Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters 9783110915662, 9783110183368

The volume presents a collection of papers by noted German and British medievalists, who join the discussion on the conc

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German Pages 523 [528] Year 2005

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Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters
 9783110915662, 9783110183368

Table of contents :
Einleitung
Eröffhungsvortrag
Hans Folz zwischen Handschriftenkultur und Buchdruckerkunst
Literarische und mediale Rahmenbedingungen
Werkstatt-Typ, Gattungsregeln und die Konventionalität der Schrift. Eine Skizze
Bearbeitungstypen in der Literatur des Mittelalters. Vorschläge für eine Klärung der Begriffe
Textproduktion im Umgang mit Vorlagen
adaptation courtoise als »Schreibweise«. Rekonstruktion einer Bearbeitungstechnik am Beispiel von Hartmanns >IweinApolloniusSalomon und MarkolfMinneburgKarlmeinetParzivalRitter von StaufenbergWartburgkrieg Vier Bücher von menschlicher Proportion< an Willibald Pirckheimer
Verzeichnis der Abkürzungen
Autoren- und Werkregister
Sachregister

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Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters

W G DE

Trends in Medieval Philology Edited by Ingrid Kasten · Nikiaus Largier Mireille Schnyder

Editorial Board Ingrid Bennewitz · John Greenfield · Christian Kiening Theo Kobusch · Peter von Moos · Uta Störmer-Caysa

Volume 7

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters Herausgegeben von Elizabeth Andersen · Manfred Eikelmann · Anne Simon unter Mitarbeit von Silvia Reuvelcamp

Walter de Gruyter · Berlin · New York

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 1612-443X ISBN-13: 978-3-11-018336-8 ISBN-K): 3-11-018336-6 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2005 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

Durham, University Library, Cod. Cosin V.III. 1, f. 2 2 v (Lawrence, Prior von Durham 1149 - 1154)

Vorwort Vom 12. - 16. September 2001 fand in St Aidans College (Durham) bei Newcastle upon Tyne das 17. Anglo-deutsche Colloquium zum Thema , Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters' statt. Die Vorträge des Colloquiums sowie ein weiterer Beitrag, auf dessen Vortrag die Autorin zur Entlastung des dichten Tagungsprogramms verzichtet hatte, werden in diesem Band vorgelegt. Die Herausgeber haben der British Academy, der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie der School of Modern Languages, University of Newcastle, und den Faculty of Arts Research Fund, University of Bristol, dafür zu danken, daß sie die Tagung großzügig unterstützt haben. Helen Webster und Silvia Reuvekamp haben engagiert die organisatorischen Aufgaben mitgetragen. Silvia Reuvekamp, Nadine Krolla und Esther Laufer haben die Drucklegung bis hin zur Erstellung des Registers mit großer Sorgfalt begleitet. Dem de Gruyter-Verlag sowie den Herausgebern der Reihe danken wir gerne für die Aufnahme unseres Bandes in die >Trends in Medieval PhilologyIwein
ApolloniusSalomon und Markolf
MinneburgKarlmeinetParzival
Ritter von Staufenberg
WartburgkriegVier Bücher von menschlicher Proportion< an Willibald Pirckheimer

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Verzeichnis der Abkürzungen

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Autoren- und Werkregister

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Sachregister

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Einleitung ι. Das Feld des Textbegriffs zieht seit einigen Jahren verstärkt die Aufmerksamkeit der Mittelalterphilologie auf sich. Im Blickpunkt der Diskussionen steht ein Phänomen, das zumal für die volkssprachlichen Literaturen des Mittelalters charakteristisch scheint: der unfeste und veränderbare Text. 1 Dabei gilt es zwar als Konsens der Forschung, daß mittelalterliche Texte in einer Kultur zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit entstehen und existieren, in einem historisch spezifischen Spannungsfeld, in dem sich die gelehrte Schrift- und Buchkultur der Epoche und die vorwiegend noch mündliche Kommunikationspraxis der Laien allmählich annähern und gegenseitig durchdringen. 2 Gleichwohl sind die Probleme, die sich dann stellen, wenn man nach der kulturell geprägten Eigenart mittelalterlich volkssprachlicher Texte fragt, noch kaum hinreichend geklärt, und wie jüngste Diskussionen über »die besondere Textualität mittelalterlicher Texte« 3 gezeigt haben, fehlt es an Forschungen, welche die theoretisch umrissenen Ansätze und Konzepte praktisch erproben und methodisch weiterführen. »Texttyp und Textproduktion in der Literatur des deutschen Mittelalters« das Thema unseres Bandes wurde bei dem vorausgehenden Treffen des Anglodeutschen Colloquiums in Hamburg verabredet. Es knüpft, so wie seinerzeit überlegt, an aktuelle Theoriediskussionen um den mittelalterlichen Text an, und es stellt dabei zwei Gesichtspunkte heraus, die beide auf die >Produktionsseite< mittelalterlicher Literatur gerichtet sind: die Frage nach Verfahren der Produktion und Konstitution volkssprachlicher Texte und damit verbunden die weitergehende Frage nach den Entstehungs- und Rahmenbedingungen, aus

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Vgl. die grundsätzlichen Überlegungen bei JOACHIM BUMKE, Die vier Fassungen der .Nibelungenklage'. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8), Berlin/New York 1996, S. 53-60. Dazu mit den nötigen begrifflichen Differenzierungen CHRISTIAN KlENING, Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Moderne (Fischer Taschenbuch 15951), Frankfurt a. M. 2003, S. 7-28. JAN-DIRK MÜLLER, Aufführung, Autor, Werk, in: Mittelalterliche Literatur und Kunst im S p a n n u n g s f e l d v o n H o f u n d K l o s t e r , h g . v o n NIGEL F. PALMER/HANS-JOCHEN SCHIEWER, T ü -

bingen 1999, S. 149-166, hier S. 151.

XII

Einleitung

denen sich die Herausbildung relativ stabiler Texttypen und Gattungen erklären läßt. Im weiteren Diskussionshorizont der Forschung gesehen sind daher nicht vorrangig solche Probleme anvisiert, wie sie sich speziell für den Aufführungscharakter vormoderner Literatur stellen, wenngleich bei der Produktion älterer Texte immer auch das Verhältnis von Stimme und Schrift zu berücksichtigen ist.4 Gleichfalls sind in erster Linie nicht dezidiert literatursoziologische Fragestellungen gemeint, bei denen der Akzent auf unserem Wissen über die textexterne Wirklichkeit des höfischen Literaturbetriebs, über Auftragsverhältnisse und Arbeitsweisen, gesellschaftliche Stellung und Bildung volkssprachlicher Autoren liegt. 5 Thema und Zielsetzung unseres Bandes beziehen sich vielmehr auf die textphilologischen und texttheoretischen Diskussionen, die seit den 1990er Jahren mit der polemisch gefärbten Forderung nach einer >New Philology< verbunden waren, 6 in jüngster Zeit aber bei dem Problem ansetzen, wie die spezifische Textualität mittelalterlicher Texte im Kontext einer in der Regel >unfesten< und >veränderbaren< Überlieferung zu bestimmen Langfristig waren es überlieferungs- und textgeschichtliche Forschungen, die für die geistliche Prosa, kleinepische Erzählungen, höfische Lieddichtung und Epik gezeigt haben, daß mittelalterliche Texte im Prozeß ihrer Tradierung nicht selten erheblich verändert werden - und für uns kaum einmal als im Wortlaut definitiv fixierte Werke greifbar sind. 7 Auf einige Folgerungen, die aus diesem charakteristischen Befund zu ziehen sind, haben zuerst die rezenten Diskussionen zum mediävistischen Autor-Werk-Konzept hingewiesen. Auch wenn man nicht geradezu für den Verzicht auf ein autorzentriertes Werkkonzept plädieren möchte, so spricht gegenwärtig doch vieles dafür, daß selbst 4

Z u m S t a n d d e r D i s k u s s i o n e b d . S. 1 5 2 - 1 5 6 .

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Z u r D i s k u s s i o n ü b e r S t a t u s u n d F u n k t i o n h ö f i s c h e n Literatur als A u f t r a g s - u n d R e p r ä s e n t a t i o n s k u n s t zuletzt ECKHART CONRAD LUTZ, Literatur d e r H ö f e - Literatur d e r F ü h r u n g s g r u p p e n , in: M i t t e l a l t e r l i c h e L i t e r a t u r u n d K u n s t i m S p a n n u n g s f e l d v o n H o f u n d K l o s t e r [ A n m . 3], S. 2 9 - 5 2 ; PETER STROHSCHNEIDER, L i t e r a r i s c h e L i g a t u r e n . P h i l i p p C o l i n ü b e r P a r a d o x i e n h ö f i s c h e r K u n s t a u f t r ä g e i m M i t t e l a l t e r , in: K u n s t , M a c h t u n d Institution. S t u d i e n zur P h i l o s o p h i s c h e n A n t h r o p o l o g i e , s o z i o l o g i s c h e n T h e o r i e u n d K u n s t s o z i o l o g i e d e r M o d e r n e , h g . v o n JOACHIM FISCHER/HANS JONAS, F r a n k f u r t a. M . / N e w Y o r k 2 0 0 4 , S. 5 3 7 - 5 5 6 . B e s t a n d s a u f n a h m e n d e r D e b a t t e : P h i l o l o g i e als T e x t w i s s e n s c h a f t . Alte u n d n e u e H o r i z o n t e , hg. v o n HELMUT TERVOOREN/HORST WENZEL, Z f d P h 116 ( 1 9 9 7 ) , S o n d e r h e f t ; A l t e u n d n e u e Phil o l o g i e , h g . v o n MARTIN-DIETRICH GLEBGEN/FRANZ LEBSANFT ( B e i h e f t e zu e d i t i o 8), T ü b i n gen 1997.

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D a z u p r ä z i s i e r e n d KURT RUH, Ü b e r l i e f e r u n g s g e s c h i c h t e m i t t e l a l t e r l i c h e r T e x t e als m e t h o d i s c h e r A n s a t z zu e i n e r e r w e i t e r t e n K o n z e p t i o n v o n L i t e r a t u r g e s c h i c h t e , in: Ü b e r l i e f e r u n g s g e s c h i c h t l i c h e P r o s a f o r s c h u n g , hg. v o n KURT RUH ( T e x t e u n d T e x t g e s c h i c h t e 19), T ü b i n g e n 1 9 8 5 , S. 3 9 8 - 4 2 7 , b e s . S. 2 6 8 f . - B e a n t w o r t e t ist d a m i t n o c h n i c h t die F r a g e , i n w i e w e i t d a s M i t t e l a l t e r b e r e i t s d a s >Werk< als g e i s t i g e s E i g e n t u m d e s A u t o r s k e n n t , das g e g e n d e n Z u g r i f f v o n S c h r e i b e r n u n d R e d a k t o r e n g e s c h ü t z t ist, d e n n d i e V e r ä n d e r u n g e n der T e x t e z e i g e n z u n ä c h s t i m m e r n u r d e r e n O f f e n h e i t f ü r p r o d u k t i v e R e z e p t i o n e n a n . V g l . die k r i t i s c h a k z e n t u i e r t e D i s k u s s i o n b e i KLAUS GRUBMOLLER, V e r ä n d e r n u n d B e w a h r e n . Z u m B e w u ß t s e i n v o m T e x t i m M i t t e l a l t e r , in: T e x t u n d K u l t u r . M i t t e l a l t e r l i c h e Literatur 1 1 5 0 - 1 4 5 0 , h g . v o n URSULA PETERS ( G e r m a n i s t i s c h e S y m p o s i e n B e r i c h t s b ä n d e 23), S t u t t g a r t / W e i m a r 2 0 0 1 , S. 8 - 3 3 .

Einleitung

XIII

durch Verfassernamen autorisierte Werke primär und konzeptionell auf eine für Bearbeitungen, Fortsetzungen und Neufassungen offene Textproduktion angelegt waren oder in gewissen Grenzen sein konnten. 8 Der Spielraum, den solche an den Befunden der Text- und Bild-Überlieferung abgelesene Differenzierungen des Autor- und Werkbegriffs öffnen, wäre erst noch genauer auszumessen. Daß der so erweiterte Beobachtungsrahmen aber neue Fragen nach der Produktion und Konstitution mittelalterlicher Texte aufwirft, und daß sich die Fragen danach auch anders stellen, weil selbst bei genuin schriftliterarischen Gattungen wie dem höfischen Roman nicht sicher mit der Größe des festen Autortextes zu rechnen ist, dürfte auf der Hand liegen. Jedenfalls stößt man in diesem Zusammenhang auf Sachverhalte, die näher besehen »durchaus zur >Grundproblematik< unserer Philologien gehören« 9 und die wichtige Anstöße geben können, von den überlieferten Texten her gängige Vorstellungen von der Produktion mittelalterlicher Texte, den medialen und literarischen Faktoren, die sie bestimmen, und den an ihr beteiligten Instanzen - Autoren, Schreiber, Redaktoren, Werkstätten - zu überprüfen. Das schließt die Frage nach dem Rollen- und Selbstverständnis der Verfasser sowie den sie leitenden ästhetischen Maßstäben ein. Auch in dieser Hinsicht richtet sich der Blick darauf, was die an der Überlieferung eines Textes beobachteten Verfahren und Strategien über seine Produktion und den oder die Träger dieser Produktion aussagen. Insofern bilden nicht das Konstrukt einer Autorpersönlichkeit sowie deren mögliche Lebens- und Bildungsverhältnisse den Ausgangspunkt der Analyse, sondern der Zugang zu den Produktionsbedingungen erschließt sich erst über das konzeptionelle Profil der Texte, ihre medialen Besonderheiten oder auch die Art und Weise, in der übergreifende Denktraditionen genutzt werden. Das Problemfeld mittelalterlicher Textproduktion erstreckt sich nicht nur auf Fragen des Autor- und Werkbegriffs. Neben medialen Bedingungen, die, abhängig von den jeweiligen Gattungsvorgaben, den besonderen Status mittelalterlicher Texte zwischen den Polen körper- und schriftgebundener Kommunikation begründen, 10 stellt die materiale und technische Seite der Schrift- und Buchherstellung alles andere als eine bloß äußerliche Voraussetzung für die Textkonstitution dar. Das betrifft neben skripturalen Praktiken des Ab-, Weiter- und Neuschreibens nicht zuletzt text- und wissensorganisierende Verfahren von der Gestaltung der Manuskriptseite über Abschnitts- und Kapitelgliederungen bis hin zur planvollen Anlage von Sammlungs- und Textarrangements." Was mit diesen nur knapp angedeuteten medialen und material8

V g l . KARL STACKMANN, N e u e P h i l o l o g i e ? In: M o d e r n e s M i t t e l a l t e r , h g . v o n JOACHIM HEINZLE, F r a n k f u r t a. M . / L e i p z i g 1994, S. 3 9 8 - 4 2 7 , hier S. 4 0 1 - 4 0 5 .

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WULF OESTERREICHER, T e x t l e k t ü r e n . H i s t o r i s c h e S p i e l r ä u m e d e r I n t e r p r e t a t i o n , P B B ( 2 0 0 3 ) , S. 2 4 2 - 2 6 6 , h i e r S. 2 4 3 ; s o w i e e b d . den h e u r i s t i s c h a n r e g e n d e n F r a g e n k a t a l o g .

125

10 V g l . im R a h m e n dieses B a n d e s die e i n l e i t e n d e n Ü b e r l e g u n g e n des B e i t r a g s v o n FRANZISKA WENZEL. 11 Z u r H a n d s c h r i f t e n k u l t u r d e s M i t t e l a l t e r s d e r Ü b e r b l i c k bei BUMKE 1 9 9 6 [ A n m . 1], S. 6 8 - 7 9 ; STEPHEN NICHOLS, W h y M a t e r i a l P h i l o l o g y ? In: P h i l o l o g i e als T e x t w i s s e n s c h a f t [ A n m . 6], S.

