ableiten lassen.

5.3.1 Fokussierung der Entwicklung durch Analyse der Wertschöpfungstiefe Als ein mögliches Kriterium zur Fokussierung der Produktentwicklung materieller Produkte bietet sich die Wertschöpfungstiefe an, um eine Konzentration der Entwicklungskapazitäten auf die Komponenten oder Subsysteme des Produkts mit hoher Wertschöpfung zu ermöglichen. Dadurch werden die Entwicklungsressourcen eingesetzt, um die Eigenfertigungsanteile zu stärken oder weiter auszubauen. Bereiche niedriger eigener Wertschöpfung werden erhalten, aber zunächst weder ausgebaut noch zurückgefahren. Um ein Projekt bei Fokussierung der Ressourcen entsprechend der eigenen Wertschöpfungstiefe zum Erfolg zu bringen, ist zunächst die umfassende Spezifikation der übrigen Komponenten, die nicht selbst gefertigt werden, und ihrer Schnittstellen erforderlich, um das reibungslose Zusammenspiel aller Komponenten und Subsysteme sicherzustellen. Bei den Komponenten, die nicht im Fokus der Entwicklung stehen, ist ferner zwischen Lieferantenentwicklung oder Katalogzukauf zu unterscheiden. Bei Lieferantenentwicklung übernimmt der Komponentenoder Subsystemlieferant die Entwicklung seines Lieferumfangs selbst, je nach Komplexität des Lieferumfangs fällt beim Lieferanten ebenfalls die Notwendigkeit der Priorisierung an. Der Eigenfertigungsanteil bei dieser Art der Priorisierung umfasst vorrangig kritische Komponenten mit aufwändiger Fertigung. Komplexe Arbeitsschritte wie

Tabelle 5.7 Entscheidungshilfe beim Priorisieren Wichtig

Unwichtig

Eilig Erledigen Delegieren Nicht eilig Terminieren Ablegen

130

5 Neue Produkte entwickeln

die System-Montage und der abschließende Test des fertigen Produkts werden in den meisten Fällen als wesentlicher Bestandteil der Wertschöpfung angesehen und im Unternehmen verantwortet. Ebenso wird die Eigenfertigung von Komponenten und Subsystemen bevorzugt, wenn die Nutzung vorhandener Ressourcen – bereits investiertes Kapital oder vorhandene Belegschaft – Vorteile bietet, d. h. wenn auf bereits abgeschriebenen aber zuverlässigen Maschinen produziert werden kann. Ferner wird die Eigenfertigung auch als strategisches, mittelfristiges Mittel eingesetzt, um vorhandene Mitarbeiter sinnvoll einsetzen zu können, deren Arbeitsplätze ansonsten zur Disposition stünden. Der Zukauf vom Lieferanten wird für Komponenten und Subsysteme gewählt, die – aus verschiedenen Gründen wie Investitionsvermeidung, fehlender Technologiekenntnis, Kundennähe usw. – nicht intern gefertigt werden sollen und nicht als Katalogteile bezogen werden können. Dabei wird auch die Entwicklung zum Lieferanten verlagert und kontinuierlich kontrolliert, was meist einen hohen Koordinationsaufwand für die externe Entwicklung bedingt. Teils werden aber auch die Lieferanten direkt in die Projektteams im Rahmen der sogenannten Supplier Integration integriert. Als Katalogware werden dann schließlich die Komponenten zugekauft, die ohne Anpassung direkt einsetzbar sind; als gutes Beispiel können hier Verbindungselemente, Wälzlager oder Schmierstoffe genannt werden. Fälschlicherweise werden Katalogteile häufig mit C-Teilen im Sinne einer ABC-Analyse gleichgesetzt, was ein hohes Qualitätsrisiko durch die ungeprüfte Übernahme von Katalogteilen mit sich bringen kann, vgl. Abschnitt 6.3 und Abschnitt 8.4.3 sowie Abbildung 8.21. Der Fokus bei der Nutzung von Katalogteilen liegt auf der Beherrschung der Schnittstellen zu Eigenfertigungs- und Systemlieferantenteilen. Die Schnittstellen der Katalogteile müssen exakt eingehalten werden, bei Nichtbeachtung werden teure Anpassungskonstruktionen der Zukaufteile notwendig und der wirtschaftliche Vorteil der Katalogteile schlägt zu einem Nachteil um. Ein Beispiel für ein vom Katalog abweichendes Sonderteil ist in Abbildung 5.26 gezeigt; der reguläre Schraubenkopf mit Normaltorx ist nicht mit den Anforderungen an die Freigängigkeit der Schraube bzw. des Getriebeflanschs im Fahrzeug verträglich, die Schraube wird mit einem kleineren Kopf ausgeführt. Als typisches Beispiel für die Priorisierung anhand der Wertschöpfung lassen sich viele Fahrzeuggetriebe nennen, Abbildung 5.22 zeigt zwei Beispiele. Räder und Wellen sind typische Eigenfertigungsteile, die Rohlinge werden entweder fertig zugekauft oder in konzerneigenen Schmieden hergestellt. Die Gehäuse werden meist als Gussrohteil bezogen und fertig bearbeitet. Lager, Schaltungsteile, Kupplungssysteme und große Teile der Hydraulik von Doppelkupplungsund Automatikgetrieben werden von Lieferanten entwickelt, die Verbindungsteile sind soweit irgend möglich Standardteile nach eigenen Werksnormen, die in sehr großen Stückzahlen bezogen werden, oder gar DIN-Teile. Fahrzeughersteller, die ihre Getriebe selbst produzieren wie Daimler, Volkswagen oder PSA und Getriebehersteller nutzen meist ähnliche Strategien für die Fokussierung der Entwicklung auf Eigenfertigungskomponenten und Systemfragen.

5.3 Fokussierung der Entwicklung neuer Produkte

a)

131

b)

Abb. 5.26 Sonderschraube an der Verschraubung eines Getriebeflanschs. a) Zusammenbausituation, b) Vergleich mit der regulären Schraube

Die eigenen Entwicklungsressourcen werden auf Subsysteme mit hohem Einfluss auf Kundenzufriedenheit und Differenzierung fokussiert. Die übrigen Subsysteme werden durch Vergabe von Entwicklung und Produktion an fähige Lieferanten bereitgestellt. Die Wertschöpfung für die Subsysteme beschränkt sich meist auf die Montage ins System und systemrelevante Aspekte. Die Eigenentwicklung konzentriert sich also auf kritische Komponenten und Funktionen, welche das Endprodukt vom Wettbewerb differenzieren, meist wird auch hier das Vorhandensein der notwendigen Ressourcen – Kapital und Belegschaft – vorausgesetzt. Bei der Konzentration auf die eigenen Wertschöpfungsanteile und die kritischen Systemfunktionen kommt der Entwicklung und Produktion durch Lieferanten eine entscheidende Rolle zu, denn teils werden auch große Subsysteme an Partner vergeben. Dies betrifft insbesondere Subsysteme, die nicht intern gefertigt werden sollen, da sie vom Endkunden nicht als differenzierend wahrgenommen werden oder deren Entwicklungsaufwand nicht in Relation zu den erwarteten Stückzahlen steht. Die Entwicklung wird verlagert und kontinuierlich kontrolliert, was einen hohen Koordinationsaufwand zur Steuerung der externen Entwicklung bedingt, insbesondere in den frühen Phasen der Entwicklung. Auch für die Fokussierung auf differenzierende Eigenschaften lässt sich in der Automobilindustrie ein gutes Beispiel finden, vgl. Abbildung 5.27. Das gezeigte Fahrzeug kann fast als typisch für die Strategie von BMW angesehen werden, denn die Eigenentwicklung konzentriert sich für alle BMW-Fahrzeuge auf die Karossiere, die wichtig für Aerodynamik und Anmutung ist, die sichtbaren Außenteile sowie den Verbrennungsmotor, dem Herzstück des Anspruchs “Freude am Fahren”. Als Lieferanten-Subsysteme können hier das Infotainment und die Regelsysteme angesehen werden ebenso wie das Getriebe und das Fahrwerk, die nicht direkt zur Differenzierung beitragen. Vielen Kunden ist nicht bewusst, wie hoch der Anteil der Zulieferkomponenten bei vielen Fahrzeugen ist. Ferner werden Beleuchtungskomponenten, Abgasanlage, das Interieur, das Kraftstoffsystem und viele andere Subsysteme nicht von BMW im Detail entwickelt und produziert. Wichtig ist aber trotzdem die detaillierte Kenntnis auch der Lieferanten-

132

5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.27 Coupe der 3-er Baureihe von BMW als Beispiel zur Erklärung der Fokussierung anhand der Entwicklungstiefe

Subsysteme, um diese eindeutig und widerspruchsfrei spezifizieren zu können, um so Abstimmungs- und Qualitätsprobleme zu vermeiden. Im Rahmen der Fokussierung von Entwicklung und Produktion werden häufig die englischen Begriffe Insourcing und Outsourcing verwendet. Während beim Insourcing typischerweise Wertschöpfungsaktivitäten sowohl in der Entwicklung als auch in der Produktion als strategische Maßnahme wieder vom Lieferanten ins Unternehmen zurück verlagert werden, so ist beim Outsourcing genau das Gegenteil der Fall. Während das Insourcing meist mit einem Kompetenzaufbau verbunden ist und als starkes Zeichen für einen Bereich verstanden wird, so ist das Outsourcing oft alleine schon aufgrund des mittelfristigen Kompetenzverlusts negativ konnotiert.

5.3.2 Produktgenerationsentwicklung Die Produktgenerationsentwicklung (PGE), die von ALBERS und Mitarbeitern als Modell vorgeschlagen wurde, wird hier als zweiter Ansatz zur Fokussierung der Entwicklungstätigkeiten verkürzt dargestellt, ausführlich beschrieben wird die PGE z. B. in [6, 9]. Zunächst wird die Unterscheidung von Neukonstruktionen, Anpassungskonstruktionen und Variantenkonstruktionen rekapituliert, die in Abschnitt 1.3.1 diskutiert wird, Abbildung 5.11 zeigt jeweils Beispiele. In der Werbung werden alle diese Produkte als neu bezeichnet, auch wenn der Grad der technischen Neuerung durchaus stark variieren kann. Für eine zweckmäßige Unterscheidung der Entwicklungsaufwände ist somit zunächst die Analyse der Änderungen auf Stücklistenebene für mechanische Konstruktionen oder Funktionsebene für mechatronische Produkte notwendig. Ausgangspunkt für die Überlegungen zur Fokussierung der Entwicklungsaktivitäten ist hier das in Abbildung 5.28 gezeigte Ergebnis einer Studie, nach welcher

5.3 Fokussierung der Entwicklung neuer Produkte

133

Abb. 5.28 Ergebnis einer Studie mit 131 Unternehmen zum Anteil der Neuteile bei Entwicklungsprojekten (In Anlehnung an [5])

Abb. 5.29 Produktgenerationsentwicklung durch Nutzung von Referenzprodukten (Aus [5])

der Großteil der Entwicklungsprojekte zwischen 20 % und 80 % Neuteile im Sinne einer Stücklistenstruktur erfordern und damit viele konstruktive Merkmale und Eigenschaften von einer Vorgängergeneration übernehmen. Darüber hinaus wird nur bei etwa 10 % der Projekte mehr als 80 % der Positionen der Stückliste grundlegend überarbeitet, so dass man von Neukonstruktionen im Sinne der in Abbildung 5.11 gezeigten Einteilung sprechen kann. Das Modell der Produktgenerationsentwicklung PGE trifft also auf den Großteil der Entwicklungsprojekte zu, auch auf die meisten sogenannten disruptiven Entwicklungen. Das wesentliche Kennzeichen der Entwicklung nach dem Modell der PGE ist somit der Rückgriff auf bereits bekannte Lösungen, die als Referenzprodukte bei der Weiter- oder Neuentwicklung eines Produkts herangezogen werden. Wichtig ist dabei das Verständnis, dass der normale Kunde sowohl ein weiter- als auch ein neu entwickeltes Produkt gleichermaßen als neu wahrnimmt. Verdeutlich werden kann dieses Phänomen anhand von Abbildung 5.29. Der Porsche Macan als neues Produkt nutzt dabei die Referenzprodukte Cayenne der gleichen Marke und Q5 der Konzernmarke Audi, der aber auf der gleichen Fahrzeuggrundstruk-

134

5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.30 Lebenszyklen: Produktgenerationen, Technologien und Branchen (Nach [5])

tur3 basiert. Der Macan wurde also mitnichten neu entwickelt. Der Großteil der Entwicklungsarbeit konzentriert sich auf die Differenzierung vom Q5 innerhalb der Markenpositionierung im Gesamtkonzern bei gleichzeitiger Beibehaltung der nicht sichtbaren Teile sowie auf die Nutzung möglichst vieler Synergien mit dem Cayenne vor allem mit Blick auf Elektronik, Infotainment und Komfortaspekte. Der Macan ist damit trotz eines fehlenden direkten Vorgängers ein Ergebnis der Produktgenerationsentwicklung, vgl. [6, 9]. Als Beispiel für eine disruptive Entwicklung sahen viele die Datenbrille Google Glass, vgl. Abbildung 5.12, die es ermöglichte, kontextsensitive Informationen im Sichtfeld der Brille einzublenden. Nach zwei erfolglosen Anläufen in den Jahren 2013 und 2017 verschwand das Produkt (vorübergehend) wieder. Ein disruptives Element der Entwicklung war die Kombination von Kamera und Projektor mit einer Brille, ähnliche (erfolgreiche) Entwicklungen führten auch zum Waschtrockner, der Waschen und Trocknen kann sowie zum Thermomix mit seiner Vielzahl an Funktionen. Tatsächlich aber wurden für die Datenbrille wie in Abbildung 5.12 gezeigt nur eine Brille mit der Android-Software von Google sowie entsprechenden Ein- und Ausgabegeräten zu einem Neuprodukt zusammengefasst. Die Aufgabe bestand also darin, möglichst viel Funktionsumfang des Kamera-Display-Systems ohne Beeinträchtigung des Funktionsumfangs der Datenbrille oder negative Rückwirkungen auf andere Android-basierte Geräte in die Brille zu integrieren. 3

Eine andere Fahrzeuggrundstruktur steckt hinter der MQB-Plattform des VolkswagenKonzernzs, vgl. Abbildung 3.17 und Abbildung 9.18.

5.3 Fokussierung der Entwicklung neuer Produkte

135

Abb. 5.31 Variationsarten zur Entwicklung einer neuen Generation technischer Produkte basierend auf Referenzprodukten

Im Kontext der PGE müssen neben den Lebenszyklen der einzelnen Produktgenerationen des eigentlichen Produkts auch die Lebenszyklen von Technologien beachtet werden. Die technische Weiterentwicklung kann dazu führen, dass bisher bereits benutzte Komponenten künftig nicht mehr verfügbar sind, häufig haben beispielsweise elektrotechnische Komponenten nur einen vergleichsweise kurzen Technologielebenszyklus, so dass diese maximal für zwei aufeinanderfolgende Fahrzeuggenerationen genutzt werden können. Abbildung 5.30 zeigt im Vergleich Produktgenerationen, Technologielebenszyklen und Branchenlebenszyklen an zwei Beispielen. Produktgenerationen entsprechen beispielsweise den verschiedenen Generationen des Passats aus Abbildung 2.4.b, als Technologien sind in diesem Beispielzusammenhang dann die verschiedenen Generationen von Dieselmotoren mit Pumpe-Düse-Einspritzssystem zu sehen, der Technologielebenszyklus der Pumpe-Düse-Technologie erstreckte sich über zwei bis drei Fahrzeuggenerationen. Der Branchenlebenszyklus umfasst beispielsweise alle Fahrzeuge mit rein verbrennungsmotorischem Antrieb, auch hier ist das Ende des Branchenzyklus absehbar, es folgen Hybrid- und Elektrofahrzeuge. Ähnliches gilt auch für die verschiedenen Generationen der Playstation, die in Abbildung 5.30 ebenfalls gezeigt sind; allerdings umspannt die Zeitachse hier knapp zwei Jahrzehnte während der Branchenlebenszyklus der rein verbrennungsmotorisch angetriebenen Fahrzeuge derzeit bereits über 130 Jahre4 umfasst. Wie bereits in Abschnitt 5.2.3 angerissen, werden insbesondere im Rahmen der PGE viele neue Produkt durch Variation erzeugt, die auch in Abbildung 5.31 dargestellt sind: • Durch Prinzipvariation (PzV) werden einzelne Subsysteme durch andere Lösungen ersetzt, die auf einem anderen Wirkprinzip basieren, vgl. Abschnitt 5.2.3.5. Beim in Abbildung 5.31 oben beispielhaft gezeigten Hyperloop soll das Verkehrsmittel in einer Röhre verkehren, was nichts Neues ist. Neu ist aber das 4

Gerechnet ab 1886, dem Jahr, in dem das Patent DRP Nr. 37435 auf den verbrennungsmotorischen Antrieb veröffentlicht wurde und Berta Benz die erste erfolgreiche Probefahrt absolvierte. Der Verbrennungsmotor hingegen wurde schon im Jahr 1867 auf der Pariser Weltausstellung von Nikolaus August Otto gezeigt; der Verbrennungsmotor hat also seinen eigenen Technologielebenszyklus.

136

5 Neue Produkte entwickeln

Antriebsprinzip der Magnetschwebetechnologie, das bisher nur freistehend im Einsatz ist. Neu in diesem Kontext ist auch der Plan, die Röhre zu evakuieren, um die Luftreibung über ein kleineres ρLuft zu reduzieren, während sonst zur Reduktion des Luftwiderstands FLuft = ρLuft · cW · A· v 2 /2 bei gleicher Geschwindigkeit v die effektive Querschnittsfläche cW · A optimiert wird. • Bei der Gestaltvariation (GV), vgl. Abschnitt 5.2.3.6, wird der Eindruck eines neuen Produkts durch die gezielte Variation funktionsrelevanter Gestaltelemente erreicht, als Beispiel sind Carvingski gezeigt, die über die größere Taillierung des Skis ein anderes Fahrverhalten zeigen. Die anderen Merkmale des Skis bleiben aber weitgehend gleich, insbesondere die Schnittstelle zum Nachbarsystem, dem Skischuh. • Als Übernahmevariation (ÜV) wird im Kontext der Produktgenerationsentwicklung verstanden, dass bei im Wesentlichen gleichbleibender Gestalt und Wirkprinzip durch Einsatz anderer Werkstoffe die Möglichkeit zur Differenzierung geschaffen wird, vgl. Abschnitt 5.2.3.7. Im Beispiel in Abbildung 5.31 unten ist dies eine Scheibenbremse mit keramischer Bremsscheibe anstelle der sonst üblichen Stahlgussbremsscheibe. Das Wirkprinzip der COULOMB’schen Reibung der Bremse ist bei beiden Varianten das gleiche, nur der erreichbare Reibwert und der zulässige Wärmeeintrag pro Flächeneinheit sowie die Produktkosten unterscheiden sich deutlich. Die Übernahmevariation ermöglicht keine neuen Funktionen oder Eigenschaften aber z. B. andere spezifische Leistungskennwerte. Aus den bisherigen Ausführungen zur Produktgenerationsentwicklung lassen sich Handlungsempfehlungen für die Priorisierung der Entwicklungstätigkeiten ableiten. Zunächst ist bei der Prinzipvariation zu Beginn der Entwicklung ein deutlicher Entwicklungsschwerpunkt auf die neuen Lösungsprinzipien zu legen. Dabei wird bevorzugt auf vergleichsweise konkrete Variationsarten nach der Produktmodellpyramide zurückgegriffen, vgl. Abbildung 5.13, welche nicht das Verfahren oder den zugrunde liegenden Prozess des Produkts infrage stellen. Das abweichende Lösungsprinzip im Vergleich zur Vorgängergeneration erfordert die grundlegende Neuentwicklung vieler Komponenten und Funktionen. Ideal wird das neue Lösungsprinzip im Rahmen eines Vorentwicklungsprojekts vorab schon erprobt und als prinzipiell taugliche Technologie der Produktentwicklung zur Verfügung gestellt, vgl. Abbildung 1.11. Bei der Gestaltvariation bleiben die Wirkprinzipien gleich, die Anordnung einzelner Wirkflächen kann sich jedoch mit der Gestaltänderung auf Subsystemebene deutlich ändern, wie in Abbildung 5.22 gezeigt. Die Schnittstellen zu den Nachbarsystemen bleiben bis auf kleinere geometrische Anpassungen gleich, der Fokus liegt auf der Anpassung und Überprüfung der Wirkstrukturen auf Subsystemebene, im Beispiel von Abbildung 5.22 wird die Baugröße des Getriebes in Abhängigkeit vom Moment des Verbrennungsmotors und dem Fahrzeuggewicht gewählt. Bei der Übernahmevariation schließlich bleiben die Wirkstrukturen einschließlich der Anordnung der Wirkflächenpaare gleich wie bei der Vorgängerversion, vgl. Abbildung 5.31 unten. Daher können die Modelle zur Beschreibung

5.4 Der Konzeptprozess

a)

137

b)

Abb. 5.32 Links: Schnittdarstellung des elektrohydraulischen Kupplungsaktuators, rechts: Schematisches Kupplungspedal mit Endlagenschaltern (blau beschriftet) oder integrierter Positionssensorik (rot beschriftet) (Aus [136] und [179])

der Funktion übernommen werden, es sind lediglich neue Parameter notwendig. Der Fokus der Entwicklung liegt auf der Gleichhaltung der Wirkstrukturen auf Komponentenebene und der Anpassung eventuell betroffener Nachbarbauteile, beispielsweise muss die Verschraubung des Bremssattels für die keramische Scheibenbremse auf deutlich höhere thermische Beanspruchungen dimensioniert und gestaltet werden.

5.4 Der Konzeptprozess Der in Abbildung 5.2 schematisch dargestellte Konzeptprozess ist der Schlüssel zum eigentlichen neuen Produkt. Auf den ersten Blick erscheint dieser Prozess oft abstrakt und teils unnötig kompliziert. Tatsächlich aber umfasst er die kreativen Tätigkeiten auf dem Weg zu neuen Produkten. Zu den einzelnen Teilschritten werden in diesem Abschnitt, der für die Produktentwicklung und die Entwicklung neuer innovativer Produkt unverzichtbar ist, die wichtigsten Modelle und Methoden bereitgestellt. Die Modelle nach Definition 10 vereinfachen verschiedene Fragestellungen der Produktentwicklung, Methoden nach Definition 7 sind im Allgemeinen bewährte Vorgehensweisen und gehen von bestimmten Eingabegrößen aus, laufen in festgelegten Arbeitsschritten ab und führen auf ein definiertes Arbeitsergebnis. Für ein tiefergehendes Verständnis der in diesem Abschnitt teils verkürzt vorgestellten Modelle und Methoden der Produktentwicklung ist die Lektüre der genannten Referenzen zu empfehlen, vgl. z. B. [170].

138

5 Neue Produkte entwickeln

5.4.1 Produktfunktionen festlegen Mit der Festlegung der Produktfunktionen soll das Produkt auf einer lösungsneutralen Betrachtungsebene beschrieben werden, um das Denken in eingefahrenen Lösungen und die damit verbundenen Vorfixierungen zu vermeiden. Viele Entwickler haben zu Beginn der Produktentwicklung häufig ein festes Bild im Kopf, wie das neue Produkt aussehen soll, ohne jedoch zu wissen, ob dieses Bild tatsächlich zur besten Lösung für alle Anspruchsgruppen führt. Somit führt das Festlegen bzw. Identifizieren der wichtigsten Produktfunktionen die Aufgabenstellung der Produktentwicklung auf ihren eigentlichen funktionalen Kern zurück und ist die Grundlage für eine umfassende Lösungsermittlung. Dabei wird häufig durch eine Funktionsbetrachtung die Komplexität der Aufgabenstellung effektiv reduziert, die Lösungssuche vereinfacht und die Wahrscheinlichkeit für Produktinnovationen erhöht. In den meisten Fällen ist der Schlüssel zu diesen Vorteilen jedoch die Auseinandersetzung mit den Teilfunktionen des neuen Produkts. Ferner werden mit der Funktionsbetrachtung bereits grundlegende funktionale Eigenschaften des Produktes festgelegt und damit der Wert des Produktes für den Kunden im Sinne der Wertanalyse vorbestimmt, vgl. Abschnitt 8.5. Die Entwicklung und Variation der Funktionsstruktur ist daher ein wichtiger und eigenständiger Optimierungsschritt bei der Entwicklung von Neuprodukten. Die funktionale Beschreibung eröffnet dabei den Zugang zu Lösungen auch aus anderen Bereichen. Bei der Entwicklung mechatronischer Produkte hat man beispielsweise oft die Alternativen einer konstruktiven, maschinenbaulichen Lösung und einer funktionsähnlichen Softwarelösung. Als Beispiel kann hier der in Abbildung 5.32.a gezeigte elektrohydraulische Kupplungsaktuator genannt werden, bei dem eine konstruktive Lösung eines zweiten Wegsensors, der im Rahmen der funktionalen Sicherheit für den Aktuator notwendig ist, vgl. Abschnitt 7.3, durch eine Softwarelösung ersetzt wird. Dabei wird der Winkelsensor, der für die Steuerung des Gleichstrommotors notwendig ist, genutzt, um vom Endanschlag der Spindel, der sich in einem starken Anstieg der Stromaufnahme bei nahezu gleichbleibender Winkelposition detektieren lässt, über den Drehwinkel auf die Position zu schließen. Beim in Abbildung 5.32.b gezeigten Kupplungspedal ermöglicht die Substitution der beiden Endlagenschalter durch einen Wegsensor über das kontinuierliche Signal ohne Gefährdung der Basisfunktion der Endlagenerkennung deutliche Vorteile auf Systemebene. Beispielsweise kann ein Anfahren bei zu geringer Motordrehzahl und zu geringem Drehmoment an einer Steigung erkannt werden, das zur thermischen Schädigung der Kupplung beitragen kann. Hier bietet die Funktionsbetrachtung Vorteile beim Erschließen von Möglichkeiten zur Vereinfachung des Systems bei gleichzeitiger Erhöhung der Funktionalität. Die Vorgehensweise bei der Festlegung der Produktfunktionen lässt sich anhand des Ritzelstartes für einen Verbrennungsmotor und seines Prinzipschaubildes in Abbildung 5.33 erklären. Analysiert man den Startvorgang und beschreibt die

5.4 Der Konzeptprozess

a)

139

b)

Abb. 5.33 Produktansicht und Prinzipschnitt eines Anlassers für Verbrennungsmotoren

Vorgänge, so erhält man zunächst die folgende umfangreiche und doch auf das Wesentliche reduzierte Liste. Die für den Startvorgang relevanten Komponenten sind im Prinzipschnitt in Abbildung 5.33 erkennbar. • Zum Starten des Verbrennungsmotors wird – üblicherweise beim Drehen des Zündschlüssels oder Drücken des Startknopfs – Spannung an einen Elektromagneten (Magnetschalter) gelegt. Die magnetischen Kräfte verschieben zunächst den Schiebeanker nach rechts und spannen dabei die Druckfeder vor. • Über ein Hebelsystem erfolgt die axiale Verschiebung des Ritzels nach links, so dass es in die Verzahnung des Schwungrades eingreift, es wird eingespurt. Dazu ist das Ritzel geradeverzahnt, aber an der Stirnseite angeschrägt, um das Einspuren zu erleichtern. • In der Endlage schließt der Magnetschalter den Motorkontakt, der Startermotor wird bestromt und beschleunigt. • Solange der Zündschlüssel bzw. der Startknopf in der Startstellung gehalten wird, bleibt der Einspurmagnet aktiv und hält das Ritzel eingespurt. Der Rotor des Elektromotors beschleunigt über das Ritzel den Verbrennungsmotor, bis dieser ohne Unterstützung weiterlaufen kann. • Zwischen Ritzel und Elektromotor befindet sich ein Freilauf, der verhindert, dass der schon gestartete Verbrennungsmotor über das noch eingespurte Starterritzel den Elektromotor mit einer zu hohen Drehzahl antreibt und ihn dadurch beschädigt. • Nach dem Loslassen des Zündschlüssels wird der Strom zur Haltewicklung unterbrochen und die vorgespannte Druckfeder schiebt den Schiebeanker in seine Ruhelage zurück. Der Elektromotor schaltet ab und das Ritzel spurt aus. Die eigentliche Funktionsstruktur des Startvorgangs, die für die Auslegung des Startermotors und die Mechanik des Starters maßgeblich ist, erhält man durch Abstraktion der Einzelschritte ausgehend von den zugrundeliegenden physikalischen Wirkprinzipien und Unterdrücken von Unwichtigem. Als unwichtig können dabei zum Beispiel die Federkraft FRH der Rückholfeder, die Hebelverhältnisse des Einrückhebels und der Einspurvorgang des Ritzels in den Zahnkranz unterdrückt werden. Man erhält die in Abbildung 5.34 gezeigte Kette der wesentlichen Teilschritte, die in abstrakter Form den Startvorgang beschreiben. Diese

140

5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.34 Funktionsstruktur eines Anlassers beim Motorstart

Funktionsbetrachtung ist der Schlüssel für eine methodische Lösungszuordnung und erleichtert das Erarbeiten aussichtsreicher alternativer Produktkonzepte erheblich. Dabei soll die lösungsneutrale Beschreibung der Funktionen möglichst verständlich und standardisiert erfolgen ohne einzelne Lösungen zu werten oder gar explizit zu fordern. Wenn man durch weitere Abstraktion den Formschluss in der Funktionsstruktur eliminiert und andere Energieformen als Eingangsgröße zulässt, so erkennt man, dass die Lösungen in Abbildung 5.16 zu dieser abstrakten Funktionsbeschreibung passen. Das Arbeiten mit Funktionsstrukturen kann hilfreich sein bei Entwicklungen, bei welchen die Funktion eines technischen Produkts ganz oder teilweise verändert werden soll oder wenn Alternativen bzw. Varianten für bestehende (Teil-) Lösungen gefunden werden sollen. Die Erarbeitung der Funktionsstruktur eines bereits vorhandenen oder eines neuen Produkts kann dabei mit unterschiedlichen Zielen durchgeführt werden. Wenn man beispielsweise den in Abbildung 5.33 gezeigten Ritzelstarter ohne Veränderung der mechanischen Schnittstelle zum Motor verbessern will, so ist die Erfassung des Einspurvorgangs als solchem wichtig, eine Reduktion der Funktion nur auf das Wandeln von Energie, um die Drehung der Kurbelwelle zu erreichen, ist hingegen in diesem Fall nicht zielführend. Denkt man aber über alternative Startkonzepte für den Verbrennungsmotor wie in Abbildung 5.16 nach, so kann der Einspurvorgang des Starterritzels in den Anlasserzahnkranz, vgl. Abbildung 5.34, vernachlässigt werden, da dies eine typische Teilfunktion des Ritzelstarters ist. Beim Entwickeln von Funktionsstrukturen kann unterschiedlich vorgegangen werden, je nachdem ob im Rahmen einer Funktionsanalyse ein vorliegendes Produkt und seine Funktionsstruktur beschrieben werden soll oder ob durch eine Funktionssynthese ein Produkt mit neuen Eigenschaften5 bzw. Funktionsstrukturen entwickelt werden soll, vgl. Abbildung 5.35. Mit einer Funktionsanalyse wird die oft unübersichtliche Gesamtfunktion in ihre Teilfunktionen gegliedert, wie das Beispiel des Ritzelstarters zeigt. Die Vorgehensweise der Funktionsanalyse findet Anwendung in folgenden Fällen:

5

Die in [32] in gleichem Zusammenhang gewählte Bezeichnung eines völlig neuen Produkts wird hier vor dem Hintergrund der Ausführungen in Abschnitt 5.3 auf die praktisch deutlich relevantere Weiterentwicklung bestehender Produkte vermieden.

5.4 Der Konzeptprozess

141

Abb. 5.35 Funktionsanalyse und Funktionssynthese als mögliche Ausprägungen der Funktionsvariation

• Für eigene Produkte als Grundlage für eine Funktionsüberprüfung im Rahmen einer marktgerechten Weiterentwicklung mit neuen Eigenschaften oder einfacherem Aufbau sowie zur Produktdokumentation. • Bei fremden Produkten – realen Wettbewerbsprodukten oder virtuellen Produkten wie Präsentationen oder Patenten – zur Informationsgewinnung hinsichtlich der darin enthaltenen Funktionen und Wirkprinzipien. • Als Grundlage weiterführender Arbeiten, z. B. zum Ermitteln der Funktionskosten oder beim Durchführen einer umfassenden Schwachstellenanalyse. Die Funktionssynthese hingegen findet Anwendung, wenn im Rahmen bestehender Produktgruppen neue Funktionen oder Produkte mit anderen Funktionsstrukturen beispielsweise zur Umgehung fremder Schutzrechte entwickelt werden sollen: • Bei Neukonstruktionen, um einen Überblick über das Lösungsfeld und eventuelle Schwachstellen bzw. Verbesserungspotentiale des aktuellen Produkts zu erhalten. • Bei der Suche nach innovativen Lösungen mit bewusstem Loslösen von Bekanntem. Als Beispiel für letzteren Fall sei auf [179] verwiesen, wo die Frage aufgeworfen wird, wie man einen Ritzelstarter entsprechend Abbildung 5.33.a konzipieren muss, um zwei verschiedene Übersetzungen für den Kaltstart bei −40◦ C und den Wiederstart bei warmem Verbrennungsmotor nach einem automatisierten Stopp zu realisieren. Es müssen neue Funktionen mit bekannten Maschinenelementen synthetisiert werden ohne das bisherige Konzept des Ritzelstarters aufzugeben. Mit der Prozessvariation, vgl. Abschnitt 5.2.3.1 erfolgt ein gezieltes Verändern von Funktionsstrukturen mit dem Ziel der Verbesserung des Zusammenwirkens der Teilfunktionen, des funktionellen Produktaufbaus und zum Festlegen der Teilfunktionen, die innerhalb oder außerhalb des zu entwickelnden Produkts liegen sollen. Dabei ist die Festlegung der Systemgrenze des Neuprodukts entschei-

142

5 Neue Produkte entwickeln

dend, da diese den möglichen Gestaltungsraum bestimmt. Als Beispiel wird hier nochmals auf den Starter in Abbildung 5.33 und die Funktionsstruktur in Abbildung 5.34 eingegangen. Der letzte in der ausführlichen Funktionsstruktur aufgeführte Teilprozess ist das Ausspuren des Starterritzels aus dem Starterzahnkranz, dieser kann alternativ auch über einen Wechsel der Polarität des Elektromagneten außerhalb der Systemgrenze des Starters durch Vertauschen von Potential und Masse erfolgen. Da diese Lösung deutlich aufwändiger als die vorgespannte Druckfeder wäre, besteht allerdings keine Notwendigkeit, diese umzusetzen, die Lösung innerhalb der Systemgrenze ist deutlich einfacher.

5.4.2 Teillösungen ermitteln Für die in der Funktionsstruktur entsprechend Abschnitt 5.4.1 definierten Teilfunktionen werden im nächsten Schritt Teillösungen gesucht. Diese lassen sich auf unterschiedlichste Art ermitteln und in unterschiedlichsten Quellen finden. Tabelle 5.8 gibt einen groben, tabellarischen Überblick über die Methoden zur Lösungsermittlung, ihre sinnvollen Einsatzgebiete und die wichtigsten Merkmale. Die Spannweite reicht dabei von ersten, noch vagen Lösungsideen als Ergebnis einer Kreativitätstechnik bis zu kompletten Zulieferkomponenten, die exakt spezifiziert sind, vom Zulieferer direkt bezogen und nach erfolgreicher Validierung im Systemkontext in das Produkt eingebaut werden können; die Spanne reicht hier von Wälzlagern oder Sensoren bis zu Verbrennungsmotoren, vgl. [170]. Für eine effiziente und effektive Entwicklungstätigkeit ist es daher unumgänglich, den gesamten Lösungsvorrat zu kennen und die spezielle Teillösung für eine Teilfunktion auszuwählen, welche die Aufgabe und die Anforderungen optimal erfüllt. Die Lösungen können dabei auf unterschiedliche Arten gefunden werden, je vollständiger die Sammlung möglicher Lösungen zur Darstellung der gewünschten Teilfunktionen ist, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wirklich eine gute Gesamtlösung für das neue Produkt identifiziert wird. Grundsätzlich sollte bei jeder Entwicklungsaufgabe geprüft werden, ob nicht vorhandene Lösungen den Anforderungen entsprechen und eingesetzt werden können. Dabei können bekannte Teillösungen entweder einzelne Anforderungen abdecken – Rostfreier Stahl als beispielhafte bekannte Teillösung für die Anforderung Korrosionsbeständigkeit – oder einzelne Teilfunktionen der Funktionsstruktur – ein Wälzlager als Lösung für die Teilfunktion Drehbewegung reibungsarm ermöglichen. Der Einsatz bekannter Lösungen ist sinnvoll, wenn: • Lösungen bekannt sind, welche die Anforderungen bzw. eine oder mehrere Teilfunktionen erfüllen. • Lösungen bewährt sind und ihr Einsatz unter den angenommenen Randbedingungen erfolgversprechend erscheint.

5.4 Der Konzeptprozess

143

• Das Entwickeln einer neuen Lösung zu nicht vertretbaren Konsequenzen führen würde, beispielsweise einem zu späten Markteintritt, zu hohem Entwicklungsrisiko oder zu hohen Produkt- oder Entwicklungskosten. • Bestehende Rechte Dritter eine eigene Entwicklung und Produktion verhindern, d. h. wenn Patente bestimme Lösungen für das eigene Unternehmen ausschließen, man die entsprechenden Produkte aber zukaufen kann. • Der zu erwartende Umsatz mit dem neuen Produkt nicht die hohen Kosten für eine umfassende Weiterentwicklung tragen kann. Kurz kann man diese Hinweise zusammenfassen im Grundsatz Bekanntes nicht neu erfinden oder entwickeln. Die im Folgenden vorgestellten Methoden sind nicht nur für die Konzeptphase geeignet, sondern sie können immer dann eingesetzt werden, wenn neue Lösungen gesucht sind. Abbildung 5.36 zeigt zunächst, wo bzw. wie Ideen als Basis von Innovation entstehen, vgl. auch Abbildung 2.7. Der hohe Anteil an Ideen außerhalb der Arbeitsumgebung deutet auf die Schwierigkeiten insbesondere erzwungener Innovation hin. Im Folgenden werden die Methoden der intuitiven Lösungssuche und der Recherche nach vorhandenen Lösungen detailliert beschrieben. Die in Tabelle 5.8 links gezeigte Methode des Rückgriffs auf Erfahrung setzt eine längere einschlägige Berufstätigkeit voraus und lässt sich daher im Rahmen einer Lehrveranstaltung nicht adäquat vermitteln. Die Methode systematische Entwicklung eines Lösungsfeldes, in Tabelle 5.8 rechts aufgeführt, wird typischerweise bei umfangreicheren Weiterentwicklungen oder Innovationsprojekten angewendet und wird in Abschnitt 5.4.6 besprochen. Letztlich sind es also Intuition und Inspiration, die den Entwickler zu einer bestimmten Lösung führen. Intuition kann bis zu einem gewissen Grad gezielt gefördert werden, wenn beispielsweise das Umfeld stimmt. Inspirierende Einfälle kommen vielfach beim Entspannen in der Freizeit, vgl. Abbildung 5.36. Obwohl es für solche Momente keine Anleitung gibt, existieren zumindest Vorschläge

Tabelle 5.8 Methoden zur Lösungsermittlung

144

5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.36 Wo Ideen entstehen (Nach [97])

und Methoden, wie solche Kreativitätsphasen angeregt und unterstützt werden können. Diese Methoden werden unter dem Sammelbegriff Kreativitätstechniken zusammengefasst, vgl. Abschnitt 5.4.3 und 5.4.4. Die Methoden Recherchieren nach vorhandenen Lösungen und systematisches Erarbeiten von Lösungen werden in den Abschnitten 5.4.5 und 5.4.6 vorgestellt.

5.4.3 Kreativitätstechniken Die verschiedenen Partikulärmethoden der Kreativtechnik werden hier nur in knapper Form und ohne Anspruch auf Vollständigkeit beschrieben, es soll ein Überblick über Vorgehensweisen und Voraussetzungen gegeben werden. Für alle weiteren Details wird auf die entsprechende Literatur verwiesen, vgl. z. B. [19, 57, 117, 140, 161, 209].

5.4.3.1 Brainstorming Das Brainstorming als eine der frühesten Formen der Kreativitätstechniken wurde 1939 von OSBORN entwickelt und dient der Lösungsfindung für Probleme mit geringer Komplexität zu einem vorgegebenen Thema, vgl. [117]. Ziel der Methode ist es, innerhalb einer Gruppe – optimal sind fünf bis acht Teilnehmer, in Ausnahmefällen bis zu 15 – möglichst viele Ideen oder Lösungsansätze zu finden, dabei wird mehr Wert auf Quantität als auf Qualität gelegt. Zur optimalen Lösungsfindung sind dabei möglichst heterogene Teams gewünscht, die fachüber-

5.4 Der Konzeptprozess

145

greifend über die zu lösende Aufgabe diskutieren und viele fachspezifische Sichtweisen in die Sammlung der Lösungsansätze einbringen. Brainstorming ist dann sinnvoll, wenn ein Loslösen von Konventionen angestrebt wird und das physikalisch, technologische Konzept nicht festgelegt ist; häufig ist die Methode auch ein Ansatzpunkt, wenn sich das Team in einer Sackgasse bei der Lösungssuche befindet. Für die Lösung von eher analytisch geprägten Fragestellungen ist das Brainstorming ungeeignet, da die Methode einen bestimmten Freiraum für Kreativität erfordert. Eine der wichtigsten Voraussetzungen dieser Methode ist die Einhaltung der folgenden vier Grundregeln, welche für die meisten Kreativitätstechniken gelten: 1. 2. 3. 4.

Keine Kritik während der kreativen Phase, Alle Ideen sind erlaubt, die Teilnehmer agieren spontan und ungehemmt, Quantität vor Qualität, Offenheit der Teilnehmer gegenüber den Ideen Anderer.

Die Durchführung der Methode nimmt typischerweise etwa 45 Minuten in Anspruch, die Diskussion unter Gleichberechtigen sollte möglichst in entspannter Atmosphäre stattfinden und durchläuft folgende Phasen: 1. Vorbereitung a. Problem definieren, Thema festlegen b. Teilnehmerinnen und Teilnehmer auswählen und Moderator sowie Protokollant ernennen, c. Weitere Rahmenbedingungen klären (Ort, Zeit. . . ) 2. Durchführung unter Beachtung der genannten Grundregeln a. Gruppensitzung b. Alle Teilnehmer äußern spontan ihre Ideen c. Alle Ideen werden protokolliert 3. Auswertung a. b. c. d. e.

Gruppenteilnehmer und Fachleute werten das erstellte Protokoll aus Kritik ausdrücklich erwünscht Elimination unrealistischer Ideen Sortieren von Ideen Bewerten der Ideen nach Erfolg und Durchführbarkeit

Als Ergebnis erhält man so eine große Lösungsmenge mit kreativen Ideen, welche im Rahmen der Auswertung einer ersten Beurteilung hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit sowie unüberwindbarer Hürden untersucht werden. Einschränkend muss erwähnt werden, dass keine fertigen Lösungen erwartet werden dürfen und viele Lösungsansätze unrealistisch oder schon bekannt sind. Der Erfolg liegt schon vor, wenn durch Anregungen neue Wege geöffnet werden.

146

5 Neue Produkte entwickeln

5.4.3.2 Brainwriting Die Methode Brainwriting kann als eine Art schriftliche Version des Brainstormings aufgefasst werden. Wie auch bei der Brainstorming-Methode werden Lösungen zu einem vorgegebenen Thema mit geringer bis mittlerer Komplexität gesucht. Das Besondere der Methode Brainwriting ist, dass die Kritikphase des Brainstormings umgangen werden kann und dass diese Methode auch ohne ein persönliches Zusammentreffen der Teammitglieder durchgeführt werden kann. Der grobe Ablauf der Methodenanwendung sieht wie folgt aus: • Jede Teilnehmerin bzw. jeder Teilnehmer erarbeitet und skizziert individuell mehrere Lösungsideen. • Diese Lösungsvorschläge werden im Kreis zum nächsten Mitglied gereicht, das die Ideen des Vorgängers übernimmt, modifiziert, ergänzt und daraus seinerseits neue Lösungswege assoziiert. Die Kommunikation zwischen den Teammitgliedern kann gegebenenfalls auch per Email oder über virtuellen Meetings laufen, vgl. Abschnitt 11.4.2. • Dieses zyklische Arbeiten, Ergänzen, Erneuern und Vervollständigen wird so häufig wie notwendig wiederholt. Bei sich nicht vertrauten Teilnehmerinnen und Teilnehmern, sowie bei großer räumlicher Entfernung des Teams kann diese Methode von Vorteil sein. Zudem haben die einzelnen Teilnehmer eine bessere Konzentrationsmöglichkeit durch ruhige Phasen während der individuellen Erarbeitung. Eine Zeitvorgabe ist bei Durchführung mit räumlich verteilten Teams per Email nicht unbedingt sinnvoll, gleichwohl sollte das Ergebnis zu einem bestimmten Zeitpunkt vorliegen.

5.4.3.3 Galeriemethode Als Sonderform des Brainwritings eignet sich die Galeriemethode besonders für das Finden von Lösungen für Konstruktions- und Designprobleme, sowie für Gestaltungsprobleme und spielt eine wichtige Rolle für die Ideenfindung im Bereich der Ingenieurswissenschaften. Die Ideen werden dabei illustrativ auf einem großformatigen Blatt dargestellt, Abbildung 5.37 zeigt zwei typische Beispiele. Das Vorgehen bei der Durchführung der Galeriemethode gliedert sich in fünf Phasen: 1. Phase: Ideen-Skizzen auf großformatigen Blättern erstellen im Rahmen der individuellen Lösungssuche. 2. Phase: Gemeinsame Vorstellung, Darlegung und Diskussion der unterschiedlichen Ideen (Galerie). 3. Phase: Gemeinsame Diskussion zum Finden von Assoziationen zu den Ideen. 4. Phase: Individuelle Fortsetzung der Lösungssuche und Anpassung der eigenen Ideen-Skizze mit Hilfe der gewonnenen Anregungen. 5. Phase: Gemeinsame Selektion der besten Ideen-Skizzen aus der Galerie.

5.4 Der Konzeptprozess

147

Abb. 5.37 Typische Ergebnisse der Galeriemethode (Interne Diskussion am Fachgebiet pmd der TU Darmstadt)

148

5 Neue Produkte entwickeln

So entstehen durch das gemeinsame Auswählen und Bewerten der Skizzen, vgl. Abschnitt 5.4.7, wenige visuelle Lösungen, die als solche komplex sein können, jedoch verständlich und strukturiert dargestellt sind.

5.4.3.4 Methode 6-3-5 Auch die Methode 6-3-5 ist eine Variante des Brainwritings und dient dem schriftlichen Lösen von Suchproblemen. Wie auch beim Brainstorming versucht diese Methode, durch gegenseitige Anregung der heterogenen teilnehmenden Personen optimale Lösungen für das Problem zu finden. Der Name stammt von dem allgemeinen Aufbau der Methode, indem sich 6 Teilnehmende an einen Tisch setzen und jeder für sich 3 Ideen innerhalb von 5 Minuten aufschreibt. Der detaillierte Ablauf erfolgt ebenfalls in fünf Schritten: 1. Problemdefinition: Sechs Menschen setzen sich an einen Tisch. Jeder hat Stift und Papier verfügbar. Das Problem wird vorgestellt und diskutiert. 2. Lösungsvorschläge sammeln: Jeder schreibt drei Ideen zu der Aufgabenstellung auf das Blatt. Es stehen hierfür 5 Minuten zur Verfügung. 3. Formularweitergabe: Die skizzierten Lösungsvorschläge werden an den Nachbarn bzw. die Nachbarin weitergereicht. 4. Anknüpfung: Jeder Teilnehmer hat nun die von seinem Vorgänger vorliegenden Ideen vor sich und bearbeitet diese innerhalb von 5 Minuten. (Phase 3 und 4 werden solange wiederholt bis wieder jeder Teilnehmer seine eigene Idee vor sich liegen hat) 5. Auswertung: Analyse der Vorschläge und herausfiltern der aussichtsreichsten Ideen mit Hilfe von Erörterungen und Diskussionen. So entstehen in vergleichsweise kurzer Zeit 18 gemeinsam recht gut ausgearbeitete Lösungsvorschläge mit Beiträgen aller Teammitglieder, die großes Potential aufweisen können.

5.4.3.5 Synektik Die Methode der Synektik unterscheidet sich stark von den bisher vorgestellten Kreativmethoden. Es werden Lösungsvorschläge mit Hilfe von Analogien aus nichttechnischen Sachgebieten gesucht, z. B. aus der Biologie durch die Analyse des Baumwachstums zur Vermeidung von Kerbspannungen6 . Das gezielte Aktivieren kreativen Denkens schafft so neuartige Ideen und Lösungen. Im Vordergrund steht hierbei nun die Qualität der Ideen und nicht mehr deren Quantität. Das Vorgehen nach der Methode Synektik umfasst folgende Schritte: 6

Ein gutes Beispiel für solche synektische Denkansätze findet man bei MATTHECK, vgl. [156], der die Analogie des Baumwachstums für die Ableitung von Gestaltungshinweisen für ein bionisches Design nutzt.

5.4 Der Konzeptprozess

149

Abb. 5.38 Ablauf der Delphi-Methode mit Iterationsschritten (Nach [57])

1. Vorbereitung mit dem Ziel eines umfassenden Problemverständnisses im ganzen Team a. Problemdefinition und –analyse b. Sammeln spontaner Lösungsvorschläge (Brainstorming) 2. Inkubation: Bilden von Analogien aus unterschiedlichen Bereichen, z. B. aus Natur, Wirtschaft, . . . 3. Illumination: Analyse und genauere Beschreibung durch leicht verständliche Darstellungen, Beleuchten einzelner, wichtiger Aspekte 4. Verifikation: a. Auswahl der geeigneten Analogie durch Bewerten und Diskussion b. Weiterentwicklung bis zur Realisierung (Rationales Vorgehen!) Die Synektik versucht somit, durch Analogieschlüsse neue und überraschende Lösungsansätze zu finden.

5.4.3.6 Delphi-Methode Bei der Delphi-Methode handelt es sich um ein strukturiertes, systematisches und mehrstufiges Verfahren zur Befragung von Experten, um Trends oder Prognosen zu identifizieren. Besonders geeignet ist das Verfahren für technische Prognosen zukünftiger Möglichkeiten, Kosten, Aufwandsschätzungen und Entwicklungen. Dem Expertenteam wird im Vorfeld ein klar definiertes Problemfeld vorgelegt, zu welchem Prognosen abgegeben werden sollen. Der Ablauf der Methode durchläuft mehrere Iterationsschleifen, um ein möglichst genaues Ergebnis zu erzielen, vgl. Abbildung 5.38, und lässt sich wie folgt beschreiben:

150

1. 2. 3. 4. 5. 6.

5 Neue Produkte entwickeln

Vorbereiten durch Abklären der Aufgabenstellung Anonymisiertes und voneinander unabhängiges Befragen der Experten Auswerten der Befragungsrunde Zusammenfassen der Einzelantworten zu einem Gruppendurchschnitt Rückfragen stellen, Feedback geben Iteration bis zum finalen Ergebnis

Als Ergebnis entstehen so konkrete Aufwandsabschätzungen und Prognosen bezüglich eines Problems, was beispielsweise eine bessere Einschätzung der eigenen Innovation oder des eigenen Produkts ermöglicht. Sinnvoll anwendbar ist die Methode auch zum Entwerfen eines Entwicklungs- oder Validierungsplans in der Projektdefinitionsphase, vgl. Abschnitt 4.2.1.

5.4.3.7 Flip-Flop Methode Die Flip-Flop Methode, die auch unter dem Begriff Kopfstandtechnik bekannt ist, dient der Generierung neuer Impulse für festgefahrene Probleme oder Situationen. Durch die Umkehrung der Aufgabenstellung und Änderung des Blickwinkels wird eine hohe Kreativität ermöglicht, wodurch neuartige Ideen und Problemlösungen entstehen können, [22]. Es handelt sich um eine sehr simple Methode, die einfach durchzuführen ist und aus wenigen Schritten besteht: 1. Aufgabenstellung und Umkehrung, z. B. in der Form Wie verhindere ich kreative Ideen? 2. Ideenfindung und Sammeln von Ideen zum verkehrten Problem 3. Auswertung und Ergebnisanalyse durch Umkehren der Ideen des verkehrten Problems 4. Strategieentwicklung zur Umsetzung der identifizierten Maßnahmen zur Lösung des ursprünglichen Problems Wichtig ist dabei insbesondere, dass die Schritte 1. bis 3. zügig bearbeitet werden ohne über Details zu diskutieren. Bei der Ergebnisanalyse durch Umkehr kommt es nicht darauf an die Ideen detailliert zu beschreiben, sondern möglichst viele Negativereignisse und Umkehrungen zu finden und für diese dann im letzten Schritt Vermeidungsstrategien abzuleiten.

5.4.3.8 Mindmapping Die Methode des Mindmapping ist ein Klassiker unter den Kreativitätstechniken. Mit dieser Methode können freie Assoziationen zu einer bestimmten Problematik bzw. einem bestimmten Thema visuell dargestellt werden, vgl. Abbildung 5.39. Neustrukturierungen und Zusammenhänge werden so besser verständlich. Die Methode kann innerhalb einer Gruppe, aber auch von einer Einzelperson durchgeführt werden und wird auch zum Sammeln und Strukturieren von Gedanken zu einem bestimmten Thema genutzt, ohne tatsächlich kreativ tätig zu sein.

5.4 Der Konzeptprozess

151

Abb. 5.39 Beispiel einer Mindmap zum Thema Merkmale des Motorstarts. Zahlen in Kreisen zeigen die Anzahl der Untereinträge zu den einzelnen Stichpunkten an.

Beim Anwenden des Mindmapping als Kreativtechnik innerhalb einer Gruppe sind folgende vier Regeln zu beachten: 1. Keine Kritik oder Beschränkung 2. Intuitive und spontane Eingebungen notieren 3. Nur ein Punkt pro Ast, Unterpunkte zur gleichen Thematik (Ast) verzweigen diesen Ast weiter 4. Wörter, Bilder, Zahlen und Symbole sind erlaubt, bei digitalen Mindmaps auch Anlagen und Verweise Bei dieser Methode werden weder ein Moderator noch ein Protokollant benötigt, es geht vielmehr um die freie Assoziation und Ideenfindung. Die Methode durchläuft folgende vier Schritte: 1. Ausgangsproblem bzw. Grundidee in der Mitte des Bogens notieren 2. Spontane Ideen und Assoziationen zu dem Ausgangsproblem bzw. der Grundidee notieren, dabei gilt nun wieder Quantität vor Qualität

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5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.40 TRIZ-Vorgehensmodell

3. Assoziationen zu den Unterpunkten finden und baumartig notieren wie in Abbildung 5.39 4. Identifizieren der besten Lösungen bzw. Ideen Das Ergebnis dieser Methode umfasst ein breites Spektrum an Ideen und Lösungen, jedoch meist mit geringem Detaillierungsgrad zu den einzelnen Assoziationen. Die im Englischen als Mindmapping bezeichnete Methode ist auch als Wissensspeicher geeignet, wenn man beispielsweise ein neues Themengebiet erschließen möchte, Abbildung 5.39 zeigt ein solches Beispiel.

5.4.4 Die Theorie des erfinderischen Problemlösens TRIZ Hinter dem Akronym TRIZ7 verbirgt sich die Theorie des erfinderischen Problemlösens. Zur Entwicklung dieser Theorie wurden über 2 Millionen Patente analysiert und auf wiederkehrende Merkmale und Muster untersucht [2, 14]. Bereits früh wurde erkannt, dass eine große Anzahl der analysierten Patente auf einer vergleichsweise kleinen Anzahl allgemeiner Lösungsprinzipien beruht. Diese Lösungsprinzipien basieren auf dem Überwinden von Widersprüchen als Voraussetzung innovativer Entwicklungen. Zusätzlich wurde offensichtlich, dass sich technische Systeme nach bestimmten Mustern und Gesetzen entwickeln. Aus den Erkenntnissen entwickelten sich eine Reihe von Methoden und Werkzeugen, welche die Lösungsfindung im abstrakten Raum unterstützen. Der zugrundeliegende Ablauf dieser Erkenntnisse ist in dem TRIZ-Vorgehensmodell zusammengefasst, wobei jedem Vorgehensschritt verschiedene Modelle zur Umsetzung zugeordnet werden, vgl. Abbildung 5.40. TRIZ unterstützt vor allem die frühen Phasen des Produktentwicklungsprozesses und wird hierbei zur Problemlösung eingesetzt. Zunächst werden das Ziel und das spezielle, zu lösende Problem im Produktentwicklungsprozess im Rahmen einer Ziel- und einer Problemanalyse analysiert, das spezifische Problem wird so auf ein abstraktes Problem abgebildet. Hierbei 7

aus dem Russischen “Teoriya Resheniya Izobreatatelskikh Zadatch“

5.4 Der Konzeptprozess

153

Abb. 5.41 Ausschnitt aus der TRIZ-Widerspruchsmatrix (Nach [14])

werden häufig Widersprüche herausgearbeitet, die dem spezifischen Problem zugrunde liegen. Widersprüche liegen dann vor, wenn die Verbesserung einer Eigenschaft zur Verschlechterung einer anderen führt. Durch die Abstraktion der spezifischen Probleme entstehen abstrakte Probleme, welche in einer Vielzahl der analysierten Patente bereits gelöst wurden. Durch die Gegenüberstellung des abstrahierten Problems mit typischen Problemen der TRIZ-Methodik und zugehörigen Lösungen wird zunächst eine abstrakte Lösung gesucht. Diese wird anschließend durch die Phasen der Ideengenerierung und Ideenbewertung zu einer spezifischen Lösung konkretisiert, vgl. Abbildung 5.40. Die bekanntesten Modelle des TRIZ-Vorgehensmodells sind die Widerspruchsmatrix sowie die 40 innovativen Prinzipien, die meist gemeinsam genutzt und dem Vorgehensschritt der Lösungssuche zugeordnet werden, siehe auch [120, 124]. Die Widerspruchsmatrix stellt typische Widersprüche auf, die im Produktentwicklungsprozess entstehen, und sich mit Hilfe von 39 technischen Parametern wie beispielsweise Kraft, Geschwindigkeit oder Temperatur beschreiben lassen, die vollständige Liste der technischen Parameter in Anlehnung an [14] ist im Anhang in Tabelle A.1 angegeben. Bei jedem Widerspruch wird stets ein zu

154

a)

5 Neue Produkte entwickeln

b)

Abb. 5.42 Angepasste Karten zur Verdeutlichung der Innovationsprinzipien Asymmetrie (a) und Multifunktionalität (b) für die additive Fertigung (Nach [201, 204])

verbessernder und ein sich verschlechternder Parameter festgelegt, vgl. Abbildung 5.41. Jedem Widerspruch sind ein oder mehrere von insgesamt 40 innovativen Prinzipien wie beispielsweise das Prinzip der Zerlegung (1), das Prinzip der Abtrennung (2), das Prinzip der örtlichen Qualität (3) oder das Prinzip der Anwendung von Wärme(aus)dehnung (37) zu dessen Lösung zugeordnet. Sowohl die Prinzipien selbst als auch deren Zuordnung wurden von ALTSHULLER aus der Patentrecherche abgeleitet. Abschnitt A.2 im Anhang enthält eine Übersicht der im Rahmen von TRIZ verwendeten 40 Prinzipien. Die zugeordneten Innovationsprinzipien kann der Entwickler verwenden, um sie auf sein definiertes, abstraktes Problem zu übertragen und eine passende Lösung zu finden. Um die abstrakten Innovationsprinzipien einfacher anwenden zu können ist es möglich, die einzelnen Prinzipien mit einem Reizbild aus einem speziellen technischen Kontext zu verdeutlichen. In Abbildung 5.42 ist ein Beispiel nach [204] gezeigt, die Karten erleichtern in kreativen Diskussionen die Erarbeitung von spezifischen Ideen, im Beispiel auf dem Gebiet der additiven Fertigung. Diese Karten sind dann weniger allgemein anwendbar, allerdings fällt für das spezifische Themengebiet ungeübten Entwicklern der Einsatz leichter. Als Beispiel für einen Widerspruch kann ein Querpressverband angeführt werden, vgl. [138]. Eine Erhöhung des Übermaßes führt zu höheren übertragbaren

5.4 Der Konzeptprozess

155

Abb. 5.43 Unterschiedliche Arten von vorhandenen Lösungen

Kräften. Das Ziel ist dabei, das Übermaß möglichst groß auszuführen, jedoch steigt auch die benötigte Kraft für die Montage, das Ziel für eine einfache Montage ist ein möglichst kleines Übermaß. In der Widerspruchsmatrix wird der sich verbessernde Parameter Kraft dem sich verschlechternden Parameter Fertigungsfreundlichkeit gegenübergestellt. In der Zelle des Schnittpunkts der betroffenen Parameter sind die innovativen Prinzipien aufgeführt, die in vorangegangen Entwicklungen zur Lösung des Widerspruchs und damit zur erfolgreichen Innovation geführt haben, vgl. Abbildung 5.41. Im Fall des Querpressverbands wird der Widerspruch durch das Prinzip der Anwendung von Wärme(aus)dehnung gelöst, sodass Welle und Nabe während des Fügens verschiedene Temperaturen aufweisen und durch die thermische Differenzdehnung einfach montierbar sind. Beispielsweise weitet sich die Nabe durch Erhitzen auf, wodurch die Montagekraft reduziert wird. Beim Abkühlen zieht sich die Nabe wieder zusammen und die hohen geforderten Kräfte und Momente werden sicher übertragen.

5.4.5 Recherche nach vorhandene Lösungen Der Begriff der vorhandenen bzw. existierenden Lösungen umfasst wie in Abbildung 5.43 dargestellt sowohl reale als auch virtuelle Lösungen. Reale Lösungen können eigene Produkte, Wettbewerbsprodukte oder Zulieferkomponenten sein, die sich allesamt dadurch auszeichnen, dass diese als fertiges Produkt am Markt verfügbar sind und in gleichbleibender Qualität mit bekannten Schnittstellen und Eigenschafen eingekauft werden können. Sie können als reales Produkt identifiziert, ausgewählt, bezogen, vermessen und in ihrem Verhalten getestet werden.

156

5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.44 Beispiel für die Nutzung bekannter Produkte. Oben: Trägerfahrzeug Terra Variant 600 Eco von Holmer, unten links: Mercedes-Benz Motor der Baureihe OM 502, unten rechts Arocs-Baureihe von Mercedes-Benz

Ein Beispiel für eine solche Verwendung einer vorhandenen Lösung zeigt Abbildung 5.44 am Beispiel eines leistungsstarken Trägerfahrzeugs für die Landwirtschaft. Da die Entwicklung eines eigenen Antriebsaggregats aufgrund der vergleichsweise kleinen Stückzahl unwirtschaftlich wäre, nutzt der Hersteller Holmer die Motoren aus der Arocs-Baureihe von Mercedes-Benz und umgeht so die aufwändige Neuentwicklung. Holmer kauft im Rahmen der Fokussierung der Entwicklung die Motoren zu und muss dann auf die Einhaltung der Standardschnittstellen des Zukaufaggregats achten, vgl. Abschnitt 5.3.1. Für MercedesBenz als Motorenhersteller ist der Grundmotor für Holmer eine Variante, welche in einigen Merkmalen insbesondere der Regelung von der Großserie abweicht, um den Betrieb mit biokompatiblen Schmier- und Kraftstoffen betrieben zu ermöglichen. Ein weiteres Beispiel, bei dem zur Erzeugung eines neuen Produkts auf vorhandene Kataloglösungen zurückgegriffen wird, zeigt Abbildung 5.45, mit der Traverse eines multifunktional genutzten Greifersystems nach [32]. Durch die Nutzung der druckdichten, abgeschlossenen Einzelquerschnitte des Strangpressprofils kann die Zusatzfunktion Druck leiten ermöglicht werden. Der Greifer wird nicht nur gehalten, sondern auch mit der notwendigen hydraulischen oder pneumatischen Energie durch die Traverse versorgt.

5.4 Der Konzeptprozess

157

Abb. 5.45 Beispiel zur Nutzung von Zulieferkomponenten: Einsatz eines stranggepressten Aluminiumprofils aus einem Profilmontagesystem als multifunktional genutzte Greifertraverse (Aus [32])

Zulieferkomponenten, welche den Beispielen in Abbildung 5.44 und 5.45 zugrunde liegen, werden als Zuliefer-, Kauf- oder Katalogteile bezeichnet, obwohl viele längst nicht mehr den Charakter von Teilen haben, sondern umfassende Problemlösungen darstellen. Der Einsatz derartiger Zulieferkomponenten ist nach [180] insbesondere bei kleinen bis mittleren Seriengrößen wegen der technischen und wirtschaftlichen Vorteile weit verbreitet. Zulieferkomponenten können in der Montage-, Handhabungs- und Verpackungstechnik mehr als 90 % der gesamten Produktkosten ausmachen. Der Einsatz von Zulieferkomponenten wird aufgrund funktionaler Kriterien vorbereitet und durch sogenannte Make-or-Buy Entscheidungen abgesichert. Üblicherweise ist der Einsatz von Zulieferkomponenten dann sinnvoll wenn: • die Zulieferkomponente die Anforderungen mindestens genauso gut erfüllt wie eine eigenentwickelte Komponente, • Entwicklungs- und Fertigungskapazität für Eigenentwicklung und -fertigung fehlen, • die definierten und vom Zulieferer garantierten Produkteigenschaften der Zulieferkomponente bei der Make-or-Buy-Entscheidung dominieren, • das anwendungsspezifische Erfahrungswissen des Zulieferers genutzt werden kann, um das Risiko einer Fehlentwicklung8 zu reduzieren, • mit einer eigenentwickelten Teillösung keine Differenzierung am Markt erzielt werden kann oder dazu völlig neue Kernkompetenzen notwendig sind. 8

In diesem Fall wird die Zulieferkomponente hinsichtlich der Eignung für den Einsatz im Neuprodukt im Rahmen der Produktvalidierung umfangreich mit erprobt.

158

5 Neue Produkte entwickeln

Der Einsatz von Zulieferkomponenten kann durchaus zu innovativen Lösungen führen, wenn entweder die Komponente neu auf dem Markt ist oder in einem neuen Anwendungskontext eingesetzt wird. Als Gründe für die Eigenfertigung – Make – lassen sich die Erhöhung der eigenen Wertschöpfung, die Auslastung der eigenen Belegschaft, Wissensauf- und Ausbau sowie das Erschließen neuer Geschäftsfelder durch Zusatzgeschäft nennen, teils ist auch eine Subventionierung möglich. Die grundsätzliche Strategie bei Makeor-Buy-Entscheidung hängt sehr eng mit der Fokussierung der Entwicklung im eigenen Unternehmen zusammen, vgl. Abschnitt 5.3.1. Eng verwandt mit der Nutzung von Zulieferkomponenten und mit meist ähnlichem Ergebnis ist die Recherche nach eigenen Produkten oder Wettbewerbsprodukten, die einen umfassenden Überblick über bekannte und bewährte Lösungen zur Erfüllung der aktuellen Entwicklungsfrage im eigenen Unternehmen oder beim Wettbewerb liefert, vgl. Abbildung 5.43. Die ethischen Grenzen zwischen Recherche und Produktspionage sind dabei recht eng, vgl. auch die Verweise in Abschnitt 2.2.4 zu den beispielhaften Verhaltensregeln der Industrie. Die durch interne Recherche oder Marktstudien – im Englischen als Benchmarking bezeichnet, vgl. [231] – gefundenen Lösungen sind aber meist nicht unmittelbar verwendbar und müssen an die neue Aufgabenstellung angepasst werden. Dennoch kann die Recherche durch die gefundenen Wettbewerbsprodukte helfen: • zur Beschaffung von Informationen über Lösungen und Lösungsdetails, • als Grundlage für eine gezielte Lösungsermittlung im Sinne des sogenannten Reverse engineering, dabei werden systematisch Wettbewerbsprodukt9 hinsichtlich der Nutzung von Teillösungen für den eigenen Bereich analysiert, • als Grundlage für die systematische Variation und die darauf basierende Erarbeitung eines vollständigen Lösungsfelds, • als Ausgangspunkt für eine Systematisierung des eigenen Produktspektrums mit dem Ziel der Reduzierung der Variantenvielfalt und der Bereitstellung von bewährten Teillösungen für häufig wiederkehrende Aufgaben, • zur Identifikation (unter Umständen auch gescheiterter) fremder Lösungen und Patente, die Lösungsvarianten für die freie eigene Verwendung ausschließen können. Eine weitere Methode zur Nutzung bekannter Produkte und Lösungsansätze ist die Recherche in Lösungssammlungen. Abbildung 5.46 zeigt ein Beispiel einer Lösungssammlung verschiedener verfügbarer Anbaugeräte für Radlader und Baggerlader, welche die Suche nach einem bereits verfügbaren Gerät für eine definierte Aufgabe deutlich erleichtern kann. Das Arbeiten mit Lösungssammlungen liefert häufig rasch eine Übersicht über Wirkprinzipien bzw. Prinzipien von ausgeführten Produkten. Meist erfolgt die Darstellung in Form anschaulicher Prinzipbilder oder als Entwurfszeichnung, teil auch mit weiterführenden Erläuterungstexten. Als nachteilig ist jedoch zu werten, dass die Übertragbarkeit 9

Auch hier ist die Grenze zur Produktspionage fließend, häufig ist der Begriff Reverse engineering aufgrund des Missbrauchs als Produktpiraterie negativ konnotiert.

5.4 Der Konzeptprozess

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Abb. 5.46 Beispiel einer realen Lösungssammlung: Grabgefäße und Anbaugeräte für kompakte Radlader und Baggerlader (a Standardschaufel; b Hoch-Kippschaufel; c Greiferschaufel; d Steinschaufel; e Seitenkippschaufel; f Sperrgutschaufel; g Sperrgutgabel; h Schneepflug; i Erdbohrer; k Hydraulik-Hammer; l Frontaufreißer; m Kehrmaschine; n Teleskop-Schwenkkran; o Rundholzzange; p Stapeleinrichtung; q Hubgerüst; r Betonmischschaufel; s Steinklammer; t Steinverlegezange; u Vakuumhebegerät; v Rotor-Cleaner; w Baumversetzgerät, aus [111, Abb. U.9])

durch die Fokussierung der Lösungssammlung auf eine spezielle Anwendung erschwert wird. Demgegenüber lassen sich folgende Vorteile der Verwendung von Lösungssammlungen für die Entwicklung nutzen: • Befriedigender Zugriff auf die Lösungen, teils ähnlich zu internen Normen, • für häufig wiederkehrende Teilfunktionen kann der Nutzer aus der Sammlung verfügbarer Lösungen neue Ideen für eigene Entwicklungen erhalten, • pragmatische Gliederung der Lösungen durch produktspezifische Merkmale der Funktions-, Wirk- oder Baustruktur, • als Grundlage für den Aufbau von Konstruktionskatalogen nutzbar, die dann wieder auf ein größeres Anwendungsfeld übertragbar sind. Virtuelle Lösungen in Abbildung 5.43 hingegen sind dokumentierte Lösungen in Form von technischen Unterlagen, welche direkt als Lösungen oder als Lösungsanregung in unterschiedlichen Ebenen der Produktentwicklung verwendet werden können. Beispiele für virtuelle Lösungen sind Schutzrechte, Lösungssammlungen und Konstruktionskataloge, vgl. Tabelle 5.3 und Tabelle 5.5. Je weniger konkret die virtuellen Lösungen dokumentiert sind, umso größer ist im Allge-

160

5 Neue Produkte entwickeln

meinen der erforderliche Entwicklungsaufwand, um sie an die neue Aufgabe anzupassen. Allerdings bieten derartige Lösungsprinzipien erheblich mehr Freiraum für eine optimale Anpassung an neue Aufgaben im Vergleich zu den in technischen Zeichnungen oder CAD-Modellen sehr konkret beschriebenen Produktmerkmalen realer Lösungen. Während Lösungssammlungen und Konstruktionskataloge häufig mit dem Ziel der Verbreitung von Wissen veröffentlicht werden und somit als Stand der Technik mithin frei nutzbar sind, beschränken Patente die freie Nutzbarkeit der beschriebenen Lösungen. Dabei müssen nicht nur Patente und Schutzrechte beachtet werden, deren Inhalt auch als reales Produkt am Markt verfügbar ist, sondern auch Patente, deren Veröffentlichung dazu dient, Wettbewerbern den Zugang zu Umgehungslösungen zu erschweren. Denn auch diese Patente beschreiben geschützte und damit meist nicht ohne Weiteres einsetzbare Lösungen. Zunächst werden schützbare technische Lösungen in Patenten und Gebrauchsmustern schutzrechtlich dokumentiert, ihre Nutzung durch Dritte – insbesondere Wettbewerber – ist nach der Erteilung des Schutzrechts i.d.R. lizenzpflichtig. Eine Nutzung kann auch gerichtlich untersagt werden. Trotz der Absicherung gegen eine unberechtigte Nutzung kann eine Recherche in Patenten und Gebrauchsmustern wertvolle Informationen für die Produktentwicklung liefern. Eine Patentrecherche bietet folgende Möglichkeiten: • den Stand der Technik ermitteln und Doppelentwicklungen bzw. die Verletzung von Schutzrechten Dritter vermeiden. • Lizenzgeber für kritische oder wichtige Lösungen finden, wenn keine eigene Entwicklungskapazität vorhanden ist. • Wettbewerber beobachten und aus der Häufigkeit von Anmeldungen durch eine systematische Patentauswertung Rückschlüsse auf deren Entwicklungsaktivitäten schließen. • Schutzrechte des Wettbewerbs umgehen, indem bekannt gemachte Schutzrechte als Grundlage für das systematische Erarbeiten eines vollständigen Lösungsfelds herangezogen werden. Damit können unter Umständen neue schutzrechtsfähige Lösungen mit besserer Funktionalität erarbeitet werden. • Eigene Schutzrechtsansprüche durch das systematische Erarbeiten eines vollständigen Lösungsfelds und die darauf Bezug nehmenden Schutzrechtsanmeldungen absichern. Dabei auch über naheliegende Umgehungslösungen nachdenken, diese entsprechend dokumentieren und ebenfalls schützen. Lösungssammlungen können ebenfalls virtuelle Lösungen enthalten, die meist in Form von Lösungsprinzipien dokumentiert und im gesamten Bereich der Technik vorhanden sind. Anders als die reale Lösungssammlung in Abbildung 5.46 sind nicht alle Varianten aus Lösungssammlungen auch tatsächlich als Zukaufteil verfügbar. Es geht im Wesentlichen um die Beschaffung bzw. Vermittlung von Ideen. Als wertvolle Informationsquellen virtueller Lösungen finden sich die Lösungssammlungen in hoher Vielfalt in Normen, Richtlinien, Zeitschriften, Veröffentlichungen und Fachbüchern.

5.4 Der Konzeptprozess

161

Abb. 5.47 Lösungssammlung in Form einer Mindmap zur Lösungssuche bei der Erarbeitung von [134] für den Aktuator einer Parksperre

Derartige Lösungssammlungen – es wird im Folgenden nicht mehr weiter zwischen realen und virtuellen Lösungssammlungen unterschieden, wenn der Unterschied aus dem Kontext ersichtlich oder nicht relevant ist – geben meist eine Übersicht über Wirkprinzipien bzw. über Prinzipien von tatsächlich ausgeführten technischen Produkten. Die Prinzipien werden üblicherweise als anschauliches Prinzipbild oder als Entwurfszeichnung dargestellt, wobei wichtige Details in Bild und Text beschrieben, unwichtige Details jedoch weggelassen werden. Insofern sind diese Beschreibungen i.d.R. kontextabhängig und erschließen dem Betrachter nur bestimmte Lösungsaspekte. Gleiches gilt für die technischen Beschreibungen in Patenten. Das Nutzen von Lösungssammlungen ist beim Ermitteln von Teillösungen insbesondere dann hilfreich, wenn • ein guter Zugriff auf die Lösungssammlungen beispielsweise durch Literaturdatenbanken, Bibliotheken oder Normenstellen gewährleistet ist, • die Lösungssammlungen für wiederkehrende Teilfunktionen erstellt werden und die Sammler der Lösungen sowie die Nutzer der Information gemeinsame wissenschaftliche oder wirtschaftliche Interessen verfolgen. In diesem Fall kann eine Gliederung nach Merkmalen und Eigenschaften der Wirk-, Funktions- oder Baustruktur die Übersicht erleichtern und den Zugriff verbessern, • die Lösungssammlungen als Grundlage für den Aufbau von Konstruktionskatalogen herangezogen werden.

162

5 Neue Produkte entwickeln

Ein Beispiel für eine Lösungssammlung ist in Abbildung 5.47 gezeigt. Die Mindmap enthält auf der Basis von Schutzrechtsauswertungen die wichtigsten Merkmale der ausgeführten und geschützten Aktuatorsysteme und diente als Grundlage für die systematische Lösungssuche, die dann zu einem neuen Patent [134] geführt hat. Ein weiteres häufig verwendetes Hilfsmittel zur Strukturierung virtueller Lösungen sind Konstruktionskataloge, die als Lösungsspeicher in Inhalt und Aufbau speziell auf das methodische Konstruieren zugeschnitten sind, vgl. z. B. [189]. Konstruktionskataloge sind in der vorliegenden Form streng systematisch gegliederte Lösungsspeicher mit typischen Kennzeichen, Tabelle 5.9 zeigt ein Beispiel, ebenso Tabelle 5.5. Auch im Bereich der Maschinenelemente gibt es zahlreiche weitere Lösungssammlungen in Form von Konstruktionskatalogen, vgl. [138, 189]: • Einheitlicher, erkennbarer Katalogaufbau mit Gliederungsteil, Hauptteil, Zugriffsteil und meist mit Anhang, • Gliederungsteil mit Gliederungsmerkmalen zur widerspruchsfreien Einteilung der Katalogobjekte, • Hauptteil mit Lösungsbeispielen als typische Vertreter der jeweiligen Lösungsklasse, oft als Skizzen dargestellt mit teils ergänzender Beschreibung durch Text oder Gleichung, • Zugriffsteil mit relevanten Eigenschaften der Objekte zur gezielten Auswahl, um nicht geeignete Lösungen früh erkennen zu können, • Anhang mit ergänzenden Angaben, z. B. Literaturstellen, Herstellerangaben. Konstruktionskataloge sind beim Konzipieren deshalb von besonderer Effizienz, weil sie im Rahmen der Gliederungsmerkmale ein sehr breites Lösungsspektrum

Tabelle 5.9 Konstruktionskatalog zu Welle-Nabe-Verbindungen (Nach [189])

5.4 Der Konzeptprozess

163

beschreiben und durch die Angaben im Haupt- und Zugriffsteil eine umfassende und gezielte Auswahl der jeweils günstigsten Lösung ermöglichen. Wenn Konstruktionskataloge für eine Aufgabe zur Verfügung stehen, dann sollten sie unbedingt genutzt werden, um das Lösungsfeld hinsichtlich Vollständigkeit abzusichern. Da in Konstruktionskatalogen meistens physikalische Effekte und Wirkprinzipien enthalten sind, sind sie auch für einen großen Benutzerkreis geeignet und hervorragend an das methodische Vorgehen angepasst. Für den methodisch weniger geschulten Anwender erschließen sich allerdings die oft recht abstrakten Lösungen nicht immer in hinreichendem Maße.

5.4.6 Prinzipielle Gesamtlösungen erarbeiten Die prinzipiellen Gesamtlösungen einer technischen Aufgabenstellung werden im Konzeptprozess zum Abschluss der Lösungsfindung erarbeitet. Die verschiedenen Lösungsvarianten integrieren die Ergebnisse der vorherigen Arbeitsschritte und verdichten sie zu aussichtsreichen und beurteilbaren Lösungsalternativen. Wie bereits angemerkt ist es dabei wichtig, mehr als nur eine Gesamtlösung zu erarbeiten, um durch die aktive Auseinandersetzung mit Lösungsalternativen möglichst lösungsneutral denken und abschließend die beste Lösung auswählen zu können. Voraussetzung für das strukturierte Erarbeiten der prinzipiellen Gesamtlösungen sind eine geklärte Aufgabenstellung, eine detaillierte Anforderungsliste und ein weitgehend vollständiges Spektrum an Teilfunktionen mit zugeordneten Teillösungen. Dieser Teillösungsvorrat wird zuerst in einem Ordnungsschema, dem sogenannten morphologischen Kasten, übersichtlich dargestellt. Er repräsentiert die Gesamtheit aller Konzeptvarianten und ist damit der Ausgangspunkt für das Auffinden der bestmöglichen Lösung. Tabelle 5.10 zeigt ein generisches Beispiel für ein Ordnungsschema zur übersichtlichen Darstellung von Teilfunktionen und zugehörigen Teillösungen. Mit der Anzahl an Teilfunktionen i – Zeilen – und Teillösungen – Anzahl der Einträge in den einzelnen Zeilen ni – wächst die Lösungsmenge nL fast exponentiell an. Es gilt für die Anzahl der prinzipiellen Gesamtlösungen nL infolge der systematischen Kombination der Zusammenhang

Tabelle 5.10 Generisches Beispiel eines morphologischen Kasten mit bereits nL = 2 · 3 · 4 · 2 = 48 verschiedenen Lösungsvarianten Teilfunktionen Teillösung TL 1 TL 2 TL 3 TL 4 Anzahl Teilfunktion A Teilfunktion B Teilfunktion C Teilfunktion D

A1 B1 C1 D1

A2 B2 C2 D2

B3 C3

C4

n1 = 2 n2 = 3 n3 = 4 n4 = 2

Q4

i=1 ni

=

164

5 Neue Produkte entwickeln

nL =

Alle Teilfunktionen Y

ni .

(5.1)

i=1

Tabelle 5.11 zeigt am Beispiel von Armbanduhren einen morphologischen Kasten mit der Übersicht der zugehörigen Teillösungen auf der Basis unterschiedlicher physikalischer Wirkprinzipien. Die Teilfunktionen ergänzen die Anforderungsliste aus Abbildung 3.19 und ermöglichen so die Erarbeitung von bewertbaren Gesamtlösungen. Die insgesamt nL = 4 · 3 · 4 · 2 = 96 theoretisch möglichen Konzeptvarianten für Uhren nach (5.1) entsprechend dem in Tabelle 5.11 gezeigten morphologischen Kasten und resultieren aus der systematischen Kombination der Teillösungen für alle Teilfunktionen des Produkts. So erschließt man einen möglichen Lösungsumfang, der durch ein intuitives Vorgehen alleine nicht erreicht werden kann. Sehr schnell wird anhand von (5.1) die Notwendigkeit der Reduktion der Lösungsflut deutlich. Die möglichen Konzeptvarianten lassen sich durch systematisches Kombinieren der Teillösungen erzeugen und beispielsweise in Variantenbäumen darstellen, Abbildung 5.48.a zeigt den Variantenbaum am Beispiel der Armbanduhr für lediglich ein Prinzip des Energiespeichers. Man findet für die ausgewählten Lösungsprinzipien zu den Teilfunktionen 18 Lösungsvarianten, die der Übersicht wegen nicht alle eingezeichnet sind. Berücksichtigt man zusätzlich den Hubmagneten als Signalwandler, der beim Übergang von Tabelle 5.11 zu Abbildung 5.48 bereits als wahrscheinlich nicht zielführendes Lösungsprinzip aussortiert wurde, so wächst die Anzahl von 18 auf 24 Lösungsvarianten nur für den einen angenommenen Energiespeicher. Im Allgemeinen ergibt sich aus der systematischen

Tabelle 5.11 Morphologischer Kasten für Wirkprinzipien von Uhren

5.4 Der Konzeptprozess

165

Abb. 5.48 Variantenbaum und Lösungsvarianten für das Beispiel aus Tabelle 5.11: a) Variantenbaum der Lösungen mit einer Batterie als Energiespeicher, b) ausgewählte mögliche (grün), unrealistische (rot) und kritische Kombinationen (orange)

Kombination eine Variantenflut, aus der nun in einem eigenen Arbeitsschritt die aussichtsreichen Gesamtlösungen extrahiert werden müssen. Morphologische Kästen zur möglichst vollständigen Erfassung aller prinzipiellen Gesamtlösungen werden vorzugsweise dann erarbeitet, wenn der Überblick über das gesamte Lösungsfeld wichtig ist, beispielsweise bei Neuentwicklungen mit besonderer Tragweite oder zur Absicherung eigener bzw. Umgehung fremder Schutzrechtsansprüche. Dabei findet man im morphologischen Kasten auch unmöglich realisierbare Lösungen, die per se ausscheiden, wie etwa die in Abbildung 5.48.b rot markierte Kombination der Solarzelle mit einer mechanischen Unruhe. Eine einzige prinzipielle Unverträglichkeit reicht zur Disqualifikation eines “Asts” des Variantenbaums aus. Interessant sind beim Finden kreativer Gesamtlösungen die Lösungen im morphologischen Kasten, die auf den ersten Blick als abwegig aber nicht unmöglich erscheinen, denn sie erfordern zur Umsetzung kreative Ideen und fördern das Lösen von vorfixierten Lösungen. In Abbildung 5.48.b ist eine solche Lösung orange markiert eingezeichnet, kritisch ist im ersten Moment die Kombination von Schwingquarz und (einfachem) Elektromotor. Weiterhin ist es besonders bei der Auseinandersetzung mit bestehenden Patenten hilfreich, in den morphologischen Kasten auch bekannte Lösungen aus Schutzrechten Dritter einzuzeichnen, die dann als “verbotene” Lösungen interpretiert und anschließend gezielt umgangen werden können. Das Hauptproblem beim Erarbeiten prinzipieller Gesamtlösungen ist jedoch das schnelle und gezielte Ermitteln der optimalen Konzeptvariante(n) aus dem möglichen Variantenspektrum. Lösungen dafür liegen zum einen in der zweckmäßigen Gestaltung des Morphologischen Kastens selbst, zum anderen in der Integration von Auswahlverfahren in die Lösungskombination, vgl. [29, 32]. Abbildung 5.49 zeigt eine

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5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.49 Prozesse und Methoden zum Beherrschen der Variantenflut beim Erarbeiten prinzipieller Gesamtlösungen

Übersicht der Prozesse und Methoden zur Reduktion der Variantenvielfalt10 bei der Lösungskombination. Von den Methoden zum Beherrschen der Variantenflut sind insbesondere die Reduktionsstrategien und die alternierende Kombination und Auswahl von Bedeutung. Beim Übergang von Tabelle 5.11 zu Abbildung 5.48 wurden zwei mögliche Energieträger ausgeklammert und damit die Variantenanzahl halbiert, die Elimination des Hubmagneten – eines von vier möglichen Lösungsprinzipien für eine Teilfunktion – impliziert eine 25 % Reduktion. Es ist offensichtlich, dass durch geeignete Methoden die zunächst unrealistisch hohe Anzahl an Lösungsvarianten wieder auf handhabbare Größenordnungen reduziert werden kann. Dazu werden im Rahmen der Reduktionsstrategien zielführende Vorgehensmodelle benötigt, die einen morphologischen Kasten so reduzieren, dass aussichtsreiche Konzeptvarianten mit geringerem Aufwand identifiziert werden, vgl. [29]. Der Prozess der Anpassung des morphologischen Kastens, der in Abbildung 5.49 links angedeutet ist, umfasst zunächst die direkte Vereinfachung des Umfangs des morphologischen Kastens, welche sich durch die Begriffe Reduktion und Strukturierung zusammenfassen und wie folgt umsetzen lassen: • Vorgabe von Lösungsprinzipien für einzelne Teilfunktionen; die Variantenvielfalt nL schrumpft entsprechend der Anzahl der identifizierten Lösungsprinzipien für die betroffene Teilfunktion11 ni . • Ausschließen von Lösungsprinzipien für einzelne Teilfunktionen; die Variantenvielfalt reduziert sich mit abnehmender Lösungsvielfalt für die Teilfunktion stark progressiv12 . 10

Die Variantenvielfalt des morphologischen Kastens ist nicht mit der Vielfalt von Produktvarianten zu verwechseln, die in Abschnitt 9.1 diskutiert wird. Im morphologischen Kasten zeugt eine hohe Variantenanzahl von einer umfassenden und strukturierten Lösungssuche während eine hohe Variantenvielfalt in Kapitel 9 als Indiz für die Notwendigkeit der Überarbeitung der Produktstruktur angesehen wird. 11 Im Beispiel von Abbildung 5.48.a bei der Vorgabe des Lösungsprinzips “Batterie” bei vier Lösungen für die Teilfunktion auf ein Viertel des ursprünglichen bzw. verbliebenen Umfangs. 12 Reduktion um 16 % bei Streichen einer von sechs Lösungsprinzipien für eine Teilfunktion, 50 % beim Eliminieren einer von zwei Varianten.

