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German Pages [461] Year 2019
mode global 3 Burcu Dogramaci (Hg.) Textile Moderne / Textile Modernism
mode global Band 3 Herausgegeben von Burcu Dogramaci
Burcu Dogramaci (Hg.)
Textile Moderne / Textile Modernism
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Universität Regensburg sowie der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
© 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Franziska Pfannkuche, Seiltänzerin, undatiert [1920er Jahre], Stickerei, 29,5 x 21,8 cm, Nachlass Franziska Pfannkuche Lektorat: Elena Mohr Korrektorat (Mitarbeit) und Index: Maya-Sophie Lutz Satz: Punkt für Punkt · Mediendesign, Düsseldorf Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Printed in the EU Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51806-6
Inhalt Textile Moderne: Einleitende Überlegungen_9 Burcu Dogramaci
MATERIAL, MUSTER, FARBE / MATERIAL, PATTERN, COLOUR_21 Materiality, Representation and Cognition: A Reconsideration of Gottfried Semper’s Emphasis on Weaving as a Fundamental Craft_23 Arthur Crucq Farben der vie moderne. Zu Verwendung und Wahrnehmung erster synthetischer Textilfarbstoffe in der Damenmode_33 Birgit Haase Werkbundstimme Else Meißner: Kunstschutz auf Textilm uster im ‚Elfengespinst‘ der Moderne_45 Katharina Januschewski Foto-Ornamentik. Abstrakte Muster(er)findungen zwischen Textildesign und Kunst_59 Kathrin Schönegg Textile Rekonfigurationen des Spinnennetzes: Zum Verhältnis von Form und Material in Stoffmustern und Fadenobjekten_71 Leena Crasemann
TECHNIK, EXPERIMENT, ABSTRAKTION / TECHNOLOGY, EXPERIMENT, ABSTRACTION_83 In die Moderne gestochen: Adriana C. van Rees-Dutilh und die Stickerei als Kunst_85 Diana Anna Schuster
Inhalt
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Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova: Von der gegenstandslosen Malerei zum Textildruck_97 Christiane Post Zwischen detailgetreuem Nachsticken und eigenen abstrakten Webentwürfen: Textile Arbeiten von Maria Marc_107 Susanna Baumgartner Knotted, Woven, Unraveling: Textile as Structure in the Work of Paul Klee_119 Charlotte Healy Gestickte Malereien. Die Textilkünstlerin Sophie Taeuber-Arp_131 Walburga Krupp
SAMMELN, ARCHIVIEREN, ZEIGEN / COLLECT, ARCHIVE, DISPLAY_143 Mitteleuropäische Textilien und Englische Stoffe. Zur Ankaufspolitik des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute MAK) vor und um 1900_145 Angela Völker und Dagmar Sachsenhofer Strukturprinzipien der Moderne: Die Textilsammlungen von Bertha Pappenheim und Emilie Flöge_157 Annette Tietenberg The Weaver’s Laboratory. Gunta Stölzl’s Sample Cards as Materialities of Research_169 Mirjam Deckers Patterns of the Conquerors: Zu den verschiedenen Ausstellungsformaten von John Forbes Watsons textilen Musterbüchern_179 Carla Gabriela Engler
TEXTILE ARCHITEKTUR UND RAUMGESTALTUNG / TEXTILE ARCHITECTURE AND SPATIAL DESIGN_191 Der Stoff aus dem die Räume sind: Das Prinzip der Bekleidung in Adolf Loos’ Haus für Goldman & Salatsch_193 Christian Scherrer Die Textilien der Bauhaus-Künstlerin Friedl Dicker: Raumgestaltungen und Möbeldesign_205 Katharina Hövelmann
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Inhalt
Anni Albers’s “Pliable Plane”: Writing on Architecture and the Nomadic Textile_217 Jordan Troeller Textile Moderne unterwegs: Innenausstattung von Schiffen und Zügen durch die Deutschen Werkstätten_229 Klára Němečková und Kerstin Stöver
INTERMEDIAL UND INTERDISZIPLINÄR / INTERMEDIAL AND INTERDISCIPLINARY_241 Crossover zwischen Textilien und Malerei um 1914 am Beispiel von August Macke und der Omega-Künstler_innen Vanessa Bell, Duncan Grant und Roger Fry_243 Ina Ewers-Schultz Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext_255 Burcu Dogramaci Körpermasken und bewegte Bilder: Künstler kostümieren Tänzer_273 Anja Pawel Matisse’s Tapestry The Woman with the Lute (1949): Interweaving Modernist Painting and Tapestry_285 Claire Salles Interferenzen von Webkunst, Algorithmen und Raster in der Kunst der Moderne_297 Daniel Becker
GENDER UND KREATIVITÄT IN KOOPERATION / GENDER AND CREATIVITY IN COOPERATION_309 Textile Transformationen: Die „Frau comme il faut“ in der robe à transformation und die „Tempofrau“ im Verwandlungskleid_311 Kerstin Kraft „Die Kleider müssen vor allem gut gemacht sein [...]“. Henry und Maria van de Veldes künstlerische Allianzen für das Reformkleid_325 Antje Neumann und Laura Petzold Kreative Zusammenarbeit oder künstlerische Abhängigkeit? Die Bildteppichweberei des deutsch-polnischen Künstlerpaares Max Wislicenus und Wanda Bibrowicz_337 Katarzyna Sonntag
Inhalt
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Traces of Lost Modernisms: Repositioning Block Printed Textiles in Interwar London_349 Lotte Crawford Textile Koproduktionen von Künstlerpaaren der Moderne: Die Web- und Knüpfarbeiten von Lisbeth und Julius Bissier_361 Helene Roth
(TRANS-)LOKAL UND GLOBAL / (TRANS)LOCAL AND GLOBAL_373 Kimono as Fashion: Japanese Department Stores Designing New Kimono Patterns, 1890s–1910s_375 Hissako Anjo Textile Modernism in Australia: The Impact of Emigré Designer Gerard Herbst at the Prestige Textile Design Studio in Melbourne in the 1940s and 1950s_383 Harriet Edquist and Isabel Wünsche Cy Twomblys ‚tapestries‘: Das Black Mountain College in Marokko_397 Thierry Greub Transkulturelle Verwebungen: Lenore Tawneys fiber art_411 Mona Schieren Textile Modernism: Transcultural Readings of Maryn Varbanov and Abstract Weaving from East to East, from Local to Global_425 Janis Jefferies BILDNACHWEISE / IMAGE CREDITS_437 BIOGRAFIEN DER AUTOR_INNEN / BIOGRAPHIES OF THE AUTHORS_445 INDEX_453
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Inhalt
Naturformen? Wie es eine reine Malerei gibt, so gebe es auch eine reine Stickerei, die ihre Notwendigkeit in der gestaltenden Phantasie und ihre Formung in der Technik des Stickens begründet.“1 Abstrakte Stickerei oder Weberei, Schablonendrucke auf Stoff, neusachliche Textilbilder oder funktionale Raumgestaltungen aus Textil sind nur einige Ausdrucksformen einer künstlerischen Produktion, die mit textilen Materialien, Techniken und Konzepten arbeitet. Dabei handelt es
Textile Moderne: Einleitende Überlegungen Burcu Dogramaci
Be d i n gu n gen und Au s d r u c k sformen einer tex tilen Mod e r n e
sich sowohl um Werke, die von der Idee über die Zeichnung bis zum textilen Objekt von einer Person hergestellt wurden, als auch um Objekte, die in arbeitsteiligen Prozessen zwischen Entwurf und Ausführung entstanden.2 Der Titel dieses Sammelbandes fordert besondere Aufmerksamkeit für die modernen textilen Künste, doch zugleich zeigen die in ihm versammelten Beiträge internationaler Autor_innen, dass die Grenzen und Übergänge zu anderen Medien, Gattungen und Ausdrucksformen weich und unscharf sind. Um jedoch das Thema dieser Publikation scharf zu stellen, sollen
Die Geschichte der textilen modernen Kunst ist
zunächst Definitionen vorgenommen werden. ‚Textile
noch nicht geschrieben, und die textile Theorie und
Moderne‘ setzt sich aus zwei Begriffen zusammen:
Praxis der Moderne bislang kaum systematisch
Das Textile meint, wie Tristan Weddigen ausführt,
untersucht worden. Dabei forderten schon moderne
gleichermaßen das Material, die Technik, die Metapher
Künstler_innen in ihrer Zeit die Akzeptanz des Textilen
und das Medium.3 Silke Tammen schreibt zur Defini-
als autonomes Medium und Technik der Moderne.
tion des Textilen: „Ausgangspunkt für die Herstellung
So schreibt Hanna Höch im Jahr 1919 in der Stickerei-
von Textilien sind tierische, pflanzliche und syntheti-
und Spitzen-Rundschau: „Was in der abstrakten Kunst
sche Fasern, die durch Maschenbildung, Flechten oder
der gegenstandslosen Malerei erreicht wurde, sollte
Weben ins Gewebe überführt werden.“4 Zugleich ist
dies nicht in analoger Weise auch für die Stickerei
das Textile und vor allem das textile Arbeiten eine
möglich sein, ohne die Stickerei zum Surrogat der
Kulturtechnik, die bereits etymologisch dem Text, dem
Malerei werden zu lassen? Die beschwingte Phantasie
Texten und der Textur nahesteht.5 Das kulturanthropo-
wird auch auf der Tuchfläche eigene Formgesetzmä-
logische Verständnis des Textilen betont die Beziehung
ßigkeiten der Nadel und des Fadens verwirklichen
zwischen Mensch und Objekt mit einem besonderen
können. Auch die Stickerei vermag sich zur Gestaltung
Blick für performative Konnotationen. Gabriele
freier, organischer Gebilde fortzuentwickeln. Warum
Mentges schreibt dazu: „Der Begriff des Textilen wird
immer Abhängigkeit von mehr oder weniger stilisierten
hier gewählt, weil er das Gegenstandsfeld in seiner
Textile Moderne: Einleitende Überlegungen
9
größtmöglichen Dimension einbezieht: Textil leitet sich
und hier vor allem in Installationen, als Skulpturen und
aus dem lateinischen Wort texo ab, das im Deutschen
in konzeptuellen Werken.11 Silvia Eiblmayr deutet die
mehrfache Bedeutungen anzeigt: Weben/flechten/
in jener Zeit zu beobachtende Verselbstständigung des
bauen/verfertigen/zustande bringen. In diesen
textilen Materials und die Befreiung von einer Zweck-
Begriffen finden sich die performativen Eigenschaften
gebundenheit als „Ende der ‚klassischen Moderne‘“12.
mit denen der Konstruktion, die beide dem textilen
Ausdruck fand der experimentelle Umgang mit dem
Material eigentümlich sind, verknüpft.“ Textilien als
Textilen in der Ausstellung Woven Forms, die 1963 im
materielle Kultur können sowohl auf den Akt der
Museum of Contemporary Crafts in New York aus
Herstellung und das Verhältnis zwischen Mensch,
gerichtet wurde und gewebte Werke von Alice Adams,
Technik und Ding befragt, als auch auf Aneignungen,
Sheila Hicks, Lenore Tawney, Dorian Zachai und
Gebrauch, Ritual und Alltagspraxis untersucht wer-
Claire Zeisler präsentierte. Der Katalog erkennt ganz
den. Auf den engen Zusammenhang zwischen
selbstverständlich die skulpturalen Qualitäten von
moderner Kunst und modernem Textil indes verweist
Gewebtem an: „The purpose of this exhibition is to
Virginia Gardner Troy, indem sie schreibt: „The story of
focus on the current work of weaver who create
modern textiles is inextricably linked to the story of
woven forms on the loom. It features the work of five
modern art and modern life. The social, political and
individuals whose different backgrounds as weavers
economic transformations that prompted modernist
and artists had led them to a related basis of expres-
experimentation also fuelled a sea change in the way
sion – the creation of sculptural shapes of interlaced
textiles were made, used and perceived.“8 Die von Troy
threads.“13 Auch die Ausstellung Wall Hangings (1969)
beschriebene Nähe zwischen dem Textilen und der
im Museum of Modern Art in New York verstand das
Moderne ist auch Grundlage dieses Sammelbandes.
Textile als Gegenwartskunst. Im Katalog wird eine
6
7
Der zweite Begriff in ‚Textile Moderne‘, die ‚Moderne‘, wird hier zunächst als Epochenbezeichnung
nen der 1960er und den Bauhaus-Weberinnen der
von 1800 bis in die 1950er Jahre verwendet, wobei
1920er Jahre wie Anni Albers und Gunta Stölzl
die künstlerische Moderne in engem Zusammenhang
postuliert und festgestellt: „During the last ten years,
mit einem postrevolutionären gesellschaftlichen und
developments in weaving have caused us to revise our
politischen Umbruch stand. Für den zeitlichen
concepts of this craft and to view the work within the
Rahmen dieser Publikation bietet Charles Baudelaires
context of twentieth-century art. The weavers from
Text „Le peintre de la vie moderne“ (1863) eine
eight countries represented in this catalogue are not
Orientierung. Denn in Baudelaires Aufsatz formuliert
part of the fabric industry, but of the world of art.“14
sich nicht nur ein modernes Verständnis künstlerischer
Im Kontext der Ausstellungen Wall Hangings und
Produktion als gegenwartsbezogen. Auch das Textile in
Woven Forms muss auch die internationale Strömung
Gestalt der Mode oder hier der Modekupfer wird von
‚Fiber Art‘ erwähnt werden, die in den 1960er bis
Baudelaire als eine originelle und progressive Aus-
1980er Jahren das Arbeiten mit textilen Materialien
drucksform der Moderne beschrieben.10 Am anderen
und Techniken meinte, bei der – zu allermeist ohne
zeitlichen Ende des vorliegenden Sammelbandes steht
Webstuhl – textile Objekte entstanden.15
9
dann seit den frühen 1960er Jahren die Etablierung des Textilen als Material der zeitgenössischen Kunst
10
starke Beziehung zwischen den textilen Künstler_in-
Burcu Dogramaci
Zeitlich gerahmt von dem kunsttheoretischen Text Baudelaires und den programmatischen Ausstel-
lungen Woven Forms und Wall Hangings artikuliert
Black Mountain College in North Carolina, an denen
dieser Band ein polyphones und diverses Verständnis
mit Textilien gearbeitet und textile Techniken gelehrt
von ‚Textiler Moderne‘ und negiert Hierarchien
wurden. Diese Institutionen haben längst ihren
zwischen angewandter beziehungsweise funktionaler
Abdruck in der Historiografie der Moderne gefunden.
versus freier Kunst. Mode wird also gleichermaßen wie
Zugleich führten diese Neugründungen in ihrer Zeit
textile Wandbilder oder textiltheoretische Reflexionen
nicht zu einer Entgrenzung zwischen angewandter
als künstlerischer Beitrag zur Kunst der Moderne
textiler und freier Kunst. Noch in den 1920er Jahren
verstanden, was sich auch in der interdisziplinären
wurden in theoretischen Abhandlungen als ‚textile
Struktur der Kapitel dieses Sammelbandes spiegelt. Im
Künste‘ vornehmlich Produktionen der Textilindustrie
19. Jahrhundert führte einerseits die Etablierung der
und Kunsthandwerk verstanden.21
Haute Couture zu einem künstlerisch anspruchsvollen
Obgleich gerade die Erweiterung des Kunst
Schneiderhandwerk, das zunächst von Couturiers wie
begriffs seit den 1960er Jahren den Blick auf das
Charles Frederick Worth und im frühen 20. Jahrhun-
(zeitgenössische) Textile verändert hat, ist bislang
derts von Paul Poiret, Mariano Fortuny oder Elsa
weder der Begriff einer ‚textilen Moderne‘ kunst- und
Schiaparelli geprägt wurde.16 Andererseits wurde seit
kulturwissenschaftlich eingeführt, noch ist das Thema
etwa 1850 innerhalb des britischen Arts and Crafts
umfassender in Publikationen oder Ausstellungen
Movement eine ganzheitliche, alle Lebensbereiche
bearbeitet.22 Gerade aber den textilen Theorien (auch
umfassende Reformierung beabsichtigt. Innenräume
der Moderne) wurde in den letzten Jahren vermehrt
erhielten eine umfassende Ausstattung mit Textilien,
Aufmerksamkeit zuteil.23 Und vor allem monografische
und im künstlerischen Reformkleid berührten sich
Retrospektiven haben jüngst den Zusammenhang
Kunst und Handwerk. Textile Architekturen können
zwischen der künstlerischen Moderne und dem
indes multipel definiert werden. Einerseits handelt es
Textilen akzentuiert, darunter die Schauen zu Sophie
sich um stoffliche Ausstattungen von Innenräumen
Taeuber-Arp (2014, Aargauer Kunsthaus), Julius und
wie etwa „Polsterungen und bewegungsreagible[n]
Lisbeth Bissier (2015, Hagnauer Museum) und Anni
Medien“ . Andererseits meinen textile Architekturen
Albers (2018, Kunstsammlungen Nordrhein-Westfalen,
auch die metaphorische Adaption von Termini (Hülle,
Düsseldorf, K 20/Tate Modern, London).
17
18
Kleid) und Bedeutungen, wenn Bauten „dresslike
Mit Blick auf diese Retrospektiven lässt sich
qualities“ zugesprochen werden.19 Der Anteil von
fragen, welche Präsenz Textilien in Ausstellungen des
Frauen an der Designgeschichte der Moderne wird
frühen 20. Jahrhundert hatten, wie sie also von
indes erst sukzessive aufgearbeitet. Die Dresdner
Institutionen, Kustod_innen, Galerist_innen und Kunst-
Ausstellung Gegen die Unsichtbarkeit – Designerinnen
händler_innen der Moderne wahrgenommen wurden.
der Deutschen Werkstätten in Hellerau 1898 bis 1938
Es lässt sich behaupten, dass zeitgenössische künstle-
nahm 2018 weitgehend vergessene Gestalterinnen in
rische Textilien nur gelegentlich im Kontext der freien
den Blick, darunter auch Textilgestalterinnen.
Kunst präsent waren. Dies geschah vor allem, wenn
20
Im ersten Drittel des 20. Jahrhundert wurden
die Ausstellenden bereits auf anderen künstlerischen
progressive Vereinigungen und Kunstschulen gegrün-
Gebieten reüssiert und sich einen Namen gemacht
det, wie die Wiener Werkstätte, das Bauhaus in
hatten, etwa die in vielen Medien agierende Sophie
Weimar und Dessau, die Reimann Schule in Berlin, das
Taeuber-Arp oder die orphistische Künstlerin Sonia
Textile Moderne: Einleitende Überlegungen
11
Delaunay. Delaunay zeigte Gemälde und textile Arbeiten wie Lampenschirm, Vorhang und Kissen auf dem Ersten Deutschen Herbstsalon 1913 in Berlin, der von Herwarth Walden organisiert wurde. Auf derselben Schau waren auch Gobelins von Adriana van Rees-Dutilh zu sehen.24 Wie aufgeschlossen Herwarth Walden für eine textile Moderne war, zeigt auch die von Mai bis Juni 1925 in seiner Galerie DER STURM veranstaltete Ausstellung von Wandteppichen, Bodenläufern und Vorhängen des Künstlerpaares Wenzel Hablik und Elisabeth Lindemann (Handweberei Hablik-Lindemann).25 Andere Galerien und Ausstellungshäuser, die sich der zeitgenössischen Kunst widmeten, integrierten das Textile eher als historisches Objekt in ihr Programm – und damit unter anderem als Referenz für die Gegenwart. Zu erwähnen ist beispielsweise die Ausstellung Mohammedanischer Kunst (Keramik, Buchkunst, Textilien, Glas) aus dem Besitze der Persian Art Galleries (London) bei Paul Cassirer in Berlin (1913), die „eine kleine Reihe von orientalischen Gewebe[n]“26 beinhaltete. Hier und andernorts wurden Textilien als künstlerisch bemerkenswerte, aber historische Objekte ausgestellt. Das Bewusstsein für das Textile als modernes, avantgardistisches Material oder experimentelle Technik war kaum ausgeprägt. Dies zementierte die Trennung zwischen einer reinen, hohen und männlich dominierten progressiven Moderne und einer oftmals als weiblich konstruierten
Abb. 1: Inserat in: Russische Kunst. Ikone/Volkskunst. Neue Gemälde, Sechste Ausstellung, Ausst.-Kat. Galerie von Garvens, Hannover, Hannover 1921, S. 15
angewandten Kunst.27 Doch zeigte das Textile mitunter
12
in den Randbereichen der Ausstellungskataloge
dem Kunstgewerbe gewidmet waren. Dort sind
Präsenz, so etwa 1921 in einem Katalog der avantgar-
Textilien Objekten anderer angewandter Künste – dem
distischen Galerie von Garvens in Hannover zur
Glas, der Keramik – zur Seite gestellt. Ein besonders
Russische[n] Kunst. Dort wird in einem Inserat für die
anschauliches Beispiel für die progressiven Ausdrucks-
„Werkstätte für künstlerische Kleidung“ von Hedwig
formen zeitgenössischer Textilien ist beispielsweise
Engelmann geworben und auf die „Künstlerische[n]
der schmale Katalog zur Ausstellung Deutsches
Stickereien nach eigenen Entwürfen/Batik“ von Anna
Kunsthandwerk der Gegenwart im Kunstgewerbemu-
Dittmar hingewiesen (Abb. 1).28 Anders sah es in den
seum der Stadt Flensburg von 1929. Neben einem
Schauen und Verkaufsausstellungen aus, die explizit
handgewebten Teppich der Lübecker Künstlerin Alen
Burcu Dogramaci
Abb. 2: Diwandeckenstoff von Gunta Stölzl und Handgewebter Teppich von Alen Müller, in dem Ausstellungskatalog Deutsches Kunsthandwerk der Gegenwart des Kunstgewerbemuseums der Stadt Flensburg, 1929
Müller ist ein Diwandeckenstoff von Gunta Stölzl
werden. Albers stellte gewebte Vorhänge, Decken und
abgebildet (hier versehentlich Hölzl genannt, Abb. 2);
Teppiche als angewandte oder funktionale Gebrauchs-
beide zeigen die Bandbreite nicht nur der Funktionen,
kunst her. Und sie schuf Wandbehänge oder textile
sondern auch der abstrakten Muster. Da die Abbildun-
Bilder, wobei die Übergänge zwischen funktionalen
gen die Objekte nicht in Funktion oder in räumlichen
und freien Arbeiten fließend sind. In vielen ihrer
Kontexten zeigen, ist auch eine nicht funktionale
Arbeiten experimentierte sie mit einer abstrakten
Existenz der abgebildeten Werke für die Leser_innen
Formensprache. Dabei legte sie die technischen und
zu imaginieren. Das gilt vor allem für Stölzls Arbeit,
konstruktiven Parameter der Handweberei zugrunde,
die am Bauhaus in Dessau entstand.
um ein genuin textiles Modell der geometrischen Abstraktion zu entwickeln.29 In Albers Wandbehang
Texti l e Moderne p ars p ro toto: d as We r k von Anni Albers
(1927/1964, Abb. 3) etwa bildet sich das dem Webvorgang bereits inhärente Wechselspiel von Horizontaler und Vertikaler ab.30 Aus dem Zusammenspiel von Kette und Schuss entsteht eine Gitterstruktur.31
Im Folgenden sollen entlang des Schaffens der
Gefärbte Garne, Einzelformen und die Proportionen
Bauhaus-Künstlerin Anni Albers wesentliche Para
zueinander bestimmen das Erscheinungsbild des
meter einer textilen Moderne vorgestellt und die
Gitters. Diese Beobachtung kann, muss aber nicht
zentralen Themen dieses Sammelbandes konturiert
bedeuten, dass das Textile ein Modell für Abstraktion
Textile Moderne: Einleitende Überlegungen
13
Oberflächenstrukturen, lassen das Gewebe weich oder hart, hoch- oder niedrigflorig erscheinen. Der Wandbehang kann sich dabei in sich verdrehen, hängt nicht glatt wie eine Leinwand; Licht und Schatten führen gerade bei frei hängenden Bildgeweben zu dreidimensionalen Effekten. Es lässt sich also konstatieren, dass Weberei eine medienspezifische Abstraktion bedingt. Eine textile Moderne wäre in diesem Sinne keine oder nicht nur eine Erweiterung der modernen Kunst unter Berücksichtigung textiler Materialien. Vielmehr gilt es, die Besonderheiten des Mediums, der Techniken und Verfahrensweisen, Materialien, Werkzeuge und Werk- und Theorietraditionen zu beachten. Zugleich sollte die textile Moderne in ihrer Intermedialität erfasst werden. Dies zeigt sich nicht nur daran, dass für Wandbehänge bisweilen dieselben Präsentationsmodi benutzt werden wie etwa für Malerei. So wurden die Wandbehänge von Anni Albers in der Retrospektive 2018 in der Tate Modern teils unter Glas und gerahmt präsentiert. Damit wurden Abb. 3: Anni Albers, Wandbehang, 1927/1964, Gunta Stölzl nach einem Entwurf von Anni Albers, Baumwolle und Seide, 148 x 121,5 cm, Neues Museum Nürnberg, Leihgabe der Stadt Nürnberg
Repräsentationsformen gewählt, die Distanz, Über höhung und Schutz für das Objekt gewähren, die taktile Erfahrung durch den Seh- und Tastsinn jedoch stören oder verunmöglichen. Intermedialität ist dabei nicht nur auf die
14
bildet, eine Blaupause beispielsweise für den maleri-
Rezeption zu beschränken. Viele Textilkünstler_innen
schen Weg in die Non-Figuration.32 Gleichzeitig wäre
waren auch Maler_innen oder Grafiker_innen oder
eine solche These jedoch wieder eine Einschränkung,
arbeiteten mit diesen zusammen, oder aber sie
da sie das Textile relational begreift: ein Modell oder
kooperierten im Kontext einer textilen (Innen-)
Vorreiter ist nur in Beziehung zu etwas Nachfolgen-
Architektur mit Baukünstler_innen. Für das Verständnis
dem zu verstehen. Das Textile ist jedoch eine auto-
von Anni Albers̕ Werk wäre ihre Arbeit in Institutionen
nome Ausdrucksform und Kunst.
wie der Kunstschule Bauhaus oder dem Black Mountain
Eine besonders auffällige Eigenschaft des
College essentiell, ebenso aber auch ihr enger beruf-
Textilen jenseits spezifischer Techniken und Materia-
licher und privater Austausch mit ihrem Partner, dem
lien ist seine haptische Wahrnehmbarkeit. So entsteht
Maler Josef Albers.33 So lässt sich von gattungsüber-
etwa beim Weben ein dreidimensionales Objekt mit
greifenden Wechselwirkungen sprechen, wenn
taktiler Oberfläche. Auch hier prägen die verwendeten
Erkenntnisse aus dem Vorkurs am Bauhaus oder aus
Materialien die mit dem Tastsinn zu erfassenden
anderen Abteilungen auch die Weberei ‚infizierten‘,
Burcu Dogramaci
wenn Josef und Anni Albers gemeinsame Studienrei-
den nachgewebten Teppichen Stölzls auch eine textile
sen nach Mexiko unternahmen, sich in ihren individu-
Form des Re-enactments zu sehen. „To re-enact“ wird
ellen Arbeiten mit archaischen Formen und tradierten
im Oxford Dictionary als „act out (a past event)“
Techniken beschäftigten.34 Oder aber wenn sie parallel
definiert.40 Das Re-enactment bezieht sich in der
an verwandten Fragestellungen arbeiteten, etwa an
Beziehung Stölzl-Albers sowohl auf das Ergebnis –
Themen wie Variation oder Serie. Zugleich bietet die
das gewebte Objekt – als auch auf den Vorgang des
Partnerschaft zwischen Anni und Josef Albers eine
Webens selbst. Albers beschreibt in einem ihrer
Basis für geschlechtsspezifische Fragestellungen zu
textiltheoretischen Beiträge das Handweben als
künstlerischen Freiräumen und beruflichen Möglich-
„immediate relation of the working material and the
keiten und zur Rezeption. Denn gerade die textilen
work process“41
35
Künste wurden in der (oft von männlichen Autoren)
Die kreative Verbindung zwischen Mensch und
formulierten Kritik als genuin weiblich verstanden und
Webstuhl und das performative, körperliche Weben
damit doppelt marginalisiert: als low oder angewandt,
als Ausgangspunkt für künstlerische und intellektuelle
als ‚feminin‘ und häuslich und deshalb weniger wertvoll.
Produktion lässt sich auch im Werk einer jüngeren
36
So beschreibt beispielsweise bereits Jean-Jacques
Zeitgenossin von Albers nachvollziehen. Für die
Rousseau in seinem Erziehungsroman Émile ou De
Psychoanalytikerin Anna Freud war die rhythmische
l’éducation aus dem Jahr 1762 die ‚natürliche‘ Zuwen-
Arbeit eng mit ihrer Profession verbunden. Am
dung kleiner Mädchen zur Hand- und Nadelarbeit.
Webstuhl entstanden einige ihrer psychoanalytischen
37
Später bot gerade dieses vorgeblich intuitive handar-
Theorien; das Verweben von textilen Materialien
beitliche Geschick eine Basis, um Frauen ein kreatives
findet hier die Analogie in der Verflechtung von
Talent abzusprechen. Die Geburt als Reproduktion
Gedankengängen.42
fand ein selbstverständliches Äquivalent in der
Auch die Theoretisierung der textilen Praxis lässt
repetitiven Stickerei nach Vorlage. Handarbeit war eine
sich im Œuvre von Anni Albers nachvollziehen, gehört
Disziplinierungsmaßnahme, die Präzision, Geduld und
sie doch neben Otti Berger zu den wichtigen Stimmen
Fleiß voraussetzte und forderte.
einer textilen Theorie der Moderne.43 Zuletzt bietet
38
Reproduktion wird auf eigene Weise in Albers̕’
das Schaffen von Albers einen Ausgangspunkt, um
Werk evident: In den 1960er Jahren webte Gunta
über das Sammeln, Ordnen und Erinnern nachzuden-
Stölzl, die einzige Meisterin am Bauhaus, verloren
ken. Albers sammelte nicht nur historische Textilien,
gegangene Wandbehänge von Anni Albers nach
sondern erstellte auch ein Karteikarten-Archiv eigener
(Abb. 3). Dies verdeutlicht einerseits, dass wir es mit
Webereien. Diese Muster oder Proben wurden sorgfäl-
einem Reproduktionsmedium zu tun haben, das eine
tig beschriftet.44
Wiederholbarkeit ermöglicht. Darauf verwies bereits
Obgleich gerade Anni Albers als interdisziplinär
Aby Warburg in seinen Ausführungen zu den flandri-
tätige und theorie-affine Textilkünstlerin in verschie-
schen Bildteppichen des 15. Jahrhunderts. Er bezeich-
denen Beiträgen dieses Buches in Erscheinung tritt,
nete die Bildwirkerei als „Ahne der Druckkunst“, da
weist dieser Sammelband doch weit über diese
„der Weber als anonymer Bildervermittler denselben
Protagonistin des Bauhauses und seiner Nachfolge
Gegenstand technisch so oft wiederholen konnte, wie
institution Black Mountain College hinaus.
der Besteller es verlangte“ . Zum anderen ist aber in 39
Textile Moderne: Einleitende Überlegungen
15
Zur Struktur dieses Buch es
Material, Farbe und Proportionen.45 SAMMELN, ARCHIVIEREN, ZEIGEN / COLLECT, ARCHIVE,
Die Publikation Textile Moderne widmet sich den
Politiken von privaten und öffentlichen textilen
Techniken und dem Textilen als künstlerisches Experi-
Sammlungen in europäischer und globaler Perspektive.
mentierfeld in der Zeit zwischen den 1850er- und den
Die Beiträge thematisieren, wie Archive und Sammlun-
1950er-Jahren. Sie versteht sich als Beitrag zu einer
gen von Textilien auf spezifische Interessen zurückzu-
Neubewertung der textilen Künste der Moderne. Im
führen sind und wie sie wiederum Bedeutung hervor-
Blick stehen die verschiedensten Techniken und
bringen.
Ausdrucksformen wie etwa die Stickerei, das Weben,
TEXTILE ARCHITEKTUR UND RAUMGESTAL
das Knüpfen, der Textildruck, die Textilcollage, Wohn-
TUNG / TEXTILE ARCHITECTURE AND SPATIAL
textilien, Mode und textile Architekturen. Anliegen ist
DESIGN untersucht, wie Textilien Raum produzieren,
keine umfassende und abschließende Chronologie des
und wie sie andererseits als Architekturen des Textilen
Textilen in der Moderne. Vielmehr bieten die Texte
Räume gestalten. Oder textile Architekturen besitzen
Fallbeispiele, theoriegeleitete Analysen und gattungs-
nomadische Eigenschaften, sind versetzbar und haben
wie medienübergreifende Perspektiven auf ein noch
anthropologische Qualitäten, die sie relational ins
wenig erschlossenes Themenfeld.
Verhältnis zu Bewohnenden, Nutzenden und Produ-
Dabei nehmen die Beiträge Intermedialität,
zierenden setzen. Bereits in diesem Kapitel ist Interdis-
technisches Experiment, das Verhältnis von Tradition
ziplinarität eine wichtige Grundkonstante, was im
und Innovation, Material und Werkzeug, Gender und
nächsten Abschnitt zum Leitmotiv wird: Das Kapitel
Kooperation, Transkulturalität, Exil und Migration in
INTERMEDIAL UND INTERDISZIPLINÄR / INTER
den Blick. Zugleich ist der Sammelband ein Status quo
MEDIAL AND INTERDISCIPLINARY behandelt die
der aktuellen internationalen kunsthistorischen
Wechselwirkungen zwischen den Disziplinen und
Forschung zur textilen Moderne.
Medien, von dem Dialog zwischen Malerei und
Im Folgenden soll die Ordnung dieses Bandes vorgestellt werden: Das Kapitel MATERIAL, MUSTER, FARBE /
Stickerei, Bildwirkerei und Gewebten bis zu techno logischen Interferenzen, die in die Gegenwart weisen. In diesem Kapitel geht es aber nicht um eine wie
MATERIAL, PATTERN, COLOUR widmet sich Techno-
immer geartete Hierarchie, sondern um einen
logie, Technik und Systematik des Textilen als Bezugs-
Austausch auf Augenhöhe.
punkt für Praxis und Theorie. Die Beiträge weisen
16
DISPLAY reflektiert Ordnungen, Strukturen und
textilen Künsten als avantgardistischen (Kultur-)
Bereits durch seine Geschichte fordert das
dabei in naturwissenschaftliche und phänomenologi-
Textile eine geschlechtsspezifische Perspektive heraus:
sche Grenzbereiche. TECHNIK, EXPERIMENT,
GENDER UND KREATIVITÄT IN KOOPERATION /
ABSTRAKTION / TECHNOLOGY, EXPERIMENT,
GENDER AND CREATIVITY IN COOPERATION
ABSTRACTION untersucht die Interdependenzen
verhandelt mode- und textilspezifische Fragen vor
zwischen textilen Techniken und abstrahierender oder
dem Horizont von Geschlecht und Kooperation.
abstrakter Kunstproduktion des Textilen. Abstraktion
Gesellschaftliche und politische Veränderungen
meint eine Konzentration auf formale Merkmale und
bildeten sich ab in der Flexibilisierung der Damenmode
damit die Auseinandersetzung mit Form und Struktur,
in Bezug auf ihre zunehmenden sozialen Freiräume
Burcu Dogramaci
Anm erkungen
und normierten Tagesabläufe. Die Beiträge verweisen einerseits auf die Instrumentalisierung des Textilen zur Konstruktion von Weiblichkeit, andererseits zeigen sie auf, welchen Anteil Künstlerinnen und ihre textile Kunstproduktion an dem Projekt Moderne hatten und wie sie in kreativen Partnerschaften kooperierten. Das letzte Kapitel (TRANS-)LOKAL UND GLOBAL / (TRANS)LOCAL AND GLOBAL perspektiviert die grenzübergreifende Bewegung von Akteur_innen, Konzepten, Theorien und Objekten. Der Begriff des (Trans-)Lokalen meint hier sowohl die relationale Hervorbringung von lokalen Eigenarten als auch Phänomene der globalen Zirkulation und des Transfers.46 Dieses Buch beschreitet das noch unbestellte Feld einer Kunstgeschichte der textilen Moderne und postuliert, dass das Textile einerseits eine spezifische, dem Medium, Material und der Technik geschuldete Ausprägung der modernen Kunst ist. Andererseits wird die These vertreten, dass die textile Moderne selbstbewusster Teil einer Kunstgeschichte der Moderne und damit eine Kunst unter Künsten ist.
1
Hanna Höch: Die freie Stick-Kunst, in: Stickerei- und Spit-
zen-Rundschau. Illustrierte Monatshefte zur Förderung der deutschen Stickerei- und Spitzen-Industrie. Zentral-Organ für die Hebung der künstlerischen Frauen-Handarbeiten, hg. v. Alexander Koch, Darmstadt, 1919/1920, Bd. 20, S. 22.
2
Bonito-Fanelli führt aus, dass nur wenige Avantgarde-Künstler_
innen, die „textile Schöpfungen“ verantworteten, auch tatsächlich technisches Wissen zur Ausführung hatten und die „Stoffoberfläche wie ein Blatt Papier behandelten, auf das sie zu zeichnen gewohnt sind“. Rosalia Bonito-Fanelli: Textilgestaltung und Avantgarde in Europa, in: Künstler ziehen an. Avantgarde-Mode in Europa 1910 bis 1939, hg. v. Gisela Framke, Ausst.-Kat. Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund, Heidelberg 1998, S. 124–128, hier S. 124. Ausnahmen bildeten Künstler_innen, die selbst eine handwerkliche Ausbildung besaßen wie etwa die Weberinnen Gunta Stölzl oder Anni Albers.
3
Tristan Weddigen: Textile Medien, in: Jens Schröter (Hg.): Hand-
buch Medienwissenschaft, Stuttgart/Weimar 2014, S. 234–238, hier S. 235.
4
Silke Tammen: Textilien, in: Monika Wagner, Dietmar Rübel und
Sebastian Hackenschmidt (Hg.): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, München 2002, S. 217–224, hier S. 217.
5
Vgl. Markus Brüderlin: Zur Ausstellung. Die Geburt der Abstrak-
tion aus dem Geiste des Textilen und die Eroberung des Stoff-Raumes, in: Kunst & Textil. Stoff als Material und Idee in der Moderne von Klimt bis Heute, hg. v. ders., Ausst.-Kat. Kunstmuseum Wolfsburg, Wolfsburg, Ostfildern 2013, S. 14–45, hier S. 18; siehe auch T’ai Smith: Texture, in: Annika Reineke u. a. (Hg.): Textile Terms: A Glossary (Textile Studies, 0), Emsdetten/Berlin 2017, S. 273–275. Etymologisch verweist das Textile auf das lateinische textilis (gewebt), textum (Gewebe) oder textor (Weber). Vgl. Heinz Meyer: Textile Kunst. Zur Kultursoziologie und Ästhetik gewebter und geknüpfter Bilder, Frankfurt a. M. u. a. 2000, S. 25.
6
Gabriele Mentges: Für eine Kulturanthropologie des Textilen.
Einige Überlegungen, in: dies. (Hg.): Kulturanthropologie des Textilen, Berlin 2005, S. 11–56, hier S. 15.
7
Zu den kulturellen Interaktionen zwischen Menschen und Din-
gen bzw. Textilien siehe die beiden Beiträge „Verschleierung als Praxis: Gedanken zur Beziehung zwischen Person, Gesellschaft und materieller Welt in Sansibar“ (S. 135–148) und „Das Gele – nur ein einfaches Tuch? Das Kopftuch Gele der Yoruba-Frauen in Nigeria als künstlerisch-modisches Symbol emanzipatorischer Körper-Politik“ (S. 149–162) in: Elisabeth Tietmeyer u. a. (Hg.): Die Sprache der Dinge. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die materielle Kultur, Münster u. a. 2010.
8
Virginia Gardner Troy: The Modernist Textile. Europe and Amer-
ica 1890–1940, Hampshire/Burlington 2006, S. 13.
9
Vgl. Monika Wagner: Vorwort, in: dies. (Hg.): Moderne Kunst 1.
Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 9–13, hier S. 11–13. Siehe auch Anja Zimmermann:
Textile Moderne: Einleitende Überlegungen
17
18
Moderne, in: Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft,
94, hier S. 91. Den Begriff der Bekleidung gebrauchte Gottfried Semper
2. Aufl., Stuttgart u. a. 2011, S. 289–292. Allgemeiner heißt es bei Da-
beispielsweise für die Stuckatur, die Glasur des Ziegels, für Mosaiken
vid Summers (allerdings über das Konzept der Modernität): „In general,
und Intarsien. Siehe dazu Gottfried Semper: Der Stil in den technischen
‚modernity‘ may refer to patterns of change – which need not be de-
und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für
fined here – through which a number of cultures might have passed.“
Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Bd. 1: Die textile Kunst (1860),
David Summers: Real Spaces. World Art History and the Rise of West-
Mittenwald 1977. Darin auch das Vorwort von Adrian von Buttlar:
ern modernism, New York/London 2003, S. 549.
Gottfried Semper als Theoretiker, S. 1–22, hier vor allem S. 9.
10
20
Charles Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens (1863), in:
Vgl. Gegen die Unsichtbarkeit. Designerinnen der Deutschen
ders.: Der Künstler und das moderne Leben. Essays, „Salons“, Intime
Werkstätten in Hellerau 1898 bis 1938, hg. v. Tulga Beyerle und Klara
Tagebücher, hg. v. Henry Schumann, 2. Aufl., Leipzig 1994, S. 290–320.
Němečková, Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kunst-
Der textilen Moderne des 19. Jahrhunderts sind die Beiträge von Birgit
gewerbemuseum, Dresden, München 2018.
Haase und Kerstin Kraft in diesem Band zuzuordnen.
21
11
Vgl. Tammen 2002 (wie Anm. 4), S. 221. Siehe u. a. Ausstellun-
Spitze. Geschichte, Technik, Stilentwicklung, Berlin 1923, hier beson-
gen wie Kunst Stoff Kunst (1985), Kunst-Stoff. Textilien in der Kunst seit
ders die Einleitung, S. 5–14. Angela Völker verweist darauf, dass es
1960 (2011). Siehe hierzu auch die folgenden Kataloge: Kunst Stoff
noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts „keine wertende Trennung
Kunst, Ausst.-Kat. Städtische Galerie Nordhorn, Nordhorn 1985; Kunst
zwischen ‚freier‘ und ‚angewandter‘ Kunst gab. Tapisserien, Stickereien
Stoff. Textilien in der Kunst seit 1960, Ausst.-Kat. Städtische Galerie
oder andere Werke aus textilen Materialien galten selbstverständlich
Karlsruhe, Karlsruhe 2011. Der textilen Moderne der Mitte des
als Kunstwerke, die Gemälden, Goldschmiedearbeiten oder Skulpturen
20. Jahrhunderts sind die Beiträge von Janis Jefferies, Mona Schieren
gleichgestellt waren.“ Vgl. Angela Völker: Textilkunst und Geschichte.
und Thierry Greub in diesem Band gewidmet.
Überlegungen zur aktuellen Position der Textilkunst, in: Textile Kunst
12
1994 (wie Anm. 12), S. 50–55, hier S. 50.
Silvia Eiblmayr: Die zerissene [sic!] Leinwand, in: Textile Kunst?
Siehe z. B. Ernst Flemming: Textile Künste. Weberei, Stickerei,
Künstler-Symposium Sigharting 1994, Linz 1994, S. 8–13, hier S. 8.
22
13
denen) Publikationen: Sabeth Buchmann und Rike Frank (Hg.): Textile
Paul J. Smith: [Einleitung], in: Woven Forms, Ausst.-Kat. Mu-
Eine Ausnahme bilden freilich die beiden (miteinander verbun-
seum of Contemporary Crafts, New York 1963, o. S.
Theorien der Moderne. Alois Riegl in der Kunstkritik, Berlin 2015; Tex-
14
Mildred Constantine und Jack Lenor Larsen: Introduction, in:
tiles – Open Letter, hg. v. Rike Frank und Grant Watson, Ausst.-Kat.
dies.: Wall Hangings, Ausst.-Kat. The Museum of Modern Art, New
Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach 2013, Berlin
York, New York 1969, o. S.
2015. Oftmals wird die textile Kunst der Moderne auch in einem um-
15
fassenden Überblick behandelt, etwa in: Ausst.-Kat. Wolfsburg 2013
Vgl. Grant Watson: Verflechten Entflechten. Die Fiber Art und
ihre Politik. Eine Neubetrachtung, in: Textiles – Open Letter, hg. v. Rike
(wie Anm. 5); To Open Eyes – Kunst und Textil vom Bauhaus bis Heute,
Frank und Grant Watson, Ausst.-Kat. Städtisches Museum Abteiberg,
hg. v. Friedrich Meschede und Jutta Hülsewig-Johnen, Ausst.-Kat.
Mönchengladbach 2013, Berlin 2015, S. 120–131; siehe auch Elissa
Kunsthalle Bielefeld, Bielefeld 2013. Hervorzuheben ist auch der Kata-
Auther: Fiber Art und die Hierarchie von Kunst und Kunsthandwerk
log zur Ausstellung Textil.Bild.Kunst. Das textile Wandbild nach 1945, der
zwischen 1960 und 1980, in: ebd., S. 148–165. Siehe auch Textile Ob-
sich Wandbildern und Künstler_innen der 1950er und 1960er Jahre
jekte, hg. v. Barbara Mundt, Ausst.-Kat. Kunstgewerbemuseum Berlin,
widmet und die Verbindung zu den textilen Künsten vor 1933 aufzeigt.
Berlin 1975.
Vgl. Textil.Bild.Kunst. Das textile Wandbild nach 1945, Ausst.-Kat.
16
Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund, Bönen 2014.
Vgl. Chantal Trubert-Tollu u. a. (Hg.): The House of Worth 1858–
1954. The Birth of Haute Couture, London 2017; Fortuny. Arte total,
23
Ausst.-Kat. Fundación Caja de Burgos, Burgos 2014; Dilys E. Blum:
u. a. 2012; T’ai Smith: Bauhaus Weaving Theory. From Feminine Craft
Shocking! The Art and Fashion of Elsa Schiaparelli, Ausst.-Kat. Philadel-
to Mode of Design, Minneapolis u. a. 2014; Buchmann/Frank 2015
phia Museum of Art, Philadelphia 2003.
(wie Anm. 22).
17
24
Vgl. Auf Freiheit zugeschnitten. Das Künstlerkleid um 1900 in
Siehe u. a. Jessica Hemmings (Hg.): The Textile Reader, London
Erster Deutscher Herbstsalon, Berlin 1913, S. 17 (Werkliste
Mode, Kunst und Gesellschaft, hg. v. Ina Ewers-Schultz und Magdalena
Sonia Delaunay), S. 27 (Werkliste Adriana van Rees-Dutilh).
Holzhey, Ausst.-Kat. Kunstmuseen Krefeld. Kaiser Wilhelm Museum,
25
Krefeld, München 2018.
Avantgarde in Berlin 1910–1932, hg. v. Ingrid Pfeiffer und Max Hollein,
18
Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt a. M., Köln 2015, S. 348; siehe
Heidi Helmhold: Affektpolitik und Raum. Zu einer Architektur
Siehe dazu die kurze Notiz in Sturm-Frauen. Künstlerinnen der
des Textilen (Kunstwissenschaftliche Bibliothek, 34), Köln 2012, S. 13.
auch Vita Elisabeth Hablik-Lindemann, http://wenzel-hablik.de/mu-
19
Siehe dazu Irene Nierhaus: Text + Textil. Zur geschlechtlichen
seum/vita-hablik-lindemann/ [Abruf: 16.1.2019]. In beiden Fällen wird
Strukturierung von Material in der Architektur von Innenräumen, in:
allerdings 1923 als Jahr der Ausstellung angegeben. Dies widerlegt
Cordula Bischoff und Christina Threuter (Hg.): Um-Ordnung. Ange-
Rainer Enders: Der Sturm – Katalogsammlung, Frankfurt (Oder) 2014,
wandte Künste und Geschlecht in der Moderne, Marburg 1999, S. 84–
CD-Rom im Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, wo als Aus-
Burcu Dogramaci
stellungsjahr 1925 genannt ist. Siehe auch die Übersicht über die
angeborene Fähigkeit zur Handarbeit wird etwa 200 Jahre nach Rous-
Sturm-Ausstellungen des Jahres 1925 in: John Spalek u. a.: German
seau von Elfriede Jelinek in ihrem Roman Die Liebhaberinnen aufge-
Expressionism in the Fine Arts. A Bibliography, Los Angeles 1977, S. 85.
nommen, wenn es heißt: „das nähen liegt paula im blut. sie hat dieses
26
Rudolf Meyer-Riefstahl: [Einführender Text], in: Ausstellung
blut nur längst schon aus sich herausgelassen, daher gelingt ihr die ar-
Mohammedanischer Kunst (Keramik, Buchkunst, Textilien, Glas) aus
beit nicht so gut wie den andren.“ Elfriede Jelinek: Die Liebhaberinnen,
dem Besitze der Persian Art Galleries (London), Ausst.-Kat. Paul Cassi-
Reinbek bei Hamburg 1975, S. 122.
rer, Berlin 1913, S. 3–7, hier S. 7.
38
27
Sigrid Schade hat die Zuschreibung an die Reinheit einer männ-
Textilarbeiten. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Frauenarbeit im
lich geprägten Abstraktion in einem bemerkenswerten Aufsatz dekon-
19. Jahrhundert, Weinheim/Basel 1983, insbesondere S. 191–217.
struiert. Vgl. Sigrid Schade: Zu den „unreinen“ Quellen der Moderne.
Siehe dazu auch aktueller und in Bezug auf das Stricken Lydia Maria
Materialität und Medialität bei Kandinsky und Malewitsch, in: dies. und
Arantes: Verstrickungen, Kulturanthropologische Perspektiven auf
Jennifer John (Hg.): Grenzgänge zwischen den Künsten. Interventionen in
Stricken und Handarbeit, Berlin 2017, S. 222–231.
Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktionen, Bielefeld 2008,
39
S. 35–62.
(1907), in: Aby Warburg: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kul-
28
Vgl. Dagmar Ladj-Teichmann: Erziehung zur Weiblichkeit durch
Aby Warburg: Arbeitende Bauern auf burgundischen Teppichen
Inserat in: Russische Kunst. Ikone/Volkskunst. Neue Gemälde,
turwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renais-
Sechste Ausstellung, Ausst.-Kat. Galerie von Garvens, Hannover, Han-
sance, hg. v. Gertrud Bing unter Mitarbeit von Fritz Rougemont (1932),
nover 1921, S. 15.
neu hg. v. Horst Bredekamp und Michael Diers, Berlin 1998, S. 221–
29
230, hier S. 223. Auf Warburg verweist bereits Weddigen 2014 (wie
Briony Fer: Nahe dem Stoff, aus dem die Welt besteht: Weben
als ein modernes Projekt, in: Anni Albers, hg. v. Ann Coxon, Briony Fer
Anm. 3), S. 234.
und Maria Müller-Schareck, Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-
40
Westfallen, K20, Düsseldorf, München 2018, S. 20–43, hier S. 25.
15.1.2019].
30
41
Ebd., S. 27. Abb. in: Ausst.-Kat. Düsseldorf 2018 (wie Anm. 29),
S. 46.
31
Https://en.oxforddictionaries.com/definition/re-enact [Abruf: Anni Albers: Constructing Textiles (1946), in: Hemmings 2012 (wie
Anm. 23), S. 387–390, hier S. 389. Technische Beschreibungen und Definitionen textiler Gewebe
42
Bislang gibt es kaum Literatur zum Zusammenhang von Weberei
aus der Zeit, die in diesem Sammelband behandelt wird, finden sich in
und psychoanalytischer Praxis und Theorie im Schaffen von Anna Freud.
Flemming 1923 (wie Anm. 21), S. 10 f. Siehe auch Brüderlin 2013 (wie
Das Freud-Museum verweist auf seiner Webseite auf diesen Aspekt:
Anm. 5), S. 17.
„The slow and rhythmic activity of weaving allows your mind to wander
32
and be filled with thoughts, much like dreaming or the ‚free association‘
Siehe dazu u. a. Merel van Tilburg: Abstraction, in: Reineke 2017
(wie Anm. 5), S. 13–17.
that Sigmund Freud asked of his patients in therapeutic sessions. His
33
Zu der gemeinsamen Arbeit in den USA siehe u. a. Black Moun-
daughter, Anna Freud, was a pioneer of Child Psychoanalysis as well as
tain. Ein interdisziplinäres Experiment 1933–1957, hg. v. Eugen Blume
a keen weaver who, it is said, composed her psychoanalytic papers
u. a., Ausst.-Kat. Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für
while working on her loom.“, https://www.freud.org.uk/exhibitions/
Gegenwart, Berlin, Leipzig 2015.
dream-weaving/ [Abruf: 15.1.2019]. Eher Sigmund Freuds Reflexionen
34
Siehe dazu u. a. Anni und Josef Albers. Begegnung mit Latein-
zum Textilen wenden sich die Beiträge von Liliane Weissberg und Anne
amerika, hg. v. Brenda Danilowitz und Heinz Liesbrock, Ausst.-Kat. Jo-
Hamlyn zu. Liliane Weissberg: Ariadne’s Thread, in: MLN, Bd. 125, April
sef Albers Museum, Bottrop, Ostfildern 2007.
2010, H. 3 (German Issue), S. 661–681; Anne Hamlyn: Freud, Fabrik,
35
Fetish, in: Hemmings 2012 (wie Anm. 23), S. 14–26.
Noch immer zentral für Fragen der Asymmetrien in kreativen
Partnerschaften, aber ohne Einzelstudie zu Anni und Josef Albers ist:
43
Renate Berger (Hg.): Liebe Macht Kunst. Künstlerpaare im 20. Jahrhun-
Berger: Stoffe im Raum, in: ReD (Prag), Bd. 3, 1930, H. 5, S. 143–145. Zur
dert, Köln u. a. 2000.
Theoretisierung des Webens siehe vor allem Smith 2014 (wie Anm. 23).
36
44
Siehe dazu die Studie von Rozsika Parker: The Subversive Stitch:
Siehe z. B. Anni Albers: On Weaving, Middletown/CT 1965; Otti
Zum Archiv historischer Textilien siehe Jennifer Reynolds-Kaye:
Embroidery and the Making of the Feminine, London 1984. Siehe auch
Anni Albers als Sammlerin, in: Ausst.-Kat. Düsseldorf 2018 (wie
Heather Pristash, Inez Schaechterle und Sue Carter Wood: The Needle
Anm. 29), S. 106–109. Auf der Albers-Retrospektive in der Londoner
as the Pen: Intentionality, Needlework, and the Production of Alternate
Tate Modern 2018 befand sich in Raum 10 eine große Vitrine mit den
Discourses of Power, in: Maureen Daly Goggin und Beth Fowkes Tobin
archivierten Webmustern.
(Hg.): Women and the Material Culture of Needlework and Textiles,
45
1750–1950, Farnham u. a. 2009, S. 13–29.
the Avant-Garde / Abstraktion und die Avantgarde, in: Elke Bippus und
37
Siehe dazu in Bezug auf Mode Valerie Steele: Abstraction and
Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Von der Erziehung
Dorothea Mink (Hg.): fashion body cult / mode körper kult (Hochschule
(1762), München 1979, S. 481. Siehe auch Matilda Felix: Nadelstiche.
für Künste Bremen, Schriftenreihe 03), Stuttgart 2007, S. 24–29, hier
Sticken in der Kunst der Gegenwart, Bielefeld 2010, S. 24. Die angeblich
S. 25.
Textile Moderne: Einleitende Überlegungen
19
46
Zur Translokalität siehe Ulrike Freitag: Translokalität als ein Zu-
gang zur Geschichte globaler Verflechtungen, 2005, https://www. hsozkult.de/hsk/forum/2005-06-001 [Abruf: 27.1.2019]. Siehe auch das Kapitel „The Production of Locality“, in: Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 2010, S. 178–199.
20
Burcu Dogramaci
M AT E R I A L, MUSTER, FARBE / M AT E R I A L, PATTE R N, COLOUR
With his style theory Semper provided such an analysis. He situated the emergence of artistic motifs in a primitive form of braiding, when in the earliest days of civilisation humans would create fences out of twigs and natural materials from a need for shelter and protection.3 When lighter materials such as pieces of bark or grasses were used, weaving would have emerged. A next step would be a deliberate processing of natural fibres into more refined ones as to make
Materiality, Representation and Cognition: A Reco nsideration of Gottfried Semper’s Emphasis on Weaving as a Fundamental Craft
more refined cloths which could be hung around poles and thereby establish the first architectural structures in the form of primitive tents.4 This enclosure of a space could be defined as one of the constitutive elements of architecture; its hanging coverings formed the natural space dividers. This allowed Semper to distinguish between the ‘structure’ and its outer ‘appearance’ in the form of its ‘dressing’ (Bekleidung).5 Because of the importance of this rudimentary
Arthur Crucq
form of ‘weaving’ Semper reasoned that ‘textiles’ was When architect and art theorist Gottfried
probably the oldest craft from which all others
Semper arrived in London in 1850 he encountered a
emerged. The weave pattern in combination with
heated debate about the consequences of industriali-
colour differences of the natural fibres would have
zation for design and manufacturing. British designers
formed the first basic motifs.6 Every product of art,
were dissatisfied with the aesthetic quality of many of
architecture and design somehow expressed traces of
the industrially manufactured design products.
these earlier motifs. The constant evolution and
Industrial manufacturing ignored fundamental design
adaptation of motifs under pressure of changing
principles by means of which the designer traditionally
cultural and historical circumstances would form the
managed the relationship between material, form and
basic ordering principle of art. It underlies the devel-
function.1
opment of motifs changing form and material appear-
According to Semper the main problem of the
ance, as well as motifs developing into new forms.7
nineteenth century concerned the inappropriate use of
With his emphasis on the woven cloth Semper
motifs from the past. Throughout the history of design
implicitly also emphasized the geometrical nature of
motifs would always have been appropriated in new
the dressing as a surface, whether hung flat as the
forms to serve the needs of the present. He argued
space-divider or plastically draped as a garment. It can
what was lacking in nineteenth century industrial
be argued therefore that Semper’s theory to some
design was a thorough analysis of the motifs’ constitu-
extent anticipates the modernist concern with the
tive parts.
plane. At the same time, his theory can be regarded as
2
A Reconsideration of Gottfried Semper’s Emphasis on Weaving as a Fundamental Craft
23
one of the forerunners of early twentieth century
enable humans to do this, I want to shift the attention
manifestos in which architecture was also proclaimed
to the individual thread first. To conceive a thread-like
as the fundamental artistic discipline to which all
natural fibre as something which can be connected to
others relate. In the twentieth century this would
other fibres to create something new, might seem like
become manifest, for instance in the Bauhaus work-
a trivial given but to be able to comprehend this
shops, not the least in that of weaving. The weaving
requires, as a precondition, the availability and accessi-
workshop at the Bauhaus was largely the domain of
bility of specific cognitive competences. It requires the
female students. In many cultures the craft of weaving
availability of a rudimentary mental concept of
is traditionally regarded as a craft mainly executed by
linearity and its derivative, the mental image of a line,
women. It was only later that the textile works by
which the subject is able to apply to the elongated
former female Bauhaus students Anni Albers, Gunta
materials to be found in his surroundings, for instance
Stölzl and Otti Berger, were widely recognized and
the twigs and natural fibres with which the primitive
admired. Anni Albers’ influential books on weaving to a
fences were created. Furthermore, being able to
large extend contributed to this recognition.
connect different threads requires the competence to
8
9
As I will make clear in this chapter the practice of
conceive each thread as a single object in relation to
weaving relates to human traits that transcend cultural
other objects; the subject has to conceive them in
as well as gender differences. Therefore, in this
terms of number. Another precondition is the compe-
chapter I will approach Semper’s theory from yet
tence to transform and rotate each individual thread;
another perspective. As Semper’s theory unfolds it
to comprehend each thread as an individual line that is
also shows how the development of motifs is intrinsi-
potentially subject to certain geometrical transforma-
cally related to the integration of human cognitive and
tions with which position and spatial orientation of
bodily competences which become manifest within
each line (and thus each thread) can be altered. To
manufacturing processes exactly. Present day cogni-
weave a number of threads into a cloth requires at
tive research shows how for instance knowledge of
least two sets of threads of which one is horizontally
geometry and number is anchored in the human brain
and one vertically orientated. If weaving would have
as a disposition. This can partly explain how humans
been a primordial craft that humans performed, prior
prior to the existence of formal systems of geometry
to any formal geometrical and mathematical systems,
and number were able to perform relatively advanced
humans had to possess a priori certain core cognitive
procedures such as those of weaving.
competences related to geometry and number. Recent experimental and cross-cultural research
Th e Cognitive Foundatio n for t h e Elementary Craf t of Weav i ng
from the cognitive sciences indicate that core knowledge of number and geometry is indeed present at birth in humans as a disposition.10 It is not exactly known how this became established but with regard to
In essence, the practice of weaving comes down
24
line neuroscientist Stanislas Dehaene proposes that
to the joining together of threads to create a new
the mental concept of line is an abstraction of the
entity: the two-dimensional surface in the form of a
contours that humans perceived in their natural
cloth. To understand the underlying competences that
surroundings.11 However, the concept of line as a thin
Arthur Crucq
elongated extension in space is also applicable to
With regard to the concept of line the value of
objects such as twigs and reeds. It is therefore con-
Semper’s theory therefore lies in its power to show
ceivable that besides abstracting the concept of line
how the materialization of a mental concept of line
from the contours of objects and intersections, the
could have developed and how this was fostered by
concept of line was also abstracted from those natural
the mutual reinforcement of cognitive and bodily
thin elongated objects. This process has been likely a
competences allowing humans not only to apply
reciprocal one, in the sense that the use of elongated
mental concepts to physical objects and phenomena
natural materials in practices such as weaving would
but also to actively process physical materials to
have further consolidated the mental concept of line in
manifest a cultural order. Perhaps it could be even
the human mind over the course of time.
argued that the materialization of the mental concept
12
However, archaeological findings of red ochre
of line, whether it occurred in weaving, on the body or
objects inscribed with regular patterns, which date
on objects, has been the first and most primordial
from approximately 70.000 BC, indicate that the mate-
form of Stoffwechsel.16
rial manifestation of a mental concept of line might not have occurred in weaving first.13 This problematizes the question on the extent to which Semper’s emphasis on weaving is still valid. At the same time, it should be noted that Semper acknowledged that other
The Bodi ly Com p etences Underlyi ng t he Weav i ng of Pat terns
practices could have preceded that of weaving such as for instance body art.14 Semper did not rule out,
Within Semper’s theory, the more formal aspects
however, that even body decoration somehow related
underlying the transformation and evolution of motifs
to earlier or lost textile practices of which material
relate to the more spiritual notion of culture as an
evidence was no longer traceable. More importantly,
instance of ordering exactly.17 It can be argued both
Semper saw the practice of decorating the body as
are connected by the emphasis Semper laid on the
coming forth from a rudimentary understanding of the
bodily processes of labour through which humans
difference between ‘structure’ (body) and ‘appearance’
manipulate materials. Semper implicitly showed how
(the human skin). In many of the body paintings of
cognitive and bodily competences presuppose each
so-called primitive cultures Semper recognized a
other. As weaving is a craft taking place in time and
correspondence between the lines applied on the
space and unfolds while the body manipulates the raw
body and the underlying muscles as if the lines on the
material, humans need a certain procedure by means
skin were deliberately applied to emphasize this
of which their cognitive competences can be made
structure. Furthermore, in the mingling of lines of
manifest through those of the body. The act of
these body paintings Semper recognized an under-
weaving together different threads is by itself a
standing of the concept of line, its properties and its
rhythmical act. It develops both horizontally and
primary function. Whether in the form of a thread, a
vertically and therefore requires simple procedures
tattooed or painted line, Semper regarded all these
that regard a rudimentary level of counting and
material instances of a line as a means for binding,
dimensioning. Semper did not explicitly refer to
connecting and girding.
counting and dimensioning but he did emphasize the
15
A Reconsideration of Gottfried Semper’s Emphasis on Weaving as a Fundamental Craft
25
importance of ordering through the rhythmical in art,
whole, each individual act of weaving relates to the
music and dance, which he connected to the ritual
craft as a whole.
which in turn implies a series of acts, a regular ordering of moments in space and time. According to Semper the making of patterns, whether it concerns the weaves of a cloth or the ornamental patterns
The Woven Pat tern a s Rep resent at i on
executed on objects and buildings, comes forth from both a mental desire for order as well as from the rhythmical and physical act of labour, in essence the
patterns and of any rhythmical activity. Each instance
active and bodily imposing of order on a world of raw
in the sequence always points to the next as well as to
materials.18
the entire sequence. Patterns are therefore also
Again, this can be related to insights from
representational no matter how abstract in appear-
cognitive psychology. Cognitive psychologists Marc
ance. Moreover, patterns are representational on
Hauser and Elizabeth Spelke argue that the core
different levels and this applies to the patterns
cognitive competence for numbers consists of two
emerged from weaving as well. Although Semper’s
systems of which one allows humans to individuate up
initial aim for Der Stil was not to write a theory on
to three or four different objects accurately while a
representation, this representational aspect clearly
second system allows humans to conceive objects in
comes to the fore throughout the entire volume. In
terms of relative magnitudes and quantities.19 Both
Der Stil, Semper would again emphasize the funda-
core systems, together with culturally developed
mental importance of the braided surface as a space
systems of counting allow humans to perform rela-
divider. In analogy to the difference between ‘struc-
tively simple arithmetical tasks which also underlie the
ture’ and Bekleidung, the visual space divider empha-
routine of aligning and connecting a number of individ-
sized a sense of an ‘inside’ and an ‘outside’.22
ual threads into a larger whole. Furthermore, this activity is fostered by the
26
This relationship implies the indexical nature of
Semper explained how the woven mats of the early tents at some point lost their structural function
cognitive competence to recognize the geometrical
as space dividers, when for reasons of durability and
properties of the shapes of objects as well as the
strength stone walls were made. But in the form of
recognition of their relative spatial positions.20
hanging carpets attached to the wall they maintained
Together the competences of number and geometry
their function as space dividers in a symbolic sense, or
enable a human craftsman to arrange a number
as Semper puts it: they remained as the visible
of individual objects, albeit beads, pearls or threads,
space-dividers.23 Semper’s observations of the Assyr-
into a new coherent unity, which unfolds in a specific
ian panels at the British Museum allowed him to argue
spatial-temporal direction. In doing so, the human
that this function also pertained when hanging carpets
body itself is involved in a repetitive procedure in
were replaced with painted panels and sculpted reliefs.
which a sequence of individual acts of weaving a
More importantly, these panels also provided him with
stitch relate to weaving as the craft encompassing
the material ‘evidence’ of how patterns and motifs
this series of bodily acts.21 In essence, analogue to
from textiles transferred to bas-relief sculpture and
how each individual weave relates to the cloth as a
where they were subjected to a new way of processing
Arthur Crucq
Ill. 1: Artist unknown, Gypsum wall panel showing two pairs of Assyrian archers and slingers at a siege …, 700−692 BC, Nineveh, South West Palace, gypsum, ca. 93.8 x 101.6 x 15.24 cm, British Museum, London, Inv. No. 1851,0902.27
of a new material with the result that these patterns
means of the dressing and, more importantly, by
and motifs not only adopted properties of the new
means of the monumental appearance of the dressing.
material but could also transform into new motifs.
According to Semper, masking and dressing essentially
24
The distinction between ‘structure’ and ‘appear-
come down to the concealing of the material proper-
ance’ allowed Semper to consider all architecture as a
ties of the structure itself.25 And I think as the panels
form of ‘dressing’ (Bekleidung). Following this line of
from Nineveh show also of the dressing itself.
reasoning it can be argued that the decorative arts
The visitor in the British Museum does not look
concern the dressing itself. What is already immanent
at a slab of stone but at a carpet or a scene of Assyrian
in the construction of the primitive tent is what
warriors (ill. 1). Regardless of its material properties,
Semper regards as the masking of the structure by
the form becomes an independent human creation
A Reconsideration of Gottfried Semper’s Emphasis on Weaving as a Fundamental Craft
27
Ill. 2: Artist unknown, Door-sill, 645 BC, Nineveh, North Palace, gypsum, carved, 246 x 304.6 cm, British Museum, London, Inv. No. 1851,0902.57
loaded with symbolic significance. Semper’s argument
means of its appearance as a carpet makes one forget
allows connecting fundamental age-old cross-cultural
one is looking at a slab of stone (ill. 2). It is by means of
practices such as the making of masks, the painting of
this masking of its actual properties that a slab of stone
the body, the dressing of the body, as well as the
stands in the place of a carpet and as such represents a
making and decorating of objects and structures, to
carpet. But it can do more than standing in the place by
the single concept of Bekleidung which Semper
means of visual resemblance. A one can represent
considers as central to human culture, hence the
another also by means of pointing to another, symboli-
anthropological significance of Der Stil.
cally signifying another or by means of exemplifying
Moreover, in the concept of masking and dressing
28
another.26 With its central field of flower petals sur-
lies the essence of representation. Again, when con-
rounded by decorative bands the doorsill from Nineveh
fronted with a doorsill from Nineveh at the British
not only represents a carpet but its stylized motifs and
Museum, the concealment of its material properties by
patterns are at the same time symbolic representations
Arthur Crucq
of actual flowers and tendrils. As indices the motifs and
processes. Yet, there are two important aspects that
patterns on the panels still refer to the technique of
are often overlooked in present day psychological
weaving from which they originated and by means of
research into core knowledge: the material aspect of
that to a different material. Within this reference still
making patterns and the given that patterns, no matter
resonates the labour of the manufacturer and with it
how abstract they are, are inherently representational.
the assumption of intention with which was manufac-
After all, from the formal properties of patterns like
tured and by means of which the manufactured was
symmetry and regularity, humans can infer an agent
endowed with agency.27
must have made the pattern with an intention. Patterns therefore at least always function as an index
Con c l u s i on
of a maker and of a specific way of making. Semper’s style theory thus allows to connect cognitive competences with physical conditions and
By approaching Semper’s style theory from a
symbolic significance. Although over one and a half
cognitive perspective I have argued the manufacturing
century old, Semper’s theory still provides a productive
process of weaving is founded in both cognitive and
framework with which to clarify how the physical
bodily competences. These are partly innate and partly
manipulation of materials in the making of artefacts
built on cultural systems of for instance geometry and
allowed the integration of innate systems of number
number. With Semper it can be stated that the
and geometry and as such constituted cultural and
intentions with which humans manufacture are deeply
formal systems. Semper’s emphasis on the craft of
rooted in a desire to impose order upon the world in
weaving and the practical and both symbolical func-
which they dwell. Whether or not this imposition of
tion of the woven cloth as a space divider, underscores
order occurred first in weaving or other crafts, it at
that these processes are inextricably bound to funda-
least required an important step from being able to
mental biological and cultural needs.
conceive concepts mentally to an actual manifestation of a mental concept in matter through the manipulation of materials with the body. The value of Semper’s theory regards its ability to show how this manipulation underlies the evolution of artistic motifs and how by means of references to motifs derived from earlier techniques this evolution would still be traceable. Furthermore, Semper’s emphasis on the making of a two-dimensional surface in the form of a cloth showed the importance of a rudimentary understanding of the distinction between ‘structure’ and ‘appearance’, as well as between an ‘inside’ and an ‘outside’. These conceptualizations are again rooted in core cognitive concepts that are foundational for ordering principles underlying design
A Reconsideration of Gottfried Semper’s Emphasis on Weaving as a Fundamental Craft
29
1
Notes
rather denotes the surface. It is important to realize how Semper’s dis-
Such notions rather expressed an idealisation of the manufactu-
meaning of Wand and particularly in its derivative Gewand which deno-
ring processes of the past. There was also no clear consensus within
tes a piece of textiles exactly.
the design debate around 1850 how the ideal design circumstances
6 Semper, Der Stil, pp. 227−228. Ultimately natural fibres were
could be achieved or re-established. See for instance Ralph N. Wor-
coloured with dye too, thereby expanding the colour palette of the ar-
num, Analysis of Ornament: The Characteristics of Style (London: Chap-
tisan to a large extent. See A. K. C. Crucq, ‘Abstract Patterns and Repre-
man & Hall, 1856), pp. 5−25; John Ruskin, The Stones of Venice (Lon-
sentation: The Re-cognition of Geometric Ornament’ (Ph.D. diss., Lei-
don/New York: J. M. Dent, E. P. Dutton, 1907), pp. 168−169.
den University, 2018), pp. 173−174.
2
Semper regarded such as thorough analysis necessary to build
from these parts, new forms. Gottfried Semper, Wissenschaft, Industrie
7
Wolfgang Herrmann, Gottfried Semper: In Search of Architecture
(Cambridge, MA: MIT Press, 1984), p. 225.
und Kunst: Vorschläge zur Anregung nationalen Kunstgefühl; bei dem
8
Schlusse der Londoner Industrie-Ausstellung (Braunschweig: Vieweg,
als ein modernes Projekt’, in Anni Albers, ed. A. Coxon, B. Fer and
1852), pp. 30−31; Mari Hvattum, Gottfried Semper and the Problem of
M. Müller-Schareck, exh. cat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen,
Historicism (Cambridge: Cambridge University Press, 2004),
Düsseldorf (München: Hirmer Verlag, 2018), pp. 22, 37.
Briony Fer, ‘Nahe dem Stoff, aus dem die Welt besteht. Weben
pp. 158−159; H. F. Mallgrave, Gottfried Semper: Architect of the Nine-
9
teenth-Century (London: Yale University Press, 1996), p. 206.
waren halt die Dekorativen im Sternenbanner Bauhaus’, in To Open
3
Fer, ‘Nahe dem Stoff’, p. 20. See also Christian Wolsdorff, ‘Wir
How such fences were imagined in the nineteenth century can
Eyes: Kunst und Textil vom Bauhaus bis heute, ed. Friedrich Meschede
be seen, for instance, on the frontispiece picture of Gustav Klemm, All-
and Jutta Hülsewig-Johnen, exh. cat. Kunsthalle Bielefeld (Bielefeld:
gemeine Culturgeschichte der Menschheit, Vol. 1: Die Einleitung und die
Kerber Verlag, 2013), p. 60; Anja Baumhoff, ‘Frauen am Bauhaus: Ein
Urzustände der Menschheit enthaltend (Leipzig: Teubner, 1843).
Mythos der Emanzipation’, in Bauhaus, ed. Jeannine Fiedler and Peter
4
Semper defined four elements: the hearth, the enclosure, the
Feierabend (Köln: Könemann, 1999), pp. 102−103; Anja Baumhoff, ‘Die
mound and the roof. He defined the hearth as the primary element. It was
Webereiwerkstatt’, in Bauhaus, ed. Jeannine Fiedler and Peter Feier-
around the hearth were humans cooked food and found protection from
abend (Köln: Könemann, 1999), pp. 468−469.
the elements and wild animals. In his attempt to reconstruct the situation
10
of the earliest civilizations, Semper argued that fires were the main spots
Spelke, ‘Core Knowledge of Geometry in an Amazonian Indigene
were humans gathered, for instance after coming back from hunting. It
Group’, Science 311, no. 5759 (2006): pp. 381−384.
Stanislas Dehaene, Véronique Izard, Pierre Pica and Elizabeth
was also at the fire were food was cooked and were humans found shel-
11
ter. Most importantly in Semper’s reasoning, the fire would have been the
junctions in human graphical signs. Alphabetic letters contain many
place where humans began to tell stories and where culture emerged.
T-junctions and humans would have been confronted with such junc-
Semper therefore regarded the central fireplace of the hearth as the mo-
tions on a daily basis in environments where the visual shapes of ob-
ral element of architecture. This moral connotation would also be reflec-
jects partly occluded, such as the branches of the trees, plants, flowers,
ted by the altars in temples and churches which Semper related to the
rocks, animals etcetera, and produced contours of such junctions exac-
hearth. Gottfried Semper, Die vier Elemente der Baukunst: Ein Beitrag zur
tly. Stanislas Dehaene, Reading in the Brain: The New Science of How We
vergleichenden Baukunde (Braunschweig: Vieweg, 1851), pp. 55−56.
Read (London: Penguin Books, 2009), p. 137.
5
30
tinction between ‘structure’ and Bekleidung is grounded in the German
In the field of biology Semper found the analogy of the skeleton
12
Dehaene argues this from the context of the most common
I distinguish between ‘contour’ and ‘line’ whereby I use the for-
which allowed him to emphasize the important distinction between
mer in the meaning of the section(s) between one or more surfaces of
‘structure’ and ‘exterior’. At the same time ethnography provided Sem-
bodies and objects. According to Alois Riegl humans would infer from
per the insight that perhaps not the hut but the tent would have been
contour the outlines of an object, which enabled humans to copy the
the oldest form of shelter. See Gottfried Semper, Der Stil in den techni-
shape of an object on the flat surface. Riegl argued that this outline
schen und tektonischen Künsten, oder praktische Ästhetik: Ein Handbuch
itself as such does not exist in nature but is a mental abstraction. See
für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Frankfurt a. M.: Verlag für
Alois Riegl, Stilfragen: Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik
Kunst und Wissenschaft, 1860), pp. 227−231 (hereafter cited as Der
(Berlin: G. Siemens, 1893), pp. 2, 24.
Stil). See also Gottfried Semper, The four Elements of Architecture and
13
other Writings, trans. Harry F. Mallgrave and Wolfgang Herrmann (Cam-
engraved were found at the Blombos cave in South Africa. See Christo-
bridge: Cambridge University Press, 1989), pp. 29−40. See furthermore
pher S. Henshilwood, Francesco d’Errico, Royden Yates, Zenobia Ja-
Semper, Die vier Elemente der Baukunst, p. 57−59. Important here is the
cobs, Chantal Tribolo, Geoff A. T. Duller, Norbert Mercier, Judith C.
difference between the German words Mauer and Wand, which in Eng-
Sealy, Helene Valladas, Ian Watts and Ann G. Wintle, ‘Emergence of
lish both translate as ‘wall’. The German Mauer would denote the wall
Modern Human Behaviour: Middle Stone Age Engravings from South
as a stack of stones, i. e. the structural wall, while the German Wand
Africa’, Science 295, 5558 (2002): pp. 1278−1280.
Arthur Crucq
These pieces of red ochre with a so-called diamond pattern
14
Art historian Alois Riegl would situate that rather in the desire
York: Routledge, 2006), pp. 59−60; Mallgrave, Gottfried Semper, p. 293;
to adorn the body than in the practice of weaving. He was not convin-
Semper, Der Stil, pp. 180−182.
ced the emergence of rectilinear geometrical patterns would have had
18 Hvattum, Gottfried Semper and the Problem of Historicism, p. 66;
a purely technical and material origin, let alone it occurred in any parti-
Semper in Herrmann, Gottfried Semper, p. 219.
cular practice. Instead, the cross-cultural and historical omnipresence
19
of geometrical patterns in the arts justifies thinking in terms of sponta-
velopmental Foundations of Human Knowledge: A Case Study of Ma-
neous generation resulting from a shared mental make-up but Riegl did
thematics’, in The Cognitive Neurosciences III, ed. M. S. Gazzaniga (Cam-
also not rule out the possibility that cultures would just have copied
bridge, MA: The MIT Press, 2004), pp. 855−862.
what they had seen in other cultures. Alois Riegl, Problems of Style:
20
Foundations for a History of Ornament, trans. Evelyn Kain (Princeton, NJ:
tivity to Geometry in Visual Forms’, Human Evolution 24, no. 3 (2009):
Princeton University Press, 1992), pp. 5−7. See also Mallgrave, Gott-
pp. 213−248. See also Véronique Izard, Pierre Pica, Stanislas Dehaene,
fried Semper, pp. 285, 376.
Danièlle Hinchley and Elizabeth S. Spelke, ‘Geometry as a Universal
15 Semper, Die vier Elemente der Baukunst, pp. 2−3; Semper, Der
Mental Construction’, in Space, Time and Number in the Brain: Searching
Stil, pp. 97−104.
for the Foundations of Mathematical Thought, ed. S. Dehaene and
16
E. Brannon (London: Academic Press Elsevier Inc., 2011), pp. 319−332.
Fundamental for understanding Semper’s concept of Stoffwech-
Marc D. Hauser and Elizabeth S. Spelke, ‘Evolutionary and De-
Véronique Izard and Elizabeth S. Spelke ‘Development of Sensi-
Museum in London. The strong contour lines of the figures, the orderly
21 22
alignment of their heads and the ornamental patterns applied to their
is partly rooted in Gustav Klemm’s anthropology which also departed
clothes and shields would betray their origin in the textile arts, more
from the idea that architecture owed its motifs to other art practices.
specifically in carpentry. According to Semper the practice of painting
According to Klemm this concerned the motifs and rhythms from the
walls, relief-sculpture and of placing panels to the walls of the Assyrian
practical arts such as those from rituals and dance or the rhythmical
temples testified of this origin. Assyrian carpentry would have been
and mimetic repetition of knots. Hvattum explains that according to
famous for its vivid colours and refined representations. Semper argued
Klemm architecture therefore came forth from a human desire to arti-
that the figures the visitor could see on the bas-reliefs in the British
culate the structure of the human world and to “sustain this world th-
Museum would still be compatible with how they were once expressed
rough embodied representations.” Hvattum, Gottfried Semper and the
on carpets. It provided Semper the insight that motifs adopted from
Problem of Historicism, pp. 43−46.
earlier techniques were not only appropriated in new materials, but would also adopt certain qualities of the new material. Executed in
23 Semper, Die vier Elemente der Baukunst, p. 57. 24 Eventually this process would have led to the more intricate and
stone, the motifs of the figures and patterns of the Assyrian bas-reliefs
complex decorations and representations such as could be observed on
remained relatively faithful to their textile predecessors but at the same
the walls of later Greek temples. Semper, Die vier Elemente der Bau-
time the highlighting and shadowing of bas-relief also enabled Assyrian
kunst, pp. 57−59; Semper, Der Stil, pp. 228−229. See also Mallgrave,
craftsmen to set the figures apart from their background, something
Gottfried Semper, pp. 294, 377.
not possible in textiles. Semper, Die vier Elemente der Baukunst,
25
pp. 59−66. Mari Hvattum underscores the important influence the
pp. 229−231.
discovery of polychromy had on Semper’s thinking. Polychromy challenged Semper to regard the history of art as one of material transfor-
26 27
mation. This occurred already before Semper was confronted with the
decorations applied to objects such as vases. He argues that the sym-
Assyrian bas-reliefs in London. See Hvattum, Gottfried Semper and the
bolism of these decorative patterns is “linked with the simplest proces-
Problem of Historicism, p. 11. See also Semper, Die vier Elemente der
ses of making rows, lacing, pinning, twisting, braiding, weaving, sewing,
Baukunst, pp. 99−101.
and hemming – [...]” Translation quote from Gottfried Semper, Style in
17
Semper recognized in the knot one of the oldest technical ele-
the Technical and Tectonic Arts: Or, Practical Aesthetics, trans. and ed.
ments of binding and as such regarded the knot as a primary element of
H. F. Mall-grave and M. Robinson (Los Angeles, CA: Getty Research In-
ordering, which he for instance also saw represented on the decora-
stitute, 2004), pp. 530−531. Original quote from Gottfried Semper, Der
tions of vases. In this appearance, the knot had become a decorative
Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder praktische Ästhetik:
motif, which however still referred to its earlier use in a different
Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Vol. 2: Keramik,
technique and medium, and as such still performed its ordering func-
Tektonik, Stereometrie, Metallotechnik (München: Bruckmann Verlag,
tion though now in a symbolic way within the decorative scheme ap-
1879), p. 83: “Ihre Symbolik knüpft an die einfachsten Prozesse des
plied to the object. See Jonathan A. Hale, ‘Gottfried Semper’s Primitive
Reihens, Schnürens, Spinnens, Drehens, Flechtens, Webens, Nähens
Hut: Duration, Construction and Self-creation’, in Primitive: Original
und Säumens, [...].”
sel are his observations of the Assyrian bas-relief panels at the British
Crucq, ‘Abstract Patterns and Representation’, p. 172. Mari Hvattum has made clear how Gottfried Semper’s thinking
“Vergessen machen sollen wir die Mittel, [...].” Semper, Der Stil, Crucq, ‘Abstract Patterns and Representation’, pp. 94−97. Semper recognizes this not just in these panels but also in the
Matters in Architecture, ed. J. Odgers, F. Samuel and A. Scharr (New
A Reconsideration of Gottfried Semper’s Emphasis on Weaving as a Fundamental Craft
31
Hut vor dem solchermaßen Gestalt gewordenen Zenit modischer Eleganz (Abb. 1). Der Beitrag reiht sich in eine lange Folge von Satiren auf die weltweit als Schönheitsideal und Modevorbild geltende spanischstämmige Eugénie de Montijo, die der französische Kaiser Napoleon III. im Januar 1853 geheiratet hatte.2 Der Punch präsentierte sie als Protagonistin zweier Novitäten der weiblichen Garderobe, die in den späteren 1850er Jahren große Aufmerksamkeit
Farben der vie moderne . Zu Verwendung und Wahrnehmung erster synthetischer Textilfarbstoffe in der Damenmode
erregten und für viel Diskussionsstoff sorgten: Die Stahlreifenkrinoline und der Chemiefarbstoff ‚Mauve‘. Im selben Jahr 1856 auf den Markt gekommen, revolutionierten die nach allen Regeln der Ingenieurskunst konstruierten Krinolinen und die als ‚Regen bogen aus der Retorte‘ gefeierten ersten synthetischen Textilfarbstoffe moderne Perzeptionsmuster. In einem komplexen Spannungsfeld von ökonomischen, ästhetischen und genderbezogenen Argumentationssträngen bewegte sich die zeitgenössische Rezeption
Birgit Haase
zwischen begeisterter Zustimmung einerseits und In der englischen Zeitschrift Punch vom Juni
empörter Ablehnung andererseits, wobei die Stellung-
1859 findet sich ein Beitrag mit dem Titel „Impératrice
nahmen in der Regel mit symbolischen Interpretatio-
de la France et de la Mode“; in satirischem Ton, nicht
nen untrennbar verknüpft waren.
frei von nationalem Ressentiment, heißt es dort unter
Im Folgenden werden anhand ikonografischer,
anderem: „It is to the wife of Louis Napoleon that the
schriftlicher und materieller Quellen verschiedene, oft
fashionable world is indebted for the elegant invention
diametrale Wertungsebenen verdeutlicht. In diesem
of crinoline. Again, it is to the same imperial inspiration
Zusammenhang wird aufgezeigt, inwiefern die soge-
that the ladies have reason to be grateful for the
nannten Anilinfarben nach der Mitte des 19. Jahrhun-
endowment of that sumptuous and becoming colour,
derts die Sichtbarkeit modisch gekleideter Frauen
which modistes and Mantallinis delight in calling Mauve.
gerade im großstädtischen Kontext steigerten und
[…] In grace and conception, in beauty and imagina-
somit als wirkmächtiges Symbol der Moderne fungier-
tion, it must be willingly acknowledged that the real
ten. Dabei fokussiert sich der Blick auf die beiden
Empress of Fashion is Eugénie.“1 Die dem Artikel
Dekaden des zweiten französischen Kaiserreichs
beigegebene Karikatur zeigt einen promenierenden
(1852 bis 1870), die als entscheidende Zeitspanne zur
Modeschmetterling, der seine großen bunten Flügel
Ausprägung der bürgerlichen Moderne gelten und
und den ausladenden Krinolinen-Reifrock gleichsam
deren zentraler Ort Paris war. Während London
als Insignien stolz zur Schau trägt; vor der Herrscherin
traditionell als Zentrum einer technisch, industriell und
kriecht eine Raupe am Boden und zieht huldigend den
kommerziell prosperierenden Textilbranche galt,
Zu Verwendung und Wahrnehmung erster synthetischer Textilfarbstoffe in der Damenmode © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412514594 – ISBN E-Book: 9783412518059
33
Abb. 1: Impératrice de la France et de la Mode, in: Punch, or the London Charivari, 18. Juni 1859, S. 251
repräsentierte Paris im Zweiten Kaiserreich und der beginnenden Dritten Republik „die erste Metropole,
Der Fa rbenra usch a us Stei nkohlenteer
die vom akkumulierten Kapital umgeschrieben und umgebaut wurde als Stätte des Konsums, [...] Ort des
34
In den Jahrzehnten nach der Jahrhundertmitte
Schauspiels und der Selbstdarstellung.“3 Vor allem hier,
verfielen viele modebewusste Frauen einem regelrech-
in der weltweit anerkannten Modehauptstadt, verlie-
ten ‚Farbenrausch‘, für den die jüngst entdeckten
hen nach neuestem Geschmack gekleidete Frauen als
Teer- oder Anilinfarbstoffe die technischen Vorausset-
‚Passantinnen‘ und ‚Konsumentinnen‘ der von Charles
zungen schufen. Aus zeitgenössischer Sicht wirkte es
Baudelaire beschworenen vie moderne lebendigen
wie ein Wunder, „daß wir heute die sämmtlichen
Ausdruck.
Farben des Sonnenspectrums und mehr noch in
Birgit Haase
reizendster Klarheit, in vorher nie erreichter Reinheit
die Markteinführung des zunächst als ‚Tyrian Purple‘,
und Tiefe aus einem Abfallerzeugniß anderer chemi-
schon bald aber unter dem Namen ‚Mauve‘ angebote-
scher Industrien, das vorher nicht nur als unbrauchbar,
nen Färbemittels erwies sich als günstig, da Violett-
sondern als höchst lästig verwünscht wurde, darzustel-
Töne aufgrund des damit traditionell assoziierten
len vermögen – dem Steinkohlentheer.“ Eben dieser
kostbaren Purpurs und zusätzlich gefördert durch das
optische Gegensatz zwischen dem schmutzig-schwar-
Vorbild prominenter Trägerinnen wie der französischen
zen Rückstand industrieller Produktion einerseits und
Kaiserin Eugénie und der englischen Königin Victoria
den leuchtend-bunten Farben andererseits sowie die
Mitte des 19. Jahrhunderts allgemein hoch geschätzt
damit aufs Engste verbundenen Konnotationen von
wurden.7 Perkins neuer Farbstoff war so erfolgreich,
Modernität scheinen den sogenannten Anilinfarbstof-
dass um die Wende von den 1850er zu den 1860er
fen ihren besonderen Reiz verliehen zu haben.
Jahren eine wahre „mauve-mania“ die Damenmode
4
Bis ins ausgehende 18. Jahrhundert waren
beherrschte.8 Noch heute vermittelt eine um 1862 mit
Textilien mit Naturstoffen pflanzlichen, tierischen oder
Anilinviolett gefärbte Besuchstoilette aus Seidentaft
mineralischen Ursprungs gefärbt worden, wobei die
einen lebendigen Eindruck von der intensiven Farbwir-
traditionell hochentwickelte Färbekunst bereits ein
kung – ein Effekt, der durch die Verwendung kontras-
reiches Spektrum erzielt hatte. Seitdem war eine Reihe
tierender, vorzugsweise schwarzer Garnituren oft noch
von halbsynthetischen Farbstoffen, wie Pikrinsäure
zusätzlich gesteigert wurde (Abb. 2).
(Gelb, 1771), ‚Scheele’s Grün‘ (1775) oder ‚Murexid‘
Damit war der Anfang gemacht und einmal mehr
(Purpur, 1850er Jahre), auf den Markt gekommen.5
erwies sich binnen Kurzem das grundlegende Innovati-
Gleichzeitig wurde zur technischen Auswertung von
onspotenzial der Textilbranche: In der Folge erlebten
Steinkohlenteer geforscht, der durch die steigende
synthetische Textilfarbstoffe einen enormen Auf-
industrielle Koksherstellung und Gasgewinnung in
schwung und die zunehmend wissenschaftlich
großen Mengen anfiel und zunächst als kaum verwert-
geprägte Erforschung neuer Substanzen markierte den
bares Abfallprodukt galt. Seit den 1830er Jahren
Beginn der modernen chemischen Industrie. Innerhalb
experimentierten namhafte Chemiker unter anderem
weniger Jahre kamen künstliche Farbstoffe in allen nur
mit dem aus Teer isolierten Aminobenzol (C6H5NH2),
denkbaren Schattierungen von bisher kaum gekannter
das später als ‚Anilin‘ – anknüpfend an die portugiesi-
Leuchtkraft und Intensität auf den Markt.9 Besondere
sche Bezeichnung anil für den blauen Farbstoff
Popularität erreichten nach dem Abklingen der
Indigo – zum Namensgeber für die Gesamtheit der
Mauve-Begeisterung beispielsweise das von dem
frühen synthetischen Farbstoffe werden sollte.6 Der
französischen Chemiker François-Emmanuel Verguin
eigentliche Durchbruch gelang jedoch erst dem jungen
1858 entdeckte und überaus erfolgreich vermarktete
Engländer William Henry Perkin, der 1856 eher zufällig
‚Fuchsin‘ (‚Magenta‘), verschiedene 1863 durch August
ein Verfahren zur Synthese eines der ersten künstli-
Wilhelm Hofmann, den renommierten Leiter des
chen Anilinfarbstoffe entwickelte. Er ließ sich seine
Londoner Royal College of Chemistry, unter eigenem
Entdeckung unter dem Namen ‚Mauveïn‘ patentieren
Namen zum Patent angemeldete Violett-Töne sowie
und produzierte ab 1858 in großtechnischem Maßstab
eine Reihe modischer Grün-Nuancen, darunter das von
einen intensiv violetten Farbstoff, der sich besonders
Kaiserin Eugénie um 1868 besonders geschätzte
gut zur Färbung von Seide eignete. Der Zeitpunkt für
‚Aldehydgrün‘. Nachdem die neuen Textilfarbstoffe
Zu Verwendung und Wahrnehmung erster synthetischer Textilfarbstoffe in der Damenmode © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412514594 – ISBN E-Book: 9783412518059
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hintangestellt. So konstatierte eine deutsche Zeitschrift 1864 lapidar: „Obgleich zur Herstellung des Anilin auch Arsenik-Säure und salpetersaures Quecksilberoxyd benutzt werden, so kann man die so gefärbten Kleidungsstücke doch ohne Schaden tragen, da die Färber durch vielfaches Spülen jede giftige Substanz entfernen.“11 Die zunehmende Popularisierung der synthetischen Farbstoffe veränderte die öffentliche Wahrnehmung erheblich. So bemerkte etwa August Wilhelm Hofmann in seinem Bericht zur chemischen Abteilung der Londoner Weltausstellung 1862, wo die mittels moderner synthetischer Farbstoffe in leuchtenden Nuancen gefärbten Seiden allgemein große Begeisterung hervorriefen: „The new colours, mauve and magenta, had no sooner appeared than they were everywhere eagerly welcomed, especially by the gentler part of mankind; whose raiment, gorgeous with these novel splendours, altered the very aspect of the public streets.“12 Abb. 2: Seidenkleid, gefärbt mit dem von Perkin entdeckten Anilinfarbstoff ‚Mauve‘, um 1862, Seidentaft, Samt, SCM – Industrial Chemistry, Science Museum, London
anfangs extrem teuer gehandelt worden waren, stand
36
Indi katoren der Moderne Die von Hofmann registrierte Veränderung des
durch die Weiterentwicklung chemischer Synthesever-
Straßenbildes durch das neue Aussehen der Passantin-
fahren schon bald eine breite Farbpalette zu relativ
nen wurde noch dadurch verstärkt, dass die volumi-
günstigen Preisen zur Verfügung. Dies resultierte in
nöse Damengarderobe in den fünfziger und sechziger
einer merklichen Demokratisierung und einem
Jahren des 19. Jahrhunderts optimale Bedingungen
beschleunigten Modewandel gefärbter Kleiderstoffe.
zur Entfaltung der neuen brillanten Farbtöne bot.
Bemerkenswerterweise fielen die zunächst vielfach
Grundlegendes Mode-Charakteristikum war der große
noch mangelhaften Echtheitseigenschaften der
Umfang der Kleiderröcke, deren materielle Ausdeh-
textilen Färbungen wegen des von Modezeitschriften
nung räumliche Präsenz demonstrierte. Deutlich wird
geschürten raschen Geschmackswechsels kaum ins
dies beispielsweise durch eine von Adèle-Anaïs
Gewicht.10 Auch schwerwiegendere Einwände,
Colin-Toudouze entworfene und in Le Magasin des
basierend auf der Verwendung toxischer Substanzen
Demoiselles vom Mai 1859 publizierte Grafik mit
im Produktionsprozess, wurden angesichts von
Promenadenkleidern für Damen und Mädchen in
Neuheit und optischem Reiz der Anilinfarbstoffe meist
hochaktueller Form- und Farbgebung (Abb. 3). Die
Birgit Haase
Abb. 3: Adèle-Anaïs Colin-Toudouze, Toilettes de ville pour dames et pour jeunes filles, kolorierter Stich, 24,5 x 15 cm (Blattgröße), in: Le Magasin des Demoiselles, 25. Mai 1858, nach S. 256, Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek
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weiten Röcke, die stilistisch rückwärtsgewandt ein ‚Zweites Rokoko‘ evozierten, waren strukturell vollkommen modern, denn die praktischen Voraussetzungen dafür schufen die in industrieller Massenproduktion hergestellten sogenannten Stahlreifen- oder Käfig-Krinolinen (frz. cage). Als eine noch junge Errungenschaft der technischen Entwicklung und fortschrittlichen Ingenieurskunst, ermöglichten die modernen Reifröcke aus flexiblem Uhrfederstahl größere Rockumfänge als bisher – und erlaubten damit die optimale Präsentation leuchtend gefärbter Stoffe. Dem entsprach die Mode einfarbiger Kleider aus glänzender Seide, sogenannter robes unies, die dank der zunehmenden Verfügbarkeit von Nähmaschinen vergleichsweise einfacher als zuvor mit aufwendigen Garnituren versehen werden konnten und so zusätz-
Abb. 4: Charles Vernier, Trop et trop peu …, um 1860, kolorierte Lithografie, erschienen in der Serie Modes pour rire, 26,3 x 34,8 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek
lich an Opulenz sowie Volumen gewannen.13 Der englische Kulturhistoriker Christopher Breward
Karikaturen und satirischen Texten als Zeichen eines
hat darauf hingewiesen, dass hierin ein quantifizierba-
vermeintlichen Machtstrebens der Frau im Stadtraum
rer Wandel der physischen Präsenz und Wahrnehmung
interpretiert wurde. Eine unter dem Titel Trop et trop
modischer Weiblichkeit in den 1850er und 1860er
peu um 1860 erschienene kolorierte Lithografie des
Jahren zum Ausdruck kam; weiter hat er ausgeführt,
französischen Zeichners Charles Vernier, die eine zur
inwiefern dieser Effekt aufs Engste mit dem techni-
Promenade gekleidete Dame präsentiert, ist eben
schen Fortschritt, der Entstehung der Bekleidungsin-
jener Ausdehnungstendenz der weiblichen Mode
dustrie sowie dem Szenario eines expandierenden
gewidmet (Abb. 4), die zeitgenössischen Kritikern wie
städtischen Modekonsums zusammenhing.14 Sowohl
dem schwäbischen Publizisten Friedrich Theodor
die Stahlreifen-Krinoline als auch die Anilinfarbstoffe
Vischer als eine „impertinente“ Anmaßung von Raum
erschienen aus zeitgenössischer Sicht als Symbole für
und Bedeutung erschien.16 Die Wirkung wurde durch
Fortschritt und Modernität in weiblicher Verkörperung.
die mit synthetischen Farbstoffen in intensiven Tönen
Damit einher ging eine Ausweitung der femininen
gefärbten Kleiderstoffe noch gesteigert; in Verniers
Sphäre: In der durch die sogenannte ‚Haussmannisie-
Grafik klingt dieser Effekt mit der dezidierten Kolorie-
rung‘ grundlegend umgestalteten Topografie von Paris,
rung der rechts wiedergegebenen weiblichen Prome-
wo prächtige Boulevards, öffentliche Parks und große
nadenkleidung an.
Warenhäuser als augenfällige, wirkmächtige Embleme
38
Die damit verknüpften gesellschaftlichen,
der großstädtischen Konsumgesellschaft fungierten,
geschlechtlichen und ästhetischen Implikationen
wurden Frauen zunehmend als ‚Passantinnen‘ und
weckten auch die Aufmerksamkeit der damaligen
‚Konsumentinnen‘ öffentlich sichtbar.15 Ihre Gestalt
künstlerischen Avantgarde. Als deren Wortführer
manifestierte sich im weiten Krinolinenrock, der in
machte Charles Baudelaire in seinem 1863 unter dem
Birgit Haase
Titel Le peintre de la vie moderne veröffentlichten richtungsweisenden Aufsatz die Mode zum zentralen Kriterium seiner Ästhetik der Moderne.17 Im Kontext der Diskussion um die Darstellungswürdigkeit moderner Kleidung wandten sich die Vertreter der sogenannten nouvelle peinture – heute bekannt als Impressionisten – verstärkt dem Sujet der aktuellen Damenmode zu. Vor diesem Hintergrund lag es nahe, dass die neuen leuchtenden Kleiderfarben in ihren Werken auftauchten. Markante Beispiele dafür finden sich in frühen Gemälden Pierre-Auguste Renoirs.18 Vergleichsweise interessanter erscheint im vorliegenden Zusammenhang allerdings ein künstlerisches Projekt des jungen Claude Monet, der in den 1860er Jahren
Abb. 5: Claude Monet, Déjeuner sur l’herbe (Studie), 1865/66, Öl auf Leinwand, 130 x 181 cm, Staatliches Museum für Bildende Künste A. S. Puschkin, Moskau
bestrebt war, sich als ‚Maler des modernen Lebens‘ im Baudelaire’schen Sinn zu profilieren.19 1865 begann er
ten Veränderungen der Kleidermode hat Monet bei
mit der Arbeit an einem kolossalen Werk, das als Mani-
seinem ehrgeizigen Vorhaben die sich wandelnde
fest einer unter formalen wie inhaltlichen Kriterien
Mode berücksichtigt. Darauf weisen gewisse Verände-
modernen Malerei konzipiert war: Le déjeuner sur
rungen, die er im Verlauf der Genese des Werks
l’herbe steht in deutlichem Bezug – ja: in Konkurrenz –
vornahm. Deutlich werden diese durch den Vergleich
zu dem zwei Jahre zuvor entstandenen programmati-
der im Sommer 1865 entstandenen Ölstudie mit dem
schen ‚Skandalerfolg‘ gleichen Titels von Édouard
erhalten gebliebenen linken Fragment der im folgen-
Manet. Anders als sein älterer Kollege entwarf Monet
den Winter im Atelier angefertigten endgültigen
allerdings eine ‚bekleidete Version‘ des Picknicks im
Version des Gemäldes (Abb. 6). Stilistisch in Richtung
Grünen, durch die er eine ‚unmittelbar‘ beobachtete
einer Festigung von Formen, Klärung von Konturen
Szene des gegenwärtigen Lebens unter natürlichen
und Kristallisation von Farbflächen wirkend, zielten die
Lichtverhältnissen im Freien möglichst objektiv
von Monet vorgenommenen Umgestaltungen inhalt-
darstellen wollte (Abb. 5).20 Die Personen auf der
lich auf eine Aktualisierung der dargestellten Kleidung.
Waldlichtung tragen modische Sommerkleidung, was
In diesem Zusammenhang besonders bedeutsam ist
kein Zufall ist, wie Wolf Kittler mit Bezug auf Charles
die weibliche Rückenfigur links: Deren modisch
Baudelaire und Stéphane Mallarmé feststellt: „What
geraffter Rock sowie das leuchtende (Anilin-)Rot von
matters in what Baudelaire had called the modern life
Unterrock und Garnituren, dessen Wirkung im
is neither the female nude nor the portrait, but rather
dekorativen Kontrast zum Grau des Kleiderstoffes
‚the renewal of fabrics and styles‘, which includes the
gesteigert wird, erscheinen dezidiert modern gegen-
new synthetic dyes: ‚To this question of fabrics the
über dem hellen Kostüm mit schwarzer Stickerei der
preoccupation with colors will be joined.‘“ In Überein-
gleichen Frau in der vorangegangenen Studie.22
21
stimmung mit Baudelaires Diktum von dem sensiblen Gespür des ‚peintre de la vie moderne‘ für die gerings-
Auch Émile Zola, der sich schon früh als Fürsprecher der nouvelle peinture positioniert hatte, zollte den
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modernen Anilinfarbstoffen durch entsprechende Beschreibungen in seinem naturalistischen Romanzyklus Les Rougon-Macquart wiederholt künstlerischen Tribut. Ein lebendiges Bild von der Faszinationskraft der neuen Farben findet sich beispielsweise in dem 1883 erschienenen Werk Au bonheur des dames, das ein Pariser Warenhaus als apotheotischen Ort der großstädtischen Moderne im Second Empire inszeniert; dort heißt es unter anderem: „[…] sur les rues, les vitrines développaient des symphonies d’étalages, dont la netteté des glaces avivait encore les tons éclatants. C’était comme une débauche de couleurs, une joie de la rue qui crevait là, tout un coin de consommation largement ouvert, et où chacun pouvait aller se réjouir les yeux.“23 Die hier beschriebene ‚Farbenpracht‘ hing nicht zuletzt von der Oberflächenbeschaffenheit der gefärbten Stoffe ab. Die im Second Empire beliebten robes unies wurden vorzugsweise aus glatten Seiden gefertigt, die eine hohe chemische Affinität für Anilinfarbstoffe aufwiesen und durch ihren Glanz den brillanten optischen Effekt zusätzlich steigerten. Dabei spielten auch Lichtverhältnisse eine wichtige Rolle, und diese veränderten sich gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch technische Innovationen in der Beleuchtung mit Gas sowie später durch die zunehmende Verbreitung von elektrischem Licht.24 Die hellere Beleuchtung intensivierte die Wirkung der leuchtenden Anilinfarben, erwies sich jedoch als nicht unproblematisch: Zeitgenössische Farb-Ratgeber machten ihre modewussten Leserinnen darauf aufmerksam, dass das gelbliche Kunstlicht die Farbtöne verfälsche.25 Noch eindringlicher klangen die Warnungen vor einem geschmacklosen Gebeziehungsweise Missbrauch des neuerdings zur Abb. 6: Claude Monet, Déjeuner sur l’herbe (linkes Fragment), 1866, Öl auf Leinwand, 408 x 150 cm, Musée d’Orsay, Paris
40
Birgit Haase
Verfügung stehenden weiten Spektrums an Kleiderfarben. Die mit der chemisch-industriellen Massenproduktion einhergehende Demokratisierung der Farben,
ein beschleunigter farblicher Modewechsel sowie die
[...] Ce sont des soies violettes ou ponceau, des robes
Faszination für die damit assoziierte Neuheit ver-
vert-pré et à fleurs, des écharpes d’azur, des orfèvre-
schärften das Problem aus zeitgenössischer Sicht noch
ries. [...] L’éclat est brutal; elles semblent sortir d’une
zusätzlich. 1862 schrieb die britische Autorin Mary P.
armoire et défiler pour le compte d’un magasin de
Merrifield über „The Use and Abuse of Colors in Dress“
nouveautés.“27 Als Fürsprecher einer konservativen
und konstatierte: „We hear constantly of fashionable
Ästhetik und Ethik missbilligte Taine eben jene
colors, and these fashionable colors are forever
Aspekte der Mode, in denen die vie moderne evident
changing; moreover, we hear more of their novelty
wurde: Die leuchtenden Farben und ausladenden
than of their beauty. All who wish to be fashionable
Formen der Krinolinenmode, die durch technisch-
wear these colors, because they are fashionable and
industrielle Entwicklungen ermöglicht wurden und
because they are new; but they do not consider
die über magasins de nouveautés beziehungsweise
whether they are adapted to the complexion and age
Warenhäuser neue Käuferschichten erreichten,
of the wearer, or whether they are in harmony with the
förderten die unübersehbare öffentliche Präsenz
rest of the dress.“
bürgerlicher Modedamen an ehemals dem Adel
26
Ihre vollkommene Wirkung entfalteten die
vorbehaltenen Orten, wie beispielsweise Hampton
Nuancen der mit Anilinfarbstoffen gefärbten Kleider
Court Palace.28 Die Schärfe seiner Kritik lässt ver-
im Tageslicht: in den großen Schaufenstern der
muten, dass Taine in den von ihm beschriebenen
Warenhäuser, die den Unterschied zwischen innen
Tendenzen Hinweise auf zukunftsträchtige Verände-
und außen verwischten, ebenso wie auf der Straße
rungen gesellschaftlicher und geschlechtlicher
selbst. Dort stachen sie ins Auge – was nicht jedem
Strukturen wahrnahm.
Beobachter gefiel. Der französische Kunsthistoriker
Die als chemische Sensation gefeierten ersten
und Geschichtsphilosoph Hippolyte Taine geißelte,
synthetischen Textilfarbstoffe, die seit den späten
nicht ohne gewisse nationale und soziale Vorbehalte,
1850er Jahren die Damenmode prägten, revolutionier-
das zeitgenössische Erscheinungsbild der Garderobe
ten herkömmliche, ästhetische wie geschlechtliche
von Engländerinnen aus der Mittelschicht folgender-
Perzeptionsmuster und verliehen einem sich ankündi-
maßen: „Les couleurs sont outrageusement crues, et
genden, neuen Frauenbild Ausdruck.29 Damit wirkten
les formes disgracieuses [...] et tout l’échafaudage mal
sie als ein unübersehbares Fanal der neuen Zeit.
attaché, mal agencé, bariolé, ouvragé, crie et jure de
An diesem Beispiel kristallisieren sich eindrücklich die
toutes ses couleurs voyantes et surchargées. – Au
grundlegenden Verschränkungen von weiblicher Mode
soleil surtout, avant-hier, à Hampton-Court, parmi des
mit technischen Innovationen und emanzipatorischen
femmes de shopkeepers, le ridicule était énorme; il y
Tendenzen, die das Second Empire zu einer konstituti-
avait quantité de robes violette, d’un violet farouche.
ven Epoche der textilen Moderne machten.
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41
1
thetischen Textilfarbstoffe im 19. Jahrhundert, in: Berliner Chic. Mode
Anonym: Impératrice de la France et de la Mode, in: Punch, or
Stadtmuseum Berlin, Berlin u. a. 2001, S. 25–33.
von 1820 bis 1990, hg. v. Christine Waidenschlager, Ausst.-Kat. Stiftung
the London Charivari, 18. Juni 1859, S. 251 (Hervorhebungen im Origi-
7
nal).
Mauve. How One Man Invented a Colour that Changed the World,
Vgl. Travis 1993 (wie Anm. 5), S. 49 u. 51; Simon Garfield:
Zur modegeschichtlichen Bedeutung von Kaiserin Eugénie vgl.
New York/London 2001, S. 173 f; Fashion in Colors, hg. v. Akiko Fukai,
Chantal Trubert-Tollu u. a. (Hg.): The House of Worth 1858–1954. The
Ausst.-Kat. Cooper-Hewitt, National Design Museum, Smithsonian In-
Birth of Haute Couture, London 2017, S. 34 f.
stitution, New York 2005, S. 16 f u. 206; Charlotte Crosby Nicklas:
3
Griselda Pollock: Die Räume der Weiblichkeit in der Moderne,
Splendid Hues: Colour, Dyes, Everyday Science, and Women’s Fashion,
in: Ines Lindner (Hg.): Blick-Wechsel. Konstruktionen von Männlichkeit
1840–1870, Diss. University of Brighton 2009, S. 45, 53 u. 60; Susan
und Weiblichkeit (Vorträge der 4. Kunsthistorikerinnen-Tagung im Sep-
Kay-Williams: The Story of Colour in Textiles. Imperial Purple to Denim
tember 1988 in Berlin), Berlin 1989, S. 313–332, hier S. 319. – Pollock
Blue, London u. a. 2013, S. 141; Wolf Kittler: Couleurs à la mode. Im-
verweist eindringlich auf den geschlechtlich konnotierten und weitge-
pressionism as an Effect of the Chemical Industry, in: Zeitschrift für
hend männlich dominierten Charakter der „Räume der Mode“.
Medien- und Kulturforschung, hg. v. Lorenz Engell und Bernhard Sie-
4
gert, Bd. 1, 2015, H. 6: Schwerpunkt Textil, S. 159–184, hier S. 168;
2
P[ompeius] A[lexander]: Altes und Neues aus der Farbenchemie
und Färberei. Überblick der Geschichte und der Rolle der s. g. Anilin-
Trubert-Tollu u. a. 2017 (wie Anm. 2), S. 40.
farben, Berlin [1867], S. 10. Die Einschätzung des Mitbegründers
Vgl. Travis 1993 (wie Anm. 5), S. 58.
des Eidgenössischen Polytechnikums in Zürich erinnert im Wortlaut an
8 9
jene von August Wilhelm Hofmann, Leiter des Royal College of Chemi-
sal-Conversations-Lexikon. Neuestes encyklopädisches Wörterbuch
stry in London, der bereits 1862 festgestellt hatte: „[...] Alle diese
aller Wissenschaften, Künste und Gewerbe, 6., vollst. umgearb. Aufl.,
Farben von wunderbarer Schönheit entstehen durch noch wunder-
Oberhausen/Leipzig 1875, S. 262–267 (Stichwort „Anilin“); Gustav
barere chemische Umwandlung aus einem und dem nämlichen
Schultz: Die Chemie des Steinkohlentheers mit besonderer Berücksich-
Ausgangsmaterial, aus dem ekelhaften Teer.“ (Zit. n. Erwin Barth von
tigung der künstlichen organischen Farbstoffe, Braunschweig 1882,
Wehrenalp: Farbe aus Kohle. Eine Großtat der Chemie dargestellt in
S. 8–17.
Vgl. zeitgenössische Überblicksdarstellungen in Pierers Univer-
einem Tatsachenbericht, 2. Aufl., Stuttgart 1937, S. 20.) An dieser Stelle
10
sei auf die grundlegende Problematik einer von Fortschrittsoptimismus,
ture in the Beauty and Brilliancy of their Coloring: Synthetic Dyes and
Wissenschaftseuphorie, Technikgläubigkeit und Legendenbildung unter
Fashionable Colors in Godey’s Lady’s Book and Magazine, 1856–1891,
dem Motto „Chemie erobert die Welt” geprägten Fachliteratur zur
in: The Chronicle of the Early American Industries Association, Bd. 53,
Geschichte der synthetischen Farbstoffe verwiesen; im Rahmen einer
December 2000, H. 4, S. 156–162, hier S. 157; Kittler 2015 (wie
objektiv-wissenschaftlichen Analyse ist sie als mögliches Bias zu be-
Anm. 7), S. 164; Laura Anne Kalba: Color in the Age of Impressionism.
rücksichtigen.
Commerce, Technology, and Art, Pennsylvania 2017, S. 78–80.
5
42
Anmerkungen
In zeitgenössischen Quellen wie auch in der Sekundärliteratur
11
Vgl. Ann Buermann Wass und Clarita Anderson: Rivalling Na-
Die Anilin-Farben, in: Victoria. Illustrirte Muster- und Moden-
findet sich eine verwirrende Vielfalt von technischen, alltäglichen und
Zeitung, Jg. 14, April 1864, H. 14, S. 107. – Grundlegende Ausführun-
modischen Farbnamen; der Überblick wird dadurch erschwert, dass ei-
gen zu Vorkommen und Auswirkungen von Giften in (halb-)syntheti-
nerseits die chemische Konstitution der historischen Farbstoffe nicht
schen Farbstoffen des 19. Jahrhunderts vgl. P. W. J. Bartrip: How Green
immer eindeutig geklärt ist und dass andererseits wissenschaftliche
Was My Valance?: Environmental Arsenic Poisoning and the Victorian
sowie modische Bezeichnungen differieren. Eine gesicherte Zuordnung
Domestic Ideal, in: The English Historical Review, Bd. 109, September
von Namen zu Farbtönen ist heute oftmals kaum mehr möglich. – Im
1994, H. 433, S. 891–913; Alison Matthews David: Fashion Victims. The
vorliegenden Kontext wurde versucht, die seinerzeit gängigsten Be-
Dangers of Dress Past and Present, London u. a. 2017, Kap. 3 und 4.
zeichnungen mit dem Jahr der Einführung des betreffenden Farbstoffes
12
zu kombinieren. Zu den hier nur kurz skizzierten Entwicklungen vgl.
ucts and Processes, in: International Exhibition, 1862. Reports by the
grundlegend Anthony S. Travis: The Rainbow Makers. The Origins of
Juries on the Subjects in the Thirty-Six Classes into which the Exhibi-
the Synthetic Dyestuffs Industry in Western Europe, Bethlehem/Lon-
tion was Divided. London 1863, S. 132, zit. n. Kittler 2015 (wie Anm. 7),
don 1993; Augustí Nieto-Galan: Colouring Textiles. A History of Natural
S. 167.
August Wilhelm Hofmann: Class II. Section A. – Chemical Prod-
Dyestuffs in Industrial Europe, Dordrecht u. a. 2001.
13
6
Nähere Ausführungen zur Geschichte der synthetischen Farb-
den 1850/60er Jahren vgl. Penelope Byrde: Nineteenth Century
stoffe finden sich u. a. in Ciba-Rundschau, 1956, H. 126: W. H. Perkin;
Fashion, London 1992, S. 54, 57 f, 60–63; Kittler 2015 (wie Anm. 7),
Arne Andersen und Gerd Spelsberg: Das blaue Wunder. Zur Geschichte
S. 167–169.
Näheres zu den hier skizzierten Tendenzen der Damenmode in
der synthetischen Farben, Köln 1990; Travis 1993 (wie Anm. 5); Birgit
14
Haase: „All diese Farben von wunderbarer Schönheit …“ Die ersten syn-
Fashionable Dress, Manchester u. a. 1995, S. 146, 151 u. 162 f.
Birgit Haase
Christopher Breward: The Culture of Fashion. A New History of
15
Vgl. dazu u. a. Aruna D’Souza: Why the Impressionists Never
23
Émile Zola: Au bonheur des dames, Paris 1883, S. 125. – Vgl.
Painted the Department Store, in: dies. und Tom McDonough (Hg.): The
Gertrud Lehnert: Im Paradies der Sinne. Das Warenhaus als sinnliches
Invisible flâneuse? Gender, Public, Space, and Visual Culture in Nine-
Ereignis, in: Burcu Dogramaci (Hg.): Großstadt. Motor der Künste in der
teenth-Century Paris, Manchester u. a. 2006, S. 129–147; Birgit Haase:
Moderne, Berlin 2010, S. 77–90.
„La passante“ – Die Promenade als Modeschauplatz im Zeitalter des
24
Impressionismus, in: Gertrud Lehnert (Hg.): Räume der Mode,
rial- und Formgeschichte der Bewegung am Beispiel des Straßenkos-
München/Paderborn 2012, S. 33–55; Gloria Groom: Spaces of Moder-
tüms zwischen 1850 und 1914, Diss. Carl von Ossietzky Universität
nity, in: Impressionism, Fashion & Modernity, hg. v. dies., Ausst.-Kat.
Oldenburg 2011, S. 108–112.
The Art Institute of Chicago, New Haven u. a. 2012, S. 164–185.
25
16
„... die Krinoline ist impertinent. Impertinent natürlich schon
dung auf die Damentoilette, Leipzig 1862, S. 245; Severin Schröder:
wegen des großen Raumes, den sie für die Person in Anspruch nimmt.“
Die Farbenharmonie in der Damen-Toilette, Wien 1897, S. 13 f. Die
Friedrich Theodor Vischer: Vernünftige Gedanken über die jetzige
Fülle an entsprechenden ‚Farb-Ratgebern‘ im 19. Jahrhundert basiert
Mode, in: Morgenblatt für gebildete Leser, Bd. 53, 1859, H. 5 u. 6, wie-
grundlegend auf den Schriften des französischen Chemikers Michel
derabgedr. in: Robert Vischer (Hg.): Friedrich Theodor Vischer. Kritische
Eugène Chevreul. Vgl. dazu Kalba 2017, Kap. 1 (wie Anm. 10). – In Au
Gänge, Bd. 5, 2., verm. Aufl., München 1922, S. 339–365, hier S. 344 f.
bonheur de dames lässt Zola den Direktor des Warenhauses einen un-
17
Charles Baudelaire: Le peintre de la vie moderne, in: Le Figaro,
terirdischen Salon bauen, in dem die Kundinnen die Farben der Stoffe
26. und 29. November, 3. Dezember 1863, abgedr. in Charles Baude-
bei Gaslicht beurteilen können. Vgl. Zola 1883 (wie Anm. 23), S. 448.
laire: Curiosités esthétiques. L’Art romantique et autres Œuvres cri-
Die im Roman erwähnte Episode bezieht sich auf das reale Beispiel des
tiques, hg. v. Henri Lemaitre, Paris 1962, S. 453–502. Unter anderem
berühmten Couturiers Charles Frederick Worth, der Ballroben bei An-
preist der Autor dort die Vorliebe für starke Farben als unverdorben
proben durch Gaslicht und Spiegel illuminierte, um auf diese Weise die
und modern (ebd., S. 491).
Farbwirkung im hellerleuchteten Ballsaal zu simulieren.
18
26
Z. B. Mademoiselle Sicot, 1865, Öl/Lw., 116 x 89,5 cm, National
Vgl. Regina Lösel: Einkleidung von Bewegung. Eine textile Mate-
Vgl. z. B. Rudolf Adams: Die Farben-Harmonie in ihrer Anwen-
Mary Merrifield: The Use and Abuse of Colors in Dress, in:
Gallery of Art, Washington DC; Les Fiancés, um 1868, Öl/Lw., 105 x 75
Godey’s Lady’s Book, Bd. 64, 1862, S. 73–74, die im Folgenden insbe-
cm, Wallraf-Richartz-Museum, Köln; La Parisienne, 1874, Öl/Lw., 163,5
sondere auf die problematische Wirkung der Modefarbe ‚Mauve‘ ein-
x 108,5 cm, National Museum of Wales, Cardiff; La Lecture du rôle,
geht; zit. n. Nicklas 2009 (wie Anm. 7), S. 247 f. – In ihrer umfangrei-
1874–78, Öl/Holz, 9 x 7 cm, Musée des Beaux-Arts, Reims.
chen Untersuchung zu Verwendung und Wahrnehmung von neuen
19
In jüngerer Zeit hat Wolf Kittler die Verbindungen zwischen
Textilfarbstoffen im Spiegel englischsprachiger Modezeitschriften um
Anilinfarbstoffen und der frühen impressionistischen Kunst näher un-
die Mitte des 19. Jahrhunderts betont Nicklas die grundlegende Wich-
tersucht und dabei u. a. Figurenbilder Monets aus den 1860er Jahren
tigkeit des „guten Geschmacks“ als Kategorie sozialer Zugehörigkeit im
berücksichtigt. Siehe. Kittler 2015 (wie Anm. 7). – Verschiedentlich ist
mittleren Bürgertum. Des Weiteren gelangt sie zu dem Schluss, dass
darauf hingewiesen worden, dass die neuen Farbstoffe auch als Malfar-
die Anilinfarbstoffe in den Jahren nach ihrer Markteinführung beson-
ben für die Impressionisten Verwendung fanden (vgl. z. B. John Gage:
ders wegen ihrer Neuheit, der Zeitgemäßheit ihrer Herstellungsweise
Colour and Culture. Practice and Meaning from Antiquity to Abstrac-
und der mit ihrer Hilfe auf Seidenstoffen erzielten Farbtöne geschätzt
tion, London 1993, S. 221–223.) Laura Anne Kalba hat jüngst deutlich
wurden. Ebd., S. 291–294 u. 314.
gemacht, dass dieser Zusammenhang zu kurz greift; vielmehr bestün-
27
den sehr viel grundlegendere Wechselbeziehungen zwischen der im-
74. Der Autor schildert hier Reiseeindrücke aus den frühen 1860er
pressionistischen Palette und dem gleichsam revolutionären Wandel
Jahren. – Auf die in kritischen Äußerungen wie jenen von Merrifield
der visuellen wie materiellen Kultur der Moderne, bedingt durch die
und Taine mitschwingenden Klassenvorurteile verweist Alison Victoria
Entwicklung und Verbreitung synthetischer Farbstoffe in der zweiten
Matthews: Aestheticism’s True Colors. The Politics of Pigment in Victo-
Hälfte des 19. Jahrhunderts. Siehe Kalba 2017, S. 77 (wie Anm. 10).
rian Art, Criticism, and Fashion, in: Talia Schaffer und Kathy Alexis Pso-
20
Das große Figurenbild wurde nie vollendet und ist heute nur
miades (Hg.): Women and British Aestheticism, Charlottesville/London
noch fragmentarisch überliefert; die hier abgebildete sorgfältig ausge-
1999, S. 172–191. Ähnlich konstatiert Laura Anne Kalba: „... the strug-
arbeitete Ölstudie vermittelt jedoch einen guten Eindruck von der ge-
gle for aesthetic harmony was also very much a struggle for social or-
planten Gesamtkomposition.
der.“ Vgl. Kalba 2017, S. 3 (wie Anm. 10).
21
28
Kittler 2015 (wie Anm. 7), S. 174; die dort zitierten Sätze stam-
Hippolyte Taine: Notes sur l’Angleterre, Paris 1872, S. 24, 60 u.
Erst 1838 hatte die englische Königin Victoria die Prunkräume
men von Stéphane Mallarmé: La Dernière Mode. Gazette du Monde et
von Hampton Court Palace zur Besichtigung für die Öffentlichkeit frei-
de la Famille, Faksimiledruck, Paris 1978, S. 580 u. 594.
gegeben.
22
29
Vgl. Birgit Haase: Fiktion und Realität. Untersuchungen zur Klei-
dung und ihrer Darstellung in der Malerei am Beispiel von Claude Mo-
Vgl. Travis 1993 (wie Anm. 5), S. 57; Breward 1995 (wie
Anm. 14), S. 162 f. u. 166; Nicklas 2009 (wie Anm. 7), S. 294.
nets Femmes au jardin, Weimar 2002, S. 26 u. 51.