XIV

Einleitung

technischen Aspekten dann aber vor allem auch ins Spiel kommt, ist die Frage nach den historisch-kulturell spezifischen Bedingungen und Voraussetzungen der Entstehung und Produktion von Texten. Für die Konzeption unseres Bandes ist diese Diskussionsebene der Entstehungs- und Rahmenbedingungen wesentlich, da es einerseits um die literarischen, medialen und technisch-materialen Faktoren der Produktion volkssprachlicher Texte geht. Wie die Beiträge zeigen, wirken sie sich in der mittelalterlichen Praxis des Umgangs mit vorgängigen und als musterhaft geltenden Texten und Texttraditionen von Fall zu Fall ganz verschieden aus. 12 Und andererseits ist die Frage nach den historischen Bedingungen der Textproduktion nicht allein für einzelne Texte, sondern auch die Ausbildung literarischer Gattungen und Texttypen von Belang. Ob und inwieweit etwa die naheliegende Vermutung zutrifft, daß erst Schrift und Schriftlichkeit das Zustandekommen dauerhafter Texttypen und Texttraditionen ermöglichen, ist eines der Probleme, die sich in diesem bislang wenig diskutierten Zusammenhang stellen; daneben steht beispielsweise aber auch zur Debatte, wie Textproduktion und -rezeption sich in kleinräumigen Gattungsprozessen allmählich von einander ablösen und welche Funktionen die Texte in den unterschiedlichen Phasen solcher Prozesse erhalten. 13 Im folgenden stellen wir die in diesem Band versammelten Beiträge vor. Auf die vorwiegend systematischen Gesichtspunkte für ihre Anordnung und Gruppierung führen die in den Überschriften formulierten Themen und Problemstellungen hin. Bezüge zur Forschung und weiterreichende Perspektiven, die sich aus der Zusammenschau der Beiträge ergeben, versuchen wir zu Beginn der einzelnen Abschnitte zu benennen.

II. Literarische und mediale Rahmenbedingungen Die ersten drei Beiträge stecken das anvisierte Problemfeld historisch und systematisch ab. Sie berücksichtigen vorrangig Zeiträume und Entwicklungen, in denen sich so wie in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts die besonderen Verhältnisse volkssprachlich-literarischer Kommunikation neu formieren oder aber, wie auf der Schwelle zur frühen Neuzeit, tiefgreifende Umbrüche erfahren. In ihren Fragestellungen zielen sie auf grundsätzliche Aspekte und Perspektiven des Rahmenthemas: die technischen und organisatorischen Voraus-

1 0 - 3 0 ; KLAUS GRUBMULLER, Ü b e r l i e f e r u n g - T e x t - A u t o r . Z u m L i t e r a t u r v e r s t ä n d n i s d e s M i t telalters, in: D i e P r ä s e n z d e s M i t t e l a l t e r s in s e i n e n H a n d s c h r i f t e n , hg. v o n HANS-JOCHEN SCHIEWER/KARL STACKMANN, T ü b i n g e n 2 0 0 2 , S. 5 - 1 7 . 12 E i n e n s y s t e m a t i s c h e n A u f r i ß b i e t e t d e r A r t i k e l v o n GERD DICKE, Quellen, in: R L W , B d . 3, S. 203-205. 13 V g l . die B e i t r ä g e v o n JEFFREY ASHCROFT, MICHAEL BALDZUHN u n d KLAUS GRUBMÜLLER.

Einleitung

XV

Setzungen der Schrift- und Buchherstellung und das Selbstverständnis der Textproduzenten (FLOOD), die abhängig von lebensweltlichen Situationskontexten variablen Bedingungen der Entstehung von Texten und Texttraditionen (GRUBMÜLLER), schließlich die typischen Verfahren und leitenden Kategorien volkssprachlicher Dichtungspraxis, welche derzeit unter den Stichworten des >Wiedererzählens< und >Weiterschreibens< zur Diskussion stehen (STEINMETZ). Der Eröffnungsvortrag der Tagung galt der Übergangszeit zwischen mittelalterlicher Handschriftenkultur und frühem Buchdruck. In seiner Fallstudie zur einschlägig dokumentierten Druckproduktion des Hans Folz arbeitet JOHN FLOOD (S. 1-27) die noch eher provisorischen Anfänge einer »bescheideneren Offizin« heraus, um dann am Beispiel des sog. >Gutenbergliedes< nach den Gründen für die zwiespältige Einstellung des Nürnberger Handwerkerdichters zum neuen Medium des gedruckten Buches zu fragen. Kontur erhält so eine für die anbrechende Gutenberg-Ära symptomatische »Unsicherheit«. Bei Folz ist sie daran ablesbar, daß er die sich wandelnden Bedingungen der literarischen Kommunikation und deren Folgen für Konzeption, Gestaltung und Vermittlung literarischer Texte erst ansatzweise erkannt hat. Das gilt zumal für die standardisierende Wirkung des Buchdrucks und die damit verbundene Durchsetzung des festen Autortextes, obwohl Folz »zur ersten Generation deutscher Autoren« gehörte, deren Werke nach neuzeitlichen Maßstäben in autorisierter Fassung vorliegen. Die folgenden zwei Beiträge nehmen die mittelalterlich deutsche Literatur dagegen betont als Literatur vor der Neuzeit und vor der Moderne in den Blick. Systematisch ansetzend fragen sie nach den Bedingungen der Literaturproduktion in einer Kultur, in die Schrift und Buch erst allmählich vordringen und der moderne genie- und originalitätsästhetische Vorstellungen fremd sind. KLAUS GRUBMÜLLER (S. 31-40) akzentuiert das noch wenig beachtete Problem, wie literarische Traditionen (Gattungen, Texttypen) sich herausbilden und welche Rolle die Schrift bei ihrer Entstehung und Verfestigung hat. Er geht davon aus, daß vormoderne Literatur nicht immer schon »systemhaft« geordnet ist: ihre typenprägenden Themen, Redeweisen und poetischen Muster müssen sich erst formieren, und zudem ist die Ausbildung solcher Traditionen primär an mündliche Kommunikationen gebunden, in die schriftzentrierte Diskursformen - theoretische Reflexionen oder Poetiken - erst nachträglich eingreifen. In Heldenepik, Minnesang und Sangspruchdichtung sind es die unausgesprochenen Konventionen eingespielter Redesituationen, die das Entstehen traditionsfähiger »Werkstatt-Typen« begünstigen. Im Falle des höfischen Romans hingegen wirkt die Schrift als strukturierender Faktor. Durch sie gerät die literarische Kommunikation unter besondere Explizitheitsansprüche, so daß »gattungsbildende« Verfahren wie das Übersetzen oder das Erneuern von Vorlagentexten ausdrücklich thematisiert werden können. - Die »Eigenart« mittelalterlicher Texte »als Bearbeitungen verschiedenen Grades« stellt RALF-HENNING STEINMETZ (S. 4 1 - 6 1 ) d a n n ins Z e n t r u m seiner t e r m i n o l o g i -

schen Überlegungen. Die seit längerem angebahnte Revision philologischer

XVI

Einleitung

Beschreibungskategorien und Textvorstellungen nimmt er zum Anlaß für eine Zusammenschau meist wenig einheitlich verwendeter Ausdrücke wie >BearbeitungFassungVersion< oder >AdaptionBearbeitung< vor. Auf dieser Basis beschreibt STEINMETZ ein Spektrum von >BearbeitungstypenIwein< testet.

Textproduktion im Umgang mit Vorlagen Die Beiträge des nächsten Abschnitts analysieren die Praxis des Um- und Neugestaltens textlicher Vorlagen an höfischen Romanen des 12. und 13. Jahrhunderts sowie zwei charakteristischen Texttraditionen (Minnerede, Schwankroman) des späten Mittelalters. Es geht dabei weniger um theoriezentrierte Überlegungen, als vielmehr darum, in der neueren Forschung umrissene Konzepte und Ansätze praktisch zu erproben und ihren Aufschlußwert für das Fall zu Fall anders strukturierte Verhältnis von textlicher Vorlage und Neutext zu bestimmen. Wie die Beiträge zeigen, ist mit der Frage des Vorlagengebrauchs ein Themenkomplex aufgerufen, der in besonderem Maße geeignet scheint, Verfahren der Textherstellung nicht nur punktuell, sondern systematisch zu ermitteln und dabei verstärkt die Materialität der Überlieferung - das Herstellen der Handschrift als eigene Ebene der Textproduktion - einzubeziehen. Andererseits akzentuieren die Beiträgerinnen und Beiträger gerade auch die methodischen Probleme, mit denen Analysen von Verfahren und Praktiken der Textherstellung schon deswegen zu tun haben, weil die historischen Umstände der Textentstehung und des Textgebrauchs in der Regel nur sehr lückenhaft bezeugt sind, und weil daher primär »im Text selbst und seiner Überlieferung« (BAISCH) nach den Anhaltspunkten und Spuren zu suchen ist, die Rückschlüsse von der Textgestalt und der Überlieferungslage auf »die Grundstrukturen der Textproduktion« (LIEB) erlauben. Vor diesem Hintergrund gelten die Analysen insbesondere auch den situativen Kontexten, im Blick auf die sich die beobachteten Formen des Vorlagengebrauchs als textliche Handlungen und als Faktor der literarischen Kommunikation erschließen. Im einzelnen eröffnen sich so Einblicke in typenprägende Schreibweisen oder Diskursreferenzen, die das Rezeptionsverhalten des zeitgenössischen Publikums strukturieren (BAUSCHKE, STEVENS), lassen sich an Textveränderungen wie auch an der handschriftlichen >mise en page< Akte narrativer Sinnkonstitution ablesen (BAISCH, ACHNITZ), tun sich nicht zuletzt Zugänge zu den literarischen Spielräumen vermeintlich >konventionell< gemachter Textreihen auf, die näher zugesehen ihrer eigenen Poetik folgen (LIEB) oder aber, gegen den ersten

Einleitung

XVII

Eindruck, neue Erzählkonzepte und poetische Strategien ermöglichen (EMING).

RICARDA BAUSCHKE (S. 65-84) geht es um eine erzählanalytisch fundierte Neubewertung der sog. adaptation courtoiseYvain/ Iwein< bringen nicht allein Konstituenten höfischer Textadaptation zum Vorschein (ζ. B. Reduktion des Erzähltempos, Vermitteltheit des Erzählerberichts), deutlich wird auch, daß die deutschen Autoren bereits eingeübte »Erzählkonventionen« spielerisch brechen, um die »Literarizität« ihrer Werke auf einer neuen Stufe zu konstituieren und kommunikativ zu vermitteln. - Anküpfend an BACHTINS Theorie des polyphonischen Romans begründet ADRIAN STEVENS (S. 85-99) seine These, die Freundschaftsdiskurse des 12. Jahrhunderts als »Intertexte« für die höfischen Bearbeitungen des Tristanstoffes in Betracht zu ziehen. In seiner Lektüre von Gottfrieds >Tristan< deutet er die Ansichten der Romanfiguren und die Äußerungen des Erzählers im Sinne einer Diskursivierung des Themenkomplexes Liebe, Freundschaft und Ehebruch und hebt u. a. hervor, daß Gottfried den Minnetrank nicht nur als Quelle der sinnlichen Liebe zwischen Mann und Frau, sondern auch der Freundesliebe in Szene setzt. Insofern stelle der Roman die Vereinbarkeit von Liebespassion und Freundesliebe grundsätzlich zur Debatte. MARTIN BAISCH (S. 101-120) diskutiert die Textproduktion des höfischen Romans im Horizont der »mittelalterlichen Performanz- und Manuskriptkultur«. Er sichtet einläßlich die kultur- und texttheoretischen Diskussionen des letzten Jahrzehnts und begründet von da sein Verständnis mittelalterlicher Texte als aktualisierender »Adaptationen« eines Werkes »an einen gewandelten Sinnhorizont«. Am Beispiel der Münchener >TristanTristan< zu entproblematisieren und durch die profilierte Darstellung der Exemplarizität des Helden zu harmonisieren. - WOLFGANG ACHNITZ (S. 121-141) nimmt sich vor, Heinrichs von Neustadt scheinbar strukturlos ausweitende Bearbeitung der spätantiken >Historia Apollonia als sorgfältig geplantes Werk zu erweisen. Er geht davon aus, daß die handschriftliche Gliederung des Textes in 74 Kapitel auf die Lebensjahre des Helden verweist, und zieht aus seinen Befunden den Schluß, daß der Roman als Vita des Protagonisten angelegt ist. ACHNITZ untersucht systematisch Verfahren skripturaler Textgestaltung (Initialensetzung, Kapiteleinteilung etc.) und setzt sie zur Handlungsstruktur und zum Erzählerdiskurs in Beziehung. Nicht der Text als das von einem Autor geschaffene, situationsüberdauernde und relativ feste Wort-Sinn-Gefüge steht im Zentrum von LUDGER LlEBs (S. 143-161) Überlegungen, sondern die Ermöglichung stets neuer und doch am

XVIII

Einleitung

Alten anknüpfender Textproduktion. In handschriftennahen Analysen ausgewählter Minnereden entwickelt er eine Typik poetischer Verfahren, die einen vorliegenden Text oder vorliegende Textbausteine - umschreibend, kompilierend, erneuernd, weiterschreibend - in einen Neutext verwandeln. LIEB schlägt vor, Minnereden in ihrer spezifischen Variabilität als punktuelle Manifestationen eines stetig fortgesetzten Textproduktionsprozesses zu begreifen. - JUTTA EMING (S. 163-179) stellt herkömmliche Einschätzungen von Gregor Haydens >Salomon und MarkolfDialogus Salomoni et Marcolfk nachdrücklich in Frage. Durch sorgfältige Textvergleiche ermittelt sie zunächst eine Vielzahl struktureller und sprachlicher Bearbeitungsverfahren und zeigt dann, wie in Haydens Version über die allgemeine didaktische Rahmung hinaus eine »veränderte Hauptfigur« und eine »neue Poetik des Textes« Kontur gewinnen. Markolf wird zu einem berechenbaren Helden, der sich am Hofe seines einstigen Kontrahenten Salomon nützlich macht.

Verfahren der Kohärenzbildung Drei Beiträge zeigen exemplarisch, welche interpretatorischen Perspektiven sich aus eher mikroskopischen Analysen der syntaktischen, semantischen und poetischen >Textur< mittelalterlicher Texte ergeben können. Methodisch erweitern sie das Spektrum des vorhergehenden Themenblocks, indem sie nun ganz speziell sprachliche, poetische und buchmediale Verfahren der Kohärenzbildung untersuchen, mithin solche Verknüpfungsmittel und -praktiken, die dazu dienen können, einen semantisch-thematisch >kohärenten< Textzusammenhang herzustellen. Es erweist sich geradezu als Vorteil, daß die ausgewählten Analysebeispiele (auch) in Hinblick auf Status, Geltungsanspruch und Funktion des jeweiligen Texttyps grundverschieden sind und daher höchst unterschiedliche Kohärenzstrategien in den Blick kommen. Im Falle von Otfrids althochdeutscher >Evangelienharmonie< kennzeichnet ein dichtes Geflecht phorischer Vor- und Rückverweise den Text »als Buch, in dem alle Teile thematisch miteinander zusammenhängen und in dem man vor- und zurückblättern kann« (HARTMANN). Dagegen erscheint der Status der spätmittelhochdeutschen >Minneburg< eigentümlich offen, insofern sich das Werk als >Anthologie< und >MusterbuchMetatext< lesen läßt (VOLFING). In Gestalt der zeitgleich entstandenen >KarlmeinetEvangelienbuch< arbeitet HEIKO HARTMANN (S. 183-201) in seiner textlinguistisch verfahrenden Untersuchung detailgenau kohärenzstiftende Schreibtechniken und -Strategien heraus: syntaktische und thematische Vor- und Rückverweise, rezeptionslenkende Erzählakte, Selbstzitate, Überschriften und Marginalien. HARTMANN

Einleitung

XIX

bezieht daneben solche Textstellen ein, die heutigen Lesern als unstimmig und brüchig erscheinen, erklärt sie jedoch gerade nicht als »poetische Ungeschicklichkeit« des Autors, sondern als »Textspuren«, die auf den »performativen Charakter« und das monastische Umfeld des Werkes verweisen. Es ist dieser doppelte Befund, der die besondere Textlichkeit des >Evangelienbuchs< ausmacht: hochgradig elaborierte Schrift- und Buchstrukturen auf der einen, bis in die syntaktische Feinstrukturen nachweisbare Situationsbezüge auf der anderen Seite. Die zwischen 1350 und 1400 entstandene >Minneburg< sperrt sich in fast jeder Hinsicht gegen systematisierende Zugriffe. Wie ANNETTE VOLFING (S. 203-216) zeigt, überlagern sich im Text der >Minneburg< disparate literarische Materialien und Traditionen, deren konzeptioneller Zusammenhang erst dann einsichtig wird, wenn man das Werk als »Metatext« interpretiert. Demnach ist es der Ich-Erzähler, dessen Minnedienst die heterogenen Textbestandteile inhaltlich verbindet und, dies vor allem, der »seine eigene literarische Methodik« so kommentiert, daß das Thema der Minne und die Entstehung des Werkes aufeinander bezogen sind. Für das Verständnis dieses Zusammenhangs erweist sich die Metaphorik der Liebesvereingung als grundlegend, da sie in poetologischer Lesart das Erzeugen einer neuen Werkeinheit meint. - FRANK FÜRBETH (S. 217-234) rekonstruiert eingehend den Entstehungsprozeß des >KarlmeinetKarlmeinet< ist eine Sammlung historischer Beispielgeschichten über Karl den Großen, die unter Verzicht auf ein in jeder Hinsicht stimmiges Gesamtbild exempt α ad imitandum bereitstellt.