5.4 Der Konzeptprozess

167

• Ausklammern unwichtiger Teilfunktionen, welche auf die Qualität der Gesamtlösung nur einen geringen Einfluss haben, aber die Variantenanzahl unnötig steigern. Der andere in Abbildung 5.49 angeführte Prozess der Integration von Auswahlverfahren ist implizit in Abbildung 5.48.b bereits umgesetzt. Unwahrscheinliche oder unverträgliche Kombinationen werden gestrichen, im Beispiel der Armbanduhr in Tabelle 5.11 die Energiebereitstellung über Gravitation und die Kombination von mechanischer Unruhe und Hubmagnet. So wird beim Erarbeiten des morphologischen Kastens durch eine kontinuierliche Bewertung und das damit mögliche Aussortieren unwahrscheinlicher Lösungen die Variantenvielfalt geringgehalten. Allerdings kann durch eine zu frühe und zu radikale Reduktion der prinzipiellen Lösungsvarianten der Erfolg der methodischen und strukturierten Lösungssuche gefährdet werden. Das Arbeiten mit Stellvertreterlösungen, das in Abbildung 5.49 ebenfalls als Methode zur Beherrschung der Variantenvielfalt angegeben ist, beruht auf der Identifikation zielführender Kombinationen von Lösungsprinzipien, um so die Anzahl der prinzipiellen Gesamtlösungen zu reduzieren. Im Beispiel der Armbanduhr sind beispielsweise die Kombinationen der digitalen Anzeige mit dem integrierten Schaltkreis mit Verstärker bzw. Zähler eine sinnvolle Lösungskombination sowie der Elektromotor mit einem klassischen Zeiger. Die beiden Stellvertreterlösungen ersetzen die beiden betroffenen Teilfunktionen. Dabei ist auch eine Kombination von zwei Lösungsprinzipien für eine Teilfunktion zu einer zielführenden Variante denkbar. Die mit Hilfe des morphologischen Kastens erzeugten Gesamtlösungen sind meist wenig konkrete Kombinationen verschiedener Wirkprinzipien für die verschiedenen Teilfunktionen. Aufgrund des noch recht geringen Informationsgehalts ist eine Beurteilung der Lösungen nur mit einer erheblichen Unsicherheit möglich. Andererseits müssen aber die Lösungen genau beurteilt werden können, da die Entscheidung für oder gegen eine Gesamtlösung in dieser frühen Phase der Entwicklung den weiteren Lösungsweg vorbestimmt. Eine begründete und in späteren Phasen des Produktlebenszyklus13 nachvollziehbare Entscheidung sollte auf der Basis einer umfassenden und detaillierten Bewertung als Grundlage getroffen werden. Diese Entscheidungen bzw. die Auswahl der Lösungsvarianten sind in hohem Maße erfolgsbestimmend, sie beeinflussen den Produkterfolg und rechtfertigen damit zur Absicherung der Entscheidung auch die Konkretisierung eventuell nicht weiterverfolgter Gesamtlösungen. In Tabelle 5.12 sind als Beispiel drei verschiedene Prinziplösungen für die Teilfunktion fein justierbare Bewegung in einer Raumrichtung mit einer manuellen Betätigungsvorrichtung erzeugen gezeigt, die zu einem System zur definierten räumlichen Positionierung kombiniert werden sollen. Das Gesamtsystem soll drei unabhängige Verstellfreiheitsgrade aufweisen, die zunächst unabhängig voneinander durch verschiedene Lösungsprinzipien dargestellt werden. Die Variante PL1 13

Die wesentlichen Phasen des Produktlebenszyklus sind in Abbildung 3.13 angegeben.

168

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erzeugt z. B. über ein Bewegungsgewinde aus der rotativen Eingangsbewegung eine translatorische Stellbewegung, Variante PL2 übersetzt die Bewegung mit einem Hebel während PL3 über einen Exzenter aus eine translatorischen Eingangsbewegung eine Drehbewegung erzeugt. Die drei Varianten werden zunächst bezüglich der konstruktiven Komplexität und hinsichtlich der erzielbaren Genauigkeit bewertet. Dabei wird Variante PL3 infolge der höheren Komplexität, der Nichtlinearität der Verstellbewegung und der wenig feinfühligen Verstellmöglichkeit als nicht zielführend bewertet und nicht weiterverfolgt. Weitere, auch quantitative Methoden zur Bewertung werden in Abschnitt 5.4.8 vorgestellt.

Tabelle 5.12 Prinziplösungen zum manuellen Erzeugen einer fein justierbaren Bewegung in einer Raumrichtung und Bewertung der Eignung für den geforderten linearen Verstellbereich in den drei Raumrichtungen

Tabelle 5.13 Drei Gesamtlösungen zum manuellen Erzeugen einer fein justierbaren räumlichen Bewegung basierend auf den besten Prinziplösungen aus Tabelle 5.12

5.4 Der Konzeptprozess

169

Zur Erzeugung der Gesamtlösung können nun die Prinziplösungen PL1 und PL2 in verschiedenen räumlichen Anordnungen kombiniert werden. Tabelle 5.13 zeigt drei mögliche Gesamtlösungen, die im nächsten Schritt konkretisiert und bewertet werden müssen. Bei der Umsetzung der drei prinzipiellen Gesamtlösungen in Tabelle 5.13 wurde aufgrund der auf Lösungsprinzipebene vorgenommenen Bewertung für eine einzelne Verstellbewegung in Tabelle 5.12 die Prinziplösung PL3 bereits ausgeklammert, es verbleiben für die räumliche Verstellung drei14 prinzipielle Gesamtlösungen. Alle drei in Tabelle 5.13 gezeigten Varianten erfüllen die Grundfunktion der räumlichen fein justierbaren Bewegung mit einem größeren Verstellbereich in x−Richtung, Variante GL1 bietet jedoch durch den Rückgriff auf dreimal die gleiche Prinziplösung Vorteile bei der Umsetzung. Die Gesamtlösungen, die am Ende des Prozessschritts prinzipielle Gesamtlösung erarbeiten nach Abbildung 5.2 vorliegen, stellen i.d.R. ein mögliches Konzept noch auf der Wirkprinzipebene dar. Ein vorsichtiges Auswählen und Bewerten von Lösungsprinzipien ist dabei durchaus bereits zulässig, um die Vielzahl der möglichen Lösungen sinnvoll einzugrenzen und die Suche nach guten Gesamtlösungen effizient und effektiv voran zu treiben.

5.4.7 Gesamtlösungen konkretisieren Das Konkretisieren heißt in der Praxis meist Gestalten bzw. Entwerfen. Die identifizierten Lösungsprinzipien für die einzelnen Teilfunktionen müssen konstruktiv zumindest in Form einer Handskizze ausgearbeitet werden, um im nächsten Schritt die Gesamtlösungen auswählen bzw. quantitativ bewerten und anschließend priorisieren zu können. Aus wirtschaftlicher Sicht es dabei wichtig, die Gesamtlösungen nur soweit zu detaillieren, dass eine zuverlässige Bewertung möglich ist. Das Festlegen sämtlicher Toleranzen ist meist nicht notwendig, wohl aber beispielsweise die Abschätzung der erforderlichen IT-Toleranzklassen, um Funktion und Montierbarkeit sowie die Erreichung der Kostenziele bewerten zu können. Toleranzklassen werden in vielen Fällen erst im Ausarbeitungsprozess endgültig festgelegt. Dabei ist es häufig sinnvoll, die Tätigkeiten Gestalten sowie Auswählen und Bewerten, vgl. Abschnitt 5.4.8, als sich ergänzende Methoden zyklisch einzusetzen. Abbildung 5.50 stellt die Vorgehensweise schematisch dar. Beim Gestalten entstehen idealerweise mehrere Varianten – das Lösungsfeld wird in diesem divergierenden Teilprozess aufgeweitet –, von denen dann durch den Vergleich mit Fest- und Bereichsforderungen, vgl. Abbildung 3.24, zielführende Varianten ausgewählt werden, die anschließend genauer anhand von Zielforderungen und 14

Eine mögliche vierte prinzipielle Gesamtlösung unterscheidet sich nur durch ein gedankliches Vertauschen der Lösungsprinzipien für die y− und z−Achse von der Lösung GL2. Ferner wird die Gesamtlösung ausgeschlossen, welche durch dreifache Kombination der Prinziplösung PL2 erzeugt wird, da mit PL2 der geforderte größere Verstellbereich in x−Richtung nicht dargestellt werden kann.

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Abb. 5.50 Wechsel von konvergentem und divergentem Vorgehen beim Konkretisieren der Gesamtlösung

Abb. 5.51 Methoden zur Konkretisierung von Lösungen

Wünschen bewertet werden. Das Lösungsfeld wird durch das Auswählen und Bewerten als konvergierende Teilprozesse wieder kleiner. Beim Auswählen werden nur zielführende Lösungen weiter betrachtet, beim Bewerten wird eine Reihenfolge der Varianten erstellt, die weiterverfolgt werden. In den nacheinander folgenden Gestaltungsschritten werden jeweils andere Gestaltungszonen – Teilfunktionen – betrachtet, nicht taugliche Lösungen werden rasch aussortiert. Dabei werden für jede betrachtete Teilfunktion mögliche Gestaltvarianten soweit detailliert und kontinuierlich konkretisiert, bis eine erfolgversprechende Gestaltung für alle Teilfunktionen gefunden wird, welche die Anforderungen erfüllt und möglichst Potentiale zur Differenzierung vom Status Quo bietet. Abbildung 5.51 fasst schlagwortartig wichtige Methoden und Hilfsmittel zum Konkretisieren von Lösungsvarianten zusammen. Dabei ist es sinnvoll, die für das folgende Auswählen und Bewerten entscheidungsrelevanten Eigenschaften des Produkts beim Gestalten direkt mit zu berücksichtigen.

5.4 Der Konzeptprozess

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Abb. 5.52 Auswählen und Bewerten als disjunkte Methoden des Beurteilens (In Anlehnung an [32])

Dieser Vorgriff auf erst später erkennbare Lösungseigenschaften wird als Konkretisieren bezeichnet und ist ein erfolgsbestimmendes Merkmal des methodischen Arbeitens im Konzeptprozess. Konkretisieren als Teilprozess in den frühen Phasen der Produktentwicklung ist in vielen Fällen unabdingbar für eine realistische Beurteilung von Gesamtlösungen. Durch unterschiedlichste Methoden können eigene und fremde Erfahrungen genutzt oder Lösungseigenschaften zielgerichtet konkretisiert werden, vgl. Abbildung 5.51. Damit werden die Chancen von Gesamtlösungen erheblich transparenter dargestellt und die Risiken der konzeptionellen Arbeit deutlich verringert. Erst mit einem bewusst eingesetzten Früherkennen von Lösungseigenschaften und dem anschließenden Auswählen und Bewerten wird das Erarbeiten konzeptioneller Varianten zielführend und erfolgsbestimmend.

5.4.8 Varianten auswählen, Lösungen bewerten Auswählen und Bewerten sind nach [170] konvergierende Teilprozesse, die ein zuvor erzeugtes Variantenfeld durch einen Beurteilungs- und Entscheidungsprozess auf aussichtsreiche Varianten einengen, die Lösungsvielfalt wird reduziert. Das Auseinandersetzen mit den verschiedenen Lösungsprinzipien für einzelne

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Abb. 5.53 Auswahlliste mit beispielhaften Kriterien zur Bewertung von prinzipiellen Gesamtlösungen (In Anlehnung an [170])

Teilfunktionen oder der Gestaltung von Teilbereichen hingegen sind divergierende Teilprozesse, die Lösungsvielfalt wird wie in Abbildung 5.50 skizziert größer. Da der gesamte Entwicklungsprozess entsprechend der allgemein akzeptierten Vorgehensweise nach den VDI-Richtlinien im Kontext der methodischen Produktentwicklung [217, 219, 220, 221] durch ein permanentes Generieren und Eingrenzen von Varianten gekennzeichnet ist, können Auswahl- und Bewertungsprozesse im Prinzip in jeder Phase der Entwicklung stattfinden. Eine ausführliche Beurteilung empfiehlt sich jedoch jeweils am Ende des Konzept-, Entwurfsund Ausarbeitungsprozesses als Grundlage für das Freigeben der Lösungen zur weiteren Konkretisierung. Es gilt wieder, dass ein frühzeitiges Aufdecken nicht erfüllter Anforderungen hilft, nicht zielführende Entwicklungsaktivitäten zu reduzieren. Der Nachweis der Vorteile einer methodisch geprägten Vorgehensweise ist in der Praxis jedoch sehr schwierig. Das Beurteilen kann nach [170] durch Auswählen und Bewerten erreicht werden, vgl. Abbildung 5.52, beide Möglichkeiten führen zu einer Reduktion der Anzahl möglicher Gesamtlösungen, wenn nach der Beurteilung eine Entscheidung über die prinzipielle Eignung und die qualitative Reihenfolge der Lösungen getroffen wird. Im Sinne der Entwicklungseffizienz ist dabei erst eine Auswahl durch Analyse der Fest- und Bereichsforderungen zu treffen, um die verbleibende Lösungsmenge anschließend anhand der Zielforderungen und Wünsche zu bewerten. Eine Methode zum Auswählen lässt sich anhand von Abbildung 5.53 erklären. Die gezeigten Kriterien – Fest- und Bereichsforderungen – werden auf die erzeug-

5.4 Der Konzeptprozess

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ten Gestaltungsvarianten angewendet und mit maximaler Trennschärfe durch Ja-Nein oder Plus-Minus Bewertungen versehen. Ein einziges Nein oder Minus disqualifiziert die Varianten und führt zur Reduktion des Lösungsfeldes, diese Varianten werden nicht mehr weiterverfolgt. Im Sinne der Entwicklungseffizienz sollte daher das Auswählen möglichst auf Lösungsprinzipebene oder spätestens bei der Synthese von Gesamtlösungen abgeschlossen werden. Die Beschränkung auf die Fest- oder Bereichsforderungen ist beim Auswählen notwendig, weil nur für diese die notwendige Ja-Nein-Entscheidung getroffen werden kann. Wichtig ist auch, dass die notwendige Offenheit gegenüber neuen Lösungen der auswählenden und bewertenden Personen gegeben ist. Oft werden Lösungen anderer Menschen oder Organisationseinheiten per se als minderwertig angesehen, der englische Begriff not invented here wird häufig als Synonym für die Ablehnung fremder Ideen gesehen. Die in Zusammenhang mit Abbildung 5.53 vorgestellte Methode der Auswahlliste ist ein Formblatt mit organisatorischen Angaben sowie einem Vorschlag von Auswahlkriterien und -werten. Die Auswahlliste ist für eine Variantenmenge mit ca. 20 bis 50 Varianten geeignet, um diese vor dem Bewerten auf eine kleinere Lösungsmenge zu reduzieren. Definition 14 Bewerten Das Bewerten ist ein Prozess zum Ermitteln des Werts, des Nutzens oder der Stärke einer Lösung in Bezug auf vorher festgelegte Zielvorstellungen (Soll-Eigenschaften). Dabei werden die Ist-Eigenschaften einzelner Lösungen mit entsprechenden SollEigenschaften (Zielvorstellungen) verglichen. Ergebnis des Bewertens ist eine meist quantitative Aussage über die Güte der Lösung, welche den Grad der Zielerreichung repräsentiert. 3 Tabelle 5.14 Allgemeine Werteskalen der Produktentwicklung

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5 Neue Produkte entwickeln

Das Bewerten kann zur Vorbereitung von Entscheidungen durchgeführt werden, bei denen grundsätzlich geeignete Lösungen hinsichtlich mehrerer Eigenschaften beurteilt werden. Bewertet werden sowohl reale als auch virtuelle Lösungen, die jeweils im gleichen Detaillierungsgrad für eine objektive und vergleichende Bewertung vorliegen. Tabelle 5.14 zeigt vier verschiedene Ansätze zur Bewertung und somit zum Erzeugen einer Rangfolge der verschiedenen Lösungsvarianten: Konkurrenzbewertung, Stiftung Warentest, Bewertung in Anlehnung an VDI 2225 und Nutzwertanalyse. Dabei erlauben die Werteskalen in Anlehnung an Stiftung Warentest und die VDI-Richtlinie 2225, [217], eine recht differenzierte Bewertung. Die Bewertung führt jedoch auf vorhersehbare Widersprüche, da die Beschreibungen der Bedeutungen nicht mit den Erwartungen der Beurteilenden übereinstimmen. Ferner wird kein einheitlicher Beurteilungsmaßstab zugrunde gelegt. Die Entscheidung, ob eine Lösung als tragbar, ausreichend oder befriedigend einzustufen ist, bleibt also den Beurteilenden überlassen. Zudem sind die Zahlenwerte der Bewertungen auf den unterschiedlichen Beurteilungsskalen nicht vergleichbar und ohne Angabe des möglichen Wertebereichs aussagelos. Durch eine deutlich differenziertere Beschreibung des Bewertungsmaßstabs wird die Vergleichbarkeit der Beurteilungen wesentlich verbessert, vgl. Tabelle 5.15. Die auch als ATZ-Skala bezeichnete Bewertungsskala geht von der Wahrscheinlichkeit der Fehlererkennung durch Kunden, Entwickler und trainierte Beurteiler aus, das Vorgehensmodell kann aber sinngemäß erweitert werden. Bewertungen nach dem gezeigten Bewertungsmaßstab gelten auch über Unternehmensgrenzen hinweg und führen dazu, dass zwei Personen bei der Bewertung bzw. subjektiven Beurteilung den gleichen Maßstab anlegen. So wird über eine verbale und differenzierende Beschreibung des Bewertungsmaßstabs eine wiederholbare und damit stabile Bewertung erreicht. Die Nutzwertanalyse in Anlehnung an die VDI Richtlinie 2225, vgl. [217] und Tabelle 5.14, arbeitet zwar auch mit einer Zehnerskala, die Abstufungen sind aber nur verbal formuliert und nicht so differenziert bewertbar wie in Tabelle 5.15.

Tabelle 5.15 Subjektive Beurteilungsskala (ATZ-Skala) als möglicher Bewertungsmaßstab der Automobilindustrie (Nach [135])

5.4 Der Konzeptprozess

175

In Tabelle 5.16 ist eine Form des Kompromissvergleichs - im Englischen als Tradeoff Study bezeichnet – gezeigt, die eine Kombination von Auswählen und Bewerten erlaubt. Die Lösungsvarianten werden hinsichtlich verschiedener Anforderungen bewertet, dabei können sowohl Fest-, als auch Bereichs- und Zielforderungen sowie Wünsche berücksichtigt werden. Erfüllt eine Variante eine Anforderung im Großen und Ganzen, so führt dies zu einer grünen Bewertung, bei mittleren und kleinen Abweichungen wird gelb gewertet. Beide Wertungen zählen jedoch als “Bestanden” und die Lösung kann weiterverfolgt werden. Im Sinne der in Abschnitt 4.3.3 diskutierten Bewertung des Projektfortschritts mit Ampelfarben impliziert die gelbe Wertung, dass im besten Fall ein Plan vorliegt, um bewertete Eigenschaften bis zur Erfüllung der Anforderungen weiter zu entwickeln. Bei großen Problemen, deren Lösung unwahrscheinlich erscheint, kann eine einzelne rote Bewertung die Lösungsvariante ausschließen, das Kriterium ist nicht bestanden. Bei Zielforderungen impliziert eine solch folgenschwere Bewertung, dass eine nennenswerte Annäherung an die Zielvorgabe ausgeschlossen ist. Die Methode des Kompromissvergleichs – die Trade-Off-Study – hat sich in der Praxis bewährt, sie ist aber nicht wissenschaftlich stringent beschrieben.

Tabelle 5.16 Kompromissvergleich verschiedener Lösungsvarianten mit beispielhaften Bewertungskriterien

176

5 Neue Produkte entwickeln

Eine noch deutlich differenziertere Bewertung erlaubt die Methode der Punktbewertung nach der VDI-Richtlinie 2225 [217], ein betont diskursives Bewertungsverfahren, das auf der Grundlage der Addition von Teilnutzen einen Gesamtnutzen errechnet, welcher die Güte der Lösungen repräsentiert. Das Ergebnis des Bewertens ist ein Ordnungsschema, in dem Lösungen den Kriterien gegenübergestellt sind und die Erfüllung der Bewertungskriterien durch die Lösungen zahlenmäßig festgestellt wird. Die Wertung w ji gilt für die Variante j hinsichtlich des Bewertungskriteriums i. Der unterschiedlichen Bedeutung der Bewertungskriterien kann durch eine Gewichtung entsprochen werden, Tabelle 5.17 zeigt ein Beispiel. Bei der Punktbewertung kann zunächst zeilenweise die Summe W j der Einzelbewertungen der einzelnen Kategorien für die Lösungsvariante j gebildet werden, um eine erste Information über die Güte der einzelnen Lösungen zu erhalten, X Wj = w ji . (5.2) i

Gewichtet man zusätzlich die Noten der einzelnen Kategorien mit einem Gewich¯ j, tungsfaktor g i , so kommt man zu den gewichteten Bewertungen W ¯j = W

X i

w ji · g i .

(5.3)

Typischerweise wird dabei meist gefordert, dass die Bewertungsskala der gewich¯ j direkt mit den Einzelwertungen verglichen werden kann, teten Bewertungen W es gilt dann die Forderung

Tabelle 5.17 Punktbewertung am Beispiel von Verfahrensvarianten eines additiven Fertigungsprozesses nach der VDI-Richtlinie 2225

5.4 Der Konzeptprozess

177

Abb. 5.54 Stärke-Diagramm zur Darstellung der technischen und wirtschaftlichen Wertigkeiten von Lösungen (In Anlehnung an [217])

i X Alle Kriterien

gi = 1

bzw.

i X

g i = 100%.

(5.4)

Alle Kriterien

Die Methode der Punktbewertung hat sich in vielen Fällen in der Praxis bewährt, zu empfehlen ist allerdings das Überprüfen der Stabilität des Ergebnis durch eine leichte Variation der Gewichte g i unter Einhaltung der Bedingung (5.4) ¯ j nach (5.3) und die und Abgleich der Ergebnisse. Schwanken die Wertungen W ¯ Reihenfolge der gewichteten Wertungen W j bei einer kleinen Änderung der Gewichte g i stark, dann haben meist einzelne Gewichtungsfaktoren ein zu großes Gewicht. Anhand des Beispiels in Tabelle 5.17, in dem verschiedene Prinziplösungen für einen modifizierten Fertigungsprozess betrachtet werden, kann man im Gedankenexperiment das Gewicht der Zuverlässigkeit des Einlegevorgangs von g1 = 0,25 auf g1∗ = 0,3 anheben und dafür die Wertigkeit der Beeinträchtigung des Prozesses reduzieren, aus g2 = 0,25 wird g2∗ = 0,2. Die Reihenfolge wir davon nicht beeinflusst, dementsprechend hat die Änderung der Gewichte g i ; g i∗ noch keinen signifikanten Einfluss auf die Wertung. Insbesondere bei einer kombinierten technischen und wirtschaftlichen Bewertung hat sich die Darstellung analog dem in Abbildung 5.54 gezeigten StärkeDiagramm nach der VDI-Richtlinie 2225 bewährt, vgl. [217]. Die Basis zur Erstellung des Stärke-Diagramms sind das Vorliegen einer technischen Bewertung der Lösungsvarianten nach einheitlichen Kriterien, die als Summenwertung W j ¯ j verfügbar ist, und einer Kostenschätzung15 für oder als gewichtete Bewertung W 15

Die Kostenschätzung wird ab Abschnitt 8.4.3 besprochen.

178

5 Neue Produkte entwickeln

die Varianten. Die technische Wertigkeit Wti∗ der Lösungsvariante i errechnet sich dann aus der Produktbewertung (Summenwertung oder gewichtete Bewertung) der Varianten und dem theoretisch möglichen Bestwert als Wti∗ =

Produktbewertung der Lösungsvariante i . Theoretisch mögliche Bestwertung

(5.5)

Der Bestwert Wt∗ = 1 wird i.d.R. nicht erreicht und kann fast als Zeichen einer nicht objektiven Wertung interpretiert werden, denn jede technische Lösung hat Nachteile. Die Kriterien der zugrundeliegenden technischen Bewertung sind dann wahrscheinlich nicht umfassend genug gewählt, da offensichtlich die vermutbaren Nachteile der besten Lösung in der Wertung fehlen. Die theoretisch mögliche Bestwertung hängt dabei von der Bewertungsart ab, der Einfluss kann anhand des Beispiels aus Tabelle 5.17 gut erläutert werden. Für jede Lösungsvariante ist bei einer angenommenen Bestnote 4 bei vier Kriterien theoretisch eine Summenwertung W j,max = 16 möglich, bei der gewichteten Wertung aufgrund ¯ j,max = 4. der Bedingung (5.4) nur der Wert W Für die wirtschaftliche Wertigkeit Ww∗ j werden die Herstellkosten H j der Variante j mit einem Bezugswert H0 verglichen: Ww∗ j =

H0 Bezugswert = . Herstellkosten H j

(5.6)

Übersteigen die Herstellkosten der Variante j den Bezugswert deutlich, H j  H0 , so führt dies zu einer schlechten wirtschaftlichen Wertigkeit. Meist wird im Sinne einer konstanten wirtschaftlichen Anspannung – die Produktkosten sollen kontinuierlich sinken – der Bezugswert entweder anhand der minimalen geschätzten Herstellkosten Hmin aller zu vergleichenden Lösungsvarianten H j abgeschätzt ˆ abgeleitet. Es gilt also oder aus den Herstellkosten des aktuellen Produkts H ˆ H0 = ψ · H

oder

H0 = ψ · Hmin ,

(5.7)

wobei der Zielkostenfaktor ψ = 0,75 in (5.7) als realistischer Wert für eine maßvolle, erreichbare Anstregung in Übereinstimmung mit der VDI-Richtlinie erscheint, vgl. [217]. Wird die wirtschaftliche Anstrengung über den Zielkostenfaktor ψ zu hoch gewählt, d. h. ψ  1, so fallen alle wirtschaftlichen Wertigkeiten zu schlecht aus. Ist das Kostensenkungsziels wenig herausfordernd gewählt, so kön∗ nen einzelne wirtschaftliche Wertigkeiten den theoretischen Bestwert Ww,max =1 überschreiten, das Kostenziel sollte dann über einen kleineren Zielkostenfaktor angepasst werden. ∗ Die Eintragungen der Lösungspunkte L i = (Wti∗ ;Wwi ) im Stärke-Diagramm in Abbildung 5.54 zeigt dann die Position der verschiedenen Lösungsvarianten. Lösungsvarianten unterhalb der Diagonalen bieten bei vergleichsweise hohen Kosten eine gute technische Performance, der Zielbereich ist in Abbildung 5.54 dem üblichen englisch geprägten Sprachgebrauch folgend mit Hightech Produkte mar-

5.5 Der Entwurfsprozess

179

Abb. 5.55 Regeln und Vorbilder für Entwurf und Gestaltung – Konstruktionshinweise (Nach [95])

kiert. Bei niedrigen Kosten und geringerer technischer Wertigkeit spricht man von Low Cost Produkten. Der Abstand von der Diagonalen ist ein Maß für die Unausgewogenheit von Lösungsvarianten, ideal ist die Platzierung der Produkte nahe der Diagonalen anzustreben, damit technische und wirtschaftliche Wertigkeit der Lösungen zueinander passen.

5.5 Der Entwurfsprozess Der Entwurfsprozess wird sowohl durch Handlungsempfehlungen mit Blick auf den Entwurfsgegenstand unterstützt, die in Abschnitt 5.5.1 vorgestellt werden, als auch durch Vorgehensmodelle, vgl. Abschnitt 5.5.2.

5.5.1 Handlungsempfehlungen für den Entwurfsprozess Der Entwurfsprozess materieller Produkte als solcher folgt den Regeln und Vorbildern der Gestaltung in Form von Handlungsempfehlungen, vgl. auch [138]. Diese Handlungsempfehlungen haben sich in vielen Gestaltungsaufgaben bewährt und sind i.d.R. für einen größeren Benutzerkreis von Interesse, denn sie unterstützen bei der Reduktion von Aufwand und Risiko der Gestaltung, vgl. [32]. Die Regeln zum Gestalten können eingeteilt werden in • Grundregeln des Gestaltens, • Gestaltungsprinzipien,

180

5 Neue Produkte entwickeln

• Konstruktionsrichtlinien, z. B. Regeln zum fertigungsgerechten Gestalten, vgl. [138]. Die Grundregeln der Gestaltung sind sehr allgemein gehalten, weisen eine hohe Übertragbarkeit auf, sind aber wenig konkret, vgl. Abbildung 5.55. Die Beachtung der Grundregeln der Gestaltung erhöht die Chance einer günstigen bzw. optimalen Realisierung16 des Entwurfs: • Eindeutig: Eine eindeutige Gestalt führt im Allgemeinen zu einem robusten Produkt, dessen Wirkungen und Verhalten sich zuverlässiger voraussagen lassen. Bei der Produktentwicklung können aufwändige Fehlersuchen durch eindeutige Wirkstrukturen teilweise vermieden werden. • Einfach: Eine einfache Gestalt führt meist auch auf eine wirtschaftliche Lösung. Eine geringe Teileanzahl und einfache Geometrien der Teile haben im Allgemeinen geringe Herstellkosten zur Folge wegen der einfachen Fertigung und Montage. • Sicher: Eine sichere Gestalt gewährleistet Sicherheit für Mensch und Umwelt. Die Regel fördert und fordert das konsequente Beachten der Bauteil- und Funktionszuverlässigkeit sowie der Betriebs-, Arbeits- und Umweltsicherheit, vgl. auch Kapitel 7 im Allgemeinen und Abschnitt 7.1.1 im Speziellen. Dabei ist das Verständnis wichtig, dass die drei Grundregeln nicht nur für den Gestaltungsprozess innerhalb der Produktentwicklung gelten. Vielmehr sind, vgl. Abbildung 3.13, die Grundregeln auf alle Phasen des Produktlebenslaufs anwendbar, vgl. auch [137]. Etwas spezifischer, dafür weniger allgemein anwendbar sind nach [95] die Gestaltungsprinzipien und Bauweisen. Allerdings finden sich in der Literatur mehr dieser Hinweise für häufig wiederkehrende Fragen mit starkem Fokus auf Kraftleitung und Verformung, aber auch im Bereich der Sicherheitstechnik, vgl. [164], oder der hygienegerechten Konstruktion, [24, 25]. Von diesen übergeordneten und übertragbaren Prinzipien sollen hier nur einige stellvertretend in Erinnerung gerufen werden: • Gestaltungsprinzipien der Kraftleitung: – – – – –

Prinzip der gleichen Gestaltfestigkeit, Prinzip der gezielten Kraftleitung, Prinzip der abgestimmten Verformung, Prinzip des Kraftausgleichs, Prinzip der Selbstverstärkung.

• Konstruktionsprinzipien: – Funktionstrennung oder Funktionsintegration, – Aufgabenteilung bei gleicher Funktion, – Stabilität oder Bistabilität, 16

Allerdings ist insbesondere die Eindeutigkeit oft nur schwer tatsächlich konstruktiv umsetzbar, vgl. [137].

5.5 Der Entwurfsprozess

181

Abb. 5.56 Detailinformationen für den Entwurfsprozess – Einfluss der Stückzahl auf Herstellverfahren und Bauteilgestaltung (Nach [138])

– Sicherheitstechnik – sicheres Bestehen oder begrenztes Versagen, vgl. Abschnitt 7.2.1. • Bauweisen: – Integral- oder Differentialbauweise, – Modulbauweise. Die Gestaltungsprinzipien sind nur unter bestimmten Voraussetzungen und für spezielle Produktanwendungen zweckmäßig, daher können nicht alle Prinzipien gleichzeitig angestrebt werden und fallweise widersprechen sich die Prinzipien. Das bedeutet, dass sich der Konstrukteur bei Nutzung der Prinzipien zwischen konkurrierenden Gestaltungszielen entscheiden muss. Als Beispiel für einen solchen Widerspruch ist das Prinzip der gleichen Gestaltfestigkeit zu nennen, dass häufig nicht eingehalten werden kann, da die Forderung nach Verwendung von Gleichteilen oder nach einer einfachen Montage häufig gegen eine beanspruchungsgerechte Dimensionierung von Maschinenelementen spricht, Schrauben und Wälzlager sind hier typischerweise betroffene Klassen von Konstruktionselementen. Die ebenfalls in Abbildung 5.55 als Hinweise für sehr spezifische Fragestellungen der Gestaltung gezeigten Richtlinien beziehen sich in den meisten Fällen auf die Fertigung, es wird auf [138, 157] verwiesen. Die Diskussion der Design-for-X Richtlinien würde hier den Rahmen der zusammenfassenden Beschreibung des Gestaltungsprozesses sprengen. Stellvertretend wird in Abbildung 5.56 auf den Zusammenhang von Bauteilgewicht, Stückzahl und Gießverfahren hingewiesen,

182

5 Neue Produkte entwickeln

um insbesondere vor dem Hintergrund der Kosten für Dauerwerkzeuge auf die Tragweite der Wahl des Fertigungsverfahrens hinzuweisen. Der Entwurfsprozess erfolgt somit nach den üblichen Grundregeln und Prinzipien der Gestaltung unter weitgehender Einhaltung der Hinweise für Fertigungsund Montagegerechtheit, vgl. [138, 185]. Eine begleitende Dimensionierungsrechnung zur Absicherung der kosten- und bauraumbestimmenden Dimensionen der Bauteile wird bei materiellen Produkten dringend empfohlen. Die Vorgehensweise richtet sich dabei nach den Grundlagen der Maschinenelemente, vgl. z. B. [53, 115, 166, 191, 192, 196, 197]. In [95] wird darüber hinaus ein Vorgehensmodell für die Synthese robuster technischer Lösungen beschrieben. Das Ziel ist die Erarbeitung eines Systems, dessen funktionsbestimmende Eigenschaften möglichst unabhängig von Störgrößeneinflüssen – Toleranzen, Umgebungsbedingungen, schwankende Betriebsbedingungen usw. – ist. Die Identifikation von Störgrößen, die sich negativ auf das Verhalten von Systemen unter Unsicherheitseinfluss auswirken können und die Elimination negativer Auswirkungen der Störgrößen auf die Funktion der Systeme ist Gegenstand des sogenannten Robust Design, vgl. z. B. [95, 153, 232]. Der Entwurfsprozess gliedert sich im Gesamtentwicklungsprozess zwischen dem Konzeptprozess und dem Ausarbeitungsprozess ein, vgl. Abbildung 5.2. Ausgehend von der prinzipiellen Gesamtlösung am Ende des Konzeptprozesses werden im Entwurfsprozess die Merkmale des zukünftigen Produkts in Bezug auf die Gestalt und den Werkstoff unter Berücksichtigung der geplanten Stückzahl festgelegt, die Eigenschaften sind eine Folge der Gestaltung. Dazu wird das Produkt in seine Baugruppen und Einzelteile zerlegt und diese im Hinblick auf Fertigung, Montage, Qualitätssicherung, Wartung, Reparatur, Service, Recycling und weitere Prozesse im Produktlebenszyklus gestaltet, vgl. Abbildung 5.57. Nach der VDIRichtlinie 2223, vgl. [221], ist das Gestalten die Tätigkeit, bei welcher der Konstrukteur Gestalt- und Werkstoffeigenschaften von Gestaltungselementen festlegt, während das Entwerfen neben dem Gestalten auch das Planen, Steuern und Überwachen des Gestaltungsprozesses einschließt.

5.5.2 Vorgehensmodelle für die Gestaltung Während im Konzeptprozess die optimale Funktionserfüllung des Produkts im Vordergrund steht, fokussiert der Entwurfsprozess die optimale Realisierung der entwickelten prinzipiellen Gesamtlösung, die sich aus der Bewertung als die Beste herausgestellt hat, vgl. Abschnitt 5.4.8. Eine gute prinzipielle Gesamtlösung kann nur durch eine umsichtige Gestaltung unter Berücksichtigung der Funktion, der Montage und der weiteren Lebenslaufphasen zu einem optimalen Produkt werden. Das Arbeiten im Entwurfsprozess wird sehr stark beeinflusst durch die

5.5 Der Entwurfsprozess

183

Abb. 5.57 Entwerfen: Von der prinzipiellen Gesamtlösung zum maßstäblichen Entwurf

Stückzahl17 – Einzel-, Kleinserien-, Großserien- oder Massenprodukt –, das Unternehmensumfeld – Branche, Märkte, Wettbewerber – und unternehmensspezifische Gegebenheiten – Fertigungsmöglichkeiten, Kernkompetenzen. Die Arbeitsweise der Konstrukteure unterscheidet sich aufgrund deren Erfahrungswissen, der Konstruktionserfahrung und der eingesetzten Werkzeuge erheblich auch wenn das Arbeitsergebnis sehr ähnlich sein kann. Die Produkteigenschaften, welche der Konstrukteur über die Produktmerkmale beim Entwerfen festlegt, sind stark vernetzt, d. h. voneinander abhängig. Zusätzlich weisen die Anforderungen wie in Abbildung 3.23 gezeigt eine ausgeprägte Situations- und Kontextabhängigkeit auf, wodurch die Komplexität des Entwurfsprozesses weiter gesteigert wird. Die Arbeitsweise des Gestaltens ist durchweg iterativ und von korrektivem Charakter, deswegen ist es praktisch fast unmöglich, für den Gestaltungsprozess ein einfaches und allgemein anwendbares Vorgehen anzugeben, das in mehr oder weniger klar aufeinander folgende Arbeitsschritte gegliedert ist, so wie es für viele andere Teilprozesse der Entwicklung möglich ist. Um die Konstrukteure und Produktentwickler trotzdem wirkungsvoll zu unterstützen wurden einerseits Heuristiken und andererseits Strategien, Regeln, Vorschriften und Richtlinien erarbeitet. Zielführend ist i.d.R. eine Strukturierung des Gestaltungsprozesses nach den folgenden Kriterien:

17

Man kann grob je einen Faktor 100 für den Übergang zwischen den einzelnen Klassen annehmen, was sich an folgenden Beispielen verdeutlichen lässt: Großkraftwerk, Werkzeugmaschine, Wälzlager für Automobilanwendungen, neues Smartphone.

184

5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.58 Strategisches Vorgehen beim Gestalten (Aufbauend auf [32])

• Strategisches Vorgehen: Das strategische Vorgehen zielt darauf ab, den gesamten Gestaltungsprozess möglichst effektiv zu durchlaufen, d. h. ohne unnötige zeitraubende Rücksprünge und Doppelarbeiten, • Taktisches Vorgehen: Um eine hohe Effizienz zu erreichen ist es zusätzlich wichtig, die einzelnen Tätigkeiten im Detail in einer den Aufwand optimierenden Reihenfolge auszuführen. Das bedeutet, dass zusätzlich zur strategischen Ausrichtung ein geschicktes taktisches Vorgehen im Detail erforderlich ist. Erfolgreiche Gestaltungsprozesse zeichnen sich üblicherweise durch eine zielführende Mischung aus strategischem und taktischem Vorgehen aus. Das strategische Vorgehen beim Gestalten umfasst das Vorgehen vom Abstrakten zum Konkreten und vom Bestimmenden zum Abhängigen und kann in einem einheitlichen Modell beschrieben werden, das in Abbildung 5.58 skizziert ist. Durch den stetigen Übergang vom Abstrakten zum Konkreten wird mit fortschreitender Entwicklung die Produktidee immer weiter zum produzierbaren und hoch funktionalen Produkt konkretisiert. Eine zweckmäßige und in vielen Gestaltungsprozessen bewährte Reihenfolge von Tätigkeiten wird als taktisches Vorgehen beim Gestalten bezeichnet und beschreibt das situations- und kontextabhängige Vorgehen beim Gestalten im Detail, vgl. Abbildung 5.59. Die Tätigkeiten werden dabei für jeden Gestaltungsbereich in Iterationsschleifen durchlaufen. Zielsetzung jeder Iterationsschleife ist es, den Gestaltungsbereich in einem Detail oder Teilaspekt, der als eine potentielle oder tatsächliche Schwachstelle erkannt wurde, zu konkretisieren und dabei zu verbessern. Das taktische Vorgehen ist zunächst zeitaufwändig, führt aber durch die Fokussierung auf jeweils einzelne Fragestellungen zu guten De-

5.5 Der Entwurfsprozess

185

Abb. 5.59 Taktisches Vorgehen beim Gestalten (Nach [32])

taillösungen. Wenn die Schnittstellen zwischen benachbarten Gestaltungszonen genau definiert sind und als vereinbart akzeptiert und eingehalten werden, lässt sich die Vorgehensweise der taktischen Gestaltung parallelisieren. Mehrere Gestaltungszonen werden parallel und mit regelmäßiger Abstimmung im Rahmen des Simultaneous Engineering bearbeitet, vgl. Abschnitt 4.3.2. Betrachtet man die Entwicklungsschritte beim Gestalten einer räumlich beweglichen und seitlich definiert verstellbaren Aufhängung, vgl. Abbildung 5.60, so ist erkennbar, dass bei der taktischen Gestaltung in mehreren Schleifen iterativ vorgegangen wurde. Der unbefriedigende Ausgangszustand wird zuerst geprüft und dabei mit den Anforderungen verglichen. Schwachstellen werden identifiziert und entsprechende Bewertungsmaßstäbe zur späteren Überprüfung der Wirksamkeit der Änderungen festgelegt. Zunächst wird eine unhandliche Bedienung erkannt, für die der Konstrukteur offensichtlich die Verstellvorrichtung verantwortlich macht, da Schrauben mit verschiedenen Werkzeugen befestigt bzw. eingestellt werden müssen. Um diese Schwachstelle zu beseitigen, ändert er den Kraftfluss mit nur einer Verstellmutter und einem Rückholkäfig. Allerdings finden sich weitere Schwachstellen, die in zwei weiteren Iterationen beseitigt werden, bis endlich eine befriedigende Lösung gefunden wird. In jeder Schleife wird der jeweils erreichte Zustand beurteilt, die für die Schwachstellen verantwortlichen Gestaltungselemente ermittelt und ihre Gestalt durch Erzeugen neuer oder durch Variieren vorhandener Gestaltungselemente verändert, vgl. auch Abschnitt 5.2.3. Der Nachweis der Verbesserung der jeweils in den Teilschritten genutzten Metrik zur Bewertung der Verbesserung ist i.d.R. durch simples Abzählen möglich. Das taktische Vorgehen beim Entwerfen ist also dadurch gekennzeichnet, dass im Rahmen einer iterativ wiederkehrenden Analyse und Synthese neben dem eigentlichen Gestalten eine Reihe verschiedener Tätigkeiten ausgeübt werden,

186

5 Neue Produkte entwickeln

Abb. 5.60 Beispiel für ein taktisches Vorgehen beim Gestalten einer räumlich beweglichen und seitlich definiert verstellbaren Aufhängung (In Anlehnung an [32] und [221])

die größtenteils wie in Abbildung 5.59 anhand des Ablaufdiagramms erkenntlich immer wiederkehren. Hat der Konstrukteur bei der Analyse eines Entwurfs eine Schwachstelle identifiziert, die eine Überarbeitung erfordert, so stellt sich für ihn die Aufgabe, die Gestaltung des Entwurfs zu ändern. Das bedeutet, er muss die Gestalt- und bzw. oder die Werkstoffmerkmale der Gestaltungselemente ändern bzw. neu festlegen, um damit die Produkteigenschaften hinsichtlich der Abweichungen von der Anforderungsliste zu optimieren. Bei vielen bekannten Gestaltungsproblemen erarbeiten Konstrukteure in dieser Situation erfahrungsbasiert meist brauchbare Lösungen. Bei neuartigen, schwierigen Problemen oder bei Mangel an Erfahrung mit dem vorliegenden Gestaltungsproblem ist das systematische Variieren zum Finden neuer Lösungen beim korrigierenden Gestalten außerordentlich hilfreich, vgl. Abschnitt 5.2.3 und Abbildung 5.61. Zwei Beispiele für Variationsarten zeigt Abbildung 5.61, die oben gezeigte geometrische Variation ist nach Abbildung 5.13 als Gestaltvariation einzustufen, die schlecht herstellbare Nabe wird zerlegt in eine gut fertigbare Nabe mit Nut und eine genormte Passfeder. Die kinematische Umkehr findet auf einem höheren Abstraktionslevel der Produktpyramide in Abbildung 5.13 statt, die Wirkbewegungen bleiben gleich aber die Anordnung der Wirkkörper ändert sich, es werden unterschiedliche prinzipielle Lösungen betrachtet.

5.5 Der Entwurfsprozess

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Abb. 5.61 Systematische Variation der Gestaltung: Häufig verwendete Variationen

Abb. 5.62 Konkretisierung der Gestalteigenschaften durch Gestaltung und Ausarbeitung am Beispiel des Antriebssystems einer Stanze

Zusammenfassend wird der Anstieg des Informationsgehalts einer technischen Lösung im Laufe der Konkretisierung der Gestaltmerkmale, ausgehend von einer prinzipiellen Lösung durch Gestaltung und Ausarbeitung bis zur ausgearbeiteten Lösung, am Beispiel in Abbildung 5.62 verdeutlicht. Für die drei Entwicklungsstufen werden unterschiedlich konkrete Produktmodelle verwendet,

188

5 Neue Produkte entwickeln

während die Anzahl der Wirkelemente mit jeder Konkretisierungsstufe ungefähr um eine Größenordnung zunimmt – von acht auf 50 auf 280 Einzelteile bzw. Wirkelemente – nimmt die Anzahl der zu berücksichtigenden Merkmale und Eigenschaften um fast zwei Größenordnungen pro Schritt zu. Es ist also wichtig, die Produktmodelle in jeder Phase immer nur so genau wie nötig zu konkretisieren, um alle Entscheidungen auf der Basis solider Informationen treffen zu können, der Ansatz so genau wie möglich scheitert aufgrund der resultierenden Informationsflut kläglich.

Kapitel 6 Produktqualität sicherstellen

Die zunehmende Komplexität von Produkten auf der einen Seite sowie die veränderten Kundenanforderungen auf der anderen sind die Hauptgründe für die stetig steigende Bedeutung der Produktqualität. Kunden legen i.d.R. großen Wert auf die Qualität von Produkten, da diese die Sicherstellung ihrer Bedürfnisse fördert und sie die Qualität des Produktes während der Nutzung wahrnehmen, vgl. [17]. Bei vielen technischen Produkten, die neu auf den Markt gebracht werden, kommt es immer wieder zu Problemen, die auf Fehler in der Entwicklung oder in der Herstellung zurückzuführen sind. Diese treten erfahrungsgemäß besonders häufig bei Produkten auf, die weitgehend neu entwickelt oder zumindest umfangreich überarbeitet wurden bzw. bei denen erstmals neue Technologien eingesetzt werden und für die es im Sinne der Produktgenerationsentwicklung kein direktes Vorgängerprodukt gibt. Wichtige Begriffe, die in diesem Kapitel erklärt werden und deren Verständnis für die Produktentwicklung von Bedeutung ist, sind in Abbildung 6.1 dargestellt und führen zu folgenden Lernzielen:

Lernziele des 6. Kapitels: • Sie kennen die Bedeutung des Qualitätsbegriffs und wissen, welche Rolle Qualität in der Produktentwicklung als Zielgröße spielt. • Sie kennen das Organisations- und Managementkonzept des Total Quality Management als übergreifende Leitlinie zur Optimierung und Absicherung der Qualität von Produkten und Prozessen. • Sie kennen die Bedeutung der frühzeitigen Fehlererkennung und -behebung im Entwicklungsprozess und können diese Bedeutung an Beispielen erklären. • Sie wissen, wie man Fehlerursachen und Fehlerfolgen systematisch ermittelt und können dies eigenständig an einfachen Beispielen durchführen. • Sie können eine Risikobetrachtung mit der Methode FMEA an einfachen Beispielen durchführen und das Risiko durch gezielte Maßnahmen senken. • Sie kennen die Grundlagen des Konzepts der kontinuierlichen Verbesserung. • Sie können die Quellen der wichtigsten Qualitätsnormen benennen. 2 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Kirchner, Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61762-5_6

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190

6 Produktqualität sicherstellen

Abb. 6.1 Zentrale Begriffe des Kapitels

Im Folgenden wird zuerst auf das ganzheitliche Qualitätsmanagement eingegangen, welches auf einer strategischen Ebene angesiedelt ist und das meist dem Englischen folgend als Total Quality Management bezeichnet wird. Im Anschluss wird auf die Qualitätssicherung eingegangen. Insbesondere die Bewertung der Produktqualität sowie die Methoden der Fehlererkennung sind hier von Interesse. Anschließend beschäftigt sich das Kapitel mit der Qualitätskontrolle, wobei insbesondere auf die Erstellung bzw. den Inhalt des Prüfplans eingegangen wird sowie auf den Themenkomplex der kontinuierlichen Verbesserung. Zuletzt werden einige Ausführungen zu branchenspezifischen Normen gegeben.

6.1 Einleitung Eine unzureichende Produktqualität kann dazu führen, dass das Produkt den Kundenanforderungen hinsichtlich der Funktionalität und Haltbarkeit nicht gerecht wird. Diese Nichterreichung von Kundenanforderungen verursacht – insbesondere bei Massenprodukten – hohe Kosten, z. B. durch Rückrufaktionen, Vertragsstrafen oder Nachbesserung bereits verkaufter Produkte, vgl. [150].

6.1.1 Motivation Fehler, die nicht frühzeitig entdeckt werden, sondern erst in der Nutzungsphase auftreten, können in ungünstigen Fällen zu einer Gefährdung des Nutzers oder seiner Umgebung führen. Ebenfalls führt die Nichterreichung von Kundenanforderungen dazu, dass Kunden ihre schlechten Erfahrungen beim nächsten Kauf berücksichtigen und weitergeben, sodass es zu einem Einbruch der Verkaufszahlen kommen kann. Eine unzureichende Produktqualität verursacht folglich hohe Kosten sowie einen Reputationsschaden, daher ist die Produkt- bzw. Prozessqualität entscheidend für den Erfolg eines Unternehmens, vgl. [17].

6.1 Einleitung

191

Abb. 6.2 Rückrufaktionen in der Automobilindustrie in Deutschland (Nach [142])

Innerhalb der letzten Jahre erhöhte sich die Anzahl der Rückrufaktionen in der Automobilindustrie drastisch, dies ist auf die gestiegene Komplexität von PKWs durch aktive und passive Sicherheitsmaßnahmen sowie durch den massiven Einsatz elektronischer Komponenten zurückzuführen. Abbildung 6.2 zeigt die Anzahl der Rückrufaktionen in der deutschen Automobilindustrie im Zeitraum von 2010 bis 2015, vgl. [142]. Durch Rückrufaktionen werden sowohl das Image von Unternehmen als auch die Wertschätzung von Marken massiv geschädigt. Der ebenfalls in Abbildung 6.2 erkennbare Trend zu mehr überwachten Rückrufaktionen zeigt die Relevanz der Produktqualität auch für zulassungsrelevante Fragestellungen. Rückrufaktionen sind aus Kundensicht ein besonders offensichtliches Beispiel für mangelnde Qualität von Produkten und führen in vielen Fällen zu Kaufenthaltung bzw. -verlagerung. Die hohen Kosten eines nicht entdeckten Fehlers werden durch das Beispiel der Kaffeemaschine in Abbildung 6.3.a verdeutlicht: Der Hersteller Philips fand heraus, dass Nutzer, die ihre Kaffeemaschine bestimmter Baureihen nicht regelmäßig entkalken, mit der Gefahr rechnen müssen, dass der Boiler der Maschine durch zu hohen Innendruck berstet. Die Wahrscheinlichkeit des Platzens liegt bei weniger als drei Geräten von einer Million, 3 ppm1 , die fehlerhafte Konstruktion wurde in ca. sieben Millionen Kaffeemaschinen verbaut. Einige Monate nach Beginn der Rückrufaktion wurden bereits über eine Million Kaffeemaschinen repariert. Die Rückrufaktion kostete Philips damals über 47 Millionen Euro2 . Auch in der Automobilindustrie werden im Zusammenhang mit Rückrufaktionen immer wieder Millionenbeträge angeführt. Daher kommt heute speziell bei kom1

1 ppm entspricht einer Beanstandung pro eine Million Produkte, parts per million. Vgl. https://www.philips.de/content/B2C/de_DE/support-home/recall/senseo-recall.html sowie https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/rueckrufaktion-explosiver-senseo-kaffee/3155296.html?ticket=ST-183710-hf1lFMqkOYxkic2PcA1n-ap3 2

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6 Produktqualität sicherstellen

Abb. 6.3 a) Die Philips Kaffeemaschine musste infolge eines nicht entdeckten Fehlers zurückgerufen wurden. b) Fehlerhafte Zündschlösser von GM führten zu einer der größten Rückrufaktionen in der Automobilgeschichte. c) Prinzipskizze des Zündschloss

Abb. 6.4 Fehlerentstehung und Fehlerbehebung im direkten Vergleich (Nach [177])

plexen Massenprodukten der sorgfältigen Vermeidung von Fehlern eine hohe Bedeutung zu. Da im Produktentwicklungsprozess die wesentlichen Merkmale und Eigenschaften eines Produkts festgelegt und die Produktqualität maßgeblich beeinflusst wird, sind vor allem dort die Maßnahmen zur prospektiven Fehlerentdeckung und präventiven Fehlerbehebung zu ergreifen, vgl. Abbildung 6.4. Die Prävention von Fehlern bzw. das präventive Qualitätsmanagement ist insbesondere von Bedeutung, da die Kosten der Fehlererkennung und -beseitigung umso höher sind, je später die Fehler bzw. die mangelnde Produktqualität im Produktlebenszyklus entdeckt werden, vgl. [17] sowie Abbildung 4.4. Mit zunehmender Produktkomplexität – wie im Beispiel des PKWs – und steigendem Risiko bei der Nutzung wurden spezielle Methoden zur Fehlererkennung und -beseitigung entwickelt. Obwohl die Anwendung dieser Methoden mit hohem Aufwand verbunden ist und nicht unmittelbar zum Entwicklungsfortschritt beiträgt, werden sie heute in vielen Unternehmen flächendeckend eingesetzt. In vielen Bereichen und Branchen besteht sogar eine gesetzliche Verpflichtung zur Durchführung beispielsweise von Gefahr- und Risikoanalysen. Eine Nicht-

6.1 Einleitung

193

beachtung kann direkt zu strafrechtlichen und/oder finanziellen Konsequenzen führen, vgl. [150]. Eines dieser neuen Werkzeuge ist die UMEA – im Englischen Uncertainty Mode Effect Analysis – mit der sich Störgrößen erkennen lassen, welche Auswirkungen auf technische Systeme haben können, vgl. [69, 232]. Am Beispiel lasttragender Strukturen wurden Modelle und Methoden zum strukturierten Erkennen relevanter Störgrößen – z. B. Toleranzen, Umwelt- und Bedienereinflüsse – erarbeitet und inzwischen in den Bereich der Mechatronik übertragen, vgl. [233]. Motiviert wurde die Erarbeitung der Methode unter anderem anhand des in Abbildung 6.3.b/c gezeigten GM Zündschloss, [69, 232], dessen Fehlverhalten unter Störgrößeneinfluss die Ursache für eine der größten Rückrufaktionen in der Automobilindustrie war. Bei grenzwertiger Toleranzlage verbauter Federn und einem schweren Schlüsselbund konnte in Schlaglöchern infolge der Trägheit ein dynamisches Rückstellmoment entstehen, das schließlich zum Verriegeln der Lenkung führen konnte. Solche Mehrfachfehler werden mit den üblichen Werkzeugen wie beispielsweise der in Abschnitt 6.2.3 beschriebenen Fehlerbaumanalyse nicht entdeckt, weil diese Methoden aufgrund ihrer Komplexität nur auf Subsystemebene durchgeführt werden. Für die Details zur UMEA muss aber auf die angegebene Literatur verwiesen werden. Die Implementierung von Qualitätsmanagementsystemen im Produktentwicklungsprozess unterstützt eine effiziente Entwicklung. Ein Qualitätsmanagementsystem kann die Prozesse in der Produktentwicklung strukturieren und so die Komplexität der Entwicklung beherrschbar machen. Viele Entwickler betrachten die Normen jedoch als innovationsfeindlich und fürchten die Einschränkung ihrer Kreativität. Das kreative Arbeiten als notwendige Voraussetzung von Innovation wird durch ein richtig gelebtes Qualitätsmanagement nicht eingeengt, im Gegenteil: Kreativität kann durch ein Qualitätsmanagement-System gefördert werden, indem durch eine strukturierte Vorgehensweise viele Lösungen identifiziert und deren Schwachstellen aufgedeckt werden.

6.1.2 Grundlagen des Qualitätsmanagements Eine grundlegende Problematik bei technischen Produkten ist, dass die Festlegung und die Realisierung der wesentlichen Erfolgsdimensionen von Produkten – Kosten, Qualität und Zeit, vgl. Abbildung 4.13 – zeitlich versetzt stattfinden. Während die Festlegung der Erfolgsdimensionen in frühen Phasen des Produktlebenszyklus erfolgt, nimmt umgekehrt die Beeinflussbarkeit mit der Zeit ab. Beispielsweise werden in der frühen Phase des Produktlebenszyklus, insbesondere in der Produkt- und Prozessentwicklung, der Großteil der Qualitätseigenschaften festgelegt, während sie erst mit zunehmender Produktlebensdauer, d. h. in Beschaffung, Produktion, Vertrieb und Nutzung realisiert werden, vgl. Abbildung 5.4. Ähnliche Zusammenhänge gelten auch für Produkt- und Prozessfehler,

194

6 Produktqualität sicherstellen

was empirisch belegt ist und sich z. B. anhand von Abbildung 4.3 verdeutlichen lässt. Der Großteil der Fehler kann auf die Festlegungen im Rahmen der Entwicklung zurückgeführt werden, jedoch werden Fehler in verstärktem Maße erst in späteren Produktlebensphasen entdeckt und demzufolge erst dann mit hohem Aufwand behoben. Nicht entdeckte Fehler haben insgesamt ein hohes wirtschaftliches Schadenspotential, weil sich zu den bereits angefallenen Kosten in Entwicklung und Produktion noch die Aufwände zur Durchführung von Produkt- bzw. Prozessänderungen aufaddieren. Oftmals müssen viele Schritte der Entwicklung noch einmal durchlaufen und Produktionsmittel abgeändert werden. Häufig sind Fertigungs- und Markteinführungstermine zu verschieben oder, im schlimmsten Fall, bereits ausgelieferte Produkte wieder zurückzurufen und entsprechend abzuändern, wie bei den Beispielen in Abbildung 6.3. Gerade diese Rückrufaktionen werden in der Öffentlichkeit deutlich wahrgenommen. Die Fehlerkosten steigen um etwa einen Faktor zehn pro Phase des Produktentstehungsprozesses, man spricht von der Zehnerregel, die in Abbildung 4.4 skizziert ist. Wegen der umfangreichen Einflussmöglichkeiten und der potentiell hohen Fehlerkosten, haben Maßnahmen zur Fehlerbeseitigung während der Entwicklungsphase eine hohe Bedeutung.

6.1.3 Total Quality Management Aufgrund der zuvor geschilderten Problematik ist es für Unternehmen und Organisationen wichtig, die Qualität der Produkte und Dienstleistungen sicherzustellen. Nach der Qualitätsnorm DIN ISO 8402 kann Qualität als die Gesamtheit von Eigenschaften und Merkmalen eines Produktes oder einer Dienstleistung, die sich auf deren Eignung zur Erfüllung gegebener Erfordernisse beziehen, verstanden werden. Daraus kann in Anlehnung an PFEIFER & SCHMIDT die folgende Definition der Produktqualität abgeleitet werden, vgl. [171]. Definition 15 Produktqualität Qualität verkörpert die Übereinstimmung der Eigenschaften eines Produktes mit den Anforderungen bzw. Erwartungen des Kunden, welche von diesem stets im Vergleich zu konkurrierenden Produkten und Dienstleistungen bewertet werden. 3

Damit ein Produkt die geforderten Qualitätsansprüche erfüllen kann, ist es wichtig, dass die für die Produktentwicklung erforderlichen Prozesse ebenfalls die Qualitätsanforderungen erfüllen. Die bereits erwähnten Qualitätstechniken lassen sich ebenfalls zur Überwachung, Bewertung und Verbesserung der Prozessqualität einsetzen. Hierzu eignen sich beispielsweise die statistische Prozesskontrolle, die Fehler-Möglichkeits-Einfluss-Analyse FMEA3 oder das Quality Functi3

Im Englischen als Failure Mode Effect Analysis bezeichnet und ebenfalls als FMEA abgekürzt.

6.1 Einleitung

195

on Deployment QFD4 sowie die statistische Prozessregelung SPC5 . Die statistische Prozessregelung SPC verfolgt das Ziel durch kontinuierliches Überwachen und effiziente Verbesserungen einen optimalen Prozess zu generieren, vgl. [17]. Zur Sicherstellung der Produktqualität bedarf es folglich eines Qualitätsmanagements, welches alle qualitätsbezogenen Tätigkeiten und Zielsetzungen eines Unternehmens bzw. einer Organisation umfasst, vgl. [99]. Als verbreitetes Organisations- bzw. Managementkonzept wird in diesem Zusammenhang das umfassende Qualitätsmanagement TQM6 genannt. Das TQM beschreibt die organisationsinterne Strategie zur Sicherung der Qualität von Produkten und Prozessen in allen Bereichen7 und auf allen Ebenen. Definition 16 Total Quality Management Das TQM („umfassendes Qualitätsmanagement“) ist eine auf das Mitwirken aller ihrer Mitglieder gestützte Managementmethode einer Organisation, die Qualität in den Mittelpunkt stellt und durch Zufriedenstellung der Kunden auf langfristigen Erfolg sowie auf Nutzen für die Mitglieder der Organisation und für die Gesellschaft zielt. 3

Das TQM nach Definition 16 ist kein Konzept, welches sich lediglich auf die Produktentwicklung bezieht, sondern auf die Gesamtheit der Organisation. Dadurch hat das TQM Auswirkungen auf den Produktentstehungsprozess, insbesondere auf den Entwicklungsprozess aber auch auf z. B. Abläufe in Behörden. So wird der Entwicklungsprozess vom TQM durch Maßnahmen der Qualitätssteuerung, wie beispielsweise durch die Implementierung von Meilensteinen zur Qualitätssicherung – Quality Gates – oder durch Methoden der Qualitätssicherung, z. B. QFD8 , FMEA und FTA, beeinflusst. Bei der Entwicklung komplexer Produkte wirken viele verschiedene Teams bzw. Teammitglieder mit. Zur Koordination und besseren Kontrollierbarkeit ist es notwendig, das Produktentwicklungsprojekt in zweckgemäße und handliche Teilsegmente aufzugliedern, vgl. Abschnitt 4.3.2. Nach Abarbeitung eines Teilsegments folgt stets ein Qualitäts-Meilenstein9 , vgl. [177], Abbildung 6.5 zeigt den entsprechenden, vereinfacht dargestellten Prozess. Die Einführung der QualitätsMeilensteine an den Stellen 1-3 ermöglicht ein frühzeitiges Erkennen und Beseitigen von gefundenen Fehlern. So werden Fehler nicht erst am Ende der 4

Der englische Begriff wird auch im deutschen Sprachgebrauch verwendet, eine einheitliche und sinnerhaltende Übersetzung gibt es nicht. 5 Abgeleitet aus dem Englischen Statistical Process Control. 6 Abgeleitet vom englischen Begriff Total Quality Management. 7 Der sonst meist übliche Fokus auf Unternehmen schließt beispielsweise die Forschung an Universitäten und die Abläufe in politischen und anderen gesellschaftlich relevanten Themengebieten aus, was nicht sinnvoll ist. Der Fokus liegt hier aber i.d.R. auf materiellen oder immateriellen Produkten des Maschinenbaus, die Argumentation ist aber meist analog auch auf andere Themengebiete übertragbar. 8 Die QFD-Methode wird im Rahmen dieser Einführung in die Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung nicht näher erläutert. 9 Nach dem englischen Sprachgebrauch häufig als Quality Gate bezeichnet.

196

6 Produktqualität sicherstellen

Abb. 6.5 Prozesse mit Projektcharakter – Meilensteine als Schlüssel zur Absicherung der Produktqualität (In Anlehnung an [177])

Entwicklung – Zeitpunkt 4 – beispielsweise beim Anlauf der Serienproduktion oder bei der Markteinführung entdeckt und verursachen somit nicht so hohe Nachbearbeitungs- bzw. Änderungskosten. So wird aufgrund von QualitätsMeilensteinen der Entwicklungsprozess bzw. die Qualität des Prozesses sowie des Produktes durch eine formalisierte Kontrolle nach kritischen Prozessschritten abgesichert. Durch die gemeinsame Vorbereitung der Meilensteine durch das Entwicklungsteam, vgl. Abschnitt 4.3.2, wird eine Verbesserung der funktionsund bereichsübergreifenden Teamarbeit erreicht, vgl. [44]. Der idealisierte, vereinfachte Prozess in Abbildung 6.5 skizziert dabei das Ziel der vollständigen Erkennung aller Fehler im Rahmen der Qualitäts-Meilensteine. Die Vorstellung eines umfassenden Qualitätssystems TQM kann wie in Abbildung 6.6 gezeigt in drei Bestandteile zerlegt werden, [78, 132, 171, 210]: • Total: Es handelt sich um eine allumfassende Strategie, die für alle Organisations- bzw. Unternehmensbereiche und alle Beteiligten bzw. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gilt, d. h. alle Personen müssen bereichs- und funktionsübergreifend agieren. • Qualität: Im TQM wird unter Qualität die Eignung einer Einheit bezüglich ihrer Eignung, festgelegte und vorausgesetzte Erfordernisse zu erfüllen, verstanden. Hier bezieht sich die Qualität auf das Erreichen aller gesetzten Ziele und schließt damit die Qualität von Prozessen, (personellen) Ressourcen, technischer Ausstattung und natürlich auch den Produkten mit ein.

6.1 Einleitung

197

Abb. 6.6 Grundpfeiler des Total Quality Management – die drei Inhalte (Nach [132])

• Management: Bezeichnet alle aktiven Führungs-, Planungs-, Steuerungs- und Überwachungsaktivitäten in der Organisation bzw. im Unternehmen. Die Führungsebene muss die Qualität als Ziel des Handelns in den Vordergrund stellen und selbst als Vorbild dienen. KAMISKE & BRAUER haben die wichtigsten Elemente eines TQM-Systems für Unternehmen identifiziert, welche auch in den acht Grundsätzen der überarbeiteten Norm DIN EN ISO 9000 zu finden sind, vgl. [78, 132], und in Abbildung 6.7 dargestellt sind. Die acht Grundsätze werden im Folgenden kurz erläutert: 1. Kundenorientierung: Qualität wird durch Kundenzufriedenheit aufgrund des Übertreffens von Kundenerwartungen erreicht, daher müssen die Kundenanforderungen stets mindestens erfüllt werden. 2. Lieferantenbeziehungen: Aufbau eines Netzwerkes von partnerschaftlichen Kunden-Lieferanten-Beziehungen zum gegenseitigen Nutzen und zur Förderung der Wertschöpfung, wobei jeder nachfolgende Prozess als Kunde zu betrachten ist. 3. Führung: Erreichen von Qualität durch Schaffung eines entsprechenden Arbeitsumfelds beispielsweise durch angemessene Arbeitsbedingungen und Unterstützung einer effizienten Gruppenarbeit. 4. Personal: Qualität muss als Aufgabe aller Mitarbeiter und nicht nur von speziellen Abteilungen gesehen werden. Daher sollte eine Integration und Partizipation der Mitarbeiter aller Hierarchieebenen, z. B. durch Einführung von Qualitätszirkeln erfolgen. Wichtig zu beachten ist bei der Sicherstellung der

198

6 Produktqualität sicherstellen

Abb. 6.7 Wesentliche Elemente eines TQM-Systems

5.

6. 7.

8.

Qualität durch die Suche von Fehlern, dass es nicht um die Verantwortung für den Fehler sondern um die Vermeidung negativer Folgen geht, vgl. [148]. Prozessorientierung: Lenkung aller Abläufe und Tätigkeiten sowie Einsatz statistischer Verfahren zur Prozessregelung, hierbei sollten eine Konzentration auf die Wertschöpfungskette sowie ein Abbau nicht kundenrelevanter Tätigkeiten stattfinden. Management: Qualität sollte als übergeordnetes Element in die Unternehmenspolitik und die Unternehmenskultur integriert werden. Ständige Verbesserung: Qualitätsförderung und Verbesserung der Qualität sollten als langfristiger Prozess bzw. permanentes Unternehmensziel verstanden werden, daraus folgt, dass sämtliche Prozesse ständig analysiert und verbessert werden. Entscheidungsfindung: Qualitätssicherung ist dadurch anzustreben, dass Entscheidungen aufgrund von Ergebnissen bzw. Erkenntnissen getroffen werden, die auf fundierten Informationen beruhen und/oder die durch Analysen gesammelt werden. Die Entscheidungen sind entsprechend nachvollziehbar zu dokumentieren.

Das TQM nutzt zusätzlich Modelle und Vorstellungen der Sicherheitstechnik, die im folgenden Kapitel 7 ausführlich dargestellt sind.

6.2 Methoden zur Fehlererkennung und -behebung Heutzutage werden unterschiedliche Methoden zur systematischen und ganzheitlichen Qualitätssicherung in Organisationen und Unternehmen verschiedenster Bereiche bzw. Branchen eingesetzt. Das Ziel dieser Verfahren ist die Fehlervermeidung sowie Fehlerbehebung insbesondere in den frühen Phasen des Pro-

6.2 Methoden zur Fehlererkennung und -behebung

199

Abb. 6.8 Anteil der Schadensursachen bei unterschiedlichen Produkten (Nach [32]))

duktlebenslaufs – der Produktion der Komponenten und der Montage –, d. h. bevor das Produkt in die Nutzungsphase eintritt, vgl. Abbildung 3.13. So vielfältig wie die Produkte selbst und ihr Lebenslauf sind, so vielfältig sind auch die Arten von Fehlermöglichkeiten. Um Fehler effizient und dauerhaft zu vermeiden und Schäden zu verhindern ist es unabdingbar, die Ursache für den Fehler zu kennen. Als Schadensursachen kommen beispielsweise Planungs- und Konstruktionsfehler, Ausführungsfehler, Werkstofffehler, Instandsetzungsfehler, Bedienungs- und Wartungsfehler sowie Fremdeinflüsse vor, vgl. Abbildung 6.8. Die primäre Schadensursache unterscheidet sich hierbei in Abhängigkeit des Produkttyps, so ist in Abbildung 6.8 ersichtlich, dass es bei Druckmaschinen am häufigsten aufgrund von Betriebsfehlern zu Schäden kommt und bei stationären Gasturbinen am häufigsten aufgrund von Planungs- und Konstruktionsfehlern. Auf der Suche nach der Ursache eines Fehlers findet man häufig weitere Einzelursachen für Ereignisse, sodass sich eine Ursachenkette bildet. Dies soll anhand eines Beispiels verdeutlicht werden: Ein PKW bleibt während der Fahrt liegen, die Ursache hierfür ist ein Blockieren des Getriebes, der Getriebeschaden hatte sich kurzfristig durch vorherige Geräuschbildung angekündigt. Nach Analyse des Fahrzeugs bzw. des Antriebstrangs konnte festgestellt werden, dass das Getriebe aufgrund eines Lagerschadens blockierte. Dieser Schaden des Wälzlagers konnte auf einen verstopften Ölkanal zurückgeführt werden, vgl. auch Abbildung 6.9. Hierbei handelt es sich beabsichtigt um ein einfaches Beispiel zur Veranschaulichung, die Kausalkette geht folglich vom verstopften Ölkanal über das Getriebeblockieren zum Schaden auf Fahrzeugebene. Das Ziel der Fehlervermeidung ist folglich das Beheben der Fehlerursache durch Vermeidungsmaßnahmen gegen ein Verstopfen der Ölkanäle. An den unterschiedlichen Schadensursachen in Abbildung 6.8 ist ebenfalls erkennbar, dass diese nicht lediglich in der Entwicklung bzw. Konstruktion begrün-

200

6 Produktqualität sicherstellen

Abb. 6.9 Beispielhafte Systemstrukturierung anhand des PKW-Beispiels aus Abbildung 5.10

det liegen, vielmehr treten die Ursachen in sämtlichen Produktlebenslaufphasen auf, daher müssen die Methoden zur Fehlererkennung und Fehlerbeseitigung bzw. -vermeidung in allen Phasen des Produktlebenszyklus und hinsichtlich jeder Lebenslaufphase angewendet werden. Der Schwerpunkt soll hier jedoch auf die Betrachtung von Planungs- und Konstruktionsfehlern gelegt werden.

6.2.1 Grundlagen Bei vielen technischen Produkten, kommt es immer wieder zu Problemen, die auf Entwicklungs- oder Herstellfehler zurückzuführen sind. Diese treten erfahrungsgemäß besonderes häufig bei Neuentwicklungen von Produkten bzw. bei Produkten auf, bei denen neue Technologien eingesetzt werden. In der Norm DIN EN ISO 9000 ist ein Fehler als Nichterfüllung einer festgelegten Anforderung definiert, vgl. [78]. Da Anforderungen i.d.R. mit einer Toleranz bzw. in einem Toleranzbereich liegend beschrieben werden, kann dem Begriff Fehler folgendes Verständnis bzw. folgende Definition nach der Norm zugrunde gelegt werden: Definition 17 Fehler Ein Fehler liegt vor, wenn der tatsächliche Ist-Zustand von einem gewollten und angestrebten Soll-Zustand abweicht und außerhalb einer definierten und akzeptierten Toleranz liegt. 3

6.2 Methoden zur Fehlererkennung und -behebung

201

Abb. 6.10 Einordnung von Methoden zur Fehlererkennung und -beseitigung

Fehler sind insbesondere dann problematisch, wenn die Abweichung vom SollZustand zu einer Gefährdung oder gar einem Schaden des Bedieners oder der Umwelt führt. Ein Schaden wird hier wie folgt definiert: Definition 18 Schaden Ein Schaden ist die Beeinträchtigung der Funktion eines technischen Produkts oder die Beeinträchtigung von Menschen bzw. der Umgebung. 3

Die Methoden zur Fehlererkennung und -behebung sind sehr vielseitig und können grundsätzlich entsprechend Abbildung 6.10 eingeteilt werden. Wenn davon ausgegangen wird, dass eine tatsächliche oder potentielle Fehlerursache selbst nicht bekannt ist, können je nach Lebensphase des Produkts die resultierenden Wirkungen und Folgen bereits bekannt oder noch unbekannt sein. Die Ermittlung von potentiellen Fehlerfolgen ist wichtig, um die Schwere bzw. die Bedeutung eines Fehlers abschätzen zu können. Teilweise können vermeintlich einfache Fehler zu Folgen oder Kettenreaktionen mit katastrophalen Wirkungen führen, die nicht offensichtlich sind. Umgekehrt kann es wirtschaftlich vertretbar oder bedingt durch die hohe Komplexität technisch günstig sein, Fehler nicht zu berücksichtigen, die relativ unwahrscheinlich auftreten und nur sehr geringe Wirkungen verursachen. Sind im einfachsten Fall sowohl Ursachen als auch Wirkungen und Folgen eines Fehlers bekannt, so bedarf es nur noch einer Festlegung von Maßnahmen zur Fehlerbehebung sowie der konsequenten und fehlerfreien Umsetzung dieser Maßnahmen. Im Fall, dass Ursachen bzw. potentielle Ursachen bekannt sind, jedoch die Auswirkungen nicht unmittelbar abgeschätzt werden können, können Wirkungs-Folgen-Analysen erarbeitet werden. Im Sinne eines Vorwärtsschreitens werden ausgehend von einer erkannten oder angenommenen Ursache schrittweise deren potentielle direkte und indirekte Wirkungen abgeschätzt. Dieses Vorgehen wird beispielsweise bei der Ereignisablaufanalyse angewendet, vgl. Abschnitt 6.2.2.

202

6 Produktqualität sicherstellen

Im Fall, dass Folgen und Wirkungen eines Fehlers bekannt sind bzw. sicher abgeschätzt werden können, während hingegen die Ursachen bzw. potentielle Ursachen unbekannt sind, werden Methoden der Ursachenanalyse angewendet, wie beispielsweise die Fehlerbaumanalyse, vgl. Abschnitt 6.2.3. Im Sinne eines Rückwärtsschreitens werden ausgehend von einer Fehlerfolge schrittweise die potentiellen direkten und indirekten Ursachen ermittelt. Ursachenanalysen werden häufig zur Behebung bereits aufgetretener Fehler angewendet, beispielsweise wenn ein Produkt bzw. dessen Prototyp bereits realisiert wurde und ein fehlerhaftes Verhalten aufweist. In schwierigen Fällen sind die Fehlerursachen nicht offensichtlich, daher müssen häufig, um die eigentliche Ursache zu finden, unterschiedliche Ursachen-Wirkungsketten über mehrere Schritte zurückverfolgt und analysiert werden. Bei der FMEA, vgl. Abschnitt 6.2.4, wird zunächst auf unterschiedlichen Ebenen nach möglichen Fehlfunktionen gesucht, anschließend werden die identifizierten Fehlfunktionen anhand verschiedener Kriterien bewertet. Im Rahmen der nachfolgenden Entwicklung werden die verschiedenen initialen Bewertungen der unterschiedlichen Fehlfunktionen durch Maßnahmen schrittweise verbessert, um das verbleibende Restrisiko in akzeptable Grenzen zu bringen. Die FMEA als eine der wichtigsten qualitätssichernden Methoden lässt sich allerdings aufgrund der Tatsache, dass die FMEA an sich eine sich über den gesamten Produktentwicklungsprozess erstreckende Methode ist, nicht eindeutig in das Schema in Abbildung 6.10 einordnen.

Tabelle 6.1 Auswahl der Elemente eines Ereignisablaufdiagramms Element

Erläuterung Ereignis: Stellen die Auslöser oder Folgen dar, d. h. Ausgangs-, Zwischenoder Endzustand, wie beispielsweise Komponentenausfall oder Fehlbedienung. Wirkungslinie: Stellen eine Wirkung dar, welche von einem Ereignis induziert wird. Die Wirkungslinie verbindet das Anfangsereignis mit Verzweigung oder Verzweigungen untereinander. Oder-Verknüpfung: Zur Vereinfachung des Ereignisablaufdiagramms können gleiche Wirkungen mit Hilfe einer ODER-Verknüpfung zusammengefasst werden, [85]. Es handelt sich um ein ausschließendes ODER, das bedeutet, dass der Ausgang vorhanden ist, wenn einer der Eingangszustände existiert, [152]. Und-Verknüpfung: Die UND-Verknüpfung wird verwendet, wenn mindestens zwei Wirkungen vorhanden sein müssen, um einen Vorgang oder ein Ereignis auszulösen. Liegt nur eine Eingangsgröße vor, so wird kein Ausgangssignal gesendet. Sinngemäß kann die UND-Verknüpfung auch mehr als zwei Eingangssignale verknüpfen. Einfache Verzweigung: Der Eingangszustand führt zur Funktionsanforderung an eine Betrachtungseinheit mit zwei möglichen disjunkten Zuständen, [152]. Die Verzweigung von dem Eingangszustand erfolgt durch Konjunktion mit dem Zustand 1 (Ja) oder dem Zustand 2 (Nein) der Betrachtungseinheit.

6.2 Methoden zur Fehlererkennung und -behebung

a)

203

b)

Abb. 6.11 Überdruckventil: a) Schnittdarstellung mit den wichtigsten Komponenten, b) Systemskizze zur Verdeutlichung des Wirkprinzips (Nach [170])

6.2.2 Ereignisablaufanalyse Eine wichtige Methode zur Wirkungs-Folgen-Analyse ist die Ereignisablaufanalyse10 , die in DIN 25419 genormt ist, vgl. [85]. Im Rahmen einer Ereignisablaufanalyse werden Ereignisse ermittelt, welche sich aus einem vorgegebenen Anfangsereignis entwickeln. Dadurch ermöglicht die Ereignisablaufanalyse eine vereinfachte und übersichtliche Darstellung sowie die Analyse von Ereignissen und Folgen sowie deren möglichen Verknüpfungen. Bei der Ereignisablaufanalyse handelt es sich um eine induktive Methode, eine sogenannte Vorwärts-Suche. Es werden von einem Anfangsereignis ausgehend über Folgeereignisse verschiedene Endzustände ermittelt wie in [85] beschrieben. Das Anfangsereignis stellt beispielsweise einen Komponentenausfall oder eine Fehlbedienung eines technischen Systems dar. Eine wichtige Voraussetzung für die Analyse mit Hilfe eines Ereignisablaufdiagramms ist nach DIN 25419 das Wissen über die Funktion bzw. Funktionsweise des technischen Systems sowie das Verhalten bei dem zu analysierenden Ereignis. Zuerst wird bei der Ereignisablaufanalyse ein Initialereignis festgelegt, welches durch ein Rechteck dargestellt wird. Das Anfangsereignis induziert eine Wirkung auf das technische System. Diese Wirkung wird nach der Norm [85] durch eine sogenannte Wirkungslinie graphisch dargestellt. In Tabelle 6.1 sind die wichtigsten Elemente eines Ereignisablaufdiagramms dargestellt und kurz erläutert. 10

Im englischen Sprachgebrauch als Event Tree Analysis (ETA) bezeichnet.

204

6 Produktqualität sicherstellen

Abb. 6.12 Beispiel einer Ereignisablaufanalyse zur Entwicklung eines Überdruckventils

Als Beispiel kann die Entwicklung eines Überdruckventils herangezogen werden, wie es in Abbildung 6.11 gezeigt ist. Als Initialereignis wird dabei das Problem betrachtet, dass der Druck pL in der Leitung nicht abgebaut werden kann, es gilt dann noch pL < pmax , vgl. Abbildung 6.12. Dieses Problem bzw. Ereignis hat zur Folge, dass sich der Druck im Behälter erhöht und die Auslegungsgrenzen der Bauteile überschritten werden, bei einem Druckanstieg soll aber die Drucküberwachung reagieren und den Druck begrenzen, pL = pmax . Ist dies nicht der Fall, muss der Bediener eingreifen und die Erzeugung des Drucks abschalten. Schaltet der Bediener die Druckerzeugung nicht ab, d. h. greift er nicht ein, hängt die Folge des Überdrucks davon ab, ob die Grenzwerte für die zulässige Bauteilbeanspruchung überschritten werden oder nicht. Wenn die Grenzwerte überschritten werden, kommt es zu einem Bersten des Behälters. Zu dem Ereignis Bersten des Behälters kann es auch kommen, wenn die Drucküberwachung zwar auf einen erhöhten Druck reagiert, der Druckabfall ˙pL jedoch nicht rasch genug geschieht, sodass bei weiterlaufender Förderpumpe die Grenzwerte trotz Reagieren des Druckbegrenzungsventils überschritten werden.

6.2 Methoden zur Fehlererkennung und -behebung

205

Die Tatsache, dass mehrere Ereignis-Folgen zu einem Ergebnis führen, wird in einem Ereignisablaufdiagramm mit einer ODER-Verknüpfung von Wirkungen dargestellt, vgl. Abbildung 6.12. Ist es für das Eintreten des betrachteten Fehlers hingegen notwendig, dass zwei Ereignisse eintreten – im Beispiel zu hohe Förderleistung der Pumpe und zu niedrige Druckabbaurate des Sicherheitsventils – so wird die in der Ereignisablaufanalyse mit zwei aufeinander folgenden Verzweigungen dargestellt, die für den notwendigen Doppelfehler für ein Fehlverhalten beide erfüllt werden müssen. Die Ereignisablaufanalyse ist durch ihre einfache Handhabung gut geeignet für die Analyse komplexer Systeme, [152]. Jedoch muss berücksichtigt werden, dass bei komplexen Systemen der Aufwand enorm ist und der resultierende Ereignisbaum sehr groß werden kann, wodurch die Auswertung computergestützt erfolgen muss. Ein weiterer Vorteil ist, dass die Fehler und Folgen mittelbar betrachtet werden, d. h. die Folgen des Fehlers werden indirekt über Zwischenfolgen betrachtet. So ist gewährleitet, dass sämtliche Zwischenereignisse und resultierende Folgen berücksichtigt werden.

6.2.3 Fehlerbaumanalyse Eine wichtige Methode zur Ursachenanalyse stellt die Fehlerbaumanalyse dar, die im englischen Sprachgebrauch als Fault Tree Analysis – FTA – bezeichnet wird. Teils wird diese Methode auch als Gefährdungsbaumanalyse bezeichnet, die in der DIN 25424 genormt ist, vgl. [84]. Die Fehlerbaumanalyse ist eine deduktive Methode im Sinne einer Rückwärts-Suche mit dem Zweck der Ermittlung der logischen Verknüpfungen von Komponenten- oder Subsystemausfällen, die zu einem unerwünschten Ergebnis führen, d. h. es werden von einem unerwünschten Ereignis – dem Systemausfall – ausgehend die Ausfallursachen untersucht. Hierbei wird das System immer weiter in seine Einzelelemente untergliedert, wie beispielsweise in Abbildung 6.9 gezeigt. Es wird folglich ausgehend vom Systemausfall die Ursache auf Subsystem-Ebene gesucht. Nachdem bekannt ist, welches Subsystem den Ausfall verursacht hat, wird die Ursache auf Baugruppen- oder Komponenten-Ebene zurückgeführt etc., vgl. [152]. Die Fehlerbaumanalyse wird zur systematischen Identifikation möglicher Ausfallkombinationen und deren Ursachen genutzt, welche zu einem bestimmten unerwünschten Ergebnis führen. Es können mit Hilfe der Fehlerbaumanalyse auch zeitliche Abhängigkeiten, wie beispielsweise Reparaturen oder Wartungsprozesse berücksichtigt werden, [84, 152]. Die Analyse eines technischen Systems mit Hilfe eines Fehlerbaums dient der Abschätzung von Auswirkungen induziert durch Fehler oder Störgrößen, vgl. [170]. Die Grundlage der Fehlerbaumanalyse ist nach [84] eine graphische Darstellung der logischen Zusammenhänge der auftretenden Fehler bzw. Teilausfälle sowie der Ursachen. Folglich kann man sich die Frage stellen “Was passiert, wenn Er-

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6 Produktqualität sicherstellen

eignis X eintritt?”, vgl. [60]. Die Ursachen für einen Fehler können dabei auf verschiedene Arten verknüpft sein, sodass Fehlerabhängigkeiten ebenfalls dargestellt werden können. Aus den Erkenntnissen einer Fehlerbaumanalyse ergibt sich nach [170] i.d.R. eine Anpassung der zuvor festgelegten Anforderungsliste, diese Anpassung induziert dann eine Anpassung des Produkts. Das Vorgehen bei einer Fehlerbaumanalyse kann in Anlehnung an [84, 170] grundsätzlich nach folgendem Ablauf erfolgen: • Schritt 1: Die detaillierte Untersuchung des technischen Systems im Rahmen einer Systemanalyse führt insbesondere auf die von dem System zu erfüllenden Teilfunktionen. Es werden Systemkomponenten sowie deren Organisation und Verhalten identifiziert bzw. analysiert, des Weiteren werden Umgebungsbedingungen sowie Hilfsquellen und Betriebsstoffe, wie beispielsweise die Energie- oder Schmierstoffversorgung betrachtet. • Schritt 2: Zur Festlegung des unerwünschten Ereignisses kann es wie bei der Kopfstandmethode, vgl. Abschnitt 5.4.3.7, hilfreich sein, die zuvor identifizierten Teilfunktionen zu negieren. Ebenfalls werden die Ausfallkriterien festgelegt bzw. nach Gründen für die Nicht-Erfüllung der Teilfunktionen gesucht. Hierbei müssen die notwendigen Voraussetzungen für das festgelegte Fehlverhalten berücksichtigt und dargestellt werden. Das unerwünschte Ereignis kann beispielsweise der Ausfall, das Versagen oder ein Schaden einer Systemkomponente sein.

Tabelle 6.2 Elemente eines Fehlerbaums (Auswahl, in Anlehnung an [84]) Element Erläuterung Standardeingang: Der Standardeingang steht für einen Funktionsausfall, wenn primäres Versagen möglich ist. Und-Verknüpfung: Die UND-Verknüpfung stellt eine logische Verknüpfung von mehreren (beliebig vielen) Eingängen dar. Eine UNDVerknüpfung impliziert die Bedingtheit der Ursachen und Ereignisse. Folglich müssen zwei oder mehr Ereignisse gleichzeitig auftreten bzw. stattfinden, damit der Ausgang bzw. das Ereignis A eintritt. Bei zwei Eingängen ergibt sich die folgende Funktionstabelle für den Ausgang bzw. das Ereignis A. Oder-Verknüpfung: Die ODER-Verknüpfung stellt eine logische Verknüpfung von mehreren (beliebig vielen) Eingängen dar. Eine ODER-Verknüpfung wird verwendet, wenn mehrere Ursachen zu demselben Fehler führen und es ausreichend ist, wenn eine Ursache auftritt, um den Fehler hervorzurufen. Bei zwei Eingängen ergibt sich die folgende Funktionstabelle. Kommentar: In dem Kommentar-Kasten sind Erläuterungen bzw. Beschreibungen von Ein- und Ausgängen sowie von Verknüpfungen eingetragen. Kommentare können Ereignisse darstellen, welche sich aus der logischen Verknüpfung von Eingängen bzw. Ereignisse ergeben.