Zu Verwendung und Wahrnehmung erster synthetischer Textilfarbstoffe in der Damenmode © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412514594 – ISBN E-Book: 9783412518059
43
Dissertation veröffentlicht wird,3 gezielt Bezug auf die Bestrebungen des 1907 gegründeten Deutschen Werkbunds (DWB). Die kunstgewerbliche Reformbewegung, die den Gedanken des wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritts durch Verschränkung von Kunst, Handwerk und Industrie verfolgt, hält zum Zeitpunkt der Berliner Preisvergabe ihre erste große Leistungsschau in Köln ab.4 Deutlich stellt die junge Autorin in ihrer ersten Veröffentlichung den Vorbild-
Werkbundstimme Else Meißner: Kunstschutz auf Textil muster im ‚Elfengespinst‘ der Moderne
charakter von DWB-Firmen heraus, allen voran die Deutschen Werkstätten in Hellerau. Kennzeichnend für diese ist eine am Zeitgeist der Moderne orientierte Formgebung im Einklang mit Funktionalität und Materialgerechtigkeit und deren Übertragung auf die Massenproduktion durch Herausbildung von Typen.5 Obwohl Else Meißner erst ab 1920 im Mitgliederverzeichnis des DWB auftaucht,6 nimmt ihr aktives
Katharina Januschewski
Engagement für dessen Ideale bereits hier seinen Anfang. In ihren 15 Amtsjahren als Geschäftsführerin
Berlin, 3. August 1914: Bei der Feier zum
und assoziiertes Vorstandsmitglied7 der Sächsischen
Gedächtnis des Universitätsgründers, König Friedrich
Landesstelle für Kunstgewerbe in Dresden, eine vom
Wilhelm III., werden die Preisträger des Städtischen
sächsischen Wirtschaftsministerium finanzierte
Preises bekanntgegeben – einer mit 225 Mark dotier-
Einrichtung zur regionalen Kunstgewerbeförderung,
ten Begabtenförderung, die sich an Studierende der
die sich als Arbeitsgemeinschaft des DWB versteht –
vier Fakultäten der Friedrich-Wilhelms-Universität zu
hat sie nicht geringen Einfluss auf die Vernetzung,
Berlin richtet.1 Eine staatswissenschaftliche Abhand-
Organisation und landesweite Vermittlung des
lung mit dem Titel Das Verhältnis des Künstlers zum
sächsischen Kunstgewerbes.8 Vor allem die künstleri-
Unternehmer im Bau- und Kunstgewerbe erhält an
sche Förderung der Textilindustrie gehört zu ihren
diesem Tag die begehrte Auszeichnung. Die Autorin
Hauptanliegen, wobei sie sich insbesondere für das
der Arbeit habe, so die Begründung der Preiskommis-
künstlerische Urheberrecht im Kunstgewerbe einsetzt
sion, „nicht nur die Erörterung entscheidender Fragen
und nicht unbedeutende Impulse für dessen Entwick-
der künstlerischen Kultur gefördert [...], sondern [lasse]
lung leistet.
in [ihrer] Arbeit selbst eine gewisse künstlerische
Bisher wurde Meißners vielseitiger Persönlich-
Kultur erkennen [...]. Verfasserin der Arbeit ist: stud.
keit und ihrer aktiven Werkbundarbeit, wovon auch
phil. ELSE MEISSNER aus Königsberg O./Pr.“2 Die 27–
ihre rege Publikationstätigkeit zeugt, wenig Beachtung
jährige Else Meißner studiert Staatswissenschaften
geschenkt.9 Nachfolgend werden daher zunächst
und Kunstgeschichte und nimmt in ihrer praxisorien-
exemplarisch zwei Aspekte herausgegriffen, anhand
tierten Untersuchung, die 1915 als gleichnamige
derer ein Einblick in Meißners kontrastreiche Gedan-
Werkbundstimme Else Meißner: Kunstschutz auf Textilm uster im ‚Elfengespinst‘ der Moderne
45
kenwelt ermöglicht werden soll: Ihrer Beweisführung
gen Urheberschutz garantiert, schließt zwar auch
der Notwendigkeit eines Kunstschutzes auf Streifen-
Entwürfe für kunstgewerbliche Erzeugnisse ein,13
und Karomuster des modernen Textilgewerbes wird ihr
erweist sich in der Praxis jedoch als „faktisch so gut
mystifizierender Blick auf die Qualität von Maschinen-
wie unnütz“14, konstatiert Adolf Vogt in der Innendeko-
spitzen gegenübergestellt. Eine anschließende erstma-
ration: „Es schützt nicht die Qualitäten der Ausführung,
lige Zusammentragung ihrer Lebensdaten und Schrif-
es schützt die reinen Zweckformen nicht und nicht die
ten hat die Absicht, einen Anstoß zu weiterer
neuen Gestaltungsprinzipien [...]. Das Nachempfinden
Forschung zu geben. Die wichtigste Grundlage hierfür
und Variieren [...] konnte es ebenfalls nicht einschrän-
ist der Teilnachlass Else Meißners im Werkbundarchiv –
ken.“15 Die Defizite, wie Vogt sie 1908 beklagt, sind
Museum der Dinge in Berlin, auf den der Beitrag
auch in den 1920er Jahren fester Bestandteil urheber-
aufmerksam zu machen sucht.
rechtlicher Debatten des DWB16, an denen Meißner aktiv beteiligt ist. Ihr 1927 in Die Form veröffentlichter
Qualität als Movens moderner Werkkunstp rax is
Artikel „Kunstschutz auf Textilmuster“, der darüber hinaus als Flugblatt-Sonderdruck der Leipziger Monatschrift für Textil-Industrie (Abb. 1) Verbreitung in Fachkreisen jenseits der Reformbewegung fand, verortet sich im
Die Deutschen Werkstätten in Hellerau, die 1923 durch die Gründung der Deutsche-Werkstät-
die in der Textilindustrie übliche Auslegungslogik, die
ten-Textilgesellschaft m.b.H. (DeWeTex) ihren Einfluss
einen Kunstschutz für Textilmuster missachte und als
innerhalb der Textilindustrie ausdehnen, bleiben
Begründung anführe, „das Kunstschutzgesetz [umfasse]
Meißners Idealbeispiel für die Werkbundpraxis. Die
Textilmuster nicht oder nur in besonderen Ausnah-
Hauptursache hierfür liege darin, dass „das ganze
men“17. In den von ihr zitierten Motiven zum ‚Kunst-
Unternehmen auf dem Grundsatz aufgebaut ist, die
schutzgesetz‘, die selbst zwar nicht rechtsbindend sind,
künstlerische Eigenart zu Worte kommen zu lassen, so
dennoch eine dem Gesetz inhärente Grundhaltung
wird dem Künstler möglichste Freiheit in der Formge-
transportieren, werden Textilentwürfe vorrangig als
bung gelassen.“11 Dass diese ‚künstlerische Eigenart‘
Linienmuster der Textilgewerbe aufgefasst und dem
auch wesentliche Nachteile birgt, wird gerade inner-
Geltungsbereich des ‚Musterschutzgesetzes‘ vom
halb der Textilindustrie evident. 1962 rekapituliert
11. Januar 1876 zugeordnet.18 Das Gesetz, das in den
Meißner die Problematik im Kontext der Rechtslage
1920er Jahren im Bereich der Textilindustrie regulär zur
zum Urheberrecht: „Ich selbst bin noch in den zwanzi-
Anwendung kommt, betrifft den urheberrechtlichen
ger Jahren dafür eingetreten, Textilentwürfen [...], die
Schutz von Mustern und Modellen, die als „Vorbilder
von den Deutschen Werkstätten ausgeführt wurden,
für die geschmackvolle Darstellung gewerblicher
Kunstschutz zuzusprechen; denn eine Firma wie die
Erzeugnisse“19 dienen sollen. Die Voraussetzung für
Deutschen Werkstätten stellte sich auf den Stand-
den Schutz vor Nachbildungen ist die Eintragung des
punkt‚ ‚was wir machen, ist Kunst‘, ließ deshalb die
Musters in das Musterregister sowie dessen Hinterle-
Entwürfe nicht als Geschmacksmuster eintragen und
gung bei der zuständigen Behörde im Vorfeld der
war dann jeder Imitation ausgeliefert.“12 Das ‚Kunst-
Fertigung des Enderzeugnisses.20 Die Schutzfrist für die
schutzgesetz‘ vom 9. Januar 1907, das einen langfristi-
eingetragenen Muster beträgt maximal 15 Jahre.21
10
46
Kontext dieser Diskussion. Hier thematisiert Meißner
Katharina Januschewski
Abb. 1: Flugblatt-Sonderdruck von Else Meißners „Kunstschutz auf Textilmuster“, in: Leipziger Monatschrift für Textil-Industrie, 1927, H. 12, Werkbundarchiv – Museum der Dinge, Berlin
Werkbundstimme Else Meißner: Kunstschutz auf Textilm uster im ‚Elfengespinst‘ der Moderne
47
Als ‚Geschmacksmuster‘ kategorisiert, sind die
Leistung Zweckform und Kunstform zu einer Einheit
können nur dann Kunstschutz beanspruchen, „wenn
verschmolzen sein müssen.“26
der zu der Zweckmäßigkeit der Form hinzukommende
Ihren beispielhaften Ausdruck fanden diese von
ästhetische Überschuss [...] einen Grad erreicht, daß
Meißner verinnerlichten Ideen zuvor in der Stuttgarter
nach den im Leben herrschenden Anschauungen von
Werkbund-Ausstellung Die Form 1924: „Gerade bei
Kunst gesprochen werden kann.“ Die Entscheidung
Dingen von künstlerischer Qualität kann man nicht
darüber, ob ein Muster aufgrund seines ‚ästhetischen
fragen, wo die Form aufhört und wo die Verzierung
Überschusses‘ des Kunstschutzes würdig ist, hängt
beginnt. Man kann nur sagen, daß die Verzierung nach
dabei „vom Gutachten der Sachverständigenkammern
außen strebt, daß sie, [...] an der Oberfläche der Form
ab, welche nach § 46 des Gesetzes in Streitfällen auf
lebt, weshalb ja immer der Schein entsteht, [...] als ob
Antrag der Beteiligten zu befragen sind.“ Wenn
sie eine ablösbare Zutat sei. In Wahrheit ist sie […]
Firmen wie die DeWeTex ihre Textilerzeugnisse für
stets ein integrierender Teil der Form, bildet mit der
künstlerische Schöpfungen halten und ihnen den
Form eine untrennbare ästhetische Einheit“27, heißt es
Status als Zweckvorlage für die Industrie absprechen –
im Ausstellungskatalog, der den pointierten Titel Die
deswegen eine Mustereintragung und damit auch die
Form ohne Ornament trägt. Meißner fokussiert in ihrer
kürzere Schutzdauer verweigern, so wird dieser
Argumentation vor allem Streifen- und Karomuster, die
Umstand als Freibrief für uneingeschränkte Nachah-
sie einer besonderen Gefahr der generalisierenden
mung interpretiert – „bei der bestehenden Rechtsunsi-
Zuschreibung zu ‚Geschmacksmustern‘ ausgesetzt
cherheit [wird] zunächst einmal munter darauf los
sieht. In der Zeit, als das ‚Musterschutzgesetz‘ verfasst
gestohlen [...], in der Erwartung, daß der Geschädigte
wurde, prägten gerade diese Motive das Bild von einer
das Risiko der Klage scheuen wird“24. Dabei werde
klassischen Zweckform der Textilindustrie, da sie auf
nicht nur der Absatz der betreffenden Firmen geschä-
eine lange gewerbliche Überlieferung zurückblickten –
digt, sondern auch die Künstler in ihrem geistigen
„man denke etwa an die Streifen und Karos für
Eigentum angegriffen. Es sei „deshalb dringend
Handtücher, bunte Bettwäsche und ähnliches“28
wünschenswert, daß der Kunstschutz auf Textilmuster
(Abb. 2). Im 20. Jahrhundert jedoch haben diese
einmal in juristisch bindender Form klargestellt wird,
klassischen Mustermotive eine Umdeutung durch die
allerdings unter der Voraussetzung, daß die entschei-
künstlerischen Ideen der Moderne erfahren, die jenen
denden Instanzen der heutigen Auffassung vom Wesen
ein gänzlich neues Potenzial verliehen hat: „Ähnlich ist
der Werkkunst gerecht werden.“25 Diese erschließt sich
heute allgemein anerkannt, daß schon eine rhythmi-
mit Blick auf die Definition des Verhältnisses von
sche Farbzusammenstellung an sich, auch ohne
Zweckform und Kunstform: in der Anwendungspraxis
komplizierte Verschlingung zu ornamentalen Mustern,
sei diese überkommen, da sie mit der Vorstellung
also etwa in Form von Streifen oder Karos, einen
einhergehe, „die künstlerische Arbeit [sei] eine Zutat
starken künstlerischen Ausdruckswert haben kann.“29
zur Zweckform [...], etwa in Form von Ornamenten,
Man brauche „nur an die Bestrebungen des Bauhauses
von bildnerischem oder malerischem Schmuck, von
Dessau zu denken, um klar zu erkennen, daß in der
figürlicher Ausgestaltung usw., [...] [wogegen] heute
konsequenten Durchgestaltung der Zweckform schon
die Anschauung nachgerade Allgemeingut geworden
ein ganz neuer künstlerischer Gedanke liegen kann.“30
22
23
48
[sei], daß auf dem Höhepunkt der künstlerischen
Textilentwürfe auf den Musterschutz beschränkt und
Katharina Januschewski
Abb. 2: Musterbuch mit Karo- und Streifenmustern, Niedercunnersdorf/Oberlausitz, 1847, Baumwollgewebe auf Karton, 8 x 27 x 43 cm, Museum für Sächsische Volkskunst, Dresden
Das Spektrum und die Schlagkraft dieser mit der
Elemente moderner Raumkunst dienen und auch als
Einheit von Kunstform und Zweckform operierenden
solche neue künstlerische Ideen darstellen.“31
künstlerischen Positionen bei Textilentwürfen reichen
Meißner nennt keine Beispiele für ihren Befund.
dabei so weit, dass sie „geradezu den künstlerischen
Eine Überprüfung in Form einer vergleichenden
Charakter einer Textilfirma ausmachen können; man
Nebeneinanderstellung der Textilerzeugnisse der von
stelle sich etwa vor, wie verschieden der Formcharak-
ihr aufgeführten Firmen wäre jedoch ein kuratorischer
ter von Stoffen der Wiener Werkstätte, des Bauhauses
Erfolg im Hinblick auf die Evidenz des Gegenstands
in Dessau, der Kunstgewerbeschule Halle, der Deut-
und lässt sich bereits skizzenhaft verdeutlichen: so
sche Werkstätten-Textilgesellschaft, der De-Te-Ku
stehen zum Beispiel die subtilen, einander zur Mehr-
Rudolf Hiemann, der Weberei Weech, der Firma Hablik
schichtigkeit durchdringenden, asymmetrischen
und Lindemann ist, trotzdem heute unter den Erzeug-
Flächenarrangements im reduzierten Farbspektrum
nissen aller dieser Firmen die Streifen und Karos eine
mit tonaler Abstufung durch Überlagerung, wie jene
große Rolle spielen. [...] Es kommt hinzu, daß alle diese
des Bauhauses (Abb. 3), in direkter Opposition zu den
Stoffe, die ja im großen Teil Dekorationsstoffe sind, als
scharf hell-dunkel-kontrastiv abgesetzten, symmetri-
Werkbundstimme Else Meißner: Kunstschutz auf Textilm uster im ‚Elfengespinst‘ der Moderne
49
Wesensbestimmung als ‚Elemente moderner Raumkunst‘. Als solche sind die Dekorationsstoffe auf den dreidimensionalen Raum bezogen, der Gesetzen der kubischen Orientierung und Ablesbarkeit von Flächen sowie ihrer Disposition gegenüber dem Lichteinfall unterliegt32 – Aspekte, die im ästhetischen Entwurfsprozess angelegt sind (etwa bei der Wahl des Materials, der Web- oder Druckart im Hinblick auf die Einsatzbestimmung – zum Beispiel als Möbelpolsteroder Gardinenstoffe im privaten oder öffentlichen Raum et cetera) und bei Plagiaten gänzlich missachtet werden. Der für DWB-Firmen tätige Textilkünstler Richard Lisker definiert den Raum zu Beginn des 20. Jahrhunderts als einen ‚geschlossenen‘ – im Sinne einer Abkehr vom Barock, wie ihn Heinrich Wölfflin in seinem Werk Kunstgeschichtliche Grundbegriffe33 auffasse: „Das Raumgefühl des Barock im weitesten Sinne (die ‚offene‘ Form bei Wölfflin) suchte den geschlossenen Raum aufzuheben, ins Unendliche zu erweitern (illusionistische Wand- und Deckenmalereien, Tapeten und Stoffe; Spiegel), während die Generation von 1900 und später [...] im Gegensatz Abb. 3: Anni Albers, Wandbehang We 791 (Schwarz-Weiß-Rot), 1926/1964, Baumwolle und Seide, 175 × 118 cm, Bauhaus- Archiv, Berlin
hierzu den ‚geschlossenen‘ Raum bejahte, die begrenzenden Wände nicht aufheben wollte, sondern betonte. Diese Bejahung der Wand als des Festbegrenzenden, Abschließenden [...], Diesseitigen [...] hatte natürlich zur Folge, daß jede Zerstörung dieser
schen Rasteranordnungen geometrisierter Flächen-
Wand, jede Aufhebung der Fläche durch illusionisti-
kombinationen, wie sie vor allem den frühen Entwür-
sche Mittel abgelehnt werden mußte.“34 Die Adaption
fen Josef Hoffmanns für die Wiener Werkstätte eigen
dieser Überlegungen in Meißners Auffassung moder-
sind (Abb. 4). Dagegen zeichnen sich die Karoraster
ner Raumkunst kann nicht zuletzt vor dem Hinter-
der Weberei Weech durch einen monochromen
grund ihrer Beschäftigung mit Liskers Entwürfen für
Eindruck in der Farbgebung aus und entfalten ihren
die DeWeTex vorausgesetzt werden.35 Die begren-
subtilen Reiz vielmehr im synchronisierten Wechsel
zende Konturierung des Raumes gewinnt ihre Bedeu-
von minimalen Maßverschiebungen und in der
tung im lebensreformerischen Kontext der DWB-Be-
Materialhaptik (Abb. 5).
strebungen, insofern als sie den Menschen mit seiner
Der wichtige, allen von Meißner genannten Firmenstilen gemeinsame Nenner jedoch ist deren
50
Katharina Januschewski
neuen Lebenswirklichkeit konfrontiert, statt ihn von dieser wegzuführen. Sie bietet ihm Orientierung durch
Abb. 4: Josef Hoffmann, Druckstoff Santa Sophia oder Santa Sofia, Wiener Werkstätte, 1910/12, Modeldruck auf Leinen, 109 x 70,5 cm, Rapport: 39 x 25,5 cm, Kunstsammlungen Chemnitz
Werkbundstimme Else Meißner: Kunstschutz auf Textilm uster im ‚Elfengespinst‘ der Moderne
51
Messbarkeit der künstlerischen Leistung am Enderzeugnis gegenüber der Zweckform impliziert und gegen den sich Meißners bündig gehaltene Argumente richten. „Die Frage“, so schließt sie ihre Verteidigung, „ob im einzelnen Fall ein Muster eine ‚individuelle künstlerische Leistung‘ ist, [müsse] [...] im Zweifelsfalle eher bejaht als verneint werden, zumal ja [...] nur die Originalität, nicht aber die künstlerische Qualität die juristische Bedingung der Schutzwürdigkeit ist.“36 Um Qualität geht es Meißner auch im Kontext von maschineller Fertigung. So schreibt sie 1921 über die neuen „Mechanischen Spitzen“ Plauener ProdukAbb. 5: Sigmund von Weech, Stoffentwurf für einen Möbelbezugstoff aus Lederbändern und scharf gezwirnten Garnen. Die Lederbänder sind 3 bis 5 mm breit geschnitten, Abb. in: Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit, 1933, H. 3, S. 82
tion: es seien Spitzen, „die jeder Anlehnung an handgearbeitete Spitzen entbehren und gerade dadurch, daß sie mit diesen gar nicht vergleichbar sind, einen ganz eigenen [...] Reiz gewinnen. [...] man denkt unwillkürlich an jene Märchenkleider, die so zart und so fein sind, daß sie in einer Walnußschale verpackt werden können.“37 Hier ist es die Maschine, die den ‚geschlossenen‘ Raum der Moderne zugunsten einer Traumwirklichkeit erneut zu öffnen scheint: „Die menschliche Hand konnte den Märchentraum nicht verwirklichen, aber der menschliche Geist, der einst den Traum geträumt hatte, er findet zu einer Zeit, die allen Fabelwesen des Märchens den Tod zu geben scheint, Mittel und Wege, um jene alten Träume in die
Abb. 6: Maschinenspitze der Forkelschen Arbeitsgemeinschaft Plauen im Vogtland, nach dem Entwurf von Max Eismann, Abb. in: Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit, 1926, H. 14, S. 328
Wirklichkeit umzusetzen. Die Wunderkräfte der Natur, die einst den Zauberwald bevölkerten, sie gleiten durch Dampfrohre und Drahtleitungen über ein kunstvolles Netz von mechanischen Übertragungen, Gestängen, Geschieben in die Hunderte von Nadeln
Struktur- und Formenklarheit und wirkt in der harmo-
der Stickmaschinen, die das Elfengespinst unserer Zeit
nischen Ausgewogenheit all seiner Elemente Entfrem-
fertigen“38 (Abb. 6).
dungsprozessen entgegen, die das Zeitalter der Moderne mit sich brachte. Ein Werkkunstverständnis, bei dem diese Aspekte
52
Meißners Maschine avanciert zum Hoffnungsträger in der von Zerstörung und Verlusten gezeichneten Zwischenkriegszeit, indem sie „eine neue Schön-
den Entwurfsprozess prägen, hat wenig gemeinsam mit
heit in die Welt“39 bringt und sich in den Dienst der
der Idee eines ‚ästhetischen Überschusses‘, der die
neuen Werte der Weimarer Republik stellt: „Und daß
Katharina Januschewski
die Maschine bereit ist, diese Kunstwerke nicht nur in
evangelisches Umfeld hineingeboren, als Tochter des
geringen Mengen [...], sondern in Hunderten und
Oberingenieurs Waldemar Meißner und dessen Frau
Tausenden von Metern herzugeben, sollte sie das nicht
Johanna, geborene Greger.42 Wie ihr älterer Bruder,
unserer demokratisch gerichteten Zeit, die alte
der Experimentalphysiker Fritz Walther Meißner,43
Vorrechte umstößt, noch näher bringen?“ .
schlägt sie eine akademische Laufbahn ein. Nach dem
40
Das ‚Elfengespinst‘ – ihr Sinnbild für die Erschaf-
Besuch einer höheren Mädchenschule legt sie im
fung des neuen Mythos moderner Technik als identi-
September 1907 am Königlichen Sophien-Realgymna-
tätsstiftende Konstante – überfängt und durchdringt
sium in Berlin ihre Reifeprüfung ab. Ab dem Winterse-
alle Bereiche der Gesellschaftskultur, alle Spannungen
mester 1907 ist sie zunächst Gasthörerin bei Vorlesun-
und Dissonanzen aufgreifend, die ihre unmittelbare
gen in Kunstgeschichte (unter anderem bei Heinrich
Entladung in der Kunst finden: „Diese ‚Maschinenspit-
Wölfflin und Adolph Goldschmidt)44, dann ab 1908 als
zen‘ mit ihren zarten und doch so eigenwilligen
immatrikulierte Studentin der Staatswissenschaften an
Linienführungen, sie liegen in einer Ebene mit jener
der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin45 und
phantastischen Malerei, in der die ganze Unrast und
gehört damit zu der ersten Generation von Frauen, die
Nervosität des Maschinenzeitalters sich eingeschrie-
in Preußen ab 1908 zum Studium zugelassen werden.
ben hat.“ Bekräftigt Meißner in ihrer Argumentation
Ihr Studium schließt sie mit einer Promotionsprüfung
für den Kunstschutz auf Textilmuster die Äquivalenz
am 26. November 1914 ab und wird am 17. Mai 1915
zwischen moderner Werkkunst und bildender Kunst,
promoviert.46 Zunächst ist sie für die von Georg Maas
so geht es ihr mit diesem Vergleich nicht zuletzt um
und Otto Waldschütz edierte Bibliographie der Sozial-
die Anerkennung von deren ‚künstlerischer Qualität‘ in
wissenschaften tätig.47 Von Karl Schmidt beauftragt,
der maschinellen Serienproduktion.
schreibt sie ab 1. März 1916 am Manuskript zur
41
Meißners facettenreiche Stellungnahmen zu
‚Typenfrage‘.48 Daneben ist sie ab 1. April 1917
Grundfragen der Moderne zeugen von einer unge-
Berichterstatterin bei der Kriegswollbedarf A.G.
wöhnlichen Spezifik ihrer Perspektiven und Würdigung
Berlin49 an der Seite von Franz Pariser, bis sie ab 1. Juli
wenig bekannter Aktionsfelder. Sie bergen eine
1918 ihre 15–jährige Amtszeit als Geschäftsführerin
Vielzahl neuer Erkenntnisse, deren bisher ausgeblie-
der von Karl Groß geleiteten Sächsischen Landesstelle
bene Erschließung dieser Beitrag anzustoßen sucht.
für Kunstgewerbe Dresden antritt. 1920 ist sie zeitgleich Gründerin des Vereins zur Förderung der
St ati o n e n einer Karriere
Deutschen Werkstelle für Farbkunde und bis 1932 dessen Vorstandsmitglied.50 Von 1921 bis 1925 engagiert sie sich für den Allgemeinen Deutschen
Als Person ist Meißner bisher gänzlich unbe-
Frauenverein in Dresden.51 Ab Juli 1924 ist sie für die
kannt. Die folgenden Eckdaten sind das Ergebnis
Staatliche Kunstgewerbebibliothek tätig, wird 1927
mühsamer Archivrecherchen, die Meißners ambitio-
deren Kustos, ab 1931 schließlich Leiterin52. 1933
nierte Persönlichkeit beleuchten und sie erstmals
scheidet Karl Groß „infolge Krankheit“53 aus seinem
historisch verorten:
Hauptamt als Direktor der Dresdner Staatlichen
Johanna Else Meißner wird am 5. September 1887 in Königsberg in ein bildungsbürgerliches
Akademie für Kunstgewerbe aus, womit auch die Landesstelle ihre Basis verliert und Meißners Beschäf-
Werkbundstimme Else Meißner: Kunstschutz auf Textilm uster im ‚Elfengespinst‘ der Moderne
53
tigung als Geschäftsführerin nicht länger aufrechter-
Kunstgewerbeblatt, April 1917, H. 7, S. 125–127. |
halten werden kann.54 Sie zieht in die Nähe ihres
Wandlungen der Volksseele und Veredelung der
Bruders Walther nach Seeshaupt. Bis 1947 ist sie nach
Massenerzeugnisse, in: Frankfurter Zeitung,
eigenen Worten „14 Jahre lang durch den National-
10.1.1917, S. 1. | Die Bedeutung von Wertarbeit und
sozialismus brachgelegt“ , befasst sich in dieser Zeit
Kunst für die Industrie, in: Deutsches Schaffen, Mai
mit statistischen Erhebungen und dem Urheberrecht.56
1917, S. 112–116. | Individualismus und Stilbildung in
Vom 1. April 1947 bis 30. September 1949 ist sie
der neudeutschen angewandten Kunst, in: Die Hilfe,
Volkswirtschaftliche Referentin bei der Neuen Samm-
Juli 1917, H. 27, S. 442–444. | Der Wille zum Typus.
lung München an der Seite von Günther von Pech-
Ein Weg zum Fortschritt deutscher Kultur und Wirt-
mann. Ab 1949 bis zu ihrem Tod 1972 sind keine
schaft, Jena 1918. | Das Kulturziel der Typenbewe-
Anstellungsverhältnisse bekannt, wohl jedoch ihr bis
gung, in: Mitteilungen des Vereins Deutscher Inge-
zuletzt aktives Engagement für den DWB, der nach
nieure, September 1919.* | Normen und Typen, in:
seiner Auflösung 1938 in der Nachkriegszeit in der
Ausst.-Kat. Ausstellung für Wohnungsbau, Dresden
Bundesrepublik neu aufgebaut wird, und den 1953 auf
1919.* | Erziehung zur Materialkenntnis. Eine Aufgabe
DWB-Initiative hin gegründeten Rat für Formgebung –
der neuen Schule, in: Neue Bahnen, Mai 1919, H. 5,
insbesondere in Fragen des Urheberrechts im Bereich
S. 1–4. | Gediegenheit im Heim, in: Innendekoration,
der industriellen Gestaltung.58
1919, H. 11, S. 376–382. | Der typische Kurort. Ein
55
57
Spiegel seines äußeren Gesichtes, in: Mitteilungen des
Werkkorp us Meiß ner
Deutschen Werkbundes 1919/1920, Nr. 5, S. 145– 148. | Beleuchtungskörper für Kleinwohnungen, in: Hausrat, März 1920, H. 3, S. 46. | Der Wirtschaftsbund
Bei Meißners Veröffentlichungen handelt es sich, mit Ausnahme weniger Monografien, mehrheitlich um
Industrie, Beilage zu: Die Leipziger Mustermesse,
Stellungnahmen in Form von Artikeln in Fachzeitschrif-
13.3.1920, S. 30–31. | Qualitätssteigerung und
ten und Tagespresse – ein Umstand, der aufgrund der
Typenbildung, in: Qualitätsmarkt, 1.5.1920, S. 199–
unübersichtlichen Streuung des Materials den Zugang
201. | Handwerk und Qualitätsarbeit, in: Qualitäts-
zu ihrem Werk bisher weitestgehend verhindert hat.
markt, 27.7.1920, S. 219–221. | Vom Deutschen
Das hier zusammengestellte Verzeichnis aller bis dato
Handwerk, in: Innendekoration, 1920, H. 6, S. 210. |
erfassten Schriften erlaubt einen erstmaligen Über-
Mechanische Spitzen, Typoskript für: Qualität, Januar
blick über das weite Themenspektrum und versteht
1921. | Neue Kirchenglocken, in: Dresdner Neueste
sich als bibliografische Grundlage zur weiteren
Nachrichten, September 1921.* | Künstliche Blumen,
Beschäftigung mit Meißners Theoriekonzepten:
Typoskript für: Dresdner Anzeiger, September 1921. |
59
Das Verhältnis des Künstlers zum Unternehmer
54
der deutschen Kunsthandwerker, in: Kunst und
Die Deutschen Werkstätten in Hellerau, in: Qualitäts-
im Bau- und Kunstgewerbe, München/Leipzig 1915. |
markt, 1.10.1921, S. 449–452. | Ausfuhrfähigkeit
Erker und Balkon. Entgegnung, in: Kunstgewerbeblatt,
kunsthandwerklicher Erzeugnisse, Typoskript, datiert
September 1916, H. 12, S. 233. | Typenbildung – eine
auf 1921. | Zur Berufswahl, Typoskript für: Dresdener
nationale Notwendigkeit, in: Kunstwart, 1917, H. 10,
Neueste Nachrichten, September 1921. | Sächsische
S. 162–168. | Typenbildung und angewandte Kunst, in:
Landesstelle für Kunstgewerbe, Typoskript für: Die
Katharina Januschewski
Form, 7.10.1922. | Die wirtschaftliche Lage des
wiederabgedr. in: Das Ideale Heim, März 1927,
Kunsthandwerks, in: Kunst und Handwerk, 1923,
S. 139–143. | Die neue Sachlichkeit und das Kunst-
H. 1/2, S. 23. | Erster Sächsischer Kunstgewerbetag
handwerk, datiert auf 1926. | Kunstseide und Quali-
am 26. Mai 1926 in Dresden, in: Sächsische Heimat,
tätsförderung, Typoskript, datiert auf 22.1.1926. | Die
Bd. 7, 1923, Nr. 19–24, o. S. | Das Kunsthandwerk, in:
Qualitätsbewegung und die Frau, in: Die Frau, März
Leipziger Messeumschau, 2.3.1924, S. 1. | Sächsisches
1927, S. 363–369. | Kunstschutz auf Textilmuster, in:
Kunsthandwerk, in: Qualitätsmarkt, 1.3.1924, S. 339–
Die Form, 1927, H. 3, S. 92–94, als Sonderdruckbei-
341. | Messeeinkauf und Geschmack, in: Leipziger
lage in: Leipziger Monatschrift für Textilindustrie,
Messeumschau, 3.3.1924, S. 12. | Kunst und Gewerbe,
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Volkszeitung für das Vogtland, 11.7.1924.* | Der
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bundes, in: Die Form, 1925, H. 1, S. 29–30. | Wirt-
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schaftliche Bedingungen der Wertarbeit, in: Mitteilun-
Sonderdruck aus: GRUR, Bd. 36, April 1931. | Zweck
gen des Deutschen Werkbundes, 27.3.1925, S. 1–4. |
und Form, in: Der Überblick, Sommerheft, Bd. 2, 1931,
Sächsische Kunsthandwerkerinnen, in: Sächsische
S. 3–4. | Die Neuregelung des Sachverständigenwe-
Heimat, 1925, S. 104–106. | Gedanken zur Berufsbe-
sens im Kunst- und Geschmacksmusterschutz, in: Die
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Form, 1931, H. 6, S. 309–310. | 25 Jahre Sächsische
Sachsen, 27.10.1925, S. 167–168. | Die Staatliche
Landesstelle für Kunstgewerbe, Dresden 1932. |
Kunstgewerbebibliothek als allgemeines Bildungsmit-
Sonderstellung und Gegenwartsaufgaben der künstle-
tel, in: Dresdner Anzeiger, 4.12.1925, S. 2. | 50 Jahre
rischen Fachbibliotheken, in: Aloys Bömer u. a. (Hg.):
Staatliche Kunstgewerbebibliothek, in: Sächsische
Zentralblatt für Bibliothekswesen, Leipzig 1932,
Staatszeitung, 25.5.1926, S. 2. | Der wirtschaftliche
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Wert der Form, in: Neue Leipziger Zeitung,
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28.8.1926.* | Das Sächsische Kunstgewerbe, Ausst.-
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Kat. Dresden 1926.* | Lebensgestaltung und Form-
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deutscher Frauen, in: Die Frau, Sonderdruck, Septem-
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Werkbundstimme Else Meißner: Kunstschutz auf Textilm uster im ‚Elfengespinst‘ der Moderne
55
56
Holzhäuser in Hellerau, (ohne Zuordnung) 1934,
H. 1/2, S. 92–99. | Qualität und Form in Wirtschaft
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und Leben, München 1950. | Geschmacksbildung bei
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Erwachsenen, in: Kulturarbeit, 1950, H. 12, S. 272–
Die Führeraufgabe der Kunst im Gewerbe. Gedanken
273. | Rezension von: Rechtsanwalt Dr. Eberhard
zum Geschmacksmusterrecht, in: GRUR, Bd. 40,
Hennsler: Urheberschutz in der angewandten Kunst
August 1935, S. 1–5. | Der Frauenüberschuß nach dem
und Architektur nach deutschem, schweizerischem,
Kriege im Lichte der Statistik, in: Die Frau, Juni 1936,
französischem, englischem und amerikanischem Recht,
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Zentralblatt, 1937, H. 4, Sp. 97–102. | Denkschrift
Keller (Hg.): Völkerrecht beginnt bei Dir, München
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Nutzbarkeit von Möbeln, in: Holz, Januar 1949, H. 1,
Zuflucht vor der Energievergiftung, in: Innenarchitek-
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tur, 1953, H. 6, S. 1–2. | Diskussionsbeitrag zu dem
zweige in Bayern nach den Ergebnissen der Volks- und
Vortragsabend über das Verhältnis von Urheberrecht
Berufszählung am 29. Oktober 1946, in: Zeitschrift
und Geschmacksmusterschutz in München am 22.
des Bayerischen Statistischen Landesamts, 1949,
Februar 1962, Typoskript, datiert auf 1962.
Katharina Januschewski
An m e r k u ngen
der neuen Preisaufgaben, wie solche bei der Feier zum Gedächtnis
22 23 24 25 26 27
Friedrich Wilhelms III. am 3. August 1914 von dem zeitigen Rektor der
Kat. Deutscher Werkbund, Stuttgart 1924, S. 5.
1
Vgl. Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin: Urteile der vier Fa-
kultäten über die Bewerbungsschriften, welche zur Lösung der im Jahre 1913 gestellten Preisaufgaben eingereicht worden sind, und Anzeige
Universität verkündet worden sind, Berlin 1914, S. 14.
2 3
Ebd., S. 8. Else Meißner: Das Verhältnis des Künstlers zum Unternehmer
im Bau- und Kunstgewerbe, München/Leipzig 1915.
4
Zur Kölner Ausstellung siehe v. a. Die Deutsche Werkbund-
28 29 30 31 32
Meißner 1927 (wie Anm. 17), S. 93. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 93 f. Die Form ohne Ornament. Werkbundausstellung 1924, Ausst.Meißner 1927 (wie Anm. 17), S. 94. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Richard Lisker: Über Tapete und Stoff in der Wohnung, in:
Ausstellung Cöln 1914, hg. v. Wulf Herzogenrath u. a., Ausst.-Kat. Köl-
Deutscher Werkbund und Werner Gräff (Hg.): Innenräume. Räume und
nischer Kunstverein, Köln 1984.
Inneneinrichtungsgegenstände aus der Werkbundausstellung „Die
5
Wohnung“, insbesondere aus den Bauten der städtischen Weißenhof-
Vgl. Meißner 1915 (wie Anm. 3), zu den Deutschen Werkstätten
insb. S. 68 f.
siedlung, Stuttgart 1928, S. 138–141, hier S. 140 f.
6 7
Vgl. WBA, Mitgliederakten.
33
Vgl. Else Meißner: Qualität und Form in Wirtschaft und Leben,
blem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1915.
München 1950, S. 147.
8
Vgl. Else Meißner: 25 Jahre Sächsische Landesstelle für Kunst-
gewerbe, Dresden 1932.
9
Die jüngste Forschung würdigt Meißners Rolle als Theoretikerin
für die Deutschen Werkstätten. Vgl. Franziska Graßl: Else Meißner und
34 35 36 37
Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das ProLisker 1928 (wie Anm. 32), S. 138–139. Vgl. WBA-D804. Meißner 1927 (wie Anm. 17), S. 94, Hervorhebungen im Original. Else Meißner: Mechanische Spitzen, Typoskript für: Qualität,
Januar 1921, WBA-D760.
hg. v. Tulga Beyerle und Klára Němečková, Ausst.-Kat. Staatliche Kunst-
38 39 40 41
sammlungen Dresden, Kunstgewerbemuseum, München 2019, hier
gers Titelblatt Kathedrale der Zukunft für das Bauhausmanifest von
S. 14 u. 46.
1919 zeigt, drängt sich als naheliegend auf.
Karl Schmidt. Theorie und Praxis der „Typenfrage“, in: Dresdener Kunstblätter 2018, H. 3, S. 48–55, sowie Gegen die Unsichtbarkeit. Designerinnen der Deutschen Werkstätten Hellerau, 1898 bis 1938,
Ebd., Hervorhebungen im Original. Ebd. Ebd. Ebd. Ein Bezug zur kubistischen Grafik, wie sie Lyonel Feinin-
les aus den Deutschen Werkstätten Hellerau, in: Dresdener Kunstblät-
42 43
ter 2018, H. 3, S. 23–31, hier S. 26 f.
ist nichts bekannt. Vgl. Sigrid Annemarie Lindner: Walther Meissner
11 12 13
Meißner 1915 (wie Anm. 3), S. 69.
(1882–1974). Physiker und Institutsgründer. Ressourcenmobilisierung
WBA-D804.
in drei politischen Systemen, Augsburg 2014, S. 23, Anm. 27, und
Vgl. Gesetz, betreffend das Urheberrecht an Werken der bilden-
WBA-D921.
10
Vgl. Kerstin Stöver: Dewetex – lichtecht und farbenfroh. Texti-
den Künste und der Photographie, RGBl 1907, Nr. 3 / 3287, S. 7–18, hier § 2 und § 25.
14
Adolf Vogt: Folgen des neuen Kunstschutzgesetzes für das
Kunstgewerbe, in: Innendekoration, Bd. 19, 1908, H. 8, S. 270.
15 16
Ebd. Zu Urheberrecht und DWB vgl. v. a. Frederic J. Schwartz: Der
Werkbund. Ware und Zeichen. 1900–1914, Amsterdam/Dresden 1999.
17
Else Meißner: Kunstschutz auf Textilmuster, in: Die Form, 1927,
H. 3, S. 92.
18
Vgl. ebd. sowie Gesetz, betreffend das Urheberrecht an Mu-
stern und Modellen, RGBl 1876, Nr. 2 / 1112, S. 11–14.
19 20 21
Meißner 1927 (wie Anm. 17), S. 93. Vgl. RGBl 1876 (wie Anm. 18), § 7. Vgl. ebd., § 8.
44 45 46 47 48 49
Vgl. HUB UA, Promotionen, Phil.F.01 Nr. 564. Über die ältere Schwester Gertrud und einen jüngeren Bruder
Vgl. HUB UA, Promotionen, Phil.F.01 Nr. 564. Ebd. Ebd. Vgl. WBA-D805. Vgl. WBA-D816. Vgl. WBA-D872. Zur Kriegswollbedarf A.G. vgl. Bundesarchiv,
R 8747.
50 51 52 53 54 55 56 57
Vgl. Meißner 1932 (wie Anm. 8), S. 14. Vgl. Stadtarchiv Dresden / 16.1.3-275. Vgl. Stadtarchiv Dresden / Y379. Ebd. Vgl. BayHStA, MK65550. Ebd. Vgl. Abschnitt Werkkorpus Meißner des Beitrags. Vgl. BayHStA, MK65550.
Werkbundstimme Else Meißner: Kunstschutz auf Textilm uster im ‚Elfengespinst‘ der Moderne
57
58
Vgl. z. B. WBA-ADO7-917|59, WBA-ADK-1292|55 sowie Paul
Betts: The Authority of Everyday Objects. A Cultural History of West German Industrial Design, Berkeley/London 2004, hier S. 202.
59
Die mit * gekennzeichneten Titel werden von Meißner in dieser
Form aufgeführt, ein Abgleich steht noch aus. Vgl. WBA-D796, WBAD798 und WBA-D803. Die übrigen Texte/Quellen sind im Werkbundarchiv – Museum der Dinge als Typoskripte, Originaldrucke, Kopien und Mikrofiche-Abschriften vorhanden.
58
Katharina Januschewski
von David Brewster konstruierte Kaleidoskop auf, das im 19. Jahrhundert in der Unterhaltungs- und Spektakelkultur Erfolge feierte.2 Wie Brewsters Gerät bestand auch Pulfrichs Photokaleidograph aus einer Spiegelkonstruktion, die eine prismatische Lichtbrechung hervorrief. Die kleinen Objekte, die sich in Brewsters Röhre durch Drehen und Wenden bewegten und mittels Spiegel in symmetrische Ornamente übersetzt wurden, tauschte Pulfrich gegen fotografi-
Foto-Ornamentik. Abstrakte Muster(er)findungen zwischen Textild esign und Kunst
sches Material: Negative wurden auf einem Objekttisch platziert und über einem arretierten Glasstab verschoben, der hier die Lichtbrechung bewirkte. Eine Spiegelreflexkamera bildete den unteren Teil der Apparatur und erlaubte es, die „Bandmuster“, „Sternformationen“, „Rosetten und Eckmuster“3, die der Apparat hervorbrachte, fotografisch festzuhalten.
Kathrin Schönegg
Sowohl die Rapportier-Kassette als auch der Photokaleidograph waren auf das textile Design
In den 1910er Jahren gingen im deutschsprachi-
ausgerichtet. Quedenfeldt wollte sein „photographi-
gen Raum zwei Apparaturen in Produktion, die es ermöglichten, ornamentale Muster auf fotografischer Basis zu generieren. 1912 meldete der in Düsseldorf stationierte Chemiker Erwin Theodor Quedenfeldt ein Patent auf sein „Verfahren zur Herstellung von symmetrischen Mustern aus Naturformen u. dgl. auf photographischem Wege“1 an. Er nahm Kristallisationen auf Glasplatten vor und wiederholte durch Drehen und Wenden der Platte das Ausgangsmotiv, um ein bis zu achtfach gespiegeltes, gleichförmiges Muster zu komponieren (Abb. 1, 2). Das Vorgehen mündete in die Konstruktion einer sogenannten Rapportier-Kassette, die der Dresdner Kamerahersteller Ernemann vertrieb. Des Weiteren gab die Jenaer Manufaktur Carl Zeiss bei dem ortsansässigen Optiker und Physiker Carl Pulfrich ein Präzisionskaleidoskop in Auftrag, das 1914 auf der Ersten Internationalen Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik in Leipzig der Öffentlichkeit präsentiert wurde (Abb. 3). Der Apparat baute auf das
Abb. 1: Erwin Theodor Quedenfeldt, Ohne Titel, ca. 1912, Kombinationsgummidruck nach dem Ornamentierverfahren mit dem Rapportierapparat
Foto-Ornamentik. Abstrakte Muster(er)findungen zwischen Textildesign und Kunst
59
Es ist nicht überliefert, inwieweit Bilder, die mithilfe dieser Apparate generiert wurden, tatsächlich im Textildesign Anwendung fanden. Im Folgenden steht daher nicht die Frage der textilen Umsetzung fotografischer Vorlagen zur Diskussion. Vielmehr geht der Beitrag dem Textilen im Diskurs der Fotografie nach: Quedenfeldts und Pulfrichs Apparate standen einerseits in einer langen Tradition der Anwendung von Fotografie als Hilfsmittel im künstlerischen Werkprozess. Andererseits erhoben die produzierten Muster den Anspruch auf Autonomie. Das künstlerische Experimentierfeld des Textilen unterlief die Grenzen zwischen angewandter und freier Kunst, die in der Fotografiegeschichte zu dieser Zeit noch klar definiert waren.
Abb. 2: Erwin Theodor Quedenfeldt, Ohne Titel, ca. 1926, Komposition nach dem Ornamentierverfahren mit dem Rapportierapparat Globus
sches Ornamentierverfahren“ zur Herstellung von
60
Angewa ndte Fotog raf i e / Kunst fotog raf i e Im 19. Jahrhundert trat die Fotografie neben
Mustern „für das gesamte Kunstgewerbe“4 anbieten.
Camera obscura und Camera lucida – optische
Und auch die deutschen, englischen und amerikani-
Projektionsgeräte, die das Abzeichnen der Natur
schen Rezensenten von Pulfrichs Apparatur meinten
vereinfachten. Zum selben Zweck wurden ab den
übereinstimmend, dass diese „für die Tapeten- und
1850er Jahren Fotografien in Mustersammlungen
Textilindustrie, für Linoleumfabriken, Kunstschlosse
zusammengefasst und nach figürlichen Sujets
reien, Schablonenfabriken für Maler und Druckereien
geordnet: Stillleben, Landschaften und Portraits,
von Werkpapieren ganz besondere Bedeutung erhält.“5
Akte, Architektur- und Stadtansichten, Kunstrepro-
Bei beiden Geräten handelte es sich um mehr als eine
duktionen sowie Tier- und Pflanzenstudien.6 Auch
optische Spielerei: Der Vertrieb durch optische Manu-
für die Ornamentik fanden sich fotografische
fakturen und die internationale Berichterstattung
Vorlagen. Vor allem Mikrofotografien bildeten ein
zeigen, dass Apparate, die symmetrische Ornamente
Repertoire abstrakter Formen und Strukturen, aus
konstruierten, jenseits der Unterhaltungsindustrie
dem Künstler und Kunstgewerbetreibende schöpften.7
wertvoll waren. Ihre Relevanz sah man in dem Umstand,
In diesem Kontext war die Funktion der Fotografie
dass die erzielten Muster leicht in den Dienst der
eine reproduzierende: Aufgrund ihrer Detailtreue
Textilindustrie gestellt werden konnten. Mit Rappor-
wurde sie zur Vorlage für freie und angewandte
tier-Kassette und Photokaleidograph sollten abstrakte
Kunst, ohne selbst künstlerischen Status für sich zu
Muster auf fotografischer Basis industrialisiert werden.
beanspruchen.
Kathrin Schönegg
Abb. 3: Photokaleidograph und Beispiele von Mustern, die mit mithilfe des Apparats erzeugt wurden, in: Scientific American, Bd. 112, 30. Januar 1915, H. 5, S. 103
Foto-Ornamentik. Abstrakte Muster(er)findungen zwischen Textildesign und Kunst
61
Erst Ende des 19. Jahrhunderts formierte sich
Nat urform / Kunst form
eine Gruppierung, die im engeren Sinne als kunstfotografische Bewegung gilt. Diese piktorialistische oder
dieser fotografischen Spielart des Textilen im Jahr
zu einer international agierenden Organisation
1914: Nicht nur die Firma Zeiss stellte Pulfrichs
anwuchs und im engeren Sinn bis 1910 bestand,8
Photokaleidographen vor, auch Quedenfeldts Orna-
folgte einem rigiden formal- und produktionsästheti-
mentmuster waren erstmals zu sehen, auf der Deut-
schen Normensystem. Ihre formalen Kennzeichen
schen Werkbund-Ausstellung Cöln 1914. Obschon der
waren Weichzeichnung und Unschärfe. Sie orientierte
Werkbund programmatisch für eine Vereinigung von
sich an den klassischen Sujets und der symbolistischen
Kunst, Kunstgewerbe und Industrie eintrat,11 lässt sich
Ästhetik der damaligen Malerei. Um Fotografie als
an der musealen Anordnung ablesen, dass die Grenz-
gleichwertige Kunstform neben anderen Medien zu
ziehung zwischen künstlerischer und angewandter
positionieren, wurde kreatives Handwerk über
Fotografie noch weitgehend gültig war. Die Kölner
mechanische Reproduktion und das aufwendige
Präsentation war in zwei Gruppen unterteilt. Die erste
Edeldruckverfahren über den einfachen Abzug
umfasste über 300 Bilder diverser „Liebhaber und
gestellt. Trotz dieser künstlerischen Bemühungen
Berufsphotographen“ – namhafte Figuren der piktoria-
betrachteten die meisten Zeitgenossen Fotografie und
listischen Bewegung, die mit klassischen Sujets wie
bildende Kunst als Gegenspieler. Noch 1906 empfahl
dem Porträt vertreten waren. Die zweite, weitaus
man künstlerisch interessierten Fotografen daher
kleinere Sektion widmete sich dem „photographierten
einen Arbeitsbereich jenseits der bildenden Kunst: Das
Naturornament“12, wobei als Bildautoren hier mehr-
einzige Gebiet, „auf dem der Photograph künstlerische
heitlich Wissenschaftler auftraten, die Fotografie zur
Erfolge, wenn auch vielleicht nur indirekt, erlangen
Dokumentation ihrer Untersuchungen verwandten.
kann, [ist] d[as] Gebiete des Kunstgewerbes.“
Diese „Photographien nach Naturformen, wie sie das
9
10
Vor diesem Hintergrund nehmen ornamentale
Mikroskop dem kunstfreundlichen Forscher er-
Experimente mit Rapport (Wiederholung) und Symme
schließt“13, verfolgten epistemische Ziele, wurden
trie (Spiegelung) eine besondere Stellung ein. Die
1914 aber unter ästhetischen Gesichtspunkten
Apparate von Quedenfeldt und Pulfrich bildeten den
angesehen. Einzig Quedenfeldts Arbeiten gehörten
Ausgangspunkt einer Autonomisierung der Fotografie,
einer anderen Konzeption des fotografischen Orna-
die noch vor der klassischen Avantgarde im Kunstge-
ments an: Seine „vollkommene symmetrische Figur“14
werbe einsetzte. Anfang der 1910er Jahre ließ das
war ein offenkundig überarbeitetes Muster, das zwar
Umfeld der textilen Künste ein Experimentierfeld mit
auf Kristallisationen beruhte, aber keiner dokumenta-
Prismen, Spiegeln und Kaleidoskopen sowie Kleb- und
risch-klassifizierenden Funktion gehorchte. Neben die
Belichtungsmontagen entstehen, das von den restrikti-
Musterfindung formloser Strukturen aus der Natur trat
ven Normen der seinerzeit noch vorherrschenden
so eine Mustererfindung durch Verfremdungsverfahren
Kunstfotografie frei war. Im Spannungsfeld von abstrak-
wie Wiederholung und Spiegelung.
ter Kunst und maschineller Produktion entwickelte sich
62
Im deutschen Raum beginnt die Geschichte
bildmäßige Fotografie, die sich um 1890 bildete, bald
Quedenfeldts Arbeiten wurden auf der Werk-
ein neues Genre, das die Fotografie in die künstlerische
bund-Ausstellung als „außerordentlich wirkungsvolle
Moderne führte: Es entstand die Foto-Ornamentik.
Ornamente“15 begrüßt. Noch wenige Jahre zuvor
Kathrin Schönegg
galten ähnliche Experimente als verfehlt. 1906
sie nun auch als Beispiel einer „wahren Ornamentik“
informierte ein Bericht über die Unternehmungen
verstanden wissen: Das Musterbild wurde zur „abs-
eines Zeitgenossen, der versucht habe, „auf photogra-
trakten Kunstform, die vom Geist des künstlerisch
phischem Wege stilisierte Blumenmuster als Vorlagen
empfindenden Menschen gewollt und vollzogen ist.“21
für kunstgewerbliche Arbeiten herzustellen“ , und
Auch andere Protagonistinnen und Protagonisten, die
dabei auf Spiegelungen zurückgegriffen habe. Die
mithilfe von Ornamentierverfahren ähnliche Ergeb-
ebenfalls als Textilvorlagen gedachten Bilder durch-
nisse herstellten, unterschieden nicht länger zwischen
kreuzten die zeitgenössische Kategorisierung, die
Muster (Vorlage) und Komposition (Werk).
16
Fotografie (Mechanik, Technik, Reproduktion) auf der
1927 betrat der in Berlin ansässige Ingenieur
einen und Kunst (Schöpfertum, Handwerk, Interpreta-
Romanus Schmehlik die publizistische Bühne. Schmeh-
tion) auf der anderen Seite verortete.17 Denn während
lik war auf der Kölner Werkbund-Ausstellung ebenfalls
der Fotograf „jedes malerisch stilisierende Arrange-
in der Sektion Naturornamente vertreten, hatte dort
ment“18 zu vermeiden hatte, um die Natur in ihrer
aber gängige, naturwissenschaftliche Aufnahmen
tatsächlichen Form und Struktur wiederzugeben, war
mikroskopischer Objekte gezeigt.22 Mitte der 1920er
es die Aufgabe der Künstler diese Vorlagen im Sinne
Jahre begann auch er seine Sichtungen in der mikros-
der „idealisierenden Naturwahrheit“ zu interpretie-
kopierten Welt ästhetisch zu überformen. Er schaltete
ren. Fand die Stilisierung der natürlichen Formen
in den Strahlengang seines Mikroskops ein Prismen-
bereits im Vorbild, der Fotografie, statt, entledigte dies
system ein, um auf „optischem Wege zu symmetri-
den im Gewerbe tätigen Künstler von seiner Aufgabe.
schen Mustern geordnete Mikrophotogramme“23 zu
1906 fiel die Bewertung von fotografischen Orna-
erhalten (Abb. 4, 5). Die mikroskopischen Objekte
mentmustern daher negativ aus. 1914, mit der Sektion
waren aus ihrem epistemischen Kontext gelöst und
des Naturornaments der Werkbund-Ausstellung, war
zwei-, drei- oder vielteiligen abstrakten, symmetri-
die Grenzziehung zwischen Fotografie als Reprodukti-
schen Formationen gewichen, die nun um ihrer
onsmittel und Fotografie als Medium der freien Gestal-
Schönheit Willen angesehen werden sollten. Dass für
tung hingegen durchlässig geworden. Die Auflösung
Schmehlik die Unterscheidung von Vorlage und Werk
der Dichotomien leistete der Kontext des Texilen.
hinfällig geworden war, zeigt sich schon an dem
19
Umstand, dass er sich gleichermaßen an (Gebrauchs-)
Vo r l a ge / Werk
Fotografen wie an die Textilindustrie richtete: bebilderte Artikel über sein Vorgehen veröffentlichte er in Fachblättern der Photographischen Rundschau und in
Diese Entwicklung lässt sich im Laufe der 1920er
Melliand’s Textilberichten.24 Im einen Fall waren sie in
Jahre weiter nachvollziehen. Eine Dekade nach den
ästhetisch-technische Fragen eingebunden, im
ersten Experimenten mit gespiegelten Mustern nahm
anderen in solche der textilen Anwendung. Die Frage,
Quedenfeldt eine Neueinschätzung der eigenen Arbeit
ob es sich bei den erzielten Formen um Vorlagen für
vor, die er nicht mehr nur dem Gewerbe zurechnete,
Künstler oder selbst um Kunst handelte, spielte keine
sondern auch der abstrakten Kunst. Einerseits gebe es
Rolle mehr.
für die „dekorative Abstraktion“20 unzählige Anwendungen im Gebrauchskontext. Andererseits wollte er
Gewicht behielt jedoch die Kategorie der Originalität. Ähnlich wie Quedenfeldt, dessen „vergeis-
Foto-Ornamentik. Abstrakte Muster(er)findungen zwischen Textildesign und Kunst
63
64
Abb. 4: Romanus Schmehlik, Zweiteilig symmetrisches Muster, in: Das deutsche Lichtbild. Jahresschau 1932, S. 112
Abb. 5: Romanus Schmehlik, Dreiteilig symmetrisches Muster, in: Das deutsche Lichtbild. Jahresschau 1932, S. 113
tigte dekorative Form“ die „Einmaligkeit des seelischen
den.“26 Schon die Rezensenten von Pulfrichs Kaleidos-
Zustandes ihres Schöpfers offenbaren“25 sollte, wies
kopbildern argumentierten für die Originalität der
Schmehlik zwar weniger pathetisch, aber gleichwohl
maschinell produzierten Muster, „die kaum konstruier-
deutlich darauf hin, dass es sich bei seinem „Muster
bar und auch nicht leicht nachahmbar“ 27 waren. Das
gebilde“ um ein singuläres Blatt, ein Original handele.
Textile emanzipierte die Fotografie vom Status der
Die Ornamente seien keine Abbilder, die die Natur
Reproduktion: In den Foto-Ornamenten waren mimeti-
nachahmten, sondern neue Bildformen, die er zualler-
sche Zusammenhänge offenkundig nicht mehr am
erst hatte erfinden müssen: „Jedes dieser Musterge-
Wirken. Sie wiesen in den Bereich der abstrakten
bilde kann man als Original bezeichnen, weil es selbst
Kunst und gingen doch nicht in ihm auf: Den Katego-
bei Verwendung desselben Objektes nach dessen
rien der zeitgenössischen Ästhetik stand einerseits die
Verstellung nur nach vieler Mühe gelingt, die vorher-
technikgestützte Herstellungsmethode, andererseits
gehende Beziehung der einzelnen Teile wiederzufin-
das symmetrische Formprinzip entgegen.
Kathrin Schönegg
Me c h a n i k / Handwerk
Muster sofort vollkommen zusammengefügt“ ergebe, „ist wohl eine große Vereinfachung erzielt, aber auf
Rapportier-Kassette und Photokaleidograph
Kosten jeder persönlichen Eigenformung [...], die
waren auf serienmäßigen Vertrieb angelegt. Auch
vollkommene Mechanik des Photokaleidographen ist
Schmehliks Versuchsanordnung arbeitete der Industri-
für uns kein Gewinn“30. Das Rapportier-Verfahren
alisierung abstrakter Muster zu. Hier wie dort ging es
überlasse die Bildgestaltung hingegen ganz dem
um die Vereinfachung des textilen Entwurfsprozesses
kreativen Entwerfer, der das Grundmuster sukzessive
durch ein halbautomatisches Verfahren, das prinzipiell
zum Ornament umformen könne. Wo die Konkurrenz
wiederholbar und auch von Amateurinnen und
auf Mechanik, Technik und Maschine setze, zeichne
Amateuren ausführbar war. Diese Konstellation steht
sich das eigene Vorgehen durch Individualität, Kunst
im Kontrast zu den skizzierten Selbstverortungen und
und Schöpfertum aus. Einmal mehr stand die Repro-
den zeitgenössischen Beschreibungen, die aus unter-
duktion der freien Gestaltung gegenüber.
schiedlichen Gründen auf Singularität (Quedenfeldt)
Aus der Perspektive der freien Kunst war die
oder Originalität der Muster bestanden (Pulfrich,
halb-automatische Bildherstellung der Foto-Orna-
Schmehlik).
mente verdächtig. Im angewandten Kontext kam ihr
Obschon die symbolistische Kunstfotografie in
umgekehrt ein spezifisches Potenzial zu. Nach der
den 1920er Jahren längst der technikaffinen Moderne
Jahrhundertwende vollzog sich der Übergang vom
gewichen war und damit auch die Differenzierung
Kunstgewerbe zur Industriekunst, womit eine serielle
zwischen angewandter und künstlerischer Fotografie
und schnellere Produktion einherging, die Entwurf und
an Dringlichkeit verloren hatte, stehen Quedenfeldts
Umsetzung auseinandertreten ließ. Die Kategorie der
Deutungen in diesem Kontext. Um die Foto-Ornamen-
Originalität, wie sie bei Pulfrich aber auch bei Schmeh-
tik im künstlerischen Bereich zu verorten, griff er auf
lik Anwendung fand, steht in diesem Kontext: Die
die Argumentationslogik des 19. Jahrhunderts zurück
Mechanisierung des Entwurfsprozesses ergab neue
und bemühte die tradierte Dichotomie von Technik
Kompositionsmöglichkeiten und erlaubte es so, der
und Kunst. Ganz in der piktorialistischen Logik betonte
steigenden Nachfrage nach verschiedenartigen
er subjektiv-schöpferische Momente seines Verfah-
Vorlagen zu begegnen. Gerade Schmehliks Ausführun-
rens und argumentierte, dass nicht die technische
gen, die auf monistischen Schöpfungstheorien basie-
Grundlage über die Zugehörigkeit seiner Blätter zur
ren, wie sie um die Jahrhundertwende durch Ernst
Kunst entscheide, sondern der Umfang des künstleri-
Haeckel populär wurden, stehen mit den veränderten
schen Eingriffs, die „selbstständige und eigenwillige
Bedingungen in der Industrie in Zusammenhang.
28
Erzeugung von künstlerischen Ornamenten mit
Haeckels monistischer Naturästhetik zufolge
29
photographischen Mitteln“ . Im zeitgenössischen
fielen Natur und Kunst, Geist und Seele in eins: Ein
Kontext mutet dieses theoretische Setting anachronis-
und dasselbe Wirkungsprinzip lag allen Formen des
tisch an, aber es ermöglichte ihm gegen Konkurrenz-
Lebens zugrunde und äußerte sich in diversen Ähnlich-
modelle Stellung zu beziehen. Während er das eigene
keiten und Äquivalenzen.31 Auch Schmehlik erkannte
Rapportier-Verfahren als künstlerisches Vorgehen
zwischen Diatomeenschalen, Protoplasmakernen,
nobilitierte, verwies Quedenfeldt den Photokaleido-
Schachtelhalmstengeln und Kristallisationsprodukten
graphen in den Bereich der Technik. Da das Gerät „das
immer wiederkehrende gleichförmige Strukturen, in
Foto-Ornamentik. Abstrakte Muster(er)findungen zwischen Textildesign und Kunst
65
denen sich die Urformen des Lebens verbargen:
galt als „luxurierendes Beiwerk, dem weder ein eigener
„Urtiere und Urpflanzen“, die „eine Fülle von Anregun-
Gattungsrang noch eine ästhetisch autonome
gen für die Schaffung neuer Formen und Muster“
Wertsphäre zugemessen wurde.“37 Umgekehrt zielte
32
darstellten. In den 1930er Jahren übertrug er diese
die abstrakte Kunst darauf, sich über eine Abgrenzung
Ansichten auf die Kreativität des Menschen und
vom Dekorativen als autonom zu klassifizieren.38 Dass
fragte, „ob die immer wiederkehrende gleiche Formge-
auch im Fotobereich die Unterscheidung zwischen
bung nicht letzten Endes einem gewissen Gedächtnis-
Dekoration / Komposition, Schmuck / Werk, Muster /
zwange folgend, sich nur so und nicht anders gestal-
Bild Bestand hatte, lässt sich einem Artikel der
tet.“ Was im engeren naturästhetischen Kontext
Photographischen Mitteilungen von 1907 entnehmen,
Erkenntnisse über die ganze Schöpfung bereithielt,
der Fotografien als Fläche mit spezifischer Hell-Dun-
war für Schmehlik Zeichen einer kreativen Armut,
kel-Verteilung beschrieb. Durch die Anordnung dieser
gegen die er mit fotografischen Ornamenten anzuge-
Tonwerte im Kader entstünden „regelmäßige Muster
hen versuchte. Wie Natur und Kunst, die nach den
(Ornament) und unregelmäßige Muster (Bild)“39. Nach
immer selben Urformen organisiert waren, sei auch
der Jahrhundertwende entschied die (a)symmetrische
dem menschlichen Geist nur ein begrenztes Formen-
Anordnung der Formen über die Zugehörigkeit zum
vokabular eigen, jeder Künstler bekomme nur „ein
angewandten oder künstlerischen Bereich. Auch diese
bestimmtes Konzeptionspotential auf seinen Lebens-
formalästhetische Einteilung wurde im Textilen
weg mit“ . Daher galt es, die Formen der Natur „durch
unterlaufen.
33
34
physikalisch-optische Hilfsmittel so um[zu]gestalte[n]
So deutete Quedenfeldt in den 1920er Jahren
[...], dass ihre Zahl unbeschränkt wird“ . Für Schmehlik
nicht nur seinen technischen Bildprozess als individu-
stellte der mechanisch-technische Bildprozess kein
elles Verfahren, sondern definierte das symmetrisch
Hindernis, sondern umgekehrt ein spezifisches
aufgebaute Ornament zu dem zeitgemäßen künstleri-
Potenzial dar, der dem Künstler helfe, sein Konzepti-
schen Ausdruck, der „abstrakteste[n] Kunstform“40 um.
onsvermögen zu rationalisieren, damit der Mensch „für
Symmetrie galt Quedenfeldt – konträr zur Naturphilo-
die Zeit seines Lebens auf der Höhe seiner schöpferi-
sophie – nicht als natürliches, sondern als artifizielles
schen Leistung“36 bleibe.
Produkt.41 Nur in der Kunst könne das Allgemeine, „die
35
absolute Idee der Schönheit und der Grundrhythmus
Muster / Komp osition
sprechen“42, wohingegen ähnliche Erscheinungen der Natur niemals vollkommen gleichförmig und damit auch nicht kunstwertig seien. Dem Ornament kam
Neben der technikgestützten Herstellungsweise
66
eine besondere Bedeutung zu, da es als Modell diente,
beförderte auch die Form der Foto-Ornamente ihren
um „in den Sonderformen das Allgemeine“43 zu sehen
problematischen Status in der zeitgenössischen
und „die Individualform vollkommen in die Idealform“44
Ästhetik. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts unterlag
zu übersetzen. Mit der Gegenüberstellung von
das Ornament dem Verdacht dekorativ, aber keine
Individuum und Typus, Oberflächenbeobachtung und
freie Kunst zu sein. Das Ornamentprinzip von Symme-
Tiefenstruktur der Welt standen hier erneut Grundun-
trie (Spiegelung) und Rapport (Wiederholung) war mit
terscheidungen des Ästhetikdiskurses der zweiten
dem Minderwertigen, Schmückenden verknüpft. Es
Hälfe des 19. Jahrhunderts zur Disposition, die zu
Kathrin Schönegg
diesem Zeitpunkt an Gültigkeit eingebüßt hatten. Quedenfeldts Position steht exemplarisch für eine avantgardistische, abstrakte Bildästhetik, die in eine restriktive Theorie eingebunden ist.
De korati on / Abstraktion Gemeinhin wird der Beginn der Abstraktion in der Geschichte der Fotografie auf 1916 datiert – jenes Jahr in dem Alvin Langdon Coburn den Begriff der ‚abstrakten Fotografie‘ erstmals im modernen Sinne des Wortes verwendete. Der heute als „father of abstract photography“45 geltende Amerikaner stellte zu diesem Zeitpunkt eine Reihe kameragestützter Aufnahmen her, in denen er Gegenstände durch eine Spiegelkonstruktion vor dem Objektiv fotografierte und so prismatisch verfremdete (Abb. 6). In Referenz auf den Vortizismus bezeichnete er seine Aufnahmen als ‚Vortographs‘ und strebte mit ihnen – ganz im Sinne der Avantgarde – einen Bruch mit der Tradition und
Abb. 6: Alvin Langdon Coburn, Vortograph, 1917, Silbergelatinepapier
eine Neuausrichtung der bildmäßigen Fotografie an. Coburn wollte sein Medium nicht weiter der Malerei
vielen Beispielen, die vor Coburns terminologische
angleichen, sondern die der Kamera inhärenten
Erfindung der ‚abstrakten Fotografie‘ zurückreichen,
Möglichkeiten voll ausschöpfen: damit meinte er die
ohne Eingang in die Geschichte der Abstraktion
Aufzeichnung der verborgenen Schönheiten des
gefunden zu haben. Eine Begründung hierfür ist in
Mikroskops, die Fragmentarisierung der Gegenstände
einem Überblickswerk formuliert, dass die Genese der
durch die Verwendung von Prismen vor dem Objektiv
Fotografie [v]om technischen Bildmittel zur Krise der
und die Doppelbelichtung.
Repräsentation nachzeichnet. Noch im Jahr 2003 heißt
46
Die von Coburn beschriebenen Techniken waren
es dort, es handele sich bei Quedenfeldts Ornamentik
in fotografischen Anwendungsbereichen wie Wissen-
um ein „abstraktes und punktsymmetrisches Ab-
schaft und Spiritismus schon lange bekannt, aber ihr
klatschmuster“, das sich „bei näherer Betrachtung
Potenzial war Anfang des 20. Jahrhunderts noch nicht
mehr als Muster denn als Komposition“ entpuppe und
ästhetisch erkundet worden – zumindest nicht von
das „offensichtlich zum Gebrauch in der rheinischen
Fotografen, die seinerzeit der künstlerischen Fotogra-
Textilindustrie gedacht“47 war. Der Herstellungskon-
fie zugerechnet wurden. So sind abstrakte Bilder, wie
text des Textildesigns, die maschinelle Bildproduktion
sie Pulfrich, Quedenfeldt und Schmehlik durch
sowie die symmetrische Form haben bedingt, dass
apparative Hilfsmittel hervorbrachten, nur einige unter
diese und andere Beispiele der Foto-Ornamentik aus
Foto-Ornamentik. Abstrakte Muster(er)findungen zwischen Textildesign und Kunst
67
Anm erkungen
dem Blick der Kunstgeschichte herausgefallen sind. Obschon sich neben den hier angeführten Arbeiten in den 1930er Jahren weitere in Amerika und China finden48 und das Genre auch in der Nachkriegszeit Konjunktur feiert,49 ist das Textile und sein Bezug zur abstrakten Ästhetik in der Fotografiegeschichte bislang kaum beachtet worden. Gerade für ein Medium wie die Fotografie, das in vielen verschiedenen Diskursräumen beheimatet ist, birgt dieser angewandte Kontext jedoch das Potenzial für eine Neulektüre50 – für eine andere Geschichte der abstrakten Fotografie: Eine Geschichte, die der Eigenlogik des Mediums Rechnung tragen kann, anstatt es durch die Diskurse der Kunst zu (v)erklären.
1
Patentschrift Nr. 267923, Klasse 57d, Gruppe 1: Dr. Erwin
Quedenfeldt in Düsseldorf: Verfahren zur Herstellung von symmetrischen Mustern aus Naturformen u. dgl. auf photographischem Wege, patentiert im Deutschen Reiche, 8.3.1912, Kaiserliches Patentamt Berlin.
2
Vgl. David Brewster: The Kaleidoscope. Its History, Theory and
Construction with its Application to the Fine and Useful Arts, London 1858; siehe auch die zeitgenössischen Berichte in Stephen Herbert (Hg.): A History of Pre-Cinema, Bd. 1, London 2000, S. 227 ff.
3
Georg Otto: Der ‚Photokaleidograph‘ nach Dr. Pulfrich, in: Pho-
tographische Korrespondenz, 1915, H. 652, S. 4–10, hier S. 10.
4
Erwin Theodor Quedenfeldt: Photographische Ornamentik, in:
Der Photograph. VIII. Photographische Ornamentik, 1924, H. 81, S. 313–327, hier S. 318.
5
Otto 1915 (wie Anm. 3), S. 10. Vgl. außerdem Anonym: Photo
Kaleidograph, in: Illustrated London News, 27. Februar 1915; vgl. auch Anonym: The Photo-Kaleidograph, in: Scientific American, Bd. 112, 30. Januar 1915, H. 5, S. 103.
6
Vgl. Eine neue Kunst? Eine andere Natur! Fotografie und Male-
rei im 19. Jahrhundert, hg. v. Ulrich Pohlmann und Johann Georg Prinz von Hohenzollern, Ausst.-Kat. Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München, München 2004.
7
Vgl. einführend zum Thema: Mikrofotografie. Schönheit jenseits
des Sichtbaren, hg. v. Ludger Derenthal und Manfred P. Kage, Ausst.Kat. Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin, Berlin, Ostfildern 2010.
8
Vgl. einführend Kunstphotographie um 1900, Ausst.-Kat. Mu-
seum Folkwang Essen, Essen 1964.
9
Vgl. zum Programm weiterführend Bernd Stiegler und Felix
Thürlemann: Nachwort. Kampf um Anerkennung, oder: Die Neuerfindung der Photographie aus dem Geiste der Kunst, in: dies. (Hg.): Das subjektive Bild. Texte zur Kunstphotographie um 1900, München/Paderborn 2012, S. 413–434.
10
Helene Littmann: Blumenaufnahmen für kunstgewerbliche
Zwecke, in: Photographische Mitteilungen 1906, S. 507–510, hier S. 510.
11
Vgl. Wulf Herzogenrath und Dirk Teuber: Deutsche Werkbund-
Ausstellung, Cöln 1914 – eine Dokumentation 70 Jahre danach, in: Der westdeutsche Impuls 1900–1914. Kunst und Umweltgestaltung im Industriegebiet. Die Deutsche Werkbund-Ausstellung Cöln 1914, Ausst.Kat. Kölnischer Kunstverein, Köln, Essen u. a. 1984, S. 12–14. Zum Fotografiesektor der Ausstellung vgl. Ute Eskildsen: Die Abteilung Fotografie, in: ebd., S. 317–319.
12
Anonym, in: Deutsche Werkbund-Ausstellung Cöln 1914. Offi-
zieller Katalog, Köln 1914, S. 111.
13
Peter Jessen: Die Deutsche Werkbund-Ausstellung Köln 1914.
Deutsche Form im Kriegsjahr, in: Jahrbuch des Deutschen Werkbundes 1915, München 1915, S. 1–42, hier S. 28.
68
Kathrin Schönegg
14 15
Quedenfeldt 1924 (wie Anm. 4), S. 318.
32
M. M. [Fritz Matthies-Masuren]: Die Photographie auf der
(Hg.): Die Photographische Kunst im Jahre 1913. Ein Jahrbuch für
Romanus Schmehlik: Naturformen, in: Fritz Matthies-Masuren
Deutschen Werkbund-Ausstellung in Köln und der Weltausstellung für
künstlerische Photographie, Bd. 12, 1913, S. 3–6, hier S. 6.
Buchgewerbe und Graphik in Leipzig, in: Photographische Rundschau
33 34 35 36
und Mitteilungen, Bd. 51, 1914, S. 177–180, hier S. 179.
16 17
Littmann 1906 (wie Anm. 10), S. 510. Zur Stellung der Fotografie im Ästhetikdiskurs der Zeit vgl. Ger-
Schmehlik 1932 (wie Anm. 23), S. 39. Ebd. Schmehlik 1927 (wie Anm. 24), S. 15. Schmehlik 1932 (wie Anm. 23), S. 41. Dies wich bald einer recht
hard Plumpe: Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit
trivialen Deutung: An die Stelle der kreativen Schöpfungstheorie von
des Realismus, München 1990.
Natur und Mensch war wenige Jahre später die schlichte Bemerkung
18 19
Littmann 1906 (wie Anm. 10), S. 510.
getreten, es handele sich bei den Aufnahmen um „Prismenbild[er] eines
Vgl. Peter Galison und Lorraine Daston: Das Bild der Objektivi-
belanglosen mikroskopisch kleinen Körpers, da es nur darauf ankam,
tät, in: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in
reizvolle Symmetrien zu zeigen.“ Technische Angaben und Autorenver-
Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a. M. 2002, S. 29–99.
zeichnis, in: Das deutsche Lichtbild. Die Bilder der Jahresschau 1937,
20
S. T 76.
Erwin Quedenfeldt: Photographische Formprobleme. VII. der
vereinfachte Gummidruck, 1924, H. 72, S. 277–278 und S. 281–282,
37
hier S. 281.
Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch
21 22
Quedenfeldt 1924 (wie Anm. 4), S. 327.
in sieben Bänden, Band 4: Medien-Populär, Stuttgart/Weimar 2002,
Zuvor hatte er mehrfach in Zeitschriften wie dem Mikrokosmos
S. 656–683, hier S. 673. Vgl. außerdem Markus Brüderlin: Einführung:
zu Fachfragen des Feldes publiziert und 1922 eine Monografie zum
Ornament und Abstraktion, in: Ornament und Abstraktion. Kunst der
Thema Mikroskopie und Fotografie veröffentlicht. Vgl. Romanus
Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog, Ausst.-Kat. Fondation
Schmehlik: Die Anwendung des Mikroskops. Mikroskopie, Mikropro-
Beyeler, Riehen/Basel, Köln 2001, S. 16–27.
jektion, Mikrophotographie, Berlin 1922.
38
23
S. 21 ff.
Romanus Schmehlik: Von der Gehirnorgel, in: Das deutsche
Frank Lothar Kroll und Gérard Raulet: Ornament, in: Karlheinz
Vgl. Marcel Brion: Geschichte der abstrakten Kunst, Köln 1960,
Lichtbild: Jahresschau 1932, S. 39–41, hier S. 41.
39
24
Bd. 48, 1911, S. 97–100, hier S. 98.
Vgl. Romanus Schmehlik: Auf optischem Wege zu symmetri-
Otto Ewel: Vom Dekorativen, in: Photographische Mitteilungen,
Rundschau, 1927, S. 184, sowie ders.: Muster für Textilzwecke, in:
40 41
Melliand’s Textilberichte, 1927, S. 14–15.
feldt Haeckels Weltanschauung anhing und dem Düsseldorfer Moni-
25 26 27 28
Quedenfeldt 1924 (wie Anm. 4), S. 317 und S. 313.
stenverbund vorstand.
Schmehlik 1932 (wie Anm. 23), S. 41.
dauert vor allem auf dem Kunstmarkt noch bis in die 1970er Jahre.
42 43 44 45
Verglichen mit der Situation um 1900 wurden in den 1920er und
Robin Lenman (Hg.): The Oxford Companion to the Photograph, Ox-
1930er Jahren jedoch die Grenzen zwischen angewandter und freier
ford/New York 2005, S. 2.
Fotografie durchlässiger. Dass die heterogenen materiellen und medi-
46
alen Formen der Fotografie zur Disposition standen, lässt sich exempla-
in: Photograms of the Year, 1916, S. 23–24.
risch an den Jahrbüchern Das Deutsche Lichtbild (1927–1938 sowie
47
1955–1979) ablesen. Hier präsentieren sich klassische Genrebilder,
der Repräsentation, Köln 2003, S. 95–96.
Landschaften und Porträts neben Luftbildern, Mikro-, Astro- und Röntgenaufnahmen sowie kameralosen Fotografien, Montagen, Solarisatio-
48 49
nen und Mehrfachbelichtungen. Quedenfeldt war 1927 in der Zeit-
Barnes, Ausst.-Kat. Victoria and Albert Museum London, London/New
schrift vertreten, Schmehliks Ornamente erschienen 1932.
York 2014.
29 30 31
Quedenfeldt 1924 (wie Anm. 4), S. 313.
50
Ebd., S. 327.
Abstraktion, Diss. Univ. Konstanz 2018, Drucklegung voraus. 2019.
schen Mustern geordnete Mikrophotogramme, in: Photographische
Otto 1915 (wie Anm. 3), S. 10. Die Unterscheidung von Foto-Fotografie und Foto-Kunst über-
Quedenfeldt 1924 (wie Anm. 4), S. 313. Dies irritiert vor allem angesichts der Tatsache, dass Queden-
Quedenfeldt 1924 (wie Anm. 4), S. 313. Ebd., S. 317. Ebd. Molly Rogers: Abstract and Experimental Photography, in:
Vgl. Alvin Langdon Coburn: The Future of Pictorial Photography, Rolf Sachsse: Fotografie. Vom technischen Bildmittel zur Krise Zum Beispiel bei Margaret Watkins und Luo Bonian. Vgl. exemplarisch Horst – Patterns from Nature, hg. v. Martin
Weiterführend vgl. Kathrin Schönegg: Fotografiegeschichte der
Vgl. weiterführend Christoph Kockerbeck: Die Schönheit des
Lebendigen. Ästhetische Naturwahrnehmung im 19. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 1997.
Foto-Ornamentik. Abstrakte Muster(er)findungen zwischen Textildesign und Kunst
69
war, ob als Raumtextilie, Bekleidung, Möbel oder Bildträger –, jedoch nur vereinzelt als kunsttheoretisches Diskursfeld in Erwägung gezogen wurde. Nicht selten wurden Textilien als ein Mittel zum Zweck verstanden – etwa wenn der Leinwandstoff als Bildträger für die Malerei diente. Das Textile verfügt in den wissenschaftlichen Narrativen nicht über einen angestammten Platz, wie Tristan Weddigen konstatiert, und verankert sich erst nach und nach in der Theorie-
Textile Rekonfigurationen des Spinnennetzes : Zum Verhältnis von Form und Material in Stoffmustern und Fadenobjekten
bildung.1 Ausgehend von einer naturhaften wie künstlerisch überformten Figuration, nämlich den von Spinnen hergestellten Netzen, wird es im Folgenden um textile Netzgebilde gehen, die zwischen Naturgestalt und Kunstobjekt oszillieren. Spinnen entfalten einen metaphernreichen Ideenraum, dessen Ausläufer von Ovids Arachne-Mythos über die Großmutter Spinne als Schöpferin der Welt bei den Hopi, Navajo oder Pueblo bis zum amerikanischen Marvel-Comic
Leena Crasemann
Spiderman oder gar der Metapher des World Wide Web
Wäre das Dasein auf der Erde ohne Textilien
Überlegungen, wonach nicht nur Subjekte, sondern
reichen.2 Zumal vor dem Hintergrund aktueller
denkbar? Wie sähe ein solches Leben aus? Ein utopi-
ebenso Tiere, Objekte und Materie Eigendynamiken
sches Gedankenspiel, dessen reale Ausgestaltung nur
initiieren oder gar spezifische Formen von Handlungs-
schwer vorstellbar bleibt, denn das Textile ist überall:
macht ausagieren,3 sollen textile Rekonfigurationen
Ohne textile Gewebestrukturen könnten wir nicht
des Spinnennetzes im Zentrum stehen, um die intrinsi-
bauen, nicht wohnen, uns nicht kleiden. Seit jeher
sche Verbindung von menschengemachter Kulturtech-
beanspruchen Textilien und die damit verbundenen
nik, Naturphänomen und Material versus Form zu
kulturellen Techniken einen besonderen Stellenwert –
diskutieren.
von Stoffmanufakturen und Kleidungsbranche über Kunst und Architektur bis zu intelligenten Hightech-Textilien in der Industrie. Das Textile ist extrem wandelbar und vielgestaltig, was es dazu prädestiniert,
Osz i llat i onen t i erli cher und ha ndwerkli cher Text i lkünste
zwischen den Bereichen zu wandern. Es ist deshalb bezeichnend, dass das Textile auf eine jahrtausen-
Als Willy Petzold ein Plakat für die Textilausstel-
dealte Geschichte zurückblickt – insofern es schon
lung 1924 in Dresden entwirft (Abb. 1) und mit einem
immer Bestandteil handwerklicher, künstlerischer,
schwarzen, überdimensionalen Spinnenkörper wirbt,
sozialer und politischer Gestaltungszusammenhänge
verdichtet sich in dem visuell schlichten, inhaltlich aber
Textile Rekonfigurationen des Spinnennetzes
71
Arbeit“. Die Formensprache der Neuen Sachlichkeit und des Bauhauses aufgreifend, erfüllt das Plakat Petzolds zuallererst seinen wesentlichen Zweck, sprich: eine Veranstaltung zu bewerben, nicht ohne ästhetische Maßstäbe in der Gestaltungskonzeption des Bildformates ‚Plakat‘ zu schaffen, indem die reduzierte und gleichermaßen gehaltvolle Symbolik eine klare Aussage ins Bild setzt. Das schwarze Spinnentier, das sich vom hellen Hintergrund abhebt, erinnert aufgrund der gerasterten Formgebung an ein durch Kette und Schuss hergestelltes Gewebemuster, während der Körper des Tieres einer Webspule ähnelt.4 Die Spinne figuriert in Petzolds Plakat als Inbegriff von in der Natur vorkommenden ‚Textiltechniken‘ avant la lettre. In einem kondensierten Sinnbild wird damit auf das Verhältnis von Handwerk und Natur, von menschen gemachter Spinnerei und tierlichem Spinnenfaden, von industriellem Textilgewerbe und Naturvorbild, von abstrahiertem Muster und plakativem icon angespielt. Abb. 1: Willy Petzold, Plakat für Textil-Ausstellung, 1924, Litho grafie, 119,5 x 90 cm, Museum für Gestaltung, Zürich
Schon der Ovid’sche Mythos verbindet über das Motiv des Wettbewerbs zwischen der Göttin Athene und der Weberin Arachne die textile Produktion mit einem Spinnentier: Aus Neid auf die klare Überlegenheit Arachnes in der Handwerkskunst der Weberei
72
mehrdimensionalen Entwurf ein ganzer Themenkom-
wird diese von der erzürnten Göttin zur Strafe in eine
plex. Das Plakat zeigt vor hellem Hintergrund eine
Spinne verwandelt.5 In der Erzählung siegt mensch
abstrahierte, schwarze Spinne in Aufsicht, die in ein
liche Kunstfertigkeit über göttliches Können und kann
geometrisches Raster gefügt und aus Vierecken
nur im tierlichen Körper als Naturwerk fortbestehen.
geformt ist. Die Umrisslinie weist keinerlei Rundungen
Wenn Petzold in seinem Plakatentwurf das Spinnen-
auf, vielmehr wird der eckige Spinnenkörper mitsamt
tier als zentrales Bildmotiv für eine groß angelegte,
den abgewinkelten acht Spinnenbeinen auf eine
national ausgerichtete Textilschau wählt, apostrophiert
kantige Grafik reduziert. Das untere Bilddrittel nimmt
er den Mythos und parallelisiert das textile Hand-
in roten Großbuchstaben das gedruckte Wort „TEXTIL“
werk in einer humorvollen Volte mit der konkurrenz
mit dem in kleinerer Schrifttype gedruckten Wort
losen Kunstfertigkeit Arachnes – die letztlich dazu
„Ausstellung“ ein – hinzu kommen Ort- und Zeitan-
verdammt wird, als Spinnentier fortan ihr ‚Handwerk‘
gabe sowie die Rahmung als „Jahresschau Deutscher
zu verrichten.
Leena Crasemann
Mate r i al i sierte Formwerke zwi s c h e n Natur und Kunst
Doch wie steht es um das Verhältnis von Form und Material bezogen auf das Textile? Wie ist der genuine Materialcharakter des Textilen zu definieren?
Diesem Verhältnis widmet sich auch Denis
Und wo ‚beginnt‘ die Materialität des Textilen: Ist es
Diderot in seiner Enzyklopädie unter dem Eintrag
die Baumwolle oder das synthetische Nylongarn, ist es
„ouvrages“, also dem Lemma „Werke“, anhand eines
der gewebte Stoff oder das verarbeitete Textilstück?
Vergleiches von Kunstwerken mit „Produktionen der
Und wie grenzt sich dies zu anderen Materialien ab,
Natur“: „il ne feroit peut-être pas inutile de comparer
etwa zu Ton, Holz oder Stein? In der Theoriebildung
quelques-uns des ouvrages les plus fins & les plus
werden die verschiedenen textilen Techniken oft
exquis des nos arts, avec les productions de la nature
unabhängig voneinander untersucht, also Nähen oder
[...].“6 Entsprechend der damaligen Vorstellung von der
Sticken, Weben oder Spinnen.8 Sie beruhen auf
Höherwertigkeit der Naturdinge kommt das künstle-
unterschiedlichen Verwendungsweisen von Fäden:
risch gestaltete Werk nicht allzu gut davon: Zumindest
dem Kreuzen der Fäden beim Flechten und Weben;
durch ein Mikroskop betrachtet, so Diderot, scheine
dem Verschlingen von Schlaufen beim Nähen, Stricken,
ein Kunstwerk nichts als grobe Materie zu sein, in
Häkeln; dem Verknoten der Fäden beim Knüpfen und
unschöner Form, mit Rissen oder ungeraden Rändern.
bei Netzarbeiten. Zusätzliche Bearbeitungsschritte
Auch beschreibt er die von der Natur kreierten Erschei-
können Bemalen, Bedrucken, Besticken oder Applizie-
nungen und das, was man sieht, wenn man sie unter
ren sein. Die jeweiligen Operationen indizieren folglich
dem Mikroskop betrachtet – als ein Beispiel führt er
zumeist unterschiedliche Verarbeitungsschritte und
das Muster auf dem Rücken einer Spinne an. Im
korrespondieren häufig miteinander, vereinfacht
Gegensatz zu dem von Künstlerhand gefertigten Werk
gesagt: Ohne einen gesponnenen Faden keine Netz-
scheint aus der Perspektive Diderots das Naturwerk
herstellung und kein Weben, ohne ein gewebtes Stück
nur so vor Schönheit, Besonderheit und Präzision zu
Stoff kein Nähen oder Sticken. Diese schematische
strahlen. Ohne dies womöglich zu beabsichtigen, legt
Reduktion mag vereinfachend wirken, sie ist jedoch
der Autor dabei – bezogen auf Kunstwerke – einen
nicht folgenlos, wenn es um die Diskursivierung des
Werkbegriff zugrunde, der das Material in den Vorder-
Textilen und die Theoretisierung solcher Operationen
grund rückt und weniger dessen spezifisch ästhetische
geht.
Gestaltungsform. Diderot bemängelt die unschöne,
Ist die Geschichte der Kunst bis zur Moderne
rissige, holprige Materialität, zeichnet sie aber gleicher-
von einer „Materialsublimierung“ gekennzeichnet,9 so
maßen als essenzielles Charakteristikum des Kunstwer-
charakterisiert die modernistische Lesart in der
kes aus, und durch das Mikroskop werde der Blick frei
Tradition Clement Greenbergs Materialien als essenzi-
gegeben auf das, woraus das Kunstwerk gemacht ist. Es
alistische Substanzen. Demnach ist das Erreichen einer
ist ein anerkannter Gedanke der Kunsttheorie, dass das
reinen Form das höhere Ziel, in der das Material
Verhältnis von Form und Material, das In-die-Form-
aufgeht und sich fügt – wobei in einer solchen Kon-
Bringen des Materials, ein jedes Kunstwerk erst
zeptualisierung das Material immer etwas Anderes
generiert: „Das Werk findet dort seine Kontur, wo es
generiert.10 Dem Material, das lange Zeit weiblich
das verwendete Material in eine von dessen Kontinui-
konnotiert war, kam gegenüber der Form stets ein
tät unterschiedene Form bringt.“
niederer Stellenwert zu, wobei sich die Unterwerfung
7
Textile Rekonfigurationendes Spinnennetzes
73
des Materials unter die Form seit dem 20. Jahrhundert programmatisch umkehren sollte und es als eigenständige, die Form generierende Kraft auftrat. Im Bezugsfeld des Textilen steht zu fragen, ob die tradierte Lesart von Material versus Form bei textilbasierten Objekten überhaupt greift. Was wäre bei diesen die Form, was das ‚reine‘, unbearbeitete Material? Der Produktions- und Gestaltungsprozess von Textilien ist eine gleichermaßen Materialität konstituierende und Form generierende Operation: Das Material des Textilen entsteht eigentlich erst in und durch komplexe, zum Teil technisch unterstützte Formgebungsprozesse wie das Verspinnen der Rohstofffasern und das Verweben, Verknüpfen, Verschlingen zu einer Struktur – erst mit der Herstellung eines solchen haptischen Gewebes lässt sich von Textil sprechen. Vor dieser Folie muss die seit der Moderne vorherrschende kategoriale Aufteilung von Form und Material in Frage gestellt werden, da zumindest textilbasierte Objekte
Abb. 2: Julius Stinde, Kopf einer Kreuzspinne durch ein Mikroskop, ca. 1868–1870, Albuminpapier auf Karton, 8,3 x 8,1 cm, Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg
vielmehr als intrinsische Verbindung von Form und Material zu begreifen sind. Einmal mehr wird deutlich,
durch die starke, mikroskopische Vergrößerung zum
dass die historisch tradierte Dichotomie, die das Eine
einen transluzent wirkt und zum anderen als filigranes
(Material) dem Anderen (Form) entgegensetzt oder es
Gebilde aus einzelnen Segmenten, länglichen Ovalen
gar hierarchisch einander zuordnet, diskursiven
und Härchen vor Augen steht. Die in dieser Darstel-
Verschiebungen unterliegt und sich mit Blick auf das
lung von einem Spinnenkörper beinahe abstrahierte
Textile mehr denn je als instabil erweist.
Formation fügt sich auf der Fläche des fotografischen
Die Betrachtung von Materialvergrößerungen
Schwarzweißmuster – ganz im Sinne des Diderot’schen
Werkbegriffs und seiner Überlegungen zu Form und
Diktums von der formvollendeten Präzision des
Material. Rund hundert Jahre später, Ende der 1860er
Naturwerks, das durch die mikroskopische Vergröße-
Jahre, veröffentlicht Julius Stinde derlei Blicke durch
rung in besonderem Maße detailliert wahrnehmbar
das Mikroskop in Form von Mikrofotografien, um einem
wird.
Laienpublikum naturwissenschaftliche Bilder nahe zu
Das Verhältnis von Naturwerk und Kunstwerk
bringen. Diderot hätte womöglich seine Freude
beschäftigte etwas später auch den österreichischen
gehabt an der zu seiner Zeit noch nicht realisierbaren
Kunsthistoriker Alois Riegl, als er seine Idee des
fotografischen Technik: Eine Aufnahme aus Stindes
‚Kunstwollens‘ entwickelte, das in die Kunstgeschichte
Publikation zeigt in rundem Ausschnitt vor hellem
als viel diskutierter Terminus eingehen sollte.12 Riegl
Hintergrund den Kopf einer Kreuzspinne (Abb. 2), der
bezeichnet die künstlerische Produktion im Allgemei-
11
74
Abzugs zu einem raffinierten, symmetrischen
nimmt Diderot zum Ausgang für die Diskussion seines
Leena Crasemann
nen als einen „ästhetischen Drang“, dessen Motivator
runden Formgebung alludiert diese Handarbeit ein
von Seiten der Künstler zuallererst darin bestehe, „die
Spinnennetz, sodass Topoi von tierlicher Netzkonst-
Naturdinge in einer bestimmten Art und Weise, unter
ruktion und menschlicher Kulturtechnik auf der
einseitiger Steigerung der einen, Unterdrückung der
Gestaltungsebene in eins geblendet werden. Einerseits
anderen Merkmale wiederzugeben“; wobei sich dieser
eine sorgfältig modulierte Handarbeit, die andererseits
ästhetische Drang gleichermaßen in der Rezeption
jedoch in den symmetrischen Formelementen wieder-
spiegele, wenn es darum gehe, „die Naturdinge in eben
holt kleine Abweichungen aufweist, wenn etwa das
dieser Art und Weise [...] wiedergegeben zu schauen.“13
Muster des äußeren Randes je unterschiedlich große
Produktion und Rezeption sind also nach Riegl in der
Schlaufen bildet und die sich überkreuzenden und
ästhetisch überformten und verarbeiteten Wiedergabe
verknoteten Fäden nie vollständig akkurat sitzen. Die
der Natur aufs Engste miteinander verzahnt.
Beziehung von optischen und haptischen Parametern, die auch Riegl als interdependent beschrieb, zeigt sich
Texti l e Netzformationen u m 1 9 0 0
in besonderem Maße an den mit bloßem Auge erkennbaren Ungleichmäßigkeiten – wie erst sähen die verarbeiteten Fäden durch ein Mikroskop aus? – und charakterisiert dergestalt die Spezifik dieser textilen
Die bei Diderot benannte Materialität des von
Materialität: das aus gebleichten Naturfasern verspon-
Menschenhand hergestellten Kunstwerks und der bei
nene Garn, das im Prozess des Klöppelns in Schlaufen
Riegl als künstlerische Wiedergabe der Naturdinge
übereinander gelegt, verknotet, geflochten, gedreht und
beschriebene Prozess lassen sich im Vergleich zum
miteinander verkettet wurde, sodass minimale holprige
mikrofotografischen Spinnenkopf von Stinde in den
Unebenheiten, wie sie Diderot in seinem Text noch
textilen Handarbeiten etwa eines Dagobert Peche
abwertend benannte, wesentlicher Bestandteil des
genauer betrachten: Während seiner Tätigkeit an der
textilen, von Hand gearbeiteten Spitzen-Netzes sind.
Wiener Werkstätte zeichnete Peche nicht nur für
Dass Peche, wie im Kreis der Wiener Werkstätte
diverse Musterentwürfe verantwortlich, die auf
üblich, am visuellen und formalen Transfer von
Tapeten gedruckt, in Gewebe umgesetzt, zu Kerami-
Naturphänomenen in das Dekorative und Ornamen-
ken geformt oder als Goldschmiedearbeiten verarbei-
tale interessiert war,14 und auch ein Spinnennetz als
tet wurden, sondern auch in die Gestaltung geklöppel-
unmittelbares Vorbild für ein Stoffmuster wählte,
ter Spitzendecken Eingang fanden, die allerdings
verdeutlicht sein Entwurf Spinne, der aus den Jahren
häufig von Textilarbeiterinnen handwerklich realisiert
1911 bis 1917 datiert (Abb. 4). Nicht in die Struktur
wurden. Die 20 Zentimeter messende kreisförmige
von Kette und Schuss lagert sich hier das Muster ein,
Spitzenarbeit (Abb. 3) zeigt in einer runden Einrah-
es wurde – in verschiedenen Farbvarianten erhältlich –
mung aus vier Kompartimenten vor einem großen
auf das Gewebe gedruckt, sodass sich eine helle,
Maschennetz eine fein herausgearbeitete weibliche
rhythmisch über den Stoff mäandernde Zickzackfor-
Figur mit kurzem Rock, die von Blättern umrankt ist.
mation ergibt, die keinen klaren Anfang und kein Ende
Die aus hellem Garn gewirkte Spitze stellt eine textile
aufweist und durch feine Verstrebungen verbunden
Netzformation dar. Zumindest aufgrund der grobma-
ist. Die inhaltliche Allusion auf ein Spinnennetz wäre
schigen Ausarbeitung der netzartigen Spitze und ihrer
allerdings ohne die Betitelung nur zu erahnen.
Textile Rekonfigurationendes Spinnennetzes
75
Abb. 3: Dagobert Peche, Klöppelmotiv Frühling, 1928, Spitzeneinsatz rund, Garn, ca. 20 x 21 cm, nicht erhalten
Abb. 4: Dagobert Peche, Spinne, 1911–17, Stoffmusterprobe gewebt, bedruckt, Seide, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien
76
Leena Crasemann
Ein früheres Stoffmuster hingegen, aus dem Jahre 1898, dessen Ausführung auf Liberty Art Fabrics zurückgeht und unter dem Begriff Honeysuckle in der Sammlung des MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, als Stoffprobe geführt wird, setzt Spinnennetze prominent in Szene (Abb. 5). Der Hintergrund ist in Weiß gehalten und mit goldgelben Geißblattranken durchzogen, die sich in fortsetzenden Rundungen in Querverläufen über die Stoffbahn ziehen. Die ausgesparten Flächen zwischen den abstrahierten Geißblattblüten sind übersät mit Spinnennetzen, sodass die blühende Kletterpflanze und das Spinnennetz einen dekorativen
Abb. 5: Dekorstoff Honeysuckle, 1898, Ausführung Liberty Art Fabrics, England, Seide, gewebt, 133 x 56,5 cm, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien
Verbund eingehen. Wie William Morris, Vertreter des Arts and Crafts Movement, nur fünf Jahre zuvor schrieb, sei es eine wesentliche Notwendigkeit aller
Farbigkeit wiedergegeben ist. Die gelb-weiße Tonalität
Musterentwürfe, die geometrische Struktur herauszu-
des Stoffmusters entspricht annähernd der Farbigkeit
arbeiten. Demnach gelte es, „bedeutungslose
der weiß-gelben Blüten des Gartengeißblattes (Jelän-
Streifen und Punkte“ zu vermeiden und hingegen die
gerjelieber), während die sich in Wellenbewegungen
„Vorschläge“ natürlicher Formen als Gestaltung der
fortsetzende Ornamentik dem Wachstum der hochwu-
Ornamente heranzuziehen: „The meaningless stripes
chernden Kletterpflanze ähnelt und die zwischen den
and spots [...] should be carefully avoided: all these
Blättern gebauten Netze als sinnstiftende Ergänzung
things are the last resource of a jaded invention and a
im Verbund von Tier und natürlicher Umwelt erschei-
contempt of the simple and fresh beauty that comes
nen.
15
of a sympathetic suggestion of natural forms: if the pattern be vigorously and firmly drawn with a true feeling for the beauty of line and silhouette, the play of light and shade on the material of the simple twill will
Materi a lwollen: What do t hrea ds wa nt ?
give all the necessary variety.“16 Das Jaquardgewebe Honeysuckle vermag in
In den genannten Arbeiten figuriert das Verhält-
diesem Sinne als adäquates Beispiel zu figurieren,
nis von textiler Materialität, gestalterischer Formge-
insofern es ohne jegliche Streifen oder Punkte die
bung und inhaltlicher Aufladung mit Naturbezug als
Natur zum Vorbild nimmt und eine abgestimmte
Knotenpunkt, an dem sich die Eigendynamik des
Komposition der Linie als Spiel aus Licht und Schatten
Textilen exemplarisch akkumuliert. Der Riegl’sche
auf dem Gewebe entwirft. Der Seidenstoff zeigt dabei
Begriff des ‚Kunstwollens‘ wurde von Erwin Panofsky
den für die Bindungsart typischen Negativ-/Positiv-
als ein Terminus beschrieben, der die „Summe oder
Effekt der Musterung auf Vorder- und Rückseite des
Einheit der [im Kunstwerk] zum Ausdruck gelangen-
Stoffes, sodass die Stoffunterseite in konträrer
den, es formal wie inhaltlich von innen heraus organi-
Textile Rekonfigurationendes Spinnennetzes
77
sierenden schöpferischen Kräfte bezeichnen sollte“,
porös werden, reißen. Damit ist die Notwendigkeit
womit er auch die Problematik benennt, mit diesem
gegeben, immer auch die Umkehrbewegung textiler
nicht allein das „Willensmäßige“ oder das Intentionale
Herstellungs- und Verarbeitungsprozesse zu denken.
zu verknüpfen, sondern den Begriff auf „künstlerische Gesamterscheinungen“ zu beziehen.17 Was hieße es nun in Erweiterung des Riegl’schen Begriffs, das Wollen vom Material aus zu denken, das
Cri t i ca l Unm a ki ng und di e Potenz i a li t ät des Verä nderli c h e n
Wollen von der Seite des Textilen zu denken – gewissermaßen als ein textiles ‚Materialwollen‘? Wenn Riegl von „ästhetischem Drang“ schreibt, so lässt er bewusst
wartskünstlerin Kaoru Hirano, die sich mit dem
offen, was diesen Drang determiniere – die Technik,
Auftrennen von alten Textilstücken beschäftigt. Als
der Rohstoff, der Wille zur Form oder die Spezifik des
mehrwöchige ortsspezifische Performance angelegt,
Materials.18 Vor diesem Hintergrund gilt es, textile
trennt Hirano in stundenlanger, mühsamer Arbeit vor
Materialitäten nicht länger als passive Stoffe zu
Ort im Ausstellungsraum von Hand alte Kleidungsstü-
verstehen, die Formgebungsprozessen unterliegen,
cke und textile Objekte auf: Unterhose, Abendkleid,
denn für ein Denken textiler Materialität ist es zielfüh-
Bluse, Gürtel, Stoffschuh, Tischdecke, Schirm oder
rend, sich – wie bereits angedeutet – ‚dem Material‘
Flagge. Das Ergebnis ist ein über die ursprünglichen
jenseits bisheriger Materialtheorien zuzuwenden.
Maße hinausgehendes, fragiles Gebilde aus dünnen
Insofern das Material nie nur ein bloßes Mittel ist, beim
Fäden, das nur noch als zarte, ephemere Spur auf den
Textilen aber weniger denn je, möchte ich im Nachden-
vorherigen Gegenstand verweist und als Netzgebilde
ken über Textilien die Idee eines ‚Materialwollens‘ in
den Raum annektiert.
Anschlag bringen als eine zeitgenössische Erweiterung
Dabei berühren ihre Arbeiten die politische
von Riegls Terminus technicus. So wären textile
Dimension des Textilen. Das Textile wurde über
Materialien nicht länger als unbewegte ‚Stoffe‘ zu
Jahrhunderte hinweg als ‚das Andere‘ markiert, was die
verstehen, die Formgebungsprozessen unterliegen.
geschlechtliche Zuordnung betrifft. Die Sphäre des
Über die Idee des Materialwollens können die Eigen-
Privaten und die dort verrichteten, an den Haushalt
ständigkeiten und spezifischen Dynamiken des Textilen
gebunden Handwerkstätigkeiten wurden mit dem
in den Diskurs eingeholt werden. Einerseits verfügen
Prinzip des Weiblichen in eins geblendet.19 Und auch
Textilien über enorme Anpassungsfähigkeiten – sie sind
die materialen Eigenschaften des Textilen – Formbar-
weich, dehnbar, biegsam, reißfest – und haben eine
keit, Elastizität, Saugfähigkeit oder Vergänglichkeit –
hohe Aufnahmefähigkeit gegenüber äußerlichen
waren weiblich konnotiert und wurden zu traditionell
Einwirkungen, etwa Hitze, Kälte, Feuchtigkeit, Trocken-
männlich kodierten Materialien (wie Stein oder Bronze)
heit oder Licht. Sie können abgrenzend wirken, wenn
abgegrenzt.20 Hiranos wochenlanges, mühevolles
sie vor Luftströmen oder Witterungsbedingungen
Auftrennen im geschützten Innenraum der Ausstel-
abschirmen, vermögen als Membran die jeweiligen
lungsorte nimmt hierauf Bezug.
Außeneinwirkungen aber auch auf reduzierte Weise
78
Diesen Bereich erforscht die japanische Gegen-
Die von der Struktur an feine Netze oder gar
durchzulassen. Jenseits davon generieren sie destruk-
Spinnennetze erinnernden Überbleibsel werden in den
tive Effekte: Textilien können Fäden ziehen, aufdröseln,
Raum gehängt und können diesen je nach Größe im
Leena Crasemann
Abb. 6: Kaoru Hirano, Untitled (panties), 2009, Installation im öffentlichen Stadtraum im Rahmen der Ausstellung Exploring inside the Ship!, 2009, Yoshijima, Hiroshima
Laufe des performativen Prozesses mehr und mehr
hinsichtlich Maße, Haptik und Visualität in keinerlei
einnehmen. Untitled (panties) von 2009 ist, wie der
Ähnlichkeitsbeziehung, aber in einem unmittelbaren
Titel vermuten lässt, der textile Rest einer sorgsam
materialen Kontinuum zu dem ehemaligen Objekt
aufgetrennten Unterhose, auf deren pinkfarbenem,
steht. Der Verschlingung und Verknotung der diversen
erhaltenem Bündchen die üblichen aufgedruckten
Fäden zu einem geometrischen Netz muss ein exaktes
Angaben zu Materialzusammensetzung, Pflegehinwei-
Studium vorausgehen, um die Eigenlogik des jeweili-
sen und Produktionsort („Made in Malaysia“) zu lesen
gen textilen Gebildes zu verstehen und herstellen zu
sind, wobei das Bündchen als Einrahmung für ein
können: Wie reagiert der jeweilige Faden auf Zug?
filigranes ‚Spinnennetz‘ dient (Abb. 6).
Unter welchen Einwirkungen verändert ein bereits
Der ehemalige textile Gebrauchsgegenstand
bestehendes Fadengewebe seine Oberflächenspan-
verkommt im Akt des Auftrennens nicht zu einem
nung? Der Entwurfs- und der Herstellungsprozess ist
materialen Rest. Er generiert über die Hilfeleistung der
hier also maßgeblich von der Reaktion und Aktion der
Künstlerin eine umfassende neue Plastizität, die
materialen Komponenten abhängig.
Textile Rekonfigurationendes Spinnennetzes
79
Dem vorangehenden tagelangen Akt des
Materialwissen aufgespürt. Hirano erforscht so auf
tungsdimensionen eingeschrieben: Auf formaler Ebene
künstlerisch-kreative Weise das konkrete Objekt.21 Ihr
wird das Kleidungsstück oder der textile Gegenstand
critical un-making kann als Zusammenführung von kriti-
in seiner Materialität beleuchtet – nämlich als ein
schem Denken und materialbasiertem Machen gelesen
hochkomplexes Zusammenspiel von unzähligen Fäden.
werden. Wesentlich ist dabei, dass die unzähligen
Ferner wird der Herstellungsprozess reflektiert und die
Fäden beim Auftrennen allerdings mitnichten nur der
eigentliche Arbeit, die sich während der Fabrikation
Einwirkung von Hiranos Händen folgen, sondern auch
jedem Gegenstand notwendig einschreibt, um von
der dynamischen Eigenlogik des Materials und des
Hirano unter vergleichbaren Mühen rückgängig
prozessual entstehenden, nach und nach immer größer
gemacht und in einer Umkehrbewegung gewisserma-
werdenden beweglichen Fadennetzes.
ßen nachvollzogen zu werden. Und letztlich geht es
80
Im Akt des Auftrennens wird das implizite
Auftrennens von Hirano sind verschiedene Bedeu-
Die Produktion von Textilien sowie das Nach-
um das Individuum, in dessen Besitz das textile Objekt
denken über sie (das heißt die textilen Praktiken und
sich vormals befand, denn die aufgetrennten feinen
Diskurse) sind stets eingebunden in ein Set aus
Fadengebilde tragen ihre eigene Geschichte in sich. Sie
technischem Wissen, praktikabler Handhabung und
verweisen auf ihren ehemaligen Gebrauchskontext,
ästhetischen Anliegen. Diese Aspekte entscheiden
etwa wenn eine aufgetrennte Bluse mit dem Hinweis
immer mit, was das Textile überhaupt ist, wie es
im Titel „Berlin family / daughter“ versehen wird.
verwendet und bewertet wird. Das bedeutet natürlich
Damit ruft Hirano in Erinnerung, dass Kleidungsstücke
nicht, dass Position und Definition des Textilen fixiert
häufig mit der Identität ihrer Träger in Verbindung
ist. Im Gegenteil: In Analogie zu seinen weichen,
standen, nicht zuletzt da sie den Körper einmal berühr-
formbaren, flexiblen Materialien und seinen multi-
ten – vormaliges Kleidungsstück, aufgetrenntes Faden-
plen Bedeutungen verschiebt sich das Textile konti-
gebilde und abwesender Körper werden bei Hirano so
nuierlich – weshalb es notwendig ist, immer wieder
in ein indexikalisches Verweisverhältnis zueinander
über dessen je spezifische Rekonfigurationen nach
gesetzt.
zudenken.
Leena Crasemann
1
An m e r k u ngen
7
Tristan Weddigen (Hg.): Unfolding the Textile Medium in Early
mer 2003, S. 390–395.
Wolf Löhr: Werk/Werkbegriff, in: Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler
Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart/Wei-
Modern Art and Literature, Emsdetten/Berlin 2011. In der Kunstge-
8
schichte liegen die Schwerpunkte der Textilforschung bisher vorrangig
Making of the Feminine, New York 1989; Birgit Schneider: Textiles
auf früheren Jahrhunderten sowie auf der Bildhaftigkeit des Textilen.
Prozessieren. Eine Mediengeschichte der Lochkartenweberei, Zürich/
Vgl. Kathryn M. Rudy (Hg.): Weaving, Veiling, and Dressing. Textiles and
Berlin 2007; Matilda Felix: Nadelstiche. Sticken in der Kunst der Ge-
their Metaphors in the Late Middle Ages, Turnhout 2007; André Holen-
genwart, Bielefeld 2010.
Vgl. Rozsika Parker: The Subversive Stich. Embroidery and the
stein u. a. (Hg.): Zweite Haut. Zur Kulturgeschichte der Kleidung. Refe-
9
rate einer Vorlesungsreihe des Collegium generale der Universität Bern
bel (Hg.): Material in Kunst und Alltag, Berlin 2002, S. VII–IX, hier S. IX.
Vgl. Monika Wagner: Eine Einleitung, in: dies. und Dietmar Rü-
im Herbstsemester 2007, Bern u. a. 2010; Mateusz Kapustka und
10
Warren T. Woodfin (Hg.): Clothing the Sacred. Medieval Textiles as Fa-
in: dies. (Hg.): Materiality (Series: Documents of Contemporary Art,
bric, Form, and Metaphor, Emsdetten/Berlin 2015. Dies ändert sich
Whitechapel Gallery London), Cambridge 2015, S. 12–23.
Vgl. Petra Lange-Berndt: How to Be Complicit with Materials,
zunehmend, auch über die Ausstellungspraxis der Museen. Vgl. Nadine
11
Monem (Hg.): Contemporary Textiles. The Fabric of Fine Art, London
zen aus der kleinen Welt, Hamburg 1870.
Vgl. Julius Stinde: Blicke durch das Mikroskop. Bilder und Skiz-
2008; Tristan Weddigen (Hg.): Metatextile: Identity and History of a
12
Contemporary Art Medium, Emsdetten/Berlin 2010; Kunst und Textil.
S. 8 f. sowie Kapitel V. Siehe zudem Sabeth Buchmann und Rike Frank
Stoff als Material und Idee in der Moderne von Klimt bis heute, hg. v.
(Hg.): Textile Theorien der Moderne. Alois Riegl in der Kunstkritik, Ber-
Markus Brüderlin, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Wolfsburg, Wolfsburg,
lin 2015.
Vgl. Alois Riegl: Spätrömische Kunstindustrie, Wien 1927, inbes.
Ostfildern 2013; Textiles – Open Letter, hg. v. Rike Frank und Grant
13
Watson, Ausst.-Kat. Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach
Aufsätze, Augsburg/Wien 1929, S. 51–64, hier S. 60. Vgl. zudem An-
2013, Berlin 2015.
drea Reichenberger: „Kunstwollen“. Riegls Plädoyer für die Freiheit der
2
Kunst, in: kritische berichte, Bd. 1, 2003, S. 69–85.
Vgl. Bernd Rieken: Arachne und ihre Schwestern: Eine Motivge-
Alois Riegl: Naturwerk und Kunstwerk I, in: ders.: Gesammelte
schichte der Spinne von den „Naturvölkermärchen“ bis zu den „Urban
14
Legends“, Münster u. a. 2003; Stefan Giessmann: Netze und Netz-
und seine Tapeten, in: Die Überwindung der Utilität. Dagobert Peche
werke. Archäologie einer Kulturtechnik, 1740–1840, Bielefeld 2006;
und die Wiener Werkstätte, hg. v. Peter Noever, Ausst.-Kat. MAK –
Julia Gelshorn und Tristan Weddigen: Das Netzwerk. Zu einem Denk-
Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst,
bild in Kunst und Wissenschaft, in: Hubert Locher und Peter J. Schnee-
Wien, Ostfildern 1998, S. 117–128.
Angela Völker: Muster und Farben. Peches textiles Gestalten
mann (Hg.): Grammatik der Kunstgeschichte. Sprachproblem und Re-
15
gelwerk im „Bild-Diskurs“. Oskar Bätschmann zum 65. Geburtstag,
Members of the Arts and Crafts Exhibition Society, London 1893,
Zürich 2008, S. 54–77; Stefan Laube: Tückische Transparenz. Überle-
S. 22–39, hier S. 29, https://en.wikisource.org/wiki/Arts_and_Crafts_
gungen vor und hinter dem Netz, in: Zeitschrift für Ideengeschichte,
Essays/Textiles [Abruf: 10.1. 2019].
William Morris: Textiles, in: ders. (Hg.): Arts and Crafts Essays by
Anette Hüsch, Ausst.-Kat. Kunsthalle zu Kiel, Kiel, Berlin/Bielefeld
16 17
2014; Sylvie Ballestra-Puech: Spider, in: Annika Reineke u. a. (Hg.): Tex-
gen der Kunstwissenschaft, hg. v. Hariolf Oberer und Egon Verheyen,
tile Terms: A Glossary (Textile Studies, 0), Emsdetten/Berlin 2017,
Berlin 1998, S. 29–43, hier S. 30.
Bd. 7, 2013, H. 4, S. 19–40; Netz – Vom Spinnen in der Kunst, hg. v.
S. 239–242.
3
Vgl. Rosi Braidotti: Die Materie des Posthumanen. Kontexte und
18 19
Ebd., S. 28. Hervorhebungen im Original. Erwin Panofsky: Kunstwollen, in: ders.: Aufsätze zu Grundfra-
Riegl 1929 (wie Anm. 13), S. 60. Vgl. Parker 1989 (wie Anm. 8). Cordula Bischoff und Christina
Ausblicke des neuen Materialismus, in: Springerin, 2016, H. 1, S. 16–
Threuter (Hg.): Um-Ordnung. Angewandte Künste und Geschlecht in
21; Karen Barad: Posthumanist Performativity: Toward an Understan-
der Moderne, Marburg 1999; Elissa Auther: String, Felt, Threat. The
ding of How Matter Comes to Matter, in: Signs, Bd. 28, 2003, H. 3,
Hierarchy of Art and Craft in American Art, London 2010, hier S. 21–24
S. 801–831.
und S. 93–102.
4
Vgl. Plakatkunst von Toulouse-Lautrec bis Benetton, hg. v. Jür-
20
Vgl. Dietmar Rübel, Monika Wagner und Vera Wolff (Hg.): Mate-
gen Döring, Ausst.-Kat. Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg,
rialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, Berlin
Heidelberg 1994, S. 110.
2005, hier S. 298–300, sowie die im Kapitel „Material und Geschlecht“
5
zitierten historischen Quellen, S. 301–321.
Publius Ovidius Naso: Metamorphosen, hg. v. Erich Rösch, Ber-
lin 2014, S. 197–205.
21
6
tischen Denkens, Zürich/Berlin 2012.
Alle Zitate aus: Denis Diderot: Ouvrages de l’art & de la nature,
Vgl. Elke Bippus (Hg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhe-
in: ders.: Encyclopédie, Ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, Des Arts et Des Métiers, Band Org–Pau, [Neufchatel] Paris 1780, S. 209–211.
Textile Rekonfigurationendes Spinnennetzes
81
T EC HNI K, EX P ERIM ENT, AB S TRAK TI ON / T EC HNO LO GY, EX PERI ME N T, AB S TR ACTI ON
Künstler_innen sowie der späteren Kunstgeschichtsschreibung fehlt der Künstlerin Adriana van Rees-Dutilh bis heute Sichtbarkeit im Diskurs um die Moderne. Ein Ausschluss, der bereits bei den Möglichkeiten zur künstlerischen Ausbildung von Van Rees-Dutilh anzusetzen ist.
In die Moderne gestochen: Adriana C. van Rees-Dutilh und die Stickerei als Kunst
St i ckerei – ei ne ‚wei bli che‘ und ‚ni edere‘ Kunst ? Die Zugangsbeschränkungen an Akademien für Frauen machten es für Adriana van Rees-Dutilh notwendig, auf alternative künstlerische Bildungswege zurückzugreifen. Die finanzielle Sicherheit und soziale Herkunft als Tochter einer wohlhabenden Familie, die
Diana Anna Schuster
mit Flachs handelte,3 sind als Privilegien und Voraussetzung für die kostspielige Ausbildung anzusehen.
Im November 1915 eröffnete die Ausstellung
Von 1886 bis 1890 nahm sie in Den Haag privaten
Moderne Wandteppiche, Stickereien, Malereien, Zeich-
Zeichenunterricht bei Barbara E. van Houten. Der
nungen in der Züricher Galerie Tanner. Die kunsthisto-
Zeichenunterricht gehörte im bürgerlichen Verständnis
rische Forschung zitiert diese als protodadaistische
zu der Ausbildung der Töchter bis zum heiratsfähigen
Ausstellung, und auch Tristan Tzara verortete dort
Alter, um den gesellschaftlichen Status des Ehemanns
retrospektiv den Beginn von Dada. Laut Tzara stellten
ordnungsgemäß repräsentieren zu können.4
Hans Arp, Otto van Rees und Adriana, kurz Adya, van
Auch das Sticken lernte Van Rees-Dutilh unter
Rees-Dutilh Werke aus, die „ni art ni peinture“ gewe
dieser Prämisse, wie die Rückgriffe auf traditionelle
sen seien.1 Er betonte das Abwenden von der Malerei
Sticktechniken ihrer später entstehenden Kunstwerke
bei gleichzeitiger Öffnung für neue Materialien – dar-
vermuten lassen. Die Verknüpfung der Stickerei mit
unter Textil und Papier. Weiter versuchte er, mit der
Weiblichkeit ist konstruiert. Im Laufe der Jahrhunderte
Beschreibung von „monde de cristalsimplicitemetal“
verschob sich zum einen die Wertung von Stickerei als
und „transparenceligneprécision“ die neuartige
Gattung und zum anderen deren geschlechterspezifi-
Formensprache der Abstraktion an der Grenze zur
sche Verortung.5 Bis in die Moderne gehörte Stickerei
Gegenstandslosigkeit zu fassen. Erwähnt die Kunstge-
zur Ausbildung privilegierter Frauen beziehungsweise
schichtsschreibung Van Rees-Dutilh im Kontext des
zur allgemeinen bürgerlichen Frauenbildung mit dem
Züricher Dada, scheint dies meist einherzugehen mit
Ziel, Geduld sowie (Ge-)Schicklichkeit einzuüben. Die
einer Unsicherheit, sich ihrem Werk über die namentli-
stereotype Weiblichkeitsvorstellung einer auf den
che Nennung hinaus zu widmen. Trotz der zentralen
Mann wartenden, sich im privaten Raum bewegenden
Bedeutung der Ausstellung für die zeitgenössischen
Frau ist demnach eng mit dem Sticken verknüpft. Auch
2
In die Moderne gestochen: Adriana C. van Rees-Dutilh und die Stickerei als Kunst
85
in der Moderne behielt diese Konnotation ihre
Kritik der Vorwand bestehen, dies sei immer schon
Aktualität: Stickerei als eine im Privaten, Häuslichen,
ihre geschlechtsspezifische Beschäftigung gewesen.“8
Familiären – sprich weiblich konnotierten Raum – aus-
Besteht die Idee der Grenzüberschreitung als konstitu-
geübte Tätigkeit, die zum Zeitvertreib und zur Dekora-
ierendes Element der Moderne, ist die differenzierte
tion diente.
Bewertung von Künstlerinnen gegenüber Künstlern
Diesen Einschreibungen der Stickerei zu Trotze
mitzudenken. Sicherlich öffneten, wie Rozsika Parker
griffen Künstler_innen Anfang des 20. Jahrhunderts
anmerkt, die Bewegungen um Dada, Surrealismus und
auf das Medium Textil zurück. Zeitgeschichtlich ist
Konstruktivismus mit dem Sprengen von Gattungs-
zudem über eine Öffnung zu neuen Materialien zu
grenzen und -hierarchien den Raum für das Textile in
reflektieren. Als Alternative zur obsolet empfundenen
der Kunst.9 Gleichzeitig zu dieser vermeintlichen
Malerei, die Wert und Hierarchie bereits implizierte,
Konkurrenz von Stickerei und Malerei sind Gemein-
eigneten sich Künstler_innen schließlich auch die
samkeiten auszumachen, da die besprochenen
Stickerei als künstlerisches Medium an. Retrospektiv
Arbeiten zwischen Stickerei und Malerei schließlich zu
hob Hans Arp die Überwindung der Malerei als Erfolg
oszillieren scheinen.
der Ausstellung in der Galerie Tanner hervor: „Das Wesentliche aber an dieser Ausstellung war, daß Künstler, der Ölmalerei überdrüssig geworden, nach neuen Materialien suchten.“ Die Wahl der Stickerei 6
Bi lda nla ge: Cha ng i eren z w i s c h e n Gem ä lde und St i ckerei
gegenüber einem Wandteppich erscheint insofern konsequenter, da besonders Stickereien von dem
86
Adriana van Rees-Dutilh arbeitete mit dem
Stigma der Gattungshierarchie und Konstruktionen
Effekt einer Täuschung: Vermutet die_der Betrachter_
von Weiblichkeit betroffen sind, während Wandteppi-
in auf den ersten Blick ein Gemälde, stellt sich Sanduhr
che durch ihre kunsthistorische Tradition weniger
(Abb. 1) aus dem Jahr 1914 beim Herantreten als
dieser Zuschreibung unterliegen.7 Die Suche nach
Stickerei heraus. Im Format imitiert das Werk ein
neuen Ausdrucksmitteln abseits der Malerei öffnete
klassisches Tafelbild. Zudem ist die Arbeit mit Signatur
den Raum für die Verknüpfung mit der Alltagskultur
und Datierung (Abb. 2) sowie einer Art Rahmen
und den dort zu findenden Materialien. Die Liaison mit
versehen, sodass die Künstlerin die Stickerei von dem
der angewandten Kunst, das heißt Überschreitung von
Status des Kunsthandwerks oder Gebrauchsgegen-
Gattungsgrenzen und Erweiterung des Materialreper-
stands befreit, die somit keine Tischdecke, Kleidungs-
toires, galt bei den männlichen Künstlern überwiegend
stück oder Kissenbezug sein kann. Darüber hinaus
als avantgardistische Aktion. Der Bruch mit etablierten
erinnern die parallellaufenden Seidenfäden in ihrer
Grenzen ist nachweisbar männlich konnotiert. Sigrid
Abfolge sowie die glänzende Beschaffenheit an die
Schade und Silke Wenk weisen in diesem Zusammen-
Oberfläche eines Ölgemäldes mit pastosem Farbauf-
hang auf Folgendes hin: „Als Regelverletzungen lassen
trag. Die einzelnen Fäden sind erst bei näherer
sich die Grenzüberschreitungen in die Vorstellung
Betrachtung zu erkennen. Mit dieser Täuschung
männlicher Künstlerschaft integrieren. Für Frauen gilt
unterläuft die Künstlerin die traditionellen Gattungs
diese Möglichkeit keineswegs, bei ihren Auseinander-
hierarchien, die Stickerei als angewandte, niedrige,
setzungen mit den ‚niederen‘ Künsten bleibt für die
dekorative, reproduzierende Kunst gegenüber der
Diana Anna Schuster
Malerei, Skulptur und Architektur abwertete.10 Sanduhr
eine Kunst und darf beanspruchen, als solche behan-
war demnach nie als anonyme, handwerkliche Repro-
delt zu werden […].“14 Van Rees-Dutilh und Höch sind
duktion konzipiert.
zwei Künstlerinnen, die sich nicht nur in der Wahl der
Gelten Signatur und Datierung als Elemente der
Stickerei als künstlerisches Ausdrucksmittel, sondern
Malerei, findet sich das Markieren von Autor_innen-
auch in der Verbindung zum Dada verwandt sind.
schaft bereits in der Geschichte der Stickerei durch
Höch spricht in Vom Sticken einen Appell an die
eingestickte Initialen oder vollständige Namen. Bibiana
Stickenden aus, sich dem Potenzial der Stickerei als
K. Obler argumentiert, dass stickende Frauen als
künstlerischer Technik bewusst zu werden, diese als
Gesamtphänomen zwar anonym blieben, sie allerdings
Kunst zu reklamieren und sich von „Ver‚un‘zierungen“
innerhalb ihres Umfeldes durch eingestickte Namen
abzuheben.15
oder Kürzel ihre Autorinnenschaft und somit ihr (handwerkliches) Können offenlegten.11 Sophie Taeuber-Arp erstellte neben den als Wandbilder ausgewiesenen auch objektbezogene Stickereien –
Di e St i cha bfolge a ls Dukt usa na log i e?
darunter beispielsweise Trockentücher, Kissenbezüge oder Handtaschen, die sie jeweils mit ihrem Kürzel
Anders als der Platt- oder Spannstich, den
oder vollständigen Namen versah. In dem subtilen
Adriana van Rees-Dutilh verwendete, ist der Kreuz-
Einarbeiten ihres Kürzels „SHT“ in ihre textilen
stich in der Stichabfolge standardisiert. Besonders
Arbeiten sieht Medea Hoch das Auflehnen „gegen die
deutlich wird diese strenge Normierung am Beispiel
traditionelle Hierarchie von meist anonymer ‚repro-
der 1916/17 vermutlich kollaborativ entstandenen
duktiver handwerklicher‘ Kreativität und ‚genialer
Stickerei ohne Titel von Hans Arp und Sophie Taeu-
freier‘ Kunst“12. Dabei ist bemerkenswert, dass zwar
ber-Arp (Abb. 3). Dem Geweberaster unterliegend
einerseits Künstlerinnen wie Sophie Taeuber-Arp, Adri-
wurden kleine x-förmige Fadenverläufe eingestickt.
ana van Rees-Dutilh und Alice Bailly das Signieren ihrer
Auf der jeweils quadratischen Grundfläche einer
textilen Arbeiten als notwendig erachteten, anderer-
einzelnen Stichabfolge kreuzen sich demnach zwei
seits aber wurde von anderen Künstler_innen zeit-
jeweils von einer diagonal in die andere Ecke laufende
gleich die Signatur und das Ausweisen von Autor_
Fäden. Die Verknüpfung von Muster und Gewebe
innenschaft in der Malerei als obsolet angesehen.13
führt zu einer nüchternen, in der Produktion kontem-
Die Signatur bekäme in diesem Fall weniger die
plativen Gleichmäßigkeit und Rhythmisierung. So
Funktion der Ausweisung eines authentischen
scheint die Abstraktion oder Gegenstandlosigkeit für
Originals, sondern eher die Funktion eines imitieren-
die Technik der Stickerei immanent, denn das Gewebe
den Elements klassischer Kunstwerke zugesprochen.
mit vorgegebenem Raster ist ein von sich aus abstrak-
Das Platzieren der Signatur – oftmals an der unteren,
ter Grund, auf den die Stickerei fußt. Hal Forster
rechten Bildecke – weist die textilen Arbeiten eindeu-
benennt das Raster als „antiautographic manner“:
tig als autonomes Kunstwerk aus. Ein Zitat Hanna(h)
„Implicit in the composition of the collaged works and
Höchs macht dies mehr als deutlich: „Die Stickerei
intrinsic to the support of the woven works, the grid is
steht im engsten Zusammenhang mit der Malerei.
a given order that informs these pieces, again in an
Sie ändert sich unentwegt, mit jeder Stilepoche. Sie ist
antiautographic manner, from the start; the evocation
In die Moderne gestochen: Adriana C. van Rees-Dutilh und die Stickerei als Kunst
87
Abb. 1: Adriana van Rees-Dutilh, Sanduhr, 1914, Seidenstickerei, 52,2 x 38 cm, signiert und datiert unten links mit „Adya 1914“, Kunstmuseum Basel, Schenkung Marguerite Arp-Hagenbach
88
Diana Anna Schuster
von Künstler_innen auf: Hans Arp gebrauchte sprachenübergreifend „Broderie“ und Anni Albers grenzte die Werkgruppe Pictorial Weavings von ihren Textilien mit eindeutig utilitaristischer Funktion ab.20 Der Begriff „Stickerei“ scheint für die Künstler_innen zu stark konnotiert zu sein. Hier zeigt sich das Bewusstsein für die Wahrnehmung von Stickereien, die determiniert von tradierten Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktion waren und noch sind.21 Ähnlich wie bei der Stickerei Sanduhr von Van Rees-Dutilh laufen auch bei den Stickereien von Bailly die einzelnen Fäden parallel. Der Spann- oder Plattstich ist im Vergleich zum KreuzAbb. 2: Adriana van Rees-Dutilh, Sanduhr (Detail aus Abb. 1: untere linke Ecke)
stich variabler in der Länge sowie Stickrichtung und lässt ein schnelleres und spontaneres Füllen der Fläche zu. Einen ähnlichen Eindruck ruft der skizzenhafte, maleri-
of ornament, especially in the regularity of the motifs,
sche Umgang mit Farbe und Pinselführung in der
also puts artistic agency into doubt.“16 Bestehen gewo-
Malerei hervor. In beiden Fällen kann durch die betonte
bene Textilien aus Kette und Schuss, sprich horizonta-
Materialität die Genese des Kunstwerks von den
len und vertikalen Fadenverläufen, und unterliegen
Betrachter_innen nachvollzogen werden. Im Unter-
damit einer vorgegebenen Ordnung, ist auch der
schied zu Bailly variierte Van Rees-Dutilh die Stichab-
Kreuzstich abhängig vom verwendeten Geweberaster.
folge zwischen geraden und rundlichen Verläufen – ähn-
Analog zu den kollaborativen Duo-Collagen von Hans
lich einer differenzierten Pinselführung in der Malerei.
Arp und Sophie Taeuber-Arp, die formale Nähe in
Anders als beim Kreuzstich konstituiert beim Spann-
Linearität und Farbigkeit zu den Stickereien besitzen,
oder Plattstich das unterliegende Gewebe nicht das
negieren beide Arbeitsweisen die individuelle Hand
Muster. Der Trägerstoff tritt zurück und wird je nach
schrift und erschweren bis heute die Zuordnung.17
Dichte von den überlagernden Fäden vollständig
Wie ist vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse zum
verdeckt. Demnach ist weniger die Stichabfolge für das
Kreuzstich der differenzierte Umgang mit der Stich
Muster relevant als vielmehr einzelne Flächen, die mit
abfolge bei Adriana van Rees-Dutilh einzuordnen?
farbigen Fäden ‚ausgemalt‘ scheinen. Die Stickereien von
Trotz der Beherrschung beider Techniken, wählte die
Bailly besitzen sichtbare Unterzeichnungen, die bei-
Künstlerin für ihre eigenen Entwürfe – soweit anhand
spielsweise bei Printemps gris (Abb. 4), entstanden um
der wenigen erhaltenen Kunstwerke nachvollzieh-
1917, zu erkennen sind. Ähnlich wie bei Adriana van
bar – fast ausschließlich den Platt- oder Spannstich.
Rees-Dutilh arbeitete die Künstlerin unabhängig von der
18
Eine an einen Duktus erinnernde Stichabfolge ist
Gewebestruktur. Bailly facettierte den Bildgegenstand
ebenfalls bei Alice Bailly zu finden. Parallel zur Malerei
in einzelne kleinere Farbflächen mit Hilfe von Richtungs-
fertigte die Künstlerin circa 50 Stickereien, die sie
änderungen und Variation im Kolorit jedoch deutlicher.
selbst als „tableaux-laine“ bezeichnete. Auch in der
Eine Gemeinsamkeit in der Technik lässt sich an der
Bezeichnung des Textilen fallen verbale Täuschungen
Durchsicht auf das unterliegende Material ausmachen.
19
In die Moderne gestochen: Adriana C. van Rees-Dutilh und die Stickerei als Kunst
89
Abb. 3: Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp, o. T., 1916/17, Wollstickerei, 27,5 x 18 cm, Kunstmuseum Basel, Schenkung Marguerite Arp-Hagenbach
Diese Beobachtung wird besonders im Vergleich mit der
einzelnen Stichabfol-gen inklusive dem zugrunde
„very dense surface“ der Stickerei Broderie de feuillages
liegenden Gewebe heraus und die einzelnen Fäden
von Sonia Delaunay-Terk aus dem Jahr 1909 deutlich.23
behalten ihre Plastizität. Die betonte Materialität durch
Während sie die einzelnen Flächen, wie bei klassischer
pastosen Farbauftrag sowie freigelassene Stellen des
Stickerei erwünscht, mit eng aneinander gestickten
Malgrunds sind ebenfalls Techniken der Malerei, die die
Fäden ausfüllte, stellten Van Rees-Dutilh und Bailly die
Künstlerinnen in die Stickerei transformierten.
22
90
Diana Anna Schuster
Abb. 4: Alice Bailly, Printemps gris, um 1917, Wollstickerei, 58 x 71 cm, signiert unten links mit „Alice Bailly“, Kunstmuseum Winterthur, Dauerleihgabe Musikkollegium Winterthur
St i c ke re i versus Malerei?
Gemälden orientieren, bleiben sie der Malerei als Reproduktion untergeordnet.24
Der Begriff „Nadelmalerei“ bringt zwei Techniken
Über die historische Verknüpfung hinaus lassen
zusammen. Seit dem 14. Jahrhundert sind die sogenan-
sich Parallelen zwischen der Malerei und Stickerei
nten Nadelmalereien, sprich bildhafte Stickereien,
ziehen. In beiden Techniken entstehen die Kompositio-
nicht selten Kopien von Gemälden. Sie besitzen ein am
nen über Material und dessen Einsatz – in der Malerei
Tafelbild ausgerichtetes Format oft inklusive Rahmung.
über die mit differenziertem Duktus aufgetragene
Mit dem Umstand, dass sie sich an bestehenden
Farbe und in der Stickerei durch die Verläufe einzelner
In die Moderne gestochen: Adriana C. van Rees-Dutilh und die Stickerei als Kunst
91
Fäden in Stichabfolgen. In der Verbindung mit dem
taktiler Effekt, der sich mit Alois Riegls Begriff der
zugrunde liegenden Gewebe – Faden und Gewebe
„Haptik“, also der Verbindung von optischer und
analog zur Farbe und Leinwand – sowie in der Behand-
taktischer (taktiler) Wahrnehmung, fassen lässt. Über
lung der Farbe lässt sich darüber hinaus ein vergleich-
den miteinbezogenen Tastsinn könne der dem Sehen
barer Umgang feststellen. Schattierungen und Model-
eingeschriebenen Distanz zwischen Kunstwerk und
lierungen werden über Farbverläufe – in der Stickerei
Betrachter_in, die von der Einseitigkeit des Gesichts-
aus Fäden unterschiedlicher Farben – erzeugt. Die
sinns herrühre, entgegengewirkt werden.26 Zusätzlich
vorgestellten Bildbeispiele verdeutlichen die Übertra-
zur Aktivierung mehrerer Sinne verringert das ver-
gung gelernter künstlerischer Ausdrucksformen der
traute, alltägliche Material die Distanz zwischen
Malerei. Die Erscheinungsform der Stickerei kommt
Kunstwerk und Betrachter_innen und öffnet den Raum
damit einem Gemälde nahe und führt zur beschriebe
für eine größtmögliche Unmittelbarkeit. Das nachvoll-
nen Täuschung und anschließender ‚Ent-täuschung‘
ziehende Betrachten, sprich das Ableiten des Arbeits-
der Betrachter_innen im Rezeptionsprozess. Die
prozesses anhand der Fadenverläufe, aktiviert die
Komptabilität der Malereitechnik sowie bestehende
Betrachter_innen zusätzlich.
Ähnlichkeiten zur Stickerei öffneten für Künstler_innen
92
Genau diese Diskrepanz – die Abgrenzung bei
den Raum, sich das neue Medium zu eigen zu machen
gleichzeitiger Affinität von Stickerei zur Malerei –
und gleichzeitig die Verbindung zur höher eingestuften
machte das Medium besonders für Künstlerinnen
Gattung Malerei nicht vollständig aufzugeben.
interessant: Denn die Stickerei bot im Privaten einen
Über die Affinitäten zur Malerei besitzen das
Freiraum für Kreativität – das individuelle Gestalten
Textile und die Technik der Stickerei Qualitäten, welche
von Kleidung und Innenraum – und im Öffentlichen
die Malerei nicht oder in geringerem Maße besitzt.
einen nicht bereits von männlichen Kunstschaffenden
Zum einen ist die Stickerei weniger über die Gattungs-
okkupierten Bereich künstlerischer Arbeit. Außer
hierarchien mit ‚Wert‘ aufgeladen. Virginia Gardner Troy
Konkurrenz entstanden Bildwerke, die mit allgemein
beschreibt den Mehrwert des Textilen wie folgt: „At the
anerkannten bildlichen Qualitäten wie Abstraktion und
same time, handmade textiles, especially embroidered
Gegenstandslosigkeit operierten. Jedoch handelte es
and hand-woven textiles, continued to be values for
sich um einen prekären Freiraum, denn insbesondere
their unique qualities that distinguished them from
Künstlerinnen liefen und laufen Gefahr bei Beschäfti-
painting, paving the way for artists to explore elements
gung mit angewandter Kunst eine Abwertung oder
of design – colour, scale, texture – in extraordinary
keine Beachtung als ernstzunehmende Kunstschaf-
ways. Indeed, textiles, precisely because they were not
fende zu erfahren, schließlich gelten bis in die Gegen-
like paintings – they could be tactile, three-dimen-
wart textile Techniken als ‚genuin weiblich‘.27 Auch
sional, cut-up and pieced together, folded, twisted,
Parker verweist auf diese Widersprüchlichkeit inner
hung on walls or put down on the floor – enabled
halb der Stickerei: „Embroidery has provided a source
those working in them to explore new visual and
of pleasure and power for women, while being
expressive possibilities.“25 Besonders der Aspekt der
indissolubly linked to their powerlessness.“28 Mit der
faktischen Textur, Beschaffenheit und Materialität des
Arbeit in abgewerteten künstlerischen Bereichen des
Textilen gegenüber der illusionistischen Malerei scheint
Handwerks blieb den Künstlerinnen das Feld der
von Bedeutung. Zusätzlich entsteht bei Stickereien ein
freien Kunst oft verwehrt.
Diana Anna Schuster
In d i e Moderne gestochen
Darüber hinaus sind weitere Aspekte zu berücksichtigen, die in Bezug auf den Ausschluss aus der
In den vorangehenden Ausführungen wurde
Moderne mitzudenken sind, jedoch im Rahmen dieses
diskutiert, auf welchen Ebenen der kunsthistorischen
Aufsatzes nicht ausführlich besprochen werden
Forschung die Marginalisierung der Künstlerin und
können: So ist die geometrisch abstrakte Formenspra-
ihres Werkes stattfand und bis heute besteht: Ein
che von Van Rees-Dutilh – eine Bildsprache, die
intersektionaler Ausschluss, der sich auf Geschlecht,
Künstlerinnen kaum zugestanden wurde29 – über den
Technik, Material, Bildsprache sowie der kollaborativen
wechselseitigen Austausch zwischen Kunst, Textil und
Arbeitsform gründet. Dies wirft die Frage auf, inwie-
Abstraktion auszuhandeln. Während sich zeitgenössi-
weit unter diesen Prämissen überhaupt eine An-
sche Bezüge zu aktuellsten Kunstströmungen der
schlussfähigkeit und Einschreibung in die bestehende
Moderne anführen lassen, ist das dem Textilen
Kunstgeschichtsschreibung der Moderne möglich ist.
zugrunde liegende Prinzip der Abstraktion nicht zu
Erstens bestand zum zeitgenössischen Frauen-
unterschätzen. Über Erläuterungen und Manifeste, die
bild auch ein Künstlerinnenbild, das sich als Kontrast
sich Anfang des 20. Jahrhunderts häuften, unternah-
zu männlichen Künstlern und Autorschaftsmythen
men fast ausschließlich männliche Künstler der
ausbildete und die ausbleibende Zugänglichkeit zu
Moderne mit aller Macht den Versuch, die Abstraktion
Ausbildungsmöglichkeiten und dem Kunstmarkt zur
von dem als inhaltslos gesehenen Ornament und
Folge hatte.
Dekor abzugrenzen.30 Mark Cheetham beschreibt mit
Zweitens gehen diese Konstruktionen von
der „Rhetorik der Reinheit“31 ein gemeinsames Anlie-
Weiblichkeit auf Bewertungen von künstlerischen
gen europäischer männlicher Künstler, die in unter-
Techniken und Materialien über. Van Rees-Dutilh
schiedlicher Sprache ihre Idee um die Ästhetik der
unternahm den Versuch, sich mit ihren Kunstwerken
Reinheit manifestierten. Diese Argumentationen
der abschätzigen Bewertung von objektbezogener
funktionierten über einen ermüdenden Dualismus:
Handarbeit, die bestimmt von Gattungshierarchien
Männlich und weiblich wurden mit der Gegenüberstel-
und Geschlechterkonstruktionen war und bis heute ist,
lung von Geist, Abstraktion auf der einen und Materie,
zu widersetzen. Den prekären Freiraum, den ihr das
Dekoration auf der anderen Seite weitergeführt.32 Das
Textile als künstlerisches Ausdrucksmedium bot,
Ornamentale als dekadentes Dekor und überschwäng-
nutzte sie um ihre Stickereien an der Grenze zwischen
liches Detail wurde als Negativ zur männlichen
‚angewandter‘ und ‚freier‘ Kunst zu etablieren. Sie
Abstraktion mit Weiblichkeit verknüpft und im selben
kommen von Beginn an ohne Objektbezug aus und
Zuge von den Entwicklungen abstrakter Kunst nach-
beanspruchen, durch Bildanlage und Adaption bildli-
haltig ausgeschlossen. Die so gerechtfertigte Abstrak-
cher Mittel der Malerei für die Stickerei, durch Signatur
tion widerspricht zum einen der beanspruchten
und Rahmung autonome Bildwerke zu sein. Dieser
Innovation der Gegenstandslosigkeit im Hinblick auf
Umstand macht deutlich, dass die Künstlerin die der
die Tradition des Ungegenständlichen im angewandten
Stickerei immanenten Gattungshierarchien und
Bereich sowie den Inspirationsquellen der abstrakt
Geschlechterkonstruktionen mitdachte und die
arbeitenden Künstler wie Wassily Kandinsky und
Imitation konstituierender Kriterien für Gemälde als
Kazimir Malevič. Nicht nur den Künstlerinnen, sondern
Legitimationsstrategie anwandte.
auch Ornament und Dekor als Stellenwert für die
In die Moderne gestochen: Adriana C. van Rees-Dutilh und die Stickerei als Kunst
93
Abstraktionsentwicklung verwehrt diese vereinfachte
ten Künstler_innen – oftmals allein den_die Entwer-
Kunstgeschichtsschreibung die Sichtbarkeit.
fer_in – negiert. Auch die Nobilitierung der Entwer-
Und nicht zuletzt greift das Reproduktions-
beispielsweise durch den Zusatz von ‚ausgeführt von‘
passiven, reproduzierenden Rolle an Van Rees-Dutilh,
statt einer gemeinsamen Nennung in einer Zeile
die nach Entwürfen ihrer männlichen Künstlerkolle-
zustande kommt, widerspricht der tatsächlich engen
gen – Hans Arp, Otto Freundlich und Otto van
Zusammenarbeit. Das vermehrte Auftreten von
Rees33 – arbeitete und Wandteppiche und Stickereien
Kollaborationen und Interaktionen zwischen Künst-
erstellte. Weniger häufig wird die Zusammenarbeit
ler_innen gilt als richtungsweisend für das Aufbrechen
als egalitäre Kollaboration mit gegenseitigem Aus-
von Geschlechterkonstruktionen und Gattungshierar-
tausch interpretiert. In diesem Zusammenhang scheint
chien. Das Potenzial wurde erkannt, allerdings konnten
es notwendig, das museale Ausweisen von kollaborativ
diese vorrangig in der Moderne auftretenden und für
entstandenen Kunstwerken umzudenken. Gegenwär-
diese konstitutiv erscheinenden Künstler_innenstrate-
tig wird diese Zusammenarbeit an einem Kunstwerk
gien die herkömmlichen Konstruktionen nicht vollstän-
mit den Zuschreibungen zu nur einem_r der involvier-
dig abschaffen.35
34
94
fer_innen gegenüber den Ausführenden, die
Parameter mit der undifferenzierten Zuweisung einer
Diana Anna Schuster
1
An m e r k u ngen
9
Tristan Tzara: Chronique Zurichoise, 1915–1919, wiederabgedr.
10
Vgl. Rozsika Parker: The Subversive Stitch. Embroidery and the
Making of the Feminine, 2. Aufl., London 1996, S. 190. Vgl. Jennifer John und Sigrid Schade: Grenzgänge und Interven-
in: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada-Almanach. Im Auftrag des Zent-
tionen, in: Jennifer Hoch (Hg.): Grenzgänge zwischen den Künsten. In-
ralamts der deutschen Dadabewegung, Berlin 1920, S. 10–28, hier S. 10.
terventionen in Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktionen,
2 3
Ebd.
Bielefeld 2008, S. 7–13, hier S. 8. Mehr zur Dichotomie von angewand-
Vgl. Irène Lesparre: Biografie, in: Egbert van Faassen und Sjoerd
ter und freier Kunst siehe: Lindner 1989 (wie Anm. 5), S. 200 ff; Rozsika
van Faassen (Hg.): Otto van Rees (Serie Monografieën van Nederlandse
Parker und Griselda Pollock: Old Mistresses. Women, Art and Ideology,
kunstenaars, 20), Zwolle 2005, S. 13–61, hier S. 17.
London 1981, S. 50–81.
4
Zur Ausbildungssituation von Künstlerinnen siehe beispiels-
11
Vgl. Bibiana K. Obler: Taeuber, Arp, and the Politics of Cross-
weise: Yvette Deseyve: Der Künstlerinnen-Verein München e.V. und
Stitch, in: The Art Bulletin, Bd. 91, 2009, H. 2, S. 207–229, hier S. 220–
seine Damen-Akademie. Eine Studie zur Ausbildungssituation von
221.
Künstlerinnen im späten 19. Jahrhundert, München 2005; Renate Ber-
12
ger: Malerinnen auf dem Weg ins 20. Jahrhundert. Kunstgeschichte als
im Spannungsfeld der Gattungen, in: John 2008 (wie Anm. 10), S. 81–
Sozialgeschichte, 2. erg. Aufl., Köln 1986, S. 103–149.
96, hier S. 85. Zu Sophie Taeuber-Arp siehe den Beitrag von Walburga
5
Krupp in diesem Band.
Mit Blick auf Europa lässt sich verkürzt folgendes Bild zeichnen:
Medea Hoch: Unstete Staffelungen. Sophie Taeuber-Arps Werk
Insbesondere im Mittelalter wurde Stickerei von beiden Geschlechtern,
13
von Mönchen und Nonnen, aber auch von professionalisierten Selbst-
Zeichen – Schrift – Kontext, Karlsruhe 2006, bes. S. 168 ff.
Vgl. Joachim Heusinger von Waldegg: Signaturen der Moderne:
ständigen, ausgeführt. In königlichen und adeligen Häusern wurde
14
Stickerei gelehrt und war als kunstfertiges Handwerk geschätzt. Vgl.
schau, Bd. XVIII, September 1918, S. 219.
Hanna(h) Höch: Vom Sticken, in: Stickerei- und Spitzen-Rund-
tionsprozeß von Wandbehängen, in: Iris Lindner (Hg.): Blick-Wechsel.
15 16
Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunst-
1910–1925. How a Radical Idea Changed Modern Art, hg. v. Leah Dick-
geschichte (Vorträge der 4. Kunsthistorikerinnen-Tagung im September
erman und David Frankel, Ausst.-Kat. The Museum of Modern Art, New
1988 in Berlin), Berlin 1989, S. 231–241. Mit der Professionalisierung
York, New York 2012, S. 274–276, hier S. 274.
Barbara Kramer-Egghard: Frauen und Tapisserien. Ihr Anteil am Produk-
Vgl. ebd. Hal Foster: Sense and Non-Sense, in: Inventing Abstraction
der Stickerei – organisiert in Gilden seit dem 14. Jahrhundert – ver-
17
schoben sich die Rollen. Da die Werkstätten in der Regel von Männern
Hans Arp: A Community of Two, in: Art Journal, Bd. 52, 1993, H. 4,
geleitet wurden, bekamen die meist weiblichen Stickerinnen die Rolle
S. 25–32. Beispielsweise: Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp, Duo-Col-
der Reproduzentinnen zugewiesen, die entworfene Aufträge ausführ-
lage, 1918, Papier, Karton und Silberfolie auf Pappe, 82 x 62 cm, Berlin,
ten. Einen weiteren Wendepunkt stellte die Stagnation der Stickerei-
Staatliche Museen, Nationalgalerie. Abb. in: Agnieszka Lulińska und
produktion für den sakralen Kontext dar – die Verschiebung der Sticke-
Gabriele Männel (Hg.): Sophie Taeuber-Arp, Hans Arp. Besonderheiten
rei ins Profane und in das Häusliche hatte einen enormen Anstieg an
eines Zweiklangs, Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen Dresden,
ausübenden Amateur_innen zu Folge. Vgl. Rozsika Parker und Griselda
Albertinum, Dresden 1991, S. 77.
Mehr zur Duo-Collage: Renée Riese Hubert: Sophie Taeuber and
Pollock: Old Mistresses. Women, Art and Ideology, London 1981, S. 60.
18
Maschinen beschleunigten seit dem 19. Jahrhundert die industrielle
Dutilh bekannt. Unter diesen befinden sich sechs Stickereien, wovon
Fertigung. Seit dem 16. Jahrhundert verband sich das Handarbeiten mit
allein zwei als Werke erhalten (Sanduhr von 1914 und Madonna met het
dem Bild einer geduldigen, liebevollen und gehorsamen Tochter, Ehe-
kind, um 1917, Seidenstickerei, 22,2 x 19 cm, Den Haag, Gemeentemu-
frau und Mutter. Vgl. Jaap Harskamp: In Praise of the Pins: from Tool to
seum) und eine durch s/w-Abbildungen dokumentiert sind. Hinweise
Metaphor, in: History Workshop Journal, Bd. 70, 2010, S. 47–66, hier:
auf produktive Arbeitsphasen sowie die zeitlichen Abstände der Arbei-
S. 60.
ten lassen vermuten, dass nur ein kleiner Teil der tatsächlich entstande-
6
Hans Arp: Unsern täglichen Traum … Erinnerungen und Dich-
Insgesamt sind zwölf Stickereien und Teppiche von Van Rees-
nen Werke bis jetzt entdeckt wurde. Zu erwähnen ist, dass nur Sticke-
tungen aus den Jahren 1914–54, Zürich 1955, S. 9.
reien und Teppiche nach 1911 bekannt sind. Eine Leerstelle bilden die
7
Vgl. Silke Tammen: „Seelenkomplexe“ und „Ekeltechniken“ –
frühen textilen Arbeiten, die seit 1906 entstanden. Der Nachlass der
Von den Problemen der Kunstkritik und Kunstgeschichte mit der
Künstlerin – darunter Fotografien, Briefe und Tagebücher – liegt bei der
‚Handarbeit‘, in: Anja Zimmermann (Hg.): Kunstgeschichte und Gender.
Van Rees Stichting in Utrecht, die primär den Nachlass von Otto van
Eine Einführung, Berlin 2006, S. 215–239, hier S. 225.
Rees betreut. Für weitere Untersuchungen müsste das Archiv gesichtet
8
werden, was durch die Stiftung im Rahmen dieser Publikation abge-
Sigrid Schade und Silke Wenk: Inszenierungen des Sehens:
Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz, in: Hadumod Bußmann
lehnt wurde.
(Hg.): Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften,
19
Stuttgart 1995, S. 340–407, hier S. 359.
Kat. Musée cantonal des Beaux-Arts des Lausanne, Milan 2005, S. 76.
Alice Bailly. La fête étrange, hg. v. Paul-André Jaccard, Ausst-
In die Moderne gestochen: Adriana C. van Rees-Dutilh und die Stickerei als Kunst
95
20
96
Vgl. Ann Coxon und Maria Müller-Schareck: Anni Albers, die
Büser, Ausst.-Kat. Sprengel Museum Hannover, Hannover 1996,
Vielseitige, in: Anni Albers, hg. v. dies. und Briony Fer, Ausst.-Kat.
S. 37–45; Susanne Deicher (Hg.): Die weibliche und die männliche Li-
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf, München 2018,
nie. Das imaginäre Geschlecht der modernen Kunst von Klimt bis
S. 12–19, hier S. 13.
Mondrian, Berlin 1993. Zur malerischen Abstraktion von Künstlerinnen
21
Dies ist auch bei Sophie Taeuber-Arp (vgl. Hoch 2008 [wie
des 19. Jahrhunderts siehe: Weltempfänger. Georgiana Houghton –
Anm. 12], S. 91) und Hanna(h) Höch (vgl. Parker 1996 [wie Anm. 9],
Hilma af Klint – Emma Kunz und Filmen von John Whitney, James Whit-
S. 192.) nachzuweisen.
ney, Harry Smith, hg. v. Karin Althaus, Matthias Mühling und Sebastian
22
Schneider, Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus München, Mün-
Virginia Gardner Troy: The Modernist Textile. Europe and Amer-
ica, 1890–1940, Aldershot/Burlington 2006, S. 69.
chen 2018.
23
30
Sonia Delaunay-Terk, Broderie de feuillages, 1909, Stickerei,
Vgl. Jenny Anger: Forgotten Ties: The Suppression of the Deco-
83,5 x 60,5 cm, Paris, Centre Georges Pompidou, Musée National d’Art
rative in German Art and Theory, 1900–1915, in: Christopher Reed
Moderne. Abb. in: Robert Delaunay · Sonia Delaunay. Das Centre Pom-
(Hg.): Not at Home. The Suppression of Domesticity in Modern Art and
pidou zu Gast in Hamburg, Ausst. Kat. Hamburger Kunsthalle, Köln
Architecture, New York 1995, S. 130–146.
1999, S. 71.
31
24
ory and the Advent of Abstract Painting (Cambridge New Art History
Vgl. Uta-Christiane Bergemann: Europäische Stickereien 1650–
Vgl. Mark A. Cheetham: The Rhetoric of Purity. Essentialist The-
1850 (Kataloge des Deutschen Textilmuseums Krefeld, 2), Krefeld
and Criticism), Cambridge 1991.
2006, S. 95.
32
25 26
Troy 2006 (wie Anm. 22), S. 14.
Tommaso Marinetti: Manifeste du Futurisme, 1909; Wassily Kandinsky:
Vgl. Alois Riegl: Historische Grammatik der bildenden Künste,
Über das Geistige in der Kunst, 1912.
Vgl. Piet Mondrian: The New Plastic in Painting, 1917; Filippo
Köln/Graz 1966, S. 287–289. Riegl führt den Begriff erstmalig 1901 in
33
seiner Publikation Spätrömische Kunst-Industrie ein.
tion en diagonale, 1915, Seidenstickerei, 74 x 89 cm, Strasbourg, Musée
27
d’art moderne et contemporain. Abb. in: Claude Weil-Seigeot (Hg.):
Vgl. Parker/Pollock 1981 (wie Anm. 10), S. 78; vgl. auch Norma
Als Beispiel: Hans Arp und Adriana van Rees-Dutilh, Composi-
Broude: Miriam Schapiro and „Femmage“: Reflections on the Conflict
Atelier Jean Arp et Sophie Taeuber, Paris 2012, S. 105.
Between Decoration and Abstraction in Twentieth-Century Art, in:
34
dies. und Mary D. Garrard (Hg.): Feminism and Art History: Questioning
konnten, ließen ihre Entwürfe oft von Frauen aus dem eigenen Umfeld
the Litany, New York u. a. 1982, S. 314–329.
fertigen. Die im privaten, familiären und demnach im ‚unprofessionel-
28 29
Parker 1996 (wie Anm. 9), S. 11.
len‘ Raum entstehenden Arbeiten verweigern das in Betracht ziehen
Zur Geschlechterkonstruktion in der abstrakten Kunst: Sigrid
eines kollaborativen Austauschs. Zusätzlich wird ein klassischer kunst-
Schade: Zu den „Unreinen“ Quellen der Moderne: Materialität und Me-
geschichtlicher Topos wiederholt: Nach Vasaris disegno-Begriff wird die
dialität bei Kandinsky und Malewitsch, in: Jennifer John und Sigrid
künstlerische Qualität in der Idee verortet und deren Umsetzung als
Schade (Hg.): Grenzgänge zwischen den Künsten. Interventionen in
Handwerk definiert. Vgl. Schade/Wenk 1995 (wie Anm. 8), S. 353.
Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktionen, Bielefeld 2008,
Übertragen ins Textile heißt das, der künstlerische Wert liegt im Ent-
S. 25–62; dies.: Künstlerinnen und »Abstraktion«. Anmerkungen zu ei-
wurf und weniger in der Ausführung. Diese Lesart bildete gegenüber
ner »unmöglichen« Beziehung in den Konstruktionen der Kunstge-
dem männlichen Künstlermythos ein stereotypes Bild der Künstlerin-
schichte, in: Garten der Frauen. Wegbereiterinnen der Moderne in
nen als dilettantische Reproduzentinnen aus.
Deutschland 1900–1914, hg. v. Ulrich Krempel und Susanne Meyer-
35
Diana Anna Schuster
Künstler_innen, die das Handwerk nicht erlernen wollten bzw.