Poetisch-rhetorische Inszenierungsverfahren Auch in den Beiträgen dieses Abschnitts geht es um textstraktierende Verfahren und Strategien. Doch zielen sie nun auf deren zugleich poetische wie rhetorische Dimension, so daß jedes Mal die Frage in den Mittelpunkt rückt, wie bestimmte ästhetische Wirkungen - Effekte der Evidenz oder emotionale Erfahrungsqualitäten - entstehen und durch welche literarischen Mittel sie hervorgerufen werden (vgl. den Beitrag von WALTENBERGER S. 287-308). Damit visieren die Überlegungen aus unterschiedlichen Perspektiven zugleich jenen Problemzusammenhang an, der aktuell unter Stichworten wie >Aufführung und SchriftPerformanz< und >Medialität< erörtert wird. So hebt BURKHARD HASEBRINK in seiner Analyse der Blutstropfenszene des Parzivalromans die sprachliche und poetische Verfaßtheit der Erzählung hervor und akzentuiert damit »die spezifischen Bedingungen der literarischen Inszenzierung« mittelalt e r l i c h e r T e x t e ; MICHAEL SHIELDS g e h t f ü r d a s M u s i k - T e x t - V e r h ä l t n i s

im

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Bereich des Sangspruchs von der Vorstellung aus, daß der »gesungene Vortrag« und der »Aufführungsakt« die »Produktions- und Rezeptionsverhältnisse« der Texte wesentlich mitbestimmen; und wenn M A R K U S STOCK für die frühneuzeitliche Autobiographie in Anspruch nimmt, sie operiere »wie kein anderer Texttyp mit dem Potential des Authentischen«, so ist auch dies unter der methodischen Voraussetzung gesagt, daß die hier gemeinten literarischen Präsenz- und Evidenz-Effekte zwar »an intrinsischen Textmerkmalen sichtbar werden«, sie dabei jedoch stets auf »die pragmatische Dimension des Textes« bezogen sind. Am Beispiel der Blutstropfenszene des VI. Buches von Wolframs >Parzival< analysiert BURKHARD H A S E B R I N K (S. 237-247) narrative Verfahren der Evidenzerzeugung. Ausgehend von einer auf Differenzierung bedachten Auseinandersetzung mit JOACHIM BUMKES neuer Interpretation der Szene versteht er den Wahrnehmungs- und Erkenntnisakt, in dem Parzival seine Frau Condwiramurs erblickt, gerade nicht als authentische Präsenzerfahrung, sondern als Produkt einer Kette »bildhafter Vergegenwärtigungen«, die Parzivals Selbstvergessenheit umschreiben. Die »Paralyse« des Helden ist daher »als komplexes mediales Wirkgeflecht« gestaltet, und ihre »Intensität verdankt die >Blutstropfenszene< einem eng geknüpften Netz von Zeichen-, Wahrnehmungs- und Deutungsrelationen, das eine Staffelung von Beobachtungsebenen erzeugt.« MICHAEL S H I E L D S (S. 249-266) fragt nach dem Verhältnis zwischen Textinhalt und musikalischen Verlaufsstrukturen in der Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts. Er entwickelt die These, daß es die Aufgabe der Melodie ist, den Text »syntaktisch und rhetorisch zu gliedern und seine wichtigsten Aussagen rhetorisch-affektiv hervorzuheben.« Seine im Material ausgreifende Analyse zielt in diesem Zusammenhang auf die musikalischen »Emphasen«, die an den Text- und Melodiehöhepunkten im Abgesang gesetzt sind. SHIELDS plädiert dafür, die Melodie-Emphasen verstärkt für die Deutung der Texte zu nutzen, und skizziert im Ausblick eine Reihe künftiger Forschungsaufgaben. - MARKUS STOCK (S. 267-283) problematisiert die Frage der Authentizität autobiographischer Lebensbeschreibungen. Sein Beispiel - die 1504/05 entstandene Autobiographie des Johann von Soest - legt diese Diskussion aus zwei Gründen nahe, da der Text zum einen nicht rollenhaft stilisiert ist und so den »Eindruck eines unverstellten Blicks auf das faktische Leben der schreibenden Person« erweckt, ihm zum anderen aber ein bereits konventionalisiertes legendarisches Erzählmuster zugrundeliegt, so daß sich der Eindruck der Authentizität als »texueller Effekt« erweist. STOCK analysiert den im Rahmen dieser Konstruktion vermittelten Lebens- und Identitätsentwurf und lotet die Spannungen zwischen dem Erzählprogramm und den Erzählelementen aus, die sich dem Programm nicht einfügen. Es sind diese Spannungen, die den Effekt des Authentischen hervorrufen.

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Gattungen und Texttypen Mit den Beiträgen dieses Abschnitts verlagert sich der thematische Schwerpunkt der Diskussion vom einzelnen Text auf die übergreifende Ebene der Gattungen und Texttraditionen. Die Analysen setzen bei den immer virulenten klassifikatorischen Problemen der Gattungsabgrenzung und -Zuordnung an, um von da nach den Themen, Redeweisen, poetischen Strukturen und Diskurskonfigurationen zu fragen, die sich in der jeweils untersuchten Textreihe als orientierende Muster und Vorgaben für die literarische Produktion beobachten lassen (vgl. den Beitrag von GRUBMÜLLER, S. 31-40). Läßt man die Beiträge Revue passieren, so geht es insgesamt zwar um recht unterschiedliche Textgruppierungen, doch zeichnen sich bei näherem Zusehen zwei prägnante Sachund Problemkomplexe ab. Im Blickpunkt stehen zunächst drei Fallbeispiele, deren Gattungscharakter in der Forschung umstritten ist. Sie gehören alle in den Traditionsraum exempelhaften Erzählens, und die Beiträge zielen jedes Mal auf differenzierte Analysen des brisanten Verhältnisses von Erzählung und Lehre, Narration und pragmatischem Rahmen. Im Horizont der mediävistischen Gattungsdiskussion kommt es ihnen also darauf an, das an den überlieferten Texten ablesbare Zusammenspiel narrativer und kommunikativer Strukturmuster analytisch aufzuschließen, ohne die »komplexe Wechselwirkung der beiden Dimensionen« (WALTENBERGER) aus dem Blick zu verlieren. Wie viel gerade in dieser Hinsicht von einer detailscharfen und beharrlichen Sichtung der konkreten TextKontext-Verhälmisse abhängt, zeigt sich daran, daß einmal solche Texte zur Diskussion stehen, die »eine komplexere Struktur und einen größeren Umfang« aufweisen, als man sie bei Beispielerzählungen erwarten kann (SPECKENBACH), dann aber auch solche, die »unserem Geschmack nach dem zweckfreien Spiel mit literarischen Formen und unserem Bedürfnis nach Brüchen vielleicht weniger entgegenkomm[en], als andere Interpretationen dies nahegelegt haben.« (SUERBAUM) F ü r MICHAEL WALTENBERGER ( S . 2 8 7 - 3 0 8 ) h a t s i c h d i e k o n t r o v e r s

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führte Debatte um den Gattungscharakter des Märe nicht erledigt. Im Rekurs auf neuere gattungs- und texttheoretische Fragestellungen stellt er ein Erklärungsmodell vor, das die märentypischen Spannungen zwischen erzählter Welt und exemplarischer Lehre aus der primär mündlichen Situationsbindung der Texte herleitet. Seine Analysen der >Ehestandsmären< des Strickers zeigen, wie deren Erzählpartien die alltagsweltlichen Begleitumstände der in den Texten diskutierten Normen ehelicher Lebensführung über »narrative Präsenzeffekte« imaginativ erfahrbar und nachvollziehbar machen - eine Besonderheit, die in handschriftlichen Sammlungskontexen den Status eines distinkten Gattungsmerkmals erhält. - Vor dem Hintergrund der neueren Exempel-Forschung stellt KLAUS SPECKENBACH (S. 309-329) die h e r k ö m m l i c h e n Gattungszuord-

nungen von Rudolfs von Ems >Guotem Gerhard* und Konrads von Würzburg >Engelhard< in Frage. In eindringlichen Textanalysen weist er die für beide

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Werke konstitutive Gattungsmischung nach: die Verbindung und Integration von Exempelerzählung und Minneroman, aus der im 13. Jahrhundert das Novum des >Exempelromans< entsteht. - Auf der Suche nach einer schlüssigen Deutung des >Ritter von Staufenberg< sondiert ALMUT SUERBAUM (S. 331345) umsichtig den Entstehungskontext und vor allem das intertextuelle Beziehungsgeflecht, in dem die Verserzählung situiert ist. Ihre Ergebnisse sprechen dafür, den Text anders als bislang nicht in den Kontext der Melusinensage, sondern den geistlich-belehrender Mirakelerzählungen zu stellen. So gesehen vermittelt er eine Lehre darüber, »wie prekär die Balance zwischen weltlicher Ehre und ewigem Seelenheil sein kann.« Zur >Melusine< wurde die Verserzählung erst in der späteren Drucküberlieferung. In den folgenden Beiträgen richtet sich dann der Fokus des Interesses auf die Fragen der Varianz und Invarianz mittelalterlicher Texte, so daß es in erster Linie nicht um Probleme der Gattungskonstitution geht, sondern primär darum, in überlieferungszentrierten Analysen das konzeptionelle Profil einzelner Texttypen herauszuarbeiten. Die Beiträge stellen Gattungs- und Textbeispiele aus dem Bereich der Lyrik vor, die in der germanistischen vcirianceDiskussion noch kaum eine Rolle gespielt haben. Während die Aufmerksamkeit der Forschung bislang vor allem der höfischen Erzählliteratur und dem Minnesang galt, greifen die vorliegenden Fallstudien bewußt auf spätmittelalterliche und noch frühneuzeitliche Traditionen des Sangspruchs (WENZEL), Liebesliedes (KERN) und Meistergesangs (MIEDEMA) aus, um neuere Ergebnisse zur prinzipiellen >Offenheit< älterer Texte auf historisch erweiterter Beobachtungsgrundlage überprüfen zu können und womöglich zu modifizieren, um zugleich aber auch solche Problemaspekte zu exponieren, die erst im Blick auf späte und langfristige Gattungsentwicklungen hervortreten. Es kommt daher nicht von ungefähr, daß neben den Spielräumen textlicher Varianz gerade die Festigkeit und die >Identität< des jeweiligen Typs von Text im Zentrum der Untersuchungen stehen (KERN, WENZEL), daß die Frage der TextVerfestigung auch auf der Ebene der wortsemantisch manifesten Textauffassung erörtert wird (MIEDEMA), und daß vor allem die poetischen Muster, Verfahren und Kategorien Beachtung finden, die innerhalb der einen oder anderen Texttradition verfügbar sind. Im Problemhorizont der >New Philology-Debatte< diskutiert FRANZISKA WENZEL (S. 347-370) die häufiger konstatierte »Zwitterstellung« der >WartburgkriegHortes von der Astronomie* geht es ihr ausdrücklich nicht um die originale Gestalt des Textes, sondern vielmehr um das Verhältnis von gattungsgegbundener Textidentität und Überlieferungsvarianz. Im Falle des >HortsTexttyps< im Kontext der

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»theory of memetics«, dem kulturhistorischen Pendant zur »theory of genetics«. Den »verwilderten Text« versteht er als offenen Typ von Text, der seine Identität nicht aus einer geschlossenen Gattungstradition, sondern konkurrierenden textuellen Strategien bezieht. An zwei Liedbeispielen aus dem >Liederbuch der Klara Hätzlerin< führt er vor, welche Formen des Synkretismus bei diesem Texttyp zu erkennen sind und inwiefern sie Textgenese und Textstruktur e r k l ä r e n . - D a s I n t e r e s s e NINE MIEDEMAS (S. 3 9 5 - 4 1 1 ) r i c h t e t s i c h a u f d a s

begriffliche Konzept des >Textesmanuscript culture< zur >print culture< im Mittelpunkt steht, führen die Analysen, Themen und Fragestellungen weiter, wie JOHN FLOOD (S. 1-27) sie in seinem einleitenden Referat zu Hans Folz umrissen hat (BYRN, CAMPBELL). Zugleich richtet sich das Interesse aber auch auf die »sprach- und literaturhistorische[] Großerzerzählung« des allmählichen Autonomwerdens der Volkssprache (BALDZUHN), so daß nicht zuletzt die Etablierung des Deutschen im Kontext gelehrten Schriftgebrauchs zur Debatte s t e h t (ASHCROFT).

MICHAEL BALDZUHN (S. 415-435) analysiert Pragmatik und Transformationen spätmittelalterlicher Glossentexte im institutionellen Kontext des schulischen Trivialunterrichts. Wie er einleitend deutlich macht, liegen die Erkenntnisoptionen, die der eher »randständige[] Texttyp« bereithält, einmal in seinem Aufschlußwert für den wenig einheitlich verlaufenden Prozeß der allmählichen Emanzipation der Volkssprache, dann aber auch darin, daß er aufgrund der günstigen Quellenlage Einblick in die Veränderungen des unterrichtlichen Handlungsgefuges durch die Verschriftlichung mündlicher Kommunikationen und den Buchdruck gewährt. So zeigt sich u. a., wie mit der Entlastung des

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Unterrichtsgeschehens von der Reproduktion des Verstextes das »Schreiben zu einem frei einsetzbaren Lehrmittel des Lateinunterrichts« wird. RICHARD B Y R N (S. 437-450) untersucht Tätigkeitsprofil und Arbeitsweise des Augsburger Schreibers, Frühdruckers und Buchillustrators Johannes Bämler, in dessen Wirken er ein »Paradebeispiel« für die Übergangszeit von der Handschrift zum Buchdruck sieht. In seiner personengeschichtlichen Bestandsaufnahme legt B Y R N das Augenmerk auf Bämlers Rolle in der »Expertengruppe« um den Augsburger Abt Melchior von Stamhaim sowie dessen Ausgabe der >Dialoge< Gregors des Großen. Ein Vergleich dieses Drucks mit seinen Vorlagen führt die redaktionellen Eingriffe Bämlers vor Augen und spricht dafür, den Begriff der >Druckvorlage< auf die Maßstäbe einer in Grenzen freien Umsetzung handschriftlicher Vorlagen auszurichten. - FIONA CAMPBELL (S. 451-465) behandelt am Beispiel der Flugschriften Clement Zieglers die literarische Produktion der Straßburger Gärtnerzunft, die sie als Zeugnis für das Zusammenleben einer geistlichen Bruderschaft wie als Verbreitungsmedium reformatorischer Ideen thematisiert. Für ihre Analyse hebt sie das Moment des >Dialogischen< in Zieglers Texten hervor: Er »schreibt, als ob seine Zuhörer und Leser und auch Gegner tatsächlich präsent wären«, und bezieht seine Rezipienten ein, »damit sie direkt angesprochen werden.« Bis in Themenwahl, Werkgestaltung und Diskursgestus ist Zieglers Schreiben als »Teil des Gemeindelebens« inszeniert. JEFFREY A S H C R O F T (S. 4 6 7 - 4 8 6 ) zeichnet eindringlich die verwickelte Entstehungsgeschichte des Widmungstextes zu Albrecht Dürers >Vier Büchern von menschlicher Proportion< nach und klärt die Bedeutung der als >fremder Entwurf< bezeichneten Fassung für Genese und Konzeption des Werkes. Sein Beitrag erörtert von dort sowohl Dürers ambivalentes Verhältnis zur humanistischen Bildungskultur als auch die Schlüsselrolle des Werkes für die Entwicklung eines volkssprachlichen ästhetischen Schrifttums in Deutschland. Sieht man die Widmung im Kontext der kulturellen Situation Nürnbergs, so erhellt der Text exemplarisch die Ansätze zu einem neuartigen Diskurs, der »zwischen Humanismus und Handwerk, zwischen künstlerischer Praxis und ästhetischer Theorie« zu vermitteln sucht.