6.2 Methoden zur Fehlererkennung und -behebung

207

• Schritt 3: Festlegung der relevanten Zuverlässigkeitskenngröße und der zu betrachtenden Zeitintervalle. • Schritt 4: Überlegungen zu den Ausfallarten der Komponenten sowie zu den Ausfallkategorien. Grundsätzlich kann nach [44] zwischen den folgenden drei Arten von Komponentenausfällen unterschieden werden: – Primärausfall entspricht einem Komponentenausfall bei normalen Einsatzbedingungen – Sekundärausfall beschreibt einen Komponentenausfall resultierend aus extremen Einsatzbedingungen oder in Folge eines Primärausfalles – Kommandoausfälle fassen Komponentenausfälle aufgrund fehlerhafter oder falscher Bedienung zusammen. • Schritt 5: Aufstellung des Fehlerbaums. • Schritt 6: Zusammenstellung der Kenngrößen und Bewertung der Eingänge in den Fehlerbaum wie beispielsweise Ausfallraten, Ausfallzeiten und Nichtverfügbarkeiten etc. • Schritt 7: Auswertung des Fehlerbaums. • Schritt 8: Bewertung der Ergebnisse und ableiten von Maßnahmen zur Verbesserung des Systems bzw. Produktes. In Tabelle 6.2 werden in Anlehnung an DIN 25424 die wichtigsten Elemente eines Fehlerbaums dargestellt und erläutert, [84, 152]. Die Eingänge bzw. Ausgänge werden hierbei binär beschrieben, eine 0 entspricht falsch und deutet an, dass das System funktionsfähig ist, wohingegen 1 einem wahr entspricht und somit einen Ausfall des Systemelements repräsentiert, vgl. auch [152]. In Abbildung 6.13 ist der Ablauf einer Fehlerbaumanalyse schematisch dargestellt, es wird von einem unerwünschten Ereignis in Form eines Ausfalls oder Versagens ausgegangen. Dieses unerwünschte Ereignis hat sowohl Ursachen als auch Folgen auf vorherige bzw. folgende Elemente. Des Weiteren kann zwischen internen und externen Ursachen unterschieden werden. Hierbei entstehen interne Ursachen aus dem System heraus, vgl. Abbildung 6.13. Externe Ursachen werden in der FTA gleichwertig zu den internen Ursachen betrachtet, können jedoch nicht beeinflusst werden. Als Beispiel kann man die Umgebungstemperatur nennen, die zunächst vom Produktentwickler nicht beeinflusst werden kann. Hat jedoch die Temperatur als externe Ursache Einfluss auf mögliche Fehler, so muss beispielsweise über eine Klimatisierung der Prozessumgebung nachgedacht werden, um die Fehlerursache auszuschließen. Die Fehlerbaumanalyse wird nach [170] aufgrund ihres hohen Arbeits- und Zeitaufwandes i.d.R. auf kritische Abläufe oder wichtige Teilsegmente beschränkt. Bei der Fehlerbaumanalyse ist von Vorteil, die Fehler und Ursachen mittelbar zu betrachten, die Analyse ist in ihrer Anwendung sehr flexibel und kann qualitative als auch quantitative Ergebnisse liefern. Dazu wird allerdings eine exakte Systemkenntnis vorausgesetzt, vgl. [60]. Die Analyseergebnisse können anschließend auch als Eingangswerte für eine entsprechende FMEA dienen.

208

6 Produktqualität sicherstellen

Abb. 6.13 Schematische Darstellung einer Fehlerbaumanalyse

Abbildung 6.14 zeigt einen beispielhaften Fehlerbaum einer Pressverbindung11 . Es ist am Fehlerbaum offensichtlich, dass ein falscher Passfugendruck, welcher durch eine korrekte Dimensionierung und eine Überprüfung der Maßhaltigkeit der Bauteile ausgeschlossen wird, zu unterschiedlichen Fehlern führen kann. Als externe Ursache12 kann dabei das wirkende Moment bzw. die Axialkraft angesehen werden, die Kräfte werden beispielsweise durch die Antriebsregelung verursacht und auf die Pressverbindung aufgeprägt. Die weiß hinterlegten Enden der einzelnen Äste kennzeichnen die Maßnahmen, die notwendig sind, um die sich in der Darstellung links anschließenden Auswirkungen zu unterbinden. Nach der Analyse der Fehlerbäume, bei der insbesondere die Vollständigkeit möglicher Kausalketten und die Identifikation der notwendigen logischen Verknüpfungen wichtig sind, müssen die Enden der einzelnen Kausalketten bearbeitet werden. Meist wird dazu eine Messung oder eine Berechnung als Nachweis der korrekten Funktion oder der richtigen Auslegung gefordert, um den direkten Einfluss eines Einzelfehlers zu reduzieren, dazu sollte mindestens ein “und” im 11

Die Versagensgrenzen der Pressverbindung nach der Maschinenelemente-Auslegung sind in Abbildung 7.10 graphisch dargestellt und werden in Abschnitt 7.1.5 andiskutiert. 12 Die externen und internen Ursachen sind in Abbildung 7.10 nicht differenziert dargestellt.

6.2 Methoden zur Fehlererkennung und -behebung

209

Abb. 6.14 Beispielhafter Fehlerbaum einer Pressverbindung

entsprechenden Ast auftreten. Für das Auftreten des betrachteten Versagensfalls ist dann ein Doppelfehler mit entsprechend niedriger Auftretenswahrscheinlichkeit notwendig, ein Einzelfehler als alleinige Fehlerursache sollte ausgeschlossen werden. Im Beispiel der Pressverbindung in Abbildung 6.14 kann man argumentieren, dass für ein Durchrutschen der Bauteilverbindung ein grenzwertig niedriges Übermaß vorliegen muss und dass das Moment oder die Axialkraft zu hoch sein muss, wenn die Bauteilverbindung richtig ausgelegt wurde.

6.2.4 Fehlermöglichkeits- und Einfluss-Analyse – FMEA Sind sowohl Ursache als auch Wirkung und Folgen eines Fehlers unbekannt, erfordert dies eine Kombination der Analysemethoden, auf deren Basis dann Maßnahmen zur Fehlervermeidung definiert werden können. Mit dieser Situation, welche den schwierigsten Fall der Fehlererkennung bzw. Fehlervermeidung darstellt, sind Entwickler insbesondere bei Neuentwicklungen häufig konfrontiert. Die Anzahl potentieller Fehler und der möglichen Folgen nehmen bei komplexeren Produkten so stark zu, dass die theoretisch erforderlichen Maßnahmen aus Aufwandsgründen im gesamten Umfang nicht wirtschaftlich und technisch

210

6 Produktqualität sicherstellen

Abb. 6.15 Charakteristika der System-, Konstruktions- und Produktions-FMEA

sinnvoll bewältigt werden können. Daher wird grundsätzlich eine Risikobewertung vorgenommen, um sich auf die Vermeidung bzw. Beseitigung der wichtigen, wahrscheinlichen der einfach abstellbaren Fehler konzentrieren zu können. Die bedeutendste Methode, die für diese Situation entwickelt wurde, ist die Fehlermöglichkeits- und Einfluss-Analyse, im Englischen Failure Mode and Effect Analysis. Die FMEA dient der Steuerung des gesamten Qualitätssicherungsprozesses, vgl. [170], und kann auch als eine Art Übergabeprotokoll zwischen der Produktentwicklung und der Fertigung dienen. Ferner schlagen sich Erkenntnisse aus der FMEA oft in der Notwendigkeit zusätzlicher Simulationen oder Versuche nieder. Die FMEA ist eine Methode, die es ermöglicht, bereits in der Planungs- bzw. Entwicklungsphase das Fehlerrisiko einer Produktkomponente, eines Prozessschrittes, eines Fertigungs- oder Montageschritts oder eines Systems abzuschätzen und zu dokumentieren. Ziel der FMEA ist eine deutliche Verminderung des verbleibenden Risikos, dabei werden Fehler sowie deren Ursachen und Folgen im Zusammenhang betrachtet, vgl. [170]. Fehlermöglichkeiten sowie deren Ursachen und Wirkungen werden i.d.R. in interdisziplinärer Teamarbeit ermittelt, systematisch erfasst und bewertet. Überschreitet die ermittelte Bewertungsziffer, die Risikoprioritätszahl RP Z, oder einzelne Bewertungskriterien einen bestimmten Grenzwert, werden Maßnahmen zur Vermeidung oder Entdeckung des potentiellen Fehlers bzw. dessen Ursachen festgelegt, vgl. hierzu auch [212].

6.2 Methoden zur Fehlererkennung und -behebung

a)

211

b)

Abb. 6.16 Getriebemotor als Beispiel zur Verdeutlichung der FMEA. a) Produktansicht, b) Schnittmodell für Lehrzwecke

Es existiert eine Reihe weiterer Vorschläge zur Ausgestaltung und Anwendung der Methode im Detail, die teilweise von verschiedenen Verbänden, insbesondere aber auch von einzelnen Unternehmen für deren spezielle Anwendungssituation ausgearbeitet bzw. weiterentwickelt wurden. Entsprechend der Zielsetzung wird zwischen System-, Konstruktions- und Prozess-FMEA differenziert, vgl. Abbildung 6.15, wobei die Grenzen hier nicht ganz scharf sind. Während die Konstruktions-FMEA – im Englischen als Design-FMEA (D-FMEA) bezeichnet – den Fokus auf die Erfüllung geforderter Funktionen legt, rückt bei der Produktions- bzw. Prozess-FMEA – P-FMEA – die Eignung der Fertigungs- und Montageprozesse für das Produkt in den Vordergrund, siehe auch Abbildung 6.15 sowie [170, 212]. Die System-FMEA – S-FMEA – hingegen hat hauptsächlich zum Ziel, das Zusammenwirken einzelner Systemkomponenten sowie deren Funktionserfüllung zu analysieren. Hierbei wird i.d.R. auch das Verhalten des Systems bei einem Komponentenausfall untersucht. Als Beispiel zur Erklärung der Vorgehensweise bei der Bearbeitung der FMEA wird der in Abbildung 6.16 gezeigte Getriebemotor betrachtet; die Ausführungen sind bewusst vereinfachend qualitativ gehalten. Der gezeigte Getriebemotor weist zwei Subsysteme auf, den Asynchronmotor und ein zwei- oder dreistufiges Stirnradgetriebe, der Umrichter zur Ansteuerung ist nicht Bestandteil des betrachteten Systems. Für den Nutzer sind drei Funktionen relevant, für welche im Rahmen der in Tabelle 6.3 gezeigten verkürzten System-FMEA verschiedene Fehlerfälle mit unterschiedlichen Ursachen betrachtet werden: • Bereitstellung einer bestimmten Drehzahl am Abtrieb, • Bereitstellung eines bestimmten Moments am Abtrieb, • Wandlung von elektrischer Energie in mechanische. Bei sorgfältiger Analyse stellt man fest, dass sich die allermeisten der denkbaren und der praktisch relevanten Fehlerfälle des betrachteten Systems auf Störungen dieser drei Funktionen zurückführen lassen. Eine falsche Gestaltung oder Dimensionierung eines Bauteils, welche sich im falschen Moment oder der falschen Drehzahl niederschlägt, wird durch die Design-FMEA auf Komponentenebene für alle Kernkomponenten ausgeschlossen. Die Montage falscher Komponenten, z. B. ein Zahnradpaar mit der falschen Übersetzung, wird im Rahmen der Prozess-

212

6 Produktqualität sicherstellen

Tabelle 6.3 Vereinfachte System-FMEA für einen Getriebemotor. Erläuterungen im Text

6.2 Methoden zur Fehlererkennung und -behebung

213

FMEA behandelt. Ferner ist sofort ersichtlich, dass nach einer Erst-Bewertung zu Beginn der FMEA eine erneute Bewertung nach Implementierung von Qualitätssicherungsmaßnahmen durchgeführt wird, um die Reduktion der einzelnen Fehlermöglichkeiten und ihrer Folgen kontrollieren zu können. Nach der System-FMEA, in deren Rahmen auf einer noch sehr abstrakten Ebene mögliche Fehlermodi identifiziert und beschrieben werden, werden in der Design-FMEA für die Subsysteme Motor und Getriebe die Fehlermodi genauer betrachtet. Häufig zerlegt man dazu die Subsysteme weiter in logische Unterbaugruppen, am Beispiel des Motors in Gehäuse, Lagerung, Welle, Rotor, Stator und Klemmenkasten, Lüfter, Abdeckung, Dichtung und Verschraubung. Man erkennt sofort, dass in der D-FMEA des Motors eine falsche Übersetzung des Getriebes nicht relevant ist ebenso wie ein Kurzschluss in der Getriebe-D-FMEA nicht betrachtet wird. In der D-FMEA der Subsysteme muss dann streng genommen jedes Bauteil hinsichtlich seiner speziellen Fehlermodi analysiert werden. Dabei muss natürlich nur einmal diskutiert werden, wie man eine falsche Auslegung oder Montage eines Zahnrades vermeidet. Insbesondere in der Automobil- und Luft- und Raumfahrtindustrie hat die FMEAMethode in den letzten Jahren13 weite Verbreitung gefunden, Systemverantwortliche und Zulieferer nutzen die FMEA-Methode gleichermaßen. Die wesentlichen Gründe für den Einsatz der FMEA können wie folgt zusammengefasst werden: • Kostenvermeidung: Die Kosten für die Beseitigung von Fehlern steigen im Verlauf des Produktentstehungsprozesses exponentiell an, vgl. Abbildung 4.4. • Kundenforderung: Vor allem in der Automobilzulieferindustrie wird die FMEA vom Kunden, dem Automobilhersteller, gefordert, um die Qualität der vom Lieferanten entwickelten und produzierten Teile sicherzustellen. • Versicherungsanforderung: Für die Versicherung von Risikoanwendungen im Bereich Raumfahrt, Rüstung und Kernenergie wird oft eine FMEA verlangt. • Qualitätssicherungsnormen: Die von Qualitätssicherungsnormen wie der ISO 9001 geforderte Dokumentation von Unternehmensprozessen wird durch den Einsatz von systematischen Methoden wie der FMEA vereinfacht, vgl. [89]. • Präventive Qualitätssicherungsmaßnahmen: Der langfristig wichtigste Grund sollte jedoch die vorbeugende Fehlervermeidung in der Entwicklungsphase und die damit verbundene Reduktion der aufgewendeten Ressourcen – Geld, Material und Personal – sein.

13

Die FMEA ist seit 1980 durch die sogenannte Ausfalleffektanalyse nach DIN 25448 in Deutschland genormt und wurde im Mai 1990 aktualisiert. Im internationalen Rahmen hat die FMEA in die IEC 812 Eingang gefunden, für die derzeit ein überarbeiteter Entwurf vorliegt, der in der deutschen Übersetzung der DIN IEC 60812 die FMEA als Fehlzustandsart- und Auswirkungsanalyse bezeichnet, vgl. [86]. Die FMEA-Methode wurde Mitte der sechziger Jahre von der US-amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA als Failure Mode and Effects Analysis für das Apollo-Projekt entwickelt. Anschließend verbreitete sie sich insbesondere in der Luftund Raumfahrt sowie der Kerntechnik. Von Ford Mitte der siebziger Jahre initiiert, begann die Nutzung der FMEA-Methode in der Automobilindustrie - zunächst insbesondere bei den Herstellern selbst, wo sie heute ein fester Bestanteil der Qualitätssicherungssysteme ist.

214

6 Produktqualität sicherstellen

Abb. 6.17 FMEA-Formblatt

Eine S-, D- oder P-FMEA wird vielfach beim Vorliegen folgender Neuheits- und Änderungskriterien erstellt: • • • • • •

Neuentwicklung von Produkten, Änderungen an Produkten, Änderungen an Prozessen, eingeschränkte Prüfbarkeit, Sicherheitsprobleme, hohe Anzahl an Kundenreklamationen.

Die Vorgehensweise der FMEA ist gegenüber der intuitiven Analysetechnik eines Fachmanns systematischer, umfassender und detaillierter, so dass die funktionellen Zusammenhänge eines Systems sukzessive vom Funktionselement bis zum Gesamtsystem erkennbar werden. Dadurch ist eine nachvollziehbare und umfassende Bewertung des Gesamtsystems durch i.d.R. mehrere Fachleute gewährleistet. Der effiziente Einsatz der FMEA im Rahmen einer präventiven Qualitätssicherungsstrategie erfolgt nach [170] üblicherweise in drei Phasen, welche im Folgenden näher erläutert werden: 1. Team festlegen: Um die Berücksichtigung aller anforderungsrelevanten Aspekte zu gewährleisten, muss eine interdisziplinäre Zusammenarbeit erfolgen. Daher wird eine FMEA in Teamarbeit bearbeitet. Ein Kernteam besteht i.d.R. aus dem jeweiligen Verantwortlichen oder einem kompetenten Vertreter und seinen direkten fachlichen Ansprechpartnern: • • • • •

Produktmanager, Entwicklungsprojekt-Verantwortlicher, Fertigungs-Verantwortlicher, Qualitäts-Verantwortlicher, Beschaffungs-Verantwortlicher.

Bei Bedarf wird das Kernteam von Experten aus anderen Fachabteilungen wie Simulation und Versuch oder dem Kunden ergänzt bzw. erweitertet. Die Teamarbeit sollte durch einen Moderator, welcher die Techniken der Moderation und Präsentation beherrscht, unterstützt und begleitet werden. Auch

6.2 Methoden zur Fehlererkennung und -behebung

215

die Vorbereitung, Planung und Nachbereitung der FMEA gehört zu den Aufgaben des Moderators. 2. Vorbereitung: Wesentlicher Bestandteil der Vorbereitung ist eine systematische Gliederung und Strukturierung des Produktes in einzelne Betrachtungseinheiten, zum Beispiel Baugruppen und Bauteile oder Funktionsträger, eine Systemstrukturierung anhand der unterschiedlichen Ebenen kann in Form eines Brainstormings erfolgen. Eine beispielhafte Strukturierung eines Produktes – in diesem Fall eines PKW ist in Abbildung 6.9 gezeigt. Hier wird der PKW als System in Untersysteme wie beispielsweise Antrieb, Fahrwerk, Interior etc. untergliedert. Der Antrieb kann wiederrum unterteilt werden in seine Hauptkomponenten, wie den Motor und das Getriebe. Auf diese Art und Weise kann das System schrittweise strukturiert werden, bis einzelne Bauteile, wie zum Beispiel die Wasserpumpe, betrachtet werden können. Zusätzlich müssen einschlägige Unterlagen, wie die Anforderungsliste, gesetzliche Grundlagen, Prinzipskizzen, CAD-Unterlagen, Stücklisten, Funktionsmuster, Prototypen, Messergebnisse usw. bereitgestellt werden. 3. Durchführung: Die FMEA untersucht systematisch folgende Fragen: • Welche Funktionen erfüllen die Elemente des Produkts? • Welche Fehlfunktionen können auftreten? • Welche Ursachen und welche Auswirkungen haben die Fehlfunktionen auf die Funktionserfüllung des Gesamtprodukts bzw. die Umwelt? • Wie hoch ist die Bedeutung der Fehlfunktion? • Wie wahrscheinlich ist das Auftreten der Fehlfunktion? • Wie können Fehlfunktionen entdeckt werden, bevor sie zum Kunden gelangen bzw. Schäden verursachen? Die Systematik und Vorgehensweise wird durch die Anwendung eines einheitlichen Formblatts unterstützt, das in Abbildung 6.17 gezeigt ist. Das Formblatt entspricht dem in der Automobilindustrie üblichen Standard und ist auch für andere industrielle Anwendungen anwendbar. Dabei empfiehlt es sich, zeilenweise vorzugehen, d. h. ausgehend von einem Bauteil oder ei-

Tabelle 6.4 Skala zur Bewertung der Bedeutung B eines Fehlers am Beispiel Fahrzeug Bedeutung B

Erläuterung

9 - 10 sehr hoch Sicherheitsrisiko, Nichterfüllung gesetzlicher Vorschriften, Liegenbleiber 7-8 hoch Funktionsfähigkeit des Fahrzeugs stark eingeschränkt, sofortiger Werkstattaufenthalt zwingend erforderlich, Funktionseinschränkung wichtiger Subsysteme 4-6 mäßig Funktionsfähigkeit des Fahrzeugs eingeschränkt, umgehender Werkstattaufenthalt ratsam, Funktionseinschränkung von wichtigen Bedien- und Komfortsystemen 2- 3 gering Geringe Funktionsbeeinträchtigung des Fahrzeugs, Beseitigung des Fehlers beim nächsten planmäßigen Werkstattaufenthalt, Funktionseinschränkung von Bedien- und Komfortsystemen 1 sehr gering Sehr geringe Funktionsbeeinträchtigung, nur vom Fachpersonal erkennbar

216

6 Produktqualität sicherstellen

ner Funktion werden schrittweise alle möglichen Fehlerursachen analysiert, eine Risikobewertung vorgenommen und entsprechende Maßnahmen definiert, bevor mit dem nächsten Bauteil fortgefahren wird. Die einzelnen Spalten des Formblattes werden gesondert im Folgenden erläutert. Auf Grundlage der funktionalen Strukturierung des Produkts werden mögliche Fehler durch Negieren der Funktionen ermittelt und hinsichtlich ihres Risikos bewertet. Dabei wird die Risikoprioritätszahl RP Z aus den drei Faktoren ermittelt, wie es sich auch am Beispiel in Tabelle 6.3 nachvollziehen lässt: • Bedeutung der Fehlerfolge B: Wie groß ist die Auswirkung des Fehlers? • Auftretenswahrscheinlichkeit der Fehlerursache A: Wie wahrscheinlich ist das Auftreten des Fehlers beim Kunden? • Entdeckungswahrscheinlichkeit des aufgetretenen Fehlers E: Wie leicht kann das Auftreten des Fehlers in der Fertigung entdeckt werden? Die Faktoren B, A und E werden anhand einer Skala von 1 bis 10 bewertet. Um eine einheitliche Bewertung zu gewährleisten werden oft Tabellen verwendet, welche die Bedeutung eines Wertes erläutern, um ein stabiles Ergebnis sicherzustellen. Tabelle 6.4 zeigt am Beispiel der Bedeutung B, wie Fehler hinsichtlich ihrer Wirkung für den Kunden aber auch für die Umwelt bewertet werden können,

Tabelle 6.5 Skala zur Bewertung der Entdeckungswahrscheinlichkeit E eines Fehlers Wahrscheinlichkeit der Entdeckung Bewertung E Hoch (größer 99,99 %); funktioneller Fehler, der nahezu sicher bei den nächs1 ten Arbeitsgängen bemerkt wird. Mittel (größer 99,7 %); offensichtlicher Fehler, der z. B. 100 % automatisch 2 bis 5 geprüft wird und den Kunden wahrscheinlich nicht erreichen wird. Gering (größer 98 %); leicht zu erkennender Fehler, der z. B. mit einer 100 % 6 bis 8 Funktionsprüfung kontrolliert wird. Sehr gering (mindestens 90 %); nicht leicht zu erkennendes Fehlermerkmal, 9 das 100 % visuell oder manuell geprüft wird. Unwahrscheinlich; verdeckter Fehler, der in der Fertigung oder Montage nicht 10 erkannt wird, da das Merkmal nicht geprüft wird bzw. werden kann. Tabelle 6.6 Richtwerte zur Bewertung der Auftretenswahrscheinlichkeit A eines Fehlers für allgemeine Anwendungen Wahrscheinlichkeit des Auftretens Es ist unwahrscheinlich, dass ein Fehler auftritt. Sehr gering: die Konstruktion entspricht generell früheren Entwürfen, für die vergleichsweise geringe Fehlerzahlen vorliegen. gering: die Konstruktion entspricht generell früheren Entwürfen, bei denen gelegentlich, aber nicht in größerem Maße, Fehler auftraten mäßig: die Konstruktion entspricht generell Entwürfen, die in der Vergangenheit immer wieder Schwierigkeiten verursachten. hoch: Es ist nahezu sicher, dass Fehler in größerem Umfang auftreten werden.

Häufigkeit Bewertung A →0 1/20.000 1/10.000 1 /2.000 1/1.000 1/200 1/100 1/20 1/10 1/2

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

6.2 Methoden zur Fehlererkennung und -behebung

217

Abb. 6.18 Beispielhaft ausgefülltes Formblatt zur Durchführung der FMEA für ein Sicherheitsventil ähnlich Abbildung 6.11

analoge Richtwerte für die Auftretenswahrscheinlichkeit A und die Entdeckungswahrscheinlichkeit E zeigen Tabelle 6.5 und Tabelle 6.6. Sie gleiche Zielsetzung einer einheitlichen und stabilen Bewertung steht auch hinter dem Beispiel der subjektiven Notenskala in Tabelle 5.15. Bei der Bewertung der Auftretenswahrscheinlichkeit muss die Stückzahl pro Zeiteinheit des betrachteten Produkts berücksichtigt werden. Eine Auftretenswahrscheinlichkeit von 1/50.000 ist für Großserienprodukte nicht vertretbar, betroffen wären 20 Produkte von 1 Million. Für die Produktion von Fahrzeugen mag dies auf den ersten Blick als akzeptabel erscheinen, jedoch ist eine Fehlerquote von 20 ppm in der Regel nicht hinnehmbar, die Richtwerte nochmals um eine Größenordnung zu reduzieren. Zur Fehlererkennung wird immer häufiger in der Serienproduktion auf eine Kameraüberwachung mit Bildanalyse oder eine Laserabtastung eingesetzt, um mögliche Produktionsfehler zu erkennen. In Abbildung 6.18 ist ein Ausschnitt eines ausgefüllten FMEA-Formblattes für das Beispiels eines Sicherheitsventils wie in Abbildung 6.11 dargestellt. Im Folgenden werden die einzelnen Spalten des FMEA-Formblattes näher erläutert sowie auf das Beispiel des Sicherheitsventils eingegangen. Die Ergebnisse der Diskussion im Team zu den möglichen Fehlerursachen und deren Folgen werden in die entsprechende Spalte des Formblatts eingetragen. • Spalte 1: Funktion / Bauteil / Prozessschritt Es sind die zu analysierenden Bauteile bzw. Prozessschritte aufzuführen und eine stichwortartige Beschreibung aller zu erfüllenden Funktionen anzugeben. Dieser Schritt geschieht häufig schon in der Vorbereitungsphase. Im Rahmen der Fehleranalyse werden zu jeder Funktion des Teils bzw. jedes Prozesses die folgenden Einzelschritte durchgeführt. In dem Beispiel in Abbildung 6.18 wird ein Sicherheitsventil betrachtet, dessen maßgebliche Funktion Überdruck abbauen ist. • Spalte 2: Potentieller Fehler / Fehlerart Es sind alle denkbaren Fehlerarten für das einzelne Subsystem in der S-FMEA, in der D-FMEA und für den vorgesehenen Prozess in der P-FMEA aufzulisten.

218









6 Produktqualität sicherstellen

Hinsichtlich des Sicherheitsventils wird in der S-FMEA das Nichterfüllen der betrachteten Funktion, dass der Überdruck nicht abgebaut wird, betrachtet, vgl. Abbildung 6.18 Spalte 2. Bei den potentiellen Fehlern wird davon ausgegangen, dass jeder Fehler auftreten kann, aber nicht muss. Spalte 3: Fehlerfolge, Auswirkung Ausgangspunkt ist das tatsächliche Auftreten des Fehlers. Die funktionelle Fehlerfolge ist in Bezug auf das Produkt bzw. den Prozess anzugeben sowie die Symptomatik bezüglich des Auftretens des Fehlers beim Kunden bzw. beim Anwender. Im Beispiel resultiert aus dem Fehler ein erhöhter Druck im überwachten System, vgl. Abbildung 6.18. Die Ausführungen in den Tabelle 6.3 und Abbildung 6.18 sind für ein konkretes Produkt jedoch wahrscheinlich nicht aussagekräftig genug formuliert. Spalten 4 und 5: Fehlerursache Jedem aufgezeigten potentiellen Fehler werden die verschiedenen denkbaren Fehlerursachen zugeordnet. Die Beschreibung der Fehlerursachen muss sicherstellen, dass entsprechende Abhilfemaßnahmen bestimmt werden können. Es wurden im Beispiel in Abbildung 6.18 drei Ursachen dafür, dass der Überdruck nicht abgebaut werden kann, identifiziert und in Spalte 4 eingetragen, wie beispielweise eine zu große Vorspannkraft FF der Feder. In die Spalte 5 Bisherige Maßnahmen werden die geeigneten Vorbeugungs- und/oder Prüfmaßnahmen aufgelistet, die bereits für gleiche oder ähnliche Entwicklungen bzw. Prozesse im Einsatz sind und dazu dienen, Fehler zu vermeiden sowie auftretende Fehlerursachen und Fehler zu entdecken. In Tabelle 6.4 fehlt die Spalte zu den bisherigen Maßnahmen. Alle potentiellen Fehler sind nachfolgend entsprechend den Ursachen, Folgen und vorgesehenen Prüfmaßnahmen jeweils einzeln in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit des Auftretens A, der Bedeutung B für den Kunden bzw. den Abnehmer und der Möglichkeit der Entdeckung E zu bewerten. Spalte 6: Auftreten A Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens potentieller Fehler – hervorgerufen durch die jeweils zugeordnete Ursache – wird geschätzt und anhand einer Skala von 1 (sehr unwahrscheinlich), 5 (gelegentlich) bis 10 (höchst wahrscheinlich) bewertet, vgl. Tabelle 6.6. Im Beispiel des Sicherheitsventils wurde die Auftretenswahrscheinlichkeit des zweiten Fehlerfalls mit 7 bewertet, hiermit ist es schon sehr wahrscheinlich, dass der Fehler auftritt, die Steifigkeiten der Schraubenfedern streuen recht stark, vgl. Abbildung 6.18. Die Auftretenswahrscheinlichkeit ist dabei unabhängig von der Bedeutung des Fehlers und der Wahrscheinlichkeit, den Fehler rechtzeitig vor der Weiterverarbeitung bzw. Auslieferung zu entdecken. Spalte 7: Bedeutung B Analog zur Auftretenswahrscheinlichkeit wird die Bedeutung der Folgen eines Fehlers für den Kunden bzw. Anwender anhand einer Skala von 1 (keine Auswirkung für den Kunden), 5 (Belästigung oder Verärgerung des Kunden) bis 10 (Sicherheit des Kunden oder des Umfeldes gefährdet oder gesetzliche Anforderungen verletzt) bewertet, vgl. Tabelle 6.4. Da sich die Bedeutung,

6.2 Methoden zur Fehlererkennung und -behebung

219

die einem Fehler beigemessen wird, nur an seinen Folgen orientiert, erhalten alle potentiellen Fehlerursachen mit gleichen Folgen dieselbe Bewertung. Alle drei Ursachen zu dem Fehler, dass er Überdruck nicht abgebaut werden kann, haben daher dieselbe Bedeutung. • Spalte 8: Entdeckung E Letztendlich wird noch die Wahrscheinlichkeit bewertet, mit der ein Fehler frühzeitig entdeckt wird, zum Beispiel bevor das Teil den Kunden bzw. den Weiterverarbeiter erreicht. Auch diese Schätzung wird in eine Skala von 1 (Fehler wird bei Folgeprozess sicher entdeckt), 5 (Fehler durch geeignete Prüfung und Aufwand erkennbar) bis 10 (Fehlerentdeckung ist sehr schwierig bis unmöglich) übersetzt, vgl. Tabelle 6.5. Dabei wird davon ausgegangen, dass ein Fehler aufgetreten ist. Bewertet wird die Wirksamkeit der Prüfmaßnahmen für die Entdeckung der Fehlerursachen oder der daraus resultierenden Fehlerart. Eine Bewertung E = 10 besagt also, dass ein vorhandener Fehler durch Prüfung nicht erkannt werden kann, wird hingegen ein Fehler im Neuzustand durch zerstörungsfreie Prüfung sicher erkannt, so ist E ≈ 5 angemessen. Reicht eine Sicht- oder Kameraprüfung zur Fehlererkennung aus, so ist E = 1 oder E = 2 angebracht. • Spalte 9: Risikoprioritätszahl RP Z Durch die Multiplikation der drei einzelnen Bewertungspunkte ist für alle Fehlerursachen die Risikoprioritätszahl RP Z zu berechnen. Sie ist ein Maß für das Gesamtrisiko jeder potentiellen Fehlerursache und macht die verschiedenen Fehlermöglichkeiten anhand einer einheitlichen Maßzahl vergleichbar, RP Z = A· B · E .

(6.1)

Der Wert kann entsprechend der Bewertungen zwischen 1 und 1000 liegen. Als Richtwert gilt, dass RPZ-Werte größer14 als 80 oder A, B, E Einzelwerte größer als 6 aufweisen, Verbesserungsmaßnahmen verlangen. In dem Beispielfall bedarf es bei einer zu hohen Vorspannkraft FF einer Verbesserungsmaßnahme, vgl. Abbildung 6.18, da die angenommene zulässige RP ZBewertung des Fehlers überschritten ist. Eine Verbesserung der Situation ist vorrangig für diejenigen Fehlerursachen vorzuschlagen, die eine hohe Prioritätszahl erhalten haben und/oder eine hohe Auftretenswahrscheinlichkeit bzw. hohe Bedeutung haben. In diesem Sinne wird der mit RP Z = 18 bewertete Fehler einer zu hohen mechanischen Last im Beispiel in Tabelle 6.4 nicht weiter verfolgt. Das langfristige Ziel sollte jedoch im Sinne des Null-FehlerGedankens die ständige Verbesserung der untersuchten Einheiten und Eliminierung sämtlicher Fehler sein. So werden auch die Grenzen für A, B, E und RP Z je nach Anspruch der Kunden angepasst. • Spalte 10: Festlegung der vorbeugenden Maßnahmen Die Einleitung gezielter Maßnahmen, entsprechende Empfehlungen an andere Bereiche sowie die Verfolgung aller Maßnahmen sind von äußerster Wich14

In der Literatur findet man auch den Grenzwert RP Z ≤ 125, im Rahmen einer umfassenden Qualitätsstrategie in der Entwicklung ist der kleinere Wert zu bevorzugen.

220

6 Produktqualität sicherstellen

tigkeit. Grundsätzlich sind fehlervermeidende Maßnahmen (Reduktion von A) wie zum Beispiel robustere, eindeutige Entwicklung gegenüber auswirkungsbegrenzenden Maßnahmen (Reduktion von B) zu bevorzugen, die meist auch teurere Produkte ergeben. Immer sind aber auch fehlerentdeckende Maßnahmen (Reduktion von E) frühzeitig im Prozess vorzusehen. Im Beispiel des Sicherheitsventils in Abbildung 6.18 handelt es sich bei einer vorgeschlagenen Maßnahme um eine Funktionsprüfung am Muster, dies ist eine Maßnahme zur Reduktion der Bedeutung B. Die Verbesserungs- und Vermeidungsmaßnahmen sind solange weiter zu entwickeln, bis für alle identifizierten Fehler eine unkritische Risikobewertung, i.d.R. RP Z < 80 sowie A, B, E < 6, durch Maßnahmen erreicht ist. • Spalte 11: Verantwortlichkeit und Termin In diese Spalte 11 sind die für die Durchführung von Maßnahmen verantwortliche Organisationseinheit und der zuständige Bearbeiter sowie eine Terminvorgabe einzutragen. Der für die FMEA verantwortliche Teamleiter koordiniert und verfolgt die eingeleiteten Aktivitäten, ohne jedoch die jeweils im Formular benannten Abteilungen und Mitarbeiter aus ihrer jeweiligen Verantwortung zu entlassen. Es müssen sämtliche realisierten Maßnahmen im Rahmen der FMEA-Aktualisierung festgehalten werden. • Spalte 12: Durchgeführte Maßnahmen In dieser Spalte können die durchgeführten Maßnahmen eingetragen werden, die dann als Grundlage für die Neubewertung des Fehlers dienen. War eine Maßnahme erfolgreich, können dadurch eine oder mehrere Einzelwertungen verbessert werden. • Spalten 13, 14, 15 und 16: Neubewertung Basierend auf den getroffenen Maßnahmen wird für den neuen Zustand anhand der Auftretenswahrscheinlichkeit A, der Bedeutung B und der Entdeckungswahrscheinlichkeit E das Restrisiko nach (6.1) bewertet und in Relation zur ursprünglichen Risikoprioritätszahl RP Z gestellt, um zu entscheiden, ob weitere Verbesserungsmaßnahmen notwendig sind. Für die Einführung der Methode in einem Unternehmen und für die Durchführung einer FMEA ist als Nachteil ein hoher zeitlicher und personeller Aufwand zu nennen. Wie bei vielen auf Vorbeugung zielende Maßnahmen ist es auch bei der FMEA-Erstellung nicht sofort möglich, eine Aufwand-Nutzen-Rechnung zu erstellen. Wohl aber kann aus den vorgeschlagenen Maßnahmen in Verbindung mit der resultierenden Risikoverringerung und den Realisierungsmöglichkeiten der Nutzen abgeschätzt werden. Die konsequente Anwendung der FMEA bringt zunächst die folgenden Vorteile für das Produkt und dessen Entwicklung: • eine Reduzierung von Fehlern und damit Kosten in Entwicklung und Fertigung sowie bei der Nutzung der Produkte, • eine Vermeidung von Fehlerausbreitungen, • das Ausschalten von Wiederholungsfehlern, • die Reduzierung von Produktivitätseinbußen, • die Verringerung der Gefahr von Rückrufen,

6.2 Methoden zur Fehlererkennung und -behebung

221

• weniger nachträgliche Werkzeug-, Zeichnungs- und Prüfmitteländerungen, • kürzere Projektdurchlaufzeiten. Zusammenfassend lassen sich folgende Vorteile der FMEA anführen, die über das eigentlich betrachtete Produkt hinausgehen: • Systematik: Mit der systematischen FMEA-Vorgehensweise werden Fehlermöglichkeiten auf rein analytischem Wege umfassend erkannt und bewertet. • Wirksamkeit: Umsetzen präventiver statt korrigierender Qualitätssicherungsmaßnahmen. • Dokumentation: Einheitliche, einfache und verständliche sowie jederzeit überprüfbare und ergänzbare Aufzeichnungsform. • Universalität: Die FMEA-Methode ist auf viele produkt- oder prozessmerkmalsbezogene Untersuchungsobjekte anwendbar. • Produktqualität: Verbessern der Produktqualität durch die Vermeidung potentieller Fehler bei gesteigerter Entwicklungs- und Planungsqualität in kürzerer Zeit. • Produktivität und Kosten: Die Vermeidung von Fehlern reduziert den unnötigen Aufwand im Zusammenhang mit fehlerhaften Produkten (zum Beispiel Fertigungsaufwand) und verkürzt die Entwicklungszeiten. Je früher innerhalb der Produktentstehungsphase potentielle Fehler mit Hilfe der FMEA erkannt und vermieden bzw. nachhaltig beseitigt werden können, desto geringer sind die Fehlerbeseitigungskosten und desto höher die Einsparungen. • Zusammenarbeit: Förderung bereichsübergreifender Zusammenarbeit bei verbessertem Informations- und Erfahrungsaustausch. • Außenwirkung: Verbesserung des Firmenimages durch die gezielte Förderung des Wettbewerbskriteriums Qualität. • Weiterbildung der Mitarbeiter: Leichtere Einarbeitung von neuen Mitarbeitern. Der Transfer von Erfahrungswissen wird aufgrund der einfach nachvollziehbaren FMEA-Arbeitsdokumentation erleichtert und das Qualitätsbewusstseins der Mitarbeiter wird gefördert. Diesen Vorteilen stehen naturgemäß Schwächen der FMEA gegenüber: • Aufwand: Hoher Aufwand für die Durchführung des Verfahrens. Eine vollständige und gründliche Durchführung der FMEA ist sehr zeit- und personalintensiv. • Detailfokussierung: Es werden durch die FMEA mit ihrem stark strukturierten Ansatz auch unwahrscheinliche oder belanglose Fehler gefunden, woraus eine Kostenerhöhung aufgrund der Vorsorge gegen sehr unwahrscheinliche Fehler resultiert. • Ausfallkombinationen: Die FMEA untersucht nur Ausfallmöglichkeiten eines Systems auf der Basis einzelner Komponentenausfälle, wobei Ausfallkombinationen nicht berücksichtigt werden. • Restrisiko: Die FMEA liefert keine quantitativen Zuverlässigkeitskennwerte oder Risikobewertungen des analysierten Systems.

222

6 Produktqualität sicherstellen

Abb. 6.19 Phasen der Qualitätsprüfung (Nach [152])

6.3 Qualitätskontrolle in der Praxis Die Qualitätssicherung beschäftigt sich mit der Umsetzung von Qualitätsanforderungen. In der Praxis gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Qualität der Produkte sicherzustellen und anschließend zu kontrollieren. Die sogenannte Qualitätsprüfung beinhaltet kontrollierende Maßnahmen, die nach Erzeugung des Produktes erfolgen. Grundsätzlich kann eine Qualitätsprüfung in folgende Phasen unterteilt werden: Planung, Beauftragung, Durchführung und Auswertung, vgl. Abbildung 6.19. Im Folgenden wird vorrangig auf die Planung eingegangen, ferner wird der Prozess der kontinuierlichen Verbesserung in Abschnitt 6.3.2 in den Grundzügen erklärt.

6.3.1 Qualitätsplanung Für eine effektive und effiziente Qualitätskontrolle ist die Erstellung eines Prüfplans unumgänglich. Die Erstellung eines Prüfplans hat zum Ziel, geeignete Prüfverfahren für das zu prüfende Qualitätsmerkmal15 , die zugehörigen Vorgehensweisen sowie Anweisungen zur Prüfung festzulegen, vgl. [151]. Ein Qualitäts-

Tabelle 6.7 Charakteristika der Prüfplanerstellung (In Anlehnung an [151])

15

Was?

Beschreibung des Prüfmerkmals

Wie oft? Wie viel? Womit? Wann? Durch wen? Wo? Wie? Prüfdaten?

Häufigkeit der Prüfung Umfang der Prüfung Prüfmittel Zeitpunkt der Prüfung Prüfer Ort der Prüfung Prüfanweisung Aufschreiben, sammeln, auswerten, verteilen, verdichten

Als Qualitätsmerkmale eines Produkts können Merkmale und Eigenschaften von Produkten gleichermaßen genutzt werden.

6.3 Qualitätskontrolle in der Praxis

223

Abb. 6.20 Arten des Prüfens (In Anlehnung an [229])

merkmal beschreibt allgemein ein wichtiges Merkmal oder eine kennzeichnende Eigenschaft eines bestimmten Objektes, vgl. [78], während die Prüfplanung den Prozess der Festlegung des zu prüfenden Qualitätsmerkmals, des Prüfverfahrens, des Prüfmittels, der Prüfhilfsmittel, des Prüfumfangs, der Prüfperson, der Prüfzeit, des Prüforts, des Ablaufs einer Prüfung und der notwendigen Parameter und Entscheidungsregeln zur Konformitätsermittlung sowie zur Dokumentation nach [151] beschreibt. Die in Tabelle 6.7 aufgeführten Fragen müssen dabei für jedes Prüfmerkmal beantwortet werden, um die Prüfung ordnungsgemäß durchführen zu können. Hinsichtlich des Umfangs der Prüfung sind zwei Alternativen bzw. Varianten zu unterscheiden. Zum einen ist eine 100 %-Prüfung möglich sowie zum anderen eine (losbezogene) Stichprobenprüfung. Bei einer 100 %-Prüfung wird – meist automatisch – jedes Teil geprüft. Diese Art der Prüfung wird häufig in der Automobilindustrie angewendet, wie beispielsweise bei Lenkungskomponenten oder anderen sicherheitskritischen Komponenten, vgl. [151]. Bei einer Stichprobenprüfung hingegen wird eine repräsentative Teilmenge der Gesamtmenge entnommen und geprüft, die Stichprobenprüfung wird insbesondere bei zerstörenden Prüfungen angewendet. Es können beispielsweise folgende Stichprobenprüfungen unterschieden werden: • Skip-Lot-Verfahren: Hierbei handelt es sich um ein dynamisches Stichprobenverfahren. Es werden Lose einer Serie ohne oder mit verringerten Qualitätsprüfungen angenommen, allerdings nur, sobald die Ergebnisse der zuvor durchgeführten Prüfungen die festgelegten Kriterien erfüllen. • Statistische Prozess Kontrolle SPC (Statistical process control): Beschreibt eine Prüfung, bei welcher in konstanten Zeitabständen eine bestimmte Teilmenge entnommen und entsprechend geprüft wird. Der Umfang der Losgröße der Stichprobenprüfung hängt von der Produktions- oder Lieferungslosgröße ab und wird in Abhängigkeit von den Zuverlässigkeitsanforderungen an das betrachtete Produkt errechnet. Dies ermöglicht eine kontinuierliche Überprüfung des Prozesses und somit ein rechtzeitiges Erkennen von Prozessveränderungen bzw. -abweichungen, vgl. [151]. Durch Überprüfung der Prozesse kann die Produktqualität ebenfalls indirekt überprüft werden.

224

6 Produktqualität sicherstellen

Abb. 6.21 Visuelle Prüfung der Lackqualität als nichtmaßliches, subjektives Prüfverfahren

a)

b)

Abb. 6.22 Messprotokoll einer Zahnflankenmessung mit Tastkopf (a) und Grenzlehre für ein Außenmaß d = 10 mm mit Toleranz h7 (b)

Das Prüfmittel wird nicht nur in Abhängigkeit der Aufgabenstellung – also vom Prüfungsgegenstand – sondern auch in Abhängigkeit weiterer Faktoren wie z. B. Prüfungsort, Umwelteinflüsse, Gesetze, Sicherheitsvorschriften oder Kosten festgelegt. Grundlegend können wie in Abbildung 6.20 skizziert zwei Arten des Prüfens unterschieden werden. Im Allgemeinen stellt eine Prüfung nach [78] eine Konformitätsbewertung durch Beobachten und Beurteilen, begleitet – soweit zutreffend – durch Messen, Testen oder Vergleichen dar. Es kann folglich zwischen nichtmaßlichem, subjektivem Prüfen und maßlichem, objektivem Prüfen unterschieden werden. Nichtmaßliches, subjektives Prüfen ist i.d.R. nur qualitativ möglich und erfolgt zum Beispiel durch Riechen oder Schmecken. Abbildung 6.21 zeigt ein Beispiel für eine Sichtprüfung. Ein Prüfschritt, bei dem die moderne Messtechnik noch nicht an die Zuverlässigkeit eines geübten Beurteilers herankommt, da der subjektive Eindruck der Qualität der Lackierung und der aufgesetzten Zierelemente für die Qualitätswahrnehmung der Kunden als maßgebliche Größe nicht von einer Kamera erfasst werden kann. Maßliches bzw. objektives Prüfen ist sowohl qualitativ als auch quantitativ möglich, beim quantitativen Prüfen wird meist vom Messen gesprochen, dies ist beispielsweise in der Automobilindustrie sehr häufig anzutreffen. Abbildung 6.22.a zeigt ein typisches Messergebnis einer Flan-

6.3 Qualitätskontrolle in der Praxis

225

Abb. 6.23 Übersicht möglicher Einflüsse auf die Unsicherheit von Messergebnissen im ISHIKAWA -Diagramm (Nach [165])

kenmessung einer Zahnflanke, die Flanke wird geometrisch mit einem Tastkopf im Detail vermessen und beurteilt. Die qualitative Prüfung mit Prüflehren und Lehrdornen hingegen ist ohne Messen einfach und prozesssicher möglich. Bei der Grenzlehrenmessung mit einer Lehre wie in Abbildung 6.22.b muss die GutSeite, welche mit dem Höchstmaß ausgeführt ist, das zu prüfende Außenmaß umschließen. Die Schlecht-Seite mit dem Mindestmaß muss kleiner sein als das zu prüfende Maß, das Außenmaß kann nicht zwischen den Prüfschneiden aufgenommen werden. Höchs- und Mindestmaß ergeben sich direkt aus der zu prüfenden Toleranz als Prüfmerkmal. Für das Qualitätsmanagement von Unternehmen ist es als Entscheidungsgrundlage bzw. für das weitere Vorgehen wichtig, die Merkmale und Eigenschaften des Produktes zu kennen und überprüfen zu können, inwiefern die Anforderungen erfüllt werden, vgl. Abschnitt 3.3.3 und besonders Tabelle 3.3. Daher spielen die im Rahmen der Qualitätskontrolle durchgeführten Messungen eine besondere Rolle. Grundsätzlich können Messverfahren ebenfalls unterschieden werden in: • • • •

direkt/indirekt, analog/digital, zeitkontinuierlich/zeitdiskontinuierlich, Ausschlagsverfahren/Kompensationsverfahren (Nullverfahren).

226

6 Produktqualität sicherstellen

Einflussgrößen auf das Messergebnis bei der Messung können im sogenannten ISHIKAWA-Diagramm16 , das auch als Fischgräten-Diagramm bezeichnet wird, abgebildet werden, vgl. Abbildung 6.23. Nachdem die Einflussbereiche mit Hilfe der sogenannten 8M-Methode festgelegt bzw. identifiziert wurden, können diese detaillierter ausgestaltet werden. Die 8M-Methode stellt die folgenden acht hauptsächlichen Problemursachen dar: Mensch, Maschine, Material, Methode, Mitwelt17 , Management, Messbarkeit sowie Money18 . Die acht Ursachen können an das jeweilige Problem angepasst werden. Abbildung 6.23 zeigt, dass das Messergebnis von diversen unterschiedlichen Größen bzw. Faktoren beeinflusst wird, so zum Beispiel generell durch den Menschen oder die Umwelt. Beide dieser Einflussbereiche wurden weiter detailliert, sodass ersichtlich wird, dass die Qualität des Messergebnisses beispielsweise von der Temperatur und der Luftfeuchtigkeit in der Umgebung abhängig ist. Das nach seinem Erfinder, dem Japaner KAORU ISHIKAWA, benannte UrsacheWirkungs-Diagramm in Abbildung 6.23 ist ein Werkzeug zur Visualisierung des Zusammenhangs von primären Ursachen bzw. Einflüssen eines Problems oder einer Wirkung. Die Erstellung des ISHIKAWA-Diagramms ermöglicht die Analyse komplexer Probleme mit vielen zusammenhängenden Ursachen, vgl. [152]. Daher ist das Diagramm nicht nur geeignet, um Einflussgrößen auf das Messergebnis darzustellen, sondern ein vielseitig einsetzbares Werkzeug. Unter anderem kann das Ursache-Wirkungs-Diagramm zur systematischen und vollständigen Ermittlung von Problemursachen oder zur Analyse und Strukturierung von Prozessen eingesetzt werden und wenn die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge komplexer Strukturen zu visualisieren sind.

6.3.2 Prozess der kontinuierlichen Verbesserung Der kontinuierliche Verbesserungsprozess, im Deutschen abgekürzt als KVP und im Englischen als Continuos Improvement Process (CIP) bezeichnet, ist eine Denkweise, welche mit stetigen Verbesserungen in kleinen Schritten die Wettbewerbsfähigkeit von Organisationen stärken will. Der KVP bezieht sich dabei auf die Produkt-, die Prozess- und die Servicequalität und wird im Rahmen von Teamarbeit durch fortwährende kleine Verbesserungsschritte umgesetzt und unterscheidet sich so von Innovationen in Form großer, einschneidender Neuerungen oder Änderungen. Der Prozess der kontinuierlichen Verbesserung ist ein Grundprinzip des Qualitätsmanagements und fester Bestandteil der Normenfamilie ISO 9001, [89]. 16

Benannt nach KAORU ISHIKAWA (geboren 1915 in Tokio; gestorben am 16. April 1989 ebenda) einem Chemiker und Entwickler zahlreicher Qualitätswerkzeuge, der als Vater der japanischen Qualitätskontrolle gilt. 17 Synonym zu Umwelt 18 Stellvertretend für Geld

6.3 Qualitätskontrolle in der Praxis

227

Abb. 6.24 Der PDCA-Zyklus: Plan-Do-Check-Act

Der kontinuierliche Verbesserungsprozess ist mit dem japanischen Kaizen vergleichbar und wird in der Regel synonym verwendet. Die Ursprünge des Kaizen wurden im Rahmen der Qualitätsbewegungen in den 1950er Jahren von dem Amerikaner W. E. DEMING19 in Japan entwickelt, charakteristisch ist der PDCAZyklus, vgl. Abbildung 6.24. Vor allem Toyota lebte diese Philosophie sehr ausgeprägt und erfolgreich vor, der KVP hat bei Toyota Workshop-Charakter und wird von internen oder externen Moderatoren geleitet. In vielen Fällen reicht es aber auch, den im Folgenden beschriebene PDCA-Zyklus kontinuierlich zu durchlaufen. Voraussetzung für den Erfolg des KVP ist der Wille der Unternehmensführung, Ergebnisse aus dem KVP unmittelbar umzusetzen, sowie die KVP-Teams selbst zur direkten Umsetzung ihrer Ideen zu ermächtigen und dazu die notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Ausbleibende oder schleppende Umsetzung lässt die Motivation der Mitarbeiter zur aktiven Mitarbeit bei der Umsetzung von KVP-Maßnahmen rasch sinken. Falls eine Umsetzung in Einzelfällen nicht möglich ist, muss dies den Mitarbeitern nachvollziehbar begründet werden. Notwendig ist auch eine Unternehmenskultur, in welcher die Ideen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Teamarbeit ausdrücklich erwünscht sind und gefördert werden. Die einzelnen Schritte des KVP können den vier Phasen des PDCA-Zyklus – PlanDo-Check-Act – zugeordnet werden, vgl. Abbildung 6.24: • Plan: Die Verbesserungsmaßnahme muss vor der eigentlichen Umsetzung sorgfältig geplant werden. Das Planen umfasst dabei das Erkennen von Verbesserungspotentialen durch die beteiligten Personen, die Analyse des aktuellen Zustands sowie das Entwickeln eines neuen Konzeptes unter Einbeziehung der Betroffenen. • Do: Die Verbesserungsmaßnahme wird getestet und das Konzept mit einfachen, schnell realisierbaren Mitteln optimiert, dabei können beispielsweise 19

William Edwards Deming, geb. 14. Oktober 1900 in Sioux City, Iowa, gest. 20. Dezember 1993 in Washington, D.C. war ein US-amerikanischer Physiker, Statistiker und Pionier im Bereich des Qualitätsmanagements.

228

6 Produktqualität sicherstellen

provisorische Vorrichtungen an einem einzelnen Arbeitsplatz unter Einbindung der Betroffenen genutzt werden. Das Do bedeutet noch nicht die Einführung und Umsetzung auf breiter Front, sondern zunächst das Ausprobieren der Maßnahme. • Check: Der im Kleinen prototypisch realisierte und optimierte Prozessablauf und seine Resultate werden sorgfältig überprüft (Check) und bei Erfolg für die Umsetzung im allgemeinen Fall freigegeben. • Act: In der letzten Phase wird die neue allgemeine Vorgabe auf breiter Front eingeführt, festgeschrieben und regelmäßig innerhalb spezieller Audits auf Einhaltung und Wirksamkeit überprüft. Im Einzelfall kann die umfassende Umsetzung von Maßnahmen umfangreiche organisatorische Aktivitäten wie beispielsweise Änderung von Arbeitsplänen, NC-Programmen, Stammdaten, die Durchführung von Schulungen, Anpassung von Aufbau- und Ablauforganisation sowie erhebliche Investitionen an allen betroffenen Arbeitsplätzen umfassen. Die weitere Verbesserung des somit erreichten Standards beginnt wiederum mit der Phase Plan. Eine Organisation, welche ein Qualitäts-Zertifikat nach EN ISO 9001 erhalten will, vgl. Abschnitt 6.4, muss unter anderem erklären, welche organisatorischen Maßnahmen sie festgelegt hat, damit kontinuierliche Verbesserung gezielt und regelmäßig stattfindet. Die Durchführung dieser Maßnahmen und die Ergebnisse werden regelmäßig überwacht und dokumentiert. Darüber hinaus hat die Organisation nachzuweisen, wie sie bei festgestellten Mängeln dafür sorgt, dass sich diese nicht wiederholen. KVP ist ausdrücklicher obligatorischer Bestandteil im normgerechten Qualitätsmanagement für alle Unternehmensbereiche (Vertrieb, Auftragsabwicklung, Einkauf, Entwicklung etc.) und betrifft insbesondere das Managementsystem selbst. Der Prozess der kontinuierlichen Verbesserung fördert und fordert Flexibilität als wichtiges Qualitätsmerkmal, um sich den verändernden Märkten anpassen und auf diesen bestehen zu können.

6.4 Rechtliche Rahmenbedingungen In Literatur und Praxis sind unterschiedliche Ansätze zu finden, die bei der Planung und Sicherstellung der Produkt- und Prozessqualität im Produktentstehungsprozess einsetzbar sind. Unmittelbar oder mittelbar kann der Großteil aller Normen mit dem Thema Qualität in Verbindung gebracht werden, wesentliche Normen für das Qualitätsmanagement bzw. Qualitätsmanagementsysteme stellen die Normen der ISO-9000-Familie dar. Eine Normung ist wichtig, da über die resultierenden Dokumente eine Verständigungsgrundlage geschaffen wird, welche über sämtliche Branchen und Fachgebiete hinweg ihre Gültigkeit hat. Ferner ermöglicht diese gemeinsame Verständigungsgrundlage die Beschreibung und Festlegung universell anwendbarer Ein-

6.4 Rechtliche Rahmenbedingungen

229

Abb. 6.25 Kernnormen der ISO-9000-Familie

heiten und Vorgänge wie Produkte, Prozesse, Systeme aber auch wichtiger Zukaufteile wie Betriebsstoffe oder Maschinenelemente. Ein einheitliches Begriffsverständnis erleichtert zudem die Kommunikation nicht nur innerhalb des Unternehmens, sondern auch den Austausch mit Kunden, Lieferanten und Partnern aber auch mit Wettbewerbern, vgl. [129]. Im Folgenden werden die wesentlichen Normen der ISO-9000-Familie sowie beispielhaft weiterführende Normen der Automobilindustrie vorgestellt und kurz erläutert. Dieser Abschnitt hat kein Anrecht auf Vollständigkeit, sondern gibt lediglich einen groben Überblick.

6.4.1 DIN EN ISO 9000-Familie Die ISO-9000-Familie bildet das Fundament des Qualitätsmanagements sowie von Qualitätsmanagementsystemen der europäischen Industrie. Grundlegend besteht die ISO-9000-Familie aus vier Kernnormen, vgl. Abbildung 6.25, sowie den Normen der 10000er-Reihe. Im Folgenden wird jedoch lediglich auf die ISO 9000 ff. eingegangen. Die Erstausgaben der ISO-9000-Familie sind im Jahr 1987 erschienen und wurden seither ständig überarbeitet, erweitert und verbessert, vgl. [129], und so an die internationale, branchenübergreifende Verwendung angepasst, vgl. [152]. Die Grundlagen und Konzepte sowie die erforderlichen Begriffe zum Qualitätsmanagement sind in der DIN EN ISO 9000 beschrieben, [78]. In der DIN 55350 sind weitere Begriffe zu Qualitätsmerkmalen sowie zu der Qualitätssicherung und Statistik zu finden, vgl. Tabelle 6.8 und [87]. Auch die zuvor im Kontext von Abbildung 6.7 beschriebenen acht Grundsätze eines umfassenden Qualitätsmanagements sind in der ISO 9000 enthalten. Die ISO 9001 und die ISO 9002 enthalten Anforderungen an ein Qualitätsmanagementsystem, [78, 89], die gewährleisten sollen, dass das Unternehmen konti-

230

6 Produktqualität sicherstellen

nuierlich die Qualität der Produkte sicherstellen kann und somit die Kundenanforderungen sowie die entsprechenden gesetzlichen und behördlichen Auflagen erfüllt, vgl. auch [152] sowie die die in diesem Abschnitt zitierten Normen. Ebenfalls werden in den Normen Qualitätsanforderungen an die Dokumentation der Zuverlässigkeit aufgeführt. So kann die Dokumentation beispielsweise in Form von internen Audits (Eigenkontrolle), von vertraglich festgelegten Kunden- bzw. Lieferantenaudits oder in Form von Zertifizierungsverfahren, d. h. Audits durch Dritte, erfolgen. Die ISO 9001 konzentriert sich dabei insbesondere auf die Kundenforderungen. Eine Möglichkeit um die in der DIN EN ISO 9001 geforderte Kundenorientierung praktisch umzusetzen besteht darin, erfasste Fehler hinsichtlich ihrer Kundenrelevanz zu bewerten, vgl. [89]. Dabei wird die relative Höhe der Auswirkungen auf den Kunden und die Wahrscheinlichkeit der Wahrnehmung bzw. der Entdeckung bewertet, vgl. [148]. Die Argumentation zur Ermittlung dieser Faktoren orientiert sich dabei gedanklich an der FMEA, vgl. Abschnitt 6.2.4. Die ISO 9004 [91] hingegen bietet einen Leitfaden zum Aufbau und zur Verbesserung von QM-Systemen. Hierbei wird insbesondere auf die Erwartungen des Unternehmens und der beteiligten Personen eingegangen, wie beispielsweise Eigentümer, Mitarbeiter, Lieferanten, etc. Auch die Sicht der Kunden wird berücksichtigt, jedoch nicht so fokussiert behandelt wie in der ISO 9001, vgl. auch [152]. Die ISO 9004 basiert auf der Annahme, dass der Erfolg eines Unternehmens durch seine Fähigkeit erreicht wird, die Erwartungen ihrer Kunden und sonstiger interessierter Parteien langfristig und in entsprechender Weise zu erfüllen, vgl. [152]. Neben dem Management von Prozessen und Ressourcen wird auch auf die Strategie bzw. Politik des Unternehmens eingegangen, um einen nachhaltigen Erfolg zu generieren. Auch Instrumente zur Selbstüberwachung und -bewertung finden sich in der ISO 9004 wie beispielsweise die Bewertung mit Hilfe des Reifegradmodells. Dieses Modell nutzt fünf Reifegrade, die jedoch auch um zusätzliche Grade erweitert oder nach Bedarf an das Unternehmen angepasst werden können. Es ist ein allgemeines Vorgehen beschrieben, jedoch keine konkreten Leistungskennzahlen. Generell sollte ein Unternehmen hinsichtlich seiner Prozesse, Ressourcen sowie allgemeinen Mission bzw. Vision bewertet werden, vgl. [91]. Eine Selbstbewertung kann dazu genutzt werden, um Verbesserungs- und Innovationsmöglichkeiten zu identifizieren, Prioritäten zu setzen und Maßnah-

Tabelle 6.8 Auswahl weiterer Normen zu Begriffen des Qualitätsmanagements Norm

Titel der Norm

DIN 55350-11 Begriffe zum Qualitätsmanagement; Ergänzungen zu DIN EN ISO 9000 DIN 55350-15 Begriffe der Qualitätssicherung und Statistik; Begriffe zu Mustern DIN 55350-17 Begriffe der Qualitätssicherung und Statistik; Begriffe der Qualitätsprüfungsarten DIN 55350-18 Begriffe der Qualitätssicherung und Statistik; Begriffe zu Bescheinigungen über die Ergebnisse von Qualitätsprüfungen; Qualitätsprüf-Zertifikate

6.4 Rechtliche Rahmenbedingungen

231

men zur Erreichung eines nachhaltigen Erfolgs festzulegen. Eine Selbstbewertung kann Stärken und Schwächen oder den Reifegrad des Unternehmens sowie bei wiederholter Durchführung dessen Fortschritt belegen. Die DIN EN ISO 19011, vgl. [90], stellt im Zusammenhang mit der ISO-9000Familie20 eine besondere Kernnorm dar, da sie einen Leitfaden für die Überprüfung sowohl von Qualitäts- als auch von Umweltmanagementsystemen in den Unternehmen bereitstellt. Da Produkte sowie Unternehmensprozesse oder Unternehmensstrukturen sehr verschieden und jeweils einzigartig sind, bilden die Normen für die Qualitätsmanagementsysteme nach [152] lediglich die Mindestbestandteile bzw. die mindestens zu erfüllenden Anforderungen ab. Zusätzlich zu den allgemeingeltenden Normen gibt es daher eine Reihe branchenspezifischer Regelungen, die weit über die ISO-9000-Familie hinausgehen. Diese branchenspezifischen Regelungen präzisieren oder ergänzen die Anforderungen der ISO-9000-Familie und bilden teilweise eigenständige Anforderungskataloge. Insbesondere für Branchen, die Produkte bzw. Dienstleistungen anbieten, an welche hohe Sicherheitsanforderungen gestellt werden, wie beispielsweise die Automobil- oder die Luft- und Raumfahrtindustrie, wurden mit der Zeit zusätzliche Regelungen entwickelt, vgl. [152].

6.4.2 Branchenspezifische Regelwerke Insbesondere die Qualitätsmanagementsysteme der Automobilindustrie müssen aufgrund der engen Verbindung von Herstellern und Lieferanten hohe Anforderungen erfüllen. Die Qualitätsforderungen in der Automobilindustrie sind besonders hoch, weil Fehlbedienungen der Produkte katastrophale Folgen haben können und die Ausbildung zum Fahrzeugführer verglichen mit der Luftfahrt nahezu keine Hürde darstellt. Hier reichen die branchenneutralen Anforderungen der ISO-9000-Familie nicht aus, sodass eigene branchenspezifische Regelwerke geschaffen wurden, wie beispielsweise die IATF 16494, vgl. [152, 123], herausgegeben von der International Automotive Task Force (IATF). Die IATF 16949 Anforderungen an Qualitätsmanagementsysteme für die Serienund Ersatzteilproduktion in der Automobilindustrie ist an der ISO 9001 ausgerichtet und ist als Ergänzung, nicht jedoch als eigenständiges Dokument zu verstehen. Ebenso werden in der IATF 16949 ergänzende Begriffe zu der ISO 9001 definiert und beschrieben, vgl. [89]. Als Vorgänger-Dokument ist die ISO/TS 16949 zu betrachten, welches grundlegend produzierende Unternehmen der Automobilindustrie adressiert und zum Ziel hat, eine höhere Qualität der Produkte sowie eine daraus resultierende Erhöhung der Kundenzufriedenheit zu erreichen, vgl. [43]. Seit Oktober 2017 ist eine Erstzertifizierung nach der ISO/TS 16949 je20

Trotz der abweichenden Nummer der Norm DIN EN ISO 19011 gehört diese zur ISO-9000Familie.

232

6 Produktqualität sicherstellen

doch nicht mehr möglich, seitdem müssen alle Audits gemäß der IATF 16949 erfolgen. Seit Mitte September 2018 haben dann alle ISO/TS 16949-Zertifikate endgültig ihre Gültigkeit verloren und die Umstellung auf die IATF 16949 wurde abgeschlossen. Die IATF 16949 stellt eine technische Spezifikation sowie ein Regelwerk zur Zertifizierungsvorgabe dar, wodurch sowohl die globale Verwendung und als auch in direkter Folge die weltweite Akzeptanz deutlich gestiegen sind. Nach [152] steigt damit auch die Kundenzufriedenheit; die vereinheitlichte Grundlage des Zertifizierungsprozesses hat zum Ziel, Mehrfachzertifizierungen zu vermeiden und so indirekt die Effizienz der Produktentwicklung zu steigern. Grundlegendes Ziel der Automobilindustrie mit der IATF ist die Unterstützung der Implementierung von Qualitätsmanagementsystemen, die zu einer Verbesserung der Produktion führen, insbesondere aufgrund der Berücksichtigung von Fehlervermeidung und Verminderung von Verschwendungen oder Streuung der Serien- und Ersatzteilproduktion. Die Umsetzung der Anforderungen der IATF 16949 wird nicht nur einmalig, sondern als kontinuierlicher Verbesserungsprozess gefordert, vgl. Abschnitt 6.3.2 und [152], was auch eine regelmäßige erneute Auditierung der Organisationseinheiten erforderlich macht.

Kapitel 7 Sichere Produkte entwickeln

Die Entwicklung sicherer Produkte hat trotz des häufig unscharfen Verständnisses von “sicher” eine enorme Bedeutung, denn es müssen alle Lebenslaufphasen eines Produkts gleichermaßen unter dem Aspekt der Sicherheit betrachtet werden. Aufbauend auf der Grundregel Sicher gibt es zahlreiche Gestaltungsprinzipien, welche bei der Entwicklung sicherer Produkte hilfreich sein können. Dieses Kapitel soll das notwendige Bewusstsein schaffen für Sicherheit, Gefahr, Risiko und Schaden sowie in das Themengebiet der funktionalen Sicherheit einführen, welche bei der Entwicklung mechatronischer Produkte zu beachten ist. In diesem Kapitel werden die folgenden Lernziele angestrebt, die alle eng mit den in Abbildung 7.1 gezeigten Begriffen zusammenhängen.

Lernziele des 7. Kapitels: • Sie kennen die Begriffe Sicherheit, Risiko, Grenzrisiko, Zuverlässigkeit und Schaden. Weiterhin können Sie diese voneinander abgrenzen. • Sie können die Grundregel Sicher und ihre Wirkung auf den Produktlebenslauf erläutern. • Sie wissen in welchen Phasen der Produktentwicklung eine Sicherheitsbetrachtung stattfinden soll und können die wichtigsten Schritte benennen. • Sie kennen die drei Prinzipien der Sicherheitstechnik, die damit verbundenen Voraussetzungen und können deren Umsetzung beschreiben. • Sie wissen um die Rangordnung der Prinzipien im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit der Vermeidung von Gefahren und Schäden und können für einen konkreten Fall ein geeignetes Prinzip angeben. • Sie können für jedes Sicherheitsprinzip Beispiele nennen und die Prinzipien für einfache Aufgaben anwenden. • Sie können den Begriff der funktionalen Sicherheit erläutern, Beispiele nennen und Besonderheiten aufzeigen. 2

Auf die vielen Normen, die im Zusammenhang mit der Entwicklung sicherer Produkte zu beachten sind, kann nicht im Detail eingegangen werden, stellvertretend wird auf das Grundlagenbuch von NEUDÖRFER verwiesen, vgl. [164].

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Kirchner, Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61762-5_7

233

234

7 Sichere Produkte entwickeln

Abb. 7.1 Zentrale Begriffe im Kontext der Entwicklung sicherer Produkte

7.1 Motivation und Grundbegriffe der Sicherheitstechnik Bei der Auslegung technischer Produkte wird i.d.R. ein Festigkeitsnachweis für kritische Bauteile, z. B. Wellen, geführt. Dabei wird in der Festigkeitsbedingung die errechnete Ist-Sicherheit S mit der geforderten Mindestsicherheit Smin verglichen, die entsprechenden Begriffe werden gewöhnlich im Rahmen der Festigkeitsberechnung eingeführt. Der Begriff Sicherheit beschreibt an dieser Stelle einen Wert, welcher durch den Vergleich von zulässiger Bauteilbeanspruchbarkeit und wirkender Bauteilbeanspruchung errechnet wird. Die Mindestsicherheit legt dabei fest, um welchen Betrag die Beanspruchbarkeit über der wirkenden Beanspruchung liegen muss. Sie wird durch Prüfung der Folgen eines Bauteilversagens und die während der Berechnung getroffenen Annahmen ausgewählt und liegt je nach Fall im Bereich von 1,2 bis 4. In Tabelle 7.11 sowie [138] sind für die Kombination von verschiedenen Schadensereignissen und deren Konsequenzen bei Bauteilversagen Richtwerte für die Mindestsicherheiten aufgeführt. Für den Ingenieur gilt dabei, dass die geforderte Mindestsicherheit so niedrig wie möglich gewählt werden sollte, um wettbewerbsfähige Produkte produzieren und anbieten zu können, denn eine zu hohe Mindestsicherheit führt unter Umständen zu unnötigen Bauteilreserven. Wird die Mindestsicherheit allerdings zu niedrig gewählt, können je nach Anwendungsfall mögliche Schäden teils erhebliche wirtschaftliche, soziale und rechtliche Konsequenzen mit sich bringen, die Forderung nach Sicherheit hat also ethische und rechtliche Gründe, vgl. [164]. Die notwendige Sicherheit eines Produkts oder eines Arbeitsplatzes ergibt sich aus den öffentlichen Anforderungen, also Gesetzen und Verordnungen. Damit gehen diese bereits sehr früh in den Produktentwicklungsprozess ein und werden phasenübergreifend bearbeitet, d. h. es muss von Anfang an feststehen, welche gesetzlichen Anforderungen z. B. an die Betriebssicherheit gestellt werden. Die Anforderungen sind landesspezifisch, nationale Marktaufsichtsbehörden können vor unsicheren Produkten 1

Die Indizierung in Tabelle 7.1 orientiert sich an [138].

7.1 Motivation und Grundbegriffe der Sicherheitstechnik

235

Abb. 7.2 Siebträger einer Espressomaschine als potentielles Sicherheitsrisiko

warnen, einen Rückruf anordnen oder die Einfuhr verhindern, wenn z. B. giftige Stoffe oder Schwermetalle in Produkten nachgewiesen werden, vgl. [164]. In der Lebensmittelindustrie gibt es immer wieder Meldungen zu Produktverunreinigungen und entsprechenden Rückrufen, [24, 25]. Die Spannweite der Vorfälle reicht von zu hohen Keimbelastungen in Milchprodukten bis zu Metallteilen im Endprodukt, vgl. [46]. Ursachen dafür können z. B. in der Konstruktion der Fertigungsmaschinen liegen. Durch ungeeignete Materialauswahl oder zu hohe Beanspruchung kann es zur Abrasion unterschiedlicher Werkstoffe kommen, Partikel gelangen in das Lebensmittel. Als Beispiel ist in Abbildung 7.2 der Siebträger einer Espressomaschine aus dem Gastronomiebereich dargestellt, welcher entsprechend gestaltet und gefertigt werden muss, dass metallischer Abrieb entweder gar nicht erst entsteht oder nicht in das Lebensmittel gelangen kann.

7.1.1 Sicher – Eine Grundregel der Gestaltung Die Grundregel der Gestaltung Sicher zielt, wie in [137] für die beiden anderen Grundregeln Eindeutig und Einfach gezeigt, nicht nur auf die Nutzungsphase im Produktlebenslauf sondern auf alle in Abbildung 3.13 gezeigten Phasen glei-

Tabelle 7.1 Richtwerte für die Wahl der Mindestsicherheit (Nach [138]) Schadensereignis Unzulässige Verformung

Konsequenz des Bauteilversagens

Beeinträchtigung des Nutzers ohne Gefahr für Leib und Leben ohne Verletzung von Normen, Gesetzen oder Vorschriften Gefahr für Leib und Leben oder Verletzung von Gesetzen oder Normen Dauerbruch Beeinträchtigung des Nutzers ohne Gefahr für Leib und Leben ohne Verletzung von Normen, Gesetzen oder Vorschriften Gefahr für Leib und Leben oder Verletzung von Gesetzen oder Normen Gewaltbruch Entsprechend der Konsequenzen und der Wahrscheinlichkeit eines vorsätzlich oder fahrlässig verursachten Gewaltbruchs

Mindestsicherheit Smin,F = 1,2...1,5 Smin,F = 1,6...2,0 Smin,D = 1,5...2,2 Smin,D = 2,3...3,0 Smin,B = 2,0...4,0

236

a)

7 Sichere Produkte entwickeln

b)

Abb. 7.3 Gestaltung einer Befestigung eines Injektors in einer Rohrleitung nach der Grundregel Sicher: a) Unsichere Gestaltung, b) Varianten sicherer Gestaltung (Aus [170])

chermaßen ab. Dieser Abschnitt zur Grundregel Sicher soll im Vorgriff auf die weitere Diskussion in diesem Kapitel die Querbezüge zwischen der Grundregel und deren Anwendung auf die verschiedenen Produktlebenslaufphasen aufzeigen. Dabei wird in Erweiterung von [137] der Bezug zu verschiedenen Aspekten der Grundregel hergestellt. Der Übergang von der Grundregel zu konkreteren aber weniger allgemeingültigen Gestaltungsprinzipien ist hier anders als bei den anderen Grundregeln Einfach und Eindeutig fließend, vgl. Abbildung 5.55.

7.1.1.1 Konstruktive Aspekte der Sicherheit Abbildung 7.3 zeigt in der typischen Form des Gut-Schlecht-Beispiels sichere und unsichere konstruktive Gestaltungsformen eines Injektors. Löst sich beispielsweise infolge strömungsinduzierter Vibrationen die Schraubenverbindung im linken Bild, so kann die abwärtsgerichtete Strömung den Injektor mitreißen. Dieser Fehler wird von den rechts gezeigten Varianten durch den zusätzlichen Formschluss verhindert. Es ist offensichtlich, dass durch eine geschickte Gestaltung die Auswirkung eines Fehlers – im Fall von Abbildung 7.3 der Schraubenverbindung – ein Schaden auf Systemebene vermieden werden kann. Durch die Notwendigkeit einer sicheren Gestaltung über alle Branchen hinweg werden in der Literatur auch einige deutliche konkretere Gestaltungsprinzipien zur Erklärung der Grundegel Sicher herangezogen, vgl. z. B. [170]. Mit direkt konstruktivem bzw. gestalterischem Bezug sind in diesem Zusammenhang die Prinzipien der unmittelbaren, der mittelbaren und der hinweisenden Sicherheitstechnik zu nennen, die in Abschnitt 7.2 besprochen werden. Die unmittelbare Sicherheitstechnik umfasst auch das mit Blick auf die funktionale Sicherheit wichtige Prinzip der Redundanz. Aus der aktuellen Forschung lässt sich zudem

7.1 Motivation und Grundbegriffe der Sicherheitstechnik

237

Abb. 7.4 Zusammenhänge zwischen Bauteil- und Funktionszuverlässigkeit einerseits und Betriebs-, Arbeits- und Umweltsicherheit (Aus [170]

das Gebiet des Robust Design, vgl. [61, 95, 232], der Grundregel Sicher insofern zuordnen, als dass ein robustes System auch bei Wirkung von Störgrößen seine Funktion im Rahmen zulässiger Schwankungen erfüllt. Weißt ein System zusätzlich die Fähigkeit zur Erholung nach einer Störung auf, so wird diese Eigenschaft als Resilienz bezeichnet, [128, 202, 203].

7.1.1.2 Die Grundregel Sicher in der Auslegung Im Bereich der Auslegung schlägt sich die Grundregel Sicher in der Form sinnvoll gewählter Mindestsicherheiten nieder, d. h. die Vorgaben für Smin nach Tabelle 7.1 sind entsprechend den Folgen eines möglichen Bauteilversagens gewählt und führen noch nicht zu übermäßig schweren und teuren Konstruktionen. Eine sichere Auslegung umfasst aber mehr als nur eine korrekt gewählte Mindestsicherheit. So wird im Zusammenhang mit Abbildung 6.14 anhand des Fehlerbaums einer Pressverbindung deutlich, dass auch die Gültigkeit des Auslegungsmodells und die Berücksichtigung z. B. der korrekten Einheiten direkten Einfluss auf das Auslegungsergebnis und die resultierende Sicherheit hat.

7.1.1.3 Die Grundregel Sicher im Produktlebenslauf Analysiert man die Produktlebenslaufphasen in Abbildung 3.13 so wird deutlich, dass die Anforderungen an eine sichere Fertigung und Montage meist schon durch die beiden Grundregeln Eindeutig und Einfach abgedeckt sind. In der vor-

238

7 Sichere Produkte entwickeln

ausgegangenen Rohstoffgewinnung impliziert die Grundregel Sicher die Arbeitssicherheit der beteiligten Menschen sowie die Umweltsicherheit bei sicherer Erfüllung beispielsweise der chemischen Vorgaben für den Werkstoff nach DINoder Werksnormen, vgl. Abbildung 7.4. In der Nutzungsphase des Produkts werden zur Umsetzung der Grundregel Sicher unter anderem die Gestaltungsprinzipien des Sicheren Bestehens bzw. des Begrenzten Versagens herangezogen vgl. Abschnitt 7.2.1. Die letzte Phase des Produktlebenslauf Recycling wird mit Blick auf das Material wieder größtenteils durch die Grundregeln Eindeutig und Einfach abgedeckt, die Ziele der Grundregeln überlappen sich. Die Sicherheit der am Recyclingprozess beteiligten Menschen wird durch die Fragen der Arbeitssicherheit abgedeckt, vgl. Abbildung 7.4.

7.1.2 Sicherheit als Grundbedürfnis Ein Unternehmen kann nur dann wirtschaftlich über einen längeren Zeitraum bestehen, wenn es sichere Produkte herstellt [170, S. 328]. Ein verbindlicher, rechtlicher Rahmen ist für die Entwicklung und den Einsatz von Produkten verschiedenster Art erforderlich. Prinzipiell schreibt die Gesetzgebung selbst keine Anforderungen an Produkte vor, sondern legt vielmehr Schutzziele fest, welche in Gesetzen und Verordnungen niedergeschrieben sind. Die Schutzziele müssen mindestens erfüllt oder übertroffen werden und unterliegen einem zeitlichen Wandel. Mit Hilfe von Generalklauseln, welche den Stand der Technik umreißen, sowie technischen Regelwerken werden die Schutzziele festgehalten. Zu den technischen Regelwerken zählen Normen, wobei diese eine Form der Konsensbildung von Fachleuten eines Normgremiums darstellen. Normen gehören dem Privatrecht an und werden oft als Anhaltspunkt verwendet. Sie genießen aber keine besondere rechtliche Stellung, vgl. [164] Die Schutzziele können zwischen verschiedenen Ländern variieren. Um über Ländergrenzen hinweg den Handel mit Produkten zu erleichtern, wurde unter anderem die Maschinenrichtlinie 2006/42/EG durch einen Gesetzgebungsauftrag an die europäischen Mitgliedsstaaten verabschiedet. Hintergrund und Auslöser der Gesetzgebung war, mit einheitlichen Vorgaben die nötige Rechtssicherheit für die Hersteller zu schaffen und den Handel zwischen den Mitgliedsstaaten zu erleichtern. Die Maschinenrichtlinie besteht aus einem verfügenden Teil mit 29 Artikeln, in dem die Übereinstimmung des Produkts mit der Richtlinie dokumentiert sein muss. Der zweite Teil besteht aus zwölf Anhängen, welche die technischen Details regeln. Besonders Anhang I legt ausführlich die zwingenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen fest2 . An dieser Stelle sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dieses Kapitel lediglich einen Einblick zu den gesetzlichen Regelungen geben kann, welche bei der Auslegung in Betracht kommen und die zusätzlichen Anforderungen im Entwick2

Es sei insbesondere auf die Einführung in die Thematik bei [164, S. 17-18] verwiesen.

7.1 Motivation und Grundbegriffe der Sicherheitstechnik

239

lungsprozess darstellen. Dabei handelt es sich keinesfalls um eine vollständige Betrachtung. Die Diskussion dient an dieser Stelle dem Aufzeigen von Bedeutung und Tragweite der Forderung nach Sicherheit.

7.1.3 Sicherheit und Risiko Unter Sicherheit wird ein Zustand mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bezüglich des Eintritts eines Schadens verstanden, vgl. Definition 18. Dabei ist diese Wahrscheinlichkeit gemessen an den potentiellen Konsequenzen gering genug, sodass diese für ein bestimmtes Produkt akzeptiert werden kann. Die Wahrscheinlichkeitsaussage selbst wird als Risiko bezeichnet wobei eine absolute Sicherheit nicht möglich ist. In der Regel führt – in Bezug zum ohnehin bestehenden natürlichen Risiko – ein industrieller Arbeitsplatz oder eine laufende Maschine zu einer höheren Wahrscheinlichkeit, dass ein unerwünschtes Ereignis mit zu erwartendem Schadensumfang eintritt als ein Arbeitsplatz in einer Büroumgebung oder an einer Telefonanlage. Im Vergleich liegt das Risiko, bei der Arbeit mit industriellen Maschinen in Deutschland tödlich verletzt zu werden, niedriger als das natürliche Risiko von Naturgewalten, vgl. [164]. Ab wann ein Zustand als sicher wahrgenommen bzw. bezeichnet wird, ist stark subjektiv geprägt und prinzipiell von einigen Randbedingungen abhängig. Trotz dieses Umstands soll die Sicherheit möglichst objektiv bewertet werden. Gesellschaftlich betrachtet gibt es ein akzeptiertes Risiko, welches als Grenzrisiko bezeichnet wird. Liegt das Risiko eines Produkts unterhalb des Grenzrisikos, wird es als sicheres Produkt akzeptiert. Dieses Verständnis spiegeln die folgenden Definitionen von Sicherheit, Risiko und Grenzrisiko in Anlehnung an [170] wider: Definition 19 Sicherheit Sicherheit ist eine Sachlage, bei der das Risiko kleiner als das Grenzrisiko ist. Definition 20 Risiko

3

Ein Risiko wird durch eine Häufigkeit (Wahrscheinlichkeit) und durch den zu erwartenden Schadensumfang (Tragweite) beschrieben. 3 Definition 21 Grenzrisiko

Grenzrisiko ist das größte noch vertretbare anlagenspezifische Risiko eines bestimmten technischen Vorgangs oder Zustands. 3

Das Grenzrisiko trennt die Bereiche, bei welchen entweder das Risiko eines Schadens akzeptiert wird (Bereich der Sicherheit) oder von der Tätigkeit beziehungsweise dem Aufenthaltsort Abstand genommen wird (Bereich der Gefahr). Der Schadensbegriff ist sehr weit gefasst und schließt, um Beispiele zu nennen, neben einem körperlichen Schaden eines Menschen auch wirtschaftliche Schäden als auch nicht quantifizierbare Verluste von Reputation oder Status Quo mit ein.

240

7 Sichere Produkte entwickeln

Abb. 7.5 Einteilung des Risikos in die Bereiche Sicherheit und Gefahr mit dem Grenzrisiko als Bewertungskriterium

Übersteigt das quantifizierbare Risiko der konstruktiven Lösung das Grenzrisiko, liegt die Lösung im Bereich der Gefahr. Unterschreitet das Risiko der konstruktiven Lösung das Grenzrisiko, liegt die Lösung im Bereich der Sicherheit. Abbildung 7.5 visualisiert dieses Verständnis, indem das ermittelte Risiko auf der Ordinate und verschiedene konstruktive Lösungen auf der Abszisse aufgetragen werden. Dunkelgrau ist das Risiko des Produkts ohne besondere Schutzvorkehrungen als Balken dargestellt. Das Risiko überschreitet das Grenzrisiko und das Produkt wird nicht akzeptiert. Nach den getroffenen Schutzmaßnahmen – in Abbildung 7.5 verschiedene Maßnahmen der Sicherheitstechnik, auf die im Folgenden näher eingegangen wird – ergibt sich das Risiko entsprechend der mittelund hellgrauen Balken, welche unterschiedlich weit unterhalb des Grenzrisikos liegen. Damit werden die Produkte als sicher akzeptiert und weisen einen unterschiedlich großen Abstand zum Grenzrisiko auf. Mit zunehmendem Fortschritt, z. B. durch die Nutzung eines Produkts oder durch Einführung eines Nachfolgeprodukts, verschiebt sich das Grenzrisiko zu niedrigeren Werten und das akzeptierte Risiko sinkt. Die absolute Sicherheit, wie es die Alltagssprache oft suggeriert, wird aber nicht erreicht, vgl. [164, S. 142]. Die beiden Fahrzeuge in Abbildung 7.6 sind gute Beispiele dafür, dass sich die Akzeptanz von Produkten sehr stark ändern kann. Zunächst war der Betrieb beider Fahrzeugtypen gleichermaßen schwierig, gleich ob aufgrund unzureichender Batteriekapazität oder mangelnder Verfügbarkeit des flüssigen Kraftstoffs. Insbesondere die verbrennungsmotorisch betriebenen Fahrzeuge stellten anfangs ein Sicherheitsrisiko dar. Infolge der raschen Weiterentwicklung der Fahrzeuge einerseits und einer Gewöhnung der Kunden an den Verbrennungsmotor und die

7.1 Motivation und Grundbegriffe der Sicherheitstechnik

a)

241

b)

Abb. 7.6 Unterschiedliche Fahrzeuggeschichten aufgrund unterschiedlicher Grenzrisiken: a) elektrisch angetriebener Lohner-Porsche aus dem Jahr 1900, b) verbrennungsmotorisch angetriebener Motorwagen von Berta Benz aus dem Jahr 1888

resultierende Absenkung des Grenzrisikos andererseits wurden insbesondere die verbrennungsmotorisch angetriebenen Fahrzeuge rasch nachgefragt. Aufgrund der schlechten Reichweite von Elektrofahrzeugen konnte sich der Verbrennungsantrieb mittelfristig durchsetzen. Ursprünglich wurde unter dem Begriff der Sicherheit die Unfallsicherheit verstanden, während heute der Begriff der Sicherheit deutlich weiter gefasst ist. Beim sicherheitsgerechten Konstruieren werden neben der Funktion auch Mensch und Umwelt betrachtet. Die Einflussfelder der Sicherheit werden durch die Abbildungen 7.4 und 7.7 verdeutlicht: die Forderung nach Sicherheit hat große Auswirkungen auf die genannten Bereiche, dessen man sich bei der Produktentwicklung bewusst sein muss, i.d.R. sind die drei Felder in Abbildung 7.7 nicht getrennt voneinander zu betrachten.

