Textile Modernism [1 ed.] 9783412518066, 9783412514594

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Textile Modernism [1 ed.]
 9783412518066, 9783412514594

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mode global 3 Burcu Dogramaci (Hg.) Textile Moderne / Textile Modernism

mode global Band 3 Herausgegeben von Burcu Dogramaci

Burcu Dogramaci (Hg.)

Textile Moderne / Textile Modernism

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Universität Regensburg sowie der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Franziska Pfannkuche, Seiltänzerin, undatiert [1920er Jahre], Stickerei, 29,5 x 21,8 cm, Nachlass Franziska Pfannkuche Lektorat: Elena Mohr Korrektorat (Mitarbeit) und Index: Maya-Sophie Lutz Satz: Punkt für Punkt · Mediendesign, Düsseldorf Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Printed in the EU Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51806-6

Inhalt Textile Moderne: Einleitende Überlegungen_9 Burcu Dogramaci

MATERIAL, MUSTER, FARBE / MATERIAL, PATTERN, COLOUR_21 Materiality, Representation and Cognition: A Reconsideration of Gottfried Semper’s Emphasis on Weaving as a Fundamental Craft_23 Arthur Crucq Farben der vie moderne. Zu Verwendung und Wahrnehmung erster synthetischer Textilfarbstoffe in der Damenmode_33 Birgit Haase Werkbundstimme Else Meißner: Kunstschutz auf Textil­m uster im ‚Elfengespinst‘ der Moderne_45 Katharina Januschewski Foto-Ornamentik. Abstrakte Muster(er)findungen zwischen Textildesign und Kunst_59 Kathrin Schönegg Textile Rekonfigurationen des Spinnennetzes: Zum Verhältnis von Form und Material in Stoffmustern und Fadenobjekten_71 Leena Crasemann

TECHNIK, EXPERIMENT, ABSTRAKTION / TECHNOLOGY, EXPERIMENT, ABSTRACTION_83 In die Moderne gestochen: Adriana C. van Rees-Dutilh und die Stickerei als Kunst_85 Diana Anna Schuster

Inhalt

5

Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova: Von der gegenstandslosen Malerei zum Textildruck_97 Christiane Post Zwischen detailgetreuem Nachsticken und eigenen abstrakten Webentwürfen: Textile Arbeiten von Maria Marc_107 Susanna Baumgartner Knotted, Woven, Unraveling: Textile as Structure in the Work of Paul Klee_119 Charlotte Healy Gestickte Malereien. Die Textilkünstlerin Sophie Taeuber-Arp_131 Walburga Krupp

SAMMELN, ARCHIVIEREN, ZEIGEN / COLLECT, ARCHIVE, DISPLAY_143 Mitteleuropäische Textilien und Englische Stoffe. Zur Ankaufspolitik des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute MAK) vor und um 1900_145 Angela Völker und Dagmar Sachsenhofer Strukturprinzipien der Moderne: Die Textilsammlungen von Bertha Pappenheim und Emilie Flöge_157 Annette Tietenberg The Weaver’s Laboratory. Gunta Stölzl’s Sample Cards as Materialities of Research_169 Mirjam Deckers Patterns of the Conquerors: Zu den verschiedenen Ausstellungsformaten von John Forbes Watsons textilen Musterbüchern_179 Carla Gabriela Engler

TEXTILE ARCHITEKTUR UND RAUMGESTALTUNG / TEXTILE ARCHITECTURE AND SPATIAL DESIGN_191 Der Stoff aus dem die Räume sind: Das Prinzip der Bekleidung in Adolf Loos’ Haus für Goldman & Salatsch_193 Christian Scherrer Die Textilien der Bauhaus-Künstlerin Friedl Dicker: Raumgestaltungen und Möbeldesign_205 Katharina Hövelmann

6

Inhalt

Anni Albers’s “Pliable Plane”: Writing on Architecture and the Nomadic Textile_217 Jordan Troeller Textile Moderne unterwegs: Innenausstattung von Schiffen und Zügen durch die Deutschen Werkstätten_229 Klára Němečková und Kerstin Stöver

INTERMEDIAL UND INTERDISZIPLINÄR / INTERMEDIAL AND INTERDISCIPLINARY_241 Crossover zwischen Textilien und Malerei um 1914 am Beispiel von August Macke und der Omega-Künstler_innen Vanessa Bell, Duncan Grant und Roger Fry_243 Ina Ewers-Schultz Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext_255 Burcu Dogramaci Körpermasken und bewegte Bilder: Künstler kostümieren Tänzer_273 Anja Pawel Matisse’s Tapestry The Woman with the Lute (1949): Interweaving Modernist Painting and Tapestry_285 Claire Salles Interferenzen von Webkunst, Algorithmen und Raster in der Kunst der Moderne_297 Daniel Becker

GENDER UND KREATIVITÄT IN KOOPERATION / GENDER AND CREATIVITY IN COOPERATION_309 Textile Transformationen: Die „Frau comme il faut“ in der robe à transforma­tion und die „Tempofrau“ im Verwandlungskleid_311 Kerstin Kraft „Die Kleider müssen vor allem gut gemacht sein [...]“. Henry und Maria van de Veldes künstlerische Allianzen für das Reformkleid_325 Antje Neumann und Laura Petzold Kreative Zusammenarbeit oder künstlerische Abhängigkeit? Die Bildteppichweberei des deutsch-polnischen Künstlerpaares Max Wislicenus und Wanda Bibrowicz_337 Katarzyna Sonntag

Inhalt

7

Traces of Lost Modernisms: Repositioning Block Printed Textiles in Interwar London_349 Lotte Crawford Textile Koproduktionen von Künstlerpaaren der Moderne: Die Web- und Knüpfarbeiten von Lisbeth und Julius Bissier_361 Helene Roth

(TRANS-)LOKAL UND GLOBAL / (TRANS)LOCAL AND GLOBAL_373 Kimono as Fashion: Japanese Department Stores Designing New Kimono Patterns, 1890s–1910s_375 Hissako Anjo Textile Modernism in Australia: The Impact of Emigré Designer Gerard Herbst at the Prestige Textile Design Studio in Melbourne in the 1940s and 1950s_383 Harriet Edquist and Isabel Wünsche Cy Twomblys ‚tapestries‘: Das Black Mountain College in Marokko_397 Thierry Greub Transkulturelle Verwebungen: Lenore Tawneys fiber art_411 Mona Schieren Textile Modernism: Transcultural Readings of Maryn Varbanov and Abstract Weaving from East to East, from Local to Global_425 Janis Jefferies BILDNACHWEISE / IMAGE CREDITS_437 BIOGRAFIEN DER AUTOR_INNEN / BIOGRAPHIES OF THE AUTHORS_445 INDEX_453

8

Inhalt

Naturformen? Wie es eine reine Malerei gibt, so gebe es auch eine reine Stickerei, die ihre Notwendigkeit in der gestaltenden Phantasie und ihre Formung in der Technik des Stickens begründet.“1 Abstrakte Stickerei oder Weberei, Schablonendrucke auf Stoff, neusachliche Textilbilder oder funktionale Raumgestaltungen aus Textil sind nur einige Ausdrucksformen einer künstlerischen Produktion, die mit textilen Materialien, Techniken und Konzepten arbeitet. Dabei handelt es

Textile Moderne: Einleitende Überlegungen Burcu Dogramaci

Be d i n gu n gen und Au s d r u c k sformen einer tex tilen Mod e r n e

sich sowohl um Werke, die von der Idee über die Zeichnung bis zum textilen Objekt von einer Person hergestellt wurden, als auch um Objekte, die in arbeitsteiligen Prozessen zwischen Entwurf und Ausführung entstanden.2 Der Titel dieses Sammelbandes fordert besondere Aufmerksamkeit für die modernen textilen Künste, doch zugleich zeigen die in ihm versammelten Beiträge internationaler Autor_innen, dass die Grenzen und Übergänge zu anderen Medien, Gattungen und Ausdrucksformen weich und unscharf sind. Um jedoch das Thema dieser Publikation scharf zu stellen, sollen

Die Geschichte der textilen modernen Kunst ist

zunächst Definitionen vorgenommen werden. ‚Textile

noch nicht geschrieben, und die textile Theorie und

Moderne‘ setzt sich aus zwei Begriffen zusammen:

Praxis der Moderne bislang kaum systematisch

Das Textile meint, wie Tristan Weddigen ausführt,

untersucht worden. Dabei forderten schon moderne

gleichermaßen das Material, die Technik, die Metapher

Künstler_innen in ihrer Zeit die Akzeptanz des Textilen

und das Medium.3 Silke Tammen schreibt zur Defini-

als autonomes Medium und Technik der Moderne.

tion des Textilen: „Ausgangspunkt für die Herstellung

So schreibt Hanna Höch im Jahr 1919 in der Stickerei-

von Textilien sind tierische, pflanzliche und syntheti-

und Spitzen-Rundschau: „Was in der abstrakten Kunst

sche Fasern, die durch Maschenbildung, Flechten oder

der gegenstandslosen Malerei erreicht wurde, sollte

Weben ins Gewebe überführt werden.“4 Zugleich ist

dies nicht in analoger Weise auch für die Stickerei

das Textile und vor allem das textile Arbeiten eine

möglich sein, ohne die Stickerei zum Surrogat der

Kulturtechnik, die bereits etymologisch dem Text, dem

Malerei werden zu lassen? Die beschwingte Phantasie

Texten und der Textur nahesteht.5 Das kulturanthropo-

wird auch auf der Tuchfläche eigene Formgesetzmä-

logische Verständnis des Textilen betont die Beziehung

ßigkeiten der Nadel und des Fadens verwirklichen

zwischen Mensch und Objekt mit einem besonderen

können. Auch die Stickerei vermag sich zur Gestaltung

Blick für performative Konnotationen. Gabriele

freier, organischer Gebilde fortzuentwickeln. Warum

Mentges schreibt dazu: „Der Begriff des Textilen wird

immer Abhängigkeit von mehr oder weniger stilisierten

hier gewählt, weil er das Gegenstandsfeld in seiner

Textile Moderne: Einleitende Überlegungen

9

größtmöglichen Dimension einbezieht: Textil leitet sich

und hier vor allem in Installationen, als Skulpturen und

aus dem lateinischen Wort texo ab, das im Deutschen

in konzeptuellen Werken.11 Silvia Eiblmayr deutet die

mehrfache Bedeutungen anzeigt: Weben/flechten/

in jener Zeit zu beobachtende Verselbstständigung des

bauen/verfertigen/zustande bringen. In diesen

textilen Materials und die Befreiung von einer Zweck-

Begriffen finden sich die performativen Eigenschaften

gebundenheit als „Ende der ‚klassischen Moderne‘“12.

mit denen der Konstruktion, die beide dem textilen

Ausdruck fand der experimentelle Umgang mit dem

Material eigentümlich sind, verknüpft.“ Textilien als

Textilen in der Ausstellung Woven Forms, die 1963 im

materielle Kultur können sowohl auf den Akt der

Museum of Contemporary Crafts in New York aus­

Herstellung und das Verhältnis zwischen Mensch,

gerichtet wurde und gewebte Werke von Alice Adams,

Technik und Ding befragt, als auch auf Aneignungen,

Sheila Hicks, Lenore Tawney, Dorian Zachai und

Gebrauch, Ritual und Alltagspraxis untersucht wer-

Claire Zeisler präsentierte. Der Katalog erkennt ganz

den. Auf den engen Zusammenhang zwischen

selbstverständlich die skulpturalen Qualitäten von

moderner Kunst und modernem Textil indes verweist

Gewebtem an: „The purpose of this exhibition is to

Virginia Gardner Troy, indem sie schreibt: „The story of

focus on the current work of weaver who create

modern textiles is inextricably linked to the story of

woven forms on the loom. It features the work of five

modern art and modern life. The social, political and

individuals whose different backgrounds as weavers

economic transformations that prompted modernist

and artists had led them to a related basis of expres-

experimentation also fuelled a sea change in the way

sion – the creation of sculptural shapes of interlaced

textiles were made, used and perceived.“8 Die von Troy

threads.“13 Auch die Ausstellung Wall Hangings (1969)

beschriebene Nähe zwischen dem Textilen und der

im Museum of Modern Art in New York verstand das

Moderne ist auch Grundlage dieses Sammelbandes.

Textile als Gegenwartskunst. Im Katalog wird eine

6

7

Der zweite Begriff in ‚Textile Moderne‘, die ‚Moderne‘, wird hier zunächst als Epochenbezeichnung

nen der 1960er und den Bauhaus-Weberinnen der

von 1800 bis in die 1950er Jahre verwendet, wobei

1920er Jahre wie Anni Albers und Gunta Stölzl

die künstlerische Moderne in engem Zusammenhang

postuliert und festgestellt: „During the last ten years,

mit einem postrevolutionären gesellschaftlichen und

developments in weaving have caused us to revise our

politischen Umbruch stand. Für den zeitlichen

concepts of this craft and to view the work within the

Rahmen dieser Publikation bietet Charles Baudelaires

context of twentieth-century art. The weavers from

Text „Le peintre de la vie moderne“ (1863) eine

eight countries represented in this catalogue are not

Orientierung. Denn in Baudelaires Aufsatz formuliert

part of the fabric industry, but of the world of art.“14

sich nicht nur ein modernes Verständnis künstlerischer

Im Kontext der Ausstellungen Wall Hangings und

Produktion als gegenwartsbezogen. Auch das Textile in

Woven Forms muss auch die internationale Strömung

Gestalt der Mode oder hier der Modekupfer wird von

‚Fiber Art‘ erwähnt werden, die in den 1960er bis

Baudelaire als eine originelle und progressive Aus-

1980er Jahren das Arbeiten mit textilen Materialien

drucksform der Moderne beschrieben.10 Am anderen

und Techniken meinte, bei der – zu allermeist ohne

zeitlichen Ende des vorliegenden Sammelbandes steht

Webstuhl – textile Objekte entstanden.15

9

dann seit den frühen 1960er Jahren die Etablierung des Textilen als Material der zeitgenössischen Kunst

10

starke Beziehung zwischen den textilen Künstler_in-

Burcu Dogramaci

Zeitlich gerahmt von dem kunsttheoretischen Text Baudelaires und den programmatischen Ausstel-

lungen Woven Forms und Wall Hangings artikuliert

Black Mountain College in North Carolina, an denen

dieser Band ein polyphones und diverses Verständnis

mit Textilien gearbeitet und textile Techniken gelehrt

von ‚Textiler Moderne‘ und negiert Hierarchien

wurden. Diese Institutionen haben längst ihren

zwischen angewandter beziehungsweise funktionaler

Abdruck in der Historiografie der Moderne gefunden.

versus freier Kunst. Mode wird also gleichermaßen wie

Zugleich führten diese Neugründungen in ihrer Zeit

textile Wandbilder oder textiltheoretische Reflexionen

nicht zu einer Entgrenzung zwischen angewandter

als künstlerischer Beitrag zur Kunst der Moderne

textiler und freier Kunst. Noch in den 1920er Jahren

verstanden, was sich auch in der interdisziplinären

wurden in theoretischen Abhandlungen als ‚textile

Struktur der Kapitel dieses Sammelbandes spiegelt. Im

Künste‘ vornehmlich Produktionen der Textilindustrie

19. Jahrhundert führte einerseits die Etablierung der

und Kunsthandwerk verstanden.21

Haute Couture zu einem künstlerisch anspruchsvollen

Obgleich gerade die Erweiterung des Kunst­

Schneiderhandwerk, das zunächst von Couturiers wie

begriffs seit den 1960er Jahren den Blick auf das

Charles Frederick Worth und im frühen 20. Jahrhun-

(zeitgenössische) Textile verändert hat, ist bislang

derts von Paul Poiret, Mariano Fortuny oder Elsa

weder der Begriff einer ‚textilen Moderne‘ kunst- und

Schiaparelli geprägt wurde.16 Andererseits wurde seit

kulturwissenschaftlich eingeführt, noch ist das Thema

etwa 1850 innerhalb des britischen Arts and Crafts

umfassender in Publikationen oder Ausstellungen

Movement eine ganzheitliche, alle Lebensbereiche

bearbeitet.22 Gerade aber den textilen Theorien (auch

umfassende Reformierung beabsichtigt. Innenräume

der Moderne) wurde in den letzten Jahren vermehrt

erhielten eine umfassende Ausstattung mit Textilien,

Aufmerksamkeit zuteil.23 Und vor allem monografische

und im künstlerischen Reformkleid berührten sich

Retrospektiven haben jüngst den Zusammenhang

Kunst und Handwerk. Textile Architekturen können

zwischen der künstlerischen Moderne und dem

indes multipel definiert werden. Einerseits handelt es

Textilen akzentuiert, darunter die Schauen zu Sophie

sich um stoffliche Ausstattungen von Innenräumen

Taeuber-Arp (2014, Aargauer Kunsthaus), Julius und

wie etwa „Polsterungen und bewegungsreagible[n]

Lisbeth Bissier (2015, Hagnauer Museum) und Anni

Medien“ . Andererseits meinen textile Architekturen

Albers (2018, Kunstsammlungen Nordrhein-Westfalen,

auch die metaphorische Adaption von Termini (Hülle,

Düsseldorf, K 20/Tate Modern, London).

17

18

Kleid) und Bedeutungen, wenn Bauten „dresslike

Mit Blick auf diese Retrospektiven lässt sich

qualities“ zugesprochen werden.19 Der Anteil von

fragen, welche Präsenz Textilien in Ausstellungen des

Frauen an der Designgeschichte der Moderne wird

frühen 20. Jahrhundert hatten, wie sie also von

indes erst sukzessive aufgearbeitet. Die Dresdner

Institutionen, Kustod_innen, Galerist_innen und Kunst-

Ausstellung Gegen die Unsichtbarkeit – Designerinnen

händler_innen der Moderne wahrgenommen wurden.

der Deutschen Werkstätten in Hellerau 1898 bis 1938

Es lässt sich behaupten, dass zeitgenössische künstle-

nahm 2018 weitgehend vergessene Gestalterinnen in

rische Textilien nur gelegentlich im Kontext der freien

den Blick, darunter auch Textilgestalterinnen.

Kunst präsent waren. Dies geschah vor allem, wenn

20

Im ersten Drittel des 20. Jahrhundert wurden

die Ausstellenden bereits auf anderen künstlerischen

progressive Vereinigungen und Kunstschulen gegrün-

Gebieten reüssiert und sich einen Namen gemacht

det, wie die Wiener Werkstätte, das Bauhaus in

hatten, etwa die in vielen Medien agierende Sophie

Weimar und Dessau, die Reimann Schule in Berlin, das

Taeuber-Arp oder die orphistische Künstlerin Sonia

Textile Moderne: Einleitende Überlegungen

11

Delaunay. Delaunay zeigte Gemälde und textile Arbeiten wie Lampenschirm, Vorhang und Kissen auf dem Ersten Deutschen Herbstsalon 1913 in Berlin, der von Herwarth Walden organisiert wurde. Auf derselben Schau waren auch Gobelins von Adriana van Rees-Dutilh zu sehen.24 Wie aufgeschlossen Herwarth Walden für eine textile Moderne war, zeigt auch die von Mai bis Juni 1925 in seiner Galerie DER STURM veranstaltete Ausstellung von Wandteppichen, Bodenläufern und Vorhängen des Künstlerpaares Wenzel Hablik und Elisabeth Lindemann (Handweberei Hablik-Lindemann).25 Andere Galerien und Ausstellungshäuser, die sich der zeitgenössischen Kunst widmeten, integrierten das Textile eher als historisches Objekt in ihr Programm – und damit unter anderem als Referenz für die Gegenwart. Zu erwähnen ist beispielsweise die Ausstellung Mohammedanischer Kunst (Keramik, Buchkunst, Textilien, Glas) aus dem Besitze der Persian Art Galleries (London) bei Paul Cassirer in Berlin (1913), die „eine kleine Reihe von orientalischen Gewebe[n]“26 beinhaltete. Hier und andernorts wurden Textilien als künstlerisch bemerkenswerte, aber historische Objekte ausgestellt. Das Bewusstsein für das Textile als modernes, avantgardistisches Material oder experimentelle Technik war kaum ausgeprägt. Dies zementierte die Trennung zwischen einer reinen, hohen und männlich dominierten progressiven Moderne und einer oftmals als weiblich konstruierten

Abb. 1: Inserat in: Russische Kunst. Ikone/Volkskunst. Neue Gemälde, Sechste Ausstellung, Ausst.-Kat. Galerie von Garvens, Hannover, Hannover 1921, S. 15

angewandten Kunst.27 Doch zeigte das Textile mitunter

12

in den Randbereichen der Ausstellungskataloge

dem Kunstgewerbe gewidmet waren. Dort sind

Präsenz, so etwa 1921 in einem Katalog der avantgar-

Textilien Objekten anderer angewandter Künste – dem

distischen Galerie von Garvens in Hannover zur

Glas, der Keramik – zur Seite gestellt. Ein besonders

Russische[n] Kunst. Dort wird in einem Inserat für die

anschauliches Beispiel für die progressiven Ausdrucks-

„Werkstätte für künstlerische Kleidung“ von Hedwig

formen zeitgenössischer Textilien ist beispielsweise

Engelmann geworben und auf die „Künstlerische[n]

der schmale Katalog zur Ausstellung Deutsches

Stickereien nach eigenen Entwürfen/Batik“ von Anna

Kunsthandwerk der Gegenwart im Kunstgewerbemu-

Dittmar hingewiesen (Abb. 1).28 Anders sah es in den

seum der Stadt Flensburg von 1929. Neben einem

Schauen und Verkaufsausstellungen aus, die explizit

handgewebten Teppich der Lübecker Künstlerin Alen

Burcu Dogramaci

Abb. 2: Diwandeckenstoff von Gunta Stölzl und Handgewebter Teppich von Alen Müller, in dem Ausstellungskatalog Deutsches Kunsthandwerk der Gegenwart des Kunstgewerbemuseums der Stadt Flensburg, 1929

Müller ist ein Diwandeckenstoff von Gunta Stölzl

werden. Albers stellte gewebte Vorhänge, Decken und

abgebildet (hier versehentlich Hölzl genannt, Abb. 2);

Teppiche als angewandte oder funktionale Gebrauchs-

beide zeigen die Bandbreite nicht nur der Funktionen,

kunst her. Und sie schuf Wandbehänge oder textile

sondern auch der abstrakten Muster. Da die Abbildun-

Bilder, wobei die Übergänge zwischen funktionalen

gen die Objekte nicht in Funktion oder in räumlichen

und freien Arbeiten fließend sind. In vielen ihrer

Kontexten zeigen, ist auch eine nicht funktionale

Arbeiten experimentierte sie mit einer abstrakten

Existenz der abgebildeten Werke für die Leser_innen

Formensprache. Dabei legte sie die technischen und

zu imaginieren. Das gilt vor allem für Stölzls Arbeit,

konstruktiven Parameter der Handweberei zugrunde,

die am Bauhaus in Dessau entstand.

um ein genuin textiles Modell der geometrischen Abstraktion zu entwickeln.29 In Albers Wandbehang

Texti l e Moderne p ars p ro toto: d as We r k von Anni Albers

(1927/1964, Abb. 3) etwa bildet sich das dem Webvorgang bereits inhärente Wechselspiel von Horizontaler und Verti­kaler ab.30 Aus dem Zusammenspiel von Kette und Schuss entsteht eine Gitterstruktur.31

Im Folgenden sollen entlang des Schaffens der

Gefärbte Garne, Einzelformen und die Proportionen

Bauhaus-Künstlerin Anni Albers wesentliche Para­

zueinander bestimmen das Erscheinungsbild des

meter einer textilen Moderne vorgestellt und die

Gitters. Diese Beobachtung kann, muss aber nicht

zentralen Themen dieses Sammelbandes konturiert

bedeuten, dass das Textile ein Modell für Abstraktion

Textile Moderne: Einleitende Überlegungen

13

Oberflächenstrukturen, lassen das Gewebe weich oder hart, hoch- oder niedrigflorig erscheinen. Der Wandbehang kann sich dabei in sich verdrehen, hängt nicht glatt wie eine Leinwand; Licht und Schatten führen gerade bei frei hängenden Bildgeweben zu dreidimensionalen Effekten. Es lässt sich also konstatieren, dass Weberei eine medienspezifische Abstraktion bedingt. Eine textile Moderne wäre in diesem Sinne keine oder nicht nur eine Erweiterung der modernen Kunst unter Berücksichtigung textiler Materialien. Vielmehr gilt es, die Besonderheiten des Mediums, der Techniken und Verfahrensweisen, Materialien, Werkzeuge und Werk- und Theorietraditionen zu beachten. Zugleich sollte die textile Moderne in ihrer Intermedialität erfasst werden. Dies zeigt sich nicht nur daran, dass für Wandbehänge bisweilen dieselben Präsentationsmodi benutzt werden wie etwa für Malerei. So wurden die Wandbehänge von Anni Albers in der Retrospektive 2018 in der Tate Modern teils unter Glas und gerahmt präsentiert. Damit wurden Abb. 3: Anni Albers, Wandbehang, 1927/1964, Gunta Stölzl nach einem Entwurf von Anni Albers, Baumwolle und Seide, 148 x 121,5 cm, Neues Museum Nürnberg, Leihgabe der Stadt Nürnberg

Repräsentationsformen gewählt, die Distanz, Über­ höhung und Schutz für das Objekt gewähren, die taktile Erfahrung durch den Seh- und Tastsinn jedoch stören oder verunmöglichen. Intermedialität ist dabei nicht nur auf die

14

bildet, eine Blaupause beispielsweise für den maleri-

Rezeption zu beschränken. Viele Textilkünstler_innen

schen Weg in die Non-Figuration.32 Gleichzeitig wäre

waren auch Maler_innen oder Grafiker_innen oder

eine solche These jedoch wieder eine Einschränkung,

arbeiteten mit diesen zusammen, oder aber sie

da sie das Textile relational begreift: ein Modell oder

kooperierten im Kontext einer textilen (Innen-)

Vorreiter ist nur in Beziehung zu etwas Nachfolgen-

Architektur mit Baukünstler_innen. Für das Verständnis

dem zu verstehen. Das Textile ist jedoch eine auto-

von Anni Albers̕ Werk wäre ihre Arbeit in Institutionen

nome Ausdrucksform und Kunst.

wie der Kunstschule Bauhaus oder dem Black Mountain

Eine besonders auffällige Eigenschaft des

College essentiell, ebenso aber auch ihr enger beruf-

Textilen jenseits spezifischer Techniken und Materia-

licher und privater Austausch mit ihrem Partner, dem

lien ist seine haptische Wahrnehmbarkeit. So entsteht

Maler Josef Albers.33 So lässt sich von gattungsüber-

etwa beim Weben ein dreidimensionales Objekt mit

greifenden Wechselwirkungen sprechen, wenn

taktiler Oberfläche. Auch hier prägen die verwendeten

Erkenntnisse aus dem Vorkurs am Bauhaus oder aus

Materialien die mit dem Tastsinn zu erfassenden

anderen Abteilungen auch die Weberei ‚infizierten‘,

Burcu Dogramaci

wenn Josef und Anni Albers gemeinsame Studienrei-

den nachgewebten Teppichen Stölzls auch eine textile

sen nach Mexiko unternahmen, sich in ihren individu-

Form des Re-enactments zu sehen. „To re-enact“ wird

ellen Arbeiten mit archaischen Formen und tradierten

im Oxford Dictionary als „act out (a past event)“

Techniken beschäftigten.34 Oder aber wenn sie parallel

definiert.40 Das Re-enactment bezieht sich in der

an verwandten Fragestellungen arbeiteten, etwa an

Beziehung Stölzl-Albers sowohl auf das Ergebnis –

Themen wie Variation oder Serie. Zugleich bietet die

das gewebte Objekt – als auch auf den Vorgang des

Partnerschaft zwischen Anni und Josef Albers eine

Webens selbst. Albers beschreibt in einem ihrer

Basis für geschlechtsspezifische Fragestellungen zu

textiltheoretischen Beiträge das Handweben als

künstlerischen Freiräumen und beruflichen Möglich-

„immediate relation of the working material and the

keiten und zur Rezeption. Denn gerade die textilen

work process“41

35

Künste wurden in der (oft von männlichen Autoren)

Die kreative Verbindung zwischen Mensch und

formulierten Kritik als genuin weiblich verstanden und

Webstuhl und das performative, körperliche Weben

damit doppelt marginalisiert: als low oder angewandt,

als Ausgangspunkt für künstlerische und intellektuelle

als ‚feminin‘ und häuslich und deshalb weniger wertvoll.

Produktion lässt sich auch im Werk einer jüngeren

36

So beschreibt beispielsweise bereits Jean-Jacques

Zeitgenossin von Albers nachvollziehen. Für die

Rousseau in seinem Erziehungsroman Émile ou De

Psychoanalytikerin Anna Freud war die rhythmische

l’éducation aus dem Jahr 1762 die ‚natürliche‘ Zuwen-

Arbeit eng mit ihrer Profession verbunden. Am

dung kleiner Mädchen zur Hand- und Nadelarbeit.

Webstuhl entstanden einige ihrer psychoanalytischen

37

Später bot gerade dieses vorgeblich intuitive handar-

Theorien; das Verweben von textilen Materialien

beitliche Geschick eine Basis, um Frauen ein kreatives

findet hier die Analogie in der Verflechtung von

Talent abzusprechen. Die Geburt als Reproduktion

Gedankengängen.42

fand ein selbstverständliches Äquivalent in der

Auch die Theoretisierung der textilen Praxis lässt

repetitiven Stickerei nach Vorlage. Handarbeit war eine

sich im Œuvre von Anni Albers nachvollziehen, gehört

Disziplinierungsmaßnahme, die Präzision, Geduld und

sie doch neben Otti Berger zu den wichtigen Stimmen

Fleiß voraussetzte und forderte.

einer textilen Theorie der Moderne.43 Zuletzt bietet

38

Reproduktion wird auf eigene Weise in Albers̕’

das Schaffen von Albers einen Ausgangspunkt, um

Werk evident: In den 1960er Jahren webte Gunta

über das Sammeln, Ordnen und Erinnern nachzuden-

Stölzl, die einzige Meisterin am Bauhaus, verloren

ken. Albers sammelte nicht nur historische Textilien,

gegangene Wandbehänge von Anni Albers nach

sondern erstellte auch ein Karteikarten-Archiv eigener

(Abb. 3). Dies verdeutlicht einerseits, dass wir es mit

Webereien. Diese Muster oder Proben wurden sorgfäl-

einem Reproduktionsmedium zu tun haben, das eine

tig beschriftet.44

Wiederholbarkeit ermöglicht. Darauf verwies bereits

Obgleich gerade Anni Albers als interdisziplinär

Aby Warburg in seinen Ausführungen zu den flandri-

tätige und theorie-affine Textilkünstlerin in verschie-

schen Bildteppichen des 15. Jahrhunderts. Er bezeich-

denen Beiträgen dieses Buches in Erscheinung tritt,

nete die Bildwirkerei als „Ahne der Druckkunst“, da

weist dieser Sammelband doch weit über diese

„der Weber als anonymer Bildervermittler denselben

Protagonistin des Bauhauses und seiner Nachfolge­

Gegenstand technisch so oft wiederholen konnte, wie

institution Black Mountain College hinaus.

der Besteller es verlangte“ . Zum anderen ist aber in 39

Textile Moderne: Einleitende Überlegungen

15

Zur Struktur dieses Buch es

Material, Farbe und Proportionen.45 SAMMELN, ARCHIVIEREN, ZEIGEN / COLLECT, ARCHIVE,

Die Publikation Textile Moderne widmet sich den

Politiken von privaten und öffentlichen textilen

Techniken und dem Textilen als künstlerisches Experi-

Sammlungen in europäischer und globaler Perspektive.

mentierfeld in der Zeit zwischen den 1850er- und den

Die Beiträge thematisieren, wie Archive und Sammlun-

1950er-Jahren. Sie versteht sich als Beitrag zu einer

gen von Textilien auf spezifische Interessen zurückzu-

Neubewertung der textilen Künste der Moderne. Im

führen sind und wie sie wiederum Bedeutung hervor-

Blick stehen die verschiedensten Techniken und

bringen.

Ausdrucksformen wie etwa die Stickerei, das Weben,

TEXTILE ARCHITEKTUR UND RAUMGESTAL­

das Knüpfen, der Textildruck, die Textilcollage, Wohn-

TUNG / TEXTILE ARCHITECTURE AND SPATIAL

textilien, Mode und textile Architekturen. Anliegen ist

DESIGN untersucht, wie Textilien Raum produzieren,

keine umfassende und abschließende Chronologie des

und wie sie andererseits als Architekturen des Textilen

Textilen in der Moderne. Vielmehr bieten die Texte

Räume gestalten. Oder textile Architekturen besitzen

Fallbeispiele, theoriegeleitete Analysen und gattungs-

nomadische Eigenschaften, sind versetzbar und haben

wie medienübergreifende Perspektiven auf ein noch

anthropologische Qualitäten, die sie relational ins

wenig erschlossenes Themenfeld.

Verhältnis zu Bewohnenden, Nutzenden und Produ-

Dabei nehmen die Beiträge Intermedialität,

zierenden setzen. Bereits in diesem Kapitel ist Interdis-

technisches Experiment, das Verhältnis von Tradition

ziplinarität eine wichtige Grundkonstante, was im

und Innovation, Material und Werkzeug, Gender und

nächsten Abschnitt zum Leitmotiv wird: Das Kapitel

Kooperation, Transkulturalität, Exil und Migration in

INTERMEDIAL UND INTERDISZIPLINÄR / INTER­

den Blick. Zugleich ist der Sammelband ein Status quo

MEDIAL AND INTERDISCIPLINARY behandelt die

der aktuellen internationalen kunsthistorischen

Wechselwirkungen zwischen den Disziplinen und

Forschung zur textilen Moderne.

Medien, von dem Dialog zwischen Malerei und

Im Folgenden soll die Ordnung dieses Bandes vorgestellt werden: Das Kapitel MATERIAL, MUSTER, FARBE /

Stickerei, Bildwirkerei und Gewebten bis zu techno­ logischen Interferenzen, die in die Gegenwart weisen. In diesem Kapitel geht es aber nicht um eine wie

MATERIAL, PATTERN, COLOUR widmet sich Techno-

immer geartete Hierarchie, sondern um einen

logie, Technik und Systematik des Textilen als Bezugs-

­Austausch auf Augenhöhe.

punkt für Praxis und Theorie. Die Beiträge weisen

16

DISPLAY reflektiert Ordnungen, Strukturen und

textilen Künsten als avantgardistischen (Kultur-)

Bereits durch seine Geschichte fordert das

dabei in naturwissenschaftliche und phänomenologi-

Textile eine geschlechtsspezifische Perspektive heraus:

sche Grenzbereiche. TECHNIK, EXPERIMENT,

GENDER UND KREATIVITÄT IN KOOPERATION /

ABSTRAKTION / TECHNOLOGY, EXPERIMENT,

GENDER AND CREATIVITY IN COOPERATION

ABSTRACTION untersucht die Interdependenzen

verhandelt mode- und textilspezifische Fragen vor

zwischen textilen Techniken und abstrahierender oder

dem Horizont von Geschlecht und Kooperation.

abstrakter Kunstproduktion des Textilen. Abstraktion

Gesellschaftliche und politische Veränderungen

meint eine Konzentration auf formale Merkmale und

bildeten sich ab in der Flexibilisierung der Damenmode

damit die Auseinandersetzung mit Form und Struktur,

in Bezug auf ihre zunehmenden sozialen Freiräume

Burcu Dogramaci

Anm erkungen

und normierten Tagesabläufe. Die Beiträge verweisen einerseits auf die Instrumentalisierung des Textilen zur Konstruktion von Weiblichkeit, andererseits zeigen sie auf, welchen Anteil Künstlerinnen und ihre textile Kunstproduktion an dem Projekt Moderne hatten und wie sie in kreativen Partnerschaften kooperierten. Das letzte Kapitel (TRANS-)LOKAL UND GLOBAL / (TRANS)LOCAL AND GLOBAL perspektiviert die grenzübergreifende Bewegung von Akteur_innen, Konzepten, Theorien und Objekten. Der Begriff des (Trans-)Lokalen meint hier sowohl die relationale Hervorbringung von lokalen Eigenarten als auch Phänomene der globalen Zirkulation und des ­Transfers.46 Dieses Buch beschreitet das noch unbestellte Feld einer Kunstgeschichte der textilen Moderne und postuliert, dass das Textile einerseits eine spezifische, dem Medium, Material und der Technik geschuldete Ausprägung der modernen Kunst ist. Andererseits wird die These vertreten, dass die textile Moderne selbstbewusster Teil einer Kunstgeschichte der Moderne und damit eine Kunst unter Künsten ist.

1

Hanna Höch: Die freie Stick-Kunst, in: Stickerei- und Spit-

zen-Rundschau. Illustrierte Monatshefte zur Förderung der deutschen Stickerei- und Spitzen-Industrie. Zentral-Organ für die Hebung der künstlerischen Frauen-Handarbeiten, hg. v. Alexander Koch, Darmstadt, 1919/1920, Bd. 20, S. 22.

2

Bonito-Fanelli führt aus, dass nur wenige Avantgarde-Künstler_

innen, die „textile Schöpfungen“ verantworteten, auch tatsächlich technisches Wissen zur Ausführung hatten und die „Stoffoberfläche wie ein Blatt Papier behandelten, auf das sie zu zeichnen gewohnt sind“. Rosalia Bonito-Fanelli: Textilgestaltung und Avantgarde in Europa, in: Künstler ziehen an. Avantgarde-Mode in Europa 1910 bis 1939, hg. v. Gisela Framke, Ausst.-Kat. Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund, Heidelberg 1998, S. 124–128, hier S. 124. Ausnahmen bildeten Künstler_innen, die selbst eine handwerkliche Ausbildung besaßen wie etwa die Weberinnen Gunta Stölzl oder Anni Albers.

3

Tristan Weddigen: Textile Medien, in: Jens Schröter (Hg.): Hand-

buch Medienwissenschaft, Stuttgart/Weimar 2014, S. 234–238, hier S. 235.

4

Silke Tammen: Textilien, in: Monika Wagner, Dietmar Rübel und

Sebastian Hackenschmidt (Hg.): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, München 2002, S. 217–224, hier S. 217.

5

Vgl. Markus Brüderlin: Zur Ausstellung. Die Geburt der Abstrak-

tion aus dem Geiste des Textilen und die Eroberung des Stoff-Raumes, in: Kunst & Textil. Stoff als Material und Idee in der Moderne von Klimt bis Heute, hg. v. ders., Ausst.-Kat. Kunstmuseum Wolfsburg, Wolfsburg, Ostfildern 2013, S. 14–45, hier S. 18; siehe auch T’ai Smith: Texture, in: Annika Reineke u. a. (Hg.): Textile Terms: A Glossary (Textile Studies, 0), Emsdetten/Berlin 2017, S. 273–275. Etymologisch verweist das Textile auf das lateinische textilis (gewebt), textum (Gewebe) oder textor (Weber). Vgl. Heinz Meyer: Textile Kunst. Zur Kultursoziologie und Ästhetik gewebter und geknüpfter Bilder, Frankfurt a. M. u. a. 2000, S. 25.

6

Gabriele Mentges: Für eine Kulturanthropologie des Textilen.

Einige Überlegungen, in: dies. (Hg.): Kulturanthropologie des Textilen, Berlin 2005, S. 11–56, hier S. 15.

7

Zu den kulturellen Interaktionen zwischen Menschen und Din-

gen bzw. Textilien siehe die beiden Beiträge „Verschleierung als Praxis: Gedanken zur Beziehung zwischen Person, Gesellschaft und materieller Welt in Sansibar“ (S. 135–148) und „Das Gele – nur ein einfaches Tuch? Das Kopftuch Gele der Yoruba-Frauen in Nigeria als künstlerisch-modisches Symbol emanzipatorischer Körper-Politik“ (S. 149–162) in: Elisabeth Tietmeyer u. a. (Hg.): Die Sprache der Dinge. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die materielle Kultur, Münster u. a. 2010.

8

Virginia Gardner Troy: The Modernist Textile. Europe and Amer-

ica 1890–1940, Hampshire/Burlington 2006, S. 13.

9

Vgl. Monika Wagner: Vorwort, in: dies. (Hg.): Moderne Kunst 1.

Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 9–13, hier S. 11–13. Siehe auch Anja Zimmermann:

Textile Moderne: Einleitende Überlegungen

17

18

Moderne, in: Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft,

94, hier S. 91. Den Begriff der Bekleidung gebrauchte Gottfried Semper

2. Aufl., Stuttgart u. a. 2011, S. 289–292. Allgemeiner heißt es bei Da-

beispielsweise für die Stuckatur, die Glasur des Ziegels, für Mosaiken

vid Summers (allerdings über das Konzept der Modernität): „In general,

und Intarsien. Siehe dazu Gottfried Semper: Der Stil in den technischen

‚modernity‘ may refer to patterns of change – which need not be de-

und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für

fined here – through which a number of cultures might have passed.“

Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Bd. 1: Die textile Kunst (1860),

David Summers: Real Spaces. World Art History and the Rise of West-

Mittenwald 1977. Darin auch das Vorwort von Adrian von Buttlar:

ern modernism, New York/London 2003, S. 549.

Gottfried Semper als Theoretiker, S. 1–22, hier vor allem S. 9.

10

20

Charles Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens (1863), in:

Vgl. Gegen die Unsichtbarkeit. Designerinnen der Deutschen

ders.: Der Künstler und das moderne Leben. Essays, „Salons“, Intime

Werkstätten in Hellerau 1898 bis 1938, hg. v. Tulga Beyerle und Klara

Tagebücher, hg. v. Henry Schumann, 2. Aufl., Leipzig 1994, S. 290–320.

Němečková, Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kunst-

Der textilen Moderne des 19. Jahrhunderts sind die Beiträge von Birgit

gewerbemuseum, Dresden, München 2018.

Haase und Kerstin Kraft in diesem Band zuzuordnen.

21

11

Vgl. Tammen 2002 (wie Anm. 4), S. 221. Siehe u. a. Ausstellun-

Spitze. Geschichte, Technik, Stilentwicklung, Berlin 1923, hier beson-

gen wie Kunst Stoff Kunst (1985), Kunst-Stoff. Textilien in der Kunst seit

ders die Einleitung, S. 5–14. Angela Völker verweist darauf, dass es

1960 (2011). Siehe hierzu auch die folgenden Kataloge: Kunst Stoff

noch bis zur Mitte des 19.  Jahrhunderts „keine wertende Trennung

Kunst, Ausst.-Kat. Städtische Galerie Nordhorn, Nordhorn 1985; Kunst

zwischen ‚freier‘ und ‚angewandter‘ Kunst gab. Tapisserien, Stickereien

Stoff. Textilien in der Kunst seit 1960, Ausst.-Kat. Städtische Galerie

oder andere Werke aus textilen Materialien galten selbstverständlich

Karlsruhe, Karlsruhe 2011. Der textilen Moderne der Mitte des

als Kunstwerke, die Gemälden, Goldschmiedearbeiten oder Skulpturen

20. Jahrhunderts sind die Beiträge von Janis Jefferies, Mona Schieren

gleichgestellt waren.“ Vgl. Angela Völker: Textilkunst und Geschichte.

und Thierry Greub in diesem Band gewidmet.

Überlegungen zur aktuellen Position der Textilkunst, in: Textile Kunst

12

1994 (wie Anm. 12), S. 50–55, hier S. 50.

Silvia Eiblmayr: Die zerissene [sic!] Leinwand, in: Textile Kunst?

Siehe z. B. Ernst Flemming: Textile Künste. Weberei, Stickerei,

Künstler-Symposium Sigharting 1994, Linz 1994, S. 8–13, hier S. 8.

22

13

denen) Publikationen: Sabeth Buchmann und Rike Frank (Hg.): Textile

Paul J. Smith: [Einleitung], in: Woven Forms, Ausst.-Kat. Mu-

Eine Ausnahme bilden freilich die beiden (miteinander verbun-

seum of Contemporary Crafts, New York 1963, o. S. 

Theorien der Moderne. Alois Riegl in der Kunstkritik, Berlin 2015; Tex-

14

Mildred Constantine und Jack Lenor Larsen: Introduction, in:

tiles – Open Letter, hg. v. Rike Frank und Grant Watson, Ausst.-Kat.

dies.: Wall Hangings, Ausst.-Kat. The Museum of Modern Art, New

Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach 2013, Berlin

York, New York 1969, o. S.

2015. Oftmals wird die textile Kunst der Moderne auch in einem um-

15

fassenden Überblick behandelt, etwa in: Ausst.-Kat. Wolfsburg 2013

Vgl. Grant Watson: Verflechten Entflechten. Die Fiber Art und

ihre Politik. Eine Neubetrachtung, in: Textiles – Open Letter, hg. v. Rike

(wie Anm. 5); To Open Eyes – Kunst und Textil vom Bauhaus bis Heute,

Frank und Grant Watson, Ausst.-Kat. Städtisches Museum Abteiberg,

hg. v. Friedrich Meschede und Jutta Hülsewig-Johnen, Ausst.-Kat.

Mönchengladbach 2013, Berlin 2015, S. 120–131; siehe auch Elissa

Kunsthalle Bielefeld, Bielefeld 2013. Hervorzuheben ist auch der Kata-

Auther: Fiber Art und die Hierarchie von Kunst und Kunsthandwerk

log zur Ausstellung Textil.Bild.Kunst. Das textile Wandbild nach 1945, der

zwischen 1960 und 1980, in: ebd., S. 148–165. Siehe auch Textile Ob-

sich Wandbildern und Künstler_innen der 1950er und 1960er Jahre

jekte, hg. v. Barbara Mundt, Ausst.-Kat. Kunstgewerbemuseum Berlin,

widmet und die Verbindung zu den textilen Künsten vor 1933 aufzeigt.

Berlin 1975.

Vgl. Textil.Bild.Kunst. Das textile Wandbild nach 1945, Ausst.-Kat.

16

Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund, Bönen 2014.

Vgl. Chantal Trubert-Tollu u. a. (Hg.): The House of Worth 1858–

1954. The Birth of Haute Couture, London 2017; Fortuny. Arte total,

23

Ausst.-Kat. Fundación Caja de Burgos, Burgos 2014; Dilys E. Blum:

u. a. 2012; T’ai Smith: Bauhaus Weaving Theory. From Feminine Craft

Shocking! The Art and Fashion of Elsa Schiaparelli, Ausst.-Kat. Philadel-

to Mode of Design, Minneapolis u. a. 2014; Buchmann/Frank 2015

phia Museum of Art, Philadelphia 2003.

(wie Anm. 22).

17

24

Vgl. Auf Freiheit zugeschnitten. Das Künstlerkleid um 1900 in

Siehe u. a. Jessica Hemmings (Hg.): The Textile Reader, London

Erster Deutscher Herbstsalon, Berlin 1913, S. 17 (Werkliste

Mode, Kunst und Gesellschaft, hg. v. Ina Ewers-Schultz und Magdalena

Sonia Delaunay), S. 27 (Werkliste Adriana van Rees-Dutilh).

Holzhey, Ausst.-Kat. Kunstmuseen Krefeld. Kaiser Wilhelm Museum,

25

Krefeld, München 2018.

Avantgarde in Berlin 1910–1932, hg. v. Ingrid Pfeiffer und Max Hollein,

18

Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt a. M., Köln 2015, S. 348; siehe

Heidi Helmhold: Affektpolitik und Raum. Zu einer Architektur

Siehe dazu die kurze Notiz in Sturm-Frauen. Künstlerinnen der

des Textilen (Kunstwissenschaftliche Bibliothek, 34), Köln 2012, S. 13.

auch Vita Elisabeth Hablik-Lindemann, http://wenzel-hablik.de/mu-

19

Siehe dazu Irene Nierhaus: Text + Textil. Zur geschlechtlichen

seum/vita-hablik-lindemann/ [Abruf: 16.1.2019]. In beiden Fällen wird

Strukturierung von Material in der Architektur von Innenräumen, in:

allerdings 1923 als Jahr der Ausstellung angegeben. Dies widerlegt

Cordula Bischoff und Christina Threuter (Hg.): Um-Ordnung. Ange-

Rainer Enders: Der Sturm – Katalogsammlung, Frankfurt (Oder) 2014,

wandte Künste und Geschlecht in der Moderne, Marburg 1999, S. 84–

CD-Rom im Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, wo als Aus-

Burcu Dogramaci

stellungsjahr 1925 genannt ist. Siehe auch die Übersicht über die

angeborene Fähigkeit zur Handarbeit wird etwa 200 Jahre nach Rous-

Sturm-Ausstellungen des Jahres 1925 in: John Spalek u. a.: German

seau von Elfriede Jelinek in ihrem Roman Die Liebhaberinnen aufge­-

Expressionism in the Fine Arts. A Bibliography, Los Angeles 1977, S. 85.

nommen, wenn es heißt: „das nähen liegt paula im blut. sie hat dieses

26

Rudolf Meyer-Riefstahl: [Einführender Text], in: Ausstellung

blut nur längst schon aus sich herausgelassen, daher gelingt ihr die ar-

Mohammedanischer Kunst (Keramik, Buchkunst, Textilien, Glas) aus

beit nicht so gut wie den andren.“ Elfriede Jelinek: Die Liebhaberinnen,

dem Besitze der Persian Art Galleries (London), Ausst.-Kat. Paul Cassi-

Reinbek bei Hamburg 1975, S. 122.

rer, Berlin 1913, S. 3–7, hier S. 7.

38

27

Sigrid Schade hat die Zuschreibung an die Reinheit einer männ-

Textilarbeiten. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Frauenarbeit im

lich geprägten Abstraktion in einem bemerkenswerten Aufsatz dekon-

19.  Jahrhundert, Weinheim/Basel 1983, insbesondere S. 191–217.

struiert. Vgl. Sigrid Schade: Zu den „unreinen“ Quellen der Moderne.

Siehe dazu auch aktueller und in Bezug auf das Stricken Lydia Maria

Materialität und Medialität bei Kandinsky und Malewitsch, in: dies. und

Arantes: Verstrickungen, Kulturanthropologische Perspektiven auf

Jennifer John (Hg.): Grenzgänge zwischen den Künsten. Interventionen in

Stricken und Handarbeit, Berlin 2017, S. 222–231.

Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktionen, Bielefeld 2008,

39

S. 35–62.

(1907), in: Aby Warburg: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kul-

28

Vgl. Dagmar Ladj-Teichmann: Erziehung zur Weiblichkeit durch

Aby Warburg: Arbeitende Bauern auf burgundischen Teppichen

Inserat in: Russische Kunst. Ikone/Volkskunst. Neue Gemälde,

turwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renais-

Sechste Ausstellung, Ausst.-Kat. Galerie von Garvens, Hannover, Han-

sance, hg. v. Gertrud Bing unter Mitarbeit von Fritz Rougemont (1932),

nover 1921, S. 15.

neu hg. v. Horst Bredekamp und Michael Diers, Berlin 1998, S. 221–

29

230, hier S. 223. Auf Warburg verweist bereits Weddigen 2014 (wie

Briony Fer: Nahe dem Stoff, aus dem die Welt besteht: Weben

als ein modernes Projekt, in: Anni Albers, hg. v. Ann Coxon, Briony Fer

Anm. 3), S. 234.

und Maria Müller-Schareck, Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-

40

Westfallen, K20, Düsseldorf, München 2018, S. 20–43, hier S. 25.

15.1.2019].

30

41

Ebd., S. 27. Abb. in: Ausst.-Kat. Düsseldorf 2018 (wie Anm. 29),

S. 46.

31

Https://en.oxforddictionaries.com/definition/re-enact [Abruf: Anni Albers: Constructing Textiles (1946), in: Hemmings 2012 (wie

Anm. 23), S. 387–390, hier S. 389. Technische Beschreibungen und Definitionen textiler Gewebe

42

Bislang gibt es kaum Literatur zum Zusammenhang von Weberei

aus der Zeit, die in diesem Sammelband behandelt wird, finden sich in

und psychoanalytischer Praxis und Theorie im Schaffen von Anna Freud.

Flemming 1923 (wie Anm. 21), S. 10 f. Siehe auch Brüderlin 2013 (wie

Das Freud-Museum verweist auf seiner Webseite auf diesen Aspekt:

Anm. 5), S. 17.

„The slow and rhythmic activity of weaving allows your mind to wander

32

and be filled with thoughts, much like dreaming or the ‚free association‘

Siehe dazu u. a. Merel van Tilburg: Abstraction, in: Reineke 2017

(wie Anm. 5), S. 13–17.

that Sigmund Freud asked of his patients in therapeutic sessions. His

33

Zu der gemeinsamen Arbeit in den USA siehe u. a. Black Moun-

daughter, Anna Freud, was a pioneer of Child Psychoanalysis as well as

tain. Ein interdisziplinäres Experiment 1933–1957, hg. v. Eugen Blume

a keen weaver who, it is said, composed her psychoanalytic papers

u. a., Ausst.-Kat. Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für

while working on her loom.“, https://www.freud.org.uk/exhibitions/

Gegenwart, Berlin, Leipzig 2015.

dream-weaving/ [Abruf: 15.1.2019]. Eher Sigmund Freuds Reflexionen

34

Siehe dazu u. a. Anni und Josef Albers. Begegnung mit Latein-

zum Textilen wenden sich die Beiträge von Liliane Weissberg und Anne

amerika, hg. v. Brenda Danilowitz und Heinz Liesbrock, Ausst.-Kat. Jo-

Hamlyn zu. Liliane Weissberg: Ariadne’s Thread, in: MLN, Bd. 125, April

sef Albers Museum, Bottrop, Ostfildern 2007.

2010, H. 3 (German Issue), S. 661–681; Anne Hamlyn: Freud, Fabrik,

35

Fetish, in: Hemmings 2012 (wie Anm. 23), S. 14–26.

Noch immer zentral für Fragen der Asymmetrien in kreativen

Partnerschaften, aber ohne Einzelstudie zu Anni und Josef Albers ist:

43

Renate Berger (Hg.): Liebe Macht Kunst. Künstlerpaare im 20. Jahrhun-

Berger: Stoffe im Raum, in: ReD (Prag), Bd. 3, 1930, H. 5, S. 143–145. Zur

dert, Köln u. a. 2000.

Theoretisierung des Webens siehe vor allem Smith 2014 (wie Anm. 23).

36

44

Siehe dazu die Studie von Rozsika Parker: The Subversive Stitch:

Siehe z. B. Anni Albers: On Weaving, Middletown/CT 1965; Otti

Zum Archiv historischer Textilien siehe Jennifer Reynolds-Kaye:

Embroidery and the Making of the Feminine, London 1984. Siehe auch

Anni Albers als Sammlerin, in: Ausst.-Kat. Düsseldorf 2018 (wie

Heather Pristash, Inez Schaechterle und Sue Carter Wood: The Needle

Anm. 29), S. 106–109. Auf der Albers-Retrospektive in der Londoner

as the Pen: Intentionality, Needlework, and the Production of Alternate

Tate Modern 2018 befand sich in Raum 10 eine große Vitrine mit den

Discourses of Power, in: Maureen Daly Goggin und Beth Fowkes Tobin

archivierten Webmustern.

(Hg.): Women and the Material Culture of Needlework and Textiles,

45

1750–1950, Farnham u. a. 2009, S. 13–29.

the Avant-Garde / Abstraktion und die Avantgarde, in: Elke Bippus und

37

Siehe dazu in Bezug auf Mode Valerie Steele: Abstraction and

Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Von der Erziehung

Dorothea Mink (Hg.): fashion body cult / mode körper kult (Hochschule

(1762), München 1979, S. 481. Siehe auch Matilda Felix: Nadelstiche.

für Künste Bremen, Schriftenreihe 03), Stuttgart 2007, S. 24–29, hier

Sticken in der Kunst der Gegenwart, Bielefeld 2010, S. 24. Die angeblich

S. 25.

Textile Moderne: Einleitende Überlegungen

19

46

Zur Translokalität siehe Ulrike Freitag: Translokalität als ein Zu-

gang zur Geschichte globaler Verflechtungen, 2005, https://www. hsozkult.de/hsk/forum/2005-06-001 [Abruf: 27.1.2019]. Siehe auch das Kapitel „The Production of Locality“, in: Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 2010, S. 178–199.

20

Burcu Dogramaci

M AT E R I A L, MUSTER, FARBE / M AT E R I A L, PATTE R N, COLOUR

With his style theory Semper provided such an analysis. He situated the emergence of artistic motifs in a primitive form of braiding, when in the earliest days of civilisation humans would create fences out of twigs and natural materials from a need for shelter and protection.3 When lighter materials such as pieces of bark or grasses were used, weaving would have emerged. A next step would be a deliberate processing of natural fibres into more refined ones as to make

Materiality, Representation and Cognition: A Reco nsideration of Gottfried Semper’s Emphasis on Weaving as a Fundamental Craft

more refined cloths which could be hung around poles and thereby establish the first architectural structures in the form of primitive tents.4 This enclosure of a space could be defined as one of the constitutive elements of architecture; its hanging coverings formed the natural space dividers. This allowed Semper to distinguish between the ‘structure’ and its outer ‘appearance’ in the form of its ‘dressing’ (Bekleidung).5 Because of the importance of this rudimentary

Arthur Crucq

form of ‘weaving’ Semper reasoned that ‘textiles’ was When architect and art theorist Gottfried

probably the oldest craft from which all others

Semper arrived in London in 1850 he encountered a

emerged. The weave pattern in combination with

heated debate about the consequences of industriali-

colour differences of the natural fibres would have

zation for design and manufacturing. British designers

formed the first basic motifs.6 Every product of art,

were dissatisfied with the aesthetic quality of many of

architecture and design somehow expressed traces of

the industrially manufactured design products.

these earlier motifs. The constant evolution and

Industrial manufacturing ignored fundamental design

adaptation of motifs under pressure of changing

principles by means of which the designer traditionally

cultural and historical circumstances would form the

managed the relationship between material, form and

basic ordering principle of art. It underlies the devel-

function.1

opment of motifs changing form and material appear-

According to Semper the main problem of the

ance, as well as motifs developing into new forms.7

nineteenth century concerned the inappropriate use of

With his emphasis on the woven cloth Semper

motifs from the past. Throughout the history of design

implicitly also emphasized the geometrical nature of

motifs would always have been appropriated in new

the dressing as a surface, whether hung flat as the

forms to serve the needs of the present. He argued

space-divider or plastically draped as a garment. It can

what was lacking in nineteenth century industrial

be argued therefore that Semper’s theory to some

design was a thorough analysis of the motifs’ constitu-

extent anticipates the modernist concern with the

tive parts.

plane. At the same time, his theory can be regarded as

2

A Reconsideration of Gottfried Semper’s Emphasis on Weaving as a Fundamental Craft

23

one of the forerunners of early twentieth century

enable humans to do this, I want to shift the attention

manifestos in which architecture was also proclaimed

to the individual thread first. To conceive a thread-like

as the fundamental artistic discipline to which all

natural fibre as something which can be connected to

others relate. In the twentieth century this would

other fibres to create something new, might seem like

become manifest, for instance in the Bauhaus work-

a trivial given but to be able to comprehend this

shops, not the least in that of weaving. The weaving

requires, as a precondition, the availability and accessi-

workshop at the Bauhaus was largely the domain of

bility of specific cognitive competences. It requires the

female students. In many cultures the craft of weaving

availability of a rudimentary mental concept of

is traditionally regarded as a craft mainly executed by

linearity and its derivative, the mental image of a line,

women. It was only later that the textile works by

which the subject is able to apply to the elongated

former female Bauhaus students Anni Albers, Gunta

materials to be found in his surroundings, for instance

Stölzl and Otti Berger, were widely recognized and

the twigs and natural fibres with which the primitive

admired. Anni Albers’ influential books on weaving to a

fences were created. Furthermore, being able to

large extend contributed to this recognition.

connect different threads requires the competence to

8

9

As I will make clear in this chapter the practice of

conceive each thread as a single object in relation to

weaving relates to human traits that transcend cultural

other objects; the subject has to conceive them in

as well as gender differences. Therefore, in this

terms of number. Another precondition is the compe-

chapter I will approach Semper’s theory from yet

tence to transform and rotate each individual thread;

another perspective. As Semper’s theory unfolds it

to comprehend each thread as an individual line that is

also shows how the development of motifs is intrinsi-

potentially subject to certain geometrical transforma-

cally related to the integration of human cognitive and

tions with which position and spatial orientation of

bodily competences which become manifest within

each line (and thus each thread) can be altered. To

manufacturing processes exactly. Present day cogni-

weave a number of threads into a cloth requires at

tive research shows how for instance knowledge of

least two sets of threads of which one is horizontally

geometry and number is anchored in the human brain

and one vertically orientated. If weaving would have

as a disposition. This can partly explain how humans

been a primordial craft that humans performed, prior

prior to the existence of formal systems of geometry

to any formal geometrical and mathematical systems,

and number were able to perform relatively advanced

humans had to possess a priori certain core cognitive

procedures such as those of weaving.

competences related to geometry and number. Recent experimental and cross-cultural research

Th e Cognitive Foundatio n for t h e Elementary Craf t of Weav i ng

from the cognitive sciences indicate that core knowledge of number and geometry is indeed present at birth in humans as a disposition.10 It is not exactly known how this became established but with regard to

In essence, the practice of weaving comes down

24

line neuroscientist Stanislas Dehaene proposes that

to the joining together of threads to create a new

the mental concept of line is an abstraction of the

entity: the two-dimensional surface in the form of a

contours that humans perceived in their natural

cloth. To understand the underlying competences that

surroundings.11 However, the concept of line as a thin

Arthur Crucq

elongated extension in space is also applicable to

With regard to the concept of line the value of

objects such as twigs and reeds. It is therefore con-

Semper’s theory therefore lies in its power to show

ceivable that besides abstracting the concept of line

how the materialization of a mental concept of line

from the contours of objects and intersections, the

could have developed and how this was fostered by

concept of line was also abstracted from those natural

the mutual reinforcement of cognitive and bodily

thin elongated objects. This process has been likely a

competences allowing humans not only to apply

reciprocal one, in the sense that the use of elongated

mental concepts to physical objects and phenomena

natural materials in practices such as weaving would

but also to actively process physical materials to

have further consolidated the mental concept of line in

manifest a cultural order. Perhaps it could be even

the human mind over the course of time.

argued that the materialization of the mental concept

12

However, archaeological findings of red ochre

of line, whether it occurred in weaving, on the body or

objects inscribed with regular patterns, which date

on objects, has been the first and most primordial

from approximately 70.000 BC, indicate that the mate-

form of Stoffwechsel.16

rial manifestation of a mental concept of line might not have occurred in weaving first.13 This problematizes the question on the extent to which Semper’s emphasis on weaving is still valid. At the same time, it should be noted that Semper acknowledged that other

The Bodi ly Com p etences Underlyi ng t he Weav i ng of Pat terns

practices could have preceded that of weaving such as for instance body art.14 Semper did not rule out,

Within Semper’s theory, the more formal aspects

however, that even body decoration somehow related

underlying the transformation and evolution of motifs

to earlier or lost textile practices of which material

relate to the more spiritual notion of culture as an

evidence was no longer traceable. More importantly,

instance of ordering exactly.17 It can be argued both

Semper saw the practice of decorating the body as

are connected by the emphasis Semper laid on the

coming forth from a rudimentary understanding of the

bodily processes of labour through which humans

difference between ‘structure’ (body) and ‘appearance’

manipulate materials. Semper implicitly showed how

(the human skin). In many of the body paintings of

cognitive and bodily competences presuppose each

so-called primitive cultures Semper recognized a

other. As weaving is a craft taking place in time and

correspondence between the lines applied on the

space and unfolds while the body manipulates the raw

body and the underlying muscles as if the lines on the

material, humans need a certain procedure by means

skin were deliberately applied to emphasize this

of which their cognitive competences can be made

structure. Furthermore, in the mingling of lines of

manifest through those of the body. The act of

these body paintings Semper recognized an under-

weaving together different threads is by itself a

standing of the concept of line, its properties and its

rhythmical act. It develops both horizontally and

primary function. Whether in the form of a thread, a

vertically and therefore requires simple procedures

tattooed or painted line, Semper regarded all these

that regard a rudimentary level of counting and

material instances of a line as a means for binding,

dimensioning. Semper did not explicitly refer to

connecting and girding.

counting and dimensioning but he did emphasize the

15

A Reconsideration of Gottfried Semper’s Emphasis on Weaving as a Fundamental Craft

25

importance of ordering through the rhythmical in art,

whole, each individual act of weaving relates to the

music and dance, which he connected to the ritual

craft as a whole.

which in turn implies a series of acts, a regular ordering of moments in space and time. According to Semper the making of patterns, whether it concerns the weaves of a cloth or the ornamental patterns

The Woven Pat tern a s Rep resent at i on

executed on objects and buildings, comes forth from both a mental desire for order as well as from the rhythmical and physical act of labour, in essence the

patterns and of any rhythmical activity. Each instance

active and bodily imposing of order on a world of raw

in the sequence always points to the next as well as to

materials.18

the entire sequence. Patterns are therefore also

Again, this can be related to insights from

representational no matter how abstract in appear-

cognitive psychology. Cognitive psychologists Marc

ance. Moreover, patterns are representational on

Hauser and Elizabeth Spelke argue that the core

different levels and this applies to the patterns

cognitive competence for numbers consists of two

emerged from weaving as well. Although Semper’s

systems of which one allows humans to individuate up

initial aim for Der Stil was not to write a theory on

to three or four different objects accurately while a

representation, this representational aspect clearly

second system allows humans to conceive objects in

comes to the fore throughout the entire volume. In

terms of relative magnitudes and quantities.19 Both

Der Stil, Semper would again emphasize the funda-

core systems, together with culturally developed

mental importance of the braided surface as a space

systems of counting allow humans to perform rela-

divider. In analogy to the difference between ‘struc-

tively simple arithmetical tasks which also underlie the

ture’ and Bekleidung, the visual space divider empha-

routine of aligning and connecting a number of individ-

sized a sense of an ‘inside’ and an ‘outside’.22

ual threads into a larger whole. Furthermore, this activity is fostered by the

26

This relationship implies the indexical nature of

Semper explained how the woven mats of the early tents at some point lost their structural function

cognitive competence to recognize the geometrical

as space dividers, when for reasons of durability and

properties of the shapes of objects as well as the

strength stone walls were made. But in the form of

recognition of their relative spatial positions.20

hanging carpets attached to the wall they maintained

Together the competences of number and geometry

their function as space dividers in a symbolic sense, or

enable a human craftsman to arrange a number

as Semper puts it: they remained as the visible

of individual objects, albeit beads, pearls or threads,

space-dividers.23 Semper’s observations of the Assyr-

into a new coherent unity, which unfolds in a specific

ian panels at the British Museum allowed him to argue

spatial-temporal direction. In doing so, the human

that this function also pertained when hanging carpets

body itself is involved in a repetitive procedure in

were replaced with painted panels and sculpted reliefs.

which a sequence of individual acts of weaving a

More importantly, these panels also provided him with

stitch relate to weaving as the craft encompassing

the material ‘evidence’ of how patterns and motifs

this series of bodily acts.21 In essence, analogue to

from textiles transferred to bas-relief sculpture and

how each individual weave relates to the cloth as a

where they were subjected to a new way of processing

Arthur Crucq

Ill. 1: Artist unknown, Gypsum wall panel showing two pairs of Assyrian archers and slingers at a siege …, 700−692 BC, Nineveh, South West Palace, gypsum, ca. 93.8 x 101.6 x 15.24 cm, British Museum, London, Inv. No. 1851,0902.27

of a new material with the result that these patterns

means of the dressing and, more importantly, by

and motifs not only adopted properties of the new

means of the monumental appearance of the dressing.

material but could also transform into new motifs.