Vgl. Troy 2006 (wie Anm. 22), S. 25.
Vor dem Hintergrund der 1921 eingeleiteten Neuen Ökonomischen Politik (NĖP) und der mit der Reorganisation des Volkskommissariats für Bildungswesen (Narkompros)2 beendeten Autonomie und Selbstverwaltung der Künstler_innen in der Abteilung für Bildende Künste (IZO) wurde die Funktion der avantgardistischen Kunst im Übergang von einer politischen zu einer forcierten industriellen Revolution zunehmend in Frage gestellt. Die Kunst sollte den
Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova: Von der gegenstandslosen Malerei zum Textildruck Christiane Post
‚industriellen Traum‘ antizipieren und den Aufbau einer neuen Gesellschaft fördern. Situiert im Kontext des Instituts für Künstlerische Kultur (INChUK)3 in Moskau und der Ende 1921 geführten Diskussionen über den Konstruktivismus, proklamierten Varvara Stepanova und mit ihr weitere Künstler_innen die Abkehr von der reinen Kunst und den Übergang zur Produktionskunst.4
Konstruktivistische Künstlerinnen wie Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova, aber auch Kazimir
I NChU K und Konst rukt i v i sm us
Malevič, Aleksandr Rodčenko und Vladimir Tatlin – als die bekanntesten Vertreter der russischen Avant-
Das im Mai 1920 gegründete INChUK war eine
garde – widmeten sich Anfang der 1920er Jahre der
künstlerisch-wissenschaftliche Forschungseinrichtung
Textilgestaltung und der Alltagskleidung. Ihre suprema-
des Narkompros, die zu Beginn von Vasilij Kandinskij
tistischen und konstruktivistischen Entwürfe sind
und dann von Aleksandr Rodčenko geleitet wurde. Es
immer wieder auch von zeitgenössischen Künstler_in-
durchlief verschiedene Phasen, in denen sich seine
nen aufgegriffen und für Ausstellungen und Museen
Konzeption und seine theoretische Ausrichtung
reproduziert worden.1
änderten. Im März 1921 wurde am INChUK die
Aufgrund des unvermindert anhaltenden Interes-
Arbeitsgruppe der Konstruktivisten gegründet.5 Über
ses an der ‚Textilen Avantgarde‘ soll erneut ein Blick auf
ihr Programm erfuhr der Konstruktivismus eine erste
das Selbstverständnis der russischen Künstler_innen
theoretische Fundierung.6 Er wurde definiert als eine
und auf die Rolle der Kunst in den frühen 1920er Jahren
„neue Ideologie in dem Bereich der menschlichen
geworfen und zudem der Konstruktivismus als theo-
Tätigkeit, die sich bis jetzt Kunst nennt“7. Die ideologi-
retische Konzeption sowie die Debatten um die
sche Grundlage des Konstruktivismus bildete „der auf
Produktionskunst ausschnitthaft beleuchtet werden.
der Theorie des historischen Materialismus basierende
Im Mittelpunkt stehen die (schriftlichen) Äußerungen
wissenschaftliche Kommunismus“8. Als wesentliche
der russischen Künstler_innen zur gegenstandslosen
Elemente des Konstruktivismus wurden Tektonik,
Malerei und konstruktivistisch-produktivistischen Kunst.
Konstruktion und Faktur angesehen. Angestrebt
Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova: Von der gegenstandslosen Malerei zum Textildruck
97
wurde, „von der experimentellen Phase ‚außerhalb des
wichtigsten Industriezweige. 1913 gab es in Russland
Lebens‘ zum realen Experiment“9 überzugehen, das
873 Fabriken, in denen etwa anderthalb Millionen
heißt, die autonome Kunst aufzugeben und die
Menschen arbeiteten.16 Die Motivpalette der Dekore
Verfahren des Konstruktivismus auf die ‚Industriekul-
reichte von Kopien ausländischer Stoffe, zumeist
tur‘ anzuwenden. Das Programm der Arbeitsgruppe
französischer Musterkataloge, bis hin zu „typisch
der Konstruktivisten schloss mit der Erklärung:
russischen Motiven der Volkskunst mit großen Blumen
„1. Die Gruppe sagt der Kunst im Allgemeinen den
und Buketts“17. Während des Russischen Bürgerkrie-
offenen Kampf an. 2. Sie hebt die Unzulänglichkeit der
ges (1918 bis 1921) kam die Produktion nahezu zum
künstlerischen Kultur in der Vergangenheit hinsichtlich
Erliegen. Selbst eine der größten Textilfabriken
der Erstellung konstruktivistischer Installationen der
Moskaus, die Erste Staatliche Kattundruckerei (vormals
neuen kommunistischen Kultur hervor.“10
Manufaktur Ėmil’ Cindel’), musste wie viele andere
In einer Diskussion am INChUK, die Ende 1921 im Anschluss an Varvara Stepanovas Vortrag „Über den
1919 aufgrund von Rohstoffmangel schließen.18 Zu Beginn der 1920er Jahre wurde die Textilin-
Konstruktivismus“ geführt wurde, bemerkte der
dustrie reorganisiert und die Fabriken wiedereröffnet.
Kunsttheoretiker Boris Arvatov: „Angenommen es gibt
Zugleich wurden „große Anstrengungen unternom-
keine Kunst mehr – was machen dann zeitgenössische
men, um eine künstlerisch wertvolle Produktion zu
Künstler, wenn sie Teil der Arbeiterklasse werden?“12
erzielen“19. Zu diesem Zweck wandte sich der Direktor
Und folgerte: „Meiner Meinung nach sollten Künstler zu
der Ersten Staatlichen Kattundruckerei Aleksandr
politischen Aktivisten werden.“13 Auch Varvara Stepa-
Archangel’skij 1923 an die Moskauer Höheren Staatli-
nova stellte die Frage in den Raum: „Was sollten
chen Künstlerisch-Technischen Werkstätten (VChUTE-
Künstler zum gegenwärtigen Zeitpunkt tun?“ Und berief
MAS) und veröffentlichte einen Aufruf in der Zeitung
sich in ihrer Antwort auf ihren Vorredner: „Arvatov
Pravda, in dem er Künstler_innen zur Mitarbeit in der
beantwortet diese Frage damit, dass die Aufgabe des
Produktion einlud.20
11
Künstlers [...] Propaganda ist [...]. Zurzeit besteht die
Im Spätherbst 1923, vermutlich jedoch früher,21
Aufgabe des Künstlers noch nicht darin, ein politischer
begannen Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova,
Aktivist zu sein, jedoch ist klar, was er tun kann.
nachdem sie zuvor mit dem Theaterregisseur Vsevolod
An diesem Punkt kann er in die Industrie gehen“ . 14
Diese Hinwendung zur industriellen Produktion
Mejerchol’d zusammengearbeitet und im Kontext der von ihm entwickelten Biomechanik architektonische
wurde von ihr und anderen Künstler_innen auch
Bühnenkonstruktionen und sogenannte Produktions-
umgesetzt. 1923/24 arbeiteten Ljubov’ Popova und
kleidung (prozodežda) entworfen hatten, ihre Tätigkeit
Varvara Stepanova für die Textilindustrie und entwarfen
als Künstlerinnen in der Ersten Staatlichen Kattun-
Stoffmuster, die dann auch in die Produktion gingen.
druckerei.22 In ihrem Artikel „Der Anzug des heutigen Tages
„In die Produktion!“
ist Prozodežda“23 thematisierte Varvara Stepanova 15
ihren konstruktivistisch-produktivistischen Ansatz. Im Gegensatz zur „Mode als psychologische Widerspiege-
Im vorrevolutionären Russland war die Textil industrie einer der am weitesten entwickelten und
98
Christiane Post
lung des Alltags“ wird bei der Arbeitskleidung – wie sie schrieb – „die Faktur (Materialbearbeitung), d. h. die
Ausführung, zu ihrem wichtigsten Moment. [...] Bei der
Vorschlägen Musterzeichnungen für Druckstoffe
Organisation eines zeitgemäßen [Arbeits-]Anzuges
herzustellen. [...] 4. Verbindung mit Schneidereien,
muss man über seine Aufgaben zu seiner Materialgestal-
Modeateliers und Zeitschriften. 5. Werbetätigkeit für
tung kommen, von den Besonderheiten der Arbeit, für
die Produktion der Fabrik in der Presse, Zeitschriften-
die er bestimmt ist, zum System des Zuschnitts.
reklame. Gleichzeitig kann sich unsere Arbeit in
Ästhetische Elemente sind durch den Produktionspro-
Zeichnungen für Schaufensterdekorationen
zess des Nähens des Anzugs selbst zu ersetzen. Zur
niederschlagen.“28 In einem Vortrag am INChUK
Erläuterung: dem Anzug keine Verzierungen hinzufü-
berichtete Varvara Stepanova über ihre Rolle und ihre
gen, denn die Nähte, die für den Schnitt gebraucht
Aufgaben in der Baumwolldruck-Industrie.29
werden, verleihen ihm seine Form. Die Nähart des Anzugs, seine Steppnähte u. ä. offen zeigen. [...] Die Steppnaht der Nähmaschine industrialisiert die Herstellung des Anzugs. [...] Und die Form, d. h. die
Konst rukt i v i st i sche Text i lent w ürfe
ganze äußere Art des Anzugs, ist nicht mehr willkürlich, sondern erwächst aus den Forderungen der Aufgabe und ihrer materiellen Realisierung.“
24
In Übereinstimmung mit dem Konstruktivismus
Ausgehend von ihren malerischen Ansätzen lassen sich Parallelen zu ihren produktionskünstlerischen Verfahren ziehen. So schrieb Ljubov’ Popova in
suchten Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova in
ihrem künstlerischen Statement im Katalog der
ihrem an die Direktion der Kattundruckerei gerichte-
Moskauer Ausstellung 5 x 5 = 25: „Alle vorliegenden
ten Schreiben ihre Forderungen und somit zugleich
Arbeiten sind piktural und sollen nur als vorbereitende
das Aufgabenspektrum der Künstler_innen in der
Versuche für konkrete vergegenständlichte Konstruk-
Industrie zu umreißen. Sie betonten ihre künstlerische
tionen angesehen werden.“30 Ihre gegenstandslose
Verantwortung nicht nur für den Entwurf von industri-
Raum-Kraft-Konstruktion (Prostranstvenno-silovoe
ellen Produkten, sondern auch für den gesamten
postroenie) von 1921 (Abb. 1) aus der gleichnamigen
Produktionsprozess, angefangen bei den technischen
Malerei-Serie, die auf dieser Ausstellung zum ersten
und organisatorischen Abläufen bis hin zur Werbege-
Mal gezeigt wurde – „diese Werke als ‚Gemälde‘ zu
staltung. In ihren Ausführungen zählten sie „drei
bezeichnen, würde bereits bedeuten, das Problem
Arten künstlerischer Tätigkeit in der Produktion auf:
ihres Status als ‚Kunst‘ anzuschneiden“ –,31 besteht aus
die organisatorisch-kontrollierende, die künstlerisch-
sich schneidenden geraden und kreisförmigen Linien
konstruktive und die wissenschaftlich-forschende“27
sowie fakturierten farbigen Flächen, die direkt auf den
und forderten: „1. Mit dem Recht einer beratenden
Bildträger aufgetragenen wurden.32 Konstruiert mit
Stimme an der Arbeit der Produktionsorgane teilzu-
Lineal und Zirkel wurden die geometrischen Formen
nehmen, die mit der künstlerischen Seite Hand in
mit einer reduzierten Farbpalette und durch die
Hand gehen (Annahme der Produktionspläne, der
Verfahren der Wiederholung und der Verschiebung
Produktionsmuster, Erwerb von Zeichnungen und
(sdvig) räumlich und dynamisch organisiert.33 Dieser
Heranziehen von Arbeitern zu künstlerischer Arbeit).
Ansatz bildete auch den Ausgangspunkt für ihre
2. Im Chemielaboratorium als Beobachter beim Färben
konstruktivistischen Textilentwürfe, in denen unter
anwesend zu sein. 3. Nach eigenen Wünschen und
anderem einfache geometrische Formen, ein Minimum
25
26
Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova: Von der gegenstandslosen Malerei zum Textildruck
99
Abb. 1: Ljubov’ Popova, Raum-Kraft-Konstruktion, 1921, Öl mit Holzstaub auf Sperrholz, 112,5 x 112,3 cm, MOMus – Museum of Modern Art – Costakis Collection, Thessaloniki
an Druckfarben unter Einbeziehung des Gewebe-
Produktion“36. Frida Roginskaja schrieb 1930 rück
grundtons, Permutationen und Repetitionen sowie
blickend in ihrem Buch Sowjetisches Textil, dass „die
Linien und Raster zum Tragen kamen.
Zeichnungen der Konstruktivisten“ – dazu zählte sie
34
Innerhalb eines Jahres entwarfen Ljubov’ Popova
100
Popova, Stepanova und zum Teil Rodčenko – „im
und Varvara Stepanova mehr als 200 Stoffmuster und
Grunde genommen die erste sowjetische Mode waren.
fertigten zahlreiche Kleiderentwürfe an.35 Von ihren
Aber die Modezeichnungen machten bekanntlich nicht
Stoffmustern gingen mehr als „zwanzig in die
mehr als 2% der gesamten Produktion aus.“37
Christiane Post
Abb. 3: Varvara Stepanova im selbstentworfenen Kleid, Foto: Aleksandr Rodčenko, 1924, Reprint, 39,3 x 28 cm, Museum Ludwig, Köln
Abb. 2: Ljubov’ Popova, Entwurfszeichnung für ein Kleid, 1923/24, Tusche und Gouache auf Papier, 24 x 10,4 cm, Privatsammlung; Textilentwurf, 1923/24, Tusche und Gouache auf Papier, 24,8 x 35,7 cm, GMZ „Caricyno“, Moskau
Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova: Von der gegenstandslosen Malerei zum Textildruck
101
Abb. 4: LEF. Žurnal levogo fronta iskusstv, 1924, H. 2, Cover, S. 29, 32. Technik: Zeitschriftendruck, Maße des Originals: 23,3 x 15,5 cm (Seitengröße) bzw. 23,7 x 15,8 cm (Zeitschrift)
Beispielhaft dafür ist Ljubov’ Popovas Entwurfs-
„neuen Muster“40 exemplarisch den konstruktivisti-
1923/24 basiert (Abb. 2). In diesem kombinierte
schen Gegenstand.41
Popova zwei Grundformen – Viereck und Kreis. Das
Varvara Stepanova, die auch Näherin war,
aus diesen Formen entwickelte Muster setzt sich aus
fertigte aus den von Ljubov’ Popova und von ihr selbst
zwei unterschiedlichen Teilflächen zusammen, die den
entworfenen, von der Kattundruckerei produzierten
Rapport bilden. Diese Flächen sind durch alternie-
Stoffen Sommerkleider an (Abb. 3). Eine Fotografie
rende und versetzt angeordnete, diagonal verlaufende,
von Aleksandr Rodčenko zeigt sie in einem selbst
schwarze und weiße Streifen gegliedert. An zwei der
geschneiderten Kleid mit Streifenmuster. Dieses von
gegenüberliegenden Ecken jeder Fläche befinden sich
ihr entworfene, in verschiedenen Farbkombinationen
Viertelkreise. Zusammengesetzt entsteht optisch ein
gedruckte, geometrische Muster basiert auf Längs-
Muster mit blau-weißen Kreisen, die durch schwarz-
streifen, die farbig versetzt durch Kreisflächen laufen,
weiß schraffierte Rhomben verbunden sind. Die
die in gleichmäßigen Reihen versetzt angeordnet sind
Wirkung der Stoffmuster erprobte Ljubov’ Popova an
und optisch einen flimmernden Eindruck erzeugen.42
38
einer Reihe von Entwurfszeichnungen für Sommerkleider. Das abgebildete, ärmellose „Flapper-Kleid“
102
geschlungenes Tuch aus. Es verkörpert mit seinem
zeichnung für ein Kleid, das auf ihrem Textilentwurf von
39
Nach Ljubov’ Popovas frühem Tod im Mai 1924 erschien eine unter der Redaktion von Vladimir
zeichnet sich durch eine langgestreckte Silhouette mit
Majakovskij herausgegebene und von Aleksandr
tiefer Taille, einen großen Kragen und ein um die Taille
Rodčenko gestaltete Ausgabe der Zeitschrift LEF, dem
Christiane Post
Organ der Linken Front der Kunst, die einen Nachruf sowie auf dem Cover und den Innenseiten Entwürfe ihrer Textildrucke enthielt (Abb. 4). Diese Drucke waren dem programmatischen Artikel des Kunsttheoretikers Osip Brik, „Vom Gemälde zum Kattundruck“43, beigegeben. Er hebt an mit: „Die Propagierung der Produktionskunst ist von Erfolg gekrönt. Es wird offenkundig, dass die künstlerische Kultur sich nicht in Ausstellungs- und Museumsobjekten erschöpft – dass insbesondere Malerei nicht ‚Gemälde‘ ist, sondern die volle Gesamtheit der malerischen Gestaltung des Lebens. [...] Damit nicht genug. Es verfestigt sich die Überzeugung, dass das Gemälde stirbt, dass [...] der Kattundruck und die Arbeit am Kattundruck sich als Gipfel künstlerischen Schaffens erweisen wird.“44
Abb. 5: Marija Nazarevskaja, Bedruckte Baumwolle. Die Beseitigung des Analphabetentums (Likbez), hergestellt von der Ersten Staatlichen Kattundruckerei, Moskau, Ende der 1920er Jahre, 15 x 19 cm, Privatsammlung, Moskau
In den Jahren 1924/25 unterrichtete Varvara Stepanova, sich mit dem Entwurf von Mustern für bedruckte und gewebte Stoffe befassend, auch an der Textilfakultät der VChUTEMAS.45 Neben rein statischkonstruktiven Mustern entwickelte sie zunehmend
Künstlerisch-Technischen Instituts (VChUTEIN),48
kompliziertere Entwürfe, die den Eindruck von
entwarf für die Erste Staatliche Kattundruckerei einen
Bewegung und räumlicher Tiefe hervorriefen und auf
Baumwollstoff zu dem Thema Die Beseitigung des
Translation, Transparenz und unterschiedlichen
Analphabetentums (Likbez), der den Übergang von den
Symmetriegruppen beruhten. In ihrem Artikel „Die
gegenstandslosen konstruktivistischen Stoffmustern
Aufgaben des Künstlers in der Textilindustrie“
zu den ‚gegenständlichen‘ Mustern markierte.49 1933
46
thematisierte sie die Verschiebung des Fokus vom
wurde in der Pravda ein Artikel lanciert, der die ‚thema-
Muster zur Faktur des Stoffes, das heißt zur Entwick-
tischen‘ Stoffmuster kritisierte und einen Sonderbe-
lung neuer Stoffarten und zur Ausarbeitung neuer
schluss des Rates der Volkskommissare der UdSSR
Gewebestrukturen.
nach sich zog, in dessen Folge „kein einziges agitatorisches Muster mehr produziert“50 wurde. Dieser
‚Th e m at i sche‘ Tex tilentwürfe
Beschluss markiert eine Zäsur in der Geschichte der russischen ‚Textilen Avantgarde‘, die mit den von der gegenstandslosen konstruktivistischen Malerei
Ende der 1920er Jahre wurde eine breite
ausgehenden und von der produktivistischen Theorie
Diskussion über den Textilentwurf entfacht und
getragenen geometrischen Textilentwürfen begann,51
Muster mit „neuer Thematik“47 traten in den Vorder-
eine sehr kurze Zeitspanne umfasste, jedoch außeror-
grund (Abb. 5). Marija Nazarevskaja, Absolventin der
dentliche Wirkung entfaltete und heute ‚appropriiert‘
Textilfakultät des Moskauer Höheren Staatlichen
(wieder) in den Bereich der Kunst integriert wird.
Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova: Von der gegenstandslosen Malerei zum Textildruck
103
Anmerkungen
d. h. eine Adaption der sich in Deklarationen manifestierenden Sprache
Vgl. Erika Hoffmann-Koenige: Russische konstruktivistische
crat: Ginchuk and the Survival of the Avant-Garde, 1924–1926, in:
Kleidung: auch eine Utopie? Russian Constructivist Clothing: Just one
Charlotte Douglas und Christina Lodder (Hg.): Rethinking Malevich.
more Utopia?, in: Künstlerinnen der russischen Avantgarde. Russian
Proceedings of a Conference in Celebration of the 125th Anniversary
Women-Artists of the Avantgarde. 1910–1930, hg. v. Krystyna
of Kazimir Malevich’s Birth, London 2007, S. 121–138, hier 122 f.
1
Gmurzynska, Ausst.-Kat. Galerie Gmurzynska, Köln, Köln 1979, S. 46–
11
57; vgl. auch die Ausstellungen von Alexandra Hopf wie Die Falten der
dov 1994 (wie Anm. 3), S. 200–202.
Vgl. Stepanova 1921 (wie Anm. 7), S. 196–198; Chan-Magome-
Revolution – International Standard Coat (1917–2017), ZERO FOLD,
12
Köln 2017, und Maison Tatline, tête, Berlin 2018, http://www.ale
den Konstruktivismus“ [22.12.1921], in: Ausst.-Kat. Bundeskunsthalle
xandrahopf.com/_Exhibiton_Views [Abruf: 15.12.2018].
1994 (wie Anm. 6), S. 199–201, hier S. 200.
Protokoll der Diskussion zu Genossin Stepanovas Vortrag „Über
ber 1917–1921, Cambridge 1970.
13 14 15
3
Vgl. Selim O. Chan-Magomedov: INChUK i rannij konstruktivizm
Zeitschrift LEF veröffentlichten Artikels von Osip Brik. Zur Produktions-
2
Vgl. Sheila Fitzpatrick: The Commissariat of Enlightenment: So-
viet Organization of Education and the Arts under Lunacharsky, Octo-
Chan-Magomedov 1994 (wie Anm. 3), S. 202. Ausst.-Kat. Bundeskunsthalle 1994 (wie Anm. 6), S. 201. V proizvodstvo! [In die Produktion!] ist der Titel eines 1923 in der
[INChUK und der frühe Konstruktivismus], Moskau 1994; Christina Lod-
kunst vgl. auch Tarabukin 1923 (wie Anm. 4), S. 5–44; Hans Günther
der: Russian Constructivism, New Haven/London 1983, S. 78–108.
und Karla Hielscher (Hg.): Boris Arvatov. Kunst und Produktion,
4
Vgl. Nikolaj Tarabukin: Ot mol’berta k mašine [Von der Staffelei
München 1972; Natasha Kurchanova: Against Utopia: Osip Brik and
zur Maschine], Moskau 1923. Deutsche Übersetzung in: Boris Groys
the Genesis of Productivism, Diss., The City University of New York,
und Aage Hansen-Löve (Hg.): Am Nullpunkt. Positionen der russischen
New York 2005; Anke Hennig (Hg.): Über die Dinge. Texte zur russi-
Avantgarde, Frankfurt a. M. 2005, S. 416–458, hier S. 429. Viktor Loba-
schen Avantgarde, Hamburg 2010.
nov zitierte in seiner 1930 in Moskau erschienenen Publikation
16
Chudožestvennye gruppirovki za poslednie 25 let [Künstlergruppierungen
Tolstoj (Hg.): Kunst und Kunsthandwerk in der Sowjetunion 1917–
der letzten 25 Jahre] die Konstruktivist_innen wie folgt: „Under pressure
1937, München 1990, S. 221–261, hier S. 221.
Vgl. Tat’jana Striženova und I. Alpatova: Textilien, in: Vladimir
pure forms of art. We recognize self-sufficient easel art as being out-
17 18
moded and our activity as mere painters as being useless. [...] We de-
gosudarstvennaja sitcenabivnaja fabrika) vgl. Société „Émile Zundel“. Ma-
clare productional art to be absolute and Constructivism to be its only
nufacture des tissus imprimés à Moscou, Moskau 1900, S. 3 f.; vgl. auch
form of expression.“ Zit. n. der engl. Übers.: John E. Bowlt: „From Pic-
Tat’jana Striženova: Iz istorii sovetskogo kostjuma [Aus der Geschichte
tures to Textile Prints“, in: The Print Collector’s Newsletter, 1976, H. 1,
des sowjetischen Kostüms], Moskau 1972, S. 15; Tatiana Strizhenova:
S. 16–20, hier S. 16.
Soviet Costume and Textiles 1917–1945, Paris 1991, S. 16.
from the revolutionary conditions of contemporaneity, we reject the
Ebd. Zur Geschichte der Ersten Staatlichen Kattundruckerei (Pervaja
der der Initiativgruppe waren: Aleksandr Rodčenko, Varvara Stepanova
19 20
und Aleksej Gan. Hinzu kamen Kārlis Johansons, Konstantin Medunec-
in: The Journal of Decorative and Propaganda Arts, 1987, H. 5, S. 144–
kij sowie Vladimir und Georgij Stenberg.
159, hier S. 149; Alexander Lawrentjew: Minimalismus und Textilkrea-
6
Vgl. Programm der Arbeitsgruppe der Konstruktivisten am IN-
tion, in: Künstler ziehen an. Avantgarde-Mode in Europa 1910 bis
ChUK [1.4.1921], in: Europa, Europa. Das Jahrhundert der Avantgarde
1939, hg. v. Gisela Framke, Ausst.-Kat. Museum für Kunst und Kultur-
in Mittel- und Osteuropa, Bd. 3: Dokumente, hg. v. Ryszard Stanislaw-
geschichte der Stadt Dortmund, Dortmund 1998, S. 58–67, hier S. 60;
ski und Christoph Brockhaus, Ausst.-Kat. Bundeskunsthalle Bonn, Bonn
Christina Lodder: Lyubov Popova: A Revolutionary Woman Artist, in:
1994, S. 199–201; vgl. auch Maria Gough: The Artist as Producer.
dies.: Constructive Strands in Russian Art 1914–1937, London 2005,
Russian Constructivism in Revolution, Berkeley/Los Angeles/London
S. 426–457, hier S. 439.
5
Vgl. Chan-Magomedov 1994 (wie Anm. 3), S. 89–112. Mitglie-
Striženova/Alpatova 1990 (wie Anm. 16), S. 225. Vgl. Natalia Adaskina: Constructivist Fabrics and Dress Design,
2005, S. 68–73.
21
7
Varvara Stepanova: Über den Konstruktivismus [22.12.1921],
nicht bekannt. Vgl. Christina Kiaer: Imagine No Possessions. The Social-
in: Ausst.-Kat. Bundeskunsthalle 1994 (wie Anm. 6), S. 196–198, hier
ist Objects of Russian Constructivism, Cambridge, Mass./London 2005,
S. 196.
S. 287, Anm. 8; Lodder 2005 (wie Anm. 20), S. 439 f.
8
104
des Bolschewismus. Vgl. Pamela Kachurin: Malevich as Soviet Bureau-
Chan-Magomedov 1994 (wie Anm. 3), S. 95; Ausst.-Kat. Bun-
22
Das genaue Datum ihres Arbeitsantritts in der Textilfabrik ist
Zu den Theaterproduktionen vgl. Alexander Lawrentjew: War-
deskunsthalle 1994 (wie Anm. 6), S. 193.
wara Stepanowa. Ein Leben für den Konstruktivismus, Weingarten
9 10
Ebd.
1988, S. 60–74; Dmitri V. Sarabianov und Natalia L. Adaskina: Popova,
Ebd., S. 194. Pamela Kachurin attestierte den in administrativen
New York 1990, S. 189–271. Zur „Prozodežda“ vgl. Striženova 1972
Positionen tätigen russischen Künstler_innen ein „speaking Bolshevik“,
(wie Anm. 18), S. 82–103; Strizhenova 1991 (wie Anm. 18), S. 143,
Christiane Post
153–163; Ada Raev: Zwischen konstruktivistischer „Prozodežda“ und
34
extravaganter Robe – russische Avantgardistinnen als Modegestalterin-
Design, in: Tate Papers, 2010, Issue 14, https://www.tate.org.uk/re-
nen, in: Frauen Kunst Wissenschaft, 1994, H. 17, S. 41–52.
search/publications/tate-papers/14/liubov-popova-from-paint-
23
Varst [Varvara Stepanova]: Kostjum segodnjašnego dnja –
ing-to-textile-design [Abruf: 15.12.2018], o. S. Christina Lodder merkte
prozodežda [Der Anzug des heutigen Tages ist Prozodežda], in: LEF,
mit Verweis auf Rosalind Krauss an: „The grid epitomised the self-re-
1923, H. 2, S. 65–68. Übersetzung ins Deutsche zit. n.: Hubertus Gaß-
flexivity in modernist painting, emphasising the weave of the canvas
ner und Eckhard Gillen: Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem
and the break with naturalism“. Vgl. Rosalind Krauss: Grids, in: October,
Realismus. Dokumente und Kommentare. Kunstdebatten in der Sow
Bd. 9, 1979, S. 50–64.
jetunion von 1917 bis 1934, Köln 1979, S. 235–237.
35
24 25
Ebd., S. 65 bzw. 235. Hervorhebungen im Original.
designs and several dozen clothing designs“ (vgl. Sarabianov/Adaskina
Vgl. Christina Lodder: Liubov Popova: From Painting to Textile
Über Ljubov’ Popova heißt es, dass sie „about a hundred textile
Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova: Manuskript [um
1990 (wie Anm. 22), S. 300) entwarf, und über Varvara Stepanova, dass
1923/24], in: Aleksandr Lavrent’ev: Poėzija grafičeskogo dizajna v
sie „etwa 100 Skizzen“ bzw. „mehr als 150 verschiedene Muster“ anfer-
tvorčestve Varvary Stepanovoj [Die Poesie des Grafikdesigns im Werk
tigte. Vgl. Lawrentjew 1988 (wie Anm. 22), S. 81, 83.
von Varvara Stepanova], in: Techničeskaja ėstetika [Technische Ästhetik], 1980, H. 5, S. 22–26, hier S. 25; auszugsweise Übers. ins Deut-
36 37
sche: Lawrentjew 1988 (wie Anm. 22), S. 81.
1930, S. 26. Übers. durch die Verf.
26
38
Vgl. Lodder 2005 (wie Anm. 20), S. 446; Christina Kiaer: His and
Ebd. F[rida] Roginskaja: Sovetskij tekstil’ [Sowjetisches Textil], Moskau Dieses Muster gehört zum zweiten Typ (p2) der Ebenengruppen
Her Constructivism, in: Rodchenko & Popova. Defining Constructivism,
in einem allgemeinen Gitter mit 2-zähligem Drehpunkt (180°). Vgl.
hg. v. Margarita Tupitsyn, Ausst.-Kat. Tate Modern, London, London
Robert Fricke und Felix Klein: Vorlesungen über die Theorie der auto-
2009, S. 143–159, hier S. 150 f.
morphen Functionen. Bd. 1: Die gruppentheoretischen Grundlagen,
27 28
Lawrentjew 1988 (wie Anm. 22), S. 81.
Leipzig 1897; Andreas Speiser: Die Theorie der Gruppen von endlicher
Ebd. Im Englischen wurde „Heranziehen von Arbeitern zu
Ordnung. Mit Anwendungen auf algebraische Zahlen und Gleichungen
künstlerischer Arbeit“ z. B. mit „hiring of workers in the art sector“
sowie auf die Kristallographie, Berlin 1923. Ich danke Michael Schwarz
(Adaskina) und „recruiting colleagues for artistic work“ (Lodder) über-
für diese Hinweise.
setzt. Vgl. Adaskina 1987 (wie Anm. 20), S. 149; Lodder 2005 (wie
39
Anm. 20), S. 447.
per dress“ und zur „clumsiness“ dieser Entwürfe vgl. Christina Kiaer:
29
Zur Bezeichnung der von Popova entworfenen Kleider als „flap-
Varvara Stepanova: O položenii i zadačach chudožnika-
The Russian Constructivist Flapper Dress, in: Critical Inquiry, 2001,
konstruktivista v sitcenabivnoj promyšlennosti v svjazi s rabotoj na I
H. 1, S. 185–243; dies. 2005 (wie Anm. 21), S. 124–140; dies. 2009 (wie
sitcenabivnoj fabrike [5.1.1924] [Über die Rolle und die Aufgaben eines
Anm. 26), S. 152 f.
Künstler-Konstrukteurs in der Baumwolldruck-Industrie in Verbindung
40
mit der Arbeit in der Ersten Kattundruckerei], in: Striženova 1972 (wie
‚neues Muster‘ [novyj risunok] wird gewöhnlich mit der Vorstellung ei-
Anm. 18), S. 97; Strizhenova 1991 (wie Anm. 18), S. 141 f.
nes gegenstandslosen geometrischen Dessins assoziiert.“ Vgl. Rogins-
30
kaja 1930 (wie Anm. 37), S. 76 f. Übers. durch die Verf.
Vgl. Katalog 5 x 5 = 25. Vystavka živopisi [Katalog 5 x 5 = 25.
Frida Roginskaja schrieb in Sovetskij tekstil’: „Der Ausdruck
Malerei-Ausstellung], Ausst.-Kat. Klub V.S.P., Moskau 1921, o. S. Teil-
41
nehmende Künstler_innen der Ausstellung waren Varst [Varvara Stepa-
shows us how it is made; it hides nothing, but rather renders its mode
nova], Aleksandr Vesnin, Ljubov’ Popova, Aleksandr Rodčenko und
of production transparent.“ Vgl. Kiaer 2001 (wie Anm. 39), S. 230.
Aleksandra Ėkster.
42
31
Briony Fer: What’s in a Line? Gender and Modernity, in: Oxford
der zwanziger Jahre, in: mit voller kraft. Russische Avantgarde 1910–
Art Journal, 1990, H. 1, S. 77–88, hier S. 77. Übersetzung durch die Verf.
1934, hg. v. Wilhelm Hornbostel, Karlheinz W. Kopanski und Thomas
32
Rudi, Ausst.-Kat. Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg, Heidel-
Vgl. Aage A. Hansen-Löve: Faktur/Gemachtheit, in: Aleksandar
Christina Kiaer schrieb: „This dress is an object that indexically
Vgl. Ursula Strate: Vom Bild zum Textil – Abstrakte Stoffmuster
Flaker (Hg.): Glossarium der russischen Avantgarde, Wien/Graz 1989,
berg 2001, S. 85–88, hier S. 87.
S. 212–219.
43
33
Vgl. Ljubov’ Popova: Bericht über das Treffen der Kommission zu
in: LEF, 1924, H. 2, S. 27–34. Auszugsweise Übers. ins Deutsche in:
den Schlussfolgerungen aus der Diskussion am 1.3.1921, in: Ausst.-Kat.
Charles Harrison und Paul Wood (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhun-
Bundeskunsthalle Bonn 1994 (wie Anm. 6), S. 192. Zum Verfahren der
dert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste,
Verschiebung (sdvig) vgl. Viktor Šklovskij: Iskusstvo kak priem [Kunst als
Statements, Interviews, Bd. 1: 1895–1941, Ostfildern-Ruit 1998,
Verfahren], in: Sborniki po teorii poėtičeskogo jazyka [Sammelbände zur
S. 364–368. Neben den Entwürfen für Stoffdrucke für die Textilindustrie
Theorie der poetischen Sprache], Petrograd 1917, Bd. II, S. 3–14. Übers.
von Ljubov’ Popova enthielt der Artikel auch Entwürfe von Varvara
ins Deutsche in: Fritz Mireau (Hg.): Die Erweckung des Wortes. Essays
Stepanova und Aleksandr Rodčenko.
der russischen Formalen Schule, Leipzig 1991, S. 11–32.
44
Osip Brik: Ot kartiny k sitcu [Vom Gemälde zum Kattundruck],
Ebd., S. 27 bzw. 364.
Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova: Von der gegenstandslosen Malerei zum Textildruck
105
45
Lawrentjew 1988 (wie Anm. 22), S. 82–84; Selim O. Chan-
Vgl. Irina Ostarkova u. a. (Hg.): 100% Ivanovo. Agitacionnyj
tekstil’ 1920-ch–1930-ch godov iz sobranija Ivanovskogo gosudarst-
und ders.: VChUTEMAS 1920–1930, Bd. 2, Moskau 2000, S. 160 f.
vennogo istoriko-kraevedčeskogo muzeja im. D.G. Burylina [100% Iva-
Varvara Stepanova verfasste zudem einen „Entwurf eines Unterrichts-
novo. Agitatorisches Textil der 1920er–1930er Jahre aus der Sammlung
plans für einen Kurs in künstlerischer Komposition in der Textilfakultät
des Ivanovoer Staatlichen historisch-heimatkundlichen Museums D. G.
der WChUTEMAS, 1925“. Vgl. Lawrentjew 1988 (wie Anm. 22), S. 182–
Burylin], Moskau 2010.
50
184.
46
106
49
Magomedov: VChUTEMAS 1920–1930, Bd. 1, Moskau 1995, S. 59,
Varvara Stepanova, Die Aufgaben des Künstlers in der Textilin-
Douglas 1992 (wie Anm. 48), S. 259; vgl. auch Galina Wlassowa:
„Wir bauen unsere neue Welt!“ – Gegenständliche Stoffmuster, in: Horn-
dustrie [1928], in: Alexander M. Rodtschenko · Warwara F. Stepanowa.
bostel/Kopanski/Rudi 2001 (wie Anm. 42), S. 201–204, hier S. 204.
Die Zukunft ist unser einziges Ziel..., hg. v. Peter Noever, Ausst.-Kat.
51
Österreichisches Museum für Angewandte Kunst, Wien, und Puschkin-
wurden einerseits als ein entscheidender Bruch mit früheren Stilen und
Museum, Moskau, München 1991, S. 190–193.
andererseits als in der Tradition der russischen dekorativen Kunst ver-
47 48
Roginskaja 1930 (wie Anm. 37), S. 87.
ortet beschrieben und zu Vorläufern der Kunst der zweiten Hälfte des
Marija Nazarevskaja leitete nach der Schließung des VChUTEIN
20. Jahrhunderts erklärt. Vgl. Lawrentjew 1988 (wie Anm. 22), S. 82 f.;
die Kunstabteilung des Moskauer Textilinstituts. Vgl. Charlotte Doug
Douglas 1992 (wie Anm. 48), S. 249; vgl. auch Nikolaj Sobolev: Nabojka
las: Russische Textilentwürfe, in: Die große Utopie. Die russische
v Rossii. Istorija i sposob raboty [Stoffdruck in Russland. Geschichte
Avantgarde 1915–1932, hg. v. Bettina-Martine Wolter und Bernhart
und Arbeitsweise], Moskau 1912; Julija Tulovskaja: Tekstil’ avangarda.
Schwenk, Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt, Frankfurt a. M. 1992,
Risunki dlja tkani [Textil der Avantgarde. Stoffmuster], Ekaterinburg
S. 249–259, hier S. 255.
2016.
Christiane Post
Die Textilentwürfe von Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova
Vereins in München erhielt, widmete sich über viele Jahre ihres künstlerischen Schaffens verschiedenen textilen (Handwerks-)Techniken. Ihr Œuvre ist bisher wenig erforscht, einige ihrer frühen textilen Arbeiten sind im Werkverzeichnis von Franz Marc aufgeführt3, ein eigenes gilt es noch zu erstellen. Zu ihren Lebzeiten und unter ihrer Mithilfe zeigte die Münchner Galerie Stangl 1952 die Ausstellung Wandteppiche – Maria Marc, Zeichnungen aus dem letzten Skizzenbuch –
Zwischen detailgetreuem Nachsticken und eigenen abstrakten Webentwürfen: Textile Arbeiten von Maria Marc Susanna Baumgartner
Franz Marc.4 Nach ihrem Tod 1955 präsentierte die Neue Sammlung in München in einer Gruppen-Ausstellung zu dem Thema Wandteppiche einige ihrer textilen Arbeiten neben denen von Johanna SchützWolff, Fritz und Inge Vahle oder Ida Kerkovius.5 Lediglich das Münchner Lenbachhaus widmete sich 1995 mit der Ausstellung Maria Marc. Leben und Werk 1876–1955 mit 32 ausgestellten Werken monografisch dem Œuvre der Künstlerin.6 Im Jahr 2004 kontextualisierte das Schloßmuseum Murnau im Rahmen der Ausstellung Maria Marc im Kreise des Blauen Reiters das malerische und textile Werk der
Die Herstellung und Verarbeitung von Textilien
Künstlerin mit Zeichnungen und Gemälden von
sind jahrhundertealte kulturelle Praktiken, deren
Gabriele Münter, August Macke, Franz Marc und
geschlechtsspezifische Zuschreibungen sich im Laufe
anderen Mitgliedern der Künstlervereinigung.7 In
der Zeit und in den verschiedenen Regionen der Welt
Publikationen gilt das Interesse meist ihrer Biografie,
immer wieder gewandelt haben. In der Moderne
wobei der Fokus auf dem gemeinsamen Leben mit
wurden textile Künste in vielfältiger Weise aufgegrif-
ihrem weithin bekannteren Mann, Franz, Marc und
fen, wobei in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts
nach dessen Tod auf ihr als seinen Nachlass verwal-
textile Techniken noch immer vor allem Frauen
tende Witwe liegt.8
zugeordnet wurden.1 Dabei übernahmen diese anfangs
Im Zentrum dieses Beitrags steht die Frage, wie
zumeist die ausführenden Arbeiten, während Männer
Maria Marc textile Techniken verwendete. Es soll
die Entwürfe gestalteten. Auch wenn Überlegungen zu
gezeigt werden, dass die Künstlerin mit der verzieren-
diesen geschlechtsspezifischen Zuschreibungen
den und weiterverarbeitenden Technik des Stickens
meinem Beitrag zugrunde liegen, soll der Fokus hier
figürliche Vorlagen detailgetreu nachstickte, wohinge-
ein anderer sein.2
gen sie im Webprozess abstrakte Muster und Farben
Maria Marc (geborene Franck), die ihre künstle
zu einer textilen Fläche verband. Dabei war das von ihr
rische Ausbildung um 1900 an der Königlichen
selbst praktizierte Färben der Wolle von Bedeutung
Kunstschule Berlin und der Schule des Künstlerinnen-
für ihren schöpferischen Prozess.9
Textile Arbeiten von Maria Marc
107
Detailgetreues Nachsticken – Ti erdarstellungen nach Fra nz Ma rc Wie andere Mitglieder der Künstlervereinigung Blauer Reiter verlegte auch Maria Marc mit ihrem Mann zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Arbeitsund Wohnort in ländliche Gebiete der bayerischen Voralpen. Eine Bewegung aus der Großstadt aufs Land, die auch andere Gruppierungen von Künstler_ innen wie die der Brücke vollzogen. Die Abkehr von Großstadtleben und Akademien beziehungsweise akademischen Strukturen war mit einem Interesse am Experimentieren mit ‚neuen‘ Materialien und der im ländlichen Raum praktizierten Volkskunst verbunden.10 So hatten Gabriele Münter und Wassily Kandinsky in Murnau für sich die Technik der Hinterglasmalerei in der Sammlung Krötz entdeckt. Durch ihre Anregung entwickelte sich diese zu einem gemeinsamen Tätigkeitsfeld der Gruppe.11 Aber auch Textilien und ihre Gestaltung waren ein Bereich, mit dem sich neben Marc andere Künstler_innen im Umfeld der Vereinigung des Blauen Reiters beschäftigten. Elisabeth Macke und Gabriele Münter stickten, Franz Marc entwarf Webvorlagen für den Plessmannschen Handwebstuhl und Textildesigns.12 Maria Marc führte seine Entwürfe in Stickerei aus.13 Dabei werden auf einem Tuch Muster und Figuren geschaffen. Zeichnungen auf Millimeterpapier dienen bei der Übertragung der Größenverhältnisse als Schablonen. Mit unterschiedlichen Stichlängen und -typen sowie Garnstärken und -farben werden diese Vorzeichnungen schließlich auf einen leinwandbindigen Grundstoff übertragen.14 Die Künstlerin orientierte sich für ihre Stickarbeiten an figürlichen Vorlagen, wobei sie sich Franz Marcs Formen- und Figurenrepertoires aneignete.
108
Susanna Baumgartner
Abb. 1: Maria Marc, Ohne Titel, 1914/1915, Stickerei, 74 x 26 cm, Privatbesitz
Aus den Jahren 1914/1915 ist eine Stickarbeit von Maria Marc erhalten, die größer ist als die übrigen dekorativen Arbeiten und sich in ihrer Farbigkeit und technischen Ausführung deutlich von diesen unterscheidet (Abb. 1). Die Komposition orientiert sich an einer Skizze von Franz Marc (Abb. 2), die er 1911 für ein Hinterglasbild mit dem Titel Landschaft mit Pferden und Regenbogen anfertigte. Maria Marc wählte für ihre gestickte Arbeit ein für diese Technik ungewöhnlich großes Hochformat (74 mal 26 Zentimeter). Motivisch übernahm sie Details der Skizze Marcs, so auch den farblichen Kontrast zwischen den schwarzen und weißen Pferden und den angrenzenden Farbflächen. In der Bildmitte griff sie die Farbflächen der abstrahierten Landschaft auf. Hierbei erlaubte ihr die Sticktechnik nur eine Andeutung der sanften Farbverläufe der aquarellierten Skizze durch das Nebeneinander ähnlicher Farbtöne. Hingegen konnte sie die kontrastreichen Akzente und klar voneinander abgegrenzten Flächen durch die Plastizität der Stiche hervorheben. Die Künstlerin wählte für ihre Arbeit einen Grundstoff aus Leinen, den sie mit Woll- und Seidengarnen in der Technik des Plattstichs bestickte.15 Dieser ermöglichte ihr die klar voneinander getrennten Farbflächen durch lange Stiche verhältnismäßig groß zu gestalten. Die Stickarbeit zu Landschaft mit Pferden und Regenbogen zeugt von ihrer eigenen Auseinander setzung mit der experimentellen Herangehensweise ihres Mannes in seinen Arbeiten hinter Glas.16 Beide wählten ein größeres Format und setzten die charakteristischen Ausdrucksmittel des jeweiligen Mediums in ungewohnter Weise ein. In ihren Briefen aus jener Zeit drückt sich der Austausch über künstlerische Fragen mit den Mitgliedern des Blauen Reiters aus, aber auch Abb. 2: Franz Marc, Schwarzes und weißes Pferd in Gebirgslandschaft mit Regenbogen (aus dem Skizzenbuch XXI), 1911, Kohle, Deckfarben und Aquarell, 21,8 x 10,5 cm, Albertina Wien
ihre Neigung sich dem Urteil ihres Mannes unterzuordnen und ihre Unzufriedenheit damit, lediglich nach seinen Entwürfen Stickarbeiten anzufertigen.17
Textile Arbeiten von Maria Marc
109
Farb-Netzwerke: Tex tilwerkst at t am Bauhaus
nur die sehr gut ausgestattete Werkstatt zum Weben, sondern auch die Möglichkeit, mit (Natur-)Farbstoffen zu experimentieren und die Wolle für ihre Arbeiten
Seit dem Wintersemester 1922/1923 besuchte Maria Marc für zwei Semester die Textilwerkstatt des
Wie andere textile Arbeitsweisen wird auch das
Bauhauses in Weimar. Diese war bereits seit den
Färben weltweit praktiziert und reicht weit zurück in
Anfängen der Schule die am besten ausgestattete
der Geschichte. Es kann am Anfang der Arbeit an einer
Werkstatt, da die seit den Gründungstagen amtie-
textilen Fläche stehen, wenn das Rohmaterial (Woll-
rende Leiterin Helene Börner ihre privaten Webstühle
stränge oder Garne) gefärbt wird, einer von vielen
und Werkzeuge zur Verfügung stellte. Maria Marc
Schritten in der Ausgestaltung von Textilien sein, oder
suchte sich also eine Institution aus, in der sich ihr
es ist der letzte Vorgang an einem bereits fertig
gute technische Möglichkeiten boten und eine
genähten Kleidungsstück. Bei der Herstellung von
handwerklich versierte Werkstattleiterin unterrichte-
Gobelins, wie sie auch am Bauhaus entstanden,
te. Angesichts unterschiedlicher Erwartungen an die
handelt es sich um die Farbgebung von Rohmaterial:
Werkstattarbeit – Börner wollte handwerkliche
Hier wird die Wolle gefärbt, bevor sie in einen Bildtep-
Fertigkeiten vermitteln und die Produktivität der
pich verwebt wird. Das Färben erfordert und lehrt –
Werkstatt aufrechterhalten und verbessern, die
durch die intensive Auseinandersetzung mit den
angehenden Künstlerinnen wollten ihre Kreativität
beiden sich verbindenden Komponenten Farbe und
ausleben und in den Formkursen Erlerntes anwen-
Wolle – ein vertieftes und gründliches Materialempfin-
den – kam es zu Differenzen zwischen Werkmeisterin
den. Gunta Stölzl drückte 1931 rückblickend ihre
und Schülerinnen. Letztere wie Gunta Stölzl und
Arbeit an der Farbe folgendermaßen aus: „Allein schon
Benita Otte beklagten die konservative Herangehens-
die Farbe, die in jedem Material – Wolle, Seide,
weise Börners, ebenso ihre fehlende Kreativität und
Leinen – ein anderes, ganz spezielles Leben hat, stellte
Offenheit; es gelang ihnen jedoch, neue Impulse in der
uns vor die tiefsten und umfassendsten Probleme.“23
18
19
Werkstatt zu setzen, etwa indem sie mit Web-Bindun-
In der langen Zeit ihrer Beschäftigung mit
gen experimentierten.20 Maria Marc bewegte sich
Textilien praktizierte und professionalisierte Maria
folglich in einem Spannungsfeld zwischen ihren
Marc das Färben. Sie experimentierte mit verschiede-
kreativen und experimentierfreudigen Mitschülerin-
nen Wollprodukten und unterschiedlichen Substanzen
nen, dem hohen handwerklich-technischen Anspruch
zur Farbgewinnung – später vornehmlich pflanzlichen.
Börners und dem an Textilien wenig interessierten
Nach ihrer Zeit am Bauhaus färbte und webte Maria
Formmeister Georg Muche, der seinen Schülerinnen
Marc in Ascona, wohin sie zeitweise gezogen war, und
21
jedoch viele Freiheiten ließ.
in Ried. Sie stand in regem Austausch mit befreunde-
In ihrer Zeit am Bauhaus erweiterten die Mit-
ten Künstlerinnen über Anregungen und Empfehlun-
schülerinnen von Maria Marc, Gunta Stölzl und Benita
gen für gute Materialien (sowohl Wolle wie Färbemit-
Otte die Textilwerkstatt um eine eigene Färberei.
tel). 1930 verbrachte Marc einen Studienaufenthalt an
Diese richteten sie 1922 ein, inspiriert durch eine
der Kunstschule Burg Giebichenstein in Halle (Saale),
Fortbildung in Textilfärbetechniken, die sie in Krefeld
vermutlich angeregt durch die Künstlerin Johanna
absolviert hatten. Maria Marc nutzte schließlich nicht
Schütz-Wolff, die 1920 Mitbegründerin der dortigen
22
110
selbst zu färben.
Susanna Baumgartner
Stölzl-Sharon, war mittlerweile Meisterin der Textilwerkstatt und ihre Assistentin, Margarete Leischner, leitete ab 1930 die Färberei des Bauhauses.25 Von ihnen ließ sich Maria Marc ebenfalls Woll- sowie Färbeproben zukommen und Stölzl-Sharon empfahl in diesem Briefwechsel Wollkämmereien mit bewährten Produkten, die in kleinen Quantitäten bezogen werden konnten. 26 Wohl ab den späten 1930er Jahren begann Maria Marc Farbstoffe aus Pflanzen zu gewinnen. Mit Johanna Schütz-Wolff tauschte sie Rezepturen für die Gewinnung von Farbstoffen aus Pflanzen wie Birkenblättern, Wiesenkerbel und Frauenmantel aus. Sie berichteten sich von ihren Experimenten und Erfahrungen mit den jeweiligen Färbebädern.27 Die intensive und langjährige Beschäftigung mit dem Färben zeigt, dass der kreative Prozess für Maria Marc bereits vor der Arbeit am Webstuhl begann.
Gewebte Abst ra kt i on – Ma ri a Ma rcs Weba rbei ten Maria Marc widmete sich über eine Zeitspanne von 30 Jahren der Weberei. In ihrem Nachlass sind Abb. 3: Lotte Peters, Briefanhang mit Wollproben, 18. Februar 1930, Nachlass Maria Marc, Privatbesitz
Gobelins verschiedenen Formats und materieller Ausführung erhalten. Mit ihren Webarbeiten löste sie sich von den gegenständlichen Darstellungen ihrer Stickereien, blieb dabei in Komposition und Formen-
Weberei war und diese fünf Jahre leitete. Ein ausführ-
sprache nahe an den Arbeiten ihrer Zeitgenoss_innen
licher Brief von Lotte Peters, der späteren Leiterin der
am Weimarer Bauhaus. Gunta Stölzl charakterisierte
Färberei auf Giebichenstein, bezeugt Maria Marcs
1926 Gobelins als „Gebiet freier, künstlerischer
beharrliches Interesse an den verschiedenen Möglich-
Äußerungen, jedoch vom Webvorgang bestimmt“28,
keiten des Färbens. Peters empfahl ihr Farbstoffe,
während andere gewebte Textilien im Bauhaus wegen
Bindemittel und deren Mischverhältnisse sowie
ihrer Zweckbestimmung als angewandte Textilien
Bezugsquellen und legte Farbproben bei (Abb. 3). Aber
angesehen wurden. Anni Albers, ebenfalls ehemalige
auch mit ihren ehemaligen Mitschülerinnen am
Bauhaus-Schülerin, setzte sich 1965 in ihrem Werk On
Bauhaus hielt Marc Kontakt, wie weitere Schriftstücke
Weaving intensiv mit der Weberei auseinander und
zeigen. Gunta Stölzl, in Dessauer Jahren Gunta
beschrieb die Unterscheidung zwischen kontrastieren-
24
Textile Arbeiten von Maria Marc
111
der Struktur- und Musterweberei und piktoraler
So die Zeichnung eines Teppichs, der mit symmetrisch
Web-Gestaltung folgendermaßen: „It is a form of
angeordneten geometrischen Formen gestaltet ist
weaving that is pictorial in character, in contrast to
(Abb. 4). Auf einem mit Bleistift gezeichneten Raster
pattern weaving, which deals with repeats of contras-
sind rechtwinklige Formen von einem Zentrum
ting areas. It works with forms meaningful both in
ausgehend punktsymmetrisch konstruiert: Gelbe
themselves and through their relatedness within the
Linien, die in ein Rechteck münden, fallen farblich auf
pictorial organization. […] It is artwork, and, as in other
und ziehen die Blicke der Rezipierenden ins Bild. An
plastic arts, it demands the most direct – that is, the
den Rändern der Zeichnung sowie auf der gelben
least impeded – response of material and technique to
Fläche fügte die Künstlerin Maßangaben ergänzend
the hand of the maker, the one who here transforms
hinzu. Maria Marc konstruierte hier mithilfe geometri-
matter into meaning.“29
scher Gesetzmäßigkeiten eine durch Farben struktu-
Diese Freiheiten in der Formfindung ergaben
charakteristischen Fransen anfügte und so als Skizze
des Webens. Der Herstellung von Gobelins dienen
für einen Teppich markierte.
Hochwebstühle, die durch vertikal aufgespannte
Im Zentrum eines beinahe quadratischen
Kettfäden gekennzeichnet sind. In diese werden von
Schlitzgobelins (undatiert, zirka 31 mal 29,5 Zenti
unten beginnend in horizontaler Bewegung Schuss
meter) ist die abstrahierte Gestalt eines Vogels zu
fäden eingearbeitet und durch Kämmen nach unten
erkennen (Abb. 5). Der kleine Gobelin ist in Leinwand-
verdichtet. Werden die Schussfäden bei vertikal
bindung aus einer Bastkette und Schussfäden in Wolle
verlaufendem Farbwechsel nicht flottierend auf der
und Effektgarnen gestaltet.31 Hierbei sind die Kettfä-
Rückseite mitgeführt oder unvernäht hängen gelassen,
den am oberen und unteren Rand unvernäht verknotet
sondern bei jedem Farbwechsel in Gegenrichtung
und jeweils in gleicher Länge zu Fransen abgeschnit-
zurückgewebt, entstehen Schlitze. Während durch
ten. Der Rand des kleinen Webstücks ist aus Bast in
Kämmen die horizontale Verdichtung des Teppichs in
Form eines umlaufenden Rahmens gestaltet. Eine in
den Webvorgang integriert ist, müssen die Öffnungen
schwarzem Wollgarn gewebte Linie, die daran an-
zwischen den Farbflächen in vertikaler Richtung
schließt, verstärkt durch den Kontrast die rahmende
nachträglich in einem weiteren Schritt zusammen
Wirkung. Innerhalb dieses Rahmens steht ein die
genäht werden.
quadratische Form der Webarbeit wiederholendes
Zur überwiegenden Zahl der Webarbeiten von
112
rierte Fläche, der sie schließlich mit brauner Farbe die
sich wohl auch durch die technischen Möglichkeiten
Rechteck auf einer Ecke. Es wird wiederum umgeben
Maria Marc sind keine Vorzeichnungen überliefert, und
von vier breiten diagonal verlaufenden Streifen, die
sie sind weder betitelt noch datiert und signiert. Die
den Raum zwischen Rahmen und Quadrat füllen
Skizzenbücher der Künstlerin umfassen dennoch
(einem gekippten Kreuz ähnlich). Innerhalb des
zahlreiche Bleistiftskizzen zu Stick- und Webarbeiten
stehenden Quadrats ist der abstrahierte Vogel in
sowie kolorierte Textilentwürfe auf Millimeterpapier
einem Kreis aus Formen in Orange-, Gelb-, und
(oder mit eigens gezeichnetem Raster), die mit Berech-
Goldtönen mit unterschiedlichen Garnmaterialien und
nungen zu Garnverbrauch und Größenverhältnissen
-stärken gestaltet. Diese verschiedenen Garne und die
kommentiert sind.30 Manch detaillierte Entwurfszeich-
augenfälligen Schlitze im Gewebe verleihen dem Tier
nung wirft Fragen nach ihrer textilen Ausführung auf.
eine lebendige Struktur.
Susanna Baumgartner
Die Künstlerin verband in dieser Arbeit abstrakte Formen und Farbkompositionen mit figurativen Elementen. Maria Marc experimentierte mit den materiellen und technischen Möglichkeiten, die ihr die Gobelinweberei bot, und setzte die – zum Teil farblich auch akzentuierten – Schlitze gezielt als Gestaltungsmittel ein. Auf formaler Ebene spielte sie mit den geometrischen Formen Kreis und Quadrat. Dieses Formenspiel findet seine Entsprechung auch im Materialeinsatz. Marc kombinierte verschiedene Garne und Materialien. Der Bast-Rahmen gibt dem kleinen Bildteppich Stabilität, die weiche Wolle steht im Kontrast zu dem rauen und harten Effektgarn in Gold, das im mittleren Kreis verwendet wurde. Mit diesem kleinen Webstück, das Maria Marc in leichter Abwandlung, allerdings ohne Tierfigur, ein weiteres Mal ausführte, zeigt sich ihr experimenteller Umgang auf mehreren Ebenen: materiell, formal und technisch. Dabei spielte sie mit den Möglichkeiten, die ihr die Bildweberei eröffnete und die die Bauhaus-Schülerin Helene Nonné-Schmidt 1926 im Vergleich zur Malerei
Abb. 4: Maria Marc, Ohne Titel, undatiert, Bleistift und Aquarell auf Papier, Blattgröße: ca. 43 x 33 cm, Privatbesitz
wie folgt beschrieb: „Ihr Besonderes gegenüber der Malerei ist ihre starke Variationsmöglichkeit in Bezug auf die Oberflächenwirkung, erreicht einmal durch die Verschiedenartigkeit des Materials wie: Wolle, Baumwolle, Leinen, Seide, Kunstseide, Metall, Glas – in der Wirkung also glatt, rauh, glänzend, matt, stumpf, grob, fein, weich, hart, dick, dünn; und durch die reichen Möglichkeiten des Strukturwechsels.“32 Reduzierter setzte Maria Marc diese Möglichkeiten bei der Gestaltung einer weiteren Webarbeit ohne Titel und Datierung ein (circa 45 mal 84 Zentimeter; Abb. 6). Der querformatige Wandteppich ist vollständig aus Wolle gearbeitet. Seine Längsseiten sind von einem schmalen rostroten Rahmen gefasst, an dem die kurzen Fransen aus Kettgarn beginnen. Drei Dreiecksformen, die die gesamte Fläche einnehmen, bilden den abstrakten Hintergrund des Webteppichs. Von den
Abb. 5: Maria Marc, Ohne Titel, undatiert, ca. 31 x 29,5 cm, Privatbesitz
Textile Arbeiten von Maria Marc
113
Abb. 6: Maria Marc, Ohne Titel, undatiert, Wolle, ca. 45 x 86 cm, Privatbesitz
Schmalseiten ausgehend sind zwei Dreiecke in
auf Effektgarne. Sie reduzierte die Farbigkeit, wobei
unterschiedlich melierten Blautönen gearbeitet, die
sie die roten Elemente in beiden Bildhälften kontras-
sich am unteren Teppichrand zu überlappen scheinen.
tierend zu den blauen Flächen einwebte. Farbe und
Zwischen diesen beiden unterschiedlich blauen
gleichmäßige Wollqualität lassen vermuten, dass sie
Flächen ragt eine von der oberen Längsseite nach
das Material für diesen Schlitzgobelin eigens gefärbt
unten weisende, hellblau melierte abgerundete
hat und dabei auf ihre Rezepturen zur Farbgewinnung
Dreiecksform hervor. In diese sind braune, rostrote
aus Pflanzen zurückgriff.
und grüne Strukturen eingewebt. Vom unteren Rand
Maria Marc behielt in ihren Webarbeiten durch
des Wandteppichs gehen zwei schmale, rostrote,
rahmende Elemente den bildhaften Charakter bei. Sie
mehrmals rechtwinklig abknickende Linien jeweils bis
setzte abstrahierte Formen ein, löste sich dabei jedoch
etwa zu den Farbübergängen der Dreiecke. Die linke
nicht vollständig von figürlichen Details.
Linie mündet in eine aufrecht stehende abstrahierte Figur in Frontalansicht, die ihre geflügelten Arme auszubreiten scheint. Das rechte Band mündet in eine gedrungen wirkende, dreieckige Fläche. Diesen
Mi t pf la nz li chen Fa rben z u a bst ra kten Form en
Schlitzgobelin bearbeitete die Künstlerin, anders als das oben beschriebene Webstück, indem sie die vielen
114
Die wenigen, eingangs angeführten Ausstellun-
Öffnungen, die sich durch die Farbwechsel ergaben,
gen, die (textile) Arbeiten Maria Marcs zeigten,
mit Verbindungsnähten schloss. Statt in Materialien
verdeutlichen die geringe Aufmerksamkeit, die ihrem
und Garnstärken zu variieren, verwendete sie einheitli-
Œuvre bisher zuteilwurde. In der Rezeption ihrer
che, locker gezwirnte Wollgarne und verzichtete ganz
Kunst steht ihre Partnerschaft mit Franz Marc im
Susanna Baumgartner
Vordergrund, und sie verbleibt somit im Schatten ihres
Färbetechniken und entwickelte ihre Formensprache
Mannes sowie der (männlichen) Mitglieder des Blauen
in abstrakter werdenden Wandteppichen. In der
Reiter. Dass sie selbst viel Zeit in die Dokumentation
langen Zeit ihrer Beschäftigung mit dem Weben blieb
und Verwaltung des Werks ihres verstorbenen Mannes
sie der handwerklichen Herstellungsweise und auch
investierte und dabei möglicherweise ihre eigenen
der figurativen Formensprache von Gobelins treu.
Arbeiten zuweilen weniger im Blick hatte, mag diese
Sie erprobte weniger neue Bindungen und ihre
Sichtweise befördert haben.
Kombinationen als ihre Mitschülerinnen am Bauhaus,
Mit meinen Ausführungen konnte ich zeigen,
sondern schien ihr Experimentierfeld eher in den
dass Maria Marc in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
Färbetechniken und der Gewinnung von Farbe aus
im Umfeld der Künstlergemeinschaft Blauer Reiter
Pflanzen gefunden zu haben.33 Es ist lohnend weiter zu
deren Interesse an ‚neuen‘ Materialien und Techniken
untersuchen, wie ihre Versuche und Erfahrungen mit
in einer für sie neuen künstlerischen Technik produktiv
Farben auch zu einem Experimentieren mit Formen
aufgriff. Sie begann ihre 40 Jahre andauernde Arbeit
führten.
mit Textilem mit Weiterverarbeitung und Reproduktion
Maria Marc erfasste und archivierte das Werk
und stickte figürliche Darstellungen detailgetreu nach.
ihres Mannes gewiss genauer als ihr eigenes, Fotogra-
Nadel und Garn wurden ähnlich wie Pinsel und Farbe
fien ihrer Teppiche im Nachlass zeigen jedoch, dass sie
applizierend auf einer Leinwand eingesetzt. Dabei
ihrem Schaffen durchaus Bedeutung beimaß. Der Spur
blieb sie selbst in den Details nahe an der Vorlage,
der so festgehaltenen Teppiche nachzugehen und
auch wenn sie in der beschriebenen Arbeit vom
einen intensiveren Blick in die Skizzenbücher zu
Charakter abwich: Landschaft mit Tieren und Regenbo-
werfen, könnte sich an die hier vorgestellten Überle-
gen von 1914/15 ist größer als übliche Stickarbeiten
gungen anschließen. Ein weniger akribisch datierter
und entstand durch den flächendeckend verwendeten
Nachlass birgt das Potenzial, so die abschließende
Plattstich.
Beobachtung zu ihren Skizzen und Webarbeiten, sich
Ab den 1920er Jahren, beginnend mit ihrem
einem Werk frei von der Suche nach Entwicklungsli-
Studium am Bauhaus, setzte sie sich intensiv mit dem
nien in einer festgeschriebenen Chronologie zu
Weben auseinander, perfektionierte ihren Umgang mit
widmen.
Textile Arbeiten von Maria Marc
115
1
Anmerkungen
15
Etwa Magdalena Droste: Anpassung und Eigensinn. Die Webe-
16
Dieses Hinterglasbild gestaltete er ungewöhnlich groß, ließ die
reiwerkstatt des Bauhauses, in: Das Bauhaus webt. Die Textilwerkstatt
Farben verlaufen, statt sie in üblicher Weise mit dunklen Umrisslinien
am Bauhaus, hg. v. dies. und Manfred Ludewig, Ausst.-Kat. Bauhaus-Ar-
zu versehen und erarbeitete auf der Rückseite eine abstrakte Kollage.
chiv, Berlin, Berlin 1998, S. 11–19.
2
Siehe hierzu das Kapitel „Gender und Kreativität in Koopera-
17 18
Vgl. Uhrig 2004 (wie Anm. 12), S. 27. Ronny Schüler: Die Handwerkmeister am Staatlichen Bauhaus
tion“ in diesem Band.
Weimar, Weimar 2013, S. 106. Hier schreibt der Autor außerdem, dass
3
Helene Börner an der Vorgängerschule bereits als Handarbeitslehrerin
Annegret Hoberg und Isabelle Jansen: Franz Marc. Werkver-
zeichnis, Bd. 2: Aquarelle, Gouachen, Zeichnungen, Postkarten, Hinter-
unterrichtete.
glasmalerei, Kunstgewerbe, Plastik, München 2004.
19
4
Schütz-Wolff nach Halle gehen können. Vgl. Uhrig 2004 (Anm. 12),
Zu dieser Ausstellung liegt keine Publikation vor, aber ein Falt-
blatt mit Abbildungen, das sich im Nachlass der Künstlerin befindet.
5
Auch diese Ausstellung scheint nicht von einer Publikation be-
Marc hätte wohl auch zu ihrer späteren Freundin Johanna
S. 29.
20
Zu den Anfängen der Weberei am Bauhaus in Weimar und den
gleitet gewesen zu sein. In der Bayerischen Staatsbibliothek ist das
Spannungen zwischen Börner, ihren Schülerinnen und Kollegen vgl.
Plakat der Neuen Sammlung einzusehen.
Christian Wolsdorff: Wir waren halt die Dekorativen im Sternenbanner
6
Maria Marc. Leben und Werk 1876–1955, hg. v. Annegret Ho-
Bauhaus, in: To Open Eyes. Kunst und Textil vom Bauhaus bis heute, hg.
berg, Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus München, Mün-
v. Friedrich Meschede und Irene Below, Ausst.-Kat. Kunsthalle Biele-
chen 1995.
feld, Bielefeld 2013, S. 60–67.
7
Maria Marc im Kreis des „Blauen Reiter“, hg. v. Sandra Uhrig und
21
Über das Umfeld der Textilwerkstatt und die Rollen der Form-
Brigitte Salmen, Ausst.-Kat. Schloßmuseum Murnau, Murnau 2004.
meister schreibt auch Jenny Anger, die Klees Bedeutung für das Form-
8
Das geht bereits aus den Titeln der Publikationen hervor. Siehe
verständnis und die Arbeiten seiner Schülerinnen hervorhebt. Siehe
hierzu Kirsten Jüngling und Brigitte Roßbeck: Franz und Maria Marc,
hierzu: Jenny Anger: Klees Unterricht in der Webereiwerkstatt des
Düsseldorf/Zürich 2000; Hildegard Möller: Malerinnen und Musen des
Bauhauses, in: Ausst.-Kat. Berlin 1998 (wie Anm. 1), S. 33–41. Ob Ma-
„Blauen Reiters“, München 2007; Annegret Hoberg: Franz und Maria
ria Marc weitere Kurse am Bauhaus besuchte, ist bisher nicht bekannt.
zerspringen“. Mein Leben mit Franz Marc, hg v. Brigitte Roßbeck, Mün-
22 23
chen 2016.
Ausst.-Kat. Berlin 1998 (wie Anm. 1), S. 236.
Marc, München 2004; Maria Marc: „Das Herz droht mir manchmal zu
9
Ich möchte den Erben Maria Marcs danken, die mir ermöglich-
24
Vgl. Schüler 2013 (wie Anm. 18), S. 106. Gunta Stölzl: Die Entwicklung der Bauhausweberei (1931), in: Vgl. Burg Giebichenstein. Die hallesche Kunstschule von den
ten, den Nachlass der Künstlerin einzusehen.
Anfängen bis zu Gegenwart, Ausst.-Kat. Staatliche Galerie Moritzburg,
10
Den Begriff ‚Volkskunst‘ verwende ich hier als einen histori-
Halle, Halle 1993, S. 531.
Siehe hierzu Gabriele Münter und die Volkskunst. „Aber Glasbil-
Margaret Leischner (1907–1970) in Dessau und im britischen Exil, in:
der scheint mir, lernten wir erst hier kennen.“, Ausst.-Kat. Schloßmu-
Inge Hansen-Schaberg, Wolfgang Thöner und Adriane Feustel (Hg.):
seum Murnau und Oberammergau Museum, Murnau/Oberammergau
Entfernt. Frauen des Bauhauses während der NS-Zeit – Verfolgung und
2017.
Exil, München 2012, S. 95–114, hier S. 97.
schen.
11
12
116
Da das Stickbild nicht ausgerahmt werden darf, konnte keine
eindeutige Materialbestimmung vorgenommen werden.
Gabriele Münter stickte nach Vorlagen von Wassily Kandinsky.
25
26
Vgl. Burcu Dogramaci: Bauhaus-Transfer. Die Textildesignerin
„Sehr geehrte Frau Marc! Frau Sharon hat Ihnen Firmen aufge-
Vgl. hierzu Sandra Uhrig: Maria Marc und das Weben. Rückbesinnung
schrieben von denen wir beziehen und empfiehlt Ihnen besonders
auf eigene Kreativität, in: Ausst.-Kat. Murnau 2004 (wie Anm. 7),
Maas-Berlin. Ich habe Ihnen einige Wollproben ausgesucht u. einige
S. 25–36, hier S. 25. Die Webvorlagen von Franz Marc sind online ein-
Farben von den bis jetzt gefärbten Mustern. Herzlichen Gruß Ihre
zusehen unter: Franz Marc und Annette Simon von Eckardt: Web-Mu-
Grete Leischner.“ Zit. n. einem undatierten Brief aus dem Nachlass der
ster. Für den Plessmannschen Handwebstuhl, München 1910, http://
Künstlerin. Außerdem undatiertes Schriftstück aus dem Nachlass von
daten.digitale-sammlungen.de/~db/0004/bsb00049833/images/in-
Maria Marc, das mit G. Sharon unterzeichnet wurde.
dex.html?seite=00001&l=de [Abruf: 31.1.2019].
27
13
Beispiel hierfür ist Violettes Reh, eine Seidenstickerei, die in den
der beiden siehe hierzu: Uhrig 2004 (wie Anm. 12), hier S. 32–34, und
Deckel einer lederbezogenen Box eingearbeitet ist. Siehe hierzu: Ho-
außerdem Katja Schneider: „Heiligenbilder in einer unheiligen Zeit“. Die
berg/Jansen 2004 (wie Anm. 3), Nr. 399.
Bildteppiche von Johanna Schütz-Wolff in den dreißiger Jahren, in: Jo-
14
Dieser Grundstoff wird zur Bearbeitung auf einen Rahmen ge-
hanna Schütz-Wolff. Textil und Grafik zum 100. Geburtstag, hg. v. Katja
spannt, der die gesamte Größe des Stickbildes haben kann, oder für
Schneider, Ausst.-Kat. Staatliche Galerie Moritzburg, Halle, Halle 1996,
Details auch nur die zu bearbeitende Stelle einfasst.
S. 24–36, hier S. 35. Möglicherweise hat Maria Marc auch folgende
Susanna Baumgartner
Sandra Uhrig berichtet von einem umfassenden Briefwechsel
Publikation für ihre Arbeit mit Pflanzenfarbstoffen herangezogen: Ur-
31
sula Fels: Das Färben mit Pflanzenfarben, in: Maria Keller: Die Band-
Grundbindung hat eine rippenartige Struktur zur Folge, die durch die
und Flächenweberei auf Kamm, Brettchen und Rahmen. Die endlose
Verwendung von dünneren Kettfäden verstärkt wird.
Kette von der Ahnfrau bis zur Enkelin, Berlin 1936, S. 29–37.
32
28
(1926), in: Ausst.-Kat. Berlin 1998 (wie Anm. 1), S. 160f.
Gunta Stölzl: Weberei am Bauhaus (1926), in: Ausst.-Kat. Berlin
Die enge Verkreuzung von Kett- und Schussfäden mit dieser
Helene Nonné-Schmidt: Das Gebiet der Frau im Bauhaus
1998 (wie Anm. 1), S. 190.
33
29 30
webes wird in der Weberei Bindung genannt.
Anni Albers: On Weaving (1965), Princeton 2017, S. 48.
Die Art der Verkreuzung von Kett- und Schussfäden eines Ge-
Die drei Skizzenbücher von Maria Marc befinden sich im Nach-
lass der Künstlerin.
Textile Arbeiten von Maria Marc
117
opment of modern art. Brüderlin and his team did include in both the exhibition and catalogue one work by Klee and briefly mentioned in various catalogue texts the “great influence” he exerted on the Bauhaus weaving workshop and his admiration of non-Western textiles.4 Yet they failed to consider fully Klee’s decades-long engagement with fabric in his artistic practice. In this essay, I examine some of the ways that
Knotted, Woven, Unraveling: Textile as Structure in the Work of Paul Klee 1
fabric – as both material and inspiration – figures prominently in Klee’s artistic production. To do so, I relate Klee’s material and conceptual reliance on textiles in his two-dimensional artworks to his interpretation of Struktur, a term used in his Bauhaus course lectures to denote one way of structuring a surface. In the subsequent theoretical writings of his
Charlotte Healy
Bauhaus weaving workshop students, Struktur is identified as a defining feature of fabrics. I therefore
In 2013, the late curator Markus Brüderlin
consider Klee’s use of diverse textile painting supports
organized the large-scale thematic exhibition Art &
in his artworks in relation to his association with the
Textiles: Fabric as Material and Concept in Modern Art
weaving workshop. Furthermore, I suggest that Klee
from Klimt to the Present, which was accompanied by
often left these supports highly visible, rather than
an equally exhaustive catalogue.2 The overarching goal
fully covering them with an even ground layer, and
of this ambitious undertaking was to “explore the
routinely allowed their fraying edges to unravel not
significance of textiles in modern art” through the
only to reveal the underlying structure of the material,
presentation of a highly diverse group of 170 works by
but also to enhance the haptic and handmade nature
approximately 80 artists. However, in their attempt to
of the works.
3
paint a comprehensive picture of the multitudinous ways textiles shaped modern art, Brüderlin and his collaborators glossed over the Swiss-born modern artist and Bauhaus master Paul Klee, one of the most
Str uk tur versus Fa k tur i n Ba uha us Peda gog y
significant artists to engage with fabric both materially and conceptually.
During his tenure at the Bauhaus from 1921 to
In the exhibition and catalogue narratives, Klee
1931, Klee taught a course on fundamental creative
played a supporting role to his contemporaries Henri
principles that could be applied by his students to all
Matisse, Gustav Klimt, Sonia Delaunay-Terk, Sophie
areas of art and design. His lectures came out of
Taeuber-Arp, and Anni Albers, who were presented as
reflection on his own creative process and artistic
key early figures in fabric’s contribution to the devel-
work. He referred to his approximately 3,900 pages of
Knotted, Woven, Unraveling: Textile as Structure in the Work of Paul Klee
119
loose notes, arranged into 24 chapters, as Bildnerische
which were translated in the 1930 English edition
Gestaltungslehre (‘Theory of Pictorial Configuration’).5
(entitled The New Vision) as ‘structure’, ‘texture’,
The fourth chapter is dedicated to a theory of Gliede
‘surface aspect or surface treatment’, and ‘massing’ or
rung, a word that has no single English equivalent and
‘mass arrangement’, respectively. Moholy-Nagy
can be translated as ‘structure’, ‘structuring’, ‘organiza-
defined Struktur as “the unalterable manner in which
tion’, ‘(sub)division’, or ‘articulation’.6 The chapter
the material is built up” and reproduced microphoto-
presents the idea that one must analyze both the
graphs of various materials to illustrate their different
individual elements of a structure – whether an
structures.13
organism in nature or a pictorial composition – and
Josef Albers, who taught the other half of the
each element’s function in order to understand the
Vorkurs starting in 1923, proposed nearly the same set
whole fully. Klee distinguished between Faktur and
of terms as Moholy-Nagy to describe the different
Struktur as two opposing types of Gliederung.
aspects of a material’s outward appearance. In
7
Faktur traditionally denotes the evident manner in which an object (particularly the visible surface) was
Practice’), a statement of his pedagogical philosophy
produced, and is thus best expressed in English as its
and methods published in 1928, Albers described the
cognate ‘facture’ or ‘surface treatment’. Klee defined
use of this categorization system in his course: “We
Faktur as “traces of discrete movements of the hand”
classify the appearances of the materials’ epidermis
and gave the example of “footprints in the snow” as
(outer layer) as essentially different in Struktur, Faktur,
“the Faktur of a path”.8 In contrast, Struktur – which
and Textur.”14 For both Moholy-Nagy and Albers, Faktur
can be translated as ‘structure’, ‘texture’, or even
is the result of external manipulation or handling of
‘fabric’ – is defined by Klee as “the natural or other-
the material, whereas Struktur relates to the natural
wise given structure of matter”, distinguished by the
growth or composition of the material.15
repetition of a basic unit.9 Among the examples Klee
Given the close correspondence between the
used to illustrate Struktur are a checkerboard pattern,
opposition of Faktur and Struktur taught by Moholy-
a honeycomb, and, in the table of contents for his
Nagy and Albers in the Vorkurs and that found in Klee’s
notes on Gliederung, Leinwand (‘canvas’).10 Thus, as
lecture notes, Klee’s understanding of both terms was
opposed to the active process of structuring repre-
most likely shaped by the definitions of his two
sented by Faktur, for Klee Struktur was more passive,
colleagues.16 Klee’s increased exploitation of the intrin-
based instead on natural or material properties.
sic repeated structure of his textile painting supports
11
When László Moholy-Nagy joined the Bauhaus
reflects his pedagogical definition of Struktur as a
faculty in 1923, he took over half of the instruction of
passive, repetitive, and natural means of structuring a
the Vorkurs (‘preliminary course’). In his lectures, first
surface.17 In addition, his experimentation with a range
published as Von Material zu Architektur in 1929, he set
of fabrics in his artistic production of the 1920s and
up a similar opposition between Faktur and Struktur.
1930s was likely informed by his interaction with the
In the second chapter, Moholy-Nagy introduced what
weaving workshop at the Bauhaus.
12
he saw as a necessary terminology to characterize the appearance of different materials. The terms he listed were Struktur, Textur, Faktur, and Häufung or Haufwerk,
120
“Werklicher Formunterricht” (‘Teaching Form through
Charlotte Healy
K l e e an d the Bauhaus Weaving Wo r k s h o p
Raumgestaltung” (‘Weaving and the Design of Space’) written in the early 1930s, Berger asserted: “A textile is not only an optical object. We come into perpetual
From the winter term of 1927 to 1928 (if not
contact with it, so it is recognized through our tactile
earlier) until he left the school in 1931, Klee taught a
sense.”23 Furthermore, in the essay “Stoffe im Raum”
design class for the Bauhaus weavers specifically
(‘Fabrics in Space’), published in the Czech journal ReD
tailored to the requirements of their craft. A remark
in 1930, she insisted that among the various proper-
by weaving student Lena Meyer-Bergner about Klee’s
ties that determine fabric’s feel and appearance
contact with the weaving students is particularly
(including Struktur, Textur, Faktur, and color), it is
enlightening: “In addition to formal instruction, the
Struktur in particular that “determines the actual
weavers gathered for occasional meetings at which,
character of the fabric”.24 Berger certainly would have
under Klee’s leadership, the fabrics were critically
learned the distinction between Struktur and Faktur
analysed.”19
from both Josef Albers and Moholy-Nagy in the
18
From this experience, Klee must have developed a newfound appreciation and understanding of textiles. Although his impact on the Bauhaus weav-
Vorkurs, and probably also from Klee in his lectures on Gliederung. Decades later, former Bauhaus weaver Anni
ers – particularly in their application of formulas he
Albers echoed Berger’s emphasis on structure as an
taught them for the “harmonic divisions of the surface”
essential property of fabric at the beginning of the
to their designs for carpets and wall hangings – is
essay “The Fundamental Constructions” included in
often mentioned in the literature, Jenny Anger has
her seminal 1965 book On Weaving: “The structure of
delved into the issue of how the weavers may have in
a fabric or its weave – that is, the fastening of its
turn influenced Klee.20 She has suggested one likely
elements of threads to each other – is as much a
effect of Klee’s interaction with the weavers on his
determining factor in its function as is the choice of
own practice: “As Klee’s […] collaboration with the
the raw material. In fact, the interrelation of the two,
weavers increased, he used more and more different
the subtle play between them in supporting, impeding,
and unusual fabric supports, including […] regular
or modifying each other’s characteristics, is the
cotton, jute, burlap, silk, and combinations thereof,
essence of weaving.”25 Her attention to fabric’s
such as cotton mounted on canvas.”21 I would go
structure and function is in line with the increasingly
further to say that in addition to an increase in the
technology-driven design doctrine of the weaving
variety of fabric substrates Klee employed in his
workshop. After the move of the Bauhaus to Dessau in
paintings, his handling of fabric also matured, reflect-
1925, the workshop had been gradually shifting its
ing a heightened sensitivity to the inherent tactile and
emphasis away from the creation of decorative
structural qualities offered by textiles.
gridded compositions based on optical color theory to
One of the students in the Bauhaus weaving
the design of functional textiles with distinctive
workshop, Otti Berger, illuminated the connection
structural and textural characteristics – aptly referred
between textiles, tactility, and Struktur in a series of
to as Strukturstoffe (‘structural fabrics’) – that were
manifesto-like texts that articulate her own theory of
often intended to serve as prototypes for mass
weaving. In the unpublished text “Weberei und
production.26
22
Knotted, Woven, Unraveling: Textile as Structure in the Work of Paul Klee
121
objets trouvés, often fragments, set against a flat table or board.28 One such tableau, Pythagorean theorem (fabric pattern) of circa 1929, is an assemblage of assorted textile squares and threads set against a neutral ground plane. Seemingly floating just above the surface, all of the textiles are fraying; the individual threads range in texture from fine and feathery to thick and wiry. Klee employed similar tactics in his paintings to those practiced by Peterhans and his students in their commercial and artistic photographs to heighten the viewer’s perception of the Struktur of textiles – namely, the inclusion of fabric fragments and fraying edges.
Ill. 1: Paul Klee, Red Balloon, 1922, oil (and oil transfer drawing?) on chalk-primed gauze, mounted on board, 12 1/2 x 12 1/4 in. (31.7 x 31.1 cm), Solomon R. Guggenheim Museum, New York, Estate of Karl Nierendorf, by purchase
Klee’s Cult i vat i on of Str uk tu r v i a Text i le Subst rates One early technique Klee employed to heighten the tactile quality of his paintings was to apply a thin, even ground and design layer so that the weave – in other words, the structure – of the fabric support is
Capturing the unique structural qualities of the
Thin layers of chalk ground and oil paint coat the
essential in the commercial photographs meant to
individual threads and the cardboard mount seen
advertise them in Bauhaus publications. His photo-
through the interstices of the open, plain weave fabric.
graphic style of extreme close-ups and strong raking
Because the weave is so loose and the threads so
light made Walter Peterhans (hired to direct the
delicate, in some places the fabric has been pulled
Bauhaus photography workshop in 1929) perfectly
open, distorting the normal perpendicular crisscross of
suited to this task. In the commercial photography of
the warp and weft threads. When examined in close
Peterhans and his students in the advertising course,
proximity, these disruptions to the simple structure of
the structural and textural details of textiles from the
the fabric support enliven the picture surface.
weaving workshop were accentuated.27 In particular,
Another tactile technique Klee used was to
the Struktur of different fabrics was often emphasized
juxtapose plaster impasto with areas in which the
through the deliberate inclusion of unraveling edges.
weave of the fabric support is still apparent. In the Vocal
Textiles were also a recurrent motif in Peterhans’
122
still highly perceptible, as in Red Balloon of 1922 (ill. 1).
fabrics produced in the weaving workshop was
Fabric of the Singer Rosa Silber of 1922 (ill. 2), a work
artistic photographs, which generally follow a standard
that also engages with the idea of fabric on a concep-
template: striking arrangements of variously textured
tual level, plaster encases and embeds a piece of muslin
Charlotte Healy
Ill. 2: Paul Klee, Vocal Fabric of the Singer Rosa Silber, 1922, watercolor and ink on plastered fabric mounted on board, with watercolor and ink borders, 24 1/2 x 20 1/2 in. (62.3 x 52.1 cm), The Museum of Modern Art, New York, Gift of Mr. and Mrs. Stanley Resor
so that bumps of the once-wet plaster protrude
dried, the regular lattice of the warp and weft threads
through gaps in the loose weave, while thicker plateaus,
curve in some places due to the pull of the plaster when
spread flat with a palette knife, completely conceal the
Klee applied it to the muslin.
texture of the fabric underneath. A number of plaster
Contact of Two Musicians of 1922 (ill. 3) takes a
peaks were broken off after the material had dried and
much more orderly approach to the combination of
the watercolor and ink design layer had been applied,
plaster and fabric: Klee applied a smooth and thick
leaving behind flat white disks within the varied
rectangular field of plaster to the center of an irregular
topography of the surface. Because the muslin was not
diaphanous sea green scrap of gauze. In the central
stretched taut like fabric nailed to a stretcher, but was
field, the gauze is completely concealed, but around
instead glued to a cardboard mount after the plaster
the borders, the fabric’s distorted loose weave and
Knotted, Woven, Unraveling: Textile as Structure in the Work of Paul Klee
123
Although he did begin using certain finely woven fabrics like silk at the end of the 1920s, Klee’s selection of textiles with notably coarser weaves is one of the most striking developments in his painting of the late 1920s and 1930s. Burlap, which he first used in 1929 according to his handwritten oeuvre catalog, in fact became one of his most frequently chosen painting substrates of the 1930s.30 Even though he would often cover an entire burlap support with a thin layer of priming ground and paint, the sensual rough texture of the fabric underneath is still highly visible. A related technique was to apply thinned paint to stretched unprimed burlap, which has the visual effect of staining rather than coating the fabric, thus fully retaining its textural and structural character. For instance, in the oil-on-burlap painting Arab Song, 1932 (ill. 4), the viewer is extremely aware of the various surface irregularities and the way that stretching the burlap has opened up the regular grid of the warp and weft of the fabric’s plain weave. Because much of the design layer appears transparent like watercolor, the occasional slubs and loose jute fibers characteristic of burlap are anything but concealed. In certain paintings with fabric supports, Klee Ill. 3: Paul Klee, Contact of Two Musicians, 1922, watercolor and oil transfer drawing on chalk-primed linen gauze, mounted on paper partially painted around the gauze, Linen gauze: 17 7/8 x 11 1/2 in. (45.4 x 29.2 cm), Solomon R. Guggenheim Museum, New York, Estate of Karl Nierendorf, by purchase
even went so far as to keep areas of fabric, particularly the edges, entirely uncovered. For example, Little Hope of 1938 (ill. 5) utilizes a distinctive means of mark making that relies not only on Klee’s application of medium but also on the textural qualities of the materials he employed. In a kind of positive-negative
fraying or folded edges are in full view. Like Moholy-
reversal, the areas of burlap support not covered by
Nagy and Josef Albers, Klee formulated Struktur as a
plaster constitute nearly all the linear elements of the
natural or inherent property of a material. This implica-
design. The coarse yet dense weave of the exposed
tion is particularly fitting for Klee’s incorporation of
burlap, aside from providing a break from the rough
Struktur in his artworks via textile substrates given he
and irregular layer of plaster, has its own textural
treated these textiles almost as found objects. His
appeal and apparent structure. By leaving the une-
works on scrap-like pieces of fabric with uneven and
venly cut edges of the burlap scrap frayed and largely
often fraying edges, like the gauze of Contact of Two
uncovered with plaster, Klee further accentuated the
Musicians, exemplify this tendency.
fabric’s intrinsic structural makeup.
29
124
Charlotte Healy
Ill. 4: Paul Klee, Arab Song, 1932, oil on burlap, 35 7/8 x 25 3/8 in. (91.1225 x 64.4525 cm), The Phillips Collection, Washington, DC, Acquired 1940
Klee took advantage of fabric’s Struktur to the
that the warp and weft generally align with the edges
fullest extent in a couple of works dating to 1933 in
of the rectangular plywood board on which it is
which he layered multiple pieces of plaster-coated
mounted, the artist layered three progressively smaller,
gauze, effectively creating understated, homogenous
nearly rectangular pieces of gauze at the picture’s
fabric collages. Representing the passing of time both
center.31 Each layer of the open, plain weave fabric
literally (as a highly abstracted depiction of a spinning
was first coated with a gypsum ground and then
clock) and metaphorically (through the simulated signs
painted with watercolor before each subsequent piece
of age), Time of 1933 (ill. 6) best exemplifies this
was adhered. The plaster was applied so thinly and
technique: On top of a layer of gauze, positioned so
unevenly that in certain places the surface appears
Knotted, Woven, Unraveling: Textile as Structure in the Work of Paul Klee
125
Ill. 5: Paul Klee, Little Hope, 1938, plaster and watercolor on burlap mounted on cardboard, 18 1/8 x 20 3/8 in. (46 × 51.8 cm), The Berggruen Klee Collection, 1984, The Metropolitan Museum of Art, New York
porous and in others it resembles a waffle or honey-
back to the stable vertical orientation of the support.
comb; the warp and weft (and therefore the material’s
Inscribed within this tiny white rectangle are black ink
regular Struktur) are apparent throughout, even where
clock hands that display a time of approximately 6:54.
the interstices are filled in with plaster.
Klee was likely less concerned with indicating this
32
The painting’s second layer is rotated approximately 45 degrees clockwise so that two of its corners
spinning quality of the image by incorporating two
connect with the right and left edges of the support.
additional oblique angles to the composition and
This rectangle in turn perfectly circumscribes the third
discreetly inserting the form of an arrow, one of the
layer, rotated counterclockwise 30 degrees so that it
most persistent symbols in his pictorial lexicon.
tilts uncomfortably to the right. The final, much smaller
126
particular time than with augmenting the dynamic
Visible across the surface of Time, the repetitive
piece of gauze, coated with a slightly thicker layer of
grid of the fabric’s structure engenders both dynamism
gypsum that leaves fewer interstices exposed, is
and stasis by simultaneously reinforcing the oblique
rotated the remaining 15 degrees counterclockwise
angles of the two largest gauze rectangles (and
Charlotte Healy
proximity, the naturally structured support surface or, at a further distance, Klee’s fanciful pictorial image. Attending to both becomes a way of rooting the artist’s elevated vision in reality.
Coda : Fa bri c a s Insp i rat i on Klee’s engagement with fabric was not limited to his use of textiles as painting materials. Throughout the 1920s and 1930s, the act of weaving or knotting served as inspiration for the linear construction of compositions and figures in dozens of artworks, many with forms made of woven parallel lines or textile-like structures. In his pen-and-ink drawing Paths to the Knot of 1930, four sets of knotted strings or ribbons resemble images of mathematical knots found in the Ill. 6: Paul Klee, Time, 1933, watercolor and ink brush on plaster base on patches of gauze laid several times on plywood; on the reverse watercolor on plaster base, 10 x 8 1/2 in. (25.5 x 21.5 cm), Museum Berggruen, Nationalgalerie, Staatliche Museen, Berlin
branch of topology known as knot theory. One basic problem in knot theory is determining the sequence of simple deformations (known as ‘Reidemeister moves’) required to untangle a tangled ‘unknot’ (the term for a simple closed loop).33 Knot theorists can determine this sequence by drawing a series of knot diagrams
consequently the impression that they are rotating,
and by visualizing the necessary deformations. Thus,
like clock parts, around the painting’s center) and
they are able to simulate the manual process of
fixing these moving parts in a crystallized solidity. In a
untangling a knot in three-dimensional space through
final, playful touch, Klee adhered a small irregularly cut
a visual and mental process. Given its date of 1930,
scrap of gauze bearing his signature to the top right of
Klee was likely inspired to make this drawing of knots
the picture, asserting an imperfect, handmade sensibil-
by his concurrent experience of teaching the Bauhaus
ity at odds with the comparatively straight edges of
weavers.34
the other gauze pieces.
In a series of six drawings known as the Bender-
Instead of rendering his fabric supports transpar-
Gruppe made directly after Paths to the Knot, Klee took
ent (and therefore invisible) in order to create an
the idea of knotted ribbons into the realm of figural
illusory picture plane through which the viewer can
representation.35 These depictions of figures made out
peer, Klee makes the viewer utterly aware of them. As
of ribbons anticipate the kind of continuous line draw-
a result, in his works with emphatically structured
ings, in which forms and figures take on a three-
picture surfaces, there are always two planes of
dimensional presence, that would become a constant
attention: We can examine either, in relatively close
feature in Klee’s work of the following decade.36
Knotted, Woven, Unraveling: Textile as Structure in the Work of Paul Klee
127
A string or ribbon came to serve as a kind of concep-
painting supports, particularly by letting their fraying
tual, three-dimensional model for Klee’s pedagogical
edges unravel and these fibers become apparent, Klee
dictum that drawing is “taking a line for a walk”.
was able to produce haptic, handmade, and one-of-a-
37
Thus, fabric, and its constituent fibers, served as
128
kind objects. Clearly, Klee deserves a starring (rather
both material and inspiration in Klee’s artworks
than a supporting) role in a discussion of the signifi-
throughout the 1920s and 1930s. By highlighting the
cance played by textiles in the development of modern
intrinsic tactile and structural qualities of his fabric
art.
Charlotte Healy
Note s
16
An earlier version of this essay was presented as Charlotte
exist between their definitions of Faktur. Klee quite explicitly formu-
Healy, ‘Knotted, Woven, Unraveling: Fabric as Structure in the Work of
lated Faktur as the visible trace or index of its creator’s gesture, retain-
1
Although both Klee and Moholy-Nagy make the distinction be-
tween Faktur as active and Struktur as passive, subtle differences do
Paul Klee’ (paper presented at the 106th Annual Conference of the
ing the sense of individual artistic agency traditionally associated with
College Art Association, Los Angeles, 24 February 2018).
the term. In contrast, Moholy-Nagy transferred the will to form from
2
Art & Textiles: Fabric as Material and Concept in Modern Art from
the human hand to nature and the machine in his formulation of Faktur;
Klimt to the Present, ed. Markus Brüderlin, exh.-cat. Kunstmuseum
thus, he implicitly denies that Faktur should involve individual agency.
Wolfsburg (Ostfildern: Hatje Cantz, 2013).
Given his active interest in Constructivism, evident in both his artistic
3 4 5
Ibid., p. 7.
production and theoretical positions, Moholy-Nagy was undoubtedly
Ibid., pp. 7, 18, 36, 120.
aware of the Russian Constructivist discourse on faktura. For a delinea-
Images of Klee’s notes have been made available online. Paul
tion of faktura’s trajectory within Russian avant-garde artistic theory
Klee, ‘Bildnerische Form- und Gestaltungslehre’ (unpublished notes,
and practice between 1912 and 1921, see Maria Gough, ‘Faktura: The
Zentrum Paul Klee, Bern) (accessed 15 December 2018).
ics 36 (Autumn 1999): pp. 32–59.
6
Based on the notes of his students, it can be assumed that Klee
17
While Klee’s exploitation of the inherent repeated structure of
taught this chapter as we see it today by at least 1929–30. For more on
textiles for their textural properties is more akin to the passive and re-
Klee’s Gliederung notes, see Fabienne Eggelhöfer and Marianne Keller
petitive Struktur, his manipulation of a malleable ground layer or pastose
Tschirren, ‘Bildnerische Gestaltungslehre: Teaching Pictorial Configura-
oil paint corresponds to the visible discrete gestures of Faktur.
tion’, in Paul Klee: Bauhaus Master, ed. Fabienne Eggelhöfer and Mari-
I examined this distinction in Charlotte Healy, ‘Making the Hand Visible:
anne Keller Tschirren, exh.-cat. Fundación Juan March (Madrid: Fun-
Paul Klee’s Tactile Surfaces’ (paper presented at the 105th Annual Con-
dación Juan March, 2013), pp. 62–67.
ference of the College Art Association, New York, 15 February 2017).
7
In his teaching notes, Klee consistently misspelled Faktur and
18
Jenny Anger has written convincingly of the possibility that Klee
Struktur as Factur and Structur, respectively. I use the standard German
was unofficially affiliated with the weaving workshop as early as 1923.
spellings of both words throughout.
Jenny Anger, Paul Klee and the Decorative in Modern Art (Cambridge:
8
Cambridge University Press, 2004), pp. 179–80.
All translations of Klee’s notes are my own. “Factur: die Frage
nach den Spuren der einzelnen Handbewegungen”; “Fussspuren im
19
Schnee zugleich: die Factur eines Weges”. Klee, Bildnerische Form- und
no. 3 (1979): p. 60. Translation quoted in Sigrid Wortmann Weltge,
Gestaltungslehre’, BG 1.4/56, 78.
Women’s Work: Textile Art from the Bauhaus (San Francisco: Chronicle
9
Books, 1993), p. 109.
“Structur: die Frage nach der natürlichen oder sonst gegebenen
Lena Meyer-Bergner, ‘Unterricht bei Klee’, Form + Zweck 11,
“Structur die materielle Gliederung”. Ibid.
20 21 22
Although Klee scholars have suggested that the artist’s peda-
Haptics of Optics: Weaving and Photography’, in Bauhaus Weaving The-
gogical formulation of Faktur was informed by the definition given by
ory: From Feminine Craft to Mode of Design (Minneapolis: University of
his Hungarian colleague in the Vorkurs, they have not proposed Moho-
Minnesota Press, 2014), pp. 79–110.
Gliederung der Materie.” Ibid., BG 1.4/56.
10 11 12
Ibid., BG 1.4/2.
Anger, Klee and the Decorative, pp. 178–190. Ibid., pp. 187–188. For an analysis of Berger’s theoretical texts, see T’ai Smith, ‘The
ly-Nagy’s lectures as the inspiration for Klee’s juxtaposition of Faktur
23
and Struktur. See for instance Eggelhöfer and Keller Tschirren, ‘Bildneri-
script, Bauhaus-Archiv, Berlin, c. 1932–34), p. 3. Translation quoted in
sche Gestaltungslehre’, p. 64.
Smith, ‘The Haptics of Optics’, p. 100.
13
László Moholy-Nagy, The New Vision: Fundamentals of Bauhaus
24
Otti Berger, ‘Weberei und Raumgestaltung’ (unpublished manu-
Translation is my own. “Zunächst der Stoff. Wir haben Struktur,
Design, Painting, Sculpture, and Architecture (Mineola, NY: Dover Publi-
Textur, Faktur, Farbe. Die Struktur oder Bindung bestimmt den eigent
cations, [1930] 2005), p. 35.
lichen Charakter des Stoffes […]”. Otti Berger, ‘Stoffe im Raum’, ReD 3,
14
no. 5 (1930): p. 143.
Josef Albers, ‘Werklicher Formunterricht’, bauhaus 2, no. 3
(1928): p. 6. Trans. Frederick Amrine, Frederick Horowitz and Nathan
25
Horowitz as ‘Teaching Form through Practice’ (The Josef and Anni Al-
sity Press, [1965] 2017), p. 23. For Anni Albers see Jordan Troeller’s
bers Foundation) (accessed 15 December 2018).
26
15
Weltge, Women’s Work.
Moholy-Nagy, The New Vision, pp. 35, 42; Frederick A. Horowitz
For a full history of the weaving workshop, see Wortmann
and Brenda Danilowitz, Josef Albers: To Open Eyes. The Bauhaus, Black
27
Mountain College, and Yale (New York: Phaidon Press, 2006), p. 108.
Education under Peterhans’, in Photography at the Bauhaus, ed. Jeannine
See Smith, ‘The Haptics of Optics’, pp. 79–110; ‘Photography
Knotted, Woven, Unraveling: Textile as Structure in the Work of Paul Klee
129
Fiedler, exh.-cat. Bauhaus-Archiv Berlin (Cambridge, MA: The MIT
33
Press, 1990), pp. 96–107.
to the Mathematical Theory of Knots (Providence, RI: American Mathe-
28
matical Society, 2004), p. 13.
See Jeannine Fiedler, ‘Walter Peterhans: A “Tabularian” Ap-
proach’, trans. Jeannine Fiedler and Louis Kaplan, in Photography at the
34
Bauhaus, ed. Jeannine Fiedler, exh.-cat. Bauhaus-Archiv Berlin (Cam-
be understood in light of her own manual dexterity with twisting and tan-
bridge, MA: The MIT Press, 1990), pp. 84–95.
gling fibers honed over decades of weaving experience. See Charlotte
29
In his foundational book on Klee’s Bauhaus years, Christian
Healy, ‘“Through One’s Own Fingertips”?: Haptic Perception in the Art and
Geelhaar categorized the artist’s found object approach to his materials
Thinking of Josef and Anni Albers’, HARTS & Minds 2, no. 3 (2016): pp. 5–6;
The ubiquity of the knot motif in Anni Albers’ works on paper can
as “Fragments of Reality”. Christian Geelhaar, Paul Klee and the Bauhaus
Brenda Danilowitz, ‘Tangles, Knots, Braids, Loops and Links’, in Anni Albers,
(Greenwich, CT: New York Graphic Society, 1973), p. 76.
ed. Ann Coxon, Briony Fer and Maria Müller-Schareck, exh.-cat. Tate Mod-
30
ern, London (New Haven: Yale University Press, 2018), pp. 86–89.
Starting in 1911 and until his death, Klee systematically re-
corded and assigned a number to each finished work he deemed suc-
35
cessful in a handwritten oeuvre catalogue. The first work on burlap in
be assumed from the numbering in his oeuvre catalogue that the Bend-
this oeuvre catalogue is The Citadel, 1929,87 (R 7).
er-Gruppe drawings follow Paths to the Knot, 1930,150 (Y 10) chrono-
31
For interpretations of this work that consider its meaning in the
logically: Degrees of Entwinement, 1930,151 (Z 1); Entwined in a Group,
context of the traumatic circumstances of its making, see Inge Herold,
1930,152 (Z 2); Perfection (Figurine), 1930,153 (Z 3); Tangle of Three,
‘Die Zeit, 1933’, in Paul Klee: Die Zeit der Reife. Werke aus der Sammlung
1930,154 (Z 4); Man of Ribbons, 1930, 155 (Z 5); People of Ribbons,
der Familie Klee, ed. Manfred Fath, exh.-cat. Kunsthalle Mannheim (Mu-
1930,156 (Z 6).
nich/New York: Prestel, 1996), p. 78; Roland März, ‘Time’, in Picasso and
36
His Time: Museum Berggruen, 6th ed., ed. H. J. Papies, K. Zacharias and
Although the exact order of Klee’s works is never definite, it can
Klee’s works of the 1920s also feature many continuous line
drawings, yet they lack the same three-dimensionality of those that
E. Morawietz (Berlin: Nicolai, 2013), p. 366.
follow Paths to the Knot.
32
37
Consequently, the painting appears worn beyond its years. Klee
This now famous turn of phrase is based on the first sentence
is known to have intentionally mimicked the signs of age in many
of Klee’s Pädagogisches Skizzenbuch (1925): “An active line on a walk,
works. See Charles Haxthausen, ‘“Abstract with Memories”: Klee’s “Au-
moving freely, without goal.” Paul Klee, Pedagogical Sketchbook, trans.
ratic” Pictures’, in Paul Klee: Philosophical Vision; From Nature to Art, ed.
Sibyl Moholy-Nagy (New York: Frederick A. Praeger, 1953), p. 16.
John Sallis, exh.-cat. McMullen Museum of Art, Boston (Chestnut Hill, MA: McMullen Museum of Art, Boston College, 2012), pp. 61–76.
130
See Colin C. Adams, The Knot Book: An Elementary Introduction
Charlotte Healy
Verschiedene Gründe haben vermutlich zu dieser widersprüchlichen Art des Umgangs mit dem für die Künstlerin so wichtigen ersten Komplex ihres Œuvres beigetragen. Erika Schlegel-Taeuber, die ältere Schwester der Künstlerin, die Hans Arp bei der Recherchearbeit unterstützte, argumentiert mit der Ungewissheit über den Verbleib vieler Arbeiten: „Die gestickten Kissen, die ich besitze [sic!] haben wir nicht aufgenommen, es existieren ja so viele und überall verstreut, wie auch Perlsachen und Tischdecken. Ich
Gestickte Malereien. Die Textilkünstlerin Sophie Taeuber-Arp
könnte nur die wenigsten finden und das gäbe ein zu spärliches Bild.“5 Arp selbst nennt einen weiteren, vermutlich treffenderen Grund erst einige Jahre nach der Publikation: „Manchmal sind ihre Arbeiten als angewandte Kunst bezeichnet worden. Dies geschah
Walburga Krupp
teils aus Dummheit, teils aus Böswilligkeit. Kunst kann mit Wolle, Papier, Elfenbein, keramischen Platten, Glas
Die Schweizer Künstlerin Sophie Taeuber-Arp
1
ebenso gebildet werden wie mit Ölfarbe, Stein, Holz,
zählt heute zu den Pionierinnen der abstrakten Kunst
Ton. Ein Mosaik, ein gotisches Glasfenster, eine
des 20. Jahrhunderts. Ihr vielfältiges Werk umfasst
koptische Weberei, eine Wandstickerei von Bayeux,
Arbeiten der angewandten und freien Kunst wie
eine griechische Amphore sind nach meinem Dafür
Stickereien, Typografie, Skulptur, Malerei sowie, wenn
halten so reine, hohe Kunst wie die Malerei.“6 In der
auch nur temporär, Tanz-Performance.2 Das nach
Hierarchie der Künste gelten die angewandten als
ihrem frühen Unfalltod 1943 von ihrem Ehemann
zweitrangig, sodass sie im Werkverzeichnis, das auch
Hans Arp in Auftrag gegebene und 1948 erschienene
der posthumen Positionierung der Künstlerin in der
Werkverzeichnis3 präsentiert dieses Spektrum nicht,
Kunstgeschichtsschreibung im 20. Jahrhundert diente,
sondern bleibt insbesondere im Hinblick auf den
kaum vertreten sind. Welche Bedeutung aber ihre
kunstgewerblichen Werkkomplex rudimentär. Von den
gestickten und gewebten Bilder im Gesamtwerk der
rund 500 erfassten Arbeiten sind nur dreizehn der
Künstlerin haben, soll nachfolgend untersucht werden.
Kategorie „Quelques œuvres appliquées (non inventoriées)“4 zugeordnet worden. Der in Klammern gesetzte Zusatz „non inventoriées“ charakterisiert das Dilemma im Umgang mit dieser Werkgruppe. Man führt eine
Ausbi ldung i n der Schwei z und Deut schla nd
kleine Anzahl von Perlarbeiten, Stickereien und Webereien auf, betitelt sie teils sogar, aber sie erhalten
Sophie Taeuber-Arps familiäres wie geografi-
keine eigene Werkverzeichnisnummer. Dies erstaunt
sches Umfeld ist geprägt von Kunstgewerbe und
umso mehr, als sich doch einzelne Stickereien in
Kunst. Ihre Mutter Sophie Taeuber-Krüsi stammt aus
verschiedenen Werkgruppen finden.
dem ostschweizerischen Kanton Appenzell, der wie
Gestickte Malereien. Die Textilkünstlerin Sophie Taeuber-Arp
131
St. Gallen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der ortsansässigen Stickerei-Industrie beherrscht
Di e Kunst ha ndwerkeri n: St i c ke n und Weben
wird. Über Generationen sind ganze Familien als Sticker und Entwerfer tätig. St. Galler Spitze ist
Nach dem Abschluss ihrer Ausbildung kehrt sie
berühmt und steht bis in die 1920er Jahre mehrfach
Ende 1914 in die Schweiz zurück und versucht, sich in
an erster Stelle der Schweizer Exportgüter.7 Die
Zürich als freie Kunstgewerblerin zu etablieren. Neben
Mutter der Künstlerin ist versiert in den verschiedens-
direkten Auftragsarbeiten verkauft sie ihre Arbeiten in
ten Handarbeitstechniken, sie malt und fotografiert.
auf Kunstgewerbe spezialisierten Geschäften wie dem
Der Entschluss der jüngsten Tochter zur Ausbildung im
der „Schwestern Severin“ und der „Spindel“, dem
textilen Bereich ist früh gefasst und beginnt 1904 an
Verkaufsorgan der ortsansässigen Frauengenossen-
der St. Galler Stauffacher-Schule, die Musterzeichner
schaft. Die Textilausstellungen der Kunstgewerbemu-
ausbildet. Von 1907 bis 1910 folgt eine Hospitanz an
seen in Winterthur und Zürich bieten zudem die
der dortigen Zeichnungsschule für Industrie und
Möglichkeit, ein kunstinteressiertes Publikum zu
Gewerbe. In den Lehr- und Versuch-Ateliers für
erreichen. So stellt Taeuber-Arp in den Folgejahren
angewandte und freie Kunst9 in München, die sie von
regelmäßig dort aus. Ihren ersten großen Erfolg hat sie
1910 bis 1914 mit einer einjährigen Unterbrechung
1916 mit Stickereien in Zürich. Im Rahmen der
zum Studium an der Kunstgewerbeschule Hamburg
Ausstellung des Kunstgewerbemuseums vom 6. Feb-
besucht, konzentriert sie sich früh auf Textil- und
ruar bis zum 5. März kann sie zwölf Stickereien verkau-
Holzarbeiten.10 Die Teilnahme der Auszubildenden an
fen und erhält anerkennende Kritik lokaler Künstler.14
Ausstellungen bereitet sie einerseits auf das Berufsle-
Ein Kissen wird vom Kunstgewerbemuseum Zürich
ben vor, bedeutet andererseits aber auch den ‚Verlust‘
angekauft und ist somit die erste Arbeit der Künstlerin
früher Arbeiten, den auch Taeuber-Arp skeptisch sieht:
in einer Museumssammlung (Abb. 1).
8
„Das Kinderhäubchen kostet 6 fcs. Wenn sie es gern
Die Stickerei, deren heutiger Titel an ihre
haben will, sonst sag nichts mehr, weil es mir gleich ist,
ursprüngliche Bestimmung erinnert und nur noch auf
wenn es nicht verkauft wird, die Annehmlichkeit des
einer historischen Abbildung15 in dieser Funktion
verkaufens [sic!] wird nämlich wieder aufgehoben
greifbar ist, kann als Paradebeispiel für Taeuber-Arps
dadurch, dass ein Gegenstand nach dem anderen
Stickereien der 1910er und 1920er Jahre gelten. Das
verschwindet und man eigentlich in der Studienzeit
fast quadratische Format von 53 x 52 Zentimetern
sammeln sollte.“ Die Kinderhaube wird nicht verkauft
weist dem Kissen eine mehr dekorative denn nützliche
und im Jahresbericht der Hamburger Kunstgewerbe-
Funktion zu. Die leuchtenden Farben, Gelb, Grün, Blau,
schule publiziert. Erweitert man den Begriff des
Lila, verschiedene Rottöne, dazu Schwarz und ein
Textilen hin zu Perlarbeiten, die mittels Häkeln,
gedecktes Beige sind kontrastreich gegeneinanderge-
Stricken, Weben entstehen, so ist ab 1912 eine
setzt. Die Intensität der Farben hat sich am besten auf
Konzentration Taeuber-Arps auf dieses Material
der Innenseite des Kissens erhalten.16 Der Kreuzstich,
festzustellen.
die von Taeuber-Arp am häufigsten für Kissen ge-
11
12
13
nutzte Sticktechnik, ist hier in Wolle ausgeführt. Die gesamte Fläche der ‚Kissenplatte‘, sprich die Vorderseite, ist in fünf übereinanderliegende horizontale
132
Walburga Krupp
Abb. 1: Sophie Taeuber-Arp, Kissenplatte, 1916, Stickerei, Kreuzstich in farbiger Wolle, Zürcher Hochschule der Künste, ZHdK/Museum für Gestaltung, MfGZ/Kunstgewerbesammlung, Zürich
Reihen gegliedert, die in sich vertikal in sieben Einhei-
tiert sie sich an traditionellen Vorgaben, die sie in
ten strukturiert sind. Diese quadratischen und recht-
abstrahierter Form wiedergibt. In der farblichen
eckigen Einheiten sind entweder monochrom in
Gestaltung allerdings bricht sie mit gewohnten
Hellrosa, Lila, Blau, Beige und Schwarz gehalten oder
Mustern: Blumenstängel und -blätter sind in Lila und
mit figurativen und geometrischen Formen in Gelb,
Rot gestickt wie in späteren Kompositionen Schwäne
Grün und Rotnuancierungen gefüllt. Rechteck,
blau oder Hunde, Vögel und Menschen rot sein
Quadrat und Kreis, Letzterer hier als Blüte in der
können. Es gilt nicht realistisch, sondern mit Farben zu
figurativen Wiedergabe einer Blume, lassen sich schon
gestalten.
früh als gestalterisches Grundvokabular ausmachen. In
Als Stickgrund benutzt Sophie Taeuber-Arp
der Wahl ihrer figurativen Elemente aus der nächsten
überwiegend klassischen Baumwollstramin. In Zürich
Lebensumwelt, also Häuser, Menschen oder Fauna
scheint es 1918 noch während des Krieges einen
und Flora, wie in diesem Beispiel die Blumen, orien-
Materialengpass zu geben, da sie Hans Arp, der sich in
Gestickte Malereien. Die Textilkünstlerin Sophie Taeuber-Arp
133
Ascona aufhält, bittet, „[…] so viel wie möglich zu
dem sie je nach Bedarf schöpfen kann. Am Beispiel
kaufen, wenn Du 10 Meter sammeln kannst ist es
ihres Teppichentwurfs für die Lausanner Kunstgewer-
gut.“ Die Rückseiten als Nicht-Ansichtsseiten der
beausstellung 1922 (Abb. 3) beschreibt sie es selbst:
Kissen sind meist aus einem Baumwollstoff gefertigt,
„Es hat mir sehr Vergnügen gemacht ihn zu zeichnen
dessen Farbe einer der in der Stickerei verwendeten
so ist eine ganze Serie kleiner Aquarelle entstanden,
entspricht. Als Stickgarn benutzt sie vorrangig Wolle,
die ich jederzeit leicht in Perlbeutel Kissen Teppiche u
explizite Garnqualitäten sind nicht überliefert. Im
Wandstoffe umarbeiten kann.“20 Der ovale Umriss des
Briefwechsel mit der Schwester finden sich nur zwei
Teppichs zeigt in der Binnenstruktur eine vertikal-hori-
Hinweise auf Garnmarken. 1912 empfiehlt sie der
zontale Aufteilung mit figurativen und geometrischen
Schwester Seidengarn der Schweizer Firma Zwicky
Elementen. Dreieck, Kreis und Halbkreis sind in vielen
und im Februar 1919 bittet sie Hans Arp, ihr schwar-
ihrer textilen Gestaltungen zu finden. Der Kreis im
zes Garn der Firma Heer und Co aus Zürich zu schi-
Kreis wird zum Symbol des menschlichen Kopfes.
cken, da sie in Arosa nicht die gewünschte Stärke
Die lang gestreckte, schmale Figur mit angewinkelten
bekommen kann. Sie führt ihre Stick- und Webarbei-
Armen, auffallendstes Motiv im ‚Lausanner‘ Teppich,
ten immer in einer einzigen Garnstärke aus. Materia-
wird zwei Jahre später in dem Webteppich Ohne Titel,
lexperimente, wie sie beispielsweise die Bauhaus-
heute in der Sammlung der Fondazione Marguerite
Weberinnen mit unterschiedlichen Garnqualitäten
Arp in Locarno, in einer reduzierten Fassung wieder
und -stärken durchführen, finden sich bei Taeuber-Arp
benutzt.21
17
18
nicht.
Der mehrstufige Entwurfsprozess kann ZeichIm bildkompositorischen Aufbau ihrer Stickereien
und Webereien lässt sich ein Muster ablesen, das sich
Gouachen in der endgültigen Farbgebung und schließ-
auch in ihren späteren malerischen Arbeiten wieder-
lich die Anleitung zur technischen Umsetzung, teils mit
findet. Wie bereits beschrieben, entwickelt Taeu-
Materialproben der jeweiligen Garne, umfassen. Für
ber-Arp aus der orthogonalen Gitterstruktur des
die Mehrzahl der textilen Arbeiten sind allerdings diese
Stramins eine vertikal-horizontal ausgerichtete
Vorstufen verloren. Erhalten haben sich viele der
Gestaltung, die sich beim Weben analog aus der Folge
farbigen Ausführungen in Aquarell und Gouache.
von Kette und Schuss ergibt. Am klarsten zeigt sich
Da die nach ihnen realisierten Textilien verkauft und
dies in der Composition verticale-horizontale von 1916
nicht dokumentiert sind, fehlt folglich bei der post
(Abb. 2). Die Stickerei in Kreuzstich ist Abstraktion pur,
humen Einordnung der Arbeiten und der Erstellung
gestaltet mittels Form und Farbe: Rechtecke und
des Werkverzeichnisses der Kontext. So ist zu erklä-
Quadrate in Rottönen, Schwarz, Beige und Blau, deren
ren, dass viele dieser Blätter als eigenständige Werke
Wirkung durch Hell-Dunkel-Kontraste intensiviert
betrachtet werden.22 Die Stickerei Composition à motifs
wird.
d’oiseaux scheint die bislang einzige Arbeit zu sein, die
19
Im Entwurfsprozess ihrer Arbeiten entsteht oft eine Vielzahl von Zeichnungen, die, wenn sie nicht direkt umgesetzt werden, in eine Art Ideen- oder
134
nungen in Bleistift und Farbstift sowie Aquarelle oder
in zumindest drei Phasen überliefert ist: als Gouache, Vorlage zur Ausführung und Stickerei.23 Auch in den Perlarbeiten, die Sophie Taeuber-Arp
Motivpool für andere künftige Arbeiten eingehen.
als kleine Beutel, Notizbuchumschläge, Ketten und
Taeuber-Arp entwickelt so ein Formenrepertoire, aus
Anhänger in Häkel- und Stricktechnik ausführt, schöpft
Walburga Krupp
Abb. 2: Sophie Taeuber-Arp, Composition verticale-horizontale, 1916, Stickerei, Kreuzstich in farbiger Wolle, Fondazione Marguerite Arp-Hagenbach, Locarno
Gestickte Malereien. Die Textilkünstlerin Sophie Taeuber-Arp
135
Abb. 3: Sophie Taeuber-Arp, Composition ovale à motifs abstraits, 1922, Knüpfteppich, farbige Wolle, Stiftung Arp Museum Bahnhof Rolandseck, Remagen
sie aus ihrem Formenrepertoire. Meist realisiert sie aber abstrakt geometrische Entwürfe, jedes Objekt ein Unikat.
Abb. 4: Sophie Taeuber-Arp, Ohne Titel, um 1918–1920, Kette, farbige Perlen gefädelt in Schlingtechnik, Aargauer Kunsthaus Aarau, Depositum aus Privatbesitz
Zw i schenzei t : Von a ngewa n d te r z ur f rei en Kunst
Zuweilen sind die Perlen in einer Arbeit von unterschiedlicher Stärke, die kleineren vielfach durchscheinend,
136
Von 1918 bis 1920 ist Sophie Taeuber-Arp
glitzernd, die größeren opak. Taeuber-Arp gestaltet nicht
Mitglied der Künstlervereinigung „Das Neue Leben“, die
symmetrisch, es gibt kaum alternierende Formfolgen,
sich auf die Initiative des Basler Künstlers Fritz Baumann
selbst bei dieser geringen Gestaltungsfläche. Auch in der
hin gründet und als Erneuerungsbewegung einer Kunst
Ausführung der Ketten (Abb. 4) folgt sie einem Konzept
versteht, die angestammte Gattungshierarchien zwi-
und keinem spontanen Gestaltungswillen: „Die Kette ist
schen angewandter und freier Kunst überwinden will.
schön, etwas bunt. Erst kalt und rosa, dann sehr hell mit
Taeuber-Arp beteiligt sich an allen vier Ausstellungen der
grün und in der Mitte als ob man ein Geheimnis wüsste
Gruppe. In den beiden letzten im Jahr 1920, im Januar in
rot lila braun schwarz und glitzerig und dann wieder rosa
Bern und von Ende Mai an in Basel, zeigt sie Kissen,
und wieder hell und kalt und zum Schluss wieder rot, wie
Ketten und Perlbeutel, die sie betitelt. Die Ketten heißen
eine Erinnerung an ein Geheimnis.“
Sommerwurm und Glimmender Wurm, beides suggeriert
Walburga Krupp
24
Flirrendes, Glänzendes, was die glitzernden Perlen auszudrücken vermögen. Der Wurm beschreibt die Form, in der sich die Ketten um den Hals der Trägerin legen. Titel wie Blumengehirn, Wasserfeuerwerk oder Intensitätsclown erinnern an Arps Sprachakrobatik nicht nur während der Dada-Zeit. Die Betitelung der Beutel, Kissen und Ketten und für eine kurze Zeitspanne auch die Setzung einer Signatur in Form ihrer Initialen „sht“ weisen auf ein neues Selbstverständnis als Künstlerin hin,25 das sich auch durch die überaus positive Aufnahme ihrer Marionetten für das Märchenspiel König Hirsch am Zürcher Marionettentheater 1918 erklärt. Vermutlich sind in diesem zeitlichen Kontext auch die kleinformatigen abstrakten Stickereien zu verorten, Varianten en miniature der Composition verticale-horizontale von 1916 (Abb. 5), die sie rahmt und an Freunde und Familie verschenkt. Mit der Rahmung, selbst bei einer Verringerung des Formats der eigentlichen Arbeit, löst sie in einem ersten Schritt die Stickerei aus dem kunstgewerblichen Objektkontext, der immer mit dem Aspekt der Nützlichkeit verbunden ist. Alle ihre bisherigen Objekte sind im
Abb. 5: Sophie Taeuber-Arp, Composition verticale-horizontale, um 1917, Stickerei, Kreuzstich in farbiger Wolle, Aargauer Kunsthaus Aarau, Depositum aus Privatbesitz
Hinblick auf eine bestimmte Funktionalität geschaffen, sei es als Kissen, Decke, Kette, Beutel oder die Holzdosen als Aufbewahrungsbehälter.26 Goldfarbene
wieder zur Anwendung sowie die collagehafte Kombi-
Passepartouts und Rahmen verleihen diesen Sticke-
nationen verschiedener Gestaltungselemente. In ihrem
reien eine beinahe ikonenhafte Anmutung.
Bildteppich Ohne Titel (Abb. 6), bislang auf 1918–192428
Das neue Selbstbewusstsein wird bestärkt auch
datiert, finden sich sowohl Dreieck- und Kreisformen
durch die zunehmende Anerkennung als Textilkünstlerin
als auch die Gestaltung von Menschen anhand von
und damit einhergehend erfolgreiche Verkäufe. Greift
Rechtecken und Kreisen oder Kreuzen, die man bereits
Sophie Taeuber-Arp schon zuvor auf professionelle
aus anderen Stickereien der zwanziger Jahre kennt. Die
Hilfe von Stickerinnen bei der Ausführung ihrer Arbei-
Abbildungen im Katalog der Schweizer Sektion der
ten zurück, so verstärkt sich dies noch in den 1920er
Pariser Exposition internationale des arts décoratifs et
Jahren. In dieser Zeit intensiviert sich auch ihre
industriels modernes 1925, wenn auch auf dem Kopf
Beschäftigung mit Weberei, und es entstehen eine
stehend, und 1926 im Katalog zur Ausstellung Das neue
ganze Reihe von Wandteppichen, die als gewebte Bilder
Heim im Kunstgewerbemuseum Zürich, in der der
zu verstehen sind. Ihre bewährte Technik eines verti-
Teppich an der Wand eines von Max Haefeli gestalteten
kal-horizontalen Bildaufbaus kommt auch in ihnen
Wohnraumes hing, zeigen ihn mit Fransen.29
27
Gestickte Malereien. Die Textilkünstlerin Sophie Taeuber-Arp
137
Abb. 6: Sophie Taeuber-Arp, Ohne Titel, 1918–1924, Weberei in farbiger Wolle, Fondazione Marguerite Arp-Hagenbach, Locarno
Von der Wand zum Bild
Die Ausführung in Perlgarn imitiert den Glanzeffekt, der in der Malerei auf den Wänden dank Spiegeln
Die verstärkte Beschäftigung mit Innenarchitek-
138
erzielt wird. Bei der Schweizerischen Ausstellung für
tur ab 1926 in Straßburg bei verschiedenen Projek-
Frauenarbeit 1928 ist Sophie Taeuber-Arp mit dieser
ten30 geht einher mit einem sukzessiven Rückzug aus
Arbeit vertreten. Der Katalog zur Ausstellung Die Frau
dem Textilbereich und einer immer stärkeren Fokussie-
in Kunst und Kunstgewerbe dokumentiert wohl eher
rung auf eine abstrakte Formensprache. Im Kontext
unbewusst die Übergangssituation, in der sich Taeu-
der Gestaltung des Tearooms für die „Aubette“
ber-Arp damals befindet. Die Abbildung der Stickerei
entsteht eine Stickerei, die ein Element der Decken-
ist im Bereich der bildenden Kunst, die Besprechung
und Wandmalerei dieses Raumes wiedergibt (Abb. 7).
der Künstlerin in dem des Kunstgewerbes positioniert.
Walburga Krupp
Maria Weese, die zum Schweizer Kunstgewerbe schreibt, thematisiert dies auch in ihrem Beitrag: „Sophie Arp-Taeuber verzichtet mehr und mehr auf jede Erinnerung an die gewachsene Form und geht ganz zur geometrischen Flächenführung über, die ihren Halt und ihre Bindung durch die Farbe festigt. Sie ist so ergiebig in der Erfindung, daß sie die Ausführung notgedrungen anderen Händen überläßt, um sich ganz dem Erfinden zu widmen, wobei sie auch anderes als Textiles arbeitet, neuestens Glasfenster und Innenausbau.“31 Mit dem Umzug von Zürich nach Meudon bei Paris Anfang 1929 löst sich Sophie Taeuber-Arp fast vollständig vom Kunstgewerbe, um Malerin zu sein. Eine kleine Einschränkung bleibt, da sie zuweilen noch
Abb. 7: Sophie Taeuber-Arp, Composition „Aubette“, 1928, Stickerei in farbigem Perlgarn, Stiftung Arp e.V., Berlin und Rolandswerth
aus finanziellen Gründen Faschingskostüme und modische Accessoires entwirft. Die Zweiteilung des Œuvres von Sophie Taeuber-Arp, wie sie es selbst gegenüber ihrer Schwester formulierte32, ist letztlich eine nur rein äußerliche, will
plastische Umsetzung der Kissenplatte von 1916.
heißen materialbezogene Trennung. Das Primat von
Gleiches gilt für die Raumgestaltungen im Hotel
Form und Farbe bleibt durchgängige Konstante im
Hannong und der „Aubette“. Seine bruchlose Fort
gesamten Werk. Der Abstraktionsprozess, der schon
führung in der Malerei erfährt dieses Gestalten in den
früh im textilen Werk33 sichtbar wird, verstärkt sich im
„Räumebildern“ der 1930er Jahre, die die vertikal-
Laufe der Jahre. Das geometrische Formvokabular
horizontale Ordnung wieder aufgreifen. In die nun
ihrer Kunst erfährt eine Konzentration auf Kreis,
„Räume“ genannten Einteilungen der Fläche werden
Quadrat und Rechteck. Steht zu Beginn ihres maleri-
Kreise und Linien als zusätzliche Elemente gesetzt.
schen Werkes eine Reduzierung der Farbe, so öffnet
Die Gemälde sind von einer intensiven Farbigkeit, die
sie sich im Laufe der 1930er Jahre wieder dem ganzen
in ihrer Ausstrahlung an die textilen Arbeiten erinnern.
Farbspektrum. In ihrer Arbeitsweise, der Gestaltung
Die besondere Wirkung der Farbe im Textilen lässt
der Fläche bleibt sie sich treu. Wie leicht und doch
Sophie Taeuber-Arp 1938 wieder zu ihrem ursprüngli-
überzeugend sich das vertikal-horizontale Raster ihrer
chen Medium zurückkehren mit der Bitte an die
Stickereien in ein anderes Medium umsetzen lässt,
Schwester: „Wärest Du bereit, mir noch eine Stickerei
zeigt sich in allen Phasen und Bereichen ihrer Arbeit.
zu machen. Hans und ich stellen im November
So sind 1918 bei der Bühnenbildgestaltung des
zusammen aus in Paris und ich glaube, es wäre ganz
Marionettenspiels König Hirsch die Palastwände aus
schön zwei so stark bunte Sachen dazwischen.“34
Rechtecken konstruiert, in die emblemartige Elemente
Der Werkkreis schließt sich zugunsten des textilen
eingelassen sind. Im weitesten Sinne ist es eine
Bildes.
Gestickte Malereien. Die Textilkünstlerin Sophie Taeuber-Arp
139
1
Anmerkungen
11
Sophie Taeuber-Arp heiratete Hans Arp im Oktober 1922, so
aus den Briefen der Künstlerin ist ihre Orthografie bewusst beibehalten
dass es für die Jahre zuvor korrekt wäre, von Sophie Taeuber zu spre-
worden.
chen. Um eine Verwirrung zu vermeiden, wird im Text durchgängig je-
12
doch Taeuber-Arp benutzt.
1913, o. S.
2
Zu den Tanzkostümen und Marionetten Taeuber-Arps siehe den
13
Die Staatliche Kunstgewerbeschule zu Hamburg, Hamburg An der Ausstellung der Lehr- und Versuch-Ateliers für ange-
Beitrag von Anja Pawel in diesem Band.
wandte und freie Kunst bei der Bayrischen Gewerbeschau 1912 in
3 4
Georg Schmidt (Hg.): Sophie Taeuber-Arp, Basel 1948.
München ist sie mit zwei Stickereien und einer Holzarbeit vertreten.
Hans Arp beauftragt nach dem Zweiten Weltkrieg den Basler
Sophie Taeuber an Erika Schlegel-Taeuber, 13.9.1912, ZB ZH, Ms. II
Künstler Hugo Weber mit der Inventarisierung der Werke seiner
3068.42. Bei ihrer ersten Ausstellungsbeteiligung in der Schweiz, der
verstorbenen Frau. Weber vermisst, datiert und versieht die ihm zu-
12. Nationalen Kunstausstellung 1914 in Bern, zeigt sie ein Kissen mit
gänglichen Arbeiten zur Identifikation mit einer kurzen Bildbeschrei-
Seidenstickerei, einen Beutel in Perlweberei und eine bemalte Holz-
bung. Die Arbeiten sind anschließend in Werkgruppen zusammenge-
dose.
fasst, die in sich chronologisch geordnet sind. Die Bildbeschreibungen
14
werden zu Titeln geformt, die wie im Falle von Composition verticale-
und Hermann Gattiker sowie den Verkaufserfolg in ihrem Tagebuch.
horizontale für die gesamte Gruppe übernommen werden. Schließlich
Eintrag Februar 1916, Privatbesitz Schweiz.
Erika Schlegel-Taeuber notiert das Lob von Augusto Giacometti
wird jedes Werk mit einem eigens zur Inventarisierung gefertigten
15
Stempel bedruckt, in den handschriftlich die Werkverzeichnisnummer
Schweiz, Chur 1916, Tafel 8.
Franziska Anner: Die kunstgewerbliche Arbeit der Frau in der
eingetragen wird. Die erste handschriftliche Erfassungsliste von Weber
16
befindet sich heute im Archiv der Fondazione Marguerite Arp in
len Bedingungen aufbewahrt und von jeder funktionalen Nutzung ver-
Locarno. Über die Systematik der Erfassung und der Gruppenbildung
schont wird, ist der Farbverlust zu beobachten. Folglich scheint er un-
ist nichts überliefert. Es scheinen teils formale Kriterien zu sein wie
abhängig von Licht oder Pflege zu sein. Materialtechnische
eine vertikal-horizontal gegliederte Bildstruktur oder gattungsspezifi-
Untersuchungen im Hinblick auf Farbstabilität fehlen bislang. Die Be-
sche wie Skulptur und Relief. Zu den Daten und Titeln des Werkver-
zeichnungen der hier genannten Farbtöne beziehen sich daher auf die
zeichnisses ist anzumerken, dass Sophie Taeuber-Arp selbst nur sehr
Innenseite bzw. Rückseite der Stickerei.
Selbst bei der Kissenplatte, die im Museumsbesitz unter optima-
selten datiert und kaum betitelt. Die meisten der heute wie selbstver-
17
ständlich genannten Titel sind posthum aus Webers Bildbeschreibun-
3067.1.
Sophie Taeuber an Hans Arp, 23.1.[1918], ZB ZH, Ms. Z II
gen entstanden.
18
5
Ms. Z II 3068.48, und Sophie Taeuber an Hans Arp, 25.2.1919, ZB ZH,
Erika Schlegel-Taeuber an Hans Arp, 21.7.1945, Archiv Fonda-
zione Marguerite Arp, Locarno. Sophie Taeuber-Arp dokumentierte
Sophie Taeuber an Erika Schlegel-Taeuber, 8.12.1912, ZB ZH,
Ms. Z II 3067.9.
weder ihre Arbeiten vor den Verkäufen, sei es mittels Fotos oder Skiz-
19
zen, noch notierte sie die Käuferinnen und Käufer.
Texten für den Unterricht in textilem Gestalten, den sie von 1916 bis
6
1929 an der Gewerbeschule in Zürich erteilt. Sophie Taeuber-Arp: Be-
Hans Arp: Unsern täglichen Traum. Erinnerungen und Dichtun-
Die Bedeutung der Farbe thematisiert die Künstlerin in zwei
gen aus den Jahren 1914–1954, Zürich 1955, S. 10 f.
merkungen über den Unterricht im ornamentalen Entwerfen, in: Korre-
7
spondenzblatt des Schweizerischen Vereins der Gewerbe- und Haus-
Stickerei-Zeit. Kultur und Kunst in St. Gallen 1870–1930,
Ausst.-Kat. Kunstmuseum St. Gallen, St. Gallen 1989, S. 10.
wirtschaftslehrerinnen, Bd. 14, 1922, H. 11/12, S. 156–159. Sophie
8
H. Arp-Taeuber und Blanche Gauchat: Anleitung zum Unterricht im
Die bislang erste nachweisbare Publikation einer Arbeit der
Künstlerin zeigt Entwürfe nach der Natur und fällt in diese Zeit: Doris
Zeichnen für textile Berufe, Zürich 1927.
Wild: Die Zeichnungsschule für Industrie und Gewerbe in St. Gallen, in:
20
Textile Kunst und Industrie. Illustrierte Monatshefte für die künstleri-
Ms. Z II 3069.4.
Sophie Taeuber an Erika Schlegel-Taeuber, 21.2.1922, ZB ZH,
schen Interessen der gesamten Textilindustrie, Bd. 2, 1909, S. 427–
21
432, hier S. 427.
kommen kann, erschwert die zeitliche Einordnung der Arbeiten, die sich
9
Dieses ‚ungenutzte‘ Formenrepertoire, das jederzeit zum Einsatz
Die von Herman Obrist und Wilhelm von Debschitz 1902 ge-
nur mühsam über zeitgenössische Publikationen rekonstruieren lässt. Es
gründete Schule wird in der Literatur nach dem Ausscheiden Obrists
ist davon auszugehen, dass Taeuber-Arp bemüht ist, zeitnah entstan-
oftmals verkürzt als Debschitz-Schule bezeichnet.
dene Arbeiten auszustellen und zu reproduzieren.
10
140
Sophie Taeuber an Erika Schlegel-Taeuber, 26.10.1912, Zentral-
bibliothek Zürich (nachfolgend ZB ZH), Ms. II 3068.47. In den Zitaten
Die Ausbildung als Kunstgewerblerin ist eine bewusste Ent-
22
Dass sie auch als solche bestehen können, zeugt von der Kraft
scheidung Taeuber-Arps. Obwohl sie von Jugend an zeichnet und
der Arbeiten. Sie losgelöst vom Kontext zu betrachten, bedeutet aller-
schon in St. Gallen Zeichenkurse belegt, erwägt sie in jungen Jahren zu
dings auch, die Relevanz von Sophie Taeuber-Arps textilem Frühwerk
keinem Zeitpunkt eine Ausbildung als Malerin.
zu unterschätzen.
Walburga Krupp
23
Die Gouache und Ausführungsvorlage befinden sich als Deposi-
befindet sich heute in der Sammlung der Fondazione Marguerite Arp,
tum aus Privatbesitz in der Sammlung des Aargauer Kunsthauses in
Locarno.
Aarau, die Stickerei ist in Privatbesitz. Die drei Arbeiten sind auf 1928
29
datiert. Da den Farbangaben auf der Ausführungsvorlage keine Garn-
gerahmt worden, um den ‚Bildcharakter‘ zu betonen. Die heutige Rah-
beispiele in den entsprechenden Farben beigefügt sind, lesen sie sich
mung zeigt den Teppich wieder mit Fransen, ohne die Bildwirkung zu
mehr wie Hinweise. Gouache und Vorlage stammen aus der Sammlung
beeinträchtigen. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass heute
von Erika Schlegel-Taeuber, die Stickerei aus der einer gemeinsamen
viele der Kissen und Teppiche als gerahmte Bilder an der Wand präsen-
Freundin. Für sie wollte Erika Schlegel-Taeuber anscheinend etwas
tiert werden und ihre ursprüngliche Funktion nicht mehr erkennbar ist.
sticken und bat die Schwester um einen Entwurf. Sophie Taeuber-Arp
30
reagierte darauf in einem Brief. Sophie Taeuber-Arp an Erika Schlegel-
Arp nach Straßburg, um die französische Staatsbürgerschaft zu erhal-
Taeuber, 22.11.1932, ZB ZH, Ms. ZII 3069.71.
ten. Arp hat zuvor dank alter Kontakte in seiner Heimatstadt die Be-
24
Sophie Taeuber an Hans Arp, 7.3.1919, ZB ZH, Ms. Z II 3067.14.
kanntschaft der Immobilienbesitzer André und Paul Horn gemacht, von
Diese subjektive Besetzung von Farbe erinnert an Wassily Kandinsky,
denen das Ehepaar verschiedene Innengestaltungsaufträge erhält, so
dessen Schriften sie durch Hans Arp kennt. Arp lernt während seiner
zum Apartment von André Horn, zum Hotel Hannong und schließlich
Zeit bei der Künstlergruppe „Der Moderne Bund“ 1912 Kandinsky ken-
zur Umgestaltung der „Aubette“.
nen. Nach dem Ersten Weltkrieg bemühen sich Arp und Taeuber-Arp um den Ankauf eines Gemäldes von Kandinsky und können schließlich
31 32
die Improvisation 35 von 1914 erwerben. Arp schenkt sie 1966 an das
chen Werkkomplex an der Konstruktivisten-Ausstellung der Basler
Kunstmuseum Basel.
Kunsthalle vertreten. Sie drängt ihre Geschwister zum Besuch der Aus-
25 26
Als Beispiel eines signierten Teppichs siehe Abb. 3.
stellung und dankt ihnen anschließend: „Ihr habt ja immer mehr Bezie-
Bei Letzteren zeigt sich dies am deutlichsten bei der so genann-
hung zu meinen früheren kunstgewerblichen Arbeiten gehabt umso
ten Puderdose, 1918, Holz, gedrechselt und bemalt, Aargauer Kunst-
besser scheint mir diese Umgebung dafür zu sein, eine andere Einstel-
haus Aarau, Depositum aus Privatbesitz.
lung zu meinen Arbeiten zu bekommen.“ Sophie Taeuber-Arp an Erika
27
Schlegel-Taeuber, 8.2.1937, ZB ZH, Ms. Z II 3070.25.
Siehe dazu auch Maria Weese und Doris Wild: Die Schweizer
In späteren Jahren ist der Wandteppich mit verdeckten Fransen
Sophie Taeuber-Arp reist im Sommer 1926 zu ihrem Mann Hans
Weese/Wild 1928 (wie Anm. 27), S. 47. Im Januar 1937 ist Sophie Taeuber-Arp mit einem umfangrei-
Frau in Kunstgewerbe und bildender Kunst, Zürich/Leipzig 1928, S. 47.
33
28
Die Datierung 1918–1924 muss überdacht werden. Taeuber-
relativ große Anteil an figurativen Elementen auch dem Geschmack
Arp hat den Teppich 1925 als Mitglied der Schweizer Delegation auf
der potenziellen Käuferschaft ihrer Arbeiten geschuldet ist. Die Zürcher
der Exposition internationale des arts décoratifs et industriels modernes
galten, zumindest in den Jahren ihrer Tätigkeit dort, als eher konservativ.
in Paris gezeigt und einen Sonderpreis erhalten. Es ist nicht anzuneh-
34
men, dass sie bei dieser wichtigen Ausstellung eine alte Arbeit präsen-
ZH, Ms. Z II 3070.36. Die Ausstellung bei der Galerie Bucher findet erst
tierte. Eine Datierung auf 1925 scheint folglich plausibler. Der Teppich
im Mai 1939 statt.
Es stellt sich die Frage, inwiefern der im textilen Werk doch
Sophie Taeuber-Arp an Erika Schlegel-Taeuber, 20.7.1938, ZB
Gestickte Malereien. Die Textilkünstlerin Sophie Taeuber-Arp
141
SA M MELN, ARC HIVIERE N , ZE I GE N / CO L L EC T, ARC HIVE, D I S PL AY
gruppen ermöglichen es, die Ankaufspolitik des Museums näher zu beleuchten.