7.1.4 Zuverlässigkeitsbetrachtung Die Begriffe der Zuverlässigkeitsanforderung und der Zuverlässigkeit werden als notwendige Grundlage der Diskussion von Zuverlässigkeit wie folgt definiert: Definition 22 Zuverlässigkeitsanforderung Gesamtheit der betrachteten Einzelanforderungen an die Beschaffenheit einer Einheit, welche das Verhalten der Einheit während oder nach vorgegebenen Zeitspannen bei vorgegebenen Anwendungsbedingungen betreffen, und zwar in der betrachteten Konkretisierungsstufe der Einzelforderungen. [77] 3 Definition 23 Zuverlässigkeit

Beschaffenheit einer Einheit bezüglich ihrer Eignung, während oder nach gegebenen Zeitspannen bei vorgegebenen Anwendungsbedingungen die Zuverlässigkeitsforderung zu erfüllen. [77] 3

242

7 Sichere Produkte entwickeln

Abb. 7.7 Einflussfelder der Sicherheit eines Produkts

Sicherheit und Zuverlässigkeit nach den Definitionen 19 und 23 sind nicht unabhängig voneinander, denn nur wenn die Zuverlässigkeit eines technischen Systems gegeben ist, kann seine Sicherheit gewährleistet werden [170, S. 329]. Vergleicht man die Definitionen 22 und 23 der Begriffe Zuverlässigkeitsanforderung und Zuverlässigkeit mit der Definition der Zuverlässigkeit von BERTSCHE, [28], Zuverlässigkeit ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Produkt während einer definierten Zeitdauer unter gegebenen Funktions- und Umweltbedingungen nicht ausfällt. so wird klar, dass die Zuverlässigkeit in der Regel eine Überlebenswahrscheinlichkeit quantifiziert, während die Zuverlässigkeitsanforderung die betrachtete Lasthistorie beschreibt. Als Beispiel hierfür kann die dynamische Tragzahl eines Wälzlagers dienen. Die dynamische Tragzahl C beschreibt die Ersatzlast P, welche bei 1 Million Umdrehungen als Zuverlässigkeitsanforderung zu einer Ausfallwahrscheinlichkeit von 10 % bzw. eine Überlebenswahrscheinlichkeit von 90 % führt. Bei Dimensionierung nach der L10 −Gleichung  ‹p C (7.1) L10 = P wird also eine Zuverlässigkeit von 90 % im Sinne der Definition von BERTSCHE angenommen. Ist eine höhere Zuverlässigkeit gewünscht, so kann der Korrekturbeiwert a1 nach Tabelle 7.2 benutzt werden, um die Zuverlässigkeitsanforderung zu korrigieren, es gibt dann, vgl. [88, 138, 197]  ‹p C Lna = a1 · L10 = a1 · . (7.2) P

Tabelle 7.2 Bestimmung des Korrekturbeiwerts nach Vorgabe der Überlebens- oder Ausfallwahrscheinlichkeit und Vorschlag für die Nomenklatur der korrigierten rechnerischen Lagerlebensdauer (Nach [197]) Ausfallwahrscheinlichkeit F (t) Überlebenswahrscheinlichkeit R(t) Benennung der Lebensdauer Lna Faktor für Ausfallwahrscheinlichkeit a1

% % -

10 5 4 3 2 1 90 95 96 97 98 99 L10 L5 L4 L3 L2 L1 1 0,62 0,53 0,44 0,33 0,21

7.1 Motivation und Grundbegriffe der Sicherheitstechnik

243

Eine hohe erforderliche Zuverlässigkeit führt dann bei gleichem Lager bzw. bei gleicher dynamischer Tragfähigkeit C zu einer reduzierten Lebensdauer. Bei der Zuverlässigkeit eines technischen Systems wird zwischen Bauteilzuverlässigkeit und Funktionszuverlässigkeit unterschieden. Die Bauteilzuverlässigkeit, die durch die Mindestsicherheit Smin in der Auslegung sichergestellt werden soll, ist Voraussetzung für die Funktionszuverlässigkeit des übergeordneten Systems. Diese Argumentationskette gilt für den Übergang von der Funktionszuverlässigkeit zur Sicherheit nur, wenn die Funktion einen Teil zur Sicherheit beiträgt. Lässt sich zum Beispiel eine Tür an einem Zug nicht mehr öffnen, ist das ein Versagen der Funktion der Verbindung von Fahrgastkabine zur Umwelt, allerdings stellt dies keinen gefährlichen Zustand des Gesamtsystems dar und der Zug kann bis zur Instandsetzung der Tür weiterfahren [154, S. 5ff]. Fällt hingegen die Sicherungsfunktion aus, die ein Öffnen der Tür während der Fahrt verhindert, so beeinträchtigt die Fehlfunktion die Funktionszuverlässigkeit, ein sicherer Betrieb ist nicht möglich. Aufbauend auf den Definitionen von Sicherheit und Zuverlässigkeit ergibt sich eine hierarchische Gliederung der Sicherheitsphilosophie. Aufbauend auf der zuverlässigen Funktionserfüllung wird die Betriebssicherheit eines Systems angestrebt, welche Voraussetzung für die Arbeitssicherheit des Bedienungspersonals und der Nachbarsysteme ist. Die Arbeitssicherheit stellt ihrerseits wiederum die Voraussetzung für die Sicherheit von Menschen und Umwelt dar, vgl. Abbildung 7.4. Die Begriffe Betriebssicherheit, Arbeitssicherheit und Umweltsicherheit sind nachfolgend definiert. Definition 24 Betriebssicherheit Betriebssicherheit umfasst die Einschränkung von Gefährdungen zur Verminderung des Risikos beim Betrieb von technischen Systemen, sodass diese selbst und ihre unmittelbare Umgebung (Betriebsstätte, Nachbarsysteme usw.) keinen Schaden nehmen. [170, S. 329] 3 Definition 25 Arbeitssicherheit

Arbeitssicherheit betrifft die Einschränkung von Gefährdungen des Menschen bei der Arbeit bzw. bei der Benutzung oder dem Gebrauch technischer Systeme auch außerhalb der Arbeitswelt, z. B. beim Sport oder in der Freizeit. [170, S. 330] 3 Definition 26 Umweltsicherheit

Umweltsicherheit befasst sich mit der Einschränkung von Schädigungen im Umfeld technischer Systeme. [170, S. 330] 3 In Abbildung 7.8 sind am Beispiel eines Zahnrads3 in einem Fahrzeuggetriebe die verschiedenen Ebenen der Sicherheit links der strichlierten Linie dargestellt. 3

Insbesondere bei Nutzfahrzeuggetrieben für hohe Antriebsmomente werden die Stirnradund Planetenstufen häufig mit parallelen Lastpfaden ausgeführt, vgl. [135], was im Sinne der Sicherheit als redundante Anordnung interpretiert werden kann. Bricht aber ein Zahn eines beliebigen Rades oder ein großes Stück einer Zahnflanke infolge Überlast, d. h. unzureichender Bauteilzuverlässigkeit, heraus, so führt dies in manchen Fällen ausgehend vom Verklemmen des

244

7 Sichere Produkte entwickeln

Abb. 7.8 Bedeutung der Bauteilzuverlässigkeit am Beispiel eines Zahnrads in einem Fahrzeuggetriebe

Das Zahnrad überträgt Kräfte innerhalb des Getriebes. Damit das Fahrzeug keine Gefahr für Insassen und Umwelt darstellt, muss das Getriebe einen sicheren Betrieb gewährleisten. Der Versagensfall Zahnbruch und die Folgen für Sicherheit und Zuverlässigkeit sind rechts der strichlierten Linie in Abbildung 7.8 skizziert. Es wird an der Kausalkette aber auch deutlich, dass eine Dimensionierung des Zahnrades auf Zahnbruch bzw. Funktionszuverlässigkeit keine hinreichende Voraussetzung für Umweltsicherheit ist, wohl aber eine notwendige. Ein richtig dimensioniertes Zahnrad ist keine Garantie für Arbeits- oder Umweltsicherheit.

7.1.5 Einflüsse und Verantwortung in der Produktentwicklung In jeder Phase des Produktentwicklungsprozesses kann die Sicherheit des späteren Produkts beeinflusst werden. In Abbildung 7.9 sind die verschiedenen Phasen des Produktentwicklungsprozesses von der Produktidee bis zur Produktdokumentation aufgeführt und mit Blick auf sicherheitsrelevante Aspekte kommentiert. Wird der Sicherheitsgedanke bei der Auslegung eines technischen Produkts in den frühen Phasen berücksichtigt, vgl. Abschnitt 7.1.1.2, ergeben sich größere Handlungsspielräume, welche sich meist vergleichsweise kostengünstig umsetzen lassen, vgl. Abbildung 4.4. Ein Beispiel ist die Wahl eines Wirkprinzips abgebrochenen Partikel zum Gehäusebruch und somit zum Liegenbleiber oder Ölverlust und damit zum Totalschaden.

7.1 Motivation und Grundbegriffe der Sicherheitstechnik

245

Abb. 7.9 Einfluss der Sicherheitsanforderungen eines Produkts auf die Phasen der Produktentwicklung

mit niedrigem Schädigungspotential, welches keine weiteren Sicherheitsmaßnahmen benötigt. Ein weiteres Beispiel ist die Betrachtung der funktionalen Sicherheit im Konzeptprozess sowie in den späteren Phasen der Produktentwicklung, damit die Anforderungen und Überlegungen der funktionalen Sicherheit, vgl. Abschnitt 7.3, von Anfang an mitgedacht und berücksichtigt werden. Besonders in der Konzeptphase hat die Analyse der funktionalen Sicherheit und damit der eventuell notwendigen Maßnahmen einen Einfluss auf die Bewertung des Lösungskonzepts, welches weiter konkretisiert wird. Vom Projektdefinitionsprozess bis zum Ausarbeitungsprozess gestaltet sich der Einfluss vom Vorausdenken gefährlicher Situationen bis zur Sicherstellung der gewünschten Funktionsweise durch die Vorgabe von Toleranzen und Passungen äußerst vielseitig. Kritisch sind oft Betriebszustände wie das Durchfahren der Resonanzfrequenz des Systems beim Hochlaufen, das außer Betrieb setzen, ein Energieausfall, eine Notbremsung oder eine Überlastung durch unvorhergesehene Störgrößen, um einige Beispiele zu nennen. Im Produktentwicklungsprozess kann der Entwickler in vielen Fällen durch die Wahl von klaren, einfachen funktionellen Zusammenhängen, sicheren Effekten und Wirkprinzipien und mit der Kombination verträglicher Teillösungen wichtige Grundlagen für die Zuverlässigkeit und Sicherheit des Produkts legen. Im Entwurfsprozess, vgl. Abbildung 7.9, kommt eine Vielzahl gestalterischer Maßnahmen wie das Festlegen von Abmessungen, Oberflächen und Werkstoffen hinzu, mit denen Anforderungen an Belastbarkeit, Lebensdauer, Reibung, Verschleiß, Verformung und vielen weiteren Effekten Rechnung getragen wird. Selbst im Ausarbeitungsprozess ist größte Sorgfalt im Hinblick auf die Erfüllung der geforderten Zuverlässigkeits- und Sicherheitsanforderun-

246

7 Sichere Produkte entwickeln

Abb. 7.10 Darstellung der Auslegungsgrenzen einer Pressverbindung: Kompromissfindung zwischen sicherer Momentenübertragung und Bauteilzuverlässigkeit (Aufbauend auf [138])

gen notwendig. So sind z. B. Toleranzen und Passungen so zu wählen, dass damit eine fehlerfreie Funktionserfüllung gewährleistet ist. Als Beispiel sich wiedersprechender Sicherheitsanforderungen kann die Pressverbindung herangezogen werden. Abbildung 7.10 verdeutlicht die Zusammenhänge. Werden die Anforderungen an die Bauteilzuverlässigkeit – ausgedrückt durch die Mindestsicherheit gegen Versagen der Nabe als i.d.R. höher beanspruchtes Bauteil SF als Zuverlässigkeitsanforderung – zu hoch gewählt, so wird das zulässige Haftmaß Zzul stark reduziert. Die Funktionszuverlässigkeit hingegen wird durch die Mindestsicherheit gegen Durchrutschen SR als Zuverlässigkeitsanforderung ausgedrückt, Zerf steigt an. Werden also SF und SR unverhältnismäßig hoch gewählt, so wird Zerf ≈ Zzul , die Wahl der Passung scheitert am nicht möglichen Kompromiss bzw. an der nicht sinnvollen Vorgabe der Zuverlässigkeitsanforderungen, vgl. Definition 22. Das Produkt muss also so konstruiert werden, dass der Mensch als potentiell unfallerleidendes Objekt oder schadenauslösendes Subjekt keinen Zugang zu Stellen mit Gefährdungspotential hat und somit keine Schädigungsvorgänge ausgelöst werden.

7.1 Motivation und Grundbegriffe der Sicherheitstechnik

247

Abb. 7.11 Risikodiagramm mit ALARP-Bereich, in welchem die Lösung mit dem geringsten Risiko gewählt wird, welche noch wirtschaftlich umgesetzt werden kann (Nach [80])

7.1.6 Das ALARP-Prinzip Zur Förderung sicherer Produkte eignet sich das ALARP-Prinzip As Low As Reasonable Possible, welches in der DIN EN 61508-5 [80] Anhang A und B beschrieben ist, vgl. [154, S. 65]. Durch die Anwendung des ALARP-Prinzips werden die Subsysteme und Komponenten ermittelt, welche einen Beitrag zur Sicherheit des Produkts liefern und Verbesserungspotential aufweisen. Die während der Analyse gefundenen Maßnahmen werden dabei nicht nur rein wirtschaftlich bewertet. Wird bei der Analyse eines Risikopunkts Handlungsbedarf festgestellt, so kommen i.d.R. mehrere Lösungen in Betracht. Dabei wird die Maßnahme ausgewählt, bei welcher der Nutzen den Aufwand überwiegt aber zusätzlich das geringste Schadensausmaß erzielt wird, auch wenn die Maßnahme höhere Kosten für ihre Umsetzung verursacht [154, S. 65 bis 69]. Mit dem ALARP-Prinzip wird die vorausschauende Sicherheitskultur gefördert, um ein wirtschaftliches Produkt bei möglichst geringem Restrisiko zu erreichen. In Abbildung 7.11 ist der Auswirkungsgrad eines Schadens über der Eintrittswahrscheinlichkeit aufgetragen. Ein Produkt, System oder Maschinenelement stellt einen Punkt im Diagramm dar. Das Verbesserungspotential ergibt den ALARP-Bereich zwischen nicht tolerierbarer und akzeptierter Eintrittswahrscheinlichkeit. Befindet sich das betrachtete Objekt im nicht akzeptierten Bereich oder im ALARP-Bereich, so wird eine Analyse durchgeführt, im nicht akzeptierten Bereich mit dem Ziel der Verbesserung der Sicherheitsbedingungen, im ALARP-

248

7 Sichere Produkte entwickeln

Bereich zur Bestätigung der Verträglichkeit des Restrisikos mit den Sicherheitsanforderungen.

7.2 Prinzipien der Sicherheitstechnik Die Prinzipien der Sicherheitstechnik können, wie in Abschnitt 7.1.1 diskutiert, als Ausprägungen der Grundregel Sicher interpretiert werden mit Fokus auf die Produktsicherheit in der Nutzungsphase. Die Prinzipien sind somit spezielle Hinweise für die Produktentwickler, vgl. Abbildung 5.55, die sich auf die Produktsicherheit beziehen und über die grundlegenden Voraussetzungen für eine sichere und zuverlässige Funktionserfüllung der Produkte hinausgehen. Das Ziel der Sicherheitstechnik ist es, Mensch, Umwelt und Maschinen möglichst frei von Gefahren, Fehlern und Ausfällen zu halten. Dieses Ziel kann nach [170, S. 327] in einem Dreistufenmodell erreicht werden. Dieses enthält drei Gestaltungsprinzipien, welche das Risiko des Produkts als Gesamtsystem oder dessen Subsysteme verringern und nachfolgend aufgeführt sind. • Unmittelbare Sicherheitstechnik • Mittelbare Sicherheitstechnik • Hinweisende Sicherheitstechnik Diese drei Stufen sind auch in Abbildung 7.5 schon vorweggenommen und ermöglichen unterschiedliche Restrisiken, erfordern aber auch unterschiedliche Anstrengungen für die Umsetzung in der Produktentwicklung. Die Prinzipien sind hier nach absteigender Wirksamkeit geordnet, das Restrisiko ist i.d.R. bei Anwendung der hinweisenden Sicherheitstechnik deutlich höher als bei der Unmittelbaren. Grundsätzlich ist immer eine Lösung anzustreben, welche die Anforderungen der unmittelbaren Sicherheitstechnik erfüllt, d. h. es ist eine Lösung zu finden, von der keine Gefährdung ausgeht. Maßnahmen zur unmittelbaren Sicherheitstechnik werden üblicherweise als aufwändiger hinsichtlich der Kosten eingeschätzt. Durch intelligente Konstruktionen ist der Grundgedanke der unmittelbaren Sicherheitstechnik aber auch kostengünstig realisierbar indem z. B. rotierende Teile innerhalb des Gehäuses angeordnet werden und damit nicht im Arbeitsbereich des Bedieners liegen. Erst dann sollten Lösungen der mittelbaren Sicherheitstechnik zur Anwendung kommen, durch welche die Auswirkungen der Gefahren vermindert werden. Die hinweisende Sicherheitstechnik dagegen kann nur vor den Gefahren warnen und den Gefährdungsbereich kenntlich machen. Damit löst die hinweisende Sicherheit das vorhandene Sicherheitsproblem nicht und stellt kein Konstruktionsmittel dar. Die FMEA als Methode zur Entwicklung von sicherheitsgerechten Produkten kann dabei zur Verbesserung aller benannten Dimensionen der Sicherheitstechnik hilfreich sein. Vorzugsweise wird die FMEA mit Fokus auf die Wirksamkeit der Maßnahmen der unmittelbaren Sicherheitstechnik und mit abfallender Priorität

7.2 Prinzipien der Sicherheitstechnik

a)

249

b)

Abb. 7.12 Maßnahmen der unmittelbaren Sicherheitstechnik: a) Abkantmaschine mit Lichtschranke, b) Presse mit Zweihandbedienung

für die mittelbare und die hinweisende Sicherheitstechnik eingesetzt. Ausführlichere Erläuterungen zur Methode FMEA finden sich in Abschnitt 6.2.4.

7.2.1 Unmittelbare Sicherheitstechnik Die unmittelbare Sicherheitstechnik beruht auf dem Grundsatz, die von einem technischen System ausgehende Gefahr ganz zu vermeiden. Eine technische Lösung ist unmittelbar sicher, wenn aus dem zu Grunde liegenden Lösungsprinzip heraus keine Gefährdung folgt und ein vernachlässigbares Ausfallrisiko birgt. Die unmittelbare Sicherheitstechnik basiert im Wesentlichen auf fünf sicherheitsfördernden Prinzipien, welche dem Entwickler als Hinweis und Vorbild dienen können: • • • • •

Sichere physikalische Effekte und Wirkstrukturen, Zugangssicheres Maschinenprinzip, Prinzip des sicheren Bestehens (safe-life), Prinzip des beschränkten Versagens (fail-safe), Prinzip der redundanten Anordnung.

Dabei lassen sich die Prinzipien des sicheren Bestehens, des beschränkten Versagens und der redundanten Anordnung auch auf die mittelbare und hinweisende Sicherheitstechnik anwenden und stellen damit universelle Hilfsmittel dar. Die fünf Prinzipien gelten einmal für das Produkt selbst und für eventuell notwendige Sicherheitssysteme. Wenn bei einer Presse die Laserschranke nicht die Anforderung safe-life erfüllt und unbemerkt gleich aus welchem Grund ausfallen kann, ist das gesamte Sicherheitskonzept gefährdet. Das Gleiche gilt sinngemäß für die in Abbildung 7.12.a gezeigte Abkantmaschine; wird in den Arbeitsbereich eingegriffen, darf der Arbeitsprozess nicht starten. Abbildung 7.12.b zeigt ein alternatives Sicherheitskonzept für die Maschinenbedienung: Um eine Verletzung des Bedienpersonals auszuschließen, muss die gezeigte Presse mit beiden

250

7 Sichere Produkte entwickeln

Händen betätigt werden, die Drucktaster sind so angebracht, dass nur bei vorsätzlicher Fehlbedienung ein Eingreifen in den Arbeitsraum möglich ist. Kritisch ist bei den in Abbildung 7.12 gezeigten Sicherheitskonzepten für den Bediener der Wartungsvorgang, wenn die Sicherheitssysteme von speziell geschulten Mitarbeitern vorrübergehend ausgeschaltet werden, um z. B. Werkzeuge einstellen zu können. Der Zugang zu den gefährlichen Bereichen der Maschine muss in dieser Zeit für nicht geschulte Personen anderweitig begrenzt werden, z. B. durch hinweisende Sicherheitstechnik.

7.2.1.1 Prinzip des sicheren Bestehens – safe-life Die Bauteile und ihr Wirkzusammenhang sind so beschaffen, dass alle wahrscheinlichen Zustände ohne Versagen überstanden werden – im Englischen als safe-life bezeichnet –, d. h. sie sind sicher während der vorgesehenen Einsatzzeit und erfüllen somit die spezifischen Anforderungen an eine betriebsfeste Auslegung, die beispielweise in [112] beschrieben ist. Das sichere Bestehen wird durch ausreichend sichere Auslegung der Teile entsprechend den während der projektierten Nutzungsphase4 zu erwartenden Beanspruchungen und Umweltbedingungen erreicht. Ferner sind gründliche Kontrollen des Werkstoffs, des Fertigungs- und Montageergebnisses nötig. Die Teile werden schließlich unter erhöhten Lastbedingungen und unter erschwerten Umweltbedingungen in einem frühzeitig im Entwicklungsprozess festgelegten Validierungsprogramm auf die Haltbarkeit unter Kunden-Nutzungsbedingungen geprüft. Beispiele für Bauteile, die nach dem Prinzip des sicheren Bestehens ausgeführt werden, sind Lenkhebel für PKW sowie die Achse einer Kranseiltrommel oder eines LKW. Bei Hubschraubern zählt die Rotorblattbefestigung zu den hoch belasteten Elementen, vgl. Abbildung 7.13. Der Auftrieb der Rotorblätter, der den Hubschrauber trägt, verursacht ein sehr hohes Biegemoment in der Befestigung. Gleichzeitig muss die Befestigung radiale Zugkräfte übertragen, die durch die Massenträgheit der Rotorblätter entstehen. Zusätzlich müssen die Rotorblätter leicht um ihre Längsachse drehbar gelagert sein, da sie während jeder Rotorumdrehung hin und her geschwenkt werden, um den notwendigen Vortrieb zu erzeugen. Bei der Konstruktion wurde das safe-life Prinzip dadurch realisiert, dass die Zugkraft und das Biegemoment vollständig getrennt von zwei verschiedenen Bauteilen übertragen werden, die jeweils optimal den Beanspruchungen angepasst sind und sicher ausgelegt werden können. Wie in Abschnitt 7.1.1 diskutiert wird auch im Beispiel der Rotorblattbefestigung die sichere Gestaltung und Auslegung durch eine eindeutig gestaltete Konstruktion unterstützt. Für eine safe-life Auslegung von Bauteilen entsprechend dem Prinzip des sicheren Bestehens sind i.d.R. folgende Punkte erforderlich: 4

Bei Benutzung über die geplante Nutzungsdauer hinaus steigt das Ausfallrisiko an.

7.2 Prinzipien der Sicherheitstechnik

251

Abb. 7.13 Rotorblattbefestigung eines Hubschraubers. Die Funktionstrennung ermöglicht die Auslegung der Bauteile auf eine Beanspruchungsart: Z torsionsweiches Bauteil zur Aufnahme der Fliehkaft (Zug), B Hülse zur Aufnahme des Reaktionsmoments der Auftriebskraft (Biegung) (Aus [170])

• Exakte Klärung der Belastung nach der Art der Krafteinwirkung, Betrag und Richtung der Kräfte und Zeitdauer bzw. Häufigkeit • Analyse der Produktumgebung, vgl. Abschnitt 3.3.3, unter Berücksichtigung von Störgrößeneinflüssen • Klärung der möglichen und außerordentlichen Einflüsse und Zustände, beispielsweise im Rahmen einer FMEA • entsprechende Auslegung der Teile und Baugruppen nach bewährten Hypothesen und Verfahren, vgl. z. B. [112, 164] • Erprobung von Funktionsmustern, vgl. Kapitel 10, Erstellung von Messaufbauten

7.2.1.2 Prinzip des beschränkten Versagens – fail-safe Das Prinzip des beschränkten Versagens impliziert, dass es während der Nutzungsphase des Produkts zu einer Funktionsstörung kommen kann ohne dass dies zum Versagen des Gesamtsystems oder zu schwerwiegenden Folgen führt. Abbildung 7.14 zeigt das Beispiel eines Reifens mit Notlaufeigenschaften, einen sogenannten run flat Reifen, der auch bei Druckverlust aufgrund der höheren Steifigkeit der Reifenwand ohne Reparatur die Fahrt zur Werkstatt erlaubt. Allerdings ist wahrscheinlich auch die Felge und nicht nur der Reifen nach der Fahrt im fail-safe-Modus auszutauschen. Voraussetzung für die Sicherstellung der geforderten Eigenschaften von fail-safeLösungen ist die genaue Kenntnis des Schadensablaufs, die beispielsweise durch

252

7 Sichere Produkte entwickeln

Abb. 7.14 Sicherheitsreifen mit ausreichenden Notlaufeigenschaften auch bei Druckverlust. Links Schnittsansicht, rechts Wirkprinzip

eine Ereignisablaufanalyse erarbeitet werden kann, vgl. Abschnitt 6.2.2. Bauteile und Systeme, die nach dem Prinzip des beschränkten Versagens ausgelegt sind, müssen daher einige wichtige Eigenschaften aufweisen: • Das Versagen muss erkennbar sein, damit das System geordnet außer Betrieb genommen werden kann. Beispiele sind Geräuschentwicklung, Vibrationen infolge veränderter Steifigkeiten, zusätzliche Harmonische5 oder ein messbarer Leistungsabfall. • Der Versagenseintritt darf nur langsam und nicht schlagartig erfolgen, damit genügend Zeit bleibt um durch Anpassung der Betriebsparameter auf den beginnenden Schaden zu reagieren. • Das Auftreten des Initialschadens muss sich mit den Werkzeugen der Betriebsfestigkeit vorhersagen lassen und die Schadensentwicklung bis zum Totalausfall muss in einer reproduzierbaren Art und Weise verlaufen. Am Beispiel des Sicherheitsreifens ist offensichtlich, dass der Reifen nur bei einem kleinen Loch – man spricht dann vom punktierten Reifen, vgl. Abbildung 7.14 – noch hinreichende Notlaufeigenschaften aufweist; ein Totalversagen des Reifens durch Platzen führt auch beim Notlaufreifen zum vorübergehenden Totalausfall des Fahrzeugs. Torsionselastische Kupplungen werden zum Beispiel am Motorrad zur Entkopplung von Drehungleichförmigkeiten eingesetzt, dabei wird die Elastizität durch Federn oder Elastomere als elastische Elemente definiert eingestellt. Das Versagen ist auf die elastische Eigenschaft der Kupplung bei Bruch zum Beispiel der Federn beschränkt und die Kraftübertragung erfolgt durch Formschluss der Bolzen. In Abbildung 7.15.a ist die Kupplung im eingebauten Zustand am Motorrad dargestellt, sodass man die Federn um die Bolzen erkennt, welche kreisförmig angeordnet sind. Als Berührungsschutz ist ein Lochblech angebracht. In Abbildung 7.15.b ist eine Schnittansicht einer Bolzenkupplung dargestellt, welche über einen Elastomer die Schwingungen dämpft. 5

Beispielsweise bei Ausfall von Wälzlagern oder Zahnrädern.

7.2 Prinzipien der Sicherheitstechnik

a)

253

b)

Abb. 7.15 Bolzenkupplung an einem Motorrad: a) Produktansicht, b) Schnittbild zur Prinzipdarstellung (1 Elastomerbuchse, 2 Bolzen, 3 und 4 Primär- und Sekundärnabe. Aus [138])

In Abbildung 7.16 ist ein sphärisches Gummigelenk als weiteres Beispiel dargestellt, welches die Eigenschaften des fail-safe-Prinzips aufweist. Entsteht im Betrieb ein Riss im Gelenk, breitet sich dieser mit fortschreitender Lastspielzahl aus und verändert dabei die Federsteifigkeit des Gelenks. Bei Zugbelastung der angerissenen Zone wird die gegenüberliegende Seite stärker auf Druck beansprucht, bei Drucklast wird der Riss geschlossen. Der Rissfortschritt bei niedrigen Beanspruchungsamplituden ist langsam genug, um die Veränderungen über die sinkende Steifigkeit und die geringere Beanspruchung des Gelenks zu detektieren und Maßnahmen einleiten zu können, bevor es zu einem vollständigen Versagen des Bauteils kommt.

7.2.1.3 Prinzip der redundanten Anordnung Unter dem Begriff der Redundanz versteht man im Maschinenbau eine Mehrfachanordnung von Bauteilen und Systemen, mit denen die gleiche Funktion durch Nutzung verschiedener Ressourcen mit gleichen oder unterschiedlichen Wirkprinzipien realisiert wird. Fällt einer der redundanten Funktionsträger aus, übernimmt der andere dessen Aufgabe. Es werden folgende Arten der Redundanz unterschieden: • Kalte/passive Redundanz (Standby): Ein zweites Bauelement wird als stille Reserve vorgehalten und übernimmt die Funktion nach Ausfall des HauptBauelements. Die Funktion des Haupt-Elements muss durch entsprechende Sensoren überwacht und bei Störung das Not-Bauelement durch die Steuerung oder Regelung ein- oder zugeschaltet werden. Das Redundanzelement ist bis zum Ausfall des arbeitenden Elements keiner Belastung ausgesetzt, Bei-

254

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Abb. 7.16 Sphärisches Gummigelenk (Nach [170, S. 332]), oben im Bild Anriss, unten Durchriss des Elastomerelements

spiele sind Notstromaggregate in Krankenhäusern oder unterbrechungsfreie Stromversorgungen6 in Rechenzentren. • Heiße Redundanz (Parallelbetrieb): Das Redundanzelement ist von Anfang an im Betrieb, erfüllt die gleiche oder eine ähnliche Funktion und ist der gleichen Belastung wie das arbeitende Element ausgesetzt wie beispielsweise das Zweikreisbremssystem im Auto, mehrstrahlige Triebwerke im Flugzeug wie in Abbildung 7.17, zweimotoriger Schiffsantrieb oder Zwillingsreifen bei LKW. Oft basieren die redundanten Elemente auf gleichen physikalischen Prinzipien. Das trifft beispielsweise zu, wenn der Primär- und Sekundärkreis des Bremssystems eines PKW beide hydraulisch ausgeführt sind. Eine weitere Umsetzungsmöglichkeit für redundant angeordnete Elemente, welche die gleiche Funktion erfüllen, ist der Einsatz von verschiedenen physikalischen Prinzipien, wodurch der Einfluss systematischer Fehler reduziert wird. In Tabelle 7.3 sind die beiden Möglichkeiten der redundanten Anordnung zusammengefasst und nochmals mit Beispielen belegt. Eine redundante Anordnung ist i.d.R. mit zusätzlichen Kos6

Die Notstromaggregate werden teilweise auch zur Deckung von Spitzenlasten im Stromverbrauch genutzt, z. B. zum Betrieb von Klimaanlagen, um teurere, höhere Anschlussleistungen vom Energieversorger zu vermeiden. Der regelmäßige Betrieb unterstützt zudem Wartung und Instandhaltung der Anlage.

7.2 Prinzipien der Sicherheitstechnik

255

Abb. 7.17 Mehrstrahlige Flugzeuge links mit vier und rechts mit zwei Triebwerken. Bei beiden Ausführungen kann der Schubverlust durch den Ausfall eines Triebwerks durch die anderen Triebwerke ausgeglichen werden.

ten verbunden, ist aber ein wirksames Mittel um die Sicherheit, die Zuverlässigkeit und die Verfügbarkeit des Systems zu erhöhen. So ist bei Elektrofahrzeugen i.d.R. die Bremsfunktion durch ein hydraulisches Bremssystem7 neben der Nutzung des Motors im Generatorbetrieb gegeben, es werden prinzipredundante Systeme verwendet. Ein weiteres Beispiel für die Prinzipredundanz ist auch in Abbildung 5.32.a gezeigt und bereits in Abschnitt 5.4.1 angerissen: Beim hydrostatischen Kupplungsaktuator wird die Kupplungsposition zum einen über den Wegsensor am Planetenwälzgetriebe erfasst. Zum anderen wird mittels des Rotorlagesensors des Elektromotors über eine Integration des Drehwinkels die Lage berechnet, es herrscht Prinzipredundanz. Der Vorteil der Prinzipredundanz ist vor allem, dass im Fehlerfall aufgrund der verschiedenen Wirkprinzipien die Wahrscheinlichkeit des Ausfalls beider Mechanismen deutlich reduziert wird, die Systemzuverlässigkeit steigt. Ein weitere Beispiel zeigt Abbildung 7.18, durch Prinzipredundanz wird der gezeigte Anhänger doppelt gegen unbefugte Nutzung bzw. Diebstahl gesichert. Das Restrisiko besteht jedoch im Aufladen des Anhängers auf ein anderes Fahrzeug mit einer Hubvorrichtung, reguläres Fahren oder Ankuppeln des Anhängers werden jedoch durch unterschiedliche mittelbare Schutzsysteme verhindert.

Tabelle 7.3 Einteilung redundanter Systeme nach dem Wirkprinzip Prinzipgleichheit: Alle redundanten Syste- Beispiel: Zweikreisbremssystem eines Fahrme haben das gleiche Wirkprinzip, systemati- zeugs mit hydraulisch ausgeführtem Primärsche Fehler können zum Totalausfall führen. und Sekundärkreis Prinzipredundanz: Die redundanten Syste- Beispiel: Elektrofahrzeug mit primärer Bremsme haben unterschiedliche Wirkprinzipien funktion über den Elektromotor und zusätzlicher hydraulischer Bremsanlage insbesondere für Notbremsungen

7

Zudem reicht die Bremsleistung des elektrischen Antriebs für Notbremsungen nicht aus, bei denen die Reibbremse kurzzeitig bei PKW in der Größenordnung von 1 MW Leistung aufnehmen muss und diese in Reibungswärme wandelt.

256

7 Sichere Produkte entwickeln

Abb. 7.18 Prinzipredundante Sicherung eines Anhängers

7.2.2 Mittelbare Sicherheitstechnik Ziel der mittelbaren Sicherheitstechnik ist es, die Gefahr unwirksam zu machen, sofern diese nicht durch Maßnahmen der unmittelbaren Sicherheitstechnik vermieden werden kann. Die mittelbare Sicherheitstechnik führt i.d.R. zu einem höheren Restrisiko als die unmittelbare Sicherheitstechnik, vgl. Abbildung 7.5. Dazu werden zusätzliche Mittel vorgesehen, wobei je nach Art und Aufbau der Zusatzeinrichtungen zwischen Schutzsystemen, Schutzorganen und Schutzeinrichtungen unterschieden wird. Diese sind mit einigen Beispielen in Tabelle 7.4 aufgeführt. Sicherheitstechnische Maßnahmen, egal auf welchem Prinzip sie basieren, dürfen selbst nicht unsicher sein und müssen folgende Anforderungen erfüllen: • • • •

Funktionssicher und zuverlässig während der Produktlebensdauer, Sicher gegen Zerstörung, unzulässige Entfernung oder Irrtum, Zwangsläufig wirksam, solange Gefahr wirksam sein kann und keine Möglichkeit der Umgehung.

Die Sicherung des Anhängers in Abbildung 7.18 ist also aufgrund der Möglichkeit der Umgehung streng genommen keine Maßnahme der mittelbaren Sicherheitstechnik. Allerdings wird das Restrisiko allgemein akzeptiert.

7.2.2.1 Schutzsysteme Schutzsysteme leiten beim Eintreten einer Gefahr selbsttätig eine Schutzreaktion ein, um eine Gefährdung von Personen und Objekten zu verhindern. Das bedeutet sie überwachen den relevanten Teil des Systemzustands und greifen aktiv in die Funktion des Systems ein, welches durch sie geschützt wird, wenn ein definiertes Grenzrisiko überschritten wird. Schutzsysteme weisen folgende Kennzeichen auf:

7.2 Prinzipien der Sicherheitstechnik

a)

257

b)

Abb. 7.19 a) Signalsäule zur Anzeige des Betriebszustands einer Maschine als Schutzeinrichtung; b) Überdruckventil mit gesintertem Aufsatz zur Reduzierung der Geräuschemission als Schutzorgan

• Schutzsysteme weisen einen Signalfluss zum Erfassen der Größe auf, welche die Gefährdung verursacht, z. B. eine Drehzahlüberwachung oder ein Türschalter. • Schutzsysteme geben zusätzlich eine Meldung aus, dabei werden die Art der Gefährdung und die Tatsache des Eingriffs verdeutlicht, z. B. roter Leuchtmelder mit Beschriftung “Drehzahl zu hoch”. • Schutzsysteme besitzen eine Selbstüberwachung, d. h. sie reagieren auf Fehler im System selbst beispielsweise durch Abschalten der Anlage bei Druckabfall im Schutzsystem oder wenn wie im Beispiel von Abbildung 7.12.b der Bedienschalter außer Funktion ist. • Schutzsysteme beinhalten eine Wiederanlaufsperre, die ein unkontrolliertes Anlaufen der Maschine nach Auslösen des Schutzsystems verhindert und sicherstellt, dass das System nach dem Eingreifen des Schutzsystems wieder explizit in Betrieb genommen werden muss. • Verhindern ein Anlaufen von Maschinen in unsicherem Zustand, z. B. bei offener Wartungsklappe.

Tabelle 7.4 Zuordnung von technischen Lösungen der mittelbaren Sicherheitstechnik Schutzsysteme: • Lichtschranken z.B. an Pressen • Verriegelung mit Einschaltsicherung z.B. an Zentrifugen, Waschmaschinen etc. Schutzorgane: • Überdruckventile • Bimetallschalter • Sicherheitsgurt Schutzeinrichtungen: • Verkleidungen • Verdeckungen etc.

258

7 Sichere Produkte entwickeln

Beispiele für Schutzsysteme sind Lichtschranken an Pressen, die bei Hineingreifen in den Arbeitsraum die Maschine abschalten oder die Verriegelung mit Einschaltsicherung an Zentrifugen oder Waschmaschinen. In Abbildung 7.12.a ist eine Abkantmaschine dargestellt, in welche ein Blech eingelegt ist. Wird der Abkantprozess gestartet und im Überwachungsbereich der Lichtschranke befindet sich ein Störkörper, so wird der Prozess abgebrochen und die Maschine muss über eine festgelegte Prozedur wieder freigegeben werden, bevor ein neuer Arbeitsprozess gestartet werden kann. Wird vom Schutzsystem ein Fehler detektiert, so muss dieser dem Anwender mitgeteilt werden. Hierzu sind mehrere technische Umsetzungen möglich: Ein Fehler kann optisch über eine Warnlampe oder akustisch mittels Warnton oder allgemein messtechnisch angezeigt werden. Häufig werden die optischen Anzeigen mit einer Ampellogik ähnlich wie in Abbildung 4.23 betrieben, die Regelbetrieb, Wartungsbedarf oder Störung anzeigen, vgl. Abbildung 7.19.a. Wichtig ist, dass ein Fehler möglichst früh, wenn es geht vor dem Eintreten von Folgefehlern aber auch von Fehlerfolgen, angezeigt wird. Eine Fehleranzeige muss auch auf eine Hilfe – beispielsweise in Form einer Checkliste – zur Fehleranalyse und -behebung verweisen. Eine mögliche Umsetzung bei einem Fahrzeug ist, dass eine Warnlampe aufleuchtet, wenn die Motortemperatur bis zu einem bestimmten Wert angestiegen ist. Aus der Anzeige und einem entsprechenden Bildschirmtext oder einem Hinweis in der Betriebsanleitung geht hervor, dass der Systemzustand nicht im vorgesehenen Bereich liegt und ein Weiterbetrieb mit Schäden verbunden sein kann. Das Fahrzeug kann aber noch sicher außer Betrieb genommen werden, da noch kein relevanter Systemteil ausgefallen ist; ein vorsichtiges Fahren zum nächsten sicheren Parkplatz und anschließendes Abkühlen ist jedoch meist noch gefahrlos möglich.

7.2.2.2 Schutzorgane Schutzorgane sind technische Konstruktionen, die aufgrund ihrer Gestaltung ohne externe Signalumsetzung in der Lage sind, eine Schutzreaktion zu ermöglichen. Nachfolgend sind einige Beispiele zur Verdeutlichung aufgeführt: • • • •

Überdruckventile, elektrische Schmelzsicherungen, Sicherheitsgurt im PKW, Sicherheits-Rutschkupplung.

Überdruckventile, wie in Abbildung 7.19.b, werden zum Beispiel zur Druckregulierung in pneumatischen Systemen verwendet, um zu hohe Drücke abzubauen, vgl. auch Abbildung 6.11. Dadurch wird ein Bersten von Leitungsteilen verhindert und durch den gesinterten Aufsatz des Ventils in Abbildung 7.19.b werden Druckwellen, welche durch die plötzliche Expansion der Gase entstehen, reduziert und die für die Menschen in der direkten Umgebung unerwarteten Geräuschemission deutlich verringert. Die Aktion des Ventils basiert auf dem phy-

7.2 Prinzipien der Sicherheitstechnik

a)

259

b)

Abb. 7.20 Schutzorgane: a) Schmelzsicherung im Stecker eines elektrischen Geräts; b) Sicherheitsrutschkupplung mit Zahnkranz und formschlüssiger Welle-Nabe-Verbindung

sikalischen Prinzip, dass ein flüssiges oder gasförmiges Medium auf eine Fläche eine Kraft proportional des im Medium herrschenden Drucks ausübt. Ein weiteres Beispiel für ein Schutzorgan ist eine Schmelzsicherung. Sie leitet Ihre Schutzreaktion durch Ihre Gestaltung und deren Veränderung durch den Betriebszustand ein. Innerhalb der Sicherung befindet sich ein Schmelzdraht mit einem Querschnitt, welcher für die vorgesehene Stromstärke dimensioniert ist. Übersteigt die Stromstärke diesen Wert, erwärmt sich der Schmelzdraht solange bis das Material schmilzt. Nach einer gewissen Zeit wird die elektrische Verbindung unterbrochen. Oft finden sich solche Sicherungen in Schaltkästen im Kraftfahrzeugbereich und bei elektrischen Geräten entweder im Gehäuse oder im Anschlussstecker wie in Abbildung 7.20.a. Die in Abbildung 7.20.b gezeigte Sicherheitsrutschkupplung schützt Antriebsund Arbeitsmaschine vor Überlasten, die Kupplung rutscht bei einem einstellbaren Maximalmoment durch. Kann der Antrieb im Fehlerfall rasch abgeschaltet werden, wird der Reibbelag der Kupplung nicht thermisch geschädigt. Rutscht die Kupplung jedoch unkontrolliert durch, versagt das Wirkprinzip des Reibkraftschluss durch thermische Zerstörung, vgl. auch [138, 192].

7.2.2.3 Schutzeinrichtungen Schutzeinrichtungen haben die Aufgabe, Menschen oder Objekte von einer Gefahrenstelle zu trennen bzw. fernzuhalten. Im Gegensatz zu Schutzsystemen und Schutzorganen haben Schutzeinrichtungen eine Schutzfunktion ohne Schutzreaktion. Das heißt sie greifen nicht in die Funktion des zu schützenden Systems ein, weisen selbst keinen Signalumsatz auf und sind damit rein passive Einrichtungen. Maßnahmen sind beispielsweise Verdeckungen oder Sicherheitsabstände nach DIN 13857, vgl. [79].

260

7 Sichere Produkte entwickeln

Abb. 7.21 Verschiedene Ausführungen von Schutzeinrichtungen aus [170, S. 346]

Abb. 7.22 Kettenschutz für Fahrräder um ein Einziehen des Hosenstoffs während der Fahrt zu verhindern. Links ohne Kettenschutz, mitte mit Kettenschutz als Schutzeinrichtung, rechts Reflektorband.

In Abbildung 7.21 sind Ausführungen einer Verkleidung, einer Verdeckung und einer Umwehrung dargestellt. Durch die Verkleidung hat der Maschinenbediener keinen Zugriff auf die rotierenden Teile im Inneren der Maschine. Bei der Verdeckung wird gezielt der Bereich unzugänglich gemacht, welcher bei Berührung zu Verletzungen führen kann. Die Umwehrung verhindert eine Berührung, indem ein Mindestabstand zur Maschine hergestellt wird, an der Maschine selbst liegen gefährdende Stellen frei. Wenn eine Schutzeinrichtung nur für den Normalbetrieb konzipiert ist, kann es beispielsweise beim Reversierbetrieb zu gefährlichen Situationen kommen, daher sind bei der Gestaltung von Schutzeinrichten stets alle relevanten Betriebszustände zu berücksichtigen. Der Kettenschutz an Fahrrädern, wie in Abbildung 7.22 dargestellt, fällt in den Bereich der Verkleidungen und verhindert ein Einziehen des Hosenstoffs während der Fahrt. Ist dieser nicht vorhanden, reagieren viele Radfahrer auf die Situation mit einer alternativen Schutzeinrichtung, indem sie den Stoff mit einer Klammer oder einem Reflektorband um das Bein fixieren. Die Schutzeinrichtung in Abbildung 7.22 funktioniert ohne Signalumsatz und Rückwirkung auf den Nutzungsprozess.

7.2 Prinzipien der Sicherheitstechnik

261

Abb. 7.23 Warnschilder links im Straßenverkehr und rechts auf Bahnanlagen

7.2.3 Hinweisende Sicherheitstechnik Die hinweisende Sicherheitstechnik besteht zum Großteil aus Warnungen und dem Schaffen des nötigen Bewusstseins für die Gefahr bei den potentiell gefährdeten Personen. Der Hinweis auf eine Gefahrenstelle soll ein sicherheitsbewusstes persönliches Verhalten bewirken, das kann zum Beispiel durch Schilder an Maschinen mit frei rotierenden Bauteilen oder mit Verhaltenshinweisen in der Betriebsanleitung umgesetzt sein. Die hinweisende Sicherheitstechnik als Maßnahme soll im Sinne sicherer Produkte nach dem aktuellen Stand der Technik nicht eingesetzt werden, ist aber bei bestimmten Produkten wie beispielsweise manuellen Drehmaschinen kaum zu ersetzen. Der gesamte Straßenverkehr mit Schildern, Ampeln und Richtungsanzeigern beruht auf dieser Technik, ein Stoppschild kann kein Stopp erzwingen. Die hinweisende Sicherheit wird also besonders dann verwendet, wenn Menschen räumlich sehr nah an Maschinen arbeiten wie bei Fließbandarbeiten, die Arbeit an einer manuellen Drehmaschine oder beim Einlegen von Teilen in Pressen. Warnschilder im Straßenverkehr oder auf Bahnanlagen sind Beispiele, welche man häufig antrifft, Abbildung 7.23 links zeigt ein Straßenschild mit einer Gefällewarnung, welches gleichzeitig mit einer Handlungsempfehlung ergänzt wurde. Das Einlegen eines niedrigeren Ganges soll zu einer hohen Dauerbremsleistung des Verbrennungsmotors im Schubbetrieb führen, um ein Überhitzen der Reibungsbremse bei Dauerbetrieb zu vermeiden. Im rechten Teil der Abbildung sind Warnschilder von einem Bahnsteig mit dem Hinweis dargestellt, einen bestimmten Abstand zur Gleisanlage einzuhalten, um einen Sturz auf die Schienen zu verhindern.

7.2.4 Bauteilausfallverhalten Die Sicherheit eines Systems hängt von der Bauteilzuverlässigkeit ab, vgl. Abbildung 7.8. Um eine Aussage über die Zeitdauer treffen zu können, ab wann

262

7 Sichere Produkte entwickeln

Abb. 7.24 Überlebenswahrscheinlichkeitsverlauf über der Lebensdauer unterteilt in Intervalle (Nach [150, S. 195ff])

mit einem Ausfall von Bauteilen zu rechnen ist, muss das Ausfallverhalten der Bauteile bekannt sein. An dieser Stelle wird auf das Verhalten von Bauteilen eingegangen, wobei angenommen wird, dass das Versagen einem mit den Mitteln der Statistik beschreibbaren kausalen Prozess folgt. Die Lebensdauer eines Bauteils verhält sich dabei wie eine Zufallsvariable, die als Stichprobe aus einer Reihe von Lebensdauerversuchen interpretiert werden kann. Wiederholt man diese Versuche, so ergibt sich die Streubreite als Quotient von maximaler und minimaler Lebensdauer, vgl. [112]. Diese Streubreite kann man nach verschiedenen mathematischen Verfahren in Intervalle einteilen. Trägt man nun die Anzahl der Ausfälle innerhalb der zuvor gewählten Intervalle über der Lebensdauer auf, erhält man das Histogramm der Verteilung. Die Ausfallwahrscheinlichkeit wird mit der Dichtefunktion berechnet. Diese wiederum kann durch Schätzverfahren wie der Regressionsanalyse aus dem Histogramm ermittelt werden. Die Ausfallwahrscheinlichkeit wird dann üblicherweise als Prozentangabe interpretiert. Durch Subtraktion von 100 % erhält man die Überlebenswahrscheinlichkeit, deren typischer Verlauf in Abbildung 7.24 dargestellt ist. Dazu wird die Überlebenswahrscheinlichkeit über der Lebensdauer linear aufgetragen. Die Summe der intakten Einheiten der Intervalle nimmt mit zunehmender Lebensdauer ab, vgl. [150, S. 195]. Ein weiterer wichtiger Parameter ist die Ausfallrate. Diese gibt an, wie viele Ausfälle pro Zeiteinheit bei Lebensdauerversuchen im Mittel auftreten. Trägt man diesen Parameter über der Lebensdauer auf, so ergibt sich bei linearer Achseneinteilung ein charakteristischer Verlauf, welcher in Abbildung 7.25 aufgetragen ist. Dabei lassen sich drei Bereiche identifizieren. Zu Beginn weißt die Ausfallrate einen degressiven Verlauf auf, da bereits vorgeschädigte Bauteile i.d.R. rasch ausfallen. Mit zunehmender Lebensdauer bleibt im zweiten Bereich die Ausfallrate auf einem ähnlichen Wert. Bauteile, welche hier ausfallen, unterliegen zufälligen Randbedingungen. Im dritten Bereich dominiert der Verschleiß sowie die

7.3 Funktionale Sicherheit

263

Abb. 7.25 Charakteristischer Verlauf der Ausfallrate in Form der “Badewannenkurve” mit den Ausfallbereichen von Bauteilen während der Lebensdauer und Angabe von Vermeidungsmaßnahmen (Aus [32] in Anlehnung an [28, S. 24])

Materialermüdung der Bauteile und die Ausfallrate steigt wieder an. Ausfälle im ersten Bereich versucht man häufig über Qualitätskontrollen beispielsweise als letztem Schritt der Fertigung zu erkennen und die entsprechend auffälligen Produkte direkt nachzubessern. Mit geringer Häufigkeit auftretende aber sich wiederholende Probleme werden im Bereich des Automobilbaus häufig über Kulanzregelungen oder stille Rückrufe – Tausch der Komponenten mit oder ohne Kundeninformation beim Service in der Vertragswerkstatt – möglichst ohne negativen Einfluss auf die Kundenzufriedenheit behoben. Der dritte Bereich der verschleißbedingten Ausfälle soll bei Gebrauchs- und Investitionsgütern zeitlich deutlich außerhalb der Garantiezeit bzw. der projektierten Produktnutzungsdauer liegen, um Imageschäden durch zu frühe Ausfälle der Produkte zu vermeiden.

7.3 Funktionale Sicherheit Während der letzten Jahrzehnte hat sich durch die kontinuierliche Entwicklung der Elektronik die Leistungsfähigkeit der Mikrocontroller deutlich gesteigert. Die Integration von datenverarbeitenden Systemen in viele Produkte, welche sich

264

7 Sichere Produkte entwickeln

von rein mechanischen über mechatronische und smarte zu intelligenten Systemen entwickeln, findet sowohl im industriellen Bereich als auch in der Heimanwendung sowie in der Automobilindustrie immer größere Verbreitung, vgl. [224]. Diese Integration gepaart mit komplexer werdenden Systemen ermöglichen immer vielfältigere Funktionen, welche auch einen Teil zur Sicherheit des gesamten Produkts beitragen oder bei Fehlfunktion die Sicherheit des Produkts gefährden. Als Beispiel hierfür kann das ABS-System von Kraftfahrzeugen genannt werden, das im Normalfall die Sicherheit des Fahrzeugs erheblich steigert, eine Fehlfunktion hingegen führt zu einer deutlichen Verschärfung der Gefahr. Der Teil der Sicherheit, welcher bei Ausfall dieser sicherheitsbezogenen Funktionen betroffen ist, wird mit funktionaler Sicherheit bezeichnet. Gemäß der grundlegenden Norm DIN EN 61508 [80] kann die zuvor angegebene Definition der Sicherheit, vgl. Definition 19, auch für die funktionale Sicherheit genutzt werden. Im Sprachgebrauch der funktionalen Sicherheit – oft kurz als FuSi bezeichnet – wird mit EUC dem Englischen folgend das zu entwickelnde Produkt als equipment under control bezeichnet, zum Beispiel eine CNC-Drehmaschine. Das zugehörige Steuerungs- und Leitsystem kann durch eine speicherprogrammierbare Steuerung (SPS) realisiert sein und das E/E/PE-sicherheitsbezogene System ist der Teil, welcher die Sicherheitsfunktion bereitstellt, die Abkürzung E/E/PE steht dabei für elektrisch, elektronisch sowie programmierbar elektronisch. Bei der CNC-Drehmaschine ist das E/E/PE System der Systemteil, welcher beispielsweise die Spindel bei Öffnen der Einhausung stoppt, um ein Eingreifen des Bedieners in den Arbeitsraum bei rotierender Maschine zu verhindern. In diesem Sinne gilt für die funktionale Sicherheit die folgende Begriffsdefinition, die sich an [40] anlehnt: Definition 27 Funktionale Sicherheit Als funktionale Sicherheit wird der Teil der Gesamtsicherheit des zu entwickelnden Produkts (EUC) und dessen Leit- oder Steuerungssystem bezeichnet, der von der korrekten Funktion des sicherheitsbezogenen Systems und der Einrichtungen zur Risikominderung abhängt. 3

Abbildung 7.26 symbolisiert die Verbindung der Software, welche über logische Netzwerke oder mit künstlicher Intelligenz Informationen an den Regler des mechatronischen Systems sendet; das zugrunde liegende Modell korreliert die Steuerströme bzw. Frequenzen mit den physikalischen Stellgrößen. Die funktionale Sicherheit ist in der europäischen Norm DIN EN 61508 festgehalten, vgl. [80], die wiederum auf die übergeordnete internationale Norm IEC 61508 zurückgreift und welche in den verschiedenen Teilen Anforderungen, Begriffe und Beispiele bereitstellt. Für den Bereich der Automobiltechnik wurde die Norm DIN ISO 26262 [82] sowie für die Medizintechnik die DIN EN 60601 [83] abgeleitet , vgl. [154, S. 8]. Eine Übersicht des Normenwerks zur funktionalen Sicherheit ist in Abbildung 7.27 gegeben. Das sicherheitsrelevante System muss eine Zuverlässigkeitsanforderung erfüllen, welche durch den geforderten Sicherheitsintegritätslevel – kurz SIL für Safety In-

7.3 Funktionale Sicherheit

265

Abb. 7.26 Funktionale Sicherheit bestehend aus der Softwareprogrammierung links und der Hardwareumsetzung rechts.

Abb. 7.27 Abgeleitete Normen von der IEC 61508 für verschiedene Branchen

tegrity Level – vorgegeben ist und aus der IEC 61508 stammt. Den Sicherheitsfunktionen werden entsprechende Stufen zugewiesen, vgl. [40, S. 418]. Aus der Stufe folgt dann die einzuhaltende durchschnittliche Ausfallwahrscheinlichkeit bei der Funktionsausführung, vgl. [40, S. 196], diese Ausfallwahrscheinlichkeit quantifiziert dann das zulässige Risiko. Die SI-Level sind in den abgeleiteten Normen entsprechend Abbildung 7.27 unterschiedlich festgelegt, in der Norm für die Fahrzeugtechnik DIN ISO 26262, vgl. [82], gibt es keine SI-Level von 1 bis 3 sondern ASIL Level von A bis D, Automotive Safety Integrity Level. Grund hierfür ist, dass für eine Vielzahl von sicherheitsrelevanten Funktionen im Fahrzeug auf eine Bewertung SI-Level zwischen 2 und 3 führt, daher ist das ASIL Level C zwischen SIL 2 und SIL 3 zu verorten während das ASIL D mit den SIL 3 vergleichbar ist, vgl. [154, S. 15]. Ein Beispiel aus dem Fahrzeug-Bereich ist das sogenannte Torque Vectoring, welches individuell die Antriebsmomente der einzelnen Räder regelt und so das Fahrverhalten des Fahrzeugs direkt beeinflusst, vgl. Abbildung 7.28.a. Dabei wird das Moment in Fahrzeugquerrichtung beeinflusst. Ein im Markt befindliches Torque-Vectoring System, das in ein Hinterachsdifferential integriert ist, zeigt Abbildung 7.28.b. Ein Effekt ist eine agilere Kurvenfahrt durch Nutzung eines kurvenein- oder kurvenausdrehenden Giermoments, welches bei der Kurvenfahrt wirkt. Zusätzlich kann durch eine gezielte Entlastung der Räder ein

266

a)

7 Sichere Produkte entwickeln

b)

Abb. 7.28 Wirkprinzip des Torque Vectoring Systems (a) (Nach [135]), Audi Active Sport Differential (b) (Aus [136])

Rutschen verhindert werden, sodass ein größerer Abstand vom Grenzrisiko ermöglicht wird, vgl. [54, S. 1107]. Aufgrund der für den normalen Kunden nicht beherrschbaren Risiken bei Fehlverhalten wird das System mit ASIL D eingestuft. Damit gehen hohe Sicherheitsanforderungen an das Steuergerät und die Aktorik einher, sodass in diesem Fall eine aktive Redundanz mit einem zweiten Steuergerät vorgesehen wurde, vgl. [54, S. 1113]. Der Sicherheitsintegritätslevel, d. h. die Festlegung der SIL- oder ASIL-Stufe, wird im Rahmen einer Risikobewertung ermittelt, dazu wird das Risiko als Parameter und der Risikograph benötigt, die Begriffe werden im Folgenden erläutert. Das Risiko ist im Rahmen der Bewertung das Produkt aus dem Ausmaß eines Schadens und dessen Eintrittshäufigkeit. Zur erweiterten Differenzierbarkeit möglicher Fehler mit Blick auf die sinnvolle Festlegung des SIL werden weitere Aspekte berücksichtigt. Diese bestehen aus der Aufenthaltsdauer in potentiell sicherheitskritischen Zuständen, Maßnahmen zur Gefahrenabwendung sowie der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Fehler ohne eine Schutzeinrichtung, vgl. [40, S. 103]. Eine genaue Beschreibung und Ermittlung der verschiedenen Faktoren würde an dieser Stelle zu weit führen8 . Nachdem die Punkte festgelegt wurden, kann mit Hilfe des Risikographen der Sicherheitsintegritätslevel ermittelt werden. Ein beispielhafter Risikograph in Anlehnung an die IEC 61508 ist in Abbildung 7.29 dargestellt. Von links nach rechts wird dabei dem entsprechend festgelegten Pfad die SI-Einstufung abgelesen, dabei hat die Eintrittswahrscheinlichkeit einen maßgeblichen Einfluss. Mit einem SI-Level ist eine bestimmte noch zulässige Ausfallrate λ F D verknüpft, für ein SIL 3 beispielsweise gilt bei ununterbrochener Anforderungsrate eine Fehlerhäufigkeit9 pro Stunde λ F D von 10−8 < λ F D < 10−7 . Ergibt sich aus der Risikobewertung, dass zum Beispiel die Steuerungseinheit nicht den Anforderungen entspricht, so sind Änderungen in der Systemarchitektur nötig, um die noch akzeptierten Ausfallwahrscheinlichkeiten zu erreichen. Dazu wird bei der funktio8 9

Erklärungen können [40, S. 98 und 99] sowie [164, S. 234 bis 236] entnommen werden. Weitere Werte befinden sich in [164, S. 236].

7.3 Funktionale Sicherheit

267

Abb. 7.29 Risikograph in Anlehnung an die IEC 61508

nalen Sicherheit das Prinzip der Redundanz angewendet, vgl. Abschnitt 7.2.1.3, um die Systemarchitektur fehlertoleranter zu gestalten. Betrachtet wird nicht nur die Ausfallwahrscheinlichkeit eines einzelnen Bauteils sondern die gesamte Kette für die Ausführung der Sicherheitsfunktion. Ein Mess-, Steuerungs- oder Regelungssystem kann durch zufällige Fehler Reaktionen auslösen, denen kein reales Fehlerbild zugeordnet ist. Eine mögliche Maßnahme zur Senkung der Wahrscheinlichkeit einer Fehlreaktion ist die Selbstdiagnosefähigkeit durch eine mehrkanalige Struktur. Diese mehrkanalige Struktur wird über eine entsprechende Gestaltung der Sensoren und ihrer Anbindung an das Steuergerät einerseits und die Ermittlung und den Vergleich zweier Ist-Werte realisiert. Die genaue elektrotechnische bzw. mechatronische Gestaltung und das verwendete Signal werden aus der Systemarchitektur abgeleitet. Hat z. B. ein Steuergerät zwei Sensoren zur Verfügung, verwendet aber nur ein Signal, so kann das System als fehlertolerant eingestuft werden, vgl. [40, S. 198ff]. Das zur Ausführung der sicherheitsrelevanten Funktion benötigte Signal ist zweimal vorhanden, sodass der Teil der Gesamtsicherheit auch im Fehlerfall eines Sensors weiter besteht, der zweite Sensor wird als kalte Redundanz genutzt. Gleicht das Steuergerät jedoch beide Sensorsignale kontinuierlich ab, so kann ein Fehler eines Sensors erkannt und das System ggf. direkt außer Betrieb genommen werden, um einen sicheren Zustand herzustellen. Ist es hingegen möglich, auf übergeordneter Ebene festzustellen, welches der beiden Signale vertrauenswürdig ist, so kann die

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7 Sichere Produkte entwickeln

Anlage noch im Störbetrieb mit reduzierter Produktivität bzw. Geschwindigkeit für eine begrenzte Zeit betrieben werden, die Signalleuchte in Abbildung 7.19.a zeigt dann ein gelbes Licht als Warnhinweis.

7.4 Kritische Betrachtung der Sicherheit in der Produktentwicklung Es ist deutlich, dass dieses Kapitel nur in die Fragestellungen der Sicherheitstechnik, der verschiedenen Teildisziplinen der Zuverlässigkeitstechnik sowie insbesondere der funktionalen Sicherheit einführen kann. Es geht im Wesentlichen um die Sensibilisierung der Produktentwickler und insbesondere der Projektverantwortlichen für die Komplexität des Themas Sicherheit. Die entsprechenden Tätigkeiten müssen sorgfältig im Projektplan verankert und von Spezialisten bearbeitet werden. Der Produktentwickler braucht ein solides Grundverständnis in seiner Rolle als Generalist, insbesondere die funktionale Sicherheit hingegen ist eine Aufgabe für Spezialisten, vgl. Abbildung 1.16.

Kapitel 8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

Mit zunehmender Globalisierung steigt der internationale Wettbewerb und die Konkurrenzsituation hinsichtlich der Preise und Kosten eines Produktes wird verschärft. Unternehmen müssen sich zunehmend auf eine Kostenoptimierung aller Produkte einschließlich der notwendigen Komponenten und Bauteile fokussieren. Dieses Kapitel zeigt den Einfluss der Produktentwicklung auf die Produktkosten, welche durch Anforderungen, Funktionsstruktur und Gestaltung wesentlich bestimmt werden. Dabei ist es nicht möglich, nur auf technische Disziplinen zu schauen, auch wirtschaftliche Fragestellungen müssen beleuchtet werden, um ein Grundverständnis für die Zusammensetzung von Produktkosten zu erlangen. Für den Produktentwickler sind typische Fragestellungen in diesem Kontext beispielsweise wie Produkte auf bestimmte Kostenziele hin entwickelt werden können oder wie man diese Kostenziele definiert und einhält. Dabei sind verschiedene Kostenbegriffe und Arten der Kostenrechnung für den Entwickler wichtig, es ist betriebswirtschaftliches Grundwissen erforderlich. Die erfolgreiche Entwicklung neuer Produkt gelingt nur, wenn neben der technischen Entwicklung auch die wirtschaftlichen Aspekte des neuen Produkts gleichermaßen betrachtet werden. Dieses Kapitel soll daher für die grundlegenden wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenhänge sensibilisieren.

Lernziele des 8. Kapitels: • Sie kennen die Bedeutung des Themas Kosten für die Produktentwicklung und können den bewussten Umgang mit Kosten als Bestandteil der Produktentwicklung erklären. • Sie kennen die Grundlagen der Kostenentstehung im Produktlebenslauf sowie typische Kostenrechnungsarten und können diese auf Beispiele anwenden. • Sie können Produktkosten nach der Methode der differenzierenden Zuschlagskalkulation bestimmen, wissen, wie Produktkosten beeinflusst werden und können dafür Beispiele angeben. • Sie können die drei Strategien des Produktkostenmanagements – Kosten senken, Wertanalyse und Zielkostenentwicklung – erklären und können situationsabhängig die richtige Strategie anwenden. 2 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Kirchner, Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61762-5_8

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270

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

Abb. 8.1 Zentrale Begriffe des siebten Kapitels

Wichtige Begriffe, die im Zusammenhang der Kostendiskussion relevant sind und auf die im Folgenden näher eingegangen wird, sind in Abbildung 8.1 dargestellt. Eine Zeit lang wurden vor allem in der Automobilindustrie Kosten vorrangig durch sogenanntes Outsourcing – Auswärtsvergabe – reduziert: Die Unternehmen haben direkte Personalkosten eingespart und sich lediglich auf ihre Kernkompetenz konzentriert, was sich jedoch oft in Produkten niedriger Qualität niedergeschlagen hat. Kosten können jedoch auch auf anderem Weg eingespart werden, einige der Methoden und Werkzeuge zum Einsparen von Produktkosten werden in diesem Kapitel vorgestellt.

8.1 Grundbegriffe des Produktkostenmanagements Zunächst werden wichtige betriebswirtschaftliche Begriffe erklärt, welche für das Verständnis des Zustandekommens von Produktkosten essentiell sind.

8.1.1 Kostenarten Grundlegend kann für Kosten folgende Definition verwendet werden, vgl. [60]: Definition 28 Kosten Kosten ist der in Geld bewertete Verbrauch an Gütern und (Dienst-) Leistungen für die betriebliche Leistungserstellung. 3

In der Leistungserstellung erzeugt ein Unternehmen Leistungen, d. h. materielle und immaterielle Produkte wie in Abbildungen 1.3 und 1.4 gezeigt, und bringt diese auf den Markt. Für die unterschiedlichen Produkte erhält das Unterneh-

8.1 Grundbegriffe des Produktkostenmanagements

271

Abb. 8.2 Leistungsprozess als Black-Box

men von seinen Kunden Erlöse. Zur Erzeugung der Leistungen bzw. für den Leistungsprozess benötigt ein Unternehmen jedoch Produktionsfaktoren, wie beispielsweise Material in Form von Werkstoffen oder Betriebsmitteln sowie Energie oder menschliche Arbeitskraft, vgl. [60]. Diese Produktionsfaktoren muss das Unternehmen selbst am Markt einkaufen, wodurch Kosten entstehen. Diese Leistungserstellung eines Unternehmens kann stark vereinfacht auch als Black-Box dargestellt werden, vgl. Abbildung 8.2. Im Rahmen der Produktentwicklung sind die vom Produkt verursachten Kosten am interessantesten, die Produktkosten. Aufbauend auf der zuvor beschriebenen Definition von Kosten kann der Begriff der Produktkosten konkretisiert werden: Definition 29 Produktkosten Produktkosten sind der in Geld bewertete Verbrauch von Produktionsfaktoren, öffentlichen Abgaben und Fremdleistungen zum Erstellen von materiellen oder immateriellen Produkten. 3

Kosten sind jedoch keine Produkteigenschaften, sondern entstehen in Prozessen. Um zutreffende Aussagen hinsichtlich der Kosten treffen zu können, müssen sowohl das Produkt als auch die damit verbundenen Prozesse betrachtet werden. Produktkosten können somit nicht durch “Messen” des Produktes ermittelt werden, wie beispielsweise durch Wiegen des Gewichts, sondern müssen durch Quantifizierung von Prozesskosten und deren Kumulierung berechnet werden. Bei der Ermittlung von Produktkosten ist zu berücksichtigen, dass Prozesse unter unterschiedlichen Randbedingungen unterschiedlich ablaufen. Das bedeutet, dass das gleiche Produkt von verschiedenen Unternehmen zu unterschiedlichen Kosten hergestellt werden kann. Selbst innerhalb eines Unternehmens gibt es unter Umständen große Kostenunterschiede an verschiedenen Standorten, beispielsweise infolge unterschiedlicher Energie-, Lohn- oder Logistikkosten, vgl. auch Abschnitt 11.1.2. Ebenso gibt es eine Vielzahl an Einflussgrößen auf die ablaufenden Prozesse, wie beispielsweise die Menge, Losgröße, geforderte Qualität, Prozesszeit, Arbeitsmittel sowie die Qualifikation der Werker. Das führt dazu, dass die Erfassung von Kosten sehr aufwendig ist. Trägt man die kumulierten Kosten eines Produkts über der Zeit auf, kann man deutlich erkennen, wie die Produktkosten mit jedem durchlaufenen Prozess-

272

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

Abb. 8.3 Produktkosten und Lebenslaufkosten als kumulierte Kosten aus Prozessen (Nach [32] aufbauend auf [60, S. 126])

Abb. 8.4 Einteilung von Kosten

schritt anwachsen, vgl. Abbildung 8.3. Die Kosten steigen in der Planungs- und Entwicklungsphase noch moderat, erst gegen Ende der Entwicklung und während der Fertigung fällt der Großteil der Investitionskosten an. Hinzu kommen Instandhaltungs-, Betriebs- sowie Entsorgungskosten und auch in den Nutzungsprozessen verursacht ein Produkt weitere Kosten z. B. durch Energieverbrauch, die sich dann zu den Lebenslaufkosten – im Englischen Life-Cycle-Cost – kumulieren. Die in Abbildung 8.4 dargestellte Einteilung von Kosten eignet sich besonders gut für die Kostenbewertung in der Produktentwicklung, vgl. [60].

8.1 Grundbegriffe des Produktkostenmanagements

273

Abb. 8.5 Entstehung von Kosten im gesamten Produktlebenslauf (Nach [60, S. 128])

Die Lebenslaufkosten umfassen sämtliche Kosten1 , die über den gesamten Lebenslauf entstehen, häufig wird auch dem Englischen folgend von TCO gesprochen, Total Cost of Ownership. Abbildung 8.5 zeigt, dass ein Produkt während seines (realen) Lebens eine Vielzahl von Prozessen durchläuft. Auf der Seite des Produktherstellers fallen sämtliche Kosten an, die unter Selbstkosten subsumiert werden können. Diese entstehen beispielsweise aufgrund von (Werkstoff-) Herstellungsprozessen, Lagerungs- und Bevorratungsprozessen, Fertigungs- und Montageprozessen sowie Verpackungs- und Transportprozessen. Auf der Seite des Produktnutzers entstehen Kosten für die Anschaffung sowie während der Nutzung resultierend aus den Nutzungsprozessen mit den notwendigen Betriebsund Hilfsstoffen. Auch Serviceprozesse, wie beispielsweise Wartung und Reparatur sowie die Entsorgungs- oder Recyclingprozesse werden bei der Lebenslaufkostenanalyse berücksichtigt. Das Management der Lebenslaufkosten betrachtet also den gesamten Lebenslauf eines Produktes unter Kostengesichtspunkten und wird zunehmend zu einer zentralen Aufgabe in Unternehmen und Organisationen des öffentlichen Lebens. 1

Erlöse werden in der Lebenslaufkostenbetrachtung nicht berücksichtigt.

274

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

Das Lebenslaufkostenmanagement führt zu ganzheitlich optimierten Produkten, berücksichtigt auch Folgekosten und kann eine wertvolle Unterstützung bei der Beratung von Verkauf oder Marketing sein.

8.1.2 Beitrag der Kosten zum Unternehmenserfolg Wie in Abbildung 8.2 symbolisch dargestellt werden durch die Erzeugung von Leistungen in einem Unternehmen Kosten verursacht. Wie auch aus Definition 29 hervorgeht, werden Produktionsfaktoren für die Erzeugung von Leistungen benötigt, welche für das Unternehmen Kosten verursachen. Die Produktionsfaktoren sind in Abbildung 8.2 genannt. Die erzeugten Leistungen bzw. Produkte werden vom Unternehmen dem Markt bzw. den Kunden zur Verfügung gestellt. Der Kunde ist bereit, für einen bestimmten Nutzen einen gewissen Preis zu bezahlen. Stiften die erzeugten Produkte den von den Kunden erwarteten Nutzen, sodass diese das Produkt für einen bestimmten Preis P kaufen, werden Erlöse E im Unternehmen generiert. Der Erlös, den ein Unternehmen mit seinen Produkten erzielt, ergibt sich folglich aus der Menge der verkauften Produkte n und dem Preis P, den die Kunden für die Produkte zahlen, X E = P ·n bzw. E= Pi · ni . (8.1) Alle Produkte i

Definition 30 Erlös Der Erlös ist die Summe der erzielten Verkaufspreise und entspricht der Summe der verkauften Produkte jeweils multipliziert mit ihrem Verkaufspreis. 3

Den Erlösen nach Definition 30 bzw. (8.1) stehen Kosten gegenüber. Langfristiger Produkt- und damit einhergehend Unternehmenserfolg ist folglich nur zu erreichen, wenn das Produkt ein entsprechendes Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweist und wenn der erziele Verkaufspreis – der Erlös – die Produktkosten dauerhaft übersteigt, vgl. Abbildung 8.6. Technisch hervorragende Produkte sind keine hinreichende Bedingung für einen Markterfolg, was durch sehr viele Beispiele belegt werden kann. Erst wenn technische und wirtschaftliche Gesichtspunkte in gleichem Maße Berücksichtigung gefunden haben, besteht die Chance, das eigentliche Ziel eines jeden Unternehmens zu erfüllen, langfristig Gewinn zu generieren, um die Unternehmensexistenz sicherzustellen. Der Gewinn wird wie in Abbildung 8.6 dargestellt aus der Differenz zwischen Erlös und Kosten berechnet, vgl. [55, S. 4]: Definition 31 Gewinn Der Gewinn ist die Differenz zwischen Erlösen und Kosten.

3

8.1 Grundbegriffe des Produktkostenmanagements

275

Abb. 8.6 Produkte im Spannungsfeld zwischen Kosten und Nutzen

Der Gewinn – im Englischen häufig mit EBIT2 bezeichnet, Earnings before Interest and Taxes – ermöglicht es den Unternehmen, neue Produkte zu entwickeln und Investitionen zu tätigen, um dadurch die Produktivität zu steigern und somit langfristig im Wettbewerb zu bestehen. Ein Unternehmen wird üblicherweise als erfolgreich bezeichnet, wenn es im Vergleich zu seinen Wettbewerbern langfristig mit seinen Produkten am Markt einen großen Erlös erzielt und dabei einen Gewinn erwirtschaftet. Der Unternehmenserfolg ist folglich durch Produkterfolge zu erzielen, die Produkte können im Mittel mit einem positiven Gewinnbeitrag verkauft werden. Das bedeutet, dass das Verhältnis von Preis und Nutzen der Produkte für die Kunden so attraktiv sein muss, dass diese das Produkt erwerben und dass dabei das Unternehmen deutlich mehr Erlöse erzielt, als es Kosten aufwendet.

8.1.3 Erfassung der Kosten In der Regel werden Kosten getrennt nach Kostenarten sowie nach Kostenstellen erfasst. Hierbei ist eine Kostenart eine Zuordnung von Kosten zu ähnlichen oder vergleichbaren Gesichtspunkten. Typische Kostenarten sind z. B. Material-, Fertigungs-, Verwaltungs- und Vertriebskosten, vgl. [60, S. 9]. Eine Kostenstelle hingegen beschreibt einen nach bestimmten Kriterien abgegrenzten betrieblichen Bereich der Kostenentstehung. Wichtige Kostenstellen sind Abteilungen, Werkstätten, Maschinen und eventuell einzelne Arbeitsplätze, vgl. [60, S. 423], die auch wieder z. B. zu Hauptabteilungs-Kostenstellen aggregiert werden können, Kostenstellen können aber auch im universitären Bereich für einzelne Arbeitsgruppen oder Fachgebiete eingerichtet werden. Für Details zur Kostenrech2

In der Betriebswirtschaftslehre gibt es darüber hinaus den Begriff des EBITDA – Earnings before Interests, Taxes, Depreciation and Amortization –, in die Berechnung gehen zusätzlich die Abschreibungen von Investitionsgütern und von immateriellem Vermögen ein, vgl. z. B. [228].

276

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

Abb. 8.7 Beispiel eines betriebswirtschaftlichen Abrechnungs-Bogens

nung sei im Sinne der Fokussierung auf die Produktentwicklung hier auf die Literatur zur Betriebswirtschaftslehre, vgl. z. B. [121, 163]. Der betriebswirtschaftliche Abrechnungs-Bogen (BAB) beispielsweise ordnet die Kostenstellen den Kostenarten zu und ist somit ein wichtiges Instrumentarium für die Planung, Überwachung und Darstellung der Kosten aus betriebswirtschaftlicher Sicht. Abbildung 8.7 zeigt einen typischen betriebswirtschaftlichen Abrechnungs-Bogen, auf die Details kann hier jedoch nicht eingegangen werden. Wichtig für das Folgende sind jedoch die im unteren Block des BAB ermittelten Zuschlagsfaktoren, die für die Ermittlung der Herstellkosten nach der Methode der differenzierenden Zuschlagskalkulation benötigt werden. Für Produktentwickler sind sowohl die direkten als auch die indirekten Kosten zur Herstellung von Produkten von Relevanz. Direkte Kosten können einem materiellen oder immateriellen Produkt eindeutig zugeordnet werden, z. B. Materialkosten sowie Behandlungs- oder Installationskosten bei Dienstleistungen oder Softwareprodukten. Indirekte Kosten wie beispielsweise für die Gebäudeheizung oder Miete können jedoch nicht auf einzelne produzierte oder verkaufte Einheiten verteilt werden und sind meist im Wesentlichen unabhängig vom Produktionsvolumen bzw. Umsatz. Die Zuordnung bzw. Erfassung der Kosten nach Kostenarten und Kostenstellen liefert jedoch keine eindeutigen Rückschlüsse auf die Kosten zur Herstellung eines Produktes. Eines der wesentlichen Probleme besteht darin, dass nur ein Teil der Kosten, die im Unternehmen entstehen, die Einzelkosten, den Kostenträgern – d. h. den verschiedenen materiellen oder immateriellen Produkten des Unter-

8.1 Grundbegriffe des Produktkostenmanagements

277

Abb. 8.8 Verfahren der Kostenzuordnung

nehmens – direkt zugeordnet werden können. Für den Unternehmenserfolg hat die verursachergerechte Zuordnung der entstandenen Kosten zu den Produkten oder Bauelementen eine hohe Bedeutung, da sie die Basis für die Ermittlung der Gesamtkosten darstellt. Definition 32 Einzelkosten Einzelkosten oder direkte Kosten sind alle Kosten, die einem einzelnen Objekt eindeutig zugerechnet werden können bzw. im konkreten Anwendungsfall zugerechnet werden. 3

Die indirekten Kosten, die sich nicht direkt einem einzelnen Produkt oder einem Zurechnungsobjekt zuordnen lassen, werden unter dem Begriff der Gemeinkosten subsumiert. Zu den typischen Gemeinkosten zählen insbesondere Kosten der Verwaltung und Gehälter, welche sich nicht einem Zurechnungsobjekt direkt zuordnen lassen. Üblicherweise werden die Gemeinkosten indirekt mit Hilfe von Schlüsseln in Form von Zuschlägen – den sogenannten Gemeinkostenzuschlagssätzen – den Einzelkosten zugeordnet, vgl. Abschnitt 8.2. Die Ermittlung der Zuschlagssätze erfolgt mit dem Betriebsabrechnungsbogen, vgl. Abbildung 8.7, und wird im Folgenden erläutert. Definition 33 Gemeinkosten Gemeinkosten sind alle Kosten, die keinem Zurechnungsobjekt direkt zugerechnet werden können bzw. im konkreten Anwendungsfall zugerechnet werden und die unabhängig von Produktion und Absatz anfallen. 3

Die Kostenzuordnung zu Produkten bzw. Bauelementen kann mit Hilfe verschiedener Verfahren durchgeführt werden, vgl. Abbildung 8.8. Die Kostenzuordnung mittels der Divisionskalkulation wird verwendet, wenn ein einheitliches Produktprogramm vorliegt, bei dem alle Produkte etwa wirtschaftlich gleichwertig sind. Hierbei werden die Gesamtkosten durch die Stückzahl dividiert, sodass Kosten pro Stück ermittelt werden. Im Rahmen der Zuschlagskalkulation werden die Gemeinkosten auf die Einzelkosten mit einem Gemeinkostenzuschlagssatz “zugeschlagen“. Bei der summarischen Zuschlagskalkulation werden auf die Einzelkos-

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8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

ten einer Produktart bzw. eines Produkts alle Gemeinkosten mit einem spezifischen Satz zugeschlagen. Im Gegensatz dazu werden bei der differenzierenden Zuschlagskalkulation auf verschiedene Einzelkosten unterschiedliche anteilige Gemeinkosten zugeschlagen.

8.2 Differenzierende Zuschlagskalkulation Die differenzierende Zuschlagskalkulation ist eine häufig angewendete Methode, die mit vertretbarem Aufwand die Zusammensetzung von Produktkosten transparent darstellt. Die Basis für die Zuordnung der Kosten liegt in der Annahme, dass Produkte aus Materialien bestehen, welche in Prozessen entsprechend bearbeitet werden. Daraus folgt, dass Produktkosten sich aus der Summe der Materialkosten, den Kosten zur Durchführung der erforderlichen Prozesse sowie den Gemeinkosten für unterstützende Prozesse zusammensetzen. Materialien umfassen hierbei alle gegenständlichen Produktbestandteile, welche vom Unternehmen dazugekauft werden, wie beispielsweise Rohmaterialien, Halbzeuge sowie auch Produktkomponenten wie Ventile oder Elektromotoren. Zu den Prozessen gehören sowohl Herstell- und Beschichtungsprozesse der Komponentenfertigung sowie Montage-, Qualitätssicherungs- oder Transportprozesse. Zur Berechnung der Produktkosten müssen die Kosten der Materialien sowie aller zur Fertigstellung der Produkte notwendigen Prozesse ermittelt werden. Die Kostenberechnung basiert auf folgenden Prinzipien: • Bei Zuordnung der Materialkosten werden die Kosten des insgesamt erworbenen Materials entsprechend der Materialmenge aufgeteilt, welche für die Herstellung einer bestimmten Menge von Produkten benötigt wurde. Wenn in der Produktion Wertstoffabfälle entstehen, die wieder verkauft werden können, so kann man die Materialmengenkosten um die Wertstofferlöse reduzieren. • Bei den Prozessen, welche der Produktherstellung direkt zugeordnet werden können, werden allgemein die Auftragszeit und die Kosten des Prozesses pro Zeiteinheit zugrunde gelegt. • Die Prozesskosten pro Zeiteinheit ergeben sich, indem z. B. die Kosten einer Kostenstelle, die in einem bestimmten Zeitraum – beispielsweise einem Jahr – entstehen, durch die Dauer dividiert werden, die für die Produktion von Produkten zur Verfügung steht, Stillstandszeiten für Wartung und Umrüstung werden somit umgelegt. • Die Zuordnung der Kosten der Prozesse, welche die Produktionsprozesse unterstützen, wird sehr unterschiedlich vorgenommen. Gebräuchlich ist die Zuordnung mit Hilfe von Zuschlägen, die unterschiedlich fein vorgenommen werden kann. Grundsätzlich gilt, je genauer die Kosten für die indirekt an der Produktentstehung beteiligten Prozesse den Herstellkosten zugeordnet werden, desto mehr Aufwand ist für die Kostenberechnung erforderlich. Umso

8.2 Differenzierende Zuschlagskalkulation

279

Abb. 8.9 Differenzierende Zuschlagskalkulation

größer ist jedoch auch das Verständnis der Kostenverursacher und damit der Stellhebel für eine Kostenoptimierung. Abbildung 8.9 zeigt, dass sich die Herstellkosten (HK) eines Produktes aus Materialkosten (MK), Fertigungskosten (FK) sowie Sondereinzelkosten der Fertigung (SEF) zusammensetzen. In den jeweiligen Kostenarten sind sowohl Einzel- als auch Gemeinkosten enthalten. Werden zu den Herstellkosten die Verwaltungsund Vertriebsgemeinkosten hinzuaddiert, entstehen die Selbstkosten eines Produktes. In Abbildung 8.9 ist zu berücksichtigen, dass es zwei unterschiedliche Arten der Kosten-Verknüpfung gibt: Einerseits eine multiplikative Verknüpfung, in Form von Zuschlägen sowie andererseits eine additive Verknüpfung. Im Folgenden werden die Kostenarten näher erläutert.

280

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

8.2.1 Gemeinkosten Die Gemeinkosten werden den sogenannten Selbstkosten mittels Zuschlägen hinzugerechnet. Hierbei wird in in den meisten Fällen unterschieden zwischen Materialgemeinkosten MGK, Fertigungsgemeinkosten FGK, Verwaltungsgemeinkosten VWGK sowie Vertriebsgemeinkosten VTGK, vgl. auch Abbildung 8.9. Die Vertriebsgemeinkosten VTGK und die Verwaltungsgemeinkosten VWGK werden zu den Verwaltungs- und Vertriebsgemeinkosten VVGK zusammengefasst, VVGK = VTGK + VWGK.

(8.2)

Die Material- und Fertigungsgemeinkosten MGK und FGK werden den Materialund Fertigungskosten MK und FK im Folgenden zugerechnet.

8.2.2 Materialkosten MK Die Materialkosten MK setzen sich aus den Materialeinzelkosten MEK sowie den Materialgemeinkosten MGK zusammen, MK = MEK + MGK.

(8.3)

Die Materialeinzelkosten MEK berechnen sich aus der verbrauchten Materialmenge multipliziert mit dem Wert pro Mengeneinheit (meist der Einstandspreis/Einheit), vgl. (8.4). Die MEK umfassen alle direkt einem Bauteil oder einer Materialmenge zurechenbaren Kosten des Einkaufs: Kosten für Rohmaterial, Halbzeuge, Norm- und Kaufteile, fremdgefertigte Teile usw., MEK = Menge ·

Wert . Mengeneinheit

(8.4)

Die Materialgemeinkosten MGK werden mithilfe eines Materialgemeinkostenzuschlagssatzes gM aus den MEK berechnet, MGK=MEK ·

gM . 100%

(8.5)

Üblicherweise beinhalten die MGK auch die Kosten für die Beschaffung, Wareneingangskontrolle, Raumkosten für Lager und die Kosten für den innerbetrieblichen Transport. Hierbei ist der Materialgemeinkostenzuschlagssatz gM abhängig von der Materialmenge, dem Wert des Materials sowie vom Automatisierungsgrad des Lagers und beträgt i.d.R. zwischen 5 % und 10 %, in Ausnahmen hoch automatisierter Lager mit geringen Beständen sind 3 % gerechtfertigt, bei hohen Lagerbeständen und geringer Automatisierung sind bis zu 20 % vertretbar.