III. Der abschließende Themenblock konturiert noch einmal eine der Diskussionslinien, die das Problemfeld der Produktion und Konstitution von Texten in der Literatur des Mittelalters kennzeichnet. Auch in den Beiträgen, in denen das Selbst- und Rollenverständnis eines Verfassers nicht ausdrücklich im Mittelpunkt der Überlegungen steht, ist das Interesse an dem, was der Blick auf die an den überlieferten Texten beobachtbaren Verfahren und Strategien über seine Produktion und die Träger dieser Produktion zeigt, durchgehend virulent. Die Analysen gehen daher weniger von unserem Wissen über den Autor und

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seine Lebens- oder Bildungsverhältnisse aus, vielmehr suchen sie den Zugang zu den Produktionsbedingungen über die Gestalt und Konzeption der Texte, so wie sie im Kontext einer dynamischen, unfesten Überlieferung hervortritt. Die Überlegungen gründen insofern auf der Annahme einer oder auch mehrerer den Texten eingeschriebener Instanzen, die in den sprachlichen und poetischen Möglichkeiten, die Literatur an ihrem historischen Ort jeweils ausmacht, sichtbar werden. Ausgehend von den historischen Rahmenbedingungen der Textproduktion sind es daher die Arbeitstechniken, Verfahren und Strategien der Textherstellung von Autoren, Redaktoren, Schreibern und Druckern, die immer wieder ins Zentrum rücken. Neben terminologischen Bestandsaufnahmen und den schwierigen Problemen einer adäquaten Beschreibungssprache geht es in den Beiträgen vor allem auch darum, die besonderen Modalitäten volkssprachlicher Textproduktion präzise herauszuarbeiten und damit verbunden charakteristische Texttypen mit dem Blick auf das Verhältnis von Konstanz und Varianz, Festigkeit und Veränderbarkeit mittelalterlicher Texte zu beschreiben. In diesem Rahmen bildet der Umgang mit Vorlagentexten und vorgängigen Texttraditionen einen besonders profilierten Schwerpunkt. Darüber hinaus richtet sich die Aufmerksamkeit jedoch auf Verfahren der Sinn- oder Kohärenzbildung, die von mikroskopisch syntaktischen Mitteln der Textgestaltung über schrift- und buchmediale Techniken der Abschnittsgliederung bis hin zur narrativen Organisation der Texte reichen. Die Beiträge eröffnen an konkreten Diskussionsbeispielen neue Perspektiven auf die Textproduktion in verschiedenen Bereichen der mittelalterlichen Literatur. Neben der hochhöfischen Epik kommen mit Otfrieds von Weißenburg >Evangelienbuch< ein prominentes Werk der althochdeutschen Literatur, Gattungen und Texttypen aus dem Zeitraum vom 13. bis zum 15. Jahrhundert sowie historiographische und autobiographische Werke zur Sprache. Die sich verändernden Produktionsbedingungen im mediengeschichtlichen Übergang von der Handschrift zum gedruckten Buch spielen dabei ebenso ihre Rolle wie die Voraussetzungen einer stärker institutionell gebundenen Schriftlichkeit. Der wissenschaftliche Ertrag des 17. Treffens des Anglo-German Colloquiums liegt so in der Erprobung methodischer Ansätze und deren Anwendung auf verschiedenste Werke und Gattungen, auf Texte aus unterschiedlichen Entstehungszeiten und Entstehungskontexten. Die Referate schreiten ein Beispielsspektrum für grundsätzliche Fragestellungen der aktuellen Theoriediskussionen aus. So könnten das Colloquium und der Tagungsband vielleicht dazu beitragen, eine künftig zu leistende, systematische Erforschung der Produktion mittelalterlich deutscher Texte anzuregen und auf den Weg zu bringen.

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Hans Folz zwischen Handschriftenkultur und Buchdruckerkunst Hans Folz (1435/40-1513) was a man with many interests. A barber-surgeon by trade, he was also a most versatile writer, not only trying his hand at many literary forms but also printing some of his poems on his own press at Nuremberg between 1479 and 1488. He was thus the earliest German author to gain first-hand experience of the new technology. The paper considers first how Folz may have acquired his expertise in printing and then examines the earliest master-song in which he praises God for the gift of printing and Johann Gutenberg for developing it. Although he welcomes the introduction of printing as means of promoting sound religion, he also recognises its dangers. In particular he deplores the printing of vernacular Bibles, which would jeopardise the authority of the Church and play into the hands of the Antichrist. These views are examined against the background of the production of numerous German Bibles at Nuremberg and the agitation against the Jews, which would culminate in their expulsion from the city in 1498.

Obwohl das dichterische Schaffen des Hans Folz nicht sehr umfangreich war, war es im Hinblick auf die von ihm gepflegten Gattungen so vielfältig, daß HANNS FISCHER ihn als einen der vielseitigsten deutschen Dichter des Mittelal-

ters bezeichnen konnte. 1 Bekanntlich versuchte sich Folz als Verfasser von Fastnachtspielen, Reimpaarsprüchen, Mären, Meisterliedern, volkstümlichem Fachschrifttum und anderem mehr. Was ihn aber besonders interessant macht, ist, daß er - etwa im Unterschied zu seinem Zeitgenossen, dem Augsburger Kaufmann, Märendichter und Schreiber Claus Span 2 oder seinem jüngeren Nürnberger Dichterkollegen Hans Sachs - einige seiner Texte selber gedruckt hat. 3 Folz lebte in der Zeit des Übergangs von der Handschriften- zur Druckkultur, und seiner Rolle in dieser Situation soll unser Augenmerk gelten. Hans Folz wurde um 1435/40 in Worms geboren. Nach einer Wanderzeit, die ihn offenbar in die Auvergne oder gar nach Nordspanien, zuletzt aber nach 1

HANNS FISCHER, Studien zur deutschen Märendichtung. 2., durchgesehene und erweiterte A u f l . , b e s o r g t v o n JOHANNES J A N O T A , T ü b i n g e n 1 9 8 3 , S. 1 6 0 .

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Über ihn vgl. FISCHER 1983 [Anm. 1], S. 169f. Die Zweifel daran, die früher gelegentlich geäußert wurden, sind unberechtigt. Vgl. dazu INGEBORG SPRIEWALD, Hans Folz - Dichter und Drucker. Beitrag zur Folzforschung, PBB (Halle) 83 (1961), S. 247-277, hier S. 251, Anm. 5.

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Augsburg brachte, wurde er 1459 als Barbier und Wundarzt (der Meistertitel ist seit 1486 belegt4) in Nürnberg seßhaft. Seine literarische Tätigkeit scheint erst in den siebziger Jahren einzusetzen, doch die produktivste Schaffensperiode fällt in die achtziger Jahre, als er eine eigene Druckoffizin - wohl in seinem Haus im Barfüßerviertel im Stadtteil St. Lorenz5 - unterhält. Seine letzten datierbaren Dichtungen entstanden in den neunziger Jahren, einer Zeit, als ihm vom Nürnberger Rat wiederholt ärztliche Nachlässigkeiten zur Last gelegt werden (1498 soll er einem Patienten einen Arm ohne Einwilligung des Kranken amputiert haben). Er starb Anfang 1513, im gleichen Jahr also wie die berühmten Drucker-Verleger Anton Koberger in Nürnberg und Johann Amerbach in Basel, und etwa um die gleiche Zeit, als der junge Hans Sachs von Lienhart Nunnenbeck in die Technik der Meistersingerkunst eingeweiht wurde.6 JOHANNES JANOTA meint - wohl mit Recht - der Nürnberger Neubürger Folz habe zunächst mit den für die Frankenmetropole konventionellen Formen des Meisterlieds und Fastnachtspiels begonnen, bevor er mit selbst gedruckten Reimpaarsprüchen einen neuen literarischen Freiraum zu erschließen suchte.7 Mich interessiert hier gerade die Frage, wie Folz wohl dazu kam, den Sprung in die neue Technik zu wagen. Der Buchdruck, selbst im bescheidenen Umfang, war ja schließlich eine umständliche und kostspielige Angelegenheit, und es fragt sich, warum Folz seine Werke nicht in eine bereits bestehende Nürnberger Offizin zum Drucken gab. INGEBORG SPRIEWALD führt drei Argumente ins Feld: »Interesse an der praktischen Erprobung des Buchdrucks«, »das Bestreben, ein Mittel zur Verbreitung der eigenen Werke zu gewinnen« und »das Geschäftsinteresse eines umsichtigen, unternehmenden Bürgers [...], der sich damit eine Einnahmequelle schafft«.8 Daß er damit »den Beutel füllte«, wie DIETER KARTSCHOKE meint,9 ist jedoch bei seiner geringen Produktion unwahrscheinlich - es dürfte eher ein Verlustgeschäft gewesen sein. URSULA RAUTENBERG konstatiert - wohl mit Recht - , daß Folz »einerseits mittelalterlich starrsinnig, andererseits wiederum sehr modern« nicht bereit war, seine Texte einem Verleger zu überantworten, der ihm - nach Usus der Zeit - die geistige Arbeit nicht honoriert hätte.10 Wahrscheinlich hätte ohnehin kein Ver4

URSULA RAUTENBERG, Das Werk als Ware. Der Nürnberger Kleindrucker Hans Folz, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 24 (1999), S. 1-40, hier S. 32. 5 Zu seinem Hausbesitz siehe RAUTENBERG 1999 [Anm. 4], S. 32. 6 Zu Folz' Lebensumständen, beruflichem Werdegang und dichterischem Werk siehe JOHANNES JANOTA, Hans Folz, In: 2 VL, Bd. 2, Sp. 769-793; auch RÜDIGER KROHN, Hans Folz, in: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450-1600). Ihr Leben und Werk, hg. von STEPHAN FÜSSEL, Berlin 1993, S. 111-124. 7 JANOTA [Anm. 6], Sp. 774. 8 Siehe SPRIEWALD 1961 [Anm. 3], S. 254. Diese und ähnliche Gründe haben auch andere vorgebracht; s. die besonnene Diskussion bei RAUTENBERG 1999 [Anm. 4], S. 34-36. 9 DIETER KARTSCHOKE, Nihil sub sole novum? Zur Auslegungsgeschichte von Eccl. 1,10. In: Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von CHRISTOPH GERHARDT/NIGEL F. PALMER/BURGHART WACHINGER, Tübingen 1985, S. 175-188, hier S. 186f. 10 RAUTENBERG 1999 [Anm. 4], S. 37.

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leger Folz seine Gedichte abgekauft," denn damals konnte man selbst in Nürnberg wohl noch nicht unbedingt mit Abnehmern für derartige gedruckte Hefte rechnen. Freilich hätte Folz seine Gedichte bei einem Kleindrucker drucken lassen können, aber diesen hätte er bezahlen müssen, egal, ob die Hefte sich verkaufen ließen oder nicht. Wahrscheinlich war es so, daß Folz den Buchdruck als eine interessante neue Technik betrachtete, mit der er, der ja selber einem Handwerkermilieu entstammte, lediglich experimentieren wollte - heute wäre er wohl einer der Ersten, der sich das neueste elektronische Gerät mit allen Schikanen aneignen würde. Das will aber nicht besagen, daß er so weitblickend war, daß er in der Buchdruckerkunst schon ein Mittel erkannte, durch das er sich als Dichter würde verewigen können. Zwar möchte kein Dichter in Vergessenheit geraten - man erinnert sich an Oswald von Wolkenstein: Und swig ich nu die lenge zwar, so würd mein schier vergessen gar, durch churze jar niemand mein gedächte. 12

Ob Folz aber in den 1480er Jahren wirklich schon die weitreichenden Umwälzungen erkannte, die die Erfindung des Buchdrucks im Buchwesen und im Literaturbetrieb zeitigen würde, ist fraglich. Bei seiner Druckproduktion handelt es sich ausnahmslos um kleinformatige Hefte eines Typs, der auch schon in den 1470er Jahren in Form von handschriftlichen Broschüren in Nürnberg (u. a. mit Texten von Hans Rosenplüt) im Umlauf war; somit setzte Folz, sozusagen eine branchenübliche Tradition fortführend, ein ihm und dem Publikum vertrautes Buchformat in Typographie um. 13 Wir kennen 41 Drucke aus seiner Presse; 14 mit ganz wenigen Ausnahmen sind diese unikal überliefert, so daß wir vielleicht auch mit dem Verlust

11 Dieser Gedanke taucht schon 1809 in einem Brief Ludwig Uhlands an Justinus Kerner auf; siehe KROHN 1993 [Anm. 6], S. 111. 12 Die Lieder Oswalds von Wolkenstein, hg. KARL KURT KLEIN (ATB 55), Tübingen 1962, S. 297, Nr. 117, 1-3. 13 RAUTENBERG 1999 [Anm. 4], S. 15-16. Zwei dieser Broschüren weisen eine zeitgenössische Preisangabe auf: drei Kreuzer. 14 Hinzu k o m m e n drei Drucke in lateinischer Sprache, die zwar mit seinen Typen gedruckt worden zu sein scheinen, aber höchstwahrscheinlich nicht aus seiner Offizin stammen. Es sind ein Kalender auf das Jahr 1483 [wohl 1482 gedruckt] (GW 1368; ISTC ia00503000), ein Kalender auf das Jahr 1484 [wohl 1483 gedruckt] (GW 1380; ISTC ia00503890) und Paulus Niavis: Latinum idioma pro parvulis editum (ISTC in00030800 [datiert >um 1482?Latinum idioma< (ISTC in00030850; Unikum in Lyon B M ) wird Johann Sensenschmidt in Bamberg, um 1487, zugeschrieben. Zu den Beziehungen zwischen Folz und Sensenschmidt s. u. Wie schon FISCHER vermutete, sind die beiden Kalenderdrucke wohl auch nicht Folz zuzuweisen, obwohl Aderlaßkalender schon für den Barbier wichtig waren. Siehe HANNS FISCHER, Hans Folz. Altes und Neues zur Geschichte seines Lebens und seiner Schriften, ZfdA, 95 (1966), S. 212-236, hier S. 219, Anm. 1; auch RAUTENBERG 1999 [Anm. 4], S. 4, Anm. 11.

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weiterer Ausgaben rechnen dürfen. 15 Davon sind nur elf mit seinem Namen im Impressum signiert. Die restlichen 30 sind ihm aufgrund des Typenvergleichs zugewiesen worden. Die elf mit Namen signierten Drucke erschienen im Zeitraum 1479 bis 1482, drei weitere (>Von der PestilenzDie böhmische Irrung< und >Von einem Buhlen), die ebenfalls mit seinen Typen gedruckt sind, sind auf das Jahr 1482, 1483 bzw. 1488 datiert."5 Die Drucke lassen sich in zwei Hauptgruppen teilen, je nachdem, ob sie mit Type 1 oder Type 2 gedruckt wurden: 17 Type 1 (20 Zeilen = 1 1 2 mm.), eine oberrheinische Bastarda mit zwei r-Formen, mit der Folz zwischen 1479 und etwa 1483 fünfzehn Texte im Quartformat mit jeweils 25 Zeilen pro Seite, drei Oktavhefte und (wenn die Zuweisung stimmt) einen Einblattdruck hergestellt hat. 18 Zehn datierte und firmierte Drucke in Quart: 1479, 18. März Von der Beichte 4° [1473 entstanden] GW 10116; ISTC it00239250; Fischer 25; Spriewald 5a. 1479 Krieg des Dichters wider einen Juden (>Christ und JudeKonfektbüchlein< handelt von den Heileigenschaften der Gewürze. Möglicherweise ist der Druck des >Konfektbüchleins< vom Jahr 1485, dessen Zuweisung den Druckforschem offenbar einiges Kopfzerbrechen bereitet, ebenfalls Folz selbst zuzuweisen. Laut ISTC ifD0240000 werden folgende Zuweisungen erwogen: [Bamberg: Johann Sensenschmidt und Heinrich Petzensteiner]; [Bamberg: Heinrich Petzensteiner]; [Regensburg: Johann Sensenschmidt]; [Nürnberg: Johann Sensenschmidt]. Folz sagt, er habe das Werk nicht zu Ende geschrieben; er habe sich mit dem Druck beeilen müssen, da man ihm das Manuskript entwendet habe und er einen fehlerhaften Raubdruck befürchte (siehe INGEBORG SPRIEWALD, Literatur zwischen Hören und Lesen, Berlin/Weimar 1990, S. 98). Das besagt nicht viel für Folz' Vertrauen zu Sensenschmidt (wenn er es war), aber solche Praktiken waren damals nicht unüblich. 2 2 RAUTENBERG 1 9 9 9 [ A n m . 4 ] , S . 2 2 .

23 JANOTA [Amn. 6], Sp. 771. 24 Von der Arbeitsweise von Folz' englischem Zeitgenossen William Caxton bemerkt NORMAN F. BLAKE, Caxton and his World, London 1969, S. 126: »His method was to finish the translation as soon as possible in order to set it up in type. Since he was translating to keep his own presses in work, it is only natural to assume that there were many occasions when financial gain took precedence over literary responsibility.« 2 5 K R O H N 1 9 9 3 [ A n m . 6 ] , S. 1 1 9 .