According to Semper, masking and dressing essentially

24

The distinction between ‘structure’ and ‘appear-

come down to the concealing of the material proper-

ance’ allowed Semper to consider all architecture as a

ties of the structure itself.25 And I think as the panels

form of ‘dressing’ (Bekleidung). Following this line of

from Nineveh show also of the dressing itself.

reasoning it can be argued that the decorative arts

The visitor in the British Museum does not look

concern the dressing itself. What is already immanent

at a slab of stone but at a carpet or a scene of Assyrian

in the construction of the primitive tent is what

warriors (ill. 1). Regardless of its material properties,

Semper regards as the masking of the structure by

the form becomes an independent human creation

A Reconsideration of Gottfried Semper’s Emphasis on Weaving as a Fundamental Craft

27

Ill. 2: Artist unknown, Door-sill, 645 BC, Nineveh, North Palace, gypsum, carved, 246 x 304.6 cm, British Museum, London, Inv. No. 1851,0902.57

loaded with symbolic significance. Semper’s argument

means of its appearance as a carpet makes one forget

allows connecting fundamental age-old cross-cultural

one is looking at a slab of stone (ill. 2). It is by means of

practices such as the making of masks, the painting of

this masking of its actual properties that a slab of stone

the body, the dressing of the body, as well as the

stands in the place of a carpet and as such represents a

making and decorating of objects and structures, to

carpet. But it can do more than standing in the place by

the single concept of Bekleidung which Semper

means of visual resemblance. A one can represent

considers as central to human culture, hence the

another also by means of pointing to another, symboli-

anthropological significance of Der Stil.

cally signifying another or by means of exemplifying

Moreover, in the concept of masking and dressing

28

another.26 With its central field of flower petals sur-

lies the essence of representation. Again, when con-

rounded by decorative bands the doorsill from Nineveh

fronted with a doorsill from Nineveh at the British

not only represents a carpet but its stylized motifs and

Museum, the concealment of its material properties by

patterns are at the same time symbolic representations

Arthur Crucq

of actual flowers and tendrils. As indices the motifs and

processes. Yet, there are two important aspects that

patterns on the panels still refer to the technique of

are often overlooked in present day psychological

weaving from which they originated and by means of

research into core knowledge: the material aspect of

that to a different material. Within this reference still

making patterns and the given that patterns, no matter

resonates the labour of the manufacturer and with it

how abstract they are, are inherently representational.

the assumption of intention with which was manufac-

After all, from the formal properties of patterns like

tured and by means of which the manufactured was

symmetry and regularity, humans can infer an agent

endowed with agency.27

must have made the pattern with an intention. Patterns therefore at least always function as an index

Con c l u s i on

of a maker and of a specific way of making. Semper’s style theory thus allows to connect cognitive competences with physical conditions and

By approaching Semper’s style theory from a

symbolic significance. Although over one and a half

cognitive perspective I have argued the manufacturing

century old, Semper’s theory still provides a productive

process of weaving is founded in both cognitive and

framework with which to clarify how the physical

bodily competences. These are partly innate and partly

manipulation of materials in the making of artefacts

built on cultural systems of for instance geometry and

allowed the integration of innate systems of number

number. With Semper it can be stated that the

and geometry and as such constituted cultural and

intentions with which humans manufacture are deeply

formal systems. Semper’s emphasis on the craft of

rooted in a desire to impose order upon the world in

weaving and the practical and both symbolical func-

which they dwell. Whether or not this imposition of

tion of the woven cloth as a space divider, underscores

order occurred first in weaving or other crafts, it at

that these processes are inextricably bound to funda-

least required an important step from being able to

mental biological and cultural needs.

conceive concepts mentally to an actual manifestation of a mental concept in matter through the manipulation of materials with the body. The value of Semper’s theory regards its ability to show how this manipulation underlies the evolution of artistic motifs and how by means of references to motifs derived from earlier techniques this evolution would still be traceable. Furthermore, Semper’s emphasis on the making of a two-dimensional surface in the form of a cloth showed the importance of a rudimentary understanding of the distinction between ‘structure’ and ‘appearance’, as well as between an ‘inside’ and an ‘outside’. These conceptualizations are again rooted in core cognitive concepts that are foundational for ordering principles underlying design

A Reconsideration of Gottfried Semper’s Emphasis on Weaving as a Fundamental Craft

29

1

Notes

rather denotes the surface. It is important to realize how Semper’s dis-

Such notions rather expressed an idealisation of the manufactu-

meaning of Wand and particularly in its derivative Gewand which deno-

ring processes of the past. There was also no clear consensus within

tes a piece of textiles exactly.

the design debate around 1850 how the ideal design circumstances

6 Semper, Der Stil, pp. 227−228. Ultimately natural fibres were

could be achieved or re-established. See for instance Ralph N. Wor-

coloured with dye too, thereby expanding the colour palette of the ar-

num, Analysis of Ornament: The Characteristics of Style (London: Chap-

tisan to a large extent. See A. K. C. Crucq, ‘Abstract Patterns and Repre-

man & Hall, 1856), pp. 5−25; John Ruskin, The Stones of Venice (Lon-

sentation: The Re-cognition of Geometric Ornament’ (Ph.D. diss., Lei-

don/New York: J. M. Dent, E. P. Dutton, 1907), pp. 168−169.

den University, 2018), pp. 173−174.

2

Semper regarded such as thorough analysis necessary to build

from these parts, new forms. Gottfried Semper, Wissenschaft, Industrie

7

Wolfgang Herrmann, Gottfried Semper: In Search of Architecture

(Cambridge, MA: MIT Press, 1984), p. 225.

und Kunst: Vorschläge zur Anregung nationalen Kunstgefühl; bei dem

8

Schlusse der Londoner Industrie-Ausstellung (Braunschweig: Vieweg,

als ein modernes Projekt’, in Anni Albers, ed. A.  Coxon, B.  Fer and

1852), pp. 30−31; Mari Hvattum, Gottfried Semper and the Problem of

M.  Müller-Schareck, exh. cat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen,

Historicism (Cambridge: Cambridge University Press, 2004),

Düsseldorf (München: Hirmer Verlag, 2018), pp. 22, 37.

Briony Fer, ‘Nahe dem Stoff, aus dem die Welt besteht. Weben

pp. 158−159; H. F. Mallgrave, Gottfried Semper: Architect of the Nine-

9

teenth-Century (London: Yale University Press, 1996), p. 206.

waren halt die Dekorativen im Sternenbanner Bauhaus’, in To Open

3

Fer, ‘Nahe dem Stoff’, p. 20. See also Christian Wolsdorff, ‘Wir

How such fences were imagined in the nineteenth century can

Eyes: Kunst und Textil vom Bauhaus bis heute, ed. Friedrich Meschede

be seen, for instance, on the frontispiece picture of Gustav Klemm, All-

and Jutta Hülsewig-Johnen, exh. cat. Kunsthalle Bielefeld (Bielefeld:

gemeine Culturgeschichte der Menschheit, Vol. 1: Die Einleitung und die

Kerber Verlag, 2013), p. 60; Anja Baumhoff, ‘Frauen am Bauhaus: Ein

Urzustände der Menschheit enthaltend (Leipzig: Teubner, 1843).

Mythos der Emanzipation’, in Bauhaus, ed. Jeannine Fiedler and Peter

4

Semper defined four elements: the hearth, the enclosure, the

Feierabend (Köln: Könemann, 1999), pp. 102−103; Anja Baumhoff, ‘Die

mound and the roof. He defined the hearth as the primary element. It was

Webereiwerkstatt’, in Bauhaus, ed. Jeannine Fiedler and Peter Feier-

around the hearth were humans cooked food and found protection from

abend (Köln: Könemann, 1999), pp. 468−469.

the elements and wild animals. In his attempt to reconstruct the situation

10

of the earliest civilizations, Semper argued that fires were the main spots

Spelke, ‘Core Knowledge of Geometry in an Amazonian Indigene

were humans gathered, for instance after coming back from hunting. It

Group’, Science 311, no. 5759 (2006): pp. 381−384.

Stanislas Dehaene, Véronique Izard, Pierre Pica and Elizabeth

was also at the fire were food was cooked and were humans found shel-

11

ter. Most importantly in Semper’s reasoning, the fire would have been the

junctions in human graphical signs. Alphabetic letters contain many

place where humans began to tell stories and where culture emerged.

T-junctions and humans would have been confronted with such junc-

Semper therefore regarded the central fireplace of the hearth as the mo-

tions on a daily basis in environments where the visual shapes of ob-

ral element of architecture. This moral connotation would also be reflec-

jects partly occluded, such as the branches of the trees, plants, flowers,

ted by the altars in temples and churches which Semper related to the

rocks, animals etcetera, and produced contours of such junctions exac-

hearth. Gottfried Semper, Die vier Elemente der Baukunst: Ein Beitrag zur

tly. Stanislas Dehaene, Reading in the Brain: The New Science of How We

vergleichenden Baukunde (Braunschweig: Vieweg, 1851), pp. 55−56.

Read (London: Penguin Books, 2009), p. 137.

5

30

tinction between ‘structure’ and Bekleidung is grounded in the German

In the field of biology Semper found the analogy of the skeleton

12

Dehaene argues this from the context of the most common

I distinguish between ‘contour’ and ‘line’ whereby I use the for-

which allowed him to emphasize the important distinction between

mer in the meaning of the section(s) between one or more surfaces of

‘structure’ and ‘exterior’. At the same time ethnography provided Sem-

bodies and objects. According to Alois Riegl humans would infer from

per the insight that perhaps not the hut but the tent would have been

contour the outlines of an object, which enabled humans to copy the

the oldest form of shelter. See Gottfried Semper, Der Stil in den techni-

shape of an object on the flat surface. Riegl argued that this outline

schen und tektonischen Künsten, oder praktische Ästhetik: Ein Handbuch

itself as such does not exist in nature but is a mental abstraction. See

für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Frankfurt a. M.: Verlag für

Alois Riegl, Stilfragen: Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik

Kunst und Wissenschaft, 1860), pp. 227−231 (hereafter cited as Der

(Berlin: G. Siemens, 1893), pp. 2, 24.

Stil). See also Gottfried Semper, The four Elements of Architecture and

13

other Writings, trans. Harry F. Mallgrave and Wolfgang Herrmann (Cam-

engraved were found at the Blombos cave in South Africa. See Christo-

bridge: Cambridge University Press, 1989), pp. 29−40. See furthermore

pher  S. Henshilwood, Francesco d’Errico, Royden Yates, Zenobia Ja-

Semper, Die vier Elemente der Baukunst, p. 57−59. Important here is the

cobs, Chantal Tribolo, Geoff A. T. Duller, Norbert Mercier, Judith  C.

difference between the German words Mauer and Wand, which in Eng-

Sealy, Helene Valladas, Ian Watts and Ann G. Wintle, ‘Emergence of

lish both translate as ‘wall’. The German Mauer would denote the wall

Modern Human Behaviour: Middle Stone Age Engravings from South

as a stack of stones, i. e. the structural wall, while the German Wand

Africa’, Science 295, 5558 (2002): pp. 1278−1280.

Arthur Crucq

These pieces of red ochre with a so-called diamond pattern

14

Art historian Alois Riegl would situate that rather in the desire

York: Routledge, 2006), pp. 59−60; Mallgrave, Gottfried Semper, p. 293;

to adorn the body than in the practice of weaving. He was not convin-

Semper, Der Stil, pp. 180−182.

ced the emergence of rectilinear geometrical patterns would have had

18 Hvattum, Gottfried Semper and the Problem of Historicism, p. 66;

a purely technical and material origin, let alone it occurred in any parti-

Semper in Herrmann, Gottfried Semper, p. 219.

cular practice. Instead, the cross-cultural and historical omnipresence

19

of geometrical patterns in the arts justifies thinking in terms of sponta-

velopmental Foundations of Human Knowledge: A Case Study of Ma-

neous generation resulting from a shared mental make-up but Riegl did

thematics’, in The Cognitive Neurosciences III, ed. M. S. Gazzaniga (Cam-

also not rule out the possibility that cultures would just have copied

bridge, MA: The MIT Press, 2004), pp. 855−862.

what they had seen in other cultures. Alois Riegl, Problems of Style:

20

Foundations for a History of Ornament, trans. Evelyn Kain (Princeton, NJ:

tivity to Geometry in Visual Forms’, Human Evolution 24, no. 3 (2009):

Princeton University Press, 1992), pp. 5−7. See also Mallgrave, Gott-

pp. 213−248. See also Véronique Izard, Pierre Pica, Stanislas Dehaene,

fried Semper, pp. 285, 376.

Danièlle Hinchley and Elizabeth  S. Spelke, ‘Geometry as a Universal

15 Semper, Die vier Elemente der Baukunst, pp. 2−3; Semper, Der

Mental Construction’, in Space, Time and Number in the Brain: Searching

Stil, pp. 97−104.

for the Foundations of Mathematical Thought, ed. S. Dehaene and

16

E. Brannon (London: Academic Press Elsevier Inc., 2011), pp. 319−332.

Fundamental for understanding Semper’s concept of Stoffwech-

Marc D. Hauser and Elizabeth S. Spelke, ‘Evolutionary and De-

Véronique Izard and Elizabeth S. Spelke ‘Development of Sensi-

Museum in London. The strong contour lines of the figures, the orderly

21 22

alignment of their heads and the ornamental patterns applied to their

is partly rooted in Gustav Klemm’s anthropology which also departed

clothes and shields would betray their origin in the textile arts, more

from the idea that architecture owed its motifs to other art practices.

specifically in carpentry. According to Semper the practice of painting

According to Klemm this concerned the motifs and rhythms from the

walls, relief-sculpture and of placing panels to the walls of the Assyrian

practical arts such as those from rituals and dance or the rhythmical

temples testified of this origin. Assyrian carpentry would have been

and mimetic repetition of knots. Hvattum explains that according to

famous for its vivid colours and refined representations. Semper argued

Klemm architecture therefore came forth from a human desire to arti-

that the figures the visitor could see on the bas-reliefs in the British

culate the structure of the human world and to “sustain this world th-

Museum would still be compatible with how they were once expressed

rough embodied representations.” Hvattum, Gottfried Semper and the

on carpets. It provided Semper the insight that motifs adopted from

Problem of Historicism, pp. 43−46.

earlier techniques were not only appropriated in new materials, but would also adopt certain qualities of the new material. Executed in

23 Semper, Die vier Elemente der Baukunst, p. 57. 24 Eventually this process would have led to the more intricate and

stone, the motifs of the figures and patterns of the Assyrian bas-reliefs

complex decorations and representations such as could be observed on

remained relatively faithful to their textile predecessors but at the same

the walls of later Greek temples. Semper, Die vier Elemente der Bau-

time the highlighting and shadowing of bas-relief also enabled Assyrian

kunst, pp. 57−59; Semper, Der Stil, pp. 228−229. See also Mallgrave,

craftsmen to set the figures apart from their background, something

Gottfried Semper, pp. 294, 377.

not possible in textiles. Semper, Die vier Elemente der Baukunst,

25

pp.  59−66. Mari Hvattum underscores the important influence the

pp. 229−231.

discovery of polychromy had on Semper’s thinking. Polychromy challenged Semper to regard the history of art as one of material transfor-

26 27

mation. This occurred already before Semper was confronted with the

decorations applied to objects such as vases. He argues that the sym-

Assyrian bas-reliefs in London. See Hvattum, Gottfried Semper and the

bolism of these decorative patterns is “linked with the simplest proces-

Problem of Historicism, p. 11. See also Semper, Die vier Elemente der

ses of making rows, lacing, pinning, twisting, braiding, weaving, sewing,

Baukunst, pp. 99−101.

and hemming – [...]” Translation quote from Gottfried Semper, Style in

17

Semper recognized in the knot one of the oldest technical ele-

the Technical and Tectonic Arts: Or, Practical Aesthetics, trans. and ed.

ments of binding and as such regarded the knot as a primary element of

H. F. Mall-grave and M. Robinson (Los Angeles, CA: Getty Research In-

ordering, which he for instance also saw represented on the decora-

stitute, 2004), pp. 530−531. Original quote from Gottfried Semper, Der

tions of vases. In this appearance, the knot had become a decorative

Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder praktische Ästhetik:

motif, which however still referred to its earlier use in a different

Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Vol. 2: Keramik,

technique and medium, and as such still performed its ordering func-

Tektonik, Stereometrie, Metallotechnik (München: Bruckmann Verlag,

tion though now in a symbolic way within the decorative scheme ap-

1879), p. 83: “Ihre Symbolik knüpft an die einfachsten Prozesse des

plied to the object. See Jonathan A. Hale, ‘Gottfried Semper’s Primitive

Reihens, Schnürens, Spinnens, Drehens, Flechtens, Webens, Nähens

Hut: Duration, Construction and Self-creation’, in Primitive: Original

und Säumens, [...].”

sel are his observations of the Assyrian bas-relief panels at the British

Crucq, ‘Abstract Patterns and Representation’, p. 172. Mari Hvattum has made clear how Gottfried Semper’s thinking

“Vergessen machen sollen wir die Mittel, [...].” Semper, Der Stil, Crucq, ‘Abstract Patterns and Representation’, pp. 94−97. Semper recognizes this not just in these panels but also in the

Matters in Architecture, ed. J.  Odgers, F.  Samuel and A.  Scharr (New

A Reconsideration of Gottfried Semper’s Emphasis on Weaving as a Fundamental Craft

31

Hut vor dem solchermaßen Gestalt gewordenen Zenit modischer Eleganz (Abb. 1). Der Beitrag reiht sich in eine lange Folge von Satiren auf die weltweit als Schönheitsideal und Modevorbild geltende spanischstämmige Eugénie de Montijo, die der französische Kaiser Napoleon III. im Januar 1853 geheiratet hatte.2 Der Punch präsentierte sie als Protagonistin zweier Novitäten der weiblichen Garderobe, die in den späteren 1850er Jahren große Aufmerksamkeit

Farben der vie moderne . Zu Verwendung und Wahrnehmung erster synthetischer Textilfarbstoffe in der Damenmode

erregten und für viel Diskussionsstoff sorgten: Die Stahlreifenkrinoline und der Chemiefarbstoff ‚Mauve‘. Im selben Jahr 1856 auf den Markt gekommen, revolutionierten die nach allen Regeln der Ingenieurskunst konstruierten Krinolinen und die als ‚Regen­ bogen aus der Retorte‘ gefeierten ersten synthetischen Textilfarbstoffe moderne Perzeptionsmuster. In einem komplexen Spannungsfeld von ökonomischen, ästhetischen und genderbezogenen Argumentationssträngen bewegte sich die zeitgenössische Rezeption

Birgit Haase

zwischen begeisterter Zustimmung einerseits und In der englischen Zeitschrift Punch vom Juni

empörter Ablehnung andererseits, wobei die Stellung-

1859 findet sich ein Beitrag mit dem Titel „Impératrice

nahmen in der Regel mit symbolischen Interpretatio-

de la France et de la Mode“; in satirischem Ton, nicht

nen untrennbar verknüpft waren.

frei von nationalem Ressentiment, heißt es dort unter

Im Folgenden werden anhand ikonografischer,

anderem: „It is to the wife of Louis Napoleon that the

schriftlicher und materieller Quellen verschiedene, oft

fashionable world is indebted for the elegant invention

diametrale Wertungsebenen verdeutlicht. In diesem

of crinoline. Again, it is to the same imperial inspiration

Zusammenhang wird aufgezeigt, inwiefern die soge-

that the ladies have reason to be grateful for the

nannten Anilinfarben nach der Mitte des 19. Jahrhun-

endowment of that sumptuous and becoming colour,

derts die Sichtbarkeit modisch gekleideter Frauen

which modistes and Mantallinis delight in calling Mauve.

gerade im großstädtischen Kontext steigerten und

[…] In grace and conception, in beauty and imagina-

somit als wirkmächtiges Symbol der Moderne fungier-

tion, it must be willingly acknowledged that the real

ten. Dabei fokussiert sich der Blick auf die beiden

Empress of Fashion is Eugénie.“1 Die dem Artikel

Dekaden des zweiten französischen Kaiserreichs

beigegebene Karikatur zeigt einen promenierenden

(1852 bis 1870), die als entscheidende Zeitspanne zur

Modeschmetterling, der seine großen bunten Flügel

Ausprägung der bürgerlichen Moderne gelten und

und den ausladenden Krinolinen-Reifrock gleichsam

deren zentraler Ort Paris war. Während London

als Insignien stolz zur Schau trägt; vor der Herrscherin

traditionell als Zentrum einer technisch, industriell und

kriecht eine Raupe am Boden und zieht huldigend den

kommerziell prosperierenden Textilbranche galt,

Zu Verwendung und Wahrnehmung erster synthetischer Textilfarbstoffe in der Damenmode © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412514594 – ISBN E-Book: 9783412518059

33

Abb. 1: Impératrice de la France et de la Mode, in: Punch, or the London Charivari, 18. Juni 1859, S. 251

repräsentierte Paris im Zweiten Kaiserreich und der beginnenden Dritten Republik „die erste Metropole,

Der Fa rbenra usch a us Stei nkohlenteer

die vom akkumulierten Kapital umgeschrieben und umgebaut wurde als Stätte des Konsums, [...] Ort des

34

In den Jahrzehnten nach der Jahrhundertmitte

Schauspiels und der Selbstdarstellung.“3 Vor allem hier,

verfielen viele modebewusste Frauen einem regelrech-

in der weltweit anerkannten Modehauptstadt, verlie-

ten ‚Farbenrausch‘, für den die jüngst entdeckten

hen nach neuestem Geschmack gekleidete Frauen als

Teer- oder Anilinfarbstoffe die technischen Vorausset-

‚Passantinnen‘ und ‚Konsumentinnen‘ der von Charles

zungen schufen. Aus zeitgenössischer Sicht wirkte es

Baudelaire beschworenen vie moderne lebendigen

wie ein Wunder, „daß wir heute die sämmtlichen

Ausdruck.

Farben des Sonnenspectrums und mehr noch in

Birgit Haase

reizendster Klarheit, in vorher nie erreichter Reinheit

die Markteinführung des zunächst als ‚Tyrian Purple‘,

und Tiefe aus einem Abfallerzeugniß anderer chemi-

schon bald aber unter dem Namen ‚Mauve‘ angebote-

scher Industrien, das vorher nicht nur als unbrauchbar,

nen Färbemittels erwies sich als günstig, da Violett-

sondern als höchst lästig verwünscht wurde, darzustel-

Töne aufgrund des damit traditionell assoziierten

len vermögen – dem Steinkohlentheer.“ Eben dieser

kostbaren Purpurs und zusätzlich gefördert durch das

optische Gegensatz zwischen dem schmutzig-schwar-

Vorbild prominenter Trägerinnen wie der französischen

zen Rückstand industrieller Produktion einerseits und

Kaiserin Eugénie und der englischen Königin Victoria

den leuchtend-bunten Farben andererseits sowie die

Mitte des 19. Jahrhunderts allgemein hoch geschätzt

damit aufs Engste verbundenen Konnotationen von

wurden.7 Perkins neuer Farbstoff war so erfolgreich,

Modernität scheinen den sogenannten Anilinfarbstof-

dass um die Wende von den 1850er zu den 1860er

fen ihren besonderen Reiz verliehen zu haben.

Jahren eine wahre „mauve-mania“ die Damenmode

4

Bis ins ausgehende 18. Jahrhundert waren

beherrschte.8 Noch heute vermittelt eine um 1862 mit

Textilien mit Naturstoffen pflanzlichen, tierischen oder

Anilinviolett gefärbte Besuchstoilette aus Seidentaft

mineralischen Ursprungs gefärbt worden, wobei die

einen lebendigen Eindruck von der intensiven Farbwir-

traditionell hochentwickelte Färbekunst bereits ein

kung – ein Effekt, der durch die Verwendung kontras-

reiches Spektrum erzielt hatte. Seitdem war eine Reihe

tierender, vorzugsweise schwarzer Garnituren oft noch

von halbsynthetischen Farbstoffen, wie Pikrinsäure

zusätzlich gesteigert wurde (Abb. 2).

(Gelb, 1771), ‚Scheele’s Grün‘ (1775) oder ‚Murexid‘

Damit war der Anfang gemacht und einmal mehr

(Purpur, 1850er Jahre), auf den Markt gekommen.5

erwies sich binnen Kurzem das grundlegende Innovati-

Gleichzeitig wurde zur technischen Auswertung von

onspotenzial der Textilbranche: In der Folge erlebten

Steinkohlenteer geforscht, der durch die steigende

synthetische Textilfarbstoffe einen enormen Auf-

industrielle Koksherstellung und Gasgewinnung in

schwung und die zunehmend wissenschaftlich

großen Mengen anfiel und zunächst als kaum verwert-

geprägte Erforschung neuer Substanzen markierte den

bares Abfallprodukt galt. Seit den 1830er Jahren

Beginn der modernen chemischen Industrie. Innerhalb

experimentierten namhafte Chemiker unter anderem

weniger Jahre kamen künstliche Farbstoffe in allen nur

mit dem aus Teer isolierten Aminobenzol (C6H5NH2),

denkbaren Schattierungen von bisher kaum gekannter

das später als ‚Anilin‘ – anknüpfend an die portugiesi-

Leuchtkraft und Intensität auf den Markt.9 Besondere

sche Bezeichnung anil für den blauen Farbstoff

Popularität erreichten nach dem Abklingen der

Indigo – zum Namensgeber für die Gesamtheit der

Mauve-Begeisterung beispielsweise das von dem

frühen synthetischen Farbstoffe werden sollte.6 Der

französischen Chemiker François-Emmanuel Verguin

eigentliche Durchbruch gelang jedoch erst dem jungen

1858 entdeckte und überaus erfolgreich vermarktete

Engländer William Henry Perkin, der 1856 eher zufällig

‚Fuchsin‘ (‚Magenta‘), verschiedene 1863 durch August

ein Verfahren zur Synthese eines der ersten künstli-

Wilhelm Hofmann, den renommierten Leiter des

chen Anilinfarbstoffe entwickelte. Er ließ sich seine

Londoner Royal College of Chemistry, unter eigenem

Entdeckung unter dem Namen ‚Mauveïn‘ patentieren

Namen zum Patent angemeldete Violett-Töne sowie

und produzierte ab 1858 in großtechnischem Maßstab

eine Reihe modischer Grün-Nuancen, darunter das von

einen intensiv violetten Farbstoff, der sich besonders

Kaiserin Eugénie um 1868 besonders geschätzte

gut zur Färbung von Seide eignete. Der Zeitpunkt für

‚Aldehydgrün‘. Nachdem die neuen Textilfarbstoffe

Zu Verwendung und Wahrnehmung erster synthetischer Textilfarbstoffe in der Damenmode © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412514594 – ISBN E-Book: 9783412518059

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hintangestellt. So konstatierte eine deutsche Zeitschrift 1864 lapidar: „Obgleich zur Herstellung des Anilin auch Arsenik-Säure und salpetersaures Quecksilberoxyd benutzt werden, so kann man die so gefärbten Kleidungsstücke doch ohne Schaden tragen, da die Färber durch vielfaches Spülen jede giftige Substanz entfernen.“11 Die zunehmende Popularisierung der synthetischen Farbstoffe veränderte die öffentliche Wahrnehmung erheblich. So bemerkte etwa August Wilhelm Hofmann in seinem Bericht zur chemischen Abteilung der Londoner Weltausstellung 1862, wo die mittels moderner synthetischer Farbstoffe in leuchtenden Nuancen gefärbten Seiden allgemein große Begeisterung hervorriefen: „The new colours, mauve and magenta, had no sooner appeared than they were everywhere eagerly welcomed, especially by the gentler part of mankind; whose raiment, gorgeous with these novel splendours, altered the very aspect of the public streets.“12 Abb. 2: Seidenkleid, gefärbt mit dem von Perkin entdeckten Anilinfarbstoff ‚Mauve‘, um 1862, Seidentaft, Samt, SCM – ­Industrial Chemistry, Science Museum, London

anfangs extrem teuer gehandelt worden waren, stand

36

Indi katoren der Moderne Die von Hofmann registrierte Veränderung des

durch die Weiterentwicklung chemischer Synthesever-

Straßenbildes durch das neue Aussehen der Passantin-

fahren schon bald eine breite Farbpalette zu relativ

nen wurde noch dadurch verstärkt, dass die volumi-

günstigen Preisen zur Verfügung. Dies resultierte in

nöse Damengarderobe in den fünfziger und sechziger

einer merklichen Demokratisierung und einem

Jahren des 19. Jahrhunderts optimale Bedingungen

beschleunigten Modewandel gefärbter Kleiderstoffe.

zur Entfaltung der neuen brillanten Farbtöne bot.

Bemerkenswerterweise fielen die zunächst vielfach

Grundlegendes Mode-Charakteristikum war der große

noch mangelhaften Echtheitseigenschaften der

Umfang der Kleiderröcke, deren materielle Ausdeh-

textilen Färbungen wegen des von Modezeitschriften

nung räumliche Präsenz demonstrierte. Deutlich wird

geschürten raschen Geschmackswechsels kaum ins

dies beispielsweise durch eine von Adèle-Anaïs

Gewicht.10 Auch schwerwiegendere Einwände,

Colin-Toudouze entworfene und in Le Magasin des

basierend auf der Verwendung toxischer Substanzen

Demoiselles vom Mai 1859 publizierte Grafik mit

im Produktionsprozess, wurden angesichts von

Promenadenkleidern für Damen und Mädchen in

Neuheit und optischem Reiz der Anilinfarbstoffe meist

hochaktueller Form- und Farbgebung (Abb. 3). Die

Birgit Haase

Abb. 3: Adèle-Anaïs Colin-Toudouze, Toilettes de ville pour dames et pour jeunes filles, kolorierter Stich, 24,5 x 15 cm (Blattgröße), in: Le Magasin des Demoiselles, 25. Mai 1858, nach S. 256, Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek 

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weiten Röcke, die stilistisch rückwärtsgewandt ein ‚Zweites Rokoko‘ evozierten, waren strukturell vollkommen modern, denn die praktischen Voraussetzungen dafür schufen die in industrieller Massenproduktion hergestellten sogenannten Stahlreifen- oder Käfig-Krinolinen (frz. cage). Als eine noch junge Errungenschaft der technischen Entwicklung und fortschrittlichen Ingenieurskunst, ermöglichten die modernen Reifröcke aus flexiblem Uhrfederstahl größere Rockumfänge als bisher – und erlaubten damit die optimale Präsentation leuchtend gefärbter Stoffe. Dem entsprach die Mode einfarbiger Kleider aus glänzender Seide, sogenannter robes unies, die dank der zunehmenden Verfügbarkeit von Nähmaschinen vergleichsweise einfacher als zuvor mit aufwendigen Garnituren versehen werden konnten und so zusätz-

Abb. 4: Charles Vernier, Trop et trop peu …, um 1860, kolorierte Lithografie, erschienen in der Serie Modes pour rire, 26,3 x 34,8 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek

lich an Opulenz sowie Volumen gewannen.13 Der englische Kulturhistoriker Christopher Breward

Karikaturen und satirischen Texten als Zeichen eines

hat darauf hingewiesen, dass hierin ein quantifizierba-

vermeintlichen Machtstrebens der Frau im Stadtraum

rer Wandel der physischen Präsenz und Wahrnehmung

interpretiert wurde. Eine unter dem Titel Trop et trop

modischer Weiblichkeit in den 1850er und 1860er

peu um 1860 erschienene kolorierte Lithografie des

Jahren zum Ausdruck kam; weiter hat er ausgeführt,

französischen Zeichners Charles Vernier, die eine zur

inwiefern dieser Effekt aufs Engste mit dem techni-

Promenade gekleidete Dame präsentiert, ist eben

schen Fortschritt, der Entstehung der Bekleidungsin-

jener Ausdehnungstendenz der weiblichen Mode

dustrie sowie dem Szenario eines expandierenden

gewidmet (Abb. 4), die zeitgenössischen Kritikern wie

städtischen Modekonsums zusammenhing.14 Sowohl

dem schwäbischen Publizisten Friedrich Theodor

die Stahlreifen-Krinoline als auch die Anilinfarbstoffe

Vischer als eine „impertinente“ Anmaßung von Raum

erschienen aus zeitgenössischer Sicht als Symbole für

und Bedeutung erschien.16 Die Wirkung wurde durch

Fortschritt und Modernität in weiblicher Verkörperung.

die mit synthetischen Farbstoffen in intensiven Tönen

Damit einher ging eine Ausweitung der femininen

gefärbten Kleiderstoffe noch gesteigert; in Verniers

Sphäre: In der durch die sogenannte ‚Haussmannisie-

Grafik klingt dieser Effekt mit der dezidierten Kolorie-

rung‘ grundlegend umgestalteten Topografie von Paris,

rung der rechts wiedergegebenen weiblichen Prome-

wo prächtige Boulevards, öffentliche Parks und große

nadenkleidung an.

Warenhäuser als augenfällige, wirkmächtige Embleme

38

Die damit verknüpften gesellschaftlichen,

der großstädtischen Konsumgesellschaft fungierten,

geschlechtlichen und ästhetischen Implikationen

wurden Frauen zunehmend als ‚Passantinnen‘ und

weckten auch die Aufmerksamkeit der damaligen

‚Konsumentinnen‘ öffentlich sichtbar.15 Ihre Gestalt

künstlerischen Avantgarde. Als deren Wortführer

manifestierte sich im weiten Krinolinenrock, der in

machte Charles Baudelaire in seinem 1863 unter dem

Birgit Haase

Titel Le peintre de la vie moderne veröffentlichten richtungsweisenden Aufsatz die Mode zum zentralen Kriterium seiner Ästhetik der Moderne.17 Im Kontext der Diskussion um die Darstellungswürdigkeit moderner Kleidung wandten sich die Vertreter der sogenannten nouvelle peinture – heute bekannt als Impressionisten – verstärkt dem Sujet der aktuellen Damenmode zu. Vor diesem Hintergrund lag es nahe, dass die neuen leuchtenden Kleiderfarben in ihren Werken auftauchten. Markante Beispiele dafür finden sich in frühen Gemälden Pierre-Auguste Renoirs.18 Vergleichsweise interessanter erscheint im vorliegenden Zusammenhang allerdings ein künstlerisches Projekt des jungen Claude Monet, der in den 1860er Jahren

Abb. 5: Claude Monet, Déjeuner sur l’herbe (Studie), 1865/66, Öl auf Leinwand, 130 x 181 cm, Staatliches Museum für Bildende Künste A. S. Puschkin, Moskau

bestrebt war, sich als ‚Maler des modernen Lebens‘ im Baudelaire’schen Sinn zu profilieren.19 1865 begann er

ten Veränderungen der Kleidermode hat Monet bei

mit der Arbeit an einem kolossalen Werk, das als Mani-

seinem ehrgeizigen Vorhaben die sich wandelnde

fest einer unter formalen wie inhaltlichen Kriterien

Mode berücksichtigt. Darauf weisen gewisse Verände-

modernen Malerei konzipiert war: Le déjeuner sur

rungen, die er im Verlauf der Genese des Werks

l’herbe steht in deutlichem Bezug – ja: in Konkurrenz –

vornahm. Deutlich werden diese durch den Vergleich

zu dem zwei Jahre zuvor entstandenen programmati-

der im Sommer 1865 entstandenen Ölstudie mit dem

schen ‚Skandalerfolg‘ gleichen Titels von Édouard

erhalten gebliebenen linken Fragment der im folgen-

Manet. Anders als sein älterer Kollege entwarf Monet

den Winter im Atelier angefertigten endgültigen

allerdings eine ‚bekleidete Version‘ des Picknicks im

Version des Gemäldes (Abb. 6). Stilistisch in Richtung

Grünen, durch die er eine ‚unmittelbar‘ beobachtete

einer Festigung von Formen, Klärung von Konturen

Szene des gegenwärtigen Lebens unter natürlichen

und Kristallisation von Farbflächen wirkend, zielten die

Lichtverhältnissen im Freien möglichst objektiv

von Monet vorgenommenen Umgestaltungen inhalt-

darstellen wollte (Abb. 5).20 Die Personen auf der

lich auf eine Aktualisierung der dargestellten Kleidung.

Waldlichtung tragen modische Sommerkleidung, was

In diesem Zusammenhang besonders bedeutsam ist

kein Zufall ist, wie Wolf Kittler mit Bezug auf Charles

die weibliche Rückenfigur links: Deren modisch

Baudelaire und Stéphane Mallarmé feststellt: „What

geraffter Rock sowie das leuchtende (Anilin-)Rot von

matters in what Baudelaire had called the modern life

Unterrock und Garnituren, dessen Wirkung im

is neither the female nude nor the portrait, but rather

dekorativen Kontrast zum Grau des Kleiderstoffes

‚the renewal of fabrics and styles‘, which includes the

gesteigert wird, erscheinen dezidiert modern gegen-

new synthetic dyes: ‚To this question of fabrics the

über dem hellen Kostüm mit schwarzer Stickerei der

preoccupation with colors will be joined.‘“ In Überein-

gleichen Frau in der vorangegangenen Studie.22

21

stimmung mit Baudelaires Diktum von dem sensiblen Gespür des ‚peintre de la vie moderne‘ für die gerings-

Auch Émile Zola, der sich schon früh als Fürsprecher der nouvelle peinture positioniert hatte, zollte den

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modernen Anilinfarbstoffen durch entsprechende Beschreibungen in seinem naturalistischen Romanzyklus Les Rougon-Macquart wiederholt künstlerischen Tribut. Ein lebendiges Bild von der Faszinationskraft der neuen Farben findet sich beispielsweise in dem 1883 erschienenen Werk Au bonheur des dames, das ein Pariser Warenhaus als apotheotischen Ort der großstädtischen Moderne im Second Empire inszeniert; dort heißt es unter anderem: „[…] sur les rues, les vitrines développaient des symphonies d’étalages, dont la netteté des glaces avivait encore les tons éclatants. C’était comme une débauche de couleurs, une joie de la rue qui crevait là, tout un coin de consommation largement ouvert, et où chacun pouvait aller se réjouir les yeux.“23 Die hier beschriebene ‚Farbenpracht‘ hing nicht zuletzt von der Oberflächenbeschaffenheit der gefärbten Stoffe ab. Die im Second Empire beliebten robes unies wurden vorzugsweise aus glatten Seiden gefertigt, die eine hohe chemische Affinität für Anilinfarbstoffe aufwiesen und durch ihren Glanz den brillanten optischen Effekt zusätzlich steigerten. Dabei spielten auch Lichtverhältnisse eine wichtige Rolle, und diese veränderten sich gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch technische Innovationen in der Beleuchtung mit Gas sowie später durch die zunehmende Verbreitung von elektrischem Licht.24 Die hellere Beleuchtung intensivierte die Wirkung der leuchtenden Anilinfarben, erwies sich jedoch als nicht unproblematisch: Zeitgenössische Farb-Ratgeber machten ihre modewussten Leserinnen darauf aufmerksam, dass das gelbliche Kunstlicht die Farbtöne verfälsche.25 Noch eindringlicher klangen die Warnungen vor einem geschmacklosen Gebeziehungsweise Missbrauch des neuerdings zur Abb. 6: Claude Monet, Déjeuner sur l’herbe (linkes Fragment), 1866, Öl auf Leinwand, 408 x 150 cm, Musée d’Orsay, Paris 

40

Birgit Haase

Verfügung stehenden weiten Spektrums an Kleiderfarben. Die mit der chemisch-industriellen Massenproduktion einhergehende Demokratisierung der Farben,

ein beschleunigter farblicher Modewechsel sowie die

[...] Ce sont des soies violettes ou ponceau, des robes

Faszination für die damit assoziierte Neuheit ver-

vert-pré et à fleurs, des écharpes d’azur, des orfèvre-

schärften das Problem aus zeitgenössischer Sicht noch

ries. [...] L’éclat est brutal; elles semblent sortir d’une

zusätzlich. 1862 schrieb die britische Autorin Mary P.

armoire et défiler pour le compte d’un magasin de

Merrifield über „The Use and Abuse of Colors in Dress“

nouveautés.“27 Als Fürsprecher einer konservativen

und konstatierte: „We hear constantly of fashionable

Ästhetik und Ethik missbilligte Taine eben jene

colors, and these fashionable colors are forever

Aspekte der Mode, in denen die vie moderne evident

changing; moreover, we hear more of their novelty

wurde: Die leuchtenden Farben und ausladenden

than of their beauty. All who wish to be fashionable

Formen der Krinolinenmode, die durch technisch-

wear these colors, because they are fashionable and

industrielle Entwicklungen ermöglicht wurden und

because they are new; but they do not consider

die über magasins de nouveautés beziehungsweise

whether they are adapted to the complexion and age

Warenhäuser neue Käuferschichten erreichten,

of the wearer, or whether they are in harmony with the

förderten die unübersehbare öffentliche Präsenz

rest of the dress.“

bürgerlicher Modedamen an ehemals dem Adel

26

Ihre vollkommene Wirkung entfalteten die

vorbehaltenen Orten, wie beispielsweise Hampton

Nuancen der mit Anilinfarbstoffen gefärbten Kleider

Court Palace.28 Die Schärfe seiner Kritik lässt ver-

im Tageslicht: in den großen Schaufenstern der

muten, dass Taine in den von ihm beschriebenen

Warenhäuser, die den Unterschied zwischen innen

Tendenzen Hinweise auf zukunftsträchtige Verände-

und außen verwischten, ebenso wie auf der Straße

rungen gesellschaftlicher und geschlechtlicher

selbst. Dort stachen sie ins Auge – was nicht jedem

Strukturen wahrnahm.

Beobachter gefiel. Der französische Kunsthistoriker

Die als chemische Sensation gefeierten ersten

und Geschichtsphilosoph Hippolyte Taine geißelte,

synthetischen Textilfarbstoffe, die seit den späten

nicht ohne gewisse nationale und soziale Vorbehalte,

1850er Jahren die Damenmode prägten, revolutionier-

das zeitgenössische Erscheinungsbild der Garderobe

ten herkömmliche, ästhetische wie geschlechtliche

von Engländerinnen aus der Mittelschicht folgender-

Perzeptionsmuster und verliehen einem sich ankündi-

maßen: „Les couleurs sont outrageusement crues, et

genden, neuen Frauenbild Ausdruck.29 Damit wirkten

les formes disgracieuses [...] et tout l’échafaudage mal

sie als ein unübersehbares Fanal der neuen Zeit.

attaché, mal agencé, bariolé, ouvragé, crie et jure de

An diesem Beispiel kristallisieren sich eindrücklich die

toutes ses couleurs voyantes et surchargées. – Au

grundlegenden Verschränkungen von weiblicher Mode

soleil surtout, avant-hier, à Hampton-Court, parmi des

mit technischen Innovationen und emanzipatorischen

femmes de shopkeepers, le ridicule était énorme; il y

Tendenzen, die das Second Empire zu einer konstituti-

avait quantité de robes violette, d’un violet farouche.

ven Epoche der textilen Moderne machten.

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41

1

thetischen Textilfarbstoffe im 19. Jahrhundert, in: Berliner Chic. Mode

Anonym: Impératrice de la France et de la Mode, in: Punch, or

Stadtmuseum Berlin, Berlin u. a. 2001, S. 25–33.

von 1820 bis 1990, hg. v. Christine Waidenschlager, Ausst.-Kat. Stiftung

the London Charivari, 18. Juni 1859, S. 251 (Hervorhebungen im Origi-

7

nal).

Mauve. How One Man Invented a Colour that Changed the World,

Vgl. Travis 1993 (wie Anm. 5), S.  49 u. 51; Simon Garfield:

Zur modegeschichtlichen Bedeutung von Kaiserin Eugénie vgl.

New York/London 2001, S. 173 f; Fashion in Colors, hg. v. Akiko Fukai,

Chantal Trubert-Tollu u. a. (Hg.): The House of Worth 1858–1954. The

Ausst.-Kat. Cooper-Hewitt, National Design Museum, Smithsonian In-

Birth of Haute Couture, London 2017, S. 34 f.

stitution, New York 2005, S.  16  f u. 206; Charlotte Crosby Nicklas:

3

Griselda Pollock: Die Räume der Weiblichkeit in der Moderne,

Splendid Hues: Colour, Dyes, Everyday Science, and Women’s Fashion,

in: Ines Lindner (Hg.): Blick-Wechsel. Konstruktionen von Männlichkeit

1840–1870, Diss. University of Brighton 2009, S. 45, 53 u. 60; Susan

und Weiblichkeit (Vorträge der 4. Kunsthistorikerinnen-Tagung im Sep-

Kay-Williams: The Story of Colour in Textiles. Imperial Purple to Denim

tember 1988 in Berlin), Berlin 1989, S. 313–332, hier S. 319. – Pollock

Blue, London u. a. 2013, S. 141; Wolf Kittler: Couleurs à la mode. Im-

verweist eindringlich auf den geschlechtlich konnotierten und weitge-

pressionism as an Effect of the Chemical Industry, in: Zeitschrift für

hend männlich dominierten Charakter der „Räume der Mode“.

Medien- und Kulturforschung, hg. v. Lorenz Engell und Bernhard Sie-

4

gert, Bd. 1, 2015, H. 6: Schwerpunkt Textil, S. 159­–184, hier S. 168;

2

P[ompeius] A[lexander]: Altes und Neues aus der Farbenchemie

und Färberei. Überblick der Geschichte und der Rolle der s. g. Anilin-

Trubert-Tollu u. a. 2017 (wie Anm. 2), S. 40.

farben, Berlin [1867], S.  10. Die Einschätzung des Mitbegründers

Vgl. Travis 1993 (wie Anm. 5), S. 58.

des Eidgenössischen Polytechnikums in Zürich erinnert im Wortlaut an

8 9

jene von August Wilhelm Hofmann, Leiter des Royal College of Chemi-

sal-Conversations-Lexikon. Neuestes encyklopädisches Wörterbuch

stry in London, der bereits 1862 festgestellt hatte: „[...] Alle diese

aller Wissenschaften, Künste und Gewerbe, 6., vollst. umgearb. Aufl.,

Farben von wunderbarer Schönheit entstehen durch noch wunder-

Oberhausen/Leipzig 1875, S.  262–267 (Stichwort „Anilin“); Gustav

barere chemische Umwandlung aus einem und dem nämlichen

Schultz: Die Chemie des Steinkohlentheers mit besonderer Berücksich-

Ausgangsmaterial, aus dem ekelhaften Teer.“ (Zit. n. Erwin Barth von

tigung der künstlichen organischen Farbstoffe, Braunschweig 1882,

Wehrenalp: Farbe aus Kohle. Eine Großtat der Chemie dargestellt in

S. 8–17.

Vgl. zeitgenössische Überblicksdarstellungen in Pierers Univer-

einem Tatsachenbericht, 2. Aufl., Stuttgart 1937, S. 20.) An dieser Stelle

10

sei auf die grundlegende Problematik einer von Fortschrittsoptimismus,

ture in the Beauty and Brilliancy of their Coloring: Synthetic Dyes and

Wissenschaftseuphorie, Technikgläubigkeit und Legendenbildung unter

Fashionable Colors in Godey’s Lady’s Book and Magazine, 1856–1891,

dem Motto „Chemie erobert die Welt” geprägten Fachliteratur zur

in: The Chronicle of the Early American Industries Association, Bd. 53,

Geschichte der synthetischen Farbstoffe verwiesen; im Rahmen einer

December 2000, H.  4, S.  156–162, hier S.  157; Kittler 2015 (wie

objektiv-wissenschaftlichen Analyse ist sie als mögliches Bias zu be-

Anm. 7), S. 164; Laura Anne Kalba: Color in the Age of Impressionism.

rücksichtigen.

Commerce, Technology, and Art, Pennsylvania 2017, S. 78–80.

5

42

Anmerkungen

In zeitgenössischen Quellen wie auch in der Sekundärliteratur

11

Vgl. Ann Buermann Wass und Clarita Anderson: Rivalling Na-

Die Anilin-Farben, in: Victoria. Illustrirte Muster- und Moden-

findet sich eine verwirrende Vielfalt von technischen, alltäglichen und

Zeitung, Jg. 14, April 1864, H. 14, S. 107. – Grundlegende Ausführun-

modischen Farbnamen; der Überblick wird dadurch erschwert, dass ei-

gen zu Vorkommen und Auswirkungen von Giften in (halb-)syntheti-

nerseits die chemische Konstitution der historischen Farbstoffe nicht

schen Farbstoffen des 19. Jahrhunderts vgl. P. W. J. Bartrip: How Green

immer eindeutig geklärt ist und dass andererseits wissenschaftliche

Was My Valance?: Environmental Arsenic Poisoning and the Victorian

sowie modische Bezeichnungen differieren. Eine gesicherte Zuordnung

Domestic Ideal, in: The English Historical Review, Bd. 109, September

von Namen zu Farbtönen ist heute oftmals kaum mehr möglich. – Im

1994, H. 433, S. 891–913; Alison Matthews David: Fashion Victims. The

vorliegenden Kontext wurde versucht, die seinerzeit gängigsten Be-

Dangers of Dress Past and Present, London u. a. 2017, Kap. 3 und 4.

zeichnungen mit dem Jahr der Einführung des betreffenden Farbstoffes

12

zu kombinieren. Zu den hier nur kurz skizzierten Entwicklungen vgl.

ucts and Processes, in: International Exhibition, 1862. Reports by the

grundlegend Anthony S. Travis: The Rainbow Makers. The Origins of

Juries on the Subjects in the Thirty-Six Classes into which the Exhibi-

the Synthetic Dyestuffs Industry in Western Europe, Bethlehem/Lon-

tion was Divided. London 1863, S. 132, zit. n. Kittler 2015 (wie Anm. 7),

don 1993; Augustí Nieto-Galan: Colouring Textiles. A History of Natural

S. 167.

August Wilhelm Hofmann: Class II. Section A. – Chemical Prod-

Dyestuffs in Industrial Europe, Dordrecht u. a. 2001.

13

6

Nähere Ausführungen zur Geschichte der synthetischen Farb-

den 1850/60er Jahren vgl. Penelope Byrde: Nineteenth Century

stoffe finden sich u. a. in Ciba-Rundschau, 1956, H. 126: W. H. Perkin;

­Fashion, London 1992, S. 54, 57 f, 60–63; Kittler 2015 (wie Anm. 7),

Arne Andersen und Gerd Spelsberg: Das blaue Wunder. Zur Geschichte

S. 167–169.

Näheres zu den hier skizzierten Tendenzen der Damenmode in

der synthetischen Farben, Köln 1990; Travis 1993 (wie Anm. 5); Birgit

14

Haase: „All diese Farben von wunderbarer Schönheit …“ Die ersten syn-

Fashionable Dress, Manchester u. a. 1995, S. 146, 151 u. 162 f.

Birgit Haase

Christopher Breward: The Culture of Fashion. A New History of

15

Vgl. dazu u. a. Aruna D’Souza: Why the Impressionists Never

23

Émile Zola: Au bonheur des dames, Paris 1883, S. 125. – Vgl.

Painted the Department Store, in: dies. und Tom McDonough (Hg.): The

Gertrud Lehnert: Im Paradies der Sinne. Das Warenhaus als sinnliches

Invisible flâneuse? Gender, Public, Space, and Visual Culture in Nine-

Ereignis, in: Burcu Dogramaci (Hg.): Großstadt. Motor der Künste in der

teenth-Century Paris, Manchester u. a. 2006, S. 129–147; Birgit Haase:

Moderne, Berlin 2010, S. 77–90.

„La passante“ – Die Promenade als Modeschauplatz im Zeitalter des

24

Impressionismus, in: Gertrud Lehnert (Hg.): Räume der Mode,

rial- und Formgeschichte der Bewegung am Beispiel des Straßenkos-

München/Paderborn 2012, S. 33–55; Gloria Groom: Spaces of Moder-

tüms zwischen 1850 und 1914, Diss. Carl von Ossietzky Universität

nity, in: Impressionism, Fashion & Modernity, hg. v. dies., Ausst.-Kat.

Oldenburg 2011, S. 108–112.

The Art Institute of Chicago, New Haven u. a. 2012, S. 164–185.

25

16

„... die Krinoline ist impertinent. Impertinent natürlich schon

dung auf die Damentoilette, Leipzig 1862, S. 245; Severin Schröder:

wegen des großen Raumes, den sie für die Person in Anspruch nimmt.“

Die Farbenharmonie in der Damen-Toilette, Wien 1897, S. 13 f. Die

Friedrich Theodor Vischer: Vernünftige Gedanken über die jetzige

Fülle an entsprechenden ‚Farb-Ratgebern‘ im 19. Jahrhundert basiert

Mode, in: Morgenblatt für gebildete Leser, Bd. 53, 1859, H. 5 u. 6, wie-

grundlegend auf den Schriften des französischen Chemikers Michel

derabgedr. in: Robert Vischer (Hg.): Friedrich Theodor Vischer. Kritische

Eugène Chevreul. Vgl. dazu Kalba 2017, Kap. 1 (wie Anm. 10). – In Au

Gänge, Bd. 5, 2., verm. Aufl., München 1922, S. 339–365, hier S. 344 f.

bonheur de dames lässt Zola den Direktor des Warenhauses einen un-

17

Charles Baudelaire: Le peintre de la vie moderne, in: Le Figaro,

terirdischen Salon bauen, in dem die Kundinnen die Farben der Stoffe

26. und 29. November, 3. Dezember 1863, abgedr. in Charles Baude-

bei Gaslicht beurteilen können. Vgl. Zola 1883 (wie Anm. 23), S. 448.

laire: Curiosités esthétiques. L’Art romantique et autres Œuvres cri-

Die im Roman erwähnte Episode bezieht sich auf das reale Beispiel des

tiques, hg. v. Henri Lemaitre, Paris 1962, S. 453–502. Unter anderem

berühmten Couturiers Charles Frederick Worth, der Ballroben bei An-

preist der Autor dort die Vorliebe für starke Farben als unverdorben

proben durch Gaslicht und Spiegel illuminierte, um auf diese Weise die

und modern (ebd., S. 491).

Farbwirkung im hellerleuchteten Ballsaal zu simulieren.

18

26

Z. B. Mademoiselle Sicot, 1865, Öl/Lw., 116 x 89,5 cm, National

Vgl. Regina Lösel: Einkleidung von Bewegung. Eine textile Mate-

Vgl. z. B. Rudolf Adams: Die Farben-Harmonie in ihrer Anwen-

Mary Merrifield: The Use and Abuse of Colors in Dress, in:

Gallery of Art, Washington DC; Les Fiancés, um 1868, Öl/Lw., 105 x 75

Godey’s Lady’s Book, Bd. 64, 1862, S. 73–74, die im Folgenden insbe-

cm, Wallraf-Richartz-Museum, Köln; La Parisienne, 1874, Öl/Lw., 163,5

sondere auf die problematische Wirkung der Modefarbe ‚Mauve‘ ein-

x 108,5 cm, National Museum of Wales, Cardiff; La Lecture du rôle,

geht; zit. n. Nicklas 2009 (wie Anm. 7), S. 247 f. – In ihrer umfangrei-

1874–78, Öl/Holz, 9 x 7 cm, Musée des Beaux-Arts, Reims.

chen Untersuchung zu Verwendung und Wahrnehmung von neuen

19

In jüngerer Zeit hat Wolf Kittler die Verbindungen zwischen

Textilfarbstoffen im Spiegel englischsprachiger Modezeitschriften um

Anilinfarbstoffen und der frühen impressionistischen Kunst ­näher un-

die Mitte des 19. Jahrhunderts betont Nicklas die grundlegende Wich-

tersucht und dabei u. a. Figurenbilder Monets aus den 1860er Jahren

tigkeit des „guten Geschmacks“ als Kategorie sozialer Zugehörigkeit im

berücksichtigt. Siehe. Kittler 2015 (wie Anm. 7). – Verschiedentlich ist

mittleren Bürgertum. Des Weiteren gelangt sie zu dem Schluss, dass

darauf hingewiesen worden, dass die neuen Farbstoffe auch als Malfar-

die Anilinfarbstoffe in den Jahren nach ihrer Markteinführung beson-

ben für die Impressionisten Verwendung fanden (vgl. z. B. John Gage:

ders wegen ihrer Neuheit, der Zeitgemäßheit ihrer Herstellungsweise

Colour and Culture. Practice and Meaning from Antiquity to Abstrac-

und der mit ihrer Hilfe auf Seidenstoffen erzielten Farbtöne geschätzt

tion, London 1993, S. 221–223.) Laura Anne Kalba hat jüngst deutlich

wurden. Ebd., S. 291–294 u. 314.

gemacht, dass dieser Zusammenhang zu kurz greift; vielmehr bestün-

27

den sehr viel grundlegendere Wechselbeziehungen zwischen der im-

74. Der Autor schildert hier Reiseeindrücke aus den frühen 1860er

pressionistischen Palette und dem gleichsam revolutionären Wandel

Jahren. – Auf die in kritischen Äußerungen wie jenen von Merrifield

der visuellen wie materiellen Kultur der Moderne, bedingt durch die

und Taine mitschwingenden Klassenvorurteile verweist Alison Victoria

Entwicklung und Verbreitung synthetischer Farbstoffe in der zweiten

Matthews: Aestheticism’s True Colors. The Politics of Pigment in Victo-

Hälfte des 19. Jahrhunderts. Siehe Kalba 2017, S. 77 (wie Anm. 10).

rian Art, Criticism, and Fashion, in: Talia Schaffer und Kathy Alexis Pso-

20

Das große Figurenbild wurde nie vollendet und ist heute nur

miades (Hg.): Women and British Aestheticism, Charlottesville/London

noch fragmentarisch überliefert; die hier abgebildete sorgfältig ausge-

1999, S. 172–191. Ähnlich konstatiert Laura Anne Kalba: „... the strug-

arbeitete Ölstudie vermittelt jedoch einen guten Eindruck von der ge-

gle for aesthetic harmony was also very much a struggle for social or-

planten Gesamtkomposition.

der.“ Vgl. Kalba 2017, S. 3 (wie Anm. 10).

21

28

Kittler 2015 (wie Anm. 7), S. 174; die dort zitierten Sätze stam-

Hippolyte Taine: Notes sur l’Angleterre, Paris 1872, S. 24, 60 u.

Erst 1838 hatte die englische Königin Victoria die Prunkräume

men von Stéphane Mallarmé: La Dernière Mode. Gazette du Monde et

von Hampton Court Palace zur Besichtigung für die Öffentlichkeit frei-

de la Famille, Faksimiledruck, Paris 1978, S. 580 u. 594.

gegeben.

22

29

Vgl. Birgit Haase: Fiktion und Realität. Untersuchungen zur Klei-

dung und ihrer Darstellung in der Malerei am Beispiel von Claude Mo-

Vgl. Travis 1993 (wie Anm. 5), S.  57; Breward 1995 (wie

Anm. 14), S. 162 f. u. 166; Nicklas 2009 (wie Anm. 7), S. 294.

nets Femmes au jardin, Weimar 2002, S. 26 u. 51.