8.2 Differenzierende Zuschlagskalkulation

281

8.2.3 Fertigungskosten FK Die Fertigungskosten FK setzen sich aus dem Fertigungslohnkosten FLK sowie den Fertigungsgemeinkosten FGK zusammen, vgl. Abbildung 8.9, FK = FLK + FGK.

(8.6)

Die Fertigungslohnkosten FLK berechnen sich aus dem Verrechnungslohnsatz kL und der produktspezifischen Auftragszeit t a , FLK = t a · kL = (t h + t n + t r + t er + t V ) · kL .

(8.7)

Hierbei setzt sich die Auftragszeit t a aus der Hauptzeit t h , der Nebenzeit t n , der Rüstzeit t r sowie der Erhol- und Verteilzeit t er und t V zusammen. Der Verrechnungslohnsatz kL wird in [€/min] oder [€/h] angegeben und die Auftragszeit in Minuten [min] oder Stunden [h]. Die Fertigungsgemeinkosten FGK werden aus den Fertigungslohnkosten FLK mit dem Fertigungsgemeinkostenzuschlagssatz gF berechnet, FGK = FLK ·

gF . 100%

(8.8)

Die Fertigungsgemeinkosten FGK beinhalten die Kosten für Maschinen, Hallen, Werkzeuge sowie Hilfs- und Betriebsstoffe. Der Fertigungsgemeinkostenzuschlagssatz gF wird im Betriebsabrechnungsbogen für jede Kostenstelle ermittelt und ist stark abhängig vom Automatisierungsgrad der Fertigung, je höher automatisiert die Fertigung ist, desto geringer ist der Anteil der Lohnkosten, hierbei sind Werte für gF zwischen 100 % und 200 % üblich, in Ausnahmefällen bei extrem personalintensiver Montage bis zu 500 %. Da die innerbetriebliche Kosten- und Leistungsrechnung einen großen Spielraum für unternehmensspezifische Auslegungen bietet, gibt es oft alternative Abwandlungen der Kostenmodelle. Häufig findet man in der Praxis Modifikationen, welche sich in ihrem Detaillierungsgrad unterscheiden. Eine alternative Auslegung des Kostenmodells, ist die sogenannte Maschinenstundensatzrechnung, welche die Fertigungsgemeinkosten FGK in die beiden Bestandteile Maschinenkosten und Restfertigungskosten untergliedert. Eine weitere Alternative fasst die Kostenblöcke der Fertigungskosten FK zu den Platzkosten zusammen. Daher wird diese Variation auch als Platzkostenrechnung bezeichnet. Diese beiden alternativen Arten der Kostenermittlung werden aber hier nicht weiter besprochen, der Verweis auf [121, 163] soll hier genügen.

282

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

8.2.4 Sondereinzelkosten SEK Die Sondereinzelkosten SEK fassen Entwicklungs- und Konstruktionskosten EKK, Sondereinzelkosten der Fertigung SEF und die Vertriebseinzelkosten VTEK zusammen. Sondereinzelkosten der Fertigung sind Kosten, die für die Fertigung eines Kostenträgers notwendig sind – Werkzeuge, Modelle, Vorrichtungen, Lehren etc. – und diesem eindeutig zugeordnet werden können. Ein Kostenträger ist in diesem Zusammenhang beispielsweise eine Produktvariante, für die spezielle Prüflehren oder Montagevorrichtungen benötigt werden und die ursächlich dieser Variante aber nicht einem speziellen, produzierten Bauteil zugeordnet werden können. Bei einer Mehrfachverwendung erfolgt die Zuordnung anteilig. Die Entwicklungs- und Konstruktionseinzelkosten legen die Entwicklungskosten auf ein angenommenes Produktionsvolumen um. Werden weniger Produkte als erwartet abgesetzt, so entsteht ein Defizit. Die Vertriebseinzelkosten VTEK schließlich beinhalten Kosten des Vertriebs für ein spezielles Produkt, zum Beispiel Anschauungsmuster, deren Kosten auch wieder umgelegt werden können, SEK = SEF + EKK + VTEK.

(8.9)

8.2.5 Herstellkosten HK Die Herstellkosten HK setzen sich aus der Summe der Materialkosten MK nach (8.3), der Fertigungskosten FK nach (8.6) sowie der Sondereinzelkosten der Fertigung SEF zusammen, vgl. Tabelle 8.1,

Tabelle 8.1 Zusammenfassung der differenzierenden Zuschlagskalkulation Kostenart

Symbol

Berechnung

Materialeinzelkosten MEK Materialgemeinkosten MGK Materialkosten MK MK = MEK + MGK Fertigungslohnkosten FLK Fertigungsgemeinkosten FGK Fertigungskosten FK FK = FLK + FGK Sondereinzelkosten der Fertigung SEF Herstellkosten HK HK = MK + FK + SEF Entwicklungs- und Konstruktions- EKK einzelkosten Verwaltungsgemeinkosten VWGK Vertriebsgemeinkosten VTGK Verwaltungs- und VertriebsVVGK VVGK = VWGK + VTGK gemeinkosten Vertriebseinzelkosten VTEK Sondereinzelkosten SEK SEK = SEF + EKK + VTEK Selbstkosten SK SK = HK + EKK + VTEK + VVGK

Referenz (8.4) (8.5) (8.3) (8.7) (8.8) (8.6) Abschnitt 8.2.4 (8.10) Abschnitt 8.2.4 Abschnitt 8.2.1 Abschnitt 8.2.1 (8.2) Abschnitt 8.2.4 (8.9) (8.11)

8.2 Differenzierende Zuschlagskalkulation

283

HK = MK + FK + SEF.

(8.10)

Die Herstellkosten HK betragen im Mittel knapp 70 % der Selbstkosten SK. Die ist ein typischer Wert für deutsche Maschinenbau-Unternehmen, kann aber je nach Unternehmen und Produkt stark abweichen.

8.2.6 Selbstkosten SK Die Selbstkosten SK ergeben sich aus der Summe der Herstellkosten HK sowie den nicht in den Herstellkosten bereits berücksichtigten Kostenarten. Es gilt, vgl. Abbildung 8.9 und Tabelle 8.1, SK = HK + EKK + VTEK + VVGK= MK + FK + SEK + VVGK.

(8.11)

Daraus resultiert folgende Definition in Anlehnung an [60]: Definition 34 Selbstkosten Selbstkosten eines Produkts sind die Summe aus Herstellkosten, (anteiligen) Verwaltungs- und Vertriebsgemeinkosten und unter Umständen angefallene Sondereinzelkosten des Vertriebs. 3

Aus den mit der differenzierenden Zuschlagskalkulation ermittelten Selbstkosten lässt sich durch Addition eines gewünschten Gewinns ein kalkulierter NettoVerkaufspreis errechnen, vgl. Tabelle 8.1. Da man mit Nachlässen über Rabatte oder Skonti im Laufe der Auftragsverhandlungen rechnen muss, aber auch mit Zuschlägen für Risiken und Provisionen, bezieht man diese gleich ein und kommt zu einem kalkulierten Brutto-Verkaufspreis. Nach Addition von Kosten für Logistik und Transport und dem Produkt direkt zurechenbare Verpackungskosten, Zollkosten etc. kann der Verkaufspreis ermittelt werden, vgl. Abbildung 8.9.

Tabelle 8.2 Berechnung der Materialkosten MK und der Fertigungskosten FK am Beispiel des geschweißten Lagerblocks: a) Ermittlung der Materialkosten, b) Fertigungskosten Kosten a)

Summe

Materialeinzelkosten MEK für 8,3 kg bei 3 €/kg 24,90 € Materialgemeinkosten MGK mit gM = 15 % 3,70 € Materialkosten MK

28,60 €

Arbeitsplan und Kalkulation t rüst [min] t einzel [min] kL [€/min] b)

Zuschneiden Heften und Schweißen Entgraten und Richten Bohrwerk Fertigungskosten FK

15 15 15 30

40 30 10 30

1,2 1,5 1,5 2

Summe 66,00 € 67,50 € 37,50 € 120,00 € 291,00 €

284

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

Abb. 8.10 Technische Zeichnung eines Lagerbocks (Aufbauend auf [60, S. 531])

Im Folgenden wird exemplarisch auf die Kostenberechnung eines Lagerbocks in der Einzelfertigung eingegangen, in Abbildung 8.10 ist der Lagerbock dargestellt. In der Aufstellung in Tabelle 8.2.a sind die Kosten für den Lagerbock in der Einzelfertigung dargestellt. Hierbei sind die Materialkosten recht gut zu ermitteln, da das Gewicht aus der Stückliste sowie die Kosten pro Kilogramm bekannt sind. Der Materialgemeinkostensatz gM liegt bei 15 % und damit im üblichen Bereich. Die Fertigungskosten werden mit einem als bekannt vorausgesetzten Platzkostensatz ermittelt. Dies bedeutet, dass sowohl die Fertigungslohnkosten FLK für die Bearbeitung des einzelnen Lagerbocks einschließlich der Rüstzeiten als auch die Fertigungsgemeinkosten FGK erfasst werden. Die Zeiten t Rüst sowie t einzel können beispielsweise aus Tabellen der Arbeitsvorbereitung entnommen werden oder für kalkulatorische Abschätzungen aus Erfahrungswerten abgeleitet werden, vgl. Tabelle 8.2.b. Die Herstellkosten HK ergeben sich im Beispiel des geschweißten Lagerbocks als Summe der Material- und Fertigungskosten MK und FK zu 319,60 €, vgl. (8.10). Eine derartige Ermittlung der Material- und Fertigungskosten ist i.d.R. früh z. B. in der Angebotsphase möglich, um ein Angebot mit plausiblen Kosteninformationen zu hinterlegen. Wenn die Arbeitszeiten noch nicht genau abschätzbar sind, so kann man als Anhaltswert auch mit der Anzahl der einzelnen Fertigungsschritte und einem mittleren Zeitwert arbeiten. Die Berechnung der Kosten mit Hilfe der Zuschlagskalkulation erscheint im ersten Moment einfach. Es ergeben sich jedoch unterschiedliche Probleme für das Kostenmanagement:

8.3 Zusammenhang von Kosten und Preisen

• • • •

285

Die Kosten des Produkts ergeben sich als Summe der Kosten von vielen Teilen, die Kalkulation findet vor der Leistungserstellung statt, die regelmäßige Aktualisierung der Kostendaten wird empfohlen, die erwarteten Kosten hängen von Stückzahl, Baugröße, Normung usw. ab.

Die Grenzen der differenzierenden Zuschlagskalkulation werden erreicht, wenn die Gemeinkostenzuschläge eine extreme Höhe annehmen oder wenn innerhalb einer Kostenstelle sehr unterschiedliche Kosten für Fertigungsprozesse, d. h. unterschiedliche Produktionskosten anfallen. In Unternehmen mit Produkten stark unterschiedlicher Wertigkeit und Stückzahlen ist es sinnvoll, die Gemeinkosten möglichst detailliert über die Kostenstellen zu erfassen und dann beispielsweise auf die Produktgruppen “klein”, “mittel” und “groß” getrennt zu verrechnen.

8.3 Zusammenhang von Kosten und Preisen Die Ermittlung des Gewinns als Differenz aus Erlös und Kosten gemäß der Definitionen 28 und 30 ist grundsätzlich wichtig, liefert aber keine ausreichenden Hinweise, wie die wirtschaftliche Situation eines Unternehmens einzuschätzen ist bzw. verbessert werden kann. Die grundsätzlichen Zusammenhänge können in Form des sogenannten Break-Even-Diagramms dargestellt werden, das im Deutschen als Gewinnschwellendiagramm bezeichnet wird. Zunächst beschränkt man im Unterschied zur Produktpalette eines Unternehmens die Betrachtung auf ein Produkt und auf die Kosten, die direkt und indirekt mit dessen Herstellung in Verbindung stehen. Diese Kosten werden als Selbstkosten des Produkts bezeichnet, vgl. Definition 34, welche in fixe und variable Kosten eingeteilt werden können. Die variablen Kosten des Produkts entsprechen den direkten Kosten, also Materialeinzel- und Fertigungslohnkosten. Die fixen Kosten beinhalten alle übrigen Kostenarten, die nach der differenzierenden Zuschlagskalkulation zu den Selbstkosten des Produkts beitragen. Die fixen Kosten, welche unabhängig von der Menge an hergestellten Produkten sind, beinhalten anteilig alle nicht produktbezogenen Ausgaben des Unternehmens wie beispielsweise Kosten für die Unterhaltung der Gebäude. Diese Kosten entstehen im Unternehmen folglich auch dann, wenn nichts produziert oder verkauft wird. Definition 35 Variable Kosten Variable Kosten sind Kosten, die von der Menge der produzierten Produkte direkt abhängen und die einem speziellen Produkt direkt zugeordnet werden können. 3 Definition 36 Fixkosten

Fixkosten sind Kosten, die nicht durch Veränderung der Menge produzierter Produkte beeinflusst werden. 3

Variable Kosten hingegen sind von der produzierten Menge abhängig und wachsen in erster Näherung linear mit der Menge der hergestellten Produkte. Wird

286

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

Abb. 8.11 Break-Even-Diagramm für ein Produkt (In Anlehnung an [60, S.142 und S. 450])

beispielsweise die doppelte Menge eines Produktes hergestellt, ist hierzu in der Regel auch die doppelte Menge an Material erforderlich, dafür fallen näherungsweise3 die doppelten Kosten an. Bildet man die Differenz zwischen dem Erlös und den variablen Kosten, so erhält man einen Betrag4 , der zur Deckung der fixen Kosten beiträgt, den sogenannten Deckungsbeitrag. Definition 37 Deckungsbeitrag Der Deckungsbeitrag ist die Differenz zwischen Erlösen und variablen Kosten.

3

Das Break-Even-Diagramm ist die graphische Darstellung der Gegenüberstellung von Produkterlösen, vgl. Definition 30, und Kosten, vgl. Definition 28 und Abschnitt 8.2. Diese produktbezogene nach variablen und fixen Kosten differenzierende Betrachtungsweise wird auch als Deckungsbeitragsrechnung bezeichnet. In Abbildung 8.11 ist die Gegenüberstellung der Kosten bzw. Erlöse sowie der Stückzahl im Break-Even-Diagramm ersichtlich, es werden fixe und variable Kosten jeweils als Geraden über der Stückzahl bzw. der Verkaufsmenge aufgetragen. Die Fixkosten stellen einen konstanten Kostenblock dar, sobald dieser zu den variablen Kosten hinzuaddiert wird, kommt es zu einer Verschiebung der Geraden der variablen Kosten um einen konstanten Betrag nach oben. Dadurch ergibt sich 3

Häufig bekommt man jedoch bei größeren Einkaufsvolumina einen etwas günstigeren Preis. Vorausgesetzt, dass ein ausreichend hoher Preis erzielt wurde, welcher die variablen Kosten des Produkts übersteigt. 4

8.3 Zusammenhang von Kosten und Preisen

a)

287

b)

Abb. 8.12 Maßnahmen zur Verbesserung der Gewinnsituation eines Unternehmens dargestellt im Break-Even-Diagramm: a) Senken der variablen Kosten, b) Senken der Fixkosten

die Gerade, welche die Selbstkosten des Produktes darstellt. Der Erlös und die variablen Kosten sind abhängig von der Stückzahl und steigen jeweils linear mit dieser an. Unter der Bedingung, dass die Gerade der variablen Kosten eine geringere Steigung als die Erlösgerade hat, d. h. ein positiver Deckungsbeitrag für jedes zusätzlich verkaufte Produkt erzielt wird, schneiden sich die Erlösgerade und die Selbstkostengerade. Dieser Schnittpunkt wird meist mit dem englischen Begriff als Break-Even-Point bezeichnet, die entsprechende Verkaufsmenge als BreakEven-Menge oder Grenzstückzahl, vgl. Abbildung 8.11. Unterhalb der Grenzstückzahl liegen die Erlöse unter den stückzahlabhängigen Selbstkosten, das Unternehmen erwirtschaftet mit dem Produkt einen Verlust. Oberhalb der Grenzstückzahl erwirtschaftet es einen Gewinn. So ist es möglich zu erkennen, wie groß die Umsatzmenge bzw. Stückzahl sein muss, um erfolgreich zu sein. Das Break-Even-Diagramm stellt damit ein wichtiges Produktmanagement-Werkzeug dar zur Absicherung strategischer Entscheidungen. Liegt die sinnvoll zu erwartende Verkaufsmenge unter der Grenzstückzahl, müssen geeignete Maßnahmen getroffen werden, vgl. Abbildung 8.12, um ein Produkt mit positivem Deckungsbeitrag zu erreichen. Maßnahmen zur Verbesserung der Gewinnsituation eines Unternehmens sowie deren Auswirkungen auf das Break-Even-Diagramm sind beispielsweise: • Umsatzmenge erhöhen z. B. durch Werbung und neue Kundengruppen. Dies führt bei Erfolg zu einer größeren Absatzmenge und so zu einem höheren Deckungsbeitrag, die Werbung verursacht jedoch zusätzliche Fixkosten. • Erhöhung des Verkaufspreises, daraus resultiert eine vergrößerte Steigung der Erlösgeraden, sodass sich der Break-Even-Point weiter nach links verschiebt und eine geringere Verkaufs- bzw. Absatzmenge notwendig wird, um Gewinn zu erwirtschaften. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die Kunden die höheren Preise bei gleicher Absatzmenge akzeptieren.

288

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

• Kostengünstigere Herstellung des Produktes, sodass eine Verringerung der Steigung der variablen Kosten erreicht wird, vgl. Abbildung 8.12.a. • Effizienzsteigerung in allen Bereichen und generelle Ausgabenvermeidung zur Reduktion des Fixkostenblocks, vgl. Abbildung 8.12.b. Die Ausgaben für die Entwicklung neuer Produkte sollten aber nur mit Maß gekürzt werden, um nachhaltig erfolgreich zu bleiben. Aus dem Verhältnis der Steigungen und den Kostenanteilen ist eine erste Abschätzung möglich, welche der zuvor beschriebenen Maßnahmen am erfolgversprechendsten sind. Das Gewinnschwellendiagramm ist ein einfaches Hilfsmittel und dient vor allem der Erklärung von Kostenreduktionsmaßnahmen sowohl bezogen auf die Produkt- als auch auf die Entwicklungskosten.

8.4 Ansätze zur Beeinflussung von Produktkosten Grundlegend hängen die Produktkosten von zwei Einflussfaktoren ab. Zum einen sind die Kosten von den benötigten Prozessen zur Herstellung des Produktes einschließlich der unterstützenden Prozesse abhängig, hierbei kann von einem direkten Einfluss gesprochen werden. Zum anderen sind die Produktkosten indirekt abhängig von den technischen Anforderungen an das Produkt und deren Umsetzung im Rahmen des gewählten Lösungsprinzips und der Gestaltung. Die direkte Kostenbeeinflussung erfolgt durch Festlegung der benötigten Prozesse und Verfahren. Hierbei haben insbesondere Einflussfaktoren wie die verwendeten Betriebsmittel, die benötigten Werkzeugmaschinen, die zu produzierende Stückzahl, das betriebliche Umfeld usw. eine große Bedeutung. Beispielsweise kann durch Reduktion der Anzahl an Fertigungsprozessen i.d.R. eine Kosteneinsparung realisiert werden, allerdings kann hier im allgemeinen keine prozentuale Zuordnung angegeben werden. Dies wird am Beispiel des Kipphebels eines mittelschnelllaufenden Dieselmotors verdeutlicht, vgl. Abbildung 8.13: Durch eine Veränderung der Gestalt durch Funktionsintegration5 konnte ein vereinfachter Fertigungsablauf realisiert und eine Kosteneinsparung von 33 % erreicht werden. Durch die geringfügig geänderte Gestalt des Schmiederohteils, die Reduktion auf nur ein Teil und einen vereinfachten Fertigungsablauf mit deutlich weniger Prozessschritten wird im Wesentlichen durch Reduktion der Bearbeitungszeit eine erhebliche Senkung der Herstellkosten erreicht, vgl. (8.10). Darüber hinaus werden durch den einteiligen Schmiederohling wahrscheinlich auch die Werkzeugkosten gesenkt, die sich in den Sondereinzelkosten der Fertigung SEF niederschlagen. Die indirekte Kostenbeeinflussung durch Festlegung der Anforderungen an ein Produkt basiert auf dem grundlegenden Zusammenhang, dass die Produkteigenschaften und somit auch die Produktkosten maßgeblich durch die gestellte 5

Die Funktionsintegration als Bauweise wird im Zusammenhang mit der Beherrschung der Variantenvielfalt in Abschnitt 9.2 besprochen.

8.4 Ansätze zur Beeinflussung von Produktkosten

289

Abb. 8.13 Kosteneinsparung durch Integralbauweise am Beispiels eines Kipphebels eines mittelschnelllaufenden Dieselmotors (Aus [60, S. 17])

Aufgabenstellung bzw. die daraus resultierenden Anforderungen bestimmt werden. Vereinfacht kann dies durch die Aussage Anforderungen kosten Geld dargestellt werden. Das heißt, je mehr Anforderungen das Produkt erfüllen muss, desto höher sind die entstehenden Kosten zur Herstellung des Produktes, vgl. Abschnitt 3.3.1. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Produktkosten sinken, wenn weniger Anforderungen, Toleranzvorgaben, Garantiezusagen, Abnahmebedingungen sowie Normen oder Vorschriften eingehalten werden müssen. Auch Abbildung 8.14 bestätigt und verdeutlicht den Zusammenhang von Kosten und Anforderungen. Jede einzelne Anforderung über den Standard hinaus sorgt für einen Preisanstieg. Kombiniert man die Anforderungen – im Beispiel von Abbildung 8.14 wäre dies beispielsweise ein Hochgeschwindigkeitsreifen einer bestimmten Marke mit Notlaufeigenschaften – so gelangt man unter Umständen

290

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

Abb. 8.14 Zusammenhang von Anforderungen und Produktkosten am Beispiel der Internetpreise für Winterreifen für einen Golf VII in der Größe 205/50 R17

in Situationen, in denen man auf die Preisgestaltung eines einzigen Anbieters angewiesen ist und dann dessen Preise akzeptieren oder die Anforderungen reduzieren muss. Eventuell findet sich auch gar kein Produkt am Markt, welches die Anforderungen alle erfüllt.

8.4.1 Produktkostenmanagement in der Produktentwicklung Bei der Betrachtung von Produktkosten muss zwischen der eigentlichen Kostenverursachung und der Möglichkeit zur Kostenbeeinflussung unterschieden werden. Wie Abbildung 8.15 zeigt, werden Produktkosten vorrangig in der Produktentwicklung festgelegt, während der Großteil der Produktkosten erst in der Fertigung tatsächlich anfällt. Trägt man die Anteile der Produktkosten auf, welche durch die wichtigsten Bereiche eines Unternehmens verursacht bzw. festgelegt werden, so kann man deutlich erkennen, dass in den frühen Phasen der Produktentstehung umfangreiche Kosten festgelegt werden, aber nur in einem geringen Umfang tatsächlich entstehen. Umgekehrt werden in den Bereichen, die später im Produktlebenslauf beteiligt sind, große Kostenanteile verursacht, auf die aber praktisch kein Einfluss mehr genommen werden kann. Der Produktentwickler kann aber insbesondere zu Beginn der Entwicklung erheblich zur Kostensenkung beitragen, vgl. [60]. Es ist für ein effektives und effizientes Produktkostenmanagement unabdingbar, dass alle Mitarbeiter den Kostenaspekt berücksichtigen. Dies geschieht nur in angemessener Form, wenn die Prinzipien und Vorstellungen des Produktkostenmanagements in dem Verhalten und den Wertvorstellungen der Mitarbeiter und des Managements verankert sind. Die Mitarbeiter müssen verstehen, auf welche

8.4 Ansätze zur Beeinflussung von Produktkosten

291

Abb. 8.15 Festlegung und Verursachung von Produktkosten im Unternehmen (Aus [60, S. 15] nach [218])

Weise und wo Kosten entstehen und wie diese beeinflusst werden können. Es ist folglich zwingend erforderlich, dass sich Produktentwickler zusätzlich zu dem technischen Wissen auch das notwendige Wissen über das Entstehen von Kosten aneignen. Die Erwartungen an die Produktentwicklung hinsichtlich der Berücksichtigung von Kosten kann man in der Aussage zusammenfassen, dass niedrige Kosten wichtige Anforderungen sind. Das bedeutet, dass der Produktentwickler Kostenanforderungen gleichrangig mit technischen Anforderungen und Terminvorgaben berücksichtigen muss sowie die Verantwortung für deren Einhaltung trägt. Grundsätzlich muss man folglich während des gesamten Entwicklungsprozesses prüfen, ob die Kostenanforderungen eingehalten werden. Da die Kostenzusammenhänge sehr komplex sind, muss das Entwicklungsteam durch Bereitstellung aufbereiteter Kosteninformationen durch andere Abteilungen wie z. B. Einkauf, Prozessplanung oder Controlling dazu in die Lage versetzt werden. Produktkosten können nur erfolgreich gesenkt werden, wenn abteilungsübergreifend bzw. gemeinschaftlich im Unternehmen gearbeitet wird. EHRLENSPIEL ET AL. berichten von einer 10 bis 30 %-igen Reduktion der Herstellkosten, wenn das Kostensenken als Gemeinschaftsaufgabe verstanden und bearbeitet wird, vgl. [60].

292

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

Abb. 8.16 Strategien zur Senkung der Produktkosten

8.4.2 Produktkosten senken Die Produktkosten können im Wesentlichen mit Hilfe von drei Strategien gesenkt werden, welche im Folgenden näher erläutert werden, vgl. Abbildung 8.16. Zum einen können die Herstellkosten ohne Veränderung der Produktfunktionen oder der Qualität gesenkt werden, häufig bedeutet dies in erster Linie Verhandlungen mit Lieferanten für bessere Einkaufskonditionen, die Elimination überflüssiger Details sowie die Verlagerung der Produktion in Niedriglohnstandorte. Der Produktentwickler modifiziert also das bestehende Produkt so, dass es kostengünstiger hergestellt werden kann, die Leistungseigenschaften für den Kunden jedoch gleich bleiben. Anderseits können Produktkosten gesenkt werden, indem das Produkt an den Kundennutzen angepasst wird, man spricht dann von einem wertanalytischen Ansatz, der Entwickler verfolgt das Ziel, das Produkt so zu modifizieren, dass es den gewünschten Kundennutzen besser erfüllt. Hierbei ist es wichtig, dass der gewünschte Nutzen mit minimalen Kosten erreicht wird. Bei der Zielkostenermittlung – im Englischen als Target Costing bezeichnet – werden Produkte unter Berücksichtigung eines definierten Kostenziels entwickelt. Die drei im Folgenden näher erläuterten Ansätze werden in der Praxis oft gemeinsam angewandt, d. h. es entstehen Mischformen der Strategien zum Senken der Produktkosten.

8.4.3 Herstellkosten senken Grundlegend können durch eine entsprechende Überarbeitung bestehender Produkte oder durch eine kostenorientierte Entwicklung neuer Produkte Kosten eingespart und so größere Deckungsbeiträge erwirtschaftet werden. Jedoch muss berücksichtigt werden, dass Produktänderungen immer Entwicklungskapazitäten binden und Risiken neuer Fehler bergen. Fixkosten entstehen aufgrund neu-

8.4 Ansätze zur Beeinflussung von Produktkosten

293

Abb. 8.17 Modifiziertes Gewinnschwellendiagramm zur Ermittlung der Amortisationsstückzahl bei Implementierung von Maßnahmen zur Reduktion der Produktkosten

er Werkzeuge, Teilenummern und Bauteile, ferner wird die Ersatzteilbevorratung aufwändiger. Daher muss bei Produktänderungen zum Zweck der Herstellkostensenkung berücksichtigt werden, dass die Wirtschaftlichkeit der Änderung nachweisbar ist. Häufig werden für die finanziellen Aufwendungen für die Änderung Amortisationszeiten vorgeschrieben, innerhalb derer die Reduktion der Produktkosten trotz Entwicklungsaufwand einen wirtschaftlichen Vorteil bringen soll. Üblich sind Zeiträume zwischen wenigen Wochen oder Monaten bis zu maximal zwei Jahren je nach Produktionsdauer, Stückzahl und Komplexität des Produkts. Die Amortisationszeit bzw. -Stückzahl kann mit dem Modell des Gewinnschwellendiagramms ermittelt werden, Abbildung 8.17 visualisiert die Vorgehensweise, bei bekannten Fixkosten für die Kostensenkungsmaßnahme und bekannter Einsparung pro Einheit lässt sich die Amortisationsstückzahl leicht berechnen. Das bedeutet, dass das Senken von Herstellkosten nicht von Aktionismus getrieben sein soll, sondern dort angesetzt werden muss, wo ein lohnendes Kostensenkungspotential identifiziert werden kann. Dazu müssen zwingend vorhandene Kostenstrukturen beachtet werden, ferner ist auf die notwendige Anzahl verkaufter Produkte und ihre Deckungsbeiträge zu schauen, um zu verstehen, ob sich eine Kostenreduktionsmaßnahme überhaupt rechnen kann, vgl. Abbildung 8.17. Beim praktischen Senken von Herstellkosten wird typischerweise in mehreren Schritten vorgegangen, welche im Folgenden näher erläutert werden, vgl. Abbildung 8.18. Das Identifizieren von lohnenden Kostensenkungspotentialen ist teils schwierig, denn i.d.R. wurden bei den betrachteten Produkten in der Vergangenheit bereits Maßnahmen umgesetzt, um Kosten zu optimieren. Das vorhandene Produkt zeichnet sich oft durch geschickte konstruktive Lösungen aus und erscheint dadurch oftmals als optimal. Bei der gezielten Suche nach Potentialen zur Senkung von Herstellkosten bestehender Produkte spielen Kostenstrukturen eine entscheidende Rolle, da sie sich effektiv als Hilfsmittel zum Auffinden der wesentlichen Kostenschwerpunkte eignen und somit davor schützen, falsch zu prio-

294

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

Abb. 8.18 Vorgehensweise beim Senken der Herstellkosten

risieren. Die Betrachtung von Schrauben als typischer C-Artikel6 lohnt als Kostensenkungsmaßnahme nur bei sehr hohen Stückzahlen, wenn dadurch änderbare Materialkosten von einigen tausend Euro erzielt werden können. Dem Begriff Kostenstruktur liegt hierbei das folgende Verständnis zugrunde, vgl. [60]. Definition 38 Kostenstruktur Eine Kostenstruktur beschreibt ein festgelegtes, logisches Schema zur Ordnung, Aufteilung oder Zuordnung von Kostendaten. 3

In der Produktentwicklung existieren unterschiedliche Kostenstrukturen, welche die Kosten grundlegend nach unterschiedlichen Gesichtspunkten betrachten bzw. ordnen, welche in Abbildung 8.19 aufgelistet sind. Beim Senken der Herstellkosten bestehender Produkte stellt sich eine Kostenstruktur nach Bauteilen und Baugruppen als besonders effektiv heraus. Zusätzlich können die Kosten in Kostenarten, d. h. Material- und Fertigungskosten, untergliedert werden. Betrachtet man beispielsweise die Kostenstrukturen des Getriebes in Abbildung 8.20 nach Bauteilen und nach Kostenarten, so erkennt man, dass sich die Kosten nicht gleichmäßig verteilen, sondern dass wenige Bauteile mit speziellen Kostenarten den Großteil der Kosten verursachen. Aus Abbildung 8.20 wird ersichtlich, dass das Gehäuse, das Rad sowie die Ritzelwelle gemeinsam bereits 75 % der Herstellkosten verursachen. Daher sind hier die Optimierungsschwerpunkte zur Kostenreduktion zu legen, eine kostengünstigere Gestaltung des Gussgehäuses ist sinnvoll. Ebenso ist ersichtlich, dass 6

Im Sinne der ABC-Analyse, die im Folgenden erklärt wird, vgl. Tabelle 8.3 und Abbildung 8.21.

8.4 Ansätze zur Beeinflussung von Produktkosten

295

Abb. 8.19 Auswahl unterschiedlicher Gesichtspunkte von Kostenstrukturen

Abb. 8.20 Kostenstruktur eines Getriebes nach Bauteilen und Kostenarten (Fke Einzellohnkosten der Fertigung, Fkr Einzelrüstkosten. Aus [60, S. 84])

das Rad sowie die Radwelle einen sehr hohen Materialkostenanteil haben, die Werkstoffe des Rads sowie der Radwelle können eventuell durch günstigere Legierungen ersetzt werden. Ferner trägt das gewählte Konzept der Pfeilverzah-

296

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

Abb. 8.21 Pareto-Diagramm einer typischen Wertverteilung über dem Mengenanteil

nung über die hohen Fertigungskosten der Verzahnung wesentlich zu den Gesamtkosten bei, ein Wechsel auf eine reine Schrägverzahnung kann als weitere Maßnahme zur Kostenreduktion geprüft werden. Auf die Ermittlung der Einzellohnkosten der Fertigung Fke und der Einzelrüstkosten Fkr wird in [60] näher eingegangen, hier soll der Hinweis genügen, dass auch bei den Fertigungskosten sinnvollerweise beim Kostensenken bei den Komponenten mit anteilig hohen Fertigungskosten angesetzt wird. Aufbauend auf der Analyse der Bauteil- bzw. Fertigungsprozess-Kostenstrukturen ist es sinnvoll, die Bauteile entsprechend ihres Anteils an den Gesamtkosten in einer Kostenanteil-Struktur zu ordnen. Hierbei wird auf der Annahme aufgebaut, dass bei vielen Produkten eine kleine Anzahl von Bauteilen den Großteil der Kosten verursacht. Die resultierende Kostenstruktur wird aufgebaut, indem die Bauteile in drei Klassen – A-, B- sowie C-Klassen – eingeteilt werden. In Tabelle 8.3 sind die Mengen- und Kostenanteile der unterschiedlichen Klassen dargestellt. Es ist ersichtlich, dass die A-Teile mit etwa 15 % einen geringen Mengenanteil auf Stücklistenebene haben, aber einen hohen Anteil der Kosten verursachen, meist bis zu 85 %. Die Erarbeitung der Kostenstruktur nach Kostenanteilen von Bauteilen wird als ABC-Analyse oder auch als Paretoanalyse bezeichnet. Wird die Kostenstruktur graphisch in einem Diagramm dargestellt, bezeichnet man dieses als Pareto-Diagramm, vgl. Abbildung 8.21. Die ABC-Analyse hilft, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen und die Bereiche zu identifizieren, denen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Ansatzpunkte zur Senkung von Herstellkosten sind demnach vorrangig

Tabelle 8.3 Mengen- und Kostenanteile von A-, B- und C-Teilen Klasse Mengenanteil

Kostenanteil

A-Teile ca. 5 % bis 10 % der Teile ca. 60 % bis 85 % der Kosten B-Teile ca. 10 % bis 25 % der Teile ca. 20 % bis 30 % der Kosten C-Teile ca. 70 % bis 80 % der Teile ca. 5 % bis 15 % der Kosten

8.4 Ansätze zur Beeinflussung von Produktkosten

297

bei A-Teilen zu suchen. Sind hier keine Kostensenkungen mehr möglich, sind auch B-Teile hinsichtlich ihrer Kostensenkungspotentiale zu untersuchen. C-Teile werde nur dann in Angriff genommen, wenn alle sonstigen Maßnahmen ausgeschöpft sind und sich der Änderungsaufwand noch lohnt, wie beispielsweise bei Massengütern oder Konsumartikeln. Zu beachten ist jedoch, dass auch C-Teile nicht einfach als Kostenreduktionsmaßnahme ohne hinreichende Validierung von günstigeren Lieferanten bezogen werden dürfen. Derartige Fehler durch unzureichende Erprobung haben zu etlichen großen Rückrufaktionen mit enormen materiellen und immateriellen Schäden geführt.

8.4.4 Maßnahmen zur Herstellkostensenkung entwickeln Beim Kostensenken können – ähnlich wie bei anderen Optimierungsaufgaben – keine allgemeingültigen Rezepte angegeben werden, lediglich Hinweise und Prinzipien unterstützen den Produktentwickler. Allerdings können sich die Hinweise und Prinzipien teilweise widersprechen, sodass es zwingend erforderlich wird, die Erfolgschancen der Maßnahmen situationsbezogen bzw. fallweise zu bewerten. Wie bereits zuvor angesprochen, können Produktkosten grundsätzlich auch durch die Änderung von Prozessen gesenkt werden. Die Senkung der Produktkosten durch rationellere Fertigung und Beschaffung, wie beispielweise durch schnellere, automatisierte Fertigungsverfahren, durch Auswärtsvergabe7 zu Spezialisten oder durch Verlagerung der Produktion in Niedriglohnländer, sind insbesondere für die Prozessplanung – jedoch nicht für die Produktplanung und -entwicklung – von großer Bedeutung, sodass im Folgenden nicht näher darauf eingegangen wird. Da der Großteil der Produktkosten in der Produktentwicklung festgelegt wird, können umfangreiche Kosteneinsparung meistens nur durch Änderung des Produkts erreicht werden. Dies bedeutet, dass die Senkung der Kosten durch konstruktive Maßnahmen erfolgt, wie beispielsweise durch Optimierung der Funktionsstruktur oder durch Um- oder Neugestaltung der Bauteile, vgl. auch Abbildung 8.18. Durch geeignete Produktänderungen können wiederum eine Reduktion der Materialkosten und eine Senkung der Fertigungskosten durch Änderung der Herstellprozesse erreicht werden, was die Prozessabhängigkeit der Kosten unterstreicht. In den Unternehmen werden deshalb oft die sogenannten DfX-Strategien angewandt, z. B. Design for Manufacturing oder Design for Assembly, welche insbesondere die fertigungs- und montagegerechte Bauteilgestaltung fokussieren, vgl. [157]. Die Gestaltungshinweise können sich aber wie bereits erklärt widersprechen. Die Maßnahmen der Produktentwicklung reichen von kleineren Bauteiländerungen bis hin zur grundlegenden Produktüberarbeitung oder sogar zur Produktneuentwicklung. Mit begrenzten konstruktiven Produktanpassungen, d. h. 7

Häufig dem englischen Sprachgebrauch folgend als Outsourcing bezeichnet.

298

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

Änderungen von Bauteilen oder Optimierung der Montage durch konstruktive Maßnahmen, können Fertigungs- oder Montageprozesse verbessert und optimiert werden. Hierbei liegt das Kostensenkungspotential nach [60] i.d.R. bei unter 20 %. Um größere Einsparpotentiale erreichen zu können, muss das Produkt weitgehend neu gestaltet oder sogar neu konzipiert werden. Als Beispiel sei auf die Abbildungen 5.15 und 5.23 verwiesen, der Planetenträger kann bei hohen Stückzahlen, wenn die Umlage der Werkzeugkosten für die Stanz-Biegeteile wirtschaftlich ist, neu gestaltet und kostengerechter hergestellt werden. Für die Amortisationszeit der Maßnahme sei auf Abbildung 8.17 verwiesen. Maßnahmen zum Kostensenken existieren auf jeder Konkretisierungsebene der Modellpyramide der Produktentwicklung, vgl. Abbildung 5.13: • Funktionsstrukturen, • Physikalische Effekte und Wirkprinzipien als Basis der Lösungsprinzipien, • Gestaltung der Bauteile und Baugruppen. Die Einflussmöglichkeiten auf die Kosten sinken jedoch mit zunehmender Konkretisierungsebene: Maßnahmen auf Ebene der Funktionen und Lösungsprinzipien sind in der Praxis eher seltenen Produktneuentwicklungen vorbehalten. Da jedoch die Kostenbeeinflussung bei der Detaillierung der Bauteile und Baugruppen ein wichtiger Stellhebel bei der Kostenoptimierung ist, kommt der Gestaltung eine besondere Rolle zu. Im Rahmen der Gestaltung werden beispielsweise über Gestaltungszonen Wirkstrukturen festgelegt, welche die Detailgestalt mehrerer Bauteile beeinflussen können, die Auswirkungen einer schlechten Gestaltung sind also mit Blick auf die Produktkosten oft gravierender als die einer nicht optimierten Detailgeometrie eines Einzelteils. Folgende Ansätze zur Kostensenkung lassen sich angeben: • Kosten senken durch Optimierung der Funktionsstruktur: Durch Funktionsstrukturen wird das Produkt prinzipiell festgelegt und damit auch der Kostenrahmen grundsätzlich beeinflusst. Insbesondere können hierbei Kosten gesenkt werden durch die Änderung der Energie- und Leistungswandlung bzw. -umformung sowie -verteilung. • Kosten senken durch Optimierung von physikalischen Effekten und Wirkprinzipien: Ein wichtiges Beispiel für Kosteneinsparungen durch unterschiedliche Effekte ist die Verwendung elektrischer und elektronischer Lösungsprinzipien anstelle mechanischer, pneumatischer oder hydraulischer Prinzipien. Dadurch, dass elektrische und elektronische Komponenten immer leistungsfähiger und günstiger werden, können diese Prinzipien zur Entwicklung kostengünstiger mechatronischer Produkte genutzt werden. • Kostensenkung durch fertigungs- und montagegerechte Gestaltung der Konstruktionselemente: Bei der Gestaltung des Produkts werden durch die Festlegung der Gestalt und des Werkstoffs der Bauteile und Komponenten im Rahmen des vorgegebenen Konzepts weitgehend die Herstellprozesse und die damit verbundenen Herstellkosten – Materialkosten, Fertigungskosten, Montagekosten, Kosten zur Qualitätssicherung – festgelegt. So vielfältig wie

8.4 Ansätze zur Beeinflussung von Produktkosten

299

Abb. 8.22 Bewährte Effekte und Prinzipien als Möglichkeiten der Kosteneinsparung durch fertigungs- und montagegerechte Bauelementgestaltung

die Gestaltungsmöglichkeiten und Fertigungsverfahren sind auch die Möglichkeiten zur Kosteneinsparung, Ansatzpunkte sind stichwortartig in Abbildung 8.22 genannt. Die Effekte und Prinzipien sind stets gemeinsam bzw. in Abhängigkeit zueinander zu betrachten, da sie teilweise widersprüchliche Wirkungen haben können. Mengeneffekte werden oft auch als Stückzahleffekte bezeichnet, allerdings ist nicht die Stückzahl allein entscheidend, sondern auch die Losgröße, mit der die Teile gefertigt werden, denn eine größere Losgröße führt zu geringeren anteiligen Rüstkosten bzw. Rüstzeiten t r . Für typische Maschinenbau-Bauteile gilt nach [60] in erster Näherung für den Einfluss der Stückzahl der Erfahrungswert, dass bei einer Verdoppelung der Stückzahl die Fertigungskosten FK um ca. 20 % sinken, dies gilt folglich auch für die abhängigen Herstellkosten HK somit auch für die Selbstkosten SK nach (8.10) bzw. (8.11). Eine Stückzahlerhöhung kann einerseits durch Erhöhung des Marktbedarfs durch Marketing und Vertrieb sowie andererseits durch Normung und Standardisierung durch die Produktentwicklung bzw. Prozessentwicklung realisiert werden. Auf der anderen Seite führen Losgrößensteigerungen über den regulären Bedarf hinaus zu Lagerhaltungs- und Bevorratungskosten. Bei der Normung kann zwischen interner sowie externer Normung unterschieden werden. Norm- und Zulieferteile sind Ausprägungen einer externen Normung, die Komponenten sind bekannt und qualitativ hochwertig und werden i.d.R. extern zugekauft. Durch eine interne Normung, wie beispielsweise durch Werksnormen, oder eine Standardisierung wird es möglich, gleiche Bauteile oder Produktkomponenten für unterschiedliche Produkte einer Produktfamilie unternehmensweit oder unternehmensübergreifend zu verwenden. Beispiele für eine umfangreiche Standardisierung sind in der Automobilindustrie zu finden. So werden üblicherweise z. B. gleiche Motoren, Getriebe, Räder bei mehreren Fahrzeugtypen eingesetzt. Teilweise werden die Komponenten – speziell die entwicklungsintensiven Aggregate des Antriebsstrangs wie Verbrennungsmotoren, Doppelkupplungs- oder Automatikgetriebe – auch unternehmensübergreifend in einem Konzernbaukasten, vgl. Abbildung 3.17 und 9.18, oder sogar konzern-

300

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

Abb. 8.23 Spaghetti-Diagramm als Hilfsmittel zum Erkennen unnötiger Wege beim Rüsten in der Produktion oder auch beim Produktionsdurchlauf

übergreifend eingesetzt wie beispielsweise die 8HP-Getriebefamilie von ZF, die bei BMW, Audi, Jaguar und anderen mit dem gleichen achtgängigen Grundplanetensatz zur Anwendung kommt, vgl. auch Abschnitt 9.3. Das Prinzip der Kostensenkung mit zunehmender Stückzahl beruht somit auf mehreren Teileffekten: • Kostendegression durch Aufteilung einmaliger Kosten: Bei der Einführung eines neuen Produkts und bei Fertigung eines neuen Loses von Bauteilen entstehen einmalige Kosten, z. B. Entwicklungskosten oder Fertigungshilfsmittel, welche den gefertigten Produkten anteilig zugerechnet werden. Je größer die Stückzahl ist, desto niedriger sind die anteiligen Kosten pro Produkt. • Kostendegression durch Trainiereffekte: Im Zusammenhang mit einem neuen Produkt sind viele manuelle und geistige Tätigkeiten für die Mitarbeiter neu und ungewohnt. Wiederholen sich die Tätigkeiten immer öfter, setzen Lerneffekte ein und die Arbeiten benötigen weniger Zeit, z. B. sinkt bei zehnmaliger Wiederholung der Aufwand erfahrungsgemäß auf nur noch etwa 60 %. Ein gutes Beispiel hierfür sind Rüstvorgänge in der Fertigung, die durch Wiederholen kontinuierlich geübt und so beschleunigt werden. Ein Hilfsmittel hierzu ist das in Abbildung 8.23 gezeigte sogenannte Spaghetti-Diagramm, bei dem die Wege der Werker aufgezeichnet werden, um über die Verkürzung der Wege durch geschickte Anordnung der verschiedenen Stationen ein effizientes und schnelles Rüsten bzw. eine zeitlich dichte Taktfolge in der Produktion eine wirkungsvolle Reduktion der Rüstzeiten zu erreichen und so die Effizienz der Produktion zu steigern. In der Kostenberechnung wird dieser Effekt jedoch praktisch nicht berücksichtigt. Die Kostensenkung durch Trainiereffekte setzt eine häufige Wiederholung voraus, die Erarbeitung z. B. eines SpaghettiDiagramms lohnt sich i.d.R. nur für sich oft wiederholende Vorgänge. • Kostendegression durch optimierte Konstruktion: Bei Produkten mit hohen Stückzahlen lohnt es sich, mehr Konstruktions- und Entwicklungsaufwand zu investieren, als in Produkte, die nur in kleiner Stückzahl gefertigt

8.4 Ansätze zur Beeinflussung von Produktkosten

301

werden. Durch optimierte Materialausnutzung oder durch eine optimierte Fertigung können auch durch scheinbar geringe Einsparungen in Summe beachtliche Kosten eingespart werden, wenn die Produkte in hohen Stückzahlen gefertigt oder verwendet werden. Als Beispiel hierfür können Radschrauben für PKW genannt werden, die oft millionenfach gleich produziert werden. • Kostendegression durch leistungsfähigere Fertigungsprozesse: In der Regel kann ein Bauteil durch unterschiedliche Fertigungsprozesse hergestellt werden, vgl. Abbildungen 5.15 und 5.23. Es gibt Fertigungsverfahren und -einrichtungen, welche niedrigere Kosten in der Herstellung bieten, jedoch hohe Investitionskosten erfordern. Diese Investitionskosten müssen auf die produzierten Stückzahlen umgelegt werden, sodass sich ein günstigeres Fertigungsverfahren meist erst ab einer höheren Stückzahl lohnt, vgl. auch die Diskussion in Zusammenhang mit Abbildung 5.23 zur stückzahlabhängigen Wahl des Fertigungsverfahrens. Als Beispiel sei auf Abbildung 5.56 verwiesen, das jeweils richtige Gießverfahren hängt von Bauteilgröße und Stückzahl ab. • Kostendegression durch effiziente Qualitätskontrolle: insbesondere bei sicherheitsrelevanten Bauteilen ist oft in der Produktion eine 100 %-Prüfung zur Sicherheitsstellung der Bauteil- und Funktionszuverlässigkeit notwendig, vgl. Abschnitte 6.3.1 und 7.1.4. Eine Prüfung der reinen Maßhaltigkeit sollte bevorzugt aus Kostengründen über qualitatives Prüfen mittels Lehren erfolgen, vgl. Abbildung 6.22.b. Die Funktionsprüfung z. B. mechatronischer Komponenten wird idealerweise automatisiert in einer HiL-Umgebung mit kurzen Funktionstests im Sinne eines Design of Experiments durchgeführt, es werden einzelne Punkte zur Abdeckung des gesamten Betriebskennfeldes angefahren. Eine Automatisierung der Prüfung setzt aber auch hier wieder eine entsprechend hohe Stückzahl voraus. • Kostendegression durch Mengenrabatt: Mengenrabatte werden in der Regel beim Kauf größerer Mengen vom Lieferanten gewährt. Ursächlich hierfür ist, dass der Lieferant zum einen die beschriebenen Mengeneffekte nutzen und Kostenvorteile weitergeben kann sowie zum anderen aufgrund des erhöhten Umsatzes von einer zunehmenden Abdeckung der Fixkosten ausgehen und somit den Preis senken kann. Der Mengenrabatt ist zwar ein wichtiger Faktor zum Kostensenken, fördert aber nicht das Verständnis der Produktkosten. Durch das Einsparen von Produktionsprozessen und insbesondere von Hilfsprozessen wie Transport oder Lagerung können Herstellkosten gesenkt werden, vgl. die Stichworte in Abbildung 8.22. Ziel ist folglich die Optimierung des Produktes und der Fertigungs- und Logistikprozesse, sodass das Bauteil in möglichst wenigen Prozessschritten gefertigt werden kann.

302

a)

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

b)

Abb. 8.24 Beispiele für Maschinenelemente in Integralbauweise: a) Wälzlager mit integrierter Dichtung, b) Kunststoff-Ölwanne mit integrierter Dichtung

8.4.5 Bauweisen zur Senkung der Produktkosten Als Beitrag der Produktentwicklung zur Kostensenkung können die folgenden Bauweisen angestrebt werden, welche im Folgenden und in Abschnitt 9.2 erläutert werden: Integralbauweise, Verbundbauweise und Funktionsintegration. • Integralbauweise: Die Integralbauweise stellt den Gegenpol zur Differenzialbauweise dar, vgl. Abschnitt 9.2, und beschreibt die Integration mehrerer Bauteile in eine Produktkomponente. Die Integralbauweise ist nach [60, S. 325] das Vereinigen mehrerer Einzelteile vorzugsweise aus gleichem oder ähnlichem Werkstoff in einem komplexen Einzelteil. Bei der Integralbauweise bleibt die Teilegeometrie weitestgehend erhalten, jedoch sind üblicherweise allgemeine Modifikationen erforderlich aufgrund des geänderten Fertigungsverfahrens. Typische Beispiele für die Änderung des Fertigungsverfahrens resultierend aus einer Integralbauweise sind beispielsweise Guss- statt Schweißkonstruktionen, Strangpressprofile statt gefügter Normprofile sowie Spritzguss statt mehrteiliger Halbzeug-Teile. Die Vor- und Nachteile der Integralbauweise sind in Tabelle 8.4 aufgelistet. Zu beachten ist auch, dass für die Substitution bestehender Teile durch ein Neues in Integralbauweise zusätzliche Prozesse in den indirekten Unternehmensbereichen wie Verwaltung und

Tabelle 8.4 Vor- und Nachteile der Integralbauweise Vorteile Weniger Komponenten und Vormontage

Nachteile

Beschaffungsprobleme (Modellbau, Lieferzeit) Größere Komponenten bedingen im Allge- Technische Probleme (Gestaltung von Formen meinen eine leichtere Handhabung und Werkzeugen) Volle Ausschöpfung der technischen und men- Reparaturkosten (Austausch des ganzen Teils genmäßigen Kapazitäten der Fertigungsmittel bei Verschleiß) (Spritzguss, Druckguss) Geringerer Zerspanungsaufwand Kraftflussgerechte (organische) Produkte

8.4 Ansätze zur Beeinflussung von Produktkosten

a)

303

b)

Abb. 8.25 Betonfertigteile (a) und Zylinderkopfdichtung (b) als Beispiele für die Verbundbauweise

Vertrieb erforderlich werden können, die durch die resultierenden Einmalund Fixkosten einen Teil der erzielbaren Einsparung der Herstellkosten wieder kompensieren. Abbildung 8.24 zeigt zwei Beispiele von Maschinen- und Konstruktionselementen, die im Rahmen der Integralbauweise Dichtungen und andere funktionale Komponenten integrieren. Dabei ist es kennzeichnend, dass die Integralbauteile i.d.R. nicht zerstörungsfrei demontierbar sind, ferner funktionieren beispielsweise die integrierten Dichtungen nicht als Einzelteile außerhalb ihres Wirkzusammenhangs. Insbesondere die Verfahren der additiven Fertigung, die einige der gestalterischen Einschränkungen der konventionellen Fertigungsverfahren aufheben können, sind zur Herstellung von Integralbauteilen prädestiniert. Aber auch bei den additiven Fertigungsverfahren gelten Richtlinien für die geschickte Gestaltung, vgl. [147]. • Verbundbauweise: Die Verbundbauweise beschreibt eine unlösbare Verbindung mehrerer Teile aus unterschiedlichen Werkstoffen zu einem dauerhaften Einzelteil innerhalb des weiteren Fertigungsprozesses, welches selbst keine weiteren Montageschritte mehr verursacht, vgl. [170, S. 452]. Als typische Beispiele können die Insert-Technik für das Ein- bzw. Umspritzen mit Kunststoff oder Metall und sogenannte Verbundwerkstoffe genannt werden. Verbundwerkstoffe sind meist Halbzeuge wie z. B. Sandwich-Bleche aus Metall mit Dämmstoffzwischenlagen oder wabenförmiger Kunststofffüllung und Beton-Fertigteile mit Stahl-Armierung. Die Vor- und Nachteile der Verbundbauweise sind in Tabelle 8.5 aufgelistet. Abbildung 8.25 zeigt zwei typische Beispiele für Bauteile in Verbundbauweise, bei der Zylinderkopfdichtung wird ein Metallträger geprägt und die resultierenden Sicken werden mit Dichtstoff beschichtet, dabei wird eine Kraftverstärkung durch die kleineren effektiven Dichtflächen erzielt. Offensichtlich ist anhand von Abbildung 8.25 auch, dass sich Bauteile in Verbundbauweise nicht zerstörungsfrei zerlegen lassen. • Funktionsintegration: Hierbei handelt es sich um die Vereinigung verschiedener Wirkprinzipien in einem homogenen Teil unter Ausnutzung unterschiedlicher Werkstoffeigenschaften, vgl. [190, S. 234]. Eine Funktionsintegration bedingt häufig eine neue Gestalt des Produkts, da die Nutzung spezieller Werkstoffeigenschaften eine spezifische, beanspruchungsgerechte Formgebung erfordert, wie anhand des Beispiels einer Wäscheklammer verdeut-

304

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

a)

b)

Abb. 8.26 Gleiche Funktion aber unterschiedliche Bauweise: a) konventionelle dreiteilig Wäscheklammer als Holz mit Schenkelfeder, b) Einteilige Wäscheklammer als Edelstahlblech

licht werden kann. Die klassische Wäscheklammer besteht aus drei Teilen: zwei identischen Holzschenkeln sowie einer Schenkelfeder, die funktionsintegrierte Wäscheklammer besteht lediglich aus einem Teil, vgl. Abbildung 8.26. Typische Elemente für Funktionsintegration sind mechatronische oder elektromechanische Teile und Konsumgüterteile insbesondere aus thermoplastischen Kunststoffen in Spritzgusstechnik in welchen z. B. Schnappverbindungen integriert werden, aber auch die Beispiele in Abbildung 8.24 lassen sich als Ausprägungen der Funktionsintegration interpretieren, die Grenzen sind hier fließend. Exemplarische Vor- und Nachteile der Funktionsintegration sind in Tabelle 8.6 zusammengestellt, die aber nicht ohne Weiteres verallgemeinert werden können. Einen hohen Einfluss auf die Kosten eines Bauteils und damit des gesamten Produkts hat die Baugröße des Produkts, d. h. seine typischen Abmessungen. Mit der Baugröße wachsen sowohl Material- als auch Fertigungskosten, sodass umgekehrt mit der Reduzierung der Baugröße Kosten eingespart werden können. Besonders stark ist dieser Einfluss bei Bauteilen, die aus teuren Materialien bestehen, denn Volumen und Masse und damit auch die Kosten für das Rohmaterial wachsen in der dritten Potenz mit der Baugröße. Kostengünstige Produkte erhält man daher am einfachsten durch Reduktion der Baugröße. Eine genaue Auslegung der Bauteile mit hoher Ausnutzung der Festigkeit ist dabei eine notwendige Voraussetzung. Unter Materialkosten versteht man die Kosten für Kaufteile und für Halbzeuge, d. h. Rohmaterial im Maschinenbau. Die Materialkosten einschließlich der Kosten für Kaufteile machen im Maschinenbau nach [32] mit etwa 43 % – in Grenzfällen auch zwischen 15 % und 60 % – der Selbstkosten einen großen Anteil

Tabelle 8.5 Vor- und Nachteile der Verbundbauweise Vorteile Nachteile Gute bis sehr gute Ausnutzung der Eigenschaften der einzelnen Werkstoffe Fertigungsprozess gleichzeitig Montageprozess Einteiliges Fertigteil mit komplexer Baustruktur in innigem Verbund Hohe Positioniergenauigkeit, keine Justierung notwendig

Erschwertes Recycling Hohe Reparaturkosten (Austausch des ganzen Teils) Allg. hohe Werkzeug- bzw. Formkosten bei Umformprozessen (Eingießen, Einspritzen)

8.4 Ansätze zur Beeinflussung von Produktkosten

305

aus, bei Großmaschinen in Einzelfertigung und z. B. im Automobilbau steigen die Materialkosten auf 50 % bis zu 70 % der Selbstkosten an. Materialkosten sind nahezu die einzigen echten variablen Kosten, die der Konstrukteur direkt beeinflussen kann. Es gibt keine direktere und schnellere Kostenauswirkung als beispielsweise ein Teil nicht zu kaufen, ein dünneres Blech oder eine kostengünstigere Qualität vorzusehen, solange diese ebenfalls die Anforderungen erfüllen. Die Fertigungskosten machen mit im Mittel rund 28 % der Selbstkosten nach den Materialkosten den zweitgrößten Kostenblock im allgemeinen Maschinenbau aus, vgl. [32]. Dementsprechend ist die Wahl des Fertigungsverfahrens für die Bauteile bzw. die Folge der Fertigungsverfahren zusammen mit den davon abhängigen Montageverfahren und Hilfsoperationen kostenbestimmend. In vielen Fällen liegen für neue Produkte bereits Vorschläge für die Fertigungs- und Montageverfahren und die Werkstoffe vor, da sich bestimmte Verfahren und Werkstoffe aus Erfahrung als günstig herausgestellt haben und das Know-how sowie die Fertigungseinrichtungen dafür im Unternehmen vorhanden sind. In den vergangenen Jahren ist es gelungen, die Fertigung der Bauteile sehr viel stärker zu rationalisieren und zu automatisieren als die Montage zu vollständigen Produkten. Insbesondere bei kleinen und mittleren Stückzahlen und komplexen mechanischen Produkten scheint die Automatisierung der Montage oft aussichtslos. Daher können heute Montagekosten bis zu 50 % der Herstellkosten ausmachen und sind ein wesentlicher Kostenfaktor. Eine Einsparung von Montagekosten kann am ehesten erreicht werden, indem versucht wird, Montageprozesse durch Integral- oder Verbundbauweise einzusparen, zu vereinfachen oder an Standorte mit niedrigeren Lohnstückkosten zu verlagern, vgl. auch Abschnitt 11.1.2.

Tabelle 8.6 Vor- und Nachteile der Funktionsintegration Vorteile

Nachteile

Komplette funktionsfähige Produkte ohne Mit zunehmendem Integrationsgrad steigenMontageaufwand de Werkzeugkosten und zunehmende Störfunktionen Realisierung mehrerer funktioneller Eigen- Zunahme der Störfunktionen hinsichtlich Maschaften auf engem Raum terial und Maschine Gewichtsminimierung (Leichtbauweise, Re- Meist nur zerstörende Demontage möglich duzierung von Massenkräften) Hohe Stückzahlen durch produktive Ferti- Komplexes Materialrecycling gungseinrichtungen (Spritzguss) Einfache Lösungen für begrenzte Bewegun- Material und Maschinen optimal ausnutzen gen (Filmgelenke) Substitution von Justiervorgängen durch fe- Baugröße dernde Bauelemente Dichtigkeit und Sterilität durch einteilige Produkte

306

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

Abb. 8.27 Ansatz zum Senken der Produktkosten – Wertanalytischer Ansatz

8.4.6 Maßnahmen beurteilen Die bisherigen Ausführungen weisen wiederholt darauf hin, dass es keine eindeutigen bzw. allgemein verbindlichen Richtlinien für die Konstruktion kostengünstiger Produkte geben kann. Es empfiehlt sich aber in jedem Fall folgendes Vorgehen zur Beurteilung der Kostensenkungs-Maßnahmen hinsichtlich ihrer Realisierungschancen sowie dem Nutzen der Maßnahmen: • Kostendaten für das betreffende Produkt, Baugruppe, Bauteil beschaffen und die Kostenstruktur ermitteln, • Kostenschwerpunkte identifizieren, • Alternativen der Gestaltung einzelner Elemente entwickeln und Kosten kalkulieren, dabei Arbeitsvorbereitung oder Fertigungsprozessplanung beteiligen, • Produktionsverlagerungen ganzheitlich unter Berücksichtigung von Ressourcenverfügbarkeit, Transportkosten, Zöllen und gegebenenfalls längeren Materialdurchlaufzeiten im Unternehmen bewerten, • aussichtsreiche Varianten hinsichtlich Nutzen bzw. Aufwand für Funktion, Design, Qualität, Kosten, Umwelt sowie bezüglich der Verfügbarkeit der benötigten Ressourcen beurteilen, • Entscheiden auf der Grundlage von Amortisationszeiten bei existierenden Produkten bzw. des zusätzlichen Entwicklungsaufwandes bei Neuprodukten.

8.5 Wertanalyse – Kostensenken durch Anpassen an Kundennutzen Der zuvor diskutierte Ansatz zum Senken der Produktkosten fokussierte sich auf die Reduktion von Herstellkosten, hierbei bleibt die Produkt-Kunden-Beziehung jedoch weitestgehend unberücksichtigt. Jedoch muss ein Produkt ein günstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweisen, um erfolgreich zu sein. Der im Folgenden vorgestellte wertanalytische Ansatz zielt darauf ab, das Produkt so zu entwickeln, dass es nicht mehr aber auch nicht weniger „leistet“ als das, was der Kunde erwartet und diesen Kundenutzen mit möglichst geringen Herstellkosten bzw.

8.5 Wertanalyse – Kostensenken durch Anpassen an Kundennutzen

307

Abb. 8.28 Nutzenarten von Produkten (In Anlehnung an [32])

Aufwand realisiert. Diese Zielsetzung basiert auf der Annahme, dass die Erfüllung von Funktionen Kosten verursacht, d. h. je mehr Funktionen ein Produkt bietet, die ein Kunde nicht braucht, desto höher sind die für den Kunden nicht durch Nutzen gerechtfertigten Kosten. Die Grundidee beim Kostensenken durch Anpassung an den Kundennutzen geht also folglich davon aus, dass Kundennutzen und Herstellkosten gleichzeitig betrachtet werden. Grundlegend sind hierbei zwei Prämissen zu berücksichtigen, vgl. Abbildung 8.27: • Prämisse 1 – Der Kunde kauft einen Nutzen: Der Kunde will im Grunde kein Produkt bzw. ein Objekt kaufen, sondern er will damit einen angestrebten Nutzen erreichen. Der Wert eines Produkts für den Kunden liegt also im Umfang und Grad der Erfüllung des Kundennutzens, der sich häufig als Gebrauchsnutzen oder Geltungsnutzen manifestiert, vgl. auch Abbildung 8.28. Abbildung 8.29 zeigt zwei Beispiele, mit denen den Kunden ein Nutzen ermöglicht wird, ohne ein Produkt besitzen zu müssen, Carsharing und Miet-

308

a)

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

b)

Abb. 8.29 Carsharingfahrzeuge und Mietbagger als wertanalytisch sinnvolle Lösungen

Abb. 8.30 Bauelemente des Billy-Regalsystems von IKEA

geräte. Viele Menschen möchten mobil sein ohne ein Auto zu besitzen oder nur für kurze Zeit ein bestimmtes Gerät nutzen, etwa einen Minibagger, ohne langfristig Kapital zu binden oder für die Aufbewahrung und Unterhaltung der Produkte verantwortlich zu sein. • Prämisse 2 – Der Hersteller realisiert Produkte, Baugruppen, Bauelemente: Die Kosten für die Herstellung der Produkte sind abhängig von den gewählten Mitteln und damit vom Lösungskonzept, Anzahl und Komplexität der Bauteile, Herstellverfahren, usw. Das Unternehmen will das Produkt mit geringen Kosten herstellen und gut verkaufen, um Gewinn zu erzielen.

8.5 Wertanalyse – Kostensenken durch Anpassen an Kundennutzen

a)

309

b)

Abb. 8.31 Haupt- und Nebenfunktionen am Vergleich zweier Mixermesser

Als Beispiel für einen solchen wertanalytisch erfolgreichen Ansatz lässt sich das Billy-Regalsystem von IKEA heranziehen. Der Hersteller bietet die in Abbildung 8.30 gezeigten vorkonfektionierten Bauelemente an, aus denen der Kunde das für seine Bedürfnisse und räumlichen Möglichkeiten das bestgeeignete Produkt selbst konfiguriert, vgl. auch Abbildung 9.9.b. Vorteilhaft ist dabei insbesondere die Verlagerung der kosten- und fehlerträchtigen Montage zum Kunden, die Bauelemente werden weitgehend vollautomatisch hergestellt und verpackt. In der Betriebswirtschaft wird zwischen verschiedenen Nutzenarten unterschieden, vgl. Abbildung 8.28, Grundnutzen und Zusatznutzen werden differenziert. Der Grundnutzen resultiert hierbei meist aus der ursächlich vom Kunden geforderten Funktionserfüllung, der Zusatznutzen geht über die reine Funktionserfüllung hinaus und gliedert sich in den Individualnutzen und den Geltungsnutzen. Der Individualnutzen beschreibt als rational bewertbare Eigenschaft den Nutzen eines Produktes, der über den Grundnutzen hinausgeht und insbesondere die technische und wirtschaftliche Nutzbarkeit betrifft. Der Geltungsnutzen hingegen spiegelt den Nutzen wieder, der über die technische und wirtschaftliche Nutzbarkeit hinausgeht, wie z. B. Prestige, Ästhetik oder Image; der Geltungsnutzen ist eine weitgehend irrationale Eigenschaft insbesondere hochpreisiger Produkte. Beim wertanalytischen Ansatz werden die einzelnen Arten des Nutzens als Wirkungen eines Produkts auf den Kunden aufgefasst und als Eigenschaften des Produkts beschrieben. Mit dem Verständnis, dass die in der Wertanalyse wichtigen Funktionen der Produkte in der Entwicklungsmethodik als Eigenschaften verstanden werden und dass Nutzungsprozesse durch Funktionen und Eigenschaften ermöglicht werden, lässt sich das Verständnis der Wertanalyse in die Gedankenwelt der Produktentwicklung widerspruchsfrei einordnen. Bei den wertanalytischen Funktionen als Eigenschaften des Produkts im Sinne der Produktentwicklung unterscheidet man Funktionsarten und Funktions-

310

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

klassen. Funktionsarten im Sinne der Wertanalyse können in Gebrauchsfunktionen sowie Geltungsfunktionen untergliedert werden, vgl. Abbildung 8.28. Gebrauchsfunktionen sind Funktionen eines Objektes, die zu einer technischen und wirtschaftlichen Nutzung erforderlich sind. Geltungsfunktionen hingegen beschreiben Funktionen, die über die Gebrauchsfunktionen hinausgehen. Funktionsklassen können unterschieden werden in Hauptfunktion, Nebenfunktion sowie unerwünschte Funktion ebenso wie die im Rahmen der Funktionsanalyse technischer Produkte ermittelten Funktionen im Sinne von Definition 9. Als Hauptfunktion werden die Funktionen bezeichnet, welche dem primären Zweck eines Produktes dienen. Nebenfunktionen dienen der Erfüllung oder Ergänzung der Hauptfunktion. Unerwünschte Funktionen werden vom Produkt erbracht, jedoch nicht vom Kunden gewünscht bzw. tragen nicht zum Kundennutzen bei. Ein Beispiel für eine unerwünschte Funktion ist die Wärmeerzeugung einer konventionellen Glühbirne mit Leuchtdraht. Anhand des Mixermesser als Beispiels in Abbildung 8.31 wird deutlich, dass die beiden Produktvarianten den gewünschten Zweck mit einer unterschiedlichen Anzahl von Bauteilen erfüllen, insbesondere für die Nebenfunktion. Anzahl und Aufwand der Nebenfunktionen zum Erfüllen einer bestimmten Hauptfunktion sind ein Maßstab für die Einfachheit eines Produkts. Ein Produkt wird dann einfach und damit kostengünstig, wenn möglichst wenige Nebenfunktionen und damit auch Bauteile zur Erfüllung der Hauptfunktion benötigt werden. In dem Beispiel ist Lösung b) in Abbildung 8.31 das kostengünstigere Produkt. Kernpunkt jeder Wertanalyse ist das Ermitteln der Funktionskosten, vgl. Abbildung 8.27. Funktionskosten stellen die Kosten dar, welche für die Verwirklichung einer Funktion erforderlich sind. Die Ermittlung von Funktionskosten kann sich als schwierig herausstellen, denn abgesicherte Kosteninformationen liegen im günstigen Fall meist nur für einzelne Bauteile und Herstellprozesse vor, z. B. für die Montage. Im ungünstigen Fall ist man – insbesondere zu Beginn der Entwicklung – weitgehend auf Schätzungen und Annahmen angewiesen. An der Erfüllung von Funktionen sind allerdings in der Regel mehrere Wirkflächen bzw. Bauteile beteiligt, ebenso wie ein Bauteil üblicherweise zur Erfüllung unterschiedlicher Funktionen beiträgt. Das bedeutet, dass Funktionskosten durch eine konventionelle Kostenkalkulation kaum ermittelt werden können. Zur Ermittlung der Funktionskosten müssen daher die kalkulierten Bauteil- und Prozesskosten einer anderen Struktur, der Funktionskostenstruktur, neu zugeordnet werden, vgl. Abbildung 8.32. Eine Funktionskostenstruktur drückt den angemessenen bzw. tatsächlich erbrachten Aufwand für das Bereitstellen des Kundennutzens durch das Produkt in Geldeinheiten aus. Hierbei muss beachtet werden, dass Funktionskosten lediglich auf Basis vorhandener konkreter Lösungen ermittelt und verglichen werden können. Zur Berechnung der Funktionskosten werden die für ein gestaltetes Produkt ermittelten oder die aus Marktsicht maximal zulässigen Kosten nun so gut wie möglich den Funktionen zugeordnet. Diese Kosten umfassen alle Aufwendungen, die getroffen werden müssen, um das Produkt komplett und funktionsfähig

8.5 Wertanalyse – Kostensenken durch Anpassen an Kundennutzen

311

Abb. 8.32 Funktions-, Bauelement- und Herstellkosten

herzustellen und anzubieten. Darunter subsumieren sich Kosten für Bauelemente – Bauteile, Zulieferteile, Baugruppen etc. – sowie Prozesse, die zur Vervollständigung des Produkts notwendig sind, z. B. Montage-, Lackier- oder ggf. Verpackungsprozesse. Durch die Ermittlung der Funktionskosten wird erkennbar, bei welchen Funktionen Kostenschwerpunkte vorliegen. Um die Funktionskosten zu ermitteln, kann folgende Vorgehensweise angewendet werden, vgl. Tabelle 8.7: 1. Haupt- und Nebenfunktionen der Baugruppe oder des Produktes identifizieren als Zeilenüberschriften 2. Bauelemente und wesentliche Herstellerprozesse zur Realisierung der Baugruppe als Spaltenüberschriften eintragen. Dabei pro Bauelement oder Herstellprozess jeweils eine Spalte für absolute Kosten [€] und eine für relative Kosten [%] vorsehen. 3. Funktionen kennzeichnen, zu deren Erfüllung die einzelnen Bauelemente oder die Prozesse beitragen. 4. Kosten in das Schema eintragen. 5. Kosten für Bauelemente sowie Bearbeitungs-, Montage- und Hilfsprozesse für jedes Bauteil bzw. jeden Prozess auf die relevanten Funktionen aufteilen. Bei der Aufteilung der Bauelement- bzw. Prozesskosten auf die Funktionen kann die Beantwortung der folgenden Frage hilfreich sein: Welche Kosten würden entfallen, wenn die Funktion nicht vorhanden wäre bzw. nicht erfüllt werden müsste? 6. Zeilenweises Addieren der Einzelfunktionskosten ergibt die gesamten Funktionskosten für eine Funktion. Am bereits eingeführten Beispiel des Mixermessers wird nun eine wertanalytische Betrachtung angestellt. Dazu werden noch einmal in Abbildung 8.33 die

312

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

Abb. 8.33 Haupt- und Nebenfunktionen des klassischen Mixermessers

Haupt- und Nebenfunktionen des klassischen Mixermessers dargestellt und benannt. Anschließend können die Funktionskosten in das Schema eingetragen werden, vgl. Tabelle 8.7, wobei es sich um die Kosten für 100 Stück handelt. Die Kosten werden sowohl für die Hauptfunktion als auch die Nebenfunktionen nach Bauelementen sowie Prozessen sortiert aufgelistet. Es ist ersichtlich, dass die Ist-Funktionskosten für 100 Mixermesser 240 € betragen. Anschließend an die Ermittlung der Ist-Funktionskosten werden die Soll-Kosten ermittelt. Diese bzw. das Kostenziel für das gesamte Produkt wird aus Marktuntersuchungen und Wettbewerbsanalysen durch Marketing und Vertrieb abgeleitet. Im Beispiel des klassischen Mixermessers werden Soll-Kosten von 150 € pro 100 Stück vorgegeben, dies bedeutet eine Einsparung von 90 € bzw. 37 %. Diese ermittelten Zielkosten für das gesamte Produkt können in Teilkosten aufgespalten werden, die als Teilzielkosten die einzelnen Funktionen des Produkts aus Kundensicht repräsentieren. Hierbei sollte man sich stets die beiden Fragen stellen “Was ist dem Kunden die Erfüllung dieser Funktion, die Realisierung dieses Teilnutzens wert?” sowie “Was ist der Kunde bereit, dafür zu bezahlen?”.

Tabelle 8.7 Ist-Funktionskostenermittlung am Beispiel eines Mixermessers (Betrachtungsrahmen 100 Stück) Funktion

Bauelemente Prozesse Ist-FunkWelle 3 Messer Halter Verb.-Elem. Montage tionskosten % € % € % € % € % € €

N1 Drehmoment leiten 50 50,N2 Moment übertragen 50 50,- 40 24,- 100 19,- 100 19,- 100 42,H1 Schnittkraft aufbringen 60 36,-

50,154,36,-

Gesamtkosten

240,-

100 100,- 100 60,- 100 19,- 100 19,- 100 42,-

8.5 Wertanalyse – Kostensenken durch Anpassen an Kundennutzen

313

Die Teilzielkosten werden üblicherweise mit der Methode des Target Costing, dem Zielkostenmanagement, vgl. Abschnitt 8.6 erfasst. Für eine schnellere, allerdings auch gröbere Abschätzung können Teilzielkosten mit der Methode Paarvergleich ermittelt werden. Dabei werden alle Funktionen in einer Matrix einander gegenübergestellt und jeweils hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Kunden im Vergleich untereinander beurteilt. Die Spaltensumme ergibt ein Maß für die Gewichtung der einzelnen Teilnutzen aus Kundensicht und erlaubt die anteilige Aufspaltung der gesamten Zielkosten in Soll-Funktionskosten, vgl. Tabelle 8.8. Diese Tabelle zeigt den Paarvergleich der Funktionskosten anhand des Mixermessers, wobei die Gesamtzielkosten mit 150 € vorgegeben sind. Für eine Kostenverfolgung im Rahmen des Zielkostenmanagements sind die Sollbzw. Zielfunktionskosten ohne die Vorgabe von Kostenzielen nicht hilfreich. Hierzu sind Zielkosten für kalkulierbare Einheiten – Bauteile, Herstellprozesse usw. – erforderlich, die frühzeitig z. B. durch Kostenschätzungen ermittelt werden. Solche Zielkosten können mittels der Funktionskostenmatrix analog zu Tabelle 8.7 ermittelt werden, indem man in einem umgekehrten Vorgehen die angestrebten Zielkosten auf die Bauteile und Prozesse verteilt und über die Bauteile summiert. Nach Ermittlung der Ist- sowie Soll-Funktionskosten ist es wichtig, die Funktionsträger hinsichtlich der Funktionserfüllung zu prüfen sowie miteinander zu vergleichen. Hierbei können folgende Fragen hilfreich sein: • Sind offensichtliche Schwachstellen bekannt bzw. zu benennen? • Sind unerwünschte Funktionen vorhanden oder können Fehlfunktionen auftreten? • Werden Wirkprinzipien mit ungünstigen Effekten eingesetzt? • Treten Störgrößen (Lärm, Schwingungen, Abwärme...) auf, die den Kundennutzen beeinträchtigen? • Ist das Produkt zuverlässig und betriebssicher? • Wo sind Kostenschwerpunkte der Ist-Kostenstruktur, sind diese gerechtfertigt? • Wo sind Abweichungen zwischen Ist-Kosten und Zielkosten, wie können diese erklärt und wie können sie ausgeglichen werden?

Tabelle 8.8 Soll-Funktionskostenermittlung mit Hilfe des Paarvergleichs (Legende: 0 = weniger wichtig, 1 = gleich wichtig 2 = wichtiger) Funktion N1: Drehmoment leiten N2: Drehmoment übertragen H1: Schnittkraft aufbringen Spaltensumme Werte normiert (Summe = 1) Sollfunktionskosten

N1: Drehmoment N2: Drehmoment H1: Schnittkraft leiten übertragen aufbringen 1 1 0

2 2 1

2

2

5

0,22

0,22

0,56

33,- €

84,- €

33,- €

Summe Differenz Ist- vs. Soll-Kosten

1 1 0

150 € −17,−€

−121,−€

+48,−€

314

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

Der Vergleich der Ist- und Soll-Funktionskosten gibt Hinweise auf Kostensenkungspotentiale, jedoch ist es nicht immer sinnvoll und möglich, eine Angleichung an die Soll-Funktionskosten zu erreichen. Es ist also wichtig, die realisierten Funktionen immer nur so gut wie nötig und nicht so gut wie möglich durch eine geeignete Gestaltung darzustellen. Analysiert man das Zahlenbeispiel in Tabelle 8.7 und Tabelle 8.8 so wird deutlich, dass bei der klassischen Gestaltung für die Nebenfunktionen die Ist-Kosten deutlich über den Sollkosten nach dem wertanalytischen Ansatz liegen. Die Gestaltung der Bauteile zur Erfüllung der Hauptfunktion H1 hingegen ist sehr kostengünstig, die Ist-Kosten liegen bei 100 Einheiten um insgesamt 90 €über den Zielkosten. Ein Ansatz zur Beseitigung der Kostendifferenz ist die Umgestaltung der Komponenten zur Momentenübertragung, Nebenfunktion N2, um über eine kostenbewusstere, einfachere Gestaltung die Teileanzahl und damit die Montagekosten zu reduzieren. Wichtig ist auch, dass aus der Tatsache, dass die IstKosten für die Realisierung der Hauptfunktion unter den Zielkosten liegen, nicht der Schluss angeleitet wird, die Schnittkraftaufbringung aufwändiger zu gestalten, da man vermeintlich unter dem Kostenziel ist. Eine solche Maßnahme würde dem Ziel Kostensenken entgegenstehen. Zusammenfassend kann der wertanalytische Ansatz als Methode aufgefasst werden, die darauf abzielt, mit geringstem Aufwand beim Hersteller den geforderten Kundennutzen möglichst genau zu erreichen. Die Wertanalyse selbst ist jedoch keine Methode zur Lösungssuche, sondern verweist auf spezielle Kreativtechniken wie Brainstroming, Brainwriting oder Synektik, vgl. Abschnitt 5.4.3.

8.6 Zielkostenmanagement – Target Costing Die Entwicklung kostengerechter Produkte ist eine weitere Möglichkeit für Unternehmen, um dem Kostendruck zu begegnen, man spricht vom Zielkostenmanagement, das dem englischen Sprachgebrauch folgend häufig auch als Target Costing bezeichnet wird. Bei der Neuentwicklung eines Produkts wird dieses weitgehend vollständig neu definiert, dabei werden von den Produktentwicklern sowohl die technischen Eigenschaften als auch die Fertigungs- und Montageprozesse und damit die Produktkosten festgelegt. Besonders in der frühen Phase der Entwicklung stehen dem Entwickler noch alle Wege offen und er hat die Auswahlmöglichkeit zwischen mehreren zum Teil auch grundsätzlichen unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten. Bei Änderungs- und Anpassungskonstruktionen oder bei der Entwicklung neuer Produktgenerationen, vgl. Abschnitt 5.3.2, liegen die größten Stellhebel zur Kostenreduktion in den Bereichen des Produkts, die nahezu neu entwickelt oder zumindest an neue Lieferanten vergeben werden, denn neue Lieferantenverträge bieten die Chance für Neuverhandlung der Preise und der sonstigen Lieferkonditionen, insbesondere, wenn mehrere fähige Lieferanten die gleichen Produkte anbieten.

8.6 Zielkostenmanagement – Target Costing

315

Abb. 8.34 Ansatz zum Senken der Produktkosten – Target Costing

Im Rahmen der Entwicklung müssen die Entwickler Entscheidungen treffen, die auf sehr abstrakten Informationen basieren und die eine große Tragweite aufweisen. Um dabei erfolgreiche Produkte zu entwickeln ist es unerlässlich, dass von Anfang an technische und wirtschaftliche Aspekte ausgewogen berücksichtigt werden. Voraussetzungen hierfür sind, vgl. Abbildung 8.34: • Zielkostenfestlegung: Vorgaben sowohl für die technischen Eigenschaften als auch für die Produktkosten erarbeiten. • Kostenfrüherkennung: Frühzeitige Vorhersage von Produktkosten parallel zu den technischen Eigenschaften ermöglichen. • Kostenbeeinflussung: Kenntnis über Möglichkeiten zur kostengünstigen Ausführung von Produkten gewinnen und nutzen. Das Zielkostenmanagement ist eine Methode der Kostensteuerung in Entwicklungs- und Herstellprozessen, die seit den sechziger Jahren in Japan in der industriellen Praxis entwickelt wurde und sich in den neunziger Jahren verstärkt auch in Europa durchgesetzt hat. Die Methode des Target Costing ist aufgrund folgender Gründe so erfolgreich: • Um in einer sehr frühen Phase des Entwicklungsprozesses einen Verkaufspreis zu ermitteln, wird eine genaue Analyse der Marktsituation und der Marktentwicklung benötigt. Das frühe Abstimmen von Kostenzielen und technischen Anforderungen schafft ein ganzheitliches Kostenbewusstsein und begünstigt eine markt- und kundenorientierte Entwicklung und Produktion. • Bei konsequenter, kontinuierlicher Kontrolle der festgelegten Teilzielkosten werden Abweichungen frühzeitig erkannt und können korrigiert werden. • Das Target Costing berücksichtigt alle mit dem Produktlebenslauf verbundenen Prozesse und konzentriert sich nicht nur auf die Produktkosten selbst, welche durch Material, Menschen und Maschinen verursacht werden. So können auch übergeordnete Problembereiche, wie die Logistik oder der Kundendienst, Beachtung finden. Dabei werden alle denkbaren Methoden zu Kosten-

316

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

Abb. 8.35 Vergleich Bottom-up- und Top-down-Ansatz zur Ermittlung von Preisen und Produktkosten (In Anlehung an [60, S. 65])

senkung (Wettbewerbsanalyse, Fremdvergabe, Kostengünstiges Konstruieren usw.) eingesetzt. Hauptgrund für ein zielkostenorientiertes Entwickeln von Produkten ist letztendlich die Änderung des Kaufverhaltens, dies wird insbesondere durch die Entwicklung vom Verkäufermarkt zum Käufermarkt deutlich, vgl. Abbildung 2.8. Früher konnten die Unternehmen nach der Entwicklung eines neuen Produkts durch eine Nachkalkulation und Aufschlag eines Gewinns den Preis des Produkts festlegen und in der Regel auch am Markt durchsetzen, was als Bottom-up-Ansatz bezeichnet werden kann. Heute dagegen werden die Preise durch den Markt bestimmt, was zu einem Umdenken bei den Unternehmen führt. Während früher die Frage “Wie viel wird das Produkt kosten?” nach Festlegung der Details beantwortet wurde, steht heute die Frage “Wie viel darf das geplante Produkt kosten?” im Vordergrund der Produktentwicklung. Aus dem am Markt realisierbaren Preis für ein neu zu entwickelndes Produkt ergeben sich im Rahmen des sogenannten Top-down-Ansatzes ausgehend vom Marktpreis die zulässigen Produktkosten und das Kostenziel. Beide Ansätze sind in Abbildung 8.35 dargestellt. Daraus folgernd können die Zielkosten bzw. die zulässigen Produktkosten definiert werden: Definition 39 Zielkosten Die Zielkosten bzw. die Gesamtzielkosten sind das Ergebnis der Festlegung der maximal zulässigen Kosten eines Produkts ausgehend vom Marktpreis zu Beginn eines Entwicklungsprojektes. 3

Diese Definition von Kostenzielen und Zielkostenstrukturen sowie grundsätzlich das zielkostenorientierte Vorgehen bilden den Kern des Zielkostenmanagements.

8.6 Zielkostenmanagement – Target Costing

317

Wegen des langfristigen Charakters einer Neuproduktentwicklung gehen der Ermittlung eines Kostenziels meist eine intensive Marktrecherche und gründliche Marketingüberlegungen voraus, wobei folgende Gesichtspunkte bzw. Fragestellungen beachtet werden sollten: • Wie viel ist ein potentieller Kunde bereit für das neue Produkt zu zahlen? Die Kunden stehen im Zentrum der Zielkostenermittlung. Ein Produkt wird gekauft, wenn es dem Käufer Nutzen bzw. Gewinn verspricht oder ihn zufriedenstellt oder sogar begeistert; d. h. die Voraussetzungen für eine positive Kaufentscheidung des Kunden sind das ausschlaggebende Kriterium. • Wie wird die technische Entwicklung in Zukunft verlaufen? Die technische Entwicklung des Zuliefermarktes und des Produktherstellers selbst ergibt häufig Kostensenkungspotentiale, z. B. durch den Einsatz flexibler Software bei Steuerungen, die bereits bei der Neuentwicklung und der Preis- und Kostenentwicklung mit einkalkuliert werden. • Wie viel werden die Produkte der Wettbewerber leisten und kosten? Die Bewertung des eigenen neuen Produkts hängt stark davon ab, welche funktionalen und preislichen Alternativen die aktuellen und zukünftigen Wettbewerbsprodukte bieten. • Wie viel leisten und kosten die eigenen Vorgängerprodukte? Informationen über die Kosten und die Kostenstrukturen von Vorgängerprodukten oder ähnlichen Produkten sollten detailliert analysiert werden mit dem Ziel, die prinzipielle Realisierbarkeit der vom Markt abgeleiteten Zielkosten zu überprüfen. Beim zielkostenorientierten Entwickeln sind nach [60] die folgenden drei Vorgehensschritte wichtig, welche im Folgenden näher erläutert werden: • Kostenziel (Gesamtzielkosten) ermitteln, • Gesamtzielkosten in Teilzielkosten aufteilen und Zielkostenstruktur erstellen, • Einhaltung der Zielkosten regelmäßig kontrollieren.