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im Durchschnitt gar nur an etwa neun Tagen im Jahr in Betrieb. 26 Bezeichnend ist, daß Folz offenbar nur auf eigene Rechnung druckte und keine Werke anderer Autoren verlegte. Auf Einzelheiten der Texteinrichtung bei Folz, so aufschlußreich diese für seine Praxis als Drucker auch sind, können wir hier nicht eingehen: ich verweise auf die diesbezüglichen Untersuchungen URSULA RAUTENBERGS. Ich möchte ganz vorne anfangen und fragen, wo und wie Folz überhaupt Kenntnisse des Druckverfahrens erworben hat. Die erste Frage ist leicht zu beantworten. Um 1479 war die Buchdruckerkunst natürlich nicht mehr neu - der Druck von Gutenbergs 42-zeiliger Bibel lag schon fünfundzwanzig Jahre zurück. In seiner Heimat, Worms, kann Folz durchaus schon ein gedrucktes Buch zu sehen bekommen haben, die Herstellungstechnik jedoch wird er dort nicht kennengelernt haben, denn die erste Druckoffizin in Worms wurde erst lange nach seinem Weggang, Anfang des 16. Jahrhunderts, eingerichtet. 27 In Nürnberg dagegen druckte man seit etwa 1469/70 (also nach Mainz, Straßburg [um 1460], Bamberg [um 1460/61], Köln [1465/66] und Augsburg [1468]). Mit anderen Worten: zu der Zeit, als Folz in Nürnberg seßhaft wurde, 1459, wurde hier noch nicht gedruckt, aber um die Zeit, als er selber seine ersten Druckerzeugnisse herausbrachte, schon seit zehn Jahren. Der erste sicher belegte Drucker in Nürnberg war Johann Sensenschmidt, der um 1470 - vielleicht bereits 146928 - aus Bamberg gekommen war und bis 1478 hier blieb, als er sich angesichts der Konkurrenz Anton Kobergers 29 entschloß, wiederum nach Bamberg zu ziehen. Koberger, gebürtiger Nürnberger, hatte sich ebenfalls 1470/71 als Drucker, Verleger und Buchhändler etabliert; er hat es wohl von vorneherein auf einen Großbetrieb abgesehen, denn er kaufte ein Haus, das so groß war, daß er mit der Zeit angeblich vierundzwanzig Pressen und hundert Gesellen dort unterbrachte. 30 Über Kobergers berufliche Ausbildung besteht 26 RAUTENBERG 1999 [Anm. 4], S. 27-31. Sie hat bestimmt Recht, wenn sie meint: »Bei wirklich ausgeprägtem Gewinnstreben hätte Folz zur Auslastung der Werkstatt mit fremder Hilfe auch fremde Werke drucken müssen, was zwangsläufig zu einer stärker marktwirtschaftlich orientierten Unternehmungsführung geführt hätte« (S. 38). Zum Vergleich: Koberger druckte ca. 220 Werke, darunter 12 lateinische Bibeln, zwischen 1471 und 1504. 27 Als erstes Wormser Buch gilt ein von Peter Drach aus Speyer gedruckter Psalter mit >Worms< im Impressum, aber JOSEF BENZING, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet, 2. verbesserte und ergänzte Auflage, Wiesbaden 1982, S. 510, erwägt die Möglichkeit, daß er noch nicht wirklich hier gedruckt wurde. Möglicherweise war der jüngere Peter Schöffer aus Mainz der erste Drucker in Worms (ab 1518). 28 Ein undatierter Druck von ihm (heute in Bamberg SB) ist schon im April 1470 rubriziert; siehe FERDINAND GELDNER, Die deutschen Inkunabeldrucker, Stuttgart 1968, Bd. 1, S. 161. Über d i e A n f ä n g e d e s B u c h d r u c k s in N ü r n b e r g s i e h e GELDNER, e b d . B d . 1, S. 1 6 1 - 1 8 5 , u n d VICTOR

SCHOLDERER, Problems of early Nuremberg typography, Gutenberg-Jahrbuch 26 (1951), S. 54-56.

29 So konkurrierten sie offenbar über die erste Nürnberger lateinische Bibel miteinander: Kobergers Bibel GW 4218, abgeschlossen am 16. November 1475, wurde 23 Tage vor Sensenschmidts Bibel GW 4219 (abgeschlossen am 9. Dezember) fertig. 30 Sicher sind diese Zahlen übertrieben. Dazu siehe CHRISTOPH RESKE, The Printer Anton Koberger and his Printing Shop, Gutenberg-Jahrbuch 76 (2001), S. 98-103, bes. S. 100-101.

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keine Klarheit; möglicherweise spielte bei ihm Sensenschmidts Mitarbeiter Heinrich Keffer aus Mainz eine Vermittlerrolle. 31 1472 hatte auch Friedrich Creussner begonnen, und zwei Jahre später Johannes Regiomontanus, dessen Druckerei nur bis 1476 bestand. Wenige Jahre später, als Folz' Presse schon in Betrieb war, kamen kleinere Drucker wie Konrad Zeninger, Peter Wagner, Hans Mair und Marx Ayrer hinzu. In Nürnberg, das damals wenig über 20 000 Einwohner zählte, 32 und vor allem als literarisch interessierter Mensch, wird Folz recht bald auf die Erzeugnisse der Buchdruckerkunst aufmerksam geworden sein. Obwohl er als Barbier und Wundarzt seinen Unterhalt verdiente und damit zur wirtschaftlich gesicherten Mittelschicht gehörte, 33 ist für seine geistige und soziale Stellung aussagekräftig, daß er »in persönlicher Beziehung zu Anton Haller, dem Schwiegervater des Nürnberger Arztes und Humanisten Hartmann Schedel und wohl auch zu diesem selbst stand, wie die Eingliederung verschiedener Folzscher Schriften in die Schedeische Bibliothek zu beweisen scheint.« 34 In einem seiner Reimpaarsprüche gewährt Folz einen Einblick in seine poetische Lektüre: Was man ye melldet in der frist V o n der adlichen Ameleyen Und Ysotten, den schönsten zweyen Groß wundersamen zird an maß, Wer her Tristrams legend ye laß Und von Reymunt die lang istori, Der fint allspald in seinr memori Von dreyen weibspilden bescheid, Melusyn und irn swestern peid. N o c h werden drey schöner bekant, Durch welcher erscheynung das lant Mit der stat Troy wart umkort: Helena was ir aller hört Vor Venus, Juno und Palas, W a n sie der ding ein ursach was. Von der Lucrecia man list, Das um ir mercklich schön ir wist,

31 CHRISTOPH RESKE, D i e P r o d u k t i o n d e r S c h e d e i s c h e n W e l t c h r o n i k in N ü r n b e r g ( M a i n z e r S t u d i e n z u r B u c h w i s s e n s c h a f t 10), W i e s b a d e n 2 0 0 0 , S. 4 1 . A u c h e r w ä h n t RESKE ( e b d . ) den in N ü r n b e r g urkundlich belegten »Meister K o n r a d « aus Mainz, der vielleicht mit d e m Drucker Konrad Zeninger identisch war. 3 2 Z u m P r o b l e m d e r E i n w o h n e r z a h l s i e h e GERALD STRAUSS, N u r e m b e r g in t h e S i x t e e n t h C e n t u r y , N e w Y o r k 1966, S. 3 5 - 3 8 . 3 3 RAUTENBERG 1 9 9 9 [ A n m . 4], S. 33. 3 4 FISCHER 1 9 8 3 [ A n m . 1], S. 161. A u s f ü h r l i c h d a z u : FISCHER 1 9 6 6 [ A n m . 14]. D a z u a u c h RAUTENBERG 1 9 9 9 [ A n m . 4], S. 2 3 . S i e h e a u c h : D i e G r a p h i k s a m m l u n g des H u m a n i s t e n H a r t m a n n S c h e d e l . K a t a l o g b e a r b . v o n BEATRICE HERNAD ( B a y e r i s c h e S t a a t s b i b l i o t h e k , A u s s t e l l u n g s k a t a l o g e 5 2 ) , M ü n c h e n 1990, S. 4 5 , 61 und 2 4 8 .

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Tarquinus ir die er abnöt; Dardurch die zart sich selber tot. 35

Amaley ist eine Gestalt im >Wilhelm von Orlens< Rudolfs von Ems, Reymunt kommt in der >Melusine< vor - Folz hat also >Wilhelm von OrlensTristrantMelusineTrojanerkriegLucretia< gekannt. H A N N S F I S C H E R erwägt die Möglichkeit, daß damit die Lektüre bestimmter Inkunabelausgaben gemeint ist,36 was in dem einen oder dem anderen Fall möglich wäre: obwohl >Tristrant und Isalde< erstmals 1484 bei Anton Sorg in Augsburg und > Wilhelm von Orlens< gar erst 1491 ebenfalls bei Sorg gedruckt wurden, kamen die >Melusine< und die deutschen Trojaromane bereits 1474 bei Johann Bämler in Augsburg heraus, während die Geschichte der Lucretia womöglich dem 47. Kapitel der Steinhöwelschen Übersetzung von Boccaccios >De claris mulieribus< (ältester Druck um 1473 bei Johann Zainer in Ulm) entnommen sein könnte. Gedruckte Bücher dürfte Folz in Nürnberg recht bald zu sehen bekommen haben, aber wie er Kenntnisse der neuen Technik erwarb, ist nicht so leicht zu ermitteln. Heute kann jeder Drucker-Verleger werden: Man kauft sich einen PC mit bereits eingebauter Software und einen Laser-Drucker dazu, und gleich ist man imstande, etwas halbwegs Ordentliches zu produzieren. Um 1480 jedoch sah es ganz anders aus: Man brauchte Drucktypen, eine Presse, von einem gewissen Können schon gar nicht zu reden. Die Einrichtung einer Presse war teuer: Ob sie um 1480 für einen Kleinunternehmer erschwinglicher geworden war, ist nicht einzusehen: Um diese Zeit soll eine ordentliche Einrichtung einer Druckerei etwa 700 Gulden gekostet haben, eine Summe, die dem Siebenfachen des Mindestvermögens entspricht, das Folz vorzuweisen hatte, als er am 1. November 1459 das Nürnberger Bürgerrecht erwarb. 37 Selbst die Kosten einer bescheideneren Offizin, wie wir uns die Folzsche vorstellen, werden nicht unerheblich gewesen sein. Wie I N G E B O R G S P R I E W A L D es formuliert: Er konnte neben seiner Berufstätigkeit Druckerzeugnisse herstellen; aber der Erwerb und die Einrichtung einer Druckerpresse, die zugehörigen Anschaffungen von Papier, Druckerschwärze, Investitionen für Titelholzschnitte usw., all das erforderte Vorfinanzierungen. Sie mußten durch den Verkauf der Produkte wieder eingebracht werden, wenn möglich mit Gewinn. Das scheint Folz durchaus gelungen zu sein, sonst hätte er

35 FISCHER 1961 [Anm. 16], Nr. 31: >Der TraumVon der pestilenzHeiltumbuch< vom 3. März 1493.51 So dürften Mair und wohl auch Wagner als Gehilfe ausscheiden, denn obwohl Wagner in der Branche gearbeitet haben dürfte, bevor er als selbständiger Drucker auftrat, hätte der Anfänger Folz eher der Unterstützung durch eine erfahrene Hilfskraft denn durch einen erst anzulernenden Lehrling bedurft. Die Type 2, die erst 1483 in Gebrauch kam, scheint mit den Typen von Georg Stuchs und den Zeninger-Wagnerschen eng verwandt zu sein,52 aber es gibt keine Anzeichen dafür, daß Stuchs oder Zeninger bei Folz arbeiteten. Stuchs hat wohl bei Koberger gelernt, bevor er 1484 in Nürnberg selbständig wurde. 53 Ein Blick auf Folz' erste Type bringt uns jedoch ein Stück weiter. Diese ist von den 1478 von Johann Sensenschmidt und Andreas Frisner verwendeten Typen nicht zu unterscheiden. 54 Hier wäre auch zu erwähnen, daß es drei 4 6 RAUTENBERG 1 9 9 9 [ A n m . 4 ] , S. 3 1 f . 4 7 RAUTENBERG 1 9 9 9 [ A n m . 4 ] , S. 32.

48 49 50 51

Siehe oben, Anm. 39. Zu den drei anderen siehe oben, Anm. 39. GELDNER 1968 [Anm. 28], Bd. 1, S. 174-76; siehe auch S. 173. ISTC in00278415. GELDNER 1968 [Anm. 28], Bd. 1, S. 182.

5 2 GELDNER 1 9 6 8 [ A n m . 2 8 ] , B d . 1, S. 1 7 0 ; a u c h RAUTENBERG 1 9 9 9 [ A n m . 4 ] , S. 2 5 , A n m . 5 5 .

Die Typen sind abgebildet in: Veröffentlichungen der Gesellschaft für Typenkunde des XV. Jahrhunderts, Leipzig 1907, Tfl. 652-654. 53 Über ihn siehe GELDNER 1968 [Anm. 28], Bd. 1, S. 176-180; WALTER BAUMANN, Die Druckerei Stuchs zu Nürnberg (1484-1537), Gutenberg-Jahrbuch 29 (1954), S. 122-132. 54 Catalogue of Books Printed in the XVth Century Now in the British Museum (= BMC), Bd. 2, London 1912, S. 458. Hier wird die Schriftgröße bei Folz mit 113 mm. angegeben (RAUTENBERG spricht von 112 mm.), während sie bei Sensenschmidt und Frisner 115 mm. mißt (siehe

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Drucke in lateinischer Sprache gibt, die mit der gleichen Type gedruckt sind und folglich - aber wohl irrtümlich - der Presse von Hans Folz zugeschrieben worden sind. Neben zwei Kalendern (die freilich schon für einen Wundarzt wichtig sind) handelt es sich um das >Latinum idioma pro parvulis editum< des Paulus Niavis. 55 Bezeichnenderweise wird eine weitere Ausgabe dieses Schulbuchs Johann Sensenschmidt in Bamberg zugeschrieben. 56 Das alles deutet darauf hin, daß ein Zusammenhang zwischen Folz und Sensenschmidt besteht, dem wir jetzt nachgehen wollen. Sensenschmidt, der sich als industriosus artis impressoriae magister bezeichnete, und Frisner, der librorum imprimendorum corrector,57 arbeiteten auf jeden Fall von April 1474 bis Mitte Februar 1478 in Nürnberg zusammen. Sensenschmidt selbst war ja schon mindestens seit 1470 dort, wo er zunächst mit Heinrich Keffer, nachweislich einem Mitarbeiter Gutenbergs, zusammen arbeitete. Somit erscheint es mir als sehr wahrscheinlich, daß Folz seine ersten Typen und somit wohl auch seine Einweihung in die Buchdruckerkunst von Sensenschmidt erworben hat. Möglich ist, daß Folz seine kleine Offizin mit altem Gerät aus Sensenschmidts Werkstatt ausrüstete, als dieser von Nürnberg wegzog. Wie Sensenschmidt, so hat auch Frisner Nürnberg wahrscheinlich schon 1478 verlassen; jener ging nach Bamberg, dieser nach Leipzig, wo er zuvor bereits studiert hatte. 58

*

Auf Sensenschmidt komme ich noch zurück, aber wir wenden uns jetzt zunächst einem bemerkenswerten Meisterlied des Hans Folz zu. Es ist das sogenannte >GutenbergliedKonfektbüchleins< v o n 1485. B M C 1912 [Anm. 54], Bd. 2, S. 402. GELDNER 1968 [Anm. 28], Bd. 1, S. 240. N a c h GELDNER, Bd. 1, S. 245, scheint Frisner die Einrichtung einer eigenen Druckerei in Leipzig erwogen zu haben. Die Typen des Martin Landsberg, der sich 1485 in Leipzig etablierte, sind o f f e n b a r den Typen Sensenschmidts n a c h gebildet und w o m ö g l i c h durch Frisner nach Leipzig gelangt, was den G e d a n k e n nahelegt, d a ß Landsberg zunächst für Frisner gearbeitet hat.

59 MAYER 1908 [Anm. 16], S. VIII.

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siert, N r . 6 8 in M a y e r s E d i t i o n (S. 2 5 1 - 2 5 5 ) , 6 0 k a n n , n a c h HANS-FRIEDRICH ROSENFELD, n i c h t p r ä z i s e r als » v o r 1 4 8 0 « d a t i e r t w e r d e n . 6 1

Vor langer frist Gesprochen ist Von konig Salamone Wie fort auff erd Nicht newez werd. Nun ist seyt auß dem trone Got komen und mensch worden hie, Daz doch seit waz ein newez ye. Ye doch ez die Geschrifft vor hin besane.

Daz aber sunst Hie diese kunst Puchdrukes 6 2 sey gewesen Auff erden vor, Glaub ich nit zwor. Wer hat dar von gelesen? Doch west ez kunfftig Got der werd, Allso ist doch nicht newz auff erd. Lob mit begerd Sprecht im in seinen zesen!