Zu Verwendung und Wahrnehmung erster synthetischer Textilfarbstoffe in der Damenmode © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412514594 – ISBN E-Book: 9783412518059

43

Dissertation veröffentlicht wird,3 gezielt Bezug auf die Bestrebungen des 1907 gegründeten Deutschen Werkbunds (DWB). Die kunstgewerbliche Reformbewegung, die den Gedanken des wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritts durch Verschränkung von Kunst, Handwerk und Industrie verfolgt, hält zum Zeitpunkt der Berliner Preisvergabe ihre erste große Leistungsschau in Köln ab.4 Deutlich stellt die junge Autorin in ihrer ersten Veröffentlichung den Vorbild-

Werkbundstimme Else Meißner: Kunstschutz auf Textil­ muster im ‚Elfengespinst‘ der Moderne

charakter von DWB-Firmen heraus, allen voran die Deutschen Werkstätten in Hellerau. Kennzeichnend für diese ist eine am Zeitgeist der Moderne orientierte Formgebung im Einklang mit Funktionalität und Materialgerechtigkeit und deren Übertragung auf die Massenproduktion durch Herausbildung von Typen.5 Obwohl Else Meißner erst ab 1920 im Mitgliederverzeichnis des DWB auftaucht,6 nimmt ihr aktives

Katharina Januschewski

Engagement für dessen Ideale bereits hier seinen Anfang. In ihren 15 Amtsjahren als Geschäftsführerin

Berlin, 3. August 1914: Bei der Feier zum

und assoziiertes Vorstandsmitglied7 der Sächsischen

Gedächtnis des Universitätsgründers, König Friedrich

Landesstelle für Kunstgewerbe in Dresden, eine vom

Wilhelm III., werden die Preisträger des Städtischen

sächsischen Wirtschaftsministerium finanzierte

Preises bekanntgegeben – einer mit 225 Mark dotier-

Einrichtung zur regionalen Kunstgewerbeförderung,

ten Begabtenförderung, die sich an Studierende der

die sich als Arbeitsgemeinschaft des DWB versteht –

vier Fakultäten der Friedrich-Wilhelms-Universität zu

hat sie nicht geringen Einfluss auf die Vernetzung,

Berlin richtet.1 Eine staatswissenschaftliche Abhand-

Organisation und landesweite Vermittlung des

lung mit dem Titel Das Verhältnis des Künstlers zum

sächsischen Kunstgewerbes.8 Vor allem die künstleri-

Unternehmer im Bau- und Kunstgewerbe erhält an

sche Förderung der Textilindustrie gehört zu ihren

diesem Tag die begehrte Auszeichnung. Die Autorin

Hauptanliegen, wobei sie sich insbesondere für das

der Arbeit habe, so die Begründung der Preiskommis-

künstlerische Urheberrecht im Kunstgewerbe einsetzt

sion, „nicht nur die Erörterung entscheidender Fragen

und nicht unbedeutende Impulse für dessen Entwick-

der künstlerischen Kultur gefördert [...], sondern [lasse]

lung leistet.

in [ihrer] Arbeit selbst eine gewisse künstlerische

Bisher wurde Meißners vielseitiger Persönlich-

Kultur erkennen [...]. Verfasserin der Arbeit ist: stud.

keit und ihrer aktiven Werkbundarbeit, wovon auch

phil. ELSE MEISSNER aus Königsberg O./Pr.“2 Die 27–

ihre rege Publikationstätigkeit zeugt, wenig Beachtung

jährige Else Meißner studiert Staatswissenschaften

geschenkt.9 Nachfolgend werden daher zunächst

und Kunstgeschichte und nimmt in ihrer praxisorien-

exemplarisch zwei Aspekte herausgegriffen, anhand

tierten Untersuchung, die 1915 als gleichnamige

derer ein Einblick in Meißners kontrastreiche Gedan-

Werkbundstimme Else Meißner: Kunstschutz auf Textil­m uster im ‚Elfengespinst‘ der Moderne

45

kenwelt ermöglicht werden soll: Ihrer Beweisführung

gen Urheberschutz garantiert, schließt zwar auch

der Notwendigkeit eines Kunstschutzes auf Streifen-

Entwürfe für kunstgewerbliche Erzeugnisse ein,13

und Karomuster des modernen Textilgewerbes wird ihr

erweist sich in der Praxis jedoch als „faktisch so gut

mystifizierender Blick auf die Qualität von Maschinen-

wie unnütz“14, konstatiert Adolf Vogt in der Innendeko-

spitzen gegenübergestellt. Eine anschließende erstma-

ration: „Es schützt nicht die Qualitäten der Ausführung,

lige Zusammentragung ihrer Lebensdaten und Schrif-

es schützt die reinen Zweckformen nicht und nicht die

ten hat die Absicht, einen Anstoß zu weiterer

neuen Gestaltungsprinzipien [...]. Das Nachempfinden

Forschung zu geben. Die wichtigste Grundlage hierfür

und Variieren [...] konnte es ebenfalls nicht einschrän-

ist der Teilnachlass Else Meißners im Werkbundarchiv –

ken.“15 Die Defizite, wie Vogt sie 1908 beklagt, sind

Museum der Dinge in Berlin, auf den der Beitrag

auch in den 1920er Jahren fester Bestandteil urheber-

aufmerksam zu machen sucht.

rechtlicher Debatten des DWB16, an denen Meißner aktiv beteiligt ist. Ihr 1927 in Die Form veröffentlichter

Qualität als Movens moderner Werkkunstp rax is

Artikel „Kunstschutz auf Textilmuster“, der darüber hinaus als Flugblatt-Sonderdruck der Leipziger Monatschrift für Textil-Industrie (Abb. 1) Verbreitung in Fachkreisen jenseits der Reformbewegung fand, verortet sich im

Die Deutschen Werkstätten in Hellerau, die 1923 durch die Gründung der Deutsche-Werkstät-

die in der Textilindustrie übliche Auslegungslogik, die

ten-Textilgesellschaft m.b.H. (DeWeTex) ihren Einfluss

einen Kunstschutz für Textilmuster missachte und als

innerhalb der Textilindustrie ausdehnen, bleiben

Begründung anführe, „das Kunstschutzgesetz [umfasse]

Meißners Idealbeispiel für die Werkbundpraxis. Die

Textilmuster nicht oder nur in besonderen Ausnah-

Hauptursache hierfür liege darin, dass „das ganze

men“17. In den von ihr zitierten Motiven zum ‚Kunst-

Unternehmen auf dem Grundsatz aufgebaut ist, die

schutzgesetz‘, die selbst zwar nicht rechtsbindend sind,

künstlerische Eigenart zu Worte kommen zu lassen, so

dennoch eine dem Gesetz inhärente Grundhaltung

wird dem Künstler möglichste Freiheit in der Formge-

transportieren, werden Textilentwürfe vorrangig als

bung gelassen.“11 Dass diese ‚künstlerische Eigenart‘

Linienmuster der Textilgewerbe aufgefasst und dem

auch wesentliche Nachteile birgt, wird gerade inner-

Geltungsbereich des ‚Musterschutzgesetzes‘ vom

halb der Textilindustrie evident. 1962 rekapituliert

11. Januar 1876 zugeordnet.18 Das Gesetz, das in den

Meißner die Problematik im Kontext der Rechtslage

1920er Jahren im Bereich der Textilindustrie regulär zur

zum Urheberrecht: „Ich selbst bin noch in den zwanzi-

Anwendung kommt, betrifft den urheberrechtlichen

ger Jahren dafür eingetreten, Textilentwürfen [...], die

Schutz von Mustern und Modellen, die als „Vorbilder

von den Deutschen Werkstätten ausgeführt wurden,

für die geschmackvolle Darstellung gewerblicher

Kunstschutz zuzusprechen; denn eine Firma wie die

Erzeugnisse“19 dienen sollen. Die Voraussetzung für

Deutschen Werkstätten stellte sich auf den Stand-

den Schutz vor Nachbildungen ist die Eintragung des

punkt‚ ‚was wir machen, ist Kunst‘, ließ deshalb die

Musters in das Musterregister sowie dessen Hinterle-

Entwürfe nicht als Geschmacksmuster eintragen und

gung bei der zuständigen Behörde im Vorfeld der

war dann jeder Imitation ausgeliefert.“12 Das ‚Kunst-

Fertigung des Enderzeugnisses.20 Die Schutzfrist für die

schutzgesetz‘ vom 9. Januar 1907, das einen langfristi-

eingetragenen Muster beträgt maximal 15 Jahre.21

10

46

Kontext dieser Diskussion. Hier thematisiert Meißner

Katharina Januschewski

Abb. 1: Flugblatt-Sonderdruck von Else Meißners „Kunstschutz auf Textilmuster“, in: Leipziger Monatschrift für Textil-Industrie, 1927, H. 12, Werkbundarchiv – Museum der Dinge, Berlin

Werkbundstimme Else Meißner: Kunstschutz auf Textil­m uster im ‚Elfengespinst‘ der Moderne

47

Als ‚Geschmacksmuster‘ kategorisiert, sind die

Leistung Zweckform und Kunstform zu einer Einheit

können nur dann Kunstschutz beanspruchen, „wenn

verschmolzen sein müssen.“26

der zu der Zweckmäßigkeit der Form hinzukommende

Ihren beispielhaften Ausdruck fanden diese von

ästhetische Überschuss [...] einen Grad erreicht, daß

Meißner verinnerlichten Ideen zuvor in der Stuttgarter

nach den im Leben herrschenden Anschauungen von

Werkbund-Ausstellung Die Form 1924: „Gerade bei

Kunst gesprochen werden kann.“ Die Entscheidung

Dingen von künstlerischer Qualität kann man nicht

darüber, ob ein Muster aufgrund seines ‚ästhetischen

fragen, wo die Form aufhört und wo die Verzierung

Überschusses‘ des Kunstschutzes würdig ist, hängt

beginnt. Man kann nur sagen, daß die Verzierung nach

dabei „vom Gutachten der Sachverständigenkammern

außen strebt, daß sie, [...] an der Oberfläche der Form

ab, welche nach § 46 des Gesetzes in Streitfällen auf

lebt, weshalb ja immer der Schein entsteht, [...] als ob

Antrag der Beteiligten zu befragen sind.“ Wenn

sie eine ablösbare Zutat sei. In Wahrheit ist sie […]

Firmen wie die DeWeTex ihre Textilerzeugnisse für

stets ein integrierender Teil der Form, bildet mit der

künstlerische Schöpfungen halten und ihnen den

Form eine untrennbare ästhetische Einheit“27, heißt es

Status als Zweckvorlage für die Industrie absprechen –

im Ausstellungskatalog, der den pointierten Titel Die

deswegen eine Mustereintragung und damit auch die

Form ohne Ornament trägt. Meißner fokussiert in ihrer

kürzere Schutzdauer verweigern, so wird dieser

Argumentation vor allem Streifen- und Karomuster, die

Umstand als Freibrief für uneingeschränkte Nachah-

sie einer besonderen Gefahr der generalisierenden

mung interpretiert – „bei der bestehenden Rechtsunsi-

Zuschreibung zu ‚Geschmacksmustern‘ ausgesetzt

cherheit [wird] zunächst einmal munter darauf los

sieht. In der Zeit, als das ‚Musterschutzgesetz‘ verfasst

gestohlen [...], in der Erwartung, daß der Geschädigte

wurde, prägten gerade diese Motive das Bild von einer

das Risiko der Klage scheuen wird“24. Dabei werde

klassischen Zweckform der Textilindustrie, da sie auf

nicht nur der Absatz der betreffenden Firmen geschä-

eine lange gewerbliche Überlieferung zurückblickten –

digt, sondern auch die Künstler in ihrem geistigen

„man denke etwa an die Streifen und Karos für

Eigentum angegriffen. Es sei „deshalb dringend

Handtücher, bunte Bettwäsche und ähnliches“28

wünschenswert, daß der Kunstschutz auf Textilmuster

(Abb. 2). Im 20. Jahrhundert jedoch haben diese

einmal in juristisch bindender Form klargestellt wird,

klassischen Mustermotive eine Umdeutung durch die

allerdings unter der Voraussetzung, daß die entschei-

künstlerischen Ideen der Moderne erfahren, die jenen

denden Instanzen der heutigen Auffassung vom Wesen

ein gänzlich neues Potenzial verliehen hat: „Ähnlich ist

der Werkkunst gerecht werden.“25 Diese erschließt sich

heute allgemein anerkannt, daß schon eine rhythmi-

mit Blick auf die Definition des Verhältnisses von

sche Farbzusammenstellung an sich, auch ohne

Zweckform und Kunstform: in der Anwendungspraxis

komplizierte Verschlingung zu ornamentalen Mustern,

sei diese überkommen, da sie mit der Vorstellung

also etwa in Form von Streifen oder Karos, einen

einhergehe, „die künstlerische Arbeit [sei] eine Zutat

starken künstlerischen Ausdruckswert haben kann.“29

zur Zweckform [...], etwa in Form von Ornamenten,

Man brauche „nur an die Bestrebungen des Bauhauses

von bildnerischem oder malerischem Schmuck, von

Dessau zu denken, um klar zu erkennen, daß in der

figürlicher Ausgestaltung usw., [...] [wogegen] heute

konsequenten Durchgestaltung der Zweckform schon

die Anschauung nachgerade Allgemeingut geworden

ein ganz neuer künstlerischer Gedanke liegen kann.“30

22

23

48

[sei], daß auf dem Höhepunkt der künstlerischen

Textilentwürfe auf den Musterschutz beschränkt und

Katharina Januschewski

Abb. 2: Musterbuch mit Karo- und Streifenmustern, Niedercunnersdorf/Oberlausitz, 1847, Baumwollgewebe auf Karton, 8 x 27 x 43 cm, Museum für Sächsische Volkskunst, Dresden

Das Spektrum und die Schlagkraft dieser mit der

Elemente moderner Raumkunst dienen und auch als

Einheit von Kunstform und Zweckform operierenden

solche neue künstlerische Ideen darstellen.“31

künstlerischen Positionen bei Textilentwürfen reichen

Meißner nennt keine Beispiele für ihren Befund.

dabei so weit, dass sie „geradezu den künstlerischen

Eine Überprüfung in Form einer vergleichenden

Charakter einer Textilfirma ausmachen können; man

Nebeneinanderstellung der Textilerzeugnisse der von

stelle sich etwa vor, wie verschieden der Formcharak-

ihr aufgeführten Firmen wäre jedoch ein kuratorischer

ter von Stoffen der Wiener Werkstätte, des Bauhauses

Erfolg im Hinblick auf die Evidenz des Gegenstands

in Dessau, der Kunstgewerbeschule Halle, der Deut-

und lässt sich bereits skizzenhaft verdeutlichen: so

sche Werkstätten-Textilgesellschaft, der De-Te-Ku

stehen zum Beispiel die subtilen, einander zur Mehr-

Rudolf Hiemann, der Weberei Weech, der Firma Hablik

schichtigkeit durchdringenden, asymmetrischen

und Lindemann ist, trotzdem heute unter den Erzeug-

Flächenarrangements im reduzierten Farbspektrum

nissen aller dieser Firmen die Streifen und Karos eine

mit tonaler Abstufung durch Überlagerung, wie jene

große Rolle spielen. [...] Es kommt hinzu, daß alle diese

des Bauhauses (Abb. 3), in direkter Opposition zu den

Stoffe, die ja im großen Teil Dekorationsstoffe sind, als

scharf hell-dunkel-kontrastiv abgesetzten, symmetri-

Werkbundstimme Else Meißner: Kunstschutz auf Textil­m uster im ‚Elfengespinst‘ der Moderne

49

Wesensbestimmung als ‚Elemente moderner Raumkunst‘. Als solche sind die Dekorationsstoffe auf den dreidimensionalen Raum bezogen, der Gesetzen der kubischen Orientierung und Ablesbarkeit von Flächen sowie ihrer Disposition gegenüber dem Lichteinfall unterliegt32 – Aspekte, die im ästhetischen Entwurfsprozess angelegt sind (etwa bei der Wahl des Materials, der Web- oder Druckart im Hinblick auf die Einsatzbestimmung – zum Beispiel als Möbelpolsteroder Gardinenstoffe im privaten oder öffentlichen Raum et cetera) und bei Plagiaten gänzlich missachtet werden. Der für DWB-Firmen tätige Textilkünstler Richard Lisker definiert den Raum zu Beginn des 20. Jahrhunderts als einen ‚geschlossenen‘ – im Sinne einer Abkehr vom Barock, wie ihn Heinrich Wölfflin in seinem Werk Kunstgeschichtliche Grundbegriffe33 auffasse: „Das Raumgefühl des Barock im weitesten Sinne (die ‚offene‘ Form bei Wölfflin) suchte den geschlossenen Raum aufzuheben, ins Unendliche zu erweitern (illusionistische Wand- und Deckenmalereien, Tapeten und Stoffe; Spiegel), während die Generation von 1900 und später [...] im Gegensatz Abb. 3: Anni Albers, Wandbehang We 791 (Schwarz-Weiß-Rot), 1926/1964, Baumwolle und Seide, 175 × 118 cm, Bauhaus-­ Archiv, Berlin

hierzu den ‚geschlossenen‘ Raum bejahte, die begrenzenden Wände nicht aufheben wollte, sondern betonte. Diese Bejahung der Wand als des Festbegrenzenden, Abschließenden [...], Diesseitigen [...] hatte natürlich zur Folge, daß jede Zerstörung dieser

schen Rasteranordnungen geometrisierter Flächen-

Wand, jede Aufhebung der Fläche durch illusionisti-

kombinationen, wie sie vor allem den frühen Entwür-

sche Mittel abgelehnt werden mußte.“34 Die Adaption

fen Josef Hoffmanns für die Wiener Werkstätte eigen

dieser Überlegungen in Meißners Auffassung moder-

sind (Abb. 4). Dagegen zeichnen sich die Karoraster

ner Raumkunst kann nicht zuletzt vor dem Hinter-

der Weberei Weech durch einen monochromen

grund ihrer Beschäftigung mit Liskers Entwürfen für

Eindruck in der Farbgebung aus und entfalten ihren

die DeWeTex vorausgesetzt werden.35 Die begren-

subtilen Reiz vielmehr im synchronisierten Wechsel

zende Konturierung des Raumes gewinnt ihre Bedeu-

von minimalen Maßverschiebungen und in der

tung im lebensreformerischen Kontext der DWB-Be-

Materialhaptik (Abb. 5).

strebungen, insofern als sie den Menschen mit seiner

Der wichtige, allen von Meißner genannten Firmenstilen gemeinsame Nenner jedoch ist deren

50

Katharina Januschewski

neuen Lebenswirklichkeit konfrontiert, statt ihn von dieser wegzuführen. Sie bietet ihm Orientierung durch

Abb. 4: Josef Hoffmann, Druckstoff Santa Sophia oder Santa Sofia, Wiener Werkstätte, 1910/12, Modeldruck auf Leinen, 109 x 70,5 cm, Rapport: 39 x 25,5 cm, Kunstsammlungen Chemnitz

Werkbundstimme Else Meißner: Kunstschutz auf Textil­m uster im ‚Elfengespinst‘ der Moderne

51

Messbarkeit der künstlerischen Leistung am Enderzeugnis gegenüber der Zweckform impliziert und gegen den sich Meißners bündig gehaltene Argumente richten. „Die Frage“, so schließt sie ihre Verteidigung, „ob im einzelnen Fall ein Muster eine ‚individuelle künstlerische Leistung‘ ist, [müsse] [...] im Zweifelsfalle eher bejaht als verneint werden, zumal ja [...] nur die Originalität, nicht aber die künstlerische Qualität die juristische Bedingung der Schutzwürdigkeit ist.“36 Um Qualität geht es Meißner auch im Kontext von maschineller Fertigung. So schreibt sie 1921 über die neuen „Mechanischen Spitzen“ Plauener ProdukAbb. 5: Sigmund von Weech, Stoffentwurf für einen Möbelbezugstoff aus Lederbändern und scharf gezwirnten Garnen. Die Lederbänder sind 3 bis 5 mm breit geschnitten, Abb. in: Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit, 1933, H. 3, S. 82

tion: es seien Spitzen, „die jeder Anlehnung an handgearbeitete Spitzen entbehren und gerade dadurch, daß sie mit diesen gar nicht vergleichbar sind, einen ganz eigenen [...] Reiz gewinnen. [...] man denkt unwillkürlich an jene Märchenkleider, die so zart und so fein sind, daß sie in einer Walnußschale verpackt werden können.“37 Hier ist es die Maschine, die den ‚geschlossenen‘ Raum der Moderne zugunsten einer Traumwirklichkeit erneut zu öffnen scheint: „Die menschliche Hand konnte den Märchentraum nicht verwirklichen, aber der menschliche Geist, der einst den Traum geträumt hatte, er findet zu einer Zeit, die allen Fabelwesen des Märchens den Tod zu geben scheint, Mittel und Wege, um jene alten Träume in die

Abb. 6: Maschinenspitze der Forkelschen Arbeitsgemeinschaft Plauen im Vogtland, nach dem Entwurf von Max Eismann, Abb. in: Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit, 1926, H. 14, S. 328

Wirklichkeit umzusetzen. Die Wunderkräfte der Natur, die einst den Zauberwald bevölkerten, sie gleiten durch Dampfrohre und Drahtleitungen über ein kunstvolles Netz von mechanischen Übertragungen, Gestängen, Geschieben in die Hunderte von Nadeln

Struktur- und Formenklarheit und wirkt in der harmo-

der Stickmaschinen, die das Elfengespinst unserer Zeit

nischen Ausgewogenheit all seiner Elemente Entfrem-

fertigen“38 (Abb. 6).

dungsprozessen entgegen, die das Zeitalter der Moderne mit sich brachte. Ein Werkkunstverständnis, bei dem diese Aspekte

52

Meißners Maschine avanciert zum Hoffnungsträger in der von Zerstörung und Verlusten gezeichneten Zwischenkriegszeit, indem sie „eine neue Schön-

den Entwurfsprozess prägen, hat wenig gemeinsam mit

heit in die Welt“39 bringt und sich in den Dienst der

der Idee eines ‚ästhetischen Überschusses‘, der die

neuen Werte der Weimarer Republik stellt: „Und daß

Katharina Januschewski

die Maschine bereit ist, diese Kunstwerke nicht nur in

evangelisches Umfeld hineingeboren, als Tochter des

geringen Mengen [...], sondern in Hunderten und

Oberingenieurs Waldemar Meißner und dessen Frau

Tausenden von Metern herzugeben, sollte sie das nicht

Johanna, geborene Greger.42 Wie ihr älterer Bruder,

unserer demokratisch gerichteten Zeit, die alte

der Experimentalphysiker Fritz Walther Meißner,43

Vorrechte umstößt, noch näher bringen?“ .

schlägt sie eine akademische Laufbahn ein. Nach dem

40

Das ‚Elfengespinst‘ – ihr Sinnbild für die Erschaf-

Besuch einer höheren Mädchenschule legt sie im

fung des neuen Mythos moderner Technik als identi-

September 1907 am Königlichen Sophien-Realgymna-

tätsstiftende Konstante – überfängt und durchdringt

sium in Berlin ihre Reifeprüfung ab. Ab dem Winterse-

alle Bereiche der Gesellschaftskultur, alle Spannungen

mester 1907 ist sie zunächst Gasthörerin bei Vorlesun-

und Dissonanzen aufgreifend, die ihre unmittelbare

gen in Kunstgeschichte (unter anderem bei Heinrich

Entladung in der Kunst finden: „Diese ‚Maschinenspit-

Wölfflin und Adolph Goldschmidt)44, dann ab 1908 als

zen‘ mit ihren zarten und doch so eigenwilligen

immatrikulierte Studentin der Staatswissenschaften an

Linienführungen, sie liegen in einer Ebene mit jener

der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin45 und

phantastischen Malerei, in der die ganze Unrast und

gehört damit zu der ersten Generation von Frauen, die

Nervosität des Maschinenzeitalters sich eingeschrie-

in Preußen ab 1908 zum Studium zugelassen werden.

ben hat.“ Bekräftigt Meißner in ihrer Argumentation

Ihr Studium schließt sie mit einer Promotionsprüfung

für den Kunstschutz auf Textilmuster die Äquivalenz

am 26. November 1914 ab und wird am 17. Mai 1915

zwischen moderner Werkkunst und bildender Kunst,

promoviert.46 Zunächst ist sie für die von Georg Maas

so geht es ihr mit diesem Vergleich nicht zuletzt um

und Otto Waldschütz edierte Bibliographie der Sozial-

die Anerkennung von deren ‚künstlerischer Qualität‘ in

wissenschaften tätig.47 Von Karl Schmidt beauftragt,

der maschinellen Serienproduktion.

schreibt sie ab 1. März 1916 am Manuskript zur

41

Meißners facettenreiche Stellungnahmen zu

‚Typenfrage‘.48 Daneben ist sie ab 1. April 1917

Grundfragen der Moderne zeugen von einer unge-

Berichterstatterin bei der Kriegswollbedarf A.G.

wöhnlichen Spezifik ihrer Perspektiven und Würdigung

Berlin49 an der Seite von Franz Pariser, bis sie ab 1. Juli

wenig bekannter Aktionsfelder. Sie bergen eine

1918 ihre 15–jährige Amtszeit als Geschäftsführerin

Vielzahl neuer Erkenntnisse, deren bisher ausgeblie-

der von Karl Groß geleiteten Sächsischen Landesstelle

bene Erschließung dieser Beitrag anzustoßen sucht.

für Kunstgewerbe Dresden antritt. 1920 ist sie zeitgleich Gründerin des Vereins zur Förderung der

St ati o n e n einer Karriere

Deutschen Werkstelle für Farbkunde und bis 1932 dessen Vorstandsmitglied.50 Von 1921 bis 1925 engagiert sie sich für den Allgemeinen Deutschen

Als Person ist Meißner bisher gänzlich unbe-

Frauenverein in Dresden.51 Ab Juli 1924 ist sie für die

kannt. Die folgenden Eckdaten sind das Ergebnis

Staatliche Kunstgewerbebibliothek tätig, wird 1927

mühsamer Archivrecherchen, die Meißners ambitio-

deren Kustos, ab 1931 schließlich Leiterin52. 1933

nierte Persönlichkeit beleuchten und sie erstmals

scheidet Karl Groß „infolge Krankheit“53 aus seinem

historisch verorten:

Hauptamt als Direktor der Dresdner Staatlichen

Johanna Else Meißner wird am 5. September 1887 in Königsberg in ein bildungsbürgerliches

Akademie für Kunstgewerbe aus, womit auch die Landesstelle ihre Basis verliert und Meißners Beschäf-

Werkbundstimme Else Meißner: Kunstschutz auf Textil­m uster im ‚Elfengespinst‘ der Moderne

53

tigung als Geschäftsführerin nicht länger aufrechter-

Kunstgewerbeblatt, April 1917, H. 7, S. 125–127. |

halten werden kann.54 Sie zieht in die Nähe ihres

Wandlungen der Volksseele und Veredelung der

Bruders Walther nach Seeshaupt. Bis 1947 ist sie nach

Massenerzeugnisse, in: Frankfurter Zeitung,

eigenen Worten „14 Jahre lang durch den National-

10.1.1917, S. 1. | Die Bedeutung von Wertarbeit und

sozialismus brachgelegt“ , befasst sich in dieser Zeit

Kunst für die Industrie, in: Deutsches Schaffen, Mai

mit statistischen Erhebungen und dem Urheberrecht.56

1917, S. 112–116. | Individualismus und Stilbildung in

Vom 1. April 1947 bis 30. September 1949 ist sie

der neudeutschen angewandten Kunst, in: Die Hilfe,

Volkswirtschaftliche Referentin bei der Neuen Samm-

Juli 1917, H. 27, S. 442–444. | Der Wille zum Typus.

lung München an der Seite von Günther von Pech-

Ein Weg zum Fortschritt deutscher Kultur und Wirt-

mann. Ab 1949 bis zu ihrem Tod 1972 sind keine

schaft, Jena 1918. | Das Kulturziel der Typenbewe-

Anstellungsverhältnisse bekannt, wohl jedoch ihr bis

gung, in: Mitteilungen des Vereins Deutscher Inge-

zuletzt aktives Engagement für den DWB, der nach

nieure, September 1919.* | Normen und Typen, in:

seiner Auflösung 1938 in der Nachkriegszeit in der

Ausst.-Kat. Ausstellung für Wohnungsbau, Dresden

Bundesrepublik neu aufgebaut wird, und den 1953 auf

1919.* | Erziehung zur Materialkenntnis. Eine Aufgabe

DWB-Initiative hin gegründeten Rat für Formgebung –

der neuen Schule, in: Neue Bahnen, Mai 1919, H. 5,

insbesondere in Fragen des Urheberrechts im Bereich

S. 1–4. | Gediegenheit im Heim, in: Innendekoration,

der industriellen Gestaltung.58

1919, H. 11, S. 376–382. | Der typische Kurort. Ein

55

57

Spiegel seines äußeren Gesichtes, in: Mitteilungen des

Werkkorp us Meiß ner

Deutschen Werkbundes 1919/1920, Nr. 5, S. 145– 148. | Beleuchtungskörper für Kleinwohnungen, in: Hausrat, März 1920, H. 3, S. 46. | Der Wirtschaftsbund

Bei Meißners Veröffentlichungen handelt es sich, mit Ausnahme weniger Monografien, mehrheitlich um

Industrie, Beilage zu: Die Leipziger Mustermesse,

Stellungnahmen in Form von Artikeln in Fachzeitschrif-

13.3.1920, S. 30–31. | Qualitätssteigerung und

ten und Tagespresse – ein Umstand, der aufgrund der

Typenbildung, in: Qualitätsmarkt, 1.5.1920, S. 199–

unübersichtlichen Streuung des Materials den Zugang

201. | Handwerk und Qualitätsarbeit, in: Qualitäts-

zu ihrem Werk bisher weitestgehend verhindert hat.

markt, 27.7.1920, S. 219–221. | Vom Deutschen

Das hier zusammengestellte Verzeichnis aller bis dato

Handwerk, in: Innendekoration, 1920, H. 6, S. 210. |

erfassten Schriften erlaubt einen erstmaligen Über-

Mechanische Spitzen, Typoskript für: Qualität, Januar

blick über das weite Themenspektrum und versteht

1921. | Neue Kirchenglocken, in: Dresdner Neueste

sich als bibliografische Grundlage zur weiteren

Nachrichten, September 1921.* | Künstliche Blumen,

Beschäftigung mit Meißners Theoriekonzepten:

Typoskript für: Dresdner Anzeiger, September 1921. |

59

Das Verhältnis des Künstlers zum Unternehmer

54

der deutschen Kunsthandwerker, in: Kunst und

Die Deutschen Werkstätten in Hellerau, in: Qualitäts-

im Bau- und Kunstgewerbe, München/Leipzig 1915. |

markt, 1.10.1921, S. 449–452. | Ausfuhrfähigkeit

Erker und Balkon. Entgegnung, in: Kunstgewerbeblatt,

kunsthandwerklicher Erzeugnisse, Typoskript, datiert

September 1916, H. 12, S. 233. | Typenbildung – eine

auf 1921. | Zur Berufswahl, Typoskript für: Dresdener

nationale Notwendigkeit, in: Kunstwart, 1917, H. 10,

Neueste Nachrichten, September 1921. | Sächsische

S. 162–168. | Typenbildung und angewandte Kunst, in:

Landesstelle für Kunstgewerbe, Typoskript für: Die

Katharina Januschewski

Form, 7.10.1922. | Die wirtschaftliche Lage des

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Werkbundstimme Else Meißner: Kunstschutz auf Textil­m uster im ‚Elfengespinst‘ der Moderne

55

56

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des Bayerischen Statistischen Landesamts, 1949,

Februar 1962, Typoskript, datiert auf 1962.

Katharina Januschewski

An m e r k u ngen

der neuen Preisaufgaben, wie solche bei der Feier zum Gedächtnis

22 23 24 25 26 27

Friedrich Wilhelms III. am 3. August 1914 von dem zeitigen Rektor der

Kat. Deutscher Werkbund, Stuttgart 1924, S. 5.

1

Vgl. Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin: Urteile der vier Fa-

kultäten über die Bewerbungsschriften, welche zur Lösung der im Jahre 1913 gestellten Preisaufgaben eingereicht worden sind, und Anzeige

Universität verkündet worden sind, Berlin 1914, S. 14.

2 3

Ebd., S. 8. Else Meißner: Das Verhältnis des Künstlers zum Unternehmer

im Bau- und Kunstgewerbe, München/Leipzig 1915.

4

Zur Kölner Ausstellung siehe v.  a. Die Deutsche Werkbund-

28 29 30 31 32

Meißner 1927 (wie Anm. 17), S. 93. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 93 f. Die Form ohne Ornament. Werkbundausstellung 1924, Ausst.Meißner 1927 (wie Anm. 17), S. 94. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Richard Lisker: Über Tapete und Stoff in der Wohnung, in:

Ausstellung Cöln 1914, hg. v. Wulf Herzogenrath u. a., Ausst.-Kat. Köl-

Deutscher Werkbund und Werner Gräff (Hg.): Innenräume. Räume und

nischer Kunstverein, Köln 1984.

Inneneinrichtungsgegenstände aus der Werkbundausstellung „Die

5

Wohnung“, insbesondere aus den Bauten der städtischen Weißenhof-

Vgl. Meißner 1915 (wie Anm. 3), zu den ­Deutschen Werkstätten

insb. S. 68 f.

siedlung, Stuttgart 1928, S. 138–141, hier S. 140 f.

6 7

Vgl. WBA, Mitgliederakten.

33

Vgl. Else Meißner: Qualität und Form in ­Wirtschaft und Leben,

blem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1915.

München 1950, S. 147.

8

Vgl. Else Meißner: 25 Jahre Sächsische ­Landesstelle für Kunst-

gewerbe, Dresden 1932.

9

Die jüngste Forschung würdigt Meißners Rolle als Theoretikerin

für die Deutschen Werkstätten. Vgl. Franziska Graßl: Else Meißner und

34 35 36 37

Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das ProLisker 1928 (wie Anm. 32), S. 138–139. Vgl. WBA-D804. Meißner 1927 (wie Anm. 17), S. 94, Hervorhebungen im Original. Else Meißner: Mechanische Spitzen, Typoskript für: Qualität,

Januar 1921, WBA-D760.

hg. v. Tulga Beyerle und Klára Němečková, Ausst.-Kat. Staatliche Kunst-

38 39 40 41

sammlungen Dresden, Kunstgewerbemuseum, München 2019, hier

gers Titelblatt Kathedrale der Zukunft für das Bauhausmanifest von

S. 14 u. 46.

1919 zeigt, drängt sich als naheliegend auf.

Karl Schmidt. Theorie und Praxis der „Typenfrage“, in: Dresdener Kunstblätter 2018, H.  3, S.  48–55, sowie Gegen die Unsichtbarkeit. Designerinnen der Deutschen Werkstätten Hellerau, 1898 bis 1938,

Ebd., Hervorhebungen im Original. Ebd. Ebd. Ebd. Ein Bezug zur kubistischen Grafik, wie sie Lyonel Feinin-

les aus den Deutschen Werkstätten Hellerau, in: Dresdener Kunstblät-

42 43

ter 2018, H. 3, S. 23–31, hier S. 26 f.

ist nichts bekannt. Vgl. Sigrid Annemarie Lindner: Walther Meissner

11 12 13

Meißner 1915 (wie Anm. 3), S. 69.

(1882–1974). Physiker und Institutsgründer. Ressourcenmobilisierung

WBA-D804.

in drei politischen Systemen, Augsburg 2014, S. 23, Anm. 27, und

Vgl. Gesetz, betreffend das Urheberrecht an Werken der bilden-

WBA-D921.

10

Vgl. Kerstin Stöver: Dewetex – lichtecht und farbenfroh. Texti-

den Künste und der Photographie, RGBl 1907, Nr. 3 / 3287, S. 7–18, hier § 2 und § 25.

14

Adolf Vogt: Folgen des neuen Kunstschutzgesetzes für das

Kunstgewerbe, in: Innendekoration, Bd. 19, 1908, H. 8, S. 270.

15 16

Ebd. Zu Urheberrecht und DWB vgl. v. a. Frederic J. Schwartz: Der

Werkbund. Ware und Zeichen. 1900–1914, Amsterdam/Dresden 1999.

17

Else Meißner: Kunstschutz auf Textilmuster, in: Die Form, 1927,

H. 3, S. 92.

18

Vgl. ebd. sowie Gesetz, betreffend das Urheberrecht an Mu-

stern und Modellen, RGBl 1876, Nr. 2 / 1112, S. 11–14.

19 20 21

Meißner 1927 (wie Anm. 17), S. 93. Vgl. RGBl 1876 (wie Anm. 18), § 7. Vgl. ebd., § 8.

44 45 46 47 48 49

Vgl. HUB UA, Promotionen, Phil.F.01 Nr. 564. Über die ältere Schwester Gertrud und einen jüngeren Bruder

Vgl. HUB UA, Promotionen, Phil.F.01 Nr. 564. Ebd. Ebd. Vgl. WBA-D805. Vgl. WBA-D816. Vgl. WBA-D872. Zur Kriegswollbedarf A.G. vgl. Bundesarchiv,

R 8747.

50 51 52 53 54 55 56 57

Vgl. Meißner 1932 (wie Anm. 8), S. 14. Vgl. Stadtarchiv Dresden / 16.1.3-275. Vgl. Stadtarchiv Dresden / Y379. Ebd. Vgl. BayHStA, MK65550. Ebd. Vgl. Abschnitt Werkkorpus Meißner des Beitrags. Vgl. BayHStA, MK65550.

Werkbundstimme Else Meißner: Kunstschutz auf Textil­m uster im ‚Elfengespinst‘ der Moderne

57

58

Vgl. z. B. WBA-ADO7-917|59, WBA-ADK-1292|55 sowie Paul

Betts: The Authority of Everyday Objects. A Cultural History of West German Industrial Design, Berkeley/London 2004, hier S. 202.

59

Die mit * gekennzeichneten Titel werden von Meißner in dieser

Form aufgeführt, ein Abgleich steht noch aus. Vgl. WBA-D796, WBAD798 und WBA-D803. Die übrigen Texte/Quellen sind im Werkbundarchiv  – Museum der Dinge als Typoskripte, Originaldrucke, Kopien und Mikrofiche-Abschriften vorhanden.

58

Katharina Januschewski

von David Brewster konstruierte Kaleidoskop auf, das im 19. Jahrhundert in der Unterhaltungs- und Spektakelkultur Erfolge feierte.2 Wie Brewsters Gerät bestand auch Pulfrichs Photokaleidograph aus einer Spiegelkonstruktion, die eine prismatische Lichtbrechung hervorrief. Die kleinen Objekte, die sich in Brewsters Röhre durch Drehen und Wenden bewegten und mittels Spiegel in symmetrische Ornamente übersetzt wurden, tauschte Pulfrich gegen fotografi-

Foto-Ornamentik. Abstrakte Muster(er)findungen zwischen Textild esign und Kunst

sches Material: Negative wurden auf einem Objekttisch platziert und über einem arretierten Glasstab verschoben, der hier die Lichtbrechung bewirkte. Eine Spiegelreflexkamera bildete den unteren Teil der Apparatur und erlaubte es, die „Bandmuster“, „Sternformationen“, „Rosetten und Eckmuster“3, die der Apparat hervorbrachte, fotografisch festzuhalten.

Kathrin Schönegg

Sowohl die Rapportier-Kassette als auch der Photokaleidograph waren auf das textile Design

In den 1910er Jahren gingen im deutschsprachi-

ausgerichtet. Quedenfeldt wollte sein „photographi-

gen Raum zwei Apparaturen in Produktion, die es ermöglichten, ornamentale Muster auf fotografischer Basis zu generieren. 1912 meldete der in Düsseldorf stationierte Chemiker Erwin Theodor Quedenfeldt ein Patent auf sein „Verfahren zur Herstellung von symmetrischen Mustern aus Naturformen u. dgl. auf photographischem Wege“1 an. Er nahm Kristallisationen auf Glasplatten vor und wiederholte durch Drehen und Wenden der Platte das Ausgangsmotiv, um ein bis zu achtfach gespiegeltes, gleichförmiges Muster zu komponieren (Abb. 1, 2). Das Vorgehen mündete in die Konstruktion einer sogenannten Rapportier-Kassette, die der Dresdner Kamerahersteller Ernemann vertrieb. Des Weiteren gab die Jenaer Manufaktur Carl Zeiss bei dem ortsansässigen Optiker und Physiker Carl Pulfrich ein Präzisionskaleidoskop in Auftrag, das 1914 auf der Ersten Internationalen Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik in Leipzig der Öffentlichkeit präsentiert wurde (Abb. 3). Der Apparat baute auf das

Abb. 1: Erwin Theodor Quedenfeldt, Ohne Titel, ca. 1912, Kombinationsgummidruck nach dem Ornamentierverfahren mit dem Rapportierapparat

Foto-Ornamentik. Abstrakte Muster(er)findungen zwischen Textildesign und Kunst

59

Es ist nicht überliefert, inwieweit Bilder, die mithilfe dieser Apparate generiert wurden, tatsächlich im Textildesign Anwendung fanden. Im Folgenden steht daher nicht die Frage der textilen Umsetzung fotografischer Vorlagen zur Diskussion. Vielmehr geht der Beitrag dem Textilen im Diskurs der Fotografie nach: Quedenfeldts und Pulfrichs Apparate standen einerseits in einer langen Tradition der Anwendung von Fotografie als Hilfsmittel im künstlerischen Werkprozess. Andererseits erhoben die produzierten Muster den Anspruch auf Autonomie. Das künstlerische Experimentierfeld des Textilen unterlief die Grenzen zwischen angewandter und freier Kunst, die in der Fotografiegeschichte zu dieser Zeit noch klar definiert waren.

Abb. 2: Erwin Theodor Quedenfeldt, Ohne Titel, ca. 1926, Komposition nach dem Ornamentierverfahren mit dem Rapportierapparat Globus

sches Ornamentierverfahren“ zur Herstellung von

60

Angewa ndte Fotog raf i e  / Kunst fotog raf i e Im 19. Jahrhundert trat die Fotografie neben

Mustern „für das gesamte Kunstgewerbe“4 anbieten.

Camera obscura und Camera lucida – optische

Und auch die deutschen, englischen und amerikani-

Projektionsgeräte, die das Abzeichnen der Natur

schen Rezensenten von Pulfrichs Apparatur meinten

vereinfachten. Zum selben Zweck wurden ab den

übereinstimmend, dass diese „für die Tapeten- und

1850er Jahren Fotografien in Mustersammlungen

Textilindustrie, für Linoleumfabriken, Kunstschlosse­

zusammengefasst und nach figürlichen Sujets

reien, Schablonenfabriken für Maler und Druckereien

geordnet: Stillleben, Landschaften und Portraits,

von Werkpapieren ganz besondere Bedeutung erhält.“5

Akte, Architektur- und Stadtansichten, Kunstrepro-

Bei beiden Geräten handelte es sich um mehr als eine

duktionen sowie Tier- und Pflanzenstudien.6 Auch

optische Spielerei: Der Vertrieb durch optische Manu-

für die Ornamentik fanden sich fotografische

fakturen und die internationale Berichterstattung

Vorlagen. Vor allem Mikrofotografien bildeten ein

zeigen, dass Apparate, die symmetrische Ornamente

Repertoire abstrakter Formen und Strukturen, aus

konstruierten, jenseits der Unterhaltungsindustrie

dem Künstler und Kunstgewerbetreibende schöpften.7

wertvoll waren. Ihre Relevanz sah man in dem Umstand,

In diesem Kontext war die Funktion der Fotografie

dass die erzielten Muster leicht in den Dienst der

eine reproduzierende: Aufgrund ihrer Detailtreue

Textilindustrie gestellt werden konnten. Mit Rappor-

wurde sie zur Vorlage für freie und angewandte

tier-Kassette und Photokaleidograph sollten abstrakte

Kunst, ohne selbst künstlerischen Status für sich zu

Muster auf fotografischer Basis industrialisiert werden.

beanspruchen.

Kathrin Schönegg

Abb. 3: Photokaleidograph und Beispiele von Mustern, die mit mithilfe des Apparats erzeugt wurden, in: Scientific American, Bd. 112, 30. Januar 1915, H. 5, S. 103

Foto-Ornamentik. Abstrakte Muster(er)findungen zwischen Textildesign und Kunst

61

Erst Ende des 19. Jahrhunderts formierte sich

Nat urform   /   Kunst form

eine Gruppierung, die im engeren Sinne als kunstfotografische Bewegung gilt. Diese piktorialistische oder

dieser fotografischen Spielart des Textilen im Jahr

zu einer international agierenden Organisation

1914: Nicht nur die Firma Zeiss stellte Pulfrichs

anwuchs und im engeren Sinn bis 1910 bestand,8

Photokaleidographen vor, auch Quedenfeldts Orna-

folgte einem rigiden formal- und produktionsästheti-

mentmuster waren erstmals zu sehen, auf der Deut-

schen Normensystem. Ihre formalen Kennzeichen

schen Werkbund-Ausstellung Cöln 1914. Obschon der

waren Weichzeichnung und Unschärfe. Sie orientierte

Werkbund programmatisch für eine Vereinigung von

sich an den klassischen Sujets und der symbolistischen

Kunst, Kunstgewerbe und Industrie eintrat,11 lässt sich

Ästhetik der damaligen Malerei. Um Fotografie als

an der musealen Anordnung ablesen, dass die Grenz-

gleichwertige Kunstform neben anderen Medien zu

ziehung zwischen künstlerischer und angewandter

positionieren, wurde kreatives Handwerk über

Fotografie noch weitgehend gültig war. Die Kölner

mechanische Reproduktion und das aufwendige

Präsentation war in zwei Gruppen unterteilt. Die erste

Edeldruckverfahren über den einfachen Abzug

umfasste über 300 Bilder diverser „Liebhaber und

gestellt. Trotz dieser künstlerischen Bemühungen

Berufsphotographen“ – namhafte Figuren der piktoria-

betrachteten die meisten Zeitgenossen Fotografie und

listischen Bewegung, die mit klassischen Sujets wie

bildende Kunst als Gegenspieler. Noch 1906 empfahl

dem Porträt vertreten waren. Die zweite, weitaus

man künstlerisch interessierten Fotografen daher

kleinere Sektion widmete sich dem „photographierten

einen Arbeitsbereich jenseits der bildenden Kunst: Das

Naturornament“12, wobei als Bildautoren hier mehr-

einzige Gebiet, „auf dem der Photograph künstlerische

heitlich Wissenschaftler auftraten, die Fotografie zur

Erfolge, wenn auch vielleicht nur indirekt, erlangen

Dokumentation ihrer Untersuchungen verwandten.

kann, [ist] d[as] Gebiete des Kunstgewerbes.“

Diese „Photographien nach Naturformen, wie sie das

9

10

Vor diesem Hintergrund nehmen ornamentale

Mikroskop dem kunstfreundlichen Forscher er-

Experimente mit Rapport (Wiederholung) und Symme­

schließt“13, verfolgten epistemische Ziele, wurden

trie (Spiegelung) eine besondere Stellung ein. Die

1914 aber unter ästhetischen Gesichtspunkten

Apparate von Quedenfeldt und Pulfrich bildeten den

angesehen. Einzig Quedenfeldts Arbeiten gehörten

Ausgangspunkt einer Autonomisierung der Fotografie,

einer anderen Konzeption des fotografischen Orna-

die noch vor der klassischen Avantgarde im Kunstge-

ments an: Seine „vollkommene symmetrische Figur“14

werbe einsetzte. Anfang der 1910er Jahre ließ das

war ein offenkundig überarbeitetes Muster, das zwar

Umfeld der textilen Künste ein Experimentierfeld mit

auf Kristallisationen beruhte, aber keiner dokumenta-

Prismen, Spiegeln und Kaleidoskopen sowie Kleb- und

risch-klassifizierenden Funktion gehorchte. Neben die

Belichtungsmontagen entstehen, das von den restrikti-

Musterfindung formloser Strukturen aus der Natur trat

ven Normen der seinerzeit noch vorherrschenden

so eine Mustererfindung durch Verfremdungsverfahren

Kunstfotografie frei war. Im Spannungsfeld von abstrak-

wie Wiederholung und Spiegelung.

ter Kunst und maschineller Produktion entwickelte sich

62

Im deutschen Raum beginnt die Geschichte

bildmäßige Fotografie, die sich um 1890 bildete, bald

Quedenfeldts Arbeiten wurden auf der Werk-

ein neues Genre, das die Fotografie in die künstlerische

bund-Ausstellung als „außerordentlich wirkungsvolle

Moderne führte: Es entstand die Foto-Ornamentik.

Ornamente“15 begrüßt. Noch wenige Jahre zuvor

Kathrin Schönegg

galten ähnliche Experimente als verfehlt. 1906

sie nun auch als Beispiel einer „wahren Ornamentik“

informierte ein Bericht über die Unternehmungen

verstanden wissen: Das Musterbild wurde zur „abs-

eines Zeitgenossen, der versucht habe, „auf photogra-

trakten Kunstform, die vom Geist des künstlerisch

phischem Wege stilisierte Blumenmuster als Vorlagen

empfindenden Menschen gewollt und vollzogen ist.“21

für kunstgewerbliche Arbeiten herzustellen“ , und

Auch andere Protagonistinnen und Protagonisten, die

dabei auf Spiegelungen zurückgegriffen habe. Die

mithilfe von Ornamentierverfahren ähnliche Ergeb-

ebenfalls als Textilvorlagen gedachten Bilder durch-

nisse herstellten, unterschieden nicht länger zwischen

kreuzten die zeitgenössische Kategorisierung, die

Muster (Vorlage) und Komposition (Werk).

16

Fotografie (Mechanik, Technik, Reproduktion) auf der

1927 betrat der in Berlin ansässige Ingenieur

einen und Kunst (Schöpfertum, Handwerk, Interpreta-

Romanus Schmehlik die publizistische Bühne. Schmeh-

tion) auf der anderen Seite verortete.17 Denn während

lik war auf der Kölner Werkbund-Ausstellung ebenfalls

der Fotograf „jedes malerisch stilisierende Arrange-

in der Sektion Naturornamente vertreten, hatte dort

ment“18 zu vermeiden hatte, um die Natur in ihrer

aber gängige, naturwissenschaftliche Aufnahmen

tatsächlichen Form und Struktur wiederzugeben, war

mikroskopischer Objekte gezeigt.22 Mitte der 1920er

es die Aufgabe der Künstler diese Vorlagen im Sinne

Jahre begann auch er seine Sichtungen in der mikros-

der „idealisierenden Naturwahrheit“ zu interpretie-

kopierten Welt ästhetisch zu überformen. Er schaltete

ren. Fand die Stilisierung der natürlichen Formen

in den Strahlengang seines Mikroskops ein Prismen-

bereits im Vorbild, der Fotografie, statt, entledigte dies

system ein, um auf „optischem Wege zu symmetri-

den im Gewerbe tätigen Künstler von seiner Aufgabe.

schen Mustern geordnete Mikrophotogramme“23 zu

1906 fiel die Bewertung von fotografischen Orna-

erhalten (Abb. 4, 5). Die mikroskopischen Objekte

mentmustern daher negativ aus. 1914, mit der Sektion

waren aus ihrem epistemischen Kontext gelöst und

des Naturornaments der Werkbund-Ausstellung, war

zwei-, drei- oder vielteiligen abstrakten, symmetri-

die Grenzziehung zwischen Fotografie als Reprodukti-

schen Formationen gewichen, die nun um ihrer

onsmittel und Fotografie als Medium der freien Gestal-

Schönheit Willen angesehen werden sollten. Dass für

tung hingegen durchlässig geworden. Die Auflösung

Schmehlik die Unterscheidung von Vorlage und Werk

der Dichotomien leistete der Kontext des Texilen.

hinfällig geworden war, zeigt sich schon an dem

19

Umstand, dass er sich gleichermaßen an (Gebrauchs-)

Vo r l a ge  / Werk

Fotografen wie an die Textilindustrie richtete: bebilderte Artikel über sein Vorgehen veröffentlichte er in Fachblättern der Photographischen Rundschau und in

Diese Entwicklung lässt sich im Laufe der 1920er

Melliand’s Textilberichten.24 Im einen Fall waren sie in

Jahre weiter nachvollziehen. Eine Dekade nach den

ästhetisch-technische Fragen eingebunden, im

ersten Experimenten mit gespiegelten Mustern nahm

anderen in solche der textilen Anwendung. Die Frage,

Quedenfeldt eine Neueinschätzung der eigenen Arbeit

ob es sich bei den erzielten Formen um Vorlagen für

vor, die er nicht mehr nur dem Gewerbe zurechnete,

Künstler oder selbst um Kunst handelte, spielte keine

sondern auch der abstrakten Kunst. Einerseits gebe es

Rolle mehr.

für die „dekorative Abstraktion“20 unzählige Anwendungen im Gebrauchskontext. Andererseits wollte er

Gewicht behielt jedoch die Kategorie der Originalität. Ähnlich wie Quedenfeldt, dessen „vergeis-

Foto-Ornamentik. Abstrakte Muster(er)findungen zwischen Textildesign und Kunst

63

64

Abb. 4: Romanus Schmehlik, Zweiteilig symmetrisches Muster, in: Das deutsche Lichtbild. Jahresschau 1932, S. 112

Abb. 5: Romanus Schmehlik, Dreiteilig symmetrisches Muster, in: Das deutsche Lichtbild. Jahresschau 1932, S. 113

tigte dekorative Form“ die „Einmaligkeit des seelischen

den.“26 Schon die Rezensenten von Pulfrichs Kaleidos-

Zustandes ihres Schöpfers offenbaren“25 sollte, wies

kopbildern argumentierten für die Originalität der

Schmehlik zwar weniger pathetisch, aber gleichwohl

maschinell produzierten Muster, „die kaum konstruier-

deutlich darauf hin, dass es sich bei seinem „Muster­

bar und auch nicht leicht nachahmbar“ 27 waren. Das

gebilde“ um ein singuläres Blatt, ein Original handele.

Textile emanzipierte die Fotografie vom Status der

Die Ornamente seien keine Abbilder, die die Natur

Reproduktion: In den Foto-Ornamenten waren mimeti-

nachahmten, sondern neue Bildformen, die er zualler-

sche Zusammenhänge offenkundig nicht mehr am

erst hatte erfinden müssen: „Jedes dieser Musterge-

Wirken. Sie wiesen in den Bereich der abstrakten

bilde kann man als Original bezeichnen, weil es selbst

Kunst und gingen doch nicht in ihm auf: Den Katego-

bei Verwendung desselben Objektes nach dessen

rien der zeitgenössischen Ästhetik stand einerseits die

Verstellung nur nach vieler Mühe gelingt, die vorher-

technikgestützte Herstellungsmethode, andererseits

gehende Beziehung der einzelnen Teile wiederzufin-

das symmetrische Formprinzip entgegen.

Kathrin Schönegg

Me c h a n i k / Handwerk

Muster sofort vollkommen zusammengefügt“ ergebe, „ist wohl eine große Vereinfachung erzielt, aber auf

Rapportier-Kassette und Photokaleidograph

Kosten jeder persönlichen Eigenformung [...], die

waren auf serienmäßigen Vertrieb angelegt. Auch

vollkommene Mechanik des Photokaleidographen ist

Schmehliks Versuchsanordnung arbeitete der Industri-

für uns kein Gewinn“30. Das Rapportier-Verfahren

alisierung abstrakter Muster zu. Hier wie dort ging es

überlasse die Bildgestaltung hingegen ganz dem

um die Vereinfachung des textilen Entwurfsprozesses

kreativen Entwerfer, der das Grundmuster sukzessive

durch ein halbautomatisches Verfahren, das prinzipiell

zum Ornament umformen könne. Wo die Konkurrenz

wiederholbar und auch von Amateurinnen und

auf Mechanik, Technik und Maschine setze, zeichne

Amateuren ausführbar war. Diese Konstellation steht

sich das eigene Vorgehen durch Individualität, Kunst

im Kontrast zu den skizzierten Selbstverortungen und

und Schöpfertum aus. Einmal mehr stand die Repro-

den zeitgenössischen Beschreibungen, die aus unter-

duktion der freien Gestaltung gegenüber.

schiedlichen Gründen auf Singularität (Quedenfeldt)

Aus der Perspektive der freien Kunst war die

oder Originalität der Muster bestanden (Pulfrich,

halb-automatische Bildherstellung der Foto-Orna-

Schmehlik).

mente verdächtig. Im angewandten Kontext kam ihr

Obschon die symbolistische Kunstfotografie in

umgekehrt ein spezifisches Potenzial zu. Nach der

den 1920er Jahren längst der technikaffinen Moderne

Jahrhundertwende vollzog sich der Übergang vom

gewichen war und damit auch die Differenzierung

Kunstgewerbe zur Industriekunst, womit eine serielle

zwischen angewandter und künstlerischer Fotografie

und schnellere Produktion einherging, die Entwurf und

an Dringlichkeit verloren hatte, stehen Quedenfeldts

Umsetzung auseinandertreten ließ. Die Kategorie der

Deutungen in diesem Kontext. Um die Foto-Ornamen-

Originalität, wie sie bei Pulfrich aber auch bei Schmeh-

tik im künstlerischen Bereich zu verorten, griff er auf

lik Anwendung fand, steht in diesem Kontext: Die

die Argumentationslogik des 19. Jahrhunderts zurück

Mechanisierung des Entwurfsprozesses ergab neue

und bemühte die tradierte Dichotomie von Technik

Kompositionsmöglichkeiten und erlaubte es so, der

und Kunst. Ganz in der piktorialistischen Logik betonte

steigenden Nachfrage nach verschiedenartigen

er subjektiv-schöpferische Momente seines Verfah-

Vorlagen zu begegnen. Gerade Schmehliks Ausführun-

rens und argumentierte, dass nicht die technische

gen, die auf monistischen Schöpfungstheorien basie-

Grundlage über die Zugehörigkeit seiner Blätter zur

ren, wie sie um die Jahrhundertwende durch Ernst

Kunst entscheide, sondern der Umfang des künstleri-

Haeckel populär wurden, stehen mit den veränderten

schen Eingriffs, die „selbstständige und eigenwillige

Bedingungen in der Industrie in Zusammenhang.

28

Erzeugung von künstlerischen Ornamenten mit

Haeckels monistischer Naturästhetik zufolge

29

photographischen Mitteln“ . Im zeitgenössischen

fielen Natur und Kunst, Geist und Seele in eins: Ein

Kontext mutet dieses theoretische Setting anachronis-

und dasselbe Wirkungsprinzip lag allen Formen des

tisch an, aber es ermöglichte ihm gegen Konkurrenz-

Lebens zugrunde und äußerte sich in diversen Ähnlich-

modelle Stellung zu beziehen. Während er das eigene

keiten und Äquivalenzen.31 Auch Schmehlik erkannte

Rapportier-Verfahren als künstlerisches Vorgehen

zwischen Diatomeenschalen, Protoplasmakernen,

nobilitierte, verwies Quedenfeldt den Photokaleido-

Schachtelhalmstengeln und Kristallisationsprodukten

graphen in den Bereich der Technik. Da das Gerät „das

immer wiederkehrende gleichförmige Strukturen, in

Foto-Ornamentik. Abstrakte Muster(er)findungen zwischen Textildesign und Kunst

65

denen sich die Urformen des Lebens verbargen:

galt als „luxurierendes Beiwerk, dem weder ein eigener

„Urtiere und Urpflanzen“, die „eine Fülle von Anregun-

Gattungsrang noch eine ästhetisch autonome

gen für die Schaffung neuer Formen und Muster“

Wertsphäre zugemessen wurde.“37 Umgekehrt zielte

32

darstellten. In den 1930er Jahren übertrug er diese

die abstrakte Kunst darauf, sich über eine Abgrenzung

Ansichten auf die Kreativität des Menschen und

vom Dekorativen als autonom zu klassifizieren.38 Dass

fragte, „ob die immer wiederkehrende gleiche Formge-

auch im Fotobereich die Unterscheidung zwischen

bung nicht letzten Endes einem gewissen Gedächtnis-

Dekoration / Komposition, Schmuck / Werk, Muster /

zwange folgend, sich nur so und nicht anders gestal-

Bild Bestand hatte, lässt sich einem Artikel der

tet.“ Was im engeren naturästhetischen Kontext

Photographischen Mitteilungen von 1907 entnehmen,

Erkenntnisse über die ganze Schöpfung bereithielt,

der Fotografien als Fläche mit spezifischer Hell-Dun-

war für Schmehlik Zeichen einer kreativen Armut,

kel-Verteilung beschrieb. Durch die Anordnung dieser

gegen die er mit fotografischen Ornamenten anzuge-

Tonwerte im Kader entstünden „regelmäßige Muster

hen versuchte. Wie Natur und Kunst, die nach den

(Ornament) und unregelmäßige Muster (Bild)“39. Nach

immer selben Urformen organisiert waren, sei auch

der Jahrhundertwende entschied die (a)symmetrische

dem menschlichen Geist nur ein begrenztes Formen-

Anordnung der Formen über die Zugehörigkeit zum

vokabular eigen, jeder Künstler bekomme nur „ein

angewandten oder künstlerischen Bereich. Auch diese

bestimmtes Konzeptionspotential auf seinen Lebens-

formalästhetische Einteilung wurde im Textilen

weg mit“ . Daher galt es, die Formen der Natur „durch

unterlaufen.

33

34

physikalisch-optische Hilfsmittel so um[zu]gestalte[n]

So deutete Quedenfeldt in den 1920er Jahren

[...], dass ihre Zahl unbeschränkt wird“ . Für Schmehlik

nicht nur seinen technischen Bildprozess als individu-

stellte der mechanisch-technische Bildprozess kein

elles Verfahren, sondern definierte das symmetrisch

Hindernis, sondern umgekehrt ein spezifisches

aufgebaute Ornament zu dem zeitgemäßen künstleri-

Potenzial dar, der dem Künstler helfe, sein Konzepti-

schen Ausdruck, der „abstrakteste[n] Kunstform“40 um.

onsvermögen zu rationalisieren, damit der Mensch „für

Symmetrie galt Quedenfeldt – konträr zur Naturphilo-

die Zeit seines Lebens auf der Höhe seiner schöpferi-

sophie – nicht als natürliches, sondern als artifizielles

schen Leistung“36 bleibe.

Produkt.41 Nur in der Kunst könne das Allgemeine, „die

35

absolute Idee der Schönheit und der Grundrhythmus

Muster / Komp osition

sprechen“42, wohingegen ähnliche Erscheinungen der Natur niemals vollkommen gleichförmig und damit auch nicht kunstwertig seien. Dem Ornament kam

Neben der technikgestützten Herstellungsweise

66

eine besondere Bedeutung zu, da es als Modell diente,

beförderte auch die Form der Foto-Ornamente ihren

um „in den Sonderformen das Allgemeine“43 zu sehen

problematischen Status in der zeitgenössischen

und „die Individualform vollkommen in die Idealform“44

Ästhetik. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts unterlag

zu übersetzen. Mit der Gegenüberstellung von

das Ornament dem Verdacht dekorativ, aber keine

Individuum und Typus, Oberflächenbeobachtung und

freie Kunst zu sein. Das Ornamentprinzip von Symme-

Tiefenstruktur der Welt standen hier erneut Grundun-

trie (Spiegelung) und Rapport (Wiederholung) war mit

terscheidungen des Ästhetikdiskurses der zweiten

dem Minderwertigen, Schmückenden verknüpft. Es

Hälfe des 19. Jahrhunderts zur Disposition, die zu

Kathrin Schönegg

diesem Zeitpunkt an Gültigkeit eingebüßt hatten. Quedenfeldts Position steht exemplarisch für eine avantgardistische, abstrakte Bildästhetik, die in eine restriktive Theorie eingebunden ist.

De korati on / Abstraktion Gemeinhin wird der Beginn der Abstraktion in der Geschichte der Fotografie auf 1916 datiert – jenes Jahr in dem Alvin Langdon Coburn den Begriff der ‚abstrakten Fotografie‘ erstmals im modernen Sinne des Wortes verwendete. Der heute als „father of abstract photography“45 geltende Amerikaner stellte zu diesem Zeitpunkt eine Reihe kameragestützter Aufnahmen her, in denen er Gegenstände durch eine Spiegelkonstruktion vor dem Objektiv fotografierte und so prismatisch verfremdete (Abb. 6). In Referenz auf den Vortizismus bezeichnete er seine Aufnahmen als ‚Vortographs‘ und strebte mit ihnen – ganz im Sinne der Avantgarde – einen Bruch mit der Tradition und

Abb. 6: Alvin Langdon Coburn, Vortograph, 1917, Silbergelatinepapier

eine Neuausrichtung der bildmäßigen Fotografie an. Coburn wollte sein Medium nicht weiter der Malerei

vielen Beispielen, die vor Coburns terminologische

angleichen, sondern die der Kamera inhärenten

Erfindung der ‚abstrakten Fotografie‘ zurückreichen,

Möglichkeiten voll ausschöpfen: damit meinte er die

ohne Eingang in die Geschichte der Abstraktion

Aufzeichnung der verborgenen Schönheiten des

gefunden zu haben. Eine Begründung hierfür ist in

Mikroskops, die Fragmentarisierung der Gegenstände

einem Überblickswerk formuliert, dass die Genese der

durch die Verwendung von Prismen vor dem Objektiv

Fotografie [v]om technischen Bildmittel zur Krise der

und die Doppelbelichtung.

Repräsentation nachzeichnet. Noch im Jahr 2003 heißt

46

Die von Coburn beschriebenen Techniken waren

es dort, es handele sich bei Quedenfeldts Ornamentik

in fotografischen Anwendungsbereichen wie Wissen-

um ein „abstraktes und punktsymmetrisches Ab-

schaft und Spiritismus schon lange bekannt, aber ihr

klatschmuster“, das sich „bei näherer Betrachtung

Potenzial war Anfang des 20. Jahrhunderts noch nicht

mehr als Muster denn als Komposition“ entpuppe und

ästhetisch erkundet worden – zumindest nicht von

das „offensichtlich zum Gebrauch in der rheinischen

Fotografen, die seinerzeit der künstlerischen Fotogra-

Textilindustrie gedacht“47 war. Der Herstellungskon-

fie zugerechnet wurden. So sind abstrakte Bilder, wie

text des Textildesigns, die maschinelle Bildproduktion

sie Pulfrich, Quedenfeldt und Schmehlik durch

sowie die symmetrische Form haben bedingt, dass

apparative Hilfsmittel hervorbrachten, nur einige unter

diese und andere Beispiele der Foto-Ornamentik aus

Foto-Ornamentik. Abstrakte Muster(er)findungen zwischen Textildesign und Kunst

67

Anm erkungen

dem Blick der Kunstgeschichte herausgefallen sind. Obschon sich neben den hier angeführten Arbeiten in den 1930er Jahren weitere in Amerika und China finden48 und das Genre auch in der Nachkriegszeit Konjunktur feiert,49 ist das Textile und sein Bezug zur abstrakten Ästhetik in der Fotografiegeschichte bislang kaum beachtet worden. Gerade für ein Medium wie die Fotografie, das in vielen verschiedenen Diskursräumen beheimatet ist, birgt dieser angewandte Kontext jedoch das Potenzial für eine Neulektüre50 – für eine andere Geschichte der abstrakten Fotografie: Eine Geschichte, die der Eigenlogik des Mediums Rechnung tragen kann, anstatt es durch die Diskurse der Kunst zu (v)erklären.

1

Patentschrift Nr.  267923, Klasse 57d, Gruppe 1: Dr. Erwin

Quedenfeldt in Düsseldorf: Verfahren zur Herstellung von symmetrischen Mustern aus Naturformen u. dgl. auf photographischem Wege, patentiert im Deutschen Reiche, 8.3.1912, Kaiserliches Patentamt Berlin.

2

Vgl. David Brewster: The Kaleidoscope. Its History, Theory and

Construction with its Application to the Fine and Useful Arts, London 1858; siehe auch die zeitgenössischen Berichte in Stephen Herbert (Hg.): A History of Pre-Cinema, Bd. 1, London 2000, S. 227 ff.

3

Georg Otto: Der ‚Photokaleidograph‘ nach Dr. Pulfrich, in: Pho-

tographische Korrespondenz, 1915, H. 652, S. 4–10, hier S. 10.

4

Erwin Theodor Quedenfeldt: Photographische Ornamentik, in:

Der Photograph. VIII. Photographische Ornamentik, 1924, H.  81, S. 313–327, hier S. 318.

5

Otto 1915 (wie Anm. 3), S. 10. Vgl. außerdem Anonym: Photo

Kaleidograph, in: Illustrated London News, 27. Februar 1915; vgl. auch Anonym: The Photo-Kaleidograph, in: Scientific American, Bd.  112, 30. Januar 1915, H. 5, S. 103.

6

Vgl. Eine neue Kunst? Eine andere Natur! Fotografie und Male-

rei im 19. Jahrhundert, hg. v. Ulrich Pohlmann und Johann Georg Prinz von Hohenzollern, Ausst.-Kat. Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München, München 2004.

7

Vgl. einführend zum Thema: Mikrofotografie. Schönheit jenseits

des Sichtbaren, hg. v. Ludger Derenthal und Manfred P. Kage, Ausst.Kat. Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin, Berlin, Ostfildern 2010.

8

Vgl. einführend Kunstphotographie um 1900, Ausst.-Kat. Mu-

seum Folkwang Essen, Essen 1964.

9

Vgl. zum Programm weiterführend Bernd Stiegler und Felix

Thürlemann: Nachwort. Kampf um Anerkennung, oder: Die Neuerfindung der Photographie aus dem Geiste der Kunst, in: dies. (Hg.): Das subjektive Bild. Texte zur Kunstphotographie um 1900, München/Paderborn 2012, S. 413–434.

10

Helene Littmann: Blumenaufnahmen für kunstgewerbliche

Zwecke, in: Photographische Mitteilungen 1906, S.  507–510, hier S. 510.

11

Vgl. Wulf Herzogenrath und Dirk Teuber: Deutsche Werkbund-

Ausstellung, Cöln 1914 – eine Dokumentation 70 Jahre danach, in: Der westdeutsche Impuls 1900–1914. Kunst und Umweltgestaltung im Industriegebiet. Die Deutsche Werkbund-Ausstellung Cöln 1914, Ausst.Kat. Kölnischer Kunstverein, Köln, Essen u. a. 1984, S. 12–14. Zum Fotografiesektor der Ausstellung vgl. Ute Eskildsen: Die Abteilung Fotografie, in: ebd., S. 317–319.

12

Anonym, in: Deutsche Werkbund-Ausstellung Cöln 1914. Offi-

zieller Katalog, Köln 1914, S. 111.

13

Peter Jessen: Die Deutsche Werkbund-Ausstellung Köln 1914.

Deutsche Form im Kriegsjahr, in: Jahrbuch des Deutschen Werkbundes 1915, München 1915, S. 1–42, hier S. 28.

68

Kathrin Schönegg

14 15

Quedenfeldt 1924 (wie Anm. 4), S. 318.

32

M.  M. [Fritz Matthies-Masuren]: Die Photographie auf der

(Hg.): Die Photographische Kunst im Jahre 1913. Ein Jahrbuch für

Romanus Schmehlik: Naturformen, in: Fritz Matthies-Masuren

Deutschen Werkbund-Ausstellung in Köln und der Weltausstellung für

künstlerische Photographie, Bd. 12, 1913, S. 3–6, hier S. 6.

Buchgewerbe und Graphik in Leipzig, in: Photographische Rundschau

33 34 35 36

und Mitteilungen, Bd. 51, 1914, S. 177–180, hier S. 179.

16 17

Littmann 1906 (wie Anm. 10), S. 510. Zur Stellung der Fotografie im Ästhetikdiskurs der Zeit vgl. Ger-

Schmehlik 1932 (wie Anm. 23), S. 39. Ebd. Schmehlik 1927 (wie Anm. 24), S. 15. Schmehlik 1932 (wie Anm. 23), S. 41. Dies wich bald einer recht

hard Plumpe: Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit

trivialen Deutung: An die Stelle der kreativen Schöpfungstheorie von

des Realismus, München 1990.