8.6.1 Kostenziel ermitteln – Gesamtzielkosten Grundsätzlich sollte sich die Festlegung des Kostenziels an dem Top-down-Ansatz orientieren, vgl. Abbildung 8.35 rechts, allerdings stellt sich dies in der Praxis häufig schwierig dar, da eine ausschließliche Orientierung am Kunden zu unrealistischen Zielkosten führen kann. Unter unrealistischen Zielkosten können einerseits Qualitäts- und Leistungseigenschaften des neuen Produkts leiden und andererseits kann ein Verfehlen des Kostenziels die Entwickler demotivieren oder den Markterfolg gefährden, wenn der angestrebte Marktpreis nicht erreicht werden kann. Kostenziele werden daher in einem kombinierten Top-down- und Bottom-up-Vorgehen festgelegt, indem mehrere Analysen durchgeführt werden: • Analyse des Marktes: Mit Hilfe der Marktforschung wird ein am Markt erzielbarer Preis ermittelt, wobei Produkteigenschaften und deren Wertschätzung

318











8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

aus Sicht des Kunden die zentrale Rolle einnehmen. Daraus ergeben sich die zulässigen Herstellkosten, im Englischen als allowable cost bezeichnet. Analyse der eigenen Vorgängerprodukte: Durch die sorgfältige Analyse von Vorgängerprodukten und deren Herstellkosten oder ähnlichen eigenen Produkten ist eine fundierte Einschätzung über realisierbare Kosteneinsparungspotentiale möglich. Mit diesen Kenntnissen kann dann abgeschätzt werden, ob ein angestrebtes Kostenziel kurz-, mittel oder langfristig realistisch ist bzw. inwiefern es korrigiert werden muss. Analyse der Wettbewerber: Die Preisvorstellung von potentiellen Kunden hängt unter anderem von den preislichen Alternativen ab, welche die Produkte der Wettbewerber bieten. Es muss davon ausgegangen werden, dass das neue Produkt am Markt Konkurrenz von innovativen Produkten anderer Anbieter hat, vgl. Abbildung 2.5. Analyse des Kundennutzens: Insbesondere bei Investitionsgütern gibt die Berechnung des wirtschaftlichen Nutzens, welchen der Kunde mit dem Produkt generieren kann, Auskunft über eine vertretbare Höhe der Investition und zulässige Betriebskosten. Analyse von Innovationspotentialen: Bei der Entwicklung neuer Produkte müssen sowohl die Marktwirkung möglicher Produktinnovationen im Vergleich zum Wettbewerb, als auch absehbare Innovationen der Fertigungstechnik berücksichtigt werden. Hierdurch werden einerseits die Preisgestaltung und andererseits die zukünftige Entwicklung der Herstellkosten beeinflusst. Analyse der notwendigen und verfügbaren Entwicklungsressourcen: Das für die Entwicklung neuer Produkte bzw. neuer Produktgenerationen, welche sich in der Kundenwahrnehmung vom bisherigen Produkt differenzieren, vorgesehene Entwicklungsbudget stellt ebenfalls eine wichtige Entscheidungsgröße dar. Die Überlegung ist dann, wie viel am Produkt geändert werden kann und muss, um das Entwicklungsziel zu erreichen und gleichzeitig das Entwicklungsbudget einzuhalten, daher muss entsprechend in der Entwicklung priorisiert werden, vgl. Abschnitt 5.3.

8.6.2 Gesamtzielkosten in Teilzielkosten aufspalten sowie Zielkostenstruktur erstellen Die Festlegung eines globalen Kostenziels in Form von Gesamtzielkosten ist für den Erfolg einer Produktneuentwicklung zwar notwendig, aber für den wirtschaftlichen Erfolg des Produkts nicht hinreichend. Ein globales Kostenziel erweist sich für die Entwicklungsarbeit als wenig hilfreich, da Produkte in der Regel aus mehreren Komponenten bestehen, für deren Entwicklung verschiedene Mitarbeiter bzw. Abteilungen zuständig sind. Teilweise ist nicht klar, von wem die Übernahme der Verantwortung für die Kosteneinsparung erwartet wird. Ebenso ist die gleichmäßige Aufteilung der Gesamtzielkosten auf alle Komponenten nicht zielführend, da die Komponenten unterschiedlich wichtige Bedeutung für

8.6 Zielkostenmanagement – Target Costing

319

Abb. 8.36 Beispiel für die Aufteilung von Gesamtzielkosten auf Teilzielkosten (Aus [60])

den Kunden haben und verschieden große Kosteneinsparpotentiale beinhalten. Für eine zielkostenorientierte Produktentwicklung ist es daher erforderlich das Kostenziel in Teilzielkosten aufzuspalten. Die Zielkostenstruktur sollte sich dabei an kalkulierbaren Komponenten des Produkts orientieren, auch wenn es bei der Definition der Teilzielkosten zunächst näher liegt, sich an Produkteigenschaften oder Funktionskosten zu orientieren, z. B. mittels des wertanalytischen Ansatzes, der in Abschnitt 8.5 diskutiert wird. Grundsätzlich sollte sich die Festlegung der Teilzielkosten am Kundennutzen orientieren, da es Komponenten gibt, die einen elementaren Beitrag zum Kundennutzen leisten, jedoch kein erhebliches Kosteneinsparungspotential vorliegt. Auf der anderen Seite beinhaltet jedes Produkt Komponenten, die elementar wichtig sind, aber nicht unmittelbar zum Kundennutzen beitragen. Die Festlegung der Teilzielkosten wird also immer einen Kompromiss unter den unterschiedlichen Gesichtspunkten darstellen, vgl. Abbildung 8.36. Eine Aufteilung der Gesamtzielkosten auf Teilzielkosten von Baugruppen während der Projektlaufzeit wie in Abbildung 8.36 ermöglicht und vereinfacht die Kontrolle hinsichtlich der Einhaltung der Kosten. Üblicherweise ist es nicht möglich, zu Beginn des Projekts eine Zielkostenstruktur zu erarbeiten, die für den gesamten Projektablauf ihre Gültigkeit behält. Angestrebte Lösungen können teils wegen unerwarteter Probleme oder Schutzrechte Dritter nicht verwendet werden, wodurch die angestrebten Teilzielkosten nicht erreicht werden können. In anderen Fällen ergeben sich durch anfangs nicht erkannte Synergien oder Fertigungsinnovationen erhebliche Einsparungspotentiale, die in dieser Höhe nicht erwartet wurden. Die Zielkostenstruktur muss daher speziell in der frühen Projektphase und bei Neuentwicklungen mehrfach im Team überprüft und ange-

320

8 Produktkosten verstehen und beeinflussen

passt werden, wobei das Kostenziel – die Gesamtzielkosten – eingehalten werden muss.

8.6.3 Einhaltung der Zielkosten kontrollieren Eine Kontrolle der Kosteneinhaltung während der Projektbearbeitung ist nur möglich, wenn die Gesamtkosten des neuen Produkts und die Teilkosten kontinuierlich überprüft und gegebenenfalls aktualisiert werden. Auf der Basis einer detaillierten Kostenaufstellung – im Englischen als Cost Break Down bezeichnet – sind zumindest quantitative Aussage über Risiken oder erforderliche Maßnahmen möglich. Wird hingegen nur die Einhaltung der Gesamtzielkosten verfolgt, so sind bestenfalls pauschale Aussagen denkbar, Ansatzpunkte für konkrete Kostensenkungsmaßnahmen sind so nicht erkennbar. Wenn die Zielkostenstruktur auf Basis von kalkulierbaren Komponenten definiert wird, stellt die Kontrolle der Zielkosteneinhaltung im Prinzip also kein Problem dar. Kritisch ist allerdings die Ermittlung der zu erwartenden Produktkosten in einem frühen Entwicklungsstadium, wenn die angestrebten Lösungen noch wenig konkret und für eine exakte Kostenberechnung wenig geeignet sind. In diesem Stadium werden zur Ermittlung der Kosten üblicherweise zunächst Schätzwerte oder gewichtsbezogene Größen zur Kostenfrühermittlung eingesetzt, dabei müssen der Aufwand für die Kostenermittlung und die erforderliche Genauigkeit gegeneinander abgewogen werden. Möglich ist auch ein Schätzen insbesondere der Bearbeitungskosten über die Anzahl der Bearbeitungsschritte, ähnliches ist für Montagezeiten bei materiellen Produkten sinnvoll.

8.7 Kritische Betrachtung des Kapitels Die Ausführungen in diesem Kapitel können die Auseinandersetzung mit der detaillierten Kostenrechnung und den Aspekten des Controllings nicht ersetzen, die notwendig sind, um das Zustandekommen von Zielkosten und möglichen Preisen zu verstehen. Es geht vielmehr um eine Einführung in die grundlegenden Mechanismen der Kostenentstehung und -beeinflussung durch die Entscheidungen in der Produktentwicklung und um die Sensibilisierung für das Thema Kosten. Weiterführende Details zur kostengerechten Entwicklung finden sich bei [60], die Preisbildung ist Gegenstand der Betriebswirtschaftslehre, vgl. z. B. [55].

Kapitel 9 Produktvarianten

In diesem Kapitel wird die Problematik der Variantenvielfalt und deren Ursachen sowie Auswirkungen beschrieben, die sich aus der Folge der in Abbildung 2.8 skizzierten Veränderung des Marktverständnisses vom Anbieter- zum Käufermarkt und der dadurch steigenden Wettbewerbsintensität ergibt. Es wird zunächst eine Abgrenzung der Variantenvielfalt zum Komplexitätsbegriff vorgenommen, um daraus entsprechende Stellhebel der Produktentwicklung zur Beherrschung der Komplexität ableiten zu können. Gelingt eine Beherrschung der Variantenflut und die damit verbundene Reduktion der Komplexität auf Unternehmensseite, so wird ein entscheidender Beitrag zum nachhaltigen Erfolg und zur Wettbewerbsfähigkeit am Markt geleistet. Im Fokus der Stellhebel sind baugruppenorientierte Bauweisen, die erläutert und unter Verwendung von Beispielen in diesem Kapitel verdeutlicht werden. Weiterhin werden Methoden vorgestellt, um bereits beim Entwickeln von Produkten eine möglichst hohe Variantenvielfalt bei gleichzeitig geringer Komplexität gewährleisten zu können. In diesem Kapitel werden die folgenden Lernziele verfolgt:

Lernziele des 9. Kapitels: • Sie können die Grundbegriffe Komplexität und Variantenvielfalt erklären und voneinander abgrenzen. • Sie können unterschiedliche bauelement- und baugruppenorientierte Bauweisen erläutern und diese auf Systeme anwenden. • Sie können Methoden zur Entwicklung von Baukästen und zu verschiedenen Modularisierungstechniken erläutern und an Systemen anwenden. 2

Die zentralen Begriffe dieses Kapitels sind in Abbildung 9.1 angegeben. Für eine vertiefte Diskussion der Begriffe wird auch auf die allgemeine Literatur zur Produktentwicklung verwiesen, vgl. z. B. [141, 144, 170].

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Kirchner, Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61762-5_9

321

322

9 Produktvarianten

Abb. 9.1 Zentrale Begriffe zur Beherrschung der Variantenflut

9.1 Motivation und Rahmenbedingungen Speziellen und zunehmend individuellen Kundenwünschen steht im Alltagsleben eine Vielzahl von standardisierten Produkten gegenüber, auch wenn eine Standardisierung dieser Produkte für den Kunden nicht immer offensichtlich ist. Der Schlüssel hierzu liegt in den Angebotsstrategien der Unternehmen, die Produkte beispielsweise als Produktvarianten, Produktfamilien bis hin zu individualisierten Produkten auf den Markt zu bringen, um damit die Kundenwünsche bestmöglich zu erfüllen. Am Beispiel des Produkts PKW soll dieser Sachverhalt verdeutlicht werden. Wenn ein Kunde sich einen Neuwagen nach seinen eigenen Vorstellungen bestellen möchte, kann er den Konfigurator eines Automobilherstellers seiner Wahl verwenden. Dieser bietet dem Kunden eine vorab festgelegte Anzahl an Möglichkeiten an, einen PKW zu gestalten. Er kann anhand der gebotenen Möglichkeiten seine Wünsche an den Neuwagen bestmöglich erfüllen. Am Beispiel des Konfigurators von BMW werden die bestehenden Möglichkeiten zur Individualisierung von Automobilen aus dem Produktprogramm mit Hilfe von Fragelisten realisiert, vgl. Abbildung 9.2. Neben der in der Abbildung gezeigten Einser-Baureihe umfasst der Konfigurator auch die anderen Baureihen und ihre Varianten. Zunächst wählt der Kunde ein Modell aus dem Produktprogramm aus, beispielsweise das Modell BMW 1er, 3-Türer. Das gewählte Modell stellt dabei eine Produktfamilie dar. Anschließend wird der Kunde durch 5 Fragebereiche geführt, in der er sein gewähltes Modell unter Berücksichtigung seiner Wünsche individualisieren kann. So kann er eine passende Außenfarbe festlegen, Polsterfarbe und Haptik der Sitze bestimmen oder auch Sonderausstattungen wie Sportfahrwerk oder ein integriertes Navigationssystem wählen. Da die Möglichkeiten an Kombinationen bei den Wahlmöglichkeiten begrenzt und die Schnittstellen der Ausstattungen festgelegt sind, handelt es sich im Sprachgebrauch der Produktentwicklung beim genannten Beispiel um einen geschlossenen und strukturgebundenen

9.1 Motivation und Rahmenbedingungen

323

Abb. 9.2 Konfigurator am Beispiel des Automobilkonzerns BMW

a)

b)

Abb. 9.3 Basisversion (a) und konfigurierbare Version mit anderen Felgen und chromfarbenen Zierelementen (b) am Beispiel der Mercedes-Benz C-Klasse

Baukasten. Der Automobilhersteller BMW reduziert damit seine Kosten, indem die mögliche Individualisierung der Produktfamilie nicht an den Anforderungen des einzelnen Kunden, sondern an den Anforderungen des gesamten Markts ausgerichtet ist. Es wird versucht, im Sinne der kundenindividuellen Massenproduktion einen Kompromiss zu finden, um unter Berücksichtigung der resultierenden Komplexität der denkbaren Varianten möglichst viele Kunden mit den angebotenen Produkten und deren Individualisierungsmöglichkeiten zufrieden zu stellen. Dadurch lassen sich die Entwicklungskosten und Produktionskosten reduzieren, wobei gleichzeitig nicht jedem Kunden alle Individualisierungswünsche erfüllt werden können. So ist es beispielsweise beim Konkurrenten Daimler-Benz notwendig, ein Grundpaket an Exterior- und/oder Interior-Extras zu bestellen, um überhaupt vom Standard der Außen- und Innen-Gestaltung abweichen zu können, vgl. Abbildung 9.3. Kunden, die ihr individuelles Fahrzeug konfigurieren möchten, müssen diese Vorgehensweise akzeptieren. Durch die Wahl der Grundpakete “Innen” und “Außen” wird eine erste optische Differenzierung zum Basismodell beispielsweise durch andere Räder oder farblich abgesetzte Zierelemente erreicht. Die häufig bestellten Pakete bieten den Fahrzeugherstellern eine erste Möglichkeit, durch standardisierte und oft bestellte Konfigurationen ihre Produktarchitektur zu optimieren.

324

a)

9 Produktvarianten

b)

Abb. 9.4 Beispiele für Produktvarianten: a) Servomotoren, b) Schrauben

An diesen Beispielen lässt sich erkennen, dass ein enger Zusammenhang zwischen Standardisierung, Individualisierung und der damit verbundenen Komplexität besteht, um die Variantenflut von Produkten beherrschen zu können. Je nach Zielsetzung des Unternehmens lassen sich hieraus unterschiedliche Strategien ableiten, welche Produkte mit bestimmten Individualisierungsmöglichkeiten angeboten werden. Im Folgenden werden hierfür notwendige Grundlagen und Modelle vorgestellt.

9.1.1 Grundlagen und Modelle Auf der Produktseite stellen die Variantenvielfalt und die Breite des Produktprogramms maßgebliche Komplexitätstreiber im Unternehmen dar. Dem Begriff Variante liegt hierbei das folgende Verständnis zugrunde, vgl. [93]: Definition 40 Variante Eine Variante eines technischen Systems ist ein anderes technisches System gleichen Zwecks, das sich in mindestens einem Element oder einem Merkmal bzw. einer Eigenschaft unterscheidet. 3

Produktvarianten können durch Unterschiede in strukturellen Merkmalen oder funktionellen Eigenschaften des Produkts voneinander getrennt werden, vgl. Abbildung 9.4. Abbildung 9.3 zeigt strukturelle Produktvarianten, die sich durch die Definition der Ausstattungspakete optisch und funktional unterscheiden. Unterschiedliche Motorvarianten oder Antriebskonzepte oder eine optionale Anhängerkupplung als Merkmal hingegen begründen funktionale Produktvarianten mit unterschiedlichen Eigenschaften aufgrund der unterschiedlichen Fahrleistungen oder der Zusatzfunktion als Zugfahrzeug. Der Umfang an angebotenen Varianten, vgl. Abbildung 9.4, wird mit dem Begriff der Variantenvielfalt nach [200] definiert: Definition 41 Variantenvielfalt Variantenvielfalt bzw. Produktvielfalt bezeichnet die Anzahl und Verschiedenheit der Varianten eines Bauteils, einer Baugruppe oder eines Produkts. 3

9.1 Motivation und Rahmenbedingungen

325

Die Variantenvielfalt kann in eine interne und eine externe Vielfalt unterteilt werden. Die interne Vielfalt beschreibt die Vielfalt an Bauteilen, Baugruppen, Produkten und Prozessen, die im Rahmen der Auftragsabwicklung innerhalb eines Unternehmens auftreten. Die interne Vielfalt verursacht hohe Komplexität und mangelnde Transparenz in den innerbetrieblichen Abläufen und sollte vermieden werden, wenn sie nicht mit den Marktbedürfnissen abgestimmt ist, sondern aus internem Antrieb wie beispielsweise Technikverliebtheit, Erfindungstrieb etc. erfolgt. Die externe Vielfalt hingegen beschreibt die Vielfalt von Produktvarianten, die direkt für den Kunden nutzbar ist. Externe Vielfalt muss für den Kunden ersichtlich bzw. erkennbar sein, um für das Unternehmen umsatzwirksam zu werden, und trägt damit zur Erfüllung von Kundenwünschen wie im Beispiel aus Abbildung 9.3 und zur Erhöhung des Produktnutzens bei, vgl. Abbildung 8.28. Die von einem Unternehmen angebotene Produkt- und Variantenvielfalt hat große Auswirkungen auf alle Phasen von Produktlebenslauf und Produktlebenszyklus, die mittelbar oder unmittelbar mit dem Produkt zusammenhängen. Im Folgenden sind einige Faktoren beispielhaft zusammengestellt, die sich bei höherer Variantenvielfalt hinsichtlich der Kriterien Kosten, Zeit und Qualität des magischen Dreiecks aus Abbildung 4.13 im Unternehmen zunächst negativ bemerkbar machen: • Konstruktion, Entwicklung und Freigabe – Aufwand für Konstruktion von neuen Teilen – Erstellen und Verwalten zusätzlicher technischer Unterlagen – Erhöhter Änderungsaufwand durch Varianten – Pflege zusätzlicher Teile/Stammdaten • Einkauf/Logistik – Erschwerte Materialbedarfsermittlung – Höhere Einstandspreise durch kleinere Stückzahlen – Erhöhte Anzahl an Bestellvorgängen – Höhere Lagerbestände zur Aufrechterhaltung der Lieferbereitschaft – Zusätzliche Lieferantensuche, -bewertung und -auswahl • Fertigung/Montage – Höhere Rüstkosten und Anlaufverluste aufgrund kleinerer Losgrößen – Aufwändigere Fertigungssteuerung, komplizierte Auslastung der Montage – Auslastungsschwankungen und geringere Produktivität – Zusätzliche Prüfprogramme, Werkzeuge und Vorrichtungen • Rechnungswesen – Anspruchsvollere Kalkulation – Erhöhter Aufwand für Wertanalysen, Einkaufsrichtwerte und Rechnungsprüfungen • Vertrieb/Marketing – Mehraufwand für Vertriebsschulungen – Heterogenere Kundensegmente

326

9 Produktvarianten

Abb. 9.5 Ford T-Modell aus dem Jahr 1925

– Höherer Planungsaufwand für eine reibungslose Auftragsabwicklung – Vergrößerte Anzahl von Verkaufsdokumenten – Aufwändigere Preisgestaltung • Kundendienst/Service – Anspruchsvollere Ausbildung des Kundendienstes – Zusätzliche Kundendienstunterlagen – Vergrößerung des Reklamationsrisikos – Erhöhte Ersatzteilbevorratung Die Vorteile einer externen Variantenvielfalt liegen aber auch auf der Hand: Während Henry Ford1 bei der Produktion des in Abbildung 9.5 gezeigten T-Modells zwischen 1908 und 1927 aufgrund des herrschenden Verkäufermarkts die Farbe Schwarz für seine Fahrzeuge anfangs vorgeben konnte, bietet die externe Variantenvielfalt heute die notwendige Voraussetzung zur Befriedigung der Kundenbedürfnisse, vgl. Abbildung 9.2. Darüber hinaus erfordert der heute oft herrschende Käufermarkt, vgl. Abbildung 2.8, ein Mindestmaß an externer Variantenvielfalt zur Differenzierung auch vom Wettbewerber, eine Beschränkung der Variantenvielfalt auf beispielsweise eine Farbe wie in Abbildung 9.5 wird vom modernen Kunden nicht akzeptiert. Somit lässt sich zusammenfassend festhalten, dass eine hohe Variantenvielfalt zu einem erhöhten Aufwand in der Verwaltung und zu weniger effizienten Prozessen bei der Entwicklung, Einkauf, Fertigung und Kundendiensttätigkeiten führt. Ursächlich hierfür ist nach [200] die mit einer hohen Variantenvielfalt verbundene hohe Komplexität: Definition 42 Komplexität Komplexität ist eine Systemeigenschaft, deren Grad von der Anzahl der Systemelemente, der Vielzahl der Beziehungen zwischen diesen Elementen sowie der Anzahl 1

Henry Ford lebte vom 30. Juli 1863 bis 7. April 1947 hauptsächlich in Michigan und gründete den Automobilhersteller Ford Motor Company. In seinem autobiographischen Buch Mein Leben und Werk schreibt er 1922 im Kapitel Das Geheimnis der Produktion den Satz Jeder Kunde kann seinen Wagen beliebig anstreichen lassen, wenn der Wagen nur schwarz ist, der den Geist des damaligen Verkäufermarkts ausdrückt.

9.1 Motivation und Rahmenbedingungen Tabelle 9.1 Teilaspekte zur Messung von Komplexität Anzahl der Elemente

Zur Quantifizierung von Komplexität lassen sich die Anzahl der Elemente eines Systems, die Anzahl der inneren Verbindungen sowie die Anzahl der enthaltenen Kreisläufe bestimmen und Vergleichssystemen gegenüberstellen, vgl. [93] Verschiedenheit der Elemente

Neben der reinen Betrachtung der Anzahl an Elementen im System lässt sich auch deren Verschiedenheit erfassen und gegenüberstellen, vgl. [133].

Informationsgehalt

Abgeleitet aus der Informationstheorie lässt sich der Informationsgehalt eines Systems zur Beschreibung von Komplexität verwenden. Je größer die Unsicherheit bezüglich einer Information ist, desto größer ist auch die zugrundeliegende Komplexität, vgl. [139]. Kombinatorische Vielfalt Die kombinatorische Vielfalt eines Systems beschreibt die Zustände, die das System erreichen kann. So kann beispielsweise ein System, bestehend aus drei Glühbirnen, die jeweils an oder aus sein können, acht Zustände annehmen. Die Komplexität steigt hierbei mit steigender Anzahl der Glühbirnen. Art und Umfang der Systembeschreibung Ein weiterer, wesentlicher Einfluss ist der Umfang und die Art der Systembeschreibung. Die Wahrnehmung von Komplexität ist somit in großem Maße von den verwendeten Modellen zur Systembeschreibung abhängig. Hierbei spielt die Erfahrung und das Wissen des Betrachters eine entscheidende Rolle, vgl. [102].

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328

9 Produktvarianten

Abb. 9.6 Interne und Externe Komplexität (Nach [200])

möglicher Systemzustände abhängt. Hauptkriterien sind demzufolge die Art der Zusammensetzung eines Systems und die Veränderlichkeit im Zeitablauf. 3

Komplexität ist in objektiven Teilaspekten messbar, gleichzeitig jedoch auch in großem Maße von ihrer subjektiven Wahrnehmung in Bezug auf Betrachtungsrahmen bzw. –standpunkt abhängig. In der Praxis stellt die Messung von Komplexität eine enorme Herausforderung dar, die von übergeordneten Zielsetzungen auf Unternehmensebene abhängig ist. In Tabelle 9.1 werden Teilaspekte verdeutlicht, die zur Komplexitätsmessung verwendet werden können bzw. darauf einen Einfluss haben, vgl. auch [144] sowie [1, 159, 215]. Für die Produktentwicklung kann Komplexität nach Definition 42 in eine interne und eine externe Komplexität eingeteilt werden, vgl. Abbildung 9.6. Die interne Komplexität eines Unternehmens wird durch die angebotene Leistung bestimmt, welche sich in erster Linie in der Produktvielfalt widerspiegelt. Einerseits haben die Globalisierung und Individualisierung der Nachfrage zu einer Vielfalt in vielen Branchen beigetragen, wodurch in den Unternehmen die Komplexität der Geschäftsprozesse stark angestiegen ist. Andererseits wird die unternehmensinterne Komplexität auch durch die Realisierung technisch reizvoller und anspruchsvoller Produkte geschaffen, ohne deren Akzeptanz am Markt bzw. das Vorhandensein einer Angebotslücke, vgl. Abbildung 2.5, zu überprüfen. Häufig wird zunächst ein Basisprodukt entwickelt und erst bei Bedarf werden nachfolgend Varianten entwickelt wie beispielsweise landesspezifische Versionen oder spezielle Zusatzfunktionen. Hierbei führt die mangelnde Transparenz über Ursachen und Auswirkungen der Komplexität oft zu einem unkontrollierten Anstieg der Produkt- und Prozesskomplexität. Erfolgreiche Varianten eines Basisprodukts werden häufig über mehrere Generationen des Basisprodukts beibehalten, während nicht erfolgreiche rasch hinterfragt und teils eingestellt werden. Während der Signum in Abbildung 9.7 als Variante des Opel Vectra ein kurzfristiges Nischendasein über eine Produktgeneration hinweg erlebte, wurde bei der Mercedes-Benz C-Klasse dem Erfolg der Marke C-Klasse dahingehend Rechnung getragen, dass erfolgreiche aber nach extern unabhängige Derivate wie der

9.1 Motivation und Rahmenbedingungen

329

Abb. 9.7 Modellvarianten am Beispiel des Opel Vectra C und der Mercedes-Benz C-Klasse. Die verschiedenen Ansichten zeigen jeweils die wesentlichen optischen Unterschiede zur Differenzierung der Varianten voneinander.

SLK oder der GLK in die C-Familie rückintegriert wurden zu SLC bzw. GLC. Die interne Komplexität wird von dieser Umbenennung nicht gesteigert, über den verstärkten Baureihengedanken werden aber indirekt Vorteile in Entwicklung, Einkauf und Produktion nutzbar, wie es in Abbildung 9.7 an Beispielen aus der Automobilindustrie gezeigt ist. Das Variantenmanagement ist der Schlüssel zur Variantenvielfalt für den Kunden. Die externe Komplexität wird in erster Linie durch die Kundenanforderungen und die Konkurrenz auf dem Markt bestimmt. Verlorene Technologievorsprünge sowie vergleichbare Qualitätsniveaus führen häufig zur Austauschbarkeit von Produkten. Daraus resultierend zielt eine verstärkte Kundenfokussierung auf eine nachhaltige Preisfindung ohne Teilnahme an ertragsschädigenden Rabattschlachten und gleichzeitig auf eine bessere Auslastung der eigenen Kapazitäten. Wertige Produkte haben daher trotz hoher Preise längere Lieferzeiten. Die Kundenfokussierung erfordert die kontinuierliche Einführung neuer Produkte bzw. Produktvarianten und eine hohe Flexibilität bei der Konfiguration der Produkte. Eine übertriebene Kundennähe führt jedoch zu einer nicht mehr kontrollierbaren Komplexität und damit zu Effizienzverlusten im Produktionsprozess aufgrund der Realisierung faktisch aller Kundenwünsche. Im Spannungsfeld der internen und externen Komplexität sowie Komplexitätstreibern im Unternehmen muss das Ziel der Unternehmen sein, das Überangebot an Varianten auf ein bearbeitbares Maß zu reduzieren, um effizient und effektiv

330

9 Produktvarianten

Abb. 9.8 “Teufelskreis“ im Umgang mit der Komplexität (Nach [200])

zu bleiben und am Markt langfristig bestehen zu können. Bei Nicht-Beherrschung der Komplexität im Unternehmen, besteht die Gefahr, in einen Teufelskreis abnehmender Wettbewerbsfähigkeit zu gelangen, die letztendlich zur Insolvenz des Unternehmens führen kann, vgl. Abbildung 9.8.

9.1.2 Komplexität von Produktvarianten Hinsichtlich der Komplexitätsbeherrschung im Unternehmen steht die strategische Entscheidung, inwieweit bei der Leistungserstellung auf die individuellen Bedürfnisse der Kunden eingegangen wird, in engem Zusammenhang mit der Breite des Produkt- bzw. Leistungsspektrums. Die Extrema bilden die Standardisierung auf der einen Seite und die Individualisierung auf der anderen Seite. Ein Unternehmen, das die Standardisierungsstrategie verfolgt, bietet dem Markt genau eine Produktversion bzw. eine Einheitsleistung an. Der Anbieter einer standardisierten Leistung ist mit einer anonymen Abnehmerschaft konfrontiert, dem-

9.1 Motivation und Rahmenbedingungen

331

zufolge muss er Gemeinsamkeiten in der Anspruchsstruktur im Vorfeld feststellen und berücksichtigen. Idealerweise liegt wie beim Ford T-Modell in Abbildung 9.5 für das Produkt ein Verkäufermarkt vor. Daraus resultiert, dass nur die Ansprüche erfüllt werden, die von vielen Kunden gestellt werden und dass keine speziellen Wünsche des einzelnen Kunden bei der Bestellung mehr berücksichtigt werden, vgl. [200]: Definition 43 Standardisierung Standardisierung bedeutet die Ausrichtung der angebotenen Leistung an den Ansprüchen, welche die potentiellen, anonymen Nachfrager erwartungsgemäß gemeinsam aufweisen. Somit wird für einen Markt nur eine einzige einheitliche Leistung erstellt und unter Umständen auf Vorrat produziert. 3

Vorteile eines standardisierten Leistungsangebots sind, dass keine oder nur sehr kurze Wartezeiten für den Kunden für eine angebotene Leistung entstehen, da eine Standardleistung produziert und unmittelbar nach Eingang einer Bestellung dem Kunden zugänglich gemacht werden kann, beide Vorteile sind typische Zeichen eines Verkäufermarktes. Weiterhin können die Kosten für ein standardisiertes Massenprodukt auch im Verkäufermarkt gegenüber einem individualisierten Produkt deutlich geringer sein, wenn Erfahrungen und Mengeneffekte positiv genutzt werden. Dadurch ergeben sich auch Markteintrittsbarrieren für Wettbewerber. Für die individuelle Leistungserstellung wird hingegen ein großes Maß an Erfahrungswissen benötigt, der Kundenkontakt ist i.d.R. sehr eng. Dieser Wissensvorteil und die hohe Kundenbindung schafft ein Alleinstellungsmerkmal für Unternehmen und wirkt als Markteintrittsbarriere für Wettbewerber. Individualisierung ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Unternehmen die angebotenen Leistungen mehr oder weniger vollständig an die Ansprüche einzelner Abnehmer oder einer kleinen Gruppe von Abnehmern mit homogenen Ansprüchen ausrichtet, vgl. [200], oder entsprechende Produkte vertreibt:

Tabelle 9.2 Merkmale von Individualisierungs- und Standardisierungsstrategie (Nach [200]) Individualisierungsstrategie

Standardisierungsstrategie

Externe Ausrichtung der Absatzbestrebungen des Unternehmens auf den einzelnen Nachfrager Einbeziehung des Nachfragers in den Leistungserstellungsprozess Zulässigkeit des Auftretens von Abnehmergruppen mit homogenen Ansprüchen Wahrnehmbare Unterschiedlichkeit der Leistung für einen Abnehmer bzw. eine Abnehmergruppe gegenüber der für einen anderen Abnehmer bzw. Abnehmergruppe Nutzung von Verbundeffekten (Economy of Scope)

Ausrichtung der Absatzbestrebungen des Unternehmens auf Durchschnittsansprüche einer großen Zahl von Nachfragern Leistungserstellung für eine anonyme Abnehmerschaft Angebot einer einheitlichen Leistung Anpassung der Produkte an die erwarteten Ansprüche der Nachfrager, die gegenüber verschiedenen Abnehmern erbracht wurden Nutzung von Skaleneffekten (Economy of Scale)

332

a)

9 Produktvarianten

b)

Abb. 9.9 Designer-Schrank als kundenindividuelles Einzelstück (a) und individuell konfigurierte Schränke aus dem standardisierten Billy-Regalsystem (b)

Definition 44 Individualisierung Individualisierung bedeutet die Herstellung von einzelnen Erzeugnissen jeweils einmaliger technischer Merkmale und Eigenschaften, die sich in ihrer reinen Form in ein Angebot maßgeschneiderter Erzeugnisse gliedert. 3

Anhand der Abgrenzung der beiden Extrema lassen sich eine Standardisierungsund eine Individualisierungsstrategie ableiten, die Unternehmen zur Beherrschung von Komplexität verwenden können. Diese sind in Tabelle 9.2 charakterisiert. Unter Berücksichtigung der internen und externen Komplexität muss das betreffende Unternehmen entscheiden, welche der beiden Strategien für welche Produkte im Portfolio bzw. der Produktfamilie unter Berücksichtigung des Marktes – Käufer- oder Verkäufermarkt, vgl. Abbildung 2.8 – gewinnbringend ist. Am Beispiel des Produkts Schrank lassen sich Ausprägungen der beiden Strategien verdeutlichen, vgl. Abbildung 9.9. Auf der linken Seite wird ein DesignerSchrank betrachtet; ein Einzelstück, welches sehr aufwändig gestaltet ist und von einem Schreiner kundenindividuell hergestellt wird. Hierbei wird der Nachfrager bzw. der Kunde in den Leistungserstellungsprozess einbezogen und somit die Absatzbestrebung des Unternehmens auch auf den einzelnen Nachfrager ausgerichtet. Hierbei handelt es sich um eine Individualisierungsstrategie. Dies hat zur Folge, dass eine hohe interne Komplexität vorliegt, gleichzeitig aber auch eine hohe externe Vielfalt angeboten werden kann. Die Produktion materieller Produkte ist aufgrund der hohen Individualisierung stark vom Leitbild der Manufaktur geprägt. Auf der anderen Seite von Abbildung 9.9 steht dem Designer-Schrank ein BillyRegal von IKEA, ein sehr einfaches und schlichtes Produkt, gegenüber, vgl. auch Abbildung 8.30. Es gibt zwar individuell wählbare Zubehörteile2 , wie Körbe, Regaleinsätze, Regalaufsätze oder auch optionale Lampen etc., jedoch ist die Auswahl und somit die Möglichkeit der Individualisierung begrenzt. Folglich dominiert bei diesem Produkt die Anwendung einer Standardisierungsstrategie, die 2

Die Zubehörteile wurden von erwarteten Ansprüchen der Nachfrager abgeleitet, auf Basis der Grundelemente und der Zubehörteile kann der Kunde sich einen Schrank individuell innerhalb des Systems zusammenstellen.

9.1 Motivation und Rahmenbedingungen

333

eine geringe interne Komplexität, gleichzeitig aber auch eine geringe externe Vielfalt zur Folge hat. Die einzelnen Komponenten des Produktbaukastens werden unter industriellen Großserienbedingungen gefertigt. Trotz der hohen Varianz durch die vielen Kombinationsmöglichkeiten gibt es derzeit jedoch keine Elemente im Regalsystem, die eine dreidimensionale Gestaltung der Schrankfront wie beim Designerschrank zulassen – die Möglichkeiten des Regalsystems sind begrenzt.

9.1.3 Hohe Variantenvielfalt bei gleichzeitig geringer Komplexität Einen Kompromiss zwischen Standardisierung und Individualisierung stellt die kundenindividuelle Massenproduktion dar, die im Englischen als Mass Customization bezeichnet wird und die nach [200] wie folgt definiert ist: Definition 45 Kundenindividuelle Massenproduktion Als kundenindividuelle Massenproduktion bezeichnet man eine Wettbewerbsstrategie, die eine höchstmögliche Individualisierung der Produkte anstrebt, unabhängig davon, ob die Produkte einzel- oder modulgefertigt sind oder nur eine nachträgliche Variation eines Standardprodukts darstellen. 3

Die kundenindividuelle Massenproduktion stellt eine der am häufigsten praktizierten Strategien in der Praxis dar, die Variantenflut und somit die Komplexität zu beherrschen. Immer größer ist dabei der Anteil an Softwarelösungen, die im Rahmen eines Funktionsbaukastens eine kundenindividuelle Konfiguration zulassen. Die Umsetzung dieser Strategie basiert also auf der Modularisierung von materiellen Produkten und von Softwarelösungen, um individuell konfigurierbare Produkte zu ermöglichen. Definition 46 Modularisierung Unter Modularisierung bzw. Modularität versteht man die geeignete Gliederung eines Produkts. Damit soll eine rasche kundenindividuelle Produktkonfiguration bei gleichzeitig hohem Verbrauch von Standardkomponenten erzielt werden. 3

Mit der Modularisierung des Produktspektrums nach Definition 46 werden die Abgrenzung von variantenarmen und variantenreichen Baugruppen sowie die Standardisierung der dabei auftretenden Schnittstellen angestrebt. Mit Hilfe der Modularisierung von Produkten wird versucht, individuelle Kombinationen effizient für jeden Kunden bereitzustellen. Die Informationen über den Kunden und dessen Wünsche aus dem Individualisierungsprozess des Produkts können zum Aufbau einer dauerhaften, individuellen Beziehung zu den Abnehmern herangezogen werden. Hierbei kommen Produktkonfigurationen zum Einsatz, um die Potentiale der Modularisierung zu nutzen und die Kundenbedürfnisse mit den Produkten in Einklang zu bringen, ohne jedoch für den einzelnen Kunden neue

334

9 Produktvarianten

Abb. 9.10 Kundenindividuelle Massenproduktion am Beispiel des MAN Fahrzeugbaukastens (Links in Anlehnung an [47], rechts Pressebilder der MAN Truck & Bus AG)

Module konstruieren zu müssen. Dies wird im Folgenden am Beispiel des Fahrzeugbaukastens von MAN erläutert, vgl. Abbildung 9.10. MAN stellt dem Kunden einen Katalog technischer Merkmale3 und Eigenschaften wie zulässiges Gesamtgewicht, Fahrzeuglänge oder Federungsart bereit, mit deren Hilfe er sich einen Truck oder Bus konfigurieren kann. Jedes konfigurierbare Merkmal ist in einem Softwaretool mit einem oder mehreren Modulbausteinen verknüpft, die wiederum nach bestimmten Kriterien wie Rahmenlängsträger, Rahmenquerträger oder 1. Vorderachse gegliedert sind. Durch die Verknüpfung von Merkmalen und Eigenschaften von Bausteinen wird in Abhängigkeit von den formulierten Anforderungen des Kunden als Soll-Eigenschaften dann ein Fahrzeug nach Kundenwunsch konfiguriert, somit realisieren die Bausteine die Eigenschaften und dadurch die Kundenwünsche. Während des Konfigurationsprozesses werden in Abhängigkeit von der bereits getroffenen Auswahl bestimmender Funktionen und Eigenschaften die Wahlmöglichkeiten der folgenden Merkmale eingeschränkt, da sich von den theoretisch denkbaren 4 · 1046 Konfigurationsmöglichkeiten ohne Berücksichtigung der Farbwahl nach [145] nicht alle Kombinationen sinnvoll realisieren lassen. Als Beispiel kann man hier die Kombination eines zulässigen Fahrzeuggewichts von 30 Tonnen mit einer Bauform mit nur einer Hinterachse und einer Vorderachse nennen, da die zulässigen Achslasten überschritten werden. Diese Kombination ist daher nicht sinnvoll. Sinngemäß das Gleiche gilt auch für die Konfiguration von Bussen, die ebenfalls in 3

Für den Kunden mag eine vierte Achse bzw. die zweite Hinterachse ein Merkmal sein, für den Produktentwickler des Fahrzeugs hingegen hängen an diesem Merkmal des Kunden eine Reihe wichtiger Eigenschaften, die es zu entwickeln und zu überprüfen gilt.

9.1 Motivation und Rahmenbedingungen

335

Abbildung 9.10 gezeigt sind, denn auch für diese Produkte gibt es verschiedene Achskombinationen und Aufbauten.

9.1.4 Variantenmanagement im Unternehmen Variantenreiche Produkte führen notwendigerweise zu einem Anwachsen der Komplexität aller betrieblichen Strukturen und Abläufe, da eine Vielzahl von Produktalternativen, Baugruppen, Bauteilen und Dokumenten in unterschiedlichen Zusammensetzungen durch den Betrieb gesteuert werden müssen. Hierbei gilt es, die Gestaltung, Steuerung und Entwicklung der Vielfalt des Leistungsspektrums quantifiziert durch Produkte, Prozesse und Ressourcen im Unternehmen zu beherrschen. Durch die Verstärkung des Variantenmanagements und die Reduktion der Komplexität wird die Fähigkeit erreicht, die Vielfalt in allen Wertschöpfungsstufen so zu beherrschen, dass ein maximaler Beitrag zum Kundennutzen bei gleichzeitig hoher Wirtschaftlichkeit erzielt werden kann. Das wechselweise Verstärken und Reduzieren der Variantenanzahl kann dabei im Sinne von Abbildung 5.51 ebenfalls als Abfolge divergenter und konvergenter Schritte interpretiert werden. Eine wesentliche Aufgabe hierbei ist nach [200] das Variantenmanagement: Definition 47 Variantenmanagement Variantenmanagement umfasst die Entwicklung, Gestaltung und Strukturierung von Produkten und Dienstleistungen bzw. Produktsortimenten im Unternehmen mit dem Ziel, die vom Produkt ausgehende Komplexität (Anzahl, Teile, Komponenten, Varianten usw.) wie auch die auf das Produkt wirkende Komplexität (Marktdiversifikation, Produktionsabläufe usw.) mit geeigneten Werkzeugen zu bewältigen. 3

Ziel des Variantenmanagements ist die Minimierung der internen Vielfalt bei gleichzeitiger Bereitstellung der vom Markt geforderten externen Vielfalt, vgl. Abbildung 9.11. Der Grundgedanke des Variantenmanagements entspricht somit der kundenindividuellen Massenproduktion. Produkte werden nicht für einzelne Kunden individuell konstruiert, sondern aus bestehenden Elementen konfiguriert. Besonders günstige Effekte können erzielt werden, wenn die Varianten möglichst spät im Produktentstehungsprozess gebildet werden. Ein erhöhter Aufwand zur vorausschauenden Planung des gesamten Produktprogramms führt zu einer erheblichen Vereinfachung der nachfolgenden Prozesse infolge reduzierter Komplexität, da häufig Wiederholeffekte auf Basis von standardisierten Produktkomponenten intensiv genutzt werden können. Weiterhin wird versucht, aufwändige Prozesse in der Wertschöpfungskette zu standardisieren und die Variantenbildung mit möglichst wenig Komplexitätstreibern zu realisieren. Beim Variantenmanagement kann zwischen einer strategischen und einer operativen Komponente unterschieden werden. Strategisches Variantenmanagement zielt auf variantengerechte Optimierung der Produkt- und Produktionsstrukturen ab, vgl. Abbildung 9.12. Hierunter fallen sowohl die Produktdefinition und

336

9 Produktvarianten

Abb. 9.11 Ziel des Variantenmanagements (Nach [93])

Abb. 9.12 Strategisches und operatives Variantenmanagement im Unternehmen (Nach [93])

-standardisierung als auch die variantengerechte Gestaltung der Produktion. Es gilt, Varianten möglichst erst am Ende der Wertschöpfungskette entstehen zu lassen. Weiterhin sollte die funktionale Variantenmenge durch Konfiguration statt durch Konstruktion erreicht werden. Das operative Variantenmanagement zielt auf die effiziente und reibungslose Abwicklung der vorgegebenen Variantenvielfalt über die gesamte Prozesskette ab. Hierunter fallen beispielsweise das Dokumentenmanagement für Zeichnungen und Stücklisten, das Änderungsmanagement, die Materialwirtschaft, die Fertigungs- und Montageplanung und die Logistik, vgl. Abbildung 9.12. Im vorangegangenen Abschnitt 9.1 wurden die Bedeutung und die Ziele des Variantenmanagements herausgestellt, um damit die Variantenflut in der Produktentwicklung beherrschen zu können. Im nächsten Schritt werden Werkzeuge vorgestellt, mit denen der Entwickler insbesondere im Projektdefinitions- und

9.2 Bauelementorientierte Bauweisen

337

Abb. 9.13 Bauelementorientierte Bauweisen

Konzeptprozess, vgl. Abbildung 2.2 und Abbildung 5.2, das Variantenmanagement zielgerichtet unterstützen kann. Wesentlich sind hierbei bauelementorientierte sowie baugruppenorientierte Bauweisen, die im folgenden Abschnitt sowie in Abschnitt 9.3 vorgestellt werden.

9.2 Bauelementorientierte Bauweisen als Werkzeug des Variantenmanagements Typische Vertreter der bauelementorientierten Bauweise sind die Integral-, Differential- und die Verbundbauweise sowie funktionsintegrierte Bauweisen, vgl. Abbildung 9.13 und Abschnitt 8.4.5 und insbesondere Tabelle 8.4 bis 8.6. Sowohl die Differential- als auch die Integralbauweise berücksichtigen einerseits funktionale Kriterien aber andererseits auch Gestaltungsprinzipien für die Fertigungs- und Montagegerechtheit von Produkten. Zu beachten ist hierbei, dass ein neues Integralteil immer eine neue konstruktive Variante und damit zusätzliche Prozesse in den indirekten Unternehmensbereichen erfordert, aber geringeren Aufwand in Fertigung und Montage implizieren kann. Differentialteile begünstigen einerseits die Verwendungsmöglichkeit von Gleich- und Wiederholteilen, bedeuten andererseits jedoch auch mehr Teile, Komponenten, Dokumente etc., die es dann in ihrer Variantenvielfalt zu beherrschen gilt. Gleichteile sind in diesem Kontext identische Teile, die mehrfach in einem oder auch in mehreren Produkten verwendet werden. Wiederholteile sind identische oder bereits früher entwickelte Bauteile, die in unter Umständen leicht modifizierter Form Verwendung in anderen oder späteren Erzeugnissen/Produkten finden. Um den Einsatz von Gleich- und Wiederholteilen zu erhöhen und damit die Differentialbauweise zu fördern, lassen sich beispielsweise die folgenden Maßnahmen ableiten, die sich teils wechselseitig widersprechen und daher nicht zeitgleich anwendbar sind: • Abmessungen vereinheitlichen (z. B. Raster in Normzahlreihen), • Komplettbearbeitung vorsehen (jedes Teil wird für alle auftretenden Anwendungen bearbeitet),

338

9 Produktvarianten

• Vermeiden von Rechts- bzw. Linksausführungen durch symmetrische Bauteilgestaltung, • Klassifikation von Wiederholteilen, Aufbau eines Informationssystems für Konstruktion und Produktion, • Vorformteile einheitlich fertigen, auftragsspezifisch nacharbeiten. Als Beispiel für die Integralbauweise sei auf Abbildung 8.26 verweisen, durch die Blechausführung wird die Anzahl der Teile für das Produkt maximal reduziert. Die Verbundbauweise hingegen zielt auf eine optimale Ausnutzung der Eigenschaften einzelner Werkstoffe und damit auf eine Funktionsintegration und die Optimierung von Fertigungs- und Montageprozessen.

9.3 Baugruppenorientierte Bauweisen als Werkzeug des Variantenmanagements Die baugruppenorientierten Bauweisen haben gemein, dass sie die Variantensituation für einen speziellen Fall optimieren sollen. Angestrebtes Ziel dabei sind variantengerechte Produktstrukturen, die eine Differenzierung zwischen Variantenund Standardbauteilen erlauben, vgl. [81, 130]. Definition 48 Produktstruktur Die Produktstruktur ist ein produktdarstellendes Modell, welches die Gesamtheit der nach bestimmten Gesichtspunkten (z. B. Fertigung, Montage, Funktion, Disposition, Kalkulation) festgelegten Beziehungen zwischen Baugruppen und Einzelteilen eines Produkts beschreibt. 3 Als Beispiele zur Darstellung von Produktstrukturen sind Stücklisten und graphische Produkt- und Erzeugnisstrukturen bzw. Erzeugnisgliederungen üblich, hierbei kommen rechnerunterstützte Methoden als Hilfsmittel zum Einsatz. In Abbildung 9.14 sind weiterhin in der Produktentwicklung gebräuchliche Produktstrukturen abgebildet.

Die sich daran anschließende variantenoptimierende Gestaltung bedeutet nach [93] zum einen die vermehrte Verwendung von Standardbausteinen und weiterhin die kompatible Ausführung der Baustein-Schnittstellen untereinander: Definition 49 Schnittstellen Schnittstellen stellen bei der Konfiguration von modularen Produkten die Verträglichkeit von Bausteinen sicher, die miteinander gekoppelt werden können. 3

Lösungen für standardisierte Schnittstellen sind z. B. spezielle Bausteine, wie standardisierte Verbindungselemente, Adapter, Flansche und Kupplungen, aber auch spezielle Ausführungen der Funktionsbausteine mit angepassten Lochbildern, Passungen oder Standardverbindungen aber auch elektrotechnische Steckverbinder oder Protokolle zur Datenübertragung. Schnittstellen optimieren die Verbindung von Bauteilen in Entwicklung und Nutzung modularer Produkte.

9.3 Baugruppenorientierte Bauweisen

339

Abb. 9.14 Beispiele gebräuchlicher Produktstrukturen

Baugruppenorientierte Bauweisen lassen sich anhand ihrer Funktion und der Baugröße gliedern. Zu den Funktionalbauweisen zählen Baukastensysteme, die Modulbauweise sowie die Plattformstrategie. Die Baugröße als Ordnungskriterium ist hingegen der Baureihenbauweise zugeordnet ist, die im Folgenden erläutert wird.

9.3.1 Baureihenbauweise Die Baureihenbauweise berücksichtigt in erster Linie die Variation der Größenstufen einer Produktvariante und nicht die Variation der Funktion, z. B. Antriebsmotoren oder Getriebe mit unterschiedlichen Leistungsdaten bei gleichem funktionalen Produktumfang, vgl. [170] sowie Abbildung 9.4 links: Definition 50 Baureihe Eine Baureihe ist eine Menge technischer Produkte, die dieselbe Funktion mit derselben Lösung in mehreren Größenstufen bei gleicher Fertigung erfüllen. 3

Die Besonderheit einer Baureihenentwicklung besteht darin, dass man von einer bestimmten aber prinzipiell willkürlich gewählten Baugröße der zu entwickelnden Baureihe ausgeht und von dieser weitere Baugrößen nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten ableitet. Dabei werden der Ausgangsentwurf als Grundentwurf und die abgeleiteten Baugrößen als Folgeentwürfe bezeichnet. Im Hinblick auf die Beherrschung von Unsicherheit in der Baureihenentwicklung wird hierbei empfohlen, den Übergang des Grundentwurfs zu den Folgeentwürfen frühzeitig im Produktentwicklungsprozess vorzudenken und durch Verwendung einer systematischen Prozessanalyse skalierungskritische Eigenschaften zu identifizieren, vgl. [153]. Dadurch können im Sinne des Frontloadings frühzeitig Probleme bei der Baureihenentwicklung identifiziert und die Entwürfe entsprechend angepasst werden.

340

9 Produktvarianten

Abb. 9.15 Baureihenbauweise am Beispiel der A320-Familie der Airbusflotte

Die Größenstufung zwischen Grundentwurf und den abgeleiteten Folgeentwürfen kann auf geometrischen und physikalischen Ähnlichkeiten basieren, die mit Hilfe von Ähnlichkeitsgesetzen beschrieben werden. Die Differenzierung der Produkte wird somit durch die Bandbreite der Funktionswerte erreicht, aber nicht durch die Differenzierung der Funktion selbst. Ähnlichkeit liegt vor, wenn das Verhältnis mindestens einer physikalischen Größe beim Grundentwurf und den Folgeentwürfen konstant bzw. invariabel bleibt. Mit Hilfe der Grundgrößen Länge, Zeit, Kraft, Elektrizitätsmenge, Temperatur und Lichtstärke lassen sich weitreichende Grundähnlichkeiten4 definieren, vgl. Tabelle 9.3. Eine geometrische Ähnlichkeit liegt beispielsweise vor, wenn das Verhältnis aller jeweiligen Längen des Grundentwurfs bei den Folgeentwürfen der Baureihe konstant bleibt. Die Invariante ist der Stufensprung ϕ L = L1 /L0 , wobei sich L0 auf den Grundentwurf und L1 auf den Folgeentwurf der Baureihe bezieht, [153, 170]. Baureihenbauweisen sind in der Technik vielfach verbreitet, Abbildung 9.15 zeigt ein Beispiel der Airbus A320-Familie. Ihre Ausprägungen werden stark durch Kundenwünsche und Wettbewerbsprodukte getrieben, sodass ein wesentlicher Erfolgsfaktor bei der Entwicklung von Baureihen darin besteht, eine marktgerecht geplante und ausgeführte Stufung der Baureihe5 zu erreichen,

Tabelle 9.3 Grundähnlichkeiten (Nach [170, 153])

4

Ähnlichkeit

Grundgröße

Geometrische Zeitliche KraftElektrische Thermische Photometrische

Länge Zeit Kraft Elektrizitätsmenge Temperatur Lichtstärke

Invariante ϕL = L1 /L0 ϕt = t 1 /t 0 ϕF = F1 /F0 ϕQ = Q 1 /Q 0 ϕϑ = ϑ1 /ϑ0 ϕB = B1 /B0

Die Wahl der physikalischen Grundähnlichkeiten ist durch die dimensionsanalytisch begründete Forderung nach linearer Unabhängigkeit des Einheitensystem begründet. 5 Beim Beispiel in Abbildung 9.15 nutzen innerhalb der 320-er Baureihe alle Varianten einen gemeinsamen Komponentenbaukasten; über die Baureihen 320-340-350-380 hinweg gibt es erhebliche Unterschiede, vgl. z. B. die Form der Flügelspitzen und die Anzahl der Triebwerke.

9.3 Baugruppenorientierte Bauweisen

a)

341

b)

Abb. 9.16 Beispiele zur Modulbauweise: a) Aufbau eines Produkts nach Modulbauweise, b) Modulbauweise am Beispiel einer Küchenmaschine

wobei aber alle Varianten innerhalb der Baureihe z. B. das gleiche Triebwerkskonzept nutzen.

9.3.2 Modulbauweise Der zentrale Gedanke der Modulbauweise besteht darin, das Gesamtprodukt in sinnvolle Untereinheiten, sogenannte Module, zu gliedern. Die Module bieten dann die Möglichkeit einer voneinander unabhängigen Entwicklung, Konstruktion, Beschaffung, Dokumentation oder Produktion, vgl. hierzu Abbildung 9.14 und [182]. Dem Begriff der Modulbauweise, für den häufig auch das Synonym Modularisierung verwendet wird, liegt somit das folgende Verständnis zugrunde, vgl. [93, 172]: Definition 51 Modulbauweise Als Modulbauweise wird die Verwendung von Modulen als Anbauteile an einen komplexen Grundkörper bezeichnet. Die Module sind funktional gegliedert und verfügen über standardisierte Schnittstellen. 3

Die Modulbauweise ist eine spezielle Form der Baukastenbauweise, bei dem die Module infolge der definierten Schnittstellen nicht beliebig untereinander kombiniert werden können, vgl. Abbildung 9.16.a. Sie kommt zum Einsatz, wenn ein Grundkörper des Produkts dominiert und durch zusätzliche Module eine Varianz in der Funktionalität erreicht werden soll. Am Beispiel einer Küchenmaschine soll die Modulbauweise verdeutlicht werden, vgl. Abbildung 9.16.b. Hierbei entsprechen jeweils die Basis- oder Antriebseinheiten dem (komplexen) Grundkörper, auf den verschiedene Aufsätze – in diesem Fall Mixer, Saftpresse etc. – als Module aufgesetzt werden können, um unterschiedliche Funktionen zu realisieren.

342

9 Produktvarianten

Abb. 9.17 Auszug von Modellen der A-Plattform des VW-Konzerns

9.3.3 Plattformstrategie Der Plattformgedanke ist als Strategie zu verstehen, um unternehmensintern oder marken- und unternehmensübergreifend Erfahrungswissen über Komponenten, Technologien, Materialien und Prozesse gemeinsam nutzen zu können. Unter Plattformstrategie versteht man die Planung und Steuerung aller konstanten Merkmale und Eigenschaften einer Produktfamilie. Hierunter zählen neben Bauteilen und Komponenten u.a. auch Materialien, Technologien, Fertigungsprozesse und Montagefolgen. Die Plattform ist zeitlich langfristiger angelegt als das eigentliche Produkt, neue Produktgenerationen, vgl. Abschnitt 5.3.2 und insbesondere Abbildung 5.30, basieren auf der gleichen Plattform. Die Plattformstrategie ist in erster Linie eine Unternehmensstrategie um die Produktkomplexität einerseits zu begrenzen und den Wissensaufbau andererseits zu steuern, für den Kunden wird die Plattform nicht auf den ersten Blick ersichtlich, vgl. [160] sowie Abbildung 9.17. Definition 52 Produktplattform Eine Produktplattform ist ein Satz von Subsystemen und Schnittstellen, die eine gemeinsame Struktur bilden, von der ausgehend Produkte abgeleitet werden. 3

Das auf einer Plattformstrategie aufbauende Produkt oder die Produktfamilie entspricht im weitesten Sinne einem Baukastenprodukt, wobei die zu Grunde gelegte Plattform umfassender als die eigentlichen Produktkomponenten ist. Die Einführung von Produktplattformen basiert auf modular aufgebauten Produkten innerhalb einer Produktfamilie. Ein eindrucksvolles Beispiel für die Realisierung einer Plattformstrategie ist die sogenannte “A-Plattform“ des Volkswagen-Konzerns, vgl. Abbildung 9.17, die auch als modularer Querbaukasten MQB bezeichnet wird. Diese besteht aus einer ausführungsneutralen Produktplattform und produktspezifischen Anbauten, die in der Automobilindustrie auch als Hutmodule bezeichnet werden. So basieren auf der A-Plattform viele bekannte PKW-Modelle wie beispielsweise der VW Golf, VW Tiguan, VW Touran, Audi A3, Audi TT, SEAT Leon, SEAT Toledo oder der Skoda Octavia. Abbildung 9.18 zeigt den Umfang der Plattform, alle Fahr-

9.3 Baugruppenorientierte Bauweisen

343

Abb. 9.18 MQB-Plattform von VW als Basis für die verschiedenen Fahrzeuge in Abbildung 9.17

Abb. 9.19 Gegenüberstellung von horizontaler und vertikaler Plattformstrategie am Beispiel einer Bohrmaschine (Aus [32])

zeuge weisen z. B. den gleichen Abstand von der Pedalbox zur Vorderachse als Baukastenmerkmal auf. Bei der Planung und Entwicklung von Plattformkonzepten im Unternehmen kann nach mehreren Strategien vorgegangen werden, um das eigene Produktprogramm systematisch abzudecken bzw. von vorhandenen Plattformen abzuleiten. Hierbei nutzen die auf Plattformstrategien aufbauenden Produkte die Modulbauweise, basieren also nicht nur auf den gleichen Gedanken zur Modulbildung, sondern greifen auch gleichberechtigt auf dafür benötigte Produktherstellungsprozesse bzw. Werkzeuge zurück. Neben der Unterscheidung von spezifischen Plattformen nach einzelnen Marktsegmenten wird in der Praxis auch ein horizontales und vertikales Differenzieren von Plattformen betrieben. Diese Strukturierung der Plattformen kommt zum Einsatz, wenn Produkt- und/oder Prozesskomponenten in allen Produkten gleich sind, eine Rationalisierung durch deren Wiederverwendung erreicht werden kann und der Kunde diese nicht wahrnimmt. Die Unterscheidung zwischen horizontalem und vertikalem Differenzieren von Plattformen wird im Folgenden am Beispiel einer Bohrmaschine verdeutlicht, vgl. Abbildung 9.19.

344

9 Produktvarianten

Abb. 9.20 Horizontale Plattformstrategie am Beispiel einer Bohrmaschine (Basis [32])

Wird eine vertikale Plattformstrategie verfolgt, lässt sich das beispielhafte Produkt Bohrmaschine nach Profi-, Mittel- und Einsteigerklasse differenzieren. Dadurch können Kunden, wie beispielsweise der Hobbyheimwerker oder professionelle Handwerkerbetriebe, eine passende Bohrmaschine für ihre Bedürfnisse erwerben. Bei falscher Produktwahl weicht die Lebensdauer vom Erwartungswert ab, sowohl nach oben, wenn der Heimwerker die Profimaschine kauft oder umgekehrt nach unten, die Hobbymaschine hält den Anforderungen der professionellen Nutzung nicht lange stand. Wird hingegen eine horizontale Plattformstrategie verfolgt, werden um das Produkt Bohrmaschine herum weitere Heimwerkermaschinen wie ein Multitool, Akkuschrauber, Stichsäge, Trennschleifer oder Elektrohobel entwickelt und am Markt angeboten. Diese basieren wiederum alle auf dem gleichen Elektromotor sowie dem motorseitigen Gehäuseflansch, wie sie in der Bohrmaschine verwendet werden, vgl. Abbildung 9.20. Ferner lässt sich bei akkubetriebenen Maschinen der elektrische Energiespeicher mi einer klaren Schnittstelle unter Umständen in mehreren Produkten in gleicher Form einsetzen oder zumindest die gleiche Technologie für verschiedene Produkte nutzen. Die Vorteile von Plattformstrategien bestehen in der Standardisierung und damit der Rationalisierung von Produktionsprozessen, in der Einsparung von Entwicklungsaufwand und einem reduzierten Aufwand für Werkzeuge und deren Konstruktion.

9.3 Baugruppenorientierte Bauweisen

a)

345

b)

Abb. 9.21 Baukastensysteme am Beispiel eines Baukastens von LEGO Technik: a) Bausteine, b) Schaufelradbagger

9.3.4 Baukastensysteme Baukastensysteme sind weit verbreitet und finden vielfältigste Einsatzgebiete, von bekannten Spielzeugbaukästen, beispielsweise Fischertechnik oder Lego wie in Abbildung 9.21, bis hin zu komplexen Baukastensystemen in der Industrie wie beispielsweise für die Automatisierungstechnik, vgl. [170]: Definition 53 Baukastensystem Ein Baukastensystem ist eine Produktfamilie mit aufeinander abgestimmten Bausteinen, die individuell ausgewählt und aufgabenspezifisch zu komplexen Einheiten – den Produktvarianten – zusammengesetzt werden können. 3

Bei Baukastensystemen ist eine wesentliche Zielsetzung, die Bausteine möglichst als Wiederhol-, Norm-, Gleichteile oder Elemente von Teilefamilien zu realisieren. Die Entwicklung eines Baukastensystems erfordert erhebliche Vorleistungen, die nur dann wirtschaftlich realisierbar sind, wenn eine hinreichende Nutzung der vorgedachten Varianten auch tatsächlich erreicht wird. In Abbildung 9.21.a ist beispielhaft das Baukastensystem von LEGO Technik dargestellt, bei dem die Verbindung der Bausteine durch das Prinzip der Elastizität realisiert wird. Die Kontaktzone der Bausteine wird somit bewusst nachgiebig ausgeführt, damit Schwankungen aus der Produktion und Alterung nur einen geringen Einfluss auf die sich einstellende Pressung in der Kontaktzone haben. Unter Verwendung dieser Bausteine lässt sich eine Vielzahl an Produkten erstellen, Abbildung 9.21.b zeigt ein Beispiel. Ziel einer Baukastensystementwicklung ist somit eine möglichst hohe Flexibilität bei der Konfiguration von kundenindividuellen Produkten, sodass sich der Baukasten an zukünftig veränderte Situationen leicht anpassen lässt, vgl. [200, S. 97f]. Die Entwicklung von Baukastensystemen bedeutet grundsätzlich, einen tragfähigen Kompromiss zwischen Standardisierung und Individualisierung zu finden. Hierbei ist die Frage, wie viel Kundenindividualität man aufgeben möchte bzw. kann und welcher Standardisierungsgrad erreicht werden soll bzw. muss. Unmittelbar verbunden mit der Flexibilität eines Baukastensystems sind die

346

9 Produktvarianten

Abb. 9.22 Abhängigkeit zwischen Granularität, Komplexität und Flexibilität

Aspekte Granularität und Komplexität. Die Granularität ist hierbei der Grad der Untergliederung eines Baukastensystems in einzelne Bausteine, sie wächst abhängig von Kenngrößen wie steigender Anzahl der Bausteine, abnehmender relativer Bausteingröße und abnehmendem Umfang der in einem Baustein integrierten Funktionen. Die Granularität eines Baukastensystems wird dabei als dessen interne Eigenschaft bei der Entwicklung festgelegt, die Flexibilität und die Komplexität resultieren hingegen aus den externen Anforderungen, vgl. Abbildung 9.22. Granularität ist somit eine Eigenschaft von Baukastensystemen, die bei der Entwicklung durch die Gestaltung und Strukturierung der einzelnen Bausteine festgelegt wird. Bei der individuellen Konfiguration von Baukastenprodukten nimmt i.d.R. die Flexibilität mit steigender Granularität zu. Andererseits steigt mit dem Grad der Granularität auch die Komplexität des betreffenden Baukastensystems, dies kann mathematisch mit der Kombinatorik erklärt werden. Der Baukasten von LEGO Technik aus Abbildung 9.21 ist ein Beispiel für einen Baukasten mit hoher Granularität und nahezu unbegrenzter Flexibilität. Interessanterweise werden die Baukastenmerkmale ohne Berücksichtigung von Produktionsstückzahlen festgelegt, es geht um die Bewertung von Funktionalität und Gestalt der Bauteile des Baukastens und erst einmal nicht um Wirtschaftlichkeit. Baukastensysteme lassen sich nach unterschiedlichen Aspekten gliedern, eine eindeutige Zuordnung ist hierbei jedoch nicht möglich. Im Folgenden wird eine Gliederung im Hinblick auf die Baukastenstruktur und die Bausteine verwendet und erläutert, die in Abbildung 9.23 schematisch dargestellt ist.

9.3 Baugruppenorientierte Bauweisen

347

Abb. 9.23 Gliederung von Baukästen nach deren Struktur und Bausteine

9.3.5 Einteilung von Baukästen nach deren Struktur Hinsichtlich der Struktur kann zwischen strukturgebundenen und nicht strukturgebundenen Baukastensystemen unterschieden werden, vgl. Abbildung 9.23. Bei strukturgebundenen Baukastensystemen sind die Bausteinvarianten für bestimmte Funktionen an bestimmte Plätze in der Produktstruktur gebunden, sie können nicht beliebig eingesetzt werden, vgl. [141]. Der Aufbau der meist funktionsorientierten Produktstrukturen der Baukastenprodukte ist identisch, die Produktstrukturen unterscheiden sich nur in der Auswahl der Bausteine. Bei nicht strukturgebundenen Baukastensystemen spricht man von Produktvarianten mit individuellen Erzeugnisstrukturen, die sich in der Auswahl und Anordnung der Varianten unterscheiden, vgl. [141]. Die Bausteine sind hierbei somit nicht an die Produktstruktur gebunden, sodass sich die Produktstrukturen der Baukastenprodukte im Aufbau unterscheiden. Abbildung 9.24 stellt am Beispiel einer Spiegelreflexkamera und eines Profilmontagesystems den Unterscheid bei beiden Arten von Baukästen dar. Während beim Baukasten Kamera strukturgebundene Schnittstellen zwischen der Kamera und dem Objektiv, Stativ und Blitzgerät existieren, können beim Profilsystem die Bausteine des Baukastens wie verschiedene Profile oder Verbinder fast beliebig kombiniert und gegebenenfalls später erweitert werden. Neben der Struktur können Baukastensysteme auch in Bezug auf die Systemgrenze in offene und geschlossene Baukästen differenziert werden, vgl. Abbildung 9.23. Ein offenes Baukastensystem ist ein Produktprogramm mit Bausteinen, mit denen kundenindividuell Produktvarianten konfiguriert werden können, vgl. [141], somit ist das Variantenspektrum nicht genau definiert. Dies lässt sich auch am Beispiel Profilsystem aus Abbildung 9.24 erkennen, deren Bausteine fast beliebig kombinierbar sind und dessen zugrundeliegender Baukasten somit nicht strukturgebundenen und offen ist. Ein geschlossener Baukasten hingegen ist ein Produktprogramm mit genau definierten Produktvarianten, es existiert somit eine festgelegte Variantenzahl, die der Hersteller festlegt. In der Praxis sind offene Baukastensysteme deutlich wei-

348

a)

9 Produktvarianten

b)

Abb. 9.24 Beispiele für strukturgebundene und nicht strukturgebundene Baukastensysteme: a) Beispiel Spiegelreflexkamera für ein strukturgebundenes Baukastensystem, b) Beispiel Profilsystem für ein nicht strukturgebundenes Baukastensystem

ter verbreitet als geschlossene Baukastensysteme, wobei häufig auch Mischformen zwischen beiden realisiert werden. In Bezug auf das Beispiel Spiegelreflexkamera aus Abbildung 9.24 wird die Mischform aus beiden Baukastensystemen diskutiert. Hierbei wird ein offener Baukastencharakter z. B. durch die Einsatzmöglichkeit verschiedener Blitz-Aufsätze über eine standardisierte Schnittstelle oder durch die Verwendung von verschiedenen Stativen unterschiedlicher Hersteller deutlich. Ein geschlossener Baukastencharakter wird an der eingeschränkten Möglichkeit zu verwendender Objektive dargestellt, die oft nur über herstellerspezifische Schnittstellen mit dem Kameragehäuse kompatibel sind. Eine Relation im Sinne von Baukastensystemen ist die logische Verknüpfung zwischen den Bausteinen, die durch Schnittstellen bzw. Koppelstellen realisiert werden. Diese stellen bei der Konfiguration von modularen Produkten die Verträglichkeit von Bausteinen sicher, die miteinander gekoppelt werden sollen, vgl. [93, 141]. Spezielle Ausführungen der Funktionsbausteine mit beispielsweise angepassten Lochbildern, Passungen oder standardisierten Verbindungen – stoffschlüssig, formschlüssig oder reibkraftschlüssig – optimieren die Schnittstellen wie beispielsweise bei der Schnittstelle des Kameragehäuses zum Stativ über ein genormtes Gewinde.

9.3.6 Einteilung von Baukästen nach deren Bausteinen Neben der Struktur von Baukästen, die deren Systemaspekt hervorheben, lassen sich Baukästen auch anhand der verwendeten Bausteine einteilen. Über die Gestaltung der Bausteine wird letztendlich die Granularität und damit auch die Flexibilität und Komplexität von Baukastensystemen vorgegeben. Jedes Baukastensystem lässt sich somit nach [141] durch folgende Merkmale beschreiben: • die Bausteine, aus denen die Baukastensysteme aufgebaut sind,

9.3 Baugruppenorientierte Bauweisen

349

Abb. 9.25 Muss- und Kann-Bausteine am Beispiel einer Spiegelreflexkamera (Basis [32])

• die Eigenschaften der Bausteine und • die Relationen zwischen den Bausteinen und dem Baukastensystem. Hierbei wird die folgende Definition zugrunde gelegt, vgl. [141]: Definition 54 Bausteine Bausteine als Objekte eines Baukastensystems konfigurieren Baukastenprodukte. Sie besitzen normierte Gestalt- und Werkstoffeigenschaften, sind aufeinander abgestimmt, konkret oder abstrakt und können aus weniger komplexen Bausteinen bestehen. 3

Prinzipiell kann zwischen Muss- und Kann-Bausteinen unterschieden werden, vgl. Abbildung 9.23. Ein Baustein wird als Muss-Baustein bezeichnet, wenn er notwendig in einem Baukasten vorhanden sein muss, vgl. [141, S. 25]. Ein Baustein wird hingegen als Kann-Baustein bezeichnet, wenn er nicht unbedingt in einem Baukasten vorhanden sein muss, sondern nach individuellem Kundenwunsch ausgewählt werden kann. Sowohl die Muss- als auch die Kann-Bausteine können mit oder ohne Varianten in einem Baukastenprodukt verwendet werden. Eine Variantenmenge wird hierbei z. B. durch ähnliche Bausteine einer Baureihe oder durch Bausteine mit teilweise gleichen oder ähnlichen Eigenschaften wie beispielsweise Geometrie, Funktion, Teilkomponenten, usw. repräsentiert. In Bezug auf das Beispiel Spiegelreflexkamera stellen die verwendbaren Objektive sowie der Kamerakörper selbst Muss-Bausteine dar, da ohne diese die Kamera ihre Funktion nicht erfüllen kann. Die Bausteine Blitz und Stativ sowie Filter hingegen sind als Zusatz anzusehen und sind zur Funktionserfüllung nicht zwingend notwendig. Diese Kann-Bausteine können über standardisierte Schnittstellen an der Kamera befestigt werden, vgl. Abbildung 9.25, das Gleiche gilt für die Schnittstelle vom Objektiv zum Filter.

350

a)

9 Produktvarianten

b)

Abb. 9.26 Gestaltelemente am Beispiel von Porotonsteinen: a) Einheitsgrößen und b) mit Normelementen dargestelltes Endprodukt

In der Praxis kommen unterschiedliche Arten von Baukastensystemen vor, die sich vorwiegend durch die Art der eingesetzten Bausteine ergeben. Hierbei werden häufig die Bausteine als Gestaltelemente, Normelemente, Funktionseinheiten sowie Zubehörteile verwendet, die Begriffe und ihre Bedeutung für den Baukasten werden im Folgenden erläutert.

9.3.6.1 Baukasten mit Gestaltelementen Sind Bausteine nicht funktionell definiert, sondern durch ihre Gestalt und ihren Werkstoff bestimmt, dann spricht man von einem Baukastensystem mit Gestaltelementen, vgl. [141]. Bei Baukastensystemen mit Gestaltelementen werden überwiegend Muss-Bausteine verwendet. Die Bausteine sind Gestaltelemente und besitzen meist eine einfache Geometrie und können eigenständig keine Funktionen realisieren. Individuelle Produktvarianten entstehen durch die Kombination gleicher oder ähnlicher Bausteine in linearer, ebener oder räumlicher Anordnung. Baukastensysteme mit Gestaltelementen sind meist als offene Baukastensysteme realisiert. Die Bausteine sind geometrisch und werkstoffspezifisch definiert, Abmaße und Schnittstellen sind meist vollständig genormt. Durch Anordnungsvariation entstehen Produktvarianten mit neuen Gestalteigenschaften, Uniformität wird oft bewusst als Gestaltungsziel eingesetzt und die Fertigung der Bausteine ist meist stark rationalisiert für die wirtschaftliche Herstellung großer Stückzahlen. Oft wird ein solches Baukastensystem als Ersatzlösung anstelle anderer nicht realisierbarer oder unwirtschaftlicher Gestaltungsmöglichkeiten genutzt. Typische Baukastensysteme mit Gestaltelementen sind beispielsweise Dach- oder Mauerziegel im Bereich des Bauwesens oder Bauklötze bzw. Spielsteine im Bereich von Spielwaren. Abbildung 9.26 zeigt die Einheitsgrößen einer bestimmten Marke von Mauersteinen und einen beispielhaften Rohbau eines Wohnhauses. Der Lego-Baukasten ist in Abbildung 9.21 gezeigt. Anzumerken ist zudem im Bauwesen die leichte Bearbeitbarkeit der Bausteine, was weiteren Gestaltungsfreiheitsgrad schafft, um kundenindividuelle Lösungen wie in Abbildung 9.26.b zu schaffen; bei Legosteinen ist eine Anpassung durch subtraktive Methoden aber

9.3 Baugruppenorientierte Bauweisen

351

Abb. 9.27 Baukasten mit Gestaltungselementen am Beispiel von Endmaßen

nicht vorgesehen. Ein weiterer, typischer Vertreter sind Endmaße, die im Bereich der Messtechnik zum Prüfen und Kalibrieren von Messgeräten und Prüfmitteln verwendet werden. Sie können beispielsweise aus Stahl, Metall, Glas oder Keramik bestehen und sind in verschiedenen Formen, zum Beispiel als Parallel-, Winkel-, Kugel- oder Zylindermaße, erhältlich, vgl. Abbildung 9.27. Endmaße erlauben die flexible Schaffung eines genauen Referenzmaßes, dazu werden die verschiedenen in Abbildung 9.27 gezeigten Längen bedarfsgerecht kombiniert.

9.3.6.2 Baukasten mit Normelementen Baukastensysteme mit Normelementen beinhalten nach [141] Bausteine, die genormt sind und zur Funktionserfüllung des Systems unmittelbar beitragen wie beispielsweise Schrauben, Lager, Führungen, Dichtungen, Gelenke oder Verbindungselemente. Produktvarianten mit technischen Funktionen entstehen hierbei durch kundenindividuelle Auswahl der Bausteine. Baukastensysteme mit Normelementen sind meist als offene Baukastensysteme realisiert und enthalten oft Bausteine mit großer Variantenanzahl, als Beispiel dient der Werkzeugbau mit vielen Standard-Produkten, Normelemente wie Schrauben, Lager oder Führungen werden zur Herstellung der Werkzeuge verwendet. Ähnliche Anwendungen lassen sich beispielsweise bei der Herstellung von Linearführungssystemen finden, vgl. Abbildung 9.4.b sowie Abbildung 9.28, bei denen neben Schrauben, Scheiben und Führungsrohre vor allem Gleit- oder Wälzelemente verwendet werden. Im Bereich der Elektrotechnik werden Widerstände, Transistoren etc. als Normelemente zur Herstellung von elektronischen Schaltungen eingesetzt, die Bausteine werden häufig als Zulieferkomponenten in Eigenentwicklung integriert. Durch das hohe Marktangebot kann bei mittleren bis großen Abnahmemengen in vielen Fällen ein Stückzahlvorteil beim Preis erreicht werden, vgl. auch Abschnitt 8.4.4.

352

9 Produktvarianten

a)

b)

Abb. 9.28 Linearführungsprüfstand aus Normprofilen. a) Draufsicht auf einen Spindeltrieb, b) Seitenansicht

9.3.6.3 Baukasten mit Funktionseinheiten Erfüllen Bausteine eigenständige technische Funktionen, dann ist nach [141] von einem Baukastensystem mit Funktionseinheiten die Rede. Sie entstehen durch Kombination von funktionell eigenständigen Bausteinen, sogenannten Funktionseinheiten, zu einem Endprodukt, das wiederum eine komplexe Gesamtfunktion übernimmt. Baukastensysteme mit Funktionseinheiten sind meist als offene Baukastensysteme realisiert, die oft auf genormten Grundplatten, Chassis oder Montageschienen montiert werden. Abbildung 9.28 zeigt einen Prüfstand für vorgespannte Linearführungen. Mit Hilfe der Standardbauteile aus dem Baukasten kann man mit der Anlage das Verschleißverhalten vorgespannter Laufrollenführungen untersuchen, die Vorrichtung ist bei Erweiterung des Funktionsumfangs leicht anpassbar und nach Programmende lassen sich die Komponenten großteils weiter verwenden. Weitere Beispiele für Baukastensysteme mit Funktionseinheiten lassen sich in den folgenden Bereichen finden: • • • • •

Antriebstechnik (Getriebe, Motoren, . . . ), vgl. Abbildung 9.4 links, Elektrotechnik (Schaltelemente, Betätigungsmagnete, ...), Elektronik (Ein-, Ausgabe, Speicherbausteine, . . . ), Anlagentechnik (Chemische, Verfahrenstechnische Anlagen, . . . ), Innenausstattung (Küchen-, Labor- oder Büroeinrichtung, . . . ), vgl. Abbildung 9.16 rechts.

Als weiteres Beispiel eines Baukastens mit Funktionseinheiten sind auch multifunktionale Baufahrzeuge zu nennen, vgl. Abbildung 9.29. Verschiedene Anbaugeräte sind in der Lösungssammlung in Abbildung 5.46 gezeigt, die alle bei Anbau verschiedene Funktionen des Grundfahrzeugs ermöglichen, alleine sind diese jedoch nicht funktionsfähig. Der Anschluss der verschiedenen Anbaugeräte in Abbildung 9.29 erfolgt über standardisierte mechanische und hydraulische

9.3 Baugruppenorientierte Bauweisen

353

Abb. 9.29 Bobcat S590 Compact Radlader mit verschiedenen Anbaugeräten

Schnittstellen, im Fahrzeug selbst bekommen die Bedienelemente je nach Anbaugerät dann unterschiedliche Funktionen zugeordnet.

9.3.6.4 Baukasten mit Zubehörteilen Besteht ein Baukastensystem nicht ausschließlich aus Muss-Bausteinen, sondern wird dieser zusätzlich durch Kann-Bausteine als Zubehörteile ergänzt, so wird von einem Baukasten mit Zubehörteilen gesprochen. Zubehör-Baukastensysteme besitzen meist eine geringe Variantenmenge von Muss-Bausteinen und eine hohe Variantenmenge von Kann-Bausteinen. Die Erzeugnisgliederung der Produktvarianten ist meist standardisiert, Zubehör-Baukastensysteme sind als offene oder geschlossene Systeme realisierbar. Die Variantenmenge der Produktvarianten entsteht hauptsächlich durch unterschiedliche Kann-Bausteine. Bei Konsumgütern sind Bausteine mit Geltungsfunktionen wie Abdeckungen, Blenden, Farbelemente ohne und mit Beschriftungen usw. üblicherweise Zubehörteile. Im Bereich der Elektrotechnik hingegen sind dies elektrische Schalter, Taster oder Leuchtmelder mit unterschiedlichen Befestigungsmöglichkeiten. Im Bereich der Antriebstechnik werden beispielsweise zu Elektromotoren häufig eine Vielzahl an Adaptern angeboten, um diesen für möglichst viele Anwendungen einsetzen

354

9 Produktvarianten

Abb. 9.30 Baukastensystem mit Zubehörteilen am Beispiel von Adaptern für einen StandardMotor für den nordamerikanischen Markt

zu können. In Abbildung 9.30 sind beispielhaft zwei Adapter dargestellt, mit denen ein Standardmotor zum Einsatz für universelle oder auch spezielle Anwendungen funktional erweitert oder auch geometrisch angepasst werden kann.

9.4 Methoden des Variantenmanagements Nachdem verschiedene Bauweisen und zugehörige Ausprägungen als Werkzeug des Variantenmanagements vorgestellt wurden, werden im Folgenden ausgewählte Methoden beschrieben, mit denen sich die Bauweisen in Unternehmen umsetzen lassen. Nach einer Einführung in die Entwicklung von Baukastensystemen werden Modularisierungsmethoden vorgestellt.

9.4.1 Entwicklung von Baukastensystemen Eine Baukastensystementwicklung umfasst alle Tätigkeiten zur Planung und Entwicklung dieser Systeme. Das Baukastensystem wird dabei hinsichtlich der Bausteine, der Systemgrenze und des Strukturbezugs und damit auch in Bezug auf die möglichen Varianten vorgedacht. Baukastensysteme kommen zum Einsatz, um beispielsweise die Kosten der Produktion zu senken und gleichzeitig kundenindividuelle Produktvarianten zu ermöglichen. Wichtige Anreize des Denkens in Baukastensystemen sind erzielbare Preisvorteile bei hohem Kostendruck, die geforderte Rationalisierung, der Qualitätsaspekt und der Zeitfaktor. Mit zunehmen-

9.4 Methoden des Variantenmanagements

355

Abb. 9.31 Entwicklung von Baukastensystemen

der Standardisierung steigt die Qualität meist erheblich an und in der Produktion ist ein großes Potential zur Rationalisierung und Zeitersparnis durch verkürzte Rüstzeiten u.a. ausschöpfbar, vgl. Abschnitt 8.2.3 und insbesondere (8.7). Meist kommt es dadurch auch zu einer Vereinheitlichung der Produkte. Prinzipiell unterscheidet man zwei Phasen der Baukastensystementwicklung, vgl. Abbildung 9.31. Zunächst wird das Baukastensystem entwickelt und dokumentiert, ehe die vom Kunden bestellten Produkte unter Verwendung des Baukastens konfiguriert werden. Beide Phasen werden wiederum über ein Produktdatenmanagementsystem miteinander verknüpft.

9.4.1.1 Entwicklungsphase Die Entwicklung von Baukastensystemen erfordert außerdem eine gründliche Planung und Konzeption. In der Praxis können nach [170] zwei Ausgangssituationen für die Entwicklung eines Baukastensystems differenziert werden, die ein leicht unterschiedliches Vorgehen erfordern: • Planung und Entwicklung auf der sogenannten grünen Wiese6 , d. h. der gesamte Baukasten und das Spektrum der Produktvarianten wird weitgehend vorgedacht und in einem abgeschlossenen Projekt ohne Vorgängerprodukt entwickelt. Dieser Fall tritt in der Praxis eher sehr selten auf, da es schwierig und sehr aufwändig ist, sämtliche Kundenwünsche abzuschätzen und ein komplettes Produktvariantenspektrum vorzuplanen. • Anpassung oder Weiterentwicklung von vorhandenen Produkten oder eines Produktspektrums, sodass die vorhandenen Produkte bezüglich ihrer Produktstruktur überarbeitet werden sowie Bausteine und Schnittstellen vereinheitlicht oder teilweise neu entwickelt werden, während die Grundarchitektur der Produkte und ihrer Fertigung gleichbleiben. Dieser Fall ist recht typisch für Anwendungen in der Praxis, wenn das Produktprogramm neu strukturiert

6

Dem green field approach steht häufig der brown field approach gegenüber; während green field auf einer gedanklich grünen Wiese als Sinnbild für eine Entwicklung oder ein Werk ohne Vorgängerprodukte startet, müssen beim brown field die Randbedingungen einer Vorgängergeneration oder eines bereits bestehenden Werks berücksichtigt werden.

356

9 Produktvarianten

Abb. 9.32 Tätigkeiten bei der Baukastenentwicklung

oder spezielle Kundenwünsche realisiert werden sollen, ohne bewährte Produktvarianten aus dem Programm zu nehmen, vgl. auch Abschnitt 5.3.2. Darüber hinaus ergeben sich in der Praxis meist Mischformen, wie die Neuentwicklung eines Produkts oder einiger Produktvarianten mit Berücksichtigung einer möglichen Erweiterung zu einem Baukastensystem, welches aber erst zu einem späteren Zeitpunkt in Abhängigkeit von sich ergebenden Anforderungen und Kundenwünschen weiterentwickelt und komplettiert wird. Zu Beginn einer Baukastenentwicklung wird i.d.R. eine umfassende Planung des Baukastensystems durchgeführt, vgl. Abbildung 9.31. Im Anschluss daran werden die Bausteine und Baukastenprodukte entwickelt und gestaltet. Bei der Entwicklung und Konstruktion der Bausteine und der Produktvarianten kann grundsätzlich nach dem methodischen Vorgehen beim Konstruieren – mit den typischen Schritten Aufgabe klären, Konzipieren, Entwerfen und Ausarbeiten, siehe Abbildung 2.2 – vorgegangen werden, vgl. Abbildung 9.32 sowie [219].

9.4 Methoden des Variantenmanagements

357

Für die Baukastenentwicklung gibt es zwei unterschiedliche Strategien: • Bei der ablauforientierten Vorgehensweise werden die Bausteine und Baukastenprodukte parallel konkretisiert. Ein Prozess wie beispielsweise das Konzipieren, wird erst dann beendet, wenn alle technischen Objekte das jeweilige Ergebnis oder Zwischenergebnis erreicht haben. Parallel zum Entwickeln und Konstruieren wird die Baukastenstruktur sukzessive entwickelt. • Bei der produktorientierten Vorgehensweise werden die Bausteine und Baukastenprodukte sequenziell entwickelt. Einzelne Baukastenprodukte werden vollständig konkretisiert, bevor im Anschluss das nächste Objekt bearbeitet wird. Ziel ist es hierbei, möglichst viele der bereits entwickelten Objekte wieder zu verwenden. Die Baukastenstruktur wird nach und nach durch die neu entwickelten Bausteine ergänzt. Die ablauforientierte Vorgehensweise besitzt zahlreiche Vorteile gegenüber der produktorientierten Vorgehensweise, kann allerdings in der Praxis oft nicht realisiert werden, da der Entwicklungsaufwand zu groß ist, die Entwicklung kann nicht ohne Kapitalrückfluss vorfinanziert werden, vgl. Abbildung 2.3. Daher wird eine Kombination aus beiden Strategien als sinnvoll vorgeschlagen, [141].