Mi t teleurop ä i sche St i ckerei en i m M AK Der Historismus, der mit dem k. k. Österreichischen Museum für Kunst und Industrie (ÖMKI) und
Mitteleuropäische Textilien und Englische Stoffe. Zur Ankaufspolitik des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute MAK) vor und um 1900 Angela Völker und Dagmar Sachsenhofer
dem Programm der über die gesamte Monarchie verbreiteten Fachschulen, die das Kopieren historischer Stile als Vorbild propagierten, sein Forum für das Kunsthandwerk zu finden geglaubt hatte, geriet in den späten 60er Jahren des 19. Jahrhunderts in eine Sackgasse, denn es mangelte an Kreativität und neuen Anregungen. In der als unverdorben und ursprünglich, als positiv konnotiert ‚primitiv‘ geltenden Volkskunst abgelegener Regionen, wie der Bukowina2 oder in Dalmatien, glaubte man, diese gefunden zu haben. Den Kunstgewerbemuseen erschloss sich so ein neues Sammelgebiet. Alois Riegl, Textilkurator im ÖMKI, gilt als Schlüsselfigur der Bewegung.3 Um 1900 zeigten die Textilsammlungen prominenter Künstler, wie
In der Textilsammlung des MAK (Österreichi-
Gustav Klimt4, Kolo Moser (Abb. 1)5, Josef Hoffmann6
sches Museum für angewandte Kunst/Gegenwarts-
oder Emilie Flöge7, wie sie diesem Pfad folgten. Das
kunst) in Wien befinden sich zwei Objektbereiche, die
folkloristische Repertoire an stilisierten Naturformen,
von besonderem Interesse für die „Textile Moderne“
die Reduzierung der Motive auf ihre Umrisslinien,
sind: Das MAK besitzt eine umfangreiche Sammlung
sowie die lebendige und oft klare Farbigkeit begeister-
ethnografischer Textilien aus den Ländern der österrei-
ten Künstler, aber auch Sammler und Museen. Die
chischen-ungarischen Doppelmonarchie; ein unveröf-
Akquisition volkskundlicher Textilien erfolgte parallel
fentlichter, kaum bearbeiteter Bestand, wichtig
zum Ankauf kunsthistorisch hochgeschätzter Textilien
allerdings für die aktuelle kunsthistorische Forschung,
des Mittelalters, der Renaissance und des Barock, wie
in der seit der Jahrtausendwende vermehrt ein neues
etwa der Gewebesammlung des Kanonikus Franz Bock
Interesse am Einfluss der Volkskunst zu beobachten
1864.8
ist. Andererseits gibt es im MAK eine unerwartete,
Das Sammeln mitteleuropäischer Textilien
um 1900 erworbene Sammlung englischer Dekor-
begann im ÖMKI bald nach dessen Gründung 1864 in
stoffe, die Künstler des Arts and Crafts Movements
den Jahrzehnten, in denen volkskundlichen Textilien
seit den 1870er Jahren entwarfen. Beide Sammlungs-
allgemein ein beachtliches Interesse galt.9 Ab 1867
1
Zur Ankaufspolitik des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute MAK) vor und um 1900
145
erreichte das ÖMKI 1880. Sie wurde gegen „vier Gypse“ von dem Maler Izidor Kršnjavi aus Agram (Zagreb) getauscht.12 Meist weniger üppig waren die Angebote diverser Händler aus Wien, wie Israel Pollaks13, Katharina Prems14, Isidor Bellaks15 (Abb. 3) oder Friederike Joessels16. Andererseits kamen Händler aus den Regionen, in denen ihre Ware entstand: Karl Ertl17 und Alexander Quintus aus Cheb (Eger)18, Anton Andresek aus Brno (Brünn)19, Josef Madunicky aus Pieštʼnany (Pystian)20, Alois Elbogen aus Rokytnice (Rokitnitz)21 oder Josef Licht neckert aus Székesfehérvár (Stuhlweißenburg)22. Einige verkauften auch an das 1895 gegründete Volkskundemuseum Wien.23 Textilien galten traditionell als Sammlungs Abb. 1: Bestickte Haube, Ende 19. Jahrhundert, Slowakei, Baumwolle, Seidengarn, aus der Textilsammlung Kolo Mosers, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, Inv. Nr. T 11265
objekte für Damen der gehobenen Schichten, wie die der Sammlung Natalie Bruck-Auffenbergs aus Wien, heute im Volkskundemuseum Wien.24 Sie hatte sich auf dalmatinische „Ware“ spezialisiert, die sie selbst vor Ort gesammelt, bearbeitet und veröffentlicht
boten Sammler und Händler dem Museum Sticke-
hatte.25 Stephanie Rubido-Zichy aus Opatija (Abbazia)
reien, Gewebe und Kostümteile aus den Ländern der
schenkte dem ÖMKI 1873 vier und 1906 sechs
Doppelmonarchie an. Einer ihrer wichtigsten Vertreter,
dalmatinische Kleidungstücke,26 1913 widmete Gräfin
der Fabrikant und Ethnologe Srećko (Felix) Lay aus
Marie Hoyos-Amerling dem ÖMKI 86 dalmatinische
Osijek (Essegg) in der historischen Region Slawonien,
Spitzen, Stickereien und Kostümteile27. Auch bekannte
offerierte dem Museum 1871, 1872 sowie 1873, 1879
Persönlichkeiten wie die Schriftstellerin Emma Adler28,
und zuletzt 1912 diverse Textilien aus seiner Heimat,
Gattin Victor Adlers, oder Emilie Bach29, Gründerin der
insgesamt mehr als 2.000 Objekte. Ein Brief des
k. k. Fachschule für Kunststickerei in Wien, schenkten
ÖMKI Direktors Rudolf von Eitelberger beschreibt,
dem ÖMKI ethnologische Stickereien sowie später
wie Lay 1873 dem Haus die umfangreichste Kollektion
1935 Bertha Pappenheim.30
verkaufte, die für die Wiener Weltausstellung be-
146
Dabei interessierten Sammler und Museen
stimmt gewesen war, mit deren Organisationskomitee
offenkundig nicht so sehr die kulturhistorischen
er sich aber nicht hatte einigen können (Abb. 2).10
Aspekte oder die Gebrauchskontexte der Textilien als
Lay publizierte seine Kenntnisse „südslavischer“
viel mehr ihre formalen Charakteristika, die Muster.
Stickereien 1871/72 „zur Förderung der Kunstindust-
Das zeigen die zahlreichen aus ihrem Zusammenhang
rie“ in einem mehrbändigen Tafelwerk zusammen mit
geschnittenen Fragmente in der MAK Sammlung
dem Maler Friedrich Fischbach.11 Eine weitere Samm-
(Abb. 2, 3). Der Schwerpunkt liegt auf den Ornamen-
lung von über 800 dalmatinischen Stickereifragmenten
ten der bestickten Besätze für Blusen, Hemden,
Angela Völker und Dagmar Sachsenhofer
Abb. 2: Bestickter Besatz (Fragment), vor 1873, Dalmatien, Wolle auf Leinen, aus der Sammlung Lay, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, Inv. Nr. T 1975-5
Abb. 3: Ärmelbesatz mit Klöppelspitze und Seidenstickerei, vor 1886, Mähren, Baumwolle, Seidengarn, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, Inv. Nr. T 4057
Hauben und Tücher vor allem aus Dalmatien, Mähren
der Universität Wien präsentierte die Ausbeute im
und Böhmen, aus der Bukowina (Ukraine, Rumänien)
Januar 1918.38
und Ungarn. Vollständige Kostüme gibt es nur vereinzelt. Ebenso brachten Kustoden wie Eduard Lei-
Museen, Wissenschaftler und Sammler bemühten sich, die volkskundlichen Sammlungen in Aus-
31
sching32 oder Moritz Dreger33 und der Direktor Arthur
stellungen und Publikationen bekannt zu machen.
von Scala ethnografische Textilien in die Sammlung.
Willkommene Gelegenheiten, die nationale Identität
34
Von Alois Riegl sind keine Ankäufe aktenkundig,
mittels Volkskunst auch international zu propagieren,
allerdings beschäftigte er sich in seinen frühen
waren ab 1851 die Weltausstellungen,39 bei denen
Schriften immer wieder mit orientalischen und
stets auch volkskundliche Objekte, folkloristische
folkloristischen Textilien.
Architektur, ja sogar die Landbevölkerung in pittores-
Eine ungewöhnliche Mission erfüllte der Künst-
ken Trachten zur Schau gestellt wurden.40 In den
ler und Mosaikunternehmer Leopold Forstner aus
Städten fanden kontinuierlich Landesausstellungen
Stockerau: 1917 und 1918 führte ihn seine Funktion
statt, über die Kataloge und Museumszeitschriften
als „Sammeloffizier“ nach Mazedonien und Albanien
berichteten.41 Im MAK haben sich zwei umfangreiche
mit dem Auftrag, von dort eine „möglichst große
Konvolute von Fotografien erhalten, die die volkskund-
Anzahl von volkskundlichen Gebrauchsgegenständen,
lichen Ausstellungen 1895 in Prag42 und 1905/06 in
Erzeugnisse des Handwerks und der Hausindustrie
Wien43 dokumentieren.
mitzubringen.“ Charakteristische Textilien und Fotos 35
Schon vor dem Ersten Weltkrieg schwand in den
sowie seine dokumentarisch genauen Zeichnungen
Kunstgewerbemuseen das Interesse an diesem
im MAK36 und im Volkskundemuseum Wien37 bezeu-
Bestand. Wahrscheinlich besitzen sogar einige volks-
gen seine Reisen. Eine Ausstellung im Großen Festsaal
kundliche Textilien, die, wie die Bestände im MAK,
Zur Ankaufspolitik des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute MAK) vor und um 1900
147
kaum bekannt sind. Beispielsweise schenkte Felix Lay
Sein Wechsel in das ÖMKI wurde von vielen Seiten
1874 dem Germanischen Nationalmuseum in Nürn-
befürwortet. Seine im Handelsmuseum aufgebaute
berg eine Sammlung „südslawischer“ Textilien und
Sammlung modernen Kunsthandwerks übernahm er in
verkaufte 1875 dem Berliner Kunstgewerbemuseum
seine neue Wirkungsstätte.50
eine ähnliche Sammlung ; beide befinden sich heute
Bereits 1893 kaufte er für das Handelsmuseum
44
noch in den Museen45. Allerdings hat zuletzt das
bei der Londoner Firma Liberty & Co.51 Deren Gründer
Deutsche Textilmuseum in Krefeld seine folkloristi-
Arthur Lasenby Liberty erwarb ab den 1880er Jahren
schen Textilien bearbeitet und in einer umfassenden
Künstlerentwürfe, zum Beispiel bei Lindsay P. Butter-
Ausstellung gezeigt.
field, Walter Crane oder dem 1880 gegründeten Silver
46
Studio, und beauftragte bekannte Seidendrucker und Färber wie Thomas Wardle, der bereits für Morris
Ar ts and Craf ts-Stof fe im M AK
Stoffe in hoher Qualität bedruckte. Durch diese enge Zusammenarbeit mit Designern und Handwerkern
1897 wurde Arthur von Scala zum Direktor des
setzte Liberty neue Standards für die moderne
k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Indust-
Textilproduktion. Aus dem Handelsmuseum stammt
rie bestellt. Er trennte sich vom Gründungsgedanken
der Baumwollsamt mit stilisierten Vögeln zwischen
des Museums – dem Kopieren historischer Stile – und
Blattranken und Blüten (Abb. 4) – ein Entwurf von
propagierte das Kopieren moderner ausländischer
Charles Francis Annesley Voysey, der in zwei verschie-
Vorbilder. Diese fand er in den Reformideen des
denen Farbstellungen erworben wurde.52 Auch für das
englischen Kunsthandwerks. Noch vor seiner offiziel-
ÖMKI sind Ankäufe bei Liberty belegbar.53 Exempla-
len Bestellung als Direktor des ÖMKI rühmte ihn die
risch wird ein rotgrundiger Stoff mit eingewebtem,
Allgemeine Zeitung in München: „ein Mann von
linearem Grundmuster vorgestellt, der mit seinem
Initiative, von Ideen, von Geschmack, ein Anreger.“
floralen Gitterwerk und den stilisierten Fantasieblüten
47
Scala war bereits als 21-jähriger Industriekauf-
bereits jene Flächenhaftigkeit zeigt, die auch für
mann mit der Berichterstattung über die Textilindustrie
österreichische Jugendstilstoffe charakteristisch
auf der Pariser Weltausstellung 1867 betraut worden.
werden sollte (Abb. 5).
1873 wurde er zum Direktor des neu gegründeten
Ein Gutteil der englischen Stoffe wurde über
Orientalischen Museums bestellt, das er 1886 zum
eine weitere Londoner Firma gekauft: Höfler, Raum &
„k. k. Österreichischen Handelsmuseum“ ausbaute und
Co beziehungsweise W. Höfler. Die im MAK-Archiv
dabei einen Schwerpunkt auf „England mit seinem
spärlich erhaltenen Geschäftsakten zu den englischen
neuartigen Möbelstyl“ legte. Scala führte das
Ankäufen belegen eine langjährige, fast freundschaftli-
Handelsmuseum wie ein ,Kunstgewerbemuseum‘: „It is
che Geschäftsbeziehung zwischen Scala und Wilhelm
virtually a permanent exhibition of applied and
(William) Höfler.54 Höfler hatte 1885 in London eine
decorative art“, schrieb The Studio, ein Organ des Arts
Handelsfirma für englische Möbel, Stoffe, Teppiche,
and Crafts Movements, im Dezember 1896. „Modern
Tapeten, Fliesen und Glasfenster gegründet, in jener
decorations and wallpapers are on view in the special
Zeit, als England eine führende Rolle in der Entwick-
48
rooms […]. Needless to say that a lion’s share falls in this department to William Morris and Walter Crane.“
148
Angela Völker und Dagmar Sachsenhofer
lung des modernen Kunsthandwerks übernahm. Die 49
1887 gegründete „Arts and Crafts Exhibition Society“
Abb. 4: Charles Francis Annesley Voysey (Entwurf), G. P. & J. Baker (Ausführung), Dekorstoff, 1893, Baumwollsamt bedruckt, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, Inv. Nr. T 6858
Zur Ankaufspolitik des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute MAK) vor und um 1900
149
Abb. 5: Dekorstoff, vor 1898, Baumwolle, Wolle gewebt, Liberty (Ankauf), MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, Inv. Nr. T 4948
veranstaltete Ausstellungen, in denen Textilien eine
genen Wellen, kleinen Blüten und versetzt gereihten,
zentrale Rolle einnahmen. Viele der Stoffe, etwa von
stilisierten Blumen gezeigt (Abb. 6)57.
William Morris, Lewis F. Day oder dem Silver Studio,
150
Die Ankaufspolitik Scalas war die Basis für sein
verkaufte Höfler nach Wien. So tragen die Morris-
eigentliches Ziel: die prominente und vorbildhafte
Stoffe Kennet55 und Tulip56 im MAK die Händleretiket-
Präsentation der für Wien neuen und von vielen
ten von Höfler, Raum & Co. In vielen Fällen ist aber der
Kunsthandwerkern noch abgelehnten Arts and
Entwerfer unbekannt – offenbar spielten diese eine
Crafts-Stilrichtung. Scalas Ausstellungspolitik polari-
untergeordnete Rolle, da sie auch in den Inventarun-
sierte: Die einen sahen in ihm einen Mann mit „klarem
terlagen nur selten genannt werden. Exemplarisch
Blick für die Zukunft“58, die anderen sprachen abfällig
wird hier ein bedruckter Stoff mit S-förmig geschwun-
von einer „Englischen Krankheit“59. Vor allem der
Angela Völker und Dagmar Sachsenhofer
Abb. 6: Unbekannter Entwerfer, Dekorstoff, vor 1899, Baumwolle bedruckt, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, Inv. Nr. T 5151
Wiener Kunstgewerbeverein protestierte, als Scala mit
Der Gewerbeverein sah darin geschäftsschädigendes
der Tradition brach, dem Verein Räume des Museums
Verhalten und legte mehrfach Beschwerde beim
für eine Verkaufsschau, die sogenannte Weihnachts-
Unterrichtsminister ein.61 Daraufhin kündigte Scala
ausstellung, zu überlassen, um traditionelle, historisie-
dem Kunstgewerbeverein im Herbst 1898.62 Der
rende Einrichtungen zu zeigen und zu verkaufen.
Konflikt wurde breit in der Öffentlichkeit diskutiert.
Bereits im ersten Jahr seiner Direktion präsentierte
Das Medienecho, darunter pointierte Zeitungsartikel
Scala parallel zur Weihnachtsausstellung modernes,
von Adolf Loos63, „Der Fall Scala“ oder „Das Scala-
englisches Kunsthandwerk sowie Interieurs im
Theater“64 trugen wesentlich zum Publikumserfolg der
englischen Stil. Diese wurden von den Besuchern mit
jetzt von Scala als „Winterausstellung“ organisierten
Begeisterung aufgenommen, die Nachfrage stieg.
Schauen bei.
60
Zur Ankaufspolitik des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute MAK) vor und um 1900
151
Das Interesse potentieller Käuferschichten war geweckt, und Wiener Kunsthandwerker ließen sich vom ,englischen Stil‘ anregen. Begeistert wurden die in den Winterausstellungen präsentierten Entwürfe jetzt besprochen: In der Deutschen Kunst und Dekoration ist von Innenräumen die Rede, „die in ihrer Gesammtheit [sic] ein ziemlich vollkommenes Bild des gegenwärtigen Standes der modernen Richtung im Wiener Kunstgewerbe ergeben“65. Für ihre Möbelentwürfe verwendeten die österreichischen Kunsthandwerker zunächst englische Textilien. So zeigt die „Plauderecke“ (engl. ,Cozy Corner‘) des Architekten Leopold Müller bei der Winterausstellung 1899 eine Tapezierung mit einem englischen Möbelstoff (Abb. 7), der im September des gleichen Jahres für die Sammlung des ÖMKI angekauft worden war.66 Die Möglichkeit, eigene
Abb. 7: Marianne Strobl (Foto), Fotografie einer Wohnecke, 1899, Silbergelatineabzug, Leopold Müller (Entwurf), J. W. Müller (Ausführung), MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, Inv. Nr. KI 7388–10
Möbelentwürfe mit modernen englischen Textilien zu bereichern, nutzte auch Josef Hoffmann. Die Wiener Monatsschrift Das Interieur zeigt etwa Fotografien der
diagnostizierten bei Scala ein schwindendes „Ver-
Kanzlei Dr. Walter Brix, deren Sitzmöbel mit dem
trauen in die Zukunft der modernen Richtung“73. 1909
englischen Stoff Thistle tapeziert sind.67 Nicht nur
wurde Arthur von Scala in den Ruhestand versetzt, die
Architekten, auch der „Photographische Kunstverlag
Leitung übernahm sein Stellvertreter Eduard Leisching,
Otto Schmidt“ verwendete englische Stoffe für die
der zu den Museums-Traditionen der Zeit vor Scala
Ausstattung spezieller Fotoserien – etwa als Hinter-
zurückkehrte. Scalas Einschätzung des Arts and Crafts
gründe für Aktfotografien.
Movements als wegweisend erwies sich in der Folge
68
Die folgenden Ausstellungen Scalas standen weiter im Geiste des englischen Stils. 1899 zeigte man
österreichischen Jugendstils. Für Josef Hoffmann und
preisgekrönte englische Schülerarbeiten (National
Kolo Moser war die von Scala in Wien hartnäckig
Competition) , die das „Nordböhmische Gewerbemu-
betriebene Rezeption der englischen Moderne eine
seum Reichenberg“70 als Wanderausstellung über-
wichtige Anregung.
69
152
als zutreffend und beeinflusste die Entwicklung des
nahm. Der Direktor des Budapester Kunstgewerbemu-
Scalas visionäre Ankaufspolitik hinterließ
seums, Jenő Radisics, kaufte 1895 ebenfalls Stoffe von
bemerkenswerte Spuren in den Beständen des
Thomas Wardle und William Morris.71 Im Jahr 1900
Museums. Neben Entwürfen der bereits genannten
organisierte er eine große Ausstellung Walter Cranes,
Künstler gibt es Stoffentwürfe von Lindsay P. Butter-
die anschließend nach Wien kam.72 Ab 1902 wurden
field, John Henry Dearle, Harry Napper, F. Graham
deutlich weniger englische Stoffe akquiriert als in den
Rice, Arthur Silver, Charles Harrison Townsend,
Jahren zuvor. Auch in den Winterausstellungen traten
Thomas Wardle und Arthur Willcock.74 Bei vielen
wieder historische Stilformen auf. Zeitgenossen
Stoffen sind die Produzenten bekannt, etwa G. P. & J.
Angela Völker und Dagmar Sachsenhofer
Anm erkungen
Baker, Arthur Lee, Warner & Sons oder Turnbull & Stockdale. Neben den Stoffbahnen, die in bemerkenswert großen Metragen ins Museum gelangten, gibt es nur wenige Decken oder Behänge. So kaufte Scala etwa einen „Chenille Curtain“ und einen Tischteppich über den deutschen Händler Bernheimer75 und Teppichmuster aus der Wilton Royal Carpet Factory76. Auch Gardinenstoffe von Liberty77 und Stickereien der Royal School of Needlework bereicherten die 78
Sammlung. Der nach dem Ende seiner Direktion nicht mehr erweiterte Bestand besteht heute aus etwa 430 englischen Textilien und stellt damit einen der größten außerhalb Englands dar.
1
Vgl. Rebecca Houze: Textiles, Fashion, and Design Reform in
Austria-Hungary Before the First World War, Farnham u. a. 2015; Anita Aigner (Hg.): Vernakuläre Moderne. Grenzüberschreitungen in der Architektur um 1900. Das Bauernhaus und seine Aneignung, Bielefeld 2010; Georg Vasold: Alois Riegl und die Kunstgeschichte als Kulturgeschichte. Überlegungen zum Frühwerk des Wiener Gelehrten, Freiburg im Breisgau 2004; Angela Völker: Die Sammlungspolitik der Textilsammlung des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie in den Jahren 1864 bis 1910, in: Kunst und Industrie. Die Anfänge des Museums für angewandte Kunst in Wien, hg. v. Peter Noever, Ausst.Kat. MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Ostfildern 2000, S. 114–129; Diana Reynolds: Vom Nutzen und Nachteil des Historismus für das Leben. Alois Riegls Beitrag zur Frage der kunstgewerblichen Reform, in: ebd., S. 203–218.
2
Erich Kolbenheyer: Motive der hausindustriellen Stickerei in der
Bukowina, Wien 1912.
3
Wa s au s den Sammlungen wurde
Bernward Deneke: Die Entdeckung der Volkskunst für das
Kunstgewerbe, in: Zeitschrift für Volkskunde, Bd. 60, 1964, S. 168– 201; ders.: Beziehungen zwischen Kunsthandwerk und Volkskunde um 1900, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums, Berlin 1968,
Die beiden unterschiedlichen Sammlungsbestände zeigen deutlich, dass die Ankaufspolitik des k. k. ÖMKI in Wechselwirkung mit zeitgebundenen Trends und persönlichen Interessen handelnder Personen stand. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die mitteleuropäischen Textilien pejorativ als „volkskundlich“ kategorisiert. Sie wanderten ins Depot, wo sie – bis heute wenig beachtet – weiterhin aufbewahrt werden. Erst seit 2018 werden sie als Teil eines allgemeinen Digitalisierungsprojekts fotografiert und in der Online-Datenbank des Museums erfasst. Die Arts and Crafts-Stoffe hingegen fanden seit der Wiederentdeckung des Jugendstils in den 1960er Jahren beachtliche Aufmerksamkeit. 1989 und 2013 war jeweils eine Auswahl im MAK zu sehen und einzelne Bahnen wurden zu Ausstellungen ausgeliehen. Seit 2012 ist der Gesamtbestand der englischen Stoffe aus dem MAK in der Online-Datenbank allgemein zugänglich.
140–161. Diana Reynolds Cordileone: Alois Riegl in Vienna 1875– 1905. An Institutional Biography, Farnham u. a. 2014.
4
Verena Traeger: Klimt als Sammler, in: Klimt persönlich. Bilder –
Briefe – Einblicke, hg. v. Tobias G. Natter, Ausst.-Kat. Leopold Museum, Wien 2012, S. 108–125.
5
Angela Völker: Textiles, Fashion and Theater Costumes in: Ko-
loman Moser. Designing Modern Vienna 1897–1907, hg. v. Christian Witt-Dörring, Ausst.-Kat. Neue Galerie New York, München u. a. 2013, S. 194–245, hier S. 198.
6
Josef Hoffmann: Die Sammlung von folkloristischen Textilien im
Geburtshaus in Brtnice, Brtnice 1997.
7
Die Textilmustersammlung Emilie Flöge im Österreichischen Mu-
seum für Volkskunde. Objekte im Fokus, Bd. 2, hg. v. Kathrin Pallestrang, Ausst.-Kat. Österreichisches Museum für Volkskunde, Wien 2012.
8
Inv. Nr. T 724–1132. Vgl. Birgitt Borkopp-Restle: Der Aachener
Kanonikus Franz Bock und seine Textilsammlungen. Ein Beitrag zum Kunstgewerbe im 19. Jahrhundert, Riggisberg 2008.
9
1876 wurden 60 volkskundliche Textilien (Inv. Nr. T 2715/1-60)
als „1867 erworben“ inventarisiert, wohl Ankäufe von der Weltausstellung in Paris 1867. Später gelangten folkloristische Textilien meist als Widmungen in das MAK; so 1935 Teile der Sammlung Bertha Pappenheims (Inv. Nr. T 10073/1–1257), 1983 Widmung diverser mährischer Stickereien (Widmung Maria Steindl, Wien, Inv. Nr. T 11265/1–67) und 2003 ein Konvolut von Ärmelbesätzen aus Chebsko (Egerland) (Widmung Eleonore Schönborn, Inv. Nr. T 12874–13036).
10
Archiv Zl. 174/1875; ÖMKI-Ankäufe von Lay: 1872: Inv. Nr. T
1812–1828; 1873: T 1881–1988; 1879: T 3151–3156; 1912/1913: T 7481–7538.
Zur Ankaufspolitik des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute MAK) vor und um 1900
153
11
met allen Ländern und Völkern zur Förderung der Kunstindustrie und
32 33
nebst einer Abhandlung über die Verbreitung der Cultur der Südslaven,
ger von einer Slowakin kaufte.
Hanau 1872.
34
12 13 14 15 16
Inv. Nr. T 3302.
nische Stickereien; 1904: Inv. Nr. T 5949–5951, Spitzen aus Südtirol;
1874: Inv. Nr. T 2045–2069, Stickereien aus Pécs/Fünfkirchen.
1905: Inv. Nr. T 6292–6308, Spitzen aus Pag und Albanien; Inv. Nr. T
1885: Inv. Nr. T 3842–3996, mährische Stickereien, Spitzen.
6310–6332, Kopftücher und Brustlätze aus Pag und Konavle (Dalma-
1886: Inv. Nr. T 4055–4073, mährische Spitzen, Stickereien.
tien); Inv. Nr. T 6388–6396, Stickereien aus Ruthenien (Ukraine).
1886: Inv. Nr. T 4016–4025, T 4045–4049, slowakische
35
Felix Lay (Hg.): Südslavische Ornamente, gesammelt und gewid-
1903: Inv. Nr. HIND 326 – HIND 342, dalmatinische und rumä-
Leopold Forstner: Studien von Albanien und Mazedonien, in:
Stickereien.
Kunst und Kunsthandwerk, Bd. 21, 1918, H. 8/9/10, S. 349; Martina
17 18
1882: Inv. Nr. T 3649–3662, Ärmelbesätze.
Bauer: Leopold Forstner (1878–1936). Ein Materialkünstler im Umkreis
1905, 1906: Inv. Nr. T 6249–6261, T 6526–6528, Ärmelbe-
der Wiener Secession, Wien/Köln/Weimar 2016, S. 158–159, 165–
sätze.
19 20
166. 1890: Inv. Nr. T 4311–4349, Kragen und Besätze.
36
1905: Inv. Nr. T 6028–6055, Be- und Einsätze; 1906: T 6422–
8120/1–54, alle KI Inv. Nr.: https://sammlung.mak.at/de [Abruf:
Inv. Nr. T 8221–8253 und Inv. Nr. KI 8132/1–18; Inv. Nr. KI
6572, Kragen, Hauben; 1912: T 7472 –7478; 1913: T 7589–7599,
22.12.2018].
Besätze.
37
21
4.253, https://www.volkskundemuseum.at [Abruf: 22.12.2018].
1908: Inv. Nr. T 6917–6936; 1909: T 6959–7034; 1910:
Volkskundemuseum Wien, Inv. Nr. AÖMV 4.243–4.246, 4.250–
T 7204–7242, sog. Einnahthauben; Archiv Zl. 463/1908, 27/1909,
38
57/1909, 280/1910, 379/1915.
kangebiete, in: Kunst und Kunsthandwerk, Bd. 21, 1918, H. 2, S. 69.
22
39
1909: Inv. Nr. T 7052/1–12, Hauben, weiße Stickerei auf
Hartwig Fischel: Ausstellung zur Volkskunde der besetzten BalMartin Wörner: Die Welt an einem Ort. Illustrierte Geschichte
Schwarz; vgl. Aladár Kriesch-Körösföi: Hungarian Peasant Art, in: Char-
der Weltausstellungen, Berlin 2000.
les Holme u. a. (Hg.): Peasant Art in Austria and Hungary, The Studio,
40
Sonderausg., 1911, S. 31–46, Taf. 629–651.
tektonische Selbstdarstellung Österreich-Ungarns auf den Weltausstel-
23
Martin Wörner: Bauernhaus und Nationenpavillon. Die archi-
Karl Ertl 1882, Alexander Quintus 1905, David Kaiser 1887,
lungen des 19. Jahrhunderts, in: Österreichische Zeitschrift für Volks-
Anton Andresek 1890, Regina Markstein 1891 und Alois Elbogen 1908.
kunde, Bd. 48, 1994, H. 97, S. 395–424; Elke Krasny: Binnenexotismus
24
Vgl. Einblicke in die Sammlung: Natalie Bruck-Auffenberg,
und Binnenkolonialismus. „Das Bauernhaus mit seiner Einrichtung und
Ausst.-Kat. Volkskundemuseum Wien, Wien 2018. Dem ÖMKI berich-
seinem Geräthe“ aus der Wiener Weltausstellung 1873, in: Aigner 2010
tete sie 1900 aus Spalato (Split) von ihrer Dalmatienreise (Archiv Zl.
(wie Anm. 1), S. 37–55.
448/1900) und schenkte dem Museum 1904 fünfzehn dalmatinische
41
Textilien aus Pag (Inv. Nr. HIND 311–325).
lung in Prag 1895, in: Zeitschrift für österreichische Volkskunde, Bd. 1,
25
Wilhelm Hein: Die čechoslawische ethnographische Ausstel-
Natalie Bruck-Auffenberg: Dalmatien und seine Volkskunst.
1895 (1896), S. 265–275; Michael Haberlandt: Ausstellung österreichi-
Muster und Kunsttechniken aus altem Volks- und Kirchengebrauch.
scher Hausindustrie und Volkskunst, in: Kunst und Kunsthandwerk,
Spitzen, Stickarbeit, Teppichweberei, Schmuck, Trachten u. Gebrauchs-
Bd. 9, 1906, H. 1, S. 24–52.
gegenstände der Dalmatiner, Wien 1911. Widmungen ans Volkskunde-
museum Wien.
42 43 44 45
26
werbemuseum Berlin: Inv. Nr. 1875, 58–65. Die Recherchen be-
museum Wien gab es 1909, 1910, 1915 und 1918 den Nachlass (270 Objekte). Kathrin Pallestrang danken wir für ihre Hilfe im Volkskunde1873: Inv. Nr. T 2024–2027, Kappen; 1906: T 6448–6453,
Inv. Nr. KI 7395 (499 Fotos). Inv. Nr. KI 7717 (481 Fotos). Archiv Zl. 174/1875 (wie Anm. 10). GNM, Inv. Nr. LGA 5682–5742, mehr als 60 Objekte. Kunstge-
Hemden, Westen.
schränkten sich auf diese Häuser. Für die Informationen dazu danken
27 28 29 30
Inv. Nr. T 7601–7678, Archiv Zl. 313/1913.
wir Adelheid Rasche (Nürnberg) und Freya Nagelsmann (Berlin).
1884: Inv. Nr. T 3689–3693, Besätze, Mähren.
46
1886: Inv. Nr. T 2496–2499, Ärmelbesätze, Eger (Cheb).
Paetz gen. Schieck: Tracht oder Mode. Die europäische Sammlung Paul
Spitzen und so weiter ... Die Sammlungen Bertha Pappenheims
Prött im Deutschen Textilmuseum Krefeld, Mainz 2018.
Uta-Christiane Bergemann, Isa Fleischmann-Heck und Annette
Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, 2007/2008.
47 48
Zu Bertha Pappenheim siehe den Beitrag von Annette Tietenberg in
museum. 1875–1900, Wien 1900, S. 119. Englische Möbel wurden
diesem Band.
1892/93 in Wien und in einigen Fachschulen gezeigt (ebd., S. 127).
31
Eine Ausstellung französischer und englischer Textilien und Tapeten
im MAK, bearb. v. Angela Völker, Ausst.-Kat. MAK – Österreichisches
Inv. Nr. T 4380, T 4381, T 4458, Bauernkostüme; T 4382, Hir-
tentracht, T 7149; serbisches Reiterkostüm.
154
1889: Inv. Nr. T 4180, 10 Ärmelbesätze aus Eger (Cheb). 1901: Inv. Nr. T 5440–5460, 21 Stickereien aus Nitra, die Dre-
Angela Völker und Dagmar Sachsenhofer
Allgemeine Zeitung, München, 5. Mai 1897, Beilage, S. 7. Siegmund Feilbogen: Das k. k. Österreichische Handels-
fand im Gewerbemuseum Reichenberg/Liberec statt (ebd., S. 134).
49 50
The Studio, Bd. 9, 1897, H. 45 (December 1896), S. 215.
63
Darunter 120 Arts and Crafts-Stoffe (Inv. Nr. T 6734–6898)
seum, in: Neue Freie Presse, 13.11.1898, S. 9.
Adolf Loos: Die Winterausstellung im Österreichischen Mu-
sowie vier großformatige Tapetenmusterbücher von Hayward & Sons,
64
Rottmann und Jeffrey & Co: T 13525–13527, T 13780.
ter, in: Die Wage, 5. 11.1898.
51
Musterbücher mit bedruckten und gewebten Stoffen, drei Wollsamt-
65 66
Muster; 21.6.1895, Liberty & Co.: „Collection Stoffe und Musterbücher“.
„Plauderecke“ wurde in mehreren Zeitschriften publiziert, etwa in:
52
Deutsche Kunst und Dekoration, 1899, H. 5, S. 254.
Handelsmuseums-Inventar, 18.8.1893, Liberty Art Fabrics: drei
Inv. Nr. T 6893 (heller Grund). Vgl. From East to West. Textiles
Adolf Loos: Der Fall Scala (wie Anm. 59); ders.: Das Scala-TheaDeutsche Kunst und Dekoration, 1900, H. 6, S. 270. Inv. Nr. T 5161 (am 4.9.1899 über W. Höfler angekauft). Die
by G. P. & J. Baker, Ausst.-Kat. Victoria and Albert Museum, London
67
1984, S. 57 u. 80. Insgesamt besitzt das MAK 19 Voysey-Stoffe.
1900, Abb. auf S. 27, 50 u. 51 sowie Tafel 4. Das ÖMKI kaufte Thistle
53
(Entwurf: Silver Studio) bereits 1898 in vier verschiedenen Farbstellun-
Zwischen 1898 und 1901 wurden 58 Stoffe bei Liberty gekauft.
Das Interieur. Wiener Monatsheft für angewandte Kunst, Bd. 1,
Die meisten sind mit Etiketten samt Musternummern versehen.
gen (T 4934, T 5011–5013, T 5295).
54
68
Archiv Zl. 665/1897; Zl. 394/1899; Zl. 912/1899; Zl.
Geplante Publikation über den „Photographischen Kunstverlag
1058/1902. Im April 1899 trennte sich Höfler von seinen Geschäfts-
Otto Schmidt“ von Michael Ponstingl (Wien).
partnern Ludwig Raum und Henry S. P. Hindley.
69
55 56
Inv. Nr. T 6816 (Etikett: Höfler, Raum & Co / No. 190).
gekrönter englischer Schülerarbeiten im österreichischen Museum, in:
Inv. Nr. T 12468 (Etikett: Höfler, Raum & Co / No. 194). T
Kunst und Kunsthandwerk, 1899, H. 2, S. 58–77.
Inv. Nr. KI 7332. Siehe auch Ludwig Hevesi: Ausstellung preis-
elf Morris-Stoffe wurden erst 1907 bei Morris & Co. in London gekauft
70 71
(T 6652–6660). Stellvertretend für die umfangreiche Morris-Literatur:
Kunstgewerbe in Budapest. Hilda Horváth: Jenő Radisics and the Se-
Linda Parry: William Morris. Textiles, London 1983.
cession Collection of the Museum of Applied Arts, in: Szecesszió a 20.
57
század hajnala. Az európai iparművészet stíluskorszakai, hg. v. András
12461 stammt ebenfalls aus dem Handelsmuseum. Acht der insgesamt
Inv. Nr. T 5171 (Höfler-Etikett „W.H. No 130/2“). Pendant in
Archiv Zl. 405/1899, heute Liberec. Für Informationen dazu danken wir Hilda Horváth, Museum für
anderer Farbstellung: T 5172 („W.H. No 130/4“).
Szilágyi und Éva Horányi, Ausst.-Kat. Iparművészeti Múzeum, Budapest
58 59 60
Kunst und Handwerk, Bd. 47, 1897/98, S. 159.
1996, S. 10–15; Ilona Sármány-Parsons: The Influence of the British
Adolf Loos: Der Fall Scala, in: Die Zeit, 9.4.1898, S. 25–27.
Arts and Crafts Movement in Budapest and Vienna, in: Acta Historiae
Adolf Loos: Die Jubiläumsausstellung, in: Neue Freie Presse,
Artium, Bd. 33, 1987/88, S. 181–202.
5.6.1898, S. 16: „Noch einige solche Weihnachtsausstellungen, und wir
72
haben eine andere Tischler-Generation. Das Publicum aber ist schon da
schen Museum, in: Kunst und Kunsthandwerk, 1901, H. 3, S. 93–108.
[...]“.
73
61
Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 28.3.1898: „Protestver-
Moriz Dreger: Zur Walter Crane-Ausstellung im ÖsterreichiDer Cicerone. Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunst-
forschers & Sammlers, Bd. 1, 1909, H. 20, S. 643.
sammlung von Kunstgewerbetreibenden am 27. März 1898 […] gegen
74
die Leitung des Museums für Kunst und Industrie […] zum Schutze des
des MAK abrufbar: https://sammlung.mak.at/de [Abruf: 22.12.2018].
bedrängten heimischen Kunstgewerbes [...]“. Österr. Staatsarchiv, AVA, 2. Mai 1898.
75 76 77
62
stoffe gekauft (T 4991–5010 und T 6803–6811).
Ausst. Wien 1893–1898, Fasz. 2936, Nr. 10165, Eingabe 2. April und Archiv Zl. 1011/1898, Schreiben an das Präsidium des Wr.
Kunstgewerbevereins, 8.11.1898.
78
Sämtliche englischen Textilien sind in der Online-Datenbank Inv. Nr. T 5226, T 5227 (bei Bernheimer). Inv. Nr. T 5402, T 5403. Inv. Nr. T 4351–4355. Auch bei W. Höfler wurden GardinenInv. Nr. T 5112, T 5176, T 5287, T 5309, T 5310, T 6733–6735.
Zur Ankaufspolitik des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute MAK) vor und um 1900
155
dynamischen Umfeld auch jene Theorien des Textilen entstanden sind, die – im Zuge des Ornamentstreits von Alois Riegl als Kritik an Gottfried Semper formuliert3 – in der Kunstwissenschaft bis heute in Bezug auf wahrnehmungsästhetische Ansätze, eine „kulturund sozialtheoretische Neuperspektivierung der Stilgeschichte“4 und eine „Wiederkehr des Teppich- Paradigmas“5 unter dem Vorzeichen der Postcolonial Studies relevant sind.
Strukturprinzipien der Moderne: Die Textilsammlungen von Bertha Pappenheim und Emilie Flöge
Bertha Pappenheim und Emilie Flöge haben sich in den Debatten um die Herkunft und Valenz von Ornament und Muster nicht zu Wort gemeldet. Weder haben sie Sempers Auffassung geteilt, das Textile stelle eine „Urkunst“ dar, deren „Urtypen“ sich durch ihre „Ursprünglichkeit“ auszeichneten,6 noch haben sie sein primitivistisches Kulturstufenmodell explizit kritisiert. Ebenso wenig gaben sie Riegl recht, der Semper
Annette Tietenberg
vorwarf, den „Darwinismus auf ein Gebiet des Geisteslebens“7 übertragen und die Textilkunst in ihrer
„Man sagt, daß die dialektische Methode darum
Bedeutung überschätzt zu haben. Überliefert sind
geht, der jeweiligen konkret-geschichtlichen
keine Äußerungen von Bertha Pappenheim und Emilie
Situation ihres Gegenstandes gerecht zu werden.
Flöge, denen zu entnehmen wäre, dass sie Riegls
Aber das genügt nicht. Denn ebensosehr geht es
Entwicklungsschema des Ornaments „vom Naturalisti-
ihr darum, der konkret-geschichtlichen Situation
schen über die Geometrie zur Abstraktion“8 für
des Interesses für ihren Gegenstand gerecht zu
plausibel hielten. Und doch haben sie sich in eben
werden.“
diesem Diskursfeld positioniert – und zwar durch die Walter Benjamin
1
Schwerpunktsetzungen ihrer Textilsammlungen. Dies wird im Folgenden zu zeigen sein.
„War es einfach Zufall, daß die Anfänge der Zwölftonmusik, der ‚modernen‘ Architektur, des
Sammeln als Wohlfahrtsfeminismus
Rechtspositivismus, der abstrakten Malerei und der Psychoanalyse – oder auch das Wiederaufleben des
Bertha Pappenheim, 1859 in Wien geboren,
Interesses an Schopenhauer und Kierkegaard – alle in
engagierte sich Zeit ihres Lebens für Kinder-, Jugend-
der gleichen Zeit entstanden und daß sie so weitge-
und Frauenrechte. Spuren hinterließ sie als Mitbegrün-
hend auf Wien konzentriert waren?“ Diese rhetori-
derin des Jüdischen Frauenbundes (1904), als Initiato-
sche Frage stellten Allan Janik und Stephen Toulmin
rin eines Mädchenwohnheims in Neu-Isenburg
ihrer Rekonstruktion von Wittgensteins Wien voran.
(1907–1942) bei Frankfurt am Main, das sie bis zu
Vergessen zu erwähnen haben sie, dass in diesem
ihrem Tod im Jahr 1936 leitete, als Autorin von
2
Strukturprinzipien der Moderne: Die Textilsammlungen von Bertha Pappenheim und Emilie Flöge
157
Abb. 1: Bertha Pappenheim, ca. 1907, Fotografie nach einem verschollenen Gemälde, 9,7 x 6,4 cm, Inv.-Nr. JMF B 1986-0198-1, Jüdisches Museum, Frankfurt am Main
158
Kinderbüchern, als Übersetzerin und nicht zuletzt
hatten, zu verbessern. Sie startete Aufklärungs- und
aufgrund ihrer couragierten Vorträge, Zeitschriftenarti-
Bildungskampagnen und entwickelte Maßnahmen zur
kel und Bücher (Abb. 1). Der jüdischen Tradition der
Selbsthilfe. Auf Kongressen und Tagungen, in Briefen
Zedaka, der Wohltätigkeit, verpflichtet, sah sie es als
und in Aufzeichnungen, die sie „Denkzettel“ nannte,
ihre Aufgabe an, sozial benachteiligte Menschen zu
prangerte sie unmissverständlich sexuelle Ausbeutung
unterstützen. Tatkräftig trug sie dazu bei, die miserab-
und Mädchenhandel an. Prägnant hat die Historikerin
len Lebensbedingungen, unter denen jüdische Frauen
Gudrun Wolfgruber die Motivation der einstigen
in Osteuropa Anfang des 20. Jahrhunderts zu leiden
„höheren Tochter“ aus „streng jüdischer, orthodox
Annette Tietenberg
Abb. 2: Franziska Hofmanninger, Spitzenmuster (Spitzenbesatz), Ausführung: K. k. Zentral-Spitzenkurs, Wien, 1901, Seide, Nähspitze, 10,7 x 27,5 cm, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, Sammlung Bertha Pappenheim, Sigmund und Recha Pappenheim geb. Goldschmidt-Stiftung
bürgerlicher Familie“9, als die sich Pappenheim in
und Kleiderschmuck, Ärmelrüschen, Hauben,
ironischer Verkehrung der etablierten Wortkomposita
Dreieckstücher und Krägen zu erstehen. „Müffeln“11
selbst vorstellte, zusammengefasst: „Im Versuch über
nannte sie das vom Geruchssinn geleitete Aufspüren
die religiöse Grundlegung sozialer Tätigkeit eine
von Raritäten, die ihre wertgeschätzte Einzigartigkeit
spezifisch weibliche Ethik zu konstituieren und in der
ausdünsteten, darunter genähte und geklöppelte
Übertragung frauenemanzipatorischer Ziele auf den
Spitzen aus dem 16. bis 18. Jahrhundert, die in Italien,
jüdischen Kontext ist Pappenheims historisches Erbe
Frankreich und in den Niederlanden gefertigt worden
gleichzeitig auch als Beitrag zu einem spezifisch
waren, Brüsseler Spitzen mit reliefartiger Kontur und
jüdisch weiblichen Projekt der Moderne anzusehen.“10
gerüschte Dresdner Spitzen, allesamt weiß wie
Als ein spezifisch weibliches Projekt der
Schnee, aber auch farbenfrohe Haubenverzierungen
Moderne, das die Aufwertung des als ‚vorindustriell‘,
aus Mähren, die aussehen, als seien sie in das kon
‚weiblich‘ und ‚angewandt‘ Ausgesonderten zum Ziel
trastreiche Lichtband des Regenbogens getaucht.
hatte, kann auch der Aufbau von Bertha Pappenheims
Auch wenn Bertha Pappenheim keine schriftli-
Textilsammlung, bestehend aus 1.850 Spitzen und
chen Zeugnisse hinterlassen hat, die über ihre Motiva-
Textilfragmenten, betrachtet werden. Am Rande ihrer
tion, Textilien zu sammeln, Aufschluss geben, so gibt
Kongress- und Vortragsreisen, die sie nach Galizien,
es gute Gründe, ihre Sammlung als einen gewichtigen
Russland, Polen, Palästina, Griechenland, Bulgarien,
Beitrag zum „Wohlfahrtsfeminismus“12 zu betrachten.
Ägypten, Kanada, England, in die Tschechoslowakei,
Schließlich hatte Pappenheim 1912 in ersten Verhand-
die Türkei und die Niederlande führten, durchstöberte
lungen mit dem k. k. Österreichischen Museum für
Bertha Pappenheim Geschäfte, Märkte und Bazare,
Kunst und Industrie in Wien darauf bestanden, dass
um Spitzenbesätze, Polsterüberzüge, Decken, Kopf-
ihre weißen Spitzen „auf einen Stoff von besonderer
Strukturprinzipien der Moderne: Die Textilsammlungen von Bertha Pappenheim und Emilie Flöge
159
Farbe – violett – aufgespannt werden“13. Was läge also
allem aber in den ehemaligen Kronländern der
näher, als hier einen Faden zur „politicized modish-
K.-u.-k.-Monarchie, paradoxerweise eine Gründungs-
ness“ der Suffragetten zu spinnen, die den Farben
welle von Spitzenschulen einhergegangen war. Diese
Grün, Weiß und Violett eine symbolische Bedeutung
Schulen in Luserna, Idrija, Drosau, Görz und Wamberg
zuwies? Zudem dürfte Bertha Pappenheim die
waren Zufluchtsorte des Verdrängten und Austra-
Absicht gehabt haben, sowohl den ausbeuterischen
gungsorte nationaler Konkurrenzen zugleich: Sie
Strukturen der Textilindustrie als auch der Diskreditie-
widmeten sich der Vermittlung von anachronistischen
rung der oftmals anonymisierten weiblichen Produkti-
Handwerkstechniken und stellten, nicht zuletzt durch
onsformen von Textilherstellung entgegenzuwirken,
die Präsentation ihrer Produkte auf Weltausstellungen,
denn sie war, im Gegensatz zu den meisten Frauen-
im Bereich der Entwicklung neuer Muster ihre innova-
rechtlerinnen, eine entschiedene Verfechterin der
tiven künstlerischen Fähigkeiten unter Beweis (Abb. 3).
Handarbeit. Sie stickte viel und gern, sie hatte das
Die blütenweißen ‚Modernen Spitzen‘, die traumhaften
Klöppeln gelernt, und sie fädelte bis ins hohe Alter
Nachbilder einer überkommenen Wirtschaftsordnung,
Perlenketten. Ihre ‚Modernen Spitzen‘ , die den
sind somit Konkretisierungen jener „Dialektik im
Schwerpunkt der Sammlung bilden, zeichnen sich
Stillstand“, die Walter Benjamin in seinem Passagen-
dadurch aus, dass nicht nur die Hersteller – darunter
werk beschrieben hat. Benjamin beobachtet eine
die Österreichische Spitzenschule, die Spitzenschule
Verdichtung der Wirklichkeit, „in der alles Vergangene
Fürstin von Pless, die Elsässische Spitzenindustrie, die
[...] einen höheren Aktualitätsgrad als im Augenblick
Spitzenzentrale Brüssel, die Deutsche Spitzenschule
seines Existierens erhalten kann“20. Als Stoff gewor-
und das Atelier der Cecilienhilfe – erfasst, sondern
dene „Vergegenwärtigung vergangner Zusammenhän-
auch die meisten Entwerferinnen und Entwerfer
ge“21 begriff auch Bertha Pappenheim ihre Sammlung.
namentlich bekannt sind. Insofern bestätigt die
So gab sie ihr zum Gedenken an ihre Eltern deren
Sammlung bis heute die Autorschaft von Lisa Boehm,
Namen: Sigmund Pappenheim, einst wohlhabender
Annie Fritz, Franziska Hofmanninger, Mathilde
Getreidehändler aus Preßburg, und Recha Pappen-
Hrdlička, Leni Matthaei, Selma Strobelt, Therese
heim, geborene Goldschmidt, die aus einer angesehe-
Thomälen und Elisabeth Volkemand19 für zahlreiche
nen Frankfurter Bankiersfamilie stammte. Kurz bevor
Gestaltungsideen (Abb. 2).
Bertha Pappenheim ihre Spitzen 1935 dem k. k.
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Österreichischen Museum für Kunst und Industrie in
Er zählstof f gewordene Ve rgegenwärtigungen ve rgangener Zusammenhä nge
Wien überließ, bekannte die 76-Jährige in einem Brief vom 22. Juni 1935: „wie froh ich war, sie noch einmal Stück für Stück mit allen Erinnerungen durch meine Hände gleiten zu lassen“22. Wie präsent die Vergangenheit in der Gegenwart
Als Bertha Pappenheim damit begann, ihre
160
sein kann, wusste Bertha Pappenheim aus eigener
Sammlung aufzubauen, hatte die maschinelle Produk-
leidvoller Erfahrung. Ihre Krankengeschichte ist unter
tion von Spitzen bereits ihren Höhepunkt überschrit-
dem Pseudonym „Frl. Anna O.“ in die Geschichte der
ten. Erkennbar war auch, dass mit dem Schub der
Psychoanalyse eingegangen.23 Der Arzt und Physiologe
industrialisierten Textilherstellung in ganz Europa, vor
Josef Breuer hatte sie wegen anhaltender Lähmungen,
Annette Tietenberg
Abb. 3: Margarete Siegert, Spitzenmuster (Blütenstaude), Ausführung: Schlesische Spitzenschule, Jelenia Góra (Hirschberg), vor 1915, Leinen, Nähspitze, 13 x 18,5 cm, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, Sammlung Bertha Pappenheim, Sigmund und Recha Pappenheim geb. Goldschmidt-Stiftung
Aphasien, Sehstörungen und Halluzinationen behan-
hätte und sie brauchte, nach Verlassen der Schule aber
delt, die die 21-jährige Bertha Pappenheim im An-
nicht erhielt.“24
schluss an eine Wache am Krankenbett ihres Vaters in
Der Fall „Anna O.“ war für die Psychoanalyse
der Nacht vom 17. auf den 18. Juli 1880 befallen
insofern bahnbrechend, als Breuer durch das Ver-
hatten. In den Studien zur Hysterie, die Breuer gemein-
schwinden der Krankheitssymptome die positive
sam mit Sigmund Freud 1895 veröffentlichte, charak-
Wirkung seiner Gesprächstherapie als bewiesen
terisierte er sie als „früher stets gesund, ohne irgend
ansah: „Als das erstemal durch ein zufälliges, unprovo-
ein Nervosum während der Entwicklungsperiode; von
cirtes Aussprechen in der Abendhypnose eine Störung
bedeutender Intelligenz, erstaunlich scharfsinniger
verschwand, die schon länger bestanden hatte, war ich
Combination und scharfsichtiger Intuition; ein kräftiger
sehr überrascht.“25 Breuers These, traumatische
Intellect, der auch solide geistige Nahrung verdaut
Erinnerungen könnten unter Hypnose „wegerzählt“26
Strukturprinzipien der Moderne: Die Textilsammlungen von Bertha Pappenheim und Emilie Flöge
161
werden, wurde durch den Fall „Frl. Anna O.“ zur
die Vermutung, die unter Hypnose vollbrachten
Gewissheit. Wie groß der Anteil der in der Praxis der
Erinnerungsleistungen der Probanden seien ein Indiz
Selbstbeobachtung geübten Patientin an der Entwick-
dafür, dass das menschliche Gehirn – analog zu einem
lung der Methode war, wurde erst wesentlich später
Phonographen oder einer fotografischen Platte36 –
erforscht. So war es Bertha Pappenheim, die nach
Eindrücke passiv aufnehmen und retroaktiv „vollinhalt-
dem plötzlichen Verlust ihrer ‚Muttersprache‘ Deutsch
lich reproduciren“37 könne. So trug Benedikt, der mit
nur noch Englisch sprechend und schreibend , den
Breuer in Kontakt stand, durch die „Rückübersetzung
Begriff der „talking cure“29 geprägt hat. Zudem war sie
der ‚hellseherischen‘ Fähigkeiten in die Kategorien des
es, die Josef Breuer die Rolle des von ihr begehrten
unbewussten Gedächtnisses“38 dazu bei, Symptome,
Zuhörers in ihrem „Privattheater“30 zuwies. Diese „folie
die im Krankheitsbild der Hysterie zuvor negativ
à deux zwischen Patientin und ihrem Arzt“31 veran-
konnotiert waren, medien- und wissenschaftstheore-
lasste Freud dazu, das Modell der „Übertragungsliebe“
tisch neu zu verorten.39
27
28
zu entwerfen.
Der Prozess der Erinnerung, interpretiert als eine
32
mechanische Wiedergabe des zuvor mechanisch
Textilien als Materialisierungsform des Unbewussten
Aufgenommenen, findet seinen Wiederhall in der Methode des Psychoanalyse, wie Freud sie umrissen hat: Der Arzt solle „dem gebenden Unbewußten des Kranken sein eigenes Unbewußtes als empfangendes Organ zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen
Bertha Pappenheims erzählerische Fähigkeiten, die es ihr ermöglichten, im Hinblick auf eine zukünftige
ist. Wie der Receiver die von Schallwellen angeregten
Notwendigkeit „die Kontingenz der Vergangenheit neu
elektrischen Schwankungen der Leitung wieder in
zu ordnen“ , hatte schon Jacques Lacan gewürdigt.
Schallwellen verwandelt, so ist das Unbewußte des
Der Literaturwissenschaftler Mikkel Borch-Jacobsen
Arztes befähigt, aus den ihm mitgeteilten Abkömmlin-
ergänzte die Rezeption der Fallbeschreibung um den
gen des Unbewußten dieses Unbewußte, welches die
Hinweis, dass Pappenheim keineswegs geheilt aus der
Einfälle des Kranken determiniert hat, wiederherzu-
Redekur hervorgegangen sei, wie Breuer behauptet
stellen.“40 Ein technisches Medium seiner Zeit, das
hatte, sondern anschließend verschiedene Sanatorien
Telefon, ermöglichte es Freud mithin, sich die thera-
aufsuchte. Zudem gäbe es Anzeichen dafür, dass
peutischen Sitzungen als Ferngespräche zwischen dem
Pappenheim vom „Mesmerismus- und Hypnosefie-
Unbewussten des Patienten und des Arztes vorzustel-
ber“ ergriffen worden sei, das im Januar und Februar
len. Dem Arzt blieb es allerdings vorbehalten, die
1880 in Wien grassierte. Der dänische Bühnenhyp-
verschlüsselten Nachrichten aus der Vergangenheit,
notiseur Carl Hansen hatte seine Demonstrationen
die an sein Ohr drangen, zu deuten und in Buchform –
von Katalepsien, Kontrakturen und Halluzinationen im
und damit in ein Sprechen ohne Stimme – zu überfüh-
Wiener Ringtheater auf die Bühne gebracht. Auf der
ren: „Schriftliche Fallgeschichten machen aus einer
Suche nach einer physiologischen Erklärung für die
talking cure: Literatur.“41
33
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35
theatrale „Hellseherei“ der magnetisierten Personen äußerte der Wiener Neurologe Moritz Benedikt 1894
162
wie der Receiver eines Telephons zum Teller eingestellt
Annette Tietenberg
In der Psychoanalyse sind Buchstaben der Schlüssel zum Unbewussten. „Sämtliche Fallgeschich-
Da s Folklori st i sche a ls Konst rukt des Überzei t li chen
ten Freuds bezeugen, daß die Romantik der Seele einem Materialismus der Schriftzeichen gewichen ist.“42 Bertha Pappenheim, die an der Etablierung dieser Methode keineswegs unbeteiligt war, aber
Während Bertha Pappenheim Jahrzehnte lang
durch das erinnernde Erzählen unter Hypnose
konsequent die Strategie verfolgte, ihre Preziosen dem
lediglich den Rohstoff geliefert hatte, den andere in
k. k. Österreichischen Museum für Kunst und Indust-
Schrift übertrugen, entdeckte im Zusammenführen
rie, dem heutigen MAK, in ihrer Geburtsstadt Wien zu
von Fäden eine alternative Materialisierungsform
übereignen, und sich 1935 dem damaligen Museums-
des Unbewussten, angesiedelt im Bereich des
direktor gegenüber zufrieden zeigte, „meine Spitzen-
Motorischen, an der Schnittstelle des Technischen
Sammlung unter der wissenschaftlichen Betreuung
und des Handwerklichen. Das in langsamer und
Ihres Instituts zu wissen“46, hat Emilie Flöge keinerlei
gleichförmiger Wiederholung von einstudierten
Vorkehrungen getroffen, die Textilfragmente, die sich
Bewegungen erzeugte Textile, das aus der operativen
in ihrem Besitz befanden, über die Zeit zu retten.47 Ihre
„Synergie von Werkzeug und Geste“43 hervorge-
Proben textiler ‚Volkskunst‘ betrachtete die Mode-
gangen ist, vermag ebenso als ein Medium der Er-
schöpferin, die je nach Auftragslage bis zu 80 Schnei-
innerung zu fungieren. Es kann durch Betrachtung
derinnen beschäftigte, vermutlich recht nüchtern als
und Berührung von der Vergangenheit erzählen,
Arbeits- und Werbematerial. Im Empfangsraum des
bedarf aber weder der männlichen Autorität noch
Modesalons, den Emilie Flöge seit 1904 gemeinsam
der Übersetzung in eine Schriftform, um in der
mit ihren Schwestern Pauline und Helene in der Casa
Gegenwart ‚abgespielt‘ zu werden. Was Bertha
Piccola in der Mariahilfer Straße 1b im 8. Wiener
Pappenheim, mehr oder minder durch Zufall, in die
Bezirk betrieb, war eine Schauvitrine aufgestellt. Darin
Hände gespielt wurde, war ein Tresor des h istori-
konnte die wohlhabende Kundschaft eine Auswahl von
schen Wissens wie der zeitgenössischen Imagination.
Textilien bestaunen, die zumeist aus der Slowakei
Insofern sind Pappenheims ‚Moderne Spitzen‘ als
stammten.
Gegenstücke zu den von Gottfried Semper so bewun-
Die Moderne war im Salon „Schwestern Flöge“
derten Zeichen von Ursprünglichkeit, zur ‚Urkunst‘
also gleich in mehrfacher Hinsicht präsent: durch die
zu betrachten. Als verdichtete Wirklichkeit, „in der
streng geometrische, schwarz-weiße Möblierung der
alles Vergangene [...] einen höheren Aktualitätsgrad
Wiener Werkstätte, durch die von Flöge entworfenen
als im Augenblick seines Existierens erhalten kann“ ,
Reformkleider48, die ihren Trägerinnen das Korsett
bewahren sie ihre zeittypische Doppelstruktur.
ersparten und mehr Bewegungsfreiheit verliehen, und
Sie zeugen sowohl von den einst waltenden Produktiv-
durch eine Zurschaustellung von Klöppelware, Sticke-
kräften als auch von den Sehnsuchtsbildern der
reien und Spitzen, die auf vorindustrielle Formen der
Gegenwart. Diese zutiefst nostalgische Seite des
Textilherstellung rekurrierten. Das ‚Neue‘, das über die
Jugendstils, die sich der Mechanik der Traumdeutung
Stoffmuster und Trends, die Emilie Flöge während ihrer
entzieht, weil sie auf einem unwiederbringlichen
Reisen nach Paris und London aufschnappte, im
Verlust basiert, hat Walter Benjamin unnachahmlich
Rhythmus der Jahreszeiten den Modesalon durch-
präzise in Worte gefasst: „es ist das Träumen, man sei
strömte, erfuhr seine Grundierung durch das scheinbar
erwacht.“
überzeitliche Folkloristische, das sich in den Über-
44
45
Strukturprinzipien der Moderne: Die Textilsammlungen von Bertha Pappenheim und Emilie Flöge
163
aufgetaucht waren und für 1.500 Jahre alt gehalten wurden. Koptische Textilien kursierten ab 1882 im europäischen Kunsthandel und fanden Eingang in die Museen.50 Die Verwandlung von Gebrauchsgegenständen der ruralen Bevölkerung in textile Relikte, die allein um ihrer anachronistischen Machart, Farbigkeit und Bemusterung willen geschätzt werden, ist somit als eine Praxis der Primitivierung zu verstehen, die in ihrer paradoxalen Konstruktion – zum einen avantgardisAbb. 4: Klöppelspitzen in Leinenschlag aus Leinen und Seide, Bosáca, Slowakei, 19. Jahrhundert, Österreichisches Museum für Volkskunde, Wien, Sammlung Emilie Flöge
tisch-gegenkulturell, zum anderen deklassierend gegenüber einer kulturellen Produktion außerhalb der Zentren der Hochkunst – kennzeichnend für die Moderne ist.51 Folkloristische Relikte zu sammeln, war also in
bleibseln von Deckchen und Hauben, Schürzen und
Wien um 1900 keine Besonderheit, sondern Indiz für
Hemden aus der Provinz konserviert hatte und
einen hohen Bildungsstand.52 So dürfte für das
Beständigkeit versprach (Abb. 4).
Österreichische Museum für Volkskunst weniger die Ausrichtung der Sammlung oder der Seltenheitswert
Montage als Aneignungsstrategie der Moderne
der Einzelstücke als vielmehr die prominente Besitzerin Flöge ausschlaggebend dafür gewesen sein, die 369 Textilstücke in seine Bestände aufzunehmen. Als Emilie Flöges Textilsammlung 2012 anlässlich des 150. Geburtstags ihres Vertrauten Gustav Klimt
„Das Zerschneiden von Kleidungsteilen, um die
164
ausgestellt wurde, fand die damalige Museumsdirek
bestickten Stellen oder die interessanten Muster und
torin Margot Schindler deutliche Worte: „Die Objekte,
Spitzen herauszunehmen, war keineswegs ungewöhn-
die auf Umwegen von ihr zu uns gelangt sind, stechen
lich“ 49, konstatiert Kathrin Pallestrang, Leiterin der
allerdings im Vergleich mit den zahlreichen ähnlichen
Textil- und Bekleidungsabteilung im Museum für
Stücken in der Textilsammlung des Museums nicht
Volkskunde Wien. Die Händler, bei denen Emilie Flöge
wesentlich hervor.“53 Was Flöges Textilfragmente aber
ihre Textilien erwarb, hätten üblicherweise Kleidungsstü-
zweifellos von denen anderer Sammlerinnen und
cke zerschnitten, um sie unter mehreren Kundinnen
Sammler unterscheidet, ist der ihnen zugedachte
aufteilen und so einen größeren Profit erzielen zu
Verwendungszusammenhang. Im Gegensatz zu den
können. Mindestens ebenso relevant aber, so lässt sich
Exponaten einer musealen Textilmustersammlung
ergänzen, dürfte wohl der ästhetische Mehrwert
stand ihnen nämlich keine Konservierung, sondern
gewesen sein, den die Wiener Händler auf diese Weise
eine Revitalisierung im Kontext der Moderne bevor
erzeugten. Denn durch das Fragmentieren glichen sie die
(Abb. 5). Kathrin Pallestrang bemerkt: „Teilweise finden
Importe aus Transleithanien dem Aussehen jener heiß
sich Spuren von nachträglichen Umarbeitungen, die
begehrten, vielfältig gemusterten, stark farbigen kopti-
offensichtlich dazu dienten, die Fragmente einem
schen Textilien an, die bei Grabungen in Ägypten
neuen Kleidungsstück anzupassen.“54 So kombinierte
Annette Tietenberg
Abb. 5: Textilfragment, undatiert, Baumwolle mit Seide bestickt, Umgebung Trnava, Südwestslowakei, zu einer Taschenklappe umgearbeitet, vermutlich im Salon Schwestern Flöge, 17 x 8 cm, Österreichisches Museum für Volkskunde, Sammlung Emilie Flöge
Abb. 6: Friedrich Walker, Emilie Flöge in einem selbst entworfenen Kleid mit dem Einsatz einer Plattstich-Stickerei aus Rybany, aufgenommen am 13. September 1913 vor der Villa Paulick am Attersee, Fotografie digitalisiert, Maße variabel, Imagno/Austrian Archives Wien
Flöge mehrere Streifen aus Baumwolle mit Klöppel-
einem Kleid zu befestigen war. Zuweilen integrierte sie
spitze, um einen Gürtel zu gewinnen. Sie verwandelte
sogar, wie eine Fotografie aus dem Jahr 1913 zeigt, ein
den Boden einer Haube aus Šoporňa durch Hinzufü-
folkloristisches Fundstück, in diesem Fall eine Platt-
gung einer gewebten Goldborte in ein Deckchen.
stich-Stickerei aus Rybany, an zentraler Stelle in ein
Oder sie konstruierte eine Brosche, indem sie einem
von ihr entworfenes Künstlerkleid (Abb. 6).
Textilfragment mit floralem Motiv drei Druckknöpfe aufnähte, sodass es bei Bedarf an einer Jacke oder an
Für Emilie Flöge waren die textilen Fragmente also weit mehr als eine Inspirationsquelle. Sie bediente
Strukturprinzipien der Moderne: Die Textilsammlungen von Bertha Pappenheim und Emilie Flöge
165
Anm erkungen
sich ihrer vielmehr im Rahmen einer durch und durch modernen Aneignungsstrategie: der Montagetechnik. Das Strukturprinzip der Montage hat Walter Benjamin im Hinblick auf die Literatur beschrieben und damit indirekt Einspruch gegen Riegls Idee eines „Kunstwollens“ erhoben, das seine Dynamik dem Niedergang von historischen Epochen verdankt. Benjamin hingegen verabschiedet sich kategorisch vom Begriff des Fortschritts, nicht ahnend, dass die von ihm erwähnten Anachronismen, die Relikte, nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Mode Unterschlupf gefunden hatten: „Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden.“55 Was die Textilsammlungen von Bertha Pappenheim und Emilie Flöge verbindet, ist ihre Skepsis gegenüber der Dominanz der gesprochenen und geschriebenen Sprache. Sie billigen den Textilien die Fähigkeit zu, auf eine ebenso körper- wie produktionsbezogene Art und Weise von den Rückständen einer zeitlich und räumlich weit entfernten Welt zu erzählen – sei es als Phantasmagorie oder als reales Fragment.
1
Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. V.1: Das Passa-
genwerk, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1982, S. 494.
2
Allan Janik und Stephen Toulmin: Wittgensteins Wien, Mün-
chen/Wien 1984, S. 21.
3
Elke Gaugele: Textil und Stil. Alois Riegls Kritik an der Überhö-
hung der Textilkunst, in: Sabeth Buchmann und Rike Frank (Hg.): Textile Theorien der Moderne. Alois Riegl in der Kunstkritik, Berlin 2015, S. 29–49.
4
Sabeth Buchmann und Rike Frank: Einleitung, in: Buchmann/
Frank 2015 (wie Anm. 3), S. 7–17, hier S. 8.
5
Regine Prange: Die Wiederkehr des Teppichparadigmas. Anmer-
kungen zur zeitgenössischen ‚Welt-Kunstgeschichte‘, in: Annette Tietenberg (Hg.): Muster im Transfer. Ein Modell transkultureller Verflechtung?, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 21–36.
6
Vgl. Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektoni-
schen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Bd. I: Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst, Frankfurt a M. 1860.
7
Alois Riegl: Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der
Ornamentik, Berlin 1893, S. VI.
8
Diana Reynolds: Semperianismus und Stilfragen: Riegls Kunstwol-
len und die „Wiener Mitte“, in: Rainald Franz und Andreas Nierhaus (Hg.): Gottfried Semper und Wien: Die Wirkung des Architekten auf „Wissenschaft, Industrie und Kunst“, Wien/Köln/Weimar 2007, S. 85–96.
9
Britta Konz: Bertha Pappenheim (1859–1936). Ein Leben für
jüdische Tradition und weibliche Emanzipation, Frankfurt a. M./New York 2005, S. 43.
10
Gudrun Wolfgruber: Die ‚Leidenschaften‘ der Bertha Pappen-
heim (1859–1936) alias Anna O., in: Spitzen und so weiter ... Die Sammlungen Bertha Pappenheims im MAK, hg. v. Peter Noever, Ausst.Kat. MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien 2007, S. 26–31, hier S. 31.
11
Marianne Brentzel: Anna O. – Bertha Pappenheim. Biographie,
Göttingen 2002, S. 22.
12
Wolfgruber 2007 (wie Anm. 10), S. 30. Vgl. auch: dies. (Hg):
Bertha Pappenheim: Soziale Arbeit, Frauenbewegung, Religion, Wien 2015.
13
Angela Völker: Spitzen und so weiter ... Die Sammlungen Bertha
Pappenheims – Sigmund und Recha Pappenheim geb. GoldschmidtStiftung – im MAK, in:, Ausst.-Kat. MAK 2007 (wie Anm. 10), S. 9–13, hier S. 10.
14
Vgl. Elizabeth Crawford: The Women’s Suffrage Movement. A
Reference Guide 1866–1928, London 1999. S. 37. Zum Weihnachtsgeschäft 1908 brachte der Londoner Schmuckhersteller Mappin & Webb einen Katalog mit einer Suffragetten-Kollektion in Grün, Weiß und Violett heraus.
15
Ebd., S. 38. Grün kommt in Bertha Pappenheims Sammlung al-
lerdings nur in wenigen Wiener Spitzen aus der Zeit um 1900 vor.
166
Annette Tietenberg
16
Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass – im Gegensatz zu
40
Sigmund Freud: Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalyti-
anderen Nationen – in Österreich mit Maria Theresia ein historisches
schen Behandlung, in: ders.: Gesamtwerk, Bd. 8. Werke aus den Jahren
Vorbild zur Verfügung stand, das Regentschaft mit der Förderung von
1909–1913, London 1943, S. 376–387, hier S. 381 f.
Handwerkstechniken verbunden hatte. stellung mit den von Bertha Pappenheim zumeist aus farbigen Glasper-
41 42 43
len gefertigten Ketten. Vgl. Brentzel 2002 (wie Anm. 11), S. 208.
nik, Sprache und Kunst, Frankfurt a. M. 1980, S. 296.
18 19 20 21 22 23
Benjamin 1982 (wie Anm. 1), S. 495.
44 45 46
Ebd.
als vorläufige Leihgabe in die Bestände des Museums über.
Völker (wie Anm. 13), S. 10.
47
1960 wurde die wahre Identität der Anna O. seitens der Wis-
Dabei sind vermutlich Teile ihrer Textilsammlung und, so weit vorhan-
senschaft aufgedeckt. Ernest Jones: Das Leben und Werk von Sigmund
den, Notizen und Inventarlisten vernichtet worden. Nach Flöges Tod im
Freud, Bd. 1, Die Entwicklung zur Persönlichkeit und die grossen Ent-
Jahr 1952 gingen Teile ihres Nachlasses in Privatsammlungen und den
deckungen 1856–1900, Bern/Stuttgart 1960. Es ist zu vermuten, dass
Kunsthandel über.
Teilen der Wiener Gesellschaft bereits nach Erscheinen der Studien über
48
Hysterie (1895) bekannt war, von wem die Rede war, sodass Bertha Pap-
Künstlerkleider, Posen und Vermittlungsstrategien, in: Auf Freiheit zu-
penheim es vorzog, ihre Aktivitäten nach Frankfurt am Main, in die
geschnitten. Das Künstlerkleid um 1900 in Mode, Kunst und Gesell-
Heimatstadt ihrer Mutter, zu verlegen.
schaft, hg. v. Ina Ewers-Schultz und Magdalena Holzhey. Ausst.-Kat.
24
Kunstmuseum Krefeld, Krefeld, München 2018, S. 190–201.
17
Im Jahr 1934 organisierte der Jüdische Frauenbund eine Aus-
Ausst.-Kat. MAK 2007 (wie Anm. 10), S. 73–86. Ebd.
Josef Breuer und Sigmund Freud: Studien über Hysterie, Leip-
Kittler 1987 (wie Anm. 39), S. 291. Ebd., S. 288. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von TechBenjamin 1982 (wie Anm. 1), S. 495. Ebd., S. 496. Völker 2007 (wie Anm. 13), S. 12. Pappenheims Sammlung ging 1945 brannte Emilie Flöges Wohnung im 3. Wiener Bezirk aus.
Vgl. Burcu Dogramaci: Inszenierung neuer Lebenswelten.
zig/Wien 1895, S. 15.
49
25 26 27
Ebd., S. 26.
Emilie Flöge und ihre Sammlung, in: Die Textilmustersammlung Emilie
Ebd.
Flöge im Österreichischen Museum für Völkerkunde, hg. v. Kathrin
Vgl. Mikkel Borch-Jacobsen: Anna O. zum Gedächtnis. Eine
Pallestrang, Ausst.-Kat. Österreichisches Museum für Völkerkunde,
Kathrin Pallestrang: Leuchtende Stickereien und zarte Spitzen.
hundertjährige Irreführung, München 1997.
Wien 2015, S. 11–26, hier S. 17.
28
50
Bericht Bertha Pappenheim über ihre Krankheit (1882) in:
Renate Germer und Gisela Körbelin: Kleider aus dem Wüsten-
Brentzel 2002 (wie Anm. 12), S. 311 f.
sand. Die Koptischen Textilien des Museums für Kunst und Gewerbe
29 30 31 32
Breuer/Freud 1895 (wie Anm. 24), S. 29.
Hamburg, Bremen 2012.
Ebd., S. 34.
51
Borch-Jacobsen 1997 (wie Anm. 27), S. 82.
to Art, in: Susan Hiller: The Myth of Primitivism. Perspectives on Art,
Vgl. Daniel Miller: Primitive Art and the Necessity of Primitivism
Sigmund Freud: Bemerkungen über die Übertragungsliebe
Routledge 1991, S. 50–71; Rainald Franz: Die ,disziplinierte Folklore‘,
(1915), in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 10. Werke aus den Jahren
in: Anita Aigner (Hg.): Vernakulare Moderne. Grenzüberschreitungen in
1913–1917, Frankfurt a. M. 1946, S. 306–321.
der Architektur um 1900. Das Bauernhaus und seine Aneignung, Biele-
33
Jacques Lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Spra-
feld 2010, S. 163–174; Annette Tietenberg: Textile Muster – Abstrak-
che in der Psychoanalyse, in: ders.: Schriften I, hg. v. Norbert Haas, Ol-
tionen oder selbstgesponnene Bedeutungsgewebe?, in: Ulrich Eller und
ten/Freiburg im Breisgau 1973, S. 71–169, hier S. 95.
Christoph Metzger (Hg.): Abstract Music. Sound, Art, Media & Architec-
34
ture, Heidelberg/Berlin 2017, S. 87–98.
Fritz Schweighofer: Das Privattheater der Anna O. Ein psycho-
analytisches Lehrstück. Ein Emanzipationsdrama, München/Basel
52
1987, S. 95.
fenberg sammelten mährische und slowakische Textilien. Die kunst-
35 36
Vgl. Borch-Jacobsen 1997 (wie Anm. 27), S. 70 ff.
theoretischen Grundlagen hatte Riegl gelegt. Vgl. Alois Riegl: Volks-
Moritz Benedikt: Hypnotismus und Suggestion: Eine klinisch-
kunst, Hausfleiß und Hausindustrie, Berlin 1894.
Auch Ludwig Hoffmann, Gustav Klimt und Natalie Bruck-Auf-
psychologische Studie, Leipzig/Wien 1894, S. 32.
53
37
S. 9–10, hier S. 9.
Moritz Benedikt: Ueber Katalepsie und Mesmerismus, in: Wie-
ner Medizinische Blätter, Bd. 3, 4. März 1880, H. 10, Sp. 250–252, hier Sp. 250.
38 39
54 55
Margot Schindler: Vorwort, in: Pallestrang 2012 (wie Anm. 49), Pallestrang 2012 (wie Anm. 49), S. 15. Benjamin 1982 (wie Anm. 1), S. 574.
Borch-Jacobsen 1997 (wie Anm. 27), S. 80. Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, Mün-
chen 1987, S. 278–324.
Strukturprinzipien der Moderne: Die Textilsammlungen von Bertha Pappenheim und Emilie Flöge
167
This chapter builds on the knowledge gained during my work for the Gunta Stölzl Archive (GSA) in Groningen, in which Stölzl’s estate is being documented, registered and made accessible. In this chapter the focus will be on one particular category of objects that has until now received little to no scholarly attention. Many of Stölzl’s pieces in the Archive can be defined as ‘end products’: wall hangings, rugs, throws, or textile samples that she would show and
The Weaver’s Laboratory. Gunta Stölzl’s Sample Cards as Materialities of Research
lend to possible clients for demonstration. However, there are also cardboard sample cards with one or more small samples stapled onto it. Sometimes these samples are neat, square woven designs, sometimes they are just leftover pieces (ill. 1). Many times Stölzl sketched out weaving patterns on graph paper, which she would also paste onto the cardboard. Sometimes
Mirjam Deckers
we find written notes on the cardboard, mentioning materials, colors or techniques. Sometimes the notes
Trace s of the Weaver at Work
on the cards reveal the purposes they could later be 1
used for, such as a Divandecke (throw) but equally Vorhangstoffe (curtain material). In some cases we see
Gunta Stölzl is mostly known as the woman who
that she wrote down something which was later
succeeded in becoming the first female Werkmeister2
crossed out again. Sometimes sketches show different
at Bauhaus Weimar in 1925, and subsequently Leiterin
patterns that she had tried out on the loom before
of the weaving workshop when the school moved to
being content with the result. By indicating for herself
Dessau.3 However, what has been little researched
the right pattern, for example with the word “richtig”
safe for biographical accounts is that Stölzl actually
(ill. 2), she could remind herself later of the right way
had a long career after she had to leave the famous
to proceed. In many cases, samples and paper patterns
school in 1931 for political reasons. She moved to
overlap, and so one would have to carefully flip back
Zurich, Switzerland, where she ran her own weaving
samples or paper in order to examine another sample
workshops and continued to design and produce
or read the writing underneath (ill. 3).
4
woven textiles professionally – and with success – un-
One of the interesting aspects of these objects is
til 1967. And even after dissolving her business, she
that they are highly personal, bringing us very close to
continued weaving until her death in 1983.5 She left a
the weaver being at work. When I asked Monika
large estate behind, containing many pieces of cloth,
Stadler, daughter of Gunta Stölzl, what she could
which one might call the ‘textile traces’ of her long
remember about her mother using and creating them,
career, spanning from the early Bauhaus period in the
she explained to me that they were not the same as
1920s to her death in Zürich in the early 1980s.
the labeled samples, which the GSA also possesses,
The Weaver’s Laboratory. Gunta Stölzl’s Sample Cards as Materialities of Research
169
meant for clients who would choose for a commis-
Recently, these cards have received a growing
sion.6 Rather, they were created during the process of
interest from museums worldwide for exhibition
making and, more specifically, during the process of
purposes. Therefore, these cards also enable us to
experimenting. Stölzl would try out different variations
address a question which has to my knowledge not
of techniques and colors on her loom, until she was
been studied before: what are the onlookers’ pro-
content with the result and had created a textile
cesses of perceiving and engaging with these objects
prototype that she could use in the future for different
when they see them in a museum? Drawing on the
purposes. Later she would use these cards in order to
theoretical framework presented, this chapter antici-
reproduce the sample again, not only having the
pates on this development by bringing forth some
sample but also the process that had led towards the
ideas concerning the way in which these objects could
design and its material execution in one. Above all,
be displayed and experienced. After all, we do not deal
these cards are the record of the personal experimen-
with ‘end products’ here. Neither are Stölzl’s notes
tations of the weaver at work. They give us an inter-
always legible, nor are the samples always annotated
esting insight into the weaver’s laboratory, that is, into
for one specific purpose. In their combination of
Stölzl’s processes of creating, the decisions she made,
purposefulness and ambiguity, revealing information
the way she would start working on a textile, or how
on the process of making while also leaving many
she treated her materials. When I recently showed
aspects open, they do tell us a lot about the fascinat-
these cards to the German weaver Franzi Kohlhoff, she
ing processes that are going on in the weaver’s
interestingly pointed out that it seems that Stölzl
laboratory, and the relation between thought and
noted down only those things she thought were
practice, writing and materials. Displaying them might
important for her and her weaving process in her
provide a beautiful and (almost) hands-on experience
workshop, rather than general remarks.7
of the weaver at work.
We can thus approach these objects as archiving the different stages in the process of experimentation and (re)production, rather than being intended as end products. They are personal and unique archival records of the processes of creation, as well as
Weav i ng at t he Ba uha us: Materi a ls, Ta ct i li t y, E xp eri m ent at i on
experimentation, recording the different steps that lead to an outcome. This chapter will provide these
To better understand these cards and Stölzl’s
cards with a theoretical background, starting with
working process it is helpful to see where she herself
ideas on materials, working processes, experimenta-
developed her ideas on textiles, materiality, tactility,
tion and tactility that were developed already at the
and experimentation, namely at the Bauhaus, which
Bauhaus. I will compare Stölzl’s cards to cards used at
she entered as soon as it opened in Weimar in 1919.
the Bauhaus to show their uniqueness. Then I will
Walter Gropius, the first director, wrote in 1925
provide an account of how to understand specifically
about the experimental character of the Bauhaus,
Stölzl’s sample cards by relating them to what Hans-
writing that “die Bauhauswerkstätten sind im wesentli-
Jörg Rheinberger has called ‘experimental systems’.8
chen Laboratorien, in denen vervielfältigungsreife, für die heutige Zeit typische Geräte sorgfältig im Modell
170
Mirjam Deckers
entwickelt und dauernd verbessert werden.”9 This
Moholy-Nagy’s book, the Bauhaus weavers were
attitude of experimentation also found fruitful ground
deeply concerned with the structure and the inherent
in the weaving workshop, established in 1920. The
qualities of their textiles, but importantly also with the
goal of the workshop was to return to the material and
effect of these qualities in relation to the space in
the tactile qualities of textiles at a time in which textile
which they would function.14 In her article ‘die ent
production had become increasingly industrialized, as
wicklung der bauhausweberei’, written for the
for example described in 1924 by Anni Albers: “Heute
bauhaus magazine when she left the school in 1931,
steht der Weber nur in loser Verbindung mit dem
Gunta Stölzl argues that in designing functional
Webstuhl. Er hat nur mechanische Handgriffe zu leisten. Der Stoffe entsteht unabhängig vom Weber.”
textiles one not only has to take into account the 10
qualities of the material, but also the effect of these
At the same time, the Bauhaus weavers sought to
qualities in the interior. She beautifully relates this to
develop modern textiles meant for the interior,
the necessity of experimenting directly with the
‘Gebrauchsstoffe’, that could indeed become industri-
materials on the loom: “diese lebendigkeit der materie
ally reproduced on a larger scale, rather than to return
zwingt den textilmenschen täglich neues zu ver-
to what Stölzl called in 1926 a “Bild aus Wolle”, an
suchen, sich immer wieder umzustellen, mit seiner
artistic picture made of wool. The close engagement
materie zu leben, sie zu steigern, von erfahrung zu
of the weaver with the material functioned not as
erfahrung zu klettern um so den bedürfnissen, die in
opposed to, but rather as a condition for collaboration
der zeit liegen, gerecht zu werden.”15
11
with the industry. As Regina Bittner recently captured
Related to the importance of experimentation is
it very adequately: “Wenn die Mechanisierung die
the process of designing textiles and annotating this
Entfremdung vom Material befördert habe, so müsse
process. The Bauhaus weavers opposed the classical
es die Aufgabe der modernen Bauhausweberei sein,
idea of designing, in which a weaver would draw a
auf diese technische Welt durch experimentelle Arbeit
pattern on paper before executing the design on the
am Handwebstuhl mit neuen materialen und gestalte
loom, a way of working that had also become quite
rischen Beiträgen zu reagieren.”
common in the weaving industry.16 Anni Albers put this
12
This condition of engagement with the material,
into words in 1924, writing that the draughtsman
exploring its tactile qualities, was embedded within a
(Musterzeichner) has taken over the process from the
larger discourse at the Bauhaus, and can for example
weaver, as an “isolierter Intellektueller” who no longer
also be found in László Moholy-Nagy’s book Von
has contact with the material, but only creates patterns
Material zu Architektur (1929), which includes an entry
on paper for the industry.17 Instead, in the process of
on the so-called ‘Tastübungen’, tactile exercises in
designing their functional fabrics the Bauhaus weavers
which the student was blindfolded and explored
would start from experiments with materials on the
materials and their opposed or related qualities only
handloom, to work from there to a design that could
through his sense of touch. Interestingly, the first
later be reproduced. In 1933 Otti Berger wrote that the
material Moholy-Nagy mentions in relation to these
convention of starting from a pattern on paper would
exercises is Stoffe, textiles, and the first image accom-
not work in the case of the so-called ‘Strukturstoffe’.18
panying them is a ‘Tasttafel’ containing different
The properties inherent to the yarns simply cannot be
threads made by weaver Otti Berger in 1928. As is
captured in a paper pattern (ill. 4).19
13
The Weaver’s Laboratory. Gunta Stölzl’s Sample Cards as Materialities of Research
171
Ill. 1: Gunta Stölzl, Sample card with three different textiles, 1940s, most likely meant for one interior
172
Mirjam Deckers
Nevertheless, some form of documentation needed to be developed. In 1926 Walter Gropius ordered the weaving workshop to provide reports of textiles that could be reproduced for the industry, containing both a paper pattern and a textile sample. These reports would then be gathered into sample books that could be sent to architects interested in utilizing Bauhaus textiles for their interiors.20 Thus the strive for documentation through sample cards resulted from the aim of the Bauhaus for a renewed collaboration with the industry. Art historian Judith Raum recently researched such cards in the estate of Bauhaus weaver Lisbeth Oestreicher in the Textielmuseum in Tilburg (NL). Her description of these cards comes very close to Stölzl’s cards:
Ill. 2: Gunta Stölzl, Sample card for a blue furniture fabric (detail), 1950s. The word “richtig” is used to indicate the right pattern
Alle Kartons sind gelocht, darauf sind eine oder mehrere Stoffproben aufgetackert. Oft tragen die Kartons einen Aufkleber Bauhaus Dessau und eine
Although much of this description of Oestreich-
bestimmte Typenbezeichnung, etwa Vorhangstoff.
er’s cards corresponds to those in Stölzl’s estate, there
In einigen Fällen ist dazu auch noch die Nummer
is an important difference. In her Swiss workshops,
angegeben, die der Stoff als vom Bauhaus offiziell
Stölzl might have taken over this way of documenta-
geführter und bei Messen angebotener Stoff erhielt.
tion from her Bauhaus years, but her cards were not
[…] Neben den Stoffen kleben dann nur die Patronen,
meant for the industry, nor were they meant to be
d. h. die diagrammatischen Kurz-Informationen zur
shared with assistants who could use them to execute
Bindung jeden Stoffes. Häufig hat Lisbeth Oestreicher
a textile.23 Her cards are, I stress it again, highly
auf solchen Kartons auch Details zur Einrichtung des
personal, only to be used by her in her workshop. They
Webstuhls und zur Qualität der Garne handschriftlich
are her personal memory aids, thus it was not required
mit Bleistift unter den Stoffen vermerkt.21
that anybody else could understand her notes. In that respect, these cards to some degree disclose the
Besides being sent to the industry Raum argues
process for us, while at the same time bringing us even
that Oestreicher’s handwritten notes indicate that
closer to Stölzl being at work, to her working process.
these cards were also used to be passed along the
They do this to a larger extent than the cards used at
students of the weaving workshop for purposes of
the Bauhaus, which were meant to be shareable.
study and analysis. So Oestreicher’s written notes do
Unlike the conventional way of pattern-designing, the
not necessarily have to indicate that she also wove the
notes on Stölzl’s cards did not come before the
textile sample.
weaving. And unlike the Bauhaus cards, Stölzl’s notes
22
The Weaver’s Laboratory. Gunta Stölzl’s Sample Cards as Materialities of Research
173
Ill. 3: Gunta Stölzl, Sample card with a furniture fabric in different colors, 1950s
did not come after the weaving either, but could be
textile. Furthermore, by putting the written pattern
said to hold her thoughts into place while working.
next to the material, Stölzl emphasized the importance
She would start working on an experiment on her
of the yarn’s properties and structure, which cannot be
loom, note down what she was doing while working,
caught, as Otti Berger already pointed out, by an
then try something else again, note it down, and
inscription on paper. This makes these cards not only
repeat this until she was content. She would then stick
personal records of Stölzl’s working process but also of
the textile results as well as her paper notes to a card
her ideas on textiles and making, stemming from the
to be used again if she wanted to reproduce the
Bauhaus.
24
174
Mirjam Deckers
are nevertheless the target of experiments and research in the laboratory.27 What is often overlooked but deserves more attention, according to Rheinberger, are the “experimental conditions” of the process of experimentation: “The experimental conditions ‘contain’ the scientific objects in the double sense of this expression: they embed them, and through that very embracement, they restrict and constrain them. […] The technical conditions determine the realm of possible representations of an epistemic thing.”28 This approach sheds a whole new light on the Ill. 4: Gunta Stölzl, Sample card with curtain material, designed for the photo studio of Hans Finsler, 1930s. This relief, a ‘Waffel muster’, can be represented in a pattern, but the effects of the combination of rough and soft yarns, and how the light in the studio would fall onto the structure cannot be captured properly on paper
process of research and experimentation. Rather than being devices in the quest for an answer to a question, well-defined in advance, the process of research consists of “vehicles for materializing questions. […] Practices and concepts thus ‘come packaged together’.”29 Answers are not given at the beginning, but
Mate r i al i ties of Research in an Expe r i m ental System
neither are the questions nor starts the process with a concept that is then materialized into practice. Rather, question and answer, concept and (material) practices are all intertwined in what Rheinberger calls an
To better understand the function of Stölzl’s
“experimental system”, defined as a “basic unit of
cards, one might compare them to Hans-Jörg Rhein-
experimental activity combining local, technical,
berger’s “epistemische Dinge” and experimental
instrumental, institutional, social, and epistemic
systems. In his book Toward a History of Epistemic
aspects.”30 Within this system, epistemic things and
Things (1997) Rheinberger proposes a shift from the
the technical objects are completely intertwined.
25
scientist’s mind to his objects of manipulation and the
Thus the cards, containing both the written
process of research. Rather than being interested in
notes and the textile samples, provide traces of what
the final results of scientific experiments, Rheinberger
Rheinberger elsewhere calls “Wissenschaft im
argues that his emphasis is on the “materialities of
Werden”31, or, in the case of Stölzl, her weaving
research”.26 Stölzl used her cards in a similar manner:
workshop can be called a ‘laboratory’. Unlike the
rather than being final results, the cards are part of her
classic way of proceeding, starting from a paper
experimental system in the weaving workshop, which
pattern that would then be translated into textile,
makes them rather unique.
there is no strict hierarchy between writing and
Rheinberger argues that scientists work on
sample in Stölzl’s cards. Rather, it is the combination of
so-called “epistemische Dinge”, scientific objects of
both written and material traces that gives us the most
which the boundaries are not yet known, but which
complete account of the experimental system in the
The Weaver’s Laboratory. Gunta Stölzl’s Sample Cards as Materialities of Research
175
laboratory of the weaver as for Rheinberger, both
records in which writing, patterns, and the textile
inscriptions, instruments, and models are experimental
materials are all visible as distinct aspects. Further-
conditions’ objects. “Epistemische Dinge” in this case
more, they possess strong tactile qualities, not only
are not only articulated through the two-dimensional,
because they involve textiles, but also because of the
writing, but equally through the three-dimensional
different layers on the cards. I would therefore
area of the textile sample with its functioning in space.
propose that it might sometimes be necessary to
Both are as materialities of research part of Stölzl’s
touch these cards, to flip back the textile sample to
experimental system, as experimental systems contain
discover the notes underneath, and to move from the
all the materialities, whether in writing or in the tactile
notes to the material-specific qualities of the textile,
dimension of the textile sample. Consequently,
and back again. I would even argue that the visitor in
following Rheinberger, it might be better to treat these
this way engages in a similar process as Stölzl when
sample cards as a whole as materialities of research in
she created these cards during her experiments on the
the experimental system of the weaver through which
loom. Through our sensual engagement we think and
an epistemic thing is explored. The word ‘card’ might
reflect on the material. It is not a separate and linear
indicate a rather flat surface with written inscriptions,
process in which thinking follows from sensual
whereas in Stölzl’s sample cards it is the combination
experience. Restaging this dialectical process in an
of written inscriptions and three-dimensional textile
exhibition can teach us about Stölzl’s ideas on weaving
samples that makes the cards so interesting and so
that were already developed at the Bauhaus, namely
useful in unfolding the weaving processes for us.
the intertwinement of ideas and practice, thinking and experimenting.
Sa mp le C ards as Aesthet i c Objects
Of course, it is not always safe to touch these objects from the perspective of conservation. But neither should it be forgotten that Stölzl never intended these cards to become exhibited as ‘art’. They
As I am writing this article, with the centenary of
as museum objects behind glass. On the other hand, as
receives many requests from museums worldwide that
historical or biographical objects they are worth
would like to use the cards for exhibition purposes.
preserving, and so we are searching for a suitable
This might also be part of a growing interest in ‘the
middle ground. What the GSA has been experimenting
hand of the artist’ and insights into what happens in
with is giving these cards to contemporary weavers to
ateliers and workshops. The sample cards are traces
create reweaves of the textiles in question. These
of the experiments in the weaver’s laboratory, but how
rewoven samples could be shown next to the original,
to properly display them to indeed convey this to the
as a copy that can be touched by the visitor.34 This
visitor?33
encounter could also result in interesting documenta-
32
As was explained above, these cards point
176
were initially meant to be functional, not to be shown
the Bauhaus approaching, the Gunta Stölzl Archive
tion material that helps both museum professionals
towards the initial entanglement of the weaver, her
and visitors of an exhibition in understanding how
materials on the loom, and her notes, while at the
these cards might have functioned for Gunta Stölzl.
same time unpacking this entanglement as archival
Another opportunity we discussed is to reproduce
Mirjam Deckers
these cards completely, not only the textiles. Technol-
character. Rather, I would propose to follow Rhein-
ogy nowadays allows us to make faithful copies of the
berger’s terminology and treat these objects as
cards and their notes. Concerning the textiles, one
materialities of research in the experimental system of
option would be to collaborate with weavers to
the weaver. As such, they embody a critique on the
reweave them. Another option, which is more radical,
strict distinction between writing and material prac-
was proposed by Monika Stadler. In the estate of her
tice, a critique that was already voiced by the weavers
mother Gunta Stölzl, there are pieces of textile, larger
at the Bauhaus. Instead, experimenting, designing,
and smaller ones, that can also be found on some of
thinking and writing are all interconnected. Stölzl’s
the cards. She argued that she is willing to use and cut
thoughts were entangled with the cardboard and the
these ‘duplicates’ – as she sees them – to make faithful
materials in a constant flow of ideas and creation. The
copies of the cards. These reproductions could then be
cards as archival records bring together the materiali-
displayed next to the original cards to be touched and
ties of research – written ‘laboratory’ notes and textile
explored by the visitors, which hopefully will give them
material from the loom –, arrest them for us, and allow
a full insight in how these cards might have worked in
us to unfold Stölzl’s weaving process again if we in
the weaver’s laboratory. All these possibilities are still
turn engage with them today.
open and we would like to keep discussing this
I have also argued that these cards demand
question with both museum professionals and weav-
tactile exploration in order to be properly understood.
ers.
Consequently, we have to accept that the tactile exploration of the three-dimensional might not always
Fro m Sa mp le C ards to Mate r i al i ties of Research
be the most ordered or direct way of learning, but certainly at least as valuable in the case of these objects. Therefore, it is useful to keep discussing possibilities of display with museum professionals, weavers,
After having written this chapter, I am actually
and also the visitors themselves. These are the lessons
convinced that ‘sample cards’, the term that we use in
that can be learned from Stölzl’s materialities of
the Gunta Stölzl Archive, is a restricted term, really.
research, which I would very much like to further work
Drawing on my earlier arguments, the term does not
on in the museum laboratories where future exhibi-
adequately capture their experimental and processual
tions will be created.
The Weaver’s Laboratory. Gunta Stölzl’s Sample Cards as Materialities of Research
177
Notes 1
This research originated from my work in the Gunta Stölzl Ar-
chive in Groningen. Here, Stölzl’s daughter, Monika Stadler, and I work
László Moholy-Nagy, Von Material zu Architektur (Passau: Passa-
14
On this topic, see also Glenn Adamson, Thinking through Craft
(Oxford: Berg Publishers, 2007), p. 5.
together to build a database containing all Stölzl’s surviving works,
15
which will hopefully become accessible for all museums worldwide.
no. 2 (July 1931), p. 35.
Gunta Stölzl, ‘die entwicklung der bauhausweberei’, bauhaus 5,
greatly indebted to Monika Stadler for all her help and information, and
16 Smith, Bauhaus Weaving Theory, pp. 48–52. 17 Albers, ‘Bauhausweberei’, p. 188. For Anni Albers see Jordan
for allowing me to closely research these cards. I also thank Ann-Sophie
Troeller’s contribution in this volume.
Among these works are the sample cards I discuss in this chapter. I am
Lehmann, Professor at the University of Groningen, for valuable feed-
18
back, and weaver Franzi Kohlhoff for lending me her experienced
tionär 48, no. 51 (1933), p. 10.
Otti Berger, ‘Die besondere Rolle der Handweberei’, Der Konfek-
weaver’s eye.
19
2
haus. There survive a few watercolor designs by Gunta Stölzl in the
For an in-depth discussion of the difference between Werkmeister
and Formmeister, see Ronny Schüler, Die Handwerksmeister am Staatlichen
There do exist paper designs for wall hangings made at the Bau-
GSA. However, for the ‘Gebrauchsstoffe’ this is very uncommon.
Bauhaus Weimar (Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität, 2013).
20
3
tlerische Recherche zur Textilwerkstatt am Bauhaus (Stuttgart: Institut für
Recently, the Bauhaus women have received increasing atten-
tion, also in the context of the 100th anniversary of the Bauhaus in
Walter Gropius, cited in: Judith Raum, Bauhausraum: Eine küns-
Auslandsbeziehungen, 2017).
of the role of women at the Bauhaus, see Ulrike Müller, Bauhaus-Frauen:
21 Raum, Bauhausraum, p. 18. 22 Ibid. 23 Interviews with Monika Stadler, 7 and 12 November 2018.
Meisterinnen in Kunst, Handwerk und Design (Berlin: Insel Verlag, 2014),
Gunta Stölzl usually would not make her assistants responsible for exe-
as well as T’ai Lin Smith, Bauhaus Weaving Theory: From Feminine Craft to
cuting the textiles.
2019, see e. g. Elizabeth Otto and Patrick Rössler eds., Bauhaus Women: A Global Perspective (London: Palazzo, 2019). For an extensive account
Mode of Design (Minneapolis: University of Minnesota Press, 2014).
24
4 5
She had married the Jewish architect Arieh Sharon in 1929.
tour’s concept of the immutable mobile, a device which, he argues,
It might be interesting here to compare the cards to Bruno La-
For an extensive bibliography see Gunta Stölzl. Meisterin am
helps to hold thoughts into place via inscriptions on a flat, two-dimen-
Bauhaus Dessau, ed. Ingrid Radewaldt, exh. cat. Stiftung Bauhaus Des-
sional surface, while at the same time functions to share these
sau (Ostfildern: Verlag Gerd Hatje, 1997), especially pp. 10–86. At the
thoughts, in order to convince others. See Bruno Latour, ‘Visualization
moment of writing, there is a new biography in press: Ingrid Radewaldt,
and Cognition: Drawing Things together’, Knowledge and Society: Stud-
Gunta Stölzl (Weimar: Weimarer Verlagsgesellschaft, 2019).
ies in the Sociology of Culture Past and Present 6 (1986), pp. 1–40.
6 7
Interview with Monika Stadler, 15 October 2018. Personal conversation via e-mail with Franzi Kohlhoff, October
8
Hans-Jörg Rheinberger, Toward a History of Epistemic Things:
Synthesizing Proteins in the Test Tube (Stanford: Stanford University Press, 1997), p. 28; Hans-Jörg Rheinberger, Epistemologie des Konkreten: Studien zur Geschichte der modernen Biologie (Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2007), p. 351.
9
25 26
Hans-Jörg Rheinberger, Epistemologie des Konkreten, p. 351. Hans-Jörg Rheinberger, Toward a History of Epistemic Things,
p. 26.
2018.
Walter Gropius, ‘Grundsätze der Bauhausproduktion’, in Neue
27 28 29 30 31 32
Ibid., p. 238. Ibid., p. 29. Ibid., p. 28. Ibid., p. 238. Hans-Jörg Rheinberger, Epistemologie des Konkreten, p. 353. See for example the essays in Rachel Esner, Sandra Kisters and
Arbeiten der Bauhauswerkstätten, ed. W. Gropius (München: Albert Lan-
Ann-Sophie Lehmann eds., Hiding Making, Showing Creation: The Studio
gen Verlag, 1925), p. 7.
from Turner to Tacita Dean (Amsterdam: Amsterdam University Press,
10
2013).
Anni Albers, ‘Bauhausweberei’, Junge Menschen 5, no. 8 (No-
vember 1924), p. 188.
33
11
tent, see Raum, Bauhausraum, p. 1.
Gunta Stölzl, ‘Weberei am Bauhaus’, Offset Buch- und Wer-
Judith Raum has explored possibilities of display to some ex-
bekunst 7 (1926), p. 405.
34
12
Regina Bittner, ‘Vom Handwerk des Übersetzens in den Werk-
spective Anni Albers (11 October 2018–27 January 2019), in which
stätten des Bauhaus Dessau’, in Handwerk wird modern. Vom Herstellen
samples of the types of yarn she used were made into touchable
am Bauhaus, ed. Regina Bittner and Renée Padt, exh. cat. Stiftung Bau-
swatches, inspired by her work, by weaver Louise Anderson.
haus Dessau (Bielefeld/Berlin: Kerber Verlag, 2017), p. 137.
178
13
via, 1929), p. 22.
Mirjam Deckers
Something similar was done by Tate Modern in the large retro-
Musterbuch als Trade Museum die Handelsbeziehungen zwischen England und Indien4 fördern, da auf der Grundlage der indischen, traditionellen Stoffmuster, industriell massenproduzierte Billig-Imitationen nach Indien verkauft werden konnten.5 Für dieses Vorhaben katalogisierte Watson rund 700 eigenhändig angefertigte Stoffmuster im Format 35 mal 20 Zentimeter, die er auf 18 Bände verteilte und nach deren Vorbild er 19 identische Sets herstellen ließ. 13 davon verkaufte
Patterns of the Conquerors: Zu den verschiedenen Ausstellungsformaten von John Forbes Watsons textilen Musterbüchern
er nach Großbritannien6, 7 nach Indien7, womit rund 16.0008 normierte und nummerierte indische Stoff-Rechtecke in Umlauf gebracht wurden. Nur sechs Jahre später nahm Watson die Arbeit an einer zweiten, noch umfangreicheren Serie auf, die aber nie fertiggestellt werden sollte – zu wenig Platz, zu wenig Zeit, zu sehr hat sich das Selbstverständnis des Museums in diesen wenigen Jahren verändert, als dass
Carla Gabriela Engler
das Zerschneiden indischer Stoffgüter noch als unterstützungswürdige Praxis empfunden wurde.
Sascha Regina Reichsteins Kurzfilm Patterns of
Indem nun 150 Jahre später, im Jahr 2017,
the Conquerors beginnt mit einem Ausschnitt. Maschi-
Watsons Musterbücher erneut gezeigt werden, und
nell gedruckte Lettern, Längen- und Breitenangaben in
zwar als Kurzfilm mit einer Länge von 21 Minuten,
Yards und Inches, eine Katalognummer und ein Ort,
einem Bildformat von 16:9 und der Zirkulation als DCP
Dacca, in der anglisierten Schreibweise Dhakas, der
2K auf Kurzfilmfestivals9, werden die Stoffe in einem
heutigen Hauptstadt Bangladeschs. Die Kamera gleitet
neuen Ausstellungsformat mit eigenen Bedingungen,
in mechanischer Manier über die Papierseite, ein
Möglichkeiten und Restriktionen ausgestellt. Fasst
aufwendig von Hand bestickter, bengalischer Stoff
man den Begriff des Formats dabei nach David
erscheint, hörbar wird in einem Buch geblättert
Summers Überlegungen in Real Spaces als ein System
(Abb. 1). Dieser fragmentarische Einblick in die hybride
innerer und äußerer Beziehungen in wirklichen
Konstellation von angloamerikanischem Maßsystem
Räumen10 und nach David Joselit als Netzwerk,
und südasiatischem Erzeugnis enthält in nuce die
innerhalb dessen Kunst als Ware der Globalisierung
Programmatik des im Film verhandelten Objektes, dem
zirkuliert11, wird die Art der Verhältnisbestimmung
englischen Textil-Musterbuch Collection of Specimens
zwischen Objekt und Betrachter als Aushandlungsort
and Illustrations of the Textile Manufactures of India aus
westlich hegemonialer Praktiken lesbar. Im Vergleich
dem Jahr 1866.
der unterschiedlichen Ausstellungsformate, in denen
1
2
Initiiert von John Forbes Watson, von Amts
die indischen Stoffe im Laufe der Zeit zirkulierten und
wegen „Reporter on the Products of India“ und
immer noch zirkulieren, eröffnet sich damit die
Direktor des India Museum in London , sollte das
Möglichkeit, nach kulturpolitischen Verschiebungen
3
Zu den verschiedenen Ausstellungsformaten von John Forbes Watsons textilen Musterbüchern
179
Abb. 1: Sascha Regina Reichstein, Patterns of the Conquerors, 2017, DCP, 16:9, 21 Minuten, AUT/GB
und ihren Implikationen zu fragen. Inwiefern sich darin
ließen, bis hin zur heutigen Aufarbeitung reicht, die
Kontinuität und Umbruch verschränken, soll Thema
sich verstärkt Fragen der Restitution widmet.
des hier vorliegenden Aufsatzes sein.
Watsons systematische Konzeption der Musterbücher und ihr praktischer Gebrauch speisten sich aus
Wertschätzung und Umg a ng
verschiedenen Kontexten. So gehörte die Inventur indischer Kulturprodukte und die entsprechende Entwicklung von Messverfahren und Auswertungen zu
„I was unfamiliar except as an outside visitor
180
den Pflichten eines „Reporters of the Products of
with the collection, so I was seeing everything with
India“ des India Museums14 – ein Amt, das Watson ab
complete new eyes. And they weren’t on display, they
1858 innehielt.15 In einem internen Schreiben zur
kept in a locked room in the Asian department library.
taktischen Ausrichtung des India Museum hielt James
So you unpack these books from their cardboard
Grant Duff, Under-Secretary of State for India, fest,
boxes and then inside it’s like a herbarium, like a
dass das Museum primär die Grundlage für das
collection of pressed plants, but it’s more like pressed
Ausschöpfen indischer Ressourcen liefern soll: „[The]
textiles“.12 Per Voiceover kommen drei Personen zu
Museum [is] not a mere museum for curiosity, nor
Wort: Felix Driver, Professor für historische Human-
even primarily a museum intended for the advance-
geographie an der Royal Holloway University of
ment of science, but the reservoir, so to speak, that
London, der Kurator und Schriftsteller Shaheen Merali
supplies power to a machinery created for the purpose
und Sonia Ashmore, ehemals Research Fellow am
of developing the resources of India, and promoting
Victoria and Albert Museum und mit der digitalen
trade between the Eastern and Western empires of
Katalogisierung südasiatischer Textilien beauftragt.13
Her Majesty, to the great advantage of both.“16 Damit
Wenn Ashmore zu Beginn des Filmes schildert, wie sie
wird zugleich eine weitere zentrale Ausrichtung
Watsons Musterbücher im Jahr 2007 das erste Mal
angesprochen: die Förderung der Handelspolitik. Die
vorfand – in einem abgeschlossenen Raum der
Idee, dass die Musterbücher, gerade aufgrund ihres
Sichtbarkeit entzogen und in Karton verpackt –,
praktischen Nutzens als Trade Museums dienen
eröffnet sich sogleich ein Bezugsrahmen, der von
können, beschreibt Watson bereits in dem Begleitwerk
Watsons Vision der umfassenden Zirkulation möglichst
The Textile Manufactures and the Costumes of the People
vieler zugeschnittener Textilproben, zur Scham seiner
of India17: „As each set is a copy of all the others, they
Nachfolger, die die Musterbücher verschwinden
may prove useful in facilitating trade operations […].
Carla Gabriela Engler
This aspect of their usefulness gives these collections
Report freien Lauf ließ: „It is indeed unfortunate that
a title to be called Trade Museums in a fuller and
for the purposes of this work some of the finest
broader sense than belongs to any which have yet
historical examples of Indian Kincobs in the Museum
been established“18. Rund zehn Jahre später präzisiert
were destroyed. They were cut up into small fingering
er in einer Abhandlung zur Etablierung von Trade
pieces as the manufacturers call them, shewing how
Museums und in einem Brief an die Times deren
many thread per square inch were in the weft and the
Funktions- und Wirkungsweise, indem er sie von den
woof of these glorious webs of sunshine and colour.“23
Institutionen Museum und Ausstellungen, wie den
Birdwood verglich das Zuschneiden der Stoffe ab-
gerade aufkommenden Weltausstellungen , abgrenzt.
schätzig mit dem wertvoller Gemälde und hielt in
Während Ausstellungen aufgrund ihrer ephemeren
seinen Notizen fest, dass ein Quadratzoll eines William
Natur und ihrer sprunghaften Unvollständigkeit
Turner den Kunststudenten schließlich auch nichts
lediglich in vager Erinnerung blieben, seien Museen
beibringen könne.24 Die Musterbücher verschwanden
trotz ihrer Nachhaltigkeit und ihren systematisch
daraufhin in den Tiefen des Archivs.25 Aus dem Jahr
angelegten Sammlungen nur für den rein wissen-
1885 findet sich ein Bericht, der festhält, dass die
schaftlichen Nutzen ausgerichtet.20 Trade Museums
Textilien aufgrund der unsachgemäßen Lagerung teils
hingegen, so Watson, seien als komplementäres
fast gänzlich von Motten zerfressen waren.26
19
Ausstellungsformat imstande, das Potenzial beider
In Reichsteins Patterns of the Conquerors wird
Einrichtungen auszuschöpfen, indem sie temporäre
sowohl Watsons als auch Birdwoods kuratorische
Erkenntnisse in permanente Sammlungen überführen
Praxis aufgearbeitet und kontextualisiert. Zwar wird
und sie ausschließlich für Produktions- und Handels-
das Entsetzen über Watsons pragmatische Handha-
geschäfte aufbereiten. Deren effektiver Nutzen stand
bung der Stoffe geteilt27, doch statt einer aktiven
für Watson in direkter Relation mit der Anzahl zirkulie-
Verdrängung wird für den Versuch einer Restitution28
render, identisch ausgeführter Musterbücher, die ein
plädiert: „We can look at such objects and think about
standardisierendes Referenzsystem bilden sollten.21
them in new ways and that’s indeed what we must do.
Watsons radikale, profitorientierte Handhabung
And trying to think about them in new ways and try
der indischen Stoffe stieß schon bald auf Kritik. Bereits
and search for example for question of agency and
im Jahr 1879 setzte Colonel Henry Yule, Mitglied des
authorship“29. Gerade diese Frage nach der Urheber-
India Councils, ein Schreiben auf, in dem er ernüchtert
schaft wird dabei nicht nur im Voiceover als intellektu-
konstatierte, dass Watsons Vision eines auf die Praxis
elle Aufarbeitung verhandelt, sondern scheint sich
einwirkenden Trade Museum scheiterte: „[...] experi-
auch ins Bild selbst einzuschreiben. Die Kamera tastet
ence has shown that it cannot be realized. The
einer Lupe gleich die Stoffe in Detailaufnahmen ab,
agitation which had aimed at securing its realization as
rückt einzelne Fäden, gar des Fadens eigene Verwor-
a part of a great Imperial scheme, embracing India and
renheit ins Sichtfeld. Der Film vermag so im
the Colonies alike, has failed of any practical result“ .
Riegl’schen Sinne die haptische Qualität der Textilien
Wesentlich energischer äußerte sich indes Watsons
und damit verbunden auch die darin eingeflochtene
Nachfolger, George Birdwood, der die Direktion des
Handarbeit sowie den eigentlichen Gebrauch als
India Museum im Jahr 1875 übernahm und im Jahr
Kleidung herauszustellen.30 Ins Sichtfeld rücken damit
1881 seinem Ärger in einem handgeschriebenen
Ausschnitte – Ausschnitte der Stoffproben, die selbst
22
Zu den verschiedenen Ausstellungsformaten von John Forbes Watsons textilen Musterbüchern
181
bereits Ausschnitte sind –, die mittels Schnitt aneinan-
systematischen Erfassung speist sich aber auch aus
dergereiht werden, dabei weder das Gefühl einer
imperialistischen Diskursen und Praktiken des
vollständigen Inspektion der Musterbücher noch der
19. Jahrhunderts, allen voran aus dem umfassenden
Proben zu evozieren suchen. In der tiefen Durchdrin-
Bestreben, weit entlegene Kolonien eines Imperiums
gung des Gewebes entsteht so ein Bild, das Walter
nicht durch Gewalt, sondern über möglichst restlose
Benjamin in seiner Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter
Erfassung zu beherrschen: „The ideology of mid-Victo-
seiner technischen Reproduzierbarkeit als „ein vielfältig
rian positivism had also led most people into believing
zerstückeltes“ beschrieben hat, „dessen Teile sich nach
that the best and most certain kind of knowledge was
einem neuen Gesetze zusammen finden.“
the fact. The fact was many things to many people, but
31
generally it was thought of as raw knowledge, knowl-
Vom Teil zum Ganzen und z um Te il zurück
edge awaiting ordering. The various civil bureaucracies sharing the administration of Empire were desperate for these manageable pieces of knowledge. They were light and movable. They pared the Empire down to
Dieser fragmentierende Blick der Kamera steht im starken Kontrast zu Watsons Versuch einer kom-
Mit der Entscheidung, zu Zwecken von Zirkula-
pletten, allumfassenden und restlosen Darstellung
tion und freiem Zugang auf das Format Musterbuch
indischer Textilkunst, wobei gerade dieses Verhältnis
zurückzugreifen, wurde Watson indes in mehrfacher
des Teils zum Ganzen ein zentrales Funktionsprinzip
Hinsicht zur Reduktion gezwungen. Das festgelegte
von Musterbüchern aufgreift. Mit Nelson Goodman
Seitenformat und die begrenzte Seitenanzahl pro Buch
gesprochen versteht sich das Stoffmuster als exempli-
bedingten nämlich nicht nur das Zuschneiden von
fizierende Probe, deren praktischer Anwendungsge-
Textilien, sondern auch die Reduktion des Beschrei-
brauch durch „Besitz plus Bezugnahme“ ermöglicht,
bungstextes auf Material, Länge, Breite, vermuteten
aber auch begrenzt wird: „[...] es ist eine Probe der
Herkunftsort und zugeordnete Ziffer zwecks Identifi-
Farbe, der Webart, der Textur und des Musters, aber
kation (Abb. 2). Weitere Angaben, die für die Herstel-
nicht der Grösse, der Form, des absoluten Gewichts
lung der einzelnen Kleidungsstücke unabdingbar sind,
oder des Wertes.“ Die Stoffproben in Watsons
vermerkte Watson im Begleitwerk The Textile Manufac-
Musterbücher waren dementsprechend nicht für die
tures and the Costumes of the People of India, in dem er
Massenreproduktion von 35 mal 20 Zentimeter
nicht nur die einzelnen Kleidungsstücke klassifizierte,
großen Stoffstücken, sondern als Studienobjekte
sondern auch zusätzliche Angaben, wie die Tragweise
konzipiert, auf Grundlage derer traditionell indische
der Stoffe oder die Applikation und Platzierung der
Kleidungsstücke imitiert werden sollten. Die systema-
Ornamente, vermerkte und stellenweise mit Zeichnun-
tische Anordnung der Stoffproben erinnert wiederum
gen oder Fotografien veranschaulichte (Abb. 3). Für
visuell und konzeptionell an Herbarien im Kontext
weiterführende Informationen verweist Watson auf
botanischer Taxonomie. Felix Driver33 sieht darin eine
die konkrete Sammlung der jeweiligen Textilien im
Verschmelzung von Watsons taxonomischer Obses-
India Museum: „If the manufacturer should still
sion als Naturwissenschaftler und instrumentaler
encounter difficulties, when exceptional points are in
Herangehensweise als Verwalter. Watsons Art der
question, these can be got over by reference to the
32
34
182
file-cabinet size.“35
Carla Gabriela Engler
Abb. 2: John Forbes Watson, Collection of Specimens and Illustrations of the Textile Manufactures of India, Second Series, London 1873–1880, Nr. 647
parent and more elaborate collection in the India
Diese rhetorische Suggestion von Vollständigkeit
Museum; and there also full information on doubtful
und Restlosigkeit lässt sich auch bei den Ausführungen
matters can be obtained.“36 Watson beschreibt das
zu den achtzehn Bänden der ersten Serie beobachten,
Museum als „systematischen und vor allem vollständi-
etwa wenn Watson angibt, dass sie nicht nur auf
gen Speicher von Information“, der immerzu Ort der
„vollständige und dienliche Weise die indische Web-
letztendlichen Referenznahme bleibt und suggeriert
kunst“39 veranschaulichen und damit das erste Mal ein
damit die Möglichkeit einer restlosen Erfassung von
„umfassendes und korrektes Wissen“40 über die
Wissen, die, dem Prinzip einer Montage nicht unähn-
textilen Bedürfnisse Indiens vermitteln, oder wenn in
lich, vom textilen Muster über den bebilderten
Zeitungsberichten attestiert wird, dass die Muster
37
Begleittext bis hin zum eigentlichen Textil reicht.
38
bücher „in jeglicher Hinsicht komplett“41 sind. Als
Zu den verschiedenen Ausstellungsformaten von John Forbes Watsons textilen Musterbüchern
183
Abb. 3: John Forbes Watson, The Textile Manufactures and the Costumes of the People of India, London 1866, S. 19
Beweggrund für das Anfertigen einer zweiten Serie
nity of getting up an additional set of samples which
führt Watson indes die Chance an, eine noch ausführ-
would completely illustrate the whole subject.“42
lichere Übersicht anzulegen, die den Wissensschatz
184
Mit dem Blick auf das Fragment, dem ostentati-
ein für alle Mal komplementieren soll: „The series of
ven Ausstellen von Arrangements und der Verhand-
samples of Indian Textiles, already distributed, al-
lung des Unabgeschlossenen positioniert sich Patterns
though very extensive are not nearly so comprehen-
of the Conquerors geradezu antithetisch zu Watsons
sive as the resources now at our disposal are capable
Bestrebungen. Denn nicht allein werden im Film nur
of effecting. In addition to numerous examples still in
Bände der zweiten, unvollständigen Ausgabe gezeigt,
store here the collection recently forwarded from India
womit Watsons Vision der Vollständigkeit bereits in
to the Paris Exhibition affords an admirable opportu-
der Ausgangslage des Films zur Unmöglichkeit wird.
Carla Gabriela Engler
Auch erscheint das Fragment einerseits als Ausschnitt
Format dar. Einerseits benötigten sie zu viel Platz, den
einer Stoffprobe im Bild, als Anschnitt, Detailauf-
es im India Museum nicht gab,43 andererseits schützten
nahme, Auslassung, als zu kurz gehaltener Blick, um
sie die Textilien nicht hinreichend vor Schmutz, Hitze
die Fülle von Ornament und Webkunst erfassen zu
und Insektenbefall.44 Watson arbeitete daraufhin an
können; andererseits als Geräusch- und Gesprächsfet-
Skizzen zu einem Ausstellungsdispositiv, bestehend aus
zen auf der Tonebene, indem die Geräuschkulisse
einem Drehständer und siebzehn daran vertikal
ausschließlich aus isolierten Schritten, vereinzeltem
montierten und beweglichen, großformatigen Glaskäs-
Räuspern und Blättern besteht und die Gesprächsauf-
ten, in denen je sechzig Musterproben ausgestellt
nahmen mit Felix Driver, Sonia Ashmore und Shaheen
werden konnten (Abb. 4).45
Merali nur versatzstückartig wiedergegeben werden. Gerade in diesen Versatzstücken wird der gewaltvolle Akt des Schnitts und des subsequenten Neu-Arrangierens mit äußerster Deutlichkeit ausgestellt. Stringente Argumentationslinien werden auf Einzel-Aussagen gekürzt und, erneut im Sinne eines Montage-Verfahrens, neu verwoben. Der Eindruck eines Flickenteppichs aus Aussagen wird dabei auch auf der Bildebene gestärkt, und zwar in der Differenz zwischen der im Buch angelegten Ordnungslogik und der im Film verfolgten, erratischen Zufälligkeit, mit der die Stoffe ins Bild gerückt werden. Die Möglichkeit, kulturelle Produkte wie indische Textilerzeugnisse durch Überführung in westliche Erfassungssysteme in ihrer Vollumfänglichkeit erfassen zu können, scheint damit negiert. Stattdessen lässt sich eine Hinwendung zum Fragment beobachten, die sich als Reflexion der eigenen Unzulänglichkeiten liest.
Zu m Nu tzen von Raum und Zeit Watsons Wunsch nach einem Eindruck der Vollständigkeit schlug sich in den folgenden Jahren auch auf die Präsentationsform der Textilproben nieder. Während die Musterbücher zwar als handliche, schnell und einfach zirkulierende Referenzwerke praktische Anwendung fanden, stellten sie für die ortsgebundene, permanente Ausstellung im Museum ein unpraktisches
Abb. 4: John Forbes Watson, The Imperial Museum for India and the Colonies, London 1876, S. 49
Zu den verschiedenen Ausstellungsformaten von John Forbes Watsons textilen Musterbüchern
185
Watson warb unter anderem mit der Möglichkeit einer sicheren Aufbewahrung der Textilproben, indem sie nach einer Phase starker Erhitzung in hermetisch abgeschlossenen Glasvitrinen optimal konserviert werden würden. Zudem betonte er die maximale Raumökonomie dieses Dispositives, das mit einer Fläche von nur 1,7 Quadratmetern mehreren Betrachtern das gleichzeitige Studium sämtlicher Objekte ermöglichte. Auch sprach er sich für den „gesteigerten Effekt“46 aus, der sich durch die mechanische Bewegung der 1.000 Musterproben einstellte.47 Damit liegt eine auffällige Nähe zu prä-kinematografischen Dispositiven vor, wie dem von William E. Lincoln im Jahr 1867 patentierten Zoetrop (Abb. 5). Mit der gleichen Grundkonstruktion von auswechselbaren Platten und drehbarem Zylinder, der Möglichkeit einer kollektiven Seherfahrung48 und dem Vermögen suggestiver Bildwirkung scheinen die beiden Dispositive gewisse Grundprinzipien zu teilen. Bemerkenswerterweise werden im Film Patterns of the Conquerors nicht alle medialen Potenziale, die Watson bei dem von ihm skizzierten Ausstellungsdispositiv für besonders wichtig erklärte, eingelöst. Zunächst betrifft dies den von Watson beschriebenen „gesteigerten Effekt“, der aus der mechanischen Bewegung hervorgeht, mit der die 1.000 Muster
Abb. 5: William E. Lincoln, US Patent No. 64, 117, 23. April 1867
proben zu Tausenden von Sinneseindrücken werden, in denen sich die gesamte indische Textilkunst zu entfalten scheint. Obwohl das Medium Film diese
we all want to know, where the rest of it is, because
suggestive Bildmacht bedienen kann, wird sie hier
this is just a short form, an abbreviation, an acronym.
bereits im Format unterbunden. Als Kurzfilm ent-
When we watch it, the short film, we give ourselves
spricht der Film einem Sub-Standard, der per Defini-
over to the fragment, the gesture, and can’t help
tion einer zeitlichen Restriktion von ungefähr 30 Minu-
wondering where the rest is.“49
ten unterliegt, der, wie der kanadische Filmemacher
186
Die Kürze des Films erinnert jedoch an ein
Mike Hoolboom in „9 Thoughts on Shortfilm“ be-
anderes Ziel, das Watson in seinem Ständer-Dispositiv
schreibt, immer auch das Ausgelassene impliziert: „The
verwirklicht sieht, die Zeitersparnis: „This purpose is to
‚short film‘ implies something else, something longer,
present the information in the shape most adapted to
something that isn’t just ‚short‘. And you want to know,
its being of direct use to the practical man of business,
Carla Gabriela Engler
who has neither time, inclination, nor the requisite
einsehbar, in denen er um eine Auslagerung der Arbeit
training for obtaining it by means of tedious extracts
bittet, weil er mit seinen zwei Assistenten nur 100 Pro-
from voluminous records“ . Diese Ökonomisierung
ben pro Tag verarbeiten kann und er in diesem Tempo
von Zeit, die Watson mit der Ökonomisierung von
ganze sechs Monate brauchen würde, um die Muster-
Energie gleichsetzt und die den umfassenden
bücher fertigzustellen.55 Obwohl Watsons Antrag
Effizienz-Diskursen des 19. Jahrhunderts entlehnt
angenommen wurde, sollte die Arbeit an den Muster-
ist , findet Ausdruck in Watsons Überlegungen zu
büchern doch noch ganze sechs Jahre dauern. Bei
Transport und Kommunikationsnetzwerken: „To be
seinem zweiten Versuch im Jahr 1872 lief ihm die Zeit
indifferent whether certain points of practical informa-
gänzlich davon – die Musterbücher der zweiten
tion will be known sooner or later, is like being
Ausgabe blieben bekanntlich unabgeschlossen.
50
51
52
indifferent whether one goes to a certain destination
Wie der Zahn der Zeit an Watsons Unterfangen
by rail or by road.“ Watson spricht sich für die
genagt hat und immer noch nagt, verbildlicht sich
Beschleunigung der Geschwindigkeit aus, mit dem
indes in den Resten der von Motten angefressenen
Wissen durch Zirkulation und Zugänglichkeit verbrei-
Stoffproben. Wie Felix Driver im Voiceover zu Beden-
tet wird54 – umso auffälliger erscheint auf dieser
ken gibt, stehen Sammlungen, wie diejenigen Watsons,
Vergleichsfolie die Langsamkeit von Reichsteins Film.
nicht still, auch wenn sie in Museen der ursprünglich
Bereits zu Beginn verstreichen ganze vier Minuten,
angedachten Zirkulation entzogen sind. Vielmehr kann
bevor das Voiceover einsetzt und auch im Verlauf der
deren sich allmählich verändernde Handhabung und
weiteren einundzwanzig Minuten kommt es immerfort
Ausstellung als Zeugnis kulturpolitischer Verschiebun-
zu Momenten der Stille, die als Pausen zum Innehalten
gen gelesen werden. Bei Watson reichen diese
einladen. Die hypnotische Wirkung, die von den
Verschiebungen bezüglich der Art des Umganges von
Textilien ausgeht, die in ruhiger Manier von der
der großangelegten, finanziellen Förderung zur
Kamera abgetastet werden, wird zum Katalysator der
schamvollen Reue bis hin zur Wiederentdeckung und
Kontemplation. Auch wenn verschiedene Muster
subsequenten Bemühung einer Restitution. Hinsicht-
angeschnitten werden, so dominiert doch das Gefühl
lich der Art der Ausstellung erstrecken sie sich von der
von Stagnation und Zeitenthobenheit. Länge stellt sich
praktischen Kompaktheit schnell zirkulierender Bücher
hier primär aus der Verhältnisbestimmung zwischen
zur eindrucksvollen Zurschaustellung einer restlos
kurzem Film und langem, gleichbleibendem Eindruck
erfassten Artenvielfalt bis hin zum Eingeständnis, dass
ein, was die Zeitlichkeit der gezeigten Textilproben zu
die Überführung kultureller Objekte in ihnen fremde
verhandeln scheint. Damit wird im Film gerade das
Erfassungs- und Ausstellungsdispositive immer mit
angesprochen, was Shaheen Merali im Voiceover als
dem Scheitern einhergeht. Dass derartige Überführun-
„unheimlich“ bezeichnet, nämlich, dass in Watsons
gen und Übersetzungen auch nicht reversibel sind,
Sammlungen das Gefühl für den teils tagelangen
verdeutlicht Patterns of the Conquerors letzten Endes
Herstellungsaufwand der Textilien gänzlich ausgeblen-
zweifach: im weißen, nummerierten Leintuch, das zum
det wird.
Schluss des Filmes daran erinnert, dass die Musterbü-
53
Der Herstellungsaufwand sollte letzten Endes
cher wieder ins Archiv zurückgeführt werden (Abb. 6),
auch Watson selbst zum Verhängnis werden. Im Jahr
und in der eigenen Medialität als Film, als Instrument
1860 sind noch Eilmeldungen ans India Museum
der westlichen Moderne schlechthin.
Zu den verschiedenen Ausstellungsformaten von John Forbes Watsons textilen Musterbüchern
187
Abb. 6: Sascha Regina Reichstein, Patterns of the Conquerors, 2017, DCP, 16:9, 21 Minuten, AUT/GB
188
Carla Gabriela Engler
1
An m e r k u ngen
more in ihrem vielbeachteten Aufsatz zitiert, siehe Felix Driver und So-
Sascha Regina Reichstein, Patterns of the Conquerors, AUT/GB
Textiles in Victorian Britain, in: Victorian Studies, Bd. 52, 2010, H. 3,
2017, DCP 16:9, 21’.
2
John Forbes Watson: Collection of Specimens and Illustrations
of the Textile Manufactures of India, London 1866.
nia Ashmore: The Mobile Museum: Collecting and Circulating Indian S. 353–385, hier S. 361.
17
John Forbes Watson: The Textile Manufactures and the Cos-
tumes of the People of India, London 1866.
1982, S. 47.
18 19
4
Rosemary Crill, Ausst.-Kat. Victoria and Albert Museum, London, Lon-
3
Vgl. Ray Desmond: The India Museum: 1801–1879, London Wobei hier Britisch-Indien angesprochen ist, das von 1858 bis
1947 nicht nur Teile der heutigen Republik Indien, sondern auch der
Ebd., S. 8 f. Zum Kontext Weltausstellungen siehe The Fabric of India, hg. v.
don 2015.
heutigen Staaten Pakistan, Bangladesch und Myanmar umfasste.
20
5
Zum Britisch-Indischen Textilhandel siehe Deborah Swallow:
tion in: ders. (Hg.): The Imperial Museum for India and the Colonies,
The India Museum and the British-Indian Textile Trade in the Late Nine-
London 1876, S. 39–46, hier S. 39. Siehe auch John Forbes Watson:
teenth Century, in: Textile History, Bd. 30, 1999, H. 1, S. 29–45.
Appendix B. On the Establishment of Trade Museums. in: ebd., S. 47–
6
Ein Exemplar blieb im India Museum, die anderen wurden nach
57, hier S. 53–55, und John Forbes Watson: Appendix C. International
Bradford, Dublin, Edinburgh, Glasgow, Halifax, Huddersfield, Leeds,
Exhibitions. Letter in the Times, 9th June, 1874 in: ebd., S. 57–60, hier
Liverpool, Macclesfield, Manchester, Preston and Salford verkauft,
S. 58.
Vgl. John Forbes Watson: Appendix A. The India Museum Ques-
relating to India Museum Publications on the Textile Manufactures and
21 22
Costumes of the People of India (1859–1885), collected by Ray Des-
India, 1870–1879, Affairs of the Madras Irrigation Company, 1860,
mond, British Library, London, Asia, Pacific, and Africa Collections, IOR
British Library, London, Asia, Pacific, and Africa Collections, IOR/C/142.
siehe Financial Papers, 1866, in: Photocopies and Transcripts of Papers
Vgl. Watson 1876, Appendix B (wie Anm. 20), S. 53–56. Colonel Yule: Memoranda and Papers laid before the Council of
MSS EUR F 195/50.
23
7
Nach Calcutta, Madras, Bombay, Kurrachee, in die Nordwestli-
partment, 1881, S. 6, in: IOR MSS EUR F 195/50 (wie Anm. 6). Dieselbe
chen Provinzen, Punjaub, und nach Berar, siehe Financial Papers 1866
Stelle wird auch zitiert von Driver/Ashmore 2010 (wie Anm. 16), S. 372.
(wie Anm. 6).
8
Vgl. John Forbes Watson: Letter to the India Office, 30th July
1860, in: IOR MSS EUR F 195/50 (wie Anm. 6).
9
Der Film wurde unter anderem am internationalen Filmfestival
24 25 26 27
George Birdwood: Minute Paper, Statistics and Commerce De-
Ebd., S. 6. Vgl. Driver/Ashmore 2010 (wie Anm. 16), S. 353–354. Vgl. Watson 1860 (wie Anm. 8). „One is shocked when one sees the cut up remnants of these
Viennale (2017) und an den 64. Internationalen Kurzfilmtagen in Ober-
textiles which is the complete opposite of modern curatorial practice“,
hausen (2018) gezeigt.
Voiceover Sonia Ashmore, Reichstein 2017 (wie Anm. 1)
10
David Summers: Real Spaces. World Art History and the Rise of
28
Zu Fragen der Restitution siehe Andrea Meyer und Bénédicte
Western Modernism, London 2003.
Savoy (Hg.): The Museum is Open. Towards a Transnational History of
11
Museums 1750–1940, Berlin 2014.
David Joselit: Nach Kunst, Köln 2016. Siehe auch Forschungs-
projekt „Exhibiting Film, Challenges of Format“ am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich, Leitung: Fabienne Liptay.
12 13
29 30
Voiceover Felix Driver, Reichstein 2017 (wie Anm. 1) Zur Brauchbarkeit des Begriffspaares „haptisch/optisch“ für die
Voiceover Sonia Ashmore, Reichstein 2017 (wie Anm. 1).
Filmwissenschaft siehe Antonia Lant: Haptisches Kino, in: Klemens
Siehe auch Avalon Fotheringham: Cataloguing the South
Gruber and Antonia Lant (Hg.): Texture Matters. Der Tastsinn im Kino.
Asian Textile Collection, 2018, https://www.vam.ac.uk/blog/asia-
haptisch / optisch 1. Maske und Kothurn, Bd. 58, Wien u. a. 2012, H. 4,
department/cataloguing-the-south-asian-textile-collection [Abruf:
S. 31–67.
17.12.2018].
31
14
nischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt 1980, S. 496. Siehe auch Lant
Vgl. Miscellaneous Paper, Financial Department, 1860, in: Pho-
tocopies and Transcripts of Papers and Correspondence relating to the
Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner tech-
2012 (wie Anm. 30), S. 60.
History of the India Museum with Notes by Ray Desmond (1858–
32
1859), collected by Ray Desmond, British Library, London, Asia, Pacific,
theorie, Berlin 2015, S. 59–60.
Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symbol-
and Africa Collections, IOR MSS EUR F 195/5.
33
15
John Forbes Watsons Musterbüchern bei. Seine zwei einschlägigen
Vgl. Anonym: Portrait and Biography of Dr. John Forbes Wat-
Felix Driver trug maßgeblich zum jetzigen Forschungsstand zu
son, in: The Journal of Indian Art, Bd. 3, 1890, H. 25, o. S.
Aufsätze dazu sind Driver/Ashmore 2010 (wie Anm. 16) und Felix
16
M. E. Grant Duff: Memorandum for the Duke of Argyll, 1869,
Driver: Exhibiting South Asian Textiles, in: Christopher Breward, Philip
S. 1, British Library, London, Asia, Pacific, and Africa Collections, IOR L/
Crang und Rosemary Crill (Hg.): British Asian Style. Fashion & Textiles,
SUR/6/3. Dieselbe Stelle wird auch von Felix Driver und Sonia Ash-
Past & Present, London 2010, S. 161–173.
Zu den verschiedenen Ausstellungsformaten von John Forbes Watsons textilen Musterbüchern
189
34
Driver/Ashmore 2010 (wie Anm. 16), S. 364. Driver bezeichnet
S. 363. Inwiefern Watsons Textilmuster derart ausgestellt wurden,
35
Thomas Richards: The Imperial Archive. Knowledge and the
bleibt zwar unklar, doch liegt folgender Bericht vor: „The greater part of
Fantasy of Empire, London u. a. 1993, S. 4. Richards bezeichnete
the examples of early textile fabrics have been framed and hung on the
Großbritannien als das „datenreichste“ Papier-Imperium: „A compre-
new rotating stands; several hundreds of specimens are now shown on
hensive knowledge of the world was for most of the century the ex-
these stands, and the facilities for consulting them have thus been
plicit goal of all forms of learning.“ ebd., S. 4. Auch Sonia Ashmore ver-
much increased, whilst a great saving of space has been effected. I am
gleicht im Voiceover die Britische Klassifikationswut mit der
in hopes of being able, in the course of the ensuing year, to bring to-
symbolischen Kontrolle über Indien, siehe Reichstein 2017 (wie Anm. 1)
gether the whole collection of textile fabrics, and to exhibit them in the
36 37
Watson 1866 (wie Anm. 17), S. 3.
West Cloisters.“ Richard A. Thompson: Report of the Museum Superin-
Siehe auch John Forbes Watson: The Textile Manufactures and
tendent and Assistant Director for Arrangement, in: Seventeenth Re-
the Costumes of the People of India. Opinions of the Press, London
port of the Science and Art Department of the Committee of Council
1867, S. 3–22, hier S. 5, und Watson 1866 (wie Anm. 17), S. 6, Anm.
on Education, with Appendix, London 1870, S. 337–339, hier S. 338.
38
Distanz voneinander zu errichten. Er sieht die Gesamtheit des Wissens
46 47 48
nur im seriellen, additiven Nebeneinander verwirklicht, siehe Watson,
meinsamen Seh-Erfahrung: „[…] with this any number of persons can,
Appendix B 1876 (wie Anm. 20), S. 56; Watson 1866 (wie Anm. 17),
by placing it in the centre of the room, be able easily to see, at the same
S. 2; John Forbes Watson: The Imperial Museum for India and the Col-
time, all the movements.“ William E. Lincoln: Letters Patent No. 64,
onies, London 1876, S. 3 u. 5; Watson, Appendix A 1876 (wie Anm. 20),
117, dated April 23, 1867, Toy, United States Patent Office 1867,
S. 41.
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1867-04_lincoln_patent_
Ein ähnliches Montage-Prinzip lässt sich auch bei Watsons
Wunsch beobachten, einzelne Museumsgebäude in möglichst kurzer
39 40 41
Watson, Appendix A 1876 (wie Anm. 20), S. 46. Watson, Appendix B 1876 (wie Anm. 20), S. 46 und 48–53. In seinem Patent wirbt Lincoln mit der Möglichkeit einer ge-
Watson 1866 (wie Anm. 17), S. 1.
US64117-0R.jpg?uselang=de [Abruf: 07.01.2019].
Ebd., S. 3.
49
Watson 1867 (wie Anm. 37), S. 3. Siehe auch Driver/Ashmore
mikehoolboom.com/?p=186 [Abruf: 17.12.2018]. Für diesen Hinweis
Mike Hoolboom: Nine Thoughts on Short Films, 1995, http://
2010 (wie Anm. 16), S. 367.
danke ich Laura Walde.
42
Vgl. Watson, Appendix A 1876 (wie Anm. 20), S. 46.
50 51 52
Vgl. Watson, Appendix B 1876 (wie Anm. 20), S. 48.
Frederick Winslow Taylor and the Enigma of Efficiency, Cambridge/
Watsons Dispositiv teilt auch Grundprinzipien mit dem von
Mass. u. a. 2005.
John Forbes Watson: Financial Papers, 1867, in: IOR MSS EUR
F 195/50 (wie Anm. 6).
43 44 45
Henry Cole entwickelten „Pillar-Stand“ siehe Henry Cole: Report of the Director, in: Sixteenth Report of the Science and Art Department of the Committee of Council on Education, with Appendix, London 1869,
190
S. 281–288, hier S. 283; vgl. auch Driver/Ashmore 2010 (wie Anm. 16),
ihn auch als „applied natural historian“ ebd., S. 361.
Carla Gabriela Engler
53 54 55
Watson, Appendix B 1876 (wie Anm. 20), S. 47. Watson, Appendix A 1876 (wie Anm. 20), S. 43. Siehe unter anderem Robert Kanigel: The One best Way.
Watson, Appendix A 1876 (wie Anm. 20), S. 43. Ebd., S. 43. Vgl. Watson 1860 (wie Anm. 8).