Natur und Mensch war wenige Jahre später die schlichte Bemerkung

18 19

Littmann 1906 (wie Anm. 10), S. 510.

getreten, es handele sich bei den Aufnahmen um „Prismenbild[er] eines

Vgl. Peter Galison und Lorraine Daston: Das Bild der Objektivi-

belanglosen mikroskopisch kleinen Körpers, da es nur darauf ankam,

tät, in: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in

reizvolle Symmetrien zu zeigen.“ Technische Angaben und Autorenver-

Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a. M. 2002, S. 29–99.

zeichnis, in: Das deutsche Lichtbild. Die Bilder der Jahresschau 1937,

20

S. T 76.

Erwin Quedenfeldt: Photographische Formprobleme. VII. der

vereinfachte Gummidruck, 1924, H. 72, S. 277–278 und S. 281–282,

37

hier S. 281.

Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch

21 22

Quedenfeldt 1924 (wie Anm. 4), S. 327.

in sieben Bänden, Band 4: Medien-Populär, Stuttgart/Weimar 2002,

Zuvor hatte er mehrfach in Zeitschriften wie dem Mikrokosmos

S. 656–683, hier S. 673. Vgl. außerdem Markus Brüderlin: Einführung:

zu Fachfragen des Feldes publiziert und 1922 eine Monografie zum

Ornament und Abstraktion, in: Ornament und Abstraktion. Kunst der

Thema Mikroskopie und Fotografie veröffentlicht. Vgl. Romanus

Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog, Ausst.-Kat. Fondation

Schmehlik: Die Anwendung des Mikroskops. Mikroskopie, Mikropro-

Beyeler, Riehen/Basel, Köln 2001, S. 16–27.

jektion, Mikrophotographie, Berlin 1922.

38

23

S. 21 ff.

Romanus Schmehlik: Von der Gehirnorgel, in: Das deutsche

Frank Lothar Kroll und Gérard Raulet: Ornament, in: Karlheinz

Vgl. Marcel Brion: Geschichte der abstrakten Kunst, Köln 1960,

Lichtbild: Jahresschau 1932, S. 39–41, hier S. 41.

39

24

Bd. 48, 1911, S. 97–100, hier S. 98.

Vgl. Romanus Schmehlik: Auf optischem Wege zu symmetri-

Otto Ewel: Vom Dekorativen, in: Photographische Mitteilungen,

Rundschau, 1927, S.  184, sowie ders.: Muster für Textilzwecke, in:

40 41

Melliand’s Textilberichte, 1927, S. 14–15.

feldt Haeckels Weltanschauung anhing und dem Düsseldorfer Moni-

25 26 27 28

Quedenfeldt 1924 (wie Anm. 4), S. 317 und S. 313.

stenverbund vorstand.

Schmehlik 1932 (wie Anm. 23), S. 41.

dauert vor allem auf dem Kunstmarkt noch bis in die 1970er Jahre.

42 43 44 45

Verglichen mit der Situation um 1900 wurden in den 1920er und

Robin Lenman (Hg.): The Oxford Companion to the Photograph, Ox-

1930er Jahren jedoch die Grenzen zwischen angewandter und freier

ford/New York 2005, S. 2.

Fotografie durchlässiger. Dass die heterogenen materiellen und medi-

46

alen Formen der Fotografie zur Disposition standen, lässt sich exempla-

in: Photograms of the Year, 1916, S. 23–24.

risch an den Jahrbüchern Das Deutsche Lichtbild (1927–1938 sowie

47

1955–1979) ablesen. Hier präsentieren sich klassische Genrebilder,

der Repräsentation, Köln 2003, S. 95–96.

Landschaften und Porträts neben Luftbildern, Mikro-, Astro- und Röntgenaufnahmen sowie kameralosen Fotografien, Montagen, Solarisatio-

48 49

nen und Mehrfachbelichtungen. Quedenfeldt war 1927 in der Zeit-

Barnes, Ausst.-Kat. Victoria and Albert Museum London, London/New

schrift vertreten, Schmehliks Ornamente erschienen 1932.

York 2014.

29 30 31

Quedenfeldt 1924 (wie Anm. 4), S. 313.

50

Ebd., S. 327.

Abstraktion, Diss. Univ. Konstanz 2018, Drucklegung voraus. 2019.

schen Mustern geordnete Mikrophotogramme, in: Photographische

Otto 1915 (wie Anm. 3), S. 10. Die Unterscheidung von Foto-Fotografie und Foto-Kunst über-

Quedenfeldt 1924 (wie Anm. 4), S. 313. Dies irritiert vor allem angesichts der Tatsache, dass Queden-

Quedenfeldt 1924 (wie Anm. 4), S. 313. Ebd., S. 317. Ebd. Molly Rogers: Abstract and Experimental Photography, in:

Vgl. Alvin Langdon Coburn: The Future of Pictorial Photography, Rolf Sachsse: Fotografie. Vom technischen Bildmittel zur Krise Zum Beispiel bei Margaret Watkins und Luo Bonian. Vgl. exemplarisch Horst – Patterns from Nature, hg. v. Martin

Weiterführend vgl. Kathrin Schönegg: Fotografiegeschichte der

Vgl. weiterführend Christoph Kockerbeck: Die Schönheit des

Lebendigen. Ästhetische Naturwahrnehmung im 19.  Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 1997.

Foto-Ornamentik. Abstrakte Muster(er)findungen zwischen Textildesign und Kunst

69

war, ob als Raumtextilie, Bekleidung, Möbel oder Bildträger –, jedoch nur vereinzelt als kunsttheoretisches Diskursfeld in Erwägung gezogen wurde. Nicht selten wurden Textilien als ein Mittel zum Zweck verstanden – etwa wenn der Leinwandstoff als Bildträger für die Malerei diente. Das Textile verfügt in den wissenschaftlichen Narrativen nicht über einen angestammten Platz, wie Tristan Weddigen konstatiert, und verankert sich erst nach und nach in der Theorie-

Textile Rekonfigurationen des Spinnennetzes : Zum Verhältnis von Form und Material in Stoffmustern und Fadenobjekten

bildung.1 Ausgehend von einer naturhaften wie künstlerisch überformten Figuration, nämlich den von Spinnen hergestellten Netzen, wird es im Folgenden um textile Netzgebilde gehen, die zwischen Naturgestalt und Kunstobjekt oszillieren. Spinnen entfalten einen metaphernreichen Ideenraum, dessen Ausläufer von Ovids Arachne-Mythos über die Großmutter Spinne als Schöpferin der Welt bei den Hopi, Navajo oder Pueblo bis zum amerikanischen Marvel-Comic

Leena Crasemann

Spiderman oder gar der Metapher des World Wide Web

Wäre das Dasein auf der Erde ohne Textilien

Überlegungen, wonach nicht nur Subjekte, sondern

reichen.2 Zumal vor dem Hintergrund aktueller

denkbar? Wie sähe ein solches Leben aus? Ein utopi-

ebenso Tiere, Objekte und Materie Eigendynamiken

sches Gedankenspiel, dessen reale Ausgestaltung nur

initiieren oder gar spezifische Formen von Handlungs-

schwer vorstellbar bleibt, denn das Textile ist überall:

macht ausagieren,3 sollen textile Rekonfigurationen

Ohne textile Gewebestrukturen könnten wir nicht

des Spinnennetzes im Zentrum stehen, um die intrinsi-

bauen, nicht wohnen, uns nicht kleiden. Seit jeher

sche Verbindung von menschengemachter Kulturtech-

beanspruchen Textilien und die damit verbundenen

nik, Naturphänomen und Material versus Form zu

kulturellen Techniken einen besonderen Stellenwert –

diskutieren.

von Stoffmanufakturen und Kleidungsbranche über Kunst und Architektur bis zu intelligenten Hightech-Textilien in der Industrie. Das Textile ist extrem wandelbar und vielgestaltig, was es dazu prädestiniert,

Osz i llat i onen t i erli cher und ha ndwerkli cher Text i lkünste

zwischen den Bereichen zu wandern. Es ist deshalb bezeichnend, dass das Textile auf eine jahrtausen-

Als Willy Petzold ein Plakat für die Textilausstel-

dealte Geschichte zurückblickt – insofern es schon

lung 1924 in Dresden entwirft (Abb. 1) und mit einem

immer Bestandteil handwerklicher, künstlerischer,

schwarzen, überdimensionalen Spinnenkörper wirbt,

sozialer und politischer Gestaltungszusammenhänge

verdichtet sich in dem visuell schlichten, inhaltlich aber

Textile Rekonfigurationen des Spinnennetzes

71

Arbeit“. Die Formensprache der Neuen Sachlichkeit und des Bauhauses aufgreifend, erfüllt das Plakat Petzolds zuallererst seinen wesentlichen Zweck, sprich: eine Veranstaltung zu bewerben, nicht ohne ästhetische Maßstäbe in der Gestaltungskonzeption des Bildformates ‚Plakat‘ zu schaffen, indem die reduzierte und gleichermaßen gehaltvolle Symbolik eine klare Aussage ins Bild setzt. Das schwarze Spinnentier, das sich vom hellen Hintergrund abhebt, erinnert aufgrund der gerasterten Formgebung an ein durch Kette und Schuss hergestelltes Gewebemuster, während der Körper des Tieres einer Webspule ähnelt.4 Die Spinne figuriert in Petzolds Plakat als Inbegriff von in der Natur vorkommenden ‚Textiltechniken‘ avant la lettre. In einem kondensierten Sinnbild wird damit auf das Verhältnis von Handwerk und Natur, von menschen­ gemachter Spinnerei und tierlichem Spinnenfaden, von industriellem Textilgewerbe und Naturvorbild, von ­abstrahiertem Muster und plakativem icon angespielt. Abb. 1: Willy Petzold, Plakat für Textil-Ausstellung, 1924, Litho­ grafie, 119,5 x 90 cm, Museum für Gestaltung, Zürich

Schon der Ovid’sche Mythos verbindet über das Motiv des Wettbewerbs zwischen der Göttin Athene und der Weberin Arachne die textile Produktion mit einem Spinnentier: Aus Neid auf die klare Überlegenheit Arachnes in der Handwerkskunst der Weberei

72

mehrdimensionalen Entwurf ein ganzer Themenkom-

wird diese von der erzürnten Göttin zur Strafe in eine

plex. Das Plakat zeigt vor hellem Hintergrund eine

Spinne verwandelt.5 In der Erzählung siegt mensch­

abstrahierte, schwarze Spinne in Aufsicht, die in ein

liche Kunstfertigkeit über göttliches Können und kann

geometrisches Raster gefügt und aus Vierecken

nur im tierlichen Körper als Naturwerk fortbestehen.

geformt ist. Die Umrisslinie weist keinerlei Rundungen

Wenn Petzold in seinem Plakatentwurf das Spinnen-

auf, vielmehr wird der eckige Spinnenkörper mitsamt

tier als zentrales Bildmotiv für eine groß angelegte,

den abgewinkelten acht Spinnenbeinen auf eine

national ausgerichtete Textilschau wählt, apostrophiert

kantige Grafik reduziert. Das untere Bilddrittel nimmt

er den Mythos und parallelisiert das textile Hand-

in roten Großbuchstaben das gedruckte Wort „TEXTIL“

werk in einer humorvollen Volte mit der konkurrenz­

mit dem in kleinerer Schrifttype gedruckten Wort

losen Kunstfertigkeit Arachnes – die letztlich dazu

„Ausstellung“ ein – hinzu kommen Ort- und Zeitan-

verdammt wird, als Spinnentier fortan ihr ‚Handwerk‘

gabe sowie die Rahmung als „Jahresschau Deutscher

zu verrichten.

Leena Crasemann

Mate r i al i sierte Formwerke zwi s c h e n Natur und Kunst

Doch wie steht es um das Verhältnis von Form und Material bezogen auf das Textile? Wie ist der genuine Materialcharakter des Textilen zu definieren?

Diesem Verhältnis widmet sich auch Denis

Und wo ‚beginnt‘ die Materialität des Textilen: Ist es

Diderot in seiner Enzyklopädie unter dem Eintrag

die Baumwolle oder das synthetische Nylongarn, ist es

„ouvrages“, also dem Lemma „Werke“, anhand eines

der gewebte Stoff oder das verarbeitete Textilstück?

Vergleiches von Kunstwerken mit „Produktionen der

Und wie grenzt sich dies zu anderen Materialien ab,

Natur“: „il ne feroit peut-être pas inutile de comparer

etwa zu Ton, Holz oder Stein? In der Theoriebildung

quelques-uns des ouvrages les plus fins & les plus

werden die verschiedenen textilen Techniken oft

exquis des nos arts, avec les productions de la nature

unabhängig voneinander untersucht, also Nähen oder

[...].“6 Entsprechend der damaligen Vorstellung von der

Sticken, Weben oder Spinnen.8 Sie beruhen auf

Höherwertigkeit der Naturdinge kommt das künstle-

unterschiedlichen Verwendungsweisen von Fäden:

risch gestaltete Werk nicht allzu gut davon: Zumindest

dem Kreuzen der Fäden beim Flechten und Weben;

durch ein Mikroskop betrachtet, so Diderot, scheine

dem Verschlingen von Schlaufen beim Nähen, Stricken,

ein Kunstwerk nichts als grobe Materie zu sein, in

Häkeln; dem Verknoten der Fäden beim Knüpfen und

unschöner Form, mit Rissen oder ungeraden Rändern.

bei Netzarbeiten. Zusätzliche Bearbeitungsschritte

Auch beschreibt er die von der Natur kreierten Erschei-

können Bemalen, Bedrucken, Besticken oder Applizie-

nungen und das, was man sieht, wenn man sie unter

ren sein. Die jeweiligen Operationen indizieren folglich

dem Mikroskop betrachtet – als ein Beispiel führt er

zumeist unterschiedliche Verarbeitungsschritte und

das Muster auf dem Rücken einer Spinne an. Im

korrespondieren häufig miteinander, vereinfacht

Gegensatz zu dem von Künstlerhand gefertigten Werk

gesagt: Ohne einen gesponnenen Faden keine Netz-

scheint aus der Perspektive Diderots das Naturwerk

herstellung und kein Weben, ohne ein gewebtes Stück

nur so vor Schönheit, Besonderheit und Präzision zu

Stoff kein Nähen oder Sticken. Diese schematische

strahlen. Ohne dies womöglich zu beabsichtigen, legt

Reduktion mag vereinfachend wirken, sie ist jedoch

der Autor dabei – bezogen auf Kunstwerke – einen

nicht folgenlos, wenn es um die Diskursivierung des

Werkbegriff zugrunde, der das Material in den Vorder-

Textilen und die Theoretisierung solcher Operationen

grund rückt und weniger dessen spezifisch ästhetische

geht.

Gestaltungsform. Diderot bemängelt die unschöne,

Ist die Geschichte der Kunst bis zur Moderne

rissige, holprige Materialität, zeichnet sie aber gleicher-

von einer „Materialsublimierung“ gekennzeichnet,9 so

maßen als essenzielles Charakteristikum des Kunstwer-

charakterisiert die modernistische Lesart in der

kes aus, und durch das Mikroskop werde der Blick frei

Tradition Clement Greenbergs Materialien als essenzi-

gegeben auf das, woraus das Kunstwerk gemacht ist. Es

alistische Substanzen. Demnach ist das Erreichen einer

ist ein anerkannter Gedanke der Kunsttheorie, dass das

reinen Form das höhere Ziel, in der das Material

Verhältnis von Form und Material, das In-die-Form-

aufgeht und sich fügt – wobei in einer solchen Kon-

Bringen des Materials, ein jedes Kunstwerk erst

zeptualisierung das Material immer etwas Anderes

generiert: „Das Werk findet dort seine Kontur, wo es

generiert.10 Dem Material, das lange Zeit weiblich

das verwendete Material in eine von dessen Kontinui-

konnotiert war, kam gegenüber der Form stets ein

tät unterschiedene Form bringt.“

niederer Stellenwert zu, wobei sich die Unterwerfung

7

Textile Rekonfigurationendes Spinnennetzes

73

des Materials unter die Form seit dem 20. Jahrhundert programmatisch umkehren sollte und es als eigenständige, die Form generierende Kraft auftrat. Im Bezugsfeld des Textilen steht zu fragen, ob die tradierte Lesart von Material versus Form bei textilbasierten Objekten überhaupt greift. Was wäre bei diesen die Form, was das ‚reine‘, unbearbeitete Material? Der Produktions- und Gestaltungsprozess von Textilien ist eine gleichermaßen Materialität konstituierende und Form generierende Operation: Das Material des Textilen entsteht eigentlich erst in und durch komplexe, zum Teil technisch unterstützte Formgebungsprozesse wie das Verspinnen der Rohstofffasern und das Verweben, Verknüpfen, Verschlingen zu einer Struktur – erst mit der Herstellung eines solchen haptischen Gewebes lässt sich von Textil sprechen. Vor dieser Folie muss die seit der Moderne vorherrschende kategoriale Aufteilung von Form und Material in Frage gestellt werden, da zumindest textilbasierte Objekte

Abb. 2: Julius Stinde, Kopf einer Kreuzspinne durch ein Mikroskop, ca. 1868–1870, Albuminpapier auf Karton, 8,3 x 8,1 cm, Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg

vielmehr als intrinsische Verbindung von Form und Material zu begreifen sind. Einmal mehr wird deutlich,

durch die starke, mikroskopische Vergrößerung zum

dass die historisch tradierte Dichotomie, die das Eine

einen transluzent wirkt und zum anderen als filigranes

(Material) dem Anderen (Form) entgegensetzt oder es

Gebilde aus einzelnen Segmenten, länglichen Ovalen

gar hierarchisch einander zuordnet, diskursiven

und Härchen vor Augen steht. Die in dieser Darstel-

Verschiebungen unterliegt und sich mit Blick auf das

lung von einem Spinnenkörper beinahe abstrahierte

Textile mehr denn je als instabil erweist.

Formation fügt sich auf der Fläche des fotografischen

Die Betrachtung von Materialvergrößerungen

Schwarzweißmuster – ganz im Sinne des Diderot’schen

Werkbegriffs und seiner Überlegungen zu Form und

Diktums von der formvollendeten Präzision des

Material. Rund hundert Jahre später, Ende der 1860er

Naturwerks, das durch die mikroskopische Vergröße-

Jahre, veröffentlicht Julius Stinde derlei Blicke durch

rung in besonderem Maße detailliert wahrnehmbar

das Mikroskop in Form von Mikrofotografien, um einem

wird.

Laienpublikum naturwissenschaftliche Bilder nahe zu

Das Verhältnis von Naturwerk und Kunstwerk

bringen. Diderot hätte womöglich seine Freude

beschäftigte etwas später auch den österreichischen

gehabt an der zu seiner Zeit noch nicht realisierbaren

Kunsthistoriker Alois Riegl, als er seine Idee des

fotografischen Technik: Eine Aufnahme aus Stindes

‚Kunstwollens‘ entwickelte, das in die Kunstgeschichte

Publikation zeigt in rundem Ausschnitt vor hellem

als viel diskutierter Terminus eingehen sollte.12 Riegl

Hintergrund den Kopf einer Kreuzspinne (Abb. 2), der

bezeichnet die künstlerische Produktion im Allgemei-

11

74

Abzugs zu einem raffinierten, symmetrischen

nimmt Diderot zum Ausgang für die Diskussion seines

Leena Crasemann

nen als einen „ästhetischen Drang“, dessen Motivator

runden Formgebung alludiert diese Handarbeit ein

von Seiten der Künstler zuallererst darin bestehe, „die

Spinnennetz, sodass Topoi von tierlicher Netzkonst-

Naturdinge in einer bestimmten Art und Weise, unter

ruktion und menschlicher Kulturtechnik auf der

einseitiger Steigerung der einen, Unterdrückung der

Gestaltungsebene in eins geblendet werden. Einerseits

anderen Merkmale wiederzugeben“; wobei sich dieser

eine sorgfältig modulierte Handarbeit, die andererseits

ästhetische Drang gleichermaßen in der Rezeption

jedoch in den symmetrischen Formelementen wieder-

spiegele, wenn es darum gehe, „die Naturdinge in eben

holt kleine Abweichungen aufweist, wenn etwa das

dieser Art und Weise [...] wiedergegeben zu schauen.“13

Muster des äußeren Randes je unterschiedlich große

Produktion und Rezeption sind also nach Riegl in der

Schlaufen bildet und die sich überkreuzenden und

ästhetisch überformten und verarbeiteten Wiedergabe

verknoteten Fäden nie vollständig akkurat sitzen. Die

der Natur aufs Engste miteinander verzahnt.

Beziehung von optischen und haptischen Parametern, die auch Riegl als interdependent beschrieb, zeigt sich

Texti l e Netzformationen u m  1 9 0 0

in besonderem Maße an den mit bloßem Auge erkennbaren Ungleichmäßigkeiten – wie erst sähen die verarbeiteten Fäden durch ein Mikroskop aus? – und charakterisiert dergestalt die Spezifik dieser textilen

Die bei Diderot benannte Materialität des von

Materialität: das aus gebleichten Naturfasern verspon-

Menschenhand hergestellten Kunstwerks und der bei

nene Garn, das im Prozess des Klöppelns in Schlaufen

Riegl als künstlerische Wiedergabe der Naturdinge

übereinander gelegt, verknotet, geflochten, gedreht und

beschriebene Prozess lassen sich im Vergleich zum

miteinander verkettet wurde, sodass minimale holprige

mikrofotografischen Spinnenkopf von Stinde in den

Unebenheiten, wie sie Diderot in seinem Text noch

textilen Handarbeiten etwa eines Dagobert Peche

abwertend benannte, wesentlicher Bestandteil des

genauer betrachten: Während seiner Tätigkeit an der

textilen, von Hand gearbeiteten Spitzen-Netzes sind.

Wiener Werkstätte zeichnete Peche nicht nur für

Dass Peche, wie im Kreis der Wiener Werkstätte

diverse Musterentwürfe verantwortlich, die auf

üblich, am visuellen und formalen Transfer von

Tapeten gedruckt, in Gewebe umgesetzt, zu Kerami-

Naturphänomenen in das Dekorative und Ornamen-

ken geformt oder als Goldschmiedearbeiten verarbei-

tale interessiert war,14 und auch ein Spinnennetz als

tet wurden, sondern auch in die Gestaltung geklöppel-

unmittelbares Vorbild für ein Stoffmuster wählte,

ter Spitzendecken Eingang fanden, die allerdings

verdeutlicht sein Entwurf Spinne, der aus den Jahren

häufig von Textilarbeiterinnen handwerklich realisiert

1911 bis 1917 datiert (Abb. 4). Nicht in die Struktur

wurden. Die 20 Zentimeter messende kreisförmige

von Kette und Schuss lagert sich hier das Muster ein,

Spitzenarbeit (Abb. 3) zeigt in einer runden Einrah-

es wurde – in verschiedenen Farbvarianten erhältlich –

mung aus vier Kompartimenten vor einem großen

auf das Gewebe gedruckt, sodass sich eine helle,

Maschennetz eine fein herausgearbeitete weibliche

rhythmisch über den Stoff mäandernde Zickzackfor-

Figur mit kurzem Rock, die von Blättern umrankt ist.

mation ergibt, die keinen klaren Anfang und kein Ende

Die aus hellem Garn gewirkte Spitze stellt eine textile

aufweist und durch feine Verstrebungen verbunden

Netzformation dar. Zumindest aufgrund der grobma-

ist. Die inhaltliche Allusion auf ein Spinnennetz wäre

schigen Ausarbeitung der netzartigen Spitze und ihrer

allerdings ohne die Betitelung nur zu erahnen.

Textile Rekonfigurationendes Spinnennetzes

75

Abb. 3: Dagobert Peche, Klöppelmotiv Frühling, 1928, Spitzeneinsatz rund, Garn, ca. 20 x 21 cm, nicht erhalten

Abb. 4: Dagobert Peche, Spinne, 1911–17, Stoffmusterprobe gewebt, bedruckt, Seide, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien

76

Leena Crasemann

Ein früheres Stoffmuster hingegen, aus dem Jahre 1898, dessen Ausführung auf Liberty Art Fabrics zurückgeht und unter dem Begriff Honeysuckle in der Sammlung des MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, als Stoffprobe geführt wird, setzt Spinnennetze prominent in Szene (Abb. 5). Der Hintergrund ist in Weiß gehalten und mit goldgelben Geißblattranken durchzogen, die sich in fortsetzenden Rundungen in Querverläufen über die Stoffbahn ziehen. Die ausgesparten Flächen zwischen den abstrahierten Geißblattblüten sind übersät mit Spinnennetzen, sodass die blühende Kletterpflanze und das Spinnennetz einen dekorativen

Abb. 5: Dekorstoff Honeysuckle, 1898, Ausführung Liberty Art Fabrics, England, Seide, gewebt, 133 x 56,5 cm, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien

Verbund eingehen. Wie William Morris, Vertreter des Arts and Crafts Movement, nur fünf Jahre zuvor schrieb, sei es eine wesentliche Notwendigkeit aller

Farbigkeit wiedergegeben ist. Die gelb-weiße Tonalität

Musterentwürfe, die geometrische Struktur herauszu-

des Stoffmusters entspricht annähernd der Farbigkeit

arbeiten. Demnach gelte es, „bedeutungslose

der weiß-gelben Blüten des Gartengeißblattes (Jelän-

Streifen und Punkte“ zu vermeiden und hingegen die

gerjelieber), während die sich in Wellenbewegungen

„Vorschläge“ natürlicher Formen als Gestaltung der

fortsetzende Ornamentik dem Wachstum der hochwu-

Ornamente heranzuziehen: „The meaningless stripes

chernden Kletterpflanze ähnelt und die zwischen den

and spots [...] should be carefully avoided: all these

Blättern gebauten Netze als sinnstiftende Ergänzung

things are the last resource of a jaded invention and a

im Verbund von Tier und natürlicher Umwelt erschei-

contempt of the simple and fresh beauty that comes

nen.

15

of a sympathetic suggestion of natural forms: if the pattern be vigorously and firmly drawn with a true feeling for the beauty of line and silhouette, the play of light and shade on the material of the simple twill will

Materi a lwollen: What do t hrea ds wa nt ?

give all the necessary variety.“16 Das Jaquardgewebe Honeysuckle vermag in

In den genannten Arbeiten figuriert das Verhält-

diesem Sinne als adäquates Beispiel zu figurieren,

nis von textiler Materialität, gestalterischer Formge-

insofern es ohne jegliche Streifen oder Punkte die

bung und inhaltlicher Aufladung mit Naturbezug als

Natur zum Vorbild nimmt und eine abgestimmte

Knotenpunkt, an dem sich die Eigendynamik des

Komposition der Linie als Spiel aus Licht und Schatten

Textilen exemplarisch akkumuliert. Der Riegl’sche

auf dem Gewebe entwirft. Der Seidenstoff zeigt dabei

Begriff des ‚Kunstwollens‘ wurde von Erwin Panofsky

den für die Bindungsart typischen Negativ-/Positiv-

als ein Terminus beschrieben, der die „Summe oder

Effekt der Musterung auf Vorder- und Rückseite des

Einheit der [im Kunstwerk] zum Ausdruck gelangen-

Stoffes, sodass die Stoffunterseite in konträrer

den, es formal wie inhaltlich von innen heraus organi-

Textile Rekonfigurationendes Spinnennetzes

77

sierenden schöpferischen Kräfte bezeichnen sollte“,

porös werden, reißen. Damit ist die Notwendigkeit

womit er auch die Problematik benennt, mit diesem

gegeben, immer auch die Umkehrbewegung textiler

nicht allein das „Willensmäßige“ oder das Intentionale

Herstellungs- und Verarbeitungsprozesse zu denken.

zu verknüpfen, sondern den Begriff auf „künstlerische Gesamterscheinungen“ zu beziehen.17 Was hieße es nun in Erweiterung des Riegl’schen Begriffs, das Wollen vom Material aus zu denken, das

Cri t i ca l Unm a ki ng und di e Potenz i a li t ät des Verä nderli c h e n

Wollen von der Seite des Textilen zu denken – gewissermaßen als ein textiles ‚Materialwollen‘? Wenn Riegl von „ästhetischem Drang“ schreibt, so lässt er bewusst

wartskünstlerin Kaoru Hirano, die sich mit dem

offen, was diesen Drang determiniere – die Technik,

Auftrennen von alten Textilstücken beschäftigt. Als

der Rohstoff, der Wille zur Form oder die Spezifik des

mehrwöchige ortsspezifische Performance angelegt,

Materials.18 Vor diesem Hintergrund gilt es, textile

trennt Hirano in stundenlanger, mühsamer Arbeit vor

Materialitäten nicht länger als passive Stoffe zu

Ort im Ausstellungsraum von Hand alte Kleidungsstü-

verstehen, die Formgebungsprozessen unterliegen,

cke und textile Objekte auf: Unterhose, Abendkleid,

denn für ein Denken textiler Materialität ist es zielfüh-

Bluse, Gürtel, Stoffschuh, Tischdecke, Schirm oder

rend, sich – wie bereits angedeutet – ‚dem Material‘

Flagge. Das Ergebnis ist ein über die ursprünglichen

jenseits bisheriger Materialtheorien zuzuwenden.

Maße hinausgehendes, fragiles Gebilde aus dünnen

Insofern das Material nie nur ein bloßes Mittel ist, beim

Fäden, das nur noch als zarte, ephemere Spur auf den

Textilen aber weniger denn je, möchte ich im Nachden-

vorherigen Gegenstand verweist und als Netzgebilde

ken über Textilien die Idee eines ‚Material­wollens‘ in

den Raum annektiert.

Anschlag bringen als eine zeitgenössische Erweiterung

Dabei berühren ihre Arbeiten die politische

von Riegls Terminus technicus. So wären textile

Dimension des Textilen. Das Textile wurde über

Materialien nicht länger als unbewegte ‚Stoffe‘ zu

Jahrhunderte hinweg als ‚das Andere‘ markiert, was die

verstehen, die Formgebungsprozessen unterliegen.

geschlechtliche Zuordnung betrifft. Die Sphäre des

Über die Idee des Materialwollens können die Eigen-

Privaten und die dort verrichteten, an den Haushalt

ständigkeiten und spezifischen Dynamiken des Textilen

gebunden Handwerkstätigkeiten wurden mit dem

in den Diskurs eingeholt werden. Einerseits verfügen

Prinzip des Weiblichen in eins geblendet.19 Und auch

Textilien über enorme Anpassungsfähigkeiten – sie sind

die materialen Eigenschaften des Textilen – Formbar-

weich, dehnbar, biegsam, reißfest – und haben eine

keit, Elastizität, Saugfähigkeit oder Vergänglichkeit –

hohe Aufnahmefähigkeit gegenüber äußerlichen

waren weiblich konnotiert und wurden zu traditionell

Einwirkungen, etwa Hitze, Kälte, Feuchtigkeit, Trocken-

männlich kodierten Materialien (wie Stein oder Bronze)

heit oder Licht. Sie können abgrenzend wirken, wenn

abgegrenzt.20 Hiranos wochenlanges, mühevolles

sie vor Luftströmen oder Witterungsbedingungen

Auftrennen im geschützten Innenraum der Ausstel-

abschirmen, vermögen als Membran die jeweiligen

lungsorte nimmt hierauf Bezug.

Außeneinwirkungen aber auch auf reduzierte Weise

78

Diesen Bereich erforscht die japanische Gegen-

Die von der Struktur an feine Netze oder gar

durchzulassen. Jenseits davon generieren sie destruk-

Spinnennetze erinnernden Überbleibsel werden in den

tive Effekte: Textilien können Fäden ziehen, aufdröseln,

Raum gehängt und können diesen je nach Größe im

Leena Crasemann

Abb. 6: Kaoru Hirano, Untitled (panties), 2009, Installation im öffentlichen Stadtraum im Rahmen der Ausstellung Exploring inside the Ship!, 2009, Yoshijima, Hiroshima

Laufe des performativen Prozesses mehr und mehr

hinsichtlich Maße, Haptik und Visualität in keinerlei

einnehmen. Untitled (panties) von 2009 ist, wie der

Ähnlichkeitsbeziehung, aber in einem unmittelbaren

Titel vermuten lässt, der textile Rest einer sorgsam

materialen Kontinuum zu dem ehemaligen Objekt

aufgetrennten Unterhose, auf deren pinkfarbenem,

steht. Der Verschlingung und Verknotung der diversen

erhaltenem Bündchen die üblichen aufgedruckten

Fäden zu einem geometrischen Netz muss ein exaktes

Angaben zu Materialzusammensetzung, Pflegehinwei-

Studium vorausgehen, um die Eigenlogik des jeweili-

sen und Produktionsort („Made in Malaysia“) zu lesen

gen textilen Gebildes zu verstehen und herstellen zu

sind, wobei das Bündchen als Einrahmung für ein

können: Wie reagiert der jeweilige Faden auf Zug?

filigranes ‚Spinnennetz‘ dient (Abb. 6).

Unter welchen Einwirkungen verändert ein bereits

Der ehemalige textile Gebrauchsgegenstand

bestehendes Fadengewebe seine Oberflächenspan-

verkommt im Akt des Auftrennens nicht zu einem

nung? Der Entwurfs- und der Herstellungsprozess ist

materialen Rest. Er generiert über die Hilfeleistung der

hier also maßgeblich von der Reaktion und Aktion der

Künstlerin eine umfassende neue Plastizität, die

materialen Komponenten abhängig.

Textile Rekonfigurationendes Spinnennetzes

79

Dem vorangehenden tagelangen Akt des

Materialwissen aufgespürt. Hirano erforscht so auf

tungsdimensionen eingeschrieben: Auf formaler Ebene

künstlerisch-kreative Weise das konkrete Objekt.21 Ihr

wird das Kleidungsstück oder der textile Gegenstand

critical un-making kann als Zusammenführung von kriti-

in seiner Materialität beleuchtet – nämlich als ein

schem Denken und materialbasiertem Machen gelesen

hochkomplexes Zusammenspiel von unzähligen Fäden.

werden. Wesentlich ist dabei, dass die unzähligen

Ferner wird der Herstellungsprozess reflektiert und die

Fäden beim Auftrennen allerdings mitnichten nur der

eigentliche Arbeit, die sich während der Fabrikation

Einwirkung von Hiranos Händen folgen, sondern auch

jedem Gegenstand notwendig einschreibt, um von

der dynamischen Eigenlogik des Materials und des

Hirano unter vergleichbaren Mühen rückgängig

prozessual entstehenden, nach und nach immer größer

gemacht und in einer Umkehrbewegung gewisserma-

werdenden beweglichen Fadennetzes.

ßen nachvollzogen zu werden. Und letztlich geht es

80

Im Akt des Auftrennens wird das implizite

Auftrennens von Hirano sind verschiedene Bedeu-

Die Produktion von Textilien sowie das Nach-

um das Individuum, in dessen Besitz das textile Objekt

denken über sie (das heißt die textilen Praktiken und

sich vormals befand, denn die aufgetrennten feinen

Diskurse) sind stets eingebunden in ein Set aus

Fadengebilde tragen ihre eigene Geschichte in sich. Sie

technischem Wissen, praktikabler Handhabung und

verweisen auf ihren ehemaligen Gebrauchskontext,

ästhetischen Anliegen. Diese Aspekte entscheiden

etwa wenn eine aufgetrennte Bluse mit dem Hinweis

immer mit, was das Textile überhaupt ist, wie es

im Titel „Berlin family / daughter“ versehen wird.

verwendet und bewertet wird. Das bedeutet natürlich

Damit ruft Hirano in Erinnerung, dass Kleidungsstücke

nicht, dass Position und Definition des Textilen fixiert

häufig mit der Identität ihrer Träger in Verbindung

ist. Im Gegenteil: In Analogie zu seinen weichen,

standen, nicht zuletzt da sie den Körper einmal berühr-

formbaren, flexiblen Materialien und seinen multi-

ten – vormaliges Kleidungsstück, aufgetrenntes Faden-

plen Bedeutungen verschiebt sich das Textile konti-

gebilde und abwesender Körper werden bei Hirano so

nuierlich – weshalb es notwendig ist, immer wieder

in ein indexikalisches Verweisverhältnis zueinander

über dessen je spezifische Rekonfigurationen nach­

gesetzt.

zudenken.

Leena Crasemann

1

An m e r k u ngen

7

Tristan Weddigen (Hg.): Unfolding the Textile Medium in Early

mer 2003, S. 390–395.

Wolf Löhr: Werk/Werkbegriff, in: Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler

Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart/Wei-

Modern Art and Literature, Emsdetten/Berlin 2011. In der Kunstge-

8

schichte liegen die Schwerpunkte der Textilforschung bisher vorrangig

Making of the Feminine, New York 1989; Birgit Schneider: Textiles

auf früheren Jahrhunderten sowie auf der Bildhaftigkeit des Textilen.

Prozessieren. Eine Mediengeschichte der Lochkartenweberei, Zürich/

Vgl. Kathryn M. Rudy (Hg.): Weaving, Veiling, and Dressing. Textiles and

Berlin 2007; Matilda Felix: Nadelstiche. Sticken in der Kunst der Ge-

their Metaphors in the Late Middle Ages, Turnhout 2007; André Holen-

genwart, Bielefeld 2010.

Vgl. Rozsika Parker: The Subversive Stich. Embroidery and the

stein u. a. (Hg.): Zweite Haut. Zur Kulturgeschichte der Kleidung. Refe-

9

rate einer Vorlesungsreihe des Collegium generale der Universität Bern

bel (Hg.): Material in Kunst und Alltag, Berlin 2002, S. VII–IX, hier S. IX.

Vgl. Monika Wagner: Eine Einleitung, in: dies. und Dietmar Rü-

im Herbstsemester 2007, Bern u.  a. 2010; Mateusz Kapustka und

10

Warren T. Woodfin (Hg.): Clothing the Sacred. Medieval Textiles as Fa-

in: dies. (Hg.): Materiality (Series: Documents of Contemporary Art,

bric, Form, and Metaphor, Emsdetten/Berlin 2015. Dies ändert sich

Whitechapel Gallery London), Cambridge 2015, S. 12–23.

Vgl. Petra Lange-Berndt: How to Be Complicit with Materials,

zunehmend, auch über die Ausstellungspraxis der Museen. Vgl. Nadine

11

Monem (Hg.): Contemporary Textiles. The Fabric of Fine Art, London

zen aus der kleinen Welt, Hamburg 1870.

Vgl. Julius Stinde: Blicke durch das Mikroskop. Bilder und Skiz-

2008; Tristan Weddigen (Hg.): Metatextile: Identity and History of a

12

Contemporary Art Medium, Emsdetten/Berlin 2010; Kunst und Textil.

S. 8 f. sowie Kapitel V. Siehe zudem Sabeth Buchmann und Rike Frank

Stoff als Material und Idee in der Moderne von Klimt bis heute, hg. v.

(Hg.): Textile Theorien der Moderne. Alois Riegl in der Kunstkritik, Ber-

Markus Brüderlin, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Wolfsburg, Wolfsburg,

lin 2015.

Vgl. Alois Riegl: Spätrömische Kunstindustrie, Wien 1927, inbes.

Ostfildern 2013; Textiles – Open Letter, hg. v. Rike Frank und Grant

13

Watson, Ausst.-Kat. Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach

Aufsätze, Augsburg/Wien 1929, S. 51–64, hier S. 60. Vgl. zudem An-

2013, Berlin 2015.

drea Reichenberger: „Kunstwollen“. Riegls Plädoyer für die Freiheit der

2

Kunst, in: kritische berichte, Bd. 1, 2003, S. 69–85.

Vgl. Bernd Rieken: Arachne und ihre Schwestern: Eine Motivge-

Alois Riegl: Naturwerk und Kunstwerk I, in: ders.: Gesammelte

schichte der Spinne von den „Naturvölkermärchen“ bis zu den „Urban

14

Legends“, Münster u.  a. 2003; Stefan Giessmann: Netze und Netz-

und seine Tapeten, in: Die Überwindung der Utilität. Dagobert Peche

werke. Archäologie einer Kulturtechnik, 1740–1840, Bielefeld 2006;

und die Wiener Werkstätte, hg. v. Peter Noever, Ausst.-Kat. MAK  –

Julia Gelshorn und Tristan Weddigen: Das Netzwerk. Zu einem Denk-

Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst,

bild in Kunst und Wissenschaft, in: Hubert Locher und Peter J. Schnee-

Wien, Ostfildern 1998, S. 117–128.

Angela Völker: Muster und Farben. Peches textiles Gestalten

mann (Hg.): Grammatik der Kunstgeschichte. Sprachproblem und Re-

15

gelwerk im „Bild-Diskurs“. Oskar Bätschmann zum 65. Geburtstag,

Members of the Arts and Crafts Exhibition Society, London 1893,

Zürich 2008, S. 54–77; Stefan Laube: Tückische Transparenz. Überle-

S. 22–39, hier S. 29, https://en.wikisource.org/wiki/Arts_and_Crafts_

gungen vor und hinter dem Netz, in: Zeitschrift für Ideengeschichte,

Essays/Textiles [Abruf: 10.1. 2019].

William Morris: Textiles, in: ders. (Hg.): Arts and Crafts Essays by

Anette Hüsch, Ausst.-Kat. Kunsthalle zu Kiel, Kiel, Berlin/Bielefeld

16 17

2014; Sylvie Ballestra-Puech: Spider, in: Annika Reineke u. a. (Hg.): Tex-

gen der Kunstwissenschaft, hg. v. Hariolf Oberer und Egon Verheyen,

tile Terms: A Glossary (Textile Studies, 0), Emsdetten/Berlin 2017,

Berlin 1998, S. 29–43, hier S. 30.

Bd. 7, 2013, H. 4, S. 19–40; Netz – Vom Spinnen in der Kunst, hg. v.

S. 239–242.

3

Vgl. Rosi Braidotti: Die Materie des Posthumanen. Kontexte und

18 19

Ebd., S. 28. Hervorhebungen im Original. Erwin Panofsky: Kunstwollen, in: ders.: Aufsätze zu Grundfra-

Riegl 1929 (wie Anm. 13), S. 60. Vgl. Parker 1989 (wie Anm. 8). Cordula Bischoff und Christina

Ausblicke des neuen Materialismus, in: Springerin, 2016, H. 1, S. 16–

Threuter (Hg.): Um-Ordnung. Angewandte Künste und Geschlecht in

21; Karen Barad: Posthumanist Performativity: Toward an Understan-

der Moderne, Marburg 1999; Elissa Auther: String, Felt, Threat. The

ding of How Matter Comes to Matter, in: Signs, Bd. 28, 2003, H. 3,

Hierarchy of Art and Craft in American Art, London 2010, hier S. 21–24

S. 801–831.

und S. 93–102.

4

Vgl. Plakatkunst von Toulouse-Lautrec bis Benetton, hg. v. Jür-

20

Vgl. Dietmar Rübel, Monika Wagner und Vera Wolff (Hg.): Mate-

gen Döring, Ausst.-Kat. Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg,

rialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, Berlin

Heidelberg 1994, S. 110.

2005, hier S. 298–300, sowie die im Kapitel „Material und Geschlecht“

5

zitierten historischen Quellen, S. 301–321.

Publius Ovidius Naso: Metamorphosen, hg. v. Erich Rösch, Ber-

lin 2014, S. 197–205.

21

6

tischen Denkens, Zürich/Berlin 2012.

Alle Zitate aus: Denis Diderot: Ouvrages de l’art & de la nature,

Vgl. Elke Bippus (Hg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhe-

in: ders.: Encyclopédie, Ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, Des Arts et Des Métiers, Band Org–Pau, [Neufchatel] Paris 1780, S. 209–211.

Textile Rekonfigurationendes Spinnennetzes

81

T EC HNI K, EX P ERIM ENT, AB S TRAK TI ON / T EC HNO LO GY, EX PERI ME N T, AB S TR ACTI ON

Künstler_innen sowie der späteren Kunstgeschichtsschreibung fehlt der Künstlerin Adriana van Rees-Dutilh bis heute Sichtbarkeit im Diskurs um die Moderne. Ein Ausschluss, der bereits bei den Möglichkeiten zur künstlerischen Ausbildung von Van Rees-Dutilh anzusetzen ist.

In die Moderne gestochen: Adriana C. van Rees-Dutilh und die Stickerei als Kunst

St i ckerei   – ei ne ‚wei bli che‘ und ‚ni edere‘ Kunst ? Die Zugangsbeschränkungen an Akademien für Frauen machten es für Adriana van Rees-Dutilh notwendig, auf alternative künstlerische Bildungswege zurückzugreifen. Die finanzielle Sicherheit und soziale Herkunft als Tochter einer wohlhabenden Familie, die

Diana Anna Schuster

mit Flachs handelte,3 sind als Privilegien und Voraussetzung für die kostspielige Ausbildung anzusehen.

Im November 1915 eröffnete die Ausstellung

Von 1886 bis 1890 nahm sie in Den Haag privaten

Moderne Wandteppiche, Stickereien, Malereien, Zeich-

Zeichenunterricht bei Barbara E. van Houten. Der

nungen in der Züricher Galerie Tanner. Die kunsthisto-

Zeichenunterricht gehörte im bürgerlichen Verständnis

rische Forschung zitiert diese als protodadaistische

zu der Ausbildung der Töchter bis zum heiratsfähigen

Ausstellung, und auch Tristan Tzara verortete dort

Alter, um den gesellschaftlichen Status des Ehemanns

retrospektiv den Beginn von Dada. Laut Tzara stellten

ordnungsgemäß repräsentieren zu können.4

Hans Arp, Otto van Rees und Adriana, kurz Adya, van

Auch das Sticken lernte Van Rees-Dutilh unter

Rees-Dutilh Werke aus, die „ni art ni peinture“ gewe­

dieser Prämisse, wie die Rückgriffe auf traditionelle

sen seien.1 Er betonte das Abwenden von der Malerei

Sticktechniken ihrer später entstehenden Kunstwerke

bei gleichzeitiger Öffnung für neue Materialien – dar-

vermuten lassen. Die Verknüpfung der Stickerei mit

unter Textil und Papier. Weiter versuchte er, mit der

Weiblichkeit ist konstruiert. Im Laufe der Jahrhunderte

Beschreibung von „monde de cristalsimplicitemetal“

verschob sich zum einen die Wertung von Stickerei als

und „transparenceligneprécision“ die neuartige

Gattung und zum anderen deren geschlechterspezifi-

Formensprache der Abstraktion an der Grenze zur

sche Verortung.5 Bis in die Moderne gehörte Stickerei

Gegenstandslosigkeit zu fassen. Erwähnt die Kunstge-

zur Aus­bildung privilegierter Frauen beziehungsweise

schichtsschreibung Van Rees-Dutilh im Kontext des

zur allgemeinen bürgerlichen Frauenbildung mit dem

Züricher Dada, scheint dies meist einherzugehen mit

Ziel, Geduld sowie (Ge-)Schicklichkeit einzuüben. Die

einer Unsicherheit, sich ihrem Werk über die namentli-

stereotype Weiblichkeitsvorstellung einer auf den

che Nennung hinaus zu widmen. Trotz der zentralen

Mann wartenden, sich im privaten Raum bewegenden

Bedeutung der Ausstellung für die zeitgenössischen

Frau ist demnach eng mit dem Sticken verknüpft. Auch

2

In die Moderne gestochen: Adriana C. van Rees-Dutilh und die Stickerei als Kunst

85

in der Moderne behielt diese Konnotation ihre

Kritik der Vorwand bestehen, dies sei immer schon

Aktualität: Stickerei als eine im Privaten, Häuslichen,

ihre geschlechtsspezifische Beschäftigung gewesen.“8

Familiären – sprich weiblich konnotierten Raum – aus-

Besteht die Idee der Grenzüberschreitung als konstitu-

geübte Tätigkeit, die zum Zeitvertreib und zur Dekora-

ierendes Element der Moderne, ist die differenzierte

tion diente.

Bewertung von Künstlerinnen gegenüber Künstlern

Diesen Einschreibungen der Stickerei zu Trotze

mitzudenken. Sicherlich öffneten, wie Rozsika Parker

griffen Künstler_innen Anfang des 20. Jahrhunderts

anmerkt, die Bewegungen um Dada, Surrealismus und

auf das Medium Textil zurück. Zeitgeschichtlich ist

Konstruktivismus mit dem Sprengen von Gattungs-

zudem über eine Öffnung zu neuen Materialien zu

grenzen und -hierarchien den Raum für das Textile in

reflektieren. Als Alternative zur obsolet empfundenen

der Kunst.9 Gleichzeitig zu dieser vermeintlichen

Malerei, die Wert und Hierarchie bereits implizierte,

Konkurrenz von Stickerei und Malerei sind Gemein-

eigneten sich Künstler_innen schließlich auch die

samkeiten auszumachen, da die besprochenen

Stickerei als künstlerisches Medium an. Retrospektiv

Arbeiten zwischen Stickerei und Malerei schließlich zu

hob Hans Arp die Überwindung der Malerei als Erfolg

oszillieren scheinen.

der Ausstellung in der Galerie Tanner hervor: „Das Wesentliche aber an dieser Ausstellung war, daß Künstler, der Ölmalerei überdrüssig geworden, nach neuen Materialien suchten.“ Die Wahl der Stickerei 6

Bi lda nla ge: Cha ng i eren z w i s c h e n Gem ä lde und St i ckerei

gegenüber einem Wandteppich erscheint insofern konsequenter, da besonders Stickereien von dem

86

Adriana van Rees-Dutilh arbeitete mit dem

Stigma der Gattungshierarchie und Konstruktionen

Effekt einer Täuschung: Vermutet die_der Betrachter_

von Weiblichkeit betroffen sind, während Wandteppi-

in auf den ersten Blick ein Gemälde, stellt sich Sanduhr

che durch ihre kunsthistorische Tradition weniger

(Abb. 1) aus dem Jahr 1914 beim Herantreten als

dieser Zuschreibung unterliegen.7 Die Suche nach

Stickerei heraus. Im Format imitiert das Werk ein

neuen Ausdrucksmitteln abseits der Malerei öffnete

klassisches Tafelbild. Zudem ist die Arbeit mit Signatur

den Raum für die Verknüpfung mit der Alltagskultur

und Datierung (Abb. 2) sowie einer Art Rahmen

und den dort zu findenden Materialien. Die Liaison mit

versehen, sodass die Künstlerin die Stickerei von dem

der angewandten Kunst, das heißt Überschreitung von

Status des Kunsthandwerks oder Gebrauchsgegen-

Gattungsgrenzen und Erweiterung des Materialreper-

stands befreit, die somit keine Tischdecke, Kleidungs-

toires, galt bei den männlichen Künstlern überwiegend

stück oder Kissenbezug sein kann. Darüber hinaus

als avantgardistische Aktion. Der Bruch mit etablierten

erinnern die parallellaufenden Seidenfäden in ihrer

Grenzen ist nachweisbar männlich konnotiert. Sigrid

Abfolge sowie die glänzende Beschaffenheit an die

Schade und Silke Wenk weisen in diesem Zusammen-

Oberfläche eines Ölgemäldes mit pastosem Farbauf-

hang auf Folgendes hin: „Als Regelverletzungen lassen

trag. Die einzelnen Fäden sind erst bei näherer

sich die Grenzüberschreitungen in die Vorstellung

Betrachtung zu erkennen. Mit dieser Täuschung

männlicher Künstlerschaft integrieren. Für Frauen gilt

unterläuft die Künstlerin die traditionellen Gattungs­

diese Möglichkeit keineswegs, bei ihren Auseinander-

hierarchien, die Stickerei als angewandte, niedrige,

setzungen mit den ‚niederen‘ Künsten bleibt für die

dekorative, reproduzierende Kunst gegenüber der

Diana Anna Schuster

Malerei, Skulptur und Architektur abwertete.10 Sanduhr

eine Kunst und darf beanspruchen, als solche behan-

war demnach nie als anonyme, handwerkliche Repro-

delt zu werden […].“14 Van Rees-Dutilh und Höch sind

duktion konzipiert.

zwei Künstlerinnen, die sich nicht nur in der Wahl der

Gelten Signatur und Datierung als Elemente der

Stickerei als künstlerisches Ausdrucksmittel, sondern

Malerei, findet sich das Markieren von Autor_innen-

auch in der Verbindung zum Dada verwandt sind.

schaft bereits in der Geschichte der Stickerei durch

Höch spricht in Vom Sticken einen Appell an die

eingestickte Initialen oder vollständige Namen. Bibiana

Stickenden aus, sich dem Potenzial der Stickerei als

K. Obler argumentiert, dass stickende Frauen als

künstlerischer Technik bewusst zu werden, diese als

Gesamtphänomen zwar anonym blieben, sie allerdings

Kunst zu reklamieren und sich von „Ver‚un‘zierungen“

innerhalb ihres Umfeldes durch eingestickte Namen

abzuheben.15

oder Kürzel ihre Autorinnenschaft und somit ihr (handwerkliches) Können offenlegten.11 Sophie Taeuber-Arp erstellte neben den als Wandbilder ausgewiesenen auch objektbezogene Stickereien –

Di e St i cha bfolge a ls Dukt usa na log i e?

­darunter beispielsweise Trockentücher, Kissenbezüge oder Handtaschen, die sie jeweils mit ihrem Kürzel

Anders als der Platt- oder Spannstich, den

oder vollständigen Namen versah. In dem subtilen

Adriana van Rees-Dutilh verwendete, ist der Kreuz-

Einarbeiten ihres Kürzels „SHT“ in ihre textilen

stich in der Stichabfolge standardisiert. Besonders

Arbeiten sieht Medea Hoch das Auflehnen „gegen die

deutlich wird diese strenge Normierung am Beispiel

traditionelle Hierarchie von meist anonymer ‚repro-

der 1916/17 vermutlich kollaborativ entstandenen

duktiver handwerklicher‘ Kreativität und ‚genialer

Stickerei ohne Titel von Hans Arp und Sophie Taeu-

freier‘ Kunst“12. Dabei ist bemerkenswert, dass zwar

ber-Arp (Abb. 3). Dem Geweberaster unterliegend

einerseits Künstlerinnen wie Sophie Taeuber-Arp, Adri-

wurden kleine x-förmige Fadenverläufe eingestickt.

ana van Rees-Dutilh und Alice Bailly das Signieren ihrer

Auf der jeweils quadratischen Grundfläche einer

textilen Arbeiten als notwendig erachteten, anderer-

einzelnen Stichabfolge kreuzen sich demnach zwei

seits aber wurde von anderen Künstler_innen zeit-

jeweils von einer diagonal in die andere Ecke laufende

gleich die Signatur und das Ausweisen von Autor_­

Fäden. Die Verknüpfung von Muster und Gewebe

innenschaft in der Malerei als obsolet angesehen.13

führt zu einer nüchternen, in der Produktion kontem-

Die Signatur bekäme in diesem Fall weniger die

plativen Gleichmäßigkeit und Rhythmisierung. So

Funktion der Ausweisung eines authentischen

scheint die Abstraktion oder Gegenstandlosigkeit für

­Originals, sondern eher die Funktion eines imitieren-

die Technik der Stickerei immanent, denn das Gewebe

den Elements klassischer Kunst­werke zugesprochen.

mit vorgegebenem Raster ist ein von sich aus abstrak-

Das Platzieren der Signatur – oftmals an der unteren,

ter Grund, auf den die Stickerei fußt. Hal Forster

rechten Bildecke – weist die textilen Arbeiten eindeu-

benennt das Raster als „antiautographic manner“:

tig als autonomes Kunstwerk aus. Ein Zitat Hanna(h)

„Implicit in the composition of the collaged works and

Höchs macht dies mehr als deutlich: „Die Stickerei

intrinsic to the support of the woven works, the grid is

steht im engsten Zusammenhang mit der Malerei.

a given order that informs these pieces, again in an

Sie ändert sich unent­wegt, mit jeder Stilepoche. Sie ist

antiautographic manner, from the start; the evocation

In die Moderne gestochen: Adriana C. van Rees-Dutilh und die Stickerei als Kunst

87

Abb. 1: Adriana van Rees-Dutilh, Sanduhr, 1914, Seidenstickerei, 52,2 x 38 cm, signiert und datiert unten links mit „Adya 1914“, Kunstmuseum Basel, Schenkung Marguerite Arp-Hagenbach

88

Diana Anna Schuster

von Künstler_innen auf: Hans Arp gebrauchte sprachenübergreifend „Broderie“ und Anni Albers grenzte die Werkgruppe Pictorial Weavings von ihren Textilien mit eindeutig utilitaristischer Funktion ab.20 Der Begriff „Stickerei“ scheint für die Künstler_innen zu stark konnotiert zu sein. Hier zeigt sich das Bewusstsein für die Wahrneh­mung von Stickereien, die determiniert von tradierten Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktion waren und noch sind.21 Ähnlich wie bei der Stickerei Sanduhr von Van Rees-Dutilh laufen auch bei den Stickereien von Bailly die einzelnen Fäden parallel. Der Spann- oder Plattstich ist im Vergleich zum KreuzAbb. 2: Adriana van Rees-Dutilh, Sanduhr (Detail aus Abb. 1: untere linke Ecke)

stich variabler in der Länge sowie Stickrichtung und lässt ein schnelleres und spontaneres Füllen der Fläche zu. Einen ähnlichen Eindruck ruft der skizzenhafte, maleri-

of ornament, especially in the regularity of the motifs,

sche Umgang mit Farbe und Pinselführung in der

also puts artistic agency into doubt.“16 Bestehen gewo-

Malerei hervor. In beiden Fällen kann durch die betonte

bene Textilien aus Kette und Schuss, sprich horizonta-

Materialität die Genese des Kunstwerks von den

len und vertikalen Fadenverläufen, und unterliegen

Betrachter_innen nachvollzogen werden. Im Unter-

damit einer vorgegebenen Ordnung, ist auch der

schied zu Bailly variierte Van Rees-Dutilh die Stichab-

Kreuzstich abhängig vom verwendeten Geweberaster.

folge zwischen geraden und rundlichen Verläufen – ähn-

Analog zu den kollaborativen Duo-­Collagen von Hans

lich einer differenzierten Pinselführung in der Malerei.

Arp und Sophie Taeuber-Arp, die formale Nähe in

Anders als beim Kreuzstich konstituiert beim Spann-

Linearität und Farbigkeit zu den Stickereien besitzen,

oder Plattstich das unterliegende Gewebe nicht das

negieren beide Arbeitsweisen die individuelle Hand­

Muster. Der Trägerstoff tritt zurück und wird je nach

schrift und erschweren bis heute die Zuordnung.17

Dichte von den überlagernden Fäden vollständig

Wie ist vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse zum

verdeckt. Demnach ist weniger die Stichabfolge für das

Kreuzstich der differenzierte Umgang mit der Stich­

Muster relevant als vielmehr einzelne Flächen, die mit

abfolge bei Adriana van Rees-Dutilh einzuordnen?

farbigen Fäden ‚ausgemalt‘ scheinen. Die Stickereien von

Trotz der Beherrschung beider Techniken, wählte die

Bailly besitzen sichtbare Unterzeichnungen, die bei-

Künstlerin für ihre eigenen Entwürfe – soweit anhand

spielsweise bei Printemps gris (Abb. 4), entstanden um

der wenigen erhaltenen Kunstwerke nachvollzieh-

1917, zu erkennen sind. Ähnlich wie bei Adriana van

bar – fast ausschließlich den Platt- oder Spannstich.

Rees-Dutilh arbeitete die Künstlerin unabhän­gig von der

18

Eine an einen Duktus erinnernde Stichabfolge ist

Gewebestruktur. Bailly facettierte den Bildgegenstand

ebenfalls bei Alice Bailly zu finden. Parallel zur Malerei

in einzelne kleinere Farbflächen mit Hilfe von Richtungs-

fertigte die Künstlerin circa 50 Stickereien, die sie

änderungen und Variation im Kolorit jedoch deutlicher.

selbst als „tableaux-laine“ bezeichnete. Auch in der

Eine Gemeinsamkeit in der Technik lässt sich an der

Bezeichnung des Textilen fallen verbale Täuschungen

Durchsicht auf das unterliegende Material ausmachen.

19

In die Moderne gestochen: Adriana C. van Rees-Dutilh und die Stickerei als Kunst

89

Abb. 3: Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp, o. T., 1916/17, Wollstickerei, 27,5 x 18 cm, Kunstmuseum Basel, Schenkung Marguerite Arp-Hagenbach

Diese Beobachtung wird besonders im Vergleich mit der

einzelnen Stichabfol-gen inklusive dem zugrunde

„very dense surface“ der Stickerei Broderie de feuillages

liegenden Gewebe heraus und die einzelnen Fäden

von Sonia Delaunay-Terk aus dem Jahr 1909 deutlich.23

behalten ihre Plastizität. Die betonte Materialität durch

Während sie die einzelnen Flächen, wie bei klassischer

pastosen Farbauftrag sowie freigelassene Stellen des

Stickerei erwünscht, mit eng aneinander gestickten

Malgrunds sind ebenfalls Techniken der Malerei, die die

Fäden ausfüllte, stellten Van Rees-Dutilh und Bailly die

Künstlerinnen in die Stickerei transformierten.

22

90

Diana Anna Schuster

Abb. 4: Alice Bailly, Printemps gris, um 1917, Wollstickerei, 58 x 71 cm, signiert unten links mit „Alice Bailly“, Kunst­museum Winterthur, Dauerleihgabe Musikkollegium Winterthur

St i c ke re i versus Malerei?

Gemälden orientieren, bleiben sie der Malerei als Reproduktion untergeordnet.24

Der Begriff „Nadelmalerei“ bringt zwei Techniken

Über die historische Verknüpfung hinaus lassen

zusammen. Seit dem 14. Jahrhundert sind die sogenan-

sich Parallelen zwischen der Malerei und Stickerei

nten Nadelmalereien, sprich bildhafte Stickereien,

ziehen. In beiden Techniken entstehen die Kompositio-

nicht selten Kopien von Gemälden. Sie besitzen ein am

nen über Material und dessen Einsatz – in der Malerei

Tafelbild ausgerichtetes Format oft inklusive Rahmung.

über die mit differenziertem Duktus aufgetragene

Mit dem Umstand, dass sie sich an bestehenden

Farbe und in der Stickerei durch die Verläufe einzelner

In die Moderne gestochen: Adriana C. van Rees-Dutilh und die Stickerei als Kunst

91

Fäden in Stichabfolgen. In der Verbindung mit dem

taktiler Effekt, der sich mit Alois Riegls Begriff der

zugrunde liegenden Gewebe – Faden und Gewebe

„Haptik“, also der Verbindung von optischer und

analog zur Farbe und Leinwand – sowie in der Behand-

taktischer (taktiler) Wahrnehmung, fassen lässt. Über

lung der Farbe lässt sich darüber hin­aus ein vergleich-

den miteinbezogenen Tastsinn könne der dem Sehen

barer Umgang feststellen. Schattierungen und Model-

eingeschriebenen Distanz zwischen Kunstwerk und

lierungen werden über Farbverläufe – in der Stickerei

Betrachter_in, die von der Einseitigkeit des Gesichts-

aus Fäden unterschiedlicher Farben – erzeugt. Die

sinns herrühre, entgegengewirkt werden.26 Zusätzlich

vorgestellten Bildbeispiele verdeutlichen die Übertra-

zur Aktivierung mehrerer Sinne verringert das ver-

gung gelernter künstlerischer Ausdrucksformen der

traute, alltägliche Material die Distanz zwischen

Malerei. Die Erscheinungsform der Stickerei kommt

Kunstwerk und Betrachter_innen und öffnet den Raum

damit einem Gemälde nahe und führt zur beschriebe­

für eine größtmögliche Unmittelbarkeit. Das nachvoll-

nen Täuschung und anschließender ‚Ent-täuschung‘

ziehende Betrachten, sprich das Ableiten des Arbeits-

der Betrachter_innen im Rezeptionsprozess. Die

prozesses anhand der Fadenverläufe, aktiviert die

Komptabilität der Malereitechnik sowie bestehende

Betrachter_innen zusätzlich.

Ähnlichkeiten zur Stickerei öffneten für Künstler_innen

92

Genau diese Diskrepanz – die Abgrenzung bei

den Raum, sich das neue Medium zu eigen zu machen

gleichzeitiger Affinität von Stickerei zur Malerei –

und gleichzeitig die Verbindung zur höher eingestuften

machte das Medium besonders für Künstlerinnen

Gattung Malerei nicht vollständig aufzugeben.

interessant: Denn die Stickerei bot im Privaten einen

Über die Affinitäten zur Malerei besitzen das

Freiraum für Kreativität – das individuelle Gestalten

Textile und die Technik der Stickerei Qualitäten, welche

von Kleidung und Innenraum – und im Öffentlichen

die Malerei nicht oder in geringerem Maße besitzt.

einen nicht bereits von männlichen Kunstschaffenden

Zum einen ist die Stickerei weniger über die Gattungs-

okkupierten Bereich künstlerischer Arbeit. Außer

hierarchien mit ‚Wert‘ aufgeladen. Virginia Gardner Troy

Konkurrenz entstanden Bildwerke, die mit allgemein

beschreibt den Mehrwert des Textilen wie folgt: „At the

anerkannten bildlichen Qualitäten wie Abstraktion und

same time, handmade textiles, especially embroidered

Gegenstandslosigkeit operierten. Jedoch handelte es

and hand-woven tex­tiles, continued to be values for

sich um einen prekären Freiraum, denn insbesondere

their unique qualities that distinguished them from

Künstlerinnen liefen und laufen Gefahr bei Beschäfti-

painting, paving the way for artists to explore elements

gung mit angewandter Kunst eine Abwertung oder

of design – colour, scale, texture – in extraordinary

keine Beach­tung als ernstzunehmende Kunstschaf-

ways. Indeed, textiles, precisely because they were not

fende zu erfahren, schließlich gelten bis in die Gegen-

like paintings – they could be tactile, three-dimen-

wart textile Techniken als ‚genuin weiblich‘.27 Auch

sional, cut-up and pieced together, folded, twisted,

Parker verweist auf diese Widersprüchlichkeit inner­

hung on walls or put down on the floor – enabled

halb der Stickerei: „Embroidery has provided a source

those working in them to explore new visual and

of pleasure and power for women, while being

expressive possibilities.“25 Besonders der Aspekt der

indissolubly linked to their powerlessness.“28 Mit der

faktischen Textur, Beschaffenheit und Materiali­tät des

Arbeit in abgewerteten künstlerischen Bereichen des

Textilen gegenüber der illusionistischen Malerei scheint

Handwerks blieb den Künstlerinnen das Feld der

von Bedeutung. Zusätzlich entsteht bei Stickereien ein

freien Kunst oft verwehrt.