9.4.1.2 Konfigurationsphase Konfigurieren ist das Zusammenstellen eines technischen Produkts aus bestehenden Bausteinen. Dabei wird die Art, Anzahl und Anordnung von Bausteinen nach einem vorgedachten Zweck festgelegt. In diesem Arbeitsschritt werden aus den einzelnen Elementen des Baukastensystems die endgültigen Produkte erstellt. Beim Konfigurieren gibt es zwei unterschiedliche Verwendungsmöglichkeiten eines Baukastensystems, bei denen die Kundensicht oder die Herstellersicht im Vordergrund stehen. Bei der Konfiguration aus Sicht des Kunden stellt die individuelle Flexibilität einen wichtigen Marketingaspekt dar, der für den Kunden erkennbar und nutzbar sein muss. Bei der Konfiguration von Baukastenprodukten aus Sicht des Herstellers ist das resultierende Produkt nicht zwingend für den Kunden als Baukastenprodukt ersichtlich, für den Hersteller sind Aspekte wie Rationalisierungspotentiale, Qualität und Kosteneinsparungen ausschlaggebend. Für eine möglichst kundenindividuelle Konfiguration des Baukastenprodukts kommt dem Hersteller eine hohe Flexibilität des Baukastens zugute. Bei der Konfiguration von Baukastenprodukten spielt die Verträglichkeit einzelner Baukastenelemente untereinander eine bedeutende Rolle, diese wird durch geometrische und funktionale Kriterien bestimmt. In erster Linie wird die geometrische Verträglichkeit durch abgestimmte Schnitt-/Koppelstellen gewährleistet, während die funktionale Verträglichkeit durch die Abstimmung der einzelnen Bausteine zueinander sichergestellt wird. Neben diesen Kriterien spielen bei der Berücksichtigung von Verträglichkeiten auch Marketingaspekte eine Rolle, wie verschiedene Modellreihen bei Automobilherstellern oder Sondermodelle mit weitgehend festgelegter Ausstattung. Schnittstellen sind i.d.R. geometrisch

358

9 Produktvarianten

Abb. 9.33 Konfigurations- und Verträglichkeitsmatrix am Beispiel eines Lüfters (Nach [170])

vollständig bestimmt und innerhalb der Produktfamilie aufeinander abgestimmt, sodass das Konfigurieren komplexer Bausteine unmittelbar möglich ist. Gegebenenfalls sind zum Zusammenbau Koppelelemente wie Adapter oder Verbindungselemente erforderlich, die wiederum dem Baukasten entnommen werden. Eine neue Konfiguration, bestehend aus dem ursprünglichen aus den Bausteinen des Baukastensystems zusammengesetzten technischen Produkt und der neuen Komponente, muss auf Vollständigkeit und Funktionsfähigkeit im Sinne der Aufgabenstellung überprüft werden. Ist die entstandene Konfiguration vollständig und funktionsfähig, so ist der Konfigurationsvorgang beendet. Das Konfigurieren kann sowohl sequenziell als auch parallel, d. h. unter gleichzeitiger Betrachtung mehrerer Schnittstellen durchgeführt werden. Das Ergebnis des Konfigurationsprozesses ist eine Liste der Bausteine, die zur stofflichen Realisierung der Konfiguration benötigt werden sowie Informationen über deren Anordnung und Lage zueinander. Zur Unterstützung der Konfiguration werden Konfigurations- und Verträglichkeitsmatrizen erstellt. Mit deren Hilfe lassen sich zum einen die Konfigurationsmöglichkeiten abbilden, zum anderen können gewählte Konfigurationen im Hinblick auf Verträglichkeit geprüft werden. Abbildung 9.33 verdeutlicht beide Matrizen am Beispiel eines Lüfters. Die Konfigurationsmatrix bildet die zulässigen Varianten der Produktkomponenten Rotor, Stator und Anschluss des Lüfters

9.4 Methoden des Variantenmanagements

359

ab, während in der Verträglichkeitsmatrix die Verträglichkeit der Komponenten untereinander gegenüberstellt werden.

9.4.2 Modularisierungsmethoden Neben dem Entwickeln von Baukastensystemen werden in der Praxis häufig Modularisierungsmethoden eingesetzt, um die Variantenflut beherrschen zu können. Im Folgenden werden hierzu beispielhaft das Modular Function Deployment, die Integration Analysis Methodology sowie die modulare Produktentwicklung nach GÖPFERT vorgestellt, für weitere Details wird beispielhaft auf [144] verwiesen, die in den folgenden Abschnitten genannten Hauptquellen beschreiben die Methoden und ihre Vorgehensschritte detailliert.

Tabelle 9.4 Modultreiber nach ERIXON [38, 71, 72] Modultreiber Erklärung Carry Over

Bei Carry-over-Komponenten handelt es sich um Komponenten, die über mehrere Produktgenerationen hinweg verwendet werden. Technology Dieser Treiber bezieht sich auf Funktionsträger eines Produkts, für die eine Push Technologieänderung aufgrund stark veränderter Kundenanforderungen erwartet werden kann. Product Dieser Treiber verweist auf Komponenten, die im Laufe des Produktlebens von Planning geplanten Produktpflegemaßnahmen betroffen sein werden. Different Zur Erzeugung von Produktvarianten können Komponenten, die diesem TreiSpecification ber unterliegen, technisch unterschiedlich spezifiziert werden. Styling Styling-Komponenten sind stark von Änderungen des Produktdesigns betroffen. Common Unit Die Komponente wird in der Produktfamilie mehrfach verwendet. Process/ Komponenten oder ganze Module, die von diesem Modultreiber betroffen Organisation sind, durchlaufen gleiche oder zumindest ähnliche Prozessschritte in der Produktion oder stellen einen passenden Arbeitsumfang für eine Organisationseinheit dar. Separate Im Produktionsprozess kann die Funktion der Komponente oder des Moduls Testing getestet werden, bevor die Komponente oder das Modul in der Endmontage verbaut wird. Black-Box Die Komponente oder das Modul kann von einem Zulieferer zugekauft werEngineering den. Service/ Bei einem Defekt kann eine Reparatur des Produkts durch den Austausch des Maintenance defekten Moduls erfolgen. Upgrading Durch den Austausch von Komponenten oder Modulen kann die Funktion des Produkts in der Nutzungsphase geändert oder erweitert werden. Recycling Das Zusammenfassen von gleichen oder ähnlichen Materialien erleichtert das Recycling von Produktbestandteilen.

360

9 Produktvarianten

9.4.2.1 Modular Function Deployment Das Modular Function Deployment ist eine von ERIXON entwickelte Methode zur Modularisierung von Produkten auf Basis unternehmens- und kundenspezifischer Kriterien. Bei der Entwicklung von Produkten steht hierbei die produktstrategische Sichtweise im Vordergrund mit dem Ziel, Module so festzulegen, dass sie sich beispielsweise leicht montieren und später im Betrieb einfach warten lassen oder auch für andere Produkte oder Produktgenerationen verwendbar sind, vgl. [144]. Die Methode gliedert sich in mehrere Vorgehensschritte, die im Folgenden erläutert werden, dabei werden die Modultreiber, die in Tabelle 9.4 beschrieben sind, zur Bewertung der strategischen Sichtweise genutzt. Das Beispiel in Tabelle 9.5 und Tabelle 9.6 dient zur Verdeutlichung der Vorgehensweise. Zunächst werden die Kundenbedürfnisse aufgenommen und mittels der Methode des Quality Function Deployments in technische Produktanforderungen überführt, vgl. Abschnitt 6.1.3. Im nächsten Schritt wird das Produkt funktional zerlegt und es werden Funktionen und Teilfunktionen festgelegt. Anschließend werden allen Funktionen und Teilfunktionen Funktionsträger zugewiesen und ähn-

Tabelle 9.5 Ausgefüllte Modul-Indication-Matrix am Beispiel eines Sprühgeräts für Pflanzenschutzmittel mit alphabetischer Sortierung der Funktionsträger (Nach [72, 144])

9.4 Methoden des Variantenmanagements

361

lich wie bei der Erstellung eines morphologischen Kastens7 in einer Tabelle dokumentiert. Am Beispiel eines Sprühgerätes für Pflanzenschutzmittel sind die Funktionsträger in Tabelle 9.5 alphabetisch in den Spalten aufgeführt. Der dritte Schritt sieht die Bewertung der Funktionsträger anhand von Modultreibern vor, die in Tabelle 9.4 beschrieben sind. Hierbei werden die festgelegten Funktionsträger aus dem zweiten Arbeitsschritt den Modultreibern in der ausgefüllten Tabelle gegenübergestellt und es wird eine Bewertung hinsichtlich der Modultauglichkeit vorgenommen. Hierbei wird – ähnlich wie bei der vereinfachten Bewertung der Auftretenswahrscheinlichkeit E im Rahmen der FMEA, vgl. Abschnitt 6.2.4 – eine dreistufige Bewertungsskala von 1 (schwacher Modultreiber), 3 (mittelstarker Modultreiber) und 9 (sehr starker Modultreiber) verwen-

Tabelle 9.6 Umsortierte Modul-Indication-Matrix am Beispiel eines Sprühgeräts für Pflanzenschutzmittel in Tabelle 9.5, die Funktionsträger sind in Module gruppiert (Nach [72, 144])

7

Siehe Abschnitt 5.4.6, vgl. insbesondere Tabelle 5.10 und Tabelle 5.11.

362

9 Produktvarianten

det, die Zeilen in den Tabellen 9.5 und 9.6 entsprechen denen aus Tabelle 9.4. Durch eine vertikale Addition der Bewertungspunkte lassen sich anschließend Komponenten mit den höchsten Treibersummen identifizieren und daraus potentielle Modulkandidaten ableiten. Funktionsträger mit einer geringen Bewertung sollten wiederum den potentiellen Modulkandidaten zugeordnet werden. Auf dieser Basis kann dann das gesamte Produkt modularisiert werden. In Tabelle 9.5 ist beispielhaft eine Modul-Indication-Matrix für ein Sprühgerät für Pflanzenschutzmittel dargestellt. Tabelle 9.6 stellt eine mögliche Auswertung der ausgefüllten Modul-Indication-Matrix mit beispielhafter Modulbildung dar. Hierbei wurden acht Module festgelegt, die jeweils innerhalb der gewählten Module ähnliche Modultreiber aufweisen. Abschließend werden die Modulempfehlungen der Modul-Indication-Matrix unter Verwendung von Design for X Richtlinien wie beispielsweise dem Design for Manufacturing oder Design for Assembly plausibilisiert, gegebenenfalls angepasst oder auch alternative Modularisierungskonzepte entwickelt, vgl. z. B. [157].

9.4.2.2 Integration Analysis Methodology Die Integration Analysis Methodology von PIMMLER & EPPINGER untersucht die Kopplungen zwischen Komponenten eines Produkts und überführt diese in Konzepte zur Modularisierung des Produkts. Hierbei sind die drei folgenden Schritte durchzuführen: 1. Dekomposition des Systems in Elemente: Im ersten Schritt wird das Produkt hierarchisch in seine Elemente zerlegt. Dabei hängt es von Stand der Entwicklung ab, ob es sich bei den Elementen um Funktionen handelt oder ob bereits Funktionsträger – also physische Komponenten – verwendet werden können, vgl. [173]. 2. Dokumentation der Beziehungen zwischen den Elementen: Im zweiten Schritt wird dann auf Basis der Elemente eine symmetrische Design Structure Matrix aufgebaut, in deren Zeilen und Spalten sich die Komponenten des Produktes wiederfinden, Abbildung 9.34 zeigt ein Beispiel. Im Anschluss werden in der Matrix die Interaktionen zwischen den Komponenten festgehalten. Hierbei wird zwischen den vier Dimensionen räumliche Anordnung (R), Energietransfer (E), Informations- (I) und Materialaustausch (M) unterschieden. Zur Bewertung der Interaktionen steht eine Skala mit Punkten zwischen −2 (Interaktion ist schädlich) über −1 (Interaktion ist unerwünscht), ±0 (indifferente Interaktion) und +1 (Interaktion ist erwünscht) bis hin zu +2 (Interaktion ist erforderlich) zur Verfügung. Daraus ergeben sich vier zur Diagonalen symmetrische Matrizen für die einzelnen Dimensionen, deren Diagonale selbst leer bleibt, vgl. Abbildung 9.34 und [173]. 3. Gruppieren der Elemente in Blöcke: Im dritten Schritt werden für jede der vier Interaktionsdimensionen die Elemente, zwischen denen positiv bewertete Interaktionen bestehen, zu Blöcken zusammengefasst. Hierbei wird durch

9.4 Methoden des Variantenmanagements

363

Abb. 9.34 Design Structure Matrix als Ergebnis der Analyse der vier Dimensionen am Beispiel einer PKW-Klimaanlage (Erläuterung der Interaktionsbewertung im Text, nach [173])

zeilen- und spaltenweises Vertauschen der Elemente die Tabelle so umsortiert, dass die positiven Werte näher an die Hauptdiagonale rücken. Daraus entstehen zwar nicht auf direktem Wege die Module, doch die daraus in Bezug auf die positiven Interaktionen entstehende Blockstruktur erleichtert die Identifikation sinnvoller Module für den Entwickler. Somit lassen sich aus einer Design Structure Matrix für jede der Dimensionen eine Möglichkeit zur Modularisierung des Produkts ableiten. Die vier generierten Modularisierungskonzepte (die Blockmatrizen der vier Interaktionsdimensionen) werden anschließend unter Abwägung der Bedeutung der jeweiligen Interaktionsdimension für das Produkt analysiert und manuell in eine gemeinsame Produktarchitektur überführt. Abbildung 9.34 zeigt die zusammenfassende Design Structure Matrix aller vier Bewertungsdimensionen am Beispiel einer Pkw-Klimaanlage.

364

9 Produktvarianten

9.4.2.3 Modulare Produktentwicklung – Methodische Unterstützung der Systembildung GÖPFERT hat eine Vorgehensweise zur technischen und organisatorischen Gestaltung von modularen Produkten entwickelt, die in den frühen Phasen der Produktentwicklung angewendet werden kann, vgl. [104]. Die modularen Produkte sollen dabei so gestaltet werden, dass sie funktional und physisch weitestgehend unabhängig sind, vgl. Tabelle 9.7. Die sogenannte Funktionale Unabhängigkeit liegt in diesem Zusammenhang vor, wenn ein Modul eine zugewiesene Funktion unabhängig von anderen Modulen erfüllen kann, wohingegen physische Unabhängigkeit durch leicht trennbare Schnittstellen zwischen Modulen erreicht wird. Die Vorgehensweise von GÖPFERT besteht aus den folgenden fünf Schritten, vgl. [104], die einen iterativen Charakter besitzen: 1. Definition der Prämissen: Im ersten Schritt ist zu klären, welches Gesamtprodukt gestaltet wird, ob das Produkt neu ist oder an Vorgängermodellen angelehnt sein soll und welche Anforderungen, Komponenten oder Schnittstellen bereits feststehen. 2. Bildung technischer Gestaltungsalternativen: Anschließend werden verschiedene Produktarchitekturen erarbeitet, die sich in einer Funktions- und einer Produktstruktur darstellen lassen. Zur Erstellung der Funktionsstruktur werden dabei die Funktionen des zu erstellenden Produkts zunächst so lange in ihre Teilfunktionen zerlegt, bis einzelne Komponenten zu deren Erfüllung identifiziert werden können. Bei der Erarbeitung der Produktstruktur werden diese identifizierten Komponenten schrittweise zu größeren physischen Einheiten zusammengefügt. Zur Umsetzung lassen sich Gestaltungsprinzipien zur Entwicklung von modularen Produktarchitekturen anwenden, die in Abbildung 9.35 schematisch gezeigt sind.

Tabelle 9.7 Darstellung der Produktarchitektur (In Anlehnung an [104]) Unabhängigkeitsprinzip: Gestalte ein Produkt aus möglichst unabhängigen Modulen. 1. Verteile unterschiedliche Produktfunktionen möglichst auf verschiedene Module, sofern sich nicht die Nutzung mehrerer Funktionen einer Komponente anbietet. 2. Bilde physisch möglichst unabhängige Module, sofern der Aufwand für die Spezifikation und Herstellung der Schnittstellen den Nutzen der Modularisierung nicht übersteigt. Integritätsprinzip: Gestalte Module so, dass sie als Gesamtprodukt zusammenwirken. 1. Spezifiziere eindeutige Schnittstellen zwischen Modulen. 2. Optimiere das Gesamtprodukt, nicht die einzelnen Module. 3. Verwende bereits existierende Module wieder, sofern dadurch nicht Integrität und Charakter des Produktes gefährdet werden. Dekompositionsprinzip: Erhöhe den Detaillierungsgrad durch selektive Dekomposition. 1.Dekomponiere die Funktionen eines Produktes solange in Teilfunktionen, bis sich Komponenten zu deren Erfüllung identifizieren lassen. 2. Erhöhe den Detaillierungsgrad bei Bedarf durch fortgesetzte, selektive Dekomposition von Produktfunktionen und Komponenten.

9.4 Methoden des Variantenmanagements

365

Abb. 9.35 Gestaltungsprinzipien für modulare Produktarchitekturen (Nach [104])

3. Bewertung und Auswahl einer Gestaltungsalternative: In diesem Schritt werden die verschiedenen technischen Gestaltungsalternativen mithilfe einer Nutzwertanalyse bewertet. Die Bewertungskriterien gibt GÖPFERT auf Basis von breit angelegten Befragungen über gelungene Produktarchitekturen der am Produktentwicklungsprozess beteiligten Unternehmensbereiche bei der Mercedes-Benz AG an, vgl. [104]. Die daraus hervorgegangenen 70 Bewertungskriterien unterteilt er in technische und organisatorische Bewertungskriterien und klassifiziert erstere wiederum nach Kundennutzen, Entwicklungsbedingten Kriterien sowie Produktionsbedingten Kriterien. Aufgrund der hohen Anzahl an qualitativen Kriterien und der damit einhergehend schwierigen Bewertung schlägt GOEPFERT in [104] für den eigentlichen Bewertungsprozess einen Vergleich mit einer Bezugsalternative vor – beispielsweise mit der momentan verfolgten Lösung. Zusätzlich kann bei der Bewertung auch eine Gewichtung der Kriterien vorgenommen werden. Die Gesamtbewertung einer Alternative ergibt sich letztendlich aus der Summe der gewichteten Einzelbewertungen der Bewertungskriterien. Das Ziel des Schritts ist eine Vorauswahl der besten technischen Gestaltungsalternative(n), auf deren Grundlage die Bildung organisatorischer Gestaltungsalternativen aufbauen kann. Ist keine der technischen Alternativen befriedigend wird iterativ zu Schritt 2 zurückgekehrt. 4. Bildung organisatorischer Gestaltungsalternativen: In diesem Schritt werden aufbauend auf den ausgewählten technischen Gestaltungsalternativen zugehörige Organisationsstrukturen erarbeitet. Dazu werden größere Einheiten der Produktarchitektur zu Tätigkeitsumfängen zusammengefasst und organisatorischen Einheiten zugeordnet, vgl. [104]. Hierbei stellt jede technische

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9 Produktvarianten

Teilfunktion in der Funktionsstruktur und jede physische Komponente in der Produktstruktur jeweils eine organisatorische Teilaufgabe dar. 5. Gesamtbewertung und Auswahl einer technischen und organisatorischen Gesamtlösung: Abschließend werden die verschiedenen Gestaltungsalternativen erneut im Rahmen einer Nutzwertanalyse mit technischen und organisatorischen Bewertungskriterien bewertet. Ist keine der Gestaltungsalternativen befriedigend, so kann entweder die organisatorische Gestaltung aus Schritt 4 oder die technische Gestaltung aus Schritt 2 modifiziert werden, vgl. [104]

9.4.3 Anwendung der Modularisierungsmethoden in der Praxis In der Praxis werden neben den vorgestellten Methoden viele intuitive Ansätze genutzt, um die Variantenvielfalt zu beherrschen, vgl. [23]. Dabei hängen die eingesetzten Methoden stark von den speziellen Unternehmen, den Produkten, den Marktbedingungen und der vorhandenen Nachfrage sowie den beteiligten Menschen ab. Dahingehend soll dieses Kapitel einen Überblick aus Sicht der Produktentwicklung geben ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu können. In der Praxis spielen zusätzlich betriebswirtschaftliche und logistische Überlegungen eine wichtige Rolle bei der Modularisierung, deren Behandlung hier aber den Rahmen sprengen würde.

Kapitel 10 Prototypen entwickeln und einsetzen

In diesem Kapitel werden die Wichtigkeit von Prototypen im Produktentwicklungsprozess und der sinnvolle Einsatz dieser Prototypen behandelt. Dazu werden zunächst die Grundlagen der Entwicklung von und mit Prototypen erläutert, die sich aus dem allgemeinen Begriffsverständnis, der Motivation des Einsatzes, möglichen Fertigungsverfahren und damit verknüpften Auswirkungen zusammensetzen. Das Entwickeln von und mit Prototypen ist bisher in der Literatur ein wenig beachtetes Gebiet. Im Wesentlichen sind die Arbeiten der Karlsruher Schule für Produktentwicklung im Kontext gekoppelter virtueller und physischer Erprobung zu nennen, im Englischen als X-in-the-loop bezeichnet, vgl. z. B. [174]. Um in die Thematik zielorientiert einzuführen, werden daher folgende Lernziele angestrebt:

Lernziele des 10. Kapitels: • Sie wissen, dass eine wirkungsvolle Nutzung von Prototypen als Entwicklungswerkzeug die Festlegung spezieller Anforderungen an die Prototypen erfordert. • Sie können Prototypen hinsichtlich mehrerer Kategorien klassifizieren und den beabsichtigten Verwendungszweck in generischer Form aus der Klassifikation ableiten. • Sie können die Grenzen zwischen virtuellen und physischen Prototypen und ihre Schnittstellen zueinander beschreiben und die notwendigen Koppelsysteme angeben. • Sie kennen verschiedene Fertigungsverfahren zur Herstellung von Prototypen und können die Auswirkungen dieser Verfahren auf die Entwicklung und Herstellung von Prototypen beschreiben. • Sie können die Anforderungen an Prototypen aus deren Einsatzzweck in der Produkt- oder Prozessentwicklung ableiten. • Sie kennen die Einsatzgrenzen von Prototypen. 2

Im Folgenden werden Werkzeuge und Methoden zur Entwicklung von und mit Prototypen vorgestellt. Die für dieses Kapitel wichtigen Begriffe fasst Abbildung 10.1 zusammen. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Kirchner, Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61762-5_10

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368

10 Prototypen entwickeln und einsetzen

Abb. 10.1 Wichtige Begriffe im Zusammenhang mit Prototypen

10.1 Motivation und Ziel der Entwicklung von und mit Prototypen Mit der steigenden Dynamik des Entwicklungs- und Innovationsprozesses und den stetig kürzer werdenden Produktentwicklungszyklen, die aus der voranschreitenden Globalisierung und der einhergehenden internationalen Konkurrenz resultieren, steigt das Interesse des Entwicklers, das Wissen über das bearbeitete Produkt zu erhöhen, um Fehlschläge zu vermeiden. Dies trifft besonders auf Entwicklungsprozesse von Produkten mit hohem Neuheitsgrad, auf neue Prinziplösungen oder eine Kombination im Sinne der Produktgenerationsentwicklung, vgl. Abschnitt 5.3.2, zu, da das Vorwissen über auftretende Effekte und Phänomene nur schwach ausgeprägt ist. Die Antizipation der Ingenieurinnen und Ingenieure in der Entwicklung hinsichtlich des Verhaltens des Produkts ist dann von hoher Unsicherheit geprägt. Prototypen werden im Produktentwicklungsprozess zur Beantwortung einer Vielzahl von Fragestellungen eingesetzt. Häufig wird der Begriff Prototyp dabei im allgemeinen Sprachgebrauch mit verschiedenen Varianten von Entwicklungsfahrzeugen für neue Fahrzeuggenerationen gleichgesetzt, vgl. Abbildung 10.2, doch Prototypen können viele verschiedene Formen annehmen. Der Zweck eines Prototyps ist im Allgemeinen die Verifikation von getroffenen Annahmen, Berechnungen und Entscheidungen im Laufe des Produktentwicklungsprozesses und damit ein Beitrag zur Validierung des Produkts, vgl. Definition 3 und Definition 4. Dabei stehen besonders die Fragen nach der allgemeinen Funktionsfähigkeit und der Erfüllung der Kundenanforderungen im Vordergrund. Dabei ist die Tendenz feststellbar, dass mit fortschreitendem Entwicklungsstand des

10.1 Motivation und Ziel der Entwicklung von und mit Prototypen

369

Abb. 10.2 Erlkönige – Prototypen im Automobilbau: a) Fahrzeug mit applizierten Störgeometrien, b) und c) Seriennaher Stand mit Tarnbeklebung, d) Minimaltarnung optischer Differenzierungsmerkmale

Produkts die Prototypen dem späteren Produkt immer mehr gleichen. Die Prototypen werden unter anderem unter Realbedingungen getestet und erfordern zum Teil spezielle Maßnahmen. Beispiele hierfür sind sogenannte Erlkönige, Abbildung 10.2, bei denen sie verschiedenen Arten der optischen Tarnung je nach Entwicklungsstand des Projekts verwendet werden. Störkonturen der Außengeometrie werden häufig bei frühen Versuchsträgern angewendet, Abbildung 10.2.a, Klebefolien zur Vertuschung von Details später, wenn bereits die geometrische Form des Produkts weitgehend feststeht. Dabei erschweren die unregelmäßigen schwarz-weiß-Muster die visuelle Wahrnehmung der Gestalt, Abbildung 10.2.b und c. Teils werden auch Hilfslösungen verbaut, um die Fahrzeuge im Straßenverkehr betreiben zu können wie in Abbildung 10.2.c einfache Rückleuchten, die noch nicht zur Gestalt des Fahrzeugs passen.

Tabelle 10.1 Definition des Reifegrads von Prototypen anhand der Geometriedetails, der Komponentenfertigung und der Montage sowie Verkaufsfähigkeit der Produkte Prototyp

Gestalt

Alpha

Prototypisch, Geometrie teils Funktion erfüllt vereinfacht Serie Seriengeometrie, nicht gehärtet Serie Serie, gehärtet

Beta Gamma

Produktions- Serie freigabe Serie Serie

Werkzeug

Serie Serie

Montage

Verkaufsfähig

Manuell mit Hilfswerkzeugen Manuell mit Hilfswerkzeugen Serienprozess, Handverkettung Serienprozess mit Verkettung Serie

Nein Nein Nein (Nein) Ja

370

10 Prototypen entwickeln und einsetzen

Abb. 10.3 Potentiale von Prototypen im Entwicklungsprozess (In Anlehnung an [27])

Die Funktionsfähigkeit von Prototypen im geplanten Umfang kann auch als Meilenstein verstanden bzw. geplant werden, beispielsweise als Abschluss des sogenannten Proof-of-Concept im Sinne eines Funktionsnachweises oder es können verschiedene Produktreifegrade mit Alpha- und Beta-Prototypen verbunden werden. Tabelle 10.1 zeigt wichtige Eigenschaften gängiger Klassen von Prototypen aus dem Bereich der Fahrzeugtechnik, ähnlich wie in Abbildung 4.7 gibt es aber auch für die Prototypenstadien in den verschiedenen Konzernen unterschiedliche Bezeichnungen. Prototypen können jedoch auch in frühen Phasen der Entwicklung eingesetzt werden, um bereits möglichst früh im Entwicklungsprozess erste Antworten auf unbeantwortete Fragen zu erhalten und um Eigenschaften des Produkts gezielt abzusichern. Durch den Einsatz von Prototypen wird daher das Wissen über das in der Entwicklung befindliche Produkt erweitert, wodurch sich die Qualität des Produkts erhöht mit dem Ziel der gleichzeitigen Einsparung von Entwicklungszeit. Der Einsatz von Prototypen steigert damit die Effizienz des Produktentwicklungsprozesses, vgl. [67]. Die Motivation des Prototypenbaus im Unternehmen liegt hauptsächlich darin, potentielle Fehler eines Produkts möglichst frühzeitig im Produktentwicklungsprozess zu erkennen und Entscheidungen abzusichern. Durch die Erkennung von Fehlern in frühen Phasen kann das Entwicklungsrisiko in späteren Phasen gesenkt und Kosten können reduziert werden, vgl. [64, S. 231], Prototypen sind somit ein Mittel zur Qualitätssicherung. Mit fortschreitendem Entwicklungsstatus und fortschreitender Konkretisierung des Produkts steigt der Änderungsaufwand zur Behebung von Fehlern, vgl. Abbildung 4.3 und 4.4. Die Kosten dieser Änderungen in späten Entwicklungsphasen übersteigen die Kosten in frühen Phasen deutlich, wie bereits in Abschnitt 4.3 diskutiert.

10.1 Motivation und Ziel der Entwicklung von und mit Prototypen

371

Prototypen tragen zudem dazu bei, die Zusammenarbeit und Kommunikation im Projektteam, mit anderen Abteilungen sowie mit Kunden und Anwender zu fördern. Hier bieten besonders physische Prototypen die Möglichkeit, dass Beteiligte einen ersten Eindruck des Produkts erhalten und Fragen sowie Änderungswünsche äußern können. Der Einsatz von Prototypen hat dabei einen stark iterativen Charakter, da je nach Fragestellung ein passender Prototyp angefertigt werden muss. Abbildung 10.3 zeigt schematisch, welche Potentiale Prototypen im Entwicklungsprozess für das Produkt und den Prozess bieten.

10.1.1 Begriffsverständnis im Rahmen der Entwicklung von und mit Prototypen Um ein einheitliches Verständnis darüber zu erlangen, was unter dem Begriff des Prototyps verstanden werden kann, wird dieses Begriffsverständnis im Folgenden erläutert. Der Begriff Prototyp setzt sich aus den griechischen Silben πρoτoς (der Erste) und τ yπoς (Urbild oder Vorbild) zusammen und bezeichnet damit in Bezug auf ein Produkt das erste Abbild dieses Produktes. Definition 55 Prototyp Als das erste Abbild stellt der Prototyp eine begrenzt entwickelte Ausführung eines Produkts dar, das angefertigt wird, um damit erste Erfahrungen zu sammeln. 3

Obwohl weitere Anfertigungen, z. B. in späteren Entwicklungsstadien, wörtlich gesehen nicht mehr das erste Abbild darstellen, werden auch diese als Prototypen bezeichnet. Als Prototyp wird im allgemeinen Sprachgebrauch jedes Abbild des zu entwickelnden Produktes bezeichnet, bis dieses die Serienreife erreicht. Der Umfang und die Ausführung dieser Prototypen variieren in Abhängigkeit vom Entwicklungsstadium, den geplanten Versuchen und der Zielgruppe. Der Umfang des Prototyps reicht dabei von der Abbildung einzelner Funktionen bis hin zum kompletten Prototyp, der alle geplanten Funktionen des Serienprodukts beinhaltet. Der Begriff Prototyp nach Definition 55 bezieht sich dabei nicht nur auf physische Abbildungen des Produkts, sondern auch auf virtuelle Abbildungen, beispielsweise CAD-Modelle sowie Modelle für die computergestützte Analyse komplexer dreidimensionaler Vorgänge. Die Entwicklung und Herstellung von physischen Prototypen wird häufig dem englischen Sprachgebrauch folgend als Prototyping bezeichnet.

10.1.2 Gründe für den Einsatz von Prototypen Durch den Einsatz von Prototypen im Produktentwicklungsprozess werden in der Literatur vier Hauptziele verfolgt:

372

10 Prototypen entwickeln und einsetzen

Abb. 10.4 Früher physischer Prototyp einer handgehaltenen Spielkonsole bzw. eines Eingabegeräts einer Spielkonsole

1. Lernen: Unter dem Überbegriff Lernen wird das Ziel der Reduktion der Entwicklungszeit durch das Vermeiden von Fehlern in späteren Entwicklungsphasen beziehungsweise das Erkennen von potentiellen Fehlern in frühen Phasen der Entwicklung, das Erfassen und Fördern der Produktqualität sowie die Steuerung der Kostenentwicklung zusammengefasst. Durch den Einsatz von Prototypen erhalten Entwickler die Möglichkeit, sich mehr Erfahrung über das Produkt und dessen Kernfunktionen zu erarbeiten. EPPINGER & ULRICH beschreiben dabei die Fragestellungen Wird es funktionieren? und Entspricht es den Anforderungen der Nutzer? als fundamental, vgl. [70]. Dazu können dem Nutzer Prototypen zur Verfügung gestellt werden, sodass der Entwickler Aufschluss über die Interaktion des Nutzers mit dem bzw. den Prototypen erhält, häufig spricht man dann vom User Acceptance Test, der Begriff wird insbesondere im Bereich der Softwareentwicklung und der IT-Systeme verwendet. Besonders die Nutzer-Interaktion ist für den Entwickler nur schwer zu antizipieren, wodurch der Einsatz von Prototypen nahezu unumgänglich wird. Die Rückmeldungen der Nutzer können dann als weitere Anforderungen oder Anpassungen der Anforderungen im Entwicklungsprozess berücksichtigt werden, wodurch die Vermarktungschancen des Produkts steigen. Hierbei stehen die Validierung von Produkteigenschaften, welche das Verhalten des Nutzers bei der Interaktion mit dem Produkt betreffen, im Vordergrund, vgl. [158]. Einen aus vorhandenen Komponenten aufgebauten Prototyp einer Spielkonsole zeigt Abbildung 10.4, bei dem mit einfachen Mitteln erste Reaktionen von Anwendern auf das Konzept beobachtet werden konnten. Die Gestalt des Prototyps entspricht noch nicht der des angedachten Produkts, die Funktionalität und die Haptik kann aber beurteilt werden. Auch hier können Entwickler durch den Einsatz von Prototypen lernen und ihre Annahmen überprüfen. In vielen Fällen werden durch den Prototyp neue Aspekte und Fragestellungen erarbeitet, die im Vorfeld nicht berücksichtigt oder sogar vernachlässigt wurden. Gerade der Einsatz von physischen Proto-

10.1 Motivation und Ziel der Entwicklung von und mit Prototypen

373

typen in einer realen Produktumgebung kann unvorhergesehene Phänomene verursachen und so mögliche Probleme aufdecken, zu nennen sind hier z. B. Umwelteinflüsse wie Temperatur, Feuchtigkeit oder die Präsenz korrosiver Medien aber auch elektromagnetische Störquellen. Das Lernen mit Prototypen kann daher in zwei Kategorien eingeteilt werden: a. Validierung und Verifikation ausgewählter Entwicklungsaspekte, b. Erkennen möglicher Entwicklungsprobleme und Entdecken verschiedener bisher unvorhergesehener Fehlermöglichkeiten. 2. Verbesserung der Kommunikation: Durch den Einsatz von Prototypen kann die Kommunikation im Entwicklungsteam, im Unternehmen sowie mit dem Kunden verbessert werden. Im Bereich der Kommunikation im Team tragen Prototypen dazu bei, dass alle Teammitglieder die gleiche Vorstellung des betrachteten Problems erhalten. Durch die Reduktion potentieller Missverständnisse wird die Qualität der Kommunikation positiv beeinflusst. Die Förderung der Kommunikation im Team trägt dazu bei, dass alle Teammitglieder das gleiche Ziel verfolgen und sich eine effiziente Entwicklung im Team einstellt. Besonders durch den frühen Einsatz von Prototypen können konstruktive Diskussionen gefördert werden, wodurch das Klären der Aufgabenstellung vereinfacht und verbessert wird, vgl. [158, S. 77]. Zur Kommunikation mit Kunden und Nutzern tragen Prototypen ebenfalls positiv bei. Die Kunden haben hierbei die Möglichkeit, ihre Anmerkungen und Anforderungen an das Produkt zu verdeutlichen. Gerade bei technischen Produkten, die von technisch wenig versierten Nutzern verwendet werden, kann sich ohne den Einsatz von Prototypen eine Kommunikationsbarriere aufbauen, da der Nutzer seine Anforderungen nur schwer in Worte fassen kann. Als hilfreich erweist sich dabei die Verwendung eines gemeinsamen Verständnisses bei der Vergabe subjektiver Bewertungen, wie beispielsweise der Notenskala in Tabelle 5.15. Auch die Kommunikation über verschiedene Bereiche und Abteilungen eines Unternehmens wird durch den Einsatz von Prototypen verbessert. Anhand von Prototypen können beispielsweise einsetzbare Fertigungstechnologien, Montageprozesse und logistische Fragestellungen mit der jeweils zuständigen Abteilung leichter und zielgerichteter besprochen werden. Auch die Kommunikation mit Vorgesetzten und dem Management wird verbessert, indem der Prototyp als anschauliches und begreifbares Abbild des aktuellen Entwicklungsstands eingesetzt wird. 3. Integration: Um das Zusammenspiel von Komponenten und Baugruppen eines übergeordneten Systems zu überprüfen, können ebenfalls Prototypen eingesetzt werden. In diesem Fall ist es jedoch besonders angebracht, vollständige und möglichst weit fortgeschrittene Prototypen zu verwenden, da diese ein realistisches Abbild des späteren Produkts darstellen. Auch die Beantwortung der

374

10 Prototypen entwickeln und einsetzen

Fragestellungen zu Fertigungs-, Montage- und Handlingprozessen werden unter diesem Ziel zusammengefasst. Die Verwendung derartiger Prototypen fördert zudem die Koordination zwischen den an der Entwicklung beteiligten Abteilungen. Häufig ist es dabei sinnvoll, Montageversuche unter den realen Bedingungen der Serienproduktion durchzuführen. Dies impliziert nicht nur die Verwendung seriennaher Werkzeuge sondern insbesondere auch die Montage unter den Taktvorgaben der Serienproduktion. Im Versuch am Prototyp muss dann der Montagevorgang nicht nur einmalig sondern wiederholt beschwerdenfrei bei entsprechend häufiger Wiederholung möglich sein, um die Prozesse der Serienmontage zu erproben. 4. Meilensteine: Besonders in späteren Entwicklungsphasen kann die Verfügbarkeit funktionsfähiger Prototypen als Meilensteine und Fortschrittsindikator interpretiert werden. Der Prototyp stellt dabei ein Abbild des aktuellen Entwicklungsstandes dar, wodurch sich der Projektfortschritt erkennen und einschätzen lässt. Prototypen stellen damit greifbare Ziele dar, die in vielen Fällen vom Projektmanagement oder dem Kunden gefordert werden, bevor diese die Einwilligung zur Fortsetzung des Projektes erteilen. Einen bekannten Meilenstein in der Automobilindustrie stellen Vorserienfahrzeuge dar, die in weiten Teilen der Serie entsprechen und bereits im realen System, also auf der Straße, erprobt werden, vgl. [158, S. 75]. Derartige Erlkönige zeigt Abbildung 10.2 a-c; die Prototypen werden unter realen Bedingungen im späteren Einsatzgebiet getestet, die Vollverklebung dient der Tarnung, da dadurch die genauen Konturen des Fahrzeugs kaschiert werden. Kurz vor Verkaufsstart werden auch nicht verkaufsfähige Fahrzeuge nicht mehr getarnt, die Fahrzeuge sind dann optisch nicht mehr von der Serie zu differenzieren.

10.1.3 Vorteile und Grenzen des Einsatzes von Prototypen Der Einsatz von Prototypen im Entwicklungsprozess kann viele Vorteile bieten. Einige dieser Vorteile wurden bereits in den vorangegangenen Abschnitten angesprochen, sollen aber hier noch einmal genauer erläutert werden. Der Einsatz von Prototypen stößt allerdings stellenweise auch an Grenzen, die ebenfalls diskutiert werden. Prototypen bieten die Möglichkeit zur Visualisierung komplexer Geometrien, welche alleine durch Zeichnungen und Beschreibungen schwer zu begreifen sind. Zudem besteht die Möglichkeit, mit dem Prototyp in physischen Kontakt zu treten, wodurch ein besseres Gefühl für das zu entwickelnde Produkt erzielt wird. Abbildung 10.5 zeigt ein Beispiel eines nicht funktionalen Designmodells, das zur Beurteilung der Außengeometrie aus Holz als leicht zu bearbeitendem Werkstoff besteht; Tonmodelle sind hier Alternativen. Wird ein derartiges Mo-

10.1 Motivation und Ziel der Entwicklung von und mit Prototypen

375

Abb. 10.5 Entstehung eines nicht funktionalen Designmodells aus Holz zur Formbeurteilung

dell lackiert, so kann man die wichtigsten optischen Merkmale an diesem frühen Designmodell beurteilen. Der systematische Einsatz von Prototypen trägt also dazu bei, ein allgemeines Verständnis des Produktes und des angestrebten Ziels zu etablieren. Das Entwicklungsteam kann sich dadurch von komplizierten und komplexen Beschreibungen des technischen Systems lösen und Anforderungen direkt am realen oder auch am virtuellen Prototyp diskutieren. Diese Diskussionen fördern das Verständnis bezüglich der Klärung der Aufgabenstellung und ermöglichen eine vollständige Ermittlung der Anforderungen, vgl. [3, S. 413]. Durch Prototypen kann schnelles Feedback zu Ideen generiert werden und somit das Potential dieser Ideen evaluiert werden. Bei der Diskussion, ob neue Ideen umgesetzt werden, können Prototypen im weiteren Verlauf als Entscheidungshilfe dienen. Auch das Entdecken komplexer, zuvor nicht antizipierter Phänomene wird durch den Einsatz von Prototypen begünstigt. Der Einsatz von Prototypen im Entwicklungsprozess stellt somit ein probates Mittel zur Risikominimierung dar und bietet das Potential zur Kosten- und Zeitersparnis durch die Vermeidung von Fehlern bevor der Serienanlauf startet, vgl. auch Abbildung 4.4. Neben allen positiven Aspekten der Verwendung von Prototyen in den frühen Phasen der Entwicklung dürfen jedoch die Grenzen und Einschränkungen nicht außer Acht gelassen werden. So ist zu berücksichtigen, dass der Bau von Prototypen, besonders von physischen Prototypen, zunächst einen Zeitfaktor darstellt, welcher die Entwicklungszeit vorerst verlängert. Dies sollte beim Projektmanagement im Rahmen der Erarbeitung eines Zeitplans berücksichtigt werden, vgl. z. B. Abbildung 4.9. Außerdem verursachen Prototypen zunächst Kosten, wobei auch hier gilt, dass die entstehenden Ausgaben für den Prototypenbau im Vergleich zu den potentiellen Kosten durch zu spät entdeckte Fehler gering sind. Um Zeit und Aufwand gering zu halten, sollte daher darauf geachtet werden, dass Prototypen genau die Fragen beantworten, die gestellt wurden. Es ist beispielsweise nicht empfehlenswert, einen einfachen Funktionsträger bereits optisch und haptisch weit zu entwickeln, da hierdurch das Ergebnis der Tests be-

376

10 Prototypen entwickeln und einsetzen

Abb. 10.6 Geometrischer, maßstäblicher Prototyp eines Flugzeugs im Windkanal zur Beurteilung der Aerodynamik

einflusst werden kann. Bei einer anschließenden Diskussion besteht dann die Gefahr, sich in Details zu verlieren und nicht mehr die eigentliche Kernfrage zu beantworten. Ähnliches gilt für Prototypen, die als Meilensteine eingesetzt werden. Auch hier kann ein optisch weitentwickelter Prototyp den Eindruck eines besonders weit vorangeschrittenen Projekts vermitteln, obwohl dies nicht mit dem eigentlichen Projektstatus übereinstimmt, vgl. [66, S. 75]. Ein probates Mittel zur Vermeidung solcher Fehlinterpretationen sind daher maßstabsgerechte Modelle, die deutlich ihren modellhaften Anspruch zeigen. Ein typisches Beispiel sind Modelle zur Untersuchung der Aerodynamik wie in Abbildung 10.6, diese Prototypen werden meist größtenteils aus Ersatzwerkstoffen wie Holz oder Ton hergestellt oder aus dem Vollen gearbeitet, der Vergleich mit den im Bild Leuchten und Messeinrichtungen macht den Reduktionsmaßstab offensichtlich.

10.2 Charakterisierung und Klassifizierung von Prototypen Der Begriff des Prototyps ist äußerst umfassend und beinhaltet streng genommen jede Abbildung des zu entwickelnden Produkts. Da sich Prototypen jedoch in ihrer Ausprägung unterscheiden, bietet es sich an, diese näher zu charakterisieren und zu klassifizieren. Durch die genaue Beschreibung der verschiedenen Prototypenarten und -ausprägungen, können Missverständnisse in der Kommunikation reduziert werden. Zur Charakterisierung von Prototypen werden im Allgemeinen zwei Hauptmerkmale herangezogen. Zum einen handelt es sich dabei um die Unterscheidung zwischen physischen und virtuellen Prototypen und zum anderen um die Bewertung der Wiedergabetreue. Die Unterscheidung zwischen physischem und virtuellem Prototyp erscheint dabei zunächst trivial, jedoch stellt die Bewertung der

10.2 Charakterisierung und Klassifizierung von Prototypen

a)

377

b)

Abb. 10.7 Crashtest von Modellautos: a) Physischer Versuch mit zwei Modellautos, b) Chrashsimulation mit virtuellen Prototypen

Wiedergabetreue eine Herausforderung dar. Zur Klassifizierung von Prototypen können verschiedene, meist zweidimensionale Modelle verwendet werden, die im Folgenden kurz vorgestellt werden.

10.2.1 Physische, virtuelle und hybride Prototypen Bereits in frühen Phasen des Produktentwicklungsprozesses werden umfassend bewertbare Prototypen benötigt. Physische Prototypen bieten dabei den Vorteil, dass die Untersuchung der realen Eigenschaften des späteren Produkts überprüft werden können. Zur Herstellung von physischen Prototypen stehen additive Verfahren wie selektives Laserstrahlschmelzen (SLM – Selective Laser Melting) zur Verarbeitung von Metallen und Kunststoffen oder verschiedene Aufschmelzverfahren garnartiger Kunststoffe (FFF – Fused Filament Fabrication) oder aber konventionelle subtraktive Verfahren wie Fräsen und Drehen zur Verfügung. Physische Prototypen können in frühen Phasen auch aus vorhandenen Bauteilen und Baugruppen zusammengesetzt werden, um einen ersten Eindruck des Produkts zu erhalten. Die reine Herstellung physischer Prototypen stellt zunächst keinen allzu großen Zeitaufwand dar, jedoch ist eine nachträgliche Änderung oder das Einbringen von Anpassungen nur schwer bis gar nicht möglich, so dass für weiterführende Tests meist ein neuer Prototyp erstellt werden muss. Die Anpassungen bedeuten daher einen mitunter hohen Zeitaufwand und damit verbundene Kosten, wodurch sich ein möglicher Optimierungsansatz ergibt. Diese Optimierung findet über weite Strecken in Form von virtuellen Prototypen statt, die schnell die Untersuchung im Kleinen differenzierter Varianten erlaubt. Bei virtuellen Prototypen handelt es sich beispielsweise um Berechnungen, Simulationen und CAD-Modelle die rechnergestützt erstellt werden und nur im Computer existieren. In Abbildung 10.7 sind in Analogie zu Abbildung 5.7 eine Ansicht eines physischen Crashs von Modellfahrzeugen und eine Ansicht einer Crashsimulation mit virtuellen Prototypen der Modellfahrzeuge gezeigt. Das Verhalten des realen Modells kann anhand des Computermodells durch das Legen beliebiger Schnitte und das Ausblenden von Bauteilen deutlich detaillierter ana-

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a)

10 Prototypen entwickeln und einsetzen

b)

Abb. 10.8 Virtueller Prototyp einer drehmomentmessenden elastischen Klauenkupplung: a) CAD-Modell, b) Biegedeformation am FE-Modell mit symbolisierter Beanspruchung

lysiert werden als es mit Hochgeschwindigkeitskameras im Realversuch möglich ist. Abbildung 10.8 zeigt mit einem CAD-Modell und dem Ergebnis einer Strukturberechnung lastfreie und belastete virtuelle Prototypen einer mechatronischen elastischen Klauenkupplung. Das Konzept sieht die räumliche Integration eines Sensorelements mit definierter Geometrie und Steifigkeit in einem der Elastomerzähne vor. Mittels eines darauf applizierten Dehnmessstreifens kann auf das die Verformung verursachende Drehmoment zurückgeschlossen werden. Mit Hilfe des virtuellen Prototyps werden die auftretenden Spannungen und Dehnungen überprüft sowie die Maße des Sensorelements festgelegt, vgl. [198]. Das zu untersuchende Produkt wird bei der Erstellung virtueller Prototypen soweit für die Untersuchungen notwendig im Rechner modelliert und die Eigenschaften des virtuellen Prototyps werden mithilfe von Simulationen ermittelt. Werden Änderungen an diesem Modell notwendig, so sind diese innerhalb kurzer Zeit über die Änderung von Modellparametern durchführbar. Der Nachteil rein virtueller Prototypen ist jedoch, dass die Ergebnisse einer Simulation stark von den zuvor angenommenen Modellen und Berechnungsmethoden abhängen. Auch durch unvollständige oder inkorrekte Rand- und Umgebungsbedingungen können Abweichungen der Simulationen im Vergleich zum physischen Produkt auftreten. Zudem sollten virtuell erarbeitete Ergebnisse im Zweifelsfall durch den Vergleich mit physischen Modellen bzw. experimentellen Resultaten verifiziert werden. Ein physischer Prototyp zur Validierung des oben gezeigten virtuellen Prototyps der mechatronischen elastischen Klauenkupplung ist in Abbildung 10.9 dargestellt. Der Prototyp erlaubt den Nachweis bestimmter sensorischer Funktionen, kann aber aufgrund der losen Kabelführung noch nicht im drehenden System eingesetzt werden. Der Prototyp dient daher einerseits zur Veranschaulichung des Konzepts und andererseits zur Durchführung erster Funktionstests. Im frühen Stadium werden lediglich Versuche im nicht-rotierenden System durchgeführt, weshalb eine kabelgebundene Übertragung der Messsignale zulässig ist. Um die Vorteile physischer und virtueller Prototypen zu kombinieren und deren jeweilige Nachteile zu kompensieren, können hybride Prototypen eingesetzt werden. Mit Hilfe hybrider Prototypen können beispielsweise geplante Modifikationen an bereits bestehenden Produkten durch Überlagerung mit dem virtuel-

10.2 Charakterisierung und Klassifizierung von Prototypen

379

Abb. 10.9 Physischer Prototyp der drehmomentmessenden elastischen Klauenkupplung

Abb. 10.10 Schematischer Ablauf der Erstellung hybrider Prototypen auf Basis existierender physischer Prototypen (Nach [27])

len Modell verglichen werden. Anhand des virtuellen Modells können wiederum durch den Einsatz von Rapid Prototyping Verfahren physische Komponenten hergestellt werden, um so frühzeitig Aufschluss über die Eigenschaften des späteren Produkts zu erhalten. Der schematische Ablauf zur Erstellung eines hybriden Prototyps ist in Abbildung 10.10 gezeigt. Zu erkennen ist, dass hybride Prototypen nicht zwangsläufig im virtuellen Bereich beginnen und später in den physischen Bereich überführt werden. Es ist ebenso möglich, ein vorhandenes, physisches Produkt zu analysieren und eine virtuelle Visualisierung davon zu erstellen, anhand derer weitere Untersuchungen und Simulationen durchgeführt werden können, vgl. [27]. Zu den hybriden Prototypen zählen beispielsweise auch die sogenannten Hardware-in-the-Loop Systeme – kurz HiL – im Rahmen der X-in-the-Loop Methode vgl. [8, 174]. Bei Untersuchungen am HiL-Prüfstand werden zunächst Simulationen des Systems basierend auf analytischen Modellen durchgeführt, bis der Aufwand zur Modellierung zusätzlicher Subsysteme den erwarteten zusätzlichen

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10 Prototypen entwickeln und einsetzen

Wert des Modells überschreitet bzw. die Modellierung prohibitiv viel Zeit benötigt. Die nicht modellierten Subsysteme werden dann als physischer Teilprototyp ausgeführt. Die Schnittstelle zwischen dem virtuellen Teil des Systems und dem physischen Teilprototypen stellen Aktoren und Sensoren dar, die häufig unter dem Begriff Koppelsysteme subsummiert werden, vgl. [174]. Die Aktoren werden basierend auf den Berechnungen des virtuellen Systems angesteuert und das Verhalten des physischen Subsystems wird mittels Sensoren an das virtuelle System zurückgeführt. Gerade in Systemen mit komplexen Subsystemen, deren Komplexität aus der Interaktion mit Menschen resultiert, ist dieses Verfahren weit verbreitet, vgl. [8].

10.2.2 Unterschiedliche Wiedergabetreue und Klassifizierung Zur weiteren Spezifikation von Prototypen können diese anhand verschiedener Aspekte und Ausprägungen des Prototyps klassifiziert werden. Zur anschaulichen Darstellung dieser Klassifizierung werden zweidimensionale Koordinatensysteme verwendet. Als gängiges Merkmal zur Klassifizierung wird die Wiedergabetreue verwendet, [66]. Die Begriffe beschreiben den Detaillierungsgrad des Prototyps in Bezug auf das finale Produkt und geben an, wie genau der Prototyp die Eigenschaften des finalen Produkts wiedergibt. Die Wiedergabetreue ist besonders im Bereich der Kommunikation zu beachten, da diese die Interaktion zwischen den testenden Personen und dem Prototyp beeinflusst. Zum Test von Menüführungen in Softwareanwendungen können beispielsweise einfache Papierprototypen ausreichen, um den intuitiven Charakter der Menüführung zu überprüfen. Wird die Menüführung direkt am später verwendeten Eingabegerät, beispielsweise am Tablet, erprobt, so kann dies den Fokus der Tester von der eigentlichen Menüführung hin zur optischen Gestaltung des Menüs verschieben. Andere Prototypen verlangen jedoch nach einer hohen Wiedergabetreue. Dies ist beispielsweise bei geometrischen Modellen von Fahrzeugen der Fall, die zur aerodynamischen Untersuchung im Windkanal eingesetzt werden, Abbildung 10.6 zeigt ein ähnliches Beispiel aus der Luftfahrtindustrie. Zur Wiedergabetreue zählt jedoch auch die Größe eines Modells. Zwar sind die Kosten für das im Windkanal zu testende Geometriemodell kaum abhängig von dessen Größe, die Kosten für den benötigten Windkanal und dessen Betrieb sind es jedoch. Auch hier muss abgeschätzt werden, ob ein skaliertes Modell zunächst ausreichend ist und ob die Ergebnisse übertragbar sind. Der angestrebte Grad der Wiedergabetreue sollte daher stets an das Ziel des Prototyps angepasst und unter Berücksichtigung der Kosten ganzheitlich betrachtet werden. Ein weiteres Merkmal zur Klassifizierung ist der Umfang der durch den Prototyp abgebildeten Funktionen. Es wird unterschieden zwischen fokussierten Prototypen, welche nur einzelne Funktionen abbilden, und kompletten Prototypen, welche den vol-

10.2 Charakterisierung und Klassifizierung von Prototypen

381

Abb. 10.11 Unterscheidung von Prototypen in horizontale und vertikale Prototypen

len Funktionsumfang abbilden, vgl. [70]. Da die Herstellung von kompletten, physischen Prototypen meist mit hohen Kosten und hohem Zeitaufwand im Vergleich zu virtuellen Prototypen verbunden ist, hat es sich etabliert, Teilprototypen zu fertigen, die nur bestimmte Funktionen des finalen Produkts abbilden. Diese Prototypen werden besonders dann eingesetzt, wenn das Wissen über bestimmte Funktionen begrenzt ist und die virtuellen Modelle verifiziert werden müssen. Bezogen auf das Beispiel des Prototyps zur Untersuchung der Aerodynamik in Abbildung 10.6 bedeutet dies, dass es sich hierbei um einen fokussierten Prototyp handelt, der lediglich die aerodynamischen Eigenschaften im Versuchsmaßstab abbildet. Alle weiteren Funktionen des Flugzeugs können damit nicht untersucht werden, durch den Verzicht auf Vollständigkeit lassen sich aber deutliche Kosteneinsparungen erreichen. Dabei ist stets darauf zu achten, dass keine Bereiche vernachlässigt werden, die in Interaktion mit dem zu testenden Bereich stehen. Im Beispiel des Aerodynamik-Tests, vgl. Abbildung 10.6, ist es zur genauen Untersuchung der auftretenden Strömungen und Verwirbelungen daher notwendig, alle strömungsrelevanten Details für den Flugbetrieb abzubilden, obwohl die entsprechenden Funktionen am fokussierten, maßstäblichen Geometriemodell des Verkehrsflugzeugs im Windkanal nicht erprobt werden. Es ist hier offensichtlich, dass der Test eines kompletten Modells im Windkanal nicht möglich ist. Ähnlich zur Unterscheidung zwischen fokussierten und kompletten Prototypen, werden die Begriffe des horizontalen und vertikalen Prototyps verwendet, vgl. [66]. Horizontale Prototypen decken dabei ein breites Funktionsspektrum ab, wobei diese noch nicht sehr ausgereift sein müssen, wohingegen vertikale Prototypen lediglich einzelne Funktionen abbilden, die jedoch sehr weit entwickelt sind wie in Abbildung 10.11 gezeigt. Die Terminologie des horizontalen und vertikalen Prototyps wird hauptsächlich in der Softwareentwicklung eingesetzt. Ein fertiges User-Interface eines Multimediasystems, welches die Menüführung erlaubt kann als Beispiel eines horizontalen Prototyps dienen. Hierbei lässt sich beispielsweise die Navigation aus dem Menü anwählen, jedoch ist die eigent-

382

10 Prototypen entwickeln und einsetzen

Abb. 10.12 Klassifizierung von Prototypen in zwei Dimensionen am Beispiel der Entwicklung eines Wälzlagers. (Aufbauend auf [70])

liche Navigationsfunktion noch nicht implementiert. Ein vertikaler Prototyp in diesem Zusammenhang stellt die reine Implementation der Navigationsfunktion und Routenführung dar, ohne dass diese über ein fertiges User-Interface angewählt werden kann. Die Unterscheidung von horizontalen und vertikalen Prototypen kann man sich gut an einem Getriebesteuergerät im Hardware-in-the-Loop Test verdeutlichen: Mit diesem hybriden Prototyp kann man alle Softwarefunktionen des Getriebesteuergeräts im Sinne eines horizontalen Prototypen erproben, die Beschränkung nur auf das Getriebesteuergerät ohne Sensorik und Aktuatorik ist hingegen als vertikaler Prototyp einzustufen. Die Darstellung der Klassifikation von Prototypen kann auch als Kombination der in Abschnitt 10.2.1 eingeführten Unterscheidung virtueller und physischer Prototypen, sowie der Ausprägung des Funktionsumfangs erfolgen. Hierzu dient das in Abbildung 10.12 dargestellte Koordinatensystem. Als Beispiel sind verschiedene Prototypen eines Wälzlagers in das Koordinatensystem eingetragen: Die Dauererprobung findet am fertigen, physischen Produkt statt während in

10.2 Charakterisierung und Klassifizierung von Prototypen

383

Abb. 10.13 Frühes Konzeptmodell einer Federstegkupplung mit integriertem Sensorelement zur Messung des anliegenden Wellenversatzes

den frühen Stadien der Entwicklung für die Simulation der Wälzkörperdynamik mit fokussierten virtuellen Prototypen die Lagerringe zunächst noch als starr angenommen werden können und bei der Simulation der Kontaktgeometrie kann in vielen Fällen auf den Käfig verzichtet werden. Etwas später in der Entwicklung finden dann Komponententests mit verschiedenen physischen Prototypen statt, die als Beta- oder Gamma-Stand gemäß Tabelle 10.1 klassifizierbar sind, das Maschinenelement Wälzlager wird als vollständige Einheit betrachtet.

10.2.3 Unterscheidung verschiedener Prototypenarten Prototypen lassen sich auch anhand ihrer Art unterscheiden. Die Art des Prototyps impliziert dabei in vielen Fällen das Ziel der Durchführung der Untersuchungen mit dem Prototyp. Umgekehrt ergeben sich aus den vorgesehenen Simulationen und Versuchen direkt Anforderungen an die Prototypen. Um die Fülle an Prototypenarten auf ein handliches und verständliches Maß zu reduzieren, werden an dieser Stelle hauptsächlich die in der VDI-Richtlinie 3404 behandelten Prototypenarten erläutert, vgl. [222]. • Konzeptmodell / Konzeptprototyp: Diese Prototypen sollen ein möglichst frühes, dreidimensionales Abbild des späteren Produkts darstellen, anhand dessen das geplante Konzept erklärt und kommuniziert werden kann. Hierbei stehen besonders das Erscheinungsbild und die Visualisierung der Idee im Vordergrund. Andererseits sind das Material, die Beschaffung der Oberfläche und der Funktionsumfang weniger relevant. Die Prototypen sollen einfach, schnell und kostengünstig produzierbar sein, wobei eine hohe mechanische Belastbarkeit meist eine untergeordnete Rolle spielt. Konzeptmodelle dienen

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10 Prototypen entwickeln und einsetzen

als Anschauungsmodelle, mit Hilfe derer die Formgebung des Produkts vorangetrieben werden soll, beispielsweise durch Bewertung und Beurteilung der Designvarianten. Physische Modelle überzeugen hierbei im Vergleich zu virtuellen Modellen durch das haptische Feedback und die besser einschätzbare räumliche Tiefe. Um Vorteile von physischen und virtuellen Konzeptmodellen zu vereinen, kann die virtuelle Realität (VR) verwendet werden, insbesondere um z. B. Handhabungsprozesse virtuell zu erproben. Lediglich das haptische Feedback kann diese Simulation nicht ersetzen. Dafür lassen sich Änderungen mitunter direkt einpflegen, neu bewerten und beurteilen. Ein Beispiel zur Verdeutlichung der Idee einer sensorintegrierten Federstegkupplung ist in Abbildung 10.13 gezeigt, das Konzeptmodell dient als Anschauungsobjekt und zur Verdeutlichung der Idee mechatronischer Maschinenelemente. Anhand dieses Konzeptmodells wird die Idee deutlich, eine auf den Eigenschaften eines Maschinenelements basierende Sensorik in dieses zu integrieren. In diesem Konzept dient das auf der Kupplung montierte Sensorelement der Überwachung des Wellenversatzes im Betrieb und ermöglicht so die Überwachung des Gesamtsystems. Für den Konzeptprototyp ist das AnIntegrieren des Sensors zulässig. Für eine serientaugliche Lösung muss der Sensor ins Innere der Kupplung bauraumneutral integriert werden, um das Ziel eines sensorintegrierenden Maschinenelements zu erreichen, vgl. [224]. • Geometriemodell / Geometrieprototyp: Mit Geometrieprototypen werden geometrische Parameter, beispielsweise Maße, Formen, Lagen und Proportionen überprüft. Darüber hinaus lassen sich mit Geometrieprototypen auch Handlingprozesse überprüfen, beispielsweise um abzusichern, dass Kollisionen zwischen dem Produkt bzw. Werkstück und der Fertigungsstraße ausgeschlossen sind. Je nach Anwendungsgebiet können Geometrieprototypen mehr oder weniger stark vereinfacht werden. Es ist darauf zu achten, dass die zu überprüfenden Geometrien genau eingehalten werden, damit ein Rückschluss auf das finale Produkt möglich ist. Die Oberflächenqualität und die mechanische Belastbarkeit stehen dagegen im Hintergrund und müssen keine hohen Anforderungen erfüllen, das Material muss nicht dem Material des finalen Produkts entsprechen. Jedoch ist darauf zu achten, dass bei der Überprüfung von Toleranzen des finalen Produkts ein geeignetes Verfahren bereit steht, um die am Prototyp abgesicherten Toleranzen unter Serienbedingungen einzuhalten. Eine weitere Form des Geometrieprototyps stellt der Montageprototyp dar. Mit Hilfe dieses Prototyps kann die Zusammenarbeit zwischen Konstruktionsbereich und Arbeitsvorbereitung optimal erfolgen. Zur Erstellung des Montageplans wird der Prototyp gedanklich in eine Baustruktur und seine Einzelteile zerlegt und die zur Montage und falls notwendig Demontage benötigten Schritte geplant. An dieser Stelle ist es hilfreich, wenn der Montageprototyp bereits aus mehreren, zerlegbaren Geometrieprototypen besteht, vgl. [170]. • Funktionsmodell / Funktionsprototyp: Mit Funktionsprototypen werden einzelne oder mehrere Funktionen oder physikalische Eigenschaften getes-

10.2 Charakterisierung und Klassifizierung von Prototypen

385

Abb. 10.14 Verschiedene Prototypenarten im Entwicklungsprozess. Je nach Betrachtungsweise und Definition, können weitere Prototypenarten festgelegt werden. (In Anlehnung an [27], Erläuterungen zu VDID und NCG im Text)

tet. Für diese Prototypen ist es daher wichtig, dass die Material- und Belastungseigenschaften im Bereich der zu überprüfenden Funktionen denen des finalen Produktes entsprechen. Für die reine Funktionserfüllung sind dabei Eigenschaften, welche die äußere Erscheinung betreffen nicht relevant und können zur Einsparung von Kosten vernachlässigt werden. Die verwendeten Herstellverfahren und Materialien unterliegen höheren Ansprüchen und müssen mit denen des finalen Produkts vergleichbar sein und eine Übertragung der Ergebnisse zulassen. Bei der Belastbarkeit kann unterschieden werden, ob der Prototyp lediglich kurzzeitigen oder langzeitigen Belastungen standhalten muss, z. B. bei der Funktionsentwicklung bzw. Lebensdauerversuchen. • Technischer Prototyp: Der technische Prototyp stimmt in weiten Teilen mit dem finalen Produkt überein und wird in Form einer Vorserie zur Überprüfung des Produkts eingesetzt. Die Herstellprozesse stimmen weitestgehend mit den Serienprozessen überein, können jedoch in bestimmten Bereichen weiterhin abweichen, z. B. bei der automatischen Verkettung der Montage. Einen technischen Prototyp stellen beispielsweise Vorserien und seriennahe Testfahrzeuge (“Erlkönige”) wie in Abbildung 10.2 b-c dargestellt dar. • Finaler Prototyp: Der finale Prototyp entspricht dem geplanten finalen Serienprodukt mit allen Eigenschaften und dem vollen Funktionsumfang wie in Abbildung 10.2.d gezeigt. Lediglich Anpassungen in dessen Herstellprozess können erfolgen.

386

10 Prototypen entwickeln und einsetzen

In Abbildung 10.141 sind die einzelnen Prototypen über den Entwicklungsprozess aufgetragen, der Verein deutscher Industriedesigner (VDID) unterteilt die Prototypenarten weiter. Hierbei sollte jedoch beachtet werden, dass die zusätzlichen Prototypenarten auch in den zuvor beschriebenen Prototypen enthalten sind. Ergonomie- und Designmodelle beruhen beispielsweise hauptsächlich auf der Geometrie, weshalb diese auch unter dem Geometrieprototyp zusammengefasst werden können, wie es z. B. durch den “Verein zur Förderung und Verbreitung der CNC/CAD/CAM Kompetenzen e.V.” (NCG) gemacht wurde, vgl. [74]. Weiterhin ist anzumerken, dass die Darstellung auf einen streng sequenziellen bzw. linearen Verlauf der Entwicklung und des Einsatzes der Prototypen schließen lässt. Dies ist jedoch nicht zwangsläufig der Fall, da auch in späteren Entwicklungsphasen die anfänglich aufgelisteten Prototypen zum Einsatz kommen können. So können beispielsweise Geometrieprototypen in Form von Aerodynamikmodellen auch in späten Phasen eingesetzt werden, um die Form eines Fahrzeugs weiter zu optimieren. Hierbei muss jedoch stets beachtet werden, dass mit fortlaufendem Entwicklungsstand eine steigende Anzahl an Parametern festgeschrieben wird, die nachträglich nicht oder nur mit sehr großem Aufwand geändert werden können, vgl. Abbildung 4.2. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass in vielen Industriezweigen die verschiedenen physischen Prototypen nicht verkauft werden dürfen. Beispielsweise muss ein verkaufsfähiges Automobil nach der Produktionsfreigabe auf den entsprechenden Einrichtungen des Serienprodukts montiert werden. Ähnliches gilt auch für die Produkte aus anderen Industriezweigen.

10.3 Fertigungsverfahren und Auswirkungen der Fertigung von Prototypen Prototypen können mit unterschiedlichsten Verfahren hergestellt werden. Dabei sind besonders die sogenannten Rapid Prototyping Verfahren im Laufe der letzten Jahre stärker in den Vordergrund getreten, welche i.d.R. die Fertigung geometrisch repräsentativer Muster ohne formgebende Werkzeuge ermöglichen. In diesem Abschnitt werden daher die verschiedenen anwendbaren Verfahren zur Erstellung von physischen Prototypen näher erläutert und hinsichtlich ihrer Eignung zur Erstellung verschiedener Prototypen diskutiert. Dazu werden zunächst allgemeine Möglichkeiten zur Herstellung von Prototypen und darauffolgend speziell additive Verfahren beschrieben. Der Begriff Rapid Prototyping verweist auf die Möglichkeit, Prototypen – verglichen mit dem Zeitaufwand für konventionelle Verfahren wie Fräsen oder Drehen – in relativ kurzer Zeit zu fertigen. Besonders additive Verfahren stehen hierbei 1

Ein Designmodell kann erst aufgebaut werden, wenn ab etwa Mitte der Konzeptphase eine ungefähre Idee vom Aussehen des späteren Produkts vorliegt, alle anderen Modelle können prinzipiell auch früher oder später eingesetzt werden.

10.3 Fertigungsverfahren und ihre Auswirkungen

387

Abb. 10.15 Überblick über den zu erwartenden Aufwand bei der Verwendung verschiedener Fertigungsverfahren zur Herstellung von Prototypen (Aus [131])

im Vordergrund, allerdings können auch konventionelle Verfahren für die schnelle Fertigung von Prototypen eingesetzt werden, z. B. Feinguss. Abbildung 10.15 gibt über die Komplexitätsdimensionen einen Überblick über den zu erwartenden Aufwand verschiedener Fertigungsverfahren und eine Empfehlung, welcher Prototyp mit welchem Fertigungsverfahren hergestellt werden kann, vgl. [131]. Als additive Verfahren werden nach [92, 222] solche bezeichnet, bei denen das Werkstück durch das sequentielle Aneinanderfügen von Volumenelementen entsteht, i.d.R. in einem Schichtaufbau. Die Voraussetzung für diese Art von Fertigungsverfahren sind ein vollständiges CAD-Volumenmodell und eine rechnergestützte Schnitterstellung. In Abbildung 10.16 ist der prinzipielle Ablauf der Werkstückherstellung mittels additiver Verfahren dargestellt. Die rechnergestützte Schnitterstellung – das sogenannte Slicing – unterteilt das zu fertigende Werkstück in für das jeweils gewählte Fertigungsverfahren sinnvolle Volumenmodelle. Es unterstützt zudem in der Entscheidung, in welcher Lage das Werkstück hergestellt werden kann, da beispielsweise Überhänge oft nicht ohne weitere Vorkehrungen hergestellt werden können. Die verschiedenen additiven Verfahren unterscheiden sich in den verwendbaren Materialien, der Art der Verbindung der verschiedenen Schichten und der benötigten Geometrie der erstellten Schnittdarstellung, vgl. z. B. [147, 222]. Häufig ist es sinnvoll, im Rahmen des Rapid Prototyping konventionelle (subtraktive) und additive Verfahren im Einsatz zu kombinieren, man spricht dann auch von hybrider Fertigung. Der Vorteil der hybriden Fertigung liegt darin, dass auch eine größere Anzahl an Prototypen in kurzer Zeit hergestellt werden kann, beispielsweise wenn eine ausreichende, statistisch relevante Menge an Lebensdauerversuchen durchgeführt werden muss. Hierbei muss im Vorfeld beachtet wer-

388

10 Prototypen entwickeln und einsetzen

Abb. 10.16 Schematischer Ablauf des Rapid Prototypings ausgehend vom CAD-Modell (In Anlehnung an [98])

Abb. 10.17 Überblick über mögliche Zeitersparnis der Prototypenherstellung mittels Feinguss beim Einsatz rechnergestützter Modellierung und additiver Verfahren. (In Anlehnung an [74])

den, ab welcher Anzahl an benötigten Prototypen sich die hybride Fertigung im Vergleich zur additiven rechnet. Am Beispiel des Feingusses in Abbildung 10.17 wird verdeutlicht, wie additive Verfahren die konventionelle Fertigung unterstützen können und somit den Zeitaufwand deutlich reduzieren, vgl. [74]. Beim konventionellen Feinguss wird zunächst das Modell hergestellt, das zum Schalenaufbau verwendet wird, das Modell sollte dabei der Geometrie des Prototyps bestmöglich entsprechen, um anfallende Nacharbeiten zu reduzieren. Mit Hilfe der angefertigten Schale kann nun der Prototyp gegossen werden. Den letzten Schritt bildet die Nachbearbeitung, bei der beispielsweise Grate entfernt, Oberflächen bearbeitet oder Stützstrukturen entfernt werden können. Die erste Möglichkeit der Zeitersparnis durch additive Verfahren bildet nun die Modellherstellung, wenn das Modell zuvor per Hand erstellt wurde. Die nachgelagerten Prozessschritte bleiben vom Ablauf und Zeitbedarf identisch. Die weitere

10.3 Fertigungsverfahren und ihre Auswirkungen

389

Abb. 10.18 Beispiele einer Komponente, die mit verschiedenen Herstellverfahren und Materialien erstellt wurde

Reduktion des Zeitaufwands ergibt sich durch die Herstellung der Schale mittels additiver Verfahren. Hier kann auf die Erstellung eines physischen Modells gänzlich verzichtet werden, da dieses nicht mehr zur Erstellung der Schale benötigt wird. Mittels 3D-CAD wird die benötigte Schale konstruiert und wie in Abbildung 10.16 bereits dargestellt additiv erstellt. Das Gießen und die Nachbearbeitung bleiben auch hier identisch zu den vorhergehenden Prozessen, die gesamte Zeitersparnis ist jedoch deutlich. Aufgrund der Vielfalt additiver Fertigungsverfahren – Abbildung 10.18 zeigt den gleichen Prototyp hergestellt mit unterschiedlichen Materialien und Verfahren aber mit identischer Gestalt – und der weiterhin fortschreitenden Entwicklung der Fertigungsverfahren zur Herstellung von Prototypen ist eine pauschale Aussage zum idealen Fertigungsverfahren im Prototypenbau nicht möglich. Vielmehr müssen für jeden Prototyp Anforderungen ermittelt und definiert werden und den durch die verschiedenen Fertigungsverfahren erreichbaren Eigenschaften gegenübergestellt werden. Der Verwendungszweck des Prototyps muss daher im Vorfeld formuliert werden, da sich je nach angestrebter Funktion die daraus resultierenden Anforderungen unterscheiden. Abhängig von den Anforderungen, z. B. in den Bereichen Material (Werkstoffeigenschaften), Genauigkeit (Auflösung) und Oberflächenbeschaffenheit (Rauheiten), werden die verwendbaren Fertigungsverfahren eingegrenzt. Tabelle 10.2 gibt einen Überblick über die mit einigen Fertigungsverfahren erreichbaren Eigenschaften.

Tabelle 10.2 Auswahl verschiedener Rapid Prototyping Verfahren. Die angegebenen Werte sind als Richtwerte aufzufassen, da es je nach Herstellgeschwindigkeit, verwendetem Material und anderer Faktoren zu Abweichungen kommen kann. Verfahren

Material Schichtdicke Oberfläche Belastbarkeit Kosten

Selektives Lasersintern Stereolithographie Polygraphie Fused Deposition Modeling Selektives Laserschmelzen

Kunststoff Kunststoff Kunststoff Kunststoff Metall

≈ 0,1 mm ≈ 0,025 mm ≈ 0,03 mm ≈ 0,25 mm ≈ 0,02 mm

Gering Sehr hoch Hoch Gering Gering

Hoch Gering Gering Mittel Sehr hoch

Gering Hoch Mittel Gering Sehr hoch

390

10 Prototypen entwickeln und einsetzen

Abb. 10.19 Schematischer Anstieg der Kosten eines Entwicklungsprojekts (Nach [27])

Darüber hinaus sind neben den fertigungstechnischen Aspekten auch wirtschaftliche Gesichtspunkte und Rahmenbedingungen sowie die zur Verfügung stehende Zeit zu beachten. Beispiele dieser Rahmenbedingungen sind: • • • • • •

Investitionskosten, Kosten für Zusatzausrüstung, Höhe der Abschreibungen, Kosten für Rohmaterial, Kosten für Instandhaltung/Wartung, Personal- und Weiterbildungskosten (Schulungen).

10.4 Entwickeln mit Prototypen Prototypen und ihre Nutzung stellen einen essentiellen Teil des Produktentwicklungsprozesses dar. In diesem Abschnitt wird auf die Möglichkeiten eingegangen, wie die Entwicklung durch Prototypen beschleunigt werden kann und wie im Entwicklungsprozess getroffene Annahmen unter Verwendung von Prototypen abgesichert werden können. Das Thema der Kostenentwicklung muss auch hierbei betrachtet werden, da mit fortschreitendem Prototypenstatus deren Kosten steigen, wie Abbildung 10.19 schematisch verdeutlicht. Die Erstellung vollständiger Prototypen ist meist mit hohen Kosten verbunden. Mit zunehmendem Reifegrad der Entwicklung und der steigenden Verfügbarkeit von seriennahen Werkzeugen nehmen dann die Kosten für Prototypen bzw. Versuchsteile bei steigender Funktionalität auch wieder stark ab, weil zunehmend Fertigungseinrichtungen für die Serie genutzt werden können. Teils können sogar die Serienanlagen für die Fertigung durch die Produktion von Prototypen eingerichtet, erprobt und optimiert werden. Bei der Entwicklung von und mit Prototypen muss immer das geplante finale Produkt berücksichtigt werden. Einen Einfluss auf die Auswahl des geeigneten Prototyps stellt auch die geplante Stückzahl des finalen Produkts dar. Abbildung 10.20 veranschaulicht, inwiefern sich die Prototypen anhand der

10.4 Entwickeln mit Prototypen

391

Abb. 10.20 Unterschiedliche Arten und Anzahlen von Prototypen basierend auf der Stückzahl des finalen Produkts. Hohe Stückzahlen des finalen Produkts gehen dabei auch mit einer hohen Anzahl an Prototypen einher. (In Anlehnung an [170])

Stückzahl verändern. Grundlage dieser Überlegung ist, dass beispielsweise im Großmaschinen- und Anlagenbau, wobei es sich meist um Einzelanfertigungen handelt, die Entwicklung eines kompletten Prototyps der Anlage einen zu hohen Kosten- und Zeitfaktor darstellt. Hier ist es daher üblich, dass vorhandene Maschinen mit prototypischen Bauteilen ausgestattet werden und anhand dieser funktionale Tests durchgeführt werden. Bei Kleinserien ist es dagegen möglich, auch einen kompletten Prototyp in Form eines Funktionsmusters zu erstellen, der für die Absicherung des finalen Produkts eingesetzt wird. In der Großserienproduktion sind schließlich auch ganze Serien kompletter Prototypen denkbar in Form von Null- oder Vorserien, vgl. auch Abbildung 10.20 und [170].

10.4.1 Reifegrad und Lebenslauf von Prototypen Prototypen können im Produktentwicklungsprozess neben der Absicherung von bestimmten Funktionen und Eigenschaften des finalen Produkts auch zur Einschätzung des Reifegrads des Produkts und im gleichen Sinne als Fortschrittsindikatoren des Entwicklungsprozesses eingesetzt werden. Abbildung 10.21 veranschaulicht graphisch, wie sich der Reifegrad des Produkts mit der fortschreitenden Entwicklung der verfügbaren und eingesetzten Prototypen kontinuierlich verbessert. Die Entwicklung eines Prototyps setzt sich hierbei auf jeder Reifegradstufe bzw. in jeder Bauphase jeweils aus einer deterministisch-normativen Phase und einer empirisch-adaptiven Phase zusammen. Die deterministisch-normative Phase beinhaltet dabei die Prozesse zur Planung des angestrebten Prototyps, wohingegen die empirisch-adaptive Phase den Aufbau des Prototyps einschließlich notwendiger Modifikationen an den Kom-

392

10 Prototypen entwickeln und einsetzen

Abb. 10.21 Reifegrad des Produktes bezogen auf die eingesetzten Prototypenarten. (In Anlehnung an [199, S. 488])

ponenten für eine prinzipielle Montierbarkeit und die Durchführung der zuvor geplanten Tests umfasst. In jeder Prototypenphase werden die durch die Tests erzielten Ergebnisse in einem interdisziplinären Team diskutiert. Aus den Ergebnissen dieser Analyse können wiederum Eingangsgrößen und Anforderungen für die folgenden Prototypen abgeleitet werden. Sollte der Prototyp noch nicht die gewünschten Ergebnisse geliefert haben, kann die Prototypenphase wiederholt werden. Zu beachten ist auch in diesem Modell, dass der im Diagramm vermittelte Eindruck einer streng linearen und sequenziellen Entwicklung nicht zwangsläufig eingehalten werden muss, [199]. Eine weitere Art, den Reifegrad von Prototypen und Produkten zu beschreiben und einzuschätzen, ist durch die Verwendung von Prototypen als Meilensteine. Auch hier kann Abbildung 10.21 herangezogen werden, um den Sachverhalt zu verdeutlichen. Als Meilenstein kann in diesem Fall bzw. Beispiel die Erstellung eines geometrischen Prototyps definiert sein. Mit der Erstellung dieses Prototyps ist ein detailliert beschriebener Projektfortschritt verbunden. Dieser Meilenstein kann also erst erfüllt werden, wenn innerhalb des Projekts die Grundlagen zur Erstellung des geometrischen Prototyps erfüllt sind, beispielsweise wenn die erforderlichen bauraumdefinierenden Längen und Maße bekannt sind. Als erfüllt gilt der Meilenstein dann, wenn die am Prototyp durchgeführten Tests ein positi-

10.4 Entwickeln mit Prototypen

393

ves Ergebnis nach sich ziehen und wenn die notwendigen Modifikationen für die Montierbarkeit und Funktionsfähigkeit nicht nur umgesetzt, sondern auch dokumentiert sind. Werden also Phänomene und Probleme erkannt, die zuvor nicht kalkuliert wurden, müssen Änderungen am Prototyp vorgenommen werden und neue Tests durchgeführt werden. Bei positivem Testverlauf können die relevanten Eigenschaften des Prototyps festgeschrieben werden und im weiteren Verlauf des Projekts als bekannt vorausgesetzt werden. Im Falle des Geometrieprototyps bedeutet dies beispielsweise, dass bauraumbestimmende Längen für den weiteren Projektfortschritt als gegeben angesehen werden und als Rahmenbedingungen gelten, vgl. [199]. Der zur Verifikation von Abhilfemaßnahmen eingesetzte Prototyp kann dabei im Sinne von Abbildung 10.12 sowohl physischer als auch virtueller Art sein. Wichtig ist, dass die Versuchsbedingungen bei der Fehlerentdeckung und der Bestätigung der Abhilfemaßnahmen vergleichbar sind. Der Lebenslauf eines Prototyps ist eng mit dessen Reifegrad verknüpft. Prinzipiell lassen sich hierbei jedoch zwei Varianten prototypischer Lebensläufe unterscheiden. Auf der einen Seite stehen dabei Wegwerfprototypen, die lediglich für den geplanten Test genutzt werden und anschließend entsorgt werden und auf der anderen Seite stehen evolutionäre Prototypen, die stets weiterentwickelt werden und für weitere Tests zur Verfügung stehen. Die beschriebenen und dargestellten Prototypen aus Abbildung 10.21 stellen dabei eine Verkettung von Wegwerfprototypen dar. Dabei wird jeder Prototyp genau für den Zweck entwickelt und aufgebaut, der im folgenden Test – bei komplexeren Produkten auch einer ganzen Testreihe – überprüft werden soll. Die mit dem Prototyp und den durchgeführten Tests ermittelten Ergebnisse fließen dann in die weitere Entwicklung des Produkts und folgender Prototypen ein. Für weitere Tests wird dann ein neuer, genau auf die dann zu überprüfenden Aspekte zugeschnittener Prototyp erstellt. Diese Art von Prototypen wird hauptsächlich zur Ermittlung weiterer Anforderungen an das Produkt und zur Beantwortung spezieller Fragestellungen eingesetzt, vgl. [199]. Es ist meist wirtschaftlich, dass einzelne Funktionstests nach Möglichkeit mit fokussierten Prototypen durchgeführt werden und dass mit zunehmendem Versuchsumfang im Lebenslauf eines Prototyps auch dessen Vollständigkeit stetig zunimmt. Da evolutionäre Prototypen stets weiterentwickelt werden, ist das Kostenrisiko auch bei physischen Prototypen vergleichsweise gering. Weil durch den wiederholten Aufbau eigenständiger Prototypen ein hohes Kostenrisiko entsteht, werden evolutionäre Prototypen bevorzugt im virtuellen Bereich und der Softwareentwicklung eingesetzt. Abbildung 10.22 zeigt den schematischen Ablauf der Entwicklung unter Zuhilfenahme eines evolutionären Prototyps. Ausgehend von einem initialen Konzept wird ein erster Prototyp aufgebaut und getestet. Im Laufe der Tests können dann einzelne Komponenten ausgetauscht und die Veränderungen beobachtet werden. Dies kann solange erfolgen, bis der Prototyp den finalen Status in dieser Entwicklungsphase erreicht hat. Am Beispiel des Geometrieprototyps bedeutet dies beispielsweise, dass ein Tonmodell zum Test des Designs wie in Abbildung 10.5 solange angepasst wird, bis die designtechnischen

394

10 Prototypen entwickeln und einsetzen

Abb. 10.22 Schematische Vorgehensweise zur Erstellung evolutionärer Prototypen

Ziele, zum Beispiel Ausdruck von Sportlichkeit und Eleganz, erreicht sind. Für Prototypen in späteren Phasen, beispielsweise komplette technische Prototypen eines Fahrzeugs wie in Abbildung 10.2.d, ist es notwendig, dass gewisse Schnittstellen bereits finalisiert sind, sodass sich einzelne Komponenten am Prototyp austauschen lassen. Die Abhängigkeit evolutionärer Prototypen vom Vorhandensein einer finalisierten Basis birgt das Risiko, dass bereits falsche Entscheidungen getroffen wurden, die zum negativen Ausgang der prototypischen Versuche führen. Generell ist daher zu sagen, dass sich evolutionäre Prototypen besonders in späten Entwicklungsphasen eignen, da hier bereits hohe Kosten in den Prototyp investiert werden müssen. Wegwerfprototypen, die für einzelne oder wenige gleichartige Versuche konzipiert sind, sollten auf der anderen Seite eher in frühen Phasen des Entwicklungsprozesses eingesetzt werden in Form einfacher Funktionsmuster, da diese kaum Kosten verursachen und speziell auf eine Fragestellung hin entwickelt werden können, vgl. [21].

10.4.2 Entwicklung von Prototypen Um den Stellenwert der Prototypenentwicklung weiter in den Vordergrund zu stellen und um die eigentliche Entwicklung der Prototypen zu fördern, ist es hilfreich, die Prototypenentwicklung nicht nur als Mittel zum Zweck anzusehen, sondern die eigentliche Entwicklung der Prototypen in den Fokus zu stellen. Prototypen sind mehr als nur ein Werkzeug der Produktentwicklung, einen Ansatz dazu stellt das Modell der abgestimmten Prototypen-, Produkt- und Prozessentwicklung dar. Dieses Modell, das in Abbildung 10.23 dargestellt ist, beruht auf dem Modell der ganzheitlichen Produkt- und Prozessentwicklung, vgl. Abbildung 3.13. Im Modell werden mit Fokus auf den Prototypen die Prozesskette der Produktentwicklung, beginnend bei der Aufgabe und bestehend aus den Teilaufgaben Klären der Aufgabenstellung, Konzipieren, Entwerfen und Ausarbeiten und die Prozesskette des prototypischen Lebenslaufs miteinander verknüpft, um zu einem auf den speziellen Zweck hin entwickelten Prototypen zu gelangen.