Was aber nucz Und widerdrucz Von diser kunst bekomen, Do merket van: Ein geistlich man 6 3 Hat in einr stim vernumen Wie der Entcrist in seinem dracz Her nech in einm papiren schacz, Der nach dem gsacz Vort wert der cristen frumen,

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60 Das Lied ist auch abgedruckt in: Hans Folz. Auswahl, hg. von INGEBORG SPRIEWALD (Studienausgaben zur neueren deutschen Literatur 4), Berlin 1960, S. 24. Dazu siehe SPRIEWALD 1990 [Anm. 21], S. 62-63. 61 HANS-FRIEDRICH ROSENFELD, Ein vergessenes zeitgenössisches Gutenberg-Zeugnis, Zentralblatt für Bibliothekswesen 59 (1942), S. 135-140, hier S. 137. Die Handschrift bietet nur zwei präzise Hinweise auf eine Entstehungszeit: das Lied Nr. 61 ist auf 1479 ante purificationis und Nr. 66 auf 1475 datiert. Nach JANOTA [Anm. 6], Sp. 775, soll unser Lied auf etwa 1475 zu datieren sein. 62 Nach ROSENFELD 1942 [Anm. 61], S. 136, Anm. 1, überhaupt der älteste Beleg für das Wort >BuchdruckGutenberglied< keine A n g a b e n zur H e r k u n f t des

n o c h z u m Zeitpunkt der Erfindung, aber die namentliche

v o n Juncker

Hansen

von

Gutenberck

Er-

Erwähnung

ist d e n n o c h v o n h ö c h s t e r B e d e u t u n g

auch für die Gutenberg-Forschung - , denn diese Information wird Folz

-

ver-

68 Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts [= RSM], hg. von H O R S T B R U N N E R / B U R G H A R T WACHINGER, B d . 3 , T ü b i n g e n 1 9 8 6 , S . 3 0 4 - 3 0 5 ( ' F o l z / 6 8 ) .

69 Ledit S roy ayant entendu que mess™ Jehan guthenberg chevalier demourant a mayence pays dallemaigne homme adextre en tallies et caracteres de poincons auoit mis en lumiere Linvention de imprimer ... Ordonnanz Karls VII. v o m 4. Oktober 1458, zit. nach ALFRED SWIERK, Gutenberg als Erfinder in Zeugnissen seiner Zeit, in: Der gegenwärtige Stand der GutenbergF o r s c h u n g , h g . v o n HANS W I D M A N N ( B i b l i o t h e k d e s B u c h w e s e n s 1), S t u t t g a r t 1 9 7 2 , S. 7 9 - 9 0 ,

hier S. 80. 70 De studiorum humanitatis restitutione loquor. Quibus (quantum ipse coniectura capio) magnum lumen nouorum librariorum genus attulit quos nostra memoria (sicut quidam equus troianus) quoquoverso effudit germania. Ferunl enim illic haut procul a eiuitate Maguncia Ioannem quendam fuisse cui cognomen bonemontano [= Gutenberg] qui primus omnium impressoriam artem excogitauerit... Dieser Brief ist GASPARINUS BARZIZIUS, Orthographia [Paris, kurz nach dem 1. Januar 1470/71] (GW 3691) vorangestellt; dazu siehe SWIERK 1972 [Anm. 6 9 ] , S . 8 1 . 71 Gemeint sind die Erwähnung von »den beiden Johannes« [also Gutenberg und Fust] aus Mainz (Quos ambos genuit vrbs maguntina johannes) in der Schlußschrift der >Institutiones< des Ju-stinian (Mainz: Peter Schöffer 1468) (GW 7580); siehe SWIERK 1972 [Anm. 69], S. 80; und die Erwähnung eines Jacobus [!] cognomento Gutenbergo zum Jahre 1458 in der 1474 zu Rom gedruckten Chronik des Johannes Philippus de Lignamine (ISTC irOO 187000); dazu SWIERK 1 9 7 2 [Anm. 6 9 ] , S . 8 2 . 72 RSM [Anm. 67], Bd. 12, S. 85 ( 2 Span/3a). Dazu siehe ANDRAS VIZKELETY, Ein unbekanntes Loblied auf Gutenberg aus dem Jahre 1602, Gutenberg-Jahrbuch 56 (1981), S. 139-142. Zu Spangenberg vgl. WILHELM KOSCH, Deutsches Literatur-Lexikon, 3. Aufl., Bd. 18, B e r n / M ü n c h e n 1 9 9 8 , S. 3 9 5 - 4 0 1 .

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mutlich Johann Sensenschmidt zu verdanken haben. Nachweislich kannte Sensenschmidts früherer Mitarbeiter Heinrich Keffer Gutenberg persönlich er wird im berühmten Helmaspergerschen Notariatsinstrument vom 6. November 1455 über den Prozeß zwischen Johann Fust und Gutenberg ausdrücklich erwähnt 73 - , und Sensenschmidt selbst hat wahrscheinlich in Mainz das Handwerk gelernt. 74 Bei der Betrachtung von Strophe 14, mit ihrem Preis des Buchdrucks, dem Lob Gottes und dem Stolz auf die deutsche Errungenschaft, fühlt sich Rosenfeld an die berühmte Schlußschrift des Mainzer >Catholicon< vom Jahre 1460 erinnert: »es ist nicht ausgeschlossen, daß Folz sie kannte und bewußt auf sie anspielte.« 75 Freilich muß er auch gleich zugeben - und dem schließe ich mich an - daß »die fromme Haltung des Meistersangs und das mit dem Humanismus neu erwachende Nationalgefuhl [...] wohl auch ohne solchen Zusammenhang zu ähnlicher Formulierung« hätten führen können. Wie dem auch sei - und das hat Rosenfeld richtig gesehen - : Folz stand auf jeden Fall den Ereignissen nahe genug, um sichere Kunde von Gutenbergs Erfindertat erhalten zu haben. 76 Das ist insofern von Bedeutung, als die Nachkommen von Gutenbergs Mitarbeiter Peter Schöffer seit Beginn des 16. Jahrhunderts bestrebt waren, ihrem Vorfahren und dessen Schwiegervater Johann Fust die Ehre der Erfindung zuzuschreiben. 77 Das ist im übrigen auch deswegen vom Interesse, weil die lateinische Tradition auch noch im 17. Jahrhundert Fust als

73 FERDINAND GELDNER, Das Helmaspergersche Notariatsinstrument in seiner Bedeutung für die Geschichte des ältesten Mainzer Buchdrucks, in: Der gegenwärtige Stand der GutenbergForschung 1972 [Anm. 69], S. 91-121, hier S. 93. Mit Recht hält GELDNER es für möglich, daß auch die Nachricht über die Erfindung des Buchdrucks in Schedels Weltchronik auf Keffer und Sensenschmidt zurückgeht; siehe FERDINAND GELDNER, Die ersten typographischen Drucke, in: Der gegenwärtige Stand der Gutenberg-Forschung 1972 [Anm. 69], S. 148-184, hier S. 149f. Die Stelle in der Weltchronik lautet in der deutschen Ausgabe Bl. 252 v : [KJVnst der truckerey hat sich erstlich in teütschem lannd in der statt Mayntz am Rhein gelegen im iar Cristi M.cccc.xl ereügt. vnnd fürdan schier in alle örter der werlt anssgespreüßt. dardurch die kostpern schetze schrifftlicher kunst vnd weißheit so in den alten büechern langzeit als der werlt vnbekant in dem grabe der vnwissenheit verborgen gelegen sind herfür an das Hecht gelangt haben, also das vi! treffenlicher vnd menschlichem geprauch nottürftiger vnd nützlicher biiecher so ettwen nicht on kleine kostung zeerzeiigen warn, nw zur zeit wenig gelts zeerobern sind, vnd wo dise kunst zeitlicher erfunden worden vnnd in wissenheit vnd geprauch gewesen wer so wem vngezweifelt ettwieuil biiecher Titi liuij Tulij vnd Plinij vnd andrer hohgelerter lewt auß bösschicklichkeit d' zeit nicht verlorn worden. Vnd so nw die erfinder yezuseiten handwercklicher kunst nit wenig lobs wirdig sind, wer kan denn außsprechen mit was lob. preyse. eren vnd r&m die teütschen zeerheben seyen die auß irer erleüchten synnreichen schicklichkeit ertrachtet und etfunden haben. Dise kunst der truckerey durch die der lang verschießen prunn vnaußsprechlicher weißheit menschlicher vnnd auch gütlicher kunst in die gemayne außgelaytet wirdt. 7 4 GELDNER 1 9 6 8 [ A n m . 2 8 ] , B d . 1, S. 161.

75 ROSENFELD 1942 [Anm. 61], S. 138. Z u m Kolophon des Mainzer >Catholicon< siehe ALBERT KAPR, Johannes Gutenberg, Persönlichkeit und Leistung, 2. Aufl., München 1988, S. 229. 7 6 ROSENFELD 1 9 4 2 [ A n m . 6 1 ] , S. 137.

77 Dazu siehe A. THOMAS STÖCKL und JÖRG A. KUENZER, Gutenberg war's nicht allein. Gutenberg, Fust und Schöffer als Erfinder der Buchdruckkunst, Karlsruhe 1988.

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eigentlichen Erfinder mit Gutenberg und Schöffer als Gehilfen herausstellt, wohingegen die deutschsprachige Überlieferung Gutenberg als Erfinder feiert. 78 *

Sehen wir uns das >Gutenberglied< näher an. Schon Vv. 11-20 begegnen wir der Auffassung des Buchdrucks als von Gott inspirierter Kunst, als ars divina oder sacra ars. Ganz neu war dieser Gedanke freilich nicht: Bereits 1470, in der von Konrad Sweynheym und Arnold Pannartz zu Rom gedruckten Hieronymus-Ausgabe, wird der von Nikolaus Cusanus ausgesprochene Wunsch erwähnt, haec sancta ars, die in Deutschland entstanden sei, in Rom eingeführt zu wissen. 79 Dieser Gedanke wird später zu einem protestantischen Topos: so pries Luther selbst den Buchdruck als »die letzte Gabe Gottes, durch die er die Verbreitung des Evangeliums vorantreibt« 80 und noch in dem bereits erwähnten Meisterlied des Wolfhard Spangenberg heißt es, der Heilige Geist habe Gutenberg beigestanden und ihm die Erfindung der Druckkunst ermöglicht. Folz selbst hat, wie D I E T E R K A R T S C H O K E ausführt, 81 in der ersten Strophe des >Gutenbergliedes< »das nihil sub sole novum des >Predigers< (Eccl 1,10) mit dem semper novum der Heilsgeschichte« konfrontiert. In der zweiten Strophe werde »eine kühne Verbindung zwischen der Geburt Christi und der Erfindung des Buchdrucks im Zeichen der novitas beider Ereignisse« gemacht, ein Gedanke, der (so K A R T S C H O K E ) »umso kühner« sei, »als das profane Ereignis das sakrale an Neuheit insofern sogar übertrifft, als es nicht vorherzusehen war Wer hat davon gelesen?« Auch in Hartmann Schedels Weltehronik (1493) wird der Buchdruck überschwenglich gepriesen. Durch ihn sei die Anschaffung nützlicher Texte 78

»O werthe Druckerkunst / Du Mutter aller Kunst«. Gutenbergfeiem im Laufe der Jahrhunderte, Mainz, 1999, S. 63-65. 79 Siehe M A S S I M O M L G L I O , Prefazioni alle edizioni di Sweynheim e Pannartz prototipografi romani (Documenti sulle arti del libra 12), Mailand 1978, S. 4. Im Vorwort zu den >Dialogorum libri Septem adversus haereticos< ([Lyon]: Johannes Trechsel, 1494 (ISTC io00009000)) des William von Ockham feiert Jodocus Badius Ascensius die Kunst ebenfalls als divina imprimendi facultas. 80 Typographie! postremum est donum et idem maximum, per earn enim Dens toti terrarum orbi voluit negotium verae religionis in fine mundi innotescere ac in omnes linguas transfundi (D. Martin Luthers Werke, Weimarer Ausgabe, Tischreden, Bd. 1, S. 523, Nr. 1038) [Anfang der 1530er Jahre]. Am 9. Juli 1539, als er einmal de felicitate huiiis saeculi spricht, meint Luther, heute stehe die Wissenschaft in Blüte dank dem Buchdruck, dessen Rolle es sei, den Papst unter Druck zu setzen: Nam olim tantae erant tenebrae in omnibus facultatibus et artibus, ut nullus usus esset... Nunc omnes artes Ulustratae florent. So hatt vns Gott die druckerey dartzu geschenckt, praeeipue ad premendum papam (Tischreden, Bd. 4, S. 436-437, Nr. 4697). Vgl. auch Sebastian Franck, selbst Drucker, der in seiner >Chronica< (Straßburg 1531, fol. 206 v 207') schrieb: Durch dise Kunst der Truckerey wird der lang verschlossen Brunn gütlicher und unaußsprechlicher Weißheit unnd Kunst in die Gmeyn außgeteylt (zit. nach R U D O L F H I R S C H , The Invention of Printing in German Rhymed Chronicles of the Sixteenth Century, GutenbergJahrbuch 37 (1962), S. 113-116, hier S. 116). 81 K A R T S C H O K E 1985 [Anm. 9], S. 186-188. MONIKA ESTERMANN,

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wesentlich billiger geworden - wenn er früher erfunden worden wäre, wären Bücher von Livius, Cicero und Plinius nicht verloren; diese deutsche Erfindung könne man nicht hoch genug loben. 82 Auch Folz lobt den nucz (V. 21) der Druckerei, die Billigkeit der Bücher (um ringez gellt, V. 57), und preist Gott und Gutenberg für diese deutsche Erfindung (Vv. 134-140). In Strophe 5 freut sich Folz darüber, daß die durch den Buchdruck geförderte Verbreitung der Schrift sich als ein Gift (V. 42) 83 gegen den Antichrist 84 erweist, womit bei Folz auch dessen Anhänger, die Juden - diese werden V. 113 als Ροζ narren >böse Narren< bezeichnet - , mitgemeint sein können, 85 deren Anwesenheit den Nürnberger Bürgern damals ein Dorn im Auge war - bekanntlich gelang dem Rat 1498 die Ausweisung der Juden aus der Stadt. Kurioserweise begegnen wir in Sebastian Brants >Narrenschiff< (1494) einer fast entgegengesetzten Meinung: Nach Brant sind es ja die Drucker selbst, die als Handlanger des Antichrist falschen Glauben verbreiten: D e r endkrist sytzt j m grossen schiff V n d hat sin b o t t s c h a f f t v ß g e s a n d t Falscheit v e r k u n d t er / d u r c h all landt Falsch g l o u b e n / v n d vil falscher 1er W a c h s e n v o n tag zu tag ye m e r D a r zü / dünt d r u c k e r y e t z güt stür W a n n m a n vil b ü c h e r w ü r f f j n n s f ü r M a n brannt vil vnrecht / falsch dar j n n Vil trachten alleyn v f f g e w y n n V o n aller erd sie b ü c h e r suchen D e r correctur etlich w e n i g rüchen V f f groß b e s c h i ß vil yetz studyeren 82 Siehe oben, Anm. 73. 83 Gemeint ist eher ein Gegengift, denn Folz zufolge strebten die Juden im Bunde mit dem Antichrist die geistige, materielle und physische Vernichtung der Christen an: Wan nach aller geschrift erfarung So sein sie schedlicher den kristen Dan der teüfel mit all sein listen. Der selb gert nür der sei alein, Der jüd leib, sei und gut gemein: Den leib, duch sie vergifft und wunt, Die sei verflucht in hell abgrunt, Und das alle herschafft gemein, Neür ynen dienen solt alein. FISCHER 1 9 6 1 [ A n m . 16], N r . 3 7 , V v . 1 8 8 - 1 9 6 .

Vgl. dazu MAGIN 2000 [Anm. 19], S. 376, auch S. 377, wo es heißt, man fürchtete damals, die Juden nutzten ihr medizinisches Wissen, um Christen zu vergiften. 84 Zum Antichrist siehe Offenbarung, 21, 6-8. Allgemein dazu: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, Sp. 703-706. 85 WENZEL 1982 [Anm. 64], S. 90, weist daraufhin, daß zu dieser Zeit auch der Vorwurf verfestigt war, die Juden seien Anhänger des Antichrist. Die Gleichsetzung war ja naheliegend, zumal es in I Io 2, 22 heißt: Quis est mendax nisi is qui negat quoniam lesus noil est Christus? Hie est antichristus qui negat Patrem et Filium. Die antijüdische Polemik in diesem Gedicht ist ohnehin deutlich.