Diana Anna Schuster

In d i e Moderne gestochen

Darüber hinaus sind weitere Aspekte zu berücksichtigen, die in Bezug auf den Ausschluss aus der

In den vorangehenden Ausführungen wurde

Moderne mitzudenken sind, jedoch im Rahmen dieses

diskutiert, auf welchen Ebenen der kunsthistorischen

Aufsatzes nicht ausführlich besprochen werden

Forschung die Marginalisierung der Künstlerin und

können: So ist die geometrisch abstrakte Formenspra-

ihres Werkes stattfand und bis heute besteht: Ein

che von Van Rees-Dutilh – eine Bildsprache, die

intersektionaler Ausschluss, der sich auf Geschlecht,

Künstlerinnen kaum zugestanden wurde29 – über den

Technik, Material, Bildsprache sowie der kollaborativen

wechselseitigen Austausch zwischen Kunst, Textil und

Arbeitsform gründet. Dies wirft die Frage auf, inwie-

Abstraktion auszuhandeln. Während sich zeitgenössi-

weit unter diesen Prämissen überhaupt eine An-

sche Bezüge zu aktuellsten Kunstströmungen der

schlussfähigkeit und Einschreibung in die ­bestehende

Moderne anführen lassen, ist das dem Textilen

Kunstgeschichtsschreibung der Moderne möglich ist.

zugrunde liegende Prinzip der Abstraktion nicht zu

Erstens bestand zum zeitgenössischen Frauen-

unterschätzen. Über Erläuterungen und Manifeste, die

bild auch ein Künstlerinnenbild, das sich als Kontrast

sich Anfang des 20. Jahrhunderts häuften, unternah-

zu männlichen Künstlern und Autorschaftsmythen

men fast ausschließlich männliche Künstler der

ausbildete und die ausbleibende Zugänglichkeit zu

Moderne mit aller Macht den Versuch, die Abstraktion

Ausbildungsmöglichkeiten und dem Kunstmarkt zur

von dem als inhaltslos gesehenen Ornament und

Folge hatte.

Dekor abzugrenzen.30 Mark Cheetham beschreibt mit

Zweitens gehen diese Konstruktionen von

der „Rhetorik der Reinheit“31 ein gemeinsames Anlie-

Weiblichkeit auf Bewertungen von künstlerischen

gen europäischer männlicher Künstler, die in unter-

Techniken und Materialien über. Van Rees-Dutilh

schiedlicher Sprache ihre Idee um die Ästhetik der

unternahm den Versuch, sich mit ihren Kunstwerken

Reinheit manifestierten. Diese Argumentationen

der abschätzigen Bewertung von objektbezogener

funktionierten über einen ermüdenden Dualismus:

Handarbeit, die bestimmt von Gattungshierarchien

Männlich und weiblich wurden mit der Gegenüberstel-

und Geschlechterkonstruktionen war und bis heute ist,

lung von Geist, Abstraktion auf der einen und Materie,

zu widersetzen. Den prekären Freiraum, den ihr das

Dekoration auf der anderen Seite weitergeführt.32 Das

Textile als künstlerisches Ausdrucksmedium bot,

Ornamentale als dekadentes Dekor und überschwäng-

nutzte sie um ihre Stickereien an der Grenze zwischen

liches Detail wurde als Negativ zur männlichen

‚angewandter‘ und ‚freier‘ Kunst zu etablieren. Sie

Abstrak­tion mit Weiblichkeit verknüpft und im selben

kommen von Beginn an ohne Objektbezug aus und

Zuge von den Entwicklungen abstrakter Kunst nach-

beanspruchen, durch Bildanlage und Adaption bildli-

haltig ausgeschlossen. Die so gerechtfertigte Abstrak-

cher Mittel der Malerei für die Stickerei, durch Signatur

tion widerspricht zum einen der beanspruchten

und Rahmung autonome Bildwerke zu sein. Dieser

Innova­tion der Gegenstandslosigkeit im Hinblick auf

Umstand macht deutlich, dass die Künstlerin die der

die Tradition des Ungegenständlichen im angewandten

Stickerei immanenten Gattungshierarchien und

Bereich sowie den Inspirationsquellen der abstrakt

Geschlechterkonstruktionen mitdachte und die

arbeitenden Künstler wie Wassily Kandinsky und

Imitation konstituierender Kriterien für Gemälde als

Kazimir Malevič. Nicht nur den Künstlerinnen, sondern

Legitimationsstrategie anwandte.

auch Ornament und Dekor als Stellenwert für die

In die Moderne gestochen: Adriana C. van Rees-Dutilh und die Stickerei als Kunst

93

Abstraktionsentwicklung verwehrt diese vereinfachte

ten Künstler_innen – oftmals allein den_die Entwer-

Kunstgeschichtsschreibung die Sichtbarkeit.

fer_in – ­negiert. Auch die Nobilitierung der Entwer-

Und nicht zuletzt greift das Reproduktions-

beispielsweise durch den Zusatz von ‚ausgeführt von‘

passiven, reproduzierenden Rolle an Van Rees-Dutilh,

statt einer gemeinsamen Nennung in einer Zeile

die nach Entwürfen ihrer männlichen Künstlerkolle-

zustande kommt, widerspricht der tatsächlich engen

gen – Hans Arp, Otto Freundlich und Otto van

Zusammenarbeit. Das vermehrte Auftreten von

Rees33 – arbeitete und Wandteppiche und Stickereien

Kollaborationen und Interaktionen zwischen Künst-

erstellte. Weniger häufig wird die Zusammenarbeit

ler_innen gilt als richtungsweisend für das Aufbrechen

als egalitäre Kollaboration mit gegenseitigem Aus-

von Geschlechterkonstruktionen und Gattungshierar-

tausch interpretiert. In diesem Zusammenhang scheint

chien. Das Potenzial wurde erkannt, allerdings konnten

es notwendig, das museale Ausweisen von kollaborativ

diese vorrangig in der Moderne auftretenden und für

entstandenen Kunstwerken umzudenken. Gegenwär-

diese konstitutiv erscheinenden Künstler_innenstrate-

tig wird diese Zusammenarbeit an einem Kunstwerk

gien die herkömmlichen Konstruktionen nicht vollstän-

mit den Zuschreibungen zu nur einem_r der involvier-

dig abschaffen.35

34

94

fer_innen gegenüber den Ausführenden, die

Parameter mit der undifferenzierten Zuweisung einer

Diana Anna Schuster

1

An m e r k u ngen

9

Tristan Tzara: Chronique Zurichoise, 1915–1919, wiederabgedr.

10

Vgl. Rozsika Parker: The Subversive Stitch. Embroidery and the

Making of the Feminine, 2. Aufl., London 1996, S. 190. Vgl. Jennifer John und Sigrid Schade: Grenzgänge und Interven-

in: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada-Almanach. Im Auftrag des Zent-

tionen, in: Jennifer Hoch (Hg.): Grenzgänge zwischen den Künsten. In-

ralamts der deutschen Dadabewegung, Berlin 1920, S. 10–28, hier S. 10.

terventionen in Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktionen,

2 3

Ebd.

Bielefeld 2008, S. 7–13, hier S. 8. Mehr zur Dichotomie von angewand-

Vgl. Irène Lesparre: Biografie, in: Egbert van Faassen und Sjoerd

ter und freier Kunst siehe: Lindner 1989 (wie Anm. 5), S. 200 ff; Rozsika

van Faassen (Hg.): Otto van Rees (Serie Monografieën van Nederlandse

Parker und Griselda Pollock: Old Mistresses. Women, Art and Ideology,

kunstenaars, 20), Zwolle 2005, S. 13–61, hier S. 17.

London 1981, S. 50–81.

4

Zur Ausbildungssituation von Künstlerinnen siehe beispiels-

11

Vgl. Bibiana K. Obler: Taeuber, Arp, and the Politics of Cross-

weise: Yvette Deseyve: Der Künstlerinnen-Verein München e.V. und

Stitch, in: The Art Bulletin, Bd. 91, 2009, H. 2, S. 207–229, hier S. 220–

seine Damen-Akademie. Eine Studie zur Ausbildungssituation von

221.

Künstlerinnen im späten 19. Jahrhundert, München 2005; Renate Ber-

12

ger: Malerinnen auf dem Weg ins 20. Jahrhundert. Kunstgeschichte als

im Spannungsfeld der Gattungen, in: John 2008 (wie Anm. 10), S. 81–

Sozialgeschichte, 2. erg. Aufl., Köln 1986, S. 103–149.

96, hier S. 85. Zu Sophie Taeuber-Arp siehe den Beitrag von Walburga

5

Krupp in diesem Band.

Mit Blick auf Europa lässt sich verkürzt folgendes Bild zeichnen:

Medea Hoch: Unstete Staffelungen. Sophie Taeuber-Arps Werk

Insbesondere im Mittelalter wurde Stickerei von beiden Geschlechtern,

13

von Mönchen und Nonnen, aber auch von professionalisierten Selbst-

Zeichen – Schrift – Kontext, Karlsruhe 2006, bes. S. 168 ff.

Vgl. Joachim Heusinger von Waldegg: Signaturen der Moderne:

ständigen, ausgeführt. In königlichen und adeligen Häusern wurde

14

Stickerei gelehrt und war als kunstfertiges Handwerk geschätzt. Vgl.

schau, Bd. XVIII, September 1918, S. 219.

Hanna(h) Höch: Vom Sticken, in: Stickerei- und Spitzen-Rund-

tionsprozeß von Wandbehängen, in: Iris Lindner (Hg.): Blick-Wechsel.

15 16

Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunst-

1910–1925. How a Radical Idea Changed Modern Art, hg. v. Leah Dick-

geschichte (Vorträge der 4. Kunsthistorikerinnen-Tagung im September

erman und David Frankel, Ausst.-Kat. The Museum of Modern Art, New

1988 in Berlin), Berlin 1989, S. 231–241. Mit der Professionalisierung

York, New York 2012, S. 274–276, hier S. 274.

Barbara Kramer-Egghard: Frauen und Tapisserien. Ihr Anteil am Produk-

Vgl. ebd. Hal Foster: Sense and Non-Sense, in: Inventing Abstraction

der Stickerei – organisiert in Gilden seit dem 14. Jahrhundert – ver-

17

schoben sich die Rollen. Da die Werkstätten in der Regel von Männern

Hans Arp: A Community of Two, in: Art Journal, Bd.  52, 1993, H.  4,

geleitet wurden, bekamen die meist weiblichen Stickerinnen die Rolle

S. 25–32. Beispielsweise: Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp, Duo-Col-

der Reproduzentinnen zugewiesen, die entworfene Aufträge ausführ-

lage, 1918, Papier, Karton und Silberfolie auf Pappe, 82 x 62 cm, Berlin,

ten. Einen weiteren Wendepunkt stellte die Stagnation der Stickerei-

Staatliche Museen, Nationalgalerie. Abb.  in: Agnieszka Lulińska und

produktion für den sakralen Kontext dar – die Verschiebung der Sticke-

Gabriele Männel (Hg.): Sophie Taeuber-Arp, Hans Arp. Besonderheiten

rei ins Profane und in das Häusliche hatte einen enormen Anstieg an

eines Zweiklangs, Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen Dresden,

ausübenden Amateur_innen zu Folge. Vgl. Rozsika Parker und Griselda

Albertinum, Dresden 1991, S. 77.

Mehr zur Duo-Collage: Renée Riese Hubert: Sophie Taeuber and

Pollock: Old Mistresses. Women, Art and Ideology, London 1981, S. 60.

18

Maschinen beschleunigten seit dem 19. Jahrhundert die industrielle

Dutilh bekannt. Unter diesen befinden sich sechs Stickereien, wovon

Fertigung. Seit dem 16. Jahrhundert verband sich das Handarbeiten mit

allein zwei als Werke erhalten (Sanduhr von 1914 und Madonna met het

dem Bild einer geduldigen, liebevollen und gehorsamen Tochter, Ehe-

kind, um 1917, Seidenstickerei, 22,2 x 19 cm, Den Haag, Gemeentemu-

frau und Mutter. Vgl. Jaap Harskamp: In Praise of the Pins: from Tool to

seum) und eine durch s/w-Abbildungen dokumentiert sind. Hinweise

Metaphor, in: History Workshop Journal, Bd. 70, 2010, S. 47–66, hier:

auf produktive Arbeitsphasen sowie die zeitlichen Abstände der Arbei-

S. 60.

ten lassen vermu­ten, dass nur ein kleiner Teil der tatsäch­lich entstande-

6

Hans Arp: Unsern täglichen Traum … Erinnerungen und Dich-

Insgesamt sind zwölf Stickereien und Teppiche von Van Rees-

nen Werke bis jetzt entdeckt wurde. Zu erwähnen ist, dass nur Sticke-

tungen aus den Jahren 1914–54, Zürich 1955, S. 9.

reien und Teppiche nach 1911 bekannt sind. Eine Leerstelle bilden die

7

Vgl. Silke Tammen: „Seelenkomplexe“ und „Ekeltechniken“  –

frühen textilen Arbeiten, die seit 1906 entstanden. Der Nachlass der

Von den Problemen der Kunstkritik und Kunstgeschichte mit der

Künstlerin – darunter Fotografien, Briefe und Tagebücher – liegt bei der

‚Handarbeit‘, in: Anja Zimmermann (Hg.): Kunstgeschichte und Gender.

Van Rees Stichting in Utrecht, die primär den Nachlass von Otto van

Eine Einführung, Berlin 2006, S. 215–239, hier S. 225.

Rees betreut. Für weitere Untersuchungen müsste das Archiv gesichtet

8

werden, was durch die Stiftung im Rahmen dieser Publikation abge-

Sigrid Schade und Silke Wenk: Inszenierungen des Sehens:

Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz, in: Hadumod Bußmann

lehnt wurde.

(Hg.): Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften,

19

Stuttgart 1995, S. 340–407, hier S. 359.

Kat. Musée cantonal des Beaux-Arts des Lausanne, Milan 2005, S. 76.

Alice Bailly. La fête étrange, hg. v. Paul-André Jaccard, Ausst-

In die Moderne gestochen: Adriana C. van Rees-Dutilh und die Stickerei als Kunst

95

20

96

Vgl. Ann Coxon und Maria Müller-Schareck: Anni Albers, die

Büser, Ausst.-Kat. Sprengel Museum Hannover, Hannover 1996,

Vielseitige, in: Anni Albers, hg. v. dies. und Briony Fer, Ausst.-Kat.

S. 37–45; Susanne Deicher (Hg.): Die weibliche und die männliche Li-

Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf, München 2018,

nie. Das imaginäre Geschlecht der modernen Kunst von Klimt bis

S. 12–19, hier S. 13.

Mondrian, Berlin 1993. Zur malerischen Abstraktion von Künstlerinnen

21

Dies ist auch bei Sophie Taeuber-Arp (vgl. Hoch 2008 [wie

des 19. Jahrhunderts siehe: Weltempfänger. Georgiana Houghton  –

Anm. 12], S. 91) und Hanna(h) Höch (vgl. Parker 1996 [wie Anm. 9],

Hilma af Klint – Emma Kunz und Filmen von John Whitney, James Whit-

S. 192.) nachzuweisen.

ney, Harry Smith, hg. v. Karin Althaus, Matthias Mühling und Sebastian

22

Schneider, Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus München, Mün-

Virginia Gardner Troy: The Modernist Textile. Europe and Amer-

ica, 1890–1940, Aldershot/Burlington 2006, S. 69.

chen 2018.

23

30

Sonia Delaunay-Terk, Broderie de feuillages, 1909, Stickerei,

Vgl. Jenny Anger: Forgotten Ties: The Suppression of the Deco-

83,5 x 60,5 cm, Paris, Centre Georges Pompidou, Musée National d’Art

rative in German Art and Theory, 1900–1915, in: Christopher Reed

Moderne. Abb. in: Robert Delaunay · Sonia Delaunay. Das Centre Pom-

(Hg.): Not at Home. The Suppression of Domesticity in Modern Art and

pidou zu Gast in Hamburg, Ausst. Kat. Hamburger Kunsthalle, Köln

Architecture, New York 1995, S. 130–146.

1999, S. 71.

31

24

ory and the Advent of Abstract Painting (Cambridge New Art History

Vgl. Uta-Christiane Bergemann: Europäische Stickereien 1650–

Vgl. Mark A. Cheetham: The Rhetoric of Purity. Essentialist The-

1850 (Kataloge des Deutschen Textilmuseums Krefeld, 2), Krefeld

and Criticism), Cambridge 1991.

2006, S. 95.

32

25 26

Troy 2006 (wie Anm. 22), S. 14.

Tommaso Marinetti: Manifeste du Futurisme, 1909; Wassily Kandinsky:

Vgl. Alois Riegl: Historische Grammatik der bildenden Künste,

Über das Geistige in der Kunst, 1912.

Vgl. Piet Mondrian: The New Plastic in Painting, 1917; Filippo

Köln/Graz 1966, S. 287–289. Riegl führt den Begriff erstmalig 1901 in

33

seiner Publikation Spätrömische Kunst-Industrie ein.

tion en diagonale, 1915, Seidenstickerei, 74 x 89 cm, Strasbourg, Musée

27

d’art moderne et contemporain. Abb.  in: Claude Weil-Seigeot (Hg.):

Vgl. Parker/Pollock 1981 (wie Anm. 10), S. 78; vgl. auch Norma

Als Beispiel: Hans Arp und Adriana van Rees-Dutilh, Composi-

Broude: Miriam Schapiro and „Femmage“: Reflections on the Conflict

Atelier Jean Arp et Sophie Taeuber, Paris 2012, S. 105.

Between Decoration and Abstraction in Twentieth-Century Art, in:

34

dies. und Mary D. Garrard (Hg.): Feminism and Art History: Questioning

konnten, ließen ihre Entwürfe oft von Frauen aus dem eigenen Umfeld

the Litany, New York u. a. 1982, S. 314–329.

fertigen. Die im privaten, familiären und demnach im ‚unprofessionel-

28 29

Parker 1996 (wie Anm. 9), S. 11.

len‘ Raum entstehenden Arbeiten verweigern das in Betracht ziehen

Zur Geschlechterkonstruktion in der abstrakten Kunst: Sigrid

eines kollaborativen Austauschs. Zusätzlich wird ein klassischer kunst-

Schade: Zu den „Unreinen“ Quellen der Moderne: Materialität und Me-

geschichtlicher Topos wiederholt: Nach Vasaris disegno-Begriff wird die

dialität bei Kandinsky und Malewitsch, in: Jennifer John und Sigrid

künstlerische Qualität in der Idee verortet und deren Umsetzung als

Schade (Hg.): Grenzgänge zwischen den Künsten. Interventionen in

Handwerk definiert. Vgl. Schade/Wenk 1995 (wie Anm.  8), S. 353.

Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktionen, Bielefeld 2008,

Übertragen ins Textile heißt das, der künstlerische Wert liegt im Ent-

S. 25–62; dies.: Künstlerinnen und »Abstraktion«. Anmerkungen zu ei-

wurf und weniger in der Ausführung. Diese Lesart bildete gegenüber

ner »unmöglichen« Beziehung in den Konstruktionen der Kunstge-

dem männlichen Künstlermythos ein stereotypes Bild der Künstlerin-

schichte, in: Garten der Frauen. Wegbereiterinnen der Moderne in

nen als dilettantische Reproduzentinnen aus.

Deutschland 1900–1914, hg. v. Ulrich Krempel und Susanne Meyer-

35

Diana Anna Schuster

Künstler_innen, die das Handwerk nicht erlernen wollten bzw.

Vgl. Troy 2006 (wie Anm. 22), S. 25.

Vor dem Hintergrund der 1921 eingeleiteten Neuen Ökonomischen Politik (NĖP) und der mit der Reorganisation des Volkskommissariats für Bildungswesen (Narkompros)2 beendeten Autonomie und Selbstverwaltung der Künstler_innen in der Abteilung für Bildende Künste (IZO) wurde die Funktion der avantgardistischen Kunst im Übergang von einer politischen zu einer forcierten industriellen Revolution zunehmend in Frage gestellt. Die Kunst sollte den

Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova: Von der gegenstandslosen Malerei zum Textildruck Christiane Post

‚industriellen Traum‘ antizipieren und den Aufbau einer neuen Gesellschaft fördern. Situiert im Kontext des Instituts für Künstlerische Kultur (INChUK)3 in Moskau und der Ende 1921 geführten Diskussionen über den Konstruktivismus, proklamierten Varvara Stepanova und mit ihr weitere Künstler_innen die Abkehr von der reinen Kunst und den Übergang zur Produktionskunst.4

Konstruktivistische Künstlerinnen wie Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova, aber auch Kazimir

I NChU K und Konst rukt i v i sm us

Malevič, Aleksandr Rodčenko und Vladimir Tatlin – als die bekanntesten Vertreter der russischen Avant-

Das im Mai 1920 gegründete INChUK war eine

garde – widmeten sich Anfang der 1920er Jahre der

künstlerisch-wissenschaftliche Forschungseinrichtung

Textilgestaltung und der Alltagskleidung. Ihre suprema-

des Narkompros, die zu Beginn von Vasilij Kandinskij

tistischen und konstruktivistischen Entwürfe sind

und dann von Aleksandr Rodčenko geleitet wurde. Es

immer wieder auch von zeitgenössischen Künstler_in-

durchlief verschiedene Phasen, in denen sich seine

nen aufgegriffen und für Ausstellungen und Museen

Konzeption und seine theoretische Ausrichtung

reproduziert worden.1

änderten. Im März 1921 wurde am INChUK die

Aufgrund des unvermindert anhaltenden Interes-

Arbeitsgruppe der Konstruktivisten gegründet.5 Über

ses an der ‚Textilen Avantgarde‘ soll erneut ein Blick auf

ihr Programm erfuhr der Konstruktivismus eine erste

das Selbstverständnis der russischen Künstler_innen

theoretische Fundierung.6 Er wurde definiert als eine

und auf die Rolle der Kunst in den frühen 1920er Jahren

„neue Ideologie in dem Bereich der menschlichen

geworfen und zudem der Konstruktivismus als theo-

Tätigkeit, die sich bis jetzt Kunst nennt“7. Die ideologi-

retische Konzeption sowie die Debatten um die

sche Grundlage des Konstruktivismus bildete „der auf

Produktionskunst ausschnitthaft beleuchtet werden.

der Theorie des historischen Materialismus basierende

Im Mittelpunkt stehen die (schriftlichen) Äußerungen

wissenschaftliche Kommunismus“8. Als wesentliche

der russischen Künstler_innen zur gegenstandslosen

Elemente des Konstruktivismus wurden Tektonik,

Malerei und konstruktivistisch-produktivistischen Kunst.

Konstruktion und Faktur angesehen. Angestrebt

Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova: Von der gegenstandslosen Malerei zum Textildruck

97

wurde, „von der experimentellen Phase ‚außerhalb des

wichtigsten Industriezweige. 1913 gab es in Russland

Lebens‘ zum realen Experiment“9 überzugehen, das

873 Fabriken, in denen etwa anderthalb Millionen

heißt, die autonome Kunst aufzugeben und die

Menschen arbeiteten.16 Die Motivpalette der Dekore

Verfahren des Konstruktivismus auf die ‚Industriekul-

reichte von Kopien ausländischer Stoffe, zumeist

tur‘ anzuwenden. Das Programm der Arbeitsgruppe

französischer Musterkataloge, bis hin zu „typisch

der Konstruktivisten schloss mit der Erklärung:

russischen Motiven der Volkskunst mit großen Blumen

„1. Die Gruppe sagt der Kunst im Allgemeinen den

und Buketts“17. Während des Russischen Bürgerkrie-

offenen Kampf an. 2. Sie hebt die Unzulänglichkeit der

ges (1918 bis 1921) kam die Produktion nahezu zum

künstlerischen Kultur in der Vergangenheit hinsichtlich

Erliegen. Selbst eine der größten Textilfabriken

der Erstellung konstruktivistischer Installationen der

Moskaus, die Erste Staatliche Kattundruckerei (vormals

neuen kommunistischen Kultur hervor.“10

Manufaktur Ėmil’ Cindel’), musste wie viele andere

In einer Diskussion am INChUK, die Ende 1921 im Anschluss an Varvara Stepanovas Vortrag „Über den

1919 aufgrund von Rohstoffmangel schließen.18 Zu Beginn der 1920er Jahre wurde die Textilin-

Konstruktivismus“ geführt wurde, bemerkte der

dustrie reorganisiert und die Fabriken wiedereröffnet.

Kunsttheoretiker Boris Arvatov: „Angenommen es gibt

Zugleich wurden „große Anstrengungen unternom-

keine Kunst mehr – was machen dann zeitgenössische

men, um eine künstlerisch wertvolle Produktion zu

Künstler, wenn sie Teil der Arbeiterklasse werden?“12

erzielen“19. Zu diesem Zweck wandte sich der Direktor

Und folgerte: „Meiner Meinung nach sollten Künstler zu

der Ersten Staatlichen Kattundruckerei Aleksandr

politischen Aktivisten werden.“13 Auch Varvara Stepa-

Archangel’skij 1923 an die Moskauer Höheren Staatli-

nova stellte die Frage in den Raum: „Was sollten

chen Künstlerisch-Technischen Werkstätten (VChUTE-

Künstler zum gegenwärtigen Zeitpunkt tun?“ Und berief

MAS) und veröffentlichte einen Aufruf in der Zeitung

sich in ihrer Antwort auf ihren Vorredner: „Arvatov

Pravda, in dem er Künstler_innen zur Mitarbeit in der

beantwortet diese Frage damit, dass die Aufgabe des

Produktion einlud.20

11

Künstlers [...] Propaganda ist [...]. Zurzeit besteht die

Im Spätherbst 1923, vermutlich jedoch früher,21

Aufgabe des Künstlers noch nicht darin, ein politischer

begannen Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova,

Aktivist zu sein, jedoch ist klar, was er tun kann.

nachdem sie zuvor mit dem Theaterregisseur Vsevolod

An diesem Punkt kann er in die Industrie gehen“ . 14

Diese Hinwendung zur industriellen Produktion

Mejerchol’d zusammengearbeitet und im Kontext der von ihm entwickelten Biomechanik architektonische

wurde von ihr und anderen Künstler_innen auch

Bühnenkonstruktionen und sogenannte Produktions-

umgesetzt. 1923/24 arbeiteten Ljubov’ Popova und

kleidung (prozodežda) entworfen hatten, ihre Tätigkeit

Varvara Stepanova für die Textilindustrie und entwarfen

als Künstlerinnen in der Ersten Staatlichen Kattun-

Stoffmuster, die dann auch in die Produktion gingen.

druckerei.22 In ihrem Artikel „Der Anzug des heutigen Tages

„In die Produktion!“

ist Prozodežda“23 thematisierte Varvara Stepanova 15

ihren konstruktivistisch-produktivistischen Ansatz. Im Gegensatz zur „Mode als psychologische Widerspiege-

Im vorrevolutionären Russland war die Textil­ industrie einer der am weitesten entwickelten und

98

Christiane Post

lung des Alltags“ wird bei der Arbeitskleidung – wie sie schrieb – „die Faktur (Materialbearbeitung), d. h. die

Ausführung, zu ihrem wichtigsten Moment. [...] Bei der

Vorschlägen Musterzeichnungen für Druckstoffe

Organisation eines zeitgemäßen [Arbeits-]Anzuges

herzustellen. [...] 4. Verbindung mit Schneidereien,

muss man über seine Aufgaben zu seiner Materialgestal-

Modeateliers und Zeitschriften. 5. Werbetätigkeit für

tung kommen, von den Besonderheiten der Arbeit, für

die Produktion der Fabrik in der Presse, Zeitschriften-

die er bestimmt ist, zum System des Zuschnitts.

reklame. Gleichzeitig kann sich unsere Arbeit in

Ästhetische Elemente sind durch den Produktionspro-

Zeichnungen für Schaufensterdekorationen

zess des Nähens des Anzugs selbst zu ersetzen. Zur

niederschlagen.“28 In einem Vortrag am INChUK

Erläuterung: dem Anzug keine Verzierungen hinzufü-

berichtete Varvara Stepanova über ihre Rolle und ihre

gen, denn die Nähte, die für den Schnitt gebraucht

Aufgaben in der Baumwolldruck-Industrie.29

werden, verleihen ihm seine Form. Die Nähart des Anzugs, seine Steppnähte u. ä. offen zeigen. [...] Die Steppnaht der Nähmaschine industrialisiert die Herstellung des Anzugs. [...] Und die Form, d. h. die

Konst rukt i v i st i sche Text i lent w ürfe

ganze äußere Art des Anzugs, ist nicht mehr willkürlich, sondern erwächst aus den Forderungen der Aufgabe und ihrer materiellen Realisierung.“

24

In Übereinstimmung mit dem Konstruktivismus

Ausgehend von ihren malerischen Ansätzen lassen sich Parallelen zu ihren produktionskünstlerischen Verfahren ziehen. So schrieb Ljubov’ Popova in

suchten Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova in

ihrem künstlerischen Statement im Katalog der

ihrem an die Direktion der Kattundruckerei gerichte-

Moskauer Ausstellung 5 x 5 = 25: „Alle vorliegenden

ten Schreiben ihre Forderungen und somit zugleich

Arbeiten sind piktural und sollen nur als vorbereitende

das Aufgabenspektrum der Künstler_innen in der

Versuche für konkrete vergegenständlichte Konstruk-

Industrie zu umreißen. Sie betonten ihre künstlerische

tionen angesehen werden.“30 Ihre gegenstandslose

Verantwortung nicht nur für den Entwurf von industri-

Raum-Kraft-Konstruktion (Prostranstvenno-silovoe

ellen Produkten, sondern auch für den gesamten

postroenie) von 1921 (Abb. 1) aus der gleichnamigen

Produktionsprozess, angefangen bei den technischen

Malerei-Serie, die auf dieser Ausstellung zum ersten

und organisatorischen Abläufen bis hin zur Werbege-

Mal gezeigt wurde – „diese Werke als ‚Gemälde‘ zu

staltung. In ihren Ausführungen zählten sie „drei

bezeichnen, würde bereits bedeuten, das Problem

Arten künstlerischer Tätigkeit in der Produktion auf:

ihres Status als ‚Kunst‘ anzuschneiden“ –,31 besteht aus

die organisatorisch-kontrollierende, die künstlerisch-

sich schneidenden geraden und kreisförmigen Linien

konstruktive und die wissenschaftlich-forschende“27

sowie fakturierten farbigen Flächen, die direkt auf den

und forderten: „1. Mit dem Recht einer beratenden

Bildträger aufgetragenen wurden.32 Konstruiert mit

Stimme an der Arbeit der Produktionsorgane teilzu-

Lineal und Zirkel wurden die geometrischen Formen

nehmen, die mit der künstlerischen Seite Hand in

mit einer reduzierten Farbpalette und durch die

Hand gehen (Annahme der Produktionspläne, der

Verfahren der Wiederholung und der Verschiebung

Produktionsmuster, Erwerb von Zeichnungen und

(sdvig) räumlich und dynamisch organisiert.33 Dieser

Heranziehen von Arbeitern zu künstlerischer Arbeit).

Ansatz bildete auch den Ausgangspunkt für ihre

2. Im Chemielaboratorium als Beobachter beim Färben

konstruktivistischen Textilentwürfe, in denen unter

anwesend zu sein. 3. Nach eigenen Wünschen und

anderem einfache geometrische Formen, ein Minimum

25

26

Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova: Von der gegenstandslosen Malerei zum Textildruck

99

Abb. 1: Ljubov’ Popova, Raum-Kraft-Konstruktion, 1921, Öl mit Holzstaub auf Sperrholz, 112,5 x 112,3 cm, MOMus – ­Museum of Modern Art – Costakis Collection, Thessaloniki

an Druckfarben unter Einbeziehung des Gewebe-

Produktion“36. Frida Roginskaja schrieb 1930 rück­

grundtons, Permutationen und Repetitionen sowie

blickend in ihrem Buch Sowjetisches Textil, dass „die

Linien und Raster zum Tragen kamen.

Zeichnungen der Konstruktivisten“ – dazu zählte sie

34

Innerhalb eines Jahres entwarfen Ljubov’ Popova

100

Popova, Stepanova und zum Teil Rodčenko – „im

und Varvara Stepanova mehr als 200 Stoffmuster und

Grunde genommen die erste sowjetische Mode waren.

fertigten zahlreiche Kleiderentwürfe an.35 Von ihren

Aber die Modezeichnungen machten bekanntlich nicht

Stoffmustern gingen mehr als „zwanzig in die

mehr als 2% der gesamten Produktion aus.“37

Christiane Post

Abb. 3: Varvara Stepanova im selbstentworfenen Kleid, Foto: Aleksandr Rodčenko, 1924, Reprint, 39,3 x 28 cm, Museum Ludwig, Köln

Abb. 2: Ljubov’ Popova, Entwurfszeichnung für ein Kleid, 1923/24, Tusche und Gouache auf Papier, 24 x 10,4 cm, Privatsammlung; Textilentwurf, 1923/24, Tusche und Gouache auf Papier, 24,8 x 35,7 cm, GMZ „Caricyno“, Moskau

Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova: Von der gegenstandslosen Malerei zum Textildruck

101

Abb. 4: LEF. Žurnal levogo fronta iskusstv, 1924, H. 2, Cover, S. 29, 32. Technik: Zeitschriftendruck, Maße des Originals: 23,3 x 15,5 cm (Seitengröße) bzw. 23,7 x 15,8 cm (Zeitschrift)

Beispielhaft dafür ist Ljubov’ Popovas Entwurfs-

„neuen Muster“40 exemplarisch den konstruktivisti-

1923/24 basiert (Abb. 2). In diesem kombinierte

schen Gegenstand.41

Popova zwei Grundformen – Viereck und Kreis. Das

Varvara Stepanova, die auch Näherin war,

aus diesen Formen entwickelte Muster setzt sich aus

fertigte aus den von Ljubov’ Popova und von ihr selbst

zwei unterschiedlichen Teilflächen zusammen, die den

entworfenen, von der Kattundruckerei produzierten

Rapport bilden. Diese Flächen sind durch alternie-

Stoffen Sommerkleider an (Abb. 3). Eine Fotografie

rende und versetzt angeordnete, diagonal verlaufende,

von Aleksandr Rodčenko zeigt sie in einem selbst

schwarze und weiße Streifen gegliedert. An zwei der

geschneiderten Kleid mit Streifenmuster. Dieses von

gegenüberliegenden Ecken jeder Fläche befinden sich

ihr entworfene, in verschiedenen Farbkombinationen

Viertelkreise. Zusammengesetzt entsteht optisch ein

gedruckte, geometrische Muster basiert auf Längs-

Muster mit blau-weißen Kreisen, die durch schwarz-

streifen, die farbig versetzt durch Kreisflächen laufen,

weiß schraffierte Rhomben verbunden sind. Die

die in gleichmäßigen Reihen versetzt angeordnet sind

Wirkung der Stoffmuster erprobte Ljubov’ Popova an

und optisch einen flimmernden Eindruck erzeugen.42

38

einer Reihe von Entwurfszeichnungen für Sommerkleider. Das abgebildete, ärmellose „Flapper-Kleid“

102

geschlungenes Tuch aus. Es verkörpert mit seinem

zeichnung für ein Kleid, das auf ihrem Textilentwurf von

39

Nach Ljubov’ Popovas frühem Tod im Mai 1924 erschien eine unter der Redaktion von Vladimir

zeichnet sich durch eine langgestreckte Silhouette mit

Majakovskij herausgegebene und von Aleksandr

tiefer Taille, einen großen Kragen und ein um die Taille

Rodčenko gestaltete Ausgabe der Zeitschrift LEF, dem

Christiane Post

Organ der Linken Front der Kunst, die einen Nachruf sowie auf dem Cover und den Innenseiten Entwürfe ihrer Textildrucke enthielt (Abb. 4). Diese Drucke waren dem programmatischen Artikel des Kunsttheoretikers Osip Brik, „Vom Gemälde zum Kattundruck“43, beigegeben. Er hebt an mit: „Die Propagierung der Produktionskunst ist von Erfolg gekrönt. Es wird offenkundig, dass die künstlerische Kultur sich nicht in Ausstellungs- und Museumsobjekten erschöpft – dass insbesondere Malerei nicht ‚Gemälde‘ ist, sondern die volle Gesamtheit der malerischen Gestaltung des Lebens. [...] Damit nicht genug. Es verfestigt sich die Überzeugung, dass das Gemälde stirbt, dass [...] der Kattundruck und die Arbeit am Kattundruck sich als Gipfel künstlerischen Schaffens erweisen wird.“44

Abb. 5: Marija Nazarevskaja, Bedruckte Baumwolle. Die Beseitigung des Analphabetentums (Likbez), hergestellt von der Ersten Staatlichen Kattundruckerei, Moskau, Ende der 1920er Jahre, 15 x 19 cm, Privatsammlung, Moskau

In den Jahren 1924/25 unterrichtete Varvara Stepanova, sich mit dem Entwurf von Mustern für bedruckte und gewebte Stoffe befassend, auch an der Textilfakultät der VChUTEMAS.45 Neben rein statischkonstruktiven Mustern entwickelte sie zunehmend

Künstlerisch-Technischen Instituts (VChUTEIN),48

kompliziertere Entwürfe, die den Eindruck von

entwarf für die Erste Staatliche Kattundruckerei einen

Bewegung und räumlicher Tiefe hervorriefen und auf

Baumwollstoff zu dem Thema Die Beseitigung des

Translation, Transparenz und unterschiedlichen

Analphabetentums (Likbez), der den Übergang von den

Symmetriegruppen beruhten. In ihrem Artikel „Die

gegenstandslosen konstruktivistischen Stoffmustern

Aufgaben des Künstlers in der Textilindustrie“

zu den ‚gegenständlichen‘ Mustern markierte.49 1933

46

thematisierte sie die Verschiebung des Fokus vom

wurde in der Pravda ein Artikel lanciert, der die ‚thema-

Muster zur Faktur des Stoffes, das heißt zur Entwick-

tischen‘ Stoffmuster kritisierte und einen Sonderbe-

lung neuer Stoffarten und zur Ausarbeitung neuer

schluss des Rates der Volkskommissare der UdSSR

Gewebestrukturen.

nach sich zog, in dessen Folge „kein einziges agitatorisches Muster mehr produziert“50 wurde. Dieser

‚Th e m at i sche‘ Tex tilentwürfe

Beschluss markiert eine Zäsur in der Geschichte der russischen ‚Textilen Avantgarde‘, die mit den von der gegenstandslosen konstruktivistischen Malerei

Ende der 1920er Jahre wurde eine breite

ausgehenden und von der produktivistischen Theorie

Diskussion über den Textilentwurf entfacht und

getragenen geometrischen Textilentwürfen begann,51

Muster mit „neuer Thematik“47 traten in den Vorder-

eine sehr kurze Zeitspanne umfasste, jedoch außeror-

grund (Abb. 5). Marija Nazarevskaja, Absolventin der

dentliche Wirkung entfaltete und heute ‚appropriiert‘

Textilfakultät des Moskauer Höheren Staatlichen

(wieder) in den Bereich der Kunst integriert wird.

Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova: Von der gegenstandslosen Malerei zum Textildruck

103

Anmerkungen

d. h. eine Adaption der sich in Deklarationen manifestierenden Sprache

Vgl. Erika Hoffmann-Koenige: Russische konstruktivistische

crat: Ginchuk and the Survival of the Avant-Garde, 1924–1926, in:

Kleidung: auch eine Utopie? Russian Constructivist Clothing: Just one

Charlotte Douglas und Christina Lodder (Hg.): Rethinking Malevich.

more Utopia?, in: Künstlerinnen der russischen Avantgarde. Russian

Proceedings of a Conference in Celebration of the 125th Anniversary

Women-Artists of the Avantgarde. 1910–1930, hg. v. Krystyna

of Kazimir Malevich’s Birth, London 2007, S. 121–138, hier 122 f.

1

Gmurzynska, Ausst.-Kat. Galerie Gmurzynska, Köln, Köln 1979, S. 46–

11

57; vgl. auch die Ausstellungen von Alexandra Hopf wie Die Falten der

dov 1994 (wie Anm. 3), S. 200–202.

Vgl. Stepanova 1921 (wie Anm. 7), S. 196–198; Chan-Magome-

Revolution – International Standard Coat (1917–2017), ZERO FOLD,

12

Köln 2017, und Maison Tatline, tête, Berlin 2018, http://www.ale­

den Konstruktivismus“ [22.12.1921], in: Ausst.-Kat. Bundeskunsthalle

xandrahopf.com/_Exhibiton_Views [Abruf: 15.12.2018].

1994 (wie Anm. 6), S. 199–201, hier S. 200.

Protokoll der Diskussion zu Genossin Stepanovas Vortrag „Über

ber 1917–1921, Cambridge 1970.

13 14 15

3

Vgl. Selim O. Chan-Magomedov: INChUK i rannij konstruktivizm

Zeitschrift LEF veröffentlichten Artikels von Osip Brik. Zur Produktions-

2

Vgl. Sheila Fitzpatrick: The Commissariat of Enlightenment: So-

viet Organization of Education and the Arts under Lunacharsky, Octo-

Chan-Magomedov 1994 (wie Anm. 3), S. 202. Ausst.-Kat. Bundeskunsthalle 1994 (wie Anm. 6), S. 201. V proizvodstvo! [In die Produktion!] ist der Titel eines 1923 in der

[INChUK und der frühe Konstruktivismus], Moskau 1994; Christina Lod-

kunst vgl. auch Tarabukin 1923 (wie Anm. 4), S. 5–44; Hans Günther

der: Russian Constructivism, New Haven/London 1983, S. 78–108.

und Karla Hielscher (Hg.): Boris Arvatov. Kunst und Produktion,

4

Vgl. Nikolaj Tarabukin: Ot mol’berta k mašine [Von der Staffelei

München 1972; Natasha Kurchanova: Against Utopia: Osip Brik and

zur Maschine], Moskau 1923. Deutsche Übersetzung in: Boris Groys

the Genesis of Productivism, Diss., The City University of New York,

und Aage Hansen-Löve (Hg.): Am Nullpunkt. Positionen der russischen

New York 2005; Anke Hennig (Hg.): Über die Dinge. Texte zur russi-

Avantgarde, Frankfurt a. M. 2005, S. 416–458, hier S. 429. Viktor Loba-

schen Avantgarde, Hamburg 2010.

nov zitierte in seiner 1930 in Moskau erschienenen Publikation

16

Chudožestvennye gruppirovki za poslednie 25 let [Künstlergruppierungen

Tolstoj (Hg.): Kunst und Kunsthandwerk in der Sowjetunion 1917–

der letzten 25 Jahre] die Konstruktivist_innen wie folgt: „Under pressure

1937, München 1990, S. 221–261, hier S. 221.

Vgl. Tat’jana Striženova und I. Alpatova: Textilien, in: Vladimir

pure forms of art. We recognize self-sufficient easel art as being out-

17 18

moded and our activity as mere painters as being useless. [...] We de-

gosudarstvennaja sitcenabivnaja fabrika) vgl. Société „Émile Zundel“. Ma-

clare productional art to be absolute and Constructivism to be its only

nufacture des tissus imprimés à Moscou, Moskau 1900, S. 3 f.; vgl. auch

form of expression.“ Zit. n. der engl. Übers.: John E. Bowlt: „From Pic-

Tat’jana Striženova: Iz istorii sovetskogo kostjuma [Aus der Geschichte

tures to Textile Prints“, in: The Print Collector’s Newsletter, 1976, H. 1,

des sowjetischen Kostüms], Moskau 1972, S. 15; Tatiana Strizhenova:

S. 16–20, hier S. 16.

Soviet Costume and Textiles 1917–1945, Paris 1991, S. 16.

from the revolutionary conditions of contemporaneity, we reject the

Ebd. Zur Geschichte der Ersten Staatlichen Kattundruckerei (Pervaja

der der Initiativgruppe waren: Aleksandr Rodčenko, Varvara Stepanova

19 20

und Aleksej Gan. Hinzu kamen Kārlis Johansons, Konstantin Medunec-

in: The Journal of Decorative and Propaganda Arts, 1987, H. 5, S. 144–

kij sowie Vladimir und Georgij Stenberg.

159, hier S. 149; Alexander Lawrentjew: Minimalismus und Textilkrea-

6

Vgl. Programm der Arbeitsgruppe der Konstruktivisten am IN-

tion, in: Künstler ziehen an. Avantgarde-Mode in Europa 1910 bis

ChUK [1.4.1921], in: Europa, Europa. Das Jahrhundert der Avant­garde

1939, hg. v. Gisela Framke, Ausst.-Kat. Museum für Kunst und Kultur-

in Mittel- und Osteuropa, Bd. 3: Dokumente, hg. v. Ryszard Stanislaw-

geschichte der Stadt Dortmund, Dortmund 1998, S. 58–67, hier S. 60;

ski und Christoph Brockhaus, Ausst.-Kat. Bundeskunsthalle Bonn, Bonn

Christina Lodder: Lyubov Popova: A Revolutionary Woman Artist, in:

1994, S.  199–201; vgl. auch Maria Gough: The Artist as Producer.

dies.: Constructive Strands in Russian Art 1914–1937, London 2005,

Russian Constructivism in Revolution, Berkeley/Los Angeles/London

S. 426–457, hier S. 439.

5

Vgl. Chan-Magomedov 1994 (wie Anm. 3), S. 89–112. Mitglie-

Striženova/Alpatova 1990 (wie Anm. 16), S. 225. Vgl. Natalia Adaskina: Constructivist Fabrics and Dress Design,

2005, S. 68–73.

21

7

Varvara Stepanova: Über den Konstruktivismus [22.12.1921],

nicht bekannt. Vgl. Christina Kiaer: Imagine No Possessions. The Social-

in: Ausst.-Kat. Bundeskunsthalle 1994 (wie Anm. 6), S. 196–198, hier

ist Objects of Russian Constructivism, Cambridge, Mass./London 2005,

S. 196.

S. 287, Anm. 8; Lodder 2005 (wie Anm. 20), S. 439 f.

8

104

des Bolschewismus. Vgl. Pamela Kachurin: Malevich as Soviet Bureau-

Chan-Magomedov 1994 (wie Anm. 3), S. 95; Ausst.-Kat. Bun-

22

Das genaue Datum ihres Arbeitsantritts in der Textilfabrik ist

Zu den Theaterproduktionen vgl. Alexander Lawrentjew: War-

deskunsthalle 1994 (wie Anm. 6), S. 193.

wara Stepanowa. Ein Leben für den Konstruktivismus, Weingarten

9 10

Ebd.

1988, S. 60–74; Dmitri V. Sarabianov und Natalia L. Adaskina: Popova,

Ebd., S. 194. Pamela Kachurin attestierte den in administrativen

New York 1990, S. 189–271. Zur „Prozodežda“ vgl. Striženova 1972

Positionen tätigen russischen Künstler_innen ein „speaking Bolshevik“,

(wie Anm.  18), S.  82–103; Strizhenova 1991 (wie Anm.  18), S. 143,

Christiane Post

153–163; Ada Raev: Zwischen konstruktivistischer „Prozodežda“ und

34

extravaganter Robe – russische Avantgardistinnen als Modegestalterin-

Design, in: Tate Papers, 2010, Issue 14, https://www.tate.org.uk/re-

nen, in: Frauen Kunst Wissenschaft, 1994, H. 17, S. 41–52.

search/publications/tate-papers/14/liubov-popova-from-paint-

23

Varst [Varvara Stepanova]: Kostjum segodnjašnego dnja  –

ing-to-textile-design [Abruf: 15.12.2018], o. S. Christina Lodder merkte

prozodežda [Der Anzug des heutigen Tages ist Prozodežda], in: LEF,

mit Verweis auf Rosalind Krauss an: „The grid epitomised the self-re-

1923, H. 2, S. 65–68. Übersetzung ins Deutsche zit. n.: Hubertus Gaß-

flexivity in modernist painting, emphasising the weave of the canvas

ner und Eckhard Gillen: Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem

and the break with naturalism“. Vgl. Rosalind Krauss: Grids, in: October,

Realismus. Dokumente und Kommentare. Kunstdebatten in der Sow­

Bd. 9, 1979, S. 50–64.

jet­union von 1917 bis 1934, Köln 1979, S. 235–237.

35

24 25

Ebd., S. 65 bzw. 235. Hervorhebungen im Original.

designs and several dozen clothing designs“ (vgl. Sarabianov/Adaskina

Vgl. Christina Lodder: Liubov Popova: From Painting to Textile

Über Ljubov’ Popova heißt es, dass sie „about a hundred textile

Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova: Manuskript [um

1990 (wie Anm. 22), S. 300) entwarf, und über Varvara Stepanova, dass

1923/24], in: Aleksandr Lavrent’ev: Poėzija grafičeskogo dizajna v

sie „etwa 100 Skizzen“ bzw. „mehr als 150 verschiedene Muster“ anfer-

tvorčestve Varvary Stepanovoj [Die Poesie des Grafikdesigns im Werk

tigte. Vgl. Lawrentjew 1988 (wie Anm. 22), S. 81, 83.

von Varvara Stepanova], in: Techničeskaja ėstetika [Technische Ästhetik], 1980, H. 5, S. 22–26, hier S. 25; auszugsweise Übers. ins Deut-

36 37

sche: Lawrentjew 1988 (wie Anm. 22), S. 81.

1930, S. 26. Übers. durch die Verf.

26

38

Vgl. Lodder 2005 (wie Anm. 20), S. 446; Christina Kiaer: His and

Ebd. F[rida] Roginskaja: Sovetskij tekstil’ [Sowjetisches Textil], Moskau Dieses Muster gehört zum zweiten Typ (p2) der Ebenengruppen

Her Constructivism, in: Rodchenko & Popova. Defining Constructivism,

in einem allgemeinen Gitter mit 2-zähligem Drehpunkt (180°). Vgl.

hg. v. Margarita Tupitsyn, Ausst.-Kat. Tate Modern, London, London

Robert Fricke und Felix Klein: Vorlesungen über die Theorie der auto-

2009, S. 143–159, hier S. 150 f.

morphen Functionen. Bd.  1: Die gruppentheoretischen Grundlagen,

27 28

Lawrentjew 1988 (wie Anm. 22), S. 81.

Leipzig 1897; Andreas Speiser: Die Theorie der Gruppen von endlicher

Ebd. Im Englischen wurde „Heranziehen von Arbeitern zu

Ordnung. Mit Anwendungen auf algebraische Zahlen und Gleichungen

künstlerischer Arbeit“ z.  B. mit „hiring of workers in the art sector“

sowie auf die Kristallographie, Berlin 1923. Ich danke Michael Schwarz

(Adaskina) und „recruiting colleagues for artistic work“ (Lodder) über-

für diese Hinweise.

setzt. Vgl. Adaskina 1987 (wie Anm. 20), S.  149; Lodder 2005 (wie

39

Anm. 20), S. 447.

per dress“ und zur „clumsiness“ dieser Entwürfe vgl. Christina Kiaer:

29

Zur Bezeichnung der von Popova entworfenen Kleider als „flap-

Varvara Stepanova: O položenii i zadačach chudožnika-

The Russian Constructivist Flapper Dress, in: Critical Inquiry, 2001,

konstruktivista v sitcenabivnoj promyšlennosti v svjazi s rabotoj na I

H. 1, S. 185–243; dies. 2005 (wie Anm. 21), S. 124–140; dies. 2009 (wie

sitcenabivnoj fabrike [5.1.1924] [Über die Rolle und die Aufgaben eines

Anm. 26), S. 152 f.

Künstler-Konstrukteurs in der Baumwolldruck-Industrie in Verbindung

40

mit der Arbeit in der Ersten Kattundruckerei], in: Striženova 1972 (wie

‚neues Muster‘ [novyj risunok] wird gewöhnlich mit der Vorstellung ei-

Anm. 18), S. 97; Strizhenova 1991 (wie Anm. 18), S. 141 f.

nes gegenstandslosen geometrischen Dessins assoziiert.“ Vgl. Rogins-

30

kaja 1930 (wie Anm. 37), S. 76 f. Übers. durch die Verf.

Vgl. Katalog 5 x 5 = 25. Vystavka živopisi [Katalog 5 x 5 = 25.

Frida Roginskaja schrieb in Sovetskij tekstil’: „Der Ausdruck

Malerei-Ausstellung], Ausst.-Kat. Klub V.S.P., Moskau 1921, o. S. Teil-

41

nehmende Künstler_innen der Ausstellung waren Varst [Varvara Stepa-

shows us how it is made; it hides nothing, but rather renders its mode

nova], Aleksandr Vesnin, Ljubov’ Popova, Aleksandr Rodčenko und

of production transparent.“ Vgl. Kiaer 2001 (wie Anm. 39), S. 230.

Aleksandra Ėkster.

42

31

Briony Fer: What’s in a Line? Gender and Modernity, in: Oxford

der zwanziger Jahre, in: mit voller kraft. Russische Avantgarde 1910–

Art Journal, 1990, H. 1, S. 77–88, hier S. 77. Übersetzung durch die Verf.

1934, hg. v. Wilhelm Hornbostel, Karlheinz W. Kopanski und Thomas

32

Rudi, Ausst.-Kat. Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg, Heidel-

Vgl. Aage A. Hansen-Löve: Faktur/Gemachtheit, in: Aleksandar

Christina Kiaer schrieb: „This dress is an object that indexically

Vgl. Ursula Strate: Vom Bild zum Textil – Abstrakte Stoffmuster

Flaker (Hg.): Glossarium der russischen Avantgarde, Wien/Graz 1989,

berg 2001, S. 85–88, hier S. 87.

S. 212–219.

43

33

Vgl. Ljubov’ Popova: Bericht über das Treffen der Kommission zu

in: LEF, 1924, H. 2, S. 27–34. Auszugsweise Übers. ins Deutsche in:

den Schlussfolgerungen aus der Diskussion am 1.3.1921, in: Ausst.-Kat.

Charles Harrison und Paul Wood (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhun-

Bundeskunsthalle Bonn 1994 (wie Anm. 6), S. 192. Zum Verfahren der

dert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste,

Verschiebung (sdvig) vgl. Viktor Šklovskij: Iskusstvo kak priem [Kunst als

Statements, Interviews, Bd.  1: 1895–1941, Ostfildern-Ruit 1998,

Verfahren], in: Sborniki po teorii poėtičeskogo jazyka [Sammelbände zur

S. 364–368. Neben den Entwürfen für Stoffdrucke für die Textilindustrie

Theorie der poetischen Sprache], Petrograd 1917, Bd. II, S. 3–14. Übers.

von Ljubov’ Popova enthielt der Artikel auch Entwürfe von Varvara

ins Deutsche in: Fritz Mireau (Hg.): Die Erweckung des Wortes. Essays

Stepanova und Aleksandr Rodčenko.

der russischen Formalen Schule, Leipzig 1991, S. 11–32.

44

Osip Brik: Ot kartiny k sitcu [Vom Gemälde zum Kattundruck],

Ebd., S. 27 bzw. 364.

Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova: Von der gegenstandslosen Malerei zum Textildruck

105

45

Lawrentjew 1988 (wie Anm. 22), S.  82–84; Selim O. Chan-

Vgl. Irina Ostarkova u.  a. (Hg.): 100% Ivanovo. Agitacionnyj

teks­til’ 1920-ch–1930-ch godov iz sobranija Ivanovskogo gosudarst-

und ders.: VChUTEMAS 1920–1930, Bd.  2, Moskau 2000, S.  160 f.

vennogo istoriko-kraevedčeskogo muzeja im. D.G. Burylina [100% Iva-

Varvara Stepanova verfasste zudem einen „Entwurf eines Unterrichts-

novo. Agitatorisches Textil der 1920er–1930er Jahre aus der Sammlung

plans für einen Kurs in künstlerischer Komposition in der Textilfakultät

des Ivanovoer Staatlichen historisch-heimatkundlichen Museums D. G.

der WChUTEMAS, 1925“. Vgl. Lawrentjew 1988 (wie Anm. 22), S. 182–

Burylin], Moskau 2010.

50

184.

46

106

49

Magomedov: VChUTEMAS 1920–1930, Bd.  1, Moskau 1995, S.  59,

Varvara Stepanova, Die Aufgaben des Künstlers in der Textilin-

Douglas 1992 (wie Anm. 48), S. 259; vgl. auch Galina Wlassowa:

„Wir bauen unsere neue Welt!“ – Gegenständliche Stoffmuster, in: Horn-

dustrie [1928], in: Alexander M. Rodtschenko · Warwara F. Stepanowa.

bostel/Kopanski/Rudi 2001 (wie Anm. 42), S. 201–204, hier S. 204.

Die Zukunft ist unser einziges Ziel..., hg. v. Peter Noever, Ausst.-Kat.

51

Österreichisches Museum für Angewandte Kunst, Wien, und Puschkin-

wurden einerseits als ein entscheidender Bruch mit früheren Stilen und

Museum, Moskau, München 1991, S. 190–193.

andererseits als in der Tradition der russischen dekorativen Kunst ver-

47 48

Roginskaja 1930 (wie Anm. 37), S. 87.

ortet beschrieben und zu Vorläufern der Kunst der zweiten Hälfte des

Marija Nazarevskaja leitete nach der Schließung des VChUTEIN

20. Jahrhunderts erklärt. Vgl. Lawrentjew 1988 (wie Anm. 22), S. 82 f.;

die Kunstabteilung des Moskauer Textilinstituts. Vgl. Charlotte Doug­

Douglas 1992 (wie Anm. 48), S. 249; vgl. auch Nikolaj Sobolev: Nabojka

las: Russische Textilentwürfe, in: Die große Utopie. Die russische

v Rossii. Istorija i sposob raboty [Stoffdruck in Russland. Geschichte

Avantgarde 1915–1932, hg. v. Bettina-Martine Wolter und Bernhart

und Arbeitsweise], Moskau 1912; Julija Tulovskaja: Tekstil’ avangarda.

Schwenk, Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt, Frankfurt a. M. 1992,

Risunki dlja tkani [Textil der Avantgarde. Stoffmuster], Ekaterinburg

S. 249–259, hier S. 255.

2016.

Christiane Post

Die Textilentwürfe von Ljubov’ Popova und Varvara Stepanova

Vereins in München erhielt, widmete sich über viele Jahre ihres künstlerischen Schaffens verschiedenen textilen (Handwerks-)Techniken. Ihr Œuvre ist bisher wenig erforscht, einige ihrer frühen textilen Arbeiten sind im Werkverzeichnis von Franz Marc aufgeführt3, ein eigenes gilt es noch zu erstellen. Zu ihren Lebzeiten und unter ihrer Mithilfe zeigte die Münchner Galerie Stangl 1952 die Ausstellung Wandteppiche – Maria Marc, Zeichnungen aus dem letzten Skizzenbuch –

Zwischen detailgetreuem Nachsticken und eigenen abstrakten Webentwürfen: Textile Arbeiten von Maria Marc Susanna Baumgartner

Franz Marc.4 Nach ihrem Tod 1955 präsentierte die Neue Sammlung in München in einer Gruppen-Ausstellung zu dem Thema Wandteppiche einige ihrer textilen Arbeiten neben denen von Johanna SchützWolff, Fritz und Inge Vahle oder Ida Kerkovius.5 Lediglich das Münchner Lenbachhaus widmete sich 1995 mit der Ausstellung Maria Marc. Leben und Werk 1876–1955 mit 32 ausgestellten Werken monografisch dem Œuvre der Künstlerin.6 Im Jahr 2004 kontextualisierte das Schloßmuseum Murnau im Rahmen der Ausstellung Maria Marc im Kreise des Blauen Reiters das malerische und textile Werk der

Die Herstellung und Verarbeitung von Textilien

Künstlerin mit Zeichnungen und Gemälden von

sind jahrhundertealte kulturelle Praktiken, deren

Gabriele Münter, August Macke, Franz Marc und

geschlechtsspezifische Zuschreibungen sich im Laufe

anderen Mitgliedern der Künstlervereinigung.7 In

der Zeit und in den verschiedenen Regionen der Welt

Publikationen gilt das Interesse meist ihrer Biografie,

immer wieder gewandelt haben. In der Moderne

wobei der Fokus auf dem gemeinsamen Leben mit

wurden textile Künste in vielfältiger Weise aufgegrif-

ihrem weithin bekannteren Mann, Franz, Marc und

fen, wobei in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts

nach dessen Tod auf ihr als seinen Nachlass verwal-

textile Techniken noch immer vor allem Frauen

tende Witwe liegt.8

zugeordnet wurden.1 Dabei übernahmen diese anfangs

Im Zentrum dieses Beitrags steht die Frage, wie

zumeist die ausführenden Arbeiten, während Männer

Maria Marc textile Techniken verwendete. Es soll

die Entwürfe gestalteten. Auch wenn Überlegungen zu

gezeigt werden, dass die Künstlerin mit der verzieren-

diesen geschlechtsspezifischen Zuschreibungen

den und weiterverarbeitenden Technik des Stickens

meinem Beitrag zugrunde liegen, soll der Fokus hier

figürliche Vorlagen detailgetreu nachstickte, wohinge-

ein anderer sein.2

gen sie im Webprozess abstrakte Muster und Farben

Maria Marc (geborene Franck), die ihre künstle­

zu einer textilen Fläche verband. Dabei war das von ihr

rische Ausbildung um 1900 an der Königlichen

selbst praktizierte Färben der Wolle von Bedeutung

Kunstschule Berlin und der Schule des Künstlerinnen-

für ihren schöpferischen Prozess.9

Textile Arbeiten von Maria Marc

107

Detailgetreues Nachsticken  – Ti erdarstellungen nach Fra nz Ma rc Wie andere Mitglieder der Künstlervereinigung Blauer Reiter verlegte auch Maria Marc mit ihrem Mann zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Arbeitsund Wohnort in ländliche Gebiete der bayerischen Voralpen. Eine Bewegung aus der Großstadt aufs Land, die auch andere Gruppierungen von Künstler_ innen wie die der Brücke vollzogen. Die Abkehr von Großstadtleben und Akademien beziehungsweise akademischen Strukturen war mit einem Interesse am Experimentieren mit ‚neuen‘ Materialien und der im ländlichen Raum praktizierten Volkskunst verbunden.10 So hatten Gabriele Münter und Wassily Kandinsky in Murnau für sich die Technik der Hinterglasmalerei in der Sammlung Krötz entdeckt. Durch ihre Anregung entwickelte sich diese zu einem gemeinsamen ­Tätigkeitsfeld der Gruppe.11 Aber auch Textilien und ihre Gestaltung waren ein Bereich, mit dem sich neben Marc andere Künstler_innen im Umfeld der Vereinigung des Blauen Reiters beschäftigten. ­Elisabeth Macke und Gabriele Münter stickten, Franz Marc entwarf Webvorlagen für den Plessmannschen Handwebstuhl und Textildesigns.12 Maria Marc führte seine Entwürfe in Stickerei aus.13 Dabei werden auf einem Tuch Muster und Figuren geschaffen. Zeichnungen auf Millimeterpapier dienen bei der Übertragung der Größenverhältnisse als Schablonen. Mit unterschiedlichen Stichlängen und -typen sowie Garnstärken und -farben werden diese Vorzeichnungen schließlich auf einen leinwandbindigen Grundstoff übertragen.14 Die Künstlerin orientierte sich für ihre Stickarbeiten an figürlichen Vorlagen, wobei sie sich Franz Marcs Formen- und Figurenrepertoires aneignete.