10.4 Entwickeln mit Prototypen

395

Abb. 10.23 Das Modell der abgestimmten Prototypen-, Produkt- und Prozessentwicklung fasst den Prototyp als eigenständiges Produkt auf, welches ebenfalls definierten Anforderungen unterliegt. (In Anlehnung an [33] und nach [198])

Der prototypische Lebenslauf besteht im Modell in Abbildung 10.23 aus den Teilprozessen Werkstoffherstellung, Bauteilproduktion, Montage, Recycling sowie der Nutzungsphase des Prototyps, welche der Testphase entspricht. Im Modell werden zudem die Einflüsse des Entwicklers auf den Prototypenlebenslauf aber auch die Einflüsse des Lebenslaufs auf den Prototypen dargestellt, welche der Entwickler beachten muss. Der Entwickler hat somit einerseits die Möglichkeit, innerhalb der Entwicklung die Prozesse des Lebenslaufs zu beeinflussen, beispielsweise durch die Wahl des Materials und der Fertigungsverfahren, muss allerdings auch antizipieren, also vorhersehen, welche Folgen aus dem Lebenslauf in der Entwicklung berücksichtigt werden. Hierbei müssen beispielsweise das Verhalten des Nutzers oder fertigungsinduzierte Eigenschaften berücksichtigt werden. Da der Einsatz von Prototypen im Entwicklungsprozess meist einen iterativen Charakter hat, der eine Reihe von Prototypen oder sogar Generationen von Prototypen umfasst, müssen die durch die Prototypen gewonnenen Informationen auch im Modell dargestellt werden, um die Gründe für den Einsatz von Prototypen berücksichtigen zu können. In den allermeisten Fällen steckt hinter der Entwicklung und dem Einsatz von Prototypen ein Informationsdefizit. Um den Einsatz von Prototypen so effektiv und effizient wie möglich zu gestalten, ist es essentiell, den Prototyp auf das angestrebte Ziel hin zu entwickeln. Durch die Ermittlung und Definition spezieller Anforderungen an den Prototyp, kann dieser optimal entwickelt werden wodurch das gewonnene Wissen steigt. Bei der Ermittlung der Anforderungen an den Prototyp ist es zunächst essentiell zu verstehen und zu verinnerlichen, dass diese Anforderungen nicht gleichzu-

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10 Prototypen entwickeln und einsetzen

a)

b) Abb. 10.24 Früher Prototyp (a) und serienreifer Stand (b) eines elektrischen Achsantriebs

setzten sind mit den Anforderungen an das finale Produkt. Am einfachsten lässt sich dies daran festmachen, dass ein Prototyp nicht zwangsläufig alle Funktionen des finalen Produkts beinhalten muss und daher auch nicht alle Anforderungen an das finale Produkt erfüllen wird. Auch wenn eine bestimmte Funktion prototypisch getestet wird, muss der verwendete Prototyp nicht alle Anforderungen des finalen Produkts bezüglich der entsprechenden Funktion erfüllen, beispielsweise im Bereich der Lebensdauer und dem Verhalten bei wiederholten Tests. Neben Anforderungen, welche der Prototyp nicht vom finalen Produkt übernehmen muss kann dieser Anforderungen unterliegen, denen das finale Produkt nicht unterliegt. Diesem Bereich ist beispielsweise das Vorhandensein umfangreicher Sensorik zuzuordnen, die lediglich für die durchzuführenden Tests benötigt wird. Abbildung 10.24 zeigt ein Beispiel eines elektrischen Fahrzeugantriebs. Der frühe Prototyp wurde aus einfach realisierbaren und einfach montierbaren Komponenten aufgebaut, während der intendierte Serienstand durch gezielte Optimierung

10.4 Entwickeln mit Prototypen

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von Gestalt und Fertigung auf eine höhere Leistungsdichte führt. Darüber hinaus können Anforderungen aus angestrebten Meilensteinen und firmenspezifischen Vorgaben, beispielsweise für den Prototyp zu verwendende Fertigungsverfahren oder Fertigung mit seriennahen Werkzeugen, resultieren. Häufig wird bei Prototypen auch die Zerlegbarkeit in einzelne Komponenten höher bewertet als bei Serienprodukten, welche in vielen Fällen im Feld nicht zerlegt werden, sondern zur Reparatur in speziell geschulte Werkstätten geschickt werden. Anforderungen an Prototypen lassen sich daher in zwei Gruppen unterteilen. Die erste Gruppe bilden übergeordnete Anforderungen, die beispielsweise auf den Gegebenheiten der Testumgebung basieren sowie den zur Verfügung stehenden materiellen und personellen Ressourcen. Diese Anforderungen sind weder prototypnoch produktspezifisch und können daher auf Prototypen ähnlicher Produkte übertragen werden. Die Anforderungen resultieren beispielsweise aus den Gegebenheiten des Unternehmens in Bezug auf verfügbare Testumgebung und einzuhaltende Richtlinien sowie die üblichen Temperaturen der Testumgebung. Auch werden hierdurch Rahmenbedingungen in Bezug auf verfügbare Ressourcen in Form von Materialien, Fertigungsprozessen und Budget festgelegt. Außerdem sollte die Gruppe der Tester und deren Einfluss auf die Tests in den Anforderungen an den Prototyp berücksichtigt werden. So können optisch und designtechnisch weit ausgereifte Prototypen, die als Funktionsmuster dienen sollten, den Eindruck erwecken, dass der Projektfortschritt bereits weiter ist als es der Realität entspricht. Auch kann dadurch der Fokus der Diskussion auf kleine Detailänderungen fallen, anstatt auf eine Überprüfung der eigentlichen Funktionalität. In Tabelle 10.1 sind einige Anforderungen dargestellt, die typisch an Prototypen in den verschiedenen Stadien gestellt werden. Physische Prototypen werden zunehmend erst im späten Stadium der Entwicklung eingesetzt. Die Konzeptfindung ist bereits vollständig abgeschlossen und die Gestalt des Produkts kann auch nur noch für Beta-Prototypen in Grenzen geändert werden. Bei den Gamma-Teilen sind die Werkzeuge für die Serienfertigung bereits gehärtet, Änderungen sind nur noch mit sehr großem Aufwand möglich, vgl. Abbildung 4.4. Die zweite Gruppe an Anforderungen an Prototypen bilden spezielle Anforderungen, die direkt vom finalen Produkt abgeleitet werden. Da diese Anforderungen produktspezifisch sind, ändern sie sich für die Prototypen eines neuen Produktes bzw. einer neuen Produktgeneration. Der Entwickler muss also für die einzelnen Anforderungen abschätzen, inwieweit diese auch vom Prototyp des finalen Produkts erfüllt werden müssen. Dabei muss der Prototyp wie bereits beschrieben einerseits nur einen Teil der Anforderungen erfüllen und kann andererseits einige Anforderungen in abgewandelter Form erfüllen. Der Entwickler muss sich hierbei die Frage stellen, welche Eigenschaften und Aspekte des finalen Produkts kritisch für dessen Erfolg sind und im aktuellen Stadium der Entwicklung mit einem Prototyp abgesichert werden können und müssen. Aus dieser Überlegung können Anforderungen abgeleitet werden, die zu einem fokussierten Prototyp führen. Bezüglich der Anforderungen, die sich im Vergleich zu den Anforderungen an das finale Produkt ändern, gibt Abbildung 10.25 Anhaltspunkte, welche

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10 Prototypen entwickeln und einsetzen

Abb. 10.25 Unterschiedliche Anforderungen an verschiedene Prototypen in verschiedenen Entwicklungsphasen eines Produktbeispiels. Je nach Prototypenart werden zudem Empfehlungen zu verwendbaren Fertigungsverfahren und Materialien gegeben. (Aus [74])

Anforderungen sich typischerweise unterscheiden. Die exakten, zahlenmäßigen Unterschiede sind dann vom Entwickler festzulegen. Abbildung 10.25 zeigt zudem am Beispiel eines Haartrockners, wie sich Anforderungen an verschiedene Prototypen in unterschiedlichen Entwicklungsphasen unterscheiden, vgl. [74]. Prinzipiell sind dabei die gleichen Gedanken wie für die verschiedenen Baustufen der Prototypen feststellbar wie in Tabelle 10.1.

10.4.3 Produktvalidierung mit Prototypen Unter dem Begriff der Validierung wird das Sicherstellen der Umsetzung der richtigen Ziele verstanden. Virtuelle und physische Prototypen werden dabei gezielt eingesetzt um das relevante Systemverhalten abzubilden, vgl. Definition 4. Im Vergleich zur Verifikation, die als eine objektive Prüfung der Erfüllung spezifizierter Produkteigenschaften verstanden werden kann, wird im Rahmen der Validierung überprüft, ob ein Nutzer die angestrebten Ziele im vorgesehenen Kontext mit dem Produkt erreicht, vgl. [4] und Definition 3. Eng verbunden mit der Eignung eines Produkts, die vom Anwender geforderten Eigenschaften zu erreichen, steht die Produktqualität beziehungsweise die Qua-

10.4 Entwickeln mit Prototypen

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Abb. 10.26 Modell zur Prognose der Produktqualität bereits in frühen Phasen der Produktentwicklung. (Nach [27])

lität der Entwicklung, vgl. Kapitel 6. In diesem Kontext wird die Validierung als eine Überprüfung der erreichten, beziehungsweise erreichbaren Produktqualität aufgefasst und kann über das Modell in Abbildung 10.26 dargestellt werden, vgl. [27]. Eine definitive Aussage über die erreichbare Produktqualität kann in frühen Phasen, in denen die Einflussmöglichkeiten noch besonders hoch sind, nur schwer getroffen werden, da entscheidende Faktoren in einem komplexen Verhältnis zueinander stehen bzw. noch nicht festgelegt sind. Mittels Validierung kann jedoch eine Prognose der erreichbaren Produktqualität aufgestellt werden, welche die frühzeitige Erkennung von potentiellen Fehlentwicklungen erlaubt. Diese Prognose wird anhand der folgenden vier Wissensklassen durchgeführt, die Einfluss auf die Qualität des finalen Produkts haben, vgl. Abbildung 10.26: • • • •

Qualität der Zusammenarbeit im Entwicklungsnetzwerk, Prognosefähigkeit der Prototypen, Technisches Entwicklungsrisiko, Prozessfähigkeit der Prototypenherstellverfahren.

Mit Hilfe dieser Kategorien werden daher die Risiken der aktuellen Entwicklung basierend auf dem Vorwissen aus vergangenen Projekten sowie das Wissen über Prototypen und die dazugehörigen Fertigungsverfahren einbezogen. Innerhalb der Wissensklassen können verschiedene Punkte zur Prognose herangezogen werden. So hängt die Prognosefähigkeit des Prototyps beispielsweise von

400

10 Prototypen entwickeln und einsetzen

Abb. 10.27 Ampelmodell zur Bewertung des Reifegrads des Prototyps (Aus [199])

den bisher gesammelten Erfahrungen mit Prototypen aber auch von deren charakteristischen Eigenschaften wie Oberflächenbeschaffenheit und Belastbarkeit ab. Im Verlauf der Entwicklung kann das Modell, beziehungsweise die untergeordneten Ebenen, stetig weiter verfeinert werden. Somit ist bereits früh im Entwicklungsprozess eine Aussage über die Validität und Qualität des Produkts möglich, die mit fortschreitendem Entwicklungsprozess und damit einhergehender Verfeinerung des Modells stets genauer wird. Einen Ansatz zur Validierung des finalen Produkts sowie einer Einschätzung dessen Reifegrads unter Zuhilfenahme von Prototypen bietet das Ampelmodel in Abbildung 10.27, vgl. auch Abschnitt 4.3.3 und insbesondere Abbildung 4.23. Bei der Verwendung dieses Modells ist die Beteiligung verschiedener Abteilungen anzustreben, um eine interdisziplinäre Bewertung der einzelnen Punkte zu erhalten. Dem Ampelmodell liegen Fragestellungen bezüglich der zu erreichenden Bedingungen zu Grunde, welche dann in Form eines Audits durch die entsprechenden Abteilungen beantwortet werden. Hierbei haben die Abteilungen die Möglichkeit, den aktuellen Stand entsprechend einer Ampel zu bewerten. Grün steht dabei für eine vollständige und zufriedenstellende Erfüllung des geforderten Stands und Rot steht für ein Nichterfüllen. Gelb wird vergeben, wenn Ziele noch nicht vollständig erreicht sind, die Abweichungen aber als gering angesehen werden können oder wenn weitere Diskussionen zu diesem Punkt geführt werden müssen. Anhand der gewählten Farben kann dann die Entscheidung ge-

10.4 Entwickeln mit Prototypen

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Abb. 10.28 Beispiel einer Validierungsaktivität im Rahmen des XiL-Frameworks. (Aus [4, S. 562])

troffen werden, ob der Prototyp einen gewissen Reifegrad erfüllt hat oder nicht. Vergleicht man die Interpretationen der Ampelfarben mit Abbildung 4.23, so erscheint dies zunächst als Widerspruch, der sich sie jedoch auflösen lässt. Während in Abbildung 4.23 eine rote Bewertung als “Kein Plan zur Abhilfe” verstanden wird – die Entwicklung steckt in der Sackgasse – bedeutet ein rotes Resultat für den Prototypen lediglich, dass dessen Zweck bzw. Testziel nicht erreicht wurde. Eine Wertung wie in Abbildung 10.27 beschreibt einen Testergebnis bzw. einen Versuchsträger, Abbildung 4.23 bewertet den Entwicklungsfortschritt bzw. die Entwicklungsperspektive. Werden alle Ampeln auf Grün gesetzt, gilt der Reifegrad als erreicht und es kann der Startschuss für den nächsten Prototyp eines höheren Reifegrades gegeben werden. Rote Ampeln führen hingegen zu einer negativen Bewertung des Prototyps und sind mit der erneuten Entwicklung des Prototyps auf diesem Reifegrad verbunden. Im Falle gelber Ampeln muss entschieden werden, in welcher Form und warum gewisse Ziele nicht eingehalten wurden und ob der Reifegrad trotzdem als erreicht im Sinne einer Genehmigung unter Auflagen, vgl. Abschnitt 1.4, deklariert werden kann, vgl. [199]. Ein weiteres Rahmenwerk zur Validierung mit Prototypen stellt das sogenannte XiL-Framework dar vgl. [4, 174]. XiL steht hierbei für X-in-the-Loop und beschreibt, dass jeweils ein Teil des Systems in Form von Simulationsmodellen und physischen Komponenten vorliegt und die zu validierende Komponente eingebunden wird. Das Gesamtsystem besteht daher aus dem System in Entwicklung,

402

10 Prototypen entwickeln und einsetzen

dass es zu validieren gilt und den verbundenen Subsystemen, die die Testumgebung darstellen. Alle Subsysteme sowie das System in Entwicklung können dabei in physischer oder virtueller Form vorliegen. Daher müssen Schnittstellen zwischen den Systemen geschaffen werden, die diese Grenze überwinden können. Die Lösung bilden hierbei Sensor-Aktor-Systeme als Koppelsysteme, die Messgrößen aus den physischen Systemen an virtuelle Systeme, z. B. Berechnungsmodelle, senden und über die Stellgrößen aus dem Berechnungsmodell das physische System beeinflussen. Im Allgemeinen werden damit sowohl Hardware, als auch Software und Modellkomponenten validiert und der Aufbau ist als hybrider Prototyp zu verstehen. Abbildung 10.28 zeigt das Beispiel einer Hardware-in-the-Loop Anordnung, bei der ein Elektromotor und ein Getriebe validiert werden. Zu erkennen ist, dass die verbundenen Subsysteme Fahrer, Umwelt, Chassis, Reifen und Batterie nur als virtuelle Modelle vorliegen. Andererseits liegen die Leistungselektronik und die Abtriebswellen als physische Komponenten vor und sind mit dem Getriebe und dem Elektromotor direkt verbunden. Zur Validierung wird nun ein Anwendungsfall definiert und simuliert. Dazu wird beispielsweise ein vom Fahrer initiiertes Fahrmanöver vorgegeben, zum Beispiel eine einfache Beschleunigung des Fahrzeugs. Die damit verbundenen Parameter werden an das Berechnungsmodell der Batterie übermittelt, welches wiederum die zur Verfügung stehenden Spannungen und Stromstärken ermittelt. Zudem kann im Modell die Erwärmung der Batterie abgebildet und nachverfolgt werden. Über die SensorAktor-Schnittstelle des Koppelsystems werden die ermittelten Werte an die Leistungselektronik geleitet, die wiederum den Elektromotor versorgt. Eventuelle Rückkopplungen werden an der Leistungselektronik gemessen und zurück ans Batteriemodell übermittelt. Die Reaktion des Elektromotors wird einerseits gemessen und an das Berechnungsmodell des Chassis übertragen, beispielsweise zur Validierung von Anforderungen an Laufruhe und Anregung von Resonanzen im Fahrzeug und andererseits ist der Elektromotor direkt mit dem zu validierenden Getriebe verbunden. Dieses ist physisch mit den Abtriebswellen verbunden, die wiederum über die Sensor-Aktor-Schnittstelle mit dem Simulationsmodell der Reifen verbunden sind. Aus den Messgrößen der Welle und den simulierten Einflüssen der Umwelt, können die Reaktionskräfte am Rad ermittelt und über die Sensor-Aktor-Schnittstelle zurück an die Wellen übermittelt werden.

10.4.4 Einsatzgrenzen von Prototypen Insbesondere bei den physischen Prototypen sind in Abhängigkeit von Fokussiertheit bzw. Vollständigkeit die Einsatzgrenzen der Versuchsträger zu beachten. Zunächst ist festzustellen, dass insbesondere in der Automobilindustrie der letzte Versuch, der mit einem vollständigen Funktionsprototyp durchgeführt wird, ein Crash zur Absicherung der aktiven und passiven Sicherheitssysteme ist, Abbildung 10.29 zeigt das übliche Szenario. Häufig halten sich dabei die Kosten

10.4 Entwickeln mit Prototypen

403

Abb. 10.29 Crashversuch am Funktionsprototyp eines Mercedes-Benz EQC

für den eigentlichen Prototyp und die Kosten für die Versuchsvorbereitung, durchführung und -dokumentation die Waage, bei gleichmäßig heller Ausleuchtung wird bei einer reflektionsarm lackierten Karosserie der Versuchsablauf mit mehreren Hochgeschwindigkeitskameras aufgenommen. Meist wird der Einsatz der Prototypen vorrangig durch die Wiedergabetreue bestimmt, beispielsweise ist die Aussage von Dauerversuchen an Prototypen aus Hilfswerkzeugen sehr begrenzt. Es muss also immer im Kontext der Entwicklungsaufgaben vor dem Aufbau von physischen Prototypen geklärt werden, welche Versuche in welcher Reihenfolge mit den einzelnen Einheiten durchgeführt werden sollen. Das Fahrzeug aus Abbildung 10.29 kann aufgrund der gezündeten Airbags trotz der unversehrten Heckpartie nur noch sehr eingeschränkt für einen weiteren Heck-Crash verwendet werden, von Fahrversuchen ganz abzusehen. Demzufolge ist es empfehlenswert, für die Prototypen individuelle Nutzungspläne zu erstellen, um negative Auswirkungen früher Versuche auf die Nutzbarkeit der Versuchsträger zu vermeiden. Bei fokussierten Prototypen oder Geometriemodellen hingegen erklären sich die funktionalen Einschränkungen von selbst. Prototypen aus Substitutionswerkstoffen oder aus Rapid-Prototyping-Verfahren können häufig für einzelne, spezielle Versuche eingesetzt werden aber nicht zu Leistungs- oder Dauerversuchen. Hier zeigt Abbildung 10.30 ein Beispiel eines Plexiglasmodells eines Getriebegehäuses. Die Innenkontur entspricht der Serienform, durch das Plexiglas kann man die Ölströmung im Getriebe unter Betriebsbedingungen gut erkennen, die Ölverteilung hängt nicht wesentlich vom anliegenden Moment ab, sondern vielmehr von der herrschenden Drehzahl, die lastlos eingestellt wird. Insofern stellt dann auch die niedrige Festigkeit des Plexiglases keine funktionale Einschränkung dar.

404

10 Prototypen entwickeln und einsetzen

Abb. 10.30 Plexiglasgehäuse mit Stahl-Radsatz eines Fahrzeuggetriebes zur Beurteilung der Ölverteilung im Fahrbetrieb

10.4.5 Der Stellenwert von Prototypen im Produktentwicklungsprozess Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Prototypen einen hohen Stellenwert im Produktentwicklungsprozess besitzen und essentiell zum Lernen, der Kommunikation und der Validierung beitragen. Durch den Einsatz von Prototypen kann das Risiko von Fehlentwicklungen reduziert werden, was zu einer Senkung der Entwicklungskosten und des Zeitaufwands in nachfolgenden Phasen des Produktentwicklungsprozesses führt. Eine methodische Herangehensweise an die Entwicklung der Prototypen sollte dabei stets angestrebt werden, da sich dadurch die Effizienz und die Effektivität des Prototypeneinsatzes steigern lassen. Bei der Entwicklung von und mit Prototypen ist es dabei zunächst essentiell, sich die Ziele des angestrebten Prototypeneinsatzes zu verdeutlichen und auf dieser Basis die geeignete Prototypenart zu wählen. Der Prototyp ist dabei nicht zwangsläufig auf ein physisches Modell beschränkt, vielmehr können auch virtuelle und hybride Prototypen die Antworten auf die festgelegten Fragestellungen liefern. Der Abschnitt verdeutlicht, welche Faktoren bei der Entwicklung von Prototypen zu beachten sind und wie diese Entwicklung mit verschiedenen Werkzeugen und Methoden optimiert werden kann.

Kapitel 11 Global entwickeln und produzieren

Dieses Kapitel widmet sich als Einführung einigen wichtigen Aspekten des Arbeitsalltags in global agierenden Unternehmen oder in internationalen Projekten, die mit der fortschreitenden Globalisierung sowie der verteilten Entwicklung und Produktion immer wichtiger werden. Aufgrund der Schnelllebigkeit insbesondere der IT-Werkzeuge zur Unterstützung globaler Aktivitäten kann dabei der Fokus nur auf den Methoden und generischen Werkzeugen liegen. Aufgrund der engen Verflechtung der Herausforderungen der globalen Zusammenarbeit mit rechtlichen und kulturellen Fragestellungen werden die meisten Themen nur ansatzweise erläutert; es werden keine verbindlichen oder rechtlich gültigen Hinweise gegeben, vieles hat qualitativen Charakter. Einige Begriffe, die im Zusammenhang mit der globalen Entwicklung und Produktion wichtig sind, aber hier nur angerissen werden können, fasst Abbildung 11.1 zusammen. Diese Begriffe werden benötigt, um folgende Lernziele des Kapitels erreichen zu können:

Lernziele des 11. Kapitels: • Sie kennen die wesentlichen gesetzlichen Beschränkungen der globalen Zusammenarbeit. • Sie können die kulturellen Herausforderungen einer global verteilten Entwicklung und Produktion abschätzen. • Sie kennen Werkzeuge zur Verteilung der Verantwortung in der Entwicklung. • Sie können wesentliche Erfolgsfaktoren auf das Führen globaler Teams und die Leitung erfolgreicher virtueller Meetings benennen. 2

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Kirchner, Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61762-5_11

405

406

11 Global entwickeln und produzieren

Abb. 11.1 Zentrale Begriffe der Produktentwicklung im Kontext globaler Entwicklung und Produktion

11.1 Rahmenbedingungen der globalen Entwicklung und Produktion Dieser erste Abschnitt geht qualitativ auf die Treiber der Globalisierung ein, die in vielen Unternehmen zu beobachten sind: Es wird in global agierenden Unternehmen zunehmend in den lokalen Märkten produziert und zunehmend entwickelt. Als treffendes Beispiel sind hier die deutschen und europäischen Automobilhersteller zu nennen, die längst auf allen Kontinenten vertreten sind. Das größte BMW Werk befindet sich seit einigen Jahren nicht mehr in Bayern, wie man es beim Namen Bayerische Motoren Werke vermuten würde, sondern in Spartanburg, South Carolina, USA. Ähnliches gilt auch beispielsweise für regional agierende Backhäuser, die das Backen als letzten Produktionsschritt in viele kleine Filialen in Kundennähe verlagern, ein großer Teil der eigentlichen Wertschöpfung bis zum backfertigen Teigling findet jedoch zentral statt. Ähnliches gilt für den Großteil der Entwicklung im Beispiel BMW Spartanburg.

11.1.1 Die fortschreitende Globalisierung als Motivation Als Beispiel für die Globalisierung sind in Abbildung 11.2 die europäischen und globalen Standorte der Schaeffler AG gezeigt; Schaeffler vertreibt keine Produkte direkt an die Endkunden sondern nur an die Unternehmen der Automobilbranche und der verschiedenen Industriesektoren. Die Präsenz beim Kunden vor Ort ist ein wesentlicher Wettbewerbsvorteil, da ein größeres Verständnis für den

11.1 Rahmenbedingungen der globalen Entwicklung und Produktion

407

a)

b) Abb. 11.2 Kundennähe am Beispiel der Schaeffler AG: a) Europäische Standorte, b) Globale Standorte (Keine Unterscheidung von Handelsniederlassung, Produktionsstandort und Entwicklungszentrum)

Kunden aufgebaut werden kann und Lösungen auf kürzeren Wegen bereitgestellt werden können, vgl. Abbildung 1.7. Die Kundennähe führt zu einer Reduktion der Kommunikationsverluste zwischen Kunde und Lieferant und indirekt zu einer stärker zielgerichteten Entwicklung. So hat sich die Schaeffler AG aus der 1949 gegründeten Industrie Nadellager (INA) durch Zukauf und wachsende Präsenz zu einem global agierenden Unternehmen entwickelt; viele der Kunden fordern eine Fertigung nahe am Kundenwerk für geringe Lagerhaltung und flexible Lieferung. Ähnliches gilt für Firmen wie Volkswagen, Continental, Bosch und ZF.

408

11 Global entwickeln und produzieren

Abb. 11.3 Arbeitskosten im Verarbeitenden Gewerbe im Jahr 2015 pro Arbeitnehmer je geleistete Stunde in Euro (Arbeiter und Angestellte, Westdeutschland einschließlich Berlin und Ostdeutschland ohne Berlin)

11.1.2 Kostenunterschiede Ein zweiter Treiber der Globalisierung sind die Kostenunterschiede der Herstellung, insbesondere bei Produkten mit hohen Arbeitskosten infolge manueller Fertigung oder Montage. Häufig werden aus einer kurzfristigen Perspektive die Arbeitskosten isoliert betrachtet, vgl. Abbildung 11.3, obwohl die reinen Arbeitskosten pro Stunde noch nicht sehr aussagekräftig sind, denn niedrige Lohnkosten implizieren häufig auch einen niedrigen Ausbildungsstand sowie niedrige Sozialstandards; die Grafik lässt diese Interpretation zu. Durch die Verlagerung der Produktion in Länder mit niedrigeren Lohnkosten entstehen zudem meist höhere Logistikkosten, welche mit den geringeren Arbeitskosten verrechnet werden müssen. Wichtig ist jedoch auch die Berücksichtigung der mittelfristigen Entwicklung der Arbeitskosten, bei schnellem Wachstum von Volkswirtschaften kann der Gehaltskostenvorteil auch ebenso schnell schwinden; Abbildung 11.4 zeigt eine beispielhafte Studie von Gehaltsprognosen. Aus langfristiger Sicht sind Standorte vorteilhaft, bei denen die Arbeitskosten im Mittel langsamer ansteigen als der Durchschnitt, da so die Arbeitskosten aufgrund der geringen Lohnsteigerungen auf absehbare Zeit niedrig bleiben. Berücksichtigt werden muss neben den reinen Personalkosten auch die Verfügbarkeit geeigneter Mitarbeiter, die auch technisch äußerst anspruchsvolle Pro-

11.2 Herausforderungen der globalen Zusammenarbeit

409

Abb. 11.4 Globale Gehaltsprognose für 2016: Mittlere Löhne und Arbeitskosten steigen unterschiedlich schnell

dukte in der erforderlichen Qualität herstellen können. So kann sich unter Umständen eine mehrwöchige Schulung von Mitarbeitern reiner Fertigungsstandorte am Entwicklungsstandort als wirtschaftlich vorteilhaft herausstellen, wenn dadurch das Qualitätsbewusstsein gesteigert und eine Zugehörigkeit zum Unternehmen aufgebaut wird. Denn gerade in Ländern mit hoher wirtschaftlicher Dynamik ist es oft zu beobachten, dass eine geringe emotionale Bindung der Mitarbeiter zum Unternehmen zu hohen Fluktuationsraten und so indirekt auch wieder zu steigenden Gehaltskosten führt.

11.2 Herausforderungen der globalen Zusammenarbeit Entwicklung und Produktion technischer Produkte im globalen Kontext erfordern die Interaktion von Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen. Der folgende Abschnitt sensibilisiert für die wichtigsten kulturellen Fallen ohne Anspruch

410

11 Global entwickeln und produzieren

auf Vollständigkeit zu erheben, dieser Abschnitt kann jedoch die Auseinandersetzung1 mit anderen Kulturen nicht ersetzen.

11.2.1 Kulturelle Barrieren Die Verschiedenheit von Kulturen führt dazu, dass viele Firmen ihre Mitarbeiter regelmäßig und kulturenspezifisch auf Auslandsaufenthalte vorbereiten. Einige Fallen sollen hier am Beispiel der Kooperation mit japanischen Kunden aufgezeigt werden, die Ausführungen sind aber rein beispielhaft zu sehen und keinesfalls auf andere Kulturen übertragbar. Tabelle 11.1 zeigt einleitend einen Vergleich von Selbst- und Fremdbild von Deutschen und Japanern; beispielhaft kann die Problematik von Selbst- und Fremdbild anhand der Kundenorientierung festgemacht werden. Japaner nehmen ihre Verpflichtung gegenüber dem Kunden in einem Umfang wahr, die aus Sicht der Deutschen teils als schädlich für die eigenen Ziele wahrgenommen wird – ein Konflikt ist bei Unwissen und mangelnder Sensibilisierung wahrscheinlich. Ein weiteres potentielles Fettnäpfchen beim Arbeiten mit Japanern wartet bereits bei der Begrüßung, eine der wichtigsten Regeln für interkulturelle Kommunikation in Japan betrifft die richtige Begrüßung. Anders als in westlichen Ländern reicht man sich in Japan nicht die Hand, sondern man verbeugt sich voreinander. Männer belassen ihre Hände dabei auf ihren Oberschenkeln, Damen hingegen legen die Hände vor ihrem Oberkörper übereinander. Bei dieser Zeremonie gilt, je tiefer die Verbeugung, desto größer ist der Respekt vor der jeweiligen Person, im Geschäftsleben sind 45◦ üblich. Sicherlich begrüßt man es, wenn man als Kulturfremder dieses Ritual beherrscht, häufig genügt es auch, lediglich mit einem Nicken eine Verbeugung anzudeuten und so Respekt zu zeigen. Einige Japaner praktizieren jedoch auch die westliche Begrüßungsmethode und reichen zur Begrüßung die Hand. Sollten Sie sich nicht ganz sicher sein, dann lassen Sie zunächst anderen den Vortritt oder warten Sie ab, was Ihr Gegenüber macht. Ähnliche Gepflogenheiten gelten auch für das Austauschen von Visitenkarten; man sollte hier entsprechend informiert sein, damit nicht kleine, häufig als unwichtig erachtete Rituale bei aller Qualität der Arbeiten in der Produktentwicklung mit einer falschen Handlung wie dem achtlosen Einstecken von Visitenkarten in Hemd- oder Jackettasche das Projekt gefährdet.

1

Eine gute Quelle für einen ersten Überblick landestypischer Fallen ist auf jeden Fall das Internet, z. B. https://www.experto.de/sprachen/interkulturelle-kommunikation/achtung-fettnaepfchen-interkulturelle-kommunikation-in-japan.html.

11.2 Herausforderungen der globalen Zusammenarbeit

411

11.2.2 Sprachbarrieren Die verbale und non-verbale Kommunikation kann ebenfalls zu einer Gefahr für den Erfolg der Produktentwicklung werden, wenn man die Besonderheiten von Kommunikation und typische Beispiele kultureller Unterschiede missachtet. Die Schwierigkeiten gehen weit über das reine Beherrschen von Vokabeln hinaus. Die Höhe der Sprachbarriere als mögliches Projektrisiko lässt sich gut anhand einiger Fakten verdeutlichen. So gibt es beispielsweise für die Begriffe “Schnee” oder “grün” in der deutschen Sprache nur in wenigen Varianten – die Inuits kennen für “Schnee” mindestens zehn verschiedene Bezeichnungen und die Zulus kennen für Arten und Ausdrucksformen von “grün” 39 verschiedene Worte. Umgekehrt gibt es gerade in der Produktentwicklung als Teildisziplin der Ingenieurwissenschaften teils keine direkten Übersetzungen, die gebräuchlich verwendeten Begriffe klingen für Außenstehende teils merkwürdig. Als Beispiel wird die Phase der Konkretisierung im Konzeptprozess, vgl. Abbildung 5.2 und Abschnitt 5.4.7 im Englischen mit Concretization bezeichnet, auch wenn man aufgrund des Wortstamms oft Beton – Concrete – assoziiert. Im Zeitbegriff unterscheiden sich Kulturen insbesondere darin, dass sie sich schwerpunktmäßig stärker an der Vergangenheit – z. B. Ahnenkult in China – als an der Gegenwart wie in Lateinamerika oder im Mittelmeerraum oder der Zukunft wie in Westeuropa und den USA orientieren. Das Verständnis des Zeitbegriffs kann auch dadurch erschwert werden, dass man aneinander vorbeiredet, wenn beispielsweise Japaner durch eine verklausulierte Aussage – Japaner sagen nicht Nein – einen Termin absagen, der deutsche Gesprächspartner diese Absage aber nicht als solche wahrnimmt. Generell gilt, dass gleiches Verhalten oder Gesten im internationalen Kontext oft mit potentiell schwerwiegenden Folgen verschieden verstanden werden, wie die Beispiele nach [50] zeigen sollen:

Tabelle 11.1 Vergleich von Selbstbild und Fremdbild von Deutschen und Japanern (Nach [213]) So sehen Deutsche Japaner So sehen Japaner Deutsche

So sehen sich Japaner selbst

Höflich Fleißig Männlich orientiert Hierarchisch Indirekt Sagen nicht Nein Wuselig Technikverliebt

Freundlich Harmonieorientiert Loyal Ehrlich Diszipliniert Bescheiden Gute Gastgeber Gute Teamplayer

Sind immer einer Meinung Detailversessen Haben ein Pokerface Respekt

Laut Logisch Ordnungsliebend Fleißig Ernst und lächeln wenig Diszipliniert Hoher Stellenwert der Familie Klare Trennung von Geschäftlichem und Privatem Entschuldigt sich nicht Direkt Grob und unsensibel Kann nicht zwischen den Zeilen lesen

Sehr fleißig (workaholic) Kundenorientiert Stolz darauf, trotz westlicher Einflüsse japanisch geblieben zu sein

412

11 Global entwickeln und produzieren

• In Indien bedeutet das Kopfschütteln “ja”, ganz im Gegensatz zur entsprechenden westlichen Interpretation, und die Stimme geht am Ende einer Frage in der Landessprache Hindi nach unten. • Daumen nach oben bedeutet in Lateinamerika, vor allem in Brasilien sowie einigen weiteren Ländern in Europa schlicht “alles klar”. In Mitteleuropa bedeutet die Geste schlicht die Zahl “eins”, während es für Muslime ein grobes sexuelles Zeichen darstellt. • Große Vorsicht ist auch beim “alles OK”-Zeichen geboten, wenn Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis zusammengehalten werden. Denn während es bei Piloten und Tauchern als “alles klar” gilt, bedeutet es für Japaner “jetzt können wir über Geld reden”, im Süden Frankreichs das Gegenteil davon, nämlich “nichts, wertlos”. Auf der iberischen Halbinsel, in weiten Teilen Lateinamerikas, in Osteuropa und Russland, hat es jedoch auch eine vulgäre Bedeutung. • Vielreden in den USA und dem arabischen Sprachraum steht der Wortkargheit bis hin zum Schweigen in Japan gegenüber, wo dem Schweigen zwischen den Wörtern entscheidende, sogar in den Worten entgegengesetztem Sinne, Bedeutung zukommen kann. Langes Schweigen wird dort durchaus als behaglich empfunden, während dies in Europa und Nordamerika bald zu Unsicherheit und Verlegenheit führt. • Das Wort “compromise” bedeutet in England etwas Gutes, denn man betrachtet eine Übereinkunft, einen Kompromiss, als etwas Positives, das beiden Seiten zugute kommt. In den USA dagegen sieht man darin eine Lösung, bei der beide Seiten verlieren. • Lachen wird in Westeuropa meist als Witz und Fröhlichkeit gedeutet, in Japan kann es als Verwirrung oder Unsicherheit interpretiert werden. • Im Mittelmeerraum, in Lateinamerika und im südlichen Afrika ist es normal – oder zumindest weitgehend toleriert –, wenn man etwa eine halbe Stunde zu spät bei einer Einladung zum Abendessen erscheint. In Deutschland und der Schweiz ist dies eine Beleidigung des Gastgebers. • In zahlreichen Ländern Asiens verabschiedet man sich, wenn man bei einer anderen Familie zum Essen eingeladen war, sofort nach dem Ende der Mahlzeit – wer nicht gleich geht, signalisiert, dass er nicht satt geworden ist! Wer dagegen in Nordamerika oder Mitteleuropa gleich geht, erscheint unhöflich, denn dort bedeutet dieses Verhalten, dass es dem Gast nur ums Essen ging, nicht aber um die Gesellschaft mit den Gastgebern. Die Ausführungen zu den kulturellen und sprachlichen Schwierigkeiten verdeutlichen, dass es im Sinne der Produktentwicklung eigentlich nur einen sinnvollen Weg gibt, diese angemessen zu würdigen. Je nach Wichtigkeit des Projekts kann in der Anforderungsliste als Festforderung aufgenommen werden, dass Mitarbeiter, die direkten Kontakt zu wichtigen Vertretern des Kunden bei internationalen Projekten insbesondere in Asien haben, in einem Kurs vor der Dienstreise auf die landestypischen Besonderheiten vorbereitet werden. Weiterhin sollte bei Produkten mit einem Eigennamen in der Anforderungsliste gefordert werden, dass man den geplanten Namen auf seine Bedeutung in den

11.2 Herausforderungen der globalen Zusammenarbeit

413

wichtigsten Märkten hin überprüft, so ist der Mitsubishi i-MIEV für Deutschland sicher ein plakatives Negativbeispiel. Auch achten große Firmen bei der Übersetzung und Aussprache des Firmennamens oft auf eine positive Konnotation, als Beispiel kann hier Siemens genannt werden; die Aussprache xi-men-zi der drei Silben im Chinesischen transportiert auch die Bedeutung Mann aus dem Westen.

11.2.3 Zeitliche Barrieren Die zeitlichen Barrieren ergeben sich direkt aus den verschiedenen Zeitzonen, vgl. Abbildung 11.5, deren Ausdehnung sich an nationalen oder auch regionalen Grenzen orientiert. Das oft angestrebte kontinuierliche Arbeiten am globalen Projekt kann nur funktionieren, wenn man die Arbeit westwärts weitergibt und damit dem Lauf der Sonne folgt. Analysiert man die typischen Arbeitszeiten, so erkennt man, dass es in der US-amerikanischen Automobilindustrie durchaus üblich ist, um sechs Uhr morgens Besprechungen anzusetzen, um mehrere Stunden gemeinsame Arbeitszeit mit Europa zu ermöglichen, vgl. Abbildung 11.5. Die Schwierigkeiten des globalen Arbeitens infolge zeitlicher Barrieren kann man sich bei dem Versuch klarmachen, eine Routine für eine wöchentliche, einstündige Telefonkonferenz zu entwickeln, die keinen Projektpartner aus den USA, Deutschland und Australien benachteiligt. Wichtig zu beachten ist hierbei, dass die Zeitumstellung zwischen Sommer- und Winterzeit auf der Südhalbkugel in vielen Regionen genau entgegengesetzt zur europäischen Zeitumstellung verläuft, aus den acht Stunden Zeitdifferenz zwischen Frankfurt und Sydney werden dann zehn Stunden. Hinzu kommt, dass die Zeitumstellungen noch auf Südund Nordhalbkugel zu unterschiedlichen Terminen stattfinden.

Tabelle 11.2 Anteile der Verwendungsbereiche Seltener Erden im Jahr 2010 Verwendungsbereich Magnete Katalysatoren (für Petroleum, Benzin und als Bestandteil in Autoabgaskatalysatoren und Rußpartikelfiltern) Metallurgie Polituren Gläser Leuchtmittel Keramik Andere (z.B. Laser, medizinische Anwendungen, Laser, Hochtemperatursupraleiter)

Anteil 2010 21 % 20 % 18 % 15 % 9% 7% 5% 5%

414

Abb. 11.5 Weltkarte mit Zeitzonen – Standardzeit

11 Global entwickeln und produzieren

11.2 Herausforderungen der globalen Zusammenarbeit

415

Abb. 11.6 Preisentwicklung im Chinesischen Markt für a) Dysprosium und b) Neodym in der Zeit des Elektromobilitäts-Hype (Eigene Daten)

11.2.4 Gesetzliche Barrieren Gesetzliche Barrieren der globalen Entwicklung und Produktion resultieren in vielen Fällen aus Zoll- und Ein- bzw. Ausfuhrbestimmungen. Die Auswirkungen zufallsartig wechselnder Zölle verunsichern zunächst die Wirtschaft und erschweren eine verlässliche Planung. Doch auch die Abhängigkeiten von be-

Tabelle 11.3 Minenproduktion und Reserven Seltener Erden nach Ländern im Jahr 2009 (Nach [75]) Land

Minenproduktion [t] Minenproduktion [%] Reserven [t] Reserven [%]

China GUS USA Indien Australien Brasilien Malaysia Andere Länder

120.000 k.A. 0 2.700 0 650 380 k.A.

97 k.A. 0 2,2 0 0,5 0,3 k.A.

36.000.000 19.000.000 13.000.000 3.100.000 5.400.000 48.000 30.000 22.000.000

36,52 19,27 13,19 3,14 5,48 0,05 0,03 22,32

Gesamt

123.730

100

98.578.000

100

416

a)

11 Global entwickeln und produzieren

b)

Abb. 11.7 Visumspflicht impliziert mittelfristige Planung der Entwicklung: a) Stempelseite im Reisepass, b) China-Visum

stimmten Rohstoffen können zu einem erheblichen Problem werden, hier sind die Seltenen Erden ein gutes Beispiel, Tabelle 11.2 zeigt die anteilige Verwendung der Rohstoffe. Man erkennt sofort die Abhängigkeit der Industrie von diesen Rohstoffen, die Seltenen Erden werden für Bauelemente der Elektrotechnik und hoch effiziente Elektromotoren dringend benötigt. Problematisch ist neben der Rohstoffknappheit deren geopolitische Verteilung; ein Großteil der Seltenen Erden wird in Märkten mit einer sehr restriktiven Handelspolitik gefördert. So dürfen die Rohstoffe aus China nur mit hohen Ausfuhrzöllen ins Ausland verkauft werden, um die erste Wertschöpfungsstufe für die chinesische Wirtschaft mit nutzen zu können, vgl. Tabelle 11.3. Die Auswirkungen für Einkauf und Logistik sind offensichtlich. Da gerade die Entwicklung der Elektromobilität auf Werkstoffe wie Neodym und Dysprosium für leistungsstarke und hoch temperaturbeständige Permanentmagnete angewiesen ist, kam es während der ersten Hypephase der Elektromobilität in den Jahren 2010 und 2011 zu dramatischen Anstiegen der Rohstoffpreise, vgl. Abbildung 11.6. Hieraus ist erkennbar, welches Risiko hier für die Preisfindung besteht. Als Handlungsempfehlung für die Produktentwicklung kann an dieser Stelle wieder ein entsprechender Eintrag ins Lastenheft genutzt werden. Häufig ist es möglich, im Angebot an den Endkunden entsprechende Regelungen zur Preisbildung zu hinterlegen, die ein Weitergeben stark ansteigender Rohstoffpreise auf den Weltmärkten an den Endkunden erlauben; naturgemäß besteht der Kunde bei einem Preisverfall dann auch auf einer Preisreduktion. Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass aus der Visumspflicht vieler Länder die Notwendigkeit der mittelfristigen Planung von Projektbesprechungen resultiert. Gerade für Chinareisen muss ein mehrwöchiger Vorlauf eingeplant werden, da zur Beantragung des Visums vor Einreise ein offizielles Einladungsdokument des chinesischen Geschäftspartners vorgelegt werden muss, vgl. Abbildung 11.7. Ähnliches gilt ebenfalls für andere Länder. Insbesondere bei Einreise nach China ist der Prozess der Beantragung und Ausstellung des Visums durchaus ein Zeitfaktor, den es zu berücksichtigen gilt, ein Stempel in den Reisepass bei der Einreise wie durch Abbildung 11.7 suggeriert, genügt bei weitem nicht.

11.3 Festlegung von Verantwortlichkeiten

a)

417

b)

Abb. 11.8 Beeinträchtigung der globalen Industrie durch nicht beeinflussbare Naturereignisse: a) Tsunami in Japan (März 2011), b) Ausbruch des Eyjafjallajökull (April 2010)

11.2.5 Natürliche Beschränkungen Auch Naturereignisse wie Erdbeben oder Vulkanausbrüche können auf den Ablauf der Entwicklung direkten oder indirekten Einfluss nehmen. Diese Naturereignisse sind jedoch – von Ausnahmen abgesehen – in den meisten Fällen nicht durch Vorsichtsmaßnahmen über die Anforderungsliste ohne besonderen Aufwand zu berücksichtigen. Direkte Auswirkungen der in Abbildung 11.8 verbildlichten Naturereignisse waren Flugausfälle und Werksschließungen infolge von Aschewolken bzw. der direkten Zerstörung von Einrichtungen, indirekte Auswirkungen waren Versorgungsengpässe auf allen Märkten, denn wichtige Rohstoffe waren infolge der Störung der Wertschöpfungs- und Logistikkette nicht ausreichend verfügbar. Indirekte Folgen von Naturereignissen können geänderte politische Randbedingungen sein, wie es nach den Erdbeben bei Japan 2011 und dem resultierenden Reaktor-Störfall geschah; die Energiewende wurde forciert mit direkten Folgen für Energiewirtschaft und den Automobilsektor.

11.3 Festlegung von Verantwortlichkeiten Das Teilen der Verantwortung für Entwicklung und Produktion erfordert zwei Schritte als notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche globale Entwicklung. Zunächst müssen die fachlichen Fähigkeiten der beteiligten Organisationseinheiten festgestellt und Lücken identifiziert werden, vgl. Abschnitt 11.3.1; da die Übernahme von Verantwortung entsprechende Fähigkeiten voraussetzt. Danach werden die Verantwortlichkeiten und Rollen mit einem klaren gemeinsamen Verständnis verteilt, vgl. Abschnitt 11.3.2, dabei werden im stark arbeitsteiligen Maschinenbau in den meisten Fällen auch Kunden und Lieferanten im Rahmen des Simultaneous Engineering in die Diskussion mit einbezogen.

418

11 Global entwickeln und produzieren

Abb. 11.9 Beispiel der Fähigkeitsbewertung einer Organisationseinheit zur Entwicklung elektrischer Fahrzeugantriebe

11.3.1 Fähigkeitsbewertung Ein mögliches Beispiel für eine Fahigkeitsbewertung zeigt Abbildung 11.9 anhand von Kernkomponenten eines elektrischen Fahrzeugantriebs und makroskopisch definierter Aufgaben. Software und Elektromotor werden als eigene Wertschöpfung der Organisationseinheit verstanden und bis zur Serienproduktion beherrscht, alle anderen auf der Ordinate aufgetragenen Fähigkeiten werden für diese beiden Subsysteme vollumfänglich übernommen. Bei Sensoren und Ansteuerelektronik hingegen werden Prototypenbau, Seriendesign und -Produktion nicht von der Organisation übernommen, dies wird im Rahmen der angestrebten eigenen Entwicklung an Lieferanten abgegeben, vgl. auch Abschnitt 5.3.1. Wichtig ist nun, dass bei geplanten Standort-, Länder- oder Kontinentenübergreifenden Zusammenarbeiten über die Fähigkeiten der beteiligten Organisationseinheiten Klarheit sowie Konsens besteht, um spätere Missverständnisse zu vermeiden. Daher kann eine Darstellung wie in Abbildung 11.9 auch genutzt werden, um fachlichen Weiterbildungsbedarf zu identifizieren und die eventuell fehlenden Fähigkeiten in einer überschaubaren Zeitspanne aufzubauen. Dabei sind die auf der Vertikalen aufgetragenen Fähigkeiten bzw. Einzeltätigkeiten naturgemäß stark produktspezifisch und müssen stets an Produkt und Unternehmensorganisation angepasst werden.

11.3 Festlegung von Verantwortlichkeiten

419

Abb. 11.10 Beispielhafte Verantwortlichkeitsmatrix – weitere Erläuterungen im Text

11.3.2 Verantwortlichkeitsmatrix Die Verantwortung für einzelne Tätigkeiten wird häufig in Verantwortlichkeitsmatrizen dokumentiert, die im englisch dominierten Sprachgebrauch auch als RASI-Chart bezeichnet werden. Dabei fasst das Akronym RASI die vier wesentlichen Rollenverständnisse zusammen, die einer Organisationseinheit, dem Kunden oder einem Lieferanten zukommen können: R Führt die Aufgabe durch, ist verantwortlich – Responsible

420

11 Global entwickeln und produzieren

A Genehmigt das Arbeitsergebnis im Sinne des Vier-Augen-Prinzips – Approving S Unterstützt selbständig oder auf Anfrage – Supporting I Wird über Ergebnisse und Entscheidungen informiert – Informed In Abbildung 11.10 ist ein Beispiel einer Verantwortlichkeitsmatrix gezeigt; zunächst ist offensichtlich, dass in jeder Zeile die Marker A und R nur einmal vorkommen sollen, um eindeutige Rollen zu erreichen, denn eine geteilte Verantwortung für die Durchführung lässt Spielraum für Diskussionen, insbesondere bei Problemen. Ferner ist in Abbildung 11.10 erkennbar, dass zunächst ein Vorschlag von einer Abteilung erarbeitet wurde, der dann gemeinsam diskutiert und zu einem Konsens gebracht wurde. Die angezeigten “Anderen” in der letzten Spalte sind wieder andere Organisationseinheiten oder der Kunde. Teils werden in die Verantwortlichkeitsmatrizen auch Lieferanten im Sinne des Simultaneous Engineering mit eingebunden, vgl. Abschnitt 4.3.2, dies ist besonders dann wichtig, wenn im Rahmen der Fokussierung der Entwicklungskapazitäten ein Teil der Entwicklung an die Lieferanten ausgelagert wird, vgl. Abschnitt 5.3. Die Einhaltung von Schnittstellen wird durch eine Verantwortlichkeitsmatrix deutlich vereinfacht. In Abbildung 11.10 ist sowohl eine Komponentensicht als auch eine Baugruppensicht enthalten, offensichtlich hat die Abteilung 2 die Gesamtverantwortung für die Baugruppe und Abteilung 1 die Verantwortung für die Komponenten. Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass Abteilung 1 für die Detaillierung der Komponenten verantwortlich ist während Abteilung 2 das System dimensioniert und dessen Funktion im Supersystem sicherstellen muss. Wichtig ist bei der Erarbeitung der Verantwortlichkeitsmatrix aber auch wieder der Grundsatz nur so genau wie nötig zu beachten, dass die wesentlichen Aufgaben genau definiert sind und dass es immer nur einen Verantwortlichen und einen Genehmiger gibt.

11.3.3 Fachliche und organisatorische Führung In großen international agierenden Firmen sind die Mitarbeiter häufig in einer Matrixorganisation in der Firmenhierarchie verortet, vgl. Abbildung 11.11. Gerade in der Automobilindustrie ist es häufig so, dass Personen sowohl einen fachlichen als auch einen disziplinarischen Vorgesetzten haben, in kleinen und mittelständischen Unternehmen müssen die Führungskräfte meist beide Rollen übernehmen. Während die disziplinarische Führungskraft für alle rechtlichadministrativen Belange zuständig ist, übernimmt die fachliche Führungskraft die inhaltliche Anleitung, Kontrolle und Förderung der Mitarbeitenden. In der Praxis kann es nun vorkommen, dass die Interessen von Arbeitnehmern in der Matrixstruktur von Abbildung 11.11 und der fachlichen bzw. disziplinarischen Führungskraft nicht übereinstimmen – man denke an fachliche Probleme während der Urlaubszeit oder den Abbau angesammelter Überstunden – und die eine Kompromissfindung unter Abwägung der Interessen aller erforderlich machen.

11.4 Führen der globalen Entwicklung und Produktion

421

Abb. 11.11 Beispielhafte (lokale) Matrixorganisation

Weiterhin gibt es insbesondere im mittleren und höheren Management viele Positionen, bei denen man neben der fachlichen und / oder disziplinarischen Führung eines Bereichs noch ein Projekt leiten muss, es kommt mit dem Projektsponsor eine zusätzliche Vorgesetzteninstanz hinzu. Auch hier gilt wieder, dass Mitarbeiter über mehrere fachliche Berichtswege ihre Ergebnisse kommunizieren. Die disziplinarische Führung endet jedoch in einer eindeutigen Linie i.d.R. beim lokalen oder nationalen Geschäftsführer; ein Übergang arbeitsvertraglicher Rechte und Pflichten über Landesgrenzen hinweg ist nicht üblich. Somit wird es unter Umständen schwierig, Kollegen in anderen Ländern zu motivieren, wenn diese – oft mit der Unterstützung ihres lokalen Managements – andere Prioritäten setzen als das eigene Projekt. Als Handlungsempfehlung für die praktische Produktentwicklung kann als Anforderung an den Projektleiter, vgl. die Rollenerklärung auf Seite 92, festgehalten werden, dass dieser zu Beginn des Projekts ein Netzwerk zu den Projektverantwortlichen und möglichen Unterstützern in den beteiligten Standorten aufbaut, um bei Problemen auch über das persönliche Netzwerk für seine Projektziele werben zu können.

11.4 Werkzeuge zum Führen der globalen Entwicklung und Produktion Die hier vorgestellten Werkzeuge zum Führen globaler Produktentwicklungsprojekte resultieren aus Erfahrungswissen aus zahlreichen Industrieprojekten; die Literatur ist zum großen Teil mehr auf die Managementaufgaben in globalen Strukturen fokussiert, vgl. z. B. [48, 230]. In diesem Sinne werden hier einige knappe Handlungsempfehlungen und mögliche Anforderungen an die Projektorganisation für eine erfolgreiche Produktentwicklung angegeben.

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11 Global entwickeln und produzieren

11.4.1 Führen globaler Teams Beim Führen globaler Teams ist der Projektleiter zu großen Teilen für Erfolg oder Misserfolg verantwortlich, seine eigene Persönlichkeit ist gefragt, er bzw. sie muss überzeugen, insbesondere bei Mitarbeitern an anderen Standorten, die ohne administrative Befugnisse geführt werden müssen. Gutes Führungsverhalten ist dabei essentiell, vgl. z. B. [48]. Häufig ist der Schlüssel zur erfolgreichen Leitung eines Teams in einem Projekt der persönliche Kontakt am Anfang, um die beschriebenen kulturellen Herausforderungen zu verstehen und zu lösen. Der persönliche Kontakt und das resultierende Vertrauen sind eine nahezu unabdingbare Voraussetzung für den Projekterfolg; insbesondere Mitarbeiter und Kollegen in anderen Standorten müssen als Interessensgruppen in den Prozess der Konsensfindung am Anfang des Projekts mit eingebunden werden, vgl. Abbildung 1.3 und Abschnitt 3.2.2. Neben der Klärung der Aufgabenstellung zu Beginn des Projekts muss also der Projektleiter ein Vertrauensverhältnis zu den Projektmitarbeitern an anderen Standorten und idealerweise zu deren Management aufbauen, um im Zweifelsfall Probleme eskalieren zu können, vgl. Abschnitt 4.3.3. Auch hier gilt es, die Eskalationspfade über das lokale Management nur dann einzusetzen, wenn es absolut unabdingbar ist; bloße Drohungen sind kontraproduktiv. Insbesondere bei Teammitgliedern in Asien ist es wichtig darauf zu achten, dass diese nicht durch unnötige Eskalation vor ihrem Management bloßgestellt werden. Insgesamt ist es wichtig, dass das Team effizient und effektiv zusammenarbeitet, Tabelle 11.4 enthält einige Merkmale, an denen man erkennen kann, wie gut ein Team interagiert. Es gilt also wieder, am besten über die Anforderungsliste sicherzustellen, dass sich die Projektverantwortlichen über die kulturellen und organisatorischen Hür-

Tabelle 11.4 Eigenschaften effektiver und ineffektiver Teams Eigenschaften eines effektiven Teams

Eigenschaften eines ineffektiven Teams

• • • •

• Niedrige Performanz • Geringe Verpflichtung gegenüber den Projektzielen • Unklare Projektziele und wechselhafter Einsatz für diese Ziele von wichtigen Teammitgliedern • Unproduktive Ränkespiele, Manipulationsversuche, verdrängte Gefühle, Konfliktvermeidung um jeden Preis • Verwirrung, Konflikte, Ineffizienz • Versteckte Sabotage, Angst, Desinteresse, Zeitschinderei • Cliquen, geheime Absprachen, Isolation einzelner Mitglieder • Lethargie/Teilnahmslosigkeit

• • • • • • • • •

Hohe Performanz und Aufgaben-Effizienz Innovatives und kreatives Verhalten Engagement und Einsatz Ziele der Projektmitarbeiter stimmen mit den Projektzielen überein Arbeit der einzelnen Teammitglieder ist effizient miteinander verflochten Fähigkeit zur Konfliktlösung, Konflikte werden ermutigt, wenn sie Nutzen bringen Effektive Kommunikation Hohes gegenseitiges Vertrauen Ergebnisorientierung Zusammengehörigkeitsgefühl Hohe Einsatzbereitschaft und Begeisterung Hohe Moral Fähigkeit zum Perspektivwechsel

11.4 Führen der globalen Entwicklung und Produktion

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den klarwerden und ein persönliches Treffen als Investition in einen effizienten Projektablauf verstehen. Die Rechtfertigung für eine Dienstreise zum Kennenlernen der Projektpartner ist allerdings in der Praxis i.d.R. meist ungleich schwerer als für ein kurzfristiges Krisenmeeting. Eigentlich sollte die Erfahrung des Managements die Frage nach dem Zweck des Kennenlern-Meetings erübrigen. Ein globales Projekt kann auch ohne den persönlichen Kontakt gelingen; gerade aber, wenn aufgrund der zeitlichen und räumlichen Distanz oder aufgrund von Reisebeschränkungen sehr viel über virtuelle Meetings laufen muss, vgl. Abbildung 11.8.b, ist es wichtig, dass in diesen die gleichen Kriterien wie in Tabelle 11.4 gelten und zusätzliche Besonderheiten beachtet werden. Diese zusätzlichen Besonderheiten betreffen in erster Linie vermeidbare Störungen, insbesondere, wenn virtuelle Meetings aus dem Homeoffice geführt werden.

11.4.2 Virtuelle Meetings erfolgreich vorbereiten und leiten Ein häufig anzutreffender Fehler bei virtuellen Meetings ist die Annahme, dass man diese Termine nicht vorbereiten muss, insbesondere gilt dies für die einfachste Form eines virtuellen Meetings – das Telefonat. Dies kann ein schwerwiegender Fehler sein, denn oft ist neben dem was man sagt auch das wie entscheidend. Man muss also ein virtuelles Meeting meist deutlich besser vorbereiten, um zu einem bestimmten Ergebnis zu kommen, da in vielen Fällen keine Chance besteht, die Körpersprache der Gesprächspartner zu lesen. Ein häufiges Problem insbesondere größerer virtueller Besprechungen ist auch, dass viele Mitarbeitende anstatt sich an der Diskussion zu beteiligen ihre Emails erledigen. Das Meeting wird ineffizient, da der eigentliche Effekt einer Besprechung ohne vermeidbare Reisezeiten verfehlt wird. Trotzdem gehen viele dann aufgrund der nun geringeren Anzahl ungelesener Emails mit einem positiven Eindruck aus der Besprechung, obwohl genau das Gegenteil der Fall sein sollte. Tabelle 11.5 zeigt ein Beispiel von Grundregeln für Besprechungen, wie sie in vielen Besprechungsräumen zu finden sind.

Tabelle 11.5 Grundregeln persönlicher und virtueller Besprechungen Die zehn Regeln einer guten Besprechung • • • • • • • • • •

Jeder ist für den Erfolg einer Besprechung mit verantwortlich Es spricht immer nur einer Jeder ist offen für alle Meinungen Nach Pausen wird wieder pünktlich anfangen Der Fortschritt der Besprechung steht im Vordergrund, nicht die Personen Es geht um Lösungen und nicht um Probleme Flexibilität im Denken ist gefragt, auch über den eigenen Tellerrand hinaus Was im Raum gesagt wird, bleibt im Raum Handys und Computer bleiben aus Details, Details, Details

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11 Global entwickeln und produzieren

Ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Planung virtueller Besprechungen im globalen Kontext sind die verschiedenen Zeitzonen, vgl. Abbildung 11.5. Man muss sich als Organisator einer solchen Besprechung klarwerden, zu welcher lokalen Zeit andere Kollegen in der Besprechung sitzen sollen und wie lange jeder einzelne selbst die Geduld für ein Telefonat aufbringen würde. So sind in global arbeitenden Unternehmen die Mitarbeiter in den USA oft sehr früh in der Firma oder nehmen noch von zuhause aus an Besprechungen teil, während die Japaner eher abends länger im Büro sind als es in Deutschland typisch ist. In China hingegen ist es oft üblich, dass insbesondere in größeren Firmen die Ingenieure mit Firmenbussen zur Arbeit fahren und dann das Unternehmen eben entsprechend früher verlassen müssen. Die Empfehlung ist folglich, alle virtuellen Besprechungen gut vorzubereiten, Grundregeln für gemeinsame Besprechungen zu kommunizieren und insbesondere eine klare Agenda und ein Ziel der Besprechung vorzugeben: was soll wie erreicht werden. Die Entscheidung, offensichtlich unbeteiligte Teilnehmer einer Besprechung offen auf ihre fehlende Beteiligung anzusprechen ist sicher nicht populär, im Sinne einer effizienten Nutzung der Arbeitszeit jedoch oft sinnvoll und kann bei entsprechender Kommunikation sogar als Zeichen der Wertschätzung interpretiert werden. Für weitere Details wird hier wieder auf die Literatur verwiesen; es finden sich zahlreiche Handbücher zu beispielhaften Stichworten wie Besprechungen ergebnisorientiert leiten oder Führen virtueller Teams.

Anhang

A.1 Technische Parameter der TRIZ-Methode

Tabelle A.1 Technische Parameter der TRIZ-Widerspruchsmatrix (Nach [76]) Nr. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

Technischer Parameter Masse des beweglichen Objekts Masse des unbeweglichen Objekts Länge des beweglichen Objekts Länge des unbeweglichen Objekts Fläche des beweglichen Objekts Fläche des unbeweglichen Objekts Volumen des beweglichen Objekts Volumen des unbeweglichen Objekts Geschwindigkeit Kraft Spannung oder Druck Form Stabilität der Zusammensetzung des Objekts Festigkeit Haltbarkeit des beweglichen Objekts Haltbarkeit des unbeweglichen Objekts Temperatur Sichtverhältnisse Energieverbrauch des beweglichen Objekts Energieverbrauch des unbeweglichen Objekts

Nr. 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

Technischer Parameter Leistung, Kapazität Energieverluste Materialverluste Informationsverluste Zeitverluste Materialmenge Zuverlässigkeit Meßgenauigkeit Fertigungsgenauigkeit Von außen auf das Objekt wirkende schädliche Faktoren Vom Objekt selbst erzeugte schädliche Faktoren Fertigungsfreundlichkeit Bedienkomfort Instandsetzungsfreundlichkeit Adaptionsfähigkeit, Universalität Kompliziertheit der Struktur Kompliziertheit der Kontrolle und Messung Automatisierungsgrad Produktivität

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Kirchner, Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61762-5

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A.2 Relevante Prinzipien der TRIZ-Methode (Aus [76]) 1. Prinzip der Zerlegung bzw. Segmentierung a. Das Objekt ist in unabhängige, gleiche Teile zu zerlegen. b. Das Objekt ist zerlegbar auszuführen. c. Der Grad der Zerlegung des Objektes ist zu erhöhen. 2. Prinzip der Abtrennung a. Vom Objekt ist das „störende“ Teil, die „störende“ Eigenschaft, abzutrennen. b. Im Unterschied zum vorhergehenden Verfahren, in dem es um die Zerlegung des Objektes in gleiche Teile ging, wird hier vorgeschlagen, das Objekt in unterschiedliche Teile zu zerlegen. 3. Prinzip der örtlichen Qualität a. Von der homogenen Struktur des Objektes oder des umgebenden Mediums ist zu einer inhomogenen Struktur überzugehen. b. Jedes Teil des Objektes soll sich unter solchen Bedingungen befinden, die seiner Arbeit am zuträglichsten sind. 4. Prinzip der Asymmetrie a. Ein symmetrisch geformtes Objekte ist asymmetrisch auszuführen. b. Bei einem asymmetrischen Objekt ist der Grad der Asymmetrie zu erhöhen. 5. Prinzip der Kopplung Gleichartige oder zur Koordinierung bestimmte Systeme oder Operationen sind zu koppeln. 6. Prinzip der Universalität Das Objekt erfüllt mehrere unterschiedliche Funktionen, wodurch weitere gesonderte Objekte überflüssig werden. 7. Prinzip der „Steckpuppe“ (Matrjoschka) Ein Objekt ist im Inneren eines anderen untergebracht, das sich wiederum im Inneren eines dritten befindet usw. Ein Objekt durchläuft oder füllt den Hohlraum eines anderen Objektes. 8. Prinzip der Gegenmasse a. Die Masse des Objektes ist durch Kopplung mit einem anderen Objekt, das Tragkraft besitzt, zu kompensieren. b. Die Masse des Objektes ist durch Wechselwirkung mit einem Medium zu kompensieren 9. Prinzip der vorgezogenen Gegenwirkung Wenn gemäß den Bedingungen der Aufgabe eine bestimmte Wirkung erzielt werden soll, muß zuvor die Gegenwirkung erzeugt werden. 10. Prinzip der vorgezogenen Wirkung

A.2 Relevante Prinzipien der TRIZ-Methode

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a. Die erforderliche Wirkung ist vorher zu erzielen (vollständig oder auch teilweise). b. Die Objekte sind vorher so aufzustellen bzw. einzusetzen, daß sie ohne Zeitverlust für ihr Herbeischaffen vom geeignetsten Ort aus wirken können. 11. Prinzip des „vorher untergelegten Kissens“ Eine relativ geringe Zuverlässigkeit des Objektes wird durch vorher bereitgestellte Hilfsmittel ausgeglichen. 12. Prinzip des Äquipotentials Die Arbeitsbedingungen sind so zu verändern, daß das Objekt mit konstantem Energiepotential arbeiten kann, z. B. nicht angehoben oder herabgelassen werden muß. 13. Prinzip der Funktionsumkehr a. Statt der Wirkung, die durch die Bedingungen der Aufgabe vorgeschrieben wird, ist die umgekehrte Wirkung zu erzielen. b. Der bewegliche Teil des Objektes oder des umgebenden Mediums ist unbeweglich, und der unbewegliche ist beweglich zu gestalten. c. Das Objekt ist „auf den Kopf zu stellen“ bzw. umzukehren. 14. Prinzip der Kugelähnlichkeit a. Von geradlinigen Konturen ist zu gekrümmten, von ebenen Flächen ist zu sphärischen überzugehen. b. Zu verwenden sind Rollen, Kugeln, Spiralen. c. Von der geradlinigen Bewegung ist zur Rotation überzugehen. 15. Prinzip der Dynamisierung a. Die Kennwerte des Objektes (oder des umgebenden Mediums) müssen sich so verändern, daß sie in jeder Arbeitsetappe optimal sind (Anpassung). b. Das Objekt ist in Teile zu zerlegen, die sich zueinander verstellen oder verschieben lassen. c. Ein insgesamt unbewegliches Objekt ist beweglich (verstellbar) zu gestalten. 16. Prinzip der partiellen oder überschüssigen Wirkung Wenn 100 % des erforderlichen Effekts schwer zu erzielen sind, muß „ein bißchen weniger“ oder „ein bißchen mehr“ erzielt werden. 17. Prinzip des Übergangs zu höheren Dimensionen a. Schwierigkeiten, die aus der Bindung der Bewegung eines Objektes an eine Linie resultieren, werden beseitigt, wenn das Objekt die Möglichkeit erhält, sich in zwei Dimensionen, d. h. in einer Ebene, zu bewegen. Analog werden auch die Schwierigkeiten, die mit der Bewegung von Objekten auf einer Ebene verbunden sind, beim Übergang zum dreidimensionalen Raum beseitigt.

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b. Statt Anordnung in nur einer Ebene werden Objekte in mehreren Ebenen angeordnet. c. Das Objekt ist geneigt aufzustellen. d. Die Rückseite des gegebenen Objektes ist auszunutzen. 18. Prinzip der Ausnutzung mechanischer Schwingungen a. Das Objekt ist in Schwingungen zu versetzen. b. Falls eine solche Bewegung bereits vorliegt, ist ihre Frequenz zu erhöhen, bis hin zur Ultaschallfrequenz. c. Die Eigenfrequenz ist auszunutzen. d. Anstelle von mechanischen Vibratoren sind Piezovibratoren anzuwenden. e. Auszunutzen sind Ultraschallschwingungen in Verbindung mit elektromagnetischen Feldern. 19. Prinzip der periodischen Wirkung a. Von der kontinuierlichen Wirkung ist zur periodischen (Impulswirkung) überzugehen. b. Wenn die Wirkung bereits periodisch erfolgt, ist die Periodizität zu verändern. c. Die Pausen zwischen den Impulsen sind für eine andere Wirkung auszunutzen. 20. Prinzip der Kontinuität der Wirkprozesse a. Die Funktion soll kontinuierlich erfolgen (alle Teile des Objektes sollen ständig mit gleichmäßiger Belastung arbeiten). b. Leerläufe und Unterbrechungen sind auszuschalten. 21. Prinzip des Durcheilens Der Prozeß oder einzelne seiner Etappen, z. B. schädliche oder gefährliche, sind mit hoher Geschwindigkeit zu durchlaufen. 22. Prinzip der Umwandlung von Schädlichem in Nützliches a. Schädliche Faktoren – insbesondere die schädliche Einwirkung des Mediums – sind für die Erzielung eines positiven Effektes zu nutzen. b. Ein schädlicher Faktor ist durch Überlagerung mit anderen schädlichen Faktoren zu beseitigen. c. Ein schädlicher Faktor ist bis zu einem solchen Grade zu verstärken, daß er aufhört, schädlich zu sein. 23. Prinzip der Rückkopplung a. Es ist eine Rückkopplung einzuführen. b. Falls eine Rückkopplung vorhanden ist, ist sie zu verändern. 24. Prinzip des „Vermittlers“

A.2 Relevante Prinzipien der TRIZ-Methode

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a. Es ist ein Zwischenobjekt zu benutzen, das die Wirkung überträgt, weitergibt oder auf sich nimmt. b. Zeitweilig ist an das Objekt ein anderes leicht zu entfernendes Objekt anzuschließen. 25. Prinzip der Selbstbedienung a. Das Objekt soll sich selbst bedienen sowie Hilfs- und Reparaturmaßnahmen selbst ausführen. b. Abprodukte, z. B. Energie und Stoff sind zu nutzen. 26. Prinzip des Kopierens a. Anstelle eines unzugänglichen, komplizierten, kostspieligen, schlecht handhabbaren oder zerbrechlichen Objektes sind vereinfachte und billige Kopien zu benutzen. b. Das Objekt oder das System von Objekten ist durch seine optischen Kopien (Abbildungen) zu ersetzen. 27. Prinzip der billigen Kurzlebigkeit anstelle teurer Langlebigkeit Das teure Objekt ist durch ein Sortiment billiger Objekte zu ersetzen, wobei auf einige Qualitätseigenschaften, z. B. Langlebigkeit, verzichtet wird. 28. Prinzip des Ersatzes mechanischer Wirkprinzipien a. Elektrische, magnetische bzw. elektromagnetische Felder sind für eine Wechselwirkung mit dem Objekt auszunutzen. b. Von unbeweglichen Feldern ist zu bewegten Feldern, von konstanten zu veränderlichen, von strukturlosen zu strukturierten Felder überzugehen. c. Die Felder sind in Kombination mit Ferromagnetteilchen zu benutzen. 29. Prinzip der Anwendung von Pneumo- und Hydrokonstruktionen Anstatt der schweren Teile des Objektes sind gasförmige oder flüssige zu benutzen, wie aufgeblasene oder mit Flüssigkeit gefüllte Teile, Luftkissen, hydrostatische oder hydroreaktive Teile. 30. Prinzip der Anwendung biegsamer Hüllen und dünner Folien a. Anstelle der üblichen Konstruktionen sind biegsame Hüllen und dünne Folien zu benutzen. b. Das Objekt ist mit Hilfe biegsamer Hüllen und dünner Folie vom umgebenden Medium zu isolieren. 31. Prinzip der Verwendung poröser Werkstoffe a. Das Objekt ist porös auszuführen, oder es sind zusätzlich poröse Elemente (Einsatzstücke, Überzüge usw.) zu benutzen. b. Wenn das Objekt bereits porös ausgeführt ist, sind die Poren mit einem geeigneten Stoff zu füllen. 32. Prinzip der Farbveränderung a. Die Farbe des Objektes oder des umgebenden Mediums ist zu verändern.

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b. Der Grad der Durchsichtigkeit des Objektes oder des umgebenden Mediums ist zu verändern. c. Zur Beobachtung schlecht sichtbarer Objekte oder Prozesse sind färbende Zuschläge zu nutzen. d. Wenn solche Zustände bereits angewandt werden, sind Leuchtstoffe zu verwenden. 33. Prinzip der Gleichartigkeit bzw. Homogenität Objekte, die mit dem gegebenen Objekt zusammenwirken, müssen aus demselben Werkstoff oder einem Werkstoff mit annähernd gleichen Eigenschaften gefertigt sein. 34. Prinzip der Beseitigung und Regenerierung von Teilen a. Teil eines Objektes, das seinen Zweck erfüllt hat oder unbrauchbar geworden ist, wird beseitigt (aufgelöst, verdampft o. ä.) oder unmittelbar im Arbeitsgang umgewandelt. b. Verbrauchte Teile eines Objektes werden unmittelbar im Arbeitsgang wieder hergestellt. 35. Prinzip der Veränderung des Aggregatzustandes Hierzu gehören nicht nur einfache Übergänge, z. B. vom festen in den flüssigen Zustand, sondern auch die Übergänge in „Pseudo- oder Quasizustände“, z. B. die Quasiflüssigkeit und in Zwischenzustände, z. B. die Verwendung elastischer fester Körper. 36. Prinzip der Anwendung von Phasenübergängen Die bei Phasenübergängen auftretenden Erscheinungen sind auszunutzen, z. B. Volumenveränderung, Wärmeentwicklung oder -absorption usw. 37. Prinzip der Anwendung von Wärmedehnung a. Die Wärmedehnung oder -verdichtung von Werkstoffen ist auszunutzen. b. Es sind mehrere Werkstoffe mit unterschiedlicher Wärmedehnungszahl zu benutzen. 38. Prinzip der Anwendung starker Oxidationsmittel a. Die normale atmosphärische Luft ist durch aktivierte zu ersetzen. b. Die aktivierte Luft ist durch Sauerstoff zu ersetzen. c. Die Luft oder der Sauerstoff ist der Einwirkung ionisierender Strahlung auszusetzen. d. Es ist ozonierter Sauerstoff zu benutzen. e. Ozonierter oder ionisierter Sauerstoff ist durch Ozon zu ersetzen. 39. Prinzip der Verwendung eines inerten Mediums a. Das übliche Medium ist durch ein reaktionsträgeres zu ersetzen. b. Der Prozeß ist im Vakuum durchzuführen. 40. Prinzip der Anwendung zusammengesetzter Stoffe Von gleichen Stoffen ist zu zusammengesetzten Stoffen überzugehen.

Bildquellen

Abbildung 1.2: Gesellschaft: https://pixabay.com/de/photos/menschenmen ge-menschen-silhouetten-2718833/ und Gesetze: https:// pixabay.com/de/illustrations/paragraf-paragraph-buch-rechtjura-63977/ Abbildung 1.3: Automobil: https://pixabay.com/de/illustrations/aston-mar tin-sportwagen-auto-2118857/, Bohrmaschine: https://pixa bay.com/de/vectors/bohrmaschine-schlagbohrhammer-bohrer154903/, Kaffeemaschine: https://pixabay.com/de/vectors/ kaffeemaschine-espresso-cappuccino-146435/, Kreuzfahrtschiff: https://pixabay.com/de/photos/kreuzfahrt-schiff-kreuzer1578528/, Produktionsanlage: https://unsplash.com/photos/ jHZ70nRk7Ns, Software: https://pixabay.com/de/photos/codehtml-digital-codierung-web-1076536/ Abbildung 1.4: Kundendienst: https://pixabay.com/de/photos/klempnerhandwerker-reparatur-228010/, Call-Center: https://pixabay. com/de/illustrations/pflege-service-call-center-2349763/, Inspektion: https://pixabay.com/de/photos/autowerkstattwerkstatt-bremsscheibe-1954636/, Logistik: https://pixabay. com/de/photos/container-fracht-transport-logistic-789488/, Physiologie: https://pixabay.com/de/illustrations/massagetherapie-entspannen-1015568/, Radiologie: https://pixabay. com/de/photos/mrt-kernspintomographie-diagnose-2813899/ Abbildung 2.4: Oben eigene Recherche des Autors aufbauend auf Daten des Kraftfahrt-Bundesamts und http://www.autobild.de/bilder/ vw-passat-viii-2014-auto-salon-paris-update–5122029.html# bild28 und http://www.kombi.de/wp-content/uploads/2014/ 01/VW-Passat-Variant-Familie1.jpg Abbildung 3.3: a) Eigenes Bild des Autors, b) http://www.nordbayern.de/ region/erlangen/erlangen-unterfuhrung-kaum-freigegebenschon-wieder-dicht Abbildung 3.6: https://pixabay.com/de/photos/garagen-die-tür-anzahlmagazin-428636/, https://pixabay.com/de/photos/garage-toreinfahrt-weiß-pflaster-1379189/, https://pixabay.com/de/

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Kirchner, Werkzeuge und Methoden der Produktentwicklung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61762-5

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B Bildquellen

photos/altes-tor-alte-garage-holztür-2719857/, https://pixabay. com/de/photos/doppeltüren-rot-eingang-ausfahrt-1176533/ Abbildung 3.11: http://www.dracholin.de/waerme_duebel_sx_fx100.html) Abbildung 3.17: https://www.motor-talk.de/news/viermal-suv-aus-einembaukasten-t5884746.html Abbildung 3.26: https://pixabay.com/de/illustrations/fahrrad-rad-bikemountainbike-757914/ Abbildung 3.28: https://pixabay.com/de/photos/audi-a4-avant-kombi-schwarzpkw-1203738 Abbildung 3.29: http:// www.auto.de/magazin/customs/uploads/auto/2017/ 06/Audi-Mild-Hybrid-48-Volt-Antriebsstranga-133755.jpg Abbildung 4.2: https://www.tcw.de/beratungsleistungen/innovationsmana gement/beschleunigung-von-entwicklungsleistungen-76 Abbildung 4.9: http://de.wikipedia.org/wiki/Schwimmsport Abbildung 4.21: https://www.e-education.psu.edu/geog584/l5_p5.html Abbildung 4.22: https:// www.planacademy.com/show-critical-path-in-p6/ Abbildung 4.23: https://pixabay.com/de/vectors/ampel-beleuchtungh%C3%A4ngeleuchte-gr%C3%BCn-147562/ Abbildung 4.25: hyperspace-blog.wordpress.com/category/visualisierung Abbildung 5.5: In a) https://pixabay.com/de/illustrations/icon-licht-ideegl%C3%BChbirne-4017417/ Abbildung 5.14: https://pixabay.com/de/photos/elektroauto-auto-carsharingsmart-4381728/ und https://pixabay.com/de/photos/pumpengas-kraftstoff-pumpe-1631634/ Abbildung 5.15: https://alexa-gmbh.com/produkte/feinguss/ (Ebenso in Abbildung 5.23) Abbildung 5.16: a) https://i.ytimg.com/vi/CBr7j_sGVQ0/maxresdefault.jpg, b) und c) mit freundlicher Genehmigung der Schaeffler Technologies AG, 91074 Herzogenaurach Abbildung 5.17 https://www.howacarworks.com/basics/the-engine-howthe-valves-open-and-close Abbildung 5.18: Links https://pixabay.com/de/photos/motorrad-yamahamotor-rad-reifen-4152471/, mitte [135], rechts [136] Abbildung 5.19: https://de.wikipedia.org/wiki/Synchronmaschine#/media/ Datei:Innenpolmaschine.svg, https://upload.wikimedia.org/ wikipedia/commons/7/7c/Vierpolig-3stränge.svg, https:// www.enbw.com/blog/fahren/wie-funktioniert-der-e-antrieb/ und http://kfz-aufgaben.de/hv/11_elektromot1.htm Abbildung 5.20: a) Mit freundlicher Genehmigung der FILCOM GmbH, 73760 Ostfildern-Ruit. b) Mit freundlicher Genehmigung der Mahle International GmbH, 70376 Stuttgart

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Abbildung 5.27: https://pixabay.com/de/photos/bmw-auto-fahrzeug-transportstraße-768688/ Abbildung 5.33 links: https://www.mein-autolexikon.de/elektrik/ anlasser.html, rechts [179] Abbildung 5.44: oben: Mit freundlicher Genhmigung der Holmer Maschinenbau GmbH, 84069 Schierling/Eggmühl, https://www.mercedes-benz.com/de/mercedes-benz/fahrzeuge/ lkw/der-neue-arocs/ und http://truck.forumslog.com/t2mercedes-benz-actros Abbildung 6.3: a) https://www.philips.de/c-p/HD6554_90/originalkaffeepadmaschine, b) https://www.focus.de/finanzen/news/ 30-menschen-starben-zuendschloss-skandal-general-motorshielt-warnmeldung-monate-zurueck_id_4262215.html, c) [62] Abbildung 6.16: a) Mit freundlicher Genehmigung der SEW-Eurodrive GmbH & Co KG, 76646 Bruchsal, b) eigenes Bild des Autors Abbildung 6.21: https://roadstars.mercedes-benz.com/de_AT/magazine/transport/04-2013/truck-production-in-the-woerth-factory.html Abbildung 6.22: a) Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Dr. Fürst, ehem. Gesellschaft für Meßtechnik mbH i.L., D-52076 Aachen, b) Mit freundlicher Genehmigung der Blankenhorn GmbH Längenmesstechnik, 73734 Esslingen am Neckar Abbildung 7.2: https://pixabay.com/de/kaffee-cafe-holz-hei%C3%9F-becher2589761/ Abbildung 7.6: a) aus [135], b) https://pixabay.com/de/illustrations/mercedesbenz-oldtimer-klassiker-1132187/ Abbildung 7.8: Liegenbleiber https://automobil-service.de/abschleppdienst/ abschleppdienst?rCH=2, Ölverlust https://www.ff-rodenbach. de/2018/01/02/oelspur-14/ Abbildung 7.12: https://pixabay.com/de/rohrbieger-arbeit-maschine-2819137/ und https://www.dguv.de/medien/fb-holzundmetall/publikationen/infoblaetter/infobl_deutsch/091_ortsbindung.pdf Abbildung 7.14: links mit freundlicher Genehmigung der Hankook Tire Europe GmbH, 63263 Neu-Isenburg Abbildung 7.15 links: https://pixabay.com/de/italien-motorrad-ducatikupplung-2765175/, recht [138] Abbildung 7.17: https://pixabay.com/de/flugzeug-flugzeuge-abflug-himmel50893/ und https://pixabay.com/de/flugzeug-flugzeugekommerziellen-1554870/ Abbildung 7.19: a) eigenes Bild, b) https://pixabay.com/de/ventil-heizungspezialventil-1440042/

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Abbildung 7.20: a) https://pixabay.com/de/elektrische-stecker-macht-elektro1138056/, b) Mit freundlicher Genehmigung der Chr. Mayr GmbH + Co. KG, 87665 Mauerstetten Abbildung 7.22: links https://pixabay.com/de/fahrrad-getriebe-golden-hipster557046/, mitte https://pixabay.com/de/fahrrad-geparkt-korbglocke-zyklus-1209682/, rechts https://ultrasport.net/shop/ fahrrad/ultrasport-reflektorband-lichtreflexband-mit-klettver schluss-fuer-mehr-sicherheit-bei-allen-outdoor-aktivitaetenneon-gelb/ Abbildung 7.23: https://pixabay.com/de/h%C3%BCgel-stra%C3%9Fewarnschild-autobahn-2673853/ und https://pixabay.com/de/ schilder-warnung-gefahr-hinweis-1750783/ Abbildung 7.26: https://pixabay.com/de/code-html-digital-codierung-web1076536/ und https://pixabay.com/de/schaltung-platinewiderstand-1443256/ Abbildung 8.7

https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/ betriebsabrechnung-30285 Abbildung 8.14: Daten abgerufen von Reifendirekt.de am 13.9.2018 Abbildung 8.23: Mit freundlicher Genehmigung der Lean Knowledge Base UG, 68542 Heddesheim Abbildung 8.24: a) https://pixabay.com/de/photos/kugellager-lagerlichtmaschine-513462/, b) Aus [135] Abbildung 8.25: https://www.heidelbergcement.de/de/betonfertigteile/ elementdecken und https://www.krafthand.de/truck/artikel/ moderne-dichttechnik-25003/ Abbildung 8.26: a) https://www.bauhaus.info/waeschekoerbe/waescheklam mern-super/p/20097790 und b) https://www.manufactum.de/ waescheklammern-edelstahl-a76248/?gclid=EAIaIQobChMI7 vm69O-Z6AIVF-DtCh2QjQ-FEAQYAyABEgLw_fD_BwE Abbildung 8.29: https://www.electrive.net/2018/03/02/daimler-uebernimmtcarsharing-angebot-car2go-komplett/ und https://pixabay.com/ de/photos/bagger-ausrüstung-bau-gebäude-428511/ Abbildung 8.30: https://www.ikea.com/de/de/catalog/categories/series/28102/ Abbildung 9.2: https://www.bmw.de/de/ssl/configurator.html Abbildung 9.3: https://www.mercedes-benz.de/passengercars/content-pool/ tool-pages/car-configurator.html/?rccVehicleClassId=205& rccVehicleBodyId=3 Abbildung 9.4: a) Mit freundlicher Genehmigung der SEW-Eurodrive GmbH & Co KG, 76646 Bruchsal, b) https://pixabay.com/de/photos/ schraube-hardware-4560923/ Abbildung 9.5: https://www.focus.de/fotos/ford-t-modell-1925_mid_

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Abbildung 10.7: https://www.dynamore.de/de/news/news-de/2019/ 0024_ ID010_porsche_gt_vs_bugatti_c_1mm_side_Y0_60kmh_vs_00 kmh_90deg.state_121.02.png/image_view_fullscreen und https://cache.pressmailing.net/thumbnail/story_hires/ d29c7a59-a1d7-49d1-9bac-42af1fb3c06f/Crash_Porsche-Bugatti_ beim_ADAC_Teaserbild.jpg.jpg Tabelle 10.2: Daten aus https://www.rapidobject.com/de/Wissenswertes/ 3D-Druck-verfahren_1173.html Abbildung 10.24:Mit freundlicher Genehmigung der Schaeffler Technologies AG, 91074 Herzogenaurach. Abbildung 10.29:https://www.mercedes-benz.com/de/fahrzeuge/ real-life-safety-der-eqc-und-die-sicherheit/ Abbildung 11.2: https://www.schaeffler.de/content.schaeffler.de/de/meta/ weltweit/standorte_weltweit/index.jsp Abbildung 11.3: https://www.iwkoeln.de/studien/iw-trends/beitrag/christophschroeder-an-international-comparison-of-industrial-labourcosts-296545.html Abbildung 11.4: Mit freundlicher Genehmigugn der Korn Ferry (Deutschland) GmbH, 60325 Frankfurt Abbildung 11.5: Ausgangsgrafik https://de.wikipedia.org/wiki/Zeitzone#/ media/Datei:World_Time_Zones_Map.png Tabelle 11.2: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/233654/umfrage/verteilung-der-verwendungszwecke-seltener-erden/ Abbildung 11.7: http://www.auszeitnomaden.de/ein-visum-fuer-die-philippinengedanken-spiele/ und https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Tourist_visa_of_the_People%27s_Republic_of_China.jpg Abbildung 11.8: https://www.usgs.gov/media/images/eyjafjallaj-kull-eruption und https://www.tagesschau.de/multimedia/bilder/erdbebenjapan122.html Abbildung 11.11:http://www.pmleveld.de/wp-content/uploads/2015/06/ Matrixorganisation.png Tabelle 11.4: https://www.projektmagazin.de/projektteam

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