TEXTILE ARCHITEKTUR UND RAUMGESTALTUNG / TEXTILE ARCHITECTURE AND SPATIAL DESIGN
moderner Architektur vertrat, deren kritische Stoßrichtung sich weniger durch den Kontrast zu historistischen Stilanleihen und Jugendstilornamentik definieren lässt als zu exhibitionistischen und expressionistischen Ambitionen, wie sie seit Beginn der Moderne in verschiedenen Forderungen nach Material- und Konstruktionswahrheit in der Architektur verfolgt wurden. Es ist bezeichnend, dass Loos in jenen Jahren, als
Der Stoff aus dem die Räume sind: Das Prinzip der Bekleidung in Adol f Loos’ Haus für Goldman & Salatsch
die moderne Architektur ihre Überwindung historistischer Stilhüllen und ornamentaler Exzesse feierte, noch einmal seine Einstellung zur Nacktheit in dem zitierten Text klären zu müssen glaubte. Während mit dem internationalen Stil eine auf schlichte Formen reduzierte, nackte Architektur propagiert wurde und der Ruf nach Material- und Konstruktionswahrheit, nach Ingenieursästhetik oder dem „jeu […] magnifique
Christian Scherrer
des volumes assemblés sous la lumière“3 überall auf offene Ohren stieß, stimmte Loos keineswegs in das
Fal s c h e Nacktheit, verleugnete Kleider
allgemeine Lob architektonischer Nacktheit ein und begründete es auch nicht damit, dass die Bekleidung als Verhüllung von Wesentlicherem verwerflich oder Nacktheit ein Wert an sich sei. Stattdessen führte er in
In einem 1923 datierten, jedoch zu Lebzeiten
einem subtilen Gedanken die zeitgenössische Fetischi-
unveröffentlichten Text mit dem Titel Nacktheit
sierung von Nacktheit auf einen typisch modernen
schreibt Adolf Loos: „Als einer, der um die Wende des
Missbrauch von Bekleidung zurück: nämlich jenen, mit
neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert gelebt hat,
ihr den Träger oder die Konstruktion zur Darstellung zu
fühle ich mich verpflichtet zu sagen, wie es dazu
bringen, die sie tatsächlich oder anscheinend umhüllt.
gekommen ist, dass Nacktheit heute anders auf uns
Der tiefere Grund, weshalb Nacktheit in hochzivilisier-
wirkt als auf vergangene Zeiten. Wie es gekommen ist,
ten Gesellschaften ‚verträglich‘ geworden ist und ihr
dass wir Nacktheit vertragen.“ Wie die obere Fassade
dort ein intrinsischer Wert zugesprochen wird, ist für
von Loos’ Geschäftshaus für die Schneiderfirma
Loos die vielsagende Tatsache, dass in ihnen Kleider
Goldman & Salatsch am Wiener Michaelerplatz
von so perverser Art erfunden worden seien wie das
(1909–1911, Abb. 1) scheint dieses Zitat das weitver-
fleischfarbene Trikot. Indem dieses mit all seinen
breitete Bild von der Nacktheit moderner Architektur
Eigenschaften (Farbe, Textur und Form) den nackten
und Loos als einem ihrer Wegbereiter zu bestätigen.
Träger evoziert, verkehre es Loos zufolge auf extreme
Doch bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass
und präzedenzlose Weise das Prinzip der Bekleidung,
Loos mit Konsequenz eine textile Konzeption von
als dessen Fürsprecher er bereits 1898 in einem
1
2
Das Prinzip der Bekleidung in Adolf Loos’ Haus für Goldman & Salatsch
193
Abb. 1: Adolf Loos, Geschäftshaus für Goldman & Salatsch, 1909–1911, Wien I., Michaelerplatz 3, aufgenommen zwischen 29. März 1912 und dem Abriss des Palais Liechtenstein im Jahr 1913, Bildarchiv Foto Marburg
gleichlautenden Artikel auftrat. Dort hatte er behauptet, man habe sich in früheren Zeiten so selbstver-
Beklei dung sp ri nz i p oder Materi a lwa hrhei t ?
ständlich an dieses Prinzip gehalten, dass es nie nötig gewesen sei, es in die Form eines Gesetzes zu bringen.
194
Loos’ Haltung wird oft auf eine Vorliebe für
Dieses Gesetz hat Loos in Das Princip der Bekleidung
echte Materialien reduziert und sein Gesetz daher so
(nachfolgend: „PdB“) so formuliert: „Die Möglichkeit,
gedeutet, als richte es sich im Grunde dagegen, irgend-
das bekleidete Material mit der Bekleidung verwech-
einem Material (durch dessen Verarbeitung oder
seln zu können, soll auf alle Fälle ausgeschlossen sein.
Verhüllung) das Aussehen eines anderen zu verleihen.
Auf einzelne Fälle angewendet, würde dieser Satz
Diese Auslegung ist jedoch nur insoweit begründet, als
lauten: Holz darf mit jeder Farbe angestrichen werden,
Loos in vielen seiner Schriften gegen die Verwendung
nur mit Einer nicht – der Holzfarbe.“
von Surrogaten für teure Materialien polemisierte.
Christian Scherrer
4
Dagegen machen neben anderen Texten „PdB“ und
ist nur das Bestreben, die Nacktheit und Präsenz des
Nacktheit deutlich, dass Nacktheit der Materialien
Trägers mithilfe von Bekleidung zu suggerieren.
nicht im Zentrum seiner Auffassung von (moderner)
Konsequenterweise lautet eine andere Konkretisie-
Architektur stand. Denn sein Gesetz setzt gerade
rung des Gesetzes: „Der Stuck kann jedes Ornament
voraus, dass Materialien in erster Linie (zu praktischen
erhalten, nur eines nicht – den Ziegelrohbau. […] Und
und auch rein ästhetischen Zwecken) bekleidet oder
so dürfen alle Materialien, die zur Wandverkleidung
selbst zur Bekleidung eines anderen verwendet
dienen, also Tapeten, Wachstuch, Stoffe und Teppiche,
werden, und verbietet nur, dass die Gestaltung des
Ziegel und Steinquadern nicht zur Darstellung brin-
bekleidenden Materials dessen bekleidende Funktion
gen.“5
verschleiert, also Nacktheit suggeriert, wo keine ist. Aus dem Primat der Bekleidungsfunktion für
In dem ebenfalls 1898 veröffentlichten Artikel Die alte und die neue Richtung der Baukunst wird die
Baumaterialien erklärt sich daher, warum Loos nicht
Diskrepanz zwischen Loos’ Bekleidungsprinzip und
anstelle seines Gesetzes die ähnlich klingende, doch
einer auf Nacktheit und Echtheit der Materialien
tatsächlich entgegengesetzte Forderung aufgestellt
beschränkten Sicht noch deutlicher. Loos antizipiert
hat, Vollmaterialien wie Beton, Holz, Stahl, Ziegel oder
dort einen Einwand gegen seine Behauptung, Archi-
dergleichen unverhüllt und nackt wirken zu lassen.
tekten und Handwerker vergangener Epochen hätten
Seine Beispiele klassischer Verstöße gegen das
in Bezug auf das Material nie gelogen. Der Einwand
Bekleidungsprinzip in „PdB“ und Nacktheit – das mit
möchte den Stuccolustro ins Treffen führen, also die
Holzfarbe bestrichene Holz oder das mit Metallfarbe
Imitation von echtem Marmor durch marmorierten
bestrichene Eisen – scheint Loos bewusst gewählt zu
Stuck. Loos aber lässt ihn nicht gelten, denn „die alten
haben, um diesen Unterschied zu markieren. Wäre es
Marmorierer“ hätten „zum Unterschiede von ihren
ihm bloß um das Prinzip der Echtheit und Nacktheit
modernen Nachfolgern“ weniger versucht „das
von Materialien gegangen, so hätten sich beliebige
Material, sondern die prächtige Zeichnung des
andere Fälle angeboten, in denen die ‚wahre Natur‘ des
Marmors“ nachzuahmen und es daher bewusst
bekleideten und/oder bekleidenden Materials ver-
unterlassen, dessen Haarfugen zu imitieren. „Im
schleiert wird: mit Metallfarbe bestrichenes Holz etwa.
Gegentheile: In der Verarbeitung großer Flächen ohne
Materialwahrheit könnte hier wegen eines (doppelten)
Fuge erblickten sie ja den Vorzug vor dem echten
Mankos der Bekleidung eingeklagt werden, das in dem
Marmor. Das nenne ich echten, stolzen Handwerks-
Verbergen des wahren Trägermaterials einerseits und
geist, gegen den mir unsere Stuccateure wie armselige
der Imitation eines von ihm verschiedenen Materials
Schwindler vorkommen […].“6
andererseits besteht.
Hier wird also verteidigt, was die auf Nacktheit
Das mit Holzfarbe bestrichene Holz hingegen
bedachte Material- oder Konstruktionswahrheit
verweist auf eine spezifische Art der Imitation, die sich
verbietet: die Verhüllung des echten Trägers (etwa
von solchen Verstößen gegen Materialwahrheit
einer Ziegelmauer) durch ein Kleid, das noch dazu ein
unterscheidet und im Fokus von Loos’ Kritik liegt.
anderes Material als sein eigenes sowie das des
Denn Loos hat in Wahrheit kein Problem damit, wenn
Trägers in Farbe und Muster imitiert. Loos’ einzige
das bekleidende Material das bekleidete verbirgt oder
Bedingung an den Stuccolustro und jedes andere
ein von beiden verschiedenes imitiert; problematisch
bekleidende Material ist offenbar, dass dieses nicht die
Das Prinzip der Bekleidung in Adolf Loos’ Haus für Goldman & Salatsch
195
konstruktive Form eines anderen erhält und dadurch
der Bekleidung besteht und deren Missbrauch als
seinen bekleidenden Charakter negiert. Der Stucco-
Darstellungsmittel der Konstruktion kategorisch
lustro wird für Loos erst dort verwerflich, wo er über
ablehnt.
die prachtvolle, aber konstruktiv bedeutungslose Marmorierung hinaus auch noch die konstruktive Form des Marmors als Quader oder Säule nachahmt. Das fleischfarbene Trikot wäre analog dazu nicht allein deshalb schon verwerflich, weil es die Farbe der
Da s Beklei dung sp ri nz i p , ei ne neg at i ve Konst rukt i on s wa hrhei t ?
Haut imitiert. Die Färbung des Trikots wäre wohl kaum problematischer als die Marmorierung des Stucco-
Insistenz auf dem Prinzip der Bekleidung die völlige
Form seines Trägers unterscheiden könnte. Wie die
Verwerfung der Konstruktionswahrheit folgen? Denn
fugenlose Stuccolustro-Wandfläche weist zwar der
auf der Autonomie des Kleides zu bestehen muss noch
gewirkte Trikotstoff keine spezifisch konstruktiven
lange nicht heißen, die sichtbare Darstellung der
Merkmale wie etwa Nähte auf; doch hier evoziert
Konstruktion nicht zu gestatten. Wenn Loos dagegen
gerade deren Abwesenheit die Präsenz des Trägers.
eintrat, Materialien, die dem Zweck der Bekleidung
Zudem verzichtet das Trikot aufgrund der allseitigen
dienen, charakteristische Merkmale des Trägers oder
Dehnbarkeit des Stoffes weitgehend auf eine eigen-
der Konstruktion zu verleihen, dann wäre seinem
ständige, durch den Schnitt bedingte Form. Die nackte
Anspruch doch bereits damit Genüge getan, dass jene
Haut hingegen verstößt Loos zufolge gerade nicht
Elemente, die in einem Gebäude entweder bekleiden-
gegen das Prinzip der Bekleidung, da sie (sofern sie
den oder konstruktiven Zwecken dienen, sichtbar und
nicht als Träger, sondern als natürliches Kleid auftritt)
deutlich voneinander getrennt würden. So könnten
Muskeln, Gelenke und Knochen bedeckt, ohne deren
diese gemeinsam in Erscheinung treten, ohne ihren
Farbe, Form und Struktur zu imitieren. Erst sobald ihr
jeweils nicht-/konstruktiven Charakter zu verunklären
ein Kleid angelegt wird, das sowohl seine eigene
(wie man es in dem Balkengerüst und den seine
Autonomie wie die seines Trägers untergräbt, findet
Zwischenräume ausfüllenden Wandflächen eines
der Gesetzesbruch statt.
Fachwerkhauses oder in modernen Entwürfen etwa
Hier also Loos’ Begründung, weshalb die Nackt-
196
Doch warum, ließe sich fragen, sollte aus Loos’
lustro, wenn es sich in anderen Hinsichten von der
eines Auguste Perret als vorbildlich realisiert sehen
heit eines Körpers, dessen Oberfläche dem Prinzip der
könnte). Oder es könnte, wo die Bekleidung die
Bekleidung entspricht, in der Moderne (wieder)
Hauptkonstruktion komplett verhüllt, zumindest die
erträglich, ja herbeigesehnt wird. Man könnte Loos’
Konstruktion des Kleides im engeren Sinn und damit
Position somit eine anti-exhibitionistische oder
sein (Zusammen-)Hängen zur Schau gestellt werden
anti-expressionistische nennen. Wie man sieht, lässt
(etwa in Analogie zur Aufhängung von Marmorplatten
sie sich nicht auf eine undifferenzierte Forderung nach
mittels sichtbarer Eisenbolzen in der Fassade von Otto
Materialwahrheit reduzieren, sofern diese Nacktheit
Wagners Postsparkasse oder zur sichtbaren Ausprä-
per se zum Prinzip erhebt. Ebenso wenig ist seine
gung von Nähten bei Kleidungsstücken). Würden
Position aber mit jeglicher Form von Konstruktions-
konkrete Umsetzungen beider Strategien in moderner,
wahrheit vereinbar, da sie auf unbedingter Autonomie
dem Primat und dem Ausdruck der Konstruktion
Christian Scherrer
dienender Architektur Loos’ Gesetz der Bekleidung
schosse sowie die Ziegelausfachungen zwischen den
nicht genügen? Unterstellen wir also zu Unrecht, dass
Fenstern desselben Geschosses zur Gänze aufzufan-
es sich gegen die Konstruktionswahrheit als solche
gen, und hätte daher durchgehende horizontale
richtet?
Fensterbänder als auch eine riesige stützenfreie
Loos’ Gesetz schließt seinem Wortlaut nach zwar den architektonischen Ausdruck konstruktiver Elemente und Verhältnisse nicht prinzipiell aus. Sein Haus
Öffnung im gesamten Erdgeschoss- und Mezzaninbereich der Fassadenfront ermöglicht. Die Gestaltung des oberen Fassadenteils gibt
für Goldman & Salatsch führt uns jedoch vor Augen,
jedoch (Abb. 1) weder den geringsten Hinweis auf die
dass er in der konkreten Umsetzung des Bekleidungs-
horizontal verlaufenden, voll tragenden Unterzüge
prinzips am Ausdruck konstruktiver oder tektonischer
noch auf die konstruktiv unwirksame, also rein
Verhältnisse tatsächlich kein Interesse hatte. Er hat die
raumabschließende Ziegelausfachung. Die tektoni-
Konstruktionswahrheit im positiven Sinn, als Veran-
schen Verhältnisse zwischen Stahlbetonrahmen und
schaulichung der primären oder dem Kleid eigenen
Ausfachung verschwinden hinter beinahe völlig
Konstruktion, gänzlich abgelehnt. Nur eine sozusagen
glattem Kalkverputz. Die einzigen, minimalen Mittel,
negativ gewendete Konstruktionswahrheit – die sich
um diesen Kalkverputz als Bekleidung hervorzuheben,
um die Artikulation der konstruktiven Unwirksamkeit,
verweisen auf dessen Plastizität, so die Tiefe der
also des Nicht-Tragens oder bloßen Lastens bekleiden-
Fensterlaibungen, die Verkantung der Gebäudeecken
der Elemente bemüht – scheint Loos ansatzweise, aber
zum Kohlmarkt (rechts) und zur Herrengasse (links)
keineswegs stringent verfolgt zu haben. Selbst diese
sowie die selten bemerkte Tatsache, dass die Marmor-
wurde von ihm, wie wir im Folgenden an seinem Haus
platten der unteren Fassade auf einer Ebene mit dem
für Goldman & Salatsch genauer sehen werden, den
Kalkverputz liegen und (mit Ausnahme des Gesimses)
wesentlicheren Aufgaben der architektonischen
nicht über diesen hervortreten. Wir finden hier die
Bekleidung geopfert.
Bekleidung durch andere Mittel als den sichtbaren
7
Nähern wir uns dem Gebäude zunächst von
Kontrast mit konstruktiven Elementen oder als
außen, also über das Verhältnis seiner Fassadengestal-
nicht-tragendes oder hängendes Element artikuliert.
tung zur Konstruktion. Aus den Bewehrungsplänen
Die Bedingung, das Kleid nicht mit seinem Träger
und einem Bericht der für sie verantwortlichen
verwechseln zu können, scheint trotz allem ausrei-
Ingenieure Pittel & Brausewetter8 ist zu erfahren, was
chend erfüllt.
die Gebäudefront zum Michaelerplatz zur Gänze
Zuweilen wurde jedoch die Ansicht vertreten,
verschweigt: Sie beruht auf einer ungewöhnlichen
dass der untere Teil der Gebäudefront mehr über die
Rahmenkonstruktion aus Stahlbeton, bestehend aus
konstruktive Bedeutung oder das Nicht-Tragen ihrer
zwei massiven, bis unter das Dach reichenden Eckpfei-
Elemente verrate. Viele der zeitgenössischen und
lern sowie fünf jeweils unter beziehungsweise über
späteren Kommentare zur Fassade haben hervorgeho-
jedem Wohngeschoss verlaufenden, horizontalen
ben, dass die Achsen der Säulen des Hauptportals
Unterzügen mit einer beachtlichen Spannweite von
(mitsamt den kurzen Pfeilern darüber) nicht mit jenen
über vierzehn Metern. Dieser Rahmen ist statisch
der vertikalen Mauerflächen zwischen den Fenstern
daraufhin berechnet, die fassadenseitig lastenden
der Wohngeschosse übereinstimmen. Dieses Detail
Boden- und Deckenkonstruktionen der Wohnge-
wurde von Kritikern umgehend als Loos’ plumpes
Das Prinzip der Bekleidung in Adolf Loos’ Haus für Goldman & Salatsch
197
Eingeständnis ausgelegt, dass es sich bei den Mono-
Wandfläche weder dementiert noch suggeriert. Wie
lithen um eine bloße Scheinkonstruktion handelt, die
kann die Position der Säulen also deren konstruktive
der Architekt (nach dem Maß der Konstruktion) zu rein
Wirksamkeit dementieren, wenn die Fassade doch
ornamentalen Zwecken verwendet hat.9 Könnte man
völlig offenlässt, was in ihr lastet oder trägt?
nun umgekehrt, aber unter Beibehaltung desselben
Zum anderen ließe sich diese Logik einer
konstruktionslogischen Blickwinkels, diesen Achsen-
negativen Konstruktionswahrheit auch nicht konse-
sprung nicht ins Positive wenden und ihn gerade als
quent auf die unmittelbar anschließenden Seitenfassa-
aufrichtigen Verweis auf das Nicht-Tragen der Säulen
den übertragen. Wir sehen bei den risalitartigen
zu deuten versuchen? Würde sich nicht dieselbe
Vorsprüngen zur Herrengasse und zum Kohlmarkt,
Deutung für Loos’ Entscheidung anbieten, die Säulen
dass sich das Verhältnis von konstruktiven Tatsachen
derart aus dem Stein herausarbeiten zu lassen, dass
und äußeren Anzeichen zugleich zuspitzt und verkehrt:
potentielle Lasten nicht orthogonal zu, sondern
Es wird selten hervorgehoben, dass sich hier die
entlang deren natürlicher Schichtung einwirken, was
vertikalen Achsen der mittleren, mit Marmor verkleide-
die Gefahr der Splitterung des Steins vervielfacht? Mit
ten Betonpfeiler direkt in jenen der mittleren Fenster-
anderen Worten könnte Loos doch – als Sohn eines
öffnungen der Wohngeschosse fortsetzen. Müsste
Steinmetz im vollen Bewusstsein der Konsequenzen! –
nach der Logik von vorhin nicht gefolgert werden, dass
die konstruktiv bedeutsame Eigenschaft horizontaler
hier der Achsensprung zwischen Wandfläche und
Schichtung in der Herstellung der Säulen konterkariert
Pfeiler dessen konstruktive Wirksamkeit noch deutli-
haben, um sie als nicht-tragende auszuweisen.
cher negiert, während wir es nun anders als bei den
10
Derartige Versuche einer Rettung der konstrukti-
Säulen hinter der Marmorverkleidung tatsächlich mit
ven Aufrichtigkeit von Loos’ Fassadenentwurf erschei-
einem konstruktiven Glied zu tun haben? Hätte Loos
nen jedoch unbefriedigend: Zum einen kann hier –
daher nicht mit denselben Mitteln die konstruktive
wenn überhaupt – nur in einem äußerst schwachen
Leistung des Pfeilers negiert und die konstruktive
Sinn von (negativer) Konstruktionswahrheit die Rede
Unwirksamkeit der Säulen affirmiert? Kann hier noch
sein. Um das Nicht-Tragen der Säulen auszudrücken,
von (negativer) Konstruktionswahrheit die Rede sein?
müssten viel deutlichere Mittel zum Einsatz kommen
198
Was schließlich das Muster des Marmors betrifft,
als die genannten. Einerseits müsste zumindest
so ist als Grund dafür, weshalb es bei den Säulen und
angedeutet werden, was anstatt ihrer tatsächlich trägt;
Pfeilerverkleidungen vertikal statt horizontal verläuft,
andererseits kann nicht ernsthaft von Konstruktions-
die Absicht, deren Belastungsfähigkeit zu negieren,
wahrheit die Rede sein, wenn die Erwartung daran,
höchstens die halbe Wahrheit. Da es wohl sein
was die Säulen zu tragen hätten, selbst auf falschen
vorrangiges Anliegen war, die Maserung des Marmors
Annahmen und scheinbaren Indizien beruht. Das
bestmöglich zur Geltung zu bringen, konnte Loos sie
Argument, der Achsensprung habe den Zweck, die
gar nicht anders als vertikal entlang der Säulen und
konstruktive Unwirksamkeit der Säulen auszudrücken,
Pfeiler verlaufen lassen; was übrigens auch für die
setzt ja voraus, dass die oberen Geschosse ihre Last
horizontale Maserung der horizontal liegenden
vor allem durch die vertikalen Mauerflächen zwischen
Flächen gilt (Abb. 2). Eher noch mag die Lage vertikaler
den Fenstern ableiten. Dies ist jedoch gerade nicht der
Fugen, an denen die kurzen Seiten der horizontalen
Fall und wird durch das glatte Raster der oberen
Platten zusammenstoßen, als ein Hinweis darauf
Christian Scherrer
besonders dort, wo die (negative) Konstruktionswahrheit als Deutungsansatz versagt, zum Vorschein kommt: nämlich der visuellen Gestaltung und Strukturierung von Raum. So betont die Verkröpfung an den Ecken der Hauptfassade nicht nur die Körperlichkeit des Kleides aus Kalkverputz. Durch den spitzen Winkel der Ecken reflektiert die Fassade den Umriss des Platzes, dessen räumlichen Abschluss sie bildet. Die abgewinkelten Ecken verweisen zugleich nach hinten ins Gebäudeinnere, wohin die Besuchenden gelangen, indem sie ihnen folgend die Kolonnade durchschreiten Abb. 2: Adolf Loos, Geschäftshaus für Goldman & Salatsch, Detailaufnahme des Eingangsportals am Michaelerplatz und der Ladenzone zur Herrengasse, ca. 1912
und zwischen einschwingenden Auslagenfenstern durch das Nadelöhr einer relativ schmalen Tür eintreten. Die Verkantung der Gebäudeecken sowie das Säulenportal mit zurückversetzter Auslage, das alleine
gedeutet werden, dass hier keine tragenden Elemente
die aufwendige Rahmenkonstruktion motiviert hat,
präsent sind: denn die Konstruktionslogik verbietet,
dienen zusammen mit anderen Details sowohl dem
dass belastete Elemente über einer Fensteröffnung in
Bezug zum öffentlichen Raum und seiner Gestaltung
deren Mittelachse eine Fuge aufweisen oder beider-
sowie der Herstellung visueller Grenzen und Schwellen
seits innerhalb der seitlichen Auflager in vertikalen
zwischen Außen- und Innenraum.
Fugen enden. Doch selbst die Platzierung vertikaler
Im Inneren des Gebäudes – genauer: im Mezza-
Fugen hat Loos, wie die häufige Spiegelung der
nin des ehemaligen Schneidersalons auf der Seite zum
Steinmaserung an ihnen bezeugt, insbesondere zur
Kohlmarkt (Abb. 3, rechts oben) – hat Loos einen
Betonung von Symmetrieachsen gedient, die durch die
Raum entworfen, der zu Recht als dessen Herz
Anordnung und Dimensionierung der Fassadenöffnun-
bezeichnet werden kann. Sein Entwurf zeigt, wie weit
gen vorgegeben waren.
der Antagonismus zwischen Bekleidungsprinzip und Konstruktionswahrheit bei Loos geht und wie eng der
Das K l e i d des Raums
Aspekt der Raumgestaltung an seine textile Konzeption von Architektur geknüpft ist. Es handelt sich bei diesem erstaunlich vernachlässigten Raum ausgerech-
Loos’ Fassade lässt sich aus dem Blickwinkel
net um das ehemalige Stofflager des Schneidersalons,
der – wenn auch negativ gewendeten – Konstrukti-
wo Kunden sich für ihre neuen Kleider Stoffe vorfüh-
onswahrheit daher kaum verstehen. Ihre sichtbaren
ren und Maß an sich nehmen ließen. Die einzige
Elemente sind zwar größtenteils als Bekleidung, die
Aufnahme vom ursprünglichen Zustand dieses Raums
nicht trägt oder tragen kann, erkennbar und zwar ohne
stammt aus einer Broschüre der Firma Goldman &
im Kontrast zu Elementen, die als tragende ausgewie-
Salatsch, die kurz nach der Eröffnung des neuen
sen werden, aufzutreten. Die Bekleidung der Fassade
Geschäftslokals produziert wurde (Abb. 4). Sie vermit-
dient jedoch im Grunde einem anderen Zweck, der
telt uns nicht nur den einst buchstäblich textilen
Das Prinzip der Bekleidung in Adolf Loos’ Haus für Goldman & Salatsch
199
unteren Ebene sich an der Stelle befinden sollen, wo Loos schließlich ein alle drei Mezzaninebenen verbindendes Stoffregal geplant hat. Dieses bildet im Endentwurf eine zusätzliche Wand zwischen einer der verkleideten Stützen des quadratischen Rasters der Hauptebene und dem ‚aus dem Raster gedrehten‘ hohlen Pfeiler (Abb. 3: im Plan nachträglich eingezeichnet). Loos scheint die in den ersten Einreichplänen von 1910 dokumentierte Variante offenbar aufgegeben zu haben, um diesem Raum trotz des unregelmäßigen Grundrisses eine einheitlichere Abb. 3: Adolf Loos, Geschäftshaus für Goldman & Salatsch, Grundriss der Mezzanin-Galerie samt Deckenkonstruktion, ca. 1910/11, Druck mit händisch hinzugefügten Bleistiftskizzen, 70,5 x 99,0 cm, Graphische Sammlung Albertina, Wien
Gestalt und Identität sowie durch bessere Abschirmung von Buchhaltung und Empfangsraum mehr Intimität zu verleihen und auch um seine Raumhöhe besser für die Zwecke der Lagerung und Ausstellung von Stoffen nutzen zu können.
Charakter dieses Raums – an mehreren Seiten bildeten von oben bis unten mit Stoffen befüllte Regale die
Wiederholung der Bekleidung eines konstruktiven
Wände, Vorhänge und Gardinen waren vor den
Gliedes in Absehung von deren Kern. Er hat nicht nur
Fenstern angebracht und der Boden der Mezzaninga-
den inneren Unterschied zwischen diesen beiden
lerie mit Teppich bespannt. Sie ist zudem eines der
Pfeilern unterschlagen, sondern auch auf subtile Weise
seltenen Zeugnisse in der Loos-Literatur von einem
die Wirkung des konstruktiven Glieds durch seinen
‚Pfeiler‘ aus Brettern mit Mahagoni-Furnier (als dunkle
hohlen Doppelgänger beeinflusst. Beim Betreten des
Fläche neben den links sich stapelnden Stoffballen
Stofflagers über die Galerie scheint der ‚echte‘ Pfeiler,
erkennbar). Dieser Wandpfeiler ist gänzlich hohl, also
dem Winkel des hohlen zur Stoffwand folgend, sich
reines Kleid.
ebenfalls aus dem Raster zu drehen. Er fungiert somit
Die Genese des endgültigen Entwurfs des
als kippbildartiges Scharnier, das zwischen beiden
Stofflagers und dieses von der Literatur vernachlässig-
Räumen vermittelt, in ihnen jedoch jeweils unter-
ten (oder geradezu verdrängten) Details kann anhand
schiedlich ausgerichtet erscheint.
11
der erhaltenen Pläne und Skizzen gut nachvollzogen
Durch den Einsatz zusätzlicher Elemente zur
werden. Bereits in den ersten Entwurfsstadien war
Stoffwand erhält der Raum eine visuelle Einheit, die
für diesen komplizierten, da unregelmäßigen Grund-
ihm sonst fehlte. Wie vor Ort und in Aufnahmen vom
rissteil auf der Seite des Kohlmarkts eine Aufteilung
heutigen Zustand des Stofflagers zu sehen ist (Abb. 5
des Mezzanins in jeweils eine gegenüber seiner
und 6), wird er durch deren Zusammenspiel annähernd
Hauptebene etwas tiefer und eine etwas höher
symmetrisch zentriert, regelmäßig strukturiert und von
gelegene Ebene geplant. Zunächst hätten alle Seiten
der angrenzenden Hauptebene des Mezzanins
der oberhalb liegenden Galerie parallel zu den Grund-
abgehoben: Die im gleichen Winkel zur hohen Stoff-
stücksgrenzen verlaufen und die kurze Treppe zur
wand ausgerichteten Pfeiler und dicken Deckenbalken
12
13
200
Loos hatte dabei keinerlei Skrupel vor der
Christian Scherrer
Abb. 4: Adolf Loos, Geschäftshaus für Goldman & Salatsch, Aufnahme vom ursprünglichen Zustand des Stofflagers aus einer Broschüre der Auftraggeber, ca. 1911/12, Graphische Sammlung Albertina, Wien
teilen mit dem unregelmäßigen Oktogon der Galerie
Vor Ort fällt es allerdings schwer, beide Seiten des
eine Symmetrieachse, die durch einen der sechs
Raums und den Verlauf der relativ dicht platzierten
schlankeren, orthogonal zur Fassade liegenden
Deckenbalken auf einen Blick zu erfassen. Der
Deckenbalken markiert wird und die Raumlänge
Achsensprung wird erst bemerkbar, wenn man
annähernd mittig teilt. Die regelmäßig angeordneten,
aufmerksam die Position der Enden einzelner Balken
parallelen Deckenbalken strukturieren aber nicht nur
auf beiden Seiten vergleicht oder einen Blick durch die
den Raum, sie verwischen zugleich den Unterschied
bei der Restaurierung installierte Spiegelwand auf sie
zwischen zwei dominierenden Symmetrieachsen. Die
wirft. Diese ‚Balken‘ sind offenbar ebenso hohl wie der
von Pfeilern eingefasste Stoffwand liegt zwar parallel
rechte Pfeiler der Stoffwand. Ihre Lage stimmt mit
zur Innenwand der Fassade, doch ihre Symmetrieachse
jener der in Abb. 3 eingezeichneten Unterzüge der
entspricht nicht jener der beiden gegenüberliegenden
Deckenkonstruktion an keiner Stelle überein. Sie sind
Baywindows (Abb. 3 und 5). In Loos’ Plänen und
weit davon entfernt, die Konstruktion auszudrücken,
Skizzen sticht dieser Achsensprung sofort ins Auge.
sondern dienen allein der Gestaltung des Raums.
Das Prinzip der Bekleidung in Adolf Loos’ Haus für Goldman & Salatsch
201
Abb. 5: Adolf Loos, Geschäftshaus für Goldman & Salatsch, Ansicht vom heutigen Zustand der Hauptebene des Mezzanins und der Regalwand des ehemaligen Stofflagers
Die architektonische Bekleidung, wie Loos sie
202
Abb. 6: Adolf Loos, Geschäftshaus für Goldman & Salatsch, Ansicht vom heutigen Zustand der Mezzaningalerie, Regalwand und Deckenbalken des ehemaligen Stofflagers
Oberflächen, die vollkommen glatt sind und keinerlei
aufgefasst und gestaltet hat, lässt sich ebenso wenig als
Kontrastierung von bekleidenden und konstruktiven
Ausdruck tektonischer Verhältnisse des Tragens oder
Elementen aufweisen, als nackt missverstanden werden.
Nicht-Tragens definieren wie als Bekleidung der Konst-
Andererseits hat Loos dort, wo es ihm für die Zwecke
ruktion. Loos denkt das architektonische Kleid strikt in
der Raumgestaltung notwendig erschien (wie etwa im
Hinblick auf den Raum, den es gestaltet. Architektur ist
Stofflager), die Verbindung von reiner Bekleidung mit
für ihn daher der Stoff, aus dem die Räume sind. Eine
konstruktiven Formen in Kauf genommen. Sein Ge-
auf die Konstruktion hin transparente Architektur hat
schäftshaus für Goldman & Salatsch bleibt nichtsdesto-
Loos abgelehnt und ihr das Bekleidungsprinzip entge-
weniger ein Zeugnis des konsequenten Versuchs, einer
gengehalten, weil sie in seinen Augen die primären
am Primat der Konstruktion, am Ausdrucksparadigma
Zwecke der Bekleidung zu unterwandern droht. Zwei
und an Nacktheit orientierten Moderne eine vom
Spannungen ergeben sich jedoch aus seiner Umsetzung
Prinzip der Bekleidung hergeleitete Architektur ent
des Bekleidungsprinzips für dasselbe. Einerseits können
gegenzuhalten.14
Christian Scherrer
1
An m e r k u ngen
sen Bau kritisiert. Siehe Joseph August Lux: Wiener Kunstsorgen, in:
Adolf Loos: Nacktheit, in ders.: Gesammelte Schriften, hg. von
diesen Hinweis verdanke ich Markus Kristan. Zum konfliktreichen Ver-
Neues Wiener Tagblatt, 30.11.1911, S. 1, Sp. 1–3; S. 3, Sp. 1–3. Auch
Adolf Opel, Wien 2010, S. 592.
hältnis zwischen Loos und Lux siehe Ruth Hanisch: Moderne vor Ort:
2
Wiener Architektur 1889–1938, Wien/Köln/Weimar 2018, S. 263–274.
Der Topos von der Entwicklung moderner Architektur als fort-
schreitende Entkleidung von Unwesentlichem und historischen Hüllen
10
wurde von Werner Oechslin kritisch untersucht. Vgl. Werner Oechslin:
Entwurf und die ihm zugrundeliegende Wahrheitskonzeption über den
Stilhülse und Kern. Otto Wagner, Adolf Loos und der evolutionäre Weg
Begriff der „honest mask“ zu analysieren. Topps Lektüre unterscheidet
zur modernen Architektur, Zürich 1994. Das Bild von Loos als Anhänger
sich von meiner, indem sie sich einer undifferenzierten Konzeption von
von architektonischer Blöße wird in dieser Studie jedoch kaum hinter-
Materialwahrheit bedient und Loos’ Entwurf als letztlich doch um (ne-
fragt. Auch wird Loos eingereiht in eine von Tektonik und Baumassen
gative) Konstruktionswahrheit bemüht darstellt. So schreibt Topp: „In
als Wesen der Architektur ausgehenden Tradition, die laut Oechslin von
the public areas of Goldman & Salatsch shop, the […] structure is ex-
Laugier, Boullée und Bötticher über Wagner bis hin zu Le Corbusier
pressed: the reinforced concrete supports and ceiling beams are ‚hon-
reicht und sich für die Beziehung von äußerer Kunstform und innerem
estly‘ clad (the mahagony is clearly non-structural cladding) and the di-
Kern oder gedachter Leistungsform interessiert. Weshalb mir diese
viding walls and ceiling filling are clearly shown to be structurally
Einordnung irreführend scheint, hoffe ich im Folgenden plausibel ma-
subsidiary.“ Vgl. Leslie Topp: Architecture and Truth in Fin-de-siècle Vi-
chen zu können. Auch Julius Posener, dessen Betrachtungen zu Loos’
enna, Cambridge 2004, S. 161 f. In ihrer nach wie vor maßgeblichen
Schriften und Bauten in vielem treffender sind, meinte, dass dieser in
Studie zum Looshaus betonen Czech und Mistelbauer an den einge-
seinem Entwurf für Goldman & Salatsch „die Architektur nackt ausge-
setzten Säulen des Hauptportals den Eindruck der Entlastung, ohne ihn
zogen“ habe und wider Willen zum Vorboten von Nacktheit ohne Archi-
jedoch einer klaren Absicht zuzuschreiben oder auf den Achsensprung
tektur geworden sei. Vgl. Julius Posener: Vorlesungen zur Geschichte
zurückzuführen. Diesen leiten sie plausibel vom Aufeinandertreffen des
der Neuen Architektur, Bd. 2, Aachen 2013, S. 162–169.
regelmäßigen Fensterrasters, das die Homogenität der Wohneinheiten
3 4
Le Corbusier: Vers une Architecture, Paris 1924, S. 16.
unterstreichen soll, und der für das Portal notwendigen, breiteren Säu-
Adolf Loos: Das Prinzip der Bekleidung, in ders. 2010 (wie
lenanordnung her. Vgl. Hermann Czech und Wolfgang Mistelbauer: Das
Dazu scheint Leslie Topp in ihrem Versuch zu tendieren, Loos’
Anm. 1), S. 141.
Looshaus, Wien 1977, S. 112 ff. Marco Pogacnik hat in einem wichtigen
5 6
Ebd., S. 143.
Beitrag zur Chronologie und Analyse der Stadien des Fassadenentwurfs
Adolf Loos: Die alte und die neue Richtung der Baukunst, in
die tektonische Entlastung der Säulen vor allem in Hinblick auf den mit
ders. 2010 (wie Anm. 1), S. 199.
Kupferblech verkleideten „Architrav“ diskutiert. Dieser trägt zwar
7
Für eine Auseinandersetzung mit kulturkritischen Aspekten in
ebenso wenig wie die Säulen unter ihm, doch seine Ähnlichkeit mit ei-
Loos’ Schriften zur Bekleidung siehe Janet Stewart: Fashioning Vienna.
nem Eisenträger sowie seine Verlängerung in die Seitenpfeiler, in die er
Adolf Loos’s Cultural Criticism, New York/London 2000; zu Loos’ Ver-
eingespannt erscheint, würden ihm laut Pogacnik tragenden Charakter
hältnis zu seinen jüdischen Auftraggebern und den identitätspoliti-
verleihen. Ich würde darin zustimmen, dass der „eingespannte“ Archi-
schen Implikationen seiner Auffassung von moderner Architektur und
trav die Säulen optisch zusätzlich entlastet, doch scheint mir die Last
Bekleidung siehe Elana Shapira: Style and Seduction. Jewish Patrons,
der kurzen Pfeiler und des großen Gesimses über ihm bereits durch den
Architecture, and Design in Fin de Siècle Vienna, Waltham 2016,
Achsensprung gegenüber der oberen Fassade ausreichend dementiert,
S. 115–165.
um ihn als nicht-tragendes Geschossband wahrzunehmen. Vgl. Marco
8
Pogacnik: Adolf Loos und Wien, Salzburg/Wien 2011, S. 128 ff.
Dort heißt es: „Der Architekt hatte […] im Parterre vier Marmor-
sälen angeordnet, über welchen sich die ganze Front aufbauen sollte.
11
Diese Säulen durften jedoch nicht belastet werden und mußte [sic!]
Loos-Literatur findet sich in Rukschcios Dissertation. Siehe Burkhardt
daher die ganze Front auf eine lichte Spannweite von 14,05 m durch
Rukschcio: Studien zu Entwürfen, Projekten und ausgeführten Bauten
eine Eisenbetonkonstruktion auf die beiden Eckpfeiler übertragen wer-
von Adolf Loos (1870–1933), unpubl. Diss. Univ. Wien 1973, S. 70.
Der einzige Verweis auf diesen Hohlpfeiler in der gesamten
den.“ Vgl. Österreichischer Betonverein: Bericht über die IV. ordentliche
12
Hauptversammlung, 15.4.1912, Wien 1912, S. 156 f. Ich danke Markus
tation sind dazu die bei Czech/Mistelbauer publizierten Einreichpläne
Kristan für die Mitteilung seiner Entdeckung.
behilflich. Siehe Czech/Mistelbauer 1977 (wie Anm. 10), S. 18–23;
9
Diese Kritik, auf die Loos Ende 1910 in seinem berühmten
ebenso die teilweise von Christopher Long publizierten Entwurfsskizzen
Lichtbildvortrag zur Verteidigung des Gebäudes explizit Bezug nahm,
aus dem Loos-Archiv der Albertina Wien. Vgl. Christopher Long: The
wurde etwa von dem Kulturpublizisten und Wagner-Anhänger Joseph
Looshaus, New Haven/London 2011, S. 42–52.
Neben den diesbezüglichen Anmerkungen in Rukschcios Disser-
August Lux geäußert. Lux war damals zum radikalen Fürsprecher einer
13
Ingenieursästhetik geworden, hatte im selben Jahr ein Buch mit diesem
drei Ebenen als seinen ersten Versuch einer „Lösung des Grundrisses
Titel publiziert und kurz vor Loos’ Vortrag in einem Zeitungsartikel des-
im Raum“. Siehe dazu Christopher Long: The New Space: Movement
Loos verweist später auf diese Aufgliederung des Mezzanins in
Das Prinzip der Bekleidung in Adolf Loos’ Haus für Goldman & Salatsch
203
204
and Experience in Viennese Modern Architecture, New Haven/London
siehe Alfonso Díaz Segura, Ricardo Merí de la Maza und Bartolomé
2016, S. 39–64; allgemein zur Entwicklung und Umsetzung des soge-
Serra Soriano: La construcción del Raumplan, in: rita_ Revista indexada
nannten „Raumplans“ in Loos’ Architektur siehe Adolf Loos 1870–1933.
de textos académicos, Bd. 1, 2014, S. 60–69.
Raumplan – Wohnungsbau, hg. v. Dietrich Worbs, Ausst.-Kat. Akade-
14
mie der Künste Berlin, Berlin 1983; sowie Johan van der Beek: Adolf
ken und Architektur habe ich aus Vorlesungen und dem Buch Wittgen-
Loos – Patterns of Town Houses, in: Max Risselada (Hg.): Raumplan
steins Grenze (Wien 1994) von Richard Heinrich erhalten, dem ich die-
Versus Plan Libre. Adolf Loos and Le Corbusier 1919–1930, Delft
sen Text widme. Ich bedanke mich bei Stefanie Kitzberger, Markus
1988, S. 27–46. Zum Verhältnis von Raumplan, Bekleidung und Kon-
Kristan, Wolfram Pichler, Burkhardt Rukschcio und Meredith Stadler
struktion in Loos’ letztem großen Entwurf, der Villa Müller in Prag,
für deren Kommentare während der Textgenese.
Christian Scherrer
Wichtige Anregungen für meine Beschäftigung mit Loos’ Den-
dafür, dass ihre Textilkunst in Vergessenheit geriet: Nur noch wenige textile Arbeiten von Dicker sind erhalten; während der Arbeitsgemeinschaft mit ihrem Partner Franz Singer stand sie in der Öffentlichkeit in dessen Schatten; die Geschichte der Pausa A.G., deren jüdische Inhaber_innen die Nationalsozialisten 1936 enteignet hatten, wurde erst in den 2000er Jahren aufgearbeitet; und Friedl Dickers Karriere selbst durch den Nationalsozialismus beendet.4 Es gilt daher
Die Textilien der Bauhaus-Künstlerin Friedl Dicker: Raumgestaltungen und Möbeldesign Katharina Hövelmann
zunächst die einzelnen Schaffensphasen ihres textilen Werks chronologisch zu rekonstruieren, um es in eine ‚textile Moderne‘ einordnen zu können.
Ausbi ldung i n Wi en und a m Ba uha us Obschon die in Wien geborene Dicker vielseitig begabt war, ist eine kontinuierliche Ausbildung im
Mit der Bauhaus-Weberei werden in erster Linie
Bereich Textil von 1915 bis 1923 belegt. Nach einer
Namen wie Anni Albers, Benita Otte oder Gunta Stölzl
Ausbildung als Reproduktionstechnikerin an der
in Verbindung gebracht. Die Bauhauskünstlerin Friedl
Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien von
Dicker findet hingegen im Kontext der Textilwerkstätte
1912 bis 1915 besuchte sie acht Monate bis zum
am Bauhaus kaum Erwähnung in der Literatur.1 Bisher
Sommer 1916 die Textilklasse an der Wiener Kunstge-
konzentrierte sich die Beschäftigung mit Dicker
werbeschule unter der Textil-, Teppich- und Gobelin-
vorwiegend auf ihre malerische und kunstpädagogi-
spezialistin Rosalia Rothansl. Aus dem Unterricht hat
sche Tätigkeit. Eine verstärkte Hinwendung auf jenen
sich die Fotografie einer von Dicker angefertigten
Gebieten setzte bei ihr jedoch erst ab den 1930er
Leinenstickerei Christus auf dem Ölberge erhalten.5
Jahren ein, zuvor konzentrierte sie sich beruflich
Nebenher belegte sie Kurse bei Franz Cizek, der an der
überwiegend auf den Bereich der angewandten Kunst,
Kunstgewerbeschule einen Kurs für „Ornamentale
insbesondere auf das Textile. Am Bauhaus zählte sie zu
Formenlehre“ abhielt. In allen Bewertungskriterien der
den ersten Schüler_innen der Weberei und war später
Werkstätte für Textilarbeiten wurde sie mit der Note
beruflich in diesem Bereich erfolgreich tätig: Zum
Eins beurteilt.6 Ab der zweiten Jahreshälfte 1916
einen in Arbeitsgemeinschaften mit ihrem Künstlerkol-
besuchte sie den privaten Kunstunterricht des Malers
legen Franz Singer und zum anderen indem sie von der
Johannes Itten in Wien, der eine ganzheitliche,
wegweisenden deutschen Textilfirma Pausa A.G. als
künstlerische Erziehung anstrebte. Friedl Dicker und
erste Entwerferin mit Bauhaus-Ausbildung herangezo-
Franz Singer, die später künstlerisch zusammenarbei-
gen wurde. Mehrere Faktoren sind ausschlaggebend
teten und eine Liebesbeziehung eingingen, lernten
2
3
Die Textilien der Bauhaus-Künstlerin Friedl Dicker: Raumgestaltungen und Möbeldesign
205
sich in der Kunstschule Ittens kennen. Mit ihrer
Die im Gründungsmanifest postulierte gleichbe-
Freundin Anny Wottitz, ebenfalls Itten-Schülerin,
rechtigte Ausbildung führte dazu, dass der Frauenan-
richtete Dicker sich ein Atelier ein, in dem sie „mod.
teil am Bauhaus relativ groß war.15 Die Gleichberechti-
[erne] Holz- und Batikarbeiten, Stickereien [und]
gung existierte jedoch weder formal noch in den
Zeichnungen“ ausstellten. Dicker beschreibt diese
Köpfen des vorwiegend männlichen Lehrkörpers, und
Zeit rückblickend 1922/1923 an ihre Freundin
so hatten sich die Formmeister 1920 dazu entschlos-
Wottitz: „Damals war es schön. Man hatte einen
sen eine ‚Frauenabteilung‘ einzurichten, die nach der
Grund und Boden; Itten. Opposition als einzigen
Neuregelung des Lehrbetriebs 1921 in der bereits
Gradmesser, Mut, der alle Verwirrung nicht gekannt
1919 gegründeten Weberei aufging.16 Einige Frauen
oder unterschätzt hat; einfach sich.“8
besuchten auch die Töpferei oder die Buchbinderei wie
7
Johannes Itten wurde 1919 Lehrkraft am neu
Dickers Freundin Anny Wottitz. Der Besuch anderer
gegründeten Staatlichen Bauhaus in Weimar. Friedl
Bauhaus-Werkstätten war im Prinzip nicht vorgesehen.
Dicker, Franz Singer und weitere seiner Wiener
Eine Ausnahme bildet hier Marianne Brandt, die in der
Schüler_innen wie Anny Wottitz folgten ihm im Herbst
Metallwerkstatt ausgebildet wurde.
9
1919 dorthin. Der Bauhaus-Student Erich Pfeiffer-Belli berichtet über die Neuankömmlinge aus der österrei-
chen Studierenden ab Wintersemester 1919/1920 die
chischen Hauptstadt: „Diese Handvoll Wiener brachte
Weberei, die zunächst formal von Itten und ab 1921
in die sehr deutsche, eher schwerblütige Welt des
von Georg Muche geleitet wurde. Handwerksmeisterin
Bauhauses einen Schuß musischer Heiterkeit, ein Gran
war Helene Börner, die bereits in van de Veldes
Literatur und gar nicht wenig graziösen Wiener Humor.
Vorgängerschule die Weberei betrieben hatte.
Sie waren ohne Zweifel eine große Bereicherung, [...].“
10
Ittens zunächst einmal wöchentlich am Bauhaus
Dicker arbeitete auch in der 1921 gegründeten Bühnenwerkstatt unter Lothar Schreyer und Oskar
stattfindender Unterricht sollte die „schöpferischen
Schlemmer, in der Druckerei für Ittens 1921 erschie-
Kräfte und damit die künstlerische Begabung der
nene Publikation Utopia –Dokumente der Wirklichkeit
Lernenden“ freimachen, wobei die „Material- und
und entwarf die aus Metallröhren und -kugeln konstru-
Texturübungen“ die Wahl einer Werkstätte zur
ierte Plastik Anna Selbdritt. Ihre künstlerische Vielseitig-
Fortsetzung des Studiums erleichtern sollten. Itten
keit und Produktivität wurden vom Bauhaus finanziell
begann seinen Unterricht mit gymnastischen Übungen
gefördert. Dies belegen die Hinweise auf Zuteilungen
zur Lockerung und Einstimmung auf die anschließen-
für Stipendien und Freistellungen von der Bezahlung
den Rhythmusstudien.12 Er übernahm Adolf Hölzels
des Lehrgeldes und der Beschluss, ihr ein eigenes
Kontrastlehre, die auf Goethe zurückgehende Farben-
Atelier zuzuweisen.17 In dem 1923 erschienenen Buch
kontrastlehre und die Material-Studien.13 Die Bildana-
Staatliches Bauhaus Weimar 1919–1923 sind von Dicker
lysen nach alten Meistern dienten einer gefühlsmäßi-
die Studie Helldunkel Verwerfung und zwei Aquarelle
gen Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk und beim
abgedruckt.18 Letztere lassen die Auseinandersetzung
Aktzeichnen wurde das Augenmerk auf „Ausdrucks-
mit Paul Klees Werken erkennen; dieser unterrichtete
form“ und „innere Bewegung“ gelegt. Dicker genoss
ab 1921 am Bauhaus „Bildnerische Formlehre“.
11
14
bei Itten also eine ganzheitliche ästhetische Erziehung, die Körper und Geist gleichermaßen einbezog.
206
Auch Dicker besuchte wie die meisten weibli-
Katharina Hövelmann
In den Bauhaus-Alben, mit denen exemplarische Werke des Bauhauses dokumentiert wurden, sind zwei
Abb. 1: Friedl Dicker, Wandteppich, 1920–1924, Bauhaus-Album, Bauhaus-Universität Weimar, Archiv der Moderne
Wandteppiche Friedl Dickers aus der Zeit 1920 bis
teils flache und in Flor ausgeführte Gewebepartien.
1924 aufgenommen, die heute nicht mehr erhalten
Vergleicht man diese Teppiche Dickers mit dem ersten
sind. Die Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen einen
1920 am Bauhaus entstandenen Webteppich ihrer
collageartigen Knüpfteppich mit abstrakten Formen
Studienkollegin Gunta Stölzl, so fallen Übereinstim-
einer Berg- und Flusslandschaft sowie einen Wandtep-
mungen in den teils noch gegenständlichen Motiven
pich, der eine Reihe kegel- und tafelförmiger Berge,
(Kühe), der Komposition und dem spielerischen
kugelförmige Baumkronen und gestaffelte Grabmäler
Umgang mit Bildwirkerei- und Webtechniken auf.
erkennen lässt (Abb. 1). Nach Ittens Kontrastlehre
Aus dem Protokoll einer Meisterratssitzung vom
geben Hell-Dunkel-Kontraste und verschiedene
2. Februar 1921 geht hervor, dass Dickers Textilarbei-
Materialien den Kompositionen Reliefwirkung durch
ten besonders geschätzt wurden: „Ankäufe von
Die Textilien der Bauhaus-Künstlerin Friedl Dicker: Raumgestaltungen und Möbeldesign
207
Schülerarbeiten. Es kommt als fertige Arbeit ein
Vordergrund stand. Ehemalige Bauhaus-Studierende
Teppich von Frl. Dicker zur Vorlage. Frl. Dicker hat den
wie der Silberschmied Naum Slutzky, die Kunststicke-
Wunsch, dieses Stück anderweit zu verkaufen, da sie
rin Hedwig Arnheim-Dülberg und die Buchbinderin
sich hierbei einen größeren Erlös verspricht, als das
Anny Wottitz schlossen sich den Werkstätten an.
Bauhaus zahlen dürfte. [...] Es müsse verhütet werden,
Dicker arbeitete in der Weberei, in der zeitweise neun
daß gerade die besten Arbeiten dem Bauhaus verlustig
Personen beschäftigt waren.24 Zum Angebot der
gehen, dieses käme dann nie in die Lage, eine Samm-
Textilabteilung gehörten Spitzendeckchen, Stickereiar-
lung hochwertiger Erzeugnisse zu besitzen. [...] Er
beiten, in Spritztechnik gestaltete Tücher, abstrakt
[Gropius] schlägt vor, Frl. Dicker den Arbeitswert des
gemusterte Stoffe und fünf Wandteppiche, von denen
Teppichs mit M[ark] 2000,– zu zahlen, womit der
noch drei erhalten sind. Die kunsthandwerklichen
Meisterrat einverstanden ist.“19 In einem Brief geht
Erzeugnisse wurden auf Messen in Berlin, Frankfurt
Dicker auf diesen Verkauf ein: „Für den Teppich (hab)
und Leipzig ausgestellt.25 Auf der Zweiten Deutschen
werd ich 2000 M[ark] bekommen. Na Schwamm
Spitzenmesse 1924 in Berlin wurde den Werkstätten
drüber. Uns ist es nicht bestimmt irgendwie reich zu
Bildender Kunst für die ausgestellten Textilien „als
werden [...].“20 Die gewinnbringende Veräußerung
Anerkennung für hervorragende Leistungen“ ein
wurde demzufolge von der Schule verhindert. Es war
Ehrendiplom verliehen.26
auch üblich, die Textilarbeiten ohne Namensnennung
Einer der noch erhaltenen Wandbehänge von
auszustellen und zu verkaufen, die Idee des Bauhauses
Dicker zeigt eine fantasiereiche Stickerei. Eingefasst
und des Produkts sollten vor die Urheberin gestellt
von einer rot-grauen Stoffbordüre – gleich einem
werden.
Bilderrahmen – winden sich um ein trichterförmiges
21
Gebilde auf dunklem Grund explosionsartig farbige
Be ruf liche Anfänge in Berli n
Tiere, Menschen, Bälle, Wellen und ein Krug empor (Abb. 2). Der Kunsthistoriker Hans Hildebrandt verstand die „neue Entfaltung des Wandteppichs“ als eine „Abart
Gemeinsam mit Franz Singer verließ Friedl Dicker im Herbst 1923 das Bauhaus Richtung Berlin, wo sie
Stölzl bezeichnete die am frühen Bauhaus entstande-
die Werkstätten Bildender Kunst GmbH aufbauten, die
nen Wandbehänge als „gemalte Stoffe“28.
Singer im Juni 1923 gegründet hatte.22 Es wurden eine
208
des Wandgemäldes“27, und auch die Weberin Gunta
Eine Auseinandersetzung mit dem Konstruktivis-
Tischlerei, eine Weberei, eine Stoffspritzerei, eine
mus lässt sich deutlich an einem von Dicker 1924
Buchbinderei und eine Goldschmiedewerkstätte
entworfenen Baumwollwebstoff mit geometrischem
eingerichtet. Mit den Werkstätten wurde – wie mit
Muster erkennen (Abb. 3). Grundlage ist ein Mäander-
dem Namen Werkstätten Bildender Kunst zum
bandmotiv, das von Dicker auch für ein Webmuster
Ausdruck kommt – eine künstlerische Ausrichtung
und einen Stoffentwurf aufgegriffen wurde, der 1926
verfolgt. Das am Bauhaus ab 1923 ausgerufene
in der Zeitschrift Stickereien und Spitzen unter dem
Leitmotiv „Kunst und Technik – eine neue Einheit“23
Titel Der endlose Irrgarten veröffentlicht wurde.29 Bei
wurde demzufolge nicht angestrebt, sondern die Idee
dem erhaltenen Stoff in den Farbtönen Blau, Grün,
des frühen Bauhauses weiter fortgesetzt, bei dem das
Braun, Beige und Weiß sind kleine rote und schwarze
künstlerische, handwerklich gefertigte Einzelstück im
Quadrate eingearbeitet, die teilweise mit einem Kreuz
Katharina Hövelmann
Abb. 2: Friedl Dicker, Wandbehang, um 1924/25, Stickerei auf Stoff, 34,5 x 27,2 cm, Privatsammlung
versehen sind.30 Unterschiedliche Webrichtungen
Weber_innen inspirierend waren.31 Bezüge zu Klee
geben dem Stoff in Leinwandbindung zusätzliche
finden sich auch bei dem von Friedl Dicker mit Anny
Struktur. Der Entwurf lässt zudem eine Beschäftigung
Wottitz entworfenen Bucheinband aus Stoffapplikati-
mit Paul Klees Quadratbildern erkennen, in denen
onen für den Roman Die kleine Stadt von Charles-Louis
Prinzipien wie Spiegelung, Drehung und Verschiebung
Philippe.32 Dicker und ihre Bauhaus-Kolleg_innen
angewendet werden, die auch für andere Bauhaus-
übertrugen so die Formensprache der abstrakten und
Die Textilien der Bauhaus-Künstlerin Friedl Dicker: Raumgestaltungen und Möbeldesign
209
Abb. 3: Friedl Dicker, Möbelstoff (Originalfarbe stark verblichen), 1924, handgewebte Baumwolle, Archiv Georg Schrom, Wien
konstruktivistischen Kunst in das Medium Textil, das
Kostüme für das im September 1923 im Berliner
zur Vermittlung und Verbreitung der neuen Formen-
Lustspielhaus aufgeführte Shakespeare-Stück Der
sprache beitrug.33
Kaufmann von Venedig orientierten sich formal an
In den Werkstätten entstanden zudem Kostüme
210
Kostümierungen Oskar Schlemmers. Da den Werkstät-
für das Theaterensemble „Die Truppe“ unter Berthold
ten Bildender Kunst mit der Auflösung des Theateren-
Viertel, mit dem Friedl Dicker und ihr Partner Franz
sembles nach nur acht Monaten Spielzeit einer der
Singer bereits während ihrer Studienzeit am Bauhaus
wichtigsten Auftraggeber fehlte, löste Franz Singer die
zusammengearbeitet hatten. Die ausdrucksstarken
Werkstätten schließlich 1926 wieder auf.34
Katharina Hövelmann
Wi e n e r Ateliergemeinschaf t
schiedliche Violett- und Rosatöne. Einige Elemente der heute in der Neuen Sammlung in München befindli-
Friedl Dicker zog um 1924/1925 wieder nach
chen Sitzmöbel sind zinnoberrot lackiert (Abb. 4). Die
Wien und richtete sich ein Atelier ein, dem sich Franz
Konstruktion der Stühle aus geometrischen Grundfor-
Singer um 1925 anschloss. Zunächst entstanden hier
men wie halbkreisförmiger Lehne, runden Sitzflächen
im Auftrag von Singers Schwester Frieda Russ (später
und säulenartigen Vorderbeinen wird durch Durchsich-
Stoerk) Handtaschen, die von der Verkaufsstelle des
ten zwischen den einzelnen Elementen betont und
Österreichischen Werkbunds in Kommission genom-
verweist auf am Bauhaus entstandene Möbelentwürfe.
men wurden. In einem kürzlich aufgefundenen
Mit dem Aufbau aus Elementarformen korrespondiert
Schreiben von 1926 gab Singer an: „Textilabteilung:
die ungewöhnliche aus zusammengefügten Stoff-
Friedl Dicker, Abteilung Taschen: Frieda Russ“35.
Zylindern bestehende Polsterung. Die dunklen und
In der Folge wurde die Arbeit im Atelier durch
hellen Streifen des handgewebten Bezugsstoffs aus
den Entwurf von Möbeln, die Einrichtung von Häu-
Leinen variieren in der Breite so, dass sich beim
sern, Wohnungen, Geschäften, Kindergärten, Arztpra-
Sitzpolster eine Abstufung von dunkel zu hell ergibt.
xen und den Entwurf von Bauten erweitert. Charakte-
Solche Effekte bei Streifenstoffen sind signifikant für
ristisch waren insbesondere multifunktionale
die Leistungen der Bauhaus-Weberei und betonen
Einrichtungsgegenstände, die Dickers und Singers
Dickers dortige Ausbildung.38 Der ihr ebenso zuzu-
Wunsch einer Raumgestaltung mit unterschiedlichen
schreibende Vorhang mit einem Muster aus quadrati-
Nutzungsmöglichkeiten entsprach. Bisher war Dickers
schen Feldern fügt sich gleichermaßen in die durch
Anteil im Atelier weitgehend ungeklärt. Jüngst hat sich
Grundformen dominierte Raumgestaltung ein.
herausgestellt, dass sie offenbar insbesondere für
Weitere Bezüge zum Bauhaus lassen sich bei
Textilien wie Möbelbezugsstoffe, Gurtbespannungen,
Sitzmöbeln erkennen, die 1927 auf der Wiener
Vorhänge, Wandteppiche und Tagesdecken verant-
Kunstschau präsentiert wurden. Die Kettfäden der
wortlich war.36 Auf den erhaltenen Fotografien, mit
Bast-Bespannung waren direkt im Rahmen befestigt.
denen die Innenraumgestaltungen dokumentiert
Diese dem Afrikanischen Stuhl39 von Marcel Breuer und
wurden, sind Dicker zuzuschreibende Textilien zu
Gunta Stölzl aus dem Jahr 1921 ähnliche Bespannung
erkennen. Auf den Rückseiten der Fotos ist den –
und das verwendete Bastgeflecht zeigen einen betont
teilweise von Dicker vorgenommenen – Vermerken zu
handwerklichen Duktus, wie er für Entwürfe des
entnehmen, dass die Textilien in Handarbeit entstanden.
frühen Bauhauses kennzeichnend ist.40
37
Die 1925/1926 erfolgte Gestaltung des Damen-
Ebenfalls 1927 entstanden Sitzmöbel mit
und Herrenzimmers in der Wiener Wohnung von Anny
robusten, farbigen Gurtbespannungen, die erstmals für
Wottitz und deren Ehemann Hans Moller ist das erste
die Einraumwohnung von Hans Heller verwendet
dokumentierte Einrichtungsprojekt von Dicker und
wurden. Das Quadratmuster der verflochtenen Gurte
Singer und exemplarisch für ihr Raumgestaltungskon-
korrespondierte mit der kubischen Form der Möbel.
zept: Das Damenzimmer konnte als Wohn- und
Die roten, blauen, blaugrünen und gelben Gurte eines
Schlafzimmer genutzt werden und war farblich bis ins
noch erhaltenen Diwanbetts sind derart miteinander
Detail durchkomponiert. So zeigt der Zimmerentwurf
verwoben, dass sich ein farblich unregelmäßiges
eine Einteilung von Wänden und Decke in unter-
Quadratmuster ergibt (Abb. 5). Farblich harmonierte es
Die Textilien der Bauhaus-Künstlerin Friedl Dicker: Raumgestaltungen und Möbeldesign
211
Abb. 4: Friedl Dicker und Franz Singer, Armlehnstuhl für Anny Wottitz-Moller, 1925/26, Rotbuche, Esche, Nadelholz, Kirschholz, zinnoberroter Schleiflack, Rosshaarpolsterung, handgewebtes Leinen, 71,5 x 71 x 61 x 51 cm, Die Neue Sammlung – The Design Museum, München
Abb. 5: Friedl Dicker und Franz Singer, Diwanbett, 1927–1930, Holz, farbige Gurtbespannung, 45 x 200 x 92 cm, Archiv Georg Schrom, Wien
mit der Gestaltung des Einwohnraums. Die damit
ten die Pausa A.G. aus. Sie gehörte zu den ersten
erzielte Wirkung lässt sich einerseits auf das Bauhaus
Firmen, die in Deutschland den modernen Textildruck
zurückführen, an dem Farbe als umfassendes Gestal-
einführten.44
tungsmittel Autonomie erlangte.41 Andererseits
Laut Vertrag war Dicker zuständig für die Anferti-
entsprach die Wohnungsgestaltung auch Theo van
gung von Entwürfen für Web- und Druckstoffe sowie
Doesburgs Anspruch einer malerischen Komposition
Web- und Druck-Decken, für die Kolorierung eigener
des Raumes. So bezeichnete Singer, der in Weimar bei
und fremder Entwürfe, künstlerische Versuche an
van Doesburg studiert hatte, den Raumgestaltungs-
Maschinen, Vorschläge und Pläne für das Arrangement
entwurf für Heller als „zusammenhängende Raumkom-
von Ausstellungen, Orientierungs-Reisen im Inland und
position“ .
Ausland und war berechtigt, Pausa-Stoffe nach ihren
42
eigenen Ideen zu entwerfen und auszuführen.45 Welche
Pa usa A .G .
Stoffe Dicker tatsächlich für die Firma entwarf, ist bislang ungeklärt. Eine in Wien erhaltene Stoffmustersammlung verdeutlicht Dickers textile Material- und
Vom 1. Juli 1928 bis April 1930 arbeitete Dicker
212
Technikexperimente. Neben Baumwolle und Wolle sind
neben ihrer Tätigkeit für das Wiener Atelier als
Chenille, Lederbändchen und metallisch glänzende
künstlerische Mitarbeiterin für die in Stuttgart-
Fäden verarbeitet. Insbesondere zwei erhaltene Muster
Mössingen ansässige Textilfirma Pausa A.G.43, für die
für geometrische Druckstoffe lassen darauf schließen,
später auch die am Dessauer Bauhaus ausgebildeten
dass diese als Entwürfe für die Pausa A.G. entstanden
Weber_innen Lisbeth Oestreicher und Ljuba Monas-
sein könnten (Abb. 6). Auch im Archiv des Victoria &
tirskaja tätig waren. Demokratisches, interdisziplinäres
Albert Museum in London sind im Nachlass von Franz
Arbeiten, flache Hierarchien, Frauen in Führungspositi-
Singer einige Musterstücke von Web- und Chiffonstof-
onen und ein innovativer Umgang mit Technik zeichne-
fen erhalten, die Dicker entworfen haben könnte.46
Katharina Hövelmann
Partner Paul Brandeis nach Hronov und arbeitete erneut für diese Firma, in der Brandeis eine Stelle als Buchhalter antrat.49 Dicker gestaltete den Stand für die Ausstellung Výstava 38 Náchod und präsentierte dort von ihr entworfene Stoffe, für die sie eine Goldmedaille erhielt.50 Als die Besitzer der Firma vor den Nationalsozialisten nach Palästina flohen, endete ihre dortige Tätigkeit. 1942 wurden Dicker und ihr Mann ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Friedl Dicker unterrichtete dort Kinder im Zeichnen und Malen mit jenen kunsttherapeutischen Methoden, die sie bereits in Prag erfolgreich angewendet hatte, und half so den Kindern, den Alltag im Lager zeitweise zu vergessen. 1944 wurden sie und ihr Mann nach Auschwitz deportiert. Dicker wurde ermordet, ihr Mann überlebte.51 Das textile Schaffen begleitete Dickers gesamte Abb. 6: Friedl Dicker, Druckstoff, um 1928–1930, Baumwolle, Archiv Georg Schrom, Wien
berufliche Laufbahn und war ein maßgeblicher Bestandteil ihres künstlerischen Werkes. Sie hatte sich darin sowohl an der Wiener Kunstgewerbeschule als auch am Weimarer Bauhaus ausbilden lassen. Am
Em i g rati on in die Ts c h e c h o slowakei
Bauhaus, in den Werkstätten Bildender Kunst und der Wiener Ateliergemeinschaft mit Franz Singer erarbeitete Dicker künstlerisch gestaltete Einzelstücke und
1933 emigrierte Dicker nach Prag und entwarf
verwirklichte damit die Forderung des Bauhaus-
dort mit Grete Bauer-Fröhlich und Karola Bloch
Gründungsmanifests, Kunst und Handwerk zu verbin-
Wohnungseinrichtungen. Ob dabei von ihr entworfene
den. Zeitgleich mit den Entwicklungen am Dessauer
Textilien zum Einsatz kamen, muss noch offen blei-
Bauhaus gelang ihr 1928 der Schritt von der Handwe-
ben. Für die Firma B. Spiegler & Söhne mit einer
berei zum Textildesign für die industrielle Produktion.
Produktionsstätte in Hronov in Böhmen hatte Dicker
Insbesondere für die Pausa A.G. hat sie das Fundament
vermutlich bereits von 1928 bis 1930 Entwürfe
für das ästhetisch hohe Niveau dieser weltweit
angefertigt. 1938 zog sie zusammen mit ihrem neuen
erfolgreichen Textilfirma gelegt.52
47
48
Die Textilien der Bauhaus-Künstlerin Friedl Dicker: Raumgestaltungen und Möbeldesign
213
Anmerkungen 1
Vgl. Das Bauhaus webt, hg. v. Magdalena Droste und Manfred
Ebd., S. 134. Ebd., S. 134, 147–148. Anja Baumhoff: „Ich spalte den Menschen.“ Geschlechterkon-
Ludewig, Ausst.-Kat. Bauhaus-Archiv Berlin, Kunstsammlungen Wei-
zeptionen bei Johannes Itten, in: Das frühe Bauhaus und Johannes It-
mar, Berlin 1998, S. 43–44. Dicker wird hier zwar erwähnt, auf ihre
ten. Katalogbuch anläßlich des 75. Gründungsjubiläums des Staatlichen
Webarbeiten wird allerdings nicht eingegangen.
Bauhauses in Weimar, hg. v. Rolf Bothe u. a., Ausst.-Kat. Bauhaus-Ar-
2
chiv Berlin, Ostfildern-Ruit 1994, S. 91–99, hier S. 91.
Elena Makarova: Friedl Dicker-Brandeis. Ein Leben für Kunst
und Lehre. Wien, Weimar, Prag, Hronov, Theresienstadt, Auschwitz,
16
Wien u. a. 1999. Auch die jüngst erschienenen Beiträge von Elizabeth
pation, in: Peter Feierabend und Jeannine Fiedler (Hg.): Bauhaus, 4.
Otto und Anja Guttenberger greifen dieses Themenfeld erneut auf:
Auf., Köln 2002, S. 96–107, hier S. 102.
Anja Baumhoff: Frauen am Bauhaus – Ein Mythos der Emanzi-
Elizabeth Otto: Passages with Friedl Dicker-Brandeis from the Bauhaus
17
through Theresienstadt, in: dies. und Burcu Dogramaci (Hg.): Passagen
Staatliches Bauhaus Weimar 12, Bl. 83–84, 85, 105–106, 235–242, in:
des Exils. Passages of Exile (Jahrbuch Exilforschung, 35), München
Volker Wahl (Hg.): Die Meisterratsprotokolle des Staatlichen Bauhauses
2017, S. 230–251; Anja Guttenberger: Friedl Dicker, https://www.bau-
Weimar 1919 bis 1925, Weimar 2001, S. 126, 129, 143, 269.
Meisterratsprotokolle, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar,
haus100.de/das-bauhaus/koepfe/studierende/friedl-dicker/ [Abruf:
18
14.1.2019].
ches Bauhaus Weimar 1919–1923, Weimar/München 1923, S. 50,
3
205, 213.
Vgl.: Friedl Dicker, Franz Singer, hg. v. Peter Wilberg-Vignau,
Staatliches Bauhaus Weimar und Karl Nierendorf (Hg.): Staatli-
Ausst.-Kat. Bauhaus-Archiv Darmstadt, Darmstadt 1970; Franz Singer,
19
Friedl Dicker. 2 x Bauhaus in Wien, Ausst. Kat. Hochschule für Ange-
lass Walter Gropius, in: Wahl 2001 (wie Anm. 17), S. 119.
Meisterratsprotokoll, 7.2.1921, Bauhaus-Archiv Berlin, Nach-
wandte Kunst, Heiligenkreuzerhof, Wien 1988; Sabine Breer: Zwischen
20
Werkbund und Bauhaus – Die Entwerfer der Pausa in den 1920er Jah-
für angewandte Kunst, Wien, Archiv, Inv.-Nr. 12.871.
Friedl Dicker an Anny Wottitz, undatiert [um 1921], Universität
ren, in: Hermann Berner (Hg.): Stoffe ohne Ende. Die Sammlungen der
21
ehemaligen Textildruckfirma Pausa in Mössingen, Darmstadt 2015,
2002 (wie Anm. 16), S. 466–477, hier S. 473.
S. 119–135, hier S. 129.
4
Hermann Berner und Werner Fifka (Hg.): Das Bauhaus kam
22 23
Anja Baumhoff: Die Webereiwerkstatt, in: Feierabend/Fiedler Berliner-Börsenzeitung, 23.11.1923, S. 8. „Kunst und Technik – eine neue Einheit“ lautete ein Vortrag, den
nach Mössingen. Geschichte, Architektur und Design der einstigen
Gropius im Sommer 1923 anlässlich der Bauhaus-Woche hielt und der
Textilfirma Pausa, Mössingen-Talheim 2006; Irene Scherer (Hg.): Artur
fortan für das Programm des Bauhauses maßgeblich war. Siehe Hans
und Felix Löwenstein. Würdigung der Gründer der Textilfirma Pausa
Maria Wingler: Das Bauhaus 1919–1933, Weimar, Dessau, Berlin und
und geschichtliche Zusammenhänge, Mössingen-Talheim 2013.
die Nachfolge in Chicago seit 1937 (1968), 4. Aufl., Köln 2002, S. 15,
5
90.
Friedl Dicker, Christus auf dem Ölberge, Leinenstickerei, 1916,
Universität für angewandte Kunst, Wien, Fotosammlung, Inv.-Nr.
24
12912/FW.
für angewandte Kunst, Wien, Archiv, Inv.-Nr. 13.708/2.
6
Einschreibeformular von Friedl Dicker vom 16.10.1915 sowie
Einschreibekatalog der Textilklasse von 1915/1916, Universität für an-
25
Friedl Dicker an Anny Wottitz, undatiert [um 1923], Universität Friedl Dicker an Anny Wottitz, undatiert [um 1924], Universität
für angewandte Kunst, Wien, Archiv, Inv.-Nr. 13.702.
gewandte Kunst, Wien, Archiv.
26
7
Berlin, Dokumentensammlung, Franz Singer, Mappe 8.
Annonce, in: Neue Erde. Kultursozialistische Wochenschrift,
Ehrendiplom, Deutsche Spitzenmesse 1924, Bauhaus-Archiv
16.8.1919, H. 23/24, S. 193.
27
8
Handbuch der Kunstwissenschaft, Wildpark-Potsdam 1931, S. 403.
Friedl Dicker an Anny Wottitz, undatiert, [um 1922/23], Univer-
Hans Hildebrandt: Die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts.
sität für angewandte Kunst, Wien, Archiv, Inv.-Nr. 13.702/5.
28
9
reiwerkstatt des Bauhauses, in: Ausst.-Kat. Berlin 1998 (wie Anm. 1),
Eva Badura-Triska (Hg.): Johannes Itten. Tagebücher Stuttgart
1913–1916, Wien 1916–1919, Bd. 2: Kommentar, Wien 1990, S. 20.
10
Erich Pfeiffer-Belli: Junge Jahre im alten Frankfurt und eines
langen Lebens Reise, Wiesbaden/München 1986, S. 312.
11
214
13 14 15
Johannes Itten: Gestaltungs- und Formenlehre. Vorkurs am Bau-
Zit. n. Magdalena Droste: Anpassung und Eigensinn. Die Webe-
S. 11–20, hier S. 12.
29
Friedl Dicker: Der endlose Irrgarten, in: Stickereien und Spitzen,
1926, H. 2, S. 91.
30
Friedl Dicker, Stoffentwurf, Archiv Georg Schrom, Wien. In die-
haus und später, Stuttgart 2003 (Neubearb. von Anneliese Itten), S. 7.
sem Zusammenhang sei auf das 1914 entstandene Gemälde Teppich
12
Rainer Wick: Zwischen Rationalität und Spiritualität – Johannes
der Erinnerung von Paul Klee (Öl auf kreidegrundiertem Leinen, 19 x
Ittens Vorkurs am Bauhaus, in: Das frühe Bauhaus und Johannes Itten.
33 cm, Zentrum Paul Klee, Bern) verwiesen, in dem das Kreuz ebenfalls
Katalogbuch anläßlich des 75. Gründungsjubiläums des Staatlichen
verwendet wird.
Bauhauses in Weimar, hg. v. Rolf Bothe u. a., Ausst.-Kat. Bauhaus-Ar-
31
chiv Berlin, Ostfildern-Ruit 1994, S. 136.
Bauhauses, in: Ausst.-Kat. Berlin 1998 (wie Anm. 1), S. 33–41.
Katharina Hövelmann
Jenny Anger: Klees Unterricht in der Webereiwerkstatt des
32
Abb. in: Klaus-Jürgen Winkler (Hg.): Bauhaus-Alben 3. Weberei,
sie in die Buntweberei Bernheim in Mössingen, die nun unter dem Na-
Wandmalerei, Glasmalerei, Buchbinderei, Steinbildhauerei, Weimar
men Pausa A.G. mit Geschäftssitz in Stuttgart firmierte. Siehe: Berner/
2008, S. 192.
Fifka 2006 (wie Anm. 4), S. 24, 144, 156; Jacob Toury: Jüdische Textil-
33
unternehmer in Baden-Württemberg, 1683–1938, Tübingen 1984,
Gunta Stölzl. Weberei am Bauhaus und aus eigener Werkstatt,
hg. v. Magdalena Droste, Ausst.-Kat. Bauhaus-Archiv Berlin, Berlin
S. 215.
1987, S. 14.
44
34 35
Ausst.-Kat. Darmstadt 1970 (wie Anm. 3), S. 10, 61.
über die ersten Frauen in der Pausa, in: Schwäbisches Tagblatt,
Konsignation von Franz Singer, 19.2.1926, Archiv Georg
28.10.2011, https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Loewenstein-For-
Susanne Wiedmann: Löwenstein-Forschungsverein forscht
Schrom, Wien.
schungsverein-recherchiert-ueber-die-ersten-Frauen-in-der-
36
Pausa-172604.html [Abruf: 23.7.2018].
Katharina Hövelmann: Bauhaus in Wien? Möbeldesign, Raum-
gestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl
45
Dicker und Franz Singer, unpubl. Diss. Univ. Wien 2018, S. 99–114.
Archiv Mössingen, in: Scherer 2013 (wie Anm. 4), S. 343.
37
46
Bauhaus-Archiv Berlin, Fotosammlung, Franz Singer, Inv.-Nr.
Pausa A.G., Arbeitsvertrag mit Friedl Dicker, 7.6.1928, PausaStoffmustersammlung, Archiv Georg Schrom, Wien; Textilien,
7751/8, Inv.-Nr. 7751/25, Inv.-Nr. 7825/18, Inv.-Nr. 7825/47 Inv.-Nr.
Nachlass Franz Singer, Archive of Art and Design, Victoria & Albert
7825/48, Inv.-Nr. 7842/25, Inv.-Nr. 7851/16, Inv.-Nr. 7851/35, Inv.-
Museum, London, AAD 3-1982, PL 8.
Nr. 7851/39, Inv.-Nr. 7917/8, Inv.-Nr. 9420/8.
47
38 39
Droste 1998 (wie Anm. 28), S. 12.
deunterlagen Friederike [Friedl] Dicker, Wiener Stadt- und Landesar-
Abb. in: Klaus-Jürgen Winkler (Hg.): Bauhaus-Alben 1. Vorkurs,
chiv, Schriftliche Auskunft: 17.6.2011.
Laut Meldeunterlagen lebte Dicker bis Juni 1933 in Wien: Mel-
Tischlerei, Drechslerei, Holzbildhauerei, Weimar 2006, S. 77.
48
40
Da Bastfasern aus unterschiedlichen Pflanzen gewonnen wer-
der Firmensitz war in Wien und die Produktionsstätte in Hronov. 1936
den, könnte es sich um ein Gewebe aus Flachs, Jute oder Hanf gehan-
wurde die Firma von der von Hugo Moller geleiteten Textilfirma
delt haben.
S. Katzau mit Sitz in Wien und Produktionsstandort in Nachod-Babi
41
(C.S.R.) übernommen. Siehe Prager Tageblatt, 10.4.1936, S. 10.
Hajo Düchting: Farbe am Bauhaus. Synthese und Synästhesie,
Berlin 1996, S. 13.
42
Franz Singer, Einraumwohnung Hans Heller, Bauhaus-Archiv
Berlin, Fotosammlung, Inv.-Nr. 7751/68.
43
Artur und Felix Löwenstein hatten 1911 die Mechanische We-
49 50 51 52
Die Textilfirma B. Spiegler & Söhne wurde 1879/80 gegründet,
Makarova 1999 (wie Anm. 2), S. 26. Ebd. Ebd., S. 38. Scherer 2013 (wie Anm. 4), S. 360.
berei Pausa im Vogtland gepachtet, erwarben diese 1919 und verlegten
Die Textilien der Bauhaus-Künstlerin Friedl Dicker: Raumgestaltungen und Möbeldesign
215
contemporary architecture and its ancient prehistory, even defining textiles in terms of their “nomadic nature”.2 Despite this unusual approach, the essay has received little critical attention, due in part to the fact that Albers’s facility as a writer is only beginning to be recognized.3 In an attempt to correct this oversight, what follows considers Albers’s contribution to a discourse on textiles in architecture from the perspective of “The Pliable Plane”, teasing out not only its
Anni Albers’s “Pliable Plane”: Writing on Architecture and the Nomadic Textile
major themes and arguments but also the way in which it represents its subject through both text and image. “The Pliable Plane” first appeared in the journal Perspecta, a publication of Yale University’s department of architecture. Albers and her husband Josef Albers had moved to New Haven, Connecticut, in
Jordan Troeller
1950, leaving their posts at Black Mountain College in North Carolina, where they had both taught from
A prolific writer during her seven-decade-long
1933 – the year they emigrated from Germany to the
career, the weaver and artist Anni Albers published
US – until 1949. Although Anni Albers had been
numerous articles and three books on textiles, design,
employed as an assistant professor, teaching weaving,
and architecture, as well as on pre-Columbian art,
when the couple moved to New Haven for Josef’s
whose achievements in weaving she admired as
appointment at Yale’s School of the Fine Arts, she was
unsurpassed.1 This essay focuses on her most pro-
not offered a position. This was likely due to the
grammatic statement on the subject of textiles in
university’s policy at the time, which restricted
architecture. Titled “The Pliable Plane: Textiles in
teaching by faculty spouses.4 Nevertheless, Albers
Architecture”, it appeared in 1957, at the height of her
lectured across the country, presenting her ideas on
career. The decade was her most prolific, marked by
textiles and design at universities, galleries, and
the highest number of weavings (26) produced in a
museums. She also took on private students, including
ten-year span. Born in Germany and trained at the
the fiber artist Sheila Hicks.5
Bauhaus during the 1920s, Albers’s postwar period in
Albers’s 1957 article originated in lectures that
America was also a time in which she collaborated
she gave to architectural students at Yale, likely in Fall
with architects, including Louis Kahn, Philip Johnson,
1955.6 Because of the university’s policy against
Walter Gropius, and Marcel Breuer, designing textiles
female instructors, these lectures were held in the
for their new buildings. Although her essay may be
early mornings as to avoid notice by the rest of the
interpreted as a reflection on those collaborations, it
university. They took place in the Yale Art Gallery,
curiously does not mention them. Instead, Albers
which housed the students’ drafting studios and had
defines textiles as sharing the qualities of both
been completed in 1953 according to designs by Louis
Anni Albers’s “Pliable Plane”: Writing on Architecture and the Nomadic Textile
217
Ill. 1: Anni Albers card weaving at Black Mountain College, undated and unattributed photograph, State Archives of North Carolina, Black Mountain College Research Project (Visual materials, Box 90)
Kahn. Little is known of their content, but as one
could be done simply by tying threads to one’s own
former student recalls, “[w]e discovered from her that
body and then attaching them to another stable object
textiles might probably have been the very first
(ill. 1).8 It was an exercise that demonstrated the basic
architectural ‘overheadness’, or shelter […]. We also
principles of weaving with few and easy-to-obtain
learned how to twine with a series of cards”.7 This was
materials.
a simple exercise, also known as ‘card’ or ‘tablet’
218
During these lectures at Yale – of which no
weaving, in which students practiced basic forms of
teaching notes survive – Albers may have spoken on
binding thread together without a loom, one that
design as an artistic process that spanned media. This is
Jordan Troeller
suggested by one of her talks, entitled “Design as Visual
It was not only the all-male faculty that enthusi-
Organization”, which was given at Yale around 1958. In
astically supported Albers’s ideas on architecture and
that lecture, Albers speaks on design as a process in
textiles, the students also played a large role. It is
which the artist should not express him- or herself, but
significant that the publication in which “The Pliable
rather pay close attention to the materials at hand,
Plane” appeared was a student-run journal, suggesting
seeking to understand their properties and behavior.
that the impetus for its publication came directly from
In doing so, she offers a definition of her subject:
the student body. These were students who were
“Architecture, for instance, is concerned with space:
about to embark on careers at the forefront of their
with enclosing space, with extending into space, and
field. The journal’s editor, for example, was Marshall D.
with gravity and tension. Though sculptural elements
Meyers, who was finishing up his MA at that time and
(arrangement of masses), painterly elements (light,
later joined the architectural office of Louis Kahn.
shadow, color) and textural elements (inherent structure
Kahn was also a contributor to the issue, in addition to
of material and marks of working it) are also present,
other well-known figures, including Erich Mendelsohn
these should speak only quietly, not dominantly”.
and Richard Neutra, as well as the artists Ben Shahn
9
This statement recalls the encompassing definition of
and Henri Matisse, who argued for the importance of
architecture that circulated at the Bauhaus, where
drawing in his color-dominated painting. The line-up,
Albers enrolled as a student in 1922. At the German
in other words, speaks to the students’ broad under-
school of art and design, architecture inflected all media,
standing of architecture, with topics ranging from
from metal-working, to color theory and painting, to
concrete plans for a plaza, to architectural history, to
glass and collage, to weaving – a broad definition that
contemporary debates around regionalism versus
Albers here draws upon nearly thirty years later.
internationalism, to architecture’s relationship to the
That the architecture faculty took the risk of allowing Albers to teach speaks to the relevance they
visual arts, including weaving. That Albers appears at all in this journal is rather
saw in her ideas. In 1952, the chair of the department,
remarkable: she is, we should immediately point out,
George Howe, sent Albers a letter, thanking her for
the only woman in an otherwise entirely male cast of
sending him her articles, which he read, he says, “with
characters. It was not that Albers would have been
delight”. He goes on to say that they overlap with his
entirely unknown to architects and designers: a
own thinking: “Your point of view about Design and
decade earlier, in 1949, her retrospective had opened
the Machine, with their constantly recurrent problems
at The Museum of Modern Art in New York. It was the
of balanced choices, so coincides with my own about
first by a weaver in the museum’s history, and it was
Architecture and Structure”. And then at the end: “We
organized in part by the director of its architecture and
shall talk about the seminars again soon. Analogies are
design department, Philip Johnson.12 Nevertheless, her
the most useful tools of instruction”. Although we do
work had an oblique relationship to architecture;
not know whether Howe had architecture and weav-
whereas one could see how Matisse’s defense of
ing in mind when he used the word “analogies”, it is
drawing might appeal to students learning architec-
nevertheless a useful term in describing Albers’s
tural draftsmanship and Shahn’s contribution discusses
interdisciplinary approach to her subject – an approach
his murals, Albers’s work didn’t have such a direct
that even structures the language of her essay.
bearing on the field. Hers was almost metaphorical:
10
11
Anni Albers’s “Pliable Plane”: Writing on Architecture and the Nomadic Textile
219
she spoke of her pictorial weaving as “a kind of
provide for the many subdivisions and backgrounds it
portable mural”.13
needs” (PP, 40). Mobility of object (and even of image)
What made textiles architectural, in her mind, was that the process of weaving was a process of
ingly, the right panel depicted in the photograph is
construction, of what she calls ‘building-up’. By virtue
itself a photograph of a room divider, likely of a sample
of its structure as a grid (in the form of the perpendic-
not yet produced and one whose construction was
ular crossing of warp and weft), fabric was, for Albers,
very similar to this 1949 example of jute and Lurex.
a surface to be engineered, rather than decorated. The
Albers seems to have had the photographic detail
finished textile defined space and, in some cases,
blown up to full-scale proportions and either installed
functioned to compensate for (or even conceal) flaws
onto a wall or onto a free-hanging panel, as if to
in a room’s interior. Such fabrics primarily took the
resemble the other room dividers. A very similar
form of room dividers, wall-coverings, and curtains.
print – if not made from the same negative – appears
She describes her room dividers, for example, as
as the second illustration in “The Pliable Plane” (PP,
“integral architectural elements, as counterparts to
37). A topic to which I will return, photographs played
solid walls” (“The Pliable Plane: Textiles in Architec-
an important role in representing weaving to her
ture”, henceforth PP, 40). These fabrics were architec-
reading public.
tural because they were not ornamental; they pre-
Albers had learned to weave at the Bauhaus,
sented, “instead of mainly patterns, overall textural
where Paul Klee, she later recalled, often described a
designs and solid colors. By introducing materials
well-designed fabric as a “serving object”.15 Although
suited to portioning sections of interiors, they have
Albers cited Klee’s definition in her postwar writings,
contributed specifically to impressions of spaciousness
her own was more nuanced. In the 1957 essay, she
and lightness in our living areas, that is to tranquility”
defined architectural textiles in the terms of mobility.
(ibid.).
“Curtains”, she writes, “are drawn open or closed,
Several room dividers were on view in her
letting in light or shutting it out, thereby changing
exhibition at The Museum of Modern Art, with one
dramatically the appearance of a room. As table mats
photograph portraying these near an example of her
or tablecloths they are put on and taken off again; as
upholstery fabric on a chair (ill. 2). These dividers were
bedspreads they are removed at night. They can be
semi-transparent planes that both demarcated interior
lifted, folded, carried, stored away and exchanged
space and regulated the penetration of light into those
easily” (PP, 39 f.). Albers pointed out that this character
spaces. Some screens were of opaque materials, such
of mobility had a direct bearing on interior space in the
as the broad wooden panels that comprise the divider
“now immobile house”. Comparing such household
on the left in this photograph, while others bore more
fabrics to clothing, she continues, which we can think
transparent, open weaves. Still others offered reflec-
of as “a secondary skin, we might enlarge on this
tive properties through the use of metallic threads,
thought and realize that the enclosure of walls in a
such as Lurex (ill. 3).14 Hung from the ceiling, these
way is a third covering, that our habitation is another
panels could, moreover, be easily moved. Albers even
‘habit’” (ibid.).16
suggested their use in exhibition design: “A museum could set up textile panels instead of rigid ones, to
220
was central to Albers’s conception of textiles. Interest-
Jordan Troeller
One of the major themes of “The Pliable Plane” is how modern textiles, by virtue of their structural as
Ill. 2: Installation view of the exhibition Anni Albers Textiles, 14 September – 6 November 1949, Gelatin silver print, 19 x 24.1 cm, Photograph: Soichi Sunami, The Museum of Modern Art Archives, New York (IN421.1)
Anni Albers’s “Pliable Plane”: Writing on Architecture and the Nomadic Textile
221
Ill. 3: Anni Albers, Free-Hanging Room Divider, c. 1949, handwoven jute and lurex, 134.6 x 86.3 cm, The Museum of Modern Art, New York, Gift of the designer (410.1960)
222
opposed to decorative character, introduce aspects of
cally the felt-lined yurts of Outer Mongolia (PP, 39),
architecture’s nomadic prehistory into the contempo-
she argues for the inherent similarities between
rary, “settled”, interior. Albers locates in both architec-
textiles and nomadic architecture. She even saved a
ture and textiles, a shared prehistory, what she calls
newspaper clipping that, for her, must have referenced
their quality as “ancient crafts”. Predating ceramics and
this nomadic character, with a gathering of men seated
metal work, both textiles and architecture “had in
in front of a large circular tent, while horses and herd
common the purpose of providing shelter, one for a
animals populate a mountainous plain (ill. 4). Finding
settled life, the other for a life of wandering, a nomadic
shared ground between this cultural context and her
life”. Citing the tent as “the textile house”, and specifi-
own in postwar America, Albers writes: “Perhaps it is
Jordan Troeller
the restlessness of our manner of western living that has to be achieved by a planned simplicity, a strong subordination of details to the overall conception of an architectural plan” (PP, 40). As structural objects, textiles addressed themselves to the modern nomad, creating the interior as a space of stability in an increasingly transient, global culture. In arguing for textiles as space-defining elements, Albers curiously does not name her own
Ill. 4: Clipping from the New Haven Register (3 October 1963) in Anni Albers’s papers, Josef and Anni Albers Foundation (AA 32.13)
achievements, nor does she mention those of her fellow weavers, present and past. Otti Berger is one obvious omission. Albers’s colleague at the Bauhaus,
Mexico, Chile, and Peru, that she deepened her
Berger was the first to write about this dimension of
knowledge of these ancient weaving traditions.
textiles, publishing her important article on textiles in
In spring 1952, moreover, she took a course on
space in 1930 – an article that Albers surely knew.17
pre-Columbian cultures with George Kubler in Yale’s
Albers shares with Berger an understanding of textiles
anthropology department. During this period, she
as structural, rather than ornamental, objects,
closely analyzed ancient Andean textiles at the same
whose properties can be identified and analyzed.
time as she increasingly spoke about weaving in
“We research the relationships in the textile between
architectural terms.
color and material, between color and structure, and
What Albers had in mind by “excavations in the
we see that, with these means, the possibilities for
last decade” was a very specific discovery: that of the
fabrics are virtually endless”, a view that Albers
oldest known cotton fragments in North and South
shared.
America, found in 1946 at a site in northern Peru by
18
One notable exception to Albers’s silence on her
the anthropologist Junius Bird at The American
fellow weavers is the invocation of ancient Peruvian
National History Museum in New York. Kubler had put
weavers. Early on in the essay, she writes: “Initial
Albers in touch with Bird for her research. Her dia-
attempts [at producing fabrics] must have been
logue with Bird included detailed discussions about
concerned mainly with thread construction. In fact,
Andean weaving techniques.19 As “structural experi-
excavations in the last decade in northern Peru
ments”, these ancient fragments became a precedent
brought to light innumerable small pieces of cloth that
for and an affirmation of her own conception of
seem useless in their limited size unless understood as
weaving as a process of construction. The Huaca
structural experiments. The earliest specimens show
Prieta fragments in particular were pivotal. In one of
textile techniques other than weaving [and here Albers
her surviving lectures, she introduced her concept of
had in mind techniques like card weaving] but gradu-
textiles as “pliable planes” with reference to these
ally weaving evolved and finally took over” (PP, 36).
ancient fragments, showing two slides: one “from the
Albers had first learned of such textile fragments in
Huaca Prieta digging, and a diagram of twining”.20
Germany’s ethnographic collections, but it was in the
While the slide of the archaeological site does not
US, when she and her husband began traveling to
survive, the diagram appears in On Weaving and
Anni Albers’s “Pliable Plane”: Writing on Architecture and the Nomadic Textile
223
represents one of the early “techniques other than
surface that would also distribute the room’s artificial
weaving”, which she describes above.21
lighting. In stark contrast to Le Corbusier’s wall-cover-
Instead of citing Berger’s work or discussing her
visual interest instead derived from the warp and weft
textiles, Albers curiously names only those of contem-
of its structure as a woven surface.
porary male architects. She singles out Mies van der
Insulating and reflective qualities would become
Rohe, who, she writes, “was one of the first to use
characteristic of Albers’s architectural fabrics in the
them in this architectural form” and Le Corbusier, who
decades to follow. This side of Albers’s weaving
“in a different way, incorporates textiles into an
remains little known. Identified commissions include:
architectural scheme, using them as enormous flat
curtains for Rena Rosenthal’s Madison Avenue store,
wall-panels, banners that carry color and form and
circa 1935 (now in the Cooper Hewitt Museum); very
serve perhaps also as sound-absorbing flats. Above all,
likely a wall-covering for the Robert and Cecelia Frank
they become a focal point, as in the halls of his Indian
House in Pittsburgh, designed by Marcel Breuer in
High Court of Justice at Chandigarh” (PP, 40). Describ-
1940; curtains for Philip Johnson’s Rockefeller Guest
ing these as “pictorial walls”, Albers refers to several
House in New York City in 1949; and room dividers
monumental abstract tapestries that Le Corbusier had
and bedspreads for Walter Gropius’s Harvard Graduate
designed as part of his plans for the court building in
Center, also in 1949. Albers also completed two sets
Chandigarh, India, in the mid-1950s. Almost as tall and
of fabric-covered panels to cover the holy ark, one for
wide as the interior’s walls, these panels functioned to
the Temple Emanu-El in Dallas, which was featured in
deliver color, form, and symbolic content, into the
Life magazine in 1957, and the other for Congregation
room. Le Corbusier even conceived of one section,
B’nai Israel in Woonsocket, Rhode Island in 1962.24
portraying triangles and rods, as representing the metaphorical scales of justice (ill. 5).
22
Such tapestries constitute a very different
Albers’s conception of textiles in architectural space differed dramatically from her peers, and especially from Le Corbusier. Whereas Le Corbusier
proposal about the role of textiles in architectural
treated fabrics as pictorial elements, more akin to
space, as Albers herself points out. But in only reading
tapestries, Albers emphasized their structural charac-
Albers’s essay one would miss just how different the
ter. Already during her time at the Bauhaus, ‘Struktur
two orientations were. Her mention of the tapestry’s
stoff’, or structural fabrics – a term that the weavers
possible “sound-absorbing” qualities recalls Albers’s
likely invented and enthusiastically discussed (often
first major architectural commission: a wall-covering
with Hannes Meyer) – became a distinct realm of
produced for Hannes Meyer’s auditorium at the ADGB
experimentation.25 By composing directly on the hand
Bundesschule in Bernau, Germany. According to
loom, the weavers could try out different thread
Albers’s recollections, Meyer had asked if she could
materials and binding techniques, observing how these
design a fabric that would dampen the room’s echo,
threads responded to the weave, but also how they
which had come about as a structural flaw in its cubic
interacted with one another in combination with
design. She devised a double-weave construction
ambient space. Albers was quite consistent in her
that featured chenille on the back, as sound-insulation,
preferences and almost always combined natural and
and cellophane on the front, creating a shimmering
synthetic fibers: such as jute or cotton for the warp
23
224
ing, the Bernau textile featured no figural elements; its
own accomplishments in the field of architectural
Jordan Troeller
Ill. 5: Main courtroom of the High Court at Chandigarh, India, 1951–56, with tapestry designed by Le Corbusier, Photograph: Manuel Bougot, 2011
Anni Albers’s “Pliable Plane”: Writing on Architecture and the Nomadic Textile
225
Ill. 6: Page from Anni Albers’s essay ‘The Pliable Plane: Textiles in Architecture’, in Perspecta: The Yale Architectural Journal 4 (1957)
(due to the tension that these threads had to bear on
The Museum of Modern Art, the images appear to
the loom) with weft threads of cellophane, Lurex, and
have come from her exhibition in 1949. That these
other newly developed fibers.
photographic pairs take up entire pages seems to
Photographs of Albers’s textiles exemplify this
226
have been a decision that she herself made. Albers
emphasis on structure as the foundation of textile’s
stressed elsewhere that “small reproductions become
nomadic character. The 1957 essay includes six
somewhat meaningless”.26 Moreover, to have been
photographic illustrations; these are paired and
able to include so many images, given the essay’s short
displayed on three full pages (ill. 6). Credited in part to
length, suggests that Albers was held in high regard
Jordan Troeller
Note s
by the students running the journal. Subsequent reprints of the essay, in On Designing and in the magazine Craft Horizons (both in 1959), include far fewer images. Three of the photographs in “The Pliable Plane”
This essay owes a great deal to the staff at the Josef and Anni Albers Foundation, especially to Brenda Danilowitz, Karis Medina, and Sam McCune, who all generously fielded questions on Anni Albers’s life and work. I’m also grateful to Briony Fer for inviting me to present early
also appear in her book On Weaving (1965).27 Here,
thoughts on Albers’s relationship to architecture at the Tate Modern
too, photographs play a substantial role, comprising
1
more than half of the 1965 publication. What seems to have been important for her was not only large reproductions, but close-ups, such that the construction of the weave was prioritized over and above the
For a collection of Albers’s writings, see Brenda Danilowitz ed.,
Anni Albers: Selected Writings on Design (Middleton, CT: Wesleyan University Press, 2000). Albers’s three books are: On Designing (New Haven: Pellango Press, 1959), which gathers a different selection of her essays; On Weaving (Middletown, CT: Wesleyan University Press, 1965); and Pre-Columbian Mexican Miniatures (New York: Praeger,
overall format and orientation of that weave in
1970). She dedicated her book On Weaving “to my great teachers, the
architectural space. And when one compares the
2
photographs that appear in both On Weaving and “The Pliable Plane” one sees that Albers freely cropped and re-orientated the image given the page format. She takes these measures in order to present the image as
weavers of ancient Peru”. Anni Albers, ‘The Pliable Plane: Textiles in Architecture’, Per-
specta: The Yale Architectural Journal 4 (1957): p. 39 (hereafter cited parenthetically as ‘PP’). The essay was republished during Albers’s lifetime in On Designing, as well as in abridged form as ‘Fabric, the Pliable Plane’ in Craft Horizons 18, no. 4 (July–August 1958): pp. 15–17.
3
See, for example, T’ai Lin Smith, ‘On Reading On Weaving’, in
large as possible, regardless of whether it skews the
Anni Albers, On Weaving, new expanded edition (Princeton, New Jer-
reader’s understanding of the fabric’s orientation in
4
space.
sey: Princeton University Press, 2017), p. 234–249. As suggested by James McNair in correspondence with Brenda
Danilowitz, see also Brenda Danilowitz, unpublished lecture (Yale Uni-
Albers’s ends her essay with an appeal for “a new understanding between the architect and the inventive weaver” (PP, 40). By “understanding”, Albers meant that weavers should be taken as seriously as architects, rather than as an “afterthought”. Her argument was in part a call for equality, between architects and weavers as well as between the predominantly male and female practitioners that made up those respective fields in the 1950s. But if Albers’s
versity, 18 November 2013).
5
Sheila Hicks reflected on her sessions with Anni Albers, recalling
how Josef Albers “drove me to their modest house in the suburbs of New Haven, a 15-minute journey from the school”, and introduced her to Anni. “I sat with Anni in the living room on a ripped-out automobile seat that served as a sofa, showing her the experiments I was struggling with. I remember that she had a small, standing floor loom in a room off to the side of the living room, where she was weaving. […] If Josef had awakened me to the world of color and ways of using color in his teaching at the school, I believe that, in the six or seven brief meetings I had with Anni, she helped me to think about structure”. Sheila Hicks, ‘My Encounters with Anni Albers’, Tate Etc. 44 (Autumn 2018) (accessed 13 November 2018). Anni Albers refers to the lectures in a letter to Josef Albers
(dated 5 July 1955), quoted in Frederick A. Horowitz and Brenda Danilowitz, Josef Albers: To Open Eyes: The Bauhaus, Black Mountain College, and Yale (London: Phaidon, 2009), p. 63. According to Albers‘s letter, the lectures were initiated by Paul Schweikher, then chair of Yale‘s School of Architecture.
7
James McNair, e-mail correspondence to Brenda Danilowitz,
1 December 2004, in Horowitz and Danilowitz, Josef Albers: To Open Eyes, p. 63. The place and time of the seminars is described here by McNair.
Anni Albers’s “Pliable Plane”: Writing on Architecture and the Nomadic Textile
227
8
Católica School of Architecture in Chile, a trip on which she accompanied him.
Albers devised numerous ways of teaching without looms given that
17
these were only later set up at Black Mountain College; see Neil Welli-
pp. 143–145.
ver, ‘A Conversation with Anni Albers’, Craft Horizons 25, no. 4 (July– August 1965), p. 43.
18 19
9
sure” his recent article on the excavation of these cotton fragments
Anni Albers, ‘Designing as Visual Organization’, in Danilowitz,
Otti Berger, ‘Stoffe im Raum’, ReD (Prague) 3, no. 5 (1930), Berger, ‘Stoffe im Raum’, p. 143 (author’s translation). In a letter to Bird, she mentions having read “with great plea-
Anni Albers: Selected Writings on Design, p. 62.
(Anni Albers to Junius Bird, 21 April 1952, Josef and Anni Albers Foun-
10
dation, AA 6.38). The article to which she refers is very likely: Junius
George Howe to Anni Albers, 2 July 1952 (Josef and Anni
Albers Foundation, AA 6.20).
Bird and Joy Mahler, ‘America’s Oldest Cotton Fabrics’, American Fab-
11
rics, no. 20 (Winter 1951–52).
Albers even begins her essay in such terms: “If the nature archi-
tecture is the grounded, the fixed, the permanent, then textiles are its
20
very antithesis. If, however, we think of the process of building and the
script, p. 2 (Josef and Anni Albers Foundation, AA 28.21).
process of weaving and compare the work involved, we will find similarities despite the vast differences in scale” (Albers, ‘PP’, 36).
21 22
12
Brenda Danilowitz, ‘Anni Albers: Free-Hanging Room Divider’, in
Chandigarh, India, 1951 – 66, with texts by Hélène Bauchet-Cauquil and
Leap Before You Look: Black Mountain College 1933–1957, ed. Helen
Françoise-Claire Prodhon (Paris: Galerie Patrick Seguin, 2014),
Molesworth with Ruth Erickson, exh. cat. Institute of Contemporary Art
pp. 316–323.
Boston, Mass. (New Haven: Yale University Press, 2015), p. 176. Albers, in Welliver, ‘A Conversation with Anni Albers’, p. 45.
23 24
Newly available in 1946, Lurex was a synthetic, film-coated fi-
dresses the full-range of Albers’s architectural commissions. The previ-
ber; see Danilowitz, ‘Anni Albers: Free-Hanging Room Divider’, p. 176.
ously cited unpublished lecture by Brenda Danilowitz, given at Yale in
A close look at the range of Albers’s production in the postwar period,
2013, comes closest. See also the section on architecture in Briony Fer,
which employs Lurex in various sizes and techniques, makes clear that
‘Close to the Stuff the World is Made of: Weaving as a Modern Project’,
she was especially interested in this material.
in Anni Albers, ed. Ann Coxon, Briony Fer and Maria Müller-Schareck,
15
exh. cat. Tate Modern, London (Munich: Hirmer, 2018), pp. 20–43. On
13 14
228
I thank Ismini Samanidou for advising me on the technique of
tablet weaving and for suggesting its possible use in Albers’s teaching.
Anni Albers in ‘Fabrics’, Arts and Architecture (March 1948), p. 33.
Anni Albers, untitled lecture, New Haven, October 1963, typeSee plate 28 in Albers, On Weaving (2017). Laurence and Patrick Seguin ed., Le Corbusier, Pierre Jeanneret –
Welliver, ‘A Conversation with Anni Albers’, p. 42. To date, there exists no single-authored publication that ad-
For Paul Klee, see Charlotte A. Healy’s contribution in this volume.
her religious commissions, see Ann Coxon, ‘Temple Commissions and
16
Ibid. With the title ‘Habitation is a Habit’, artist Zoe Leonard
Six Prayers’, in that same volume (Anni Albers, Tate Modern, London,
published, alongside a reprint of Albers’s ‘The Pliable Plane’, a series of
pp. 144–151) and Kelly Feeney, ‘Anni Albers: Devotion to Material’, in
photographs that she had taken of commonplace textiles from her own
Anni Albers, ed. Nicholas Fox Weber and Pandora Tabatabai Asbaghi,
home. The series both responds to and provides a visual interpretation
exh. cat. Guggenheim Museum, New York (New York: Guggenheim
of the 1957 essay; see Center for Curatorial Studies, Bard College, Inte-
Foundation, 1999), pp. 118–123.
riors, ed. J. Burton, L. Cooke and J. McElheny (Berlin: Sternberg Press,
25
2012), pp. 44–53. It is also noteworthy that the term ‘habitat’ was cir-
‘Scenes from the Archive: Photography, Objecthood, and the Bauhaus’
culating in architectural discourse in the 1950s, most prominently at
(Ph.D. diss., Harvard University, 2018), pp. 305–386.
the tenth CIAM conference, held in 1956 in Dubrovnik. It is likely that
26
Albers would have been exposed to these ideas while teaching at Yale,
1959 (Josef and Anni Albers Foundation, AA 9.6).
but perhaps also through her husband’s courses for architecture stu-
27
dents, such as those he gave in 1953 at the Pontificia Universidad
illustrate here, with plate 57 in Albers, On Weaving (2017).
Jordan Troeller
I discuss this further in the last chapter of my dissertation
Anni Albers to Olga Gueft, editor of Interiors magazine, 22 April Compare, for example, the top photograph, on the page that I
begann Deutschland als aufstrebende Industrienation den Briten die Vormachtstellung auf See streitig zu machen. Die Gesellschaften versuchten sich, abgesehen von technischen Höchstleistungen, vor allem im Innenausbau der Passagierschiffe gegenseitig zu übertrumpfen. Innenarchitekten und Künstler trugen mit ihrem gestalterischen Können, mit durchdachten, handwerklich hochwertigen Entwürfen und luxuriösen Ausstattungen als Botschafter das kreative Knowhow
Textile Moderne unterwegs: Innenausstattung von Schiffen und Zügen durch die Deutschen Werkstätten Klára Němečková und Kerstin Stöver In enger Symbiose mit der rasant zunehmenden Industrialisierung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich auch die Verkehrsmittel. Der Bewegungsradius der Menschen wurde größer, und
eines Landes über die Ozeane.1 Die textile Ausstattung spielte bei den ersten in modernem Stil umgesetzten Schiffsinterieurs noch eine geringe Rolle. Zwar kam es auch hier zu einer Veränderung der Ornamentik und des eingesetzten Materials, aber die neue Formen sprache wurde über dekorative Metallelemente oder geschnitzte Motive transportiert. Vor allem ab den 1920er Jahren kam den Textilien eine immer größere Bedeutung der Raumbildung zu, wie im Folgenden dargelegt wird.
Deut scher Werkbund – Motor der Erneuerung sbeweg ung i m Tra nsp ort wesen
Strecken ließen sich schneller bewältigen. Nach der Gründung des Deutschen Reiches bauten die einzel-
Von Beginn an wurden die exklusiven Passagier-
nen Teilstaaten ihre Staatseisenbahnen umfangreich
schiffe, die hauptsächlich zwischen Europa und
und mit steigendem Komfort aus. Auf den Ozeanen
Nordamerika verkehrten, zu Symbolen für die wirt-
lösten schnellere Dampfschiffe die wetterabhängigen
schaftliche, technische und kulturelle Entwicklung
Segelschiffe ab. Die Zeit der Kaufmannsreeder ging
eines Landes. Es verwundert deshalb nicht, dass viele
vorbei. Hohe Baukosten für die neuen, mit Dampfma-
der Erneuerungsbestrebungen zur anspruchsvollen
schinen betriebenen Schiffe erforderten den Zusam-
Inneneinrichtung der Schiffe vom Deutschen Werk-
menschluss zu Gesellschaften wie dem Norddeut-
bund, der um 1907 gegründeten Vereinigung von
schen Lloyd und der Hamburg-Amerikanischen
Künstlern, Architekten, Unternehmern und Sachver-
Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG). Bald
ständigen, ausgingen, die sich um die Verbesserung
entspann sich ein internationaler Wettstreit zwischen
der Qualität und Form in Gestaltung und Architektur
den europäischen Reedereien. Mit dem 1898 fertigge-
einsetzten. Es war ein stetiges Ringen um modernes
stellten Passagierschiff Kaiser Wilhelm der Große
Kunstgewerbe in den fortschrittlichen Verkehrsmitteln.
Textile Moderne unterwegs: Innenausstattung von Schiffen und Zügen durch die Deutschen Werkstätten
229
Mehrfach widmete der Deutsche Werkbund dem
Norddeutschen Lloyd von 1897. Der Architekt Johann
Thema Aufsätze und 1914 sogar ein ganzes Jahrbuch.
Georg Poppe, Hauptvertreter des Historismus in
Bruno Paul schrieb darin zu Schiffsausstattungen:
Bremen, trug für die Ausstattung dieses und weiterer
„Nirgends wurde der Kontrast zwischen dem hohen
Dampfer die Verantwortung: „Von ihm und den
Stande technischer Entwicklung und dem Niedergange
Werkstätten von Bembé und Pfaff stammt das, was
und der Unzulänglichkeit der Leistungen dekorativer
bisher in den Schiffen des Lloyd an dekorativer Kunst
Kunst so fühlbar, wie beim Anblick einer Schiffsein-
angewandt wurde, um mit dem unübertroffenen
richtung zu Beginn dieses Jahrhunderts.“2 Kritisiert
Komfort, mit der sicheren Schnelligkeit der Fahrzeuge
wurde vor allem das Auseinanderklaffen der technisch
auch die stilvolle Behaglichkeit des Wohnens zu
herausragenden Leistungen und die Verwendung
vereinigen, so gut die Zeit das eben verstand.“4
historischer Stile in den Interieurs, die die Illusion
Die Annehmlichkeiten des heimischen Salons auf
erzeugen sollten, als seien die Reisenden in einem
das Schiff zu transferieren, war die Intention der
Haus auf festem Boden. Stattdessen sollte neues
Ausstatter.
Kunstgewerbe zur Geltung kommen und nicht über-
dampfern, etwa der Kronprinzessin Cecilie (1906/7), die
des Deutschen Werkbundes, die diese Entwicklungen
Innenausstattung der repräsentativen Gesellschafts-
beschleunigen und umsetzen konnten. Während die
räume. Für die Einrichtung der Kabinen der Erste-Klas-
Schiffe von HAPAG und Norddeutschem Lloyd
se-Passagiere jedoch initiierte der Lloyd eine Aus-
unmittelbar zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch im
schreibung, die sich vor allem an junge Gestalter mit
Stil des Historismus ausgestattet wurden, gehörten die
modernen, neuen Ideen wandte. Die bevorzugten
genannten Reedereien in den 1910er und 1920er
Räume zum Gegenstand eines Wettbewerbes unter
Jahren, auch auf Initiative des Deutschen Werkbun-
einer Anzahl von Künstlern zu machen, die aufgefor-
des, zu den ersten, die moderne Architekten beauf-
dert wurden, sich mit dem Thema der Schiffsausstat-
tragten und repräsentierten somit eine Veränderung
tung zu beschäftigen, war der ebenso originelle wie
im deutschen Schiffsdesign.
glückliche Einfall Heinrich Wiegands – Generaldirektor
3
Die Ozeandampfer zeichneten sich um 1900
230
Poppe übernahm auch auf weiteren Passagier-
kommener Luxus ausgestellt sein. Es waren Akteure
des Norddeutschen Lloyd.5 Die Künstler, die Wiegand
besonders durch eine exklusive und bequeme Ausstat-
auswählte, waren Bruno Paul, Richard Riemerschmid
tung im gängigen Stilmix der Zeit aus: schwere, reich
und Joseph Maria Olbrich.6 Damit wurden erstmalig
verzierte Dekorationsgewebe in gedeckten Farben
namhafte deutsche Innenarchitekten beauftragt und
waren unter anderem zu ausladenden Portieren und
die Bedeutung einer modern gestalteten Ausstattung
Vorhängen verarbeitet; dunkle mit goldornamentier-
aufgewertet – über die reine Behaglichkeit hinaus.7
tem Leder bezogene Möbel und ausschweifende Orna-
Alle genannten Architekten gehörten zu den Grün-
mente dominierten in der Raumgestaltung. Deutlich
dungsmitgliedern des Deutschen Werkbundes. Mit der
wurde dieser scharfe Kontrast zwischen tradierter
Gestaltung von Schiffsinterieurs hatte bislang lediglich
Innenausstattung und der modernsten technischen
Riemerschmid Erfahrung. Seine Entwürfe wurden von
Anforderungen entsprechenden Hülle an dem mit vier
den Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst
großen Schornsteinen versehenen, damals spektakulä-
umgesetzt, alle anderen von den Vereinigten Werk-
ren Schnelldampfer Kaiser Wilhelm der Große des
stätten für Kunst im Handwerk in München.
Klára Němečková und Kerstin Stöver
Riemerschmid stand seit 1902 bei den Dresdner
einheitliche Farbe der Textilien. Die roten Bezüge der
Werkstätten unter Vertrag. Als letzter Punkt in der
Sitzmöbel des Salons sowie die gleichfarbige Tagesde-
handschriftlichen Vereinbarung war folgendes ver-
cke des Bettes waren schlicht und ohne Musterung.
merkt worden: „Entwürfe von Schiffseinrichtungen
Sie wirkten edel und unterstützten die gestalterische
wird Herr Riemerschmid ausschließlich den Dresdner
Kraft der Möbel. Lediglich ein Stuhl neben dem Bett
Werkstätten für Handwerkskunst zur Ausführung
war mit einem hellen, dunkel gemusterten Leinen
geben, sofern die selben sich um die Erlangung solcher
gewebe bezogen. Das gleiche Gewebe wurde später
bemühen, beziehentl. eine Ausführung nach Riemer-
auch als Bezugstoff für ein Sofa von Gertrud Klein
schmid’schen Entwürfen übertragen erhalten.“ Bereits
hempel verwendet.14 Eine Variante in Braun mit gelben
1905 wurden erste Einrichtungen für Offiziersmessen
Akzenten befindet sich in der Sammlung des Museum
und Kommandantenräume auf deutschen Kriegsschif-
of Modern Art, New York.
8
fen nach Entwürfen Riemerschmids durch die Dresd-
Im Herrenzimmer dominierte dunkelgrünes Leder.
ner Werkstätten für Handwerkskunst realisiert.9 Hier
Der Gesamteindruck „wird [dadurch] im nächsten
lag der Schwerpunkt nicht auf der besonderen
[diesem] Raum gesteigert.“15 Während dieses Ensemble
Gestaltung der textilen Ausstattung. Lediglich helle
das Gefühl eines „behagliches Stübchen[s]“ in „traulicher
Leinentischdecken mit einem schmalen einfarbigen
Abgeschlossenheit“ vermittelt,16 wurden die Entwürfe
Bordürenband an der Kante und in der Mitte gehörten
von Bruno Paul für die Kabinen desselben Schiffes in
neben einfachen Gardinen zum textilen Inventar der
der Zeitschrift Die Kunst als klarer und nüchterner
Offiziersmesse der Prinz Adalbert; für die Danzig war
beschrieben; „sachlich, praktisch, vernickeltes Metall,
im Kommandantensalon eine dunkle Leinendecke mit
dazu passend anspruchslose, kleinmustrige Möbelstof-
umlaufenden schmalen Strich-Punkt-Zierlinien in
fe“17. Sie wurden von den Vereinigten Werkstätten in
heller Kurbelstickerei vorgesehen. Dasselbe Motiv
München hergestellt, die mit den Deutschen Werkstät-
zierte auch eine Decke von 1912. Zwischen 1905
ten den Reedereien vergleichbar um Vormachtstellung
und 1910 entstanden solche unifarben hellen oder
auf dem Markt rangen. Die modernen Gewebe nach
dunklen Tischdecken und Vorhänge mit sparsamen
1900 mit kleinen Flächenmustern, die vegetabile Motive
farblich kontrastierenden Stickereibordüren in größe-
ins Ornamentale auflösten, oftmals sich auf eine
rem Umfang nach Riemerschmids Entwürfen und
geometrische Linienführung reduzierten und insgesamt
finden sich noch 1912 im Preisbuch Dresdner Hausge-
eine ruhige Wahrnehmung vermittelten, sollten – wie
rät der Deutschen Werkstätten.
auch auf der Kronprinzessin Cecilie – den ästhetischen
10
11
12
Für die Kronprinzessin Cecilie hatte Riemerschmid
Eindruck der angestrebten Einfachheit des jeweiligen
„den Vorzug, vier zusammengehörende Kabinen
Gesamtbildes unterstützen. Ergänzt wurden sie bei
ausstatten zu können, die als Ganzes in Raumstim-
Pauls Schlafkabinen durch „helle Bettdecken mit
mung und konzentriertem Ausdruck wohl den meisten
Voilants, Stickerei“18. Dabei handelte es sich den
Beifall verdienen“13. Der Schlafraum war mit weißen
Abbildungen nach um ein leicht glänzendes, glattes
Möbeln, akzentuiert durch Messingbeschläge, Schar-
Gewebe – vermutlich Seide. Zwei schmale dunkle
niere und Knöpfe ausgestattet, der Salon dagegen in
Stickerei-Linien an den beiden Längsseiten und an der
grauem Ahornholz ergänzt mit tiefrotem Rosenholz
Naht des Volants strukturieren die Decke und nehmen
und Perlmuttereinlagen. Beide Räume verband die
die Konturierung der Wandfläche der Kabine auf.
Textile Moderne unterwegs: Innenausstattung von Schiffen und Zügen durch die Deutschen Werkstätten
231
Im Jahr 1914 lief die Burchardt vom Stapel, konnte jedoch auf Grund des Kriegsausbruchs ihren Dienst auf der Südamerika-Linie der HAPAG nicht aufnehmen. Durch die Vermittlung von Hermann Muthesius, eines der entscheidenden Gründungsmitglieder des Deutschen Werkbundes, hatte die HAPAG Adelbert Niemeyer, Karl Bertsch und Richard Riemerschmid für die Innenausstattung verpflichtet: Riemerschmid für die Luxuskabinen auf dem Brückendeck, Niemeyer ebenfalls für Kabinen und den großen Damensalon sowie Karl Bertsch für die Treppenhäuser. Gewünscht war eine helle, klare Ausstattung, die ein großzügiges Raumgefühl vermittelte. Eben diesen Eindruck erzeugte der Damensalon. Niemeyer entschied sich bei den bequemen Sitzmöbeln für ein einfarbiges, helles Gewebe, lediglich die an den
Abb. 1: Lisl Bertsch-Kampferseck (Entwurf), Teppichmuster Nr. 3734, 1933, Wurzener Teppich- und Veloursfabriken (Ausführung) für Deutsche Werkstätten, Kulturhistorisches Museum Wurzen
Wänden stehenden Ohrensessel hatten eine dezente Musterung. Der Teppichboden war einheitlich und kleinteilig gemustert und ergab dadurch ein geschlos-
Dewetex (Deutsche Werkstätten Textilgesellschaft
senes Bild. Zusammenfassend ist zu sagen, dass den
mbH). Für die Gesellschaft arbeiteten unterschiedliche
Textilien eine wichtige Funktion in der innovativen
Textilfirmen, darunter zum Beispiel die Wurzener
Ausstattung zukam, sie aber eher als Accessoires
Teppich- und Veloursfabriken und die Cammann
eingesetzt wurden.
Gobelin Manufaktur in Niederwiesa.20 Sie fertigten
19
sowohl nach ihren eigenen Entwürfen exklusiv für die
Spezialisierung – Deutsc he Werkstätten Tex tilgesellschaf t ( Dewetex)
Deutschen Werkstätten oder nach deren Künstlerentwürfen. In den Musterbüchern der Wurzener Teppichund Veloursfabriken finden sich unter anderem verschiedene Entwürfe von Lisl Bertsch-Kampferseck: Mit den Musternummern 3734 und 3735 sind zwei
Die Deutschen Werkstätten, damals noch Dresd-
232
Tourney-Rollenwaren – mechanisch hergestellte
ner Werkstätten für Handwerkskunst, boten bereits
Kettflorteppiche – in den Farben Orange (Grund),
1902 Textilien nach den Entwürfen von Künstlern an.
Gelb, Hellorange und Braun (Musterung) verzeichnet
Die Webstoffe wurden überwiegend in der Weberei
(Abb. 1). Das Muster war Eigentum der HAPAG und
fabrik Gottlob Wunderlich in Waldkirchen-Zschopen
wurde über die Dewetex in der Wurzener Fabrik in
thal ausgeführt. Deren Besitzer, Carl August Emmrich,
Auslegeware umgesetzt. Hinterlegt wurde das Muster
war Karl Schmidt seit Jahren bereits freundschaftlich
1933, das Jahr, in dem Karl Bertsch im Auftrag der
verbunden. Die Zusammenarbeit mündete 1923 in der
Deutschen Werkstätten die Speisesäle der 1. Klasse
Gründung der Tochterfirma der Deutschen Werkstätten:
der Dampfer Caribia und Cordillera der HAPAG
Klára Němečková und Kerstin Stöver
ausstattete. Im gleichen Musterbuch findet sich,
den Monaten August und September verschiedene
ebenfalls mit der Jahreszahl 1933 vermerkt, ein
Ergänzungen vermerkt, unter anderen zu den Betten:
Muster, das wiederum mit der Bemerkung „Eigentum
„Über dem Bett soll ein Volant angebracht werden,
Mitropa“ gekennzeichnet ist.21
rote Seide wie die Vorhänge mit brauner Franse“24 für B15. In B17 war ein Volant aus rot-lila Seide mit
Mate r i al ästhetik, Farbe und Ab s t rak ti on nach 1920
ebensolchen Fransen vorgesehen, die entsprechenden quadratischen Steppdecken waren ebenfalls in rot und lila gehalten. Bereits dieser detaillierten Auflistung kann man die Sorgfalt entnehmen, mit der der Einsatz
Die Etablierung des neuen Kunstgewerbes in den modernen Verkehrsmitteln wurde nach dem Ersten Weltkrieg vor allem in den 1920er und 1930er
von Textilien und Farbe in den Interieurs geplant wurde. In den Jahren 1925/26 und 1926/27 gestaltete
Jahren weiter vorangetrieben. Ein neuer Stil sollte die
der Teilhaber der Deutschen Werkstätten, Karl Bertsch,
Weimarer Republik repräsentieren.22 1924 statteten
gemeinsam mit seiner Frau Lisl Bertsch-Kampferseck
die Deutschen Werkstätten auf der Deutschland der
die Interieurs der beiden luxuriösen HAPAG-Passa-
HAPAG die Staatszimmer, Damenschreibzimmer und
gierschiffe Hamburg und New York. Deren Innengestal-
das Treppenhaus aus. Die Entwürfe dafür lieferten
tungen zeichneten sich insbesondere durch eine
Bruno Paul und Adelbert Niemeyer. Im Sächsischen
gesteigerte Materialästhetik aus. Sowohl der Einsatz
Hauptstaatsarchiv Dresden liegt dazu eine maschinen-
der Nussbaumtäfelung als auch das geflammte
schriftliche Liste. Am 31. Juli 1923 wurde sie als
Birkenholz und die Textilien haben in den Räumen der
„endgültige Ausführung“ gekennzeichnet. Sie enthält
beiden Schiffe eine starke Präsenz. Bertsch-Kampfer-
die Beschreibung der Ausstattung zweier Suiten von
seck, die unmittelbar nach der Gründung der Dewetex
Bruno Paul. So erhielt zum Beispiel das Wohnzimmer
1923 als Textildesignerin für die Werkstätten tätig war,
B11 einen Teppich mit rotem Fond und einem 60 Zen-
hatte schnell einen eigenen Stil gefunden und war
timeter breiten umlaufenden braunen Band. Die
sicherlich maßgeblich für eine fortschrittliche Ausrich-
Sitzmöbel aus Nussbaum waren mit einem Bezug
tung der Textilproduktion der Dewetex verantwortlich.
aus orange-rotgestreiftem Seidenrips gepolstert.
Zu ihren Entwürfen gehörten Druck- und Webtextilien
Die roten Vorhänge zierte eine braune Paspelierung.
sowie zahlreiche Teppiche mit abstrakten Dekoren.
Der Bezug der Arme der Wandleuchten mit Seide war
Für die Salons der beiden HAPAG-Dampfer, die als
jedoch noch nicht entschieden. Im angrenzenden
modern gerühmt wurden, entwarf sie raumprägende
Schlafraum B15 wiederholten sich das Muster des
Teppiche, die mit geometrischen und stilisierten
Teppichs sowie der Möbelbezüge und Vorhänge.
vegetabilen Mustern auf die Gestaltung der Wand
Der Wohnraum B19 wurde mit einem dunkelgrauen
verkleidung reagierten oder sie ergänzten (Abb. 2).25
Teppich ausgelegt. Die Möbel, hier aus Kirschbaum,
So wurden hier in der Kritik „Schlichtheit“26, aber
wurden mit dem Seidenrips Nummer 5594 von Josef
zugleich „Behaglichkeit“27 positiv hervorgehoben.
Hillerbrand bezogen, Vorhänge in Rot und Lila. Im
In der Deutschen Kunst und Dekoration hieß es dazu:
dazugehörigen Schlafraum B17 wurden die musteri-
„An Stelle der schwulstigen Pracht mißverstandener
dentischen Textilien verwendet. In der Liste wurden in
Königsstile ist behagliche Wohnlichkeit getreten. [...]
23
Textile Moderne unterwegs: Innenausstattung von Schiffen und Zügen durch die Deutschen Werkstätten
233
Abb. 2: Lisl Bertsch-Kampferseck (Entwurf Textilausstattung), Karl Bertsch (Entwurf Möblierung), Damensalon zweiter Klasse auf dem HAPAG-Dampfer New York, 1926, Deutsche Werkstätten (Ausführung), SLUB Dresden, Deutsche Fotothek
Die vorzüglichen Leistungen der Deutschen Werkstät-
Haptik eine besondere Wirkung. Bertsch-Kampfers
ten in der Möbelpolsterung und die Qualität ihrer
ecks textile Entwürfe verliehen den Interieurs und
Möbelstoffe finden hier eine erfreuliche Anwen-
auch zahlreichen Produkten der Deutschen Werkstät-
dung.“28 Die Teppiche verbinden gekonnt abstrakte
ten eine zeitgemäße Note und setzten unübersehbare
vegetabile und geometrische Ornamente miteinander,
Akzente.
die der Wandtäfelung mit großflächigem geometrischem Muster ein starkes Gegenüber bieten.
aus dem Interieur des Mitropa-Schlafwagens Nummer
Bertsch-Kampferseck stellte sich hier als eine phanta-
22811 und feierte dieses als die gekonnte Umsetzung
sievolle Textilgestalterin mit eigenständiger Hand-
der innovativen Innenraumgestaltung eines modernen
schrift vor. Besondere Beachtung verdienen zudem
Verkehrsmittels. Zuvor merkte Walter Riezler an:
die Bezüge der Sessel und Stühle. Während im Fall der
„Auch seine Form wirkt nur ‚befriedigend‘, wenn sie die
Sessel und Sofas ein Bezugsstoff mit Längs- und
Tatsache der Bewegung berücksichtigt, nicht wenn sie
Querstreifen zum Einsatz kam, evozierten die
an sich, im Sinne eines ruhenden Gehäuses, mit Sorg-
samtähnlichen Bezüge der Stühle mit der orthotropen
falt und Gefühl für Proportionen durchgebildet ist.“30
29
234
Die Form publizierte 1928 mehrere Abbildungen
Klára Němečková und Kerstin Stöver
Abb. 4: Bruno Paul (Entwurf), Luxuskabine auf der Bremen, 1929, Deutsche Werkstätten (Ausführung)
Ausstattung nach Entwürfen von Bertsch-Kampfers eck, die diese starke Raumwirkung erzeugte. Zu den aufsehenerregendsten Großprojekten des Norddeutschen Lloyd gehörte der Bau des 286 Meter langen Schnelldampfers Bremen, der bei seiner Jungfernfahrt nach New York den Atlantik in einer Rekordzeit überquerte.32 Das Schiff überzeugte jedoch nicht nur mit der technischen Leistung, sondern auch mit der Innenausstattung: „Die Raumkunst der Abb. 3: Lisl Bertsch-Kampferseck (Entwurf Textilausstattung), Karl Bertsch (Entwurf Möblierung), Mitropa-Schlafwagen Nr. 22811, Gang im Abteilwagen, 1927, Deutsche Werkstätten und Wurzener Teppich- und Veloursfabriken (Ausführung), Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden
‚Bremen‘ bekennt sich nachdrücklich zur Gegenwart. Sie legitimiert sich als deutsche Innenausstattung unserer Neuzeit.“33 War der Norddeutsche Lloyd für seine konservativen Ausstattungen noch kritisiert worden, lobte 1929 Walter Riezler in Die Form: „In der Tat: man hat nun auch hier den Schritt gewagt, den die
Die „Tatsache der Bewegung“ zeigte Bertsch-Kam
Hapag schon bald nach dem Kriege mit der Albert
pferseck vor allem in dem langen Waggongang, in dem
Ballin getan hatte und der auch früher schon in
durch die versetzten Farbelemente in Streifenanord-
Einzelfällen, bei den von den ‚Deutschen Werkstätten‘
nung die gerichtete Vorwärtsbewegung des Zuges
ausgestatteten Schiffsräumen da und dort getan
aufgegriffen und eine Anmutung von Dynamik
worden war; man hat auf die Anwendung der geheilig-
31
suggeriert wurde (Abb. 3). Charakteristisch sind
ten historischen Formen verzichtet und hat sich mit
zudem die breiten Streifen und die starken Kontraste
Begeisterung dem ‚modernen Kunstgewerbe‘ in die
der Sitzbankbezüge. Es war vor allem die textile
Arme geworfen.“34 Das Schiff setzte neue Maßstäbe.
Textile Moderne unterwegs: Innenausstattung von Schiffen und Zügen durch die Deutschen Werkstätten
235
Die meisten Gesellschaftsräume des Luxusliners
international herausragenden Expertise von den
Bremen gestaltete Fritz August Breuhaus de Groot für
Deutschen Werkstätten Vestibül, Gesellschaftshalle,
die Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk in
Speisesaal und Treppenhäuser ausbauen ließ.35 Die
München. Durch alle Räume zog sich die Verwendung
Entwürfe wurden einmal mehr Bruno Paul übertragen.
exotischer Hölzer und eine reiche, exklusive textile
„Durch die Mitwirkung begabter Künstler ließ sich die
Ausstattung, darunter sechs große Wandteppiche,
Raumwirkung zum festlichen Ausdruck steigern.“36
ausgeführt von der Münchner Gobelin-Manufaktur.
Die Gestaltung des Interieurs war geschmackvoll und
Bruno Paul entwarf die Luxussuite, die von den
evozierte ein Gefühl der Weiträumigkeit. Einen
Deutschen Werkstätten ausgeführt wurde. Die
entscheidenden Teil der dekorativen Ausstattung, die
Vertäfelung des Wohnraumes wurde in Zitronenholz
thematisch auf die Destinationen abgestimmt waren,
mit Paduk-Einlagen gefertigt. Eingebaute Schränke
übernahm Ulla Schnitt-Paul.37 Vor allem ihr gelang es,
und Regale unterstrichen den klaren Raumeindruck
mit der textilen Wandgestaltung – dem den Speisesaal
und die Wirkung des Materials in der Fläche (Abb. 4).
dominierenden Teppich Sumatra-Java-Borneo mit den
Die Streifenstruktur der Wand nahm der Bodenbelag
drei Frauenfiguren,38 seitlich davon die Neue Zeit und
aus hellen und dunklen Rechtecken im Positiv-
Kolonialgründung – sowohl exotische als auch elegante
Negativ-Effekt diagonal gestreift auf. Die Bezüge der
Akzente zu setzen und dem Interieur Farbe zu geben.
Sitzmöbel wurden aus dem gleichen hochflorigen und
Die Teppiche wurden ebenfalls in der Münchner
breit gestreiften Bezugsstoff wie in dem 1928 gefeier-
Gobelin-Manufaktur ausgeführt. Einen farblichen
ten Mitropa-Schlafwagen ausgeführt. Sie stammten
Eindruck vermittelt der noch vorhandene Karton des
aus der Produktion der Dewetex und waren von Lisl
Hauptteppichs (Abb. 5 und 6). Warme Braun-, Orange-
Bertsch-Kampferseck entworfen worden. In dem
und Gelbtöne dominieren. Figuren und Pflanzen
harmonisch gestalteten Raum setzten sie kräftige und
wurden dunkelbraun konturiert. Der imposante
kontrastreiche Akzente. Die Kombination von hoch-
Bildteppich von 3,6 Metern Breite hing im Speisesaal
wertiger Holzvertäfelung und innovativen, wirkungs-
direkt hinter dem Buffet. Gemeinsam mit den Wand-
vollen Textilien – der bewusste Einsatz von Materia-
vertäfelungen in Zitronenholz mit Walnussholz
lien, Farbe und Ornamentik – wurden typisch für die
gerahmt und den grünen Stuhlbezügen ergab sich ein
Deutschen Werkstätten.
heller, erlesener Raumeindruck.
Di e Bo issevain – Feier de s Dekorativen
Die Gesellschaftshalle der Boissevain war mit Teppichwaren mit von Bruno Paul häufig eingesetzten großen Streifenmustern ausgelegt. Sie brachten kräftige Farbtöne in den Raum. In die Mitte wurde zusätzlich ein
Einen weiteren Höhepunkt in der Ausstattung
236
heller Teppich mit stilisierten Blüten und umlaufender
von Ozeandampfern stellte der Auftrag für die Boisse
gemusterter Kante gelegt. Die im Sächsischen Haupt-
vain, den sogenannten ‚Ostindien-Dampfer‘, im Jahr
staatsarchiv Dresden lagernden Bauunterlagen enthal-
1937 dar. Auftraggeber war die holländische Reederei
ten die Entwurfszeichnungen der Sitzmöbel sowohl in
Koninklijke Paketvaart Maatschappij, die das Schiff in
den Gängen als auch in der großen Gesellschaftshalle.39
Hamburg bei Blohm & Voss bauen und auf Grund ihrer
„Besondere Aufmerksamkeit erforderte unter anderem
Klára Němečková und Kerstin Stöver
Abb. 5: Bruno Paul (Entwurf), Ulla Schnitt-Paul (Entwurf Wandteppich), Speisesaal des Passagierdampfers Boissevain, 1937, Deutsche Werkstätten (Ausführung), Foto: Gebr. Dransfeld, Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden
Abb. 6: Ulla Schnitt-Paul (Entwurf), Karton für Wandteppich Sumatra-Java-Borneo im Speisesaal des Passagierdampfers Boissevain, 1937, Privatbesitz
Textile Moderne unterwegs: Innenausstattung von Schiffen und Zügen durch die Deutschen Werkstätten
237
Abb. 7: Bruno Paul (Entwurf), Gesellschaftsraum des Passagierdampfers Boissevain, 1937, Sächsisches Staats archiv, Hauptstaatsarchiv Dresden
die Durchbildung aller Sitzmöbel. Den Räumen ange-
verwenden, was wir an technischer Qualität leisten.“41
passt, sollten sie in eleganter einladender Form das
Diese Entwicklung erlangte ihren Höhepunkt in der
wochenlange Reisen bequem und die verschiedenen
Ausstattung der Schiffsinterieurs der 1920er bis hin
Raumgruppen wohnlich machen.“40 Im Gesellschafts-
zur Boissevain im Jahr 1937.42 Die Deutschen Werk-
raum wurden die explizit diesem Raum sich fügenden
stätten konnten durch ihre Expertise im Bereich der
und ebenfalls in die Nischen und Separees verteilten
Textilien einen wertvollen Beitrag leisten, da sie
Sitzmöbel mit zwei einfarbigen Epinglé-Geweben in
einerseits wie im Fall von Bertsch-Kampferseck auf
Blau und Rot bezogen (Abb. 7).
spezialisierte Gestalter sowie Gestalterinnen und
Dass die textile Ausstattung eine wichtige Rolle bei den Erneuerungsbestrebungen spielte, bestätigte
Hersteller zurückgriffen, um auf das jeweilige Projekt
Bruno Paul am Ende seines einleitend zitierten
individuell zu reagieren.
Aufsatzes mit den Worten: „Unsere Dampfer können,
238
andererseits auf mustergültige und erstklassige
Zusammenfassend ist zu erkennen, dass die
ohne daß die Kosten den bisherigen Rahmen über-
Textilien mit ihrer Materialität und Ornamentik
schreiten, das Beste unserer dekorativen Kunst zeigen,
zunehmend zu bestimmenden Elementen der Interi-
das Schönste an Mustern in Teppichen und Stoffen,
eurs wurden und gleichberechtigt neben Möbel und
wie sie schon heute gewohnt sind, das Beste zu
Wandverkleidungen traten.
Klára Němečková und Kerstin Stöver
An m e r k u ngen
21
Musterbuch VI 3701-4400 der Wurzener Teppich- und Velours-
fabriken, Kulturhistorisches Museum Wurzen.
Victoria and Albert Museum, London, 3.2.–17.6.2018.
22 23
2
Deutsche Werkstätten Hellerau (D), Nr. 2413. Liste 17457c, S. 1–5.
1
Siehe dazu jüngst die Ausstellung Ocean Liners. Speed & Style, Bruno Paul: Passagierdampfer und ihre Einrichtungen, in: Jahr-
Vgl. Ferrari 2018 (wie Anm. 10), S. 19. Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden, 11764
58, hier S. 55.
24 25
3
Vgl. Anna Ferrari: Rivalität auf hoher See. Der internationale
und Ulla Schnitt-Paul, in: Gegen die Unsichtbarkeit. Designerinnen der
Einfluss deutscher Passagierschiffe, in: Deutsche Werkstätten
Deutschen Werkstätten Hellerau 1898 bis 1938, hg. v. Tulga Beyerle
(Hg.): Eine Klasse für sich. Historischer Schiffsinnenausbau der Deut-
und Klára Němečková, Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen Dres-
schen Werkstätten, Dresden 2018, S. 12–23, hier S. 16; vgl. zu Schiffs-
den, Kunstgewerbemuseum, Dresden, München 2018, S. 164–167,
ausstattungen der Deutschen Werkstätten: Hans Wichmann:
hier S. 164
buch des Deutschen Werkbundes 1914. Der Verkehr, Jena 1914, S. 55–
Ebd. Ergänzung zur Liste 17497 als Ergänzung zu 474576, o. S. Klára Němečková: Schiffe und Bahn – Lisl Bertsch-Kampferseck
Deutsche Werkstätten und WK-Verband 1898–1990, München 1992,
26
S. 106 ff.
des Schiffsbaues – Eindrücke auf der „Hamburg“, in: Dresdner Neuste
4
Nachrichten, Nr. 191, 17.8.1926.
Karl Schaefer: Die Norddeutsche Lloyd und die moderne Raum-
Wilhelm Russo: Ein moderner Riesendampfer. Rationalisierung
kunst, in: Die Kunst, Bd. 18, 1908, S. 76–90, hier S. 76.
27
5 6 7
Münchner Neuste Nachrichten, Nr. 91, 3.4.1927.
Vgl. ebd., S. 82.
Hamburg – Neuyork. Zur ersten Fahrt des Dampfer Neuyork, in:
Vgl. ebd., S. 84–90.
28
Vgl. Konstantin Kleinichen: Die Ausstattung von Hochseeschif-
in: Deutsche Kunst und Dekoration, Bd. 59, 1926/27, S. 375.
Neue Arbeiten der Deutschen Werkstätten Hellerau-München,
fen durch die Deutschen Werkstätten 1903–1953, in: Dresdener
29
Kunstblätter, Bd. 3, 2018, S. 40–47, hier S. 42.
sehr wenig Beachtung zuteil. Als weniger autonome Gestaltungsele-
8
Leider wird den textilen Gestaltungselementen noch immer
Schriftverkehr mit Prof. Richard Riemerschmid, dienstlich
mente bleiben sie oft anonym und die Zuschreibung gestaltet sich
1902–1944, handschriftlicher Vertrag vom 20. September 1902, Säch-
schwierig. Die Entwerferin der Auslegware der New York konnte anhand
sisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden, 11764 Deutsche
der Abbildung in der Deutschen Kunst und Dekoration, Bd. 61, 1927/28,
Werkstätten Hellerau (D), Nr. 0539.