108

Susanna Baumgartner

Abb. 1: Maria Marc, Ohne Titel, 1914/1915, Stickerei, 74 x 26 cm, Privatbesitz

Aus den Jahren 1914/1915 ist eine Stickarbeit von Maria Marc erhalten, die größer ist als die übrigen dekorativen Arbeiten und sich in ihrer Farbigkeit und technischen Ausführung deutlich von diesen unterscheidet (Abb. 1). Die Komposition orientiert sich an einer Skizze von Franz Marc (Abb. 2), die er 1911 für ein Hinterglasbild mit dem Titel Landschaft mit Pferden und Regenbogen anfertigte. Maria Marc wählte für ihre gestickte Arbeit ein für diese Technik ungewöhnlich großes Hochformat (74 mal 26 Zentimeter). Motivisch übernahm sie Details der Skizze Marcs, so auch den farblichen Kontrast zwischen den schwarzen und weißen Pferden und den angrenzenden Farbflächen. In der Bildmitte griff sie die Farbflächen der abstrahierten Landschaft auf. Hierbei erlaubte ihr die Sticktechnik nur eine Andeutung der sanften Farbverläufe der aquarellierten Skizze durch das Nebeneinander ähnlicher Farbtöne. Hingegen konnte sie die kontrastreichen Akzente und klar voneinander abgegrenzten Flächen durch die Plastizität der Stiche hervorheben. Die Künstlerin wählte für ihre Arbeit einen Grundstoff aus Leinen, den sie mit Woll- und Seidengarnen in der Technik des Plattstichs bestickte.15 Dieser ermöglichte ihr die klar voneinander getrennten Farbflächen durch lange Stiche verhältnismäßig groß zu gestalten. Die Stickarbeit zu Landschaft mit Pferden und Regenbogen zeugt von ihrer eigenen Auseinander­ setzung mit der experimentellen Herangehensweise ihres Mannes in seinen Arbeiten hinter Glas.16 Beide wählten ein größeres Format und setzten die charakteristischen Ausdrucksmittel des jeweiligen Mediums in ungewohnter Weise ein. In ihren Briefen aus jener Zeit drückt sich der Austausch über künstlerische Fragen mit den Mitgliedern des Blauen Reiters aus, aber auch Abb. 2: Franz Marc, Schwarzes und weißes Pferd in Gebirgslandschaft mit Regenbogen (aus dem Skizzenbuch XXI), 1911, Kohle, Deckfarben und Aquarell, 21,8 x 10,5 cm, Albertina Wien

ihre Neigung sich dem Urteil ihres Mannes unterzuordnen und ihre Unzufriedenheit damit, lediglich nach seinen Entwürfen Stickarbeiten anzufertigen.17

Textile Arbeiten von Maria Marc

109

Farb-Netzwerke: Tex tilwerkst at t am Bauhaus

nur die sehr gut ausgestattete Werkstatt zum Weben, sondern auch die Möglichkeit, mit (Natur-)Farbstoffen zu experimentieren und die Wolle für ihre Arbeiten

Seit dem Wintersemester 1922/1923 besuchte Maria Marc für zwei Semester die Textilwerkstatt des

Wie andere textile Arbeitsweisen wird auch das

Bauhauses in Weimar. Diese war bereits seit den

Färben weltweit praktiziert und reicht weit zurück in

Anfängen der Schule die am besten ausgestattete

der Geschichte. Es kann am Anfang der Arbeit an einer

Werkstatt, da die seit den Gründungstagen amtie-

textilen Fläche stehen, wenn das Rohmaterial (Woll-

rende Leiterin Helene Börner ihre privaten Webstühle

stränge oder Garne) gefärbt wird, einer von vielen

und Werkzeuge zur Verfügung stellte. Maria Marc

Schritten in der Ausgestaltung von Textilien sein, oder

suchte sich also eine Institution aus, in der sich ihr

es ist der letzte Vorgang an einem bereits fertig

gute technische Möglichkeiten boten und eine

genähten Kleidungsstück. Bei der Herstellung von

handwerklich versierte Werkstattleiterin unterrichte-

Gobelins, wie sie auch am Bauhaus entstanden,

te. Angesichts unterschiedlicher Erwartungen an die

handelt es sich um die Farbgebung von Rohmaterial:

Werkstattarbeit – Börner wollte handwerkliche

Hier wird die Wolle gefärbt, bevor sie in einen Bildtep-

Fertigkeiten vermitteln und die Produktivität der

pich verwebt wird. Das Färben erfordert und lehrt –

Werkstatt aufrechterhalten und verbessern, die

durch die intensive Auseinandersetzung mit den

angehenden Künstlerinnen wollten ihre Kreativität

beiden sich verbindenden Komponenten Farbe und

ausleben und in den Formkursen Erlerntes anwen-

Wolle – ein vertieftes und gründliches Materialempfin-

den – kam es zu Differenzen zwischen Werkmeisterin

den. Gunta Stölzl drückte 1931 rückblickend ihre

und Schülerinnen. Letztere wie Gunta Stölzl und

Arbeit an der Farbe folgendermaßen aus: „Allein schon

Benita Otte beklagten die konservative Herangehens-

die Farbe, die in jedem Material – Wolle, Seide,

weise Börners, ebenso ihre fehlende Kreativität und

Leinen – ein anderes, ganz spezielles Leben hat, stellte

Offenheit; es gelang ihnen jedoch, neue Impulse in der

uns vor die tiefsten und umfassendsten Probleme.“23

18

19

Werkstatt zu setzen, etwa indem sie mit Web-Bindun-

In der langen Zeit ihrer Beschäftigung mit

gen experimentierten.20 Maria Marc bewegte sich

Textilien praktizierte und professionalisierte Maria

folglich in einem Spannungsfeld zwischen ihren

Marc das Färben. Sie experimentierte mit verschiede-

kreativen und experimentierfreudigen Mitschülerin-

nen Wollprodukten und unterschiedlichen Substanzen

nen, dem hohen handwerklich-technischen Anspruch

zur Farbgewinnung – später vornehmlich pflanzlichen.

Börners und dem an Textilien wenig interessierten

Nach ihrer Zeit am Bauhaus färbte und webte Maria

Formmeister Georg Muche, der seinen Schülerinnen

Marc in Ascona, wohin sie zeitweise gezogen war, und

21

jedoch viele Freiheiten ließ.

in Ried. Sie stand in regem Austausch mit befreunde-

In ihrer Zeit am Bauhaus erweiterten die Mit-

ten Künstlerinnen über Anregungen und Empfehlun-

schülerinnen von Maria Marc, Gunta Stölzl und Benita

gen für gute Materialien (sowohl Wolle wie Färbemit-

Otte die Textilwerkstatt um eine eigene Färberei.

tel). 1930 verbrachte Marc einen Studienaufenthalt an

Diese richteten sie 1922 ein, inspiriert durch eine

der Kunstschule Burg Giebichenstein in Halle (Saale),

Fortbildung in Textilfärbetechniken, die sie in Krefeld

vermutlich angeregt durch die Künstlerin Johanna

absolviert hatten. Maria Marc nutzte schließlich nicht

Schütz-Wolff, die 1920 Mitbegründerin der dortigen

22

110

selbst zu färben.

Susanna Baumgartner

Stölzl-Sharon, war mittlerweile Meisterin der Textilwerkstatt und ihre Assistentin, Margarete Leischner, leitete ab 1930 die Färberei des Bauhauses.25 Von ihnen ließ sich Maria Marc ebenfalls Woll- sowie Färbeproben zukommen und Stölzl-Sharon empfahl in diesem Briefwechsel Wollkämmereien mit bewährten Produkten, die in kleinen Quantitäten bezogen werden konnten. 26 Wohl ab den späten 1930er Jahren begann Maria Marc Farbstoffe aus Pflanzen zu gewinnen. Mit Johanna Schütz-Wolff tauschte sie Rezepturen für die Gewinnung von Farbstoffen aus Pflanzen wie Birkenblättern, Wiesenkerbel und Frauenmantel aus. Sie berichteten sich von ihren Experimenten und Erfahrungen mit den jeweiligen Färbebädern.27 Die intensive und langjährige Beschäftigung mit dem Färben zeigt, dass der kreative Prozess für Maria Marc bereits vor der Arbeit am Webstuhl begann.

Gewebte Abst ra kt i on  – Ma ri a Ma rcs Weba rbei ten Maria Marc widmete sich über eine Zeitspanne von 30 Jahren der Weberei. In ihrem Nachlass sind Abb. 3: Lotte Peters, Briefanhang mit Wollproben, 18. Februar 1930, Nachlass Maria Marc, Privatbesitz

Gobelins verschiedenen Formats und materieller Ausführung erhalten. Mit ihren Webarbeiten löste sie sich von den gegenständlichen Darstellungen ihrer Stickereien, blieb dabei in Komposition und Formen-

Weberei war und diese fünf Jahre leitete. Ein ausführ-

sprache nahe an den Arbeiten ihrer Zeitgenoss_innen

licher Brief von Lotte Peters, der späteren Leiterin der

am Weimarer Bauhaus. Gunta Stölzl charakterisierte

Färberei auf Giebichenstein, bezeugt Maria Marcs

1926 Gobelins als „Gebiet freier, künstlerischer

beharrliches Interesse an den verschiedenen Möglich-

Äußerungen, jedoch vom Webvorgang bestimmt“28,

keiten des Färbens. Peters empfahl ihr Farbstoffe,

während andere gewebte Textilien im Bauhaus wegen

Bindemittel und deren Mischverhältnisse sowie

ihrer Zweckbestimmung als angewandte Textilien

Bezugsquellen und legte Farbproben bei (Abb. 3). Aber

angesehen wurden. Anni Albers, ebenfalls ehemalige

auch mit ihren ehemaligen Mitschülerinnen am

Bauhaus-Schülerin, setzte sich 1965 in ihrem Werk On

Bauhaus hielt Marc Kontakt, wie weitere Schriftstücke

Weaving intensiv mit der Weberei auseinander und

zeigen. Gunta Stölzl, in Dessauer Jahren Gunta

beschrieb die Unterscheidung zwischen kontrastieren-

24

Textile Arbeiten von Maria Marc

111

der Struktur- und Musterweberei und piktoraler

So die Zeichnung eines Teppichs, der mit symmetrisch

Web-Gestaltung folgendermaßen: „It is a form of

angeordneten geometrischen Formen gestaltet ist

weaving that is pictorial in character, in contrast to

(Abb. 4). Auf einem mit Bleistift gezeichneten Raster

pattern weaving, which deals with repeats of contras-

sind rechtwinklige Formen von einem Zentrum

ting areas. It works with forms meaningful both in

ausgehend punktsymmetrisch konstruiert: Gelbe

themselves and through their relatedness within the

Linien, die in ein Rechteck münden, fallen farblich auf

pictorial organization. […] It is artwork, and, as in other

und ziehen die Blicke der Rezipierenden ins Bild. An

plastic arts, it demands the most direct – that is, the

den Rändern der Zeichnung sowie auf der gelben

least impeded – response of material and technique to

Fläche fügte die Künstlerin Maßangaben ergänzend

the hand of the maker, the one who here transforms

hinzu. Maria Marc konstruierte hier mithilfe geometri-

matter into meaning.“29

scher Gesetzmäßigkeiten eine durch Farben struktu-

Diese Freiheiten in der Formfindung ergaben

charakteristischen Fransen anfügte und so als Skizze

des Webens. Der Herstellung von Gobelins dienen

für einen Teppich markierte.

Hochwebstühle, die durch vertikal aufgespannte

Im Zentrum eines beinahe quadratischen

Kettfäden gekennzeichnet sind. In diese werden von

Schlitzgobelins (undatiert, zirka 31 mal 29,5 Zenti­

unten beginnend in horizontaler Bewegung Schuss­

meter) ist die abstrahierte Gestalt eines Vogels zu

fäden eingearbeitet und durch Kämmen nach unten

erkennen (Abb. 5). Der kleine Gobelin ist in Leinwand-

verdichtet. Werden die Schussfäden bei vertikal

bindung aus einer Bastkette und Schussfäden in Wolle

verlaufendem Farbwechsel nicht flottierend auf der

und Effektgarnen gestaltet.31 Hierbei sind die Kettfä-

Rückseite mitgeführt oder unvernäht hängen gelassen,

den am oberen und unteren Rand unvernäht verknotet

sondern bei jedem Farbwechsel in Gegenrichtung

und jeweils in gleicher Länge zu Fransen abgeschnit-

zurückgewebt, entstehen Schlitze. Während durch

ten. Der Rand des kleinen Webstücks ist aus Bast in

Kämmen die horizontale Verdichtung des Teppichs in

Form eines umlaufenden Rahmens gestaltet. Eine in

den Webvorgang integriert ist, müssen die Öffnungen

schwarzem Wollgarn gewebte Linie, die daran an-

zwischen den Farbflächen in vertikaler Richtung

schließt, verstärkt durch den Kontrast die rahmende

nachträglich in einem weiteren Schritt zusammen­

Wirkung. Innerhalb dieses Rahmens steht ein die

genäht werden.

quadratische Form der Webarbeit wiederholendes

Zur überwiegenden Zahl der Webarbeiten von

112

rierte Fläche, der sie schließlich mit brauner Farbe die

sich wohl auch durch die technischen Möglichkeiten

Rechteck auf einer Ecke. Es wird wiederum umgeben

Maria Marc sind keine Vorzeichnungen überliefert, und

von vier breiten diagonal verlaufenden Streifen, die

sie sind weder betitelt noch datiert und signiert. Die

den Raum zwischen Rahmen und Quadrat füllen

Skizzenbücher der Künstlerin umfassen dennoch

(einem gekippten Kreuz ähnlich). Innerhalb des

zahlreiche Bleistiftskizzen zu Stick- und Webarbeiten

stehenden Quadrats ist der abstrahierte Vogel in

sowie kolorierte Textilentwürfe auf Millimeterpapier

einem Kreis aus Formen in Orange-, Gelb-, und

(oder mit eigens gezeichnetem Raster), die mit Berech-

Goldtönen mit unterschiedlichen Garnmaterialien und

nungen zu Garnverbrauch und Größenverhältnissen

-stärken gestaltet. Diese verschiedenen Garne und die

kommentiert sind.30 Manch detaillierte Entwurfszeich-

augenfälligen Schlitze im Gewebe verleihen dem Tier

nung wirft Fragen nach ihrer textilen Ausführung auf.

eine lebendige Struktur.

Susanna Baumgartner

Die Künstlerin verband in dieser Arbeit abstrakte Formen und Farbkompositionen mit figurativen Elementen. Maria Marc experimentierte mit den materiellen und technischen Möglichkeiten, die ihr die Gobelinweberei bot, und setzte die – zum Teil farblich auch akzentuierten – Schlitze gezielt als Gestaltungsmittel ein. Auf formaler Ebene spielte sie mit den geometrischen Formen Kreis und Quadrat. Dieses Formenspiel findet seine Entsprechung auch im Materialeinsatz. Marc kombinierte verschiedene Garne und Materialien. Der Bast-Rahmen gibt dem kleinen Bildteppich Stabilität, die weiche Wolle steht im Kontrast zu dem rauen und harten Effektgarn in Gold, das im mittleren Kreis verwendet wurde. Mit diesem kleinen Webstück, das Maria Marc in leichter Abwandlung, allerdings ohne Tierfigur, ein weiteres Mal ausführte, zeigt sich ihr experimenteller Umgang auf mehreren Ebenen: materiell, formal und technisch. Dabei spielte sie mit den Möglichkeiten, die ihr die Bildweberei eröffnete und die die Bauhaus-Schülerin Helene Nonné-Schmidt 1926 im Vergleich zur Malerei

Abb. 4: Maria Marc, Ohne Titel, undatiert, Bleistift und Aquarell auf Papier, Blattgröße: ca. 43 x 33 cm, Privatbesitz

wie folgt beschrieb: „Ihr Besonderes gegenüber der Malerei ist ihre starke Variationsmöglichkeit in Bezug auf die Oberflächenwirkung, erreicht einmal durch die Verschiedenartigkeit des Materials wie: Wolle, Baumwolle, Leinen, Seide, Kunstseide, Metall, Glas – in der Wirkung also glatt, rauh, glänzend, matt, stumpf, grob, fein, weich, hart, dick, dünn; und durch die reichen Möglichkeiten des Strukturwechsels.“32 Reduzierter setzte Maria Marc diese Möglichkeiten bei der Gestaltung einer weiteren Webarbeit ohne Titel und Datierung ein (circa 45 mal 84 Zentimeter; Abb. 6). Der querformatige Wandteppich ist vollständig aus Wolle gearbeitet. Seine Längsseiten sind von einem schmalen rostroten Rahmen gefasst, an dem die kurzen Fransen aus Kettgarn beginnen. Drei Dreiecksformen, die die gesamte Fläche einnehmen, bilden den abstrakten Hintergrund des Webteppichs. Von den

Abb. 5: Maria Marc, Ohne Titel, undatiert, ca. 31 x 29,5 cm, Privatbesitz

Textile Arbeiten von Maria Marc

113

Abb. 6: Maria Marc, Ohne Titel, undatiert, Wolle, ca. 45 x 86 cm, Privatbesitz

Schmalseiten ausgehend sind zwei Dreiecke in

auf Effektgarne. Sie reduzierte die Farbigkeit, wobei

unterschiedlich melierten Blautönen gearbeitet, die

sie die roten Elemente in beiden Bildhälften kontras-

sich am unteren Teppichrand zu überlappen scheinen.

tierend zu den blauen Flächen einwebte. Farbe und

Zwischen diesen beiden unterschiedlich blauen

gleichmäßige Wollqualität lassen vermuten, dass sie

Flächen ragt eine von der oberen Längsseite nach

das Material für diesen Schlitzgobelin eigens gefärbt

unten weisende, hellblau melierte abgerundete

hat und dabei auf ihre Rezepturen zur Farbgewinnung

Dreiecksform hervor. In diese sind braune, rostrote

aus Pflanzen zurückgriff.

und grüne Strukturen eingewebt. Vom unteren Rand

Maria Marc behielt in ihren Webarbeiten durch

des Wandteppichs gehen zwei schmale, rostrote,

rahmende Elemente den bildhaften Charakter bei. Sie

mehrmals rechtwinklig abknickende Linien jeweils bis

setzte abstrahierte Formen ein, löste sich dabei jedoch

etwa zu den Farbübergängen der Dreiecke. Die linke

nicht vollständig von figürlichen Details.

Linie mündet in eine aufrecht stehende abstrahierte Figur in Frontalansicht, die ihre geflügelten Arme auszubreiten scheint. Das rechte Band mündet in eine gedrungen wirkende, dreieckige Fläche. Diesen

Mi t pf la nz li chen Fa rben z u a bst ra kten Form en

Schlitzgobelin bearbeitete die Künstlerin, anders als das oben beschriebene Webstück, indem sie die vielen

114

Die wenigen, eingangs angeführten Ausstellun-

Öffnungen, die sich durch die Farbwechsel ergaben,

gen, die (textile) Arbeiten Maria Marcs zeigten,

mit Verbindungsnähten schloss. Statt in Materialien

verdeutlichen die geringe Aufmerksamkeit, die ihrem

und Garnstärken zu variieren, verwendete sie einheitli-

Œuvre bisher zuteilwurde. In der Rezeption ihrer

che, locker gezwirnte Wollgarne und verzichtete ganz

Kunst steht ihre Partnerschaft mit Franz Marc im

Susanna Baumgartner

Vordergrund, und sie verbleibt somit im Schatten ihres

Färbetechniken und entwickelte ihre Formensprache

Mannes sowie der (männlichen) Mitglieder des Blauen

in abstrakter werdenden Wandteppichen. In der

Reiter. Dass sie selbst viel Zeit in die Dokumentation

langen Zeit ihrer Beschäftigung mit dem Weben blieb

und Verwaltung des Werks ihres verstorbenen Mannes

sie der handwerklichen Herstellungsweise und auch

investierte und dabei möglicherweise ihre eigenen

der figurativen Formensprache von Gobelins treu.

Arbeiten zuweilen weniger im Blick hatte, mag diese

Sie erprobte weniger neue Bindungen und ihre

Sichtweise befördert haben.

Kombinationen als ihre Mitschülerinnen am Bauhaus,

Mit meinen Ausführungen konnte ich zeigen,

sondern schien ihr Experimentierfeld eher in den

dass Maria Marc in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg

Färbetechniken und der Gewinnung von Farbe aus

im Umfeld der Künstlergemeinschaft Blauer Reiter

Pflanzen gefunden zu haben.33 Es ist lohnend weiter zu

deren Interesse an ‚neuen‘ Materialien und Techniken

untersuchen, wie ihre Versuche und Erfahrungen mit

in einer für sie neuen künstlerischen Technik produktiv

Farben auch zu einem Experimentieren mit Formen

aufgriff. Sie begann ihre 40 Jahre andauernde Arbeit

führten.

mit Textilem mit Weiterverarbeitung und Reproduktion

Maria Marc erfasste und archivierte das Werk

und stickte figürliche Darstellungen detailgetreu nach.

ihres Mannes gewiss genauer als ihr eigenes, Fotogra-

Nadel und Garn wurden ähnlich wie Pinsel und Farbe

fien ihrer Teppiche im Nachlass zeigen jedoch, dass sie

applizierend auf einer Leinwand eingesetzt. Dabei

ihrem Schaffen durchaus Bedeutung beimaß. Der Spur

blieb sie selbst in den Details nahe an der Vorlage,

der so festgehaltenen Teppiche nachzugehen und

auch wenn sie in der beschriebenen Arbeit vom

einen intensiveren Blick in die Skizzenbücher zu

Charakter abwich: Landschaft mit Tieren und Regenbo-

werfen, könnte sich an die hier vorgestellten Überle-

gen von 1914/15 ist größer als übliche Stickarbeiten

gungen anschließen. Ein weniger akribisch datierter

und entstand durch den flächendeckend verwendeten

Nachlass birgt das Potenzial, so die abschließende

Plattstich.

Beobachtung zu ihren Skizzen und Webarbeiten, sich

Ab den 1920er Jahren, beginnend mit ihrem

einem Werk frei von der Suche nach Entwicklungsli-

Studium am Bauhaus, setzte sie sich intensiv mit dem

nien in einer festgeschriebenen Chronologie zu

Weben auseinander, perfektionierte ihren Umgang mit

widmen.

Textile Arbeiten von Maria Marc

115

1

Anmerkungen

15

Etwa Magdalena Droste: Anpassung und Eigensinn. Die Webe-

16

Dieses Hinterglasbild gestaltete er ungewöhnlich groß, ließ die

reiwerkstatt des Bauhauses, in: Das Bauhaus webt. Die Textilwerkstatt

Farben verlaufen, statt sie in üblicher Weise mit dunklen Umrisslinien

am Bauhaus, hg. v. dies. und Manfred Ludewig, Ausst.-Kat. Bauhaus-Ar-

zu versehen und erarbeitete auf der Rückseite eine abstrakte Kollage.

chiv, Berlin, Berlin 1998, S. 11–19.

2

Siehe hierzu das Kapitel „Gender und Kreativität in Koopera-

17 18

Vgl. Uhrig 2004 (wie Anm. 12), S. 27. Ronny Schüler: Die Handwerkmeister am Staatlichen Bauhaus

tion“ in diesem Band.

Weimar, Weimar 2013, S. 106. Hier schreibt der Autor außerdem, dass

3

Helene Börner an der Vorgängerschule bereits als Handarbeitslehrerin

Annegret Hoberg und Isabelle Jansen: Franz Marc. Werkver-

zeichnis, Bd. 2: Aquarelle, Gouachen, Zeichnungen, Postkarten, Hinter-

unterrichtete.

glasmalerei, Kunstgewerbe, Plastik, München 2004.

19

4

Schütz-Wolff nach Halle gehen können. Vgl. Uhrig 2004 (Anm. 12),

Zu dieser Ausstellung liegt keine Publikation vor, aber ein Falt-

blatt mit Abbildungen, das sich im Nachlass der Künstlerin befindet.

5

Auch diese Ausstellung scheint nicht von einer Publikation be-

Marc hätte wohl auch zu ihrer späteren Freundin Johanna

S. 29.

20

Zu den Anfängen der Weberei am Bauhaus in Weimar und den

gleitet gewesen zu sein. In der Bayerischen Staatsbibliothek ist das

Spannungen zwischen Börner, ihren Schülerinnen und Kollegen vgl.

Plakat der Neuen Sammlung einzusehen.

Christian Wolsdorff: Wir waren halt die Dekorativen im Sternenbanner

6

Maria Marc. Leben und Werk 1876–1955, hg. v. Annegret Ho-

Bauhaus, in: To Open Eyes. Kunst und Textil vom Bauhaus bis heute, hg.

berg, Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus München, Mün-

v. Friedrich Meschede und Irene Below, Ausst.-Kat. Kunsthalle Biele-

chen 1995.

feld, Bielefeld 2013, S. 60–67.

7

Maria Marc im Kreis des „Blauen Reiter“, hg. v. Sandra Uhrig und

21

Über das Umfeld der Textilwerkstatt und die Rollen der Form-

Brigitte Salmen, Ausst.-Kat. Schloßmuseum Murnau, Murnau 2004.

meister schreibt auch Jenny Anger, die Klees Bedeutung für das Form-

8

Das geht bereits aus den Titeln der Publikationen hervor. Siehe

verständnis und die Arbeiten seiner Schülerinnen hervorhebt. Siehe

hierzu Kirsten Jüngling und Brigitte Roßbeck: Franz und Maria Marc,

hierzu: Jenny Anger: Klees Unterricht in der Webereiwerkstatt des

Düsseldorf/Zürich 2000; Hildegard Möller: Malerinnen und Musen des

Bauhauses, in: Ausst.-Kat. Berlin 1998 (wie Anm. 1), S. 33–41. Ob Ma-

„Blauen Reiters“, München 2007; Annegret Hoberg: Franz und Maria

ria Marc weitere Kurse am Bauhaus besuchte, ist bisher nicht bekannt.

zerspringen“. Mein Leben mit Franz Marc, hg v. Brigitte Roßbeck, Mün-

22 23

chen 2016.

Ausst.-Kat. Berlin 1998 (wie Anm. 1), S. 236.

Marc, München 2004; Maria Marc: „Das Herz droht mir manchmal zu

9

Ich möchte den Erben Maria Marcs danken, die mir ermöglich-

24

Vgl. Schüler 2013 (wie Anm. 18), S. 106. Gunta Stölzl: Die Entwicklung der Bauhausweberei (1931), in: Vgl. Burg Giebichenstein. Die hallesche Kunstschule von den

ten, den Nachlass der Künstlerin einzusehen.

Anfängen bis zu Gegenwart, Ausst.-Kat. Staatliche Galerie Moritzburg,

10

Den Begriff ‚Volkskunst‘ verwende ich hier als einen histori-

Halle, Halle 1993, S. 531.

Siehe hierzu Gabriele Münter und die Volkskunst. „Aber Glasbil-

Margaret Leischner (1907–1970) in Dessau und im britischen Exil, in:

der scheint mir, lernten wir erst hier kennen.“, Ausst.-Kat. Schloßmu-

Inge Hansen-Schaberg, Wolfgang Thöner und Adriane Feustel (Hg.):

seum Murnau und Oberammergau Museum, Murnau/Oberammergau

Entfernt. Frauen des Bauhauses während der NS-Zeit – Verfolgung und

2017.

Exil, München 2012, S. 95–114, hier S. 97.

schen.

11

12

116

Da das Stickbild nicht ausgerahmt werden darf, konnte keine

eindeutige Materialbestimmung vorgenommen werden.

Gabriele Münter stickte nach Vorlagen von Wassily Kandinsky.

25

26

Vgl. Burcu Dogramaci: Bauhaus-Transfer. Die Textildesignerin

„Sehr geehrte Frau Marc! Frau Sharon hat Ihnen Firmen aufge-

Vgl. hierzu Sandra Uhrig: Maria Marc und das Weben. Rückbesinnung

schrieben von denen wir beziehen und empfiehlt Ihnen besonders

auf eigene Kreativität, in: Ausst.-Kat. Murnau 2004 (wie Anm. 7),

Maas-Berlin. Ich habe Ihnen einige Wollproben ausgesucht u. einige

S. 25–36, hier S. 25. Die Webvorlagen von Franz Marc sind online ein-

Farben von den bis jetzt gefärbten Mustern. Herzlichen Gruß Ihre

zusehen unter: Franz Marc und Annette Simon von Eckardt: Web-Mu-

Grete Leischner.“ Zit. n. einem undatierten Brief aus dem Nachlass der

ster. Für den Plessmannschen Handwebstuhl, München 1910, http://

Künstlerin. Außerdem undatiertes Schriftstück aus dem Nachlass von

daten.digitale-sammlungen.de/~db/0004/bsb00049833/images/in-

Maria Marc, das mit G. Sharon unterzeichnet wurde.

dex.html?seite=00001&l=de [Abruf: 31.1.2019].

27

13

Beispiel hierfür ist Violettes Reh, eine Seidenstickerei, die in den

der beiden siehe hierzu: Uhrig 2004 (wie Anm. 12), hier S. 32–34, und

Deckel einer lederbezogenen Box eingearbeitet ist. Siehe hierzu: Ho-

außerdem Katja Schneider: „Heiligenbilder in einer unheiligen Zeit“. Die

berg/Jansen 2004 (wie Anm. 3), Nr. 399.

Bildteppiche von Johanna Schütz-Wolff in den dreißiger Jahren, in: Jo-

14

Dieser Grundstoff wird zur Bearbeitung auf einen Rahmen ge-

hanna Schütz-Wolff. Textil und Grafik zum 100. Geburtstag, hg. v. Katja

spannt, der die gesamte Größe des Stickbildes haben kann, oder für

Schneider, Ausst.-Kat. Staatliche Galerie Moritzburg, Halle, Halle 1996,

Details auch nur die zu bearbeitende Stelle einfasst.

S.  24–36, hier S.  35. Möglicherweise hat Maria Marc auch folgende

Susanna Baumgartner

Sandra Uhrig berichtet von einem umfassenden Briefwechsel

Publikation für ihre Arbeit mit Pflanzenfarbstoffen herangezogen: Ur-

31

sula Fels: Das Färben mit Pflanzenfarben, in: Maria Keller: Die Band-

Grundbindung hat eine rippenartige Struktur zur Folge, die durch die

und Flächenweberei auf Kamm, Brettchen und Rahmen. Die endlose

Verwendung von dünneren Kettfäden verstärkt wird.

Kette von der Ahnfrau bis zur Enkelin, Berlin 1936, S. 29–37.

32

28

(1926), in: Ausst.-Kat. Berlin 1998 (wie Anm. 1), S. 160f.

Gunta Stölzl: Weberei am Bauhaus (1926), in: Ausst.-Kat. Berlin

Die enge Verkreuzung von Kett- und Schussfäden mit dieser

Helene Nonné-Schmidt: Das Gebiet der Frau im Bauhaus

1998 (wie Anm. 1), S. 190.

33

29 30

webes wird in der Weberei Bindung genannt.

Anni Albers: On Weaving (1965), Princeton 2017, S. 48.

Die Art der Verkreuzung von Kett- und Schussfäden eines Ge-

Die drei Skizzenbücher von Maria Marc befinden sich im Nach-

lass der Künstlerin.

Textile Arbeiten von Maria Marc

117

opment of modern art. Brüderlin and his team did include in both the exhibition and catalogue one work by Klee and briefly mentioned in various catalogue texts the “great influence” he exerted on the Bauhaus weaving workshop and his admiration of non-Western textiles.4 Yet they failed to consider fully Klee’s decades-long engagement with fabric in his artistic practice. In this essay, I examine some of the ways that

Knotted, Woven, Unraveling: Textile as Structure in the Work of Paul Klee 1

fabric – as both material and inspiration – figures prominently in Klee’s artistic production. To do so, I relate Klee’s material and conceptual reliance on textiles in his two-dimensional artworks to his interpretation of Struktur, a term used in his Bauhaus course lectures to denote one way of structuring a surface. In the subsequent theoretical writings of his

Charlotte Healy

Bauhaus weaving workshop students, Struktur is identified as a defining feature of fabrics. I therefore

In 2013, the late curator Markus Brüderlin

consider Klee’s use of diverse textile painting supports

organized the large-scale thematic exhibition Art &

in his artworks in relation to his association with the

Textiles: Fabric as Material and Concept in Modern Art

weaving workshop. Furthermore, I suggest that Klee

from Klimt to the Present, which was accompanied by

often left these supports highly visible, rather than

an equally exhaustive catalogue.2 The overarching goal

fully covering them with an even ground layer, and

of this ambitious undertaking was to “explore the

routinely allowed their fraying edges to unravel not

significance of textiles in modern art” through the

only to reveal the underlying structure of the material,

presentation of a highly diverse group of 170 works by

but also to enhance the haptic and handmade nature

approximately 80 artists. However, in their attempt to

of the works.

3

paint a comprehensive picture of the multitudinous ways textiles shaped modern art, Brüderlin and his collaborators glossed over the Swiss-born modern artist and Bauhaus master Paul Klee, one of the most

Str uk tur versus Fa k tur i n Ba uha us Peda gog y

significant artists to engage with fabric both materially and conceptually.

During his tenure at the Bauhaus from 1921 to

In the exhibition and catalogue narratives, Klee

1931, Klee taught a course on fundamental creative

played a supporting role to his contemporaries Henri

principles that could be applied by his students to all

Matisse, Gustav Klimt, Sonia Delaunay-Terk, Sophie

areas of art and design. His lectures came out of

Taeuber-Arp, and Anni Albers, who were presented as

reflection on his own creative process and artistic

key early figures in fabric’s contribution to the devel-

work. He referred to his approximately 3,900 pages of

Knotted, Woven, Unraveling: Textile as Structure in the Work of Paul Klee

119

loose notes, arranged into 24 chapters, as Bildnerische

which were translated in the 1930 English edition

Gestaltungslehre (‘Theory of Pictorial Configuration’).5

(entitled The New Vision) as ‘structure’, ‘texture’,

The fourth chapter is dedicated to a theory of Gliede­

‘surface aspect or surface treatment’, and ‘massing’ or

rung, a word that has no single English equivalent and

‘mass arrangement’, respectively. Moholy-Nagy

can be translated as ‘structure’, ‘structuring’, ‘organiza-

defined Struktur as “the unalterable manner in which

tion’, ‘(sub)division’, or ‘articulation’.6 The chapter

the material is built up” and reproduced microphoto-

presents the idea that one must analyze both the

graphs of various materials to illustrate their different

individual elements of a structure – whether an

structures.13

organism in nature or a pictorial composition – and

Josef Albers, who taught the other half of the

each element’s function in order to understand the

Vorkurs starting in 1923, proposed nearly the same set

whole fully. Klee distinguished between Faktur and

of terms as Moholy-Nagy to describe the different

Struktur as two opposing types of Gliederung.

aspects of a material’s outward appearance. In

7

Faktur traditionally denotes the evident manner in which an object (particularly the visible surface) was

Practice’), a statement of his pedagogical philosophy

produced, and is thus best expressed in English as its

and methods published in 1928, Albers described the

cognate ‘facture’ or ‘surface treatment’. Klee defined

use of this categorization system in his course: “We

Faktur as “traces of discrete movements of the hand”

classify the appearances of the materials’ epidermis

and gave the example of “footprints in the snow” as

(outer layer) as essentially different in Struktur, Faktur,

“the Faktur of a path”.8 In contrast, Struktur – which

and Textur.”14 For both Moholy-Nagy and Albers, Faktur

can be translated as ‘structure’, ‘texture’, or even

is the result of external manipulation or handling of

‘fabric’ – is defined by Klee as “the natural or other-

the material, whereas Struktur relates to the natural

wise given structure of matter”, distinguished by the

growth or composition of the material.15

repetition of a basic unit.9 Among the examples Klee

Given the close correspondence between the

used to illustrate Struktur are a checkerboard pattern,

opposition of Faktur and Struktur taught by Moholy-

a honeycomb, and, in the table of contents for his

Nagy and Albers in the Vorkurs and that found in Klee’s

notes on Gliederung, Leinwand (‘canvas’).10 Thus, as

lecture notes, Klee’s understanding of both terms was

opposed to the active process of structuring repre-

most likely shaped by the definitions of his two

sented by Faktur, for Klee Struktur was more passive,

colleagues.16 Klee’s increased exploitation of the intrin-

based instead on natural or material properties.

sic repeated structure of his textile painting supports

11

When László Moholy-Nagy joined the Bauhaus

reflects his pedagogical definition of Struktur as a

faculty in 1923, he took over half of the instruction of

passive, repetitive, and natural means of structuring a

the Vorkurs (‘preliminary course’). In his lectures, first

surface.17 In addition, his experimentation with a range

published as Von Material zu Architektur in 1929, he set

of fabrics in his artistic production of the 1920s and

up a similar opposition between Faktur and Struktur.

1930s was likely informed by his interaction with the

In the second chapter, Moholy-Nagy introduced what

weaving workshop at the Bauhaus.

12

he saw as a necessary terminology to characterize the appearance of different materials. The terms he listed were Struktur, Textur, Faktur, and Häufung or Haufwerk,

120

“Werklicher Formunterricht” (‘Teaching Form through

Charlotte Healy

K l e e an d the Bauhaus Weaving Wo r k s h o p

Raumgestaltung” (‘Weaving and the Design of Space’) written in the early 1930s, Berger asserted: “A textile is not only an optical object. We come into perpetual

From the winter term of 1927 to 1928 (if not

contact with it, so it is recognized through our tactile

earlier) until he left the school in 1931, Klee taught a

sense.”23 Furthermore, in the essay “Stoffe im Raum”

design class for the Bauhaus weavers specifically

(‘Fabrics in Space’), published in the Czech journal ReD

tailored to the requirements of their craft. A remark

in 1930, she insisted that among the various proper-

by weaving student Lena Meyer-Bergner about Klee’s

ties that determine fabric’s feel and appearance

contact with the weaving students is particularly

(including Struktur, Textur, Faktur, and color), it is

enlightening: “In addition to formal instruction, the

Struktur in particular that “determines the actual

weavers gathered for occasional meetings at which,

character of the fabric”.24 Berger certainly would have

under Klee’s leadership, the fabrics were critically

learned the distinction between Struktur and Faktur

analysed.”19

from both Josef Albers and Moholy-Nagy in the

18

From this experience, Klee must have developed a newfound appreciation and understanding of textiles. Although his impact on the Bauhaus weav-

Vorkurs, and probably also from Klee in his lectures on Gliederung. Decades later, former Bauhaus weaver Anni

ers – particularly in their application of formulas he

Albers echoed Berger’s emphasis on structure as an

taught them for the “harmonic divisions of the surface”

essential property of fabric at the beginning of the

to their designs for carpets and wall hangings – is

essay “The Fundamental Constructions” included in

often mentioned in the literature, Jenny Anger has

her seminal 1965 book On Weaving: “The structure of

delved into the issue of how the weavers may have in

a fabric or its weave – that is, the fastening of its

turn influenced Klee.20 She has suggested one likely

elements of threads to each other – is as much a

effect of Klee’s interaction with the weavers on his

determining factor in its function as is the choice of

own practice: “As Klee’s […] collaboration with the

the raw material. In fact, the interrelation of the two,

weavers increased, he used more and more different

the subtle play between them in supporting, impeding,

and unusual fabric supports, including […] regular

or modifying each other’s characteristics, is the

cotton, jute, burlap, silk, and combinations thereof,

essence of weaving.”25 Her attention to fabric’s

such as cotton mounted on canvas.”21 I would go

structure and function is in line with the increasingly

further to say that in addition to an increase in the

technology-driven design doctrine of the weaving

variety of fabric substrates Klee employed in his

workshop. After the move of the Bauhaus to Dessau in

paintings, his handling of fabric also matured, reflect-

1925, the workshop had been gradually shifting its

ing a heightened sensitivity to the inherent tactile and

emphasis away from the creation of decorative

structural qualities offered by textiles.

gridded compositions based on optical color theory to

One of the students in the Bauhaus weaving

the design of functional textiles with distinctive

workshop, Otti Berger, illuminated the connection

structural and textural characteristics – aptly referred

between textiles, tactility, and Struktur in a series of

to as Strukturstoffe (‘structural fabrics’) – that were

manifesto-like texts that articulate her own theory of

often intended to serve as prototypes for mass

weaving. In the unpublished text “Weberei und

production.26

22

Knotted, Woven, Unraveling: Textile as Structure in the Work of Paul Klee

121

objets trouvés, often fragments, set against a flat table or board.28 One such tableau, Pythagorean theorem (fabric pattern) of circa 1929, is an assemblage of assorted textile squares and threads set against a neutral ground plane. Seemingly floating just above the surface, all of the textiles are fraying; the individual threads range in texture from fine and feathery to thick and wiry. Klee employed similar tactics in his paintings to those practiced by Peterhans and his students in their commercial and artistic photographs to heighten the viewer’s perception of the Struktur of textiles – namely, the inclusion of fabric fragments and fraying edges.

Ill. 1: Paul Klee, Red Balloon, 1922, oil (and oil transfer drawing?) on chalk-primed gauze, mounted on board, 12 1/2 x 12 1/4 in. (31.7 x 31.1 cm), Solomon R. Guggenheim Museum, New York, Estate of Karl Nierendorf, by purchase

Klee’s Cult i vat i on of Str uk tu r v i a Text i le Subst rates One early technique Klee employed to heighten the tactile quality of his paintings was to apply a thin, even ground and design layer so that the weave – in other words, the structure – of the fabric support is

Capturing the unique structural qualities of the

Thin layers of chalk ground and oil paint coat the

essential in the commercial photographs meant to

individual threads and the cardboard mount seen

advertise them in Bauhaus publications. His photo-

through the interstices of the open, plain weave fabric.

graphic style of extreme close-ups and strong raking

Because the weave is so loose and the threads so

light made Walter Peterhans (hired to direct the

delicate, in some places the fabric has been pulled

Bauhaus photography workshop in 1929) perfectly

open, distorting the normal perpendicular crisscross of

suited to this task. In the commercial photography of

the warp and weft threads. When examined in close

Peterhans and his students in the advertising course,

proximity, these disruptions to the simple structure of

the structural and textural details of textiles from the

the fabric support enliven the picture surface.

weaving workshop were accentuated.27 In particular,

Another tactile technique Klee used was to

the Struktur of different fabrics was often emphasized

juxtapose plaster impasto with areas in which the

through the deliberate inclusion of unraveling edges.

weave of the fabric support is still apparent. In the Vocal

Textiles were also a recurrent motif in Peterhans’

122

still highly perceptible, as in Red Balloon of 1922 (ill. 1).

fabrics produced in the weaving workshop was

Fabric of the Singer Rosa Silber of 1922 (ill. 2), a work

artistic photographs, which generally follow a standard

that also engages with the idea of fabric on a concep-

template: striking arrangements of variously textured

tual level, plaster encases and embeds a piece of muslin

Charlotte Healy

Ill. 2: Paul Klee, Vocal Fabric of the Singer Rosa Silber, 1922, watercolor and ink on plastered fabric mounted on board, with watercolor and ink borders, 24 1/2 x 20 1/2 in. (62.3 x 52.1 cm), The Museum of Modern Art, New York, Gift of Mr. and Mrs. Stanley Resor

so that bumps of the once-wet plaster protrude

dried, the regular lattice of the warp and weft threads

through gaps in the loose weave, while thicker plateaus,

curve in some places due to the pull of the plaster when

spread flat with a palette knife, completely conceal the

Klee applied it to the muslin.

texture of the fabric underneath. A number of plaster

Contact of Two Musicians of 1922 (ill. 3) takes a

peaks were broken off after the material had dried and

much more orderly approach to the combination of

the watercolor and ink design layer had been applied,

plaster and fabric: Klee applied a smooth and thick

leaving behind flat white disks within the varied

rectangular field of plaster to the center of an irregular

topography of the surface. Because the muslin was not

diaphanous sea green scrap of gauze. In the central

stretched taut like fabric nailed to a stretcher, but was

field, the gauze is completely concealed, but around

instead glued to a cardboard mount after the plaster

the borders, the fabric’s distorted loose weave and

Knotted, Woven, Unraveling: Textile as Structure in the Work of Paul Klee

123

Although he did begin using certain finely woven fabrics like silk at the end of the 1920s, Klee’s selection of textiles with notably coarser weaves is one of the most striking developments in his painting of the late 1920s and 1930s. Burlap, which he first used in 1929 according to his handwritten oeuvre catalog, in fact became one of his most frequently chosen painting substrates of the 1930s.30 Even though he would often cover an entire burlap support with a thin layer of priming ground and paint, the sensual rough texture of the fabric underneath is still highly visible. A related technique was to apply thinned paint to stretched unprimed burlap, which has the visual effect of staining rather than coating the fabric, thus fully retaining its textural and structural character. For instance, in the oil-on-burlap painting Arab Song, 1932 (ill. 4), the viewer is extremely aware of the various surface irregularities and the way that stretching the burlap has opened up the regular grid of the warp and weft of the fabric’s plain weave. Because much of the design layer appears transparent like watercolor, the occasional slubs and loose jute fibers characteristic of burlap are anything but concealed. In certain paintings with fabric supports, Klee Ill. 3: Paul Klee, Contact of Two Musicians, 1922, watercolor and oil transfer drawing on chalk-primed linen gauze, mounted on paper partially painted around the gauze, Linen gauze: 17 7/8 x 11 1/2 in. (45.4 x 29.2 cm), Solomon R. Guggenheim Museum, New York, Estate of Karl Nierendorf, by purchase

even went so far as to keep areas of fabric, particularly the edges, entirely uncovered. For example, Little Hope of 1938 (ill. 5) utilizes a distinctive means of mark making that relies not only on Klee’s application of medium but also on the textural qualities of the materials he employed. In a kind of positive-negative

fraying or folded edges are in full view. Like Moholy-

reversal, the areas of burlap support not covered by

Nagy and Josef Albers, Klee formulated Struktur as a

plaster constitute nearly all the linear elements of the

natural or inherent property of a material. This implica-

design. The coarse yet dense weave of the exposed

tion is particularly fitting for Klee’s incorporation of

burlap, aside from providing a break from the rough

Struktur in his artworks via textile substrates given he

and irregular layer of plaster, has its own textural

treated these textiles almost as found objects. His

appeal and apparent structure. By leaving the une-

works on scrap-like pieces of fabric with uneven and

venly cut edges of the burlap scrap frayed and largely

often fraying edges, like the gauze of Contact of Two

uncovered with plaster, Klee further accentuated the

Musicians, exemplify this tendency.

fabric’s intrinsic structural makeup.

29

124

Charlotte Healy

Ill. 4: Paul Klee, Arab Song, 1932, oil on burlap, 35 7/8 x 25 3/8 in. (91.1225 x 64.4525 cm), The Phillips Collection, Washington, DC, Acquired 1940

Klee took advantage of fabric’s Struktur to the

that the warp and weft generally align with the edges

fullest extent in a couple of works dating to 1933 in

of the rectangular plywood board on which it is

which he layered multiple pieces of plaster-coated

mounted, the artist layered three progressively smaller,

gauze, effectively creating understated, homogenous

nearly rectangular pieces of gauze at the picture’s

fabric collages. Representing the passing of time both

center.31 Each layer of the open, plain weave fabric

literally (as a highly abstracted depiction of a spinning

was first coated with a gypsum ground and then

clock) and metaphorically (through the simulated signs

painted with watercolor before each subsequent piece

of age), Time of 1933 (ill. 6) best exemplifies this

was adhered. The plaster was applied so thinly and

technique: On top of a layer of gauze, positioned so

unevenly that in certain places the surface appears

Knotted, Woven, Unraveling: Textile as Structure in the Work of Paul Klee

125

Ill. 5: Paul Klee, Little Hope, 1938, plaster and watercolor on burlap mounted on cardboard, 18 1/8 x 20 3/8 in. (46 × 51.8 cm), The Berggruen Klee Collection, 1984, The Metropolitan Museum of Art, New York

porous and in others it resembles a waffle or honey-

back to the stable vertical orientation of the support.

comb; the warp and weft (and therefore the material’s

Inscribed within this tiny white rectangle are black ink

regular Struktur) are apparent throughout, even where

clock hands that display a time of approximately 6:54.

the interstices are filled in with plaster.

Klee was likely less concerned with indicating this

32

The painting’s second layer is rotated approximately 45 degrees clockwise so that two of its corners

spinning quality of the image by incorporating two

connect with the right and left edges of the support.

additional oblique angles to the composition and

This rectangle in turn perfectly circumscribes the third

discreetly inserting the form of an arrow, one of the

layer, rotated counterclockwise 30 degrees so that it

most persistent symbols in his pictorial lexicon.

tilts uncomfortably to the right. The final, much smaller

126

particular time than with augmenting the dynamic

Visible across the surface of Time, the repetitive

piece of gauze, coated with a slightly thicker layer of

grid of the fabric’s structure engenders both dynamism

gypsum that leaves fewer interstices exposed, is

and stasis by simultaneously reinforcing the oblique

rotated the remaining 15 degrees counterclockwise

angles of the two largest gauze rectangles (and

Charlotte Healy

proximity, the naturally structured support surface or, at a further distance, Klee’s fanciful pictorial image. Attending to both becomes a way of rooting the artist’s elevated vision in reality.

Coda : Fa bri c a s Insp i rat i on Klee’s engagement with fabric was not limited to his use of textiles as painting materials. Throughout the 1920s and 1930s, the act of weaving or knotting served as inspiration for the linear construction of compositions and figures in dozens of artworks, many with forms made of woven parallel lines or textile-like structures. In his pen-and-ink drawing Paths to the Knot of 1930, four sets of knotted strings or ribbons resemble images of mathematical knots found in the Ill. 6: Paul Klee, Time, 1933, watercolor and ink brush on plaster base on patches of gauze laid several times on plywood; on the reverse watercolor on plaster base, 10 x 8 1/2 in. (25.5 x 21.5 cm), Museum Berggruen, Nationalgalerie, Staatliche Museen, Berlin

branch of topology known as knot theory. One basic problem in knot theory is determining the sequence of simple deformations (known as ‘Reidemeister moves’) required to untangle a tangled ‘unknot’ (the term for a simple closed loop).33 Knot theorists can determine this sequence by drawing a series of knot diagrams

consequently the impression that they are rotating,

and by visualizing the necessary deformations. Thus,

like clock parts, around the painting’s center) and

they are able to simulate the manual process of

fixing these moving parts in a crystallized solidity. In a

untangling a knot in three-dimensional space through

final, playful touch, Klee adhered a small irregularly cut

a visual and mental process. Given its date of 1930,

scrap of gauze bearing his signature to the top right of

Klee was likely inspired to make this drawing of knots

the picture, asserting an imperfect, handmade sensibil-

by his concurrent experience of teaching the Bauhaus

ity at odds with the comparatively straight edges of

weavers.34

the other gauze pieces.

In a series of six drawings known as the Bender-

Instead of rendering his fabric supports transpar-

Gruppe made directly after Paths to the Knot, Klee took

ent (and therefore invisible) in order to create an

the idea of knotted ribbons into the realm of figural

illusory picture plane through which the viewer can

representation.35 These depictions of figures made out

peer, Klee makes the viewer utterly aware of them. As

of ribbons anticipate the kind of continuous line draw-

a result, in his works with emphatically structured

ings, in which forms and figures take on a three-­

picture surfaces, there are always two planes of

dimensional presence, that would become a constant

attention: We can examine either, in relatively close

feature in Klee’s work of the following decade.36

Knotted, Woven, Unraveling: Textile as Structure in the Work of Paul Klee

127

A string or ribbon came to serve as a kind of concep-

painting supports, particularly by letting their fraying

tual, three-dimensional model for Klee’s pedagogical

edges unravel and these fibers become apparent, Klee

dictum that drawing is “taking a line for a walk”.

was able to produce haptic, handmade, and one-of-a-

37

Thus, fabric, and its constituent fibers, served as

128

kind objects. Clearly, Klee deserves a starring (rather

both material and inspiration in Klee’s artworks

than a supporting) role in a discussion of the signifi-

throughout the 1920s and 1930s. By highlighting the

cance played by textiles in the development of modern

intrinsic tactile and structural qualities of his fabric

art.

Charlotte Healy

Note s

16

An earlier version of this essay was presented as Charlotte

exist between their definitions of Faktur. Klee quite explicitly formu-

Healy, ‘Knotted, Woven, Unraveling: Fabric as Structure in the Work of

lated Faktur as the visible trace or index of its creator’s gesture, retain-

1

Although both Klee and Moholy-Nagy make the distinction be-

tween Faktur as active and Struktur as passive, subtle differences do

Paul Klee’ (paper presented at the 106th Annual Conference of the

ing the sense of individual artistic agency traditionally associated with

College Art Association, Los Angeles, 24 February 2018).

the term. In contrast, Moholy-Nagy transferred the will to form from

2

Art & Textiles: Fabric as Material and Concept in Modern Art from

the human hand to nature and the machine in his formulation of Faktur;

Klimt to the Present, ed. Markus Brüderlin, exh.-cat. Kunstmuseum

thus, he implicitly denies that Faktur should involve individual agency.

Wolfsburg (Ostfildern: Hatje Cantz, 2013).

Given his active interest in Constructivism, evident in both his artistic

3 4 5

Ibid., p. 7.

production and theoretical positions, Moholy-Nagy was undoubtedly

Ibid., pp. 7, 18, 36, 120.

aware of the Russian Constructivist discourse on faktura. For a delinea-

Images of Klee’s notes have been made available online. Paul

tion of faktura’s trajectory within Russian avant-garde artistic theory

Klee, ‘Bildnerische Form- und Gestaltungslehre’ (unpublished notes,

and practice between 1912 and 1921, see Maria Gough, ‘Faktura: The

Zentrum Paul Klee, Bern) (accessed 15 December 2018).

ics 36 (Autumn 1999): pp. 32–59.

6

Based on the notes of his students, it can be assumed that Klee

17

While Klee’s exploitation of the inherent repeated structure of

taught this chapter as we see it today by at least 1929–30. For more on

textiles for their textural properties is more akin to the passive and re-

Klee’s Gliederung notes, see Fabienne Eggelhöfer and Marianne Keller

petitive Struktur, his manipulation of a malleable ground layer or pastose

Tschirren, ‘Bildnerische Gestaltungslehre: Teaching Pictorial Configura-

oil paint corresponds to the visible discrete gestures of Faktur.

tion’, in Paul Klee: Bauhaus Master, ed. Fabienne Eggelhöfer and Mari-

I examined this distinction in Charlotte Healy, ‘Making the Hand Visible:

anne Keller Tschirren, exh.-cat. Fundación Juan March (Madrid: Fun-

Paul Klee’s Tactile Surfaces’ (paper presented at the 105th Annual Con-

dación Juan March, 2013), pp. 62–67.

ference of the College Art Association, New York, 15 February 2017).

7

In his teaching notes, Klee consistently misspelled Faktur and

18

Jenny Anger has written convincingly of the possibility that Klee

Struktur as Factur and Structur, respectively. I use the standard German

was unofficially affiliated with the weaving workshop as early as 1923.

spellings of both words throughout.

Jenny Anger, Paul Klee and the Decorative in Modern Art (Cambridge:

8

Cambridge University Press, 2004), pp. 179–80.

All translations of Klee’s notes are my own. “Factur: die Frage

nach den Spuren der einzelnen Handbewegungen”; “Fussspuren im

19

Schnee zugleich: die Factur eines Weges”. Klee, Bildne­rische Form- und

no.  3 (1979): p.  60. Translation quoted in Sigrid Wortmann Weltge,

Gestaltungslehre’, BG 1.4/56, 78.

Women’s Work: Textile Art from the Bauhaus (San Francisco: Chronicle

9

Books, 1993), p. 109.

“Structur: die Frage nach der natürlichen oder sonst gegebenen

Lena Meyer-Bergner, ‘Unterricht bei Klee’, Form + Zweck 11,

“Structur die materielle Gliederung”. Ibid.

20 21 22

Although Klee scholars have suggested that the artist’s peda-

Haptics of Optics: Weaving and Photography’, in Bauhaus Weaving The-

gogical formulation of Faktur was informed by the definition given by

ory: From Feminine Craft to Mode of Design (Minneapolis: University of

his Hungarian colleague in the Vorkurs, they have not proposed Moho-

Minnesota Press, 2014), pp. 79–110.

Gliederung der Materie.” Ibid., BG 1.4/56.

10 11 12

Ibid., BG 1.4/2.

Anger, Klee and the Decorative, pp. 178–190. Ibid., pp. 187–188. For an analysis of Berger’s theoretical texts, see T’ai Smith, ‘The

ly-Nagy’s lectures as the inspiration for Klee’s juxtaposition of Faktur

23

and Struktur. See for instance Eggelhöfer and Keller Tschirren, ‘Bildneri-

script, Bauhaus-Archiv, Berlin, c. 1932–34), p. 3. Translation quoted in

sche Gestaltungslehre’, p. 64.

Smith, ‘The Haptics of Optics’, p. 100.

13

László Moholy-Nagy, The New Vision: Fundamentals of Bauhaus

24

Otti Berger, ‘Weberei und Raumgestaltung’ (unpublished manu-

Translation is my own. “Zunächst der Stoff. Wir haben Struktur,

Design, Painting, Sculpture, and Architecture (Mineola, NY: Dover Publi-

Textur, Faktur, Farbe. Die Struktur oder Bindung bestimmt den eigent­

cations, [1930] 2005), p. 35.

lichen Charakter des Stoffes […]”. Otti Berger, ‘Stoffe im Raum’, ReD 3,

14

no. 5 (1930): p. 143.

Josef Albers, ‘Werklicher Formunterricht’, bauhaus 2, no. 3

(1928): p. 6. Trans. Frederick Amrine, Frederick Horowitz and Nathan

25

Horowitz as ‘Teaching Form through Practice’ (The Josef and Anni Al-

sity Press, [1965] 2017), p. 23. For Anni Albers see Jordan Troeller’s

bers Foundation) (accessed 15 December 2018).

26

15

Weltge, Women’s Work.

Moholy-Nagy, The New Vision, pp. 35, 42; Frederick A. Horowitz

For a full history of the weaving workshop, see Wortmann

and Brenda Danilowitz, Josef Albers: To Open Eyes. The Bauhaus, Black

27

Mountain College, and Yale (New York: Phaidon Press, 2006), p. 108.

Education under Peterhans’, in Photography at the Bauhaus, ed. Jeannine

See Smith, ‘The Haptics of Optics’, pp. 79–110; ‘Photography

Knotted, Woven, Unraveling: Textile as Structure in the Work of Paul Klee

129

Fiedler, exh.-cat. Bauhaus-Archiv Berlin (Cambridge, MA: The MIT

33

Press, 1990), pp. 96–107.

to the Mathematical Theory of Knots (Providence, RI: American Mathe-

28

matical Society, 2004), p. 13.

See Jeannine Fiedler, ‘Walter Peterhans: A “Tabularian” Ap-

proach’, trans. Jeannine Fiedler and Louis Kaplan, in Photography at the

34

Bauhaus, ed. Jeannine Fiedler, exh.-cat. Bauhaus-Archiv Berlin (Cam-

be understood in light of her own manual dexterity with twisting and tan-

bridge, MA: The MIT Press, 1990), pp. 84–95.

gling fibers honed over decades of weaving experience. See Charlotte

29

In his foundational book on Klee’s Bauhaus years, Christian

Healy, ‘“Through One’s Own Fingertips”?: Haptic Perception in the Art and

Geelhaar categorized the artist’s found object approach to his materials

Thinking of Josef and Anni Albers’, HARTS & Minds 2, no. 3 (2016): pp. 5–6;

The ubiquity of the knot motif in Anni Albers’ works on paper can

as “Fragments of Reality”. Christian Geelhaar, Paul Klee and the Bauhaus

Brenda Danilowitz, ‘Tangles, Knots, Braids, Loops and Links’, in Anni Albers,

(Greenwich, CT: New York Graphic Society, 1973), p. 76.

ed. Ann Coxon, Briony Fer and Maria Müller-Schareck, exh.-cat. Tate Mod-

30

ern, London (New Haven: Yale University Press, 2018), pp. 86–89.

Starting in 1911 and until his death, Klee systematically re-

corded and assigned a number to each finished work he deemed suc-

35

cessful in a handwritten oeuvre catalogue. The first work on burlap in

be assumed from the numbering in his oeuvre catalogue that the Bend-

this oeuvre catalogue is The Citadel, 1929,87 (R 7).

er-Gruppe drawings follow Paths to the Knot, 1930,150 (Y 10) chrono-

31

For interpretations of this work that consider its meaning in the

logically: Degrees of Entwinement, 1930,151 (Z 1); Entwined in a Group,

context of the traumatic circumstances of its making, see Inge Herold,

1930,152 (Z 2); Perfection (Figurine), 1930,153 (Z 3); Tangle of Three,

‘Die Zeit, 1933’, in Paul Klee: Die Zeit der Reife. Werke aus der Sammlung

1930,154 (Z  4); Man of Ribbons, 1930, 155 (Z  5); People of Ribbons,

der Familie Klee, ed. Manfred Fath, exh.-cat. Kunsthalle Mannheim (Mu-

1930,156 (Z 6).

nich/New York: Prestel, 1996), p. 78; Roland März, ‘Time’, in Picasso and

36

His Time: Museum Berggruen, 6th ed., ed. H. J. Papies, K. Zacharias and

Although the exact order of Klee’s works is never definite, it can

Klee’s works of the 1920s also feature many continuous line

drawings, yet they lack the same three-dimensionality of those that

E. Morawietz (Berlin: Nicolai, 2013), p. 366.

follow Paths to the Knot.

32

37

Consequently, the painting appears worn beyond its years. Klee

This now famous turn of phrase is based on the first sentence

is known to have intentionally mimicked the signs of age in many

of Klee’s Pädagogisches Skizzenbuch (1925): “An active line on a walk,

works. See Charles Haxthausen, ‘“Abstract with Memories”: Klee’s “Au-

moving freely, without goal.” Paul Klee, Pedagogical Sketchbook, trans.

ratic” Pictures’, in Paul Klee: Philosophical Vision; From Nature to Art, ed.

Sibyl Moholy-Nagy (New York: Frederick A. Praeger, 1953), p. 16.

John Sallis, exh.-cat. McMullen Museum of Art, Boston (Chestnut Hill, MA: McMullen Museum of Art, Boston College, 2012), pp. 61–76.

130

See Colin C. Adams, The Knot Book: An Elementary Introduction

Charlotte Healy

Verschiedene Gründe haben vermutlich zu dieser widersprüchlichen Art des Umgangs mit dem für die Künstlerin so wichtigen ersten Komplex ihres Œuvres beigetragen. Erika Schlegel-Taeuber, die ältere Schwester der Künstlerin, die Hans Arp bei der Recherchearbeit unterstützte, argumentiert mit der Ungewissheit über den Verbleib vieler Arbeiten: „Die gestickten Kissen, die ich besitze [sic!] haben wir nicht aufgenommen, es existieren ja so viele und überall verstreut, wie auch Perlsachen und Tischdecken. Ich

Gestickte Malereien. Die Textilkünstlerin Sophie Taeuber-Arp

könnte nur die wenigsten finden und das gäbe ein zu spärliches Bild.“5 Arp selbst nennt einen weiteren, vermutlich treffenderen Grund erst einige Jahre nach der Publikation: „Manchmal sind ihre Arbeiten als angewandte Kunst bezeichnet worden. Dies geschah

Walburga Krupp

teils aus Dummheit, teils aus Böswilligkeit. Kunst kann mit Wolle, Papier, Elfenbein, keramischen Platten, Glas

Die Schweizer Künstlerin Sophie Taeuber-Arp

1

ebenso gebildet werden wie mit Ölfarbe, Stein, Holz,

zählt heute zu den Pionierinnen der abstrakten Kunst

Ton. Ein Mosaik, ein gotisches Glasfenster, eine

des 20. Jahrhunderts. Ihr vielfältiges Werk umfasst

koptische Weberei, eine Wandstickerei von Bayeux,

Arbeiten der angewandten und freien Kunst wie

eine griechische Amphore sind nach meinem Dafür­

Stickereien, Typografie, Skulptur, Malerei sowie, wenn

halten so reine, hohe Kunst wie die Malerei.“6 In der

auch nur temporär, Tanz-Performance.2 Das nach

Hierarchie der Künste gelten die angewandten als

ihrem frühen Unfalltod 1943 von ihrem Ehemann

zweitrangig, sodass sie im Werkverzeichnis, das auch

Hans Arp in Auftrag gegebene und 1948 erschienene

der posthumen Positionierung der Künstlerin in der

Werkverzeichnis3 präsentiert dieses Spektrum nicht,

Kunstgeschichtsschreibung im 20. Jahrhundert diente,

sondern bleibt insbesondere im Hinblick auf den

kaum vertreten sind. Welche Bedeutung aber ihre

kunstgewerblichen Werkkomplex rudimentär. Von den

gestickten und gewebten Bilder im Gesamtwerk der

rund 500 erfassten Arbeiten sind nur dreizehn der

Künstlerin haben, soll nachfolgend untersucht werden.

Kategorie „Quelques œuvres appliquées (non inventoriées)“4 zugeordnet worden. Der in Klammern gesetzte Zusatz „non inventoriées“ charakterisiert das Dilemma im Umgang mit dieser Werkgruppe. Man führt eine

Ausbi ldung i n der Schwei z und Deut schla nd

kleine Anzahl von Perlarbeiten, Stickereien und Webereien auf, betitelt sie teils sogar, aber sie erhalten

Sophie Taeuber-Arps familiäres wie geografi-

keine eigene Werkverzeichnisnummer. Dies erstaunt

sches Umfeld ist geprägt von Kunstgewerbe und

umso mehr, als sich doch einzelne Stickereien in

Kunst. Ihre Mutter Sophie Taeuber-Krüsi stammt aus

verschiedenen Werkgruppen finden.

dem ostschweizerischen Kanton Appenzell, der wie

Gestickte Malereien. Die Textilkünstlerin Sophie Taeuber-Arp

131

St. Gallen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der ortsansässigen Stickerei-Industrie beherrscht

Di e Kunst ha ndwerkeri n: St i c ke n und Weben

wird. Über Generationen sind ganze Familien als Sticker und Entwerfer tätig. St. Galler Spitze ist

Nach dem Abschluss ihrer Ausbildung kehrt sie

berühmt und steht bis in die 1920er Jahre mehrfach

Ende 1914 in die Schweiz zurück und versucht, sich in

an erster Stelle der Schweizer Exportgüter.7 Die

Zürich als freie Kunstgewerblerin zu etablieren. Neben

Mutter der Künstlerin ist versiert in den verschiedens-

direkten Auftragsarbeiten verkauft sie ihre Arbeiten in

ten Handarbeitstechniken, sie malt und fotografiert.

auf Kunstgewerbe spezialisierten Geschäften wie dem

Der Entschluss der jüngsten Tochter zur Ausbildung im

der „Schwestern Severin“ und der „Spindel“, dem

textilen Bereich ist früh gefasst und beginnt 1904 an

Verkaufsorgan der ortsansässigen Frauengenossen-

der St. Galler Stauffacher-Schule, die Musterzeichner

schaft. Die Textilausstellungen der Kunstgewerbemu-

ausbildet. Von 1907 bis 1910 folgt eine Hospitanz an

seen in Winterthur und Zürich bieten zudem die

der dortigen Zeichnungsschule für Industrie und

Möglichkeit, ein kunstinteressiertes Publikum zu

Gewerbe. In den Lehr- und Versuch-Ateliers für

erreichen. So stellt Taeuber-Arp in den Folgejahren

angewandte und freie Kunst9 in München, die sie von

regelmäßig dort aus. Ihren ersten großen Erfolg hat sie

1910 bis 1914 mit einer einjährigen Unterbrechung

1916 mit Stickereien in Zürich. Im Rahmen der

zum Studium an der Kunstgewerbeschule Hamburg

Ausstellung des Kunstgewerbemuseums vom 6. Feb-

besucht, konzentriert sie sich früh auf Textil- und

ruar bis zum 5. März kann sie zwölf Stickereien verkau-

Holzarbeiten.10 Die Teilnahme der Auszubildenden an

fen und erhält anerkennende Kritik lokaler Künstler.14

Ausstellungen bereitet sie einerseits auf das Berufsle-

Ein Kissen wird vom Kunstgewerbemuseum Zürich

ben vor, bedeutet andererseits aber auch den ‚Verlust‘

angekauft und ist somit die erste Arbeit der Künstlerin

früher Arbeiten, den auch Taeuber-Arp skeptisch sieht:

in einer Museumssammlung (Abb. 1).