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John L. Flood

Vil d r u c k e n / w e n i g corrigyeren Sie lügen übel zü den Sachen So sie m e n n l i n / v m b m e n n l i n m a c h e n 8 6 Sie dünt j n n selber schad / v n d schand M a n c h e r der d r u c k t sich v ß d e m land. 8 7

Folz begrüßt es, daß alle Klöster ( s t i f f t , V. 47) mittlerweile mit der Heiligen Schrift ausgestattet sind. Gemeint sind offenbar lateinische Bibeln, von denen bis Ende 1480 bereits 45 Ausgaben, 31 davon aus deutschen Offizinen, vorlagen, 88 wobei festzuhalten ist, daß Folz' Nürnberger Kollege Anton Koberger mit sechs Bibeldrucken bis 1480 der größte Bibeldrucker damaliger Zeit überhaupt war. Wo es aber um Bibel Übersetzungen^ geht, kritisiert Folz - selbst Buchdrucker (oder wenigstens schon entschlossen, Buchdrucker zu werden) bezeichnenderweise nicht die Buchdrucker, erst recht nicht den mächtigen Drucker-Verleger Koberger, sondern die Geistlichen (Geistlich persan V. 55), die die Bibel um ringez gellt (V. 57) verdeutschen wollen - andere Zeitgenossen (wie etwa Brant) hätten die ungezügelte Geldgier der Drucker selbst verklagt. So heißt es etwa 1497 in einem Brief des Conrad Leontorius, Zisterzienser in Maulbronn, an den Basler Verleger Johann Amerbach, unlautere Drucker, die diese heilige Kunst befleckten, sollten hinter Sarmatien und den verschneiten Kaukasus verjagt werden. 90 Folz warnt vor der Verbreitung der Heiligen Schrift in der Volkssprache (V. 58): Manch ley durch die ding wirt geniest (V. 67). Die Folge davon werde sein, daß das Ansehen der Geistlichkeit sinkt und Zwietracht entsteht (Vv. 75-80). CHRISTINE MAGIN hat neulich argumentiert, daß Folz' antijüdische Werke mit der Zustimmung oder wenigstens dem Wissen des Nürnberger Rats ver86 D. h. Nachdrucke veranstalten. 87 Sebastian Brant, Das Narrenschiff, hg. von MANFRED LEMMER, Tübingen 1962, Kap. 103, Z. 72-88. 88 Acht entstanden in Nürnberg (sechs davon bei Koberger: 16. November 1475 (GW4218,ISTC ib00543000), 30 Juli 1477 (GW 4227, ISTC ib00552000), 14. April 1478 (GW 4232, ISTC ib00557000), 10 Nov. 1478 (GW 4234, ISTC ib00559000), 6 August 1479 (GW 4239, ISTC ib00564000), 14. April 1480 (GW 4243, ISTC ib00568000), zwei weitere bei Sensenschmidt und Frisner (9. Dez. 1475 (GW 4219, ISTC ib00544000) und 1476 (GW 4221, ISTC ib00546000)), sieben in Köln, sechs in Basel, fünf in Straßburg, drei in Mainz und je eine in Bamberg und Ulm. Außerdem waren acht in Venedig und je eine in Rom, Piacenza, Neapel, Vincenz, Paris und Lyon erschienen. Koberger druckte 1487 noch eine weitere Ausgabe (ISTC ib00614000). Was Bibeln in der Volkssprache betrifft, so waren bis 1488, dem Jahr, in dem Folz seine Presse stillgelegt haben soll, bereits elf hochdeutsche (GW 4295-4305) und zwei niederdeutsche Ausgaben (GW 4307-4308) im Umlauf. 89 Zu erwägen wäre, ob neben Übersetzungen der Vollbibel auch die hochdeutschen Plenarien gemeint sein können. Bis nach 1480 wurden diese allerdings ausschließlich in Augsburg gedruckt, und zwar von Günther Zainer 1473 (ISTC ie00072000), 1474 (ISTC ie00074000), Johann Bämler [um 1473-76] (ISTC ie00072500), 1474 (ISTC ie00073000), 1476 (ISTC ie00075000), und von Anton Sorg 1478 zweimal (ISTC ie00076000 und ie00077000) und 1480 zweimal (ISTC ie00078000 und ie00078500). 90 Brief vom 17. November 1497 an Johann Amerbach in Basel, in: Die Amerbachkorrespondenz, hg. von ALFRED HARTMANN, Bd. 1, Basel 1942, S. 75-76, hier S. 75, Nr. 66, 20-23.

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öffentlicht worden seien; 91 auch habe er sich in anderen Werken als »ratskonform« gezeigt, vor allem, was seine Ansichten über die Rolle der Juden im geistigen und wirtschaftlichen Leben der Stadt betrifft. So wäre zu erwägen, ob Folz' Bedenken gegen die Verbreitung der Heiligen Schrift in der Volkssprache auch die Vorbehalte des Rates, der nachweislich den Buchdruck in der Stadt rigoros beaufsichtigte, reflektieren könnten. Folz war auf jeden Fall nicht der einzige, noch weniger der erste Zeitgenosse, der die potentiellen Gefahren der Verbreitung des Buchdrucks erkannte. 92 Schon 1470 fühlte sich der Pariser Theologieprofessor Guillaume Fichet, bei aller Anerkennung des großen Lichts, das die neue Art von Buchhändlern aus Deutschland ausgestrahlt habe, gar an das Trojanische Pferd erinnert. 93 Die Herrschenden erkannten sehr bald, daß die Presse kontrolliert werden müsse. Erstes Anzeichen war die Einführung einer Vorform von Zensur in Köln in den Jahren um 1479, als Papst Sixtus IV. der Theologischen Fakultät der Universität das Recht gab, die Produkte der dortigen Pressen zu überwachen, wobei die Bücherzensur formell 1485 unter Innocenz VIII. eingerichtet wurde. 94 Im gleichen Jahr, am 22. März 1485, erließ der Mainzer Erzbischof Adolf von Henneberg ein Mandat gegen den Druck von Bibeln in der Volkssprache; Zuwiderhandelnden wurde die Exkommunikation, die Beschlagnahme der Bücher und obendrein eine Geldstrafe von 100 Gulden angedroht. In einem bemerkenswerten handschriftlichen Dokument aus dem Besitz Hartmann Schedels, dem >Auisamentum salubre quantum ad exercicium impressorie literarum< (>Heilsame Anweisung, die Ausübung der Buchdruckerkunst betreffende München, BSB clm. 901, Bl. 202 r -205 v ), geschrieben in Nürnberg zwischen 1480 und 1490, ist ausführlich von dem Schaden die Rede, den der Buchdruck anrichtet. 95 Ich fasse den Inhalt nach Geldners Darstellung kurz zusammen: 91 MAGIN 2000 [Anm. 19], S. 385-386. 92 Die frühen Belege sammelte ANTONIUS VON DER LINDE, Geschichte der Erfindung der Buchdruckerkunst bis in das 16. Jahrhundert, Berlin 1888, Bd. 3, S. 696ff. Vgl. auch HANS WIDMANN, V o m Nutzen und Nachteil des Buchdrucks - aus der Sicht der Zeitgenossen des Erfinders (Kleine Drucke der Gutenberg-Gesellschaft 92), Mainz 1973. Zur zeitgenössischen Rezeption des Mediums Buchdrucks: MICHAEL EMBACH, Skriptographie versus Typographie. Johannes Trithemius' Schrift »De laude scriptorum«, Gutenberg-Jahrbuch 75 (2000), S. 132-144; auch das Gedicht >De chalcographiae inventione< von Johannes Arnold (Mainz 1541) (dazu ESTERMANN 1999 [Anm. 77], S. 31-32 u. 58). Allgemein zu den kulturellen Veränderungen, die der Buchdruck bewirkt hat, siehe ζ. B. MARSHALL MCLUHAN, The Gutenberg Galaxy, The Making of Typographie Man, London 1962; ELIZABETH EISENSTEIN, The Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultural Transformations in Early M o d e m Europe, Cambridge, Mass., 1979; und MICHAEL GIESECKE, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a. M. 1991. 93 Vgl. oben, Anm. 70. 94 Siehe: Bullarum diplomatum et privilegiorum sanctorum Romanorum Pontificum Taurinensis editio, Bd. 5, Turin 1860, S. 327, Nr. XIII. 95 Siehe FERDINAND GELDNER, Ein in einem Sammelband Hartmann Schedels (Clm 901) überliefertes Gutachten über den Druck deutschsprachiger Bibeln, Gutenberg-Jahrbuch 47 (1972), S. 86-89. GELDNER hat davon abgesehen, den Text abzudrucken; er ist offenbar bisher nicht ediert worden.

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Eingangs wird betont, daß die Buchdruckerkunst durch die Verbreitung der heiligen Schriften der Kirche nützen könne. Sie schade aber, wenn die Drucker sie mißbrauchten. Sie könne sehr großen Schaden anrichten, da das Gift von Irrtümern in den Schriften sich leicht in der ganzen Kirche ausbreiten könne. Der Druck von Übersetzungen theologischer Werke aus dem Lateinischen in die Volkssprache wie der ganzen Bibel, des Sentenzkommentars des Petrus Lombardus u. a., stelle eine besondere Gefahr dar dem Verfasser erscheint die neue Kunst unter Berufung auf Prophezeiungen des Jesias geradezu als Vorläuferin des Antichrist. Wenn Bibelübersetzungen in die Hände ungebildeter, neugieriger Laien geraten, würden diese es evtl. verschmähen, das Wort Gottes aus dem Munde des Priesters zu hören und sich für klüger halten als die Priester. Den Hauptteil des Gutachtens bildet eine Aufzählung von elf auf kirchliche Autoritäten gestützten Argumenten, warum die Laien nicht selbst die Bibel in der Volkssprache lesen sollen. So müsse man nach Johannes Chrysostomus geistbegabt und erfahren im Umgang mit Texten sein. Die Heilige Schrift sei nicht so ohne weiteres verständlich. Durch Mißverstehen des Textes könne der Laie gefährlichen Irrtümern verfallen. Die Heilige Schrift sei nicht immer buchstäblich, sondern oft mystisch aufzufassen - Hinweis auf den vierfachen Schriftsinn, usw., usf. Selbst die Theologen seien sich oft nicht einig, wie eine Bibelstelle auszulegen ist. Der Verfasser schließt mit der Mahnung: Achtet darauf, daß ihr diesem Übel des Drucks von Büchern, die aus den heiligen Schriften in die Volkssprache übersetzt sind, vorsorglich entgegentretet, denn diese Übersetzung zielt auf die Schwächung der kirchlichen Hierarchie, auf die schwere Gefährdung des orthodoxen Glaubens, auf die Verwirrung der heiligen Kirche, auf die Verdammnis der Seelen und endlich auf die Vernichtung gleicherweise der weltlichen wie der geistlichen Ordnungen. Man müsse gleich am Anfang eingreifen, damit nicht durch Vermehrung der deutschsprachigen Bücher der Funke des Irrtums endlich sich zu einem großen Feuer entwickle. H a r t m a n n Schedel hat den N a m e n des Verfassers dieses »von scholastischer G e l e h r s a m k e i t p r u n k e n d e n « ( s o GELDNER) G u t a c h t e n s n i c h t notiert, d o c h d e r Verfasser war vermutlich ein theologisch und kanonistisch gebildeter Nürnb e r g e r K l e r i k e r . D e r G e d a n k e GELDNERS, g e r a d e A n t o n K o b e r g e r k ö n n t e d a s G u t a c h t e n in A u f t r a g g e g e b e n h a b e n , ist z w a r v e r l o c k e n d , a b e r letztlich n i c h t b e w e i s b a r . GELDNER m e i n t , K o b e r g e r k ö n n t e e i n t h e o l o g i s c h e s G u t a c h t e n h a b e n a n f e r t i g e n lassen, als er p l a n t e , selbst eine B i b e l ü b e r s e t z u n g z u v e r l e gen. V i e l l e i c h t h a b e er e r f a h r e n , d a ß k i r c h l i c h e r s e i t s B e d e n k e n g e g e n d e n D r u c k d e u t s c h s p r a c h i g e r B i b e l n b e s t a n d e n ; K o b e r g e r ließ s i c h j e d o c h v o n s e i n e m V o r h a b e n n i c h t a b b r i n g e n - s e i n e d e u t s c h e B i b e l , d i e 9. h o c h d e u t s c h e ( G W 4 3 0 3 ; I S T C i b 0 0 6 3 2 0 0 0 ) , w u r d e a m 17. F e b r u a r 1 4 8 3 v o l l e n d e t . Ohne daß m a n einen direkten Z u s a m m e n h a n g zwischen Folz' Lied und d e m >Avisamentum< s e h e n m ö c h t e , k a n n m a n w e n i g s t e n s f e s t s t e l l e n , d a ß d i e b e i d e n Texte sich inhaltlich eigentümlich berühren. In beiden spukt der Antichrist, o b w o h l es b e i F o l z heißt, d i e s e r w e r d e d u r c h die H e i l i g e S c h r i f t v e r g i f t e t , w ä h r e n d d e r V e r f a s s e r d e s >Avisamentum< ( ä h n l i c h w i e S e b a s t i a n B r a n t ) m e i n t , d e r g i f t b r i n g e n d e B u c h d r u c k k ö n n e e i n V o r z e i c h e n d e s A n t i c h r i s t sein. Folz atmet o f f e n b a r die gleiche Luft, wie der unbekannte N ü r n b e r g e r Kleriker, j a m a n g e h t w o h l n i c h t z u w e i t , w e n n w i r es f ü r m ö g l i c h h a l t e n , d a ß F o l z d i e

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Gedankenftihrung im >Gutenberglied< wenigstens ζ. T. Hartmann Schedel verdankte, zu dem er anscheinend in persönlicher Beziehung stand. *

Als Drucker lebte Folz in einer - aus unserer Sicht wenigstens - sehr interessanten Übergangszeit zwischen der mittelalterlichen Buchkultur und der anbrechenden Ära Gutenbergs. Die Folgen der Einführung des Buchdrucks waren noch nicht abzusehen, und die Unsicherheit ist auch bei Folz deutlich erkennbar. Wir sahen schon seine Bedenken über die Verbreitung der Heiligen Schrift in der Volkssprache. Auch als Unternehmer war er zaghaft: obwohl sein schriftstellerisches Programm durchaus »stark auf das praktische wie das Erbauungs- und Unterhaltungs-Bedürfnis eines städtischen Publikums ausgerichtet« 96 war, verfügte er offenbar nicht über das Kapital und die Kapazität, die nötig gewesen wären, wollte er mit seiner Presse seinen Lebensunterhalt verdienen. Obwohl die Technik Folz vielleicht faszinierte - er kannte schließlich persönlich Leute, die zur Erfindergeneration gehörten - , war er wohl noch nicht so weitblickend, daß er erkannte, daß sie einen Strukturwandel des Kommunikationsprozesses mit sich bringen würde. Vielleicht unterschätzte er den ganz wesentlichen Unterschied zwischen der mittelalterlichen Handschriftenkultur und der neuzeitlichen Buchkultur: daß nämlich der Buchverleger fortan viel stärker als bisher auf unbekannte Käufer, auf ein noch zu erschließendes Publikum angewiesen war, wenn er seine Produkte an den Mann bringen wollte. 97 Selbst bei den vergleichsweise kleinen Auflagenhöhen der Zeit gehörte ein gewisses Können dazu, auch Gedichte dieser Art zu verkaufen: von den 20 000 Einwohnern Nürnbergs konnte nur ein Teil lesen, und von diesen wollte sicher wiederum nur ein Bruchteil sein Geld für so etwas ausgeben, und die Möglichkeiten, solche Hefte außerhalb Nürnbergs abzusetzen, waren um diese Zeit noch ziemlich beschränkt. Wie wenig Folz an die für uns so selbstverständliche Handelspraxis dachte, zeigt etwa der Umstand, daß bei ihm der Titel des Werkes im Buchinneren, also noch nicht auf der werbewirksamen Vorderseite des ersten Blattes erscheint. Noch weniger dürfte Folz erkannt haben, daß der Buchdruck zur Fixierung des Textes führen würde. Während die Texte mittelalterlicher Autoren vielfach der Abwandlung ausgesetzt waren, sei es durch Willen des Autors oder durch die Eingriffe späterer Schreiber, gehörte Folz zur ersten Generation deutscher Autoren, deren Oeuvre durch den Buchdruck fixiert wurden und wo wir sagen können, hier liegt eine vom Verfasser selbst autorisierte Fassung vor.

9 6 F I S C H E R 1 9 8 3 [ A n m . 1], S . 1 6 1 .

97 Dazu JOHN L. FLOOD, The Printed B o o k as a C o m m e r c i a l C o m m o d i t y in the Fifteenth and Early Sixteenth Centuries, Gutenberg-Jahrbuch 76 (2001), S. 172-182.

Literarische und mediale Rahmenbedingungen

K L A U S GRUBMÜLLER

Werkstatt-Typ, Gattungsregeln und die Konventionalität der Schrift. Eine Skizze1 This contribution examines the role of writing in the emergence of continuity in German literature of the Middle Ages and therefore its significance for the historical context of literature. It becomes apparent that favourable conditions for the formation of series of texts and types of text - in other words, of genres - may be promoted with the same intensity - if in a different way - by oral as well as written forms of performing literature. However, a formation of a literary type which is aware of itself or, in other words, a considered formation needs the medium of writing. Only on this basis can the customs and rules which develop, for instance, through a text being used in the same kind of situation be understood as phenomena of a particular period, i. e. as historical processes.