S. 319, identifiziert werden.
9
Betriebsgeschichte: Aufsätze zur Betriebsentwicklung, zur Rolle
der Deutschen Werkstätten bei der Entwicklung der deutschen Wohn-
30
Walter Riezler: „Zweck“ und „technische Schönheit“, in: Die
Form, Bd. 3, 1928, H. 14, S. 385–395, hier S. 391 f.
Nr. 3152, S. 1–5, hier S. 1.
31 32 33
10
über die raumkünstlerische Ausstattung, in: Innendekoration, Bd. 40,
kultur und zum Betriebsgründer Karl Schmidt, Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden, 11764 Deutsche Werkstätten Hellerau (D), Siehe Abb. in: Deutsche Werkstätten (Hg.): Eine Klasse für sich.
Historischer Schiffsinnenausbau der Deutschen Werkstätten, Dresden
Vgl. Němečková 2018 (wie Anm. 25), S. 164. Vgl. Deutsche Werkstätten 2018 (wie Anm. 10), S. 122. Wilhelm Michel: Der Ozean-Express „Bremen“. Ein Überblick
1929, H. 12, S. 434–453, hier S. 435.
2018, S. 43.
34
11
S. 619–625, hier S. 619.
Vgl. Klaus-Peter Arnold: Vom Sofakissen zum Städtebau. Die
Walter Riezler: Die „Bremen“, in: Die Form, Bd. 4, 1929, H. 23,
Geschichte der Deutschen Werkstätten und der Gartenstadt Hellerau,
35
Dresden/Basel 1993, S. 267.
Außendiensten, in: Innendekoration, Bd. 49, 1938, H. 8, S. 264–267,
12
hier S. 265.
Vgl. Dresdner Hausgerät. Deutsche Werkstätten Hellerau, Ber-
lin, Dresden, München, Hamburg Hannover, Preisbuch VIII, Dresden, Auflage 1912, S. 38, 43.
13 14
36 37
Der Holländische Dampfer „Boissevain“. Deutscher Schiffbau in
Ebd. Bereits in den 1920er Jahren ist in der Ausstattung der franzö-
Schaefer 1908 (wie Anm. 4) S. 86.
sischen Überseedampfer eine reiche dekorative Ausstattung zu beob-
Deutsche Werkstätten GmbH Hellerau bei Dresden und Mün-
achten. Vgl. Ghislaine Wood: Inter-war Liners: The Politics of Style, in:
chen, handgearbeitete Möbel, II. Dresden, Auflage 1910, S. 190.
Ocean Liners. Glamour, Speed and Style, hg. v. Daniel Finamore und
15 16 17 18 19 20
Schaefer 1908 (wie Anm. 4) S. 86.
Ghislaine Wood, Ausst.-Kat. Victoria and Albert Museum, London, Lon-
Ebd., S. 86.
don 2018, S. 120–147, hier S. 120f.
Ebd., S. 89.
38
Ebd., S. 77.
Sumatra, Java, Borneo als drei junge Frauen in eleganter Kleidung dar.
Deutsche Werkstätten 2018 (wie Anm. 10), S. 73.
Motivisch griff sie dabei auf tradierte koloniale Stereotypen zurück, vgl.
Vgl. Kerstin Stöver: Dewetex – lichtecht und farbenfroh. Texti-
Němečková 2018 (wie Anm. 25), S. 166.
Ulla Schnitt-Paul stellte die damaligen holländischen Kolonien
les auch den Deutschen Werkstätten Hellerau, in: Dresdener Kunst-
39
blätter, Bd. 3, 2018, S. 22–31, hier S. 27.
Deutsche Werkstätten Hellerau (D), Nr. 4779/2.
Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden, 11764
Textile Moderne unterwegs: Innenausstattung von Schiffen und Zügen durch die Deutschen Werkstätten
239
40 41 42
240
Ebd., S. 266.
Freude“ gefertigt wurde, die sogenannte Große Halle auf dem unteren
Ebd., S. 58.
Promenadendeck aus. Als Architekt wirkte Woldemar Brinkmann. Vgl.
Im gleichen Jahr bauten die Deutschen Werkstätten in dem
Deutsche Werkstätten 2018 (wie Anm. 10), S. 138 ff.; zu den Deutschen
Kreuzfahrtschiff Wilhelm Gustloff, das im Auftrag der nationalsozialisti-
Werkstätten in der Zeit des Nationalsozialismus siehe Arnold 1993 (wie
schen „Deutschen Arbeitsfront“ für die NS-Organisation „Kraft durch
Anm. 11), S. 109 ff.
Klára Němečková und Kerstin Stöver
I N T ER M E D IAL UND INTE RDI S ZI PL I N ÄR / I N T ER M E D IAL AND IN TE RDI S CI PL I N ARY
© 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412514594 – ISBN E-Book: 9783412518059
bei der Malerei, ließen sich mit Pinsel und Stift die Ideen leicht auf das Trägermaterial übertragen. In diesem Text wird der Frage nachgegangen, inwieweit die neue Beschäftigung von Maler_innen mit textilen Medien zu einem Crossover führte, das auf beide Bereiche stilbildend rückwirkte. Beispielhaft steht dafür der deutsche Expressionist August Macke, der sich schon während seines Kunststudiums mit Entwürfen für Stickerei beschäftigte
Crossover zwischen Textilien und Malerei um 1914 am Beispiel von August Macke und der Omega-Künstler_ innen Vanessa Bell, Duncan Grant und Roger Fry
und sich später im Umkreis der Künstlergruppe Blauer Reiter mit Gleichgesinnten zusammenschloss. In England gehörten Roger Fry, Vanessa Bell und Duncan Grant zur sogenannten Bloomsbury Group und damit zu den Vorreiter_innen einer neuen Kunstauffassung. Der Ansatz, Emotion in den Alltag zu überführen und damit in den häuslichen Lebensbereich zu übertragen, führte zur Gründung der Omega Workshops, einer kunsthandwerklichen Produktionsgemeinschaft. Hier wie dort verband die Künstler_innen ein gemeinsames Anliegen. Ihrer Kunstauffassung lag ein dezidierter Modernebegriff zugrunde, der gültige Normen in Frage stellte
Ina Ewers-Schultz
und neue ästhetische Maßstäbe definierte. Dabei spielte die Textilgestaltung, die in enger Verbindung mit den
Um 1900 erhielten Künstler_innen in der
neuen malerischen Konzepten stand, eine besondere
kunsthandwerklichen Reformbewegung eine Schlüssel-
Rolle. Sowohl in Deutschland als auch in England
funktion. Ein ausgebildeter Maler wie Henry van de
wollten die Künstler_innen in die Gesellschaft hineinwir-
Velde widmete sich fortan der Innenraumgestaltung.
ken und unterstrichen ihre Anliegen mit theoretischen
Maler der Künstlergruppe Nabis entwarfen nun auch
Äußerungen, die mit vergleichbaren oder identischen
Teller und Wandbehänge. Dekoration war nicht mehr
Begriffen, Referenzen und Konzepten arbeiteten.
äußerliche Gestaltung, sondern Teil eines gestalterischen Gesamtkonzeptes. Durch die Aufweichung der Hierarchien innerhalb der künstlerischen Gattungen hatte die Reformbewegung den Boden für eine veränderte Sichtweise bereitet, die auch die jüngere
Ent w ürfe f ür St i ckerei und i hre kat a lyt i sche Wi rkung f ür di e Ma lerei Aug ust Ma ckes
Künstler_innengeneration um 1914 prägte. Neben der Malerei rückten nun die Gestaltung von Stoffen und
Schon während seiner Ausbildungszeit an der
der Entwurf von Stickereien als künstlerische Medien
Düsseldorfer Kunstakademie zeichnete August Macke
in den Fokus. Hier war die Ausgangsbasis ähnlich wie
Stickerei-Entwürfe. Die altertümlichen Vorlagen, denen
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sich seine Freundin und spätere Frau, ihre Mutter und Großmutter allabendlich widmeten, sagten ihm nicht zu. Über die Jahre weitete Macke diese Tätigkeit aus und fertigte Vorlagen für Kissen, Stuhlbezüge, Wandbehänge und Kleiderbesätze.1 Sie dienten der Ausgestaltung der privaten Wohnräume sowie seines Ateliers und stellten einen wesentlichen Bestandteil bei der ästhetischen Neugestaltung des privaten Lebensumfeldes dar. Den überwiegenden Teil der Entwürfe zeichnete er direkt auf den Stoff vor und notierte dort die zu verwendenden Farbtöne. Andere gestaltete er in farbiger Kreide oder Aquarell als Vorlagen, sodass sie erst auf den Stoff übertragen werden mussten. Ausgeführt wurden die Entwürfe von den weiblichen Mitgliedern der Familie; später übergab Macke auch der Mutter seines Künstlerfreundes Louis Moilliet Entwürfe, mit denen sie sich auch noch nach dem Tod des Künstlers beschäftigte. Den Stickenden stellte sich dabei immer wieder das Problem der Umsetzung: So beklagte sich Mathilde
Abb. 1: August Macke, Waldbach, 1910, Öl auf Leinwand, 61,6 x 61,4 cm, WVZ G 215, Indiana University Art Museum, Bloomington
Moilliet über die Schwierigkeit, die richtigen Nuancen des Stickgarns zu beschaffen, um die vom Künstler
244
Die Beschäftigung mit dem Textilen veränderte
vorgegebenen Farbtöne zu realisieren.2 Ganz zwangsläu-
Mackes Blick auf die Malerei grundlegend: „Vorige
fig waren die Ausführenden so an der Farbwahl mitbe-
Woche habe ich auf einem Brett versucht, Farben
teiligt. Wie entscheidend ‚seine‘ Farbvorstellungen
zusammenzusetzen, ohne an irgendwelche Gegen-
jedoch für Macke waren, zeigte sich, als er während des
stände wie Menschen oder Bäume zu denken, ähnlich
Aufenthaltes 1913 am Thuner See ein Fachgeschäft
wie bei der Stickerei“4, berichtete er 1907. Es war
entdeckte, das feinste Mooswolle führte. Macke, so
Mackes Unvoreingenommenheit, die ihn immer wieder
erinnert sich seine Frau, bestellte dort „nach einer
veranlasste, ungewohnte Wege zu gehen, um sein im
Farbtafel ungefähr hundert verschiedene Farbtöne, die
gleichen Jahr formuliertes Ziel zu erreichen, „mit
extra in der Fabrik eingefärbt werden mußten.“3 Die
wenigen Strichen möglichst das auszudrücken, was ich
technische Umsetzung der Stickereien interessierte den
fühle [...].“5 Ihn faszinierte die Möglichkeit, mit vorhan-
Künstler weitaus weniger. Da die Ausführenden dem
denen Farben immer neue Zusammenstellungen zu
engsten Freundes- und Familienkreis angehörten, fiel
probieren. Das war genau der gegenteilige Prozess
die Entscheidung darüber vermutlich in persönlichen
zum klassischen Malvorgang wie er an den Akademien
Gesprächen. Einerseits fehlte ihm die genaue Kenntnis
gelehrt wurde, bei dem die Farbwahl von der Wahr-
der Stiche, andererseits zeigen seine Äußerungen und
nehmung abhing. Immer wieder gab es Wendepunkte
die Entwürfe, dass es ihm in erster Linie um die farbli-
in Mackes künstlerischen Entwicklungsphasen, an
chen Zusammenstellungen ging.
denen die Beschäftigung mit dem Textilen neue
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Abb. 2: August Macke, Clown und Kunstreiterin, 1913, Öl auf Leinwand, 81 x 105 cm, WVZ G 343, Rückseite: Bildnis einer Dame mit Hut, Privatbesitz
Impulse lieferte. 1907 löste sich Macke von der
Konturen des Baches, von Blumen, Bäumen und
akademischen Malerei und seiner Bewunderung für
Steinformationen sind mit starken Linien erfasst und
den symbolistischen Künstler Arnold Böcklin. Der
erhalten so eine flächige Wirkung. Das bewegte
Umweg über die Stickerei ermöglichte es ihm, das
Licht- und Schattenspiel auf dem Waldboden ist zu
Inhaltliche zurückzustellen und sich auf das für ihn
einem dekorativen, abstrakten Muster aus farbigen
Wesentliche, nämlich die rhythmische Anordnung der
Flächen verdichtet. Jegliche Bewegung erstarrt
Farben zu konzentrieren. Um 1910 rückt das Gemälde
beziehungsweise wird in den Ausdruck der lebendigen
Waldbach (Abb.1) die Gestaltung der Natur aus
Farbkontraste übertragen. Die Abstrahierung des
Farbformen in den Mittelpunkt. Der Blick fällt in
Abbildhaften nahm mit den Jahren weiter zu. Im
starker Aufsicht auf einen engen Naturausschnitt.
Gemälde Clown und Kunstreiterin, 1913 (Abb. 2), sind
6
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die drei männlichen Figuren und die Kunstreiterin in
Medium war ein entscheidender Katalysator für die
der festgefügten Bildstruktur kaum noch lesbar. Das
neuartige Verwendung der malerischen Mittel Farbe,
Stoffliche des Zirkuszelts, das Rund der Manege und
Form und Linie. Und andersherum nahmen seine
die szenische Darbietung sind in einer Bildebene durch
künstlerischen Vorstellungen über die Gestaltung von
die Farbformen gleichsam miteinander verkeilt. Die
Textilien Einfluss auf die Raumgestaltung.
Leinwand wird nun dezidiert als zweidimensionale Fläche behandelt. Dies entsprach Maurice Denis’ Neuinterpretation der Malerei. Mit seinem berühmten Ausspruch von der Leinwand als mit Farben zu füllender Fläche hatte er jahrhundertealte Kunstauf-
Text i li en a ls Ma lerei i m Ra u m : di e Idee der Om eg a -Künst le r _ i nnen
fassungen negiert.7 Auch bei Macke ist der Bildträger nur noch ein Stück Stoff, auf dem sich die Farben
bildeten das künstlerische Zentrum der Bloomsbury
den. Die Stimmung wird allein über Farben und ihre
Group und vertraten in ihrer Malerei radikale Vorstel-
Kontraste und rhythmische Verteilung auf der Fläche
lungen, die denen des deutschen Expressionismus
transportiert; der in Farbbahnen zerteilte Vorhangstoff
verwandt waren. Das Konzept, die emotionalen
ist in dem Gemälde Ausgangspunkt für die Gliederung
Qualitäten der Malerei in den Raum zu übertragen,
der gesamten Bildstruktur. Die Komposition erscheint
stand hinter der Gründung des Omega Workshops im
wie die gemalte Verwirklichung einer Idee, die Macke
Mai 1913 in London. Über das Kunsthandwerk sollten
1906 während seiner Tätigkeit als Bühnen- und
die revolutionären neuen Ideen in die Gesellschaft
Kostümbildner für das Düsseldorfer Schauspielhaus
hineingetragen werden. Auf der anderen Seite sollte
formuliert hatte: „Stimmungen durch Vorhänge und
die angewandte Arbeit den Künstler_innen zusätzliche
Farben allein [zu] machen, ohne Nachahmung der
Einnahmequellen bescheren. „I am intending to start a
Natur.“8 In dieser Phase entstand auch Mackes Serie
workshop for decorative and applied art“, formulierte
abstrakter Ölgemälde. Die pastosen Flächen erschei-
Roger Fry im Zusammenhang mit der Gründung des
nen als ein Puzzle ineinandergesteckter Formen, das
Workshops, „I find that there are many young artists
nun zu einem vollkommen flächigen Muster ohne
whose painting shows strong decorative feeling, who
jeden gegenständlichen Bezug zusammengefügt ist. Es
will be glad to use their talents on applied art both as a
ist wohl kein Zufall, dass Macke in den für seine
means of livelihood and as an advantage to their work
künstlerische Entwicklung so entscheidenden Jahren
as painters and sculptors.“11
9
1912 und 1913 auch zwei große Wandteppiche
246
Roger Fry, Duncan Grant und Vanessa Bell
nebeneinander zu einem dekorativen Muster verbin-
Abstrakte Segmente aus den Bildern dienten
entwarf, die beide einen hohen Grad an Abstraktion
teilweise unmittelbar als Anregung für die Stoffmuster.
aufweisen.10 Die willkürliche Farbigkeit, die auf das
Die bewegten Formen des Stoffes Amenophis scheint
Erzielen von Emotionen ausgerichtet war, und das
direkt von den farbigen Landschaftsstrukturen von
Zurücktreten des Gegenstandes, der sich der Bildwir-
Roger Frys Flusslandschaft River with poplars bezie-
kung als Gesamtheit unterordnen musste, resultierten
hungsweise von der gemalten Binnenstruktur der Eier
in entscheidendem Maße aus Mackes Beschäftigung
seines Still Life, Jugs and Eggs, beide 1912, übernom-
mit der Stickerei. Die Auseinandersetzung mit diesem
men.12 Darüber hinaus wurde eine dekorative Bildge-
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staltung auch als Ganzes im Textildesign adaptiert:
oder den Dilettantismus, die als gleichwertige Kunst-
eine Wandschirm-Dekoration ging auf Vanessa Bells
äußerungen definiert wurden und die sich die moder-
Gemälde Summer Camp, 1913, zurück, während Grants
nen Künstler_innen als neue Inspirationsquellen
Motiv Lily pond als Referenz für eine Tischoberfläche
erschlossen. Als Roger Fry die Idee zur Gründung von
und einen Wandschirm diente. Und die Kombination
Omega lancierte, hatte er die von dem Modeschöpfer
von schwarzen Winkellinien und dynamisch akzentu-
Paul Poiret 1911 in Paris gegründete École Martine im
ierten, farbigen Flächen einiger Gemälde greift ein
Blick, an der junge Autodidaktinnen als Entwerferin-
Teppichentwurf von 1913–15 auf.14 In einem
nen engagiert waren.20 Dilettantismus als kreatives
Zeitungsartikel bemerkte Fry: „One of the essences of
Potenzial war hier zum Prinzip erhoben. Der Charakter
Post-Impressionism is the return to a more architec-
der Omega-Produkte, das scheinbar Unfertige, wirkte
tural and structural basis of design, and is therefore
ähnlich und verdeutlichte zusammen mit den leuch
peculiarly adapted to the applied arts.” Es war also
tenden Farben den Anspruch auf Authentizität und
die neue Auffassung von Dekoration als ein Gesamt-
Emotion. Diese Optik widersprach den Sehgewohn-
konzept von Gestaltung, die Malerei und Kunsthand-
heiten: „My God, what colours you are responsible for!“,
werk gleichermaßen charakterisierte und zu einer
schrieb Virginia Woolf fassungslos über ein von ihrer
Übertragung führte.
Schwester Vanessa Bell entworfenes Kleid, „Karin’s
13
15
Textilien spielten dabei eine besondere Rolle und
clothes almost wrenched my eyes from the sockets –
zwar in der gesamten Periode der Jahre 1913 bis
a skirt barred with reds and yellows of the vilest kind,
1919, in der die Omega Workshops bestanden. Dem
and a pea green blouse on top, [...] supposed to be of
Omega Workshops Descriptive Catalogue 1914 ist zu
the very boldest taste.“21 Die Kunstauffassung der
entnehmen, dass von Anfang an handgefärbte Stoffe,
Omega-Künstler_innen war demnach bewusst als
Kleider und seidene Abendmäntel zum Verkauf
antibürgerliche Provokation gedacht. „The desire to
standen. Aus den Stoffen Maud und Margery wurden
ground modernism in anti-authoritarian individualism
Tuniken gefertigt16, 1915 dann eine eigene Modeabtei-
was fundamental to Bloomsbury“, konstatiert Reed.22
lung eingerichtet.17 „The modern movement in textile
Diese Haltung lag auch der Kunstauffassung von
design began with the establishment of the Omega
Macke und dem Blauen Reiter mit ihrem Angriff auf
Workshops“ , erklärte Paul Nash im Jahr 1925 über
gängige Kunstnormen, der Abwertung des Staffelei
die Tragweite des Konzeptes.
bildes und ihrer grundlegenden ästhetischen Neu
18
Die malerischen Eigenschaften des Entwurfes
konzeption zugrunde. „Jede Kunstform ist Äußerung
sollten auf den fertigen Stoff übertragen werden. In
seines inneren Lebens“23, konstatiert August Macke.
der französischen Firma Maromme Printworks wurde ein Hersteller gefunden, der diese Anforderung mithilfe eines vormodernen Druckverfahrens realisier-
Wechselw i rkungen
te. Die Sichtbarkeit des Pinselduktus’ vermittelte 19
Spontaneität und stand in bewusstem Gegensatz zur
„Working at the Omega helped to generate
hochwertigen Perfektion der beliebten Arts and
ideas“24, erinnert sich Grant. Die Arbeit an der Stoffge-
Crafts-Textilien. Damit ergeben sich bewusste An-
staltung wirkte auch auf die freie Kunst zurück. Als
klänge an Kinderkunst, die sogenannte primitive Kunst
vorbildhaft für die Neuerungen der Bloomsbury Group
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wird in der Forschungsliteratur vor allem die französische Malerei beurteilt.25 Sicherlich lässt sich eine grundsätzliche Neuorientierung im Œuvre der Künstler_innen auf die beiden von Roger Fry in den Londoner Grafton Galleries veranstalteten Ausstellungen von 1910 und 1912 zurückführen, die zunächst die französische, dann die europäische Avantgarde erstmals in England unter dem Begriff ‚Post-Impressionism‘ vorstellten. Wie sehr die Beschäftigung mit Textilien und ihren speziellen dekorativen Anforderungen jedoch auch die Befreiung der Malerei beeinflusste, zeigen insbesondere die zwischen 1913 und 1915 entstandenen Werke. In dieser Periode widmeten sich die Künstler_innen intensiv ihrer kunsthandwerklichen Arbeit für die Omega Workshops.26 In dem Gemälde Oranges and Lemons, 1914 (Abb. 3), zitiert Bell rechts im Bildhintergrund den von ihr entworfenen Stoff Maud (Abb. 4). Das Muster verselbstständigt sich, verschränkt sich mit den Blättern des Straußes und greift auf die gesamte Bildfläche über. Die Farben bewegen sich unabhängig von den Objektgrenzen über diese hinaus. Die Vase selbst wird zur schwarz umrandeten Fläche ohne Volumen, auf der sich das Stoffmuster spiegelt und
Abb. 3: Vanessa Bell, Oranges and Lemons, 1914, Öl auf Pappe, 73 x 51,5 cm, Privatsammlung
damit die Flächigkeit weiter betont. In Grants Frühwerk ist bereits eine Vorliebe für die Darstellung von Textilien sowie für eine stoffliche Wirkung der Bilder ablesbar. 1911 hatte der Künstler für die Hochschule Borough Polytechnic in London in der monumentalen Arbeit Bathing die Wellen zu einem abstrakten Linienmuster stilisiert.27 Durch die Tätigkeit für Omega lässt sich eine gesteigerte Flächigkeit und dekorative Rhythmisierung der Gesamtkomposition feststellen.
Abb. 4: Vanessa Bell (zugeschrieben), Stoffmuster Maud, 1913, Leinen, bedruckt, 14,3 x 41 cm, Hersteller: Omega Workshops, Stiftung August Ohm, Hamburg
In The Mantelpiece (Abb. 5) von 1914 sind die Bild-
248
ebenen kaum noch auseinanderzudividieren, lediglich
Das Design des Stoffes Pamela erscheint dabei dem
einzelne Gegenstände sind aus dem sie umgebenden
Gemälde wie ein Bildgerüst zugrunde zu liegen.
dekorativen, zu einem dichten Farbteppich verwobe-
Die Abbildung von Stoffen und ihre dekorative Qualität
nen Muster durch farbige Umrisslinien hervorgehoben.
veranlasste die Künstler_innen ganz offensichtlich
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ganz eigenem Charakter und zeigen weniger Gemeinsamkeiten mit dem französischen Kubismus als vielmehr mit den eigenen angewandten Entwürfen. So richtete Bell im Dezember 1913 ein Kinderzimmer in den Geschäftsräumen der Omega Workshops ein, dessen Wanddekoration aus geschnittenem, koloriertem Papier gestaltet war. Es entstand gleichsam ein begehbares papier collé.29 Derartige Experimente wurden in den malerischen Bereich übertragen und spiegeln sich in abstrahierenden wie auch in figürlichen Gemälden wider. In Portrait of Molly MacCarthy, 1914/15, behandelt Bell die Malerei nun insgesamt wie eine Collage; Gemaltes und Geklebtes sind nicht mehr zu unterscheiden. Der gemusterte Vorhang im Hintergrund ist nur noch Anlass, die Komposition in Kompartimente aufzubrechen. Von der gemalten Textilie überträgt sich die Befreiung und Auflösung der Formen auf die gesamte Komposition. Wenn in den Abb. 5: Duncan Grant, The Mantelpiece, 1914, Öl, Papier auf Pappe, 45,7 x 39,4 cm, Tate Gallery, London
Gemälden das Material Stoff schließlich als Erweiterung der malerischen Mittel neben der Ölfarbe dann tatsächlich auf die Leinwand geklebt wird, findet das
zur freieren Handhabung der malerischen Mittel und
Crossover auch in ganz realem Sinn statt und wird
diente wie bei August Macke dazu, die malerischen
dieser Inspirationsquelle gleichsam Tribut gezollt.
Ebenen miteinander zu verschmelzen und die
Hervorzuheben ist ein Gemälde von Duncan Grant, in
Materialität der Gegenstände aufzuheben.
dem er seine Lebensgefährtin in einem selbst entworfenen Omega-Kleid porträtiert und Originalstofffetzen des Kleides in das Bild fügt.30 Der Stoff ist Zitat und
Stoff i m Bild
zugleich gestalterisches Mittel, die Grenzen beider künstlerischer Bereiche aufzuheben. In seinem
„I want more and more to make pictures like
Gemälde Abstract, 1914–15 (Abb. 6), verwendet Grant
objects in some way and yet believe it is useless to
nun gemusterte Stoffstücke prominent als bildgestal-
invent“, schrieb Bell und fügte hinzu: „I want to paint
tendes Element. Das Gemälde gehört zu einer Serie
unrealistic realistic works.“28 In den Jahren 1914/15
von abstrakten Arbeiten, die Grant und Bell vor allem
verwendeten Bell und Grant in einer Serie von
1914/15 ausführen. Hier lassen sich deutliche Paralle-
Gemälden das Prinzip der Collage. Der Auslöser mag in
len zu der strengeren, blockhaft-geometrischen
Besuchen von Grant (1913) sowie Bell und Fry (Anfang
Komposition vieler Omega-Teppichentwürfe feststel-
1914) im Pariser Atelier von Picasso liegen. Allerdings
len, von denen sich zahlreiche in den Londoner
sind die Arbeiten der englischen Künstler_innen von
Sammlungen des Courtauld Institute of Art und des
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Abb. 6: Duncan Grant, Abstract, 1914/15, Farbe, Stoff, Collage auf Papier, auf Pappe, 63 x 45 cm, Sammlung Hoffmann, Berlin
Victoria & Albert Museum befinden. Frys Motto,
Vielmehr scheint die Strenge der Bildgestaltung
„There is no immediately obvious reason why the artist
aufgehoben, erhält durch den Stoff gleichsam einen
should represent actual things at all“ , das er schon
gestischen Anstrich. Das Textile erweist sich hier
1911 postuliert hatte, ist nicht mehr nur im textilen
sprichwörtlich als befreiende Intervention. Zugleich ist
Bereich umgesetzt, sondern nun auch in die Malerei
es eine Möglichkeit, jenseits farblicher Wirkung über
übertragen. Hier ist der Stoff jedoch mehr als nur
das Aufbrechen des Geometrischen Emotion und
verknüpfendes Mittel beider künstlerischen Bereiche.
Spontaneität zu transportieren.
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Ge s c h r i e benes
August Macke das Kunstwerk nicht mehr als Abbild, sondern als „Gleichnis der Natur“ und „selbständigen
Sowohl mit ihren Arbeiten im textilen Bereich
Gedanken des Menschen.“36 Wesentliche Begriffe
als auch mit den Bildern der Jahre 1913 bis 1915/16
waren dabei in Anlehnung an Eugène Delacroix
verstießen August Macke wie die Omega-Künstler_in-
„freedom and vitality“ und „joy“, mit denen Fry im
nen Roger Fry, Duncan Grant und Vanessa Bell gegen
Zusammenhang mit der Gründung der Workshops
Kunstnormen und überschritten Gattungsgrenzen. Das
operierte: „The artist is the man who creates not only
Crossover der unterschiedlichen Bereiche befruchtete
for need but for joy [...].“ 37 „Simplicity and gaiety“ in
dabei wechselseitig angewandte und freie Kunst.
der Dekoration des Hauses führten, so Bell, zu mehr
Beiden Bereichen lagen dieselben kunsttheoretischen
persönlicher Freiheit, diese wiederum zu einem
Ideen zugrunde. Die Zusammengehörigkeit der
besseren Familienleben und tieferen Freundschaften
Medien manifestierte sich, wenn sie zusammen
und zu einer erhöhten Kreativität in der Malerei.38
ausgestellt wurden wie beispielsweise in den beiden
Macke sprach vom „Gesang von der Schönheit der
Ausstellungen der Grafton Group in der Alpine Gallery
Dinge.“39
in London 1913 und 1914. Fry, Bell und Grant gehör-
Das traditionelle Repräsentationssystem als
ten der Ausstellungsgemeinschaft an und präsentier-
Bewertung für Kunst wurde außer Kraft gesetzt,
ten hier ihre textilen Arbeiten Seite an Seite mit ihren
Emotion als zentrale Kategorie in den Fokus gerückt.
Gemälden. August Macke wiederum trat 1912 der
Diese war das entscheidende Kriterium, das sich vom
‚Gilde‘ bei, einer Vereinigung angewandter Künstler_in-
Kunstwerk ganz unmittelbar auf die Betrachtenden
nen. Im selben Jahr plante er sogar, zusammen mit
übertragen sollte. Durch das Crossover realisierte sich
dem Künstlerfreund Heinrich Campendonk eine
das Bestreben der Künstler_innen nach der Gestaltung
neuartige Akademie zu gründen, an der freie und
der gesamten Lebenswelt. Die Trennung zwischen
angewandte Kunst gemeinsam und gleichberechtigt
freier Kunst und Handwerk war aufgehoben. Formen
gelehrt werden sollten.33
galten nun als „starke Äußerungen starken Lebens“40,
32
Kunst als Ausdruck und Stimulus des imaginati-
wie Macke formulierte. Die Suche nach einer künstle-
ven Lebens, dies bildete die Grundlage, die Textilge-
rischen Sprache, die ihrem Verständnis des Zeitgenös-
staltung und Komposition der Gemälde gleichermaßen
sischen entsprach, schloss alle schöpferischen Berei-
bestimmte und Kunst und Leben miteinander in
che gleichermaßen ein. Damit verbunden war die
Einklang brachte. Roger Fry ermutigte in seinen
Absage an die Vorherrschaft des Staffeleibildes, wie
Schriften dazu, die literarische Form zugunsten des
sie sich im 19. Jahrhundert herauskristallisiert hatte.
expressiven Potenzials des Kunstwerks hinter sich zu
Die neue Definition von Dekoration galt nicht mehr
lassen wie etwa in seinem Text „An Essay in Aesthe-
nur für den angewandten beziehungsweise textilen
tics“, den er 1909 verfasste.34 Und im Katalog zur
Bereich, sondern auch für das Bild, das damit seine
zweiten, von ihm 1912 organisierten Ausstellung zum
Bedeutung im Raumgefüge veränderte und in die
Post-Impressionismus bewertete er ihre Errungen-
Gesamtgestaltung eingebunden wurde.
schaften wie folgt: „They do not seek to imitate form,
Besonders interessant ist, dass für die neue
but to create form, not to imitate life, but to find an
Gestaltungsweise der Bilder auch ein neues Vokabular
equivalent for life; [...].“35 Ähnlich definierte auch
angemessen erschien, das dem textilen Bereich
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entstammte. August Macke beschrieb seine Gemälde
lagen des modernen Bildes abzuwerten. Die kräftigen,
als „kunstvolle Teppiche“41, die Komposition einer
harmonischen Farben von Mackes Gemälde Zoologi-
heimatlichen Landschaft als „prächtige, starke Teppich-
scher Garten (1912), so hieß es in der Presse, würden
muster der Meßdorfer Felder“ 42. Und Roger Fry
einem Wandteppich gut anstehen.44 Das neue Kon-
verwendete Begriffe aus dem textilen Bereich, wenn
zept, Dekoration als zentrales Mittel für Emotion auch
er formulierte: „By that I mean that they wish to make
im Gemälde einzusetzen, wurde weiterhin ausschließ-
images which by the clearness of their logical structure
lich für den kunsthandwerklichen Bereich als ange-
and by their closely-knit unity of texture, shall appeal
messen angesehen, für die Malerei aber abgelehnt.
to our disinterested and contemplative imagination
Für die Künstler_innen selbst passten die Begriffe aus
with something of the same vividness as the things of
dem textilen Bereich offensichtlich jedoch genau, um
actual life appeal to our practical activities.“43 Umge-
die Andersartigkeit ihrer Gemälde zu beschreiben und
kehrt argumentierte die Kunstkritik mit ähnlichen
die Grenzüberschreitung zu verdeutlichen.
Kategorien, nun allerdings um die dekorativen Grund-
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1
An m e r k u ngen
The Courtauld Institute of Art, London, Online Collection, Abb.: http://
Dominik Bartmann: August Macke Kunsthandwerk, Frankfurt
4.1.2019].
www.artandarchitecture.org.uk/images/gallery/0e925465.html [Abruf:
a. M. 1982.
15
2
zette, 11.4.1913, S. 3.
Mathilde Moilliet: Brief an Sophie Gerhardt, Riehen,
Roger Fry: Post-Impressionism in the Home, in: Pall Mall Ga-
27.12.1919, Museum August Macke Haus, Archiv.
16
3
Eröffnung im Juli 1913 fertig. Vgl. Collins 1983 (wie Anm. 12), S. 44
Elisabeth Erdmann-Macke: Erinnerung an August Macke (1962),
bzw. S. 106 f.
Frankfurt a. M. 1987, S. 287.
4
Sechs Stoffe, entworfen von Fry, Duncan und Bell, waren zur
August Macke: Brief an Elisabeth Gerhardt, Kandern, 14.7.1907,
17
Elizabeth M. Sheehan: Dressmaking at the Omega: Experiments
in: Werner Frese und Ernst-Gerhard Güse (Hg.): August Macke. Brief an
in Art and Fashion, in: Beyond Bloomsbury: Designs of the Omega
Elisabeth und die Freunde, München 1987, S. 137.
Workshops, 1913–19, hg. v. Alexandra Gerstein, Ausst.- Kat. The Cour-
5
tauld Institute of Art, London, London 2009, S. 51–59.
August Macke: Brief an Elisabeth Gerhardt, Charlottenburg
(Berlin), 18.12.1907, in: Frese/Güse 1987 (wie Anm. 4), S. 163.
18
6
Febr. 1926, S. 83, zit. n. Mary Schoeser: Omega Textiles: A Sea-change
August Macke: Brief an Elisabeth Gerhardt, Kandern, 19.5.1907,
Paul Nash: Modern English Textiles, 1925, in: Artwork, Jan./
in: Frese/Güse 1987 (wie Anm. 4), S. 119.
into Something Rich and Strange, in: Ausst.-Kat. London 2009 (wie
7
Anm. 17), S. 17–25, hier S. 17.
Maurice Denis: Definition du Néo-Traditionnisme (1890), Wie-
derabdr. in: Théories 1890–1910. Du Symbolisme et de Gauguin vers
19
un nouvel ordre classique, 3. Aufl., Paris 1913, S. 1–13, hier S. 1.
Frances Spalding: Duncan Grant, London 1987, S. 136.
8
August Macke: Brief an Elisabeth Gerhardt, Düsseldorf, nach
20
Dafür wurden mit Filz bezogene Holzstöcke verwendet, nach Isabell Anscombe: Omega and After. Bloomsbury and the Deco-
rative Arts (1981), London 1989, S. 12–15, und Fiona MacCarthy:
dem 23.5.1906, in: Frese/Güse 1987 (wie Anm. 4), S. 82. WVZ
Roger Fry and the Omega Idea, in: The Omega Workshops 1913–19.
G 499–501 in: Ursula Heiderich: August Macke. Gemälde. Werkver-
Decorative Arts of Bloomsbury, hg. v. Judith Collins, Ausst.-Kat. Crafts
zeichnis, Ostfildern 2008, S. 478–481.
Council Gallery, London, London 1984, S. 9–23, hier S. 11.
9
10
Vgl.
August
Macke,
Farbige
Formen,
I–III,
Diese wurden erst posthum von einer Weberin ausgeführt. Vgl.
Ina Ewers-Schultz: Eine Reise durch das Leben von August Macke, in:
21
Virginia Woolf: Brief an Vanessa Bell, Asheham, 16.8.1916, zit.
n. Anscombe 1989 (wie Anm. 20), S. 62.
Macke ganz privat, Ausst.-Kat. Kunsthaus Stade, Stade, Köln 2008,
22
S.13–135, hier S. 104 f.
ture, and Domesticity, New Haven 2004, S. 11.
11
Roger Fry: Rundschreiben, Dezember 1912, zit. n. Douglas Blair
23
Vgl. Christopher Reed: Bloomsbury Rooms. Modernism, SubculAugust Macke: Masken, in: Der Blaue Reiter, hg. von Wassily
Turnbaugh: Duncan Grant and the Bloomsbury Group, Secaucus 1987,
Kandinsky und Franz Marc, Ausst.-Kat. Galerie Thannhauser München
S. 51.
(1911), Dokument. Neuausg., hg. von Klaus Lankheit, München 1984,
12
Judith Collins: The Omega Workshops, London 1983, S. 43, und
S. 53–59, S. 56, Hervorhebung durch die Autorin.
Karin Thönissen: Die Omega Workshops. Malerei im Raum, in: Auf Frei-
24
heit zugeschnitten. Das Künstlerkleid um 1900 in Mode, Kunst und
Collins 1983 (wie Anm. 12), S. 113.
Duncan Grant: Gespräch mit David Brown, Herbst 1972, zit. n.
Gesellschaft, hg. v. Ina Ewers-Schultz und Magdalena Holzhey, Ausst.-
25
Kat. Kunstmuseen Krefeld, München 2018, S. 214–219, hier S. 219.
Vgl. Richard Shone: Works, in: ders.: From Omega to Charleston. The
13
Art of Vanessa Bell and Duncan Grant 1910–1934, hg. v. Matthew
Collins 1983 (wie Anm. 12), S. 43. Vanessa Bell, Summer Camp,
1913, Öl auf Leinwand, 62,2 x 75 cm, Privatbesitz, und dies., Bathers in
U. a. werden Cézanne, Matisse, Picasso als Vorbilder genannt.
Traves, Ausst.-Kat. Piano Nobile, London, London 2018.
a Landscape, Faltbarer Schirm, 1913, Gouache auf Papier, auf Leinwand
26
aufgezogen, 178,5 x 208,3 cm, Victoria & Albert Museum, beide abge-
Roger Fry, Vanessa Bell and Duncan Grant, hg. v. Richard Shone, Ausst.-
bildet in: Collins 1983 (wie Anm. 12), Nr. 32 und Nr. 33. Duncan Grant,
Kat. Tate Gallery, London, London 1999, S. 23–96, z. B. S. 32: Grace
Lily pond table, 1913, Gips und Malerei auf Holz, 74 x 103,4 cm, The
Brockington: Relationships: Formal, Creative and Political, in: Grace
Courtauld Institute of Art, Online Collection, Abb.: http://www.artan-
Brockington (Hg.): In Focus: Abstract Painting c. 1914 by Vanessa Bell,
darchitecture.org.uk/images/gallery/0f26f563.htm [Abruf: 4.1.2019].
Tate Research Publication, 2017, https://www.tate.org.uk/research/
Duncan Grant, Four-fold screen with Lily pond design, 1913/14, Öl auf
publications/in-focus/abstract-painting-vanessa-bell/relationships
Holz, 181,3 x 242,4 cm, The Courtauld Institue of Art, Online Collec-
[Abruf: 29.11.2018].
Siehe: Anscombe 1989 (wie Anm. 20); The Art of Bloomsbury.
tion, Abb.: http://www.artandarchitecture.org.uk/images/gallery/
27
f6673c45.html [Abruf: 4.1.2019].
306,1 cm, Tate Gallery, London, Abb. in: https://www.tate.org.uk/art/
14
artworks/grant-bathing-n04567 [Abruf: 4.1.2019].
Prinzip der Omega Workshops war, die Arbeiten anonym zu
Duncan Grant, Bathing, 1911, Öl auf Leinwand, 228,6 x
belassen, sodass Zuschreibungen schwierig sind. Vgl. Omega Work-
28
shops, Rug design, 1913–15, Gouache, pencil on paper, 40,5 x 50,7 cm,
1916, zit. n. Anscombe 1989 (wie Anm. 20), S. 67.
Vanessa Bell: Brief an Roger Fry, Wissett Lodge, Ende April
Crossover zwischen Textilien und Malerei um 1914 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412514594 – ISBN E-Book: 9783412518059
253
29
Omega Workshops nursery, Omega publicity photograph,
Kato: The Omega Workshops: Roger Fry’s Search for Community, in:
30
Duncan Grant, Vanessa Bell, 1914, Öl auf Leinwand, 94 x
Ausst.-Kat. London 2009 (wie Anm. 17), S. 71–77, hier S. 73. Frys Ideen
60,6 cm, National Portrait Gallery, London, NPG 4331, Abb.: https://
basierten auf Delacroix. Dieser hatte 1863 in seinem Tagebuch notiert.
www.npg.org.uk/collections/search/portrait/mw00493/Vanessa-Bell
„Es ist die erste Pflicht eines Bildes, ein Fest für die Augen zu sein.“ Eu-
[Abruf: 4.1.2019].
gène Delacroix: Mein Tagebuch (1903), Zürich 1993, S. 251. Siehe auch
31
Spalding 1987 (wie Anm. 19), S. X.
Roger Fry: Post-Impressionism, in: The Fortnightly Review, Mai
1911, S. 862, zit. n. Julian Stair: The Employment of Matter: Pottery of
38
the Omega Workshops, in: Ausst.-Kat. London 2009 (wie Anm. 17),
Workshops, 1913–19, Rezension zur gleichnamigen Ausstellung,
S. 27–33, hier S. 28.
https://www.studiointernational.com/index.php/beyond-bloomsbury-
32
designs-of-the-omega-workshops-1913 [Abruf: 14.12.2018].
Grafton Group Exhibition, März 1913, siehe Spalding 1987 (wie
Janet McKenzie: Beyond Bloomsbury: Designs of the Omega
Anm. 19), S. 135; zur zweiten Grafton Group Exhibition, Januar 1914,
39
siehe Collins 1983 (wie Anm. 12), S. 79.
Frese/Güse 1987 (wie Anm. 4), S. 302.
33
leben, Interieur und Kunsthandwerk im rheinischen Expressionismus
40 41
(Schriftenreihe Verein August Macke Haus Bonn, 54), Bonn 2008,
in: Frese/Güse 1987 (wie Anm. 4), S. 58.
S. 49–103, hier S. 66.
42
34
8.1.1908, in: Frese/Güse 1987 (wie Anm. 4), S. 170.
Ina Ewers-Schultz: „Ringsum Schönheit“, in: Lebenswelten. Still-
Roger Fry: An Essay in Aesthetics, in: New Quarterly, 1909,
August Macke: Brief an Bernhard Koehler, Bonn, 30.3.1913, in: Macke 1911, in: Lankheit 1984 (wie Anm. 23), S. 57. August Macke: Brief an Elisabeth Gerhardt, Bonn, 14.7.1905, August Macke: Brief an Elisabeth Gerhardt, Berlin-Schöneberg,
wiederabgedr. in: ders.: Vision and Design, London 1920, hier S. 2, 4.
43
35
and Russian Artists, London 1912, S. 117, zit. n. Anscombe 1989 (wie
Roger Fry: Preface, in: Second Post-impressionist Exhibition,
Roger Fry: Second Post-Impressionist Exhibition. British French
British French and Russian Artist, Ausst.-Kat. Grafton Galleries, London
Anm. 20), S. 16.
1912, wiederabgedr. in: Roger Fry: Vision and Design, London 1920,
44
S. 157.
raf-Richartz-Museum, in: Kölner Stadtanzeiger, 9.1.1913, wiederab-
36
August Macke: Brief an Bernhard Koehler, 30.3.1913, in: Frese/
Anonym: Zur Jahres-Ausstellung der Kölner Sezession im Wall-
gedr. in: Max Ernst in Köln. Die rheinische Kunstszene bis 1922, hg. von
Güse 1987 (wie Anm. 4), S. 302.
Wulf Herzogenrath, Ausst.-Kat. Kölnischer Kunstverein, Köln, Bonn
37
1980, S. 39. Gemeint war sein Gemälde Zoologischer Garten I, vgl. Hei-
Roger Fry: Vorwort, in: Omega Workshops Descriptive Cata-
logue, Herbst 1914, zit. n. Collins 1983 (wie Anm. 12), S. 15. Vgl. auch
254
Anonymus: Prospectus for the Omega Workshops (1913), zit. n. Akiko
Dezember 1913, Abb. in: Collins 1983 (wie Anm. 12), Nr. 20.
derich 1987 (wie Anm. 9), Nr. 421.
Ina Ewers-Schultz © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412514594 – ISBN E-Book: 9783412518059
künstlerischen Mittel und Ausdrucksweisen bereits zu ihren Entstehungszeiten von vielen Zeitgenossen nicht gleichberechtigt neben andere Gattungen wie Malerei oder Bildhauerei gestellt wurden, hing sicherlich mit geschlechtsspezifischen Zuschreibungen zusammen. Handarbeiten wurden dem Weiblichen und Häuslichen zugeordnet; eine tatsächliche Anerkennung des Stickens als ‚hohe Kunst‘ begann erst vor wenigen Jahren und dann vor allem in Bezug auf die Gegen-
Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilb ilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Ko ntext Burcu Dogramaci
wartskunst.3 Die textile Kunst der Moderne, wie sie von Künstlerinnen wie Maria Marc oder Lilli Vetter praktiziert wurde, gehört noch immer nicht zum künstlerischen Kanon und wird in Überblickswerken zur modernen Kunst nicht berücksichtigt.4 Es ist längst an der Zeit, diese eingeschränkten Perspektiven zu erweitern und das Ausdrucksspektrum der Moderne nicht auf tradierte Gattungen festzuschreiben. Auch die Neue Sachlichkeit ist eine vornehmlich als Malerei, Fotografie und Grafik wahrgenommene und kanonisierte Strömung. So waren keine textilen
Unter den modernen Textilkünstlerinnen nimmt
Arbeiten auf der 1925 von Gustav Friedrich Hartlaub
Franziska (Fränze) Pfannkuche eine prägnante Position
eingerichteten, stilbildenden Ausstellung Neue Sach-
ein. Ihre neusachlichen Stickbilder und Textilapplikati-
lichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus in
onen sind bislang kaum beachtet worden.2 Neben ihrer
der Mannheimer Kunsthalle vertreten.5 Diese Ausstel-
Anstellung in Studios für Textildessins führte Pfannku-
lung und einige zeitgenössische Texte6 prägten die
che in den 1920er Jahren kontinuierlich freie textile
Begriffsgeschichte und Historiografie der Strömung.
Arbeiten aus, die der Kunstströmung Neue Sachlich-
Bis in die Gegenwart halten sich hartnäckig die bereits
keit eine ganz eigene Ausprägung gaben. Statt mit
in den 1920er Jahren artikulierten Prämissen, was die
Pinsel und Farbe arbeitete die Künstlerin mit Nadel,
Neue Sachlichkeit sei und in welchen Techniken und
Garnen und Schere (Abb. 1) und schuf Werke, die den
Gattungen sie Ausdruck finde.7
1
Kanon der modernen Kunst nicht nur technisch
Die folgenden Ausführungen wenden sich einem
erweiterten. So stickte Pfannkuche Seiltänzerinnen,
Werk zu, das bislang keine Präsenz in der Kunstge-
Prostituierte und Schaufensterpuppen, formulierte
schichte der Moderne hat. Franziska Pfannkuches textiles
Körper und urbane Räume in kräftigen Farben,
Œuvre, das nicht mehr als ein Dutzend erhaltener, im
stilisierten Formen und prägnanten Linien. Ihre
Familienbesitz verwahrter Werke umfasst8, ist dabei auch
Applikationen sind textile Collagen aus verschiedenen
ein Ausgangspunkt, um die Neue Sachlichkeit neu zu
Stoffen wie Seide, Baumwolle oder Tüll, die mit- und
perspektivieren und damit zugleich das Spektrum der
übereinander komponiert werden. Dass diese textilen
modernen Kunst um eine textile Moderne zu erweitern.
Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext
255
Themen des Alltags. In einer undatierten Kritik von Willi Wolfradt heißt es: „Auch Fränze Pfannkuche setzte ein mit religiösen Themen, gestickten Ikonen östlichen Gepräges; es folgten allgemeinere Darstellungen romantisch-lyrischen Inhalts, Segelboote etwa aus sinnenüberstrahltem Meer oder ein Liebespaar in traumstiller Umarmung; eine jüngste Schicht ihres Schaffens bevorzugt Gegenstände von exzentrischer Art wie die Wachsfiguren eines Friseur-Schaufensters oder die Drahtseil-Artistin hoch über den Häusern. Es ist eine sehr bezeichnende und in jeder Hinsicht Abb. 1: Franziska Pfannkuche mit Stickrahmen, undatiert [1920er Jahre]
zukunftshaltige Entwicklung.“11 Da bislang keine Forschungsliteratur und lexikalischen Einträge zur Künstlerin existieren, seien
Körp er als Ware: Tex tile Ikonograf ien der Neuen Sa chlichkeit
in aller Kürze Ausbildung und zentrale Schaffensjahre umrissen: Franziska Pfannkuche, geborene Schmidt, kam als Älteste von drei Schwestern am 4. März 1894 in Landshut zur Welt und wuchs in Breslau und im oberschlesischen Neiße auf.12 Die Eltern unterstützten
In seiner Publikation Nach-Expressionismus von 1925 beschreibt Franz Roh die zentralen Parameter
Schwester Erna Schmidt-Caroll13, die im Berlin der
der expressionistischen und der neusachlichen
1920er Jahre eine erfolgreiche Gebrauchsgrafikerin
Kunstströmung: Neben dem expressiven Duktus als
und Lehrerin an der Schule Reimann werden sollte,
Form der Selbstentäußerung diagnostiziert er rückbli-
studierte Franziska Pfannkuche 1911 bis 1916 an der
ckend eine „Vorliebe für phantastische, überirdische
Königlichen Akademie für Kunst und Kunstgewerbe in
oder entlegene Objekte“ und „[a]uffallend viel religiöse
Breslau.14 Unter der Leitung des Architekten Hans
Themen“ . Diesen Motiven setzt er das nach-expressi-
Poelzig gehörte diese Kunsthochschule zu den
onistische (damit ist die später als neusachlich defi-
progressiven Ausbildungsstätten im Wilhelminischen
nierte Strömung gemeint) Interesse für „unsere eigene
Kaiserreich. Im Berliner Modehaus Herrmann Gerson
Welt“ entgegen, wobei ebenso der Alltag und das
fand Pfannkuche ihre erste Anstellung als Modezeich-
Alltägliche wie auch die „unausgerottenen Greuel
nerin und wechselte 1917 in die Werkstätten textiler
unserer eigenen Zeit“ gemeint sind. Unter Letzterem
Kunst und Vereinigte Seidendruckerei in Berlin, wo sie
fasst Roh die Gemälde von Otto Dix und George
bis 1927 Textildessins entwarf. In ihrem Arbeitszeugnis
Grosz, die sich Kriegsversehrten, Bettlern, Kriegsge-
werden Pfannkuches „Sinn für Farbengebung“ und ihre
winnlern, Prostituierten und Schaustellern widmeten.
„souverain zeichnerische Sicherheit“15 hervorgehoben.
9
10
Im künstlerischen Nachlass von Franziska
256
ihre Töchter in ihren beruflichen Ambitionen. Wie ihre
Zwischen 1936 und 1944 war Pfannkuche im Studio
Pfannkuche finden sich sowohl religiöse Bilder wie ein
von Maria May als Zeichnerin für Stoffmuster tätig
Engel-, Marien- und Christusmotiv (Abb. 2) als auch
(Abb. 3). In der Zeit des Nationalsozialismus konnte die
Burcu Dogramaci
Schmidt-Caroll lehrten, gingen die politischen Umbrüche nicht vorbei. Immer weniger jüdische und ausländische Schüler konnten die Schule besuchen, und der Gründer Albert Reimann emigrierte 1938 nach London.19 Es ist also anzunehmen, dass Franziska Pfannkuche durchaus die politisch bedingte Erosion der Berliner Kunst- und Modelandschaft wahrnahm; wie sie sich dazu verhielt, ist indes nicht zu rekonstruieren. Fakt ist allerdings, dass das Studio Maria May im Nationalsozialismus prestigeträchtige Aufträge erhielt, darunter 1935 die Ausstattung des Luftschiffes LZ 129 Hindenburg und 1939 die Inneneinrichtung des Auswärtigen Amtes in Berlin.20 Welchen Anteil Franziska Pfannkuche an diesen Entwürfen hatte, lässt sich nach heutigem Kenntnisstand allerdings noch nicht sagen. 1944 wurde das Studio Maria May aufgelöst.21 Seit 1948 bis zu ihrem Ruhestand im Jahr 1958 war Pfannkuche in Biberach bei WM Schmitz & Abb. 2: Franziska Pfannkuche, Engel, undatiert [1920er Jahre], Applikation, 37 x 32,7 cm
Co., Württembergische Seidenweberei als Entwerferin im Musterungsatelier tätig und schuf Dessins für verschiedene Stoffe und Verwendungszwecke.22
Künstlerin also aufgrund eines Nachweises ihrer
Im Folgenden soll der Schwerpunkt allerdings
„arischen Abstammung“ ihre Tätigkeit fortführen. Im
nicht auf Pfannkuches Entwürfen für Stoffdessins
Gegensatz zu vielen anderen Künstler_innen musste
liegen, sondern auf ihren freien Stickbildern. Für ihre
sie nach 1933 nicht um ihr Leben oder ihren Beruf
außergewöhnliche Arbeiten setzte sich der Architekt
bangen. Dennoch war sicherlich ihr künstlerisches
Hans Poelzig ein, der ihr seit der Breslauer Zeit
Umfeld von der rassistischen Kultur- und Verfolgungs-
verbunden war, und empfahl ihr Werk dem Galeristen
politik der Nationalsozialisten betroffen: In der Kunst-,
Alfred Flechtheim und der Schriftstellerin Thea
Mode- und Kulturszene wurden jüdische Mitarbeiter
Sternheim. In seinem Brief an Flechtheim schreibt er
entlassen, Verlage und Modehäuser in jüdischem
am 7. Mai 1928: „Nun hat Frau Thea Sternheim die
Besitz wurden zwangsweise „arisiert“. Dazu gehörte
Arbeiten von Frau Pfannkuche gesehen und ist
auch das Modehaus Herrmann Gerson, in dem
ausserordentlich dafür, dass diese wirklich künstlerisch
Pfannkuche im Jahr 1916 kurze Zeit als Zeichnerin
sehr eigenartigen Stickereien bei Ihnen ausgestellt
tätig gewesen war. Gerson, das in den zwanziger
werden sollten. Ich war ja damals schon der Meinung,
Jahren über 1.200 Angestellte verfügte, wurde durch
dass Ihre Galerie für diese Arbeiten der einzige Platz
die Firma Horn „arisiert“ . Auch an der Berliner Schule
ist, vor allem auch wegen Ihrer Beziehungen zu Paris,
Reimann, an der Pfannkuches Vorgesetzte, die Textil-
und da ich die Arbeiten von Frau Pfannkuche wirklich
künstlerin Maria May, und ihre Schwester Erna
hervorragend finde, so bitte ich Sie, sie doch anzuse-
16
17
18
Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext
257
Abb. 3: Franziska Pfannkuche im Studio Maria May, Berlin, ca. 1936–1939
hen und, wenn möglich, auszustellen.“23 Alfred Flecht-
258
Ein prägnantes Beispiel für Pfannkuches Werk
heim war mit vielen avantgardistischen Künstlerinnen
der 1920er Jahre ist ihr Stickbild Schaufenster (Abb. 4),
und Künstlern seiner Zeit freundschaftlich und
das das Interesse der Künstlerin an der Entgrenzung
beruflich verbunden, darunter auch George Grosz, den
zwischen Mensch und Objekt offenbart. So lässt sich
er in seiner Galerie vertrat, und Otto Dix, der Flecht-
bei den im Schaufenster eingefassten Dingen zunächst
heim porträtierte. Zum Werk beider Künstler, die zu
nicht wirklich erfassen, ob sie Frauen oder Schaufens-
den bekanntesten Exponenten der veristischen Kunst
terpuppen sind. In einem Raum sind zwei Büsten auf
gelten, weisen Pfannkuches Arbeiten besondere
Sockeln aufgestellt, rechts liegt eine Hand mit beklei-
Analogien auf. So finden sich in den Werken der drei
detem Unterarm, darüber stehen zwei Flakons. In der
Künstler ähnliche Motive im Milieu der Schausteller,
Bildmitte steht neben einem Blumenbouquet die
des Varietés und der Großstadt.
zentrale Figur: ein maskierter weiblicher Akt mit einem
Burcu Dogramaci
gerüschten Slip und Knöpfstiefeln – beides im selben
scher Produktion gesehen werden. Vielmehr lässt sie
hellen Rotton – hält den linken Arm über dem Kopf.
sich auch innerhalb ihres Werkes mit einem anderen
Eine weiße Blume in der linken Hand und ein Fächer
Stickbild (Abb. 6, 7) kontextualisieren. Gemeinsam
in der Rechten betonen die laszive Pose. Um die
formulieren beide Werke einen künstlerischen Kom-
Taille und den Hals trägt die Figur Ketten, den Ober-
mentar zu Prostitution und Sexarbeit: In einem Haus,
arm ziert ein Armreif. Die Figur steht auf einem kleinen
vor dessen Backsteinfassade Pflanzen ranken, befin-
Teppich; auffällig ist, dass der Bildraum nicht zentral-
den sich drei Frauen. Eine von ihnen steht im Türrah-
perspektivisch komponiert, sondern einer eigenen
men und fasst sich mit der Hand unter ihre entblößte
Logik verschiedener Perspektiven folgt. Mit Blick auf
Brust und streckt diese den Betrachter_innen entge-
die Büsten und die ausgestellte künstliche Hand ließe
gen. Sie trägt ein geschnürtes Mieder mit Federn an
sich auch die nackte Figur in der Bildmitte als Puppe
der Hüfte, Strapse und ein Strumpfband. Der hellblaue
identifizieren. Sie kann aber auch eine Prostituierte
Lidschatten korrespondiert zu dem dunklen Blau der
sein, die sich den Blicken ihrer Freier präsentiert.
Haare und der Strümpfe. Hinter ihr führt eine Treppe
Vergleichend heranziehen lässt sich das Still
hinauf. Im Fenster sitzen zwei weitere Frauen: vorn
leben Frisierpuppen (1927, Abb. 5) von Grethe Jürgens,
beugt sich eine Sitzende in die Fensteröffnung; sie
bei dem im Bildvordergrund eine Büste und eine
trägt einen Armreif und einen Kamm im Haar. Die
Halbfigur zu sehen sind, wobei die eine streng zur
hinter ihr Stehende präsentiert mit aufgestütztem Arm
Seite blickt, die andere den Blick frontal aus dem Bild
den nackten Oberkörper. Sie hat sich geschmückt,
lenkt. Die Figurinen sind von Stoffen bedeckt und
trägt Perlen im Haar, Schmuck um den Hals und am
teilen sich den engen Raum mit Gegenständen wie
Arm. Alle drei Frauen stellen ihre Reize aus und
einer Lampe, einem Fächer, einem Sockel. Hinten ist
adressieren mit Blicken und der Körpersprache ihr
eine weibliche Hand zu erkennen. Die Menschenähn-
Gegenüber. Bei dem Haus wird es sich um ein Bordell
lichkeit der Dinge wird durch Details aufgehoben: die
handeln. Eine vorn am Eingang hängende rot leucht-
Büste steht auf einem Sockel, die frontal stehende
ende Lampe verweist auf das Rotlichtviertel, in dem
Puppe hat keine Arme, beider Blick ist seltsam erstarrt.
wir uns befinden. Die Frau als Ware, die das Begehren
Und dennoch bleibt ein Rest Grauzone zwischen den
ihrer Kunden mit sexuell konnotierter Kleidung,
unbelebten Dingen und dem eingefrorenen Leben
nackter Haut und expliziten Gesten wie Blicken weckt,
erhalten.24 Der Vergleich von Franziska Pfannkuches
wird hier ebenso ausgestellt, wie die Puppenkörper im
Stickbild mit dem gemalten Stillleben von Grethe
Schaufenster. Die Intimität des Sujets wird durch das
Jürgens offenbart, dass textile Künste bereits ikono-
übersichtliche Format der Stickbilder, die in etwa die
grafisch eine Nähe zu anderen künstlerischen Techni-
Größe DIN A4 besitzen, noch betont. Stickerei
ken und Ausdrucksweisen ihrer Zeit aufweisen. Aber
verweist auf detailreiche Feinarbeit, das Auge bewegt
auch in der zeitgenössischen Fotografie finden sich
sich von den einzelnen Stichen zu den bestickten
zahlreiche Beispiele für das große medienübergrei-
größeren Flächen, nimmt die Konturen der Figuren
fende Interesse an Puppenkörpern.25
auf, gleitet über die sorgfältig formulierten Blütenblät-
Pfannkuches Stickerei, die den weiblichen
ter zu den kleinen festen Brüsten und den winzigen
Körper als Ware reflektiert, sollte jedoch nicht nur im
Brustwarzen der Frau im Fenster. Stickerei fordert ein
Kontext zeitgenössischer künstlerischer und fotografi-
Sehen in Details, die Nacktheit erfahrbarer macht.
Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext
259
Abb. 4: Franziska Pfannkuche, Schaufenster, undatiert [1920er Jahre], Stickerei, 21,4 x 16,7 cm
260
Burcu Dogramaci
und Verführung waren in den 1920er Jahren vor allem in den malerischen oder grafischen Werken von männlichen Kunstschaffenden wie Otto Dix, Rolf Nesch oder Rudolf Schlichter präsent.26 Doch gibt es selbstverständlich Ausnahmen: Künstlerinnen wie Elsa Haensgen-Dingkuhn, Elfriede Lohse-Wächtler oder Hella Jacobs malten Prostituierte, Zuhälter und Freier im Hamburger Rotlichtmilieu.27 Allerdings formulierten sie ihre Motive im Medium der Zeichnung, des Aquarells oder der Ölmalerei. Damit bewegten sie sich in den tradierten akademischen Gattungen. Pfannkuche jedoch wählte die Technik der Stickerei für ihre provokanten Sujets. Sticken war lange Zeit eine betont weiblich und häuslich konnotierte textile Ausdrucksform, bei der es um die Disziplinierung und geschlechtsspezifische Erziehung von Mädchen und jungen Frauen ging: „Finally, in the nineteenth century, embroidery and feminity were entired fused, and the connection was deemed to be natural“28, schreibt Rozsika Parker in ihrer grundlegenden Studie The Subversive Stitch. Parkers Buch versammelt auch das historische Motivrepertoire häuslichen Stickens, das von Blumenmotiven und Ornamenten hin zu harmonischen Familienporträts reicht. Pfannkuches Themen bilden aus dieser Perspektive einen doppelten Bruch mit Konventionen: Sie schleuste – gerade für Frauen – Abb. 5: Grethe Jürgens, Frisierpuppen, 1927, Öl auf Leinwand, 96,5 x 59,5 cm, Privatsammlung
tabuisierte Themen wie Sexualität und Prostitution in die überschaubare Welt der Stickerei ein. Und sie wählte eine textile Technik für diese neusachlichen
Dabei scheinen die stark reduzierten Physiogno-
Sujets, die nicht als ‚hohe‘ Kunst akzeptiert war.29
mien – die Frauen besitzen stets übergroße Augen, deren Augenaufschlag durch den Lidschatten betont ist – und die farbenfrohe Übersetzung des Themas Prostitution zunächst keinen Anhaltspunkt für eine
Ta kt i li t ät und Kont rolle: Text i le Bei t rä ge z ur Neuen Sa chli chkei t
explizit (sozial-)kritische künstlerische Perspektivierung zu geben. Erst der größere kunsthistorische Kontext
Zumindest von einigen Zeitgenossen Pfannku-
zeigt auf, dass Pfannkuche hier mit Konventionen
ches wurde die künstlerische Qualität ihrer Stickereien
bricht. Sujets wie Prostitution, Käuflichkeit, Begehren
aber bereits erkannt; so schreibt der Kunstkritiker Willi
Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext
261
Abb. 6: Franziska Pfannkuche, Rotlichtviertel, undatiert [1920er Jahre], Stickerei, 21 x 23 cm, 24 x 27 cm (Untergrund)
262
Wolfradt: „Die heute der Aufmerksamkeit empfohle-
fest geflochtenen Streifen verweben, wie gehäkelt
nen Bilder der Poelzig-Schülerin Fränze Pfannkuche
verketten, in Schnüren, Biesen oder engmaschigen
unterscheiden sich hiervon [der ‚Nadelmalerei‘ von Lilli
Texturen von glatter und gekräuselter Beschaffenheit
Vetter] wesentlich durch die Selbständigkeit und den
zusammendrängen. Diese verschiedenen Sticharten,
Strukturreichtum der stickerischen Form. Der Grund
sämtlich mit miniaturistischer Finesse ausgeführt,
ist ganz dicht bedeckt mit Seidenstichen, die sich zu
erfüllen in ihrem Wechsel die Bildfläche mit kostbarem
Burcu Dogramaci
Abb. 7: Franziska Pfannkuche, Rotlichtviertel, undatiert [1920er Jahre], Stickerei, 21 x 23 cm, 24 x 27 cm (Untergrund), Rückseite
Eigenleben. [...] Die künstlerischen Ausdrucksmittel,
Neuen Sachlichkeit zu leisten vermag als die Ölmalerei,
schön übereingestimmt, vermeiden ebenso die
die Zeichnung oder die Druckgrafik. Diese Medienspe-
ornamentale wie eine malerische Wirkung, um stets
zifität der neusachlichen Stickerei soll im Kontext
den Begriff ‚gesticktes Bild‘ zu verwirklichen.“ Damit
anderer Ausdrucksformen der Neuen Sachlichkeit
wird deutlich, dass die Stickerei als taktil erfahrbare
untersucht werden.
30
Ausdrucksform einen anderen Beitrag zur Kunst der
Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext
263
Malerei und hier vor allem auf den Werken von Otto Dix, Alexander Kanoldt, Georg Schrimpf und anderen. Aber auch die Gemälde von Christian Schad erfüllen die genannten Kriterien: die Ölfarbe wurde in dünnen Schichten aufgetragen, der Pinselstrich bleibt nahezu unsichtbar.33 Die glatte Oberfläche von Haut, Dingen und beobachteter Natur evoziert die von Roh beschriebene Kälte und Distanzierung (bei ihm als „Objektivation“). Auch Wieland Schmied adaptiert die bereits in den 1920er Jahren festgeschriebenen stilistischen Merkmale für seine Analyse der Neuen Sachlichkeit, darunter „die Austilgung der Spuren des Malprozesses, die Freihaltung des Bildes von aller Gestik der Handschrift“34. Übertragen auf die Stickerei von Franziska Pfannkuche lassen sich nur einige dieser Kriterien verifizieren. Zunächst einmal existiert eine gewisse Nähe zwischen Stickerei und Malerei. Silke Tammen hat darauf verwiesen, dass in beiden Techniken ein vorhandener Grund – bei einem Gemälde beispielsweise die Leinwand – bearbeitet wird, während beim Weben Grund und Motiv erst erschaffen werden: „In contrast Abb. 8: Franziska Pfannkuche, Entwurf für das Stickbild Seiltänzerin, undatiert [1920er Jahre], Gouache, 29,2 x 21,6 cm
to weaving, where images and patterns are created by interlacing yarns, the embroiderer relates to the foundation fabric as if drawing or painting on canvans; as a consequence of its manifold possibilities, embroidery
Zunächst stellt sich die Frage, wie die Neue Sachlichkeit jenseits ihrer Motivwelten und Hinwen-
Die Ordnung des Stickbildes, bei der die regel-
dung an die „Wirklichkeit“ begriffen wird und ob
mäßigen Stiche Flächen bedecken oder feine Umrissli-
Zuschreibungen an künstlerische Techniken, an
nien ziehen, wirkt kontrolliert. Die Technik der Sticke-
neusachliche Form und Ästhetik existieren. In Rohs
rei kann damit der angenommenen Sachlichkeit und
Nach-Expressionismus werden Expressionismus und
Kälte neusachlicher Kunst durchaus zugeordnet
Neue Sachlichkeit einander tabellarisch und dichoto-
werden. Zudem verweigert auch der Nadelstich den
misch gegenübergestellt. Dort heißt es zu den neu-
Rückverweis auf eine individuelle Handschrift, das
sachlichen Merkmalen unter anderem: „Kühl, bis kalt“,
heißt, es gibt auf der technischen Ebene keine erkenn-
„Dünne Farbschicht“, „Glättend, vertrieben“, „Wie blank
bare, unverwechselbare und eindeutige Beziehung
gemachtes Metall“, „Arbeitsprozeß austilgend (reine
zwischen Objekt und Urheber_in. Auf einer anderen
Objektivation)“ . Roh gründete sein Schema auf
Ebene bricht die Stickerei mit einer zentralen der
31
32
264
can adapt to almost any foundation fabric […].“35
Burcu Dogramaci
Abb. 9: Franziska Pfannkuche, Seiltänzerin, undatiert [1920er Jahre], Stickerei, 29,5 x 21,8 cm
Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext
265
Neuen Sachlichkeit zugeschriebenen Eigenart: Die
des verbreiteten Themas. Im Entwurf (Abb. 8) ist die
Oberfläche des Stickbildes ist nicht glatt, sondern
Komposition mit Gouachefarbe detailliert angelegt:
haptisch erfahrbar. Die gestickten Garne sind, abhän-
eine Artistin balanciert mit Schirmen auf einem Seil,
gig von Material, Fadenstärke und Stichtechnik, auf
unter ihr ist eine Stadtkulisse zu sehen, und der Mond
unterschiedliche Weise taktil erfassbar. Diese Taktilität
beleuchtet die Szenerie im blauen Himmel. Dabei ist
ist dabei nicht nur auf das händische Erfassen, sondern
der Himmel mit den Mitteln der Malerei gestaltet;
auch den Blick bezogen: denn dieser kann das Stick-
pastose und wässrige Blautöne lassen ein changieren-
bild ebenfalls abtasten, gerade wenn es aus der
des und lebendiges Himmelsgebälk entstehen. In der
Nahsicht fokussiert wird. Auf die Wirkung von Stoffen
Übertragung auf das Stickbild (Abb. 9) werden aus
und ihren taktil erfahrbaren Oberflächen auf Hände
diesen differenzierten Blautönen regelmäßig gestickte
(begreifen) und das Auge (sehen) verweist die Bau-
Wellenformen in Taubenblau. Doch kann die Stickerei
haus-Künstlerin Otti Berger in ihrem Text „Stoffe im
auf einer weiteren Ebene mehr Wirklichkeitsnähe oder
Raum“ von 1930, in dem sie (hier allerdings mit
‚Realismus‘ erzeugen als es die Malerei vermag. Dort,
Schwerpunkt auf Weberei) schreibt: „wichtig ist das
wo das Textile Textiles beschreibt, entsteht eine
taktilische im stoff. das taktilische im stoff ist das
Überlagerung zwischen der gestickten Wirklichkeit und
primäre. ein stoff soll gegriffen werden. man muß ihn
jener des Bildes: Das Kostüm der Seiltänzerin und vor
mit den händen ‚begreifen‘ können! der wert eines
allem die feinen Fransen wirken in der Anmutung der
stoffes soll zuerst im taktilischen, im tastwert erkannt
Stickerei lebensnah. Und auch das Seil, auf dem die
werden. das begreifen eines stoffes mit den händen
Frau steht, ist aus Garn und damit eine textile Struktur.
kann ebenso schön empfunden werden, wie eine farbe vom auge oder wie ein klang im ohr.“36 Diesen Überlegungen gingen Ende des 19. Jahrhunderts Alois Riegls Ausführungen zu dem Tast- und Gesichtssinn im
Für ei ne p lura le Neue Sa chli chkei t
Kontext altorientalischer Teppiche voraus; Riegl brachte das „abtastend Gesehene und das Ertastete“37
Technik der Stickerei oder, vice versa, das Verständnis
Herstellungstechniken.
von Stickerei als neusachliche Ausdrucksform führt
Der Unterschied zwischen Malerei und Stickbild
unweigerlich zur Erweiterung der Definition dieser
wird noch einmal deutlicher, wenn Pfannkuches
Kunstströmung der 1920er Jahre. Neben der Malerei
Entwurfszeichnung zu ihrem Stickbild Seiltänzerin
hat bislang vor allem die neusachliche Grafik Aufmerk-
herangezogen wird. Das Motiv der Seiltänzerin ist eine
samkeit erhalten, für die bereits ein Zeitgenosse, der
Konstante in der Bildwelt der Weimarer Republik,
Künstler Rudolf Dischinger, ähnliche Merkmale wie für
findet sich etwa in der Zeichnung Die Seiltänzerin
die Malerei notierte: „Penetrante Beobachtung der
(1925) von Conrad Felixmüller oder dem Aquarell
(ausgewählten) optischen Szene. Kühl, interessiert, in
Seiltänzer. Emilie Meier geht über den Kuhmühlenteich
der Zeichnung suchend den optischen Schock, die
(1921) von Elsa Haensgen-Dingkuhn. Pfannkuche
Aggressivität präziser Wiedergabe, eingehend mög-
findet in ihrem Stickbild Seiltänzerin aber eine eigene,
lichst in auch geringfügige Details, ohne große Form
dem Medium der Stickerei spezifische Formulierung
zu verlieren.“39 Obgleich viele der hier beschriebenen
38
266
Die Öffnung der Neuen Sachlichkeit für die
ins Verhältnis zu Textilien, Fragen von Material und
Burcu Dogramaci
Abb. 10: Franziska Pfannkuche, Brautpaar, undatiert [nach 1924], Applikation, 38,5 x 29 cm, 42,5 x 34 cm (Untergrund)
Eigenarten auf die Malerei anwendbar sind, folgt die
Fläche führen zu einer besonders kontrollierten
neusachliche Zeichnung sowohl ihren medienspezifi-
Erfassung der Wirklichkeit – oftmals in Schwarzweiß.
schen Bedingtheiten, wie sie auch zur Erweiterung der
Reduktion betrifft hier also sowohl die Ausdrucksfor-
Ausdrucksformen beiträgt. Die Betonung der Umrissli-
men als auch die Farbpalette.
40
nie, das Bei- und Gegeneinander von leeren Flächen oder unbearbeitetem Grund, gezeichneter Linie und
In der neusachlichen Radierung führen Schraffuren zu einer optischen Abgleichung von Mensch und
Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext
267
Abb. 11: Franziska Pfannkuche, Porträt Victor Henning Pfannkuche, undatiert [nach 1924], Applikation, 33,3 x 28 cm, 38,5 x 33 cm (Untergrund)
268
Ding.41 Zudem verlangt die Radierung einen kontrol-
Werkzeuges, der Nadel, besteht eine Nähe zwischen
lierten technischen Prozess über mehrere Stufen mit
Druckgrafik und Stickbild. Zugleich greift das Stickbild
der Ätzung der Platte, der Arbeit mit der Radiernadel,
wieder in die Malerei über, indem Farbwerte im
die Krater und damit auch Grade herstellt bis hin zum
Arbeitsvorgang gemischt (durch Übereinandersticken
Druck. Diese Kontrolle ist also dem Bildwerdungspro-
mit verschiedenfarbigen Garnen) und überhaupt in
zess eingeschrieben; hier und auch in der Analogie des
Polychromie gearbeitet werden kann. Dieser kurze
Burcu Dogramaci
Rekurs auf die Malerei, Grafik und Stickerei der Neuen
Übersetzer Victor Henning Pfannkuche.43 Dieser tritt
Sachlichkeit zeigt auf, dass jede Ausdrucksform ihre
nicht nur als rothaariger Bräutigam ins Bild; auch ist
jeweiligen Eigenarten besitzt, die eng mit der Technik
ihm ein textiles Porträt gewidmet (Abb. 11). Die
und ihrer Geschichte zusammenhängen. Zugleich sind
Applikation zeigt den Schriftsteller mit einem Buch als
aber auch Ähnlichkeiten und Überschneidungen
Attribut, er ist von Blumen umrankt, hinten segelt ein
deutlich, die Ikonografie, Sachlichkeit, Wirklichkeits-
Schiff. Es ist zu vermuten, dass dieses auf dunklem
nähe und -distanz betreffen.
Grund formulierte Bildnis ein Erinnerungsbild an den
Dieser Beitrag plädiert einerseits zur Einbezie-
Verstorbenen war. Im Übrigen konnte auch die Technik
hung erweiterter neusachlicher Ausdrucksmittel und
der Applikation in diesem Aufsatz nur am Rande einbe-
Techniken jenseits der Malerei, Grafik oder Fotografie.
zogen werden; hier ließen sich Bezüge zu anderen
Andererseits lenkt er den Blick auf eine schon zu
künstlerischen oder medialen Praxen wie der Collage
Lebzeiten wenig im öffentlichen Blick stehende
oder Montage aufzeigen. Die Annäherung eines Bildes
Künstlerin, deren schmales Werk über Jahrzehnte
an die Lebenswirklichkeit ist ein gängiges Stilmittel der
keine Aufmerksamkeit auf sich zog. Dies ist sicherlich
Collage, wie sie beispielsweise Pablo Picasso und
dem Gender-Gap geschuldet wie auch der textilen
Georges Braque in ihrer kubistischen Phase praktizier-
Kunst, wobei beide Marginalisierungen oftmals Hand
ten, indem sie Spiel- oder Speisekarten als Objekte in
in Hand gehen. Das Plädoyer für eine plurale Neue
die Gemälde integrierten. In Pfannkuches Applikatio-
Sachlichkeit fordert auch eine plurale Kunstgeschichte,
nen wird beispielsweise Tüll verwendet, um den
die Textiles nicht mehr als Randständiges marginali-
Schleier einer Braut oder den zarten Stoff einer
siert, sondern es als einen ihrer zentralen Gegenstände
Gardine zu verbildlichen. Dadurch entsteht unweiger-
perspektiviert. Damit werden auch unweigerlich die
lich eine Wirkung von Lebensnähe.
Urheberinnen der textilen Künste nach und nach entdeckt und gewürdigt werden. Für Franziska Pfannkuche gilt dabei, dass die
Die Technik der Stickerei weist darüber hinaus eine Analogie zu einer weiteren unterschätzten Gattung auf: die Hinterglasmalerei. Beide Verfahrens-
Themen und technischen Ausdrucksmöglichkeiten
weisen bieten eigentlich zwei Werke mit jeweils
zukünftig noch umfassender untersucht und in den
eigener Logik: die Schauseite und die Rückseite. Die
größeren Rahmen einer textilen Neuen Sachlichkeit zu
von vorn nach hinten gemalten Hinterglasbilder
stellen sein werden. Dies gilt auch für jene Motive, die
offenbaren auf ihrer Rückseite oftmals eine weitaus
in dieser Abhandlung aufgrund der Beschränkungen in
abstraktere Komposition als auf der Vorderseite.44 Eine
Umfang und Ausrichtung nicht Gegenstand waren:
ähnlich binäres Gegeneinander von Vorder- und
Dies wären etwa ihre Paardarstellungen, die mit jenen
Rückseite bietet die Stickerei: ihre Rückansicht
von Elsa Haensgen-Dingkuhn ins Verhältnis gesetzt
vermittelt, wenn nicht mit einem Karton verschlossen,
werden könnten.42 Oder aber das Motiv der Braut
einen Einblick in den Maschinenraum des Werks
(Abb. 10), das in der Moderne ein wichtiges ist und ein
(Abb. 7). Hier bewegen sich die Fäden innerhalb eines
Ausgangspunkt für eine genderkritische Befragung
expressiven Spannungsfeldes. Der geordneten
ihres Werks sein könnte. Zugleich verweist gerade das
neusachlichen Bildwelt der Bildoberfläche ist damit
Brautbild auf den Ehepartner Franziska Pfannkuches,
eine dynamische Kehrseite beigegeben.
den 1924 jung verstorbenen Schriftsteller und
Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext
269
Anmerkungen 1
Ich danke Sibylle Bertheau und Björn Bertheau für ihr Vertrauen
Ausst.-Kat. Museo Correr, Venedig, München/London/New York 2015.
8
Im Nachlass befindet sich ein Schreiben mit Hinweis, dass viele
und die umfassende Unterstützung meiner Forschungen zu Franziska
der Stickbilder der 1920er Jahre verloren gegangen sind (Ludwig Gies:
Pfannkuche sowie bei der Arbeit an ihrem Nachlass.
Gutachten, Januar 1947). Es muss also davon ausgegangen werden,
2
dass es sich um ein weit umfangreicheres textiles Werk handelt, als es
Eine Ausnahme bildet eine kleine Vitrinen-Ausstellung mit Wer-
ken Franziska Pfannkuches im Kallmann-Museum Ismaning im Kontext der Werkschau, die ihrer Schwester Erna Schmidt-Caroll gewidmet war (13.5.–9.7.2017).
3
Vgl. Dagmar Neuland-Kitzerow: Das Sticken der Frauen und
der Nachlass vermittelt.
9 10 11
Roh 1925 (wie Anm. 6), S. 23. Ebd., S. 24. Willi Wolfradt: Gestickte Bilder von Fränze Pfannkuche, unda-
Mädchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen Diszipli-
tiert [1920er Jahre], Nachlass Franziska Pfannkuche (fortan NL Pfann-
nierung und Kreativität, in: Jahrbuch Stiftung Preußische Schlösser und
kuche). Dass die religiösen Motive früh entstanden, ist nicht gesichert.
Gärten Berlin-Brandenburg, Bd. 3, Berlin 1999/2000, S. 19–32; siehe
Nach dem Tod ihres Ehemannes, des Schriftstellers Victor Henning
dazu auch: Matilda Felix: Nadelstiche. Sticken in der Kunst der Gegen-
Pfannkuche (siehe Anm. 43), im Jahr 1924, wandte sich die Künstlerin
wart, Bielefeld 2010; Hanne Loreck: Gewebe und Textil als Material,
dem katholischen Glauben zu. Es ist anzunehmen, dass seit dieser Zeit
Machart, Modell und Metapher, in: Sabeth Buchmann und Rike Frank
vermehrt religiöse Bilder entstanden.
(Hg.): Textile Theorie der Moderne. Alois Riegl in der Kunstkritik, Berlin
12
2015, S. 77–105.
schiedenen Dokumenten im Familienbesitz rekonstruieren, darunter
4
eine Ablichtung aus dem Sterberegister. Die Künstlerin starb am 2. Fe-
Siehe u. a. die in mehreren Neuauflagen publizierten Über-
blickswerke, in denen Textiles keine Rolle spielt: Uwe M. Schneede: Die
Die Lebensdaten Franziska Pfannkuches ließen sich aus ver-
bruar 1982 in Brühl.
Kunst der Klassischen Moderne, München 2009; Herbert Read: A Con-
13
cise History of Modern Painting (1959), London 2010; H. H. Arnason
Aufmerksamkeit, darunter 2017 in einer Ausstellung im Brandenburgi-
und Elizabeth C. Mansfield: History of Modern Art: Painting, Sculpture,
schen Landesmuseum (Frankfurt/Oder und Cottbus), das ihr Werk Ar-
Architecture, Photography (1968), Upper Saddle River, N.J. 2010.
beiten von Otto Dix gegenüberstellte. Zu Schmidt-Caroll siehe die er-
5
ste umfangreiche Monografie: Erna Schmidt-Caroll 1896–1964, Bönen
Zur Ausstellung siehe Neue Sachlichkeit. Bilder auf der Suche
nach der Wirklichkeit, figurative Malerei der zwanziger Jahre, hg. v.
Schmidt-Caroll erfuhr in den vergangenen Jahren zunehmend
2003.
Hans-Jürgen Buderer und Manfred Fath, Ausst.-Kat. Städtische Kunst-
14
halle Mannheim, München 1994. Zur Mannheimer Ausstellung siehe
Kunstgewerbe in Breslau, NL Pfannkuche.
Abschlusszeugnis der Königlichen Akademie für Kunst und
auch Helen Adkins: Neue Sachlichkeit – Deutsche Malerei seit dem
15
Expressionismus, Mannheim 1925, in: Stationen der Moderne. Die be-
Pfannkuche.
Leo Cohn: Zeugnis für Franziska Pfannkuche, 1.11.1927, NL
deutendsten Kunstausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland,
16
Ausst.-Kat. Berlinische Galerie, Berlin 1988, S. 216–235.
Abstammung, 9.7.1933, NL Pfannkuche.
Franziska Pfannkuche: Aufstellung zum Nachweis der arischen
lismus. Probleme der neuesten europäischen Malerei, Leipzig 1925;
17 18
Wilhelm Westecker: Die neue Sachlichkeit: Probleme des Nachexpres-
einer Tradition 1836–1939. 2. Auf., Berlin 1992, S. 207.
6
270
Weimarer Republic, hg. v. Stephanie Barron und Sabine Eckmann,
Siehe etwa: Franz Roh: Nach-Expressionismus. Magischer Rea-
Modehaus Herrmann Gerson, 31.7.1916, NL Pfannkuche. Uwe Westphal: Berliner Konfektion und Mode. Die Zerstörung
sionismus, in: Die Kunst, Bd. 55, 1927, S. 16–23.
19
7
Siehe u. a. Aspekte der Neuen Sachlichkeit, Ausst.-Kat. Galleria
Wickenheiser: Die Reimann-Schule in Berlin und London 1902–1943.
del Levante, München/Mailand, Florenz 1968; Wieland Schmied: Neue
Ein jüdisches Unternehmen zur Kunst- und Designausbildung interna-
Sachlichkeit und Magischer Realismus in Deutschland 1918–1933, Han-
tionaler Prägung bis zur Vernichtung durch das Hitlerregime, Aachen
nover 1969; Realismus zwischen Revolution und Machtergreifung
2009.
Zur Geschichte der Schule Reimann siehe vor allem Swantje
1919–1933, hg. v. Uwe M. Schneede, Ausst.-Kat. Württembergischer
20
Kunstverein, Stuttgart, Stuttgart 1971; Realismus und Sachlichkeit. As-
stalterin der Wanddekorationen im Luftschiff LZ 129 Hindenburg und
pekte deutscher Kunst 1919–1933, hg. v. Roland März, Ausst.-Kat.
die Protagonistin der Spritzdekortechnik im Deutschland der 20er und
Staatliche Museen zu Berlin, Berlin 1974; Neue Sachlichkeit and Ger-
30er Jahre, in: Wolfgang Meighördner (Hg.): Wissenschaftliches Jahr-
man Realism of the Twenties, Ausst.-Kat. Hayward Gallery, London,
buch 2005 des Zeppelin Museum Friedrichshafen, Friedrichshafen
London 1978; Neue Sachlichkeit – Magischer Realismus, hg. v. Jutta
2005, S. 34–63; Robert M. W. Kempner: Das Dritte Reich im Kreuzver-
Hülsewig-Johnen, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bielefeld, Bielefeld 1990;
hör. Aus den unveröffentlichten Vernehmungsprotokollen des Anklä-
Ausst.-Kat. Mannheim 1994 (wie Anm. 5); Sergiusz Michalski: Neue
gers Robert M. W. Kempner, München 2005, S. 307–321.
Vgl. Swantje Kuhfuss-Wickenheiser: Maria May. Aktive Mitge-
Sachlichkeit. Malerei, Graphik und Photographie in Deutschland 1919–
21
1933, Köln 1994. Aktueller: New Objectivity. Modern German Art in the
22.3.1944, das die Auflösung des Studios benennt, NL Pfannkuche.
Burcu Dogramaci
Siehe Christian Diering: Zeugnis für Franziska Pfannkuche,
Später versuchte Pfannkuche, ihre Textildessins freiberuflich zu veräu-
35
ßern. Im Nachlass findet sich ein Schreiben von Friedlinde Papla-Dinzl
Terms: A Glossary (Textile Studies, 0), Emsdetten/Berlin 2017, S. 89–93,
(Wien) an Pfannkuche vom September 1944, das den Eingang von
hier S. 92.
Textildessins bestätigt.
36
22 23 24
Siehe WM Schmitz & Co.: Zeugnis, 30.11.1958, NL Pfannkuche.
145, hier S. 145. Siehe auch siehe auch T’ai Smith: Texture, in: Reineke
Hans Poelzig an Alfred Flechtheim, 7.5.1928, NL Pfannkuche.
2017 (wie Anm. 35), S. 273–275, hier S. 273.
Zu Jürgens’ Gemälde siehe Kristina Heide: Das Stillleben der
37
Silke Tammen: Embroidery, in: Annika Reineke u. a. (Hg.): Textile
Otti Berger: Stoffe im Raum, in: ReD, Bd. 3, 1930, H. 5, S. 143–
Elke Gaugele: Textil und Stil. Alois Riegls Kritik an der Überhö-
Neuen Sachlichkeit in Hannover, in: „Der stärkste Ausdruck unserer
hung der Textilkunst, in: Sabeth Buchmann und Rike Frank (Hg.): Textile
Tage“. Neue Sachlichkeit in Hannover, hg. v. Christian Fuhrmeister,
Theorien der Moderne. Alois Riegl in der Kunstkritik, Berlin 2015,
Ausst.-Kat. Sprengel Museum Hannover, Hildesheim/Zürich/New York
S. 29–49, hier S. 44. Gaugele bezieht sich in ihrer Analyse auf Alois
2001, S. 63–67, hier S. 65; siehe auch Isabell Schenk-Weininger: Die
Riegl: Altorientalische Teppiche, Leipzig 1892. Siehe aber auch Alois
Neue Frau? Zur Differenzierung des Frauenbildes in Darstellungen von
Riegl: Historische Grammatik der bildenden Künste, hg. v. Karl M. Swo-
Malerinnen und Grafikerinnen der Neuen Sachlichkeit, in: Die Neue
boda, Graz/Köln 1966, hier insbesondere das Kapitel „Form und Flä-
Frau? Malerinnen und Grafikerinnen der Neuen Sachlichkeit, Ausst.-
che“, S. 129–132.
Kat. Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen, Bietigheim-Bissingen
38
2015, S. 8–21, hier S. 8.
müller. Zwischen Kunst und Politik, hg. v. Ingrid Mössinger und Thomas
25
Conrad Felixmüller, Die Seiltänzerin, 1925, Abb. in: Conrad Felix-
Siehe hier die Bildbeispiele in: Puppen, Körper, Automaten.
Bauer-Friedrich, Ausst.-Kat. Kunstsammlungen Chemnitz, Köln 2012,
Phantasmen der Moderne, hg. v. Pia Müller-Tamm und Katharina Sy-
S. 109; Elsa Haensgen-Dingkuhn, Seiltänzer. Emilie Meier geht über den Kuh-
kora, Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf,
mühlenteich, 1921, Abb. in: Ausst.-Kat. Flensburg 2017 (wie Anm. 27), S. 8.
Köln 1999.
39
26
Siehe unter einer Vielzahl möglicher Beispiele: Otto Dix, Salon II,
nungen oder Druckgraphiken der Neuen Sachlichkeit aus dem Museum
1921, Abb. in: Otto Dix – Der böse Blick, Ausst.-Kat. Kunstsammlung
für Neue Kunst Freiburg (Kabinettstücke, 02), Ausst.-Kat. Museum für
Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, München/London/New York 2017,
Neue Kunst, Freiburg 2000, S. 2.
S. 77; Rudolf Schlichter, Tingel-Tangel, 1919/20, Abb. in: Das Auge der
40
Welt. Otto Dix und die Neue Sachlichkeit, Ausst,-Kat. Kunstmuseum
lichkeit. Aquarelle, Zeichnungen und Graphik aus dem Berliner Kupfer-
Stuttgart, Ostfildern 2012, S. 158.
stichkabinett mit Leihgaben, hg. v. Anita Beloubek-Hammer, Ausst.-Kat.
27
Siehe dazu Axel Feuß: Elsa Haensgen-Dingkuhn – Zwischen
Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Petersberg 2010, hier
Avantgarde und Familie, in: Elsa Haensgen-Dingkuhn (1898–1991).
vor allem das Kapitel „Messerscharf und glasfederhart – ein neuer Stil
Malerin der Neuen Sachlichkeit, Ausst.-Kat. Museumsberg Flensburg,
der Zeichnung“, S. 21–31.
Flensburg 2017, S. 7–74, hier S. 21–23; siehe auch Petra Lanfermann:
41
„Die Frau von heute“ – die Künstlerin um 1929: Themen, Motive, Im-
Herda 2000 (wie Anm. 39), S. 19.
pulse und Hintergründe, unter besonderer Berücksichtigung der Künst-
42
lerinnen Tina Bauer-Pezellen, Elsa Haensgen-Dingkuhn, Gussy Hip-
Flensburg 2017 (wie Anm. 27).
pold-Ahnert, Hella Jacobs, Paula Lauenstein, Lotte Lesehr-Schneider,
43
Eva Schulze-Knabe und Erika Streit, in: Ausst.-Kat. Bietigheim-Bissin-
Pfannkuche (21.6.1893–26.3.1924) am 16.12.1919. Siehe die Heirats
gen 2015 (wie Anm. 24), S. 174–189, hier S. 185–187.
urkunde, NL Pfannkuche. Im Nachlass befindet sich zudem ein Nachruf
28
auf Pfannkuche von Walter Petry sowie einige Manuskripte des Schrift-
Rozsika Parker: The Subversive Stitch. Embroidery and the Mak-
Isabel Herda: „Die Aggressivität präziser Wiedergabe“. Zeich-
Siehe dazu u. a. Gefühl ist Privatsache. Verismus und Neue Sach-
Siehe z. B. Otto Lais, Doppelbildnis im Atelier, 1927, Abb. in: Siehe dazu ihre Familien- und Paarbildnisse im Ausst.-Kat. Franziska Pfannkuche (geb. Schmidt) heiratete Victor Henning
ing of the Feminine, London 1984, S. 11.
stellers. Im ZVAB finden sich einige Einträge zu Victor Henning Pfann-
29 30
Siehe dazu auch die Einleitung zu diesem Band.
kuche: so etwa die Novelle Flucht in die Dämmerung, die 1924 postum
Wolfradt undatiert (wie Anm. 11). Zu Wolfradt hielt Pfannkuche
erschien und auf eingelegtem Blatt den Tod des Schriftstellers im März
weiterhin Kontakt. So ist ein Brief von Wolfradt aus seinem New Yorker
1924 vermerkte. Außerdem war Pfannkuche Übersetzer von Made-
Exil im Nachlass erhalten. Willi Wolfradt an Franziska Pfannkuche,
leine Marx – ihr Roman Du erschien 1922 in seiner Übersetzung – und
30.7.1951, NL Pfannkuche.
von Henri Barbusse: Ein Mitkämpfer spricht. Aufsätze und Reden aus
31
den Jahren 1917–1921, Basel/Leipzig 1922.
Gustav Friedrich Hartlaub in: Paul Westheim: Ein neuer Natura-
lismus?? Eine Rundfrage des Kunstblatts, in: Das Kunstblatt, Bd. 6,
44
1922, S. 369–414, hier S. 390.
Bretz und Gisela Geiger (Hg.): Heinrich Campendonk – Die Hinterglas-
32 33
Roh 1925 (wie Anm. 6), S. 119.
bilder. Werkverzeichnis, Köln 2017. Derzeit arbeitet Diana Oesterle an
Siehe dazu Pavel Liška: Die Malerei der Neuen Sachlichkeit in
der LMU München an einer Dissertation zu Hinterglasbildern der Mo-
Siehe dazu u. a. die Bildbeispiele in der Publikation: Simone
Deutschland, Diss. Univ. Osnabrück 1976, Düsseldorf 1976, S. 145.
derne, die auch die Rückseiten dieser Werke in besonderem Maße
34
einbeziehen wird.
Schmied 1969 (wie Anm. 7), S. 26.
Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext
271
Tänzerin Lubov Tchernicheva und Delaunays Beteiligung sich an diesem Vorbild orientierte, sowohl in Bezug auf das Kostüm als auch hinsichtlich der Choreografie. Fotografien der als Cléopâtre posierenden Tchernicheva verdeutlichen, dass sie (zumindest im Bild, das sicherlich in Anlehnung an das Stück entstand) Posen einnahm, die den Eindruck von Zweidimensionalität und Statik erzeugten. So starr der Tanz und der Stoff des Gewandes
Körper masken und bewegte Bilder: Künstler kostümieren Tänzer
zwar anmuten, so bewegt ist doch die Farbgestaltung und Ornamentik. Die rhythmischen Kreise und Linien, die sich am Bauch in verschiedenen Farben und am Rock in einem dunkleren Ton von der Grundfarbe des Stoffes, einem hellen Orange, absetzen, kontrastieren sich gegenseitig. Ein flirrender Effekt entsteht, der den Stoff selbst tanzen lässt und mit der zusätzlichen
Anja Pawel
Bewegung des Tänzers gewissermaßen ‚doppelt‘ bewegt erschien.3 Für die Künstlerin war das Bild nicht mit dem
Bi l d e r i n Bewegung
Rand der Leinwand zu Ende, vielmehr verstand sie den Körper als Erweiterung des Bildes.4 Als Malerin,
Das eindrucksvolle Gewand der Protagonistin
Textildesignerin und Schneiderin bezeichnete sie ihre
des Stücks Cléopâtre war aus schwerem Stoff und das
textilen Werke als unmittelbar von der Malerei
Oberteil wurde von einem perlenbesetzten, um den
inspiriert: „[...] Then the book covers of 1913 [...] the
Hals geschlungenen Band gehalten (Abb. 1). An der
robes simultanées of 1913–14, and later on the fabrics
Brust und am Bauch befanden sich verschiedenfarbige
and embroidered coats – they all stand in close
Ringe in Simultankontrasten, die einen hypnotisch
relationship to the laws of painting.“5 Bild und Körper
anmutenden ‚Op-Art‘-Effekt hervorriefen und die sich
waren in ihren Entwürfen im Austausch; die Malerei
in einer Art Schärpe, die vom Oberteil herabhing, noch
wurde durch die Bekleidung auf den Körper übertra-
verlängerten. Weitere Perlen- und Glanzelemente des
gen, sodass dieser beim Tanz zum bewegten Bild
Rockes belebten die Muster zusätzlich. Sonia Delaunay
wurde.6 Der Rhythmus der Farben verschmolz mit dem
entwarf die Kostüme für das Stück, das am 6. Septem-
der Musik, und der farbige Flickenstoff avancierte vom
ber 1918 in London uraufgeführt wurde.
bewegten Beiwerk zum bewegten Hauptwerk. Durch
1
Die Tänzerin Bronislava Nijinska, die in einer
die Bewegung wurden die Bildmuster an der Tänzerin
früheren Inszenierung der Choreografie tanzte,
lebendig. Zugleich wurde der Körper der Tanzenden
berichtete, dass der Tanz gezielt so choreografiert war,
zum künstlichen Wesen stilisiert.
dass er flach wie ein ägyptisches Relief wirkte.2 Es ist also anzunehmen, dass die zweite Inszenierung mit der
Als „tanzende Gewänder“ beschrieb der Kunsttheoretiker Carl Einstein überschwänglich die Kostüme
Körpermasken und bewegte Bilder: Künstler kostümieren Tänzer
273
ein Mensch, eher ein Ornament tanzt, Formen fliegen und sausen. Der Tänzer ist ein Teil der farbigen Kraft des Malers geworden, fast vom Maler erschaffen.“8 Andererseits sah Einstein bei einer solchen Zusammenarbeit zwischen bildenden Künstlern und Tänzern die Gefahr, dass der Körper, das Element des Tanzes selbst, in den Hintergrund geraten könne: „Die farbige Gestaltung wirkt stärker als der Körper des Tanzenden und schon darum übersieht man die Anstrengung des Tänzers.“9 Die Ornamentwerdung des Tänzers, die Anwendung der malerischen Gesetze auf seinen Körper hätten auch seine Entkörperlichung zur Folge.10 Wenn Einstein diese Sorge schon bezüglich Bakst textilen Entwürfen, die noch zur klassischen, romantischen Tradition des Kostümballetts gehörten, hegte, stellt sich die Frage, wie er die Kostüme der Kubisten, Dadaisten und Expressionisten bezeichnet hätte. Denn arbeitete Bakst hauptsächlich mit Textil und setzte vor allem eine prachtvolle Ornamentik und expressive Farbgestaltung ein, wurden im frühen 20. Jahrhundert zunehmend andere Materialien und Abb. 1: Sonia Delaunay, Kostüm für das Ballett Cléopâtre, 1918, Seide, Pailletten, Wollgarn, Spiegel und Perlen, geflochtener Metallfaden, Lamé, Rückenlänge 114,62 cm, Kopfbedeckung 57,63 x 37,15 x 32,7 cm, County Museum of Art, Los Angeles
Formen für das Tanzkostüm verwendet, wie es Georg Kirsta im Artikel Vom Tanzkostüm rückblickend beschrieb: „Diese neue Hülle, die die verwelkten Kleider von Bakst abgelöst hat, wurde unter Benützung der damaligen kubistischen Malerei geschaffen. Pappe,
der Ballet Russes in einem Artikel über den bildenden
Draht, Blech und grobes Leinen erlebten Aufstieg.
Künstler und Kostümbildner Léon Bakst, was jedoch
Bekenntnis zum edleren Stoff, zum Sammet und Seide,
durchaus auch auf Delaunay zutreffen könnte: „Durch
gehörte damals zu einem ausgesprochen schlechten
die Farbe wird die kleinste rhythmische Variante
Ton. Das war eine kampffrohe Zeit.“11
sichtbar, das Gewand tanzt und der Tänzer ist in ihm verschwunden, doch erst durch sein Gewand wird er – uns hinreißend – sichtbar.“7 Die Körper der Tänzer werden durch das Kostüm gegliedert, ihre anthropo-
Den Körp era usdruck durch Gest a lt ung verä ndern
morphe Form verändert und zu einem dynamischen Kunstgebilde stilisiert; sie werden zu tanzenden
274
Dies wird bereits in einer Fotografie um 1916
Bildern, beschreibt er weiter: „Diese Tänzerin ist
ersichtlich, die eine maskierte und kostümierte Person
zerteilt von den Ornamenten der Kleidung, weniger
zeigt, bei der es sich um Sophie Taeuber-Arp handeln
Anja Pawel
Abb. 2: Anonym, Sophie Taeuber-Arp in Tanzpose mit Kostüm und Maske 1917, Silbergelatine-Print, 17,8 x 10,8 cm, Fondazione Marguerite Arp, Locarno
könnte12, Kopf und Körper sind vollkommen verdeckt
ungefähr zeitgleich entstandene Marionetten für das
(Abb. 2). Die Kopfmaske ist rechteckig und am Ende
Stück König Hirsch von Carlo Gozzi, deren Holzkörper
mit Zacken versehen, wie eine Krone. 13 Dazu trägt die
zwar einen menschlichen Aufbau hatten, jedoch durch
Person eine Art Überwurf aus dunklen und hellen
geometrische Formen der Gliedmaßen abstrahiert
Flicken sowie Armstulpen aus einem festeren Material
wurden (Abb. 3).14 An Kopf, Schultern und Händen der
(wahrscheinlich Pappe), die ebenso wie die Kopfbedec-
Puppen waren Bindfäden befestigt, die ihre Beweglich-
kung am Ende zackenförmig auseinanderlaufen. Die
keit durch die Hand des Marionettenspielers garantier-
teilweise einer Ritterrüstung ähnelnde Verkleidung
ten. Die unterbrochenen Gliedmaßen der Puppen
führt zu einer steifen Haltung der Arme, der Hände und
körper sollten einerseits Flexibilität gewährleisten,
des Kopfes, auch der Körper verschwindet größtenteils
andererseits zerstückelten die geometrischen Volumina
unter dem Gewand und erinnert an Taeuber-Arps
den Körper in einzelne Fragmente.
Körpermasken und bewegte Bilder: Künstler kostümieren Tänzer
275
Die Kostümierung wurde wahrscheinlich bei einem Auftritt des Eröffnungsfestes in der Galerie Dada am 29. März 1917 getragen.15 Kostüm und Maske negierten die Form des Körpers. Vor allem die vom menschlichen Körper abstrahierten Hände mit ihren spitzen Elementen wirken bedrohlich, waren jedoch ihrer Greiffunktion beraubt. Kostüm und eingenommene Pose ließen die Figur eckig, künstlich und mechanisch wirken, als werde sie von anderen Kräften bestimmt. Handelte es sich um Taeuber-Arp, so inszenierte sie sich hier als fremdbestimmtes Wesen, als Tanzschülerin des Choreografen Rudolf Laban war sie sicherlich dennoch in der Lage ihrem steifen, geometrischen Kostüm eine anspruchsvolle Beweglichkeit abzuverlangen, ebenso wie der Marionettenspieler seinen Puppen. Im Aufsatz Über das Marionettentheater erörterte Kleist die Einfühlung des Puppenspielers in sein Handwerk. Er schlug vor, jener solle selbst tanzen können, um die nötige Empfindsamkeit für die Bewegung der Puppe und ihren Körperschwerpunkt zu entwickeln.16 Welche Eigendynamik dem Kostüm im DadaKreis zugeschrieben wurde, verdeutlichte TaeuberArps Freundin, die Tänzerin Mary Wigman, anlässlich eines Dada-Abends in ihrer Züricher Wohnung: „[...] Meine Freundin Sophie Taeuber [...] und ich hatten uns gegenseitig [...] fest in unsere extravaganten Kostüme eingenäht [...].“17 Das Zitat zeugt von einem bewusst hervorgerufenen Ausgeliefertsein des menschlichen Körpers durch das ‚störende‘ Kostüm. Die beiden Tänzerinnen schienen selbst zu Marionetten ihrer eigens geschneiderten Bekleidung zu wer-
Abb. 3: Sophie Taeuber-Arp, Freudanalytikus (Marionette aus dem Stück König Hirsch), 1918, Holz gedrechselt und bemalt, Ölfarbe, Metall: Messing, Metallösen, 61 x 17 x 17 cm, Zürcher Hochschule der Künste/Museum für Gestaltung Zürich, Kunstgewerbesammlung, Zürich
den. Dabei dürfte eher interessiert haben, was die Kostüme mit ihnen machten als sie selbst mit den Kostümen. Dada-Künstler setzten Masken und Kostüme ein,
276
deres Anliegen gewesen zu sein, die Autonomie des Kostüms hervorzuheben. Hugo Ball behauptete sogar,
um ihr Körpergefühl und ihre Bewegungen gezielt zu
dass Tänze direkt durch die Art und Weise der Gestal-
stören und zu verändern. Es schien ihnen ein beson
tung der Masken entstanden seien: „Wir sahen uns
Anja Pawel
jetzt die aus Pappe geschnittenen, bemalt und beklebten Dinger genauer an und abstrahierten von ihrer vieldeutigen Eigenheit eine Anzahl von Tänzen, zu denen ich auf der Stelle je ein kurzes Musikstück erfand. Den einen Tanz nannten wir ‚Fliegenfangen‘. Zu dieser Maske paßten nur plumpe tappende Schritte und einige hastige fangende, weit ausholende Posen [...].“18 Durch die Masken schienen die Träger, seien es (geübte) Tänzer oder nicht, erst zu einer neuen Ausdrucksform (im Tanz) zu gelangen. Die kreative Neugestaltung ihres Körpers durch Kostüme befeuerte auch die Kreativität ihres Ausdrucks.
Kö r pe r m asken „[...] denn hier ist die Maske nicht aufgesetzt, nicht Kostüm, sondern der eigentliche Tanzkörper, dem der lebendige Leib nur seine Kräfte lieh“19, hieß es in einem anderen Kontext über das Hamburger Künstler- und Tänzerehepaar Lavinia Schulz und Walter Holdt, die bei ihren Auftritten in den 1920er Jahren selbst hergestellte Ganzkörpermasken trugen, bei denen „Kopf und Körper zu fast anorganischen
Abb. 4: Minya Diez-Dührkoop, Tanzmasken Tanzpaar Toboggan von Lavinia Schulz und Walter Holdt, um 1924, Silbergelatine-Print, 21,6 x 16,7 cm, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Hamburg
Formen verwandelt [...] und bis zu mystisch architektonischen Gebilden gesteigert (wurden).“20 Schulz war bildende Künstlerin und hatte akademisches Zeichnen in Berlin studiert.21 Ihre Kostüme entstanden in
Draht, Watte und Leder wurden die Körper der Tänzer
Eigenarbeit. In einer Fotografie um 1924 posierten die
durch das Kostüm regelrecht modelliert. Von den
beiden Tänzer in Gewändern, deren stilistische Zu-
Tänzerkörpern selbst war kaum mehr etwas zu
gehörigkeit schwer einzuordnen ist (Abb. 4). Es handelt
erkennen. Die raumgreifenden Kostüme lassen sich
sich um bunte Fantasiewesen mit großen, froscharti-
auch als „Architekturen“ bezeichnen. Neben der
gen Kopfmasken, die Körper komplett eingehüllt in
Choreografie und der Musik stand bei den Stücken vor
teils ausskulptierte Formen. An verschiedenen Stellen
allem deren Wirkung im Vordergrund.22
ihrer Körper sprießten schlingpflanzenartige Gebilde,
Kostüme und Masken vermochten die Tanzper-
die den Körperumfang erweiterten und an die Lenk
formance entscheidend zu prägen. Sie veränderten die
fäden einer Marionette erinnerten. Mithilfe von ver-
Körperformen, die Beweglichkeit und die Raumwege
schiedenen Materialien wie Sackleinen, Pappmaché,
des Tänzers.23 Die physische Erscheinung des Körpers,
Körpermasken und bewegte Bilder: Künstler kostümieren Tänzer
277
die im Tanz eine zentrale Rolle spielt, kann durch das
Bi ld oder Ta nz ?
Kostüm gesteigert, aber auch negiert werden. Zusätzlich zu seinem eigenen Körper bewegt der Tänzer auch
frühen 1920er Jahren zur Verteidigung seines Triadi-
dies zusätzliche Anstrengungen verursachen,24 weswe-
schen Balletts vor den Kritikern, die ein Bild vom Tanz
gen die logische Aufgabe eines Kostümgestalters darin
hatten, das die freie und expressive Bewegung des
bestehen müsste, dem Körper zu möglichst viel
Körpers vorsah. So hieß es in der Neuen Zürcher Zeitung:
Bewegungsfreiheit zu verhelfen und den Stoff leicht
„Das Kostüm des Tänzers war bisher mehr oder minder
und unsichtbar erscheinen zu lassen beziehungsweise
nur dekorative Zutat: Schlemmer gibt ihm gleichsam
bestimmte Körperpartien des Tänzers wie beispiels-
konstruktive Bedeutung [...] seine einzige Funktion ist
weise die Beine zu betonen (wie das Tutu im Ballett).
die Ermöglichung, ja Erzwingung eines bestimmten
Im Vortrag Über das Tanzkostüm bemerkte der
Tanzes. Schlemmer hat das fließende, ständig die Form
Tänzer Alexander Sacharoff, dass die Bekleidung nicht an
wechselnde Gewand beseitigt und meist durch starre
der Bewegung hindern dürfe. Es erscheint naheliegend,
Hüllen aus Papiermasse ersetzt [...].“26
25
dass Tänzer an möglichst ungehinderten Bewegungsab-
Die Kostüme wurden um 1920 im Cannstatter
läufen oder an zumindest die Bewegung unterstützen-
Atelier in Stuttgart hergestellt, als in der Nachkriegs-
den oder verstärkenden Kostümen interessiert waren.
zeit Materialknappheit herrschte. Plastische Schwere
Mit Loïe Fuller und Isadora Duncan war um 1900
und materielle Überfrachtung setzten den Tänzern zu.
der leichte, fließende Stoff des weiten, den Körper von
Schlemmers Ehefrau Tut berichtete diesbezüglich: „Die
den Einschränkungen des Korsetts befreienden
Kostüme wurden gelötet, genietet, gehämmert. Die
Gewandes sowie der lange Schleier im Tanz noch
Chachées, die Formen aus Papier-Maschée, wurden
bestimmend. Doch alsbald entwickelte sich auch eine
mit unendlich vielen Lagen Zeitungspapier geklebt und
gegenläufige Strömung. Die zunehmende Beteiligung
wurden dabei schwerer und schwerer.“27 Auch Schlem-
von Künstlern am Bühnentanz und deren Durchset-
mer musste einsehen: „Ich hatte z. B. auch bei der
zung ihrer eigenen stilistischen Vorstellungen bewirk-
Aufführung erstmals Kostüme an, die die Bewegung
ten, dass Kostüme gefertigt wurden, die den Bewe-
derart hinderten, daß eine völlige Umstellung nötig
gungsspielraum des Tänzers einschränkten, ja sogar
war.“28
negierten. Plastisch ausgearbeitete Formen wie Kuben,
278
Kämpfen musste auch Oskar Schlemmer in den
stets das Kostüm mit. Je nach Gewicht oder Form kann
Es ist davon auszugehen, dass die Kostüme nicht
Kegel oder Scheiben, mit denen sich die Tänzer zu
nur durch ihre Form die Bewegung behinderten,
arrangieren hatten, konnten die Bewegung stark
sondern auch Masse und Gewicht die Tänzer körper-
beeinträchtigen. Waren in dem Beispiel von Lavinia
lich enorm einschränkte. In einem Foto mit den
Schulz und Walter Holdt die Tänzer (glücklicherweise)
Originalkostümen von 1922/23 sind die beiden Tänzer
selbst auch ihre eigenen Kostümbildner, so konnten
Albert Burger und Elsa Hötzel zu sehen, die an der
die Vorstellungen vom Kostüm von Tänzern und
Entwicklung maßgeblich beteiligt waren (Abb. 5). Vor
Künstlern doch durchaus gegenläufig sein. Die sanft
allem der kugelrunde Rock von Hötzel erscheint als
fließenden Stoffe wurden, in und durch die Zusam-
klobig schwere Last an den Hüften. Beide Tänzer
menarbeit mit den bildenden Künstlern, tatsächlich
wurden als Gliederpuppen inszeniert, hatten die Arme
durch „kampferprobtere“ Materialien ersetzt.
im 90° Winkel zu halten und die Füße im klassischen
Anja Pawel
en dehors zu positionieren. Es wurde bereits gezeigt, dass die beiden, von Beginn am Stück beteiligten Tänzer, sich nach der Premiere in Stuttgart davon distanzierten, was an der zunehmenden Verabschiedung vom Handlungsballett und an der Kostümauswahl gelegen haben könnte.29 Die Entindividualisierung und Passivität sorgten dafür, dass sich die tanzenden Figuren des Triadischen Balletts dem „unbewussten Agieren“ einer Gliederpuppe annäherten.30 Auch die Langsamkeit, Eckigkeit und Statik der tänzerischen Ausführung erinnerte an eine Fremdbestimmtheit oder gar an einen mechanischen Ablauf, der nicht mehr dem menschlichen Willen unterlegen war. Der Kulturwissenschaftler Walter Sorell charakterisierte die Kostüme Schlemmers als „Totalmaske“ und setzte die tanzenden Figuren mit Marionetten gleich.31 Auch der Tanzkritiker Fritz Böhme betonte: „Aber all diese Schöpfungen wirken nicht durch die Bewegung, sondern durch die Proportionen der Maske, d. h. durch etwas Ornamental-Plastisches.“32 Er bezeichnete das Gesehene als Marionettentanz, bei dem „eine schwache, von außen her bauende, im Äußeren versandende, mehr für Unterhaltungsreize, aber nicht für verinnerlichte Kunst geeignete Formung“33 vorliege. Die tänzerische Leistung schien
Abb. 5: Anonym, Albert Burger und Elsa Hötzel in Kostümen der gelben Reihe des Triadischen Balletts, Fotografie, 1922/23, 17,8 x 13 cm, Bühnenarchiv Oskar Schlemmer, Sammlung C. Raman Schlemmer, Oggebbio
den Kritikern hier zugunsten des Kostüms eingeschränkt worden zu sein, wie es Einstein auch befürchtet hatte. Bis in die Gegenwart reicht die Kritik, dass der
Abstraktion zum Kontrollinstrument avanciere.
Tanz in den Hintergrund gerate und Kostüm, Kunstfi-
Außerdem lasse das Kostüm den Tänzern keine
gur, Form und Farbe eher im Zentrum stünden. Im
Gelegenheit zur Initiative, der Anspruch an sie sei
Zuge dessen wurde das Triadische Ballett lange Zeit als
gering, sodass Schlemmer auf menschliche Tänzer
Negativbeispiel der Interaktion zwischen bildender
verzichten und Maschinen oder Puppen hätte einset-
Kunst und Tanz verstanden, denn dort konkurriere das
zen können.36 Das Kostüm modellierte den Tanz wie
Kostüm mit dem Menschen, wodurch die Bewegungs-
der Bildhauer die Skulptur und ließ eine abstrakte
möglichkeiten reduziert und der Körper „in vorherr-
Bildkomposition aus geometrischen Elementen
schende Strukturen eingepasst“ werde, sodass die
entstehen, bei der der Körper und die dynamische
34
35
Körpermasken und bewegte Bilder: Künstler kostümieren Tänzer
279
Bewegung in den Hintergrund geraten. Nicht mehr nur bemalt, sondern selbst ausgestaltet waren Schlemmers Figurinen bereits das Negativ ihrer räumlichen Ausbreitung. Ein Jahr nach der Uraufführung des Triadischen Balletts in Stuttgart präsentierte Sonia Delaunay ein ähnlich raumgreifendes Kostüm für eine Choreografie mit dem Titel Danseuse aux Disques, die 1923 in der Galerie La Licorne (Paris) wohl anlässlich einer Abendveranstaltung des Dichters Ilya Zdanevič (genannt Iliazd) aufgeführt wurde. Das Kostüm trug die Tänzerin Lizica Codréano, mit der auch Constantin Brancusi zusammen gearbeitet hatte. „Eine große Pappscheibe, mit Stoff überzogen, in orange und grün, die der Tänzerin um das Gesicht gebunden war und den Oberkörper bedeckte. Ein Rock aus roten und blauen Halbkreisen bestehend, sowie ein schwarzer Kreis an der rechten Hand befestigt und ein weißer an der Linken“37, beschrieb Delaunay den Entwurf (Abb. 6). Die farbigen Scheiben wurden durch den Stoff nicht mehr auf den Körper aufgetragen, sondern der Körper selbst wurde zur Farbscheibe, die Bewegungsein-
Abb. 6: Anonym, Lizica Codréano in einem Kostüm von Sonia Delaunay für das Stück Danseuse aux Disques in der Galerie La Licorne in Paris, 1923, Fotografie, Maße unbekannt, Ort unbekannt
schränkung durch das Kostüm erreichte eine neue Dimension. Delaunay selbst bestätigte, dass die Steifheit des Kostüms, wie schon zuvor beobachtet, der Bewegung des Körpers einen „Zwang auferlegte“38. „Die Tänzerin war genötigt, sich frontal zu bewegen
eingeschränkt bewegen konnte, um eben diesen
und in ihren Bewegungen die Fläche zu berücksichti-
flächigen Eindruck aufrechtzuerhalten. Zwar ging es
gen. Mit viel Gefühl variierte Codréano die Position
um Bewegung und Variation, um plastische Ausgestal-
der Flächen und schuf und veränderte so ständig die
tung von Farben und Formen, dennoch blieb diese
Beziehungen der Farben untereinander. Auf diese
Unternehmung den Gesetzen des Bildes treu. Der
Weise wurde eine neue Sprache der Farbe erreicht“ ,
Körper der Tänzerin wirkte in der Fotografie wie ein
so Delaunay. Das Schaffen einer neuen „Sprache der
Mittel zum Zweck, wie ein Antrieb, ein Motor, um die
Farbe“ blieb, obwohl es sich um das Medium des
Scheiben in Bewegung zu versetzen. Er selbst trat
Tanzes und demnach um die Bewegung in der Dreidi-
vollkommen in den Hintergrund. Nur noch der Kopf
mensionalität handelte, dennoch der Zweidimensiona-
und die Knöchel waren unter den Scheiben zu erken-
lität verhaftet. Das Scheibenkostüm machte aus dem
nen. Schwer ersichtlich ist in der Fotografie, ob die
Körper eine Fläche, auf der sich die Tänzerin nur
Scheiben zwei- oder dreidimensional ausgestaltet
39
280
Anja Pawel
waren. Es scheint, dass die Tänzerin nur von ihrer
Erfahrung hatten. Taeuber-Arp war, wie bereits
Vorderseite aus als Scheibe zu erkennen war und sich
erwähnt, als Ausdruckstänzerin bei Laban tätig, Schulz
bei einer Drehung der Effekt auflöste. Sollte dies der
war sowohl Künstlerin als auch Tänzerin, Delaunay
Fall gewesen sein, so musste sie hauptsächlich als
besuchte regelmäßig Tanzlokale, bei denen sie sich in
Fläche und frontal posieren, um den Eindruck des
ihren eigens nach dem Vorbild ihrer Bilder geschnei-
Kostüms zu erhalten und war nicht mehr allansichtige,
derten Kostümen präsentierte, und Schlemmer
skulptierte Malerei in Bewegung. Womit sich Delau-
begründete in einem Brief an Otto Meyer-Amden
nays Ausführung wiederum unterschied von vollplas
seine sechsmalige Teilnahme (in verschiedenen
tisch ausgearbeiteten, allansichtigen Kostümen, wie in
Kostümen) im Triadischen Ballett mit seinem eigenen
Schlemmers Triadischem Ballett.
Körpergefühl, das er selbst benötigte, um das Stück zu
40
Bei solchen Kostümexperimenten in Extremen
einem befriedigenden Ergebnis zu bringen.41 Emil Utitz
ging es weniger um das bewegte Beiwerk, sondern um
stellte bereits 1908 in dem Artikel Reform der Tanz-
farblich und plastisch ausgestaltete Formen. Diese
kunst fest, dass es von Nöten sei, dass die Künstler mit
bestimmten den Körper des Tänzers, der vom beweg-
dem Tanz vertraut seien, wenn sie Kostüme für Tänzer
ten Bild zur bewegten Architektur wurde. Das Material
schneiderten: „Das Gewand der Tanzenden und der
schuf einerseits Hindernisse, eröffnete andererseits
Rahmen, in dem der Tanz vor sich geht, müssen ein das
aber auch neue Möglichkeiten. Das anthropomorphe
Auge befriedigendes Bild liefern [...]. Hier erwachsen
Bild vom Körper wurde Experimentierfeld, in Frage
demnach für den bildenden Künstler neue und
gestellt, sogar negiert, zugunsten einer Stilisierung ins
dankbare Aufgaben, und zwar für bildende Künstler,
Abstrakte, Puppenhafte oder gar Maschinelle. Die
die etwas vom Tanz und von der Musik verstehen.“42
Gestaltung konnte die Bewegungen der Tänzer lenken,
Eine solche Zusammenarbeit von bildenden
einschränken oder überhaupt erst hervorbringen. Die
Künstlern und Tänzern ließ nicht immer Ergebnisse
Tanzkritik hieß diese Tendenzen nicht immer willkom-
entstehen,43 die dem althergebrachten Verständnis des
men. Sie diskutierte, wann die Kostümgestaltung von
jeweiligen Mediums entsprachen. Die Experimentier-
Künstlern an ihre Grenzen gelangte, wo der Tanz
freude wurde jedoch belohnt mit einem Blick über die
aufhörte und die bildende Kunst begann.
medialen Grenzen hinaus. Eine neue Perspektive, die
Bei allen Beispielen handelte es sich um Künstler, die in beiden Medien, bildender Kunst und Tanz,
sich jedoch nicht nur auf das fremde, sondern auch auf das eigene Medium beziehen konnte.
Körpermasken und bewegte Bilder: Künstler kostümieren Tänzer
281
Anmerkungen
dieser Kostümgestaltung für den hier interessierenden Kontext in
Der vorliegende Artikel stellt in gebündelter und überarbeiteter
Dadaistin. Eine Wunschvorstellung der Rezeption?, in: Mona de Weerdt
Form ein Kapitel aus der Dissertation „Abstraktion und Ausdruckstanz.
und Andreas Schwab (Hg.): Monte Dada. Ausdruckstanz und Avant-
Bildende Kunst und Tanz im frühen 20. Jahrhundert“ vor, die 2019 bei
garde, Bern 2018, S. 149–163, hier S.150 ff.
1
De Gruyter erscheinen wird.
14
2
Bronislava Nijinska: Early Memoirs, hg. u. übers. v. Irina Nijinska
und Alexandra Exter Marionetten an. Vgl. Sigrid Barten: Und alle Pup-
und Jean Rawlinson, Durham/London 1992, S. 276; vgl. auch Juliet
pen tanzen. Die Dada-Marionetten von Sophie Taeuber, in: Kunst +
Bellow: Fashioning Cléopâtre. Sonia Delaunay’s New Woman, in: Art
Architektur in der Schweiz, Bd. 47, 1996, H. 4, S. 426–430. Zu den
Journal, Bd. 68, 2009, H. 2, S. 6–25, hier S. 16.
Stickereien Sophie Taeuber-Arps siehe den Beitrag von Walburga
3
Krupp im vorliegenden Band.
Juliet Bellow: On Time. Sonia Delaunay’s Sequential Simultan-
Neben Taeuber-Arp fertigten auch Hanna Höch, Kurt Schmidt
ism, in: Sonia Delaunay, Ausst.-Kat. Tate Modern, London, London
15
2014, S. 99–101, hier S. 101.
burga Krupp: „Echte Indianer“. Sophie Taeuber-Arps Frühwerk im Hin-
4
Wahrscheinlich ihr einziger im dadaistischen Kontext. Vgl. Wal-
Vgl. Kathleen James-Chakraborty: Von der Leinwand zum Körper.
blick auf fremde Kulturen: eine Spurensuche, in: Dada Afrika. Dialog
Die Kleiderentwürfe von Sonia Delaunay, in: Karl R. Kegler, Anna Minta
mit dem Fremden, hg. v. Ralf Burmeister, Michaela Oberhofer und
und Niklas Naehrig (Hg.): RaumKleider. Verbindungen zwischen Archi-
Esther Tisa Francini, Ausst.-Kat. Museum Rietberg, Zürich, Zürich 2016,
tekturraum, Körper und Kleid, Bielefeld 2018, S. 79–98, hier S. 85 f. Vgl.
S. 49–55, hier S. 52. Es ist möglich, dass dieses Foto nicht während des
weiterführend zu den Textilentwürfen von Delaunay: Color Moves. Art
Auftritts aufgenommen, sondern gesondert und für diesen Zweck eine
and Fashion by Sonia Delaunay, hg. v. Matilda McQuaid und Susan
Pose eingenommen wurde, die der Choreografie ähnelt bzw. das
Brown, Ausst.-Kat. Cooper-Hewitt Museum of Decorative Arts and
Kostüm besonders gut in Szene setzt.
Design, New York, New York 2011; Cécile Godefroy: Sonia Delaunay.
16
Sa mode, ses tableaux, se tissus, Paris 2014; Sonia Delaunay – art, de-
2002, S. 80; vgl. allgemein: Puppen, Körper, Automaten. Phantasmen
sign, fashion, Ausst.-Kat. Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid, Madrid
der Moderne, hg. v. Pia Müller-Tamm, Katharina Sykora und Horst Bre-
2017.
dekamp, Ausst. Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf,
5
Anhang eines Briefes von Sonia Delaunay an H. de Leeuw,
Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater, Stuttgart
Köln 1999.
27.3.1962, Privatsammlung, zit. n. Petra Timmer: Sonia Delaunay. Fa-
17
shion and Fabric Designer, in: Ausst.-Kat. New York 2011 (wie Anm. 4),
1986, S. 129.
Walter Sorell: Mary Wigman. Ein Vermächtnis, Wilhelmshaven
S. 25–103, hier S. 51.
18
6
Die Flucht aus der Zeit (1927), hg. v. Bernhard Echte, Zürich 1992,
Delaunay gestaltete auch Autos, Bekleidung und Einrichtungs-
gegenstände mit den Mustern ihrer Bilder. Im Sinne des „schemati-
Tagebucheintrag Hugo Balls vom 24.5.1916, in: Hugo Ball:
S. 97.
schen Bildakts“ von Horst Bredekamp, strebte die Künstlerin danach,
19
„die Distanz zwischen Artefakt und Mensch aufzulösen“. Vgl. Horst
chen 1923, S. 260–261; vgl. Athina Chadzis: Die Maskentänzer Lavinia
Bredekamp: Der Bildakt: Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin
Schulz und Walter Holdt, Frankfurt a. M. 1998, S. 93.
Hans Waldemar Fischer: Hamburger Kulturbilderbogen, Mün-
2015, S. 128.
20
7
Carl Einstein: Tanzende Gewänder, in: Carl Einstein. Werke.
Oktober 1926, H. 10, S. 430–433, hier S. 432; vgl. Nils Jocke: Elbischer
Band 2. 1919–1928, hg. v. Marion Schmid unter Mitarbeit von Henri-
Kobold und Versunkene Kathedrale. Die Ausdrucks- und Maskentänze
ette Beese und Jens Kwasny, Berlin 1981, S. 341–368, hier S. 358.
von Ursula Falke, in: Entfesselt. Expressionismus in Hamburg um 1920,
8 9 10 11
Ebd.
hg. v. Anette Baumann und Rüdiger Joppien, Ausst.-Kat. Museum für
Ebd., S. 360.
Kunst und Gewerbe Hamburg, Hamburg 2006, S. 95.
Joseph Richard: Tanzmaske und Bühne, in: Der Kreis, Bd. 3,
Ebd.
21
Georg Kirsta: Vom Tanzkostüm, in: Schrifttanz, Bd. 3, 1930,
Inspirationsquellen, in: Ausst.-Kat. Hamburg 2006 (wie Anm. 20), S. 50–
H. 3, S. 51.
Vgl. Stanislaw Rowinski: Lavinia Schulz und ihre künstlerischen
55, hier S. 51.
sätzlich den Nachnamen ihres Ehemannes Hans Arp an. Im vorliegen-
22 23
den Artikel wird dieser Doppelname verwendet.
wen?, in: Anna-Brigitte Schlittler und Katharina Tietze (Hg.): Mode und
13
Bewegung. Beiträge zur Theorie und Geschichte der Kleidung, Emsdet-
12
Die Künstlerin nahm bei der Heirat am 20. Oktober 1922 zu-
Die maskierte Person in der Fotografie wird in der Forschung als
Sophie Taeuber-Arp bezeichnet. Doch Walburga Krupp stellt dies in
Chadzis 1998 (wie Anm. 19), S. 92. Vgl. Katja Stromberg: Kleider – Tanz – Schuhe. Wer bewegt
ten 2013, S. 23–33, hier S. 24.
Anlass des Fotos und den Erschaffer des Kostüms zweifelt sie an. Ihre
24 25
Einwände sind berechtigt, was jedoch nicht die besondere Bedeutung
berg 2013 (wie Anm. 23), S. 27.
einem jüngst erschienenen Artikel in Frage. Auch die Datierung, den
282
Zweifel zieht. Walburga Krupp: Sophie Taueber-Arp als Tänzerin und
Anja Pawel
Ebd., S. 48. Alexander Sacharoff: Über das Tanzkostüm, 1950, zit. n. Strom-
26
Hans Hildebrandt: o. T., in: Neue Zürcher Zeitung, Abendblatt,
24.10.1922, zit. n. Dirk Scheper: Oskar Schlemmer. Das Triadische Ballett und die Bauhausbühne, Berlin 1988, S. 55.
27 28
35 36 37
Ebd., S. 230 f. Ebd., S. 230 u. 234. Sonia Delaunay: Die getanzte Farbe in: Aujourd‘hui, Mai 1958,
Zit. n. ebd., S. 26.
H. 17, zit. n.: Robert Delaunay, Sonia Delaunay. Das Centre Pompidou
Ebd., S. 54. Kate Elswit kommt auf Basis dieses Zitats zu ähnli-
zu Gast in der Hamburger Kunsthalle, Ausst.-Kat. Hamburger Kunst-
chen Schlussfolgerungen, in: Kate Elswit: Watching Weimar Dance,
halle, Hamburg, Köln 1999, S. 204.
Oxford 2014, S. 42 f.
tus et Imago, 19), Berlin 2016, S. 508–510.
38 39 40 41
31
28.12.1919, zit. n. Karin von Maur: Oskar Schlemmer als Tanzgestalter
29 30
Scheper 1988 (wie Anm. 26), S. 52. Vgl. Markus Rath: Die Gliederpuppe. Kult, Kunst, Konzept (AcWalter Sorell: The Other Face. The Mask in the Arts, London
Ebd. Ebd. Ebd. Schlemmer in einem Brief an Otto Meyer-Amden vom
1973, S. 154.
und Bühnenbildner, in: Oskar Schlemmer. Visionen einer neuen Welt,
32
hg. v. Ina Conzen, Ausst.-Kat. Staatsgalerie Stuttgart, München 2014,
Fritz Böhme: Tanzkunst, Dessau 1926, S. 51. In der Originalver-
sion trugen die Tänzer wohl auch Gesichtsmasken.
S. 195.
33 34
Ebd.
42
Vgl. Renate Berger: Vorstellungen des Abstrakten und Absolu-
ration, Bd. 23, 1908, S. 238.
Emil Utitz: Reform der Tanzkunst, in: Deutsche Kunst und Deko-
ten im Ausdruckstanz und Triadischen Ballett, in: Susanne Deicher
43
(Hg.): Die weibliche und die männliche Linie. Das imaginäre Geschlecht
Tanzkostüme benennen, wie etwa solche aus Pablo Picassos Parade
der modernen Kunst von Klimt bis Mondrian, Berlin 1993, S. 221–255,
(1917).
Über diese Beispiele hinaus lassen sich weitere raumgreifende
hier S. 229.
Körpermasken und bewegte Bilder: Künstler kostümieren Tänzer
283
tapestries made from modernist paintings by great manufactories that usually worked for the Mobilier National, in order to sell them in her gallery and around the world (Brussels in 1935, then London, Chicago, New York). Only Lurçat and Coutaud produced their own tapestry cartoons. In most other cases, painters were not much implicated in the production of the tapestry: they just gave their original painting or drawing to the weaver. This contribution
Matisse’s Tapestry The Woman with the Lute (1949): Interweaving Modernist Painting and Tapestry
has its focus on a tapestry made after an artist who was not considered as an impulse of the French tapestry renaissance (as were Lurçat and Coutaud), The Woman with the Lute by Henri Matisse: he got involved in the process of production and offered in this tapestry an interesting reflection upon medium specificity and decoration. Resorting to painters in order to provide the
Claire Salles
model for the cartoon (the full-sized sketch that guides the weaver, realised by the weaver or by an assistant
Context – The French Tap estry Re n a i s s ance through Modern Pai nt i n g
dedicated to this task) had become frequent at the end of the 15th century, precisely at a time when painters became full-part artists and no craftsmen like others anymore. Madeleine Jarry’s grounding work on modern tapestry characterises it as a come-
In the 1930s, French tapestry took an interesting
back of the authority of the painter that had been so
twist, awaking from the prolonged use of pastoral,
deleterious for tapestry and had led to its decline at
regionalist and exotic subjects. It was well recounted
the end of the 18th century. In both eras, tapestries
in an exhibition that took place in 2018 at the Manu-
are mere reproductions of paintings or drawings
facture des Gobelins in Paris entitled Over the Century,
considered as originals. Jarry sees the tapestries
1918–2018, Masterpieces of Tapestry. The French
ordered by Marie Cuttoli as “veritable trompe-l’oeil”
tapestry renaissance is partly due to the artist Jean
and adds: “The result is amazing and at some
Lurçat (who advocated a return to the roots of
distance one cannot distinguish the painting from
tapestry by using a reduced range of tones and a
its woven replica.”1 Weavers are seen as copists
simplified model) and to Marie Cuttoli, collector and
whereas modern painters are supposed, in the
gallerist of many modernist painters (Pablo Picasso,
common sense of modern art, to always create
Georges Braque, Henri Matisse, Georges Rouault,
something new, in an ambivalent position oscillating
Fernand Léger, Jean Lurçat, Raoul Dufy and Lucien
between understanding tradition and forever starting
Coutaud among others). She had the idea of having
afresh.
Matisse’s Tapestry The Woman with the Lute (1949): Interweaving Modernist Painting and Tapestry
285
In 1946, an exhibition called French Tapestry from
Bihan relates that “we learn from Lydia Delectorskaya
the Middle Ages to our Days at the National Museum of
[Matisse’s assistant] that Matisse was disappointed by
Modern Art in Paris showed that the national manu-
the result”.4
factures were almost absent of the tapestry renaissance. Yet, they quickly followed Cuttoli’s tracks.
When Matisse was in contact with Marie Cuttoli in 1937, he wrote to her that he wanted to “insist on the variation in tone because of the transparencies
How The Wo man with the Lute Revolutionised Tap estry
and the brush games that will have to be observed by the copist”5 and Olivier Le Bihan wrote in the catalogue for the exhibition hold in France in 2014 under the name Weaving Matisse that Matisse was “very
I will take as a case study a tapestry by Henri Matisse entitled The Woman with the Lute (ill. 1), woven
work”.6 At the time, he clearly thought that tapestry
by the Gobelins’ Manufactory and finished in 1949,
was copy. But ten years later this first experience, The
because Marie-Hélène Dali-Bersani showed that, with
Woman with the Lute appears as the result of a com-
that tapestry, the Mobilier National made the decisive
plex interweaving of mediums, from a painting to a
move to revolutionise modern tapestry and its dialec-
tapestry through a black and white photograph and a
tics of model and copy: “With Matisse, the manufacto-
colour one, altogether with a real implication of the
ries are approaching for the first time the process of
artist. For Dali-Bersani, “this is a first, the true recrea-
dialogue necessary for the transposition of one
tion of the original model designed above all according
technique to another.”
to the profession of licier”.7
2
Ten years after Matisse had given it a try with
It does not mean that the technical separation
Marie Cuttoli (Papeete I, 1936), the Gobelins’ Manufac-
between the world of the painters and that of the
tory contacted him. They agreed on The Lute, a
weavers that dominated the pictorial tapestry disap-
painting of 1943 that was no longer available3 but
peared. Tapestry (as stained glass) needs highly
from which a photograph in colour had recently been
qualified executors; comparatively, engraving does not
published in the art journal Verve (ill. 2). Matisse used
require so much specialisation and painters could do
this photograph to draw a new project: he withdrew
their own woodcut. Of course, many weavers have
one of the ornamental patterns of the wall behind the
challenged the distinction between fine arts and
woman, replaced the carpet by acanthus patterns on
applied arts, asking and obtaining acknowledgement
the floor and added an ornamental border. This new
as art of their tapestries. Furthermore, many artists
project was photographed and the cartoon was
combine a graphic production with weaving (but they
obtained by editing in black and white this photograph
work at another level of complexity than that of the
to the dimensions of the tapestry to be produced,
teams of the Mobilier National: the last tapestry made
twice and a half bigger than the painting The Lute from
from a painting by the Gobelins’ Manufactory, A Map
1946. Matisse and the tapestry weaver Maurice
of Japan by Alain Séchas, was woven in no less than
Cauchy prepared the yarn sampling together. Two
seven years from 2011 to 2018).8
copies were woven (from September 1947 to May 1948 and from May 1949 to October 1950). Olivier Le
286
upset by the liberties taken in the interpretation of his
Claire Salles
This technical separation is all the more brought to light by the very process of production of The
Ill. 1: Henri Matisse, The Woman with the Lute, 1949, haute lisse tapestry, 165 x 200 cm, Mobilier National and Gobelins Manufactory, Paris
Woman with the Lute, because Matisse modified his painting in order to create a more suitable model for tapestry (the ornamental border he added is typical in tapestry). What happens in this transformation? Is the balance of forces between colours (Matisse’s iterative main interest in painting) the same in tapestry? ‘Pictorial tapestry’ offers a fascinating case study because its high technical requirements necessarily make it a copy from the graphic work chosen as a model. This transmediality therefore questions the very possibility to talk about ‘modern tapestry’ in the sense of all ‘modernist art’, where the work of art is supposed to emerge from the very properties of the medium.
Ill. 2: Henri Matisse, The Lute (colour plate), Verve, Vol. IV, December 1945, No. 13, Mobilier National and Gobelins Manufactory, Paris
Matisse’s Tapestry The Woman with the Lute (1949): Interweaving Modernist Painting and Tapestry
287
What Medium Sp ecif icity for Tap estry and Painting?
In 1893, Alois Riegl, curator of the Textiles Department at the Museum of Art and Industry in Vienna, criticised the materialist approach that
I here raise the question of the specificity of the medium in modern art. Today, we mainly refer to this
Gottfried Semper’s theory. The latter was a German
notion in the way it was popularised by the
architect exiled in London, who taught Metallurgy at
North-American critic Clement Greenberg, who used
the Department of Practical Art from 1852 to 1855.
it in the 1960s to promote painters that, in his opinion,
He published in 1860 the first tome of Style in the
met the self-referential requirement of modernist
Technical and Tectonic Arts: or, Practical Aesthetics
painting: namely Jackson Pollock, Willem de Kooning,
where he explained the form of ornamental patterns
Jules Olitski, then Mark Rothko and Barnett Newman.
by the technical constraints of weaving.11 Design had
His notion of medium specificity is summarised in
to adapt to the specificity of the fabric. Riegl’s concep-
“Modernist Painting”, a lecture given in 1960, first
tion of ornamental patterns fights Semper’s materialis-
published in 1961 and revised in 1965. According to
tic determinism: what matters for him is the way the
Greenberg’s reading of Immanuel Kant (“the first real
form is inwardly experienced and the ‘Kunstwollen’ that
Modernist” ), each domain of thought and each
drove the fabrication, which can be the same for a
artistic medium should justify its existence through the
ceramic or for a tapestry.
9
10
affirmation of its own specificities. Since Manet and
Masheck insists on Semper’s determinism and
Cézanne, painting states that it is neither a window
flatness as it was promoted in applied arts (in order to
nor a mirror but rather an autoreferential object.
depart patterns from narrativity and to show a
Painting should state surface as a surface: it should
self-conscious artificiality), in order to show its reso-
state that its coloured configuration is responsible for
nance by painters, namely by the French Post-Impres-
its flatness.
sionists from approximately 1880 to 1910. But he does
But Greenberg cut his idea of modern art based
288
dominated the analysis of styles, in the wake of
not really study the differences, nuances and passages
on medium specificity from its roots. As a matter of
between Pointillists (Paul Signac from The Great Father
fact, medium specificity calls upon debates on deter-
Signac, 1884), Synthetists (Paul Gauguin, Émile Ber-
minism that developed at the end of the 19th century
nard), Symbolists (Odilon Redon, Georges Seurat) and
by craftsmen and theorists of the applied arts but
Nabis (Paul Sérusier, Maurice Denis). He does not so
were used by painters as well. In his polemical essay of
much address either the implications of extending what
1976 entitled “The Carpet Paradigm”, Joseph Masheck
he calls the “carpet paradigm” from craftsmen and
took as a starting point the growing fetishisation of
theorists of applied arts to those artists who combined
Greenberg as the only authority about flatness (the
different practices (cartoons for tapestries, stained
specificity of painting) and tried to reconstruct the
glass, fabrics and wallpapers; posters, illustrations for
genealogy of medium specificity. Masheck insists on
books and journals; theatre sets), nor the links between
materialistic determinism in the wake of Gottfried
craftsmen and artists (many of the artists named above
Semper and William Morris, and therefore leaves aside
had symbolistic and metaphysical rather than purely
another interpretation of decoration, the one repre-
formal and functional goals, unlike most of craftsmen
sented by Alois Riegl.
and theorists of applied arts).