8

„Das Kinderhäubchen kostet 6 fcs. Wenn sie es gern

Die Stickerei, deren heutiger Titel an ihre

haben will, sonst sag nichts mehr, weil es mir gleich ist,

ursprüngliche Bestimmung erinnert und nur noch auf

wenn es nicht verkauft wird, die Annehmlichkeit des

einer historischen Abbildung15 in dieser Funktion

verkaufens [sic!] wird nämlich wieder aufgehoben

greifbar ist, kann als Paradebeispiel für Taeuber-Arps

dadurch, dass ein Gegenstand nach dem anderen

Stickereien der 1910er und 1920er Jahre gelten. Das

verschwindet und man eigentlich in der Studienzeit

fast quadratische Format von 53 x 52 Zentimetern

sammeln sollte.“ Die Kinderhaube wird nicht verkauft

weist dem Kissen eine mehr dekorative denn nützliche

und im Jahresbericht der Hamburger Kunstgewerbe-

Funktion zu. Die leuchtenden Farben, Gelb, Grün, Blau,

schule publiziert. Erweitert man den Begriff des

Lila, verschiedene Rottöne, dazu Schwarz und ein

Textilen hin zu Perlarbeiten, die mittels Häkeln,

gedecktes Beige sind kontrastreich gegeneinanderge-

Stricken, Weben entstehen, so ist ab 1912 eine

setzt. Die Intensität der Farben hat sich am besten auf

Konzentration Taeuber-Arps auf dieses Material

der Innenseite des Kissens erhalten.16 Der Kreuzstich,

festzustellen.

die von Taeuber-Arp am häufigsten für Kissen ge-

11

12

13

nutzte Sticktechnik, ist hier in Wolle ausgeführt. Die gesamte Fläche der ‚Kissenplatte‘, sprich die Vorderseite, ist in fünf übereinanderliegende horizontale

132

Walburga Krupp

Abb. 1: Sophie Taeuber-Arp, Kissenplatte, 1916, Stickerei, Kreuzstich in farbiger Wolle, Zürcher Hochschule der Künste, ZHdK/Museum für Gestaltung, MfGZ/Kunstgewerbesammlung, Zürich

Reihen gegliedert, die in sich vertikal in sieben Einhei-

tiert sie sich an traditionellen Vorgaben, die sie in

ten strukturiert sind. Diese quadratischen und recht-

abstrahierter Form wiedergibt. In der farblichen

eckigen Einheiten sind entweder monochrom in

Gestaltung allerdings bricht sie mit gewohnten

Hellrosa, Lila, Blau, Beige und Schwarz gehalten oder

Mustern: Blumenstängel und -blätter sind in Lila und

mit figurativen und geometrischen Formen in Gelb,

Rot gestickt wie in späteren Kompositionen Schwäne

Grün und Rotnuancierungen gefüllt. Rechteck,

blau oder Hunde, Vögel und Menschen rot sein

Quadrat und Kreis, Letzterer hier als Blüte in der

können. Es gilt nicht realistisch, sondern mit Farben zu

figurativen Wiedergabe einer Blume, lassen sich schon

gestalten.

früh als gestalterisches Grundvokabular ausmachen. In

Als Stickgrund benutzt Sophie Taeuber-Arp

der Wahl ihrer figurativen Elemente aus der nächsten

überwiegend klassischen Baumwollstramin. In Zürich

Lebensumwelt, also Häuser, Menschen oder Fauna

scheint es 1918 noch während des Krieges einen

und Flora, wie in diesem Beispiel die Blumen, orien-

Materialengpass zu geben, da sie Hans Arp, der sich in

Gestickte Malereien. Die Textilkünstlerin Sophie Taeuber-Arp

133

Ascona aufhält, bittet, „[…] so viel wie möglich zu

dem sie je nach Bedarf schöpfen kann. Am Beispiel

kaufen, wenn Du 10 Meter sammeln kannst ist es

ihres Teppichentwurfs für die Lausanner Kunstgewer-

gut.“ Die Rückseiten als Nicht-Ansichtsseiten der

beausstellung 1922 (Abb. 3) beschreibt sie es selbst:

Kissen sind meist aus einem Baumwollstoff gefertigt,

„Es hat mir sehr Vergnügen gemacht ihn zu zeichnen

dessen Farbe einer der in der Stickerei verwendeten

so ist eine ganze Serie kleiner Aquarelle entstanden,

entspricht. Als Stickgarn benutzt sie vorrangig Wolle,

die ich jederzeit leicht in Perlbeutel Kissen Teppiche u

explizite Garnqualitäten sind nicht überliefert. Im

Wandstoffe umarbeiten kann.“20 Der ovale Umriss des

Briefwechsel mit der Schwester finden sich nur zwei

Teppichs zeigt in der Binnenstruktur eine vertikal-hori-

Hinweise auf Garnmarken. 1912 empfiehlt sie der

zontale Aufteilung mit figurativen und geometrischen

Schwester Seidengarn der Schweizer Firma Zwicky

Elementen. Dreieck, Kreis und Halbkreis sind in vielen

und im Februar 1919 bittet sie Hans Arp, ihr schwar-

ihrer textilen Gestaltungen zu finden. Der Kreis im

zes Garn der Firma Heer und Co aus Zürich zu schi-

Kreis wird zum Symbol des menschlichen Kopfes.

cken, da sie in Arosa nicht die gewünschte Stärke

Die lang gestreckte, schmale Figur mit angewinkelten

bekommen kann. Sie führt ihre Stick- und Webarbei-

Armen, auffallendstes Motiv im ‚Lausanner‘ Teppich,

ten immer in einer einzigen Garnstärke aus. Materia-

wird zwei Jahre später in dem Webteppich Ohne Titel,

lexperimente, wie sie beispielsweise die Bauhaus-­

heute in der Sammlung der Fondazione Marguerite

Weberinnen mit unterschiedlichen Garnqualitäten

Arp in Locarno, in einer reduzierten Fassung wieder

und -stärken durchführen, finden sich bei Taeuber-Arp

benutzt.21

17

18

nicht.

Der mehrstufige Entwurfsprozess kann ZeichIm bildkompositorischen Aufbau ihrer Stickereien

und Webereien lässt sich ein Muster ablesen, das sich

Gouachen in der endgültigen Farbgebung und schließ-

auch in ihren späteren malerischen Arbeiten wieder-

lich die Anleitung zur technischen Umsetzung, teils mit

findet. Wie bereits beschrieben, entwickelt Taeu-

Materialproben der jeweiligen Garne, umfassen. Für

ber-Arp aus der orthogonalen Gitterstruktur des

die Mehrzahl der textilen Arbeiten sind allerdings diese

Stramins eine vertikal-horizontal ausgerichtete

Vorstufen verloren. Erhalten haben sich viele der

Gestaltung, die sich beim Weben analog aus der Folge

farbigen Ausführungen in Aquarell und Gouache.

von Kette und Schuss ergibt. Am klarsten zeigt sich

Da die nach ihnen realisierten Textilien verkauft und

dies in der Composition verticale-horizontale von 1916

nicht dokumentiert sind, fehlt folglich bei der post­

(Abb. 2). Die Stickerei in Kreuzstich ist Abstraktion pur,

humen Einordnung der Arbeiten und der Erstellung

gestaltet mittels Form und Farbe: Rechtecke und

des Werkverzeichnisses der Kontext. So ist zu erklä-

Quadrate in Rottönen, Schwarz, Beige und Blau, deren

ren, dass viele dieser Blätter als eigenständige Werke

Wirkung durch Hell-Dunkel-Kontraste intensiviert

betrachtet werden.22 Die Stickerei Composition à motifs

wird.

d’oiseaux scheint die bislang einzige Arbeit zu sein, die

19

Im Entwurfsprozess ihrer Arbeiten entsteht oft eine Vielzahl von Zeichnungen, die, wenn sie nicht direkt umgesetzt werden, in eine Art Ideen- oder

134

nungen in Bleistift und Farbstift sowie Aquarelle oder

in zumindest drei Phasen überliefert ist: als Gouache, Vorlage zur Ausführung und Stickerei.23 Auch in den Perlarbeiten, die Sophie Taeuber-Arp

Motivpool für andere künftige Arbeiten eingehen.

als kleine Beutel, Notizbuchumschläge, Ketten und

Taeuber-Arp entwickelt so ein Formenrepertoire, aus

Anhänger in Häkel- und Stricktechnik ausführt, schöpft

Walburga Krupp

Abb. 2: Sophie Taeuber-Arp, Composition verticale-horizontale, 1916, Stickerei, Kreuzstich in farbiger Wolle, Fondazione Marguerite Arp-Hagenbach, Locarno

Gestickte Malereien. Die Textilkünstlerin Sophie Taeuber-Arp

135

Abb. 3: Sophie Taeuber-Arp, Composition ovale à motifs abstraits, 1922, Knüpfteppich, farbige Wolle, Stiftung Arp Museum Bahnhof Rolandseck, Remagen

sie aus ihrem Formenrepertoire. Meist realisiert sie aber abstrakt geometrische Entwürfe, jedes Objekt ein Unikat.

Abb. 4: Sophie Taeuber-Arp, Ohne Titel, um 1918–1920, Kette, farbige Perlen gefädelt in Schlingtechnik, Aargauer Kunsthaus Aarau, Depositum aus Privatbesitz

Zw i schenzei t : Von a ngewa n d te r z ur f rei en Kunst

Zuweilen sind die Perlen in einer Arbeit von unterschiedlicher Stärke, die kleineren vielfach durchscheinend,

136

Von 1918 bis 1920 ist Sophie Taeuber-Arp

glitzernd, die größeren opak. Taeuber-Arp gestaltet nicht

Mitglied der Künstlervereinigung „Das Neue Leben“, die

symmetrisch, es gibt kaum alternierende Formfolgen,

sich auf die Initiative des Basler Künstlers Fritz Baumann

selbst bei dieser geringen Gestaltungsfläche. Auch in der

hin gründet und als Erneuerungsbewegung einer Kunst

Ausführung der Ketten (Abb. 4) folgt sie einem Konzept

versteht, die angestammte Gattungshierarchien zwi-

und keinem spontanen Gestaltungswillen: „Die Kette ist

schen angewandter und freier Kunst überwinden will.

schön, etwas bunt. Erst kalt und rosa, dann sehr hell mit

Taeuber-Arp beteiligt sich an allen vier Ausstellungen der

grün und in der Mitte als ob man ein Geheimnis wüsste

Gruppe. In den beiden letzten im Jahr 1920, im Januar in

rot lila braun schwarz und glitzerig und dann wieder rosa

Bern und von Ende Mai an in Basel, zeigt sie Kissen,

und wieder hell und kalt und zum Schluss wieder rot, wie

Ketten und Perlbeutel, die sie betitelt. Die Ketten heißen

eine Erinnerung an ein Geheimnis.“

Sommerwurm und Glimmender Wurm, beides suggeriert

Walburga Krupp

24

Flirrendes, Glänzendes, was die glitzernden Perlen auszudrücken vermögen. Der Wurm beschreibt die Form, in der sich die Ketten um den Hals der Trägerin legen. Titel wie Blumengehirn, Wasserfeuerwerk oder Intensitätsclown erinnern an Arps Sprachakrobatik nicht nur während der Dada-Zeit. Die Betitelung der Beutel, Kissen und Ketten und für eine kurze Zeitspanne auch die Setzung einer Signatur in Form ihrer Initialen „sht“ weisen auf ein neues Selbstverständnis als Künstlerin hin,25 das sich auch durch die überaus positive Aufnahme ihrer Marionetten für das Märchenspiel König Hirsch am Zürcher Marionettentheater 1918 erklärt. Vermutlich sind in diesem zeitlichen Kontext auch die kleinformatigen abstrakten Stickereien zu verorten, Varianten en miniature der Composition verticale-horizontale von 1916 (Abb. 5), die sie rahmt und an Freunde und Familie verschenkt. Mit der Rahmung, selbst bei einer Verringerung des Formats der eigentlichen Arbeit, löst sie in einem ersten Schritt die Stickerei aus dem kunstgewerblichen Objektkontext, der immer mit dem Aspekt der Nützlichkeit verbunden ist. Alle ihre bisherigen Objekte sind im

Abb. 5: Sophie Taeuber-Arp, Composition verticale-horizontale, um 1917, Stickerei, Kreuzstich in farbiger Wolle, Aargauer Kunsthaus Aarau, Depositum aus Privatbesitz

Hinblick auf eine bestimmte Funktionalität geschaffen, sei es als Kissen, Decke, Kette, Beutel oder die Holzdosen als Aufbewahrungsbehälter.26 Goldfarbene

wieder zur Anwendung sowie die collagehafte Kombi-

Passepartouts und Rahmen verleihen diesen Sticke-

nationen verschiedener Gestaltungselemente. In ihrem

reien eine beinahe ikonenhafte Anmutung.

Bildteppich Ohne Titel (Abb. 6), bislang auf 1918–192428

Das neue Selbstbewusstsein wird bestärkt auch

datiert, finden sich sowohl Dreieck- und Kreisformen

durch die zunehmende Anerkennung als Textilkünstlerin

als auch die Gestaltung von Menschen anhand von

und damit einhergehend erfolgreiche Verkäufe. Greift

Rechtecken und Kreisen oder Kreuzen, die man bereits

Sophie Taeuber-Arp schon zuvor auf professionelle

aus anderen Stickereien der zwanziger Jahre kennt. Die

Hilfe von Stickerinnen bei der Ausführung ihrer Arbei-

Abbildungen im Katalog der Schweizer Sektion der

ten zurück, so verstärkt sich dies noch in den 1920er

Pariser Exposition internationale des arts décoratifs et

Jahren. In dieser Zeit intensiviert sich auch ihre

industriels modernes 1925, wenn auch auf dem Kopf

Beschäftigung mit Weberei, und es entstehen eine

stehend, und 1926 im Katalog zur Ausstellung Das neue

ganze Reihe von Wandteppichen, die als gewebte Bilder

Heim im Kunstgewerbemuseum Zürich, in der der

zu verstehen sind. Ihre bewährte Technik eines verti-

Teppich an der Wand eines von Max Haefeli gestalteten

kal-horizontalen Bildaufbaus kommt auch in ihnen

Wohnraumes hing, zeigen ihn mit Fransen.29

27

Gestickte Malereien. Die Textilkünstlerin Sophie Taeuber-Arp

137

Abb. 6: Sophie Taeuber-Arp, Ohne Titel, 1918–1924, Weberei in farbiger Wolle, Fondazione Marguerite Arp-Hagenbach, Locarno

Von der Wand zum Bild

Die Ausführung in Perlgarn imitiert den Glanzeffekt, der in der Malerei auf den Wänden dank Spiegeln

Die verstärkte Beschäftigung mit Innenarchitek-

138

erzielt wird. Bei der Schweizerischen Ausstellung für

tur ab 1926 in Straßburg bei verschiedenen Projek-

Frauenarbeit 1928 ist Sophie Taeuber-Arp mit dieser

ten30 geht einher mit einem sukzessiven Rückzug aus

Arbeit vertreten. Der Katalog zur Ausstellung Die Frau

dem Textilbereich und einer immer stärkeren Fokussie-

in Kunst und Kunstgewerbe dokumentiert wohl eher

rung auf eine abstrakte Formensprache. Im Kontext

unbewusst die Übergangssituation, in der sich Taeu-

der Gestaltung des Tearooms für die „Aubette“

ber-Arp damals befindet. Die Abbildung der Stickerei

entsteht eine Stickerei, die ein Element der Decken-

ist im Bereich der bildenden Kunst, die Besprechung

und Wandmalerei dieses Raumes wiedergibt (Abb. 7).

der Künstlerin in dem des Kunstgewerbes positioniert.

Walburga Krupp

Maria Weese, die zum Schweizer Kunstgewerbe schreibt, thematisiert dies auch in ihrem Beitrag: „Sophie Arp-Taeuber verzichtet mehr und mehr auf jede Erinnerung an die gewachsene Form und geht ganz zur geometrischen Flächenführung über, die ihren Halt und ihre Bindung durch die Farbe festigt. Sie ist so ergiebig in der Erfindung, daß sie die Ausführung notgedrungen anderen Händen überläßt, um sich ganz dem Erfinden zu widmen, wobei sie auch anderes als Textiles arbeitet, neuestens Glasfenster und Innenausbau.“31 Mit dem Umzug von Zürich nach Meudon bei Paris Anfang 1929 löst sich Sophie Taeuber-Arp fast vollständig vom Kunstgewerbe, um Malerin zu sein. Eine kleine Einschränkung bleibt, da sie zuweilen noch

Abb. 7: Sophie Taeuber-Arp, Composition „Aubette“, 1928, Stickerei in farbigem Perlgarn, Stiftung Arp e.V., Berlin und Rolandswerth

aus finanziellen Gründen Faschingskostüme und modische Accessoires entwirft. Die Zweiteilung des Œuvres von Sophie Taeuber-Arp, wie sie es selbst gegenüber ihrer Schwester formulierte32, ist letztlich eine nur rein äußerliche, will

plastische Umsetzung der Kissenplatte von 1916.

heißen materialbezogene Trennung. Das Primat von

Gleiches gilt für die Raumgestaltungen im Hotel

Form und Farbe bleibt durchgängige Konstante im

Hannong und der „Aubette“. Seine bruchlose Fort­

gesamten Werk. Der Abstraktionsprozess, der schon

führung in der Malerei erfährt dieses Gestalten in den

früh im textilen Werk33 sichtbar wird, verstärkt sich im

„Räumebildern“ der 1930er Jahre, die die vertikal-

Laufe der Jahre. Das geometrische Formvokabular

horizontale Ordnung wieder aufgreifen. In die nun

ihrer Kunst erfährt eine Konzentration auf Kreis,

„Räume“ genannten Einteilungen der Fläche werden

Quadrat und Rechteck. Steht zu Beginn ihres maleri-

Kreise und Linien als zusätzliche Elemente gesetzt.

schen Werkes eine Reduzierung der Farbe, so öffnet

Die Gemälde sind von einer intensiven Farbigkeit, die

sie sich im Laufe der 1930er Jahre wieder dem ganzen

in ihrer Ausstrahlung an die textilen Arbeiten erinnern.

Farbspektrum. In ihrer Arbeitsweise, der Gestaltung

Die besondere Wirkung der Farbe im Textilen lässt

der Fläche bleibt sie sich treu. Wie leicht und doch

Sophie Taeuber-Arp 1938 wieder zu ihrem ursprüngli-

überzeugend sich das vertikal-horizontale Raster ihrer

chen Medium zurückkehren mit der Bitte an die

Stickereien in ein anderes Medium umsetzen lässt,

Schwester: „Wärest Du bereit, mir noch eine Stickerei

zeigt sich in allen Phasen und Bereichen ihrer Arbeit.

zu machen. Hans und ich stellen im November

So sind 1918 bei der Bühnenbildgestaltung des

zusammen aus in Paris und ich glaube, es wäre ganz

Marionettenspiels König Hirsch die Palastwände aus

schön zwei so stark bunte Sachen dazwischen.“34

Rechtecken konstruiert, in die emblemartige Elemente

Der Werkkreis schließt sich zugunsten des textilen

eingelassen sind. Im weitesten Sinne ist es eine

Bildes.

Gestickte Malereien. Die Textilkünstlerin Sophie Taeuber-Arp

139

1

Anmerkungen

11

Sophie Taeuber-Arp heiratete Hans Arp im Oktober 1922, so

aus den Briefen der Künstlerin ist ihre Orthografie bewusst beibehalten

dass es für die Jahre zuvor korrekt wäre, von Sophie Taeuber zu spre-

worden.

chen. Um eine Verwirrung zu vermeiden, wird im Text durchgängig je-

12

doch Taeuber-Arp benutzt.

1913, o. S. 

2

Zu den Tanzkostümen und Marionetten Taeuber-Arps siehe den

13

Die Staatliche Kunstgewerbeschule zu Hamburg, Hamburg An der Ausstellung der Lehr- und Versuch-Ateliers für ange-

Beitrag von Anja Pawel in diesem Band.

wandte und freie Kunst bei der Bayrischen Gewerbeschau 1912 in

3 4

Georg Schmidt (Hg.): Sophie Taeuber-Arp, Basel 1948.

München ist sie mit zwei Stickereien und einer Holzarbeit vertreten.

Hans Arp beauftragt nach dem Zweiten Weltkrieg den Basler

Sophie Taeuber an Erika Schlegel-Taeuber, 13.9.1912, ZB ZH, Ms. II

Künstler Hugo Weber mit der Inventarisierung der Werke seiner

3068.42. Bei ihrer ersten Ausstellungsbeteiligung in der Schweiz, der

verstorbenen Frau. Weber vermisst, datiert und versieht die ihm zu-

12. Nationalen Kunstausstellung 1914 in Bern, zeigt sie ein Kissen mit

gänglichen Arbeiten zur Identifikation mit einer kurzen Bildbeschrei-

Seidenstickerei, einen Beutel in Perlweberei und eine bemalte Holz-

bung. Die Arbeiten sind anschließend in Werkgruppen zusammenge-

dose.

fasst, die in sich chronologisch geordnet sind. Die Bildbeschreibungen

14

werden zu Titeln geformt, die wie im Falle von Composition verticale-

und Hermann Gattiker sowie den Verkaufserfolg in ihrem Tagebuch.

horizontale für die gesamte Gruppe übernommen werden. Schließlich

Eintrag Februar 1916, Privatbesitz Schweiz.

Erika Schlegel-Taeuber notiert das Lob von Augusto Giacometti

wird jedes Werk mit einem eigens zur Inventarisierung gefertigten

15

Stempel bedruckt, in den handschriftlich die Werkverzeichnisnummer

Schweiz, Chur 1916, Tafel 8.

Franziska Anner: Die kunstgewerbliche Arbeit der Frau in der

eingetragen wird. Die erste handschriftliche Erfassungsliste von Weber

16

befindet sich heute im Archiv der Fondazione Marguerite Arp in

len Bedingungen aufbewahrt und von jeder funktionalen Nutzung ver-

­Locarno. Über die Systematik der Erfassung und der Gruppenbildung

schont wird, ist der Farbverlust zu beobachten. Folglich scheint er un-

ist nichts überliefert. Es scheinen teils formale Kriterien zu sein wie

abhängig von Licht oder Pflege zu sein. Materialtechnische

eine vertikal-horizontal gegliederte Bildstruktur oder gattungsspezifi-

Untersuchungen im Hinblick auf Farbstabilität fehlen bislang. Die Be-

sche wie Skulptur und Relief. Zu den Daten und Titeln des Werkver-

zeichnungen der hier genannten Farbtöne beziehen sich daher auf die

zeichnisses ist anzumerken, dass Sophie Taeuber-Arp selbst nur sehr

Innenseite bzw. Rückseite der Stickerei.

Selbst bei der Kissenplatte, die im Museumsbesitz unter optima-

selten datiert und kaum betitelt. Die meisten der heute wie selbstver-

17

ständlich genannten Titel sind posthum aus Webers Bildbeschreibun-

3067.1.

Sophie Taeuber an Hans Arp, 23.1.[1918], ZB ZH, Ms. Z II

gen entstanden.

18

5

Ms. Z II 3068.48, und Sophie Taeuber an Hans Arp, 25.2.1919, ZB ZH,

Erika Schlegel-Taeuber an Hans Arp, 21.7.1945, Archiv Fonda-

zione Marguerite Arp, Locarno. Sophie Taeuber-Arp dokumentierte

Sophie Taeuber an Erika Schlegel-Taeuber, 8.12.1912, ZB ZH,

Ms. Z II 3067.9.

weder ihre Arbeiten vor den Verkäufen, sei es mittels Fotos oder Skiz-

19

zen, noch notierte sie die Käuferinnen und Käufer.

Texten für den Unterricht in textilem Gestalten, den sie von 1916 bis

6

1929 an der Gewerbeschule in Zürich erteilt. Sophie Taeuber-Arp: Be-

Hans Arp: Unsern täglichen Traum. Erinnerungen und Dichtun-

Die Bedeutung der Farbe thematisiert die Künstlerin in zwei

gen aus den Jahren 1914–1954, Zürich 1955, S. 10 f.

merkungen über den Unterricht im ornamentalen Entwerfen, in: Korre-

7

spondenzblatt des Schweizerischen Vereins der Gewerbe- und Haus-

Stickerei-Zeit. Kultur und Kunst in St. Gallen 1870–1930,

Ausst.-Kat. Kunstmuseum St. Gallen, St. Gallen 1989, S. 10.

wirtschaftslehrerinnen, Bd. 14, 1922, H. 11/12, S. 156–159. Sophie

8

H. Arp-Taeuber und Blanche Gauchat: Anleitung zum Unterricht im

Die bislang erste nachweisbare Publikation einer Arbeit der

Künstlerin zeigt Entwürfe nach der Natur und fällt in diese Zeit: Doris

Zeichnen für textile Berufe, Zürich 1927.

Wild: Die Zeichnungsschule für Industrie und Gewerbe in St. Gallen, in:

20

Textile Kunst und Industrie. Illustrierte Monatshefte für die künstleri-

Ms. Z II 3069.4.

Sophie Taeuber an Erika Schlegel-Taeuber, 21.2.1922, ZB ZH,

schen Interessen der gesamten Textilindustrie, Bd.  2, 1909, S.  427–

21

432, hier S. 427.

kommen kann, erschwert die zeitliche Einordnung der Arbeiten, die sich

9

Dieses ‚ungenutzte‘ Formenrepertoire, das jederzeit zum Einsatz

Die von Herman Obrist und Wilhelm von Debschitz 1902 ge-

nur mühsam über zeitgenössische Publikationen rekonstruieren lässt. Es

gründete Schule wird in der Literatur nach dem Ausscheiden Obrists

ist davon auszugehen, dass Taeuber-Arp bemüht ist, zeitnah entstan-

oftmals verkürzt als Debschitz-Schule bezeichnet.

dene Arbeiten auszustellen und zu reproduzieren.

10

140

Sophie Taeuber an Erika Schlegel-Taeuber, 26.10.1912, Zentral-

bibliothek Zürich (nachfolgend ZB ZH), Ms. II 3068.47. In den Zitaten

Die Ausbildung als Kunstgewerblerin ist eine bewusste Ent-

22

Dass sie auch als solche bestehen können, zeugt von der Kraft

scheidung Taeuber-Arps. Obwohl sie von Jugend an zeichnet und

der Arbeiten. Sie losgelöst vom Kontext zu betrachten, bedeutet aller-

schon in St. Gallen Zeichenkurse belegt, erwägt sie in jungen Jahren zu

dings auch, die Relevanz von Sophie Taeuber-Arps textilem Frühwerk

keinem Zeitpunkt eine Ausbildung als Malerin.

zu unterschätzen.

Walburga Krupp

23

Die Gouache und Ausführungsvorlage befinden sich als Deposi-

befindet sich heute in der Sammlung der Fondazione Marguerite Arp,

tum aus Privatbesitz in der Sammlung des Aargauer Kunsthauses in

Locarno.

Aarau, die Stickerei ist in Privatbesitz. Die drei Arbeiten sind auf 1928

29

datiert. Da den Farbangaben auf der Ausführungsvorlage keine Garn-

gerahmt worden, um den ‚Bildcharakter‘ zu betonen. Die heutige Rah-

beispiele in den entsprechenden Farben beigefügt sind, lesen sie sich

mung zeigt den Teppich wieder mit Fransen, ohne die Bildwirkung zu

mehr wie Hinweise. Gouache und Vorlage stammen aus der Sammlung

beeinträchtigen. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass heute

von Erika Schlegel-Taeuber, die Stickerei aus der einer gemeinsamen

viele der Kissen und Teppiche als gerahmte Bilder an der Wand präsen-

Freundin. Für sie wollte Erika Schlegel-Taeuber anscheinend etwas

tiert werden und ihre ursprüngliche Funktion nicht mehr erkennbar ist.

sticken und bat die Schwester um einen Entwurf. Sophie Taeuber-Arp

30

reagierte darauf in einem Brief. Sophie Taeuber-Arp an Erika Schlegel-

Arp nach Straßburg, um die französische Staatsbürgerschaft zu erhal-

Taeuber, 22.11.1932, ZB ZH, Ms. ZII 3069.71.

ten. Arp hat zuvor dank alter Kontakte in seiner Heimatstadt die Be-

24

Sophie Taeuber an Hans Arp, 7.3.1919, ZB ZH, Ms. Z II 3067.14.

kanntschaft der Immobilienbesitzer André und Paul Horn gemacht, von

Diese subjektive Besetzung von Farbe erinnert an Wassily Kandinsky,

denen das Ehepaar verschiedene Innengestaltungsaufträge erhält, so

dessen Schriften sie durch Hans Arp kennt. Arp lernt während seiner

zum Apartment von André Horn, zum Hotel Hannong und schließlich

Zeit bei der Künstlergruppe „Der Moderne Bund“ 1912 Kandinsky ken-

zur Umgestaltung der „Aubette“.

nen. Nach dem Ersten Weltkrieg bemühen sich Arp und Taeuber-Arp um den Ankauf eines Gemäldes von Kandinsky und können schließlich

31 32

die Improvisation 35 von 1914 erwerben. Arp schenkt sie 1966 an das

chen Werkkomplex an der Konstruktivisten-Ausstellung der Basler

Kunstmuseum Basel.

Kunsthalle vertreten. Sie drängt ihre Geschwister zum Besuch der Aus-

25 26

Als Beispiel eines signierten Teppichs siehe Abb. 3.

stellung und dankt ihnen anschließend: „Ihr habt ja immer mehr Bezie-

Bei Letzteren zeigt sich dies am deutlichsten bei der so genann-

hung zu meinen früheren kunstgewerblichen Arbeiten gehabt umso

ten Puderdose, 1918, Holz, gedrechselt und bemalt, Aargauer Kunst-

besser scheint mir diese Umgebung dafür zu sein, eine andere Einstel-

haus Aarau, Depositum aus Privatbesitz.

lung zu meinen Arbeiten zu bekommen.“ Sophie Taeuber-Arp an Erika

27

Schlegel-Taeuber, 8.2.1937, ZB ZH, Ms. Z II 3070.25.

Siehe dazu auch Maria Weese und Doris Wild: Die Schweizer

In späteren Jahren ist der Wandteppich mit verdeckten Fransen

Sophie Taeuber-Arp reist im Sommer 1926 zu ihrem Mann Hans

Weese/Wild 1928 (wie Anm. 27), S. 47. Im Januar 1937 ist Sophie Taeuber-Arp mit einem umfangrei-

Frau in Kunstgewerbe und bildender Kunst, Zürich/Leipzig 1928, S. 47.

33

28

Die Datierung 1918–1924 muss überdacht werden. Taeuber-

­relativ große Anteil an figurativen Elementen auch dem Geschmack

Arp hat den Teppich 1925 als Mitglied der Schweizer Delegation auf

der potenziellen Käuferschaft ihrer Arbeiten geschuldet ist. Die Zürcher

der Exposition internationale des arts décoratifs et industriels modernes

galten, zumindest in den Jahren ihrer Tätigkeit dort, als eher konservativ.

in Paris gezeigt und einen Sonderpreis erhalten. Es ist nicht anzuneh-

34

men, dass sie bei dieser wichtigen Ausstellung eine alte Arbeit präsen-

ZH, Ms. Z II 3070.36. Die Ausstellung bei der Galerie Bucher findet erst

tierte. Eine Datierung auf 1925 scheint folglich plausibler. Der Teppich

im Mai 1939 statt.

Es stellt sich die Frage, inwiefern der im textilen Werk doch

Sophie Taeuber-Arp an Erika Schlegel-Taeuber, 20.7.1938, ZB

Gestickte Malereien. Die Textilkünstlerin Sophie Taeuber-Arp

141

SA M MELN, ARC HIVIERE N , ZE I GE N / CO L L EC T, ARC HIVE, D I S PL AY

gruppen ermöglichen es, die Ankaufspolitik des Museums näher zu beleuchten.

Mi t teleurop ä i sche St i ckerei en i m M AK Der Historismus, der mit dem k. k. Österreichischen Museum für Kunst und Industrie (ÖMKI) und

Mitteleuropäische Textilien und Englische Stoffe. Zur Ankaufspolitik des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute MAK) vor und um 1900 Angela Völker und Dagmar Sachsenhofer

dem Programm der über die gesamte Monarchie verbreiteten Fachschulen, die das Kopieren historischer Stile als Vorbild propagierten, sein Forum für das Kunsthandwerk zu finden geglaubt hatte, geriet in den späten 60er Jahren des 19. Jahrhunderts in eine Sackgasse, denn es mangelte an Kreativität und neuen Anregungen. In der als unverdorben und ursprünglich, als positiv konnotiert ‚primitiv‘ geltenden Volkskunst abgelegener Regionen, wie der Bukowina2 oder in Dalmatien, glaubte man, diese gefunden zu haben. Den Kunstgewerbemuseen erschloss sich so ein neues Sammelgebiet. Alois Riegl, Textilkurator im ÖMKI, gilt als Schlüsselfigur der Bewegung.3 Um 1900 zeigten die Textilsammlungen prominenter Künstler, wie

In der Textilsammlung des MAK (Österreichi-

Gustav Klimt4, Kolo Moser (Abb. 1)5, Josef Hoffmann6

sches Museum für angewandte Kunst/Gegenwarts-

oder Emilie Flöge7, wie sie diesem Pfad folgten. Das

kunst) in Wien befinden sich zwei Objektbereiche, die

folkloristische Repertoire an stilisierten Naturformen,

von besonderem Interesse für die „Textile Moderne“

die Reduzierung der Motive auf ihre Umrisslinien,

sind: Das MAK besitzt eine umfangreiche Sammlung

sowie die lebendige und oft klare Farbigkeit begeister-

ethnografischer Textilien aus den Ländern der österrei-

ten Künstler, aber auch Sammler und Museen. Die

chischen-ungarischen Doppelmonarchie; ein unveröf-

Akquisition volkskundlicher Textilien erfolgte parallel

fentlichter, kaum bearbeiteter Bestand, wichtig

zum Ankauf kunsthistorisch hochgeschätzter Textilien

allerdings für die aktuelle kunsthistorische Forschung,

des Mittelalters, der Renaissance und des Barock, wie

in der seit der Jahrtausendwende vermehrt ein neues

etwa der Gewebesammlung des Kanonikus Franz Bock

Interesse am Einfluss der Volkskunst zu beobachten

1864.8

ist. Andererseits gibt es im MAK eine unerwartete,

Das Sammeln mitteleuropäischer Textilien

um 1900 erworbene Sammlung englischer Dekor-

begann im ÖMKI bald nach dessen Gründung 1864 in

stoffe, die Künstler des Arts and Crafts Movements

den Jahrzehnten, in denen volkskundlichen Textilien

seit den 1870er Jahren entwarfen. Beide Sammlungs-

allgemein ein beachtliches Interesse galt.9 Ab 1867

1

Zur Ankaufspolitik des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute MAK) vor und um 1900

145

erreichte das ÖMKI 1880. Sie wurde gegen „vier Gypse“ von dem Maler Izidor Kršnjavi aus Agram (Zagreb) getauscht.12 Meist weniger üppig waren die Angebote diverser Händler aus Wien, wie Israel Pollaks13, Katharina Prems14, Isidor Bellaks15 (Abb. 3) oder Friederike Joessels16. Andererseits kamen Händler aus den Regionen, in denen ihre Ware entstand: Karl Ertl17 und Alexander Quintus aus Cheb (Eger)18, Anton Andresek aus Brno (Brünn)19, Josef Madunicky aus Pieštʼnany (Pystian)20, Alois Elbogen aus Rokytnice (Rokitnitz)21 oder Josef Licht­ neckert aus Székesfehérvár (Stuhlweißenburg)22. Einige verkauften auch an das 1895 gegründete Volkskundemuseum Wien.23 Textilien galten traditionell als Sammlungs­ Abb. 1: Bestickte Haube, Ende 19. Jahrhundert, Slowakei, Baumwolle, Seidengarn, aus der Textilsammlung Kolo Mosers, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, Inv. Nr. T 11265

objekte für Damen der gehobenen Schichten, wie die der Sammlung Natalie Bruck-Auffenbergs aus Wien, heute im Volkskundemuseum Wien.24 Sie hatte sich auf dalmatinische „Ware“ spezialisiert, die sie selbst vor Ort gesammelt, bearbeitet und veröffentlicht

boten Sammler und Händler dem Museum Sticke-

hatte.25 Stephanie Rubido-Zichy aus Opatija (Abbazia)

reien, Gewebe und Kostümteile aus den Ländern der

schenkte dem ÖMKI 1873 vier und 1906 sechs

Doppelmonarchie an. Einer ihrer wichtigsten Vertreter,

dalmatinische Kleidungstücke,26 1913 widmete Gräfin

der Fabrikant und Ethnologe Srećko (Felix) Lay aus

Marie Hoyos-Amerling dem ÖMKI 86 dalmatinische

Osijek (Essegg) in der historischen Region Slawonien,

Spitzen, Stickereien und Kostümteile27. Auch bekannte

offerierte dem Museum 1871, 1872 sowie 1873, 1879

Persönlichkeiten wie die Schriftstellerin Emma Adler28,

und zuletzt 1912 diverse Textilien aus seiner Heimat,

Gattin Victor Adlers, oder Emilie Bach29, Gründerin der

insgesamt mehr als 2.000 Objekte. Ein Brief des

k. k. Fachschule für Kunststickerei in Wien, schenkten

ÖMKI Direktors Rudolf von Eitelberger beschreibt,

dem ÖMKI ethnologische Stickereien sowie später

wie Lay 1873 dem Haus die umfangreichste Kollektion

1935 Bertha Pappenheim.30

verkaufte, die für die Wiener Weltausstellung be-

146

Dabei interessierten Sammler und Museen

stimmt gewesen war, mit deren Organisationskomitee

offenkundig nicht so sehr die kulturhistorischen

er sich aber nicht hatte einigen können (Abb. 2).10

Aspekte oder die Gebrauchskontexte der Textilien als

Lay publizierte seine Kenntnisse „südslavischer“

viel mehr ihre formalen Charakteristika, die Muster.

Stickereien 1871/72 „zur Förderung der Kunstindust-

Das zeigen die zahlreichen aus ihrem Zusammenhang

rie“ in einem mehrbändigen Tafelwerk zusammen mit

geschnittenen Fragmente in der MAK Sammlung

dem Maler Friedrich Fischbach.11 Eine weitere Samm-

(Abb. 2, 3). Der Schwerpunkt liegt auf den Ornamen-

lung von über 800 dalma­tinischen Stickereifragmenten

ten der bestickten Besätze für Blusen, Hemden,

Angela Völker und Dagmar Sachsenhofer

Abb. 2: Bestickter Besatz (Fragment), vor 1873, Dalmatien, Wolle auf Leinen, aus der Sammlung Lay, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, Inv. Nr. T 1975-5

Abb. 3: Ärmelbesatz mit Klöppelspitze und Seidenstickerei, vor 1886, Mähren, Baumwolle, Seidengarn, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, Inv. Nr. T 4057

Hauben und Tücher vor allem aus Dalmatien, Mähren

der Universität Wien präsentierte die Ausbeute im

und Böhmen, aus der Bukowina (Ukraine, Rumänien)

Januar 1918.38

und Ungarn. Vollständige Kostüme gibt es nur vereinzelt. Ebenso brachten Kustoden wie Eduard Lei-

Museen, Wissenschaftler und Sammler bemühten sich, die volkskundlichen Sammlungen in Aus­-

31

sching32 oder Moritz Dreger33 und der Direktor Arthur

stellungen und Publikationen bekannt zu machen.

von Scala ethnografische Textilien in die Sammlung.

Willkommene Gelegenheiten, die nationale Identität

34

Von Alois Riegl sind keine Ankäufe aktenkundig,

mittels Volkskunst auch international zu propagieren,

allerdings beschäftigte er sich in seinen frühen

waren ab 1851 die Weltausstellungen,39 bei denen

Schriften immer wieder mit orientalischen und

stets auch volkskundliche Objekte, folkloristische

folkloristischen Textilien.

Architektur, ja sogar die Landbevölkerung in pittores-

Eine ungewöhnliche Mission erfüllte der Künst-

ken Trachten zur Schau gestellt wurden.40 In den

ler und Mosaikunternehmer Leopold Forstner aus

Städten fanden kontinuierlich Landesausstellungen

Stockerau: 1917 und 1918 führte ihn seine Funktion

statt, über die Kataloge und Museumszeitschriften

als „Sammeloffizier“ nach Mazedonien und Albanien

berichteten.41 Im MAK haben sich zwei umfangreiche

mit dem Auftrag, von dort eine „möglichst große

Konvolute von Fotografien erhalten, die die volkskund-

Anzahl von volkskundlichen Gebrauchsgegenständen,

lichen Ausstellungen 1895 in Prag42 und 1905/06 in

Erzeugnisse des Handwerks und der Hausindustrie

Wien43 dokumentieren.

mitzubringen.“ Charakteristische Textilien und Fotos 35

Schon vor dem Ersten Weltkrieg schwand in den

sowie seine dokumentarisch genauen Zeichnungen

Kunstgewerbemuseen das Interesse an diesem

im MAK36 und im Volkskundemuseum Wien37 bezeu-

Bestand. Wahrscheinlich besitzen sogar einige volks-

gen seine Reisen. Eine Ausstellung im Großen Festsaal

kundliche Textilien, die, wie die Bestände im MAK,

Zur Ankaufspolitik des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute MAK) vor und um 1900

147

kaum bekannt sind. Beispielsweise schenkte Felix Lay

Sein Wechsel in das ÖMKI wurde von vielen Seiten

1874 dem Germanischen Nationalmuseum in Nürn-

befürwortet. Seine im Handelsmuseum aufgebaute

berg eine Sammlung „südslawischer“ Textilien und

Sammlung modernen Kunsthandwerks übernahm er in

verkaufte 1875 dem Berliner Kunstgewerbemuseum

seine neue Wirkungsstätte.50

eine ähnliche Sammlung ; beide befinden sich heute

Bereits 1893 kaufte er für das Handelsmuseum

44

noch in den Museen45. Allerdings hat zuletzt das

bei der Londoner Firma Liberty & Co.51 Deren Gründer

Deutsche Textilmuseum in Krefeld seine folkloristi-

Arthur Lasenby Liberty erwarb ab den 1880er Jahren

schen Textilien bearbeitet und in einer umfassenden

Künstlerentwürfe, zum Beispiel bei Lindsay P. Butter-

Ausstellung gezeigt.

field, Walter Crane oder dem 1880 gegründeten Silver

46

Studio, und beauftragte bekannte Seidendrucker und Färber wie Thomas Wardle, der bereits für Morris

Ar ts and Craf ts-Stof fe im M AK

Stoffe in hoher Qualität bedruckte. Durch diese enge Zusammenarbeit mit Designern und Handwerkern

1897 wurde Arthur von Scala zum Direktor des

setzte Liberty neue Standards für die moderne

k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Indust-

Textilproduktion. Aus dem Handelsmuseum stammt

rie bestellt. Er trennte sich vom Gründungsgedanken

der Baumwollsamt mit stilisierten Vögeln zwischen

des Museums – dem Kopieren historischer Stile – und

Blattranken und Blüten (Abb. 4) – ein Entwurf von

propagierte das Kopieren moderner ausländischer

Charles Francis Annesley Voysey, der in zwei verschie-

Vorbilder. Diese fand er in den Reformideen des

denen Farbstellungen erworben wurde.52 Auch für das

englischen Kunsthandwerks. Noch vor seiner offiziel-

ÖMKI sind Ankäufe bei Liberty belegbar.53 Exempla-

len Bestellung als Direktor des ÖMKI rühmte ihn die

risch wird ein rotgrundiger Stoff mit eingewebtem,

Allgemeine Zeitung in München: „ein Mann von

linearem Grundmuster vorgestellt, der mit seinem

Initiative, von Ideen, von Geschmack, ein Anreger.“

floralen Gitterwerk und den stilisierten Fantasieblüten

47

Scala war bereits als 21-jähriger Industriekauf-

bereits jene Flächenhaftigkeit zeigt, die auch für

mann mit der Berichterstattung über die Textilindustrie

österreichische Jugendstilstoffe charakteristisch

auf der Pariser Weltausstellung 1867 betraut worden.

werden sollte (Abb. 5).

1873 wurde er zum Direktor des neu gegründeten

Ein Gutteil der englischen Stoffe wurde über

Orientalischen Museums bestellt, das er 1886 zum

eine weitere Londoner Firma gekauft: Höfler, Raum &

„k. k. Österreichischen Handelsmuseum“ ausbaute und

Co beziehungsweise W. Höfler. Die im MAK-Archiv

dabei einen Schwerpunkt auf „England mit seinem

spärlich erhaltenen Geschäftsakten zu den englischen

neuartigen Möbelstyl“ legte. Scala führte das

Ankäufen belegen eine langjährige, fast freundschaftli-

Handelsmuseum wie ein ,Kunstgewerbemuseum‘: „It is

che Geschäftsbeziehung zwischen Scala und Wilhelm

virtually a permanent exhibition of applied and

(William) Höfler.54 Höfler hatte 1885 in London eine

decorative art“, schrieb The Studio, ein Organ des Arts

Handelsfirma für englische Möbel, Stoffe, Teppiche,

and Crafts Movements, im Dezember 1896. „Modern

Tapeten, Fliesen und Glasfenster gegründet, in jener

decorations and wallpapers are on view in the special

Zeit, als England eine führende Rolle in der Entwick-

48

rooms […]. Needless to say that a lion’s share falls in this department to William Morris and Walter Crane.“

148

Angela Völker und Dagmar Sachsenhofer

lung des modernen Kunsthandwerks übernahm. Die 49

1887 gegründete „Arts and Crafts Exhibition Society“

Abb. 4: Charles Francis Annesley Voysey (Entwurf), G. P. & J. Baker (Ausführung), Dekorstoff, 1893, Baumwollsamt bedruckt, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, Inv. Nr. T 6858

Zur Ankaufspolitik des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute MAK) vor und um 1900

149

Abb. 5: Dekorstoff, vor 1898, Baumwolle, Wolle gewebt, Liberty (Ankauf), MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, Inv. Nr. T 4948

veranstaltete Ausstellungen, in denen Textilien eine

genen Wellen, kleinen Blüten und versetzt gereihten,

zentrale Rolle einnahmen. Viele der Stoffe, etwa von

stilisierten Blumen gezeigt (Abb. 6)57.

William Morris, Lewis F. Day oder dem Silver Studio,

150

Die Ankaufspolitik Scalas war die Basis für sein

verkaufte Höfler nach Wien. So tragen die Morris-

eigentliches Ziel: die prominente und vorbildhafte

Stoffe Kennet55 und Tulip56 im MAK die Händleretiket-

Präsentation der für Wien neuen und von vielen

ten von Höfler, Raum & Co. In vielen Fällen ist aber der

Kunsthandwerkern noch abgelehnten Arts and

Entwerfer unbekannt – offenbar spielten diese eine

Crafts-Stilrichtung. Scalas Ausstellungspolitik polari-

untergeordnete Rolle, da sie auch in den Inventarun-

sierte: Die einen sahen in ihm einen Mann mit „klarem

terlagen nur selten genannt werden. Exemplarisch

Blick für die Zukunft“58, die anderen sprachen abfällig

wird hier ein bedruckter Stoff mit S-förmig geschwun-

von einer „Englischen Krankheit“59. Vor allem der

Angela Völker und Dagmar Sachsenhofer

Abb. 6: Unbekannter Entwerfer, Dekorstoff, vor 1899, Baumwolle bedruckt, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, Inv. Nr. T 5151

Wiener Kunstgewerbeverein protestierte, als Scala mit

Der Gewerbeverein sah darin geschäftsschädigendes

der Tradition brach, dem Verein Räume des Museums

Verhalten und legte mehrfach Beschwerde beim

für eine Verkaufsschau, die sogenannte Weihnachts-

Unterrichtsminister ein.61 Daraufhin kündigte Scala

ausstellung, zu überlassen, um traditionelle, historisie-

dem Kunstgewerbeverein im Herbst 1898.62 Der

rende Einrichtungen zu zeigen und zu verkaufen.

Konflikt wurde breit in der Öffentlichkeit diskutiert.

Bereits im ersten Jahr seiner Direktion präsentierte

Das Medienecho, darunter pointierte Zeitungsartikel

Scala parallel zur Weihnachtsausstellung modernes,

von Adolf Loos63, „Der Fall Scala“ oder „Das Scala-­

englisches Kunsthandwerk sowie Interieurs im

Theater“64 trugen wesentlich zum Publikumserfolg der

englischen Stil. Diese wurden von den Besuchern mit

jetzt von Scala als „Winterausstellung“ organisierten

Begeisterung aufgenommen, die Nachfrage stieg.

Schauen bei.

60

Zur Ankaufspolitik des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute MAK) vor und um 1900

151

Das Interesse potentieller Käuferschichten war geweckt, und Wiener Kunsthandwerker ließen sich vom ,englischen Stil‘ anregen. Begeistert wurden die in den Winterausstellungen präsentierten Entwürfe jetzt besprochen: In der Deutschen Kunst und Dekoration ist von Innenräumen die Rede, „die in ihrer Gesammtheit [sic] ein ziemlich vollkommenes Bild des gegenwärtigen Standes der modernen Richtung im Wiener Kunstgewerbe ergeben“65. Für ihre Möbelentwürfe verwendeten die österreichischen Kunsthandwerker zunächst englische Textilien. So zeigt die „Plauderecke“ (engl. ,Cozy Corner‘) des Architekten Leopold Müller bei der Winterausstellung 1899 eine Tapezierung mit einem englischen Möbelstoff (Abb. 7), der im September des gleichen Jahres für die Sammlung des ÖMKI angekauft worden war.66 Die Möglichkeit, eigene

Abb. 7: Marianne Strobl (Foto), Fotografie einer Wohnecke, 1899, Silbergelatineabzug, Leopold Müller (Entwurf), J. W. Müller (Ausführung), MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, Inv. Nr. KI 7388–10

Möbelentwürfe mit modernen englischen Textilien zu bereichern, nutzte auch Josef Hoffmann. Die Wiener Monatsschrift Das Interieur zeigt etwa Fotografien der

diagnostizierten bei Scala ein schwindendes „Ver-

Kanzlei Dr. Walter Brix, deren Sitzmöbel mit dem

trauen in die Zukunft der modernen Richtung“73. 1909

englischen Stoff Thistle tapeziert sind.67 Nicht nur

wurde Arthur von Scala in den Ruhestand versetzt, die

Architekten, auch der „Photographische Kunstverlag

Leitung übernahm sein Stellvertreter Eduard Leisching,

Otto Schmidt“ verwendete englische Stoffe für die

der zu den Museums-Traditionen der Zeit vor Scala

Ausstattung spezieller Fotoserien – etwa als Hinter-

zurückkehrte. Scalas Einschätzung des Arts and Crafts

gründe für Aktfotografien.

Movements als wegweisend erwies sich in der Folge

68

Die folgenden Ausstellungen Scalas standen weiter im Geiste des englischen Stils. 1899 zeigte man

österreichischen Jugendstils. Für Josef Hoffmann und

preisgekrönte englische Schülerarbeiten (National

Kolo Moser war die von Scala in Wien hartnäckig

Competition) , die das „Nordböhmische Gewerbemu-

betriebene Rezeption der englischen Moderne eine

seum Reichenberg“70 als Wanderausstellung über-

wichtige Anregung.

69

152

als zutreffend und beeinflusste die Entwicklung des

nahm. Der Direktor des Budapester Kunstgewerbemu-

Scalas visionäre Ankaufspolitik hinterließ

seums, Jenő Radisics, kaufte 1895 ebenfalls Stoffe von

bemerkenswerte Spuren in den Beständen des

Thomas Wardle und William Morris.71 Im Jahr 1900

Museums. Neben Entwürfen der bereits genannten

organisierte er eine große Ausstellung Walter Cranes,

Künstler gibt es Stoffentwürfe von Lindsay P. Butter-

die anschließend nach Wien kam.72 Ab 1902 wurden

field, John Henry Dearle, Harry Napper, F. Graham

deutlich weniger englische Stoffe akquiriert als in den

Rice, Arthur Silver, Charles Harrison Townsend,

Jahren zuvor. Auch in den Winterausstellungen traten

Thomas Wardle und Arthur Willcock.74 Bei vielen

wieder historische Stilformen auf. Zeitgenossen

Stoffen sind die Produzenten bekannt, etwa G. P. & J.

Angela Völker und Dagmar Sachsenhofer

Anm erkungen

Baker, Arthur Lee, Warner & Sons oder Turnbull & Stockdale. Neben den Stoffbahnen, die in bemerkenswert großen Metragen ins Museum gelangten, gibt es nur wenige Decken oder Behänge. So kaufte Scala etwa einen „Chenille Curtain“ und einen Tischteppich über den deutschen Händler Bernheimer75 und Teppichmuster aus der Wilton Royal Carpet Factory76. Auch Gardinenstoffe von Liberty77 und Stickereien der Royal School of Needlework bereicherten die 78

Sammlung. Der nach dem Ende seiner Direktion nicht mehr erweiterte Bestand besteht heute aus etwa 430 englischen Textilien und stellt damit einen der größten außerhalb Englands dar.

1

Vgl. Rebecca Houze: Textiles, Fashion, and Design Reform in

Austria-Hungary Before the First World War, Farnham u. a. 2015; Anita Aigner (Hg.): Vernakuläre Moderne. Grenzüberschreitungen in der Architektur um 1900. Das Bauernhaus und seine Aneignung, Bielefeld 2010; Georg Vasold: Alois Riegl und die Kunstgeschichte als Kulturgeschichte. Überlegungen zum Frühwerk des Wiener Gelehrten, Freiburg im Breisgau 2004; Angela Völker: Die Sammlungspolitik der Textilsammlung des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie in den Jahren 1864 bis 1910, in: Kunst und Industrie. Die Anfänge des Museums für angewandte Kunst in Wien, hg. v. Peter Noever, Ausst.Kat. MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Ostfildern 2000, S. 114–129; Diana Reynolds: Vom Nutzen und Nachteil des Historismus für das Leben. Alois Riegls Beitrag zur Frage der kunstgewerblichen Reform, in: ebd., S. 203–218.

2

Erich Kolbenheyer: Motive der hausindustriellen Stickerei in der

Bukowina, Wien 1912.

3

Wa s au s den Sammlungen wurde

Bernward Deneke: Die Entdeckung der Volkskunst für das

Kunstgewerbe, in: Zeitschrift für Volkskunde, Bd.  60, 1964, S. 168– 201; ders.: Beziehungen zwischen Kunsthandwerk und Volkskunde um 1900, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums, Berlin 1968,

Die beiden unterschiedlichen Sammlungsbestände zeigen deutlich, dass die Ankaufspolitik des k. k. ÖMKI in Wechselwirkung mit zeitgebundenen Trends und persönlichen Interessen handelnder Personen stand. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die mitteleuropäischen Textilien pejorativ als „volkskundlich“ kategorisiert. Sie wanderten ins Depot, wo sie – bis heute wenig beachtet – weiterhin aufbewahrt werden. Erst seit 2018 werden sie als Teil eines allgemeinen Digitalisierungsprojekts fotografiert und in der Online-Datenbank des Museums erfasst. Die Arts and Crafts-Stoffe hingegen fanden seit der Wiederentdeckung des Jugendstils in den 1960er Jahren beachtliche Aufmerksamkeit. 1989 und 2013 war jeweils eine Auswahl im MAK zu sehen und einzelne Bahnen wurden zu Ausstellungen ausgeliehen. Seit 2012 ist der Gesamtbestand der englischen Stoffe aus dem MAK in der Online-Datenbank allgemein zugänglich.

140–161. Diana Reynolds Cordileone: Alois Riegl in Vienna 1875– 1905. An Institutional Biography, Farnham u. a. 2014.

4

Verena Traeger: Klimt als Sammler, in: Klimt persönlich. Bilder –

Briefe – Einblicke, hg. v. Tobias G. Natter, Ausst.-Kat. Leopold Museum, Wien 2012, S. 108–125.

5

Angela Völker: Textiles, Fashion and Theater Costumes in: Ko-

loman Moser. Designing Modern Vienna 1897–1907, hg. v. Christian Witt-Dörring, Ausst.-Kat. Neue Galerie New York, München u. a. 2013, S. 194–245, hier S. 198.

6

Josef Hoffmann: Die Sammlung von folkloristischen Textilien im

Geburtshaus in Brtnice, Brtnice 1997.

7

Die Textilmustersammlung Emilie Flöge im Österreichischen Mu-

seum für Volkskunde. Objekte im Fokus, Bd. 2, hg. v. Kathrin Pallestrang, Ausst.-Kat. Österreichisches Museum für Volkskunde, Wien 2012.

8

Inv. Nr. T 724–1132. Vgl. Birgitt Borkopp-Restle: Der Aachener

Kanonikus Franz Bock und seine Textilsammlungen. Ein Beitrag zum Kunstgewerbe im 19. Jahrhundert, Riggisberg 2008.

9

1876 wurden 60 volkskundliche Textilien (Inv. Nr. T 2715/1-60)

als „1867 erworben“ inventarisiert, wohl Ankäufe von der Weltausstellung in Paris 1867. Später gelangten folkloristische Textilien meist als Widmungen in das MAK; so 1935 Teile der Sammlung Bertha Pappenheims (Inv. Nr. T 10073/1–1257), 1983 Widmung diverser mährischer Stickereien (Widmung Maria Steindl, Wien, Inv. Nr. T 11265/1–67) und 2003 ein Konvolut von Ärmelbesätzen aus Chebsko (Egerland) (Widmung Eleonore Schönborn, Inv. Nr. T 12874–13036).

10

Archiv Zl. 174/1875; ÖMKI-Ankäufe von Lay: 1872: Inv. Nr. T

1812–1828; 1873: T 1881–1988; 1879: T 3151–3156; 1912/1913: T 7481–7538.

Zur Ankaufspolitik des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute MAK) vor und um 1900

153

11

met allen Ländern und Völkern zur Förderung der Kunstindustrie und

32 33

nebst einer Abhandlung über die Verbreitung der Cultur der Südslaven,

ger von einer Slowakin kaufte.

Hanau 1872.

34

12 13 14 15 16

Inv. Nr. T 3302.

nische Stickereien; 1904: Inv. Nr. T 5949–5951, Spitzen aus Südtirol;

1874: Inv. Nr. T 2045–2069, Stickereien aus Pécs/Fünfkirchen.

1905: Inv. Nr. T 6292–6308, Spitzen aus Pag und Albanien; Inv. Nr. T

1885: Inv. Nr. T 3842–3996, mährische Stickereien, Spitzen.

6310–6332, Kopftücher und Brustlätze aus Pag und Konavle (Dalma-

1886: Inv. Nr. T 4055–4073, mährische Spitzen, Stickereien.

tien); Inv. Nr. T 6388–6396, Stickereien aus Ruthenien (Ukraine).

1886: Inv. Nr.  T 4016–4025, T 4045–4049, slowakische

35

Felix Lay (Hg.): Südslavische Ornamente, gesammelt und gewid-

1903: Inv. Nr. HIND 326 – HIND 342, dalmatinische und rumä-

Leopold Forstner: Studien von Albanien und Mazedonien, in:

­Stickereien.

Kunst und Kunsthandwerk, Bd. 21, 1918, H. 8/9/10, S. 349; Martina

17 18

1882: Inv. Nr. T 3649–3662, Ärmelbesätze.

Bauer: Leopold Forstner (1878–1936). Ein Materialkünstler im Umkreis

1905, 1906: Inv. Nr. T 6249–6261, T 6526–6528, Ärmelbe-

der Wiener Secession, Wien/Köln/Weimar 2016, S.  158–159, 165–

sätze.

19 20

166. 1890: Inv. Nr. T 4311–4349, Kragen und Besätze.

36

1905: Inv. Nr. T 6028–6055, Be- und Einsätze; 1906: T 6422–

8120/1–54, alle KI Inv. Nr.: https://sammlung.mak.at/de [Abruf:

Inv. Nr. T 8221–8253 und Inv. Nr. KI 8132/1–18; Inv. Nr. KI

6572, Kragen, Hauben; 1912: T 7472  –7478; 1913: T 7589–7599,

22.12.2018].

Besätze.

37

21

4.253, https://www.volkskundemuseum.at [Abruf: 22.12.2018].

1908: Inv. Nr.  T 6917–6936; 1909: T 6959–7034; 1910:

Volkskundemuseum Wien, Inv. Nr. AÖMV 4.243–4.246, 4.250–

T 7204–7242, sog. Einnahthauben; Archiv Zl. 463/1908, 27/1909,

38

57/1909, 280/1910, 379/1915.

kangebiete, in: Kunst und Kunsthandwerk, Bd. 21, 1918, H. 2, S. 69.

22

39

1909: Inv. Nr.  T 7052/1–12, Hauben, weiße Stickerei auf

Hartwig Fischel: Ausstellung zur Volkskunde der besetzten BalMartin Wörner: Die Welt an einem Ort. Illustrierte Geschichte

Schwarz; vgl. Aladár Kriesch-Körösföi: Hungarian Peasant Art, in: Char-

der Weltausstellungen, Berlin 2000.

les Holme u. a. (Hg.): Peasant Art in Austria and Hungary, The Studio,

40

Sonderausg., 1911, S. 31–46, Taf. 629–651.

tektonische Selbstdarstellung Österreich-Ungarns auf den Weltausstel-

23

Martin Wörner: Bauernhaus und Nationenpavillon. Die archi-

Karl Ertl 1882, Alexander Quintus 1905, David Kaiser 1887,

lungen des 19. Jahrhunderts, in: Österreichische Zeitschrift für Volks-

Anton Andresek 1890, Regina Markstein 1891 und Alois Elbogen 1908.

kunde, Bd. 48, 1994, H. 97, S. 395–424; Elke Krasny: Binnenexotismus

24

Vgl. Einblicke in die Sammlung: Natalie Bruck-Auffenberg,

und Binnenkolonialismus. „Das Bauernhaus mit seiner Einrichtung und

Ausst.-Kat. Volkskundemuseum Wien, Wien 2018. Dem ÖMKI berich-

seinem Geräthe“ aus der Wiener Weltausstellung 1873, in: Aigner 2010

tete sie 1900 aus Spalato (Split) von ihrer Dalmatienreise (Archiv Zl.

(wie Anm. 1), S. 37–55.

448/1900) und schenkte dem Museum 1904 fünfzehn dalmatinische

41

Textilien aus Pag (Inv. Nr. HIND 311–325).

lung in Prag 1895, in: Zeitschrift für österreichische Volkskunde, Bd. 1,

25

Wilhelm Hein: Die čechoslawische ethnographische Ausstel-

Natalie Bruck-Auffenberg: Dalmatien und seine Volkskunst.

1895 (1896), S. 265–275; Michael Haberlandt: Ausstellung österreichi-

Muster und Kunsttechniken aus altem Volks- und Kirchengebrauch.

scher Hausindustrie und Volkskunst, in: Kunst und Kunsthandwerk,

Spitzen, Stickarbeit, Teppichweberei, Schmuck, Trachten u. Gebrauchs-

Bd. 9, 1906, H. 1, S. 24–52.

gegenstände der Dalmatiner, Wien 1911. Widmungen ans Volkskunde-

museum Wien.

42 43 44 45

26

werbemuseum Berlin: Inv. Nr.  1875, 58–65. Die Recherchen be-

museum Wien gab es 1909, 1910, 1915 und 1918 den Nachlass (270 Objekte). Kathrin Pallestrang danken wir für ihre Hilfe im Volkskunde1873: Inv. Nr.  T 2024–2027, Kappen; 1906: T 6448–6453,

Inv. Nr. KI 7395 (499 Fotos). Inv. Nr. KI 7717 (481 Fotos). Archiv Zl. 174/1875 (wie Anm. 10). GNM, Inv. Nr. LGA 5682–5742, mehr als 60 Objekte. Kunstge-

Hemden, Westen.

schränkten sich auf diese Häuser. Für die Informationen dazu danken

27 28 29 30

Inv. Nr. T 7601–7678, Archiv Zl. 313/1913.

wir Adelheid Rasche (Nürnberg) und Freya Nagelsmann (Berlin).

1884: Inv. Nr. T 3689–3693, Besätze, Mähren.

46

1886: Inv. Nr. T 2496–2499, Ärmelbesätze, Eger (Cheb).

Paetz gen. Schieck: Tracht oder Mode. Die europäische Sammlung Paul

Spitzen und so weiter ... Die Sammlungen Bertha Pappenheims

Prött im Deutschen Textilmuseum Krefeld, Mainz 2018.

Uta-Christiane Bergemann, Isa Fleischmann-Heck und Annette

Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, 2007/2008.

47 48

Zu Bertha Pappenheim siehe den Beitrag von Annette Tietenberg in

museum. 1875–1900, Wien 1900, S.  119. Englische Möbel wurden

diesem Band.

1892/93 in Wien und in einigen Fachschulen gezeigt (ebd., S.  127).

31

Eine Ausstellung französischer und englischer Textilien und Tapeten

im MAK, bearb. v. Angela Völker, Ausst.-Kat. MAK – Österreichisches

Inv. Nr. T 4380, T 4381, T 4458, Bauernkostüme; T 4382, Hir-

tentracht, T 7149; serbisches Reiterkostüm.

154

1889: Inv. Nr. T 4180, 10 Ärmelbesätze aus Eger (Cheb). 1901: Inv. Nr. T 5440–5460, 21 Stickereien aus Nitra, die Dre-

Angela Völker und Dagmar Sachsenhofer

Allgemeine Zeitung, München, 5. Mai 1897, Beilage, S. 7. Siegmund Feilbogen: Das k. k. Österreichische Handels-

fand im Gewerbemuseum Reichenberg/Liberec statt (ebd., S. 134).

49 50

The Studio, Bd. 9, 1897, H. 45 (December 1896), S. 215.

63

Darunter 120 Arts and Crafts-Stoffe (Inv. Nr. T 6734–6898)

seum, in: Neue Freie Presse, 13.11.1898, S. 9.

Adolf Loos: Die Winterausstellung im Österreichischen Mu-

sowie vier großformatige Tapetenmusterbücher von Hayward & Sons,

64

Rottmann und Jeffrey & Co: T 13525–13527, T 13780.

ter, in: Die Wage, 5. 11.1898.

51

Musterbücher mit bedruckten und gewebten Stoffen, drei Wollsamt-

65 66

Muster; 21.6.1895, Liberty & Co.: „Collection Stoffe und Musterbücher“.

„Plauderecke“ wurde in mehreren Zeitschriften publiziert, etwa in:

52

Deutsche Kunst und Dekoration, 1899, H. 5, S. 254.

Handelsmuseums-Inventar, 18.8.1893, Liberty Art Fabrics: drei

Inv. Nr. T 6893 (heller Grund). Vgl. From East to West. Textiles

Adolf Loos: Der Fall Scala (wie Anm. 59); ders.: Das Scala-TheaDeutsche Kunst und Dekoration, 1900, H. 6, S. 270. Inv. Nr. T 5161 (am 4.9.1899 über W. Höfler angekauft). Die

by G. P. & J. Baker, Ausst.-Kat. Victoria and Albert Museum, London

67

1984, S. 57 u. 80. Insgesamt besitzt das MAK 19 Voysey-Stoffe.

1900, Abb. auf S. 27, 50 u. 51 sowie Tafel 4. Das ÖMKI kaufte Thistle

53

(Entwurf: Silver Studio) bereits 1898 in vier verschiedenen Farbstellun-

Zwischen 1898 und 1901 wurden 58 Stoffe bei Liberty gekauft.

Das Interieur. Wiener Monatsheft für angewandte Kunst, Bd. 1,

Die meisten sind mit Etiketten samt Musternummern versehen.

gen (T 4934, T 5011–5013, T 5295).

54

68

Archiv Zl. 665/1897; Zl. 394/1899; Zl. 912/1899; Zl.

Geplante Publikation über den „Photographischen Kunstverlag

1058/1902. Im April 1899 trennte sich Höfler von seinen Geschäfts-

Otto Schmidt“ von Michael Ponstingl (Wien).

partnern Ludwig Raum und Henry S. P. Hindley.

69

55 56

Inv. Nr. T 6816 (Etikett: Höfler, Raum & Co / No. 190).

gekrönter englischer Schülerarbeiten im österreichischen Museum, in:

Inv. Nr.  T 12468 (Etikett: Höfler, Raum & Co / No. 194). T

Kunst und Kunsthandwerk, 1899, H. 2, S. 58–77.

Inv. Nr. KI 7332. Siehe auch Ludwig Hevesi: Ausstellung preis-

elf Morris-Stoffe wurden erst 1907 bei Morris & Co. in London gekauft

70 71

(T 6652–6660). Stellvertretend für die umfangreiche Morris-Literatur:

Kunstgewerbe in Budapest. Hilda Horváth: Jenő Radisics and the Se-

Linda Parry: William Morris. Textiles, London 1983.

cession Collection of the Museum of Applied Arts, in: Szecesszió a 20.

57

század hajnala. Az európai iparművészet stíluskorszakai, hg. v. András

12461 stammt ebenfalls aus dem Handelsmuseum. Acht der insgesamt

Inv. Nr. T 5171 (Höfler-Etikett „W.H. No 130/2“). Pendant in

Archiv Zl. 405/1899, heute Liberec. Für Informationen dazu danken wir Hilda Horváth, Museum für

anderer Farbstellung: T 5172 („W.H. No 130/4“).

Szilágyi und Éva Horányi, Ausst.-Kat. Iparművészeti Múzeum, Budapest

58 59 60

Kunst und Handwerk, Bd. 47, 1897/98, S. 159.

1996, S. 10–15; Ilona Sármány-Parsons: The Influence of the British

Adolf Loos: Der Fall Scala, in: Die Zeit, 9.4.1898, S. 25–27.

Arts and Crafts Movement in Budapest and Vienna, in: Acta Historiae

Adolf Loos: Die Jubiläumsausstellung, in: Neue Freie Presse,

Artium, Bd. 33, 1987/88, S. 181–202.

5.6.1898, S. 16: „Noch einige solche Weihnachtsausstellungen, und wir

72

haben eine andere Tischler-Generation. Das Publicum aber ist schon da

schen Museum, in: Kunst und Kunsthandwerk, 1901, H. 3, S. 93–108.

[...]“.

73

61

Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 28.3.1898: „Protestver-

Moriz Dreger: Zur Walter Crane-Ausstellung im ÖsterreichiDer Cicerone. Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunst-

forschers & Sammlers, Bd. 1, 1909, H. 20, S. 643.

sammlung von Kunstgewerbetreibenden am 27. März 1898 […] gegen

74

die Leitung des Museums für Kunst und Industrie […] zum Schutze des

des MAK abrufbar: https://sammlung.mak.at/de [Abruf: 22.12.2018].

bedrängten heimischen Kunstgewerbes [...]“. Österr. Staatsarchiv, AVA, 2. Mai 1898.

75 76 77

62

stoffe gekauft (T 4991–5010 und T 6803–6811).

Ausst. Wien 1893–1898, Fasz. 2936, Nr. 10165, Eingabe 2. April und Archiv Zl. 1011/1898, Schreiben an das Präsidium des Wr.

Kunstgewerbevereins, 8.11.1898.

78

Sämtliche englischen Textilien sind in der Online-Datenbank Inv. Nr. T 5226, T 5227 (bei Bernheimer). Inv. Nr. T 5402, T 5403. Inv. Nr. T 4351–4355. Auch bei W. Höfler wurden GardinenInv. Nr. T 5112, T 5176, T 5287, T 5309, T 5310, T 6733–6735.

Zur Ankaufspolitik des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute MAK) vor und um 1900

155

dynamischen Umfeld auch jene Theorien des Textilen entstanden sind, die – im Zuge des Ornamentstreits von Alois Riegl als Kritik an Gottfried Semper formuliert3 – in der Kunstwissenschaft bis heute in Bezug auf wahrnehmungsästhetische Ansätze, eine „kulturund sozialtheoretische Neuperspektivierung der Stilgeschichte“4 und eine „Wiederkehr des Teppich-­ Paradigmas“5 unter dem Vorzeichen der Postcolonial Studies relevant sind.

Strukturprinzipien der Moderne: Die Textilsammlungen von Bertha Pappenheim und Emilie Flöge

Bertha Pappenheim und Emilie Flöge haben sich in den Debatten um die Herkunft und Valenz von Ornament und Muster nicht zu Wort gemeldet. Weder haben sie Sempers Auffassung geteilt, das Textile stelle eine „Urkunst“ dar, deren „Urtypen“ sich durch ihre „Ursprünglichkeit“ auszeichneten,6 noch haben sie sein primitivistisches Kulturstufenmodell explizit kritisiert. Ebenso wenig gaben sie Riegl recht, der Semper

Annette Tietenberg

vorwarf, den „Darwinismus auf ein Gebiet des Geisteslebens“7 übertragen und die Textilkunst in ihrer

„Man sagt, daß die dialektische Methode darum

Bedeutung überschätzt zu haben. Überliefert sind

geht, der jeweiligen konkret-geschichtlichen

keine Äußerungen von Bertha Pappenheim und Emilie

Situation ihres Gegenstandes gerecht zu werden.

Flöge, denen zu entnehmen wäre, dass sie Riegls

Aber das genügt nicht. Denn ebensosehr geht es

Entwicklungsschema des Ornaments „vom Naturalisti-

ihr darum, der konkret-geschichtlichen Situation

schen über die Geometrie zur Abstraktion“8 für

des Interesses für ihren Gegenstand gerecht zu

plausibel hielten. Und doch haben sie sich in eben

werden.“

diesem Diskursfeld positioniert – und zwar durch die Walter Benjamin

1

Schwerpunktsetzungen ihrer Textilsammlungen. Dies wird im Folgenden zu zeigen sein.

„War es einfach Zufall, daß die Anfänge der Zwölftonmusik, der ‚modernen‘ Architektur, des

Sammeln als Wohlfahrtsfeminismus

Rechtspositivismus, der abstrakten Malerei und der Psychoanalyse – oder auch das Wiederaufleben des

Bertha Pappenheim, 1859 in Wien geboren,

Interesses an Schopenhauer und Kierkegaard – alle in

engagierte sich Zeit ihres Lebens für Kinder-, Jugend-

der gleichen Zeit entstanden und daß sie so weitge-

und Frauenrechte. Spuren hinterließ sie als Mitbegrün-

hend auf Wien konzentriert waren?“ Diese rhetori-

derin des Jüdischen Frauenbundes (1904), als Initiato-

sche Frage stellten Allan Janik und Stephen Toulmin

rin eines Mädchenwohnheims in Neu-Isenburg

ihrer Rekonstruktion von Wittgensteins Wien voran.

(1907–1942) bei Frankfurt am Main, das sie bis zu

Vergessen zu erwähnen haben sie, dass in diesem

ihrem Tod im Jahr 1936 leitete, als Autorin von

2

Strukturprinzipien der Moderne: Die Textilsammlungen von Bertha Pappenheim und Emilie Flöge

157

Abb. 1: Bertha Pappenheim, ca. 1907, Fotografie nach einem verschollenen Gemälde, 9,7 x 6,4 cm, Inv.-Nr. JMF B 1986-0198-1, Jüdisches Museum, Frankfurt am Main

158

Kinderbüchern, als Übersetzerin und nicht zuletzt

hatten, zu verbessern. Sie startete Aufklärungs- und

aufgrund ihrer couragierten Vorträge, Zeitschriftenarti-

Bildungskampagnen und entwickelte Maßnahmen zur

kel und Bücher (Abb. 1). Der jüdischen Tradition der

Selbsthilfe. Auf Kongressen und Tagungen, in Briefen

Zedaka, der Wohltätigkeit, verpflichtet, sah sie es als

und in Aufzeichnungen, die sie „Denkzettel“ nannte,

ihre Aufgabe an, sozial benachteiligte Menschen zu

prangerte sie unmissverständlich sexuelle Ausbeutung

unterstützen. Tatkräftig trug sie dazu bei, die miserab-

und Mädchenhandel an. Prägnant hat die Historikerin

len Lebensbedingungen, unter denen jüdische Frauen

Gudrun Wolfgruber die Motivation der einstigen

in Osteuropa Anfang des 20. Jahrhunderts zu leiden

„höheren Tochter“ aus „streng jüdischer, orthodox

Annette Tietenberg

Abb. 2: Franziska Hofmanninger, Spitzenmuster (Spitzenbesatz), Ausführung: K. k. Zentral-Spitzenkurs, Wien, 1901, Seide, Nähspitze, 10,7 x 27,5 cm, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, Sammlung Bertha Pappenheim, Sigmund und Recha Pappenheim geb. Goldschmidt-Stiftung

bürgerlicher Familie“9, als die sich Pappenheim in

und Kleiderschmuck, Ärmelrüschen, Hauben,

ironischer Verkehrung der etablierten Wortkomposita

Dreiecks­tücher und Krägen zu erstehen. „Müffeln“11

selbst vorstellte, zusammengefasst: „Im Versuch über

nannte sie das vom Geruchssinn geleitete Aufspüren

die religiöse Grundlegung sozialer Tätigkeit eine

von Raritäten, die ihre wertgeschätzte Einzigartigkeit

spezifisch weibliche Ethik zu konstituieren und in der

ausdünsteten, darunter genähte und geklöppelte

Übertragung frauenemanzipatorischer Ziele auf den

Spitzen aus dem 16. bis 18. Jahrhundert, die in Italien,

jüdischen Kontext ist Pappenheims historisches Erbe

Frankreich und in den Niederlanden gefertigt worden

gleichzeitig auch als Beitrag zu einem spezifisch

waren, Brüsseler Spitzen mit reliefartiger Kontur und

jüdisch weiblichen Projekt der Moderne anzusehen.“10

gerüschte Dresdner Spitzen, allesamt weiß wie

Als ein spezifisch weibliches Projekt der

Schnee, aber auch farbenfrohe Haubenverzierungen

­Moderne, das die Aufwertung des als ‚vorindustriell‘,

aus Mähren, die aussehen, als seien sie in das kon­

‚weiblich‘ und ‚angewandt‘ Ausgesonderten zum Ziel

trastreiche Lichtband des Regenbogens getaucht.

hatte, kann auch der Aufbau von Bertha Pappenheims

Auch wenn Bertha Pappenheim keine schriftli-

Textilsammlung, bestehend aus 1.850 Spitzen und

chen Zeugnisse hinterlassen hat, die über ihre Motiva-

Textilfragmenten, betrachtet werden. Am Rande ihrer

tion, Textilien zu sammeln, Aufschluss geben, so gibt

Kongress- und Vortragsreisen, die sie nach Galizien,

es gute Gründe, ihre Sammlung als einen gewichtigen

Russland, Polen, Palästina, Griechenland, Bulgarien,

Beitrag zum „Wohlfahrtsfeminismus“12 zu betrachten.

Ägypten, Kanada, England, in die Tschechoslowakei,

Schließlich hatte Pappenheim 1912 in ersten Verhand-

die Türkei und die Niederlande führten, durchstöberte

lungen mit dem k. k. Österreichischen Museum für

Bertha Pappenheim Geschäfte, Märkte und Bazare,

Kunst und Industrie in Wien darauf bestanden, dass

um Spitzenbesätze, Polsterüberzüge, Decken, Kopf-

ihre weißen Spitzen „auf einen Stoff von besonderer

Strukturprinzipien der Moderne: Die Textilsammlungen von Bertha Pappenheim und Emilie Flöge

159

Farbe – violett – aufgespannt werden“13. Was läge also

allem aber in den ehemaligen Kronländern der

näher, als hier einen Faden zur „politicized modish-

K.-u.-k.-Monarchie, paradoxerweise eine Gründungs-

ness“ der Suffragetten zu spinnen, die den Farben

welle von Spitzenschulen einhergegangen war. Diese

Grün, Weiß und Violett eine symbolische Bedeutung

Schulen in Luserna, Idrija, Drosau, Görz und Wamberg

zuwies? Zudem dürfte Bertha Pappenheim die

waren Zufluchtsorte des Verdrängten und Austra-

Absicht gehabt haben, sowohl den ausbeuterischen

gungsorte nationaler Konkurrenzen zugleich: Sie

Strukturen der Textilindustrie als auch der Diskreditie-

widmeten sich der Vermittlung von anachronistischen

rung der oftmals anonymisierten weiblichen Produkti-

Handwerkstechniken und stellten, nicht zuletzt durch

onsformen von Textilherstellung entgegenzuwirken,

die Präsentation ihrer Produkte auf Weltausstellungen,

denn sie war, im Gegensatz zu den meisten Frauen-

im Bereich der Entwicklung neuer Muster ihre innova-

rechtlerinnen, eine entschiedene Verfechterin der

tiven künstlerischen Fähigkeiten unter Beweis (Abb. 3).

Handarbeit. Sie stickte viel und gern, sie hatte das

Die blütenweißen ‚Modernen Spitzen‘, die traumhaften

Klöppeln gelernt, und sie fädelte bis ins hohe Alter

Nachbilder einer überkommenen Wirtschaftsordnung,

Perlenketten. Ihre ‚Modernen Spitzen‘ , die den

sind somit Konkretisierungen jener „Dialektik im

Schwerpunkt der Sammlung bilden, zeichnen sich

Stillstand“, die Walter Benjamin in seinem Passagen-

dadurch aus, dass nicht nur die Hersteller – darunter

werk beschrieben hat. Benjamin beobachtet eine

die Österreichische Spitzenschule, die Spitzenschule

Verdichtung der Wirklichkeit, „in der alles Vergangene

Fürstin von Pless, die Elsässische Spitzenindustrie, die

[...] einen höheren Aktualitätsgrad als im Augenblick

Spitzenzentrale Brüssel, die Deutsche Spitzenschule

seines Existierens erhalten kann“20. Als Stoff gewor-

und das Atelier der Cecilienhilfe – erfasst, sondern

dene „Vergegenwärtigung vergangner Zusammenhän-

auch die meisten Entwerferinnen und Entwerfer

ge“21 begriff auch Bertha Pappenheim ihre Sammlung.

namentlich bekannt sind. Insofern bestätigt die

So gab sie ihr zum Gedenken an ihre Eltern deren

Sammlung bis heute die Autorschaft von Lisa Boehm,

Namen: Sigmund Pappenheim, einst wohlhabender

Annie Fritz, Franziska Hofmanninger, Mathilde

Getreidehändler aus Preßburg, und Recha Pappen-

Hrdlička, Leni Matthaei, Selma Strobelt, Therese

heim, geborene Goldschmidt, die aus einer angesehe-

Thomälen und Elisabeth Volkemand19 für zahlreiche

nen Frankfurter Bankiersfamilie stammte. Kurz bevor

Gestaltungsideen (Abb. 2).

Bertha Pappenheim ihre Spitzen 1935 dem k. k.

14

15

16

17

18

Österreichischen Museum für Kunst und Industrie in

Er zählstof f gewordene Ve rgegenwärtigungen ve rgangener Zusammenhä nge

Wien überließ, bekannte die 76-Jährige in einem Brief vom 22. Juni 1935: „wie froh ich war, sie noch einmal Stück für Stück mit allen Erinnerungen durch meine Hände gleiten zu lassen“22. Wie präsent die Vergangenheit in der Gegenwart

Als Bertha Pappenheim damit begann, ihre

160

sein kann, wusste Bertha Pappenheim aus eigener

Sammlung aufzubauen, hatte die maschinelle Produk-

leidvoller Erfahrung. Ihre Krankengeschichte ist unter

tion von Spitzen bereits ihren Höhepunkt überschrit-

dem Pseudonym „Frl. Anna O.“ in die Geschichte der

ten. Erkennbar war auch, dass mit dem Schub der

Psychoanalyse eingegangen.23 Der Arzt und Physiologe

industrialisierten Textilherstellung in ganz Europa, vor

Josef Breuer hatte sie wegen anhaltender Lähmungen,

Annette Tietenberg

Abb. 3: Margarete Siegert, Spitzenmuster (Blütenstaude), Ausführung: Schlesische Spitzenschule, Jelenia Góra (Hirschberg), vor 1915, Leinen, Nähspitze, 13 x 18,5 cm, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien, Sammlung Bertha Pappenheim, Sigmund und Recha Pappenheim geb. Goldschmidt-Stiftung

Aphasien, Sehstörungen und Halluzinationen behan-

hätte und sie brauchte, nach Verlassen der Schule aber

delt, die die 21-jährige Bertha Pappenheim im An-

nicht erhielt.“24

schluss an eine Wache am Krankenbett ihres Vaters in

Der Fall „Anna O.“ war für die Psychoanalyse

der Nacht vom 17. auf den 18. Juli 1880 befallen

insofern bahnbrechend, als Breuer durch das Ver-

hatten. In den Studien zur Hysterie, die Breuer gemein-

schwinden der Krankheitssymptome die positive

sam mit Sigmund Freud 1895 veröffentlichte, charak-

Wirkung seiner Gesprächstherapie als bewiesen

terisierte er sie als „früher stets gesund, ohne irgend

ansah: „Als das erstemal durch ein zufälliges, unprovo-

ein Nervosum während der Entwicklungsperiode; von

cirtes Aussprechen in der Abendhypnose eine Störung

bedeutender Intelligenz, erstaunlich scharfsinniger

verschwand, die schon länger bestanden hatte, war ich

Combination und scharfsichtiger Intuition; ein kräftiger

sehr überrascht.“25 Breuers These, traumatische

Intellect, der auch solide geistige Nahrung verdaut

Erinnerungen könnten unter Hypnose „wegerzählt“26

Strukturprinzipien der Moderne: Die Textilsammlungen von Bertha Pappenheim und Emilie Flöge

161

werden, wurde durch den Fall „Frl. Anna O.“ zur

die Vermutung, die unter Hypnose vollbrachten

Gewissheit. Wie groß der Anteil der in der Praxis der

Erinnerungsleistungen der Probanden seien ein Indiz

Selbstbeobachtung geübten Patientin an der Entwick-

dafür, dass das menschliche Gehirn – analog zu einem

lung der Methode war, wurde erst wesentlich später

Phonographen oder einer fotografischen Platte36 –

erforscht. So war es Bertha Pappenheim, die nach

Eindrücke passiv aufnehmen und retroaktiv „vollinhalt-

dem plötzlichen Verlust ihrer ‚Muttersprache‘ Deutsch

lich reproduciren“37 könne. So trug Benedikt, der mit

nur noch Englisch sprechend und schreibend , den

Breuer in Kontakt stand, durch die „Rückübersetzung

Begriff der „talking cure“29 geprägt hat. Zudem war sie

der ‚hellseherischen‘ Fähigkeiten in die Kategorien des

es, die Josef Breuer die Rolle des von ihr begehrten

unbewussten Gedächtnisses“38 dazu bei, Symptome,

Zuhörers in ihrem „Privattheater“30 zuwies. Diese „folie

die im Krankheitsbild der Hysterie zuvor negativ

à deux zwischen Patientin und ihrem Arzt“31 veran-

konnotiert waren, medien- und wissenschaftstheore-

lasste Freud dazu, das Modell der „Übertragungsliebe“

tisch neu zu verorten.39

27

28

zu entwerfen.

Der Prozess der Erinnerung, interpretiert als eine

32

mechanische Wiedergabe des zuvor mechanisch

Textilien als Materialisierungsform des Unbewussten

Aufgenommenen, findet seinen Wiederhall in der Methode des Psychoanalyse, wie Freud sie umrissen hat: Der Arzt solle „dem gebenden Unbewußten des Kranken sein eigenes Unbewußtes als empfangendes Organ zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen

Bertha Pappenheims erzählerische Fähigkeiten, die es ihr ermöglichten, im Hinblick auf eine zukünftige

ist. Wie der Receiver die von Schallwellen angeregten

Notwendigkeit „die Kontingenz der Vergangenheit neu

elektrischen Schwankungen der Leitung wieder in

zu ordnen“ , hatte schon Jacques Lacan gewürdigt.

Schallwellen verwandelt, so ist das Unbewußte des

Der Literaturwissenschaftler Mikkel Borch-Jacobsen

Arztes befähigt, aus den ihm mitgeteilten Abkömmlin-

ergänzte die Rezeption der Fallbeschreibung um den

gen des Unbewußten dieses Unbewußte, welches die

Hinweis, dass Pappenheim keineswegs geheilt aus der

Einfälle des Kranken determiniert hat, wiederherzu-

Redekur hervorgegangen sei, wie Breuer behauptet

stellen.“40 Ein technisches Medium seiner Zeit, das

hatte, sondern anschließend verschiedene Sanatorien

Telefon, ermöglichte es Freud mithin, sich die thera-

aufsuchte. Zudem gäbe es Anzeichen dafür, dass

peutischen Sitzungen als Ferngespräche zwischen dem

Pappenheim vom „Mesmerismus- und Hypnosefie-

Unbewussten des Patienten und des Arztes vorzustel-

ber“ ergriffen worden sei, das im Januar und Februar

len. Dem Arzt blieb es allerdings vorbehalten, die

1880 in Wien grassierte. Der dänische Bühnenhyp-

verschlüsselten Nachrichten aus der Vergangenheit,

notiseur Carl Hansen hatte seine Demonstrationen

die an sein Ohr drangen, zu deuten und in Buchform –

von Katalepsien, Kontrakturen und Halluzinationen im

und damit in ein Sprechen ohne Stimme – zu überfüh-

Wiener Ringtheater auf die Bühne gebracht. Auf der

ren: „Schriftliche Fallgeschichten machen aus einer

Suche nach einer physiologischen Erklärung für die

talking cure: Literatur.“41

33

34

35

theatrale „Hellseherei“ der magnetisierten Personen äußerte der Wiener Neurologe Moritz Benedikt 1894

162

wie der Receiver eines Telephons zum Teller eingestellt

Annette Tietenberg

In der Psychoanalyse sind Buchstaben der Schlüssel zum Unbewussten. „Sämtliche Fallgeschich-

Da s Folklori st i sche a ls Konst rukt des Überzei t li chen

ten Freuds bezeugen, daß die Romantik der Seele einem Materialismus der Schriftzeichen gewichen ist.“42 Bertha Pappenheim, die an der Etablierung dieser Methode keineswegs unbeteiligt war, aber

Während Bertha Pappenheim Jahrzehnte lang

durch das erinnernde Erzählen unter Hypnose

konsequent die Strategie verfolgte, ihre Preziosen dem

lediglich den Rohstoff geliefert hatte, den andere in

k. k. Österreichischen Museum für Kunst und Indust-

Schrift übertrugen, entdeckte im Zusammenführen

rie, dem heutigen MAK, in ihrer Geburtsstadt Wien zu

von Fäden eine alternative Materialisierungsform

übereignen, und sich 1935 dem damaligen Museums-

des Unbewussten, angesiedelt im Bereich des

direktor gegenüber zufrieden zeigte, „meine Spitzen-

­Motorischen, an der Schnittstelle des Technischen

Sammlung unter der wissenschaftlichen Betreuung

und des Handwerklichen. Das in langsamer und

Ihres Instituts zu wissen“46, hat Emilie Flöge keinerlei

gleichförmiger Wieder­holung von einstudierten

Vorkehrungen getroffen, die Textilfragmente, die sich

Bewegungen erzeugte Textile, das aus der operativen

in ihrem Besitz befanden, über die Zeit zu retten.47 Ihre

„Synergie von Werkzeug und Geste“43 hervorge-

Proben textiler ‚Volkskunst‘ betrachtete die Mode-

gangen ist, vermag ebenso als ein Medium der Er-

schöpferin, die je nach Auftragslage bis zu 80 Schnei-

innerung zu fungieren. Es kann durch Betrachtung

derinnen beschäftigte, vermutlich recht nüchtern als

und Berührung von der Vergangenheit erzählen,

Arbeits- und Werbematerial. Im Empfangsraum des

bedarf aber weder der männlichen Autorität noch

Modesalons, den Emilie Flöge seit 1904 gemeinsam

der Übersetzung in eine Schriftform, um in der

mit ihren Schwestern Pauline und Helene in der Casa

Gegenwart ‚abgespielt‘ zu werden. Was Bertha

Piccola in der Mariahilfer Straße 1b im 8. Wiener

Pappenheim, mehr oder minder durch Zufall, in die

Bezirk betrieb, war eine Schauvitrine aufgestellt. Darin

Hände gespielt wurde, war ein Tresor des h ­ istori-

konnte die wohlhabende Kundschaft eine Auswahl von

schen Wissens wie der zeitgenössischen Imagination.

Textilien bestaunen, die zumeist aus der Slowakei

Insofern sind Pappenheims ‚Moderne Spitzen‘ als

stammten.

Gegenstücke zu den von Gottfried Semper so bewun-

Die Moderne war im Salon „Schwestern Flöge“

derten Zeichen von Ursprünglichkeit, zur ‚Urkunst‘

also gleich in mehrfacher Hinsicht präsent: durch die

zu betrachten. Als verdichtete Wirklichkeit, „in der

streng geometrische, schwarz-weiße Möblierung der

alles Vergangene [...] einen höheren Aktualitätsgrad

Wiener Werkstätte, durch die von Flöge entworfenen

als im Augenblick seines Existierens erhalten kann“ ,

Reformkleider48, die ihren Trägerinnen das Korsett

bewahren sie ihre zeittypische Doppel­struktur.

ersparten und mehr Bewegungsfreiheit verliehen, und

Sie zeugen sowohl von den einst waltenden Produktiv-

durch eine Zurschaustellung von Klöppelware, Sticke-

kräften als auch von den Sehnsuchtsbildern der

reien und Spitzen, die auf vorindustrielle Formen der

Gegenwart. Diese zutiefst nostalgische Seite des

Textilherstellung rekurrierten. Das ‚Neue‘, das über die

Jugendstils, die sich der Mechanik der Traumdeutung

Stoffmuster und Trends, die Emilie Flöge während ihrer

entzieht, weil sie auf einem unwiederbringlichen

Reisen nach Paris und London aufschnappte, im

Verlust basiert, hat Walter Benjamin unnachahmlich

Rhythmus der Jahreszeiten den Modesalon durch-

präzise in Worte gefasst: „es ist das Träumen, man sei

strömte, erfuhr seine Grundierung durch das scheinbar

erwacht.“

überzeitliche Folkloristische, das sich in den Über-

44

45

Strukturprinzipien der Moderne: Die Textilsammlungen von Bertha Pappenheim und Emilie Flöge

163

aufgetaucht waren und für 1.500 Jahre alt gehalten wurden. Koptische Textilien kursierten ab 1882 im europäischen Kunsthandel und fanden Eingang in die Museen.50 Die Verwandlung von Gebrauchsgegenständen der ruralen Bevölkerung in textile Relikte, die allein um ihrer anachronistischen Machart, Farbigkeit und Bemusterung willen geschätzt werden, ist somit als eine Praxis der Primitivierung zu verstehen, die in ihrer paradoxalen Konstruktion – zum einen avantgardisAbb. 4: Klöppelspitzen in Leinenschlag aus Leinen und Seide, Bosáca, Slowakei, 19. Jahrhundert, Österreichisches Museum für Volkskunde, Wien, Sammlung Emilie Flöge

tisch-gegenkulturell, zum anderen deklassierend gegenüber einer kulturellen Produktion außerhalb der Zentren der Hochkunst – kennzeichnend für die Moderne ist.51 Folkloristische Relikte zu sammeln, war also in

bleibseln von Deckchen und Hauben, Schürzen und

Wien um 1900 keine Besonderheit, sondern Indiz für

Hemden aus der Provinz konserviert hatte und

einen hohen Bildungsstand.52 So dürfte für das

Beständigkeit versprach (Abb. 4).

Österreichische Museum für Volkskunst weniger die Ausrichtung der Sammlung oder der Seltenheitswert

Montage als Aneignungsstrategie der Moderne

der Einzelstücke als vielmehr die prominente Besitzerin Flöge ausschlaggebend dafür gewesen sein, die 369 Textilstücke in seine Bestände aufzunehmen. Als Emilie Flöges Textilsammlung 2012 anlässlich des 150. Geburtstags ihres Vertrauten Gustav Klimt

„Das Zerschneiden von Kleidungsteilen, um die

164

ausgestellt wurde, fand die damalige Museumsdirek­

bestickten Stellen oder die interessanten Muster und

torin Margot Schindler deutliche Worte: „Die Objekte,

Spitzen herauszunehmen, war keineswegs ungewöhn-

die auf Umwegen von ihr zu uns gelangt sind, stechen

lich“ 49, konstatiert Kathrin Pallestrang, Leiterin der

allerdings im Vergleich mit den zahlreichen ähnlichen

Textil- und Bekleidungsabteilung im Museum für

Stücken in der Textilsammlung des Museums nicht

Volkskunde Wien. Die Händler, bei denen Emilie Flöge

wesentlich hervor.“53 Was Flöges Textilfragmente aber

ihre Textilien erwarb, hätten üblicherweise Kleidungsstü-

zweifellos von denen anderer Sammlerinnen und

cke zerschnitten, um sie unter mehreren Kundinnen

Sammler unterscheidet, ist der ihnen zugedachte

aufteilen und so einen größeren Profit erzielen zu

Verwendungszusammenhang. Im Gegensatz zu den

können. Mindestens ebenso relevant aber, so lässt sich

Exponaten einer musealen Textilmustersammlung

ergänzen, dürfte wohl der ästhetische Mehrwert

stand ihnen nämlich keine Konservierung, sondern

gewesen sein, den die Wiener Händler auf diese Weise

eine Revitalisierung im Kontext der Moderne bevor

erzeugten. Denn durch das Fragmentieren glichen sie die

(Abb. 5). Kathrin Pallestrang bemerkt: „Teilweise finden

Importe aus Transleithanien dem Aussehen jener heiß

sich Spuren von nachträglichen Umarbeitungen, die

begehrten, vielfältig gemusterten, stark farbigen kopti-

offensichtlich dazu dienten, die Fragmente einem

schen Textilien an, die bei Grabungen in Ägypten

neuen Kleidungsstück anzupassen.“54 So kombinierte

Annette Tietenberg

Abb. 5: Textilfragment, undatiert, Baumwolle mit Seide bestickt, Umgebung Trnava, Südwestslowakei, zu einer Taschenklappe umgearbeitet, vermutlich im Salon Schwestern Flöge, 17 x 8 cm, Österreichisches Museum für Volkskunde, Sammlung Emilie Flöge

Abb. 6: Friedrich Walker, Emilie Flöge in einem selbst entworfenen Kleid mit dem Einsatz einer Plattstich-Stickerei aus Rybany, aufgenommen am 13. September 1913 vor der Villa Paulick am Attersee, Fotografie digitalisiert, Maße variabel, Imagno/Austrian Archives Wien

Flöge mehrere Streifen aus Baumwolle mit Klöppel-

einem Kleid zu befestigen war. Zuweilen integrierte sie

spitze, um einen Gürtel zu gewinnen. Sie verwandelte

sogar, wie eine Fotografie aus dem Jahr 1913 zeigt, ein

den Boden einer Haube aus Šoporňa durch Hinzufü-

folkloristisches Fundstück, in diesem Fall eine Platt-

gung einer gewebten Goldborte in ein Deckchen.

stich-Stickerei aus Rybany, an zentraler Stelle in ein

Oder sie konstruierte eine Brosche, indem sie einem

von ihr entworfenes Künstlerkleid (Abb. 6).

Textilfragment mit floralem Motiv drei Druckknöpfe aufnähte, sodass es bei Bedarf an einer Jacke oder an

Für Emilie Flöge waren die textilen Fragmente also weit mehr als eine Inspirationsquelle. Sie bediente

Strukturprinzipien der Moderne: Die Textilsammlungen von Bertha Pappenheim und Emilie Flöge

165

Anm erkungen

sich ihrer vielmehr im Rahmen einer durch und durch modernen Aneignungsstrategie: der Montagetechnik. Das Strukturprinzip der Montage hat Walter Benjamin im Hinblick auf die Literatur beschrieben und damit indirekt Einspruch gegen Riegls Idee eines „Kunstwollens“ erhoben, das seine Dynamik dem Niedergang von historischen Epochen verdankt. Benjamin hingegen verabschiedet sich kategorisch vom Begriff des Fortschritts, nicht ahnend, dass die von ihm erwähnten Anachronismen, die Relikte, nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Mode Unterschlupf gefunden hatten: „Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden.“55 Was die Textilsammlungen von Bertha Pappenheim und Emilie Flöge verbindet, ist ihre Skepsis gegenüber der Dominanz der gesprochenen und geschriebenen Sprache. Sie billigen den Textilien die Fähigkeit zu, auf eine ebenso körper- wie produktionsbezogene Art und Weise von den Rückständen einer zeitlich und räumlich weit entfernten Welt zu erzählen – sei es als Phantasmagorie oder als reales Fragment.

1

Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. V.1: Das Passa-

genwerk, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1982, S. 494.

2

Allan Janik und Stephen Toulmin: Wittgensteins Wien, Mün-

chen/Wien 1984, S. 21.

3

Elke Gaugele: Textil und Stil. Alois Riegls Kritik an der Überhö-

hung der Textilkunst, in: Sabeth Buchmann und Rike Frank (Hg.): Textile Theorien der Moderne. Alois Riegl in der Kunstkritik, Berlin 2015, S. 29–49.

4

Sabeth Buchmann und Rike Frank: Einleitung, in: Buchmann/

Frank 2015 (wie Anm. 3), S. 7–17, hier S. 8.

5

Regine Prange: Die Wiederkehr des Teppichparadigmas. Anmer-

kungen zur zeitgenössischen ‚Welt-Kunstgeschichte‘, in: Annette Tietenberg (Hg.): Muster im Transfer. Ein Modell transkultureller Verflechtung?, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 21–36.

6

Vgl. Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektoni-

schen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Bd. I: Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst, Frankfurt a M. 1860.

7

Alois Riegl: Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der

Ornamentik, Berlin 1893, S. VI.

8

Diana Reynolds: Semperianismus und Stilfragen: Riegls Kunstwol-

len und die „Wiener Mitte“, in: Rainald Franz und Andreas Nierhaus (Hg.): Gottfried Semper und Wien: Die Wirkung des Architekten auf „Wissenschaft, Industrie und Kunst“, Wien/Köln/Weimar 2007, S. 85–96.

9

Britta Konz: Bertha Pappenheim (1859–1936). Ein Leben für

jüdische Tradition und weibliche Emanzipation, Frankfurt a. M./New York 2005, S. 43.

10

Gudrun Wolfgruber: Die ‚Leidenschaften‘ der Bertha Pappen-

heim (1859–1936) alias Anna O., in: Spitzen und so weiter ... Die Sammlungen Bertha Pappenheims im MAK, hg. v. Peter Noever, Ausst.Kat. MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien 2007, S. 26–31, hier S. 31.

11

Marianne Brentzel: Anna O. – Bertha Pappenheim. Biographie,

Göttingen 2002, S. 22.

12

Wolfgruber 2007 (wie Anm. 10), S.  30. Vgl. auch: dies. (Hg):

Bertha Pappenheim: Soziale Arbeit, Frauenbewegung, Religion, Wien 2015.

13

Angela Völker: Spitzen und so weiter ... Die Sammlungen Bertha

Pappenheims  – Sigmund und Recha Pappenheim geb. GoldschmidtStiftung – im MAK, in:, Ausst.-Kat. MAK 2007 (wie Anm. 10), S. 9–13, hier S. 10.

14

Vgl. Elizabeth Crawford: The Women’s Suffrage Movement. A

Reference Guide 1866–1928, London 1999. S. 37. Zum Weihnachtsgeschäft 1908 brachte der Londoner Schmuckhersteller Mappin & Webb einen Katalog mit einer Suffragetten-Kollektion in Grün, Weiß und Violett heraus.

15

Ebd., S. 38. Grün kommt in Bertha Pappenheims Sammlung al-

lerdings nur in wenigen Wiener Spitzen aus der Zeit um 1900 vor.

166

Annette Tietenberg

16

Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass – im Gegensatz zu

40

Sigmund Freud: Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalyti-

anderen Nationen – in Österreich mit Maria Theresia ein historisches

schen Behandlung, in: ders.: Gesamtwerk, Bd. 8. Werke aus den Jahren

Vorbild zur Verfügung stand, das Regentschaft mit der Förderung von

1909–1913, London 1943, S. 376–387, hier S. 381 f.

Handwerkstechniken verbunden hatte. stellung mit den von Bertha Pappenheim zumeist aus farbigen Glasper-

41 42 43

len gefertigten Ketten. Vgl. Brentzel 2002 (wie Anm. 11), S. 208.

nik, Sprache und Kunst, Frankfurt a. M. 1980, S. 296.

18 19 20 21 22 23

Benjamin 1982 (wie Anm. 1), S. 495.

44 45 46

Ebd.

als vorläufige Leihgabe in die Bestände des Museums über.

Völker (wie Anm. 13), S. 10.

47

1960 wurde die wahre Identität der Anna O. seitens der Wis-

Dabei sind vermutlich Teile ihrer Textilsammlung und, so weit vorhan-

senschaft aufgedeckt. Ernest Jones: Das Leben und Werk von Sigmund

den, Notizen und Inventarlisten vernichtet worden. Nach Flöges Tod im

Freud, Bd. 1, Die Entwicklung zur Persönlichkeit und die grossen Ent-

Jahr 1952 gingen Teile ihres Nachlasses in Privatsammlungen und den

deckungen 1856–1900, Bern/Stuttgart 1960. Es ist zu vermuten, dass

Kunsthandel über.

Teilen der Wiener Gesellschaft bereits nach Erscheinen der Studien über

48

Hysterie (1895) bekannt war, von wem die Rede war, sodass Bertha Pap-

Künstlerkleider, Posen und Vermittlungsstrategien, in: Auf Freiheit zu-

penheim es vorzog, ihre Aktivitäten nach Frankfurt am Main, in die

geschnitten. Das Künstlerkleid um 1900 in Mode, Kunst und Gesell-

Heimatstadt ihrer Mutter, zu verlegen.

schaft, hg. v. Ina Ewers-Schultz und Magdalena Holzhey. Ausst.-Kat.

24

Kunstmuseum Krefeld, Krefeld, München 2018, S. 190–201.

17

Im Jahr 1934 organisierte der Jüdische Frauenbund eine Aus-

Ausst.-Kat. MAK 2007 (wie Anm. 10), S. 73–86. Ebd.

Josef Breuer und Sigmund Freud: Studien über Hysterie, Leip-

Kittler 1987 (wie Anm. 39), S. 291. Ebd., S. 288. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von TechBenjamin 1982 (wie Anm. 1), S. 495. Ebd., S. 496. Völker 2007 (wie Anm. 13), S. 12. Pappenheims Sammlung ging 1945 brannte Emilie Flöges Wohnung im 3. Wiener Bezirk aus.

Vgl. Burcu Dogramaci: Inszenierung neuer Lebenswelten.

zig/Wien 1895, S. 15.

49

25 26 27

Ebd., S. 26.

Emilie Flöge und ihre Sammlung, in: Die Textilmustersammlung Emilie

Ebd.

Flöge im Österreichischen Museum für Völkerkunde, hg. v. Kathrin

Vgl. Mikkel Borch-Jacobsen: Anna O. zum Gedächtnis. Eine

Pallestrang, Ausst.-Kat. Österreichisches Museum für Völkerkunde,

Kathrin Pallestrang: Leuchtende Stickereien und zarte Spitzen.

hundertjährige Irreführung, München 1997.

Wien 2015, S. 11–26, hier S. 17.

28

50

Bericht Bertha Pappenheim über ihre Krankheit (1882) in:

Renate Germer und Gisela Körbelin: Kleider aus dem Wüsten-

Brentzel 2002 (wie Anm. 12), S. 311 f.

sand. Die Koptischen Textilien des Museums für Kunst und Gewerbe

29 30 31 32

Breuer/Freud 1895 (wie Anm. 24), S. 29.

Hamburg, Bremen 2012.

Ebd., S. 34.

51

Borch-Jacobsen 1997 (wie Anm. 27), S. 82.

to Art, in: Susan Hiller: The Myth of Primitivism. Perspectives on Art,

Vgl. Daniel Miller: Primitive Art and the Necessity of Primitivism

Sigmund Freud: Bemerkungen über die Übertragungsliebe

Routledge 1991, S. 50–71; Rainald Franz: Die ,disziplinierte Folklore‘,

(1915), in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 10. Werke aus den Jahren

in: Anita Aigner (Hg.): Vernakulare Moderne. Grenzüberschreitungen in

1913–1917, Frankfurt a. M. 1946, S. 306–321.

der Architektur um 1900. Das Bauernhaus und seine Aneignung, Biele-

33

Jacques Lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Spra-

feld 2010, S. 163–174; Annette Tietenberg: Textile Muster – Abstrak-

che in der Psychoanalyse, in: ders.: Schriften I, hg. v. Norbert Haas, Ol-

tionen oder selbstgesponnene Bedeutungsgewebe?, in: Ulrich Eller und

ten/Freiburg im Breisgau 1973, S. 71–169, hier S. 95.

Christoph Metzger (Hg.): Abstract Music. Sound, Art, Media & Architec-

34

ture, Heidelberg/Berlin 2017, S. 87–98.

Fritz Schweighofer: Das Privattheater der Anna O. Ein psycho-

analytisches Lehrstück. Ein Emanzipationsdrama, München/Basel

52

1987, S. 95.

fenberg sammelten mährische und slowakische Textilien. Die kunst-

35 36

Vgl. Borch-Jacobsen 1997 (wie Anm. 27), S. 70 ff.

theoretischen Grundlagen hatte Riegl gelegt. Vgl. Alois Riegl: Volks-

Moritz Benedikt: Hypnotismus und Suggestion: Eine klinisch-

kunst, Hausfleiß und Hausindustrie, Berlin 1894.

Auch Ludwig Hoffmann, Gustav Klimt und Natalie Bruck-Auf-

psychologische Studie, Leipzig/Wien 1894, S. 32.

53

37

S. 9–10, hier S. 9.

Moritz Benedikt: Ueber Katalepsie und Mesmerismus, in: Wie-

ner Medizinische Blätter, Bd. 3, 4. März 1880, H. 10, Sp. 250–252, hier Sp. 250.

38 39

54 55

Margot Schindler: Vorwort, in: Pallestrang 2012 (wie Anm. 49), Pallestrang 2012 (wie Anm. 49), S. 15. Benjamin 1982 (wie Anm. 1), S. 574.

Borch-Jacobsen 1997 (wie Anm. 27), S. 80. Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, Mün-

chen 1987, S. 278–324.

Strukturprinzipien der Moderne: Die Textilsammlungen von Bertha Pappenheim und Emilie Flöge

167

This chapter builds on the knowledge gained during my work for the Gunta Stölzl Archive (GSA) in Groningen, in which Stölzl’s estate is being documented, registered and made accessible. In this chapter the focus will be on one particular category of objects that has until now received little to no scholarly attention. Many of Stölzl’s pieces in the Archive can be defined as ‘end products’: wall hangings, rugs, throws, or textile samples that she would show and

The Weaver’s Laboratory. Gunta Stölzl’s Sample Cards as Materialities of Research

lend to possible clients for demonstration. However, there are also cardboard sample cards with one or more small samples stapled onto it. Sometimes these samples are neat, square woven designs, sometimes they are just leftover pieces (ill. 1). Many times Stölzl sketched out weaving patterns on graph paper, which she would also paste onto the cardboard. Sometimes

Mirjam Deckers

we find written notes on the cardboard, mentioning materials, colors or techniques. Sometimes the notes

Trace s of the Weaver at Work

on the cards reveal the purposes they could later be 1

used for, such as a Divandecke (throw) but equally Vorhangstoffe (curtain material). In some cases we see

Gunta Stölzl is mostly known as the woman who

that she wrote down something which was later

succeeded in becoming the first female Werkmeister2

crossed out again. Sometimes sketches show different

at Bauhaus Weimar in 1925, and subsequently Leiterin

patterns that she had tried out on the loom before

of the weaving workshop when the school moved to

being content with the result. By indicating for herself

Dessau.3 However, what has been little researched

the right pattern, for example with the word “richtig”

safe for biographical accounts is that Stölzl actually

(ill. 2), she could remind herself later of the right way

had a long career after she had to leave the famous

to proceed. In many cases, samples and paper patterns

school in 1931 for political reasons. She moved to

overlap, and so one would have to carefully flip back

Zurich, Switzerland, where she ran her own weaving

samples or paper in order to examine another sample

workshops and continued to design and produce

or read the writing underneath (ill. 3).

4

woven textiles professionally – and with success – un-

One of the interesting aspects of these objects is

til 1967. And even after dissolving her business, she

that they are highly personal, bringing us very close to

continued weaving until her death in 1983.5 She left a

the weaver being at work. When I asked Monika

large estate behind, containing many pieces of cloth,

Stadler, daughter of Gunta Stölzl, what she could

which one might call the ‘textile traces’ of her long

remember about her mother using and creating them,

career, spanning from the early Bauhaus period in the

she explained to me that they were not the same as

1920s to her death in Zürich in the early 1980s.

the labeled samples, which the GSA also possesses,

The Weaver’s Laboratory. Gunta Stölzl’s Sample Cards as Materialities of Research

169

meant for clients who would choose for a commis-

Recently, these cards have received a growing

sion.6 Rather, they were created during the process of

interest from museums worldwide for exhibition

making and, more specifically, during the process of

purposes. Therefore, these cards also enable us to

experimenting. Stölzl would try out different variations

address a question which has to my knowledge not

of techniques and colors on her loom, until she was

been studied before: what are the onlookers’ pro-

content with the result and had created a textile

cesses of perceiving and engaging with these objects

prototype that she could use in the future for different

when they see them in a museum? Drawing on the

purposes. Later she would use these cards in order to

theoretical framework presented, this chapter antici-

reproduce the sample again, not only having the

pates on this development by bringing forth some

sample but also the process that had led towards the

ideas concerning the way in which these objects could

design and its material execution in one. Above all,

be displayed and experienced. After all, we do not deal

these cards are the record of the personal experimen-

with ‘end products’ here. Neither are Stölzl’s notes

tations of the weaver at work. They give us an inter-

always legible, nor are the samples always annotated

esting insight into the weaver’s laboratory, that is, into

for one specific purpose. In their combination of

Stölzl’s processes of creating, the decisions she made,

purposefulness and ambiguity, revealing information

the way she would start working on a textile, or how

on the process of making while also leaving many

she treated her materials. When I recently showed

aspects open, they do tell us a lot about the fascinat-

these cards to the German weaver Franzi Kohlhoff, she

ing processes that are going on in the weaver’s

interestingly pointed out that it seems that Stölzl

laboratory, and the relation between thought and

noted down only those things she thought were

practice, writing and materials. Displaying them might

important for her and her weaving process in her

provide a beautiful and (almost) hands-on experience

workshop, rather than general remarks.7

of the weaver at work.

We can thus approach these objects as archiving the different stages in the process of experimentation and (re)production, rather than being intended as end products. They are personal and unique archival records of the processes of creation, as well as

Weav i ng at t he Ba uha us: Materi a ls, Ta ct i li t y, E xp eri m ent at i on

experimentation, recording the different steps that lead to an outcome. This chapter will provide these

To better understand these cards and Stölzl’s

cards with a theoretical background, starting with

working process it is helpful to see where she herself

ideas on materials, working processes, experimenta-

developed her ideas on textiles, materiality, tactility,

tion and tactility that were developed already at the

and experimentation, namely at the Bauhaus, which

Bauhaus. I will compare Stölzl’s cards to cards used at

she entered as soon as it opened in Weimar in 1919.

the Bauhaus to show their uniqueness. Then I will

Walter Gropius, the first director, wrote in 1925

provide an account of how to understand specifically

about the experimental character of the Bauhaus,

Stölzl’s sample cards by relating them to what Hans-

writing that “die Bauhauswerkstätten sind im wesentli-

Jörg Rheinberger has called ‘experimental systems’.8

chen Laboratorien, in denen vervielfältigungsreife, für die heutige Zeit typische Geräte sorgfältig im Modell

170

Mirjam Deckers

entwickelt und dauernd verbessert werden.”9 This

Moholy-Nagy’s book, the Bauhaus weavers were

attitude of experimentation also found fruitful ground

deeply concerned with the structure and the inherent

in the weaving workshop, established in 1920. The

qualities of their textiles, but importantly also with the

goal of the workshop was to return to the material and

effect of these qualities in relation to the space in

the tactile qualities of textiles at a time in which textile

which they would function.14 In her article ‘die ent­

production had become increasingly industrialized, as

wicklung der bauhausweberei’, written for the

for example described in 1924 by Anni Albers: “Heute

bauhaus magazine when she left the school in 1931,

steht der Weber nur in loser Verbindung mit dem

Gunta Stölzl argues that in designing functional

Webstuhl. Er hat nur mechanische Handgriffe zu leisten. Der Stoffe entsteht unabhängig vom Weber.”

textiles one not only has to take into account the 10

qualities of the material, but also the effect of these

At the same time, the Bauhaus weavers sought to

qualities in the interior. She beautifully relates this to

develop modern textiles meant for the interior,

the necessity of experimenting directly with the

‘Gebrauchsstoffe’, that could indeed become industri-

materials on the loom: “diese lebendigkeit der materie

ally reproduced on a larger scale, rather than to return

zwingt den textilmenschen täglich neues zu ver-

to what Stölzl called in 1926 a “Bild aus Wolle”, an

suchen, sich immer wieder umzustellen, mit seiner

artistic picture made of wool. The close engagement

materie zu leben, sie zu steigern, von erfahrung zu

of the weaver with the material functioned not as

erfahrung zu klettern um so den bedürfnissen, die in

opposed to, but rather as a condition for collaboration

der zeit liegen, gerecht zu werden.”15

11

with the industry. As Regina Bittner recently captured

Related to the importance of experimentation is

it very adequately: “Wenn die Mechanisierung die

the process of designing textiles and annotating this

Entfremdung vom Material befördert habe, so müsse

process. The Bauhaus weavers opposed the classical

es die Aufgabe der modernen Bauhausweberei sein,

idea of designing, in which a weaver would draw a

auf diese technische Welt durch experimentelle Arbeit

pattern on paper before executing the design on the

am Handwebstuhl mit neuen materialen und gestalte­

loom, a way of working that had also become quite

rischen Beiträgen zu reagieren.”

common in the weaving industry.16 Anni Albers put this

12

This condition of engagement with the material,

into words in 1924, writing that the draughtsman

exploring its tactile qualities, was embedded within a

(Musterzeichner) has taken over the process from the

larger discourse at the Bauhaus, and can for example

weaver, as an “isolierter Intellektueller” who no longer

also be found in László Moholy-Nagy’s book Von

has contact with the material, but only creates patterns

Material zu Architektur (1929), which includes an entry

on paper for the industry.17 Instead, in the process of

on the so-called ‘Tastübungen’, tactile exercises in

designing their functional fabrics the Bauhaus weavers

which the student was blindfolded and explored

would start from experiments with materials on the

materials and their opposed or related qualities only

handloom, to work from there to a design that could

through his sense of touch. Interestingly, the first

later be reproduced. In 1933 Otti Berger wrote that the

material Moholy-Nagy mentions in relation to these

convention of starting from a pattern on paper would

exercises is Stoffe, textiles, and the first image accom-

not work in the case of the so-called ‘Strukturstoffe’.18

panying them is a ‘Tasttafel’ containing different

The properties inherent to the yarns simply cannot be

threads made by weaver Otti Berger in 1928. As is

captured in a paper pattern (ill. 4).19

13

The Weaver’s Laboratory. Gunta Stölzl’s Sample Cards as Materialities of Research

171

Ill. 1: Gunta Stölzl, Sample card with three different textiles, 1940s, most likely meant for one interior

172

Mirjam Deckers

Nevertheless, some form of documentation needed to be developed. In 1926 Walter Gropius ordered the weaving workshop to provide reports of textiles that could be reproduced for the industry, containing both a paper pattern and a textile sample. These reports would then be gathered into sample books that could be sent to architects interested in utilizing Bauhaus textiles for their interiors.20 Thus the strive for documentation through sample cards resulted from the aim of the Bauhaus for a renewed collaboration with the industry. Art historian Judith Raum recently researched such cards in the estate of Bauhaus weaver Lisbeth Oestreicher in the Textielmuseum in Tilburg (NL). Her description of these cards comes very close to Stölzl’s cards:

Ill. 2: Gunta Stölzl, Sample card for a blue furniture fabric (detail), 1950s. The word “richtig” is used to indicate the right pattern

Alle Kartons sind gelocht, darauf sind eine oder mehrere Stoffproben aufgetackert. Oft tragen die Kartons einen Aufkleber Bauhaus Dessau und eine

Although much of this description of Oestreich-

bestimmte Typenbezeichnung, etwa Vorhangstoff.

er’s cards corresponds to those in Stölzl’s estate, there

In einigen Fällen ist dazu auch noch die Nummer

is an important difference. In her Swiss workshops,

angegeben, die der Stoff als vom Bauhaus offiziell

Stölzl might have taken over this way of documenta-

geführter und bei Messen angebotener Stoff erhielt.

tion from her Bauhaus years, but her cards were not

[…] Neben den Stoffen kleben dann nur die Patronen,

meant for the industry, nor were they meant to be

d. h. die diagrammatischen Kurz-Informationen zur

shared with assistants who could use them to execute

Bindung jeden Stoffes. Häufig hat Lisbeth Oestreicher

a textile.23 Her cards are, I stress it again, highly

auf solchen Kartons auch Details zur Einrichtung des

personal, only to be used by her in her workshop. They

Webstuhls und zur Qualität der Garne handschriftlich

are her personal memory aids, thus it was not required

mit Bleistift unter den Stoffen vermerkt.21

that anybody else could understand her notes. In that respect, these cards to some degree disclose the

Besides being sent to the industry Raum argues

process for us, while at the same time bringing us even

that Oestreicher’s handwritten notes indicate that

closer to Stölzl being at work, to her working process.

these cards were also used to be passed along the

They do this to a larger extent than the cards used at

students of the weaving workshop for purposes of

the Bauhaus, which were meant to be shareable.

study and analysis. So Oestreicher’s written notes do

Unlike the conventional way of pattern-designing, the

not necessarily have to indicate that she also wove the

notes on Stölzl’s cards did not come before the

textile sample.

weaving. And unlike the Bauhaus cards, Stölzl’s notes

22

The Weaver’s Laboratory. Gunta Stölzl’s Sample Cards as Materialities of Research

173

Ill. 3: Gunta Stölzl, Sample card with a furniture fabric in different colors, 1950s

did not come after the weaving either, but could be

textile. Furthermore, by putting the written pattern

said to hold her thoughts into place while working.

next to the material, Stölzl emphasized the importance

She would start working on an experiment on her

of the yarn’s properties and structure, which cannot be

loom, note down what she was doing while working,

caught, as Otti Berger already pointed out, by an

then try something else again, note it down, and

inscription on paper. This makes these cards not only

repeat this until she was content. She would then stick

personal records of Stölzl’s working process but also of

the textile results as well as her paper notes to a card

her ideas on textiles and making, stemming from the

to be used again if she wanted to reproduce the

Bauhaus.

24

174

Mirjam Deckers

are nevertheless the target of experiments and research in the laboratory.27 What is often overlooked but deserves more attention, according to Rheinberger, are the “experimental conditions” of the process of experimentation: “The experimental conditions ‘contain’ the scientific objects in the double sense of this expression: they embed them, and through that very embracement, they restrict and constrain them. […] The technical conditions determine the realm of possible representations of an epistemic thing.”28 This approach sheds a whole new light on the Ill. 4: Gunta Stölzl, Sample card with curtain material, designed for the photo studio of Hans Finsler, 1930s. This relief, a ‘Waffel­ muster’, can be represented in a pattern, but the effects of the combination of rough and soft yarns, and how the light in the studio would fall onto the structure cannot be captured properly on paper

process of research and experimentation. Rather than being devices in the quest for an answer to a question, well-defined in advance, the process of research consists of “vehicles for materializing questions. […] Practices and concepts thus ‘come packaged together’.”29 Answers are not given at the beginning, but

Mate r i al i ties of Research in an Expe r i m ental System

neither are the questions nor starts the process with a concept that is then materialized into practice. Rather, question and answer, concept and (material) practices are all intertwined in what Rheinberger calls an

To better understand the function of Stölzl’s

“experimental system”, defined as a “basic unit of

cards, one might compare them to Hans-Jörg Rhein-

experimental activity combining local, technical,

berger’s “epistemische Dinge” and experimental

instrumental, institutional, social, and epistemic

systems. In his book Toward a History of Epistemic

aspects.”30 Within this system, epistemic things and

Things (1997) Rheinberger proposes a shift from the

the technical objects are completely intertwined.

25

scientist’s mind to his objects of manipulation and the

Thus the cards, containing both the written

process of research. Rather than being interested in

notes and the textile samples, provide traces of what

the final results of scientific experiments, Rheinberger

Rheinberger elsewhere calls “Wissenschaft im

argues that his emphasis is on the “materialities of

Werden”31, or, in the case of Stölzl, her weaving

research”.26 Stölzl used her cards in a similar manner:

workshop can be called a ‘laboratory’. Unlike the

rather than being final results, the cards are part of her

classic way of proceeding, starting from a paper

experimental system in the weaving workshop, which

pattern that would then be translated into textile,

makes them rather unique.

there is no strict hierarchy between writing and

Rheinberger argues that scientists work on

sample in Stölzl’s cards. Rather, it is the combination of

so-called “epistemische Dinge”, scientific objects of

both written and material traces that gives us the most

which the boundaries are not yet known, but which

complete account of the experimental system in the

The Weaver’s Laboratory. Gunta Stölzl’s Sample Cards as Materialities of Research

175

laboratory of the weaver as for Rheinberger, both

records in which writing, patterns, and the textile

inscriptions, instruments, and models are experimental

materials are all visible as distinct aspects. Further-

conditions’ objects. “Epistemische Dinge” in this case

more, they possess strong tactile qualities, not only

are not only articulated through the two-dimensional,

because they involve textiles, but also because of the

writing, but equally through the three-dimensional

different layers on the cards. I would therefore

area of the textile sample with its functioning in space.

propose that it might sometimes be necessary to

Both are as materialities of research part of Stölzl’s

touch these cards, to flip back the textile sample to

experimental system, as experimental systems contain

discover the notes underneath, and to move from the

all the materialities, whether in writing or in the tactile

notes to the material-specific qualities of the textile,

dimension of the textile sample. Consequently,

and back again. I would even argue that the visitor in

following Rheinberger, it might be better to treat these

this way engages in a similar process as Stölzl when

sample cards as a whole as materialities of research in

she created these cards during her experiments on the

the experimental system of the weaver through which

loom. Through our sensual engagement we think and

an epistemic thing is explored. The word ‘card’ might

reflect on the material. It is not a separate and linear

indicate a rather flat surface with written inscriptions,

process in which thinking follows from sensual

whereas in Stölzl’s sample cards it is the combination

experience. Restaging this dialectical process in an

of written inscriptions and three-dimensional textile

exhibition can teach us about Stölzl’s ideas on weaving

samples that makes the cards so interesting and so

that were already developed at the Bauhaus, namely

useful in unfolding the weaving processes for us.

the intertwinement of ideas and practice, thinking and experimenting.

Sa mp le C ards as Aesthet i c Objects

Of course, it is not always safe to touch these objects from the perspective of conservation. But neither should it be forgotten that Stölzl never intended these cards to become exhibited as ‘art’. They

As I am writing this article, with the centenary of

as museum objects behind glass. On the other hand, as

receives many requests from museums worldwide that

historical or biographical objects they are worth

would like to use the cards for exhibition purposes.

preserving, and so we are searching for a suitable

This might also be part of a growing interest in ‘the

middle ground. What the GSA has been experimenting

hand of the artist’ and insights into what happens in

with is giving these cards to contemporary weavers to

ateliers and workshops. The sample cards are traces

create reweaves of the textiles in question. These

of the experiments in the weaver’s laboratory, but how

rewoven samples could be shown next to the original,

to properly display them to indeed convey this to the

as a copy that can be touched by the visitor.34 This

visitor?33

encounter could also result in interesting documenta-

32

As was explained above, these cards point

176

were initially meant to be functional, not to be shown

the Bauhaus approaching, the Gunta Stölzl Archive

tion material that helps both museum professionals

towards the initial entanglement of the weaver, her

and visitors of an exhibition in understanding how

materials on the loom, and her notes, while at the

these cards might have functioned for Gunta Stölzl.

same time unpacking this entanglement as archival

Another opportunity we discussed is to reproduce

Mirjam Deckers

these cards completely, not only the textiles. Technol-

character. Rather, I would propose to follow Rhein-

ogy nowadays allows us to make faithful copies of the

berger’s terminology and treat these objects as

cards and their notes. Concerning the textiles, one

materialities of research in the experimental system of

option would be to collaborate with weavers to

the weaver. As such, they embody a critique on the

reweave them. Another option, which is more radical,

strict distinction between writing and material prac-

was proposed by Monika Stadler. In the estate of her

tice, a critique that was already voiced by the weavers

mother Gunta Stölzl, there are pieces of textile, larger

at the Bauhaus. Instead, experimenting, designing,

and smaller ones, that can also be found on some of

thinking and writing are all interconnected. Stölzl’s

the cards. She argued that she is willing to use and cut

thoughts were entangled with the cardboard and the

these ‘duplicates’ – as she sees them – to make faithful

materials in a constant flow of ideas and creation. The

copies of the cards. These reproductions could then be

cards as archival records bring together the materiali-

displayed next to the original cards to be touched and

ties of research – written ‘laboratory’ notes and textile

explored by the visitors, which hopefully will give them

material from the loom –, arrest them for us, and allow

a full insight in how these cards might have worked in

us to unfold Stölzl’s weaving process again if we in

the weaver’s laboratory. All these possibilities are still

turn engage with them today.

open and we would like to keep discussing this

I have also argued that these cards demand

question with both museum professionals and weav-

tactile exploration in order to be properly understood.

ers.

Consequently, we have to accept that the tactile exploration of the three-dimensional might not always

Fro m Sa mp le C ards to Mate r i al i ties of Research

be the most ordered or direct way of learning, but certainly at least as valuable in the case of these objects. Therefore, it is useful to keep discussing possibilities of display with museum professionals, weavers,

After having written this chapter, I am actually

and also the visitors themselves. These are the lessons

convinced that ‘sample cards’, the term that we use in

that can be learned from Stölzl’s materialities of

the Gunta Stölzl Archive, is a restricted term, really.

research, which I would very much like to further work

Drawing on my earlier arguments, the term does not

on in the museum laboratories where future exhibi-

adequately capture their experimental and processual

tions will be created.

The Weaver’s Laboratory. Gunta Stölzl’s Sample Cards as Materialities of Research

177

Notes 1

This research originated from my work in the Gunta Stölzl Ar-

chive in Groningen. Here, Stölzl’s daughter, Monika Stadler, and I work

László Moholy-Nagy, Von Material zu Architektur (Passau: Passa-

14

On this topic, see also Glenn Adamson, Thinking through Craft

(Oxford: Berg Publishers, 2007), p. 5.

together to build a database containing all Stölzl’s surviving works,

15

which will hopefully become accessible for all museums worldwide.

no. 2 (July 1931), p. 35.

Gunta Stölzl, ‘die entwicklung der bauhausweberei’, bauhaus 5,

greatly indebted to Monika Stadler for all her help and information, and

16 Smith, Bauhaus Weaving Theory, pp. 48–52. 17 Albers, ‘Bauhausweberei’, p.  188. For Anni Albers see Jordan

for allowing me to closely research these cards. I also thank Ann-Sophie

Troeller’s contribution in this volume.

Among these works are the sample cards I discuss in this chapter. I am

Lehmann, Professor at the University of Groningen, for valuable feed-

18

back, and weaver Franzi Kohlhoff for lending me her experienced

tionär 48, no. 51 (1933), p. 10.

Otti Berger, ‘Die besondere Rolle der Handweberei’, Der Konfek-

weaver’s eye.

19

2

haus. There survive a few watercolor designs by Gunta Stölzl in the

For an in-depth discussion of the difference between Werkmeister

and Formmeister, see Ronny Schüler, Die Handwerksmeister am Staatlichen

There do exist paper designs for wall hangings made at the Bau-

GSA. However, for the ‘Gebrauchsstoffe’ this is very uncommon.

Bauhaus Weimar (Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität, 2013).

20

3

tlerische Recherche zur Textilwerkstatt am Bauhaus (Stuttgart: Institut für

Recently, the Bauhaus women have received increasing atten-

tion, also in the context of the 100th anniversary of the Bauhaus in

Walter Gropius, cited in: Judith