Die Bedeutung der Schrift für die Entstehung und Ausdifferenzierung von Literatur steht seit einigen Jahrzehnten zur Debatte. Noch längst aber sind nicht alle Fragen gelöst, viele sind noch nicht einmal angesprochen. Dazu gehört das noch nicht bedachte Problem, in welcher Weise die Schrift in ihrer Konventionalität Einfluß nimmt auf die Ausbildung von literarischen Konventionen, im engeren Sinne auf die Etablierung von Textreihen, denen eine gewisse Gleichartigkeit eignet, und die wir vielleicht deshalb als Gattungen 2 bezeichnen dürfen. Es verweist auf die noch weitergehende Frage, ob die Schrift nicht sogar die Voraussetzung für die Ausbildung solcher Kontinuitäten sei und damit für die innere Strukturierung der Literatur, für die Ausbildung eines >literarischen Systems< überhaupt. Diese Frage wäre leicht (positiv) zu beantworten, wenn man sich darauf zurückzöge, Schriftlichkeit schon deshalb als selbstverständliche Voraussetzung für eine gattungshafte Organisation von Literatur zu behaupten, weil diese 1

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Die folgenden Überlegungen sollten den Diskussionen der Tagung einen Rahmen geben. Sie sind ein Gedankengerüst, das - in vielen Punkten hypothetisch - versucht, Ordnungskategorien für Einzelbeobachtungen zu erproben, die sonst immer in Gefahr sind, ziellos zu bleiben. Zu dieser Gattungskonzeption mein Aufsatz: KLAUS GRUBMÜLLER, Gattungskonstitution im Mittelalter, in: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.-11. Oktober 1997, hg. von NIGEL F. PALMER/HANS-JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 1999, S. 193-210.

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Klaus Grubmüller

angewiesen sei auf eine gültige Gattungspoetik oder wenigstens auf eine begleitende poetologische Reflexion, wie sie in aller Regel nur über fixierte Tradition, also schriftlich, zu haben sei. Das ist wohl nur dann plausibel (aber auch tautologisch), wenn Schriftlichkeit bereits selbstverständliche Voraussetzung von Literatur ist; dann wird man davon ausgehen dürfen, daß sich theoretische Reflexion und das Ausformulieren von >Gattungsregeln< im Medium der Schrift vollziehen: eine >mündliche< Poetik ist schwer vorstellbar. Aber auch vor-schriftliche Literaturen haben ihre typenhafte Organisation. Sie kommt über >Gewohnheiten< zustande und prägt sich in dem aus, was HUGO KUHN3 >Werkstatt-Typen< genannt und weit über die mündlich überlieferte Literatur hinaus ins Spiel gebracht hat. Um einige ihrer Aspekte, ihre Eigenarten, ihr Verhältnis zu >GattungenGattungen< geordnete Erscheinung, schon gar nicht die volkssprachige Literatur des Mittelalters, der eine formulierte Poetik ebenso fehlt wie eine kohärente organisatorische Basis und die - wie viele vormoderne Literaturen überhaupt - eng in Gebrauchssituationen eingebunden ist, die sich in der Regel der Systematisierung entziehen. Eine Strukturierung muß sich immer - und so auch im Mittelalter - erst herausbilden: nach Mustern, denen reihenbildendes Prestige zuwächst, nach gleichförmigen Gelegenheiten, die immer wieder gleichartige Voraussetzungen bieten und daraus ähnliche Erzeugnisse generieren, irgendwann sicher auch nach den formulierten Vorschriften von >importiertenHeliandMuspilliHildebrandsliedLudwigsliedAnnolied< geht zwar verloren, hat aber immerhin in der >Kaiserchronik< (die eine Reihe von Versen in den Daniel-Traum und in ihren Cäsar-Abschnitt übernimmt) seine Spuren hinterlassen. Erst mit den großen Sammelhandschriften frühmittelhochdeutscher Literatur tritt ein Bewußtsein für deutschsprachige literarische Zusammenhänge zu Tage, freilich eines, das gerade nicht Typen sondert, sondern Gegenstände und Themen nach ihrer Verwertbarkeit (hier: der Einordnung in die Heilsgeschichte) aufsammelt. Dieses Bewußtsein ist überdies ein retrospektives, denn die Texte beziehen sich nicht aufeinander und stehen auch nach ihren Entstehungsumständen in keinem Zusammenhang. Kontinuität ist hier keine Größe der Textproduktion, sondern eine des Sammeins. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts ändert sich das: mit Minnesang und Artusroman entstehen die ersten Textreihen, die sich nicht nur über ein gemeinsames Thema, sondern über interne Bezüge aufbauen, also sich in einen Diskussionszusammenhang stellen. Lamprechts >Alexander< gibt mit seinen beiden Neufassungen das erste Beispiel für das Phänomen des literaturinternen, aktualisierenden >WeiterschreibensRolandslied< setzt das in seiner Modernisierung durch den Stricker fort; die >Herzog ErnstKollegenAuftrittsliteratur< (damit ersetze ich für meinen Zweck PAUL ZUMTHORs Begriff der Oralität' 0 ) nicht geschieht, liegt wohl daran, daß die Selbstdefinition bereits durch den Auftritt geschieht und schon damit die Kontinuität gegeben ist, also gar nicht mehr thematisiert werden muß. Diese Überlegungen legen die These nahe: Typenbildung, die sich ihrer selbst bewußt ist, ist auf Schriftlichkeit angewiesen. Die These läßt sich erhärten durch einen Blick auf nur schriftlich denkbare Phänomene: Übersetzen und Erneuern. Beides sind Musterfälle für die Ausbildung von Kontinuitäten und 6

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V g l . s c h o n HELMUT DE BOOR, D e r D a n i e l des S t r i c k e r u n d d e r G a r e l d e s Pleier, P B B 7 9 ( T ü b . 1957), S. 6 7 - 8 4 ; d a n n PETER KERN, D i e A r t u s r o m a n e d e s Pleier. U n t e r s u c h u n g e n ü b e r d e n Z u s a m m e n h a n g v o n D i c h t u n g u n d literarischer Situation ( P h i l o l o g i s c h e S t u d i e n u n d Q u e l l e n 100), Berlin 1981. K u r z z u s a m m e n g e f a ß t in d e r E i n l e i t u n g zu: K o n r a d v o n H e i m e s f u r t , >Unser v r o u w e n hinvart< u n d >Diu urstendeHermaeabuoch< u n d d i e W a h r h e i t . A n m e r k u n g e n zu den Q u e l l e n b e r u f u n g e n i m >Rolandslied< u n d in d e r E p i k d e s 12. J a h r h u n d e r t s , in: >bickelwort< u n d >wildiu maerelitterature< m e d i e v a l e . P a r i s 1987.

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für die Konstituierung von literarischen Typen - wenn auch von Typen unterschiedlicher Dichte und unterschiedlicher Gattungshaftigkeit (beim Artusroman macht es Sinn, nach dem Gattungscharakter zu fragen, beim Alexanderroman sicher nicht). 1. Offensichtlich stellt sich das Thema des Übersetzens in mündlich geprägter Literatur überhaupt nicht. Der Traditionsstrom oder auch bestimmte Gebrauchssituationen scheinen übersprachlich gedacht, sie sind auf Vorstellungen, nicht auf Wortlaute gerichtet; die sprachliche Kompetenz dessen, der sie aktiviert, steht nicht zur Debatte, auch sie ist gewissermaßen schon durch den Auftritt gegeben. Zum Problem wird das Übersetzen erst dann, wenn Wortlaute vorliegen, und das ist nur schriftlich denkbar. Erst dann entsteht auch eine Art Legitimationsdruck durch die Existenz von Vorlage und Wiedergabe: durch die prinzipielle (praktisch wohl kaum jemals relevante) Vergleichbarkeit. Es ist nicht ohne Pikanterie, daß man sich dem Problem vor allem dadurch gestellt hat, daß es relativiert wurde. Die von F R A N Z J O S E F W O R S T B R O C K 1 1 jüngst herausgestellte Poetik des Wiedererzählens ist ja eigentlich nichts anderes als die gleichsam nachträgliche Anpassung von Schriftliteratur an die Autoritäts- und Genauigkeitsansprüche der Oralität. 2. Erneuern von literarischen Werken als ein typenbildender Vorgang wird gleichermaßen erst zum Thema in schriftlicher Literatur. Nicht nur weil wir ihn uns praktisch nur als ein Neu-Schreiben vorstellen können, auch als einen Vorgang, für den Vorlagen erforderlich sind, sondern weil nun jenes Verfahren der literarischen Produktion, das in der Oralität eine unreflektierte Selbstverständlichkeit darstellt, als ein besonderer Fall in die Reflexion tritt: der Sänger, der kollektive (mündliche) Überlieferung zu Gehör bringt, präsentiert das jederzeit Gültige; es besitzt als Erzählung (natürlich aber als Ereignis der Vergangenheit) keinen Zeitindex. Nirgendwo fassen wir das Bewußtsein, Altes jetzt neu zu erzählen, also irgendwie der Gegenwart angepaßt. Bei den Modernisierungen der höfischen Epen ist aber genau das der Fall.

IV. Ich ziehe ein erstes Fazit: Schrift ist keine Voraussetzung für die Ausbildung literarischer Typen. In mancher Hinsicht bietet orale Literatur sogar die günstigeren Bedingungen dafür, oder vielleicht besser: die Notwendigkeit stellt sich dort durch das Erfordernis der Wiedererkennbarkeit in höherem Maße. In Schrift hingegen wird der Traditionsbezug überhaupt erst zum Problem, er rückt als ein immer erst zu erzeugender in die Reflexion. Typenbildung wird 11 FRANZ JOSEF WORSTBROCK, W i e d e r e r z ä h l e n u n d Ü b e r s e t z e n , in: M i t t e l a l t e r u n d f r ü h e N e u zeit. Ü b e r g ä n g e , U m b r ü c h e u n d N e u a n s ä t z e , h g . v o n WALTER HAUG ( F o r t u n a vitrea 1 6 ) . T ü b i n g e n 1 9 9 9 , S. 1 2 8 - 1 4 2 .

Werkstatt-Typ, Gattungsregeln und die Konventionalität der Schrift

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dadurch nicht nur besser beobachtbar, sondern auch differenzierter und deutlicher ausgeprägt, rückt schließlich auch, das ist nachzutragen, schon durch das klerikal-traditionelle Medium, das Schrift immer geblieben ist, in die Sphäre der gelehrten Tradition mit ihren anderen Ansprüchen an Explizitheit und Begründbarkeit. Also über ihre Maßstäbe wirkt die lateinische Schriftkultur in die volkssprachige literarische Typenbildung ein, nicht über irgendeine antike oder mittelalterliche Gattungspoetik. Es gibt dazu allerdings auch die Kehrseite: Die größere Verläßlichkeit der Schrift, der geringere Zwang zur Versicherung des Gesagten begünstigen das Experiment, das Umspielen der Typen, verdunkeln also die Erkennbarkeit und öffnen wieder die Grenzen. Das aber ist ein anderes Thema, das hier nicht näher ausgeführt werden kann. Sinnvoll wird es also sein, verschiedene Formen der Typenbildung zu unterscheiden: Für den vortragsbestimmten, den kollektiven Typus empfiehlt es sich, den Begriff des Werkstatt-Typs zu reservieren, wie ihn HUGO KUHN eingeführt hat: man (nämlich die Autoren wie das Publikum) weiß, wie zu reden ist, wie bestimmte Formen funktionierend Das ist ein kollektives, ein überpersönliches Wissen, das als unreflektiertes dem Funktionieren des literarischen oder vielleicht eher geselligen Betriebes vorausliegt. Der Begriff der Gattung wäre dann zu reservieren für reflexionsgeleitete Typenbildung. Sie entsteht nicht durch die Präsenz jederzeit verfügbarer Muster, sondern durch den Rückgriff auf Vorbilder (die wohl kaum anders als schriftlich fixiert vorstellbar sind). Sie unterscheiden sich von den Werkstatt-Typen durch das Bewußtsein des zeitlichen Fortschreitens, also einer historischen Differenz.

V. Ich gehe nun noch einen kleinen Schritt weiter und überprüfe meine Überlegungen an zwei (ziemlich beliebig herausgegriffenen) Testfällen. 1. Bei der Kleindichtung des Strickers, jenem nur mühsam zu sondernden Bündel von Mären, Reden, Bispein, das offensichtlich Schule gemacht hat und in der Wiener Sammelhandschrift 2705 12 wohl auch in einer Art Schulzusammenhang überliefert ist, handelt es sich um einen Musterfall von Typenbildung (und daß wir nicht recht wissen, wie wir diesen Typ benennen sollen, tut dafür nichts zur Sache). Es kann keine vernünftigen Zweifel daran geben, daß der Stricker sich aus dem lateinischen, besonders theologischen Wissensfundus bedient und wohl auch schriftliche Quellen benutzt hat. Er gehört aus dieser Sicht ganz gewiß in den schriftliterarisch geprägten Bereich. Wie seine Werke kon12 Die Literatur jetzt bei FRANZ-JOSEF HOLZNAGEL, Wiener Kleinepikhandschrift cod. 2705, 2

V L , B d . 10, S p . 1 0 1 8 - 1 0 2 4 ; vgl. HOLZNAGEL 1 9 9 9 [ A n m . 8],

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Klaus Grubmüller

zipiert und wie sie rezipiert worden sind, wissen wir nicht. Grundsätzlich mag ich sie mir nicht anders als schriftlich verfaßt und mündlich vorgetragen denken, also so, wie wir uns das auch bei den höfischen Epen vorstellen. Den Stricker-Gedichten fehlen aber alle Merkmale einer reflektierten Typenbildung: es gibt keinen Quellenbezug, überhaupt keine Maßnahmen zur Autoritätssicherung, keine intertextuellen Signale, erst recht keine poetologische Reflexion: sie treten gewissermaßen so nackt und bloß auf wie ein Minnelied und damit auch so selbstverständlich. Nur sind sie keine Ich-Rede und damit auch nicht durch die Person des Vortragenden, seinen Erfahrungsgestus, legitimiert. Woher gewinnen sie ihre Autorität? Zumal sie ja kaum - so wie eben das Minnelied - etablierter Bestandteil höfischer Geselligkeit sein dürften. Es liegt der Gedanke nahe, daß bei den geistlichen Bispein und Reden die Lehrinhalte Autorität verbürgen, legitimierende Strategien also so wenig erforderlich sind wie bei der Predigt. Immerhin kann der Stricker aber nicht mit der institutionellen Rückendeckung auftreten wie der Prediger. Er maßte sich die Rolle an. 13 Außerdem: für manche der weltlichen Bispel und Reden könnte der geistliche Legitimationshorizont nur noch höchst vermittelt ins Spiel gebracht werden, für manche Mären überhaupt nicht. Vielleicht läßt sich die Brücke per analogiam schlagen: über die Kollektivität der Didaxe. Die Kleindichtung des Strickers, alle ihre Typen (auch die Mären), vermittelt Wertmaßstäbe. Sie erfindet sie nicht, sondern erinnert an sie (so wie das didaktische Literatur im Mittelalter immer tut). 14 Sie ist damit eingebunden in eine kollektive Vorverständigung so wie der Vortragende eines Heldenepos. Der Autor der Strickergedichte (der sich bezeichnenderweise nie mit Namen nennt: die wenigen Schlußfloskeln halte ich für sekundäre Zusätze) ist wie der Sänger des Epos Sprachrohr eines überpersönlichen Wertekosmos. Daraus folgt eine Modifikation meiner Thesen: Mündlichkeit und gemeinsamer, geselliger Vollzug sind in unserem Zusammenhang nicht für sich, sondern als Erscheinungsformen des Kollektiven überhaupt von Bedeutung. Der Typus der Reihenbildung aus der markierten Einordnung ins Allgemeine kann unter den besonderen Umständen der (geistlichen und weltlichen) Belehrung auch für Literatur aus der Sphäre der Schriftlichkeit wirksam werden: der Begriff des WerkstattTyps wäre dann auf alle (?) Formen der Reproduktion eines verbindlichen 13 Z u d i e s e r P r o b l e m a t i k d i f f e r e n z i e r e n d CHRISTA ORTMANN/HEDDA RAGOTZKY, >significatio laicalisAlexander< war die Rede als erstem Beispiel für Reihenbildung durch >ErneuernRolandslied< übergehe ich, Veldeke auch: sie könnten die Aussagen zur schriftliterarischen Typenbildung illustrieren, aber nicht grundsätzlich erweitern. Wie aber sind die anonymen Epen zu werten, >König Rothen und >Herzog Ernst