Claire Salles
Masheck builds a connection from Denis to
curtains, costumes and screens. He took them with
Matisse in regards to this decorative painting that insists
him when he moved from a studio to another. Spurling
on flatness and patterns, in opposition to easel painting
also recalls that Matisse was born in a region that was
that is supposed to open a window on the world in an
a hotbed of the textile industry and that one of
illusionist way. Masheck thus inscribes Matisse in the
Matisse’s greatest collectors, Sergei Shchukin, was the
“carpet paradigm” inherited from the materialistic
leader of one of the biggest textile empires of Russia.15
determinism of Semper about the applied arts; the
But what matters is the use that Matisse made
“carpet paradigm” lasts, in Masheck’s eyes, until cubism
of these textiles in his paintings. Until now most of the
(which parts the painting from its environment).
authors who published on Matisse and textiles agree
One may find interesting to know that a special-
on seeing them as a way to destabilise the laws of the
ist of Matisse, Rémi Labrusse, preferred to link Matisse
three-dimensional illusion. The examples abound,
to Riegl’s theory, which was based on Islamic decora-
especially in the works from 1906 to 1918 when
tive art.12 He recalls that the whole post-impressionist
textiles were used to activate the background, to
generation of artists engaged with by textiles and
expand the painting and make it enter in tension with
carpets, with decorative art and oriental art, in order
its environment. In Matisse’s Still Life with Red Carpet
to renew painting and the occidental conception of
(1906), the painted Algerian carpet abolishes the
images. The relations between forms are more
distinction between the foreground and the back-
important than the forms themselves. Matisse visited
ground, as well as the Jouy-printed textile in Still Life
in 1910 the Exhibition of Mohammedan Art in Munich
with Blue Tablecloth (1909; ill. 3). The wall and the floor
and, in Labrusse’s eyes, he meets the Islamic decora-
form a continuum in Interior with Aubergines (1911;
tive art’s requirement of the abolition of limits (the
ill. 4), as well as the wall and the table in The Dessert.
chromatic energy is deployed beyond the limits of the
Harmonie in Red (1908; ill. 5).
canvas, by means of the repetition of patterns in Islamic art, and by means of the work on coloured forces by Matisse).13 It is time now to specify what I mean behind this idea of the work of forces by Matisse, and it can precisely be done at best by studying Matisse’s use of textiles in his paintings.
Texti l e s i n Matisse’s p aintings In point of fact, Matisse extensively resorted to textiles in his paintings. As Hilary Spurling emphasized in 200514, Matisse collected textiles from his first years spent in the Beaux-Arts School: he bought in flea markets Persian carpets, African hangings, all sorts of
Ill. 3: Henri Matisse, Still Life with Blue Tablecloth, 1909, oil on canvas, 88 x 118 cm, The Hermitage Museum, Saint Petersburg
Matisse’s Tapestry The Woman with the Lute (1949): Interweaving Modernist Painting and Tapestry
289
Ill. 4: Henri Matisse, Interior with Aubergines, 1911, tempera and other techniques on canvas, 212 x 246 cm, Painting and Sculpture Museum, Grenoble
Ill. 5: Henri Matisse, The Dessert. Harmonie in Red, 1908, oil on canvas, 180 x 220 cm, The Hermitage Museum, Saint Petersburg
290
Claire Salles
Ill. 6: Henri Matisse, Still Life with The Dance, 1909, oil on canvas, 89 x 116 cm, The Hermitage Museum, Saint Petersburg
Jack Flam also notices the confusion between
As a result, one has the sensation that the
the vegetal printings of the textiles and the fruits or
patterns go beyond the painting. Matisse always
flowers placed on the tables, a lesson that Matisse
repeated that this decorative characteristic would
would have learned from Paul Cézanne16: one can
destroy the tableau, the easel painting heard as a
compare Cézanne’s Still Life with Fruit Dish (1879/80)
close frame that opens a window on something else
to Matisse’s Still Life with “The Dance” (1909; ill. 6). The
than its environment. From the 1940s, he went as far
same confusion occurs in the tapestry The Woman with
as to reject painting that still did not allow enough
the Lute: Matisse has added vegetal patterns on the
this extension to the environment, as we can see in
wallpaper and on the carpet, and these patterns are
his last works (cut painted papers, decoration of
almost confused with the flowers arranged in vases.
the Chapel of the Rosary of Vence) and as expressed
What does the treatment of textiles in these
in a letter to Marguerite Duthuit from 1945:
earlier paintings imply? Matisse does not look after
“Paintings seem over to me […]. I am for decoration –
copying nature, but expresses its forces. Vitality of
that is where I give everything I can – and I use
colours is one of his main themes and he modifies the
the acquisitions of my life – in paintings I go back-
colours rather than the drawing according to the
ward […]. In drawings and decoration, I master, I am
needs of the painting.
sure.”17
Matisse’s Tapestry The Woman with the Lute (1949): Interweaving Modernist Painting and Tapestry
291
Re def ining Decoration
than itself, to extend to its environment and act on the viewer, on the other hand. One can see that it is the
These implications of the use of textiles in
theorists of applied arts whereas Matisse combines
of ‘decoration’, that Matisse participated to reshape.
both. As the art historian Jean-Claude Bonne writes:
As the artist stated from a letter written in 1913 (“For
“By Matisse, painting is intended to be explicitly
me, a painting should always be decorative” ) to an
decorative and it achieves its goal by developing a
interview with Léon Degand in 1945: “[Degand asks:]
double expansiveness, both internal and external,
We have not yet given up reproaching your art with
all-over and all-around: it must ensure a rhythmic or
being extremely decorative, and we hear it in the
afocal circulation through itself (the parts can have a
pejorative sense of the superficial. [Matisse answers:]
very variable importance but their interrelations must
[...] The decorative for a work of art is an extremely
be such that no element must subordinate others) so
precious thing. It is an essential quality. It is not pejora-
that it radiates on the surrounding environment to
tive to say that an artist’s paintings are decorative. [...]
stimulate the vital feeling of the spectator.”20
18
The characteristic of modern art is to participate in our
The modifications Matisse did in view of the
life. A painting in an interior spreads around joy by its
tapestry question this polarity between flat and
colours, which lighten us. […] A painting on a wall
repetitive patterns on the one hand, and expansivity
should be like a bouquet of flowers in an interior.
and vitality on the other. By replacing the carpet by
These flowers have an expression, tender or lively. Or
vegetal patterns on the floor, by unifying the vegetal
simply, the joy comes to us from a surface of yellow or
patterns on the wall and by adding an ornamental
red, which asserts flowers of more tender expression,
border, Matisse tended to flatten his composition and
like roses, violets, daisies, compared to the ardent and
to multiply and generalise repetitive patterns. It is also
purely decorative orange of marigolds.”
clearer in the tapestry than in the painting that the
19
One can notice that Matisse’s concept of
plate positioned on the table, because it is blue and
decoration emphasizes activity rather than passivity: a
red as the wall, brings the wall back to the front, to its
work of art along with a bouquet of flowers should
own plane. One may go one step further by noticing
spread light in a room and produce emotions in the
that the objects and patterns represented in the
viewer.
tapestry do not have hard contours but overflow one
As a tapestry (a medium more frequently
292
former that was put into scrutiny by the craftsmen and
Matisse’s work can thus be synthesised under the idea
into each other in order to reproduce the liberty of the
associated with the common meaning of decoration),
brush in painting (there is even a yellow trace that
The Woman with the Lute brings to light and refreshes
trickles, as fresh paint would). This interlacing of things
the implications of decorativeness that arose by
is all the more visible in tapestry because of its
Matisse from his paintings. Decorativeness combines
technique: the horizontal and vertical wires are
here two polarities of meanings that are intrinsically
interwoven at right angles, so that the overflowing is
interlaced: the pure materiality of the plane surface
quite visible (as in a pixeled picture). The flattening of
becoming self-conscious by the very repetition of
the composition participates to the powerful effect of
patterns on the one hand and the capacity of the work
transcendence towards the wall: all the light cast by
of art to transcend itself towards another dimension
the tapestry comes from the tension (both confronta-
Claire Salles
tion and confusion) of blue and red planes through
philosopher Hubert Damisch about the French artist
diverse patterns. And it works, even if the tapestry
François Rouan who weaves two painted canvases that
seems unfortunately granular and gritty (perhaps its
he has cut into strips, and sometimes paints on this
brightness and softness has lowered because of the
weaving. The thickness of the surface does not only
passage of time).
apply to real weavings such as Rouan’s (or to tapestry, I would add) but to all kind of visual displays that tension
Beyo n d Flatness
the relation of the planes between them. Hubert Damisch thought that the “braid paradigm” that emerges with thickness has replaced the
The reader may have noticed that the notions of
“perspective paradigm”.25 For instance, it can be applied
decoration, flatness and medium specificity, in their
to medieval painting from the tenth to the twelfth
interweaving between painting and tapestry, call upon
century (known in French as art roman, but not to be
an analysis that oscillates between a materialistic
confused with the arts made in Ancient Rome) and to
description (but without a forced determinism) and the
ornamental patterns. Jean-Claude Bonne, as a special-
description of the effects on the viewer and his
ist of medieval art, offered tracks in this direction.26
environment.
Two theoretical renewals have occurred. First,
In this oscillation, the notion of flatness (usually
Bonne’s and Damisch’s notions of thickness and of
associated with modernism) becomes perplexing. The
decorative flatness offer a more complex approach
tapestry The Woman with the Lute underlines the
than Greenberg’s flatness. Flatness does not necessar-
effects of tension of planes that grounds Matisse’s
ily mean that a painting should enunciate his flatness
paintings.
through a sole plane (modern painting would die with
Jean-Claude Bonne and Eric Alliez offered a brilliant analysis of Matisse’s ‘décoratif’ in La
monochrome). Second, Damisch’s braid paradigm answers
Pensée-Matisse published in 2005.21 In their eyes, there
Masheck’s carpet paradigm for modernist painting by
is a synthesis between the decorative effect (all-over
going beyond the sole pure flatness promoted by the
and all-around) and some traces of three-dimensional-
craftsmen and theorists of applied arts of the 19th
ity in the representation (we still recognise that there
century and introducing a renewed perception of the
is a wall and a floor, we have an approximate idea of
relations between the planes.
the location of the objects represented in paintings).
It would be too easy to range tapestry as a whole
There is here neither a contradiction between two-di-
in the braid paradigm, on the sole materialistic argu-
mensionality and three-dimensionality nor a resolu-
ment that it intrinsically is braiding. The braid paradigm
tion: they rather talk of the third dimension as the
appears as a possibility for many mediums and goes
“tensor for flatness”.22 Flatness is no longer a synonym
beyond the technical characteristics – even if, of
of surface or plane, but occurs in several planes at the
course, it seems more self-evident in Rouan’s braids or
same time: henceforth one shall understand this as
in The Woman with the Lute by Matisse whose defini-
“decorative flatness”.
tion of decoration fits so well with the braid paradigm.
23
The authors call upon the concept of the “thickness of the surface” forged by the art historian and 24
In the same way, perspective and decoration appear as the two main possibilities for a flat support
Matisse’s Tapestry The Woman with the Lute (1949): Interweaving Modernist Painting and Tapestry
293
to be painted or weaved: flat supports do not deter-
pulled away. Beyond the sole enchantment of contem-
mine one or the other. The flatness of the support is
plation, Matisse’s works offer “a specifically modern
either underlined by the decorative paradigm, or veiled,
reflection upon the nature of the process of producing
forgotten, by the perspectivist paradigm. Decoration
images”.28 Fragmentation and recomposition of the
clearly undermines Ernst Gombrich’s idea about the
relations of the planes create impermanence: decora-
impossibility to see simultaneously the battle horse
tion is indeed, in the end, critical, “inseparable from a
and the plane surface in a painting.
reflection upon its own conditions of possibility”.29
27
Hence, one could see decoration as intrinsically
Conclusions
modern. I have underlined that, in Matisse’s eyes, decoration was not confined to a sole technic but could apply to painting as well as to tapestry. Decora-
Taking a look at tapestry thus offered us multiple
one medium or the other but rather involves a specific
should rely, on medium specificity. First, as a highly
use of the relations between the planes (all-over) in
skilled technique, tapestry is the exception to the rule:
connection with the environment (all-around). Thanks
most of modern artists combined several practices
to decorativeness, weaving and painting (despite the
that undermined the distinction between fine arts and
technical differences in regard of time and of the
applied arts, in conjunction with the revendication by
production of colour and light) prove to share the
many craftsmen of a higher acknowledgement of their
same reflective potential. Decorativeness implies
work. Second, there is no possible determinism of a
reflexivity, impermanence and a constant attack of
medium, only possibilities that can be explored,
the form against itself: in that sense, some particular
rejected or interlaced by every artist or craftsman, and
tapestries or paintings can be said ‘modernist’, regard-
that apply to many mediums at the same time. Third,
less of their date of creation. One can thus question
analysing a tapestry helped us to understand paint-
the overuse of the term ‘modernism’ in the call on
ings: hence, transmediality has a heuristic power.
‘modernist’ painters that gave the impetus to the
I will conclude with some considerations on the
294
tiveness is not determined by some characteristics of
ways to complexify the idea that modern art relies, or
French tapestry renaissance: it is definitely not a mere
critical potential of the ‘décoratif’. Labrusse developed
historical notion applying to artists working approxi-
an idea that proves congruent with Damisch’s ‘thick-
mately from the avant-gardes era to the Second World
ness’: the use of textiles by Matisse is the emblem of
War, but a critic and heuristic notion. Matisse’s
the ambiguity of the form, which does not leave the
(decorative) modernism may not apply to many
viewer being absorbed. Through repetition and ex-
tapestries that were simply made after paintings in the
pansion of patterns (that Labrusse calls “rhythm”), the
course of the French tapestry renaissance. Only a
gaze is led outside the borders; thanks to the relations
further study of the all-over and all-around effects of
between planes (that Labrusse calls “folds”), the gaze is
those tapestries could confirm this hypothesis.
Claire Salles
Note s 1
Madeleine Jarry, La Tapisserie: art du vingtième siècle (Fribourg:
Office du Livre, 1974), p. 87.
2
Marie-Hélène Dali-Bersani, ‘Matisse aux Manufactures nation-
15 16
Ibid., p. 24. Jack Flam, ‘Matisse et la décoration comme métaphysique’,
in Matisse et la couleur des tissus, Musée départemental Matisse, Le Cateau-Cambrésis, pp. 34–45.
17
Henri Matisse to Marguerite Duthuit, 11 February 1945
ales’, in Tisser Matisse, ed. Olivier Le Bihan and Marie-Hélène Dali-Ber-
(Archives Matisse, Paris), quoted in Spurling, ‘Seulement il faut oser’,
sani, exh. cat. Musée départemental Matisse, Le Cateau-Cambrésis
p. 15.
(Gand: Snoeck Publishers, 2014), p. 99.
18
3
Hermann, 1972), p. 308, note 31.
Olivier Le Bihan, ‘Tisser Matisse’, in Tisser Matisse, Musée dépar-
Henri Matisse, Écrits et propos sur l’art, ed. D. Fourcade (Paris:
Ibid., p. 40 f.
19 20
Henri Matisse to Marie Cuttoli, 20 November 1937, quoted in
delà ou en deçà de l’image (art médiéval, art contemporain)’, Images
Dominique Paulvé, Marie Cuttoli: Myrbor et l’invention de la tapisserie
Revues no. 10 (2012) (accessed 9 October 2018). Emphasis in original.
temental Matisse, p. 40.
4 5
Ibid., p. 308 f. Jean-Claude Bonne, ‘Art ornemental, art environnemental: au-
Norma, 2010), p. 64.
21
6 7 8
l’art contemporain (Paris: Presses du Réel, 2013).
Le Bihan, ‘Tisser Matisse’, p. 20.
Also see Eric Alliez and Jean-Claude Bonne, Défaire l’image. De
Dali-Bersani, ‘Matisse aux Manufactures nationales’, p. 100.
22
Alain Séchas, ‘Commandes publiques’ (n. d.) (accessed 9 October 2018).
23 24
9
reste (Paris: Le Seuil, 2016), p. 195.
sechas.com/details_categorie.php?from=9&date=&page=0&id=650&Clement Greenberg, ‘Modernist Painting’, Art and Literature
Ibid. Hubert Damisch, La Ruse du tableau – La peinture ou ce qu’il en
no. 4 (Spring 1965), pp. 193–201.
25
10
jaune cadmium – Ou les dessous de la peinture (Paris: Le Seuil, 1984),
Clement Greenberg, ‘Modernist Painting’, in Modern Art and
Modernism: A Critical Anthology, ed. F. Frascina and C. Harrison (New
Hubert Damisch, ‘La peinture est un vrai trois’ (1983), in Fenêtre
pp. 275–305.
York: Harper & Row, 1982), p. 5.
26
11
roman)’, in Erwin Panofsky (Cahiers pour un temps) (Paris: Centre Georges
For Gottfried Semper see Arthur Crucq’s contribution in this
Jean-Claude Bonne, ‘Fond, surface, support (Panofsky et l’art
volume.
Pompidou/Pandora Éditions, 1983), pp. 117–134; idem, ‘Histoire et
12
théorie de l’art médiéval. Le modèle d’Otto Pächt’, in Y voir mieux, y re-
Rémi Labrusse, ‘‘Ce qui appartient à Dieu’. Matisse, Riegl et les
arts de l’Islam’, in Matisse et la couleur des tissus, exh. cat. Musée départemental Matisse, Le Cateau-Cambrésis (Paris: Gallimard, 2004), pp. 46–61.
13 14
Ibid., p. 49.
garder de plus près (Paris: Rue d’Ulm, 2003), pp. 29–62.
27 28 29
Ernst Gombrich, Art et illusion (Paris: Gallimard, 1971), p. 349. Labrusse, ‘Ce qui appartient à Dieu’, p. 57. Ibid., p. 59.
Hilary Spurling, ‘‘Seulement il faut oser’: Matisse, son art et ses
textiles’, in Matisse et la couleur des tissus, Musée départemental Matisse, Le Cateau-Cambrésis, pp. 14–33.
Matisse’s Tapestry The Woman with the Lute (1949): Interweaving Modernist Painting and Tapestry
295
det hingegen das Unbewusste mit dem Wissenschaftlichen, indem Antoni die von einem EEG während ihres Schlafes aufgezeichneten Hirnströme tagsüber an einem Webstuhl in Stoff webt. Antoni steht dabei in der Tradition feministischer Künstlerinnen und der Performancekunst der 1970er Jahre. Statt auf die Technik lenkt Antoni den Blick dabei auf die weiblichen Konnotationen des Handwerks, indem die Weberei als fingerfertige Feinarbeit vorgestellt wird.
Interferenzen von Webkunst, Algorithmen und Raster in der Kunst der Moderne
Insbesondere Künstlerinnen jener Jahre setzen quilten und häkeln dezidiert als Technik ein, um gerade im Rekurs den Diskurs einer weiblichen Zuschreibung an Handarbeit zu dekonstruieren.1 Schultz und Antoni operieren auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Während Schultz vor allem den handwerklichen Gebrauch der Weberei in den Vorder-
Daniel Becker
grund stellt und damit eine historische Technik als Kulturtechnik in den Fokus rückt, überwiegt bei Antoni
Auf der documenta 14 war mit Replica of a Chip
der metaphorische Gebrauch, indem dieselbe Technik
eine Arbeit von Marilou Schultz ausgestellt, die die
als Projektion kultureller Beschaffenheit verstanden
Replik eines Computer-Chips in Wolle auf Holz
wird. Allerdings lassen sich beide künstlerischen
darstellt (Abb. 1). Die US-amerikanische indigene
Interpretationen auf eine Bifurkation der Weberei
Kunsthandwerkerin Schultz wurde erstmals 1994 von
zurückführen, die sich mit dem Beginn der Moderne
der Intel Corporation damit beauftragt, die Compu-
vollzieht.2
terchips der Firma in der traditionellen Webtechnik der
Um diese Aufspaltung soll es im Folgenden
Navajo herzustellen. Replica of a Chip reiht sich mit dem
gehen, wobei der Fokus auf den Interferenzen des
Aufeinandertreffen zweier Kulturen in den Themen-
Digitalen mit der Weberei liegt, wie sie immer wieder
komplex der documenta 14 ein, indem sich verschie-
beobachtet wird und ihren Ursprung in der ersten
dene konträre Felder verbinden: eine als ‚primitiv‘
Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Überschneidung
verstandene Technik basierend auf lokalen Grundlagen
von automatischem Webstuhl und Rechenmaschine
gegenüber einem Hightech-Produkt in einer globalen
hat. Denn gerade hier konstituiert sich das Problem in
Produktionskette; die Fertigung in Handarbeit gegen-
der Beziehung von Technik, Weberei und Moderne. Als
über der industriellen Produktion; und nicht zuletzt
technische Entwicklung wird vor allem die Erneuerung
eine stoffliche Materialität gegenüber der Digitalität,
des Handwebstuhls verstanden. Die Weberei wird im
die durch Weberei auf der einen und die Computer
Übrigen erst im Kontext der Art Nouveau und später
industrie auf der anderen Seite repräsentiert werden.
am Bauhaus erneut in den Rang einer genuinen Kunst
Janine Antonis Arbeit Slumber, auch von 1994 und ebenso auf der documenta 14 ausgestellt, verbin-
erhoben. Im 19. Jahrhundert und damit in dem Jahrhundert der Moderne werden Technik und
Interferenzen von Webkunst, Algorithmen und Raster in der Kunst der Moderne
297
Com p uter und Webst uhl i m Gei ste der Moderne „Am treffendsten können wir sagen, daß die Analytical Engine algebraische Muster webt, gerade so wie der Jacquard-Webstuhl Blätter und Blüten.“4 (Ada Lovelace, 1834)
Ada Lovelace, die mit diesem Zitat einen direkten Bezug zwischen Weberei und der Analytical Engine, einer Rechenmaschine und Vorläufer des Computers, herstellt, gilt oft als erste Programmiererin und Visionärin des Digitalen. Hierbei ist hervorzuheben, dass Lovelace eben nicht Entwicklerin der Rechenmaschine ist, sondern sich mit der ‚Software‘ beschäftigt. Die Hardware, die Analytical Engine, wurde hingegen von Charles Babbage erdacht. Diese Maschine existiert allerdings nur auf dem Papier, da die feinmechanischen Bestandteile den ProduktionsAbb. 1: Marilou Schultz, Replica of a Chip, 1994, auf Holz gezogene Wolle, 120 x 146 x 20 cm, American Indian Science and Engineering Society, Albuquerque, New Mexico
bedingungen ihrer Zeit voraus waren. Babbage, dessen Hauptwerk die Schrift Ökonomie der Maschine ist, versteht seine Maschine als Optimierung der Arbeitsteilung.5 Lovelace hingegen haucht ihr Leben ein, indem sie sich für die Programmierung und Algorithmisierung der Prozesse interessiert. Hier prägt sich ein Körper-Geist-Dualismus weiter aus, wie er im 18. Jahr-
Weberei im ästhetischen Diskurs noch getrennt
hundert, ganz prominent in den Maschinen des
voneinander verhandelt und auch unterschiedlich
Jacques de Vaucanson, vorherrschend ist.6
bewertet. Dementsprechend wird hier verfolgt,
Der von Lovelace zitierte Webstuhl von Joseph-
inwiefern die Weberei der Moderne zugleich Bezugs-
Marie Jacquard stammt aus der Zeitenwende um 1800
punkt des Digitalen, des Weiblichen und des Hand-
und erlangt seine Bedeutung vor allem dadurch, dass
werklichen ist sowie als Gegenpol zum Künstlerischen
er mit Lochkarten gesteuert werden kann. Gerade an
gilt. Durch die Historisierung des Gegenwärtigen soll
diesem Steuerungsmechanismus entzweit sich die
aufgezeigt werden, dass die unterschiedlichen Lesar-
Geschichte: auf der einen Seite ist Lovelace, die das
ten nur vermeintlich divergieren und ihren gemeinsa-
Lochkartensystem als Möglichkeit erkennt und
men Ursprung in einer textilen Moderne haben.
revolutioniert, indem sie Rekursion und Speicherung
3
298
Daniel Becker
einbaut; auf der anderen Seite findet sich die sozialhis-
Zumeist werden die verschiedenen kulturellen
torische und kunstästhetische Perspektive, die in der
Ausformungen, die die Weberei im Zuge der Automati-
Automatisierung und Industrialisierung der Weberei
sierung durchläuft, wenig berücksichtigt, wenn sie mit
einen Niedergang erkennt, da das Handwerk nur noch
dem Computer in Beziehung gesetzt wird. Wenn es
durch Maschinen ausgeführt wird. So steigt die Zahl
etwa bei Sadie Plant heißt, „[d]er Computer geht aus
der Webstühle in Lyon, einer der Hochburgen europäi-
der Geschichte des Webens hervor, einem Prozess, der
scher Weberei, im 19. Jahrhundert von 20.000 (1819)
oft als Inbegriff weiblicher Tätigkeit gilt“, dann trägt sie
auf 50.000 (1848) bis hin zu 120.000 (1870).8 Obwohl
dem Unterschied zwischen männlichem Handwerks-
sich so durchaus ein Potenzial zur künstlerischen
meister und weiblicher Fabrikarbeiterin nicht Rech-
Gestaltung hätte entfalten können, indem sich die
nung, obwohl dieser bezeichnend für den Wandel der
Arbeit auf Prototypen konzentrierte, ist das Gegenteil
Weberei zu einem maschinellen Verfahren ist.13
7
der Fall, wie Brigitte Tietzel in ihrer Anthologie der
Birgit Schneider bezieht sich hingegen vor allem
Webkunst schreibt: „So stehen wir […] vor der Merk-
auf die gemeinsamen technikgeschichtlichen Bezugs-
würdigkeit, daß die Vollendung der technischen
punkte von Webkunst und digitaler Technologie.14
Kunstfertigkeit im 19. Jahrhundert, von der man doch
Auch bei ihr steht die Verwendung von Lochkarten als
eher eine Erleichterung des künstlerischen Prozesses
gemeinsamer ‚Ursprungsmythos‘ im Zentrum: „Mit der
erwarten sollte, ganz im Gegenteil mit einer zuneh-
Lochkartenweberei wurde mithin auf etwas aufgebaut,
menden Verarmung der künstlerischen Phantasie
was die Weberei seit ihrem Beginn ausmacht: die
Hand in Hand ging.“9 Stattdessen entwickelt sich die
diskrete Struktur des Textilen.“15 Im Unterschied zu
Weberei im 19. Jahrhundert zu einem Feld der
Plant sieht sie darin allerdings nicht den Ursprung für
ungelernten Arbeiter und insbesondere der Frauen –
ein verwandtes Verhältnis von Computer und Web-
im heutigen Sinne könnte man sagen, der ‚Industriero-
stuhl. Vielmehr sei die Webkunst ‚nur‘ ein technischer
boter‘. Denkt man an Heinrich Heines Gedicht Die
Vorgänger, der generell, sei es manuell oder maschi-
schlesischen Weber von 1845 mit dem Vers „Deutsch-
nell, Strukturen prozessiere, die heute als digital
land, wir weben dein Leichen Tuch“ wird deutlich, dass
verstanden werden. Dementsprechend sei ‚Vernet-
im gesellschaftlichen Diskurs die Weberei als Politikum
zung‘ kein Ausdruck der Digitalität der Weberei,
und Handwerk wahrgenommen wird, nicht aber als
sondern der Textilität der Computertechnologie. So
Kunst.10 Ebenso gibt es bereits zu Beginn des 19. Jahr-
stehen für Schneider auch nicht die Bezüge auf
hunderts Aktionen der Maschinenstürmer, bei denen
Prototypen des Computers wie bei Charles Babbage,
Webrahmen zerstört werden.11 William Morris betont
Ada Lovelace oder Herman Hollerith im Fokus,
dementsprechend im Kontext der Arts and Crafts
sondern sie betrachtet das Textile als Ausdruck binärer
Bewegung den Kunstcharakter des Textilen jenseits
Logik in Form von technischen Bildern.16 Ein direkter
der maschinellen Produktion: „whatever improvements
Vergleich zu digitalen Bildern, die mit Grafikdateifor-
have been introduced have been purely commercial,
maten operieren, hinkt dementsprechend auch, weil
and have had to do merely with reducing the cost of
sie nicht wie die Lochkarte in Maschinencode ge-
production; nay, more, the commercial improvements
schrieben, sondern bereits in einen anderen Code
have on the whole been decidedly injurious to the
transformiert sind. Hierauf verweist auch Schneider
quality of the wares themselves.“
und betont in diesem Zusammenhang, dass darin
12
Interferenzen von Webkunst, Algorithmen und Raster in der Kunst der Moderne
299
gerade das Originäre des Textilen bestehe, weil es in
Querverweisen, die sich zu einem Gewebe verknüp-
Form von Lochkarten wie auch als textiles Produkt
fen. Hierin sieht sie auch einen metaphorischen Bezug
haptische Eigenschaften besitze, sodass sich das
des Digitalen zum Webstuhl und Textilen, denn es
Digitale hier auch materialästhetisch fassen lasse.17
entstehe eine Vorform des Hypertextes.19
Allerdings argumentiert Schneider vor allem auf
Ist die Weberei also als Vorläufer der Computer-
einer technisch-formalen Ebene, die in der Automati-
technologie zu verstehen? – Ja und Nein. Einerseits ist
sierung der Weberei das entscheidende Kriterium sieht
der Bezug unumstritten, indem sich die Pioniere der
und dementsprechend auch weit mehr auf die Automa-
Rechenmaschine und primitiven Computer immer
tenphantasien des 18. Jahrhunderts abzielt. Denn
wieder auf die Funktionsweise des Webstuhls bezie-
bereits der Webstuhl von Jean-Baptiste Falcon 1728 ist
hen. Allerdings basiert die Funktionsweise und
automatisiert, doch Jacquard benutzt zu Beginn des
Steuerung auf einer völlig anderen Prämisse. Das
19. Jahrhunderts zum ersten Mal Lochkarten. Dass es
prozessuale Berechnen und das Programmieren stehen
sich hier nicht um Lochkarten im heutigen Sinne
auf einer anderen Ebene als die reine Ausführung einer
handelt, verdeutlicht die Anekdote, dass Charles
vorgegebenen Arbeitsanweisung in Form einer
Babbage ein gewebtes Porträt von Jacquard besaß,
Schablone. Andererseits zeigt der Webstuhl als
welches nach der Vorlage von 24.000 Lochkarten
Hardware Parallelen zum Computer mit Blick auf Auto-
hergestellt wurde. Die binäre Logik, die Schneider
matisierung und Industrialisierung. Die visionären
hierin sieht, beschränkt sich auf eine materielle Logik
Funktionsweisen des Computers existieren bis in die
von Loch und Nicht-Loch, die schablonenhaft das
Mitte des 20. Jahrhunderts nur auf dem Papier, bis
Heben und Senken der Schäfte inkorporiert. Erst gegen
dahin wurden diese mathematischen Prozesse von
Ende des 19. Jahrhunderts wird durch das Patent des
Menschen ausgeführt. Wie die Fabrikarbeiterinnen die
Amerikaners Herman Hollerith von 1889 die Lochkarte
Steuerung der Webstühle übernahmen, so wurden
als symbolischer Speicher eingeführt, der bei Ada
insbesondere zur Berechnung der Ballistik von militäri-
Lovelace, nicht jedoch bei Jacquard, mitgedacht ist.
schen Flugkörpern Frauen als „Human Computers“
Die Ähnlichkeit der Steuerungstechnik von Computer und Webstuhl, die als Beleg des gemeinsa-
Konnotation des Weiblichen im Digitalen, die erst im
men Ursprungs dient, wird aber durchaus kritisch
Cyberfeminismus der 1990er Jahre langsam aufgebro-
gesehen. So betonen Martin und Virginia Davis, dass
chen wird.21 Es ist ein ähnlicher Prozess, wie ihn die
sich die Similarität lediglich auf die äußere Maschine
textile Kunst in den 1970er Jahren durchläuft, indem
bezieht, nicht jedoch auf den Prozess: „To belabor the
das Handwerk nicht nur durch kritische Künstlerinnen
point, Jacquard looms, marvelous machines that they
hinterfragt wird, sondern handwerkliche Textilien wie
are, do not execute algorithms. Holes in the cards
Quilts oder auch die Webereien der Navajo nicht mehr
correspond in a one-to-one manner only to a group of
allein in Kunstgewerbesammlungen, sondern auch in
particular threads being raised. That is all.“ Sadie
Kunstmuseen gezeigt werden.22 Von einer Rehabilita-
Plant merkt dagegen an, dass Lovelace selbst auf einen
tion oder gar einer Nobilitierung lässt sich allerdings
anderen Punkt hinweist, nämlich dass ihre Überlegun-
nicht sprechen; zu sehr sind auch zu dieser Zeit noch
gen nicht zu einem linearen Prozess führen, sondern
geschlechtsspezifische Stereotypen in der Theorie und
zu parallelen und unabhängigen Wirkungsketten mit
dem Verständnis der Kunst verankert.
18
300
herangezogen.20 Dies führt zu einer abschätzigen
Daniel Becker
We b k u n s t zwischen Gender und Cy b e r fe minismus
Gebiet Schöpferisches zu leisten.“26 Stölzl versucht damit gerade durch den Bezug auf den handwerklichen Charakter des Textilen gegenüber der industriellen
„Wo Wolle ist, ist auch ein Weib, das webt, und
Produktion den Frauen am Bauhaus einen Platz
sei es nur zum Zeitvertreib.“
einzuräumen. Denn obwohl das Bauhaus im Wesentli-
23
(Oskar Schlemmer, 1920)
chen progressiv angelegt ist und bei den Zugangsvoraussetzungen nicht zwischen den Geschlechtern
Mit diesem abschätzigen Aphorismus, der an der
unterscheidet, ist es in der Realität nicht so, denn
Kunstschule Bauhaus zum geflügelten Wort wurde,
bereits 1920 beschließt der Meisterrat, dass die Frauen
schildert Oskar Schlemmer seine Sicht auf die Webe-
nach Abschluss des Vorkurses zum Weben sollen, in die
reiwerkstatt. Gunta Stölzl übernimmt diese Klasse als
so diminuierte „Frauenabteilung“.27 Mit dem Hervorhe-
Meisterin, nachdem sie zuvor von Georg Muche
ben der handwerklichen Erfahrung und Materialkennt-
geleitet wurde. Obwohl das Bauhaus seinen Grundsät-
nis für die Weberei kehrt Stölzl zwar die Argumentation
zen nach auf die geschlechtliche Gleichstellung
für eine ‚Frauenabteilung‘ um, indem sie betont, dass
bedacht ist, sind es aber vor allem Frauen, die in der
empfindsame Feinheiten vor allem von Frauen geleistet
Webereiwerkstatt arbeiten und letztlich gegen Muche
werden können, sie bestätigt aber zugleich die vorherr-
‚revoltierten‘, da dieser die handwerkliche Expertise
schende Geschlechtszuschreibung.
vernachlässige, wie Stölzl schreibt: „Dieser [Muche]
Ähnlich argumentiert Sadie Plant in ihrem Essay
investierte im Kontext der Neuausrichtung in Dessau
über „The Future of Looms“. Sie vergleicht dabei die
in teure Jacquardwebstühle und mechanische Web-
Webkunst, die mit dem Setzen von Kettfäden und
stühle, um den Forderungen nach Profitabilität
Steuern von Pedalen und Schiffchen äußerst kompli-
nachzukommen, ohne allerdings auf die Expertisen der
ziert sei, mit der Kybernetik.28 Damit folgt sie im
Weberinnen Rücksicht zu nehmen.“24 (Abb. 2)
Grunde Gunta Stölzl, indem sie die Stereotypie
Es ist schwierig diesen Streit einzuordnen, denn
wiederholt, dass es sich bei der Webkunst um ein
er widerspricht eigentlich den vorherrschenden
prädestiniert weibliches Feld handele. Da sie aber
Zuschreibungen. Auf der eine Seite steht Georg Muche,
zugleich mit Bezug auf die Kybernetik die Komplexität
der die Weberei im industriellen Sinne des Bauhauses
der Webkunst betont, wertet sie diese auf. Dies ist
versteht: „Die Imitation vergangener Handwerkskultu-
auch vor der oben erwähnten Folie zu sehen, dass
ren widerspricht der maschinellen Herstellung ebenso
Frauen im Bereich der Computer-Forschung als
sehr wie der mittelalterliche Handel den kaufmänni-
‚Human Computers‘ wahrgenommen wurden. Während
schen Prinzipien der Neuzeit.“ Auf der anderen Seite
des Zweiten Weltkrieges werden sie zur Berechnung
argumentiert Gunta Stölzl, die die Weberei als feminin
von Flugbahnen eingesetzt, da die meisten männlichen
bezeichnet: „Die Weberei ist vor allem Arbeitsgebiet
Mathematiker an der Front dienen. Doch anstatt nach
der Frau. Das Spiel mit Form und Farbe, gesteigertes
dem Krieg wie ihre männlichen Kollegen Karriere zu
Materialempfinden, starke Einfühlungs- und Anpas-
machen, bleiben sie auf ihre Rolle der Ausarbeitung von
sungsfähigkeiten, ein mehr rhythmisches als logisches
Gleichungen beschränkt und werden wieder durch die
Denken sind allgemeine Anlagen des weiblichen
Heimkehrer ersetzt oder verharren in niedrigen
Charakters, der besonders befähigt ist, auf dem textilen
Positionen. Sie übernehmen damit die Rolle der
25
Interferenzen von Webkunst, Algorithmen und Raster in der Kunst der Moderne
301
Abb. 2: Handwebstühle in der Textilwerkstatt am Bauhaus Weimar, 1923
heutigen Computerprozessoren, indem sie massenhaft
Schönheit … vielleicht die Möglichkeit der Nachah-
Berechnungen ausführen (Abb. 3).
mung selbst, diejenige, die ihre eigenen Verkleidungen
Plant allerdings leitet daraus eine überbordende Metaphorik ab, die sich darauf stützt, dass die Arbeit
gleichgesetzt, allerdings in einem positiven Sinne
der Frauen, wie die des Computers, zwar unsichtbar
und nicht im Sinne einer unreflektierten Maschine,
im Hintergrund läuft, gleichzeitig aber die Grundlage
wie es bei dem Bezug zum Webstuhl der Fall ist.
für alle weiteren Schritte sei. „Die Frau“, so Plant,
Plant führt diese Analogie soweit, dass sie den
„kann nichts sein, aber sie kann alles, was vom Mann
Computer oder Rechenmaschinen im Allgemeinen
wertgeschätzt wird, imitieren: Intelligenz, Autonomie,
als feminin versteht, da die Matrix, als Grundlage
29
302
webt.“30 Die Frau wird hier mit dem Computer
Daniel Becker
Abb. 3: Bonus Bureau, Computing Divison, 24. November 1924, Glasnegativ, ca. 10 x 12 cm, Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C.
der Berechnung, im Lateinischen auch ‚Gebärmutter‘
Einzelstücks führen könne, allerdings nicht in einem
bedeutet.
somatischen Sinne wie bei Stölzl.32 Albers geht es
31
Anni Albers, die als Nachfolgerin von Gunta
mehr um die handwerkliche Kenntnis und damit um
Stölzl ab 1931 die Webereiklasse am Bauhaus leitet,
die Idee von Entwurf und Designs. Damit ähnelt ihr
verzichtet auf eine geschlechtsspezifische Zuschrei-
Verständnis der Webkunst, ähnlich wie bei Lovelace,
bung der Webkunst. Zwar betont auch Albers,
dem des Programmierens, indem die eigentliche
dass die Mechanisierung zur Entfremdung vom
Ausführung durch die Maschine oder Hardware als
Material führe und dass der Weg zur industriell
weit weniger wichtig erachtet wird.
hergestellten Massenware nur über Kenntnisse des
Interferenzen von Webkunst, Algorithmen und Raster in der Kunst der Moderne
303
Das Raster als gemeinsam er Ursp rung
sich die Abstraktion bei Albers als ein spezifisch textiler
„Wenn man davon ausgeht, daß das Weben in
Matrix, Raster und Moderne wohl am prominentesten
erster Linie einen Prozeß strukturellen Ordnens
geprägt: „Das Raster verkündet die Modernität der
darstellt, ist dies ein verblüffender Gedanke,
modernen Kunst auf zweierlei Weise […]. Auf der
denn heutzutage scheint strukturierendes
räumlichen Ebene proklamiert das Raster die Autono-
Denken eher den Männern als den Frauen
mie der Kunst. Flach geometrisch geordnet, ist es
zugeschrieben zu werden.“
anti-natürlich, anti-mimetisch, anti-real. […] In der
Beitrag zur Bildsprache der Moderne verstehen.34 Rosalind Krauss hat diesen Zusammenhang von
33
(Anni Albers, 1961)
zeitlichen Dimension ist das Raster allein deshalb ein Emblem der Moderne, weil es in der Kunst unseres
Für Anni Albers liegt der Fokus der Webkunst vor
nirgends, an keiner Stelle, in der des letzten Jahrhun-
kann dies nur durch eine genaue Kenntnis von Ge-
derts findet.“35
schichte, Material und Maschine bewerkstelligt
Was Krauss hier für das Bild beschreibt, lässt
werden, die eigentliche Ausführung ist allerdings nicht
sich ebenso auf die Weberei übertragen. Denn wie für
so sehr entscheidend, da sie im Geiste des Bauhauses
die Leinwand sind die medialen Grundbedingungen
als ‚Meterware‘ gedacht ist. So ähneln ihre Arbeiten
des Webens der (Web-)Rahmen und mehr noch der
zwar auch solchen ihrer Zeitgenossinnen wie Sonia
technische Aufbau des gewebten Bildes von Zeile für
Delaunay oder Sophie Taeuber-Arp, doch anders als
Zeile beziehungsweise Kettfaden für Kettfaden, die für
Albers arbeiten diese beiden auch mit der Nadel und
das technische Prinzip des Webstuhls stehen. Für die
fertigen Modetextilien an. Albers hingegen beschränkt
Webkunst lässt sich sogar sagen, dass die Flächigkeit
sich auf die Weberei. Ihre Arbeiten basieren dabei auf
des Rasters dem Kunstideal des 19. Jahrhunderts
Kompositionen, die sie wie Tabellen oder Matrizen
zuwiderläuft.36 Die Zurückführung auf eine Matrix bei
anlegt (Abb. 4). Diese Überschneidung zu Rechenma-
Krauss erlaubt es, deshalb auch das Raster im Kontext
schinen, die ursprünglich zur Berechnung von Tabellen
der Webkunst als Gegensatz zum Ornament zu
gedacht waren, ist nicht verwunderlich und auch nicht
verstehen.
besonders für Albers, denn der Webstuhl basiert auf
304
Jahrhunderts allgegenwärtig ist, während es sich
allem auf einem rationalen Prozess der Vorarbeit. Zwar
Ein ähnlicher Prozess vollzieht sich im Digitalen.
einem Zeilen-Prinzip, sodass matrizenförmige Kompo-
Mit „snap to grid“ wird in der grafischen Computer
sitionen generell in der Webkunst verbreitet sind.
arbeit ein Kommando bezeichnet, dass eine
Albers allerdings versteht diese Muster nicht nur als
Freihand-Zeichnung zu einem geometrischen Gebilde
Vorstufe für die Arbeit des Webstuhls, sondern als
in einen mathematischen Raum transformiert.37 Diese
Bausteine oder Variablen, die neu, wandelbar, kombi-
Transformationsgabe zeichnet auch die Webereihand-
nierbar und vor allem wiederholbar sind. Durch
werker in Zeiten der Maschinisierung aus. Die Fähig-
Variationen entstehen immer neue Formen der
keit, in Mustern und Rastern zu denken, gleicht dabei
Rapporte, die, vergleichbar mit den Informationseinhei-
der Leistung eines heutigen Computerprozessors.
ten bei Computern, als kleinste Einheiten verstanden
Nicht nur beim Lochkartenwebstuhl von Jacquard,
werden können. Durch diese Herangehensweise lässt
sondern auch bei dessen Vorgängern findet sich in
Daniel Becker
zwischen Handwerk und Kunst aufgehoben: „[…] where artists worked mainly with flat areas, are they works of art.“39 Obwohl sich hier eine gewisse formale Übereinstimmung zur Herstellung von Platinen und Prozessoren ergibt, bei denen Schaltkreise flach und geschichtet aufgetragen werden, ist diese nur eine Abb. 4: Anni Albers, Diagramme zu Variationen bei der Leinwand bindung, 1965, in: Anni Albers: On Weaving (1965), Princeton/ Oxford 2017, Taf. 10, 11
oberflächliche Übereinstimmung (Abb. 5). Die Ähnlichkeit besteht vielmehr im Prozess der Verarbeitung, was auch schon Babbage betont, indem er den Prozessor seiner Analytical Engine als „Mill“ bezeichnet und damit Bezug auf die Cotton Mills nimmt, dem englischen Begriff für Spinnereien oder Webereien.40 Dementsprechend wird die Gegenüberstellung von Prozessor und Weberei, wie sie sich bei der anfangs erwähnten Arbeit von Marilou Schultz findet, auch viel mehr auf einer rationalen Ebene verhandelt. Die Suche nach Serialität, Rekursion, kleinsten Einheiten und einer algorithmisierbaren Arbeitsweise ist es, worin sich die Weberei und die digitale Technik überschneiden. Der Zusammenhang von Textilem und Digitalem
Abb. 5: Mikroprozessor Intel i486DX2, 1992
wird auch von einigen anderen zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern reflektiert. Schultz’ Arbeit hebt sich aber dadurch ab, dass sie in einer Weise
Form von Pedalen und Hebeln eine solche Form des
zwischen dem Textilen und dem Digitalen changiert,
binären Denkens in der Steuerung.38 Allerdings ähnelt
die keine definitive Zuordnung zulässt. Obwohl etwa
dies doch viel mehr dem Spielen eines Instruments.
in den 1970er Jahren sowohl die Kybernetik als auch
Erst in den abstrakten Mustern, die sich gleicherma-
die feministische Textilkunst eine Hochkonjunktur
ßen in der indigenen und modernen Webkunst finden,
durchlaufen, sind ihre Schnittmengen in der Kunstge-
gibt sich eben diese als mediengerechte Kunstform zu
schichte doch gering. Betrachtet man allerdings die
erkennen, die sich nicht der Imitation des Gemäldes
Geschichte des Computers und der Weberei der
durch maschinelle Mittel verschreibt.
Moderne nicht als lineare Abfolge, sondern als eine
Anni Albers leitet ihr Primat der flächigen Kunst
reziproke und parallele Entwicklung, so wie Schultz es
nicht von der abstrakten Malerei der Moderne ab,
mit ihrer Arbeit nahelegt, wird deutlich, dass wesentli-
sondern bezieht sich hierfür auf die Webkunst der
che Bestandteile der Diskurse im jeweils anderen Feld
indigenen Völker Amerikas, insbesondere Südamerikas,
schon vorweggenommen werden und sich im Wesent-
aber auch der Navajo. In deren mediengerechtem
lichen in der Moderne ausgeprägt haben.
Umgang mit der Webkunst sieht sie die Diskrepanz
Interferenzen von Webkunst, Algorithmen und Raster in der Kunst der Moderne
305
Anmerkungen 1
In den 1970er und 80er Jahren ist das Verhältnis zwischen tex-
Ebd. Ebd., S. 302 f. Martin und Virginia Davis: Mistaken Ancestry. The Jacquard and
tilem Handwerk und Kunst ein wesentlicher Bestandteil des feministi-
the Computer, in: Textile. Cloth and Culture, Bd. 3, 2005, H. 1, S. 76–87,
schen Diskurses; siehe hierzu etwa: Pat Mainardi: Quilts. The Great
hier S. 82.
Lippard: Up, Down, and Across. A New Frame for New Quilts, in: Char-
19 20
lotte Robinson (Hg.): The Artist and the Quilt, New York 1983, S. 32–
Princeton 2005, S. 145 ff.
American Art, in: Feminist Art Journal, Bd. 2, 1973, H. 1, S. 18–23; Lucy
Plant 1998 (wie Anm. 11), S. 16–18 u. 26 f. Siehe hierzu David Alan Grier: When Computers Were Humans,
39; Griselda Pollock und Rozsika Parker: Old Mistresses. Women, Art
21
and Ideology (1981), New York 2013, insb. S. 50–81.
gen über das Verhältnis von Frauen und Technologie gibt, findet sich der
2
Obwohl es im 20. Jahrhundert immer wieder Auseinandersetzun-
Obwohl mit dem Begriff der Moderne eine Vielzahl von sozi-
Cyberfeminismus, der sich dezidiert mit der Rolle von Frauen in Hinblick
alen, kulturellen und politischen Umbrüchen verbunden ist, sei hier die
auf den Cyberspace beschäftigt, erst in den 1990er Jahren bei einzelnen
Schwelle um 1800 bis zu Beginn des 20. Jahrhundert in Hinblick auf die
feministischen Gruppen. Gegen Ende dieser Dekade organisieren sich
Maschinisierung und Automatisierung als Zeit der Moderne verstan-
diese Gruppen gemeinsam auf der „First Cyberfeminist International“
den.
Konferenz, die im Rahmen der documenta X in Kassel stattfand.
3
Wenn hier vom ‚Textilen‘ gesprochen wird, beansprucht der
22
Vgl. Silke Tammen: „Seelenkomplexe“ und „Ekeltechniken“ –
Begriff keine umfassende Gültigkeit, sondern ist aus Gründen des Um-
Von den Problemen der Kunstkritik und Kunstgeschichte mit der
fangs nur in Bezug auf Weberei und Webkunst definiert.
‚Handarbeit‘, in: Anja Zimmermann (Hg.): Kunstgeschichte und Gender.
4
Eine Einführung, Berlin 2006, S. 215–239, hier S. 219.
Ada Lovelace: Grundriß der von Charles Babbage erfundenen
Analytical Engine. Aus dem Französischen des Luigi Federico Menabrea
23
übersetzt und kommentiert von Ada Augusta Lovelace (1834), in:
verspottete Webereiwerkstatt, in: Gunta Stölzl. Weberei am Bauhaus und
Bernhard J. Dotzler (Hg.): Babbages Rechen-Automate. Ausgewählte
aus eigener Werkstatt, hg. v. Magdalena Droste, Ausst.-Kat. Bauhaus-
Schriften, Computerkultur: Bd. 6, Wien/New York 1996, S. 309–381, hier
Archiv Berlin, Berlin 1987, S. 11.
S. 335.
5
Charles Babbage: Die Ökonomie der Maschine (1833), Berlin
6
24
Aphorismus von Oskar Schlemmer über die als ‚Frauenabteilung‘
Regina Bittner: Vom Handwerk des Übersetzens in den Werk-
stätten des Bauhaus Dessau, in: Handwerk wird modern. Vom Herstellen am Bauhaus, hg. v. dies. und Renée Padt, Ausst.-Kat. Stiftung Bau-
1999. Zur Vorgeschichte der Automatisierung insbesondere im Kon-
haus Dessau, Bielefeld 2017, S. 126–140, hier S. 136.
text der Aufklärung siehe: Allison Muri: The Enlightenment Cyborg. A
25
History of Communication and Control in the Human Machine 1660–
strebung des Weimarer Bauhauses – Neue formschöpferische Ziele.
1830, Toronto u. a. 2007.
Los von der Rückwärtsorientierung in der Stoffmusterung (1924), in:
7
Zu Entwicklung der Weberei im 19. Jahrhundert siehe auch:
Das Bauhaus webt. Die Textilwerkstatt am Bauhaus, hg. v. Magdalena
Ursula Kircher: Von Hand gewebt. Eine Entwicklungsgeschichte der
Droste und Manfred Ludewig, Ausst.-Kat. Bauhaus Archiv Berlin, Berlin
Handweberei im 20. Jahrhundert, Marburg 1986, S. 63 ff.
1998, S. 94–96, hier S. 94.
8
Brigitte
Tietzel:
Geschichte
der
Webkunst.
Tech-
26
Georg Muche: Neue Wege in der Gewebemusterung. Die Be-
Gunta Stölzl an Erwin Stölzl, 25.10.1926, in: Gunta Stölzl. Meiste-
nische Grundlagen und künstlerische Traditionen, Köln 1988, S. 197.
rin am Bauhaus Dessau. Textilien, Textilentwürfe und freie Arbeiten
9 10
1915–1983, Ausst.-Kat. Stiftung Bauhaus Dessau, Ostfildern 1997, S. 42.
Ebd. Heinrich Heine: Die schlesischen Weber, in: Hermann Püttmann
(Hg.): Album. Originalpoesien, Borna 1847, S. 145–146, hier S. 145, V. 2.
11
Sadie Plant: nullen + einsen. Digitale Frauen und die Kultur der
neuen Technologien, Berlin 1998, S. 22.
12
William Morris: Textiles, in: Arts and Crafts Exhibition Society
(LONDON) (Hg.): Arts and Crafts Essays, London 1893, S. 22–38, hier S. 23.
27
Sigrid Wortmann-Weltge: Bauhaus-Textilien. Kunst und Künst-
lerinnen der Webwerkstatt, Schaffhausen 1993, S. 41.
28 29
Plant 2017 (wie Anm. 13), S. 127 f. Zur Kritik an Plant siehe auch Davis/Davis 2005 (wie Anm. 18),
S. 86.
30 31 32
Plant 2017 (wie Anm. 13), S. 136 f. Ebd., S. 135. Anni Fleischmann [später Anni Albers]: Bauhausweberei, in:
Sadie Plant: Die Webstühle einer drohenden Zukunft. Webende
Junge Menschen. Monatsheft für Politik, Kunst und Leben aus dem
Frauen und Kybernetik (1996), in: Tilman Baumgärtel (Hg.): Texte zur
Geiste der jungen Generation, Bauhausausgabe, November 1924, H. 8,
Theorie des Internets, Ditzingen 2017, S. 119–141, hier S. 120.
S. 188.
13
schichte der Lochkartenweberei, Zürich 2007.
33 34
15
Band.
14
306
16 17 18
Vgl. Birgit Schneider: Textiles Prozessieren. Eine MediengeEbd., S. 37.
Daniel Becker
Anni Albers: On Designing, Middletown, CT 1961, S. 19. Zu Anni Albers siehe den Beitrag von Jordan Troeller in diesem
35
Rosalind Krauss: Raster (1979), in: dies. (Hg.): Die Originalität
38
Siehe hierzu Ellen Harlizius-Klück: Weaving as binary art and the
der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Amsterdam/Dres-
algebra of patterns, in: Textile. Cloth and Culture, Bd. 15, 2017, H. 2,
den 2000, S. 51–66, hier S. 51 f.
S. 176–197.
36
oder: Mythologien der Fläche bei Gottfried Semper, Alois Riegl und
39 40
Henri Matisse, in: Sabeth Buchmann und Rike Frank (Hg.): Textile Theo-
the Life of a Philosopher, London 1864, S. 117: „The Analytical Engine
rien der Moderne. Alois Riegl in der Kunstkritik, Berlin 2015, S. 107–143.
consists of two Parts: […] 2nd. The Mill into which the quantities about
37
to be operated upon are always brought.“
Siehe hierzu Regine Prange: Vom textilen Ursprung der Kunst
Vgl. Peter Lunenfeld: Snap to Grid. A User’s Guide to Digital
Anni Albers: On Weaving (1965), Princeton/Oxford 2017, S. 51. Zu dem Begriff „Mill“ siehe: Charles Babbage: Passages from
Arts, Media, and Cultures, Cambridge, Mass. 2000, S. xvi.
Interferenzen von Webkunst, Algorithmen und Raster in der Kunst der Moderne
307
G E ND ER UND KREAT IV I TÄT I N KOOPE R ATI ON / G E ND ER AND C REAT IVI TY I N COOPE RATI ON
1950 gab es verschiedene Formen von Transformations- oder Verwandlungskleidern. Bei der Untersuchung steht die Frage nach deren transformativen Qualitäten im Vordergrund, das heißt zunächst Begriffe zu klären, Material auszubreiten und dann Kategorien am Material zu entwickeln. Die Idee des Transformationskleides existiert und materialisiert sich schon sehr viel länger als der Begriff. Sie – und damit wäre gleichzeitig eine Defini-
Textile Transformationen: Die „Frau comme il faut“ in der robe à transforma tion und die „Tempofrau“ im Verwandlungskleid
tion gegeben – lässt sich beschreiben als eine Form der Variabilität durch Zusammenstellung verschiedener „Kleidteile“ oder durch technische Vorrichtungen. Als Kleidteile werden dabei weder die zusammenzunähenden Schnittteile noch eigenständige, zu kombinierende Kleidungsstücke, sondern die einzelnen Teile einer mehrteiligen Kleidform bezeichnet. Welche Kleidteile wie zusammengestellt werden, welche Gründe zu den
Kerstin Kraft
jeweiligen Entscheidungen führen und ob ein eigener Begriff hierfür geschaffen wird, ist von mehreren
Die Abschaffung der Kleiderordnungen und die
Faktoren abhängig und somit dem Wandel unterwor-
zunehmende Differenzierung der Gesellschaft macht die
fen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind
kulturelle Praxis des Sich-Kleidens seit dem 19. Jahr-
dies die robes à transformation und um 1930 das
hundert zu einem immer komplexeren Vorgang. Die
sogenannte Verwandlungskleid.2
Etikette gibt nun das Ideal vor, die Anstandsliteratur
Der Begriff des Transformations- oder Verwand-
hilft, es zu erreichen, die zeitgenössische Modetheorie
lungskleides (engl. transformation dress/ transformable
(vor allem Georg Simmel und Friedrich Theodor
dress, franz. robe à transformation) findet sich nicht in
Vischer) analysiert und kritisiert die Mode, die in
Bekleidungs- oder Modelexika, scheint eher historisch
Modejournalen und Kleidungsstücken visualisiert und
gebunden und nicht eindeutig definiert. Es ist sehr viel
materialisiert wird. Das Verhältnis von Mode und
mehr die materielle Existenz und die gelegentliche
Moderne wurde schon verschiedentlich beschrieben1,
Erwähnung in zeitgenössischen Modezeitschriften, die
im Folgenden soll nun eine spezifisch textile Lesung
eine Begriffsbildung in der Spezialliteratur notwendig
anhand des Begriffs der Transformation vorgenommen
machen. Catherine Join-Diéterle schreibt beispiels-
werden. Dieser Begriff fokussiert Motive der Verände-
weise, die robe à transformation sei um die Mitte des
rung und der Geschwindigkeit als Charakteristika der
19. Jahrhunderts sehr verbreitet gewesen, man finde
Moderne. Es wird jedoch nicht zentral um die transfor-
aber praktisch keine Hinweise auf diese Kleidform in
mative Kraft, den Wandel als einzige Konstante der
den zeitgenössischen Magazinen. Sie selbst beschreibt
Mode gehen, sondern um textile, also materielle
sie für die Zeit des Second Empire als Rock, den man
Transformationen. In der Zeit zwischen etwa 1850 und
mit verschiedenen Oberteilen zu verschiedenen
Die „Frau comme il faut“ in der robe à transformat ion und die „Tempofrau“ im Verwandlungskleid
311
Anlässen tragen konnte.3 Im Le Moniteur de la mode
nur vermutet werden, dass sie Teil mehrteiliger
von 1862 werden solche Kleidungsstücke, die eine
Kleidformen waren und die Röcke nicht erhalten sind
„transformation complète“ erlaubten, als „robes à
beziehungsweise nicht dem Museum überlassen
corsages de rechange“ bezeichnet.4 Diese „corsages“,
wurden.
im Deutschen als Taillen benannt, variieren in Ausstattung und Schnitt. Es lässt sich vermuten, dass in vielen Sammlun-
und dies auch nur zu Dokumentationszwecken vor
gen Kleidungsstücke, für die ich im Folgenden den
etwa 60 Jahren (Abb. 1a und b). Das Kleid ist sehr
Begriff „robe à transformation“ verwenden werde,
fragil und kann im heutigen Zustand nicht auf eine
aufbewahrt, aber nicht als solche bezeichnet oder
Figurine aufgezogen werden. Es zeigt die für die Zeit
erkannt werden. Die Geschichte des Couture-Hauses
der frühen 1850er Jahre charakteristische Form mit
Worth ist beispielsweise gut dokumentiert und zahlrei-
einem kuppelförmigen Rock, der aber mit einem mit
che Quellen sind erhalten. Unter den Objekten
Rosshaar (franz. crin) gefütterten Unterrock und nicht
befinden sich unter anderem dreiteilige Kleidungsstü-
mit einer Krinoline getragen wurde und dementspre-
cke aus den 1860er Jahren. Sie werden nicht als zu
chend mit einer Saumweite von 280 cm von relativ
einer bestimmten Objektgruppe zugehörige Kleidform
geringen Ausmaßen ist. Auch die Gestaltung des
identifiziert, sondern einzeln zum Beispiel als „versatile
Oberteils mit Schneppentaille, abfallender Schulterli-
day-into-evening dress“ beschrieben. Worth habe mit
nie und in das Rückenteil verlegten Schulter- und
dieser Möglichkeit, aus dem Tages- ein Abendkleid zu
Seitennähten, entspricht noch der Mode der 1840er
machen und damit die Trageanlässe zu maximieren,
Jahre im Übergang.6 Die Nähte sind alle von Hand
seine sehr hohen Preise gerechtfertigt.5
genäht, die Oberteile und die Rockvolants sind aus
Die umfangreiche Textilsammlung des Frankfur-
einer sehr leichten, bedruckten Seide gefertigt, der
ter Historischen Museums setzt einen ihrer Schwer-
Unterrock hingegen aus sehr grobem Leinen. Die
punkte in der bürgerlichen Bekleidung. Die erwähnte
Ausführung insgesamt verweist auf die Herstellung im
Benimmliteratur wandte sich vorwiegend an das
häuslichen Bereich beziehungsweise durch eine
Bürgertum mit seinen strengen Vorstellungen von
Hausschneiderin. Da die Datenbank keine weiteren
vestimentärer Angemessenheit und so lässt sich
Informationen, zum Beispiel über den (Vor-)Besitzer
vermuten, dass man auch in Frankfurt robes à transfor-
des Kleidungsstückes, liefert, bedarf es der Hinzuzie-
mation trug. Die Suche in der Datenbank nach mehr-
hung kontextualisierender Quellen und Darstellungen.
teiligen Kleidungsstücken war hier erfolgreich und
312
Nur eine der robes à transformation der Frankfurter Sammlung wurde mit beiden Taillen fotografiert
Ulrike Döcker beschreibt in ihrer Untersuchung,
einige konnten als robe à transformation identifiziert
wie sich Verhaltensideale im langen 19. Jahrhundert
werden. Dies ist nur über den materiellen Befund
wandeln und welche Rolle die Mode in den zeitgenös-
möglich und in einigen Fällen erst durch das Aufziehen
sischen Umgangslehren und Manierenbüchern spielt.7
auf eine Figurine, als rekonstruktive Kleidungspraxis.
Analog hierzu verändern sich die Inhalte und vor allem
Dabei kann zum Beispiel deutlich werden, dass die
ihre Gewichtung in der Anstands- und Benimmlitera-
vorhandenen Oberteile nicht alternativ, und damit als
tur. Ist diese in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
robe à transformation, sondern übereinander getragen
in Bezug auf Kleiderfragen noch darauf ausgerichtet,
werden. Bei der großen Anzahl erhaltener Taillen, kann
Mäßigung und Angemessenheit zu fordern, gewinnt
Kerstin Kraft
dann die Mode als solche an Bedeutung und nimmt in
bereits erwähnten Kleider für den Aufenthalt am Meer,
den Anstandsbüchern bis zum Ersten Weltkrieg den
in den Bergen, auf den Straßen der Städte und in
größten Raum ein. Nun reichte es nicht mehr aus,
neuen Verkehrsmitteln erforderten eine vestimentäre
Stand, Alter und Tageszeit zu berücksichtigen und die
Anpassung, die zunächst nur temporär erfolgte, das
Tugenden Reinlichkeit und Ordnung vestimentär zu
heißt der Kleiderrock wurde nicht endgültig und
demonstrieren.8
dauerhaft gekürzt, sondern eine Zugvorrichtung
Die deutsche Anstandsliteratur orientierte sich
verschaffte der Trägerin Fußfreiheit.14 Diese Vorrich-
in Modefragen vor allem am französischen Ideal und
tungen wurden als tirette oder porte-jupe bezeichnet
beriet [d]ie Frau comme il faut. Die Komplexität – und
und ihre Funktionsweise erklärt: Man könne „[…] beim
Modernität – des Themas klingt schon im Titel des
Besteigen des Wagens die Robe augenblicklich zu
1866 in Paris publizierten Le code de la mode an, und
beliebiger Höhe emporziehen […]“ und „[s]chürzt man
der Autor beschreibt zunächst, welche Veränderungen
sich beim Gehen auf der Straße, so bindet man die
die Mode als solche durchlaufen habe.10 Früher sei sie
Schnüre vorne zusammen oder steckt sie unter den
leicht zu greifen und zu beschreiben gewesen, heute
Gurt.“15 Die Berücksichtigung dieses modischen
dagegen sei die Mode überall zu finden, erneuere sich
Details im Kontext der Silhouettenentwicklung zeigt
permanent und es gebe eine „diversité extrême des
die Wechselwirkung zwischen formalen und funktio-
costumes“.11 Daraus leitet er ab, dass die Garderobe
nalen Aspekten im Zusammenhang mit gesellschaftli-
einer Frau eine eigene Wissenschaft bilde. Die
chen Normen und Veränderungen der Lebensum-
Beschreibung der „Toilettes à la ville et à la campagne“
stände.
9
nimmt entsprechend fünfzehn Seiten ein und emp-
Im Verlauf der 1850er Jahre nahm der Umfang
fiehlt der Dame von Welt sich sieben bis acht Mal am
des Krinolinenrocks immer mehr zu und erweiterte
Tag umzukleiden. Neben den Tageszeiten wird die
sich schließlich zur Schleppe, sodass es nicht mehr
Kleidung weiter differenziert nach der Art der Fortbe-
ausreichte, den Rock von Hand zu raffen und die
wegung („à pied“ oder „en voiture“), dem Aufenthalts-
erwähnten Rockhochzieher aufkamen. Der hochgezo-
ort („sur les plages“), der Beschäftigung („toilettes de
gene Oberrock ließ nun den Unterrock sichtbar
chasse et de patineuse“) und der Jahreszeit.12 Ange-
werden (Abb. 2a und b). Dies hatte zur Folge, dass der
sichts der Tatsache, dass nicht nur das Bekleidungsver-
Unterrock gestaltet wurde und damit eine neue,
halten, sondern auch die Kleidung selbst sehr komplex
dauerhafte Silhouette entstand. Diese Kleider mit
war und aus sehr vielen Schichtungen und Accessoires
kürzerem Rock wurden als petit costume bezeichnet
bestand, erscheint die Idee der robe à transformation
und nicht bei offiziellen Anlässen, sondern vorwiegend
als fast zwingend: sie ermöglicht es, richtig gekleidet
in der Sommerfrische getragen.16
zu sein, ohne jeweils die gesamte Toilette13 zeitintensiv wechseln zu müssen, und verringert die Kosten. Die Anpassung der Kleidung für die beschriebe-
Von einer Kleidung, die aktive Bewegung zulässt, kann aber noch nicht gesprochen werden. Die sich verändernde Silhouette betont die Vertikale sowie die
nen Anlässe lässt sich jedoch nicht immer durch einen
Gesäßpartie und dynamisiert optisch unter anderem
Wechsel des Oberteils erzielen. Und so führten sich
durch Pseudobewegungen auf der Oberfläche der
verändernde Lebensformen auch zu anderen Lösun-
Kleidungsstücke, erzeugt durch changierende Stoffe
gen, die die Kleidungsstücke transformierten. Die
(zum Beispiel Moirés), Drapierungen, Fältelungen,
Die „Frau comme il faut“ in der robe à transformat ion und die „Tempofrau“ im Verwandlungskleid
313
Abb. 1a, 1b: Robe à transformation mit Tages- und Balltaille, 1853–55
314
Rüschen und andere flexible Stoffverzierungen.
Schleppenhalter wird als kleiner Metallring beschrie-
Um diese Silhouette zu realisieren, müssen die
ben, in den man die Schleppe einklemmen und sich
Stoffmassen gestützt werden: mit Tournüren, Polstern,
dann die Befestigungsschnur um die Taille legen
Poufs und Gestellen. Aber es gibt auch weiterhin
kann.17 Als eine weitere Modeneuheit wird „Oswalds
Hilfsmittel, die nur temporär eingesetzt werden. In
Taillenverbindung Perfect“ angepriesen, die einen
zeitgenössischen Zeitschriften und Katalogen finden
lange empfundenen Mangel beheben könne: mit einer
sich Hinweise auf Schleppenhalter, Schleppenträger,
Vorrichtung, die aus einer Metallplatte und Me-
Rockaufschürzer, Rockhalter und Ähnliches. Der
tallknöpfen besteht, könne man Taille und Rock so
Kerstin Kraft
miteinander verbinden, dass ein Hochschieben des
immer häufiger auch Kleidungsstücke, die nicht
Rockes verhindert würde. Der materielle Befund der
aus dem gleichen Stoff bestehen (also keine robe à
robe à transformation hatte ergeben, dass die Röcke
transformation sind), zusammengetragen wurden.
und Taillen nicht immer Haken und Ösen zur Verbin-
Rockhalter und ähnliche ‚kleine Hilfsmittel‘ finden
dung aufweisen, und es stellte sich die Frage, wie ein
sich kaum in Sammlungen beziehungsweise kann ihre
Verrutschen zu verhindern war. Die eben zitierte
Funktion nicht immer identifiziert werden, sodass die
‚Modenotiz‘ aus Der Bazar gibt hierauf eine konkrete
Hinzuziehung von Bild- und Textquellen unerlässlich
Antwort und verweist darüber hinaus darauf, dass
ist.
18
Die „Frau comme il faut“ in der robe à transformat ion und die „Tempofrau“ im Verwandlungskleid
315
Abb. 2a, 2b: Sommerensemble bestehend aus Bolero, Rock und Schärpe, um 1865. Die Zugbänder an der Rockinnenseite erlauben das Hochziehen des Oberrockes
Dieses unscheinbare Detail kann als Ausdruck
hierdurch jedoch nicht ab – im Gegenteil, es gibt nun
xis gelesen und in den Kontext historischer Entwick-
noch mehr Anlässe und Aktivitäten, die eine adäquate
lungen gestellt werden. So stellen die ersten Dekaden
Kleidung erfordern.
des 20. Jahrhunderts für Frauen eine Zeit radikaler
In der Zeitschrift Die Bühne von 1937 heißt es
Veränderungen dar und erweitern ihre Lebensbereiche
dazu: „Vielbeschäftigt sind moderne Frauen. Nicht nur
erheblich. Sport, Erwerbsarbeit, Politik, Universität und
die Businesswomen – auch jene, die nach dem
das urbane Leben sowie nicht zuletzt die Kriegszeit
Shopping einen Besuch zu machen haben, vom
nehmen Einfluss auf das Leben der Frauen und
Nachmittagstee zum Tennis gehen, die den Nachmit-
gleichermaßen auf Kleidung und Mode. Die Anforde-
tag um 3 beginnen und bis in den Abend ausdehnen.
19
316
rungen an die Angemessenheit der Kleidung nehmen
grundlegender Veränderungen in der Bekleidungspra-
Kerstin Kraft
Berufsverpflichtungen ebenso wie gesellschaftliche
schriebenen Repertoire der Verwandlung. Die Abbil-
und sportliche halten die Frau in Atem und machen es
dungen (Abb. 3a und b) zeigen das gleiche Kleid aus
ihr unmöglich, immer wieder nach Hause zu eilen und
schwarzem, leicht glänzendem Taft in zeittypischer
immer wieder die Toilette, der Tageszeit, der Gelegen-
Form, vervollständigt durch schwarze Handschuhe,
heit entsprechend zu wechseln. Und so kommt es, daß
passende Pumps, Hut, Handtasche und Gürtel. Das
das ‚Verwandlungskleid‘, ursprünglich nur-praktisch
Kleid ist vorne durchgeknöpft und mit einem kleinen
gedacht, dazu geschaffen, den Frauen mit magerer
angeschnittenen Kragen versehen, die Silhouette wird
Börse Abwechslung zu ermöglichen, auch in den
durch eine Schulter- und Taillenbetonung sowie einen
elegantesten Kollektionen Einzug gehalten, ja, in ihnen
leicht ausgestellten, kniebedeckenden Rock erzielt.
eine besondere und bevorzugte Rolle einnimmt.“ Hier
Soweit auf den Fotografien zu erkennen, lassen sich
werden zwei Motive für die ‚Erfindung‘ des Verwand-
farblich abgesetzte Schulterpassen sowie lose Stoff-
lungskleides genannt und in eine zeitliche Abfolge
bahnen mit großen Taschen aufknöpfen, die durch den
gebracht, die sich zumindest historisch nicht belegen
Gürtel mitgefasst zu einer Art Weste werden.
20
lässt. Für die robe à transformation wurde festgestellt,
Die häufigste Art der ‚Verwandlung‘ sind ver-
dass es schon im 19. Jahrhundert darum ging, das
schiedene Kragen- und Jabotformen, wie weitere
zeitraubende, täglich mehrfache Umziehen zu verein-
Fotografien und ein Blick in die Sammlungen zeigen.23
fachen. Was sich verändert hat, ist die Art des Trans-
Die zugehörigen Kleider und Oberteile wurden
formierens und die Bezeichnung als Verwandlungs-
wahrscheinlich aufgetragen oder entsorgt, die teil-
kleid, die sich vorwiegend in den Zeitschriften der
weise sehr aufwendig gearbeiteten Kragen hingegen
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem um
aufgehoben. Die Grundidee dieses Bekleidungsprin-
1930, findet. Diese sogenannten Verwandlungskleider
zips ist das einer Rationalisierung und erscheint als
erfahren ihre Verwandlung vor allem dadurch, dass sie
Phänomen, das ab den 1920er Jahren auftritt und
mit unterschiedlichen Accessoires oder losen Kleidtei-
auch in Bezug auf Kleidung thematisiert wird. Als
len wie anknöpfbaren Kragen, Schößchen, Ärmeln und
Stichpunkte seien die sich weiter entwickelnde
Taschen sowie unterschiedlichen Jackenformen und
Konfektion mit Größensystemen, die Typisierung und
Umhängen kombiniert werden.21 Die Variationsbreite
Normierung von Körper und Kleid, die Fordisierung,
wird dadurch eingeschränkt, dass jeweils nur mit
die ihre vestimentäre Entsprechung angeblich im
einem einteilig geschnittenen Kleid kombiniert wird.
‚kleinen Schwarzen‘ findet, und politisch grundierte
Da diese Kleider eher schlicht in ihrer Grundform und -ausstattung sind und in eine Zeit datieren, die durch großen Mangel gekennzeichnet ist, lassen sich
Bestrebungen, Einheitskleidungen einzuführen, genannt. Konkret beschäftigten sich aus zeitgenössischer
Sammlungsobjekte kaum eindeutig als Verwandlungs-
Sicht die Modeschriftstellerinnen und -journalistinnen
kleider bestimmen.
Helen Hessel (geborene Grund) und auch Ré Richter,
Das Frankfurter Historische Museum hat einen umfangreichen Bestand an Modefotografien, die im
alias Renate Green, mit diesen Gedanken.24 Helen Hessel schreibt 1931, „die aktive Frau
Modeamt Frankfurt entstanden. Darunter finden sich
unserer Tage [braucht] Kleider, die das Hin und Her
auch Aufnahmen von zeitgenössisch als Verwand-
ihrer beschäftigten Tage ausdrücken“25. Die Differenz
lungskleidern entworfenen Modellen mit dem be-
zu vergangenen Moden sieht Hessel darin, dass diese
22
Die „Frau comme il faut“ in der robe à transformat ion und die „Tempofrau“ im Verwandlungskleid
317
Abb. 3a, 3b: Verwandlungskleid aus schwarzem Taft mit Schulterpasse oder Weste, 1940, Silbergelatine, Hochglanz, Barytpapier, Foto: Emy Limpert, Modeamt der Stadt Frankfurt
Kleider sich damit begnügten, die Rolle eines „Fonds“
Haute Couture ging als vielmehr um eine Art program-
einzunehmen, also nur Grundierung für wechselnde
matisches Kleiderkonzept, das es allen Frauen ermögli-
Ausstattungen und Garnierungen zu sein: ein „Wech-
chen sollte, immer gut gekleidet zu sein.27 Grundlagen
sel des Zubehörs genügte, um die Erscheinung zu
dieses Konzepts sind die Einteilung des Frauenkörpers
verändern und der neuen Situation anzupassen.“ Sie
in vier Grundtypen, die Verwendung sehr guten
führte zwei Gespräche (1932 und 1933) mit der an
Materials und ausgefeilter Schnitte. Ihr war klar, dass
adäquater Kleidung für moderne Frauen interessierten
dies dem Grundprinzip der Haute Couture, die immer
Modeschöpferin Renate Green. Dabei wird deutlich,
neue Linien erfinden müsse, um immer neue Kleider
dass es dieser viel weniger um innovative Mode oder
verkaufen zu können, widersprach, und ihr Scheitern –
26
318
Kerstin Kraft
sie schließt ihr Geschäft in Paris 1934 – erklärt Green
besteht (um die Jahrhundertwende werden die Taillen,
soziologisch: Jede Gesellschaftsschicht imitiere die
die jeweils mit Futterstoff und Verstärkungen als
nächst höhere und habe kein Interesse an nivellieren-
Oberteil gearbeitet wurden, zunehmend durch Blusen
der Kleidung.28 Retrospektiv lässt sich dieses Scheitern
aus leichteren Stoffen ersetzt). Wie vorherrschend
auf verschiedene Faktoren zurückführen, die dem
aber die Idee des Kleides als einteiliges Kleidungsstück
Modebetrieb immanent erscheinen. Einer der wenigen
war, zeigt auch die Entwicklung der Jumpermode in
erhaltenen Entwürfe für ein Transformationskleid (eine
den 1920er Jahren: aus dem Jumper, dem Kleidungs-
Ausführung dieses Entwurfs scheint nicht überliefert)
stück, das ab etwa 1930 dann als Pullover bezeichnet
zeigt deutlich, dass dieser weder künstlerisch noch
wird, der zusammen mit einem Strickrock getragen
schnitttechnisch überzeugt und formal der herrschen-
werden konnte, wird das Jumperkleid, das wiederum
den Mode entspricht (Abb. 4). Das heißt, es fehlt das
keine Kombinationsmöglichkeit bietet. Für die „Tem-
Avantgardistische und Innovative, zum Beispiel einer
pofrau“ ist das zweiteilige Kleid insofern „unentbehr-
Elsa Schiaparelli, oder das Selbstvermarktende einer
lich“, als dass es sich schnell an- und ausziehen lässt.29
Coco Chanel.
In den 1930er und 1940er Jahren, die unter anderem
In Bezug auf den transformativen Aspekt – Green
durch Mangel gekennzeichnet waren, wurde das
selbst nennt den Entwurf „Transformationskleid“ –
Verwandlungskleid zur ideologischen und praktischen
wird dieser zunächst nicht weiterentwickelt, sondern
Lösung von Kleiderfragen.30 Viele Mode- und Frauen-
auf das gleich gebliebene Bedürfnis nach Kostenre-
zeitschriften, darunter auch die NS-Frauen-Warte, das
duktion und Zeitersparnis mit Verwandlung geantwor-
parteiamtliche Organ der NS-Frauenschaft, zeigen
tet. Diese Verwandlung wird jedoch der jeweils
Beispiele für „verwandelbare“ Kleider, die es auch
bestehenden Mode angepasst, die im 19. Jahrhundert
ermöglichen, in „schwerer Zeit“ Feste zu feiern und
vorwiegend Kleider aus Rock und Oberteil (Taille) und
Lebensfreude auszudrücken.31
seit der Jahrhundertwende dann durchgehend ge-
Resümierend lässt sich festhalten, dass der
schnittene Kleider zeigte, sodass nur durch zusätzliche
Transformationsbegriff geeignet erscheint, eine textile
Kleidteile variiert werden konnte. Greens erwähntes
Lesung der Moderne durchzuführen und zu grundsätz-
Transformationskleid kann beispielsweise durch einen
lichen Aussagen zur Mode zu kommen. Darüber hinaus
zweiten Rock verwandelt werden. Dieser wird über
wurde deutlich, dass die Erforschung von Mode der
dem Kleid getragen und mit einem Reißverschluss
Untersuchung von real getragener Kleidung als ihrer
geschlossen – die Schichtung von Röcken mit ihren
Materialisation und von Kleidungspraxen bedarf. Eine
Nachteilen erscheint hier rückschrittlich, die Verwen-
objektbasierte, quellenpluralistische Bekleidungsfor-
dung des zu dieser Zeit noch kaum eingesetzten
schung mit materiellen Befunden, Formen der rekonst-
Reißverschlusses als fortschrittlich. Wirklich spektaku-
ruktiven Kleidungspraxis und kontextualisierender
lär wäre hingegen gewesen, den Reißverschluss als
Hinzuziehung weiterer Quellen führt diese Bereiche
Mittel, den Rock temporär mit dem Oberteil zu
interpretierend zusammen.
verbinden, zu nutzen.
Gerade am Beispiel der Frankfurter Sammlung
Parallel zu den modischen Veränderungen
lässt sich zeigen, dass der materielle Befund und die
entwickelt sich eine Form der Gebrauchskleidung, vor
Objektrecherche in der Mode- und Textilforschung
allem der berufstätigen Frauen, die aus Rock und Bluse
nicht zu vernachlässigen sind. Auch andere Sammlun-
Die „Frau comme il faut“ in der robe à transformat ion und die „Tempofrau“ im Verwandlungskleid
319
Abb. 4: Renate Green, Das Transformationskleid, 1930
320
Kerstin Kraft
gen besitzen häufig eine Vielzahl von noch nicht
kratisch bezeichnet werden, entspricht dem Prinzip
analysierten, nicht identifizierten Objekten oder auch
der rationellen Fertigung als Baukasten und lebt bis
solchen, die auf andere Fragen hin bearbeitet und
heute in Ratgebern fort, die sogenannte Basics
verschlagwortet wurden.
propagieren.
In Bezug auf die robes à transformation konnte
Voraussetzung hierfür – bezogen auf den
neben der beschriebenen Problematik der Bezeich-
gesamten Zeitraum – sind die Existenz gesellschaftli-
nungen, die eine Stich- und Schlagwortsuche erschwe-
cher Normierungen in Bezug auf das Bekleidungsver-
ren, festgestellt werden, dass die zweigeteilte Form
halten, verbunden mit dem Wunsch, diesen Normen
Voraussetzung für diese Art der Veränderbarkeit war
zu entsprechen, aber nicht die finanziellen Mittel
und dass als Gründe der gesellschaftlich geforderte
hierfür aufbringen zu können oder Zeit sparen zu
mehrfache Kleiderwechsel und Sparsamkeit genannt
wollen.34 Es lassen sich Tendenzen ablesen, die
wurden. Da es sich vorwiegend um den Wechsel von
Geschlechtermodelle (re)produzieren und die vesti-
Tages- zu Abendgarderobe handelte, waren die Weite
mentäre Anpassung an gesellschaftliche und ästhe-
des Dekolletés und die Ärmellänge die Hauptvariablen
tisch-modische Normen vorwiegend den Frauen
in der Ausgestaltung der wechselnden Taillen.32 Beim
überlassen und die Lösung in der Kombination, der
Verwandlungskleid hingegen war das Hinzufügen die
geschickten Ensemblebildung und dem Sampling
Grundidee. Durch die Isolierung von einzelnen
suchen. Dem gegenüber steht eine Form der funktio-
Elementen – kleidungshistorisch keine Neuerung –
nalen Anpassung der Bekleidung durch technische
entsteht die Möglichkeit der Variation.
Lösungen, meist von Männern erfunden.35 Für die
Moderne Kleidungspraxis, bis heute gelebt,
Herausforderungen der Frau des 21. Jahrhunderts
erscheint als Synthese dieser beiden Transforma-
bedeutet das: „Falls Sie direkt nach Büroschluss noch
tionsformen, wird seit den 1930er Jahren praktiziert
ein Date haben und keine Zeit zum Umziehen bleibt,
und wurde damals schon als modern empfunden.
müssen Sie dies berücksichtigen, indem Sie etwa einen
33
Hierbei steht die Idee des Kombinierens im Vorder-
Hosenanzug anziehen, im Office mit Sneakers und
grund und es entwickelt sich eine Kleidungspraxis
abends mit den schicken Mules, die Sie in der Handta-
hin zur Ensemblebildung und zum eigenständigen
sche mitnehmen.“36 Die männliche Lösung dieses
Zusammenstellen einer aufeinander abgestimmten
weiblichen Problems findet sich im Manager-Maga-
Garderobe. Diese Idee, die nicht konzeptuell ent-
zin37, wenn dort steht, drei Männer hätten die Lösung
standen ist und die nun vor allem von den Frauen
für das Damenschuh-Dilemma erfunden: den Flexheel,
selbst und nicht mehr den vorwiegend männlichen
einen auswechselbaren Absatz, der durch ein Klicksy-
Couturiers bestimmt wird, kann durchaus als demo-
stem Pumps zu Ballerinas macht.38
Die „Frau comme il faut“ in der robe à transformat ion und die „Tempofrau“ im Verwandlungskleid
321
Anmerkungen 1
Vgl. zum Beispiel: Julia Bertschik: Mode und Moderne. Kleidung
als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur (1770– 1945), Köln u. a. 2005.
2
Im italienischen Futurismo erscheint die Idee der Transforma-
Natalie Bruck-Auffenberg: Die Frau comme il faut. Die vollkom-
10 11 12 13
Henri Despaigne: Le code de la mode, Paris 1866. Ebd., S. 13 f. Ebd., S. 58. Dieser französische Begriff für die Zusammenstellung aller Be-
tion auf schnitttechnischer Ebene nicht ausgearbeitet und hat keine
kleidungsteile kennt keine deutsche Entsprechung, heute wird der
materielle Umsetzung erfahren. Es werden Variabilität und Modifizier-
englische Begriff des Outfits verwendet.
barkeit als Begriffe genannt und mit den modificanti (farbige kleine
14
Stoffstücke, die an der Kleidung angebracht werden können, um die
Ausst.-Kat. Paris 2008 (wie Anm. 4), S. 18–28, hier S. 24.
Catherine Join-Diéterle: Revisiter le style Second Empire, in:
Stimmung des Trägers anzuzeigen) auch beschrieben. Wie aber die
15
‚Überraschungskleider‘ und die ‚veränderbaren Kleider‘ aussehen, die
Nr. 38, S. 300. Zit. n.: Die zweite Haut. Zur Geschichte der Unterwä-
Volt (Vincenzo Fani) im Manifest der futuristischen Damenmode er-
sche 1700–1960, hg. v. Almut Junker und Eva Stille, Ausst.-Kat. Histo-
wähnt, erfährt man nicht. Vgl. Gegen den Strich. Kleider von Künstlern
risches Museum Frankfurt, Frankfurt a. M. 1988, S. 120.
Der Bazar. Illustrirte Damen-Zeitung, 4. Jg., 8. Oktober 1858,
1900–1940, hg. v. Radu Stern, Ausst.-Kat. Museum Bellerive, Zürich,
16
und Musée des Arts Décoratifs, Lausanne, Bern 1992, S. 120 f. Judith
Ausst.-Kat. Paris 2008 (wie Anm. 4), S. 104–109, hier S. 104.
Françoise Tétart-Vittu: Petits costumes et robes courtes, in:
Clark: Kinetic Beauty. The Theatre of the 1920s, in: Addressing the
17
Century. 100 Years of Art & Fashion, Ausst.-Kat. Hayward Gallery, Lon-
1879, Nr. 33, Berlin, hier S. 259–261.
Der Bazar. Illustrirte Damen-Zeitung, 25. Jg., 1. September
don, und Kunstmuseum Wolfsburg, London 1998, S. 79–87.
18
3
1902, Nr. 1, Paris/Berlin/Wien, hier S. 630.
Robes du soir, hg. v. Catherine Join-Diéterle, Ausst.-Kat. Palais
Der Bazar. Erste Damen- und Moden-Zeitung, 48. Jg., 5. Januar
Galliera, Musée de la Mode et du Costume, Paris, Paris 1990, S. 26.
19
Auch Marie-Pierre Ribère verwendet den Begriff „transformation dress“
Sportlich, sachlich, männlich. Das Bild der ‚Neuen Frau‘ in den
ohne ihn näher zu erläutern für Kleider, die aus einem Rock und zwei
Zwanziger Jahren, Dortmund 2000; Burcu Dogramaci: Mode-Körper.
unterschiedlichen Taillen bestehen. Fashion forward. 300 Years of Fash-
Zur Inszenierung von Weiblichkeit in Modegrafik und -fotografie der
ion. Collections of the Musée des Arts Décoratifs, Paris, hg. v. Marc As-
Weimarer Republik, in: Michael Cowan und Kai Marcel Sicks (Hg.):
coli, Ausst.-Kat. Musée des Arts Décoratifs, Paris, Paris u. a. 2017, S. 88.
Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis
4
1933, Bielefeld 2005, S. 119–135.
Catherine Join-Diéterle: Robes à transformation, in: Sous l’em-
Vgl. hierzu: Bertschik 2005 (wie Anm. 1); Gesa Kessemeier:
Musée Galliera, Paris, Paris 2008, S. 101–103, hier S. 101.
20 21
5
In der Sammlung des Museum of the City of New York befindet
kleid beschrieben und in eine Textilkunde aufgenommen. Anton Jau-
sich ein Dress with Day and Evening Bodices, 1864–67 mit einer ent
mann (Hg.): Textilkunde. Ein Hand- und Nachschlagebuch für die Praxis
sprechenden Beschreibung. Das Kleid ist Teil der Online-Ausstellung
des Textilkaufmannes und für alle Zweige des Textilfaches, Nordhausen
Worth & Mainbocher und zu finden unter www.collections.mcny.org
1938, S. 692.
pire des crinolines, hg. v. dies. und Françoise Tétart-Vittu, Ausst.-Kat.
Die Bühne, 1. Maiheft 1937, H. 447, Wien, S. 52. Zeitgenössisch wurde der Begriff erklärt, das Verwandlungs-
[Abruf: 10.9.2018]. In einer Monografie über das Modehaus Worth
22
wird dieses Kleid auch gezeigt (S. 84) und weitere dreiteilige Kleidungs-
konnte.
Sie sind dort Teil der Graphischen Sammlung, die ich einsehen
stücke, darunter ein Hochzeitskleid (S. 76–77), zu dem erläutert wird,
23
dass die verschiedenen Taillen für Kirche und Abendfeier benötigt wur-
solcher Kragen und Jabots in unterschiedlichster Ausführung.
Das LVR-Industriemuseum verwahrt beispielsweise sehr viele
den. Chantal Trubert-Tollu u. a.: The House of Worth 1858–1954. The
24
Birth of Haute Couture, London 2017.
rin (1886–1982). Ré Richter wurde als Meta Erna Niemeyer (1901–
6
Helen Hessel, geb. Grund, war eine deutsche Modeschriftstelle-
Ein vergleichbares Objekt europäischer Herkunft befindet sich
1996) in Deutschland geboren und war Bauhausschülerin, Modezeich-
im Metropolitan Museum of Art in New York und wird auf 1853–56
nerin, Fotografin, Übersetzerin und Essayistin. Als Modejournalistin
datiert. Inv.-Nr. C.I.38.23.60a, b. Oder auch bei Join-Diéterle findet sich
schrieb sie unter dem Pseudonym Renate Green. 1937 nimmt sie den
eine sehr ähnliche robe à transformation, datiert auf 1852. Join-Diéterle
Nachnamen ihres zweiten Ehemanns Philippe Soupault an.
2008 (wie Anm. 4), S. 103.
25
7
und die Liebe, hg. v. Mila Ganeva, Wädenswil 2014, S. 180.
Ulrike Döcker: Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensi-
Helen Hessel: Ich schreibe aus Paris. Über die Mode, das Leben
York 1994, S. 137 ff.
26 27
8
Für die Frau: Verwandlungen, Mai 1931, Nr. 5, und Deutsche Mode in
deale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New Döcker 1994 (wie Anm. 7), S. 149. Vergleichbare Entwicklungen
beschreibt Join-Diéterle für Frankreich: Ausst.-Kat. Paris 1990 (wie Anm. 3), S. 44.
322
9
mene Frau, 4. Aufl., Berlin 1911.
Kerstin Kraft
Ebd., S. 180. Beide Gespräche erschienen in: Frankfurter Zeitung, Beilage:
Paris. Ein Gespräch mit Renate Green, 24.1.1932.
28
Hessel 2014 (wie Anm. 24), S. 214.
29 30
Die Dame, Bd. 58, 1930, Nr. 5, S. 28.
Ratingen, Ausst.-Kat. LVR-Industriemuseum Textilfabrik Cromford, Ra-
Frankfurt Macht Mode 1933–1945, hg. v. Almut Junker, Ausst.-
tingen 2012, S. 20–30, hier S. 29.
Kat. Historisches Museum, Frankfurt a. M., Frankfurt a. M. 1999, S. 36.
34
31
heitskleidung, wie sie programmatisch immer mal wieder gefordert
Magda Watzal schlägt vor, „ein schlichtes, dunkles Kleid mit ei-
Ein Gegenentwurf wäre beispielsweise eine nivellierende Ein-
nem lichten, gehäkelten, genetzten oder geklöppelten Kragen“ zu
oder auch entworfen, aber nicht umgesetzt wurde.
schmücken. In: Oskar Lukas (Hg.): Das deutsche Frauenbuch. Ein Buch
35
für Werktag und Feiertag, Karlsbad-Drahowitz u. a. 1937/38, S. 213.
gen für Krinolinen, Patentverschlüsse, Körpervermessungsgeräte usw.
Die Praktische Damen- und Kinder-Mode zeigt 1933 „neue verwandel-
im 19. Jahrhundert.
bare Wirtschafts-, Wander- und Sportkleider“ und „praktische Ver-
36
wandlungskleider“, Nr. 3, S. 7–12. Weitere Beispiele in: Hella (Beyers
schrank. Der Styleguide für Frauen, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 19 f.
Frauen-Illustrierte), November 1936, Nr. 33, S. 9; NS-Frauen-Warte,
37
Bd. 4, 1935/36, H. 17, S. 554; Mode und Wäsche. Illustrierte Zeit-
Manager Magazin, 19.6.2014, http://www.manager-magazin.de/life-
schrift für die praktischen Interessen der Frauenwelt, 1934/35, Nr. 1,
style/mode/damenschuhe-mit-wechselabsatz-flexheel-a-976118.html
S. 7; Moderne Welt, Bd. 17, 1936, Nr. 8, S. 25.
[Abruf: 12.9.2018].
32
38
Die Sammlung Kamer/Ruf (Schweiz) weist die mehrteiligen Klei-
Dies bezeugen beispielsweise die zahllosen Patentanmeldun-
Claudia Piras und Bernhard Roetzel: Mein wunderbarer KleiderMaren Hoffmann: Das ist die Höhe! Oder doch lieber das hier?
Für die zahlreichen Hinweise und Gespräche, die zur Entste-
dungsstücke als robe à transformation aus und differenziert darüber hinaus
hung dieses Aufsatzes beigetragen haben, danke ich Birgit Haase, Re-
die Taillen nach verschiedenen Anlässen am Tag (Besuchs-, Promenaden-,
gina Lösel und Maren Christine Härtel sowie dem Historischen Mu-
Dinner-, Empfangstoilette).
seum Frankfurt für den Zugang zu den Sammlungen.
33
Kerstin Kraft: Dirndl, Diva oder Deutsches Mädel in Uniform?, in:
Glanz und Grauen. Mode im „Dritten Reich“, hg. v. LVR-Industriemuseum
Die „Frau comme il faut“ in der robe à transformat ion und die „Tempofrau“ im Verwandlungskleid
323
Technik der Applikationsstickerei zu erlernen und eigenständig umzusetzen. Seine Schwester wiederum hatte mit einer Freundin die verschiedenfarbigen Wolltuche zusammengetragen, die van de Velde schließlich im Zusammenspiel mit mehrfädigen Seidengarnen nach den Theorien der komplementären Farbwirkung auf grobes Leinen applizierte und in rotes Wolltuch einfasste (Abb. 1). Indem er den Stickfäden sowohl funktionale als auch gestalterische Zwecke zuwies, nahm er eines seiner wichtigsten späteren
„Die Kleider müssen vor allem gut gemacht sein [...]“ 1 . Henry und Maria van de Veldes künstlerische Allianzen für das Reformkleid
Gestaltungsprinzipien vorweg. Aufgrund der persönlichen und künstlerischen Bedeutung des in mehreren Monaten geschaffenen Kunstwerks betrachtete van de Velde die Engelwache als sein Aufnahmewerk in den Stand des Kunsthandwerkers und als sein Gesellenstück. Bezugnehmend auf das Buch der Zünfte (Livre des Métiers) von Etienne Boileau aus dem Jahr 1268 stellte er den Wandbehang unmittelbar nach Fertigstellung mit folgender erklärender Notiz 1893 in
Antje Neumann und Laura Petzold
Brüssel aus: „Wenn aber der Geselle nicht Sohn eines Frauen spielten im textilkünstlerischen Schaffen
2
Meisters war, verlangte man vor seiner Berufung zum
des belgischen Künstlers Henry van de Velde von
‚Meistersticker‘ von ihm eine Darstellung einer Gruppe
Anbeginn eine zentrale Rolle. Nach dem Tod seiner
von mehreren Personen.“4 Van de Veldes Schritt vom
krebskranken Mutter reifte in van de Velde ab 1890 in
Maler zum Kunsthandwerker war mit Ausführung
Folge einer Sinnkrise der Entschluss, sich von der
dieses Gesellenstücks vollzogen. „Deutlicher konnte
Malerei zu lösen und dem Kunsthandwerk zuzuwen-
ich nicht erklären, daß ich mich als Kunsthandwerker
den. Das Bild von vier knienden Mädchen, die in einem
betrachtete und daß ich von nun an als solcher
Obstgarten über den Schlaf des Gotteskindes wach-
betrachtet zu werden wünschte“5, schrieb van de
ten, ließ ihn nicht mehr los. Er ersann daraufhin eine
Velde rückblickend in seinen Memoiren. Die Engelwa-
Komposition, fertigte eine Kartonskizze an, legte die
che begleitete den Künstler fortan auf all seinen
Disposition der Materialien fest und führte mit seiner
Lebensstationen und befindet sich heute im Museum
Tante Maria Elisabeth de Paepe in der Abgeschieden-
für Gestaltung in Zürich. Ebenfalls dort sind die
heit des belgischen Küstenortes Knocke-sur-Mer
Besatzstücke und Applikationen verwahrt, die seiner-
einen großformatigen Wandbehang mit dem prägen-
zeit die Kleider von Maria van de Velde schmückten.
den Titel Engelwache aus. Als Tochter des renommier-
Zusammen mit einer Vielzahl von Stoffproben be-
ten Antwerpener Goldstickers und Paramentenherstel-
wahrte van de Velde auch diese Kleiderbesätze zeit
lers Josephus Arnoldus Albertus Van Halle war van de
seines Lebens auf und überließ sie dem Schweizer
Veldes Tante eine versierte Stickerin. Sie half ihm, die
Museum (Abb. 6).
3
Henry und Maria van de Veldes künstlerische Allianzen für das Reformkleid
325
Abb. 1: Henry van de Velde, Wandbehang Engelwache (Detail), 1892/93, Wolltuch, Leinwandbindung, Wolle, geraut und verschiedene Farben (Stückfärbung), Anlege- und Überfangfäden: Seide, verschiedene Farben, 141 x 234 cm, Breite der Einfassung ca. 4,3 cm, Museum für Gestaltung Zürich, Kunstgewerbesammlung, KGMZ 1959-71
326
Antje Neumann und Laura Petzold
Als Tochter des Filzfabrikanten Gérard Sèthe
(Abb. 4, 5), sie zeigen Maria van de Velde als Ehefrau,
setzte sich van de Veldes Frau Maria frühzeitig mit der
Künstlerin, Mutter und Hausfrau. So notierte Harry
englischen Arts and Crafts-Bewegung auseinander. Sie
Graf Kessler 1898 während eines Besuchs in Brüssel
lernte 1893 William Morris kennen und trug während
bezugnehmend auf ein weit fallendes Kleid6 mit
ihrer Aufenthalte in London eine private Vorbilder-
Ballonärmeln und dekorativ besticktem Kragenbesatz
sammlung textiler und kunsthandwerklicher Arbeiten
in sein Tagebuch: „Die Frau ist eine schöne Blondine,
zusammen, indem sie zahlreiche Firmen aufsuchte, die
die eine Art von präraphaelitischem Kostüm, meistens
noch nach althergebrachten Fertigungstechniken
blau, mit viereckigem Ausschnitt trägt, das ihr sehr gut
arbeiteten und die Massenfabrikation ablehnten.
steht.“7 Maria van de Velde trug dieses Kleid zu Hause
Darüber hinaus war sie für kurze Zeit im Atelier des
sowohl als Umstands-, und auch als normales Haus-
belgischen Künstlers Frank Brangwyn tätig. Durch den
und Gartenkleid. So ist sie darin am Herd beim
Umstand, im Abstand weniger Jahre sieben Kinder zur
Zubereiten einer Speise oder beim Durchpausen einer
Welt zu bringen, war Maria van de Velde über längere
Applikationsvorlage zu sehen (Abb. 3). Entgegen dem
Zeit auf eine bequeme und korsettfreie Kleidung
vorherrschenden Pariser Modeideal, das eine schmale
angewiesen. Da sie verschiedene textile Techniken
Silhouette und s-förmige sans ventre-Linie auch im
beherrschte und äußerst kreativ war, entstand ab
häuslichen Umfeld vorsah, trug sie das Kleid ohne
1894 eine fruchtbare künstlerische Kooperation
Korsett und präsentierte sich bewusst als moderne
zwischen den Ehepartnern (Abb. 2). Diese Zusammen-
Frau, die selbst kocht, den Haushalt führt, die Kinder
arbeit war in vielerlei Hinsicht vorbildhaft und brachte
wickelt und gleichzeitig künstlerisch tätig ist. Mit
eine Bandbreite textiler Arbeiten hervor, die hinsicht-
dieser Haltung und Einstellung war sie ein Leitbild für
lich Technik, Materialien, Raffinesse und Qualität von
Frauenrechtlerinnen und Mediziner, die zur Bildung
einem hohen künstlerischen Anspruch zeugen.
einer „Versuchsanstalt für vernünftige Frauentracht“
Während Henry van de Velde vorwiegend die Schnitte
aufriefen und 1896 auf dem „Internationalen Kongreß
und Dekore unter Verwendung von exklusiven
für Frauenwerke und Frauenbestrebungen“ die
Liberty-Stoffen, exotisch anmutenden Batikdrucken,
gängige Frauenkleidung mit eng geschnürtem Korsett
indisch beeinflussten Stoffen von Thomas Wardle oder
ablehnten. Maria van de Velde verfasste zudem eigene
selbst entworfenen Künstlerseiden der Krefelder
Beiträge zur Thematik8 und trug ihre Neuschöpfungen
Firma Deuss & Oetker entwarf, übernahm Maria die
auch öffentlich zur Schau, wie etwa in den Salons der
Erstellung der Pausen und die Ausführung der Besätze,
Berliner Hautevolee, wofür sie jedoch mehr Kritik als
wobei die Zusammenarbeit Hand in Hand erfolgte und
Lob erhielt. Despektierlich hieß es, ihre Kleider seien
eine individuelle Zuschreibung aus heutiger Sicht
„hässlich“, gar „scheusslich“ und ein Kleid aus Kamel-
schwierig ist.
haar habe ausgesehen, als sei sie „48 Stunden Eisen-
Mit Vorliebe trug Maria van de Velde weit
bahn gefahren“.9 An anderer Stelle ließ jemand verlau-
fallende Garten- und Hauskleider, die mit dem Interi-
ten: „Wenn meine Frau arbeiten sollte, so würde ich
eur von Haus Bloemenwerf gesamtkünstlerisch
dieses Kleid verstehen; aber im Salon sollen wir doch
harmonierten und aufgrund ihrer schlichten Eleganz
nicht arbeiten.“10 Karikaturen in namhaften Zeitschrif-
auffielen. Inszenierte Fotoaufnahmen dokumentieren
ten taten ihr Übriges. Ungeachtet vieler kritischer
nicht nur die Vorder- und Rückseiten der Kleider
Stimmen fanden sich durchaus werbewirksame
Henry und Maria van de Veldes künstlerische Allianzen für das Reformkleid
327
Käuferinnen und Liebhaberinnen der Kleider, wie etwa Sophie Herrmann, Alma Warburg, Wilma de Brion, Elisabeth Förster-Nietzsche und Gertrud Osthaus. Indem sich diese Damen in den Kleidern öffentlich zeigten und fotografieren ließen, trugen sie auf ihre Weise zum Bekanntheitsgrad der Mode van de Veldes bei. Marias Schwester Irma Saenger-Sèthe konnte sich indes nicht überwinden, Kleider ihres Schwagers auch öffentlich während eines ihrer viel beachteten Violinkonzerte zu tragen.11 Maria und Henry van de Velde forderten die Frauen auf, sich „von der geisttötenden Tyrannei der Abb. 2: Maria und Henry van de Velde im Atelier des eigenen Hauses Bloemenwerf in Uccle, 1899. Maria trägt ein Kleid aus dem 1878 entworfenen Stoff Salangore von Thomas Wardle.
Mode”12 frei zu machen, selbst kreativ tätig zu werden und eigene Entwürfe zu fertigen. „Wenn erst die Frau die Verantwortung und die Folgen auf sich genommen hat, die ihr entstehen, sobald sie versucht, in und ausser dem Hause Kostüme zu tragen, die sie selbst geschaffen hat; wenn sie die Schwierigkeiten durchgemacht hat, die ein sorgfältig überlegtes Wählen der ihrem Typus entsprechenden Stoffe und Formen mit sich bringt; wenn sie die Zeit und die Ausdauer überlegt, die erforderlich waren, etwas Tüchtiges zustande zu bringen, die Kämpfe mit den Lieferanten, die sich ihren Wünschen aus Bequemlichkeit so gern entzogen hätten – nach alledem wird sie davon durchdrungen sein, dass die That ihrer Überzeugung eine wahre Revolution in ihrer Existenz, eine Evolution zu einer besseren Lebensform herbei führen muss.“13 Henry van de Velde empfahl den Frauen, sich zu Hause individuell und auf der Straße gemäßigt individuell zu kleiden. Für festliche Gelegenheiten begrüßte er eine Art feststehende „Zwangstoilette“ („toilette de rigueur“) wie bei den Herren.14 Tatsächlich sollte sich die Optik des Kleides der Persönlichkeit der Trägerin sowie dem Ort anpassen. Van de Velde unterschied daher zwischen Empfangstoiletten, Straßenkostümen
Abb. 3: Maria van de Velde beim Durchpausen einer Applikations vorlage, um 1898
328
Antje Neumann und Laura Petzold
und Gesellschaftskleidern. In seinem Aufsatz „Das neue Kunst-Prinzip in der modernen Frauen-Kleidung“
schrieb er in diesem Zusammenhang: „Die Toilette wird
Größe anpassen. Danach schicken Sie es mir zurück,
durch den Ort, wo man sie trägt, bestimmt, und diese
und Henry entwirft die Stickerei. Sobald dies gesche-
Orte sind entweder private oder gemeinsame. Im
hen ist, empfehle ich Ihnen, sich das Modell durch Ihre
Hause, am eigenen Herde, herrscht eine andere
Schneiderin kommen zu lassen. Ich teile Ihnen dann
Atmosphäre als auf der Straße und wieder eine andere
mit, inwieweit das Kleid fertiggestellt werden muß,
in den feierlichen Zusammenkünften, und es liegt klar
damit Sie es mir erneut schicken, um die Stickerei
auf der Hand, dass die Toilette sich diesen wesentli-
anzubringen.“18 Die Ausführung sämtlicher Besatzteile
chen Unterschieden anpassen muss.“15
übernahm Maria van de Velde in Zusammenarbeit mit
Wie schwierig und zeitaufwendig die Herstel-
einer Näherin bzw. Stickerin. Für ihre eigenen Kleider,
lung eines Kleides vom Entwurf bis zur Umsetzung war
insbesondere für ein aufwändig gearbeitetes Abend-
und wie viel Mühe dieser Prozess Maria und Henry van
kleid19, sowie für das Teekleid20 von Sophie Herrmann
de Velde tatsächlich bereitete, dokumentiert der
engagierte sie Sidonie Tassel aus Brüssel, die Gattin
Briefwechsel mit dem Direktor des Krefelder Kaiser
des Freundes Émile Tassel. Für die Ausführung des
Wilhelm Museums, Friedrich Deneken, auf anschauli-
Gesellschaftskleides von Gertrud Osthaus zog sie
che Weise und gipfelt in der von Harry Graf Kessler
hingegen Frau Gärtner-Schulze aus Elberfeld hinzu.21
überlieferten Bemerkung, van de Velde „baue lieber
Ihr war bewusst, dass die Kleider „vor allem gut
10 Häuser als ein Kleid“16. Die Vorbereitungen zur
gemacht sein“ müssen.22 So bliebe der schönste
Sonderausstellung moderner, nach Künstler-Entwürfen
Entwurf nur eine klägliche Sache, „wenn nicht das
ausgeführter Damenkleider, die im August 1900 zwei
Genie des ‚guten Zuschneiders‘, der ‚vortrefflichen
Wochen zusammen mit der Großen Allgemeinen
Näherin‘ und die Feenhände der ‚bonne couturière‘ am
Ausstellung für das Bekleidungswesen in Krefeld zu
Werk” sind.23 Im Vorwort zum Album moderner, nach
sehen war, nahmen allerdings nur drei Monate in
Künstler-Entwürfen ausgeführter Damenkleider schrieb
Anspruch. In dieser Zeit mussten Maria und Henry van
sie: „Schnitt, Verbindung der Stücke, Stickereien und
de Velde einen Großteil der insgesamt sechs gezeigten
Besatz vertragen keine mittelmässige Ausführung.
Kleider unter immensem Zeitdruck ausführen. Bereits
Ohne die Garantie der Vollkommenheit in der Aufma-
zu Beginn erläuterte van de Velde gegenüber Deneken
chung dieser Teile bleibt die Verwirklichung der
seine Vorgehensweise beim Entwurf der Kleider. Den
interessantesten und glücklichsten Ideen zweifelhaft.
Aufbau eines Kleides („la construction d’une toilette“)
Dieser wunderbar entworfene Schnitt, jene herrlich
und das Zusammenspiel der Stoffe legte er ohne
erdachte Stickerei verlieren jeden Wert, da sie hervor-
vorheriges Anfertigen einer Skizze oder Vorzeichnung
gegangen sind aus einem Atelier, wie dies bereits in
direkt am Modell fest. Auch die Stickereien und
der Möbelindustrie, der Keramik, der Glasfabrikation
Ornamente entwarf er direkt auf den Körper der
etc. geschieht.“24
17
Trägerin. Bei einem Kleid für Sophie Herrmann, dessen
Maria und Henry van de Velde arbeiteten im
Herstellung aufgrund der räumlichen Distanz mehrere
besten Sinne Hand in Hand – und dies mit Erfolg. Für
Monate gedauert hatte, gab Maria van de Velde im
die vorbildliche technische Ausführung der Kleider
Voraus folgende Verfahrensweise vor: „Ich werde ein
erhielt Maria van de Velde zusammen mit Sidonie
Modell aus Musselin anfertigen und Ihnen schicken
Tassel vom Ausstellungskomitee des Kaiser Wilhelm
lassen. Sie probieren es an und lassen es auf Ihre
Museums Ende August 1900 das Diplom zur Goldme-
Henry und Maria van de Veldes künstlerische Allianzen für das Reformkleid
329
Abb. 4: Maria van de Velde vor ihrem Flügel in Haus Bloemenwerf in Uccle, 1897. Sie trägt das Teekleid (Tea-gown) aus braunem Liberty-Samt.
daille.25 Zudem bekam sie ein „Pelzcape“ geschenkt,
verschrieben sich zeitgleich und in der Folge dem
das nach ihren Wünschen angefertigt wurde. Der
Entwurf von Damenkleidern, die als „Eigenkleider“
Impuls der Krefelder Sonderausstellung, die anlässlich
oder „Künstlerkleider“ in die Geschichte der Mode
des Deutschen Schneidertags stattfand, beflügelte
eingingen. Zu ihnen zählen Margarete von Brauchitsch,
enorm. Henry van de Velde veröffentlichte in nahtloser
Else Oppler, Anna Muthesius, Gertrud Kleinhempel,
Folge die Schriften Künstlerische Hebung der Frauen-
Emilie Flöge, Julie Wolfthorn, Richard Riemerschmid,
tracht , Die Renaissance im modernen Kunstgewerbe
Otto Eckmann, Alfred Mohrbutter sowie die
26
27
28
und „Das neue Kunst-Prinzip in der modernen Frauen-
Künstlerehepaare Peter und Lilli Behrens, Heinrich
Kleidung“ . Außerdem befürwortete er die Gründung
und Martha Vogeler, August und Elisabeth Macke
eines internationalen Komitees im Kampf gegen das
sowie Sonia und Robert Delaunay, um nur einige zu
von Paris diktierte Modeideal. Zahlreiche Künstler
nennen.31
29
30
330
Antje Neumann und Laura Petzold
Abb. 5: Die rückseitige Ansicht des Teekleides mit kurzen Puffärmeln, um 1897
Wie eingangs erwähnt, waren die Kleider von
der Epoche. Obwohl die originalen Besatzstücke im
Maria van de Velde für ihre Zeit innovativ, bahnbre-
Museum für Gestaltung in Zürich verwahrt sind, hielt
chend und erregten positive wie negative Aufmerk-
sich über mehrere Jahrzehnte die Annahme, es handle
samkeit. Dies betraf nicht nur das Aussehen und den
sich um ein blaues Kleid.32 Tatsächlich hatte van de
Schnitt der Kleider, sondern auch die Materialien und
Velde jedoch die Farbigkeit des Kleides ganz bewusst
Techniken, die in der Art und Weise ihrer Kombination
auf die ambrafarbene Haut und das honigblonde Haar
gewissermaßen Neuerungen innerhalb der Frauenklei-
seiner Frau abgestimmt.
dung darstellten, wie das Teekleid von 1896 exempla-
Die überlieferten bestickten Besätze (Abb. 6)
risch veranschaulicht (Abb. 4, 5). Dieses von Maria van
umfassen den Halsausschnitt, die Ärmelmanschetten
de Velde getragene Tea-gown aus braunem Liber-
und den Saumbereich, wobei Letztere vollständig
ty-Samt gehört zu den bekanntesten Künstlerkleidern
erhalten sind und geschlossene Kreise bilden. Diese
Henry und Maria van de Veldes künstlerische Allianzen für das Reformkleid
331
Besätze und historische Aufnahmen lassen einige
van de Velde belegen. Anhand dieser Aufnahmen wird
interessante Rückschlüsse auf die Art der Anfertigung
ersichtlich, dass es zwei Varianten des Kleides gab.
des Kleides zu. So sind die Besätze des Teekleides mit
So existierte eine kurzärmelige Variante mit Puff
den traditionellen Sticktechniken des Schnurstichs34 und
ärmeln, die bis zu den Ellenbogen reichten und deren
der Kurbelstickerei verziert. Nach dem beinahe erfolgten
zugehörige Manschetten vollständig erhalten sind.
Niedergang der Stickerei im Bereich der Damenmode bis
Diese leichtere Variante des Kleides war vermutlich für
Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte diese Handwerks-
wärmere Jahreszeiten gedacht. Ferner gab es eine
kunst gegen Ende desselben Jahrhunderts erneut eine
langärmelige Variante mit kurzen, vorne offenen und
kurze Blüte, was nicht zuletzt auf zeitgenössische
an der Schulter – analog den Puffärmeln – in Falten
Anleitungen zur Herstellung solcher Textilien zurückzu-
gelegten Ärmeln. Diese sind entlang aller Kanten mit
führen ist.36 Zudem führte die Erfindung der Kurbelstick-
einer Rüsche versehen, die auch den Halsausschnitt
maschine um 1850 zur Vereinfachung dieser vormals
beider Varianten ziert. Unter diesen Ärmeln trug Maria
aufwendigen Technik. Für Buntstickereien auf Seide
van de Velde lange, geraffte Ärmel, die offenbar aus
fanden üblicherweise kurzflorige Samte Verwendung.
der gleichen Seidengaze (vermutlich einem Seidenor-
Wie bereits beschrieben, war das Teekleid von Maria
ganza) gefertigt waren. Diese Variante war vermutlich
van de Velde aus Liberty-Samt gefertigt. Analog der
für formelle Gelegenheiten, wie den Empfang von
Empfehlung zeitgenössischer Quellen wurde für die
Gästen im häuslichen Umfeld, geeignet. Der im Vorfeld
Stickerei eine Unterlage gewählt , damit die Stickerei
beschriebene Zeitaufwand, aber auch die Menge an
wie gewünscht zur Geltung kam und nicht zwischen
benötigtem Material lassen den Schluss zu, dass es
dem Samtflor versank und somit ein unsauberes Bild
sich nicht um zwei vollständig ausgeführte Versionen
entstand. Trotz des relativ kurzflorig erscheinenden
des Kleides handelt. Vielmehr ist anzunehmen, dass
Samtes wurde durchscheinende Seidengaze benutzt, die
die Ärmel austauschbar waren. Da es sich bei dem
neben dem Effekt der Transparenz auch ein zusätzliches
bestickten Bereich von Halsausschnitt und Schulter-
Farbenspiel erlaubte. Auch wenn es zunächst den
partie nicht um ein rein dekoratives Element handelt,
Anschein hat, dass es sich um bestickte applizierte Gaze
wird hier der Ansatz der Ärmel am Kleid vollständig
handelt, so ist – wie bei der Buntstickerei auf Samt
verdeckt. Ein Befestigungsmechanismus für die Ärmel
üblich – die Arbeit klassisch durch den Samt und eine
mittels Haken und Ösen oder zum Knöpfen erscheint
zusätzliche Unterlage ausgeführt. Obwohl nur einzelne
durchaus plausibel. Leider sind durch verschiedene
Partien am Kleid bestickt sind, muss davon ausgegangen
Veränderungen im Bereich des Halsausschnittes am
werden, dass die vollflächige Stickerei sehr zeitaufwen-
Originalbesatz keine Spuren erkennbar, die diese
dig war. So benötigte man allein für die Stickerei einer
Vermutung stützen. Allerdings konnte diese Annahme
ornamentalen Welle am Saumbereich etwa einen Tag.
mittels eines extra angefertigten Modells der Halsaus-
33
35
37
38
39
Darüber hinaus war die Arbeit physisch anstrengend, da
schnitt-Ärmel-Partie bestärkt werden.40 Der bestickte
der Samt jeweils flächendeckend bestickt wurde und als
Teil um Halsausschnitt und Schultern macht gleichzei-
sehr dichter und fester Stickgrund schwierig zu durch
tig einen Großteil des Kleidoberteils aus. Der im
stechen ist.
Bereich der Falten bis zu fünf Lagen Samt umfassende
Auch die Schnitttechnik des Kleides war sehr durchdacht, wie die zahlreichen Fotografien von Maria
332
Antje Neumann und Laura Petzold
Rockteil ist auf Vorder- und Rückseite fest mit dem bestickten Abschnitt um Hals und Schultern verbun-
Abb. 6: Henry van de Velde (Entwurf) und Maria van de Velde (Ausführung), Kragen, Manschetten und Saum eines Teekleides (Baumwolle, Seide, Messing; Applikationen, Kurbelstickerei, Schnurstich), um 1896, Museum für Gestaltung Zürich, Kunstgewerbesammlung, KGS-1958–82, 1–4
Henry und Maria van de Veldes künstlerische Allianzen für das Reformkleid
333
Anm erkungen
den. Für die saubere Ausführung dieser Verbindungsnaht war vermutlich eine professionelle Damenschneiderin verantwortlich.41 Die Verarbeitung der Verbindung von bestickter Halsausschnitt-SchulterPartie mit dem Rockteil weist zudem eine große Ähnlichkeit mit dem für Sophie Herrmann entworfenen Kleid auf.42 Die historischen Fotografien von Maria van de Velde geben neben der Stickerei zu erkennen, wie wichtig der Fall der Falten und damit die Wechselwirkung von Licht und Schatten für den Gesamteindruck des Kleides waren. Der Rockteil des Kleides ist auf Höhe der Taille in seiner Weite leicht eingehalten. Versuche am Modell haben gezeigt, dass innen vermutlich ein Taillenband angebracht war, das innerhalb der Falten der Rückenpartie verlief. Auf diese Weise wurden die Falten im Rückenteil (Abb. 5), die zusätzlich den Verschluss in der Mitte verdeckten und an eine robe à la française erinnern, in Position gehalten. Nicht nur die betont qualitativ hochwertige
1
„Die Kleider müssen vor allem gut gemacht sein, und der schön-
ste Entwurf bleibt eine klägliche Sache, wenn nicht das Genie des ‚guten Zuschneiders‘, der ‚vortrefflichen Näherin‘ und die Feenhände der ‚bonne couturière‘ am Werk sind.“ Henry van de Velde: Geschichte meines Lebens, München 1962, S. 154.
2
Henry van de Veldes textilkünstlerisches Œuvre wurde 2014 im
Rahmen des mehrjährigen Forschungsprojektes der Klassik Stiftung Weimar zum Gesamtwerk des Künstlers publiziert. Vgl. Thomas Föhl und Antje Neumann (Hg.): Henry van de Velde – Raumkunst und Kunsthandwerk / Interior Design and Decorative Arts. Ein Werkverzeichnis in sechs Bänden / A catalogue raisonné in six volumes, Band II: Textilien / Volume II: Textiles, Leipzig 2014.
3
Van Halle war zwischen 1838 bis 1878 in Antwerpen als
Hersteller von Paramenten tätig und firmierte unter der Bezeichnung „Fabrique de Broderies en Or et Ornements d’Église“. Er besaß eine Niederlassung in Brüssel und erwarb zahlreiche Medaillen auf Ausstellungen. Vgl. Annemie Van Dyck: Kerkelijk textiel in Vlaanderen en Brussel in de 19de en 20ste eeuw, Centrum voor religieuze kunst en cultuur, Heverlee 2009, S. 71.
4
„Mais si le compagnon n’était pas fils de maître, on exigeait de lui
conférer le titre ‚maître brodeur‘ une histoire entière où il y ait plusieurs personnages. (Livre des métiers d’Étienne Boileau, prévôt des marchands de 1258 à 1268)“, in: Les XX Bruxelles. Catalogue de la dixième exposition annuelle, février 1893, Ausst.-Kat. Les XX, Brüssel 1893, o. S.
Kombination alter und neuer Techniken, die Verwen-
5 6 7
dung der neuen und europaweit geschätzten Materia-
Kessler: Das Tagebuch 1880–1937, Bd. 3: 1897–1905, hg. v. Carina
Ausführung, sondern auch die Art und Weise der
lien, hier insbesondere der Liberty-Samt, aber auch die Reminiszenzen an historische Kleiderschnitte trotz der neuartigen Reformmode sind besondere Merkmale dieses Kleides, das gemeinschaftlich von Henry und Maria van de Velde konzipiert und ausgeführt wurde. Die Rekonstruktion eines weitaus näher am Original befindlichen Kleides ist ab April 2019 in der neu konzipierten Dauerausstellung im Neuen Museum in Weimar zu sehen.
Van de Velde 1962 (wie Anm. 1), S. 68. Föhl/Neumann 2014 (wie Anm. 2), Nr. II.1.1.4, S. 7, 40, 41. Harry Graf Kessler, Eintrag vom 22.3.1898, in: Harry Graf
Schäfer und Gabriele Biedermann, Stuttgart 2004, S. 132.
8
Album moderner, nach Künstler-Entwürfen ausgeführter Da-
menkleider. Mit Einleitung von Frau Maria van de Velde, Uccle-Brüssel, Düsseldorf 1900, o. S.; Album de robes de dames exécutées d’après des projets d’artistes modernes. Avec préface de Madame Maria van de Velde, Uccle-Bruxelles, Düsseldorf 1900, o. S.; Maria van de Velde: Sonderausstellung moderner Damenkostüme, in: Dekorative Kunst, Bd. 4, 1901, H. 1, S. 41–47.
9
Harry Graf Kessler, Eintrag vom 8.3.1901, in: Kessler 2004 (wie
Anm. 7), S. 399.
10 11
Ebd. Henry van de Velde an Friedrich Deneken, 1.12.1902, Kaiser
Wilhelm Museum (fortan KWM), XI., Bl. 291.
12
Henry van de Velde: Die künstlerische Hebung der Frauen-
tracht, Krefeld 1900, S. 33.
13 14
Ebd. Ebd., S. 30, 31; H.F. [Verfasser unbekannt]: Die Reform der
Frauenkleidung, in: Sport & Salon, Wien, 14.3.1901, S. 15.
15
Henry van de Velde: Das neue Kunst-Prinzip in der modernen Frauen-
Kleidung, in: Deutsche Kunst und Dekoration, Bd. 5, 1902, H. 10, S. 367.
334
Antje Neumann und Laura Petzold
16
Harry Graf Kessler, Eintrag vom 29.7.1900, in: Kessler 2004
langen Vorstiche auf der Vorderseite im rechten Winkel umstochen.
(wie Anm. 7), S. 308.
Um der gewünschten Linie mehr Volumen zu verleihen, kann, wie auch
17
bei den Besätzen des Teekleides, ein zusätzlicher Faden in der ge-
Henry van de Velde an Friedrich Deneken, 29.4.1900, KWM,
XI., Bl. 41, 42.
wünschten Stärke mit eingelegt werden. Siehe auch Thérèse de Dill-
18
mont: Encyklopädie der weiblichen Handarbeiten, neue verm. und
„Je vais faire couper un modèle en mousseline que je vous en-
verrai et que vous ferez essayer et corriger sur vous. Ensuite vous me le
verb. Ausg., Ndr. der Ausg. von 1908, Ravensburg 1983.
renverrez et Henry dessinera les broderies dessus. Quand cela sera fait
35
je vous conseille beaucoup de vous laisser renvoyer le modèle par votre
reich verwendet. Marianne Stradal und Ulrike Brommer: Mit Nadel und
couturière. Je vous dirai à quel point elle devra être achevé afin que
Faden durch die Jahrhunderte, aus der Kulturgeschichte vom Sticken,
vous puissiez l’envoyer ici pour faire appliquer les broderies.“ Maria van
Stricken und Häkeln, Heidenheim o. J., S. 127. Buntstickerei auf Samt
de Velde an Sophie Herrmann, 13.11.1898, Privatbesitz.
wurde in dieser Zeit besonders für die Anfertigung von Paramenten
19 20 21
Föhl/Neumann 2014 (wie Anm. 2), Nr. II.1.1.7, S. 17–21, 44–47.
eingesetzt. Die Verwendung für festliche Damenmode kann daher na-
Ebd., Nr. II.1.1.19, S. 16, 17, 19, 64.
hezu als Neuerung angesehen werden.
Ebd., Nr. II.1.1.34, S. 20, 21, 82, 83, 93; Die Neue Frauenklei-
36
Stickerei wurde im 19. Jahrhundert vorrangig für den Heimbe-
Die Erstausgabe von Thérèse de Dillmonts Encyklopädie der
dung, Nr. 2, April 1907, S. 4, Abb. III.
weiblichen Handarbeiten erschien 1886. Bereits 1908 wurde eine neue
22 23 24 25
Van de Velde 1962 (wie Anm. 1), S. 154.
vermehrte und verbesserte Ausgabe herausgegeben. Wie das 1882
Ebd.
von A. W. Cowan in London herausgegebene The Dictionary of Needle-
Album 1900 (wie Anm. 8), o. S.
work: An Encyclopedia of Artistic, Plain, and Fancy Needlework, das bereits
Friedrich Deneken an Henry van de Velde, 16.8.1900, Abschrift,
1887 in einer neuen Auflage von S. F. A. Caulfeild und Blanche C. Sa-
KWM, XI., Bl. 111.
ward publiziert wurde, handelte es sich um Standardwerke zur Anlei-
26
tung weiblicher Handarbeiten, insbesondere der unterschiedlichen
Maria van de Velde an Friedrich Deneken, 17.9.1900, KWM, XI.,
Bl. 119.
Stickerei-Techniken, für den anspruchsvollen Hausgebrauch sowie zur
27
Anfertigung von Paramenten.
Henry van de Velde: Die künstlerische Hebung der Frauen-
tracht, Krefeld 1900.
37
28
handelte es sich in der Regel um reine Seidensamte oder um Samte mit
Henry van de Velde: Die Renaissance im modernen Kunstge-
Föhl/Neumann 2014 (wie Anm. 2), S. 32. Bei Liberty-Samten
werbe, Berlin 1901.
Baumwollgrund und Seidenflor, wie sie in der Zeit um 1900 weit ver-
29
breitet waren. Auf den Fotografien ist der Samt als relativ kurzflorig zu
Henry van de Velde: Das neue Kunst-Prinzip in der modernen
Frauen-Kleidung, in: Deutsche Kunst und Dekoration, Bd. 10, 1902,
erkennen.
S. 363–371.
38 39
30
Henry van de Velde an Friedrich Deneken, 13.8.1900, KWM,
Dillmont 1983 (wie Anm. 34), S. 150. Auf den Saumumfang von 356 cm entfallen 35 Ornamente,
XI., Bl. 107.
ähnlich dem wellenartigen Motiv „Laufender Hund“.
31
40
Siehe hierzu: Auf Freiheit zugeschnitten. Das Künstlerkleid um
Als Grundlage zur Anfertigung des Modells dienten in erster Li-
1900 in Mode, Kunst und Gesellschaft, hg. von Inga Ewers-Schultz und
nie die abgenommenen Maße der original erhaltenen Besätze sowie die
Magdalena Holzhey, Ausst.-Kat. Kunstmuseen Krefeld, Kaiser Wilhelm
historischen Fotografien, die Maria van de Velde in dem Teekleid zeigen.
Museum, München 2018.
Zur Feststellung der Kleiderlänge ermittelte Antje Neumann anhand er-
32 33
Föhl/Neumann 2014 (wie Anm. 2), S. 19.
haltener Möbel und Architekturelemente nach Entwurf Henry van de
Von allen Kleidern nach Entwurf Henry van de Veldes sind le-
Veldes außerdem die ungefähre Körpergröße Maria van de Veldes.
diglich einzelne Teile, zumeist die bestickten Partien wie Halsaus-
41
schnitte mit Verschlüssen, Ärmelmanschetten oder Saumbereiche,
festes Material. Allerdings ist er durch den Flor, der leicht verpresst wer-
überliefert.
den kann, gleichzeitig ein Material mit sehr empfindlicher Oberfläche,
34
das das Beseitigen von Fehlern bei der Verarbeitung nicht ohne Weite-
Beim Schnurstich wird die gewünschte Form mit Vorstichen in
Samt mit gewebtem Grund ist zwar meist ein äußerst dickes und
Linien auf den Stickgrund gestickt, wobei der Faden nur über sehr kurze
res zulässt.
Strecken durch das Gewebe geführt wird. Anschließend werden die
42
Föhl/Neumann 2014 (wie Anm. 2), Nr. II.1.1.19, S. 64.
Henry und Maria van de Veldes künstlerische Allianzen für das Reformkleid
335
genannt. Wie gestaltete sich aber diese Zusammenarbeit zwischen dem etablierten älteren deutschen Maler und der jungen begabten polnischen Künstlerin, und was war modern in ihren Werken? Max Wislicenus, der aus einer Künstlerfamilie stammte, durchlief einen für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts typischen Werdegang eines Künstlers.3 Geboren in Weimar, studierte er in den 1880er Jahren an der Düsseldorfer Kunstakademie, ging dann
Kreative Zusammenarbeit oder künstlerische Abhängigkeit? Die Bildteppichweberei des deutsch-polnischen Künstlerpaares Max Wislicenus und Wanda Bibrowicz Katarzyna Sonntag
nach München und gehörte der dortigen Sezession an, bevor er 1896 an die Königliche Kunst- und Kunstgewerbeschule zu Breslau berufen wurde. Hier lehrte er unter anderem Freihandzeichnen an dem Seminar für Zeichenlehrer und Zeichenlehrerinnen, wo er die 17 Jahre jüngere Wanda Bibrowicz kennenlernte. Diese wollte Porträtmalerin werden. Sie kam aus ihrer Geburtsstadt Grätz (heute Grodzisk Wielkopolski) zum Kunststudium nach Breslau, da die dortige Kunstschule als eine der wenigen im deutschsprachigen Raum schon Ende des 19. Jahrhunderts den Frauen Zugang zur künstlerischen Ausbildung ermöglichte.4 Zum Wintersemester 1902/03 wurde der Berliner Architekt Hans Poelzig zum neuen Schuldirek-
Kaum jemand kennt das deutsch-polnische
tor an der Breslauer Kunstschule berufen.5 Angeregt
Künstlerpaar Max Wislicenus und Wanda Bibrowicz,
durch die Ideen seines Vorgängers Hermann Adolf
das Anfang des 20. Jahrhunderts die Bildteppichwirke-
Kühn, führte er 1904 ein innovatives Ausbildungssys-
rei zu modernisieren versuchte. Nach ihrem Tod sind
tem für Kunststudenten und -studentinnen ein. Diese
beide in Vergessenheit geraten, obwohl sie zu Lebzei-
sollten nun gleichzeitig unter der Leitung eines
ten zu den viel beachteten Textilkünstlern in Deutsch-
Künstlers und einer Lehrkraft in einer handwerklich
land gehörten.1 Sie gründeten 1904 an der Königlichen
ausgerichteten Werkstatt lernen.6 Später wurde das
Kunst- und Kunstgewerbeschule zu Breslau (heute
Bauhaus für diese Ausbildungsmethode bekannt.7
Wrocław in Polen) eine der ersten ‚modernen‘ Werk-
Zum Professor für die neu eingerichtete Klasse
stätten für Bildteppichwirkerei in Deutschland.2 Ihr
für Textilkunst wurde der Maler Max Wislicenus
Anliegen war es, diese jahrhundertealte Kunstgattung
nominiert. Wanda Bibrowicz wurde seine Assistentin,
zu erneuern, indem sie zeitgemäße neue figürliche
die für den praktischen Unterricht zuständig war. Da
Muster entwickelten. In den fast 50 Jahren ihrer
aber die beiden Künstler bis dahin keine Erfahrung mit
gemeinsamen Arbeit entstanden hunderte figürliche
der Textilkunst und Weberei hatten, mussten sie sich
Bildwirkereien, auch Gobelin, Tapisserie oder Arazzo
diese damals kaum praktizierten Techniken selbst
Die Bildteppichweberei des deutsch-polnischen Künstlerpaares Max Wislicenus und Wanda Bibrowicz
337
beibringen. Zwar gab es in Deutschland noch im 18. und 19. Jahrhundert in vielen Großstädten eine Bildwirkerei- beziehungsweise Gobelin-Manufaktur, aber am Anfang des 20. Jahrhunderts waren sie bereits eine Seltenheit.8 Zuerst begaben sich Wislicenus und Bibrowicz auf eine mehrmonatige gemeinsame Ausbildungsreise durch Deutschland, Dänemark und Schweden, während der sie die Web- und Textilkunst in zahlreichen Museen studierten. Wanda Bibrowicz hatte zusätzlich in Berlin die ersten technischen Unterweisungen erhalten.9 Diese Ausbildungsreise bildete eine Grundlage, um ihre eigene individuelle Lehrmethode auszuarbeiten. Bald darauf hieß es: „Man weiß […], daß Professor Max Wislicenus die Entwürfe für die großen Wandteppiche […] gezeichnet hat. Wenige aber haben von Wanda Bibrowicz gehört. Und doch ist sie es, die all den schönen Dingen der Breslauer Kunstweberei die materielle Form gegeben hat. Sie ist eine ausgezeichnete Technikerin […].“ Dieses Zitat aus der 10
Stickerei-Zeitung sagt einiges über der Aufgabenteilung
Abb. 1.: Max Wislicenus (Entwurf), Wanda Bibrowicz (Ausführung), Der Pelikan, 1904, Wolle gewirkt, Maße unbekannt, verschollen
in der Textilkunst damals. Der Mann übernahm das Entwerfen einer Bildwirkerei, was viel mit dem Entstehungsprozess eines Gemäldes zu tun hat.11
der Ausführung mancher Projekte halfen. Damit
Maler wie Raffael oder Rubens entwarfen Tapisserien.
tradierte die Schule, trotz vieler innovativer Ansätze,
Künstler führten auch die wichtigsten Gobelin-Manu-
die gängige Rollen- und Aufgabenzuweisung an die
fakturen. Die Bildwirkereien galten als die edelsten
Geschlechter.
und teuersten Kunstgattungen, auch wegen der hohen
338
1904 nahm die Fachklasse für Textilkunst die
Materialkosten sowie des großen Arbeits- und
Arbeit auf, und schon im selben Jahr wurden ihre
Zeitaufwandes.12 Daher war das Entwerfen der
Werke in der Kunstgewerbeausstellung Das Einfamili-
Webteppiche eines männlichen Künstlers würdig,
enhaus in Breslau ausgestellt.14 In dem von Hans
obwohl die textile Kunstfertigkeit allgemein weiblich
Poelzig entworfenen Haus wurden Arbeiten mehrerer
konnotiert war. Die manuelle Arbeit am Webstuhl
Schulwerkstätten präsentiert, darunter auch die ersten
wurde meist weiblichen Hilfskräften überlassen.
Bildwirkereien der Textilklasse, wie etwa Der Pelikan
13
An der Breslauer Kunstschule war Wanda Bibrowicz
(Abb. 1), entworfen von Max Wislicenus und ausge-
für die praktische Ausführung der Webteppichent-
führt von Wanda Bibrowicz.15 Zu dieser Arbeit schrieb
würfe von Wislicenus zuständig. Sie betreute außer-
Horst Riemer 1947: „In jenem auf grober Kette geweb-
dem die Schülerinnen in der Schulwerkstatt, die bei
ten, großzügig stilisierten, auf Grau und Rosa gestimm-
Katarzyna Sonntag
ten Wandteppich ‚Pelikan‘ fand das künstlerische Glaubensbekenntnis von Wislicenus seinen ersten Ausdruck. Wir dürfen heute nicht vergessen, daß die ganze frühe Wirkerei, die Wislicenus schuf, für die damalige Zeit eine Kühnheit bedeutete, der zunächst selbst Hans Poelzig kopfschüttelnd gegenüberstand, um nach Jahren, wie uns Alfred Schellenberg überliefert hat, zu bekennen, daß z. B. dieser Teppich seiner Zeit weit voraus war.“16 Der Webteppich Pelikan war, wie das Zitat andeutet, sehr radikal für die damalige Zeit. Er war
Abb. 2: Wanda Bibrowicz (Entwurf und Ausführung), Junge Störche, 1904, Wolle gewirkt, ca. 40 x 80 cm, verschollen
streng geometrisch und auf die wesentlichen Elemente reduziert. Das gleiche Thema – Vögel – jedoch anders aufgefasst, wählte auch Wanda Bibrowicz. Sie entwarf
sische Gobelin, das gewebte Bild mit Tiefenwirkung
für dieselbe Ausstellung Junge Störche (Abb. 2) einen
[wie ein Gemälde], schwebte allgemein als Ideal vor.
Webteppich für ein Kinderzimmer. Durch die gerunde-
Mir erschien der gotische Bildteppich als Vorbild, ein
ten Linien der Vogelkörper ist diese Arbeit naturnäher
buntes Nebeneinander von flachwirkenden Figuren,
als der Pelikan von Wislicenus, trotzdem ist das Tier
klar die Wandfläche wahrend, den Forderungen der
ähnlich flach aufgefasst, nur im Vordergrund gehalten
Technik angepaßt, ja aus ihnen heraus geboren, eine
und auf die wichtigsten Grundformen reduziert.
Kunst, die nur so entstehen konnte, daß der Künstler
Folglich benutzten die beiden Künstler schon damals
Weber und der Weber Künstler war. Engstes Zusam-
eine ähnliche Formsprache.
menwirken von Idee und Ausführung schwebte mir
In seinen Erinnerungen schreibt Wislicenus
vor.“19 In dieser Aussage offenbart Wislicenus, dass
1954, dass Bibrowicz die Entdeckerin „des flächenhaf-
seine künstlerischen Wurzeln im 19. Jahrhundert
ten Stils, wie ihn einst die Gotik als Stilprinzip aufstell-
liegen, als die Kunst des Mittelalters, vor allem der
te“17, sei. „Die Flächigkeit ist dem Wandteppich ein
Gotik, zum Vorbild genommen wurde und man die
unumstößliches, formales Gesetz“, das bisher wenig
Erneuerung und Vereinigung der Künste und des
Beachtung gefunden habe.18 Der formale Stil der
Handwerks anstrebte. Gleichzeitig sind schon bei
modernen Webteppiche resultierte also vor allem aus
diesen ersten Webteppichen der beiden Künstler
der Webtechnik. Mit ‚modern‘ ist hier ‚nicht historis-
charakteristische Elemente der Kunst der späteren so
tisch‘, fortschrittlich und neuartig in der Gestaltung
genannten klassischen Moderne erkennbar, wie etwa
gemeint. Die charakteristische flächige Auffassung des
die Arbeit mit der Fläche und die ‚Ehrlichkeit‘ von
Themas ohne perspektivische Tiefentäuschung, die für
Material und Technik.
die Gobelinweberei seit der Renaissancezeit typisch
Der Kunstkritiker Horst Riemer konstatierte 1947
war, sowie die Reduktion auf die wichtigsten Elemente
zu dieser Entwurfsmethode: „Mit dieser Entscheidung
schien 1904 besonders progressiv. Wislicenus und
zugunsten der gotischen Formtendenzen, die den
Bibrowicz beriefen sich hierbei auf mittelalterliche
Wandbehang als wand – b e t o n e n d und nicht als
Vorbilder. 1920 schrieb Wislicenus dazu: „Der franzö-
wand – a u f l ö s e n d oder gar wand – v e r n e i n e n d ,
Die Bildteppichweberei des deutsch-polnischen Künstlerpaares Max Wislicenus und Wanda Bibrowicz
339
Abb. 3: Max Wislicenus (Entwurf), Wanda Bibrowicz (Ausführung), Tanz, 1911, Wolle und Metallfaden gewirkt, 299 x 299 cm, hergestellt für den Festsaal im Regierungsgebäude zu Breslau, heute im Muzeum Narodowe w Warszawie (Nationalmuseum in Warschau)
als das Teppichbild f l ä c h e n h a f t – d e ko r a t i v
beherrscht hatte“20. Es lässt sich behaupten, dass es
auffaßte, trat Wislicenus in krassen Gegensatz zu dem
sich um moderne Webteppiche handelte, obwohl sie
perspektivischen, raumillusionistischen Stil, wie er in
immer noch figürlich und nur partiell (im Detail)
Abhängigkeit von der Malerei den Wandteppich der
abstrakte Elemente aufwiesen.
Spätrenaissance, wie auch die Gobelins des Barock
340
Nach diesem ersten Erfolg kamen andere
und Rokoko bis zu den mit Tiefenwirkungen arbeiten-
gemeinsame Projekte, wie 1906 die textile Ausstat-
den Gobelins der zeitgenössischen Manufakturen
tung des von Hans Poelzig umgebauten Trauungszim-
Katarzyna Sonntag
mers im Löwenberger Rathaus oder 1911 der knapp 3
künstlerisch aufgeschlossene Gesellschaft im Riesen-
mal 3 Meter große Wandteppich Tanz für die Regie-
gebirge, die Befreiung von gesellschaftlichen Konven-
rungsgebäude in Breslau (Abb. 3). 1914 zeigte das
tionen und die Nähe der unberührten Natur begüns-
Paar seine Wirkereien auf der großen Werkbund-Aus-
tigten die künstlerische Entwicklung von Bibrowicz. In
stellung in Köln. Sieben davon hingen im Raum
Schreiberhau schuf sie ihre ersten eigenständigen
„Schlesien“, andere, kleinere im „Haus der Frau“.21
großformatigen Webteppiche mit animalischer und
In den folgenden Jahren entwarf Wislicenus vor
religiöser Thematik, wie Weißer Hirsch, Heiliger Hierony-
allem großformatige allegorische und mythologische
mus oder Heiliger Franziskus (Abb. 4).24 Die letzteren
Webteppiche mit Frauengestalten, wie Hexe, Venus
charakterisierte Felix Zimmermann wie folgt: „[Sie]
oder Diana. Sie wurden hauptsächlich von Wanda
sind Schöpfungen von reinem, legendärem Gehalt, aus
Bibrowicz oder unter ihrer Leitung gewebt. Sie selbst
kindlich ‚gotischem‘ Geiste gläubig erzählt und mit
entwarf eigene Muster für die Webteppiche. Allerdings
dem leisen Humor der paradiesischen Einheit von
bevorzugte sie ein anderes Thema – etwa Tierdarstel-
Mensch und Tier erfüllt. […] Es lebt ein Poet in Wanda
lungen – und wählte ein kleineres Format. Sie schuf
Bibrowicz, der ein Bilderbuch voll Naturatems und
mehrere Bildwirkereien, die vor allem symmetrisch
entrückten Gestaltungzaubers an die Wände webt.“25
komponierte Tiere und Pflanzen zeigten, wie Katzen-
Der Bezug zur mittelalterlichen Kunst wird hier
baum oder Hasentanne und naturnahe Kompositionen
deutlich betont. In der Themenauswahl ist das wach-
mit Tieren (Hasen). Damit knüpfte sie stilistisch an die
sende Interesse Bibrowicz̕’ für Natur und Religion zu
in der Volkskunst beliebten Motive, an die mittelalterli-
bemerken.
chen Verdüren mit Tieren sowie an die Muster der
Auf dem großformatigen (2,4 mal 2 Meter)
orientalischen Knüpfteppiche und polnischen Kelims
Wandteppich Heiliger Franziskus schien Wanda
an. Gleichzeitig griff sie die Themen auf (Tiere und
Bibrowicz zwei Heiligenfiguren in einer zu vereinen –
Pflanzen), die als typisch für eine ‚Frauenkunst‘
Franziskus von Assisi, der den Vögeln predigte, und
galten.22
Antonius von Padua, der laut Legende den Fischen von
1911 gab Wanda Bibrowicz ihre Assistenzstelle
Gott erzählte.26 Der barfüßige Heilige in brauner Kutte
an der Breslauer Kunstschule auf und machte sich
predigt hier auch den Seehunden, Pinguinen, Pelika-
selbstständig. Es mögen persönliche Gründe dazu
nen, Eidechsen und Möwen. Damit wird auf diesem
beigetragen haben, dass die Künstlerin die schlesische
Webteppich die Tierwelt der Erde, der Luft und des
Metropole verließ, um mit ihrer Mutter und Schwester
Wassers symbolisch vereint präsentiert und ein neues
in Schreiberhau im Riesengebirge ihre eigene Web-
ikonografisches Modell geschaffen. Das Wasser im
werkstatt mit einer kleinen Verkaufsgalerie zu grün-
Hintergrund ist ganz flach gehalten und gleichausse-
den – die Schlesische Werkstätte für die Kunstwebe-
hende Fische springen rhythmisch aus den Wellen.
rei, wo sie auch Weberinnen auf Hochwebstühlen
Dies ähnelt dem Rapport eines dekorativen Stoffes
ausbildete. Trotz anfänglicher finanzieller Schwierigkei-
oder einer Tapete. Dem Gebot der ‚Material-Ehrlich-
ten betrieb sie diese bis Ende des Ersten Weltkrieges.
keit‘ beziehungsweise der ‚Material-Zurschaustellung‘,
Damals gab es in Schreiberhau eine Künstlerko-
das Anfang des 20. Jahrhunderts postuliert wurde,
lonie um die Brüder Carl und Gerhart Hauptmann, mit
wird hiermit entsprochen. Alles umfasst und begrenzt
denen Wanda Bibrowicz befreundet war. Die
eine Borte mit abstrahierendem Muster und der
23
Die Bildteppichweberei des deutsch-polnischen Künstlerpaares Max Wislicenus und Wanda Bibrowicz
341
Abb. 4: Wanda Bibrowicz (Entwurf und Ausführung), Heiliger Franziskus, 1914, Wolle und Metallfaden gewirkt, 240 x 200 cm, hergestellt in der Schlesischen Werkstätte für die Kunstweberei, heute im Muzeum Narodowe w Warszawie (Nationalmuseum in Warschau)
342
Signatur mit Entstehungsdatum. Der Teppich ist
nen – flach, ohne eine Raumillusion, dennoch dekora-
äußerst komplex komponiert, weist zahlreiche Details
tiv, innovativ in der Auffassung des Themas und farbig
auf, wirkt aber dennoch flach (ohne die Absicht, eine
auf wenige Töne beschränkt.
Tiefenwirkung vorzutäuschen). Damit lässt sich das
Durch Unterstützung von Poelzig und Wislice-
Werk als moderner figürlicher Webteppich bezeich-
nus, mit denen Wanda Bibrowicz auch im Riesenge-
Katarzyna Sonntag
birge weiterhin regen Kontakt unterhielt und die sie
angewiesen: Wanda Bibrowicz entwarf die großformati-
öfters besuchten, bekam die Künstlerin einen wichti-
gen Webteppiche für die Gartenbauschule in Pillnitz,
gen staatlichen Auftrag für einen Fries großformatiger
für die Forstschule in Freital und für das Rathaus von
Bildwirkereien für den Kreissaal im Rathaus von
Plauen. Sie verband hier weiterhin menschliche Figuren
Ratzeburg. Dieser monumentale 60 Quadratmeter
mit Flora und Fauna, wie beispielweise in der Wirkerei
große Wandteppich-Zyklus gilt als ihre größte eigen-
Das Mädchen mit dem Lamm (Abb. 5). Mit der Zeit
ständige Arbeit. Damit etablierte sie sich als Urheberin
wurden die Linien ihrer gewebten Bilder immer redu-
komplexer dekorativer Szenen mit Menschen, Tieren,
zierter, geometrischer und kantiger, was einerseits der
Pflanzen und Landschaften. Für diese Arbeit bekam sie
holzschnittartigen Ästhetik der expressionistischen
30.000 Mark zugesichert, die jedoch durch die
Malerei und Grafik nahe kam und anderseits dem
Inflation nach dem Krieg ihren Wert verloren, wodurch
aufkommenden Art Déco entsprach. Auch Wislicenus
sie um ihre wirtschaftliche Existenz kämpfen musste.
verließ die Jugendstilästhetik und schuf mehrere
27
Durch die Vermittlung von Poelzig, der 1916
figürliche, dekorative Bildwirkereien im neuen Art Déco
Stadtbaumeister in Dresden wurde, kamen Bibrowicz
oder im expressionistischen Stil, wie Schwerttänzerin
und Wislicenus 1919 nach Sachsen.28 Das Sächsische
(Salome oder Judith) (Abb. 6), Drei Grazien oder Amor.
Wirtschaftsministerium, bemüht der führenden
1926 versuchte Marie Frommer, in einer Kritik
Textilindustrie im Lande neue künstlerische Impulse zu
die individuellen Merkmale der Künstler zu bestim-
geben, hatte das deutsch-polnische Künstlerpaar
men: „Im Kompositionsprinzip gehen beide Künstler
eingeladen.29 Wislicenus und Bibrowicz bezogen
auf den gotischen Wandteppich zurück. […] Trotz der
Räume in der ehemaligen königlichen Sommerresidenz
gemeinsamen Schaffensgrundlage sind die Tempera-
in Schloss Pillnitz bei Dresden und gründeten die
mente der beiden Künstler von prägender charakteris-
Werkstätten für die Bildwirkerei Schloss Pillnitz. Um
tischer Unterschiedlichkeit und äußern sich ganz
die beiden Künstler der Öffentlichkeit vorzustellen,
individuell in ihren Arbeiten. Max Wislicenus ist üppig
organisierte der Sächsische Kunstverein 1920 eine
in der Bewegung, sinnlich in der Farbe. Seine Motive
Ausstellung ihres bisherigen künstlerischen Schaf-
sind phantastisch, symbolisch, sein Aufbau bewegt,
fens.30 In der fast dreißigjährigen Tätigkeit der Pillnitzer
reich gegliedert. Er arbeitet gern in Gegensätzen, spielt
Tapisserie-Manufaktur (mit einer Zwangspause im
Bewegung und Gegenbewegung musikalisch gegenei-
Zweiten Weltkrieg) wurden zahlreiche Webteppiche
nander aus, bevorzugt die Farbendominante: ein Rot,
hergestellt und etliche Weberinnen ausgebildet. In
ein Grün oder ein Gelb schreit und zuckt durch eine
Pillnitz arbeiteten Bibrowicz und Wislicenus nahezu
Arbeit hindurch […]. Wanda Bibrowicz empfindet
gleichberechtigt an den Aufgaben. Je nach Thema
herber. Ihr Ausdruck sucht die letzte Vereinfachung
übernahmen er oder sie den Auftrag und fertigten
der Linie. Ihre Farbgebung ist wunderbar leuchtend,
Entwürfe an, wobei die praktische Ausführung aller
dabei symphonisch klangrein abgestuft. Sie hat
Entwürfe weiterhin Wanda Bibrowicz und ihren
unvergleichliche Tierteppiche geschaffen voll Reinheit
Schülerinnen überlassen blieb.
der Form und Einfachheit des Umrisses, dabei voll
Da die Bildteppichweberei eine sehr kostspielige,
tiefster Nachfühlung der Linien und eines Tierkör-
material- und zeitintensive Kunst ist, war die Werk-
pers.“31 Die subjektive Aussage von Frommer, dass
stätte auf staatliche Unterstützung durch Aufträge
Bibrowicz „herber“ empfindet, scheint hier eine
Die Bildteppichweberei des deutsch-polnischen Künstlerpaares Max Wislicenus und Wanda Bibrowicz
343
Wertung darzustellen, die heute nicht mehr nachvollziehbar ist. Beim Vergleich der Entwürfe der beiden Künstler aus den 1920er Jahren fällt auf, dass die von Wislicenus dynamischer in der Komposition sind als jene von Bibrowicz. Allerdings ist die flächige, kantige und reduzierte Formsprache beiden gemeinsam und beide benutzen damals die starken Farbkontraste, was bei dem Mädchen mit dem Lamm und der Schwerttänzerin zu sehen ist. Der wesentliche Unterschied liegt nach wie vor in der Themenwahl. Bei Wislicenus dominieren allegorische Darstellungen mit menschlichen Figuren in Bewegung, vor allem beim Tanzen. Wiederum kommen Tiere und Pflanzen fast ausschließlich in Arbeiten von Bibrowicz vor und nehmen hier, neben den eher statisch aufgefassten menschlichen Figuren, viel Platz ein. 1931 wurde Wanda Bibrowicz zur Lehrerin der Webwerkstatt an die Akademie für Kunstgewerbe in Dresden berufen. Nach der Machübernahme durch die Nationalsozialisten wurden ihre Bezüge gekürzt und gleichzeitig auch die staatlichen Aufträge gestrichen. Damit geriet die Pillnitzer Werkstätte nach 1933 in existenzielle Schwierigkeiten. Wanda Bibrowicz machte diese Not erfinderisch. Sie erinnerte sich: „Um Geld zu verdienen habe ich den von mir bisher verächtlich als ‚Scheuerlappen‘ bezeichneten Halbgobelin in meinem besonderem Sinne gestaltet und habe kleine Wandteppiche, hauptsächlich mit Tiermotiven, als Muster auf der Leipziger Messe ausgestellt und beliebig oft, je nach Bestellung – die fanden überraschend gute Aufnahme – wiederholen lassen. Die Technik des Halbgobelins bietet zwei Vorteile: man braucht weniger Material und man arbeitet schneller, weil das Gewebte weniger dicht ist […]. Dazu kommt, dass ein öfters wiederholter Entwurf Abb. 5: Wanda Bibrowicz (Entwurf und Ausführung), Das Mädchen mit dem Lamm, um 1925, Wolle und Metallfaden gewirkt, 162 x 79 cm, hergestellt in der Werkstätte für die Bildwirkerei Schloss Pillnitz, heute im Kunstgewerbemuseum Pillnitz, Staatliche Kunstsammlungen Dresden
344
Katarzyna Sonntag
eine Verbilligung gestattet, so daß der Preis dieser kl. Serien Teppiche es auch minder bemittelten gestattet, sie zu erwerben.“32 Vor allem in den 1930er Jahren wurden in der Pillnitzer Werkstätte nach Bibrowicz̕’
Abb. 6: Max Wislicenus (Entwurf), Wanda Bibrowicz (Ausführung), Schwerttänzerin (Salome oder Judith), 1925, Karton, Pastell auf Papier, 205 x 100 cm, hergestellt für die Werkstätte für die Bildwirkerei Schloss Pillnitz, heute im Kunstgewerbemuseum Pillnitz, Staatliche Kunstsammlungen Dresden
Die Bildteppichweberei des deutsch-polnischen Künstlerpaares Max Wislicenus und Wanda Bibrowicz
345
Anm erkungen
Entwürfen zahlreiche Halbgobelins mit Papageien, Enten und Fischen hergestellt, deren kommerzieller Erfolg der Werkstätte eine bescheidene Existenz sicherte. Im Zweiten Weltkrieg musste die Pillnitzer Manufaktur wegen Auftragsmangel zeitweise schließen, trotzdem arbeiteten die beiden Künstler weiter.33 Anfang des Krieges war er schon 78 Jahre alt, sie 61. Wislicenus entwarf Webteppiche zum Thema mittel alterliche Ritter, wie zum Beispiel der Drachentöter für das Rathaus in Chemnitz.34 Während dessen, schuf Bibrowicz Webteppiche mit religiösen Motiven. (Die Tätigkeit der Pillnitzer Werkstätten in der Zeit des Nationalsozialismus, die bislang kaum erforscht ist, bildet einen Schwerpunkt des Dissertationsprojekts der Verfasserin.) Nach dem Krieg setzte die TapisserieWerkstatt in Pillnitz ihre Arbeit fort, wurde jedoch 1949 endgültig geschlossen. Max Wislicenus galt zu Lebzeiten als einer der ersten Erneuerer der Bildwirkerei. Seine Schülerin Wanda Bibrowicz etablierte sich im Laufe der Zeit zu seiner künstlerischen Partnerin und autonomen Textilkünstlerin. Ihre langjährige Zusammenarbeit wird sehr unterschiedlich bewertet. Bereits Zeitgenossen wie Horst Riemer stellten fest: „Allein hätte Wislicenus das ihm vorschwebende Ziel [die Erneuerung des Bildteppichs] nicht erreicht, wenn er nicht in Wanda Bibrowicz eine Kraft gefunden hätte, die mit hervorragendem handwerklichen Können zugleich auch [eine] starke künstlerische Begabung vereinte. So konnte sie völlig materialgerecht und dennoch künstlerisch frei schaffen.“35 Und Wolfgang Balzer schrieb 1957: „Es ist das Verdienst von Wislicenus, ihre [Wanda Bibrowicz] künstlerischen Fähigkeiten entdeckt und entwickelt und die anfängliche Schülerin zur ebenbürtigen Mitarbeiterin herangebildet zu haben.“36 Die Zusammenarbeit des deutsch-polnischen Künstlerpaares Wislicenus-Bibrowicz war zweifelsohne eine kreative und zugleich schienen beide in gewissem Sinne voneinander künstlerisch abhängig gewesen zu sein.
346
Katarzyna Sonntag
1
Davon zeugen zahlreiche Artikel in der zeitgenössischen Fach-
presse und den Tageszeitungen. Danach gab es bis zur politischen Wende keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Schaffen der beiden Künstler. Die erste monografische Publikation über Wanda Bibrowicz erschien 2001: Ewa Maria Paradowska-Werszler: W kręgu sztuki Wandy Bibrowicz. Im Kreise der Kunst von Wanda Bibrowicz, Wrocław 2001. Erste Ausstellungen gab es 2004 und 2009. Siehe: Życie i twórczość Wandy Bibrowicz. Międzynarodowa Konferencja, hg. v. Marek Liksztet, Emil Mendyk und Przemysław Burchardt, Ausst.-Kat. Muzeum Tkactwa Dolnośląskiego, Kamienna Góra 2004; Rollenwechsel. Künstlerinnen in Schlesien um 1880 bis 1945, hg. v. Markus Bauer, Ausst.-Kat. Schlesisches Museum zu Görlitz, Görlitz/Zittau 2009. Publikationen über Max Wislicenus erschienen erst 2015 anlässlich zweier Sonderausstellungen in Görlitz und Breslau. Vgl. Max Wislicenus. Malarz wrocławskiej secesji / Max Wislicenus. Maler des Breslauer Jugendstils, hg. v. Maciej Łagiewski, Ausst.-Kat. Muzeum Miejskie we Wrocławiu, Wrocław 2015; Kunst zur Kriegszeit 1914–1918. Künstler aus Schlesien zwischen Hurrapatriotismus und Friedenssehnsucht / Sztuka czasu wojny. 1914–1918: Artyści ze Śląska między hurrapatriotyzmem i pragnieniem pokoju, hg. v. Johanna Brade und Tobias Weger, Ausst.-Kat. Schlesisches Museum zu Görlitz, Görlitz/Zittau 2015.
2
Die Kunstwebschule in Scherrebek (1896–1905) gilt als der
erste Versuch, die Kunst der Teppichweberei zu modernisieren. Vgl. Scherrebek. Wandbehänge des Jugendstils, hg. v. Dorothee Bieske, Ausst.-Kat. Museumsberg Flensburg, Heide 2002.
3
Sein Vater Hermann Wislicenus war ein damals geschätzter Hi-
storienmaler und Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie, der 1877–1890 die monumentalen Wandmalereien in der Kaiserpfalz Goslar schuf. Vgl. Siegfried Gehrecke: Hermann Wislicenus 1825–1899, Göttingen 1987.
4
Vgl. Anne-Kathrin Herber: Frauen an deutschen Kunstakade-
mien im 20. Jahrhundert. Ausbildungsmöglichkeiten für Künstlerinnen ab 1919 unter besonderer Berücksichtigung der süddeutschen Kunstakademien,
Heidelberg
2009,
S. 22–52,
https://d-nb.
info/1007430338/34 [Abruf: 20.11.2018].
5
Bereits seit 1900 war er dort als Lehrer für architektonisches
Zeichnen und Kunsttischlerei tätig. Ausführlich zur Geschichte der Breslauer Kunstschule vgl. Petra Hölscher: Die Akademie für Kunst und Kunstgewerbe zu Breslau. Wege einer Kunstschule 1791–1932, Kiel 2003.
6 7
Ebd., S. 94–194. Die Kunstschule in Breslau wird auch „Bauhaus vor dem Bau-
haus“ genannt. Vgl. Hartmut Frank: Ein Bauhaus vor dem Bauhaus. Die Ausbildungsreform an der Königl. Kunst- und Gewerbeschule in Breslau, in: Bauwelt, Bd. 73, 1983, H. 41, S. 1640–1653.
8
Wanda Bibrowicz erinnerte sich später: „Als wir aber 1904 in
Breslau anfingen, da fristet[e] nur noch in Berlin eine solche Manufaktur ein kümmerliches Dasein.“ Wanda Bibrowicz: Vortrag im Kulturbund
am 8. Mai 1949, [Dresden] 1949, S. 1, unver. Typoskript, Kunstgewer-
23
bemuseum Pillnitz, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Nachlass
noszach w XX wieku / Die imposante Landschaft. Künstler und Künst-
Wislicenus-Bibrowicz, Inv.-Nr. 54591.
lerkolonien im Riesengebirge im 20. Jahrhundert, hg. v. Klaus Bździach,
9
Wanda Bibrowicz: o. T. [Änderungsvorschläge für den Aufsatz
Ausst.-Kat. Gesellschaft für interregionalen Kulturaustausch e. V., Ber-
von Horst Riemer von 1947], o. O. [Dresden], o. D. [wohl 1947], o. S.
lin 1999; Carl Hauptmann: Eine Künstlerin, in: Berliner Tageblatt,
[S. 1], unver. Typoskript, Kunstgewerbemuseum Pillnitz, Staatliche
10.7.1912, o. S.
Kunstsammlungen Dresden, Nachlass Wislicenus-Bibrowicz, Inv.-Nr.
24
54591.
leicht voneinander abweichenden Ausführungen – im Nationalmuseum
10
Robert Breuer: Webereien von Wanda Bibrowicz, in: Stickerei-
Vgl. Wspaniały Krajobraz. Artyści i kolonie artystyczne w Karko-
Der Webteppich Heiliger Franziskus existiert heute in zwei farbig
in Warschau (Teppich von 1914) und im Kunstgewerbemuseum in Pill-
Zeitung (früher Tapisserie- und Stickerei-Zeitung). Zeitschrift zur Pflege
nitz, Staatliche Kunstsammlungen Dresden (Teppich von 1926).
künstlerischer Handarbeiten. Zentral-Organ für Künstler, Fabrikanten u.
25
Händler, Bd. 10, 1.3.1910, H. 6, S. 2.
Die Kunst. Monatshefte für freie und angewandte Kunst, 1920, H. 42,
11
S. 312–319, hier S. 314.
Statt mit Farbe und Pinsel arbeitet der Künstler hier mit farbi-
Felix Zimmermann: Die Wandteppiche der Wanda Bibrowicz in:
gen Woll-, Seiden- oder Metallfäden.
26
12
Werszler 2001 (wie Anm. 1), S. 34–37.
Über Technik und Stellenwert der Gobelinwirkerei vgl. Heinrich
Riemer 1947 (wie Anm. 16), S. 5.; siehe auch Paradowska-
S. 1–56. Wanda Bibrowicz hat vor allem auf Hochwebstühlen gearbeitet.
27 28
13
an die Oder“. Die Rolle der Kunstschulen im Künstleraustausch zwi-
Göbel: Wandteppiche, I. Teil, Bd. 1: Die Niederlande, Leipzig 1923, Vgl. Verzeichnis der Schüler; Hölscher 2003 (wie Anm. 5),
Bibrowicz 1949 (wie Anm. 8), S. 3. Vgl. Katarzyna Sonntag: „… im Sommer zum Malen und Baden
S. 449–484.
schen Breslau und Dresden, in: Susanne König, Gilbert Lupfer und Ma-
14
ria Obenaus (Hg.): Drehscheibe Dresden. Lokale Kunstszene und glo-
Vgl. Karl Masner: Das Einfamilienhaus des Kunstgewerbever-
eins für Breslau und die Provinz Schlesien auf der Ausstellung für
bale Moderne, Dresden 2018, S. 54–61, hier S. 59.
Handwerk und Kunstgewerbe in Breslau 1904, Berlin 1905, S. 5–13;
29
siehe auch Hans Poelzig in Breslau. Architektur und Kunst 1900–1916,
37 allein in Sachsen, sowie 31 von 40 Spitzenklöppelschulen. Vgl.
hg. v. Jerzy Ilkosz und Beate Störtkuhl, Ausst.-Kat. Architekturmuseum
Reichs-Handbuch der Universitäten, Akademien und Hochschulen, hö-
Breslau, Breslau, Delmenhorst 2000.
heren und mittleren Schulen, Fachschulen, Berufs- und Gewerbeschu-
15
len des Deutschen Reiches, Teil 1, Düsseldorf 1931, S. 179 f. u. 183 f.
Diese Arbeit wurde in dem Ausstellungskatalog aus Dresden
Noch 1931 gab es in Deutschland 72 Textilfachschulen, davon
(Gobelinweberei) Schloss Pillnitz, Ausst.-Kat. Sächsischer Kunstverein,
30 31
Dresden 1920, S. 11.
Die Kunst. Monatshefte für Malerei, Plastik und Wohnkultur. Sonder-
16
druck. Werkstätten für Bildwirkerei Schloss Pillnitz bei Dresden, Bd. 54,
1920 unter dem Titel Die Pelikane erwähnt. Werkstätte für Bildwirkerei
Horst Riemer: Die Werkstätten für Bildwirkerei Schloß Pillnitz
Ausst.-Kat. Dresden 1920 (wie Anm. 15). Marie Frommer: Die Bildwirkerei der Pillnitzer Werkstätten, in:
von Wanda Bibrowicz und Prof. Max Wislicenus, [Berlin] 1947, S. 2,
1926, S. 126–132, hier S. 127 u. 132.
unveröff. Typoskript, Kunstgewerbemuseum Pillnitz, Staatliche Kunst-
32 33
sammlungen Dresden, Nachlass Wislicenus-Bibrowicz, Inv.-Nr. 54591.
16 17 19
Im Gegensatz dazu wurden andere deutsche Gobelin-Manufak-
Zit. n. Hölscher 2003, (wie Anm. 5), S. 144.
turen, wie die in München (gegr. 1908) oder Nürnberg (gegr. 1941), von
Ebd.
dem NS-Regime stark gefördert. Vgl. Anja Prölß-Kammerer: Die Tapisse-
Max Wislicenus, in: Ausst.-Kat. Dresden 1920 (wie Anm. 15),
rie im Nationalsozialismus. Propaganda, Repräsentation und Produktion.
S. 3 f.
20 21
Bibrowicz 1947 (wie Anm. 9), S. 1.
Facetten eines Kunsthandwerks im „Dritten Reich“, Hildesheim/Zürich/ Riemer 1947 (wie Anm. 16), S. 2. Hervorhebungen durch Riemer.
New York 2000.
Die Schlesier auf der Werkbund-Ausstellung Cöln 1914, Ausst.-
34
Hermann Heuss: Künstlerische Wandteppiche in Chemnitzer
Kat. o. A., o. O., o. D. [1914], S. 5, 7, 12.
Dienststellen, in: Allgemeine Zeitung Chemnitz, 7.5.1942, S. 3.
22
Carola Muysers (Hg.): Die bildende Künstlerin. Wertung und Wandel in
35 36
deutschen Quellentexten 1855–1945, Amsterdam u. a. 1999, S. 41–
nem 100. Geburtstag am 17. Juli 1957, [Dresden] 1957, o. S.; Zei-
45, hier S. 43; Wilhelm Lübke: Die Frauen in der Kunstgeschichte
tungsauschnitt im Nachlass Wislicenus-Bibrowicz, Kunstgewerbemu-
(1862), in: ebd., S. 45–49, hier S. 47.
seum Pillnitz, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Inv.-Nr. 54591.
Vgl. Ernst Guhl: Die Frauen in der Kunstgeschichte (1858), in:
Riemer 1947 (wie Anm. 16), S. 3. Wolfgang Balzer: Erinnerung an Prof. Max Wislicenus. Zu sei-
Die Bildteppichweberei des deutsch-polnischen Künstlerpaares Max Wislicenus und Wanda Bibrowicz
347
middle-class clientele, forming a precedent for modern British craft and design that extended beyond their short-lived shop. A hazy monochrome photograph (ill. 1) depicts the gallery, located at 5 Ellis St, London, with its slick lacquered black shop frontage and delicately painted signage. The window is dressed in flowing folds of block printed fabric positioned as the central display. The long serving indispensable shop assistant, Edith
Traces of Lost Modernisms: Repositioning Block Printed Textiles in Interwar London
Flint, described the prominent position of textiles in the shop interior: “Suspended from rails around the showroom of The Little Gallery were lengths of hand block printed materials. Cotton, linen, silk – they were very subtle colours and many designs. The creators of these patterns and colours were Miss P. Barron and Miss D. Larcher, who worked together, and Miss E. Marx who worked by herself. Only the
Lotte Crawford
best quality materials were used, as to put all the hours of hand work into inferior materials would
Following the Late Arts and Crafts Movement
have been a waste of art and time.”2
and Bloomsbury’s Omega workshops, there developed
In this chapter I shall explore the artistic
a number of experimental shop/ gallery hybrid spaces
relations between and the joint practices of Phyllis
in Interwar London that were, for the first time, run
Barron and Dorothy Larcher, and their apprentice
almost exclusively by women. Established in reaction
Enid Marx.3 I will examine their unique synthesis of
to the high-craft Bond Street emporia – which fa-
textile processes before putting their work within
voured traditional wares made by male artists – these
the context of the shop structure. I seek to show
pioneering environments provided essential spaces for
how important it is to include not just the ornamen-
a first generation of professional craftswomen and
tal function of the materials but also the complex
designers to form experimental material practices, to
incorporation of traditional techniques and modern
cultivate creative networks and sell their wares. This
patterning produced by these women within the
chapter elucidates the praxis of a small network of
narrative of emergent modernist cultures between
women practitioners who revived block printing and
1923 and the outbreak of the Second World War in
natural dyeing techniques in the early Twentieth
1939. My analysis shows their material practices of
Century, at the same time establishing the pivotal role
printing, colour, motif and abstraction, to unravel
of one such space in the support and facilitation of
the artistic experimentation of modern and tradi-
handmade modern textiles. From 1928 to 1940 Muriel
tional practices within the emergence of contempo-
Rose and Peggy Turnbull’s1 The Little Gallery displayed
rary design made by women in the cultural climate
the finest handmade craft and design to a savvy upper
of Interwar Britain.
Traces of Lost Modernisms: Repositioning Block Printed Textiles in Interwar London
349
Ill. 1: The Little Gallery Shop Frontage, ca. 1920s, Photographer unknown, Farnham Crafts Studies Centre, Muriel Rose Archive, Accession No. MRA 1217
The highly documented Bloomsbury Omega
porary and traditional crafts: ceramics by Bernard
Workshops (1916 to 1919) are perceived as an
Leach, Michael Cardew and Shoji Hamada, jewellery by
essential facilitator of domestic modernism and a
Catherine Cockerel, Swedish tableware, English glass,
precursor to the modern craft gallery, yet little research
decorative papers and rugs from Finland, North Africa
has been conducted on the pioneering shop/spaces
and Peru. Yet perhaps the most unique process of
that directly followed their closure. These spaces
hybrid artistic and craft experimentation is evidenced in
formed a distinctly modern approach to the production
the modern block-printed and woven textiles displayed
and sale of artist-made, modern domestic ‘handicrafts’
in the shop, which reveal experimentation with abstrac-
for the British home in a hostile commercial climate
tion, transnational motifs and vegetable dies.
4
during the long-lasting economic following the Great Depression. The toymaker Sam Smith described the Little Gallery proprietor Muriel Rose as a champion of
On Block Pri nt i ng
modern British craft, with “an immediate eye for separating the genuine from the spurious, and [as
350
A textile sample (ill. 2) depicts a classic example of
someone] who had a way of discovering abilities in
Barron’s and Larcher’s geometrical aesthetic. Printed in
people they had not discovered for themselves.”5 Under
iridescent red on luscious cream coloured velvet, the
her patronage the gallery showcased the finest contem-
thickly edged zig-zag forms are replete with fine
Lotte Crawford
Ill. 2: Phyllis Barron and Dorothy Larcher, Sample Book Page, ca. 1920s–1940s, Farnham Crafts Studies Centre, Muriel Rose Archive, Accession No. 2001.1.143
elliptical dots that emphasise the sharp point of the
not only mean something in your patterns, but must
motif. The central form is run through with fine comple-
also be able to make others understand that meaning.”6
mentary lines to invoke a dynamic, rhythmic infinite
Morris had revived wood-blocking in England in the
repeat. “No pattern should be without some sort of
1870s, yet Barron, Larcher and Enid Marx paid little
meaning”, wrote the artist William Morris, “you must
attention to his floral aesthetic, actively rejecting it in
Traces of Lost Modernisms: Repositioning Block Printed Textiles in Interwar London
351
favour of highly abstract motifs. Instead they reinter-
found in ethnographic collections, including Polynesian,
preted the practice as a form of personal artistic
Oceanic and Native American collections held in the
exploration of abstract pattern and experimental form.
Museum of Mankind by the British Museum.
Despite the lack of an explicit written manifesto by Barron, Larcher or Marx, there are discernible
flourished alongside emergent Modernism during the
aesthetic principles to be found within their process,
1910s and 1920s,” and was a time of great diversity and
stylisation and pattern-forms. Alan Powers notes that
innovation in pattern design, before the entrenchment
“the fact that all three women designers were origi-
of Bauhaus and before Le Corbusier’s ideas came to
nally painters and continued to paint and observe
dominate avant-garde discussions.12 Yet the intersec-
nature with a painter’s eye is important as they were
tion of design and artistic impact in textiles displaying
not creating patterns in the isolation of a workshop or
principles of modernist abstraction has been systemati-
studio.” In acknowledging their unique synthesis of
cally overlooked.13 Processes associated with domestic-
techniques, their contemporary, the artist Paul Nash,
ity and sensual ‘softness’, are historically perceived as
noted that “the artists are not painters” but that “it
feminine and a ‘natural’ extension of women’s roles in
would scarcely be feasible for a painter to follow his
the home. And they are seen as contradictory within
own work and devote the time necessary for such
the binary conception of modernism, described by
complete autographical expression in another medium”.8
Hazel Clark as “predicated on polarized oppositions
Yet each had been educated in painting, and experi-
where the masculine was always superior to the
mented with abstraction9 in the techniques which they
feminine, rationality over intuition, culture over nature,
directly applied to printing on cloth. In 1984 Isabelle
function over decoration, progress over tradition, public
Anscombe acknowledged that “although women
over private, production over consumption, and design
designers contributed little to the theoretical writings
equated male over female.”14 Female artists are repeat-
on modern design, their practical influence was
edly associated with organicism, in the view epitomised
enormous”. Furthermore “it was women who re-inter-
by Sherry Ortner, that “female is to male as nature is to
preted Cubism and other forms of abstraction for use
culture.”15 Later the language of natural versus geomet-
in the home and in fashion design; who for the first
ric shapes will be explored in relation to the modernist
time, went outside European culture to find patterns
terms of ‘biomorphism’. Yet, it is important to emphasise
and colour combinations; and who remained true to
the qualities of tactility and abstraction displayed in the
their theoretical ideals while bringing colour and
geometrical patterns created by Barron, Larcher and
pattern into line with modern architecture.”11 In
Marx. For their composite praxis of designing, blocking,
addition to their extensive collections of French and
printing and dyeing textiles represents a critically
Indian blocks, Barron and Larcher derived a sense of
overlooked but essential contribution of experimenta-
rhythmic geometry from the visual languages of
tion with abstraction by women in the Interwar period.
Vorticism and African patterns, whilst Marx primarily
Furthermore, their repeating patterns engaged with
engaged with Charles-Édouard Jeanneret (Le Corbusier)
those deeper modes of sensorial abstraction and
and Amédée Ozenfant’s Platonic geometrical forms
modernist experimentation that are found within
described in La Peinture Moderne (Paris 1925), as well as
displays of abstract painting historically associated with
global forms of popular art, and non-Western materials
orthodox modernist credo.
7
10
352
According to Leslie Jackson “rampant decoration
Lotte Crawford
On Ab s traction and Su pe rs e n suality Muriel Rose retained and filed every newspaper cutting that mentioned her shop or the artist/craftsmen that she championed within it. Among her papers, a cutting in her archive directly illuminates the potency of this genealogy of British women designers within the contemporary vernacular of early modernist critical thought. Significantly, the article conceptualises the modern woodblock textiles in the terminology of artistic practice, whilst providing a concrete connection between these textiles and Fry’s archetypal writings on modernism that mark a pivotal moment in the canonical polemic of modernism and transcenden-
Ill. 3: Phyllis Barron and Dorothy Larcher’s Workshop, ca. 1920s, Photographer unknown, Farnham Crafts Studies Centre, Muriel Rose Archive, Accession No. 78
talist abstraction. Writing on the ‘ambience’ of Phyllis Barron and Dorothy Larcher’s “Hand Printed Stuffs” for Vogue in April 1926, the artist and critic Roger Fry
their work is in their application of haptic process, in
described the quality of abstraction in their fabrics
the artists “close contact with the changes the material
with admiration. He preferred the “simple geometric
undergoes.” Fry refers to the unique quality of their
patterns” over the more “complex arabesques”,
praxis as displaying “the magic hand of chance”17,
describing the overall repeat as containing a “richness
which allows for unpredictable textural effects within
of matière [his emphasis]”, which “tends to get de-
the technical approach to dyeing and blocking.
stroyed in the ordinary processes of manufacture”.16 The text itself has an arch tone displaying,
This description of the modern block-printing process provides an essential argument for a critical
characteristically, contradictory thoughts on the poor
re-materialisation of Barron and Larcher’s work within
quality of mass production and the restrictive limits of
these contemporary definitions of modernist abstrac-
design as a practice for artists, as well as hierarchical
tion and sensorial tangibility. Fry suggests that the
language on the position of ‘pure art’ over ‘applied art’.
“artist himself carries his design through from its first
Yet, in critically articulating elements of the production
conception to its realisation in the very fiber of the
process of Barron and Larcher’s hand-blocked textiles
material. Miss Barron and Miss Larcher draw their
Fry meticulously describes a “quality of preciousness”
designs, cut their blocks, prepare their dyes, print the
visible in their textiles, within his terminology of
materials themselves.”18 This modulation of pressure
modernist abstraction. Their materials are described as
and contact of the hand on the block, and inked block
conforming to notions of optical ‘purity’, and Fry talks
to fabric, is noted by Fry as the essential factor in the
at the same time of tangible embodiment within the
artistry of the work, even more so than their refined
blocking process and the existence of designed
quality of geometrical abstraction. It is the sur-
commodities. He suggests that the special quality of
face-quality, the applied block to the material plane
Traces of Lost Modernisms: Repositioning Block Printed Textiles in Interwar London
353
that is essential to the perception of textile production
theories of spirit” together, connecting notions of
as artistic practice. He suggests that the experimental
memory and image generation – as a form of affective
nature of the dyeing blocking process, and the infinite
material embodiment, perceiving “the body as a centre
combination of colour, wood-blocks and motifs
of action.” Memory is linked to creative duration and
distinguishes the work from “ordinary manufacture”
to physical repetition, where the surface of an object is
when “every precaution is taken to avoid such acci-
“the common limit of the external and the internal” for
dents, and when they occur the faulty object is
it “is the only portion of space which is both perceived
ruthlessly scrapped; but they supply the artist with his
and felt.”20 Human memory is more than a receptacle,
happiest material.” The flat ground of the textile may
it conjoins the past and present, whilst also function-
be worked and reworked with textured pattern,
ing in an inventive and creative capacity.
19
discharge dyeing techniques and the base colour of the material. In illustration 3, Barron and Larcher’s
textile process as operating within Fry’s definitions of
assistants are block printing in their Painswick studio.
the optically ‘supersensual’. This Bergsonian reading
The arduous nature of the work is palpable: the
now enables a deeper exploration of this form of
painstaking application of the individual block to the
modern wood blocking. Here it contains temporal
flat length of fabric.
repetition, the sensuality of touch through the modu-
Located within modernist concepts of ‘supersen-
354
We have framed Barron, Larcher and Marx’s
lation of the wood block, and the manifestation of the
suality’, Fry’s terminology relates the physical and
image (or in this case, the textile pattern), which allows
emotional qualities embodied within Barron, Larcher
for a deeper understanding of their inherent complex
and Marx’s shared processes of designing, carving,
process and creation of form. For Fry, the material
dyeing and blocking to the early modernist credo.
conditions of the women’s block printing process
He argues that their fabrics express the tangible
demonstrate a type of memory that exists within the
quality of ‘matière’ (material). The technical usage of
pattern and their temporal wood blocking process.
‘matière’ to describe the textiles provides an essential
Furthermore, he applies the notion of a temporal
ontological point through which to explore this
co-existence of past and present imbued within the
particular form of shared material practices in meta-
material and the wood blocked “impression” of motif
physical terms. It illuminates the quality of abstraction
that is “vastly enriched and modulated by our vague
applied to the fabrics as special and distinct from other
consciousness.” The print is overdyed with several
forms of mass-produced design, and artistic abstrac-
patterns and colours which imbues its material lengths
tion, and it reveals this interdisciplinary process, at a
with transcendental aesthetic “value”.21 Fry’s recogni-
fundamental level, as a distinctive form of art and
tion in 1926 of the sense of bodily materiality within
design praxis. This terminology of the ‘matière’ is
their praxis, as well as in the production of the motif,
drawn from Henri Bergson’s definition of gestural
locates these materials in the language of affective
dynamics in Matière et Mémoire (1896). In that work
sensuality. It moves this discussion beyond any notion
matter is imbued with Bergson’s philosophical treat-
of these materials as ‘merely’ decorative imitators of
ment of memory, of spiritual qualities embodied within
art, revealing the fundamental level at which there is a
pure perception in an organic, physical and essentially
complex synthesis of artistic process at play within the
temporal sense. Bergson drew the “matter and
textiles.
Lotte Crawford
On Col o ur
for dyeing to be reinstated as a craft, exploring the experience of living with colour and the positive
When Geoffrey Grigson coined the term ‘biomor-
variation of colours produced by natural process
phism’ – combining ‘bios’(‘life’) and ‘morphe’(‘form’) –
through a manual that explicitly demonstrated how to
the point was to distinguish abstracted visual language
collect, make pigment, and dye with vegetable materi-
that contained a sense of organicism from ‘pure’
als procured from lichen, bark and flowers, fasted with
geometricity. The art historian and the first director of
copper and soaked into hand-spun materials made of
the Museum of Modern Art in New York, Alfred H.
cotton, flax and wool.23 Working contemporaneously
Barr Jr., subsequently used the term in his canonical
with Mairet in the 1910s, Phyllis Barron had discovered
catalogue Cubism and Abstract Art to demonstrate the
dyeing recipes through independent research which
incompatibility of the two visual strands of modernism.
she shared with Larcher and later Enid Marx, accessing
His thinking formed a critical duality between the
archives at the patent office and in the British Library
“intuitional and emotional rather than intellectual;
through the eighteenth-century handbook of Edward
organic or biomorphic rather than geometrical in its
Bancroft’s Philosophy of Permanent Colour. Barron used
forms”.22 Barr’s resistance to organicism was an objec-
the text to accumulate dyeing techniques through trial
tion to the ‘emotive’ qualities in art. Modern art, he
and error. But she was also critical of the publication
suggested, could either be emotive and natural, or
“finding inaccuracies […] by then she had taught herself
rectilinear and scientific. Within this reading of mod-
indigo discharge and dyeing with cutch and iron to
ernist abstraction, the organic is presented as the
yield a brown and a black.”24
nearly-abstract, but the geometrical shape is ‘purely’
Shared knowledge of dying processes between
abstract. His doctrine utilised the imagery of the square
Ethel Mairet, to Phyllis Barron and Dorothy Larcher
versus the vegetal rounded shape. This plays into the
and through them to their student, Enid Marx, present
dominant narratives of American and German moder
a clear example of women’s artistic networks of this
nisms – particularly in hegemonic masculine modes of
period as forming a supportive mechanism and
artistic expression, such as are evident in the clear lines
facilitating modern and traditional artistic practices.
and minimal detailing of architectural modernism.
Barron wrote to Mairet in response to her text, which
Barron, Larcher and Marx’s patterning of the 1920s
led to a correspondence, including textile samples.
and 1930s engaged with both visual modes. Yet, there
Barron noted that Mairet “thought she could help me,
is an alternative reading of the geometrical repeated
and was having an exhibition in London very shortly
shape in the context of textiles produced with colour
and would I come and bring everything that I had
dyes – which were literally produced by the treatment
done” encouraging her to sell her textiles inviting her
of natural materials gathered from the landscape.
to stay for “dye weeks in which she asked people to
The shared vegetable dyeing practices used by
come and dye stuff for her to weave.”25 The close
Barron. Larcher and Enid Marx exhibit a further
connections between these women are suggested by a
sensorial experimentation with colour. An overlooked
jacket made for Muriel Rose with wool died and woven
figure in her own right, the weaver Ethel Mairet’s A
by Mairet (ill. 4). The jacket was constructed from
Book on Vegetable Dyes (1916) profoundly affected the
loosely woven eri silk, which had formerly been
colour principles of the block printers. The text called
exhibited as an exemplary length of fabric at the Paris
Traces of Lost Modernisms: Repositioning Block Printed Textiles in Interwar London
355
Ill. 4: Ethel Mairet, Muriel Rose’s Jacket, ca. 1920s, Farnham Crafts Studies Centre, Muriel Rose Archive, Accession No. T.74.7
356
International Exhibition of 1925. The boxy utilitarian
(1925 to 1927) Enid Marx continued to implement the
shape of the garment, replete with neat Indigo woven
dyeing techniques for the following sixteen years of
collar and cuffs and delicate contrasting pockets, is
independent practice. She noted that “when I first
offset with the joyful application of colour – woven
started, I was reacting against the garish colours used
ribbons of yellow, green, red, brown and blue stripes.
in mass production: I liked the range that could be
After applying a fusion of Mairet, Barron and
obtained by using the old fast vegetable and mineral
Larcher’s practices during her short apprenticeship
colours, Indigo, Quercitron, Madder red and Walnut,
Lotte Crawford
Ill. 5: Enid Marx, Fishnet, ca. 1920s, Farnham Crafts Studies Centre, Muriel Rose Archive, Accession No. TS.76.51
Ill. 6: Phyllis Barron and Dorothy Larcher, Table setting featuring block printed cloth and lengths, The Little Gallery, November 1938, Farnham Crafts Studies Centre, Muriel Rose Archive, Accession No. MRA 1198
Iron Black and Buff”.26 Marx described her professional
some hours with a special steamer to drive the dye
practice as retaining a domestic quality27 due to
well in. Then you wash it again, dry it, and probably
practical necessity – materials were handmade, using
iron it the next day.”29
rudimentary tools and available natural materials that
In The Little Gallery Barron, Larcher and Marx’s
yielded extraordinary qualities of pattern, texture and
patterns were provided space to be displayed and sold,
experimentation with colour. This process of
and they were set against other forms of craft, often
“over-printing, discharging or printing with resists”, she
forming a textural backdrop for the displays. Yet it is
believed, gave her the freedom to “exploit all sorts of
important to note that Muriel Rose supervised The
qualities that it would not have been feasible to do any
Little Gallery with a distinct set of aesthetic principles:
other way”.
it was distinctly not a gift shop. In fact, the space was
In creating an angular sense of motif, charged with a
formed to maintain a sense of the domestic in a public
dynamic sense of touch she found it “exciting to
gallery and shop, which would reveal an alternative
experiment directly on the cloth”.28 The composite
engagement with modern aesthetics and qualities of
traditional process of natural dyes and geometric style
optical abstraction in functional objects. She saw the
is depicted in Fishnet (ill. 5) which depicts a sample of
display of craft materials as “an exhibit showing
galled cotton dyed in iron and printed with muriate of
domestic objects” which “does not present the barrier
tin to discharge the design that is comprised of
of strangeness many feel in regard to modern paint-
rhythmic interlacing triangles that enmesh to form the
ing”, and that, in fact, a collection of functional objects,
undulating repeat. The physical construction of the
arranged in groups and rooms “closely related to the
textile is put into perspective when, following the
daily life of visitors of every sort”.30 This space and its
blocking and dyeing process, she perceived “sixteen
contents, therefore, provided an alternative engage-
yards a good day’s work. And it’s not finished when
ment with modern abstract pattern and shape – which
you have the colours. You must steam the fabric for
she claimed – offered an alternative, gentler but
Traces of Lost Modernisms: Repositioning Block Printed Textiles in Interwar London
357
nonetheless engaging quality of abstraction and
Vincentelli notes that Rose’s principles “were consist-
contemporaneous forms of modernism made available
ent with a modernist philosophy of pure form, egalitar-
to the public than painting or sculpture. The table
ian ideals and arts and crafts moralism”.33 This hybrid
setting (ill. 6) presents the textile in its intended
space with its domestic aestheticism encouraged the
domestic context yet each object on the table contains
customer to think of the home as a gallery, and design
a similar intensity of creative process: the arrangement
as a contribution to and enhancement of lived experi-
includes hand-thrown British Slipware by Michael
ence that was radical at its time. The unique forms of
Cardew, fine English glassware and stoneware bottles
artistic practice cultivated by Barron, Larcher and
by Bernard Leach, and it is underpinned by a delicately
Marx, were essentially supported by The Little Gallery
chequered table-cloth produced by Barron and
as they commissioned the textiles, held mixed and
Larcher.
solo-shows, acted as a London agent for its craftspeo-
31
When examining the position of modern textiles
Ultimately, it was Rose’s aesthetic choice and unwa-
unravel. The critical values inherent in the displays
vering commitment to craft process and experimenta-
which Muriel Rose orientated and curated reveal her
tion that enabled Marx, Barron and Larcher to con-
critically hybrid approach to traditional processes and
tinue to develop their unique exploration of abstract
contemporaneous aesthetics in the early Twentieth
form, colour and material texture in the interwar
Century, and they relate to a complex interlacing of
period, and to gain the artistic skills to create the
craft, design and pictorial exploration. Indeed, Moira
finest modern patterns.
32
358
ple, and actively sought press coverage for their work.
within the materiality of this space we find more to
Lotte Crawford
1
Note s
14
Muriel Rose was the creative director the shop, whilst Peggy
p. 239.
Hazel Clark, ‘The Difference of Female Design’, in Design Stud-
ies: A Reader, eds. H. Clark and D. Brody (London: Bloomsbury, 2009),
Turnbull handled the accounts.
15
2
Woman, Culture, and Society, ed. M. Z. Rosaldo and L. Lamphere (Stan-
Edith Flint, ‘Some Notes on The Little Gallery’, Muriel Rose Ar-
chive, (Crafts Studies Centre, Farnham, Muriel Rose Archive, 1978), 934.
3
For further scholarship on Enid Marx see Alan Powers, Enid
ford, CA: Stanford University Press, 1974), pp. 67–87.
16
tance and Submission, Warp and Weft: Unravelling the Life of Ethel Mairet’, Textile: The Journal of Cloth and Culture, no. 3 (2005): pp. 292–
p. 111.
Artmonsky and Brian Webb, Enid Marx: Design (Woodbridge: Antique Collectors’ Club, 2013). For Ethel Mairet see Kirsty Robertson, ‘Resis
Roger Fry, ‘Hand Printed Stuffs by Phyllis Barron and Dorothy
Larcher’, Vogue (April 1926), p. 68 f.
17 18 19 20
Marx: The Pleasures of Pattern (London: Lund Humphries, 2018); Ruth
Sherry B. Ortner, ‘Is Female to Male as Nature is to Culture?’, in
317. For Barron and Larcher see Michal Silver and Sarah Burns, Barron
21
& Larcher Textile Designers (Woodbridge: ACC Art Books, 2018). For
p. 69.
Ibid., p. 96. Ibid. Ibid. Henri Bergson, Matière et Mémoire (London: Bloomsbury, 2002), Fry, ‘Hand Printed Stuffs by Phyllis Barron and Dorothy Larcher’,
Muriel Rose and Interwar textiles see Hazel Clark, ‘Printed Textiles:
22
Artist Craftswomen 1919–1939’, Ars Textrina, no. 10 (December 1988):
Museum of Modern Art, 1936), p. 19.
Alfred H. Barr Jr., Cubism and Abstract Art (New York: The
pp. 53–70.
23
4
las Pepler, 1916), pp. 1–11. For dying and weaving in the work of the
For the Omega Workshops see the contribution of Ina Ew-
Ethel M. Mairet, A Book on Vegetable Dies (Hammersmith: Doug-
ers-Schulz in this volume.
German artists Maria Marc see the contribution of Susanna
5
Baumgartner in this volume.
Kate Woodhead, ‘Foreword’, in Muriel Rose: A Modern Crafts
Legacy, ed. J. Vacher (Farnham: Crafts Study Centre, 2006), pp. 3–5.
24
6
Haven: Yale University Press, 1999), p. 49.
William Morris, ‘Hopes and Fears for Art’ (first published 1882)
Tanya Harrod, The Crafts in Britain in the 20th Century (New
(accessed 12 September 2018).
Centre, Farnham, Robin and Heather Tanner’s Barron and Larcher col-
7
lection 1926–1974, undated), BLB/2, 2002/13/2.
Alan Powers, Modern Block Printed Textiles (London: Walker
Books, 1992), p. 38.
8
Paul Nash, ‘Modern English Textiles’, The Listener (27 April
Artmonsky and Webb, Enid Marx: Design, p. 12. Particularly in regards to washing, ironing and steaming the
fabric, which took several days to complete
1932), p. 607.
9
26 27
Phyllis Barron, ‘Typed Manuscript’ (unpublished, Crafts Study
Indeed, Marx had failed her Royal College of Art exam for pro-
viding a painting that was “too modern, too abstract”. Artmonsky and
28
Enid Marx, ‘Recollections’, Marx’s Artists Papers Archive, (Victo-
ria & Albert Museum Blythe House, undated), AAD/2007/3/1234.
Webb, Enid Marx: Design, p. 11.
29
10
A London Craftswoman’s Fascinating Art’ The Evening News (7 July
Barron was educated at the Slade School of Art, Larcher at
Hornsey College of Art and Enid Marx at the Central School and the
Sylvia Ouston, ‘Flower Dyeing and Hand-printing Fabrics:
1930), p. 17 f.
Royal College of Art, London where her peers included Henry Moore,
30
Barbara Hepworth and Eric Ravilious.
Crafts Study Centre’, in Muriel Rose: A Modern Crafts Legacy, ed.
11
J. Vacher (Farnham: Crafts Study Centre, 2006), p. 39.
Isabelle Anscombe, A Woman’s Touch (London: Virago Press,
1984), p. 14.
12
Lesley Jackson, Pattern Design (Princeton: Princeton Architec-
31 32
Jean Vacher, ‘A Modern Crafts Legacy: Muriel Rose and the
Ibid., p. 39. A promotional leaflet (designed by Edward Bawden for The
tural Press, 2001), p. 126.
Little Gallery) reads that, as well as block printed textiles, they simulta-
13
With the exception of focused Art Historical scholarship on
neously displayed: traditional Welsh and English quilts, stoneware by
textile abstraction and the Bauhaus weaving school, see Anni Albers, ed.
the St Ives potter Bernard Leach, and his apprentices Norah Braden and
Briony Fer, Maria Müller-Schareck and Ann Coxon, exh. cat. Tate Mod-
Katherine Pleydell-Bouverie, Italian and French pattern papers, Swed-
ern, London (London: Tate Publishing, 2018). For Design History on
ish glassware, and Mexican rugs, Muriel Rose Archive, (Crafts Studies
modern British textiles see Powers, Modern Block Printed Textiles and Jill
Centre, Farnham, Muriel Rose Archive, undated), 902.
Seddon and Suzette Wordon ed., Women Designing: Redefining Design
33
between the Wars (Brighton: University of Brighton, 1994).
chester: Manchester University Press, 2000), p. 182.
Moira Vincentelli, Women and Ceramics: Gendered Vessels (Man-
Traces of Lost Modernisms: Repositioning Block Printed Textiles in Interwar London
359
künstlerische Gestaltungsformen in Textil zu entwickeln, um damit dem Handwerk zu neuer Wertschätzung zu verhelfen. Die Web- und Knüpfarbeiten von Lisbeth Bissier sind in der kunst- und textilgeschichtlichen Forschung in Vergessenheit geraten und wurden bisher wenig im Zusammenhang mit anderen Kunstschaffenden der Moderne analysiert.2 Neben ihren Damasten sind im Œuvre von Lisbeth Bissier vor allem farbige
Textile Koproduktionen von Künstlerpaaren der Moderne: Die Webund Knüpfarbeiten von Lisbeth und Julius Bissier
Knüpf-teppiche mit künstlerischen abstrakten Formen zu finden, die nach eigenen Entwürfen und in Kooperation mit ihrem Ehemann entstanden sind. Julius Bissier, selbst als Maler tätig, fertigte Vorlagen aus zeichenhaften Flächen und Formen, die Lisbeth in eigener Komposition in ein anderes Medium – den Knüpfteppich – übertrug. Welche formalen Überschneidungen finden sich zwischen malerischem Entwurf und fertiggestelltem Teppich? Inwiefern kann behauptet werden, dass das Künstlerpaar Inspiratio-
Helene Roth
nen für das eigene Werk aus der gemeinsamen Kooperation schöpfen konnte? Anhand technischer
„Di e Ar b eit muß heute expe r i m e ntell sein“
sowie kultur- und kunsthandwerklicher Kriterien des Knüpfens wird der transformative Vorgang vom Entwurf in die textile Arbeit als auch der Stellenwert
Künstlerisch gestaltete Textilien haben einen
von Tradition und Handwerk in diesem Beitrag
Ursprung in den textil- als auch kunsthistorischen
analysiert. Die Einordnung in den kunstgeschichtlichen
Veränderungen des frühen 20. Jahrhunderts. In dieser
Kontext klärt außerdem, welchen Status textile
Zeit wandelte sich die Bedeutung des Textilen, da es
Medien im kooperativen Arbeiten von Künstlerpaaren
nicht mehr als reines kunsthandwerkliches Produkt,
in der Moderne besitzen.
sondern als Kunstobjekt anerkannt wurde. 1924 proklamierte die Bauhaus-Weberin Anni Albers: „Die Arbeit muß heute experimentell sein.“1 Die Künstlerin arbeitete sowohl mit dem Medium wie
Di e Knüpf tep p i che z w i schen Tra di t i on und Ha ndwerk
auch der Technik des Webens und experimentierte mit der Verbindung von Kunst und Textil. Doch auch
Lisbeth Bissier baute sich 1939 nach dem
andere Künstlerinnen der Moderne, wie beispielsweise
Studium an der Textil- und Modeschule in Berlin ihre
Lisbeth Bissier, versuchten im 20. Jahrhundert durch
eigene Handweberei mit angeschlossener Spinnerei
das Zusammenspiel unterschiedlicher Medien neue
und Färberei in Hagnau am Bodensee auf.3 In der
Die Web- und Knüpfarbeiten von Lisbeth und Julius Bissier
361
Abb. 1: links: Julius Bissier, Entwurf für Knüpfteppich, 1954, Aquarell auf Tinte und Büttenpapier, 55 x 28,5 cm, signiert, datiert und bezeichnet; rechts: Lisbeth Bissier, Entwurf für Knüpfteppich, 1954, Aquarell auf Millimeterpapier, 55 x 26 cm, Archivio Bissier, Ascona
362
Nachkriegszeit fertigte sie künstlerisch gestaltete
Beispiel für diese gesehen (Abb. 1, 2). Mit der klaren
Damaste, die ab 1951 in Entwurf und Ausführung von
personalen Trennung der Arbeitsschritte in Entwurf
Knüpfteppichen mündeten. Nachfolgend wird die
und Ausführung griff Lisbeth Bissier auf die traditio-
dreiteilige – aus Entwurf, Werkzeichnung und Knüpf-
nelle Teppichwebkunst zurück.4 Ihre Kenntnisse und
teppich bestehende – Werkgruppe, die von Julius und
Erfahrungen alter Webtraditionen verschiedener
Lisbeth Bissier gefertigt wurde, als exemplarisches
Kulturen veranlassten sie außerdem, mit der Praxis des
Helene Roth
Knüpfens zu beginnen.5 Das Weben bildet die Ausgangsbasis für die Knüpftechnik, bei der verschiedene Fäden mit Hilfe eines Teppichknotens in ein Grundgewebe eingearbeitet werden. Ein Knüpfteppich setzt sich aus Kette, Schuss und Flor zusammen. Die Kette ist längs über den Webrahmen gespannt und bestimmt die Länge des Teppichs. Der Schuss besteht aus ein oder mehreren zur Kette quer gezogenen Fäden, der beim Knüpfen durch die Kette hindurchgeführt wird. Anschließend wird der Schuss mit einem Anschlagkamm aus Eisen und Holz nach unten in das Gewebe geklopft. Dieser Vorgang wird nach jeder beendeten Knotenreihe durchgeführt. Kette wie Schuss bilden das Gerüst des Teppichs und sind für dessen Struktur, Stabilität und Qualität verantwortlich. Durch das Einknoten von Woll- oder Seidenfäden entsteht der Flor, der eine dritte Dimension des Teppichs bildet.6 Daraus ergibt sich ein wesentlicher Unterschied zu einem Gemälde, das nur aus zwei Dimensionen besteht. Die technische Erklärung verdeutlicht, dass dem Knüpfen ein zeitintensiver Entstehungsprozess zu Grunde liegt, der äußerste Konzentration erfordert. Durch die genau vorgegebene Abfolge von Kette und Schuss unterliegt die Herstellung eines Knüpfteppichs einem geregelten Prinzip. Sowohl die langwierige Herstellungsdauer als auch die gestalterische Ordnung differenzieren sich von der Malerei, deren Entstehungsprozess variabel sein kann. Dabei ist es den Kunstschaffenden selbst überlassen, ob das Bild
Abb. 2: Julius Bissier (Entwurf), Lisbeth Bissier (Ausführung), Knüpfteppich, 1954, Wolle, 210 x 110 cm, Archivio Bissier, Ascona
geplant oder intuitiv und spontan gestaltet wird. Neben der Knüpftechnik spielt das Material eine wichtige Rolle für die Qualität des Teppichs.7 Lisbeth Bissier verwendete für ihre Knüpfteppiche handge-
Florlänge zugeschnitten. Somit ist es wichtig, dass die
sponnene Garne aus einer Mischung von Wolle und
Garne gleichmäßige Farbtöne aufweisen. Aus diesem
Mohair.8 Zudem hatte für sie die Wahl der Farben eine
Grund färbte sie die Teppichwolle eigenhändig, um
zentrale Bedeutung, „da die Wolle im Schnitt weit
eine einheitliche Farbgestaltung zu erreichen. Mit der
größere Farbnuancen aufweist als im Strang“9. Die
eigenen Herstellung bestimmte sie selbst die Qualität
Wolle wird bei der Knüpftechnik auf die gewünschte
des Materials und Teppichs.
Die Web- und Knüpfarbeiten von Lisbeth und Julius Bissier
363
Die Konzentration auf handwerkliche Qualitäten
die sich zu immer farbigeren geometrischen Elemen-
ist auch in den Arbeiten ihres Mannes zu entdecken,
ten wandelten. Nach dem Aquarellentwurf skizzierte
der vor allem in den Miniaturen die Mehrzahl seiner
die Künstlerin die Werkzeichnung (Patrone), um diese
Malutensilien wie beispielsweise Bildträger, Pinsel und
anschließend in einen Teppich umzusetzen (Abb. 1,
sogar die Farbmischung selbst produzierte (Abb. 4).
2). Über diesen Vorgang schreibt Lisbeth Bissier: „Bei
Nicht zuletzt durch das Arts und Crafts Movement ist
den geknüpften Bildteppichen ist nicht allein der
diese handwerkliche Ausrichtung in einem Zeitalter, in
Entwurf ausschlaggebend. Die Übertragung in die
dem die maschinelle Produktion von Stoffen, Garnen
Werkzeichnung, die Patrone, kann nur von einfühlen-
und Malmitteln längst entwickelt war, erklärbar.
der Hand und nie von Außenstehenden vollzogen
Angesichts von expandierender Industrialisierung und
werden. Hier geschah es durch mich im Einverneh-
Mechanisierung wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts
men mit Julius Bissier, der die Patrone prüfte. In
eine Rückbesinnung auf die handwerklichen Qualitä-
einem Fall wurde ein Bissier-Entwurf von einem
ten und eine engere Zusammenarbeit zwischen dem
Pariser Atelier übernommen. Die Ausführung ließ
Handwerk und der Kunst gefordert. Der wiederge-
kaum noch etwas von ‚Bissier‘ erkennen. Die Farb-
wonnene Stellenwert von Material und handwerkli-
skala war falsch übersetzt, die Formen waren
chen Gestaltungsformen prägte im Kontext der
verändert und damit völlig entstellt worden.“15
10
11
allgemeinen Veränderungen des Textilhandwerks die
Durch diese Aussage wird ersichtlich, dass die
darauffolgenden Jahrzehnte. Es ist anzunehmen, dass
Transformation von der Patrone zum Teppich einige
auch Lisbeth und Julius Bissier diese Tendenzen
Herausforderungen beinhaltete. Insbesondere
aufgriffen.
achtete Lisbeth Bissier auf die entwurfsgetreue
12
Übersetzung der Farben als auch Formen. In einem
Bi lder werden zu Tep p ich en
weiteren Schritt erforderte die Umsetzung des kleineren Entwurfs in den großformatigeren Teppich ebenfalls technisches Können. Diese Transformation
Neben dem Handwerk legte das Ehepaar
schen Version zum Entwurf vollbracht. Herbert Pée
zess der Knüpfteppiche. Zeitgleich zur Entwurfstätig-
verwendet für ihre geknüpften Arbeiten den Begriff
keit beschäftigte sich Julius Bissier mit farbigen
der „Bildteppiche“16. Damit ist gemeint, dass durch
Monotypien, Holzschnitten sowie Aquarellen, die
die Verwendung abstrakter bildhafter Motive der
anfangs ostasiatische Schriftzeichen und später
ursprünglich durch Muster geprägte dekorative
abstrakte Elemente enthielten. Der Vergleich von
Aspekt verschwinde und eine neue Art des Teppichs
Bissiers Entwurfsarbeiten und seiner freien Werke
entstehe. Die Form werde zu einem organisch
zeigt formale und ästhetische Gemeinsamkeiten. Für
wirkenden Bildgefüge auf Textil.17 Die farbigen
den Maler Bissier erschien der Knüpfteppich als
Elemente scheinen aufgrund der Mehrdimensionali-
geeignetes Ausdrucksmittel, um die reduzierten
tät des Teppichs einen Zustand des Schwebens
abstrakten Formen seiner Bilder in einen Teppichent-
einzunehmen und ihre eigene Wirkung zu entfalten.
wurf zu übertragen.14 Gleichzeitig finden sich auch im
Die Neuinterpretation des Knüpfteppichs als nicht
Frühwerk von Lisbeth Bissier ostasiatische Symbole,
mehr rein handwerkliches und gebrauchsorientiertes
13
364
wurde von Lisbeth Bissier in einer nahezu identi-
außerdem besonderen Wert auf den Gestaltungspro-
Helene Roth
Produkt, sondern textiles Kunstwerk, entsprach auch
Bissier-Teppiche wurden bis heute nur in je einem
dem Verständnis von Lisbeth Bissier, die „alles nur
einzigen Stück gewebt und daran wird sich kaum
dekorativ Bestechende immer wieder auszuschalten
etwas ändern.“26
versucht[e]“18.
Als eine weitere Vertreterin dieses Ansatzes ist Anni Albers zu nennen.27 Trotz ihrer anfänglichen Abneigungen gegenüber dem Textilen experimen-
De r Te ppich als Kunst der Mod e r n e
tierte Albers in der Weberei am Bauhaus frei und inspirativ mit Materialen und Techniken. Indem sie Wolle, Fäden und Webstuhl äquivalent zu Pinsel,
Der von Lisbeth Bissier vertretene Standpunkt
Farbe und Leinwand verwendete, setzte sie ihre
lässt sich in die kunstgeschichtlichen und textilen
künstlerischen Ideen am Webstuhl um und unter-
Veränderungen des 20. Jahrhunderts einbetten. Da
schied folglich nicht länger zwischen der Malerei und
nun auch Kunstschaffende malerische Entwürfe auf
dem Weben.28 Nach der Emigration mit ihrem Mann
textile Materialien wie Teppiche übertrugen, änderte
in die Vereinigten Staaten interessierte sich die
sich deren Stellenwert von einem rein handwerkli-
Künstlerin zunehmend für präkolumbianische und
chen Produkt zu einem Kunstobjekt. Ziel war es,
moderne lateinamerikanische Textilarbeiten.29
das Textilhandwerk mit der Kunst zu verbinden, um
Inspirationen fand sie in den lokalen kunsthandwerk-
dadurch dem Kunsthandwerk die ihm gebührende
lichen Praktiken andiner Kulturen und entwickelte
Bedeutung zukommen zu lassen. Der Deutsche
daraus eine neue Webtechnik. Bei dem Teppich
Werkbund und das Bauhaus folgten dieser Bewe-
Monte Albán führte Albers über die gewebte Struktur
gung. Im Bereich der Teppichgestaltung entstand
einen zusätzlichen Schussfaden, der ihr ermöglichte,
die von der Kunsthistorikerin Karin Adrian von
weitere Linien über die Oberfläche zu ziehen
Roques bezeichnete zeitgemäße Ausdrucksform der
(Abb. 3).30 Mit dieser neu angewandten andinen
Künstlerteppiche. Dabei wurde insbesondere mit
Technik gelang es ihr, den schwebenden Zierfaden
textilen Techniken wie dem Weben, Stricken, Färben
wie ein Zeicheninstrument zu verwenden und durch
als auch Knüpfen gearbeitet und experimentiert.22
unter- und überirdische Linien dem Gewebe Tiefen-
Künstlerinnen und Künstler wie Paul Klee, Wassily
strukturen zu verleihen.31
19
20
21
Kandinsky, Piet Mondrian oder Gunta Stölzl übertru-
Ein Vergleich der Arbeiten von Anni Albers und
gen ihre Bildideen und moderne Formensprache auf
Lisbeth Bissier zeigt, dass sich trotz verschiedener
das textile Medium.23 Der Teppich erlangte durch die
Techniken auch Gemeinsamkeiten finden lassen.
neuartige Verwendung eine andere Bedeutung und
Beide versuchen in ihren Vorgehensweisen das
changierte als Boden-, Wand- und Designobjekt
konventionell und als altmodisch angesehene
zwischen Alltags- und Kunstgegenstand.24 Außerdem
Textilhandwerk in der Verbindung mit einer maleri-
wurde der Künstlerteppich in Einzelstücken handge-
schen und zeichnerischen Formensprache aufzu-
fertigt und bildete somit einen Gegensatz zu industri-
werten. Lisbeth Bissier erreichte diesen Wandel,
ell gefertigten Textilien. Auch Lisbeth und Julius
indem sie die farbigen, abstrakt-geometrischen
Bissier griffen in ihren Arbeiten die neuen Prinzipien
Elemente ihres Mannes in Bildteppiche übersetzte.
der Künstlerteppiche in der Moderne auf. „Die
Anni Albers verwendete dagegen eine neue Web-
25
Die Web- und Knüpfarbeiten von Lisbeth und Julius Bissier
365
Abb. 3: Anni Albers, Monte Albán, 1936, Seide, Leinen, Wolle, 146 x 112 cm, The Busch-Reisinger Museum, Harvard University Art Museums, Cambridge
technik, um mit einem zusätzlichen Faden eine
Zwei Künst ler ei n Werk?
abstrakte Bildweberei zu schaffen. In beiden Fällen übernahmen die Künstlerinnen gezielt Elemente
366
Während Lisbeth Bissier mit den Knüpfteppi-
aus der Malerei in das textile Medium und kreierten
chen öffentliche Anerkennung fand, war ihr Mann
im Weben als auch Knüpfen ihre eigenen textilen
ebenfalls auf der Suche nach einer neuen künstleri-
‚Bilder‘. Laut Brüderlin sind diese Veränderungen
schen Ausdrucksform in der Malerei.33 Interessant ist,
und Experimente die Basis für die Emanzipation
dass für Julius Bissier seit den 1950er Jahren neben
des Textilen als eigenständiges künstlerisches
der schwarzen Tusche die Farbe wieder an Bedeutung
Ausdrucksmittel.
gewann.34 Anregungen für diese Farbexperimente fand
32
Helene Roth
er über die Tätigkeit des Entwurfszeichners und der handwerklichen Ausrichtung der Weberei seiner Frau, die in der eigenen Färberei Wollgarne herstellte. Versuche im Umgang mit verschiedenen Unterlagen, Färbe- sowie Bindemitteln inspirierten ihn zu einer neuen Malweise. Neben der eigenen Herstellung der Malutensilien griff er ebenfalls auf alte Techniken zurück und mischte Farbpigmente, Mohnöl und Eiweiß zusammen. Zeitgleich entwarf er kleinformatige, abstrakte Formen, Flächenfragmente und Buchstaben, die er mit farbiger Ei-Öl-Tempera auf Leinen, Nessel oder Baumwolle malte (Abb. 4). Als Bildgrundlage für die Miniaturen, wie sie der Künstler nannte, verwendete er zunächst Stoffreste aus der Weberei seiner Frau.35 Wie „kleine Organismen“36 ergeben sie eine eigene zusammenhängende Bildwelt. Zudem verleiht der textile und selbst grundierte Bildträger den
Abb. 4: Julius Bissier, 13. Sept. 62 NO, 1952, Ei-Öl-Tempera auf Baumwolle, 15,8 cm x 18,3 cm, signiert und datiert m. l.: 13. Sept. 62 NO Jules Bissier (BISSIJ/M 90), Galerie Schlichtenmaier, Stuttgart
Miniaturen einen fragmentarischen und unregelmäßigen Charakter. Julius Bissier kam über den Umweg der farbigen Teppichentwürfe zu einer neuen und
Arbeit. Unter Symbiose wird „das engere Zusammenle-
eigenen Bildaussage in der Malerei, die sich weder an
ben mehrerer, gewöhnlich zweier Lebewesen verschie-
einer gegenständlichen noch bereits existierenden
dener Art, die einander wechselseitig nützen und
abstrakten Kunstrichtung orientierte.
zusammen besser gedeihen als jeder der Genossen-
37
Somit lässt
sich behaupten, dass das Künstlerpaar Bissier über die gemeinsame Zusammenarbeit an den Knüpfteppichen
schafter für sich“38, verstanden. Auch bei Josef und Anni Albers lassen sich
Inspirationen für neuen Techniken und Materialien für
gegenseitige Inspirationen in den Arbeiten finden.
das jeweilige eigene künstlerische Werk fand. Obwohl
Wie seine Frau verfolgte Josef Albers den von Walter
der Entstehungsprozess der Knüpfteppiche von zwei
Gropius formulierten Bauhausgedanken „Wiederver-
Personen ausgeführt wurde, sind zwischen dem
einigung aller werkkünstlerischen Disziplinen – Bild-
Entwurf und der fertigen Ausführung keinerlei Abwei-
hauerei, Malerei, Kunstgewerbe und Handwerk“39
chungen vorzufinden. Folglich kann durch die präzise
und widmete sich speziell dem Glashandwerk.
gegenseitige Abstimmung nur bedingt von einer
Obwohl Anni und Josef Albers in verschiedenen
Zweiteilung gesprochen werden. In Arbeitsteilung
Medien arbeiteten, lässt sich dennoch von einer
entstand stattdessen ein gemeinsames Werk, in dem
Zusammenarbeit sprechen, die sich hauptsächlich in
beide auf gleiche Weise präsent waren. Die Koopera-
ähnlichen formalen, künstlerischen Gestaltungsprin-
tion zwischen Lisbeth und Julius Bissier war nicht nur
zipien äußerte.40 Josef Albers fertigte in Tektonische
eine Inspirationsquelle für das jeweilige Schaffen des
Gruppe geometrische Formen aus sandgestrahltem
anderen, sondern auch eine Form von symbiotischer
Glas, wohingegen seine Frau zeitgleich den Entwurf
Die Web- und Knüpfarbeiten von Lisbeth und Julius Bissier
367
Abb. 5: Anni Albers, Entwurf zu Wandbehang, 1926, Gouache und Bleistift auf Foto-Offset-Papier, 38,1 x 24,5 cm, signiert u. l.: AA1926, The Josef and Anni Albers Foundation, New York
368
für einen Wandbehang in einem abstrakt wirkenden
die Längs- und Querstreifen derselben Bewegung
Muster gestaltete (Abb. 5, 6). Gemeinsam sind den
(Abb. 6). Josef Albers modulierte in Tektonische
beiden Werken die kräftigen Farben und das in
Gruppe die Komposition, indem er die orthogonale
parallelen und rechtwinkligen Linien gezogene
Gitterstruktur in zusammenhängenden rechtwinkli-
Streifenmuster. Bei genauerer Betrachtung erinnert
gen sowie parallelen Streifenelementen auflöste.
es an die Struktur eines Gewebes: den übereinander
Anhand des Beispiels ist zu erkennen, dass für Anni
gelagerten Fäden von Kette und Schuss, wie es
und Josef Albers sowohl das Handwerk als auch die
bereits bei Monte Albán angedeutet wurde. Im
textile Technik gemeinsame Anknüpfungspunkte und
Entwurf von Anni Albers ziehen sich graue und rote
Inspirationsquellen in ihrem jeweiligen Schaffen
quer gerichtete Linien abwechselnd unter oder über
waren. Sichtbar wird diese Anregung in der gemein-
einen Längsfaden (Abb. 5). Auch im Glaswerk folgen
samen abstrakten Formensprache, die sich aus der
Helene Roth
entstand kein gemeinsames textiles Werk, wie das der Bildteppiche der Bissiers.
Coup les Modernes: Text i le Kop rodukt i onen i n der Moderne In einem Bauhaus-Sonderheft der Zeitschrift Junge Menschen schrieb Anni Albers: „Wir haben zu sehr das Materialgefühl früherer Zeiten verloren. Wir Abb. 6: Josef Albers, Tektonische Gruppe, 1925, Glas, opak, sandgestrahlt mit schwarzer Farbe, 29 x 45 cm, Privatsammlung, Schweiz
müssen neu versuchen, dies Gefühl zu schulen. Wir müssen handwerkliche und technische Möglichkeiten neu durchdringen. Das macht Hand-Arbeit möglich. Der langsame Arbeitsweg läßt jeden Versuch zu. Er ermöglicht vollkommene formale, technische, materi-
orthogonalen Gewebestruktur ableiten lässt. Durch
ale Durchbildung.“42 Sie erklärte, dass die maschinelle
die Webarbeiten seiner Frau inspiriert, beschäftigte
Arbeit nur noch eine lose Verbindung zwischen dem
sich Josef Albers ebenfalls mit textilen Strukturen.
Weber und dem Webstuhl zulasse und mit dieser auch
Charakteristisch ist dabei, dass jeder der beiden auf
eine Entfremdung vom textilen Material einhergehe.
seine Art und Weise Ideen und Experimente in das
Mit der Einrichtung einer Handweberei wurde am
jeweilige Medium umsetzte und dabei ein eigenstän-
Bauhaus versucht, den Fokus von der Massenherstel-
diges Werk bildete.41
lung hin zur Einzelfertigung zu legen.
Der Exkurs zu den Web- und Glasarbeiten des
Der vorliegende Beitrag verdeutlicht, dass etliche
Bauhauspaares Albers verdeutlicht, dass die gemein-
Jahre später eine andere Künstlerin an den gleichen
same künstlerische Koproduktion von Lisbeth und
Bestrebungen festhielt und Anni Albers’ Aussagen
Julius Bissier Verwandte findet und sich sehr gut in
erneut Gültigkeit verlieh. Lisbeth Bissier wurde in der
den kunstgeschichtlichen wie den textilhandwerkli-
eigenen Handweberei von der materialen und taktilen
chen Kontext des 20. Jahrhunderts einordnen lässt.
Wertschätzung für das Textile geleitet. Das Material
Dennoch gibt es gewisse Unterschiede in der Zusam-
und die handwerklichen Qualitäten spielten für sie
menarbeit zwischen Anni und Josef Albers auf der
eine wichtige Rolle. Sie suchte, wie Anni Albers’, in der
einen und Lisbeth und Julius Bissier auf der anderen
Verbindung von Tradition und Handwerk nach neuen
Seite. Denn das Künstlerpaar Albers kreierte in der
technischen Möglichkeiten, das Material aufzuwerten.
Kooperation kein gemeinsames Werk, an dem beide
Über das Weben fand Lisbeth Bissier zur Technik des
gleichermaßen beteiligt waren. Folglich findet sich im
Knüpfens, in der sie neue formale Experimente wagte.
Schaffen von Anni und Josef Albers eine andere Art
In der Kooperation mit ihrem Partner, der die Entwürfe
des symbiotischen Arbeitens. Zwar lässt sich von einer
fertigte, gelang ihr zudem die Verbindung des Textil-
gegenseitigen Inspiration für neue formale und
handwerks mit der Malerei. Dabei schuf sie im Werk
mediale Ausdrucksmöglichkeiten sprechen, aber es
der Bildteppiche eine neue künstlerische Form.
Die Web- und Knüpfarbeiten von Lisbeth und Julius Bissier
369
Anm erkungen
Interessant ist, dass auch Julius Bissier dem Zitat von Anni Albers folgte und mit verschiedenen Materialien und Techniken experimentierte. Durch die Werkstatt seiner Frau inspiriert, übertrug er die Farbe und das Textile in seine Malerei und gelangte in den Miniaturen zu einer neuen Ausdrucksweise.
sprache zu artikulieren und in geometrischen, abstrakten Kompositionen avantgardistische textile Arbeiten
2
Die 1956 erschienene Erstausgabe der Zeitschrift Werkkunst in
der Reihe Kunsthandwerkliche Werkstätten erwähnte erstmals Julius
Karlsruhe 1956. Die 1966 stattfindende Ausstellung Lisbeth Bissier – Julius Bissier, Bildteppiche betonte zum ersten Mal den künstlerischen Charakter der Knüpfteppiche. Vgl. Lisbeth Bissier – Julius Bissier. Bildteppiche, hg. v. Herbert Pée und Toni Schneiders u. a., Ausst.-Kat. Museum Ulm, Ulm 1966. Die 2015 zum 50. Todestag von Julius Bissier
herzustellen. Die kunsthistorische Aufarbeitung
gewidmete Sonderausstellung präsentierte erstmals öffentlich die tex-
textiler Koproduktionen von Künstlerpaaren in der
tilen Koproduktionen. Vgl. Julius und Lisbeth Bissier. Die Hagnauer Zeit
Moderne ist aktueller denn je, wie die Ausstellung
1939–1961, hg. v. Galerie Schlichtenmaier, Ausst.-Kat. Hagnauer Museum Bodensee, Grafenau 2015.
Couples Modernes im Centre Pompidou in Metz
3
zeigte.43 Der umfangreichen Präsentation fehlte dennoch ein kritischer Blick auf das komplexe Geflecht
Detaillierte biografische Angaben zu Lisbeth und Julius Bissier,
vgl. Ausst.-Kat. Ulm 1966 (wie Anm. 2); Ursula Kircher: Von Hand gewebt. Eine Entwicklungsgeschichte der Handweberei im 20. Jahrhundert, Marburg 1986, S. 149 ff.; Ausst.-Kat. Hagnau 2015 (wie Anm. 2).
von „partnerschaftlichen Gemeinschaftswerken“44. Wie bereits kunsthistorische, soziologische als auch feministische Analysen aufzeigen, existiert neben einer produktiven und fördernden Zusammenarbeit auch die kontraproduktive und behindernde Kooperation, die von Konkurrenz, Unterdrückung und gegenseitiger
4
Diese Zweiteilung entsprach nicht den Konventionen der dama-
ligen Zeit, in der es üblich war, dass beide Vorgänge von einer Person ausgeführt wurden. Vgl. Christin Wolsdorf: Wir waren halt die Dekorativen im Sternbanner Bauhaus, in: To open eyes. Kunst und Textil vom Bauhaus bis heute, hg. v. Friedrich Meschede und Jutta Hülsewig-Johnen, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bielefeld, Bielefeld 2013, S. 60–67, hier S. 62.
Vernichtung geprägt sein kann. Ebenfalls kann der 45
Fall eintreten, dass einer der beiden Partner, oftmals die Frau, aufgrund sozialer Asymmetrien, wie Altersun-
5
Auch wenn der Fokus des Beitrags auf den textilen Koproduktio-
nen in der Moderne liegt, darf nicht vergessen werden, dass die Teppichund Webkunst auch im Kontext kultur-, kunst- und religionsgeschichtlicher Entwicklungen zu sehen ist. Funde von Teppichfragmenten aus 2600 v. Chr. belegen, dass die Technik des Teppichknüpfens bereits in
terschied, Schichtzugehörigkeit oder psychischer 46
Inwiefern Lisbeth Bissier (un)freiere künstlerische Entfaltungsmöglichkeiten als ihr Partner besaß, ist nicht genau nachweisbar. Dennoch findet sich ein Ungleichgewicht in der zuletzt erschienenen Ausstellungspublikation zu den Bissiers: Lisbeth Bissier ist in Hauptkatalog gewidmet.47
Ausst.-Kat. Bauhaus-Archiv Berlin, Berlin 1998, S. 110.
handwerkliche Werkstätten: Lisbeth + Julius Bissier, Bd. 1, 1956, H. 18,
Interaktion mit ihren Partnern, eine moderne Formen-
einem Begleitheft separiert, Julius Bissier ist der
Anni Albers: Bauhausweberei, in: Das Bauhaus webt – Die Textil-
werkstatt am Bauhaus, hg. v. Magdalena Droste und Manfred Ludewig,
Bissier als Entwurfszeichner. Vgl. Werkkunst, 1. Heft der Reihe: Kunst-
Lisbeth Bissier und Anni Albers gelang es, in
Passivität, weniger künstlerische Freiheiten besitzt.
1
dieser Periode bekannt war. Vgl. Karin Adrian von Roques: Teppiche. Von den Anfängen der Teppichkunst bis heute, München 1993, S. 20; In the carpet. Über den Teppich, hg. v. Iris Lenz und Valérie Hammerbacher, Ausst.-Kat. Institut für Auslandsbeziehungen, ifa-Galerie Stuttgart, Stuttgart 2016.
6
Vgl. Karin Adrian von Roques: Teppiche. Das Standardwerk für
Liebhaber und Sammler, München 1999, S. 38–44.
7 8
Ebd., S. 38. Vgl. Ausst.-Kat. Ulm 1966 (wie Anm. 2); Kircher 1986 (wie
Anm. 3), S. 149.
9 10
Ausst.-Kat. Ulm 1966 (wie Anm. 2). Vgl. Will Grohmann. Texte zur Kunst der Moderne, hg. v. Kon-
stanze Rudert und Volkmar Billig, Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, München 2012, S. 254.
11
Vgl. Marie-Amélie zu Salm-Salm: Der Stoff und die Malerei. Wech-
selspiel von freier und angewandter Kunst um 1900 – eine europäische
370
Helene Roth
Bewegung, in: Kunst und Textil. Stoff als Material und Idee in der Moderne
chen 1989, S. 132; Anni und Josef Albers. Begegnung mit Lateiname-
von Klimt bis heute, hg. v. Markus Brüderlin, Ausst.-Kat. Kunstmuseum
rika, hg. v. Brenda Danilowitz und Heinz Liesbrock, Ausst.-Kat. Josef
Wolfsburg, Ostfildern 2013, S. 298–330, hier S. 298; Hans Wichmann
Albers Museum Bottrop, Ostfildern 2007.
(Hg.): Von Morris bis Memphis. Textilien der Neuen Sammlung. Ende
30
19. Jahrhundert bis Ende 20. Jahrhundert, Basel u. a. 1990, S. 23.
v. Ann Coxon, Briony Fer und Maria Müller-Schareck, Ausst.-Kat.
12 13
Vgl. Wichmann 1990 (wie Anm. 11), S. 120.
Kunstsammlung Nordrhein-Westfahlen, Düsseldorf, München 2018,
Vgl. Harry Schlichtenmaier: Die Symbole in diesen Bildern sind
S. 74–86.
Ausst.-Kat. Ulm 1966 (wie Anm. 2).
31 32 33
Vgl. Herbert Pée: Vorwort, in: Ausst.-Kat. Ulm 1966 (wie Anm. 2).
Kunsthandwerk, 1956 den Staatspreis von Baden-Württemberg. Vgl.
Vgl. Eva Zimmermann: Die Werkstätte Lisbeth und Julius Bissier,
Ausst.-Kat. Ulm 1966 (wie Anm. 2); Ausst.-Kat. Hagnau 2015 (wie
stumme Gleichnisse, in: Ausst.-Kat. Hagnau 2015 (wie Anm. 2), S. 7.
14 15 16 17
Vgl. María Minera: Monte Albán entdecken, in: Anni Albers, hg.
Vgl. Kirchner 1986 (wie Anm. 3), S. 151.
Ausst.-Kat. München 1989 (wie Anm. 29), S. 132 f. Vgl. Brüderlin 2013 (wie Anm. 25), S. 35. 1955 erhielt Lisbeth Bissier den Hessischen Staatspreis für
in: Werkkunst 1956 (wie Anm. 2).
Anm. 2).
18 19 20
Vgl. Ausst.-Kat. Wolfsburg 2013 (wie Anm. 11), S. 119.
34 35
Daher ist es nicht abwegig, dass auch Lisbeth Bissier, als sie
Julius Bissier. Zum hundertsten Geburtstag, hg. v. Volkmar Essers,
1929 die Textil- und Modeschule in Berlin besuchte, mit diesen Ten-
Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf, Ostfildern-
denzen und Methoden vertraut wurde. Vgl. Wichmann 1990 (wie
Ruit bei Stuttgart 1993, S. 10–39, hier S. 36.
Anm. 11), S. 23.
36 37
21
Ausst.-Kat. Ulm 1966 (wie Anm. 2).
Von Roques 1993 (wie Anm. 5), S. 262. Vgl. Leonie von Wilc-
Vgl. Schlichtenmaier 2015 (wie Anm. 13), S. 7. Vgl. Volkmar Essers: Aus enger Begrenzung zur lichten Weite, in:
Schlichtenmaier 2015 (wie Anm. 13), S. 7. Nach Will Grohmann kennzeichnen die Miniaturen den Höhe-
kens: Die Geschichte der deutschen Textilkunst. Vom späten Mittelalter
punkt seines bisherigen Schaffens. Vgl. Ausst.-Kat. Dresden 2012 (wie
bis in die Gegenwart, München 1997, S. 173 ff.
Anm. 10), S. 254.
22
38
Vgl. zu Salm-Salm 2013 (wie Anm. 11), S. 298; Wichmann 1990
Meyers Konversationslexikon, Bd. 15, Leipzig und Wien, 1885–
(wie Anm. 11), S. 120.
1892, S. 456. Außerdem zum Begriff der Symbiose im Kontext von
23
Ebenfalls übertrugen Fernand Léger oder Pablo Picasso ihr
Künstlerpaaren siehe: Paolo Bianchi: Künstlerpaare (Mann-&-Frau-
abstraktes Formenrepertoire zwischen den 1940er und 1960er Jahren
Paare), Teil 1, in: Kunstforum International, Bd. 106, 1990, S. 78–87;
auf Tapisserien und entwarfen handgeknüpfte Boden- und Wandteppi-
Carola Muysers: Das Sinnbild Zwilling – Kunst, Kreativität und Autor-
che. Bislang sind diese Teppiche noch nicht ausreichend erforscht und
schaft von Künstlerpaaren heute, in: Renate Berger (Hg.): Liebe Macht
werden lediglich in einer kleinen Broschüre der Galerie Beyeler er-
Kunst. Künstlerpaare im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2000,
wähnt. Vgl. Teppiche. Arp, Bissier, Bissière, Calder, Ernst, Vieira da Silva,
S. 435–448, hier S. 442.
Klee, Laurens, Léger, Miró, Picasso, Ausst.-Kat. Galerie Beyeler, Basel Vgl. von Roques 1999 (wie Anm. 6), S. 30 f.
39 40 41
Ebd., S. 322 f.; Markus Brüderlin: Zur Ausstellung. Die Geburt
Pitiot, Ausst.-Kat. Centre Pompidou Metz, Paris 2018, S. 47.
1961.
24 25
Brüderlin 2013 (wie Anm. 25), S. 35. Ausst.-Kat. München 1989 (wie Anm. 29), S. 54. Couples modernes, hg. v. Emma Lavigne, Elia Biezunsk und Cloé
der Abstraktion aus dem Geiste des Textilen und die Eroberung des
42
Stoff-Raumes, in: Ausst.-Kat. Wolfsburg 2013 (wie Anm. 11), S. 14–45.
mes Leben, gemeinsame Arbeit, in: Josef und Anni Albers. Europa und
26 27
Ausst.-Kat. Ulm 1966 (wie Anm. 2).
Amerika. Künstlerpaare – Künstlerfreunde, hg. v. Josef Helfenstein und
Vgl. Brüderlin 2013 (wie Anm. 25), S. 35; Anja Baumhoff: Webe-
Henriette Mentha, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bern, Köln 1998, S. 110
rei intern. Autorität und Geschlecht am Bauhaus, in: Ausst.-Kat. Berlin 1998 (wie Anm. 1), S. 53–58, hier S. 53.
28
Neben Anni Albers verfolgten auch Gunta Stölzl, Benita Koch-
43 44 45
Zit. n. Nicholas Fox Weber: Anni und Josef Albers: Gemeinsa-
Vgl. Ausst.-Kat. Metz 2018 (wie Anm. 41), S. 66–73, S. 182–185. Bianchi 1990 (wie Anm. 38), S. 78. Vgl. Renate Berger: Leben in der Legende, in: Berger 2000 (wie
Otte, Else Mögelin und Getrud Arndt in der Webereiwerkstatt das Ziel,
Anm. 38), S. 1–34, hier S. 2; Karoline Künkler: Modellhafte Paargemein-
die modernistische Formensprache in ihre Teppiche aufzunehmen. Vgl.
schaften am Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Berger 2000 (wie
Ausst.-Kat Stuttgart 2016 (wie Anm. 5); Wolsdorf 2013 (wie Anm. 4),
Anm. 38), S. 359–389, hier S. 365.
S. 60–67.
46
29
Gesellschaft 1905–1955, München 2005, S. 142–157.
Vgl. Anni und Josef Albers – Eine Retroperspektive, hg. v. Mark
Kuhrt und Maximilian Schell, Ausst.-Kat. Villa Stuck München, Mün-
47
Vgl. Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Vgl. Ausst.-Kat. Hagnau 2015 (wie Anm. 2).
Die Web- und Knüpfarbeiten von Lisbeth und Julius Bissier
371
( TR A N S - ) LO KAL UND GLOBAL / ( TR A N S ) LO C AL AND GLOBAL
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which was made of silk spun from silk waste, was much cheaper than other silk textiles, making it suitable for mass consumption. Penelope Francks characterized this as follows: “For the big city department stores, the meisen kimono provided the vehicle by means of which to introduce the techniques of the fashion system to the marketing of Japanese-style clothing.”4 Thus modernization in Japanese clothing was not only an acceptance of Western clothing but
Kimono as Fashion: Japanese Department Stores Designing New Kimono Patterns, 1890s–1910s
also the foundation of a new fashion system. Kimono fashion did not develop all at once in the interwar period. From the 1890s to the 1910s, Mitsukoshi 三越, Shirokiya 白木屋 and other Japanese department stores attempted to set trends with their kimono patterns, which they released once or twice a year. Although mass consumption had not yet emerged by the rise of the meisen kimono, it is
Hissako Anjo
impossible to ignore that a system had been established to provide constantly fashion trends. In this article, I discuss early attempts of Japanese depart-
Introd u c t ion What is modernization in the context of Japanese clothing? This is a complex question. The term is often used as a synonymously for Westernization,
ment stores to create kimono fashions, and I illustrate how constant novelty was created in the kimono.
Mi t sukoshi ’s Innovat i ons a nd t he Genroku-St yle Pat tern
referring to the acceptance of Western clothing.1 In spite of the fact that it flies in the face of history and
The kimono shop Mitsukoshi was founded in
ignores that Japanese-style clothing – which includes
1673 at Edo Honchō (present-day Nihonbashi Honchō
the kimono2 – experienced numerous changes
in Tokyo). It continued to be one of the largest and
throughout the modern era, it is widely accepted that
best-known kimono shops in Edo (present-day Tokyo)
Japanese-style clothing has always been the same.
for most of the Edo period (1603–1868). At the end of
Recent histories of consumption have exhibited due
the 19th century, Mitsukoshi became Japan’s first
attention to the development of kimono fashion in
department store. Following Wanamaker’s business
Japan in the interwar period.3 In the 1920s and 1930s,
model from the United States, Yoshio Takahashi 高橋
new designs of meisen (銘仙) kimono were produced
義雄, who became director of Mitsukoshi in 1895,
by department stores every year and were widely
introduced certain innovative sales techniques, such as
purchased by women as a fashionable. The meisen,
displaying products in showcases and installing show
Kimono as Fashion: Japanese Department Stores Designing New Kimono Patterns, 1890s–1910s
375
windows on the ground floor.5 In January 1905,
Mitsukoshi began to hold exhibitions for new kimono
Mitsukoshi issued a declaration, which became widely
patterns and pattern design competitions as seasonal
known as ‘Mitsukoshi’s Department Store Declaration’,
events. The Kimono fashion spurred by Mitsukoshi
in the form of a full-page advertisement in newspa-
received more and more attention as a result of holding
pers, announcing the decision to transform it into a
these events. The store eventually would put out a new
modern commercial space to attract more clients.6
pattern every spring and autumn in the 1910s.
As Yuki Jinno 神野由紀 noted, in addition to the innovations mentioned above, Mitsukoshi also deliberately set out to influence fashion trends by
Two Funda m ent a l Quest i ons
designing new kimono patterns for women. In 1895, 7
Takahashi built a design department (Ishōbu 意匠部), whose first assignment was to study it. First, he
visit to Paris in 1889 may have given him a hint for
obtained help from the Japanese-style painting artists
future designs.11 In his 1933 memoir, he described the
Kandō Katayama 片山貫道, Kōtei Fukui 福井江亭,
events leading up to the creation of the Genroku-style
Ryūtō Shimazaki 島崎柳嶋 and Gyokuen Takahashi 高
pattern: “When I had visited Paris a few years before, I
橋玉淵, and they put out a book, Moyō shūchō 模様集
heard that couture houses in Paris were creating a new
帳 (Pattern Collective), to be used as inspiration for
style of clothing every year and had a great influence
pattern design. This book contained images of many of
not only in Paris and in European countries but also in
the greatest works in Japanese art of all time, including
the United States. I thought that it would be difficult
examples of the Tosa school and the Sumiyoshi school.
to do something like that in Japan, where granddaugh-
In 1905, Takahashi used this book to select designs
ters often wore their grandmothers’ kimonos.”12 Given
from the Genroku era (1688–1704), and he launched
this, why did Takahashi not try to create a new
the Genroku-style pattern (Genroku moyō 元禄模様), a
Western style for women’s clothing like the couture
pattern that was characterized by large motifs and
houses of Paris? Why, precisely, did he choose to set
vivid colors. This is because he thought that loud and
fashion trends by designing new kimono patterns?
8
colorful patterns would be suitable for Japanese
The first question should be addressed first.
people who were excited about Japan’s victory in the
Although Western clothing had certainly become
Russo-Japanese War (1904–1905). This pattern
accepted in modern Japan, it was spreading quite
succeeded in the market.
slowly, especially among women.13 In 1887, Mitsu-
9
Mitsukoshi’s own monthly magazine, Jikō 時好
koshi began selling Western clothing, for which it
(Taste of the Times), founded in August 1903, played an
engaged a French couturier at an exceptionally high
important role in promoting the Genroku-style
salary. However, only a few years later, Mitsukoshi
pattern. Jikō was in part a catalogue for promoting new
ceased sales of Western clothing, and the couturier
items at Mitsukoshi, but it also published essays on
was dismissed.14 This indicates that the demand for
fashion and clothing, literary fiction and other materi-
Western clothing may have been quite low. This
al. It was important to publish information on
pushed Mitsukoshi to only sell kimonos.
10
Mitsukoshi because there were very few fashion magazines in Japan at the time. Simultaneously,
376
It is not widely recognized that Takahashi’s first
The second question requires a little of history. It is not an exaggeration to say that the kimono form
Hissako Anjo © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412514594 – ISBN E-Book: 9783412518059
generally does not change and has not changed. In fact, the form of the kosode, or the antecedent of the kimono, has hardly changed at all since about the beginning of the 17th century. It has become longer, with wider sleeves and a narrower body.15 The characteristics of the kimono were well listed by Nobuhiko Maruyama 丸山伸彦: “Although clothing appears stable, it is never fixed. […] When the form of a piece of clothing is fixed, the changes that are inevitable can only happen on its decorative surface. The form of the kosode changed from the Momoyama period to the beginning of the Edo period. […] Where the form changed, to some extent, the pattern moved. […] This shows that the pattern came to take the role of a changeable element, which the form had previously played.”16 Hence, for Takahashi, who wished to start trends in kimono fashion, the design of new patterns was the only option.
Ch an ge of Styles: From Retro to Mod e r n , f rom Modern to Retro
Ill. 1: Mitsukoshi, Kōrin-style pattern from the Meiji, 1909
After the Genroku-style pattern was launched, Mitsukoshi continued to create retrospective patterns. For example, the Kōrin-style pattern from the Meiji
spirals and planar plants was often modelled by
(Kōrin shiki Meiji moyō 光琳式明治模様) (ill. 1), which
Japanese designers – especially in Kyoto – inspired by
was launched by Mitsukoshi in 1909, was based on
Vienna Secession.19 It had similar characteristics to
the works of Kōrin Ogata 尾形光琳 (1658–1716), a
those of Ella Weltmann and Emanuel J. Margold’s work
well-known artist of the Rimpa school. This pattern
in Deutsche Kunst und Dekoration during the second
was characterized by smooth curves and rhythmic
half of the 1900s and the first half of the 1910s (ill. 3).
repetition of motifs, like Kōrin’s works.
Moreover, Mitsukoshi’s Taishō-style pattern (Taishō
17
Mitsukoshi’s patterns referenced Japanese
shiki moyō 大正式模様) should not be forgotten. Taishō
historical styles as well as contemporary art and design
(大正) is the name of the era of Japanese history that
in Europe. For example, in the October 1913 issue of
started on 30 July 1912, with Emperor Meiji’s death. In
Mitsukoshi 三越, a new pattern was presented: the
1914, Mitsukoshi launched this pattern to celebrate
Secession style (ill. 2). This distinctive style with its
the new emperor’s enthronement, which had been
18
Kimono as Fashion: Japanese Department Stores Designing New Kimono Patterns, 1890s–1910s
377
scheduled the autumn of that year.20 Like the name that was chosen to signify the new era, this pattern was intended to indicate modernity.21 Its wavy shapes and spirals show the influence of Art Nouveau and Secession more than that of any Japanese historical style (ill. 4). Nevertheless, in 1915, Mitsukoshi launched the New Kōrin-style pattern (Shin Kōrin shiki moyō 新光琳 式模様) (ill. 5), which brought run of the Taishō-style pattern, which was a Mitsukoshi product deliberately designed in the previous year to fit to the new era, to an end. Although this new pattern was a version of the Kōrin-style pattern of 1909, in this version unfamiliar Ill. 2: Mitsukoshi, Secession-style pattern, 1913, enlarged image
plants, such as primula, hyacinth and moth orchid, which Mitsukoshi called Western plants, were used as design motifs. Interestingly, although this was a retrospective pattern, fresh motifs were mixed in it as well. Articles in the February 1915 and the March 1915 issues of Mitsukoshi adduced two reasons for the launch of the New Kōrin-style pattern. First, the environment characterized by the outbreak of the First World War and “Japan’s victorious autumn” influenced people’s taste; consequently, it was necessary to return to Kōrin Ogata, the most widely known Japanese artist in the world in order to show Japan’s greatness.22 Second, fashion required constant change; no one pattern could last long.23 We should not overlook Mitsukoshi’s deliberate attestation of the necessity of change in fashion: this shows that the regular advent of new patterns was a conscious attempt to design new patterns and create change.
Shi roki ya i n t hose Days Shirokiya, one of the best-known department Ill. 3: Ella Weltmann‘s design in Deutsche Kunst und Dekoration, 1910
378
stores in Tokyo, founded during the Edo period, was having an experience that was not much different
Hissako Anjo © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412514594 – ISBN E-Book: 9783412518059
Ill. 4: Mitsukoshi, Taishō-style pattern, 1914
Ill. 5: Mitsukoshi, New Kōrin-style pattern, 1915
from the one that obtained in Mitsukoshi. Shirokiya
style pattern (Shin Edo shiki moyō 新江戸式模様).
brought out new patterns once a year in the 1910s.
This pattern was literally art and design stylings from
Although Shirokiya tended to declare each year that
the Edo period. An article in the September 1914 issue
the current pattern actually fit the times, the overall
of Ryūkō 流行 (Fashion), Shirokiya’s own magazine,
churn was essentially in pursuit of novelty, continually
discussed the reason for its launch: “The Nūbō (Art
designing different patterns.
Nouveau) style was having a great influence on the
Contemporaneously with Mitsukoshi’s Taishōstyle pattern, Shirokiya was launching its New Edo-
design of our country a few years ago, and the Secession style also did so two or three years later. How-
Kimono as Fashion: Japanese Department Stores Designing New Kimono Patterns, 1890s–1910s
379
discussed above, the nation’s tastes will not easily change.”24 Thus, Shirokiya turned away from Europe’s influence and advertised its New Edo-style pattern as something suitable for “nation’s own tastes”.25 In 1915, Shirokiya launched its Tempyō-style pattern (Tempyō shiki moyō 天平式模様) (ill. 6), emphasizing that the people who had entered a new international era needed an input from the style of art and design that was prevalent in the Tempyō era.26 That is, the promotion of the New Edo-style pattern that had begun in the previous year was already over and done with. Tempyō is the name of a Japanese historical era, which took place in the 8th century, when an internationalized culture, which was imitation of the Tang dynasty of China, flourished under Emperor Syōmu 聖武天皇. An article in the June 1915 issue of Ryūkō expressed admiration for the Tempyō era’s cultural diversity; on the other hand, it criticized the cultures of other Japanese periods, including that of the Edo period, as if to deny the existence of the previous New Edo-style pattern. In that article, the classic spirit of Tempyō era held vitality and pure grandness as of greater importance than mere technical skill; indeed, this new pattern had an air of artlessness.27 Nevertheless, it also lasted only a year. In 1916, another new pattern replaced it and was promoted in its turn as “that which meets the needs of the national taste”.28 As Mitsukoshi had done, Shirokiya established a system of constant novelty. Ill. 6: Shirokiya, Tempyō style pattern, 1915
Conclusi on ever, these styles were replaced by the Maruhōhu style: the Secession style, but transformed into a
380
In Japan, a system was put into place to provide
uniquely Japanese style. The Kyūbizumu (Cubist) style
constant trends in fashion by department stores
has now begun to appear on the first page of maga-
between the 1890s and 1910s. These institutions
zines. […] Although the trends are rapidly changing, as
attempted to set annual or seasonal trends in Japa-
Hissako Anjo © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412514594 – ISBN E-Book: 9783412518059
Note s
nese-style clothing. As has been recognized by a number of thinkers, a fashion must continuously and ephemerally create ‘novelty’.29 Given this, where is the constant novelty in fashion trends in the kimono? The kimono form always stayed the same.30 It was found in the constant flow of new patterns that referenced various styles, sometimes retrospective and sometimes based on contemporary European art; that is, they were in the styles of different countries, including Japan, eras and artists, all of which were indispensable source of novelty. More importantly, the sole criterion for discovering a style was its relative freshness in relation to recent fashion trends, regardless of whether it was traditional or modern. Even though some modern styles imported from Europe were eagerly promoted, their moment on the heights of Japanese fashion only lasted a moment. Afterwards, traditional Japanese styles appeared in full splendor in the magazine of one department store or another, but shortly thereafter, it was gone, also replaced with another Japanese style from a different era. In addition, each style could be rediscovered when least expected. This incessant change of styles to create endless novelty is similar to Western fashion system, except it must be limited to two dimensions. The arrival of the novelty-pursuing, seasonally renewing churn of fashion is one of the most important changes in the modern history of Japanese clothing.
1
For example, see Hiroshi Minami 南博 ed., Nihon modanizumu
no kenkyū: shisō, seikatsu, bunka 日本モダニズムの研究―思想・生活・ 文化 [A study of Japanese modernism: thought, life and culture] (Tokyo: Burēn syuppan ブレーン出版, 1982); Toby Slade, Japanese Fashion: A Cultural History (Oxford/New York: Berg, 2009).
2
The term ‘kimono’ is often used as a general term for Japanese
traditional clothing, including juban (underwear), obi (sash) and haori (jacket or coat). In this case, it is a synonym for ‘wafuku’ 和服
–
that
includes the two letters, ‘和’ meaning ‘Japanese’ and ‘服’ meaning ‘clothing.’ On the other hand, this term only refers to a Japanese traditional full-length dress without an obi (sash). In this article, the term ‘kimono’ is used in the latter sense.
3
Yūki Yamauchi 山内雄気, ‘1920 nendai no meisen shijō no kaku-
dai to ryūkō dentatsu no shikumi’ 年代の銘仙市場の拡大と流行伝達の 仕組み [Market growth of the silk textile Meisen in the 1920s and the fashion creation system], Keiei shigaku 経営史学 [Japan Business History Review] 44, no. 1 (June 2009): pp. 3–30; Penelope Francks, ‘Kimono Fashion: The Consumer and the Growth of the Textile Industry in PreWar Japan’, in The Historical Consumer: Consumption and Everyday Life in Japan, 1850–2000, ed. P. Francks and J. Hunter (Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2012), pp. 151–175.
4
Francks, ‘Kimono Fashion: The Consumer and the Growth of the
Textile Industry in Pre-War Japan’, p. 169.
5
Tōru Hatsuda 初田亨, Hyakkaten no tanjō 百貨店の誕生 [The
birth of department stores] (Tokyo: Sanseidō 三省堂, 1993); Yuki Jinno 神 野由紀, Syumi no tanjō: hyakkaten ga tsukuttta teisuto 趣味の誕生―百貨 店がつくったテイスト [The birth of taste: taste created by department store] (Tokyo: Keisōsyobō 勁草書房, 1994).
6
Asahi Shimbun 朝日新聞 [Asahi Newspaper] (3 January 1905), p. 8;
Yomiuri Shimbun 読売新聞 [Yomiuri Newspaper] (3 January 1905), p. 6.
7 Jinno, Syumi no tanjō: hyakkaten ga tsukuttta teisuto, pp. 72–76, 123–129. See also Yuka Nemoto 根本由香, ‘Kindai no fukusyoku to fukko syumi: Genroku no ryūkō wo megutte’ 近代の服飾と復古趣味― 「元禄」の流行をめぐって [Modern clothing and classicism: Genroku fashion], Fukusyoku bigaku 服飾美学 [Aesthetics of costume], no. 27 (March 1998), pp. 33–48.
8 9
Yomiuri Shimbun (2 April 1905), p. 3. Yomiuri Shimbun (12 July 1905), p. 1; Yomiuri Shimbun (16 Octo-
ber 1905), p. 4; Jinno, Syumi no tanjō: hyakkaten ga tsukuttta teisuto, pp. 123–129.
10 Before Jikō, Mitsukoshi had published its own magazine twice a year with a different title each time: Hanagoromo 花ごろも [Flower clothing] in January 1899, Natsugoromo 夏衣 [Summer clothing] in June 1899, Harumoyō 春模様 [Spring pattern] in January 1900, and Natsumoyō 夏模様 [Summer pattern] in June 1900. In addition, Jikō was replaced by Mitsukoshi Taimusu 三越タイムス [Mitsukoshi Times] founded in May 1908. It was also replaced by Mitsukoshi 三越 founded in March 1911.
Kimono as Fashion: Japanese Department Stores Designing New Kimono Patterns, 1890s–1910s
381
11
Yoshio Takahashi 高橋義雄, Hōki no ato 箒のあと [After sweep-
Japan Society of Design], no. 24 (November 1985), pp. 40–61; Hisao
ing] (Tokyo: Akitoyoen 秋豊園, 1933), p. 147.
Miyajima 宮島久雄, ‘Takeda Goichi to Kansai dezain kai’ 武田五一と関
12 13
Ibid., p. 415 f.
西デザイン界 [Goichi Takeda and design of the Kansai region], Dezain
According to a report by Wajirō Kon 今和次郎 and Kenkichi
riron, no. 57 (June 2011), pp. 91–104.
Yoshida 吉田謙吉, even in 1925, women wearing Western clothing was
20
only 1% in comparison with 99% wearing kimono in Ginza. Wajirō Kon
Dowager Shōken 昭憲皇太后 had died in April 1914.
今和次郎 and Kenkichi Yoshida 吉田謙吉, Moderunorojio: kōgengaku モ デルノロヂオ―考現学 [Modernologio: a study of modern social life] (To-
21 22
kyo: Syunyōdō 春陽堂, 1930), p. 3, reprinted in Kōgengaku nyūmon 考現
(February 1915), pp. 12–13; Mitsukoshi 5, no. 3 (March 1915), pp. 12 f.
学入門 [Introduction to Modernologio], ed. Terunobu Fujimori 藤森照信
“Japan’s victorious autumn” mentioned in Mitsukoshi is probably the
(Tokyo: Chikumasyobō 筑摩書房, 1987), p. 106.
Siege of Tsingtao between 31 October and 7 November 1914 against
14
Germany.
Yomiuri Shimbun (24 April 1989), p. 3. In addition, Mitsukoshi re-
The enthronement was put off until next year because Empress Mitsukoshi 4, no. 2 (February 1914), p. 5 f. Mitsukoshi 5, no. 1 (January 1915), p. 13; Mitsukoshi 5, no. 2
clothing in 1925.
23 24
15
Maruhōhu style was named after Josef Hoffmann and Emanuel J. Mar-
started selling men’s Western clothing in 1906 and women’s Western Nobuhiko Maruyama 丸山伸彦, ‘Fukusyokushi no naka no ko-
Mitsukoshi 5, no. 3 (March 1915), pp. 12–13. Ryūkō 流行 [Fashion] 11, no. 9 (September 1914), p. 1 f. The
sode: naze kimono ni monyō ga aru no ka’ 服飾史のなかの小袖―なぜキ
gold, architects and designers of the Vienna Secession.
モノに文様があるのか [Kosode in the History of Japanese Clothing: Why Does Kimono Have Patterns?], in Edo mōdo daizukan: kosode monyō ni
25 26
miru bi no keifu 江戸モード大図鑑―小袖文様にみる美の系譜 [Edo à la
ber 1915), p. 44.
mode: aesthetics lineages seen in kosode kimono motifs], ed. Kokuritsu Re-
27 28 29
kishi Minzoku Hakubutsukan 国立歴史民俗博物館 (Tokyo: Enu eichi kei
–
promōsyon NHKプロモーション, 1999), pp. 217 230.
16 17
Ibid., p. 223.
Ibid. Ryūkō 12, no. 6 (June 1915), pp. 2–11; Ryūkō 12, no. 9 (SeptemRyūkō 12, no. 6 (June 1915), pp. 2–11. Ryūkō 13, no. 6 (June 1916), no page number. For example, see Georg Simmel, ‘Fashion’, International Quar-
terly 10, no. 1 (October 1904), pp. 130–155, reprinted in American
Mitsukoshi Taimusu 三越タイムス [Mitsukoshi Times] 7, no. 9
Journal of Sociology 62, no. 6 (May 1957), pp. 541–558; see also Roland
(July 1909), no page number; Mitsukoshi Taimusu 7, no. 12 (October
Barthes, The Fashion System, trans. Matthew Ward and Richard Her-
1909), pp. 5–10.
ward (New York: Hill and Wang, 1983).
18
30
Mitsukoshi 三越 3, no. 10 (October 1913), p. 7. We can also find
On the other hand, from the second half of the 19th century to
another new pattern presented as ‘Art Nouveau style pattern’ in this
the first half of the 20th century, Japanese artists, designers and peda-
issue of Mitsukoshi.
gogues often tried to create and diffuse new clothing that contained
19
both Japanese and Western styles. However, their projects were not
Setsurō Hamano 濱野節朗, ‘E. J. Marugōrudo: Wīn–Darumusy-
utatto’ E. J.マルゴールド―ウィーン–ダルムシュタット [Emanuel Josef
successful.
Margold: Wien–Darmstadt], Dezain riron デザイン理論 [Journal of the
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but local in design. Language of Design reveals the extent to which post-war Australian designers tried to embrace modernism’s promises of universality, technological and scientific progress, and innovation within the localised discursive practices of Australian culture.3 Prestige Fabrics was a post-war offshoot of Prestige Limited, a company established by George Foletta in 1922, which became renowned in the 1920s
Textile Modernism in Australia: The Impact of Emigré Designer Gerard Herbst at the Prestige Textile Design Studio in Melbourne in the 1940s and 1950s
and 1930s for its luxury hosiery and lingerie, “the first company in Australia to enter the fine weaving industry”.4 Like other Australian companies, Prestige was required to contribute to the war effort and, from 1940 to 1945, it manufactured silk and rayon parachutes for paratroopers, bombs and supplies as well as “aeroplane fabrics, fine shirtings, linings etc.” in a plant in Sydney.5 Prestige prepared their own silk yarns and became expert in the technical side of producing fine woven fabric at a scale never before attempted in Australia. Concerned that the large investment in the
Harriet Edquist and Isabel Wünsche
plant would come to nought with the termination of the government contract at the end of the war, Foletta
Introd u c t ion
had decided, by 1944 if not earlier, that the only realistic future for Prestige was to begin to produce
In 1951, the documentary film Language of
textiles for the fashion trade.6
Design was shown at the L’Exposition Textile Internationale De Lille (‘International Textile Exhibition in Lille’). It had been produced for Cine-Service by an Australian textile manufacturer, Prestige Fabrics of Melbourne,
From Wi ndow Dresser to Ém i g ré Desi g ner
written by the company’s art director Gerard Herbst and directed by Melbourne cameraman Geoffrey
It is unlikely that Foletta would have embarked
Thompson. Language of Design was the second of
on this expansion of the company without having had
three films produced for Prestige by Herbst and
someone in mind to run it, namely Gerard Herbst, who
Thompson between circa 1949 and 1951. The three
had arrived in Melbourne from Germany in 1939. In
films together illustrate the means by which Herbst,
his papers, he describes himself as a “window dresser”
art director at Prestige from 1945 to 1955, took the
(which the interviewing immigration officer changed to
tropes and methods of modernism to forge an Austra
“commercial artist”), living at Town Hall Hotel in South
lian fashion product that was international in quality
Melbourne and employed at Prestige, a position
1
2
Textile Modernism in Australia
383
secured for him by Kurt Jacob, whom he had known in
alma mater, most likely referring to the Preußische
Munich but who was then living in Sydney.7 Herbst
Höhere Fachschule für Textilindustrie, which taught
began his work at Prestige by assisting with advertis-
weaving, dressing, dye works, darning, spinning and
ing and display. In February 1942, he signed a Mobili-
milling, and also offered a qualification in design.13
zation Attestation form, now describing himself as a
retail which included window display. Ambitious and
Imperial Force, in the 4th Employment Company,
wishing to go further afield, he applied for a position in
stationed at Albury, New South Wales, and Bonegilla,
Stettin on the Baltic Sea “as part of a team doing shop
Victoria. The evidence of these documents infers that
front and window displays”.14 By the mid-1930s,
the significant shift from ‘window dresser’ to ‘designer’
Herbst accepted a post in charge of window and
occurred at Prestige, not in Germany. Herbst’s service
merchandise displays with Bach, the large Jew-
record shows a steady rise through the ranks to ser-
ish-owned department store in central Munich.
geant by 1944. Herbst rejoined Prestige after demobili-
Established by Isidor Bach in 1871, the store was
sation in September 1945. Given Foletta’s firm intent-
compulsorily sold to one of the managerial staff,
ion to repurpose his silk and rayon plant to produce fine
Johann Konen, and ‘aryanised’ in 1936.15 Presumably
weaves after the war, it may well be that this possibility
Herbst left after this; he was in Paris where he
had been discussed prior to his enlistment.
attended the Exposition Internationale des Arts et
8
Gerard Herbst, originally named Paul Gerhard Herbst, was born out of wedlock to Anna Herbst, a
Techniques dans la Vie Moderne in 1937.16 Back in Munich, Herbst found another position
medical student, and Gustav Thiele on 1 Febru-
at the Musikhaus Odeon, a multi-storey music shop on
ary 1911, in Dresden-Blasewitz. Thiele was a textile
Sonnenstraße owned by the Jewish family Jacob. A
machinery designer and engineer who was credited
published advertisement for Hohner harmonicas and
with innovations in weaving machine automation. As
accordions shows the front window of the Musikhaus
an infant, Herbst was fostered out to Franz and Emmi
in which Herbst had placed a cardboard silhouette of
Lode who had no children of their own. The Lodes
an accordion player with various instruments at his
lived in the textile processing town of Cottbus,
feet (ill. 1). The text accompanying the advertisement,
south-east of Berlin, but had previously lived in
in addition to guaranteeing that all stock was available,
Dresden. Franz Lode was a businessman who dealt “in
noted that the head decorator, Herbst-Lode, was
the sale of locally manufactured cloth for making suits
responsible for the design and execution of the
and other apparel” and it is possible that it was
window display, a clear affirmation of his skill.17 Herbst
9
10
through mutual contacts in the textile industry in
soon became friends with son Kurt Jacob, and when
Dresden that Thiele and Lode knew each other.
the business was targeted during the Kristallnacht
Herbst took his mother’s name and that of his foster
pogrom, in 1938, Herbst helped the family hide and
parents, becoming Herbst-Lode. Family records
lent them money to escape Germany.18 Brought to the
indicate that following primary and secondary school
attention of the police and briefly imprisoned, he left
Herbst attended a technical college where his studies
Germany for Australia, his migration in turn being
“included life and technical drawing and commercial
assisted by Kurt Jacob, who had been sent to Sydney
art”. Herbst named the Höhere Handelsschule as his
to establish a branch of the family business and,
11
12
384
Herbst’s first job was in fabric wholesale and
“designer”, and entered service in the Australian
Harriet Edquist and Isabel Wünsche
factory from the back across a courtyard; upstairs was the studio. At each end of the rectangular studio were stages for displays and photography and to the sides a tiny dark room for photography and screenings and Herbst’s office.20 The position of art director first emerged in the commercial advertising industry in the United States in the 1920s. Jackie Dickenson puts its emergence in Australia much later, in the 1950s or 1960s, so the creation of such a position at Prestige in 1945 was highly unusual and should be seen as a pioneering development in modern Australian commercial enterprise.21 As art director, Herbst was able to execute his own designs as well as generate design ideas for others to follow, Copolov recalled, but he was primarily in charge of Prestige’s overall design, promotion and advertising, responsible for providing a unifying vision for the company’s brand. To support the enterprise, Foletta set up a dye and printing workshop, Dyecraft Limited, in 1945 and imported high-end Swiss looms.22 H G Foletta & Co, “merchanIll. 1: Gerard Herbst, Window Display for Musikhaus Odeon, Munich, ca. 1938
dise representatives for Prestige Ltd”, was established to distribute the resulting fashion fabrics.23 Initially, their only real competition was Claudio Alcorso’s Silk
presumably, to secure his own safety. The families
and Textile Printers, which had opened in Sydney in
were to remain in contact throughout Herbst’s life and,
1939, a year after Alcorso and his brother had mi-
in 1995, Herbst was honoured by Yad Vashem as one
grated to Australia from Italy but moved to Hobart,
of the Righteous Among the Nations for his help in
Tasmania in 1947. While Silk and Textile Printers had
saving the lives of the Jacob family.
introduced the Modernage range of textiles designed
19
by Australian artists in 1946 and 1947, much like Zika
Ge rard Herbst, Art Director of Pre s t i ge Design Studio, 1945 to 1955
Asher’s artists’ scarves project in England at the same time, the designs were not especially suitable for repeats and the initiative was not a success.24 Herbst brought into the Prestige studio young artists and designers who worked as a collaborative
George Foletta established a design studio at
team through the design process from initial concept
Prestige to be led by an art director. Former employee
to manufacture and display. Some, like Nan Gooder-
Susan Copolov (formerly Tandler) recalls entering the
ham, William Salmon and Viennese-born Susan
Textile Modernism in Australia
385
Copolov, had studied art at the Melbourne Technical
tional vehicle for Prestige, the film also exemplifies the
College (now RMIT University), while others, such as
practice of modern design, which is explained in a few
Polish-born émigré artist Stanislaus Ostoja-Kotkowski
well-illustrated steps: having first conceived a new
were émigrés like Herbst. There was no in-house
design, Herbst would take it to one of the artists in the
aesthetic; quite the contrary, the array of designs was
studio (in this case, Copolov), who would mock it up in
enormous, with Herbst consciously resisting the idea
paint and paper, draping the results on miniature
of conforming to accepted design norms: “Our task
models (ill. 2). The models were then photographed,
[was] to create conventional as well as experimental
and Herbst would assess whether the fabric was ready
design work. From the original concept to that of the
to go into production. The next sequence in the film
drawing board, a multitude of exploratory designs
illustrated the Phototex process from photograph to
evolved.”25
silkscreen, as well as a process combining silhouette
Designers at Prestige worked according to their own strengths; some textiles were avant-garde, others
with camera-less photography, a combination probably inspired by László Moholy-Nagy’s discussion of both
traditional. Designs attributed to Herbst tended to be
techniques in his book Vision in Motion, first published
abstract, derived from natural forms or influenced by
in 1947, a text that Herbst was familiar with and
contemporary British textile design. Copolov, whom
referred to in his later career as a teacher at RMIT.27 A
Herbst praised as a great colourist, recalled that she
number of authors have suggested that Herbst met
tended to focus on florals and Paisley designs although
and was encouraged by Moholoy-Nagy while still in
she also collaborated with Herbst on bold designs for
Germany, but the evidence for this is not strong.28 It is
the wide ties in fashion at the time, which were
more likely that Herbst first became seriously inter-
presented in thematic ranges (Zanzibar, Transjordan,
ested in Moholy-Nagy in 1947, when Vision in Motion
Wanamaker, Streamline, Bayadere etc.).26 Ostoja-Kot-
was published.
kowski’s fabric designs were generally abstract with
Along with fashion fabrics, Prestige produced
bold forms and colourways. There were also highly
accessories based on the same photographic motifs –
experimental novelty designs that were more to do
ties, scarves and handkerchiefs. The garments were
with publicity than fashion.
modelled on a specially prepared stage in the studio by Copolov and well-known Melbourne model Elly Lukas,
Ph ototex and Po rtraits in Fa b r i c s
among others. The fabrics were regarded as novelty products intended to project to the public Prestige’s capacity for innovation and technical expertise;
The drive to innovation can be seen in an early
386
photographic busts of Phar Lap (Australia’s most
process called Phototex, invented in 1948, a modifica-
popular racehorse), the American actress Rita Hay-
tion of an American process that combined photogra-
worth and others loom out of the densely-figured
phy and screen printing. To promote these fabrics,
backgrounds. Possibly intended to be shown before a
Herbst hired the cinematographer Geoffrey Thompson
feature in the cinema, Portraits in Fabrics concludes
of Cine Review, to help him produce Portraits in
with the statement “a Melbourne designer puts
Fabrics, a short (3.5 minutes) film, released in 1949,
Australia on the map of fashion”, a succinct summary
which he himself directed. Although clearly a promo-
of Herbst’s ambition. The press was intrigued and the
Harriet Edquist and Isabel Wünsche
Ill. 2: Unknown photographer, Prestige Studio showing designer Susan Tandler with small mannequins she has draped in Prestige fabric, 1950
film received widespread coverage in 1949, not only in
of photography in the studio paralleled industry
the trade literature but also in such far-flung publica-
developments worldwide.31
tions as Austral News (Bombay).
29
Portraits in Fabrics is significant in that it demon-
While Herbst developed film as a new promotional tool both to enhance the image of Prestige and
strates Herbst’s interest in film and photography both
also to articulate the role of the designer, he also used
as an artefact and as a technology capable of manipu-
still photography as an advertising medium. Although
lation at all stages of the design process. The camera
often behind the camera himself, he also commis-
became a working tool for the staff, who found that “a
sioned German émigré Wolfgang Sievers, one of
camera, as well as a pencil and drawing pad, can catch
Australia’s most acclaimed modernist photographers,
a detail they need for future reference in working out
to produce advertising material. Today, Sievers is
a design”.30 Following Moholy-Nagy, Herbst was also
celebrated for his powerful depictions of post-war
interested in camera-less techniques such as the
Australian industry and architecture: “In the fore-
combining of silhouettes with photosensitive paper,
ground of many of his photographs of machines,
photograms and other experimental processes. His use
factories and laboratories are men and women at
Textile Modernism in Australia
387
Ill. 3: Wolfgang Sievers, Elbeo Stockings Advertisement, Contempora – Lehrateliers für neue Werkkunst, Berlin, 1938
work, including miners, welders, assembly workers,
migrating to Melbourne in September 1938.34 Like
craftsmen, draughtsmen, technicians, scientists,
Herbst, he spent parts of the war in the 4th Employ-
computer operators and managers.”32 Sievers had
ment Company of the Australian Imperial Force. His
studied photography at Contempora – Lehrateliers für
work of the immediate post-war period has received
neue Werkkunst in Berlin in the 1930s and was a
little attention from scholars, but the small body of
follower of Bauhaus principles, “in particular the
work he created for Prestige in the late 1940s and
commitment to the applied arts, and the view that art
early 1950s demonstrates an unheroic side to his work
and industry should be united, with the artist serving
that should not be ignored.
an important social role”. He produced architectural 33
388
Sievers’s work for Prestige in the early 1950s is
photography for his father, art historian Johannes
of particular interest, as it thematically and composi-
Sievers, as well as commercial photography, prior to
tionally relates directly to photographs shot by Sievers
Harriet Edquist and Isabel Wünsche
in Berlin in 1938. In an advertisement for Elbeo Stockings, we see a woman, her face partially obscured by the synthetic nylon stocking she holds up before her eyes (ill. 3). Although an advertisement for a product emblematic of modern technological progress and evidence of Sievers’s accomplished understanding of modernist photography, as Helen Ennis has argued, the languorous beauty of the figure suggests a pictorial lineage extending back to the Madonnas of Bellini and early Titian, works that Sievers would have seen while travelling through Italy with his mother in 1930.35 The Australian version, for Prestige, uses the same conceit but is pitched to a contemporary audience; its composition of two suntanned,
Ill. 4: Wolfgang Sievers, Advertisement for Prestige Hosiery Ltd, Melbourne, ca. 1950s, photograph
bare-shouldered women is glamorous, seductive and outward looking (ill. 4). The early advertisements for Prestige are
white images which convey a feeling of suspense, even
important registers of Sievers’s accommodation to his
intimacy, but also the artificiality of the theatre envi-
new environment, his new audience and the distance
ronment. This quality of human interaction in Sievers’
he had travelled aesthetically from Berlin, they are
early post-war work contrasts strongly with the photo-
indubitably modern. One of the best-known of
graphs he took for Prestige after Herbst had left the
Sievers’s Prestige commissions is a photograph taken
company, compositions such as Stocking drying machine
at Red Bluff in the beach suburb of Black Rock,
at Prestige Ltd, Brunswick and Prestige Stockings, Bruns-
depicting Herbst cast in shadow standing on the cliff
wick Melbourne, which celebrate industrialised moder-
overlooking the sea. Herbst holds aloft what looks like
nity, for which Herbst himself had little affection.37
a flag but is in fact a billowing length of Prestige fabric with a floral motif. Its projection of victory and
Language of Design
freedom is powerful (ill. 5). What is interesting in these photographs is their
The film Language of Design expanded on the
humanity. Sievers, no doubt directed by Herbst, dis-
theme of Portraits in Fabrics – the ideas behind the
plays the textiles in relation to the human body and,
processes of fabric design as practised in the Prestige
even in abstract compositions, draped as they would
studio. Herbst was “anxious to give an insight into the
naturally fall, rather than flat or stretched taut like a
abstract world of the artist and to reduce into under-
canvas. Herbst believed that “most illustrations of
standable terms the motivating factors which activate
textiles are like wallpaper, and at all costs this should
the designer”.38 The film opens on the sea shore where
be avoided when presenting fabrics through any
Georgia Lee, swathed in a sarong, walks along the sand
pictorial medium”.36 Sievers also photographed the
picking up drift wood, seashells and, as she climbs a
making of Fabrics in Motion in high contrast black and
nearby cliff, twigs from a ti tree. A voice-over explains
Textile Modernism in Australia
389
Ill. 5: Wolfgang Sievers, Gerard Herbst with his Design of Prestige Fabric at Red Bluff, Melbourne, 1950, black and white photograph, 5.1 x 40.3 cm
390
Harriet Edquist and Isabel Wünsche
how these natural forms provide the inspiration for
Herbst desired to produce a film about Austral-
design, particularly, Australian design. Born Dulcie Pitt
ian design and the identity of his setting is unmistaka-
in Cairns, Queensland, Georgia Lee was Australia’s first
ble. As Elizabeth Auld reported: “To those overseas
indigenous jazz singer. She formed the Harmony
eyes at the Exposition at Lille the scene is a languor-
Sisters as a teenager in Cairns and was introduced to
ous one of tropical seas and sands, but to the Austral-
jazz and blues during the war. Moving south and
ian who takes the glory of his sea beach too much for
adopting the name Georgia Lee, she became well-
granted, it is simply the shore of Black Rock, four miles
known as a performer in jazz and blues clubs in both
from Melbourne”.41
Sydney and Melbourne. In 1951, she appeared in the 39
indigenous theatre production An Aboriginal Moomba: Out of the Dark staged in Melbourne during the
Fabrics in Motion and Visual Advertising
festivities celebrating 50 years of Federation.40 In Herbst’s film, however, Georgia Lee did not
Fabrics in Motion is the third film produced and
represent Aboriginal culture, which is generally absent
directed by Thompson and Herbst for Prestige, in
as a design influence in Prestige textiles. She appears
1951; it was shown at the inaugural Melbourne
as an individual in her own right who, having intro-
International Film Festival in 1952.42 The festival, today
duced the natural forms that will be transformed into
one of the oldest film festivals in the world, was held
design, follows them into the Prestige studio where,
in the small hill town of Olinda and screened 8 feature
dressed in a smart suit, she inspects the work of the
films and 79 short films over the Australia Day
designers and becomes an active participant in the
weekend of 25 to 28 January. The fact that the film
narrative.
was entered in a film festival rather than shown at a
As the film cuts from the beach to the Prestige
trade event such as the Lille L’Exposition Textile
design studio where the staff are working at their
Internationale indicates the increased level of profes-
desks, the voice-over assures the viewer that “the field
sional ambition and experimentalism in film-making
of industrial design is today providing increasing
the two had acquired in the three years since Language
opportunities for the creative artist”. In its pursuit of a
of Design. The tightly scripted film is divided into five
local design initiative, Prestige reflects Australia and
parts: Summer, Harlequin Le Bateleur, Magic Box, The
“its new world approach to living”, a context in which
Artist and Nocturne. Each is prefaced by one of the
“nature provides the mainspring of thought when
studio designers at an easel working on a design over
considering design for textiles”. Moving from one
which the segment title is superimposed. Valerie Grieg,
designer to the next, the film records the various
a dancer from the Melbourne Ballet Guild, enters,
techniques used to transfer natural forms, including
scans the stage and draws out lengths of fabric from a
shells and ti-tree twigs, to patterns suitable for repro-
basket, a magic box and a trunk and displays them on
duction on fabric. The textile designer thus “emerges as
her body or on a suitable stage prop. The magic box
a vital force in the design for living”. Finally, the film
segment may have been inspired by the 1951 British
returns to the beach, where various models, including
film of the same name, a biographical drama about
Georgia Lee, are filmed on the rocks modelling gar-
William Friese-Greene, who designed one of the
ments made from the fabric shown in the studio.
earliest working cinematic cameras.43 The recently
Textile Modernism in Australia
391
released film was to be shown at the film festival; Herbst’s magic box, a large black box which the dancer explores to find fabric, could therefore represent the camera, fittingly, given Herbst’s enthusiasm for photography. In May 1953, Herbst presented Fabrics in Motion again, as a stage performance in a suburban town hall with a different dancer and musicians. It formed the second part of a programme that included screenings of Language of Design as well as Fabrics in Motion. The stage performance had eight segments, which, their titles suggest, were different from those in the film.44 Recalling the project many years later, Herbst noted that while fabrics “originally commenced in an animated, creative world”, when placed on models, they became “lifeless”, hence his idea to present them in film and on stage “uncut and alive”.45 Beyond his talents as a film-maker, Herbst’s design strength was in visual merchandising and poster art, and his contribution to these areas while at Prestige complemented his art direction. In the 1940s, he gained an honourable mention in the first exhibi-
Ill. 6: Cover of Das Schaufenster, 1955, No. 7, with display by Gerard Herbst
tion of the Annual Australian Commercial and Industrial Artists Association (ACIAA) for an advertising display of
featuring ties.47 In each, the objects were arranged
lingerie; in 1951, he showed his work in Lille. A
informally with sparse backdrops: a piece of cloth
photograph by Sievers of a model standing on the
draped across a table or chair or loosely arranged in a
beach wearing a garment made from the Prestige
straw basket, ties looped across a simple rack. Com-
fabric Bayadere was featured in the Lille Exposition
pared with the illustrations from Europe and Canada in
and was reproduced in Les Nouvelles Litteraires, Paris at
the same publication, Herbst’s work looks modern and
the time.46 Herbst’s work could be seen in the win-
fresh.48 The 1955 edition of Das Schaufenster (The
dows of fashionable boutique shops such as John
Window Display) carried on its cover a Herbst ar-
Browning Opticians, whose enlightened owner,
rangement of Prestige fabrics (ill. 6).
Yvonne Raphael, was a friend and supporter of contemporary design, as well as in Melbourne’s largest
Conclusion
department store, Myers. Herbst’s studio displays were also featured in European trade journals. In one,
392
Herbst left Prestige in 1955. He had been a
a one-page spread depicted three small displays
sessional lecturer at the Melbourne Technical College
arranged in the studio, two featuring fabric and one
(now RMIT University) since the late 1940s and, in
Harriet Edquist and Isabel Wünsche
Note s
1960, he was appointed senior lecturer and head of the Industrial Design Department where he remained until retiring in 1976. The Australian textile industry had been in a decline during the 1950s and, in 1951, a flood of cheap imports, combined with inflationary pressures, tariffs and difficult government regulatory regime sent shock waves through the industry. By the early 1950s, Prestige had committed almost half their funds to the fabrics division, although their core business was still hosiery. It may be that Herbst’s production of Language of Design was intended as a response to this challenging environment to promote Prestige’s interests. In 1955, H G Foletta & Co, still privately held by the Foletta family which probably supported the textile arm of Prestige, including Herbst’s design studio, was amalgamated with Prestige.49 The company continued to manufacture fashion fabrics, but the fate of the design studio is unknown. An advertisement in Australian Home Beautiful in 1960 indicates that fabrics were now being brought to market by a Prestige subsidiary, Décor Textiles, and that the designs were “based initially on overseas ideas, then modified and interpreted to suit Australian conditions”. In 1961, Prestige ambitiously launched a 50
range of fashion in Paris designed by Peter Quittenbaum, who “has had years of experience in the haute couture centres of Europe” and whose garments were made from fabrics produced by various Prestige subsidiaries.51 Prestige had fallen back into the culture of eurocentric adaptation from which Herbst had tried so valiantly to rescue it in the vital post-war years.
1
L’Exposition Textile Internationale De Lille was held at the Grand
Palais de la Foire de Lille. Georges Bidault, Vice-President of the Council of Ministers, and André Guillant, Secretary of State for Industry and Commerce, attended the opening ceremony on 28 April 1951. Delegates from 22 countries attended the exhibition, which had 1.5 million visitors over a three-week period, and it was covered by 150 journalists, see Livre d’or de l’Exposition textile internationale, 1951, exh. cat. (Lille/Paris: Mauranchon-Lamy, 1951) and ‘The International Textile Exhibition’ (accessed 16 November 2018).
2
The first film, Portraits in Fabrics, was probably the first film
about design made in Australia; it was followed by Language of Design in 1950 and Fabrics in Motion in 1951.
3
Daniel Huppatz, ‘Visualising Settler Colonialism: Australian
Modernism and Indigenous Design’, RMIT Design Archives Journal 8, no. 2, 2018, p. 35.
4
George G. Foletta, Woven Threads. A Family Story (Melbourne:
privately published, 1975), p. 141.
5
George G. Foletta to Hon. J. A. Beasley, M. P. Minister for
Supply & Development, 8 December 1941, University of Melbourne Archives, Prestige Ltd, 1975.0085, Unit 11.
6
Details of Foletta’s arguments about the future of the Prestige
fabrics are found in University of Melbourne Archives, Prestige Ltd, 1975.0085, Unit 11.
7
For Herbst’s immigration papers see the records for ‘Gerhard
Herbst’ at the National Archives of Australia, (accessed 16 November 2016).
8
‘Mobilization Attestation Form for Gerhard Herbst’ (National
Archives of Australia) (accessed 16 November 2016).
9
Most published accounts of Herbst’s life are based on inter-
views with him and his own brief accounts produced in the 1980s and 1990s when he was in his 80s. See, for example, Ann Brennan, ‘A Philosophical Approach to Design: Gerhard Herbst and Fritz Janeba’, in The Europeans: Emigre artists in Australia 1930–1960, ed. Roger Butler, exh. cat. National Gallery of Australia (Canberra, ACT: National Gallery of Australia, 1997), p. 154; Veronica Bremer and AnneMarie van de Ven, ‘The Bauhaus Link in the Life and Work of Émigré Artist Gerard Herbst’ (emaj, 9 May 2016) (accessed 15 November 2018). There is, in fact, little documentation of Herbst’s life in Germany.
10
This information on Gerard Herbst’s birth and foster parents
was kindly shared with Edquist by his son Daniel Herbst; information on Franz and Emmi Lode was kindly supplied by Udo Bauer from Cottbus City Archives, 16 September 2018.
Textile Modernism in Australia
393
11
E-mail correspondence between Edquist and Daniel Herbst, 4
László Moholy-Nagy, Vision in Motion (Chicago: Paul Theobald,
1947), p. 187.
12
28
At the time, there existed in Cottbus the Preußische Höhere
The strongest case has been put by Bremer/van de Ven, ‘The
Fachschule für Textilindustrie (‘Prussian Higher Technical College for
Bauhaus Link’, p. 2. Much of their evidence is based on Herbst’s recol-
Textile Industry’) that taught weaving, dressing, dyeworks, darning, spin-
lections and writings which are not particularly reliable documents for
ning and milling, and also offered a qualification in design; the Niedere
historical accuracy. His account of his education is vague and cannot be
Fachschule (‘Lower Technical College’), a commercial vocational college
verified by Cottbus archives, as discussed above. Moholy-Nagy could
for young men between the ages of 15 and 18; the Städtische Han-
not have noticed Herbst’s window designs for Jacob Musikhaus in Mu-
delslehranstalten (‘Communal Business School’) that trained young
nich because he had moved to Chicago at the time Herbst was working
people for business professions in a two-year program; and, at the same
for Jacob. There is no evidence that Moholy-Nagy published anything
location as the Städtische Handelslehranstalten, another technical col-
of Herbst in International Textiles.
lege which offered training for the mercantile professions, including
29
business administration, European languages, economics, typewriting,
bourne.
calligraphy and gymnastics. We are grateful to Wiebke Gronemeyer for
30
getting this information from Cottbus archivist Steffen Krestin.
an’s Day and Home (7 January 1952), p. 45.
13
bourne: RMIT, Department of Fashion and Textile Design, 1996), p. 1.
31 32
14
ed-library-collections/sievers-collection> (accessed 16 Novem-
Gerard Herbst, Prestige Fabrics Design Studio 1945–1955 (MelE-mail correspondence between Edquist and Daniel Herbst, 4
Cutting in Herbst collection at RMIT Design Archives, MelElizabeth Auld, ‘New textiles with an Australian accent’, WomDickenson, ‘Australian Advertising Art between the Wars’, p. 15. Jorge Calado, Life Line (2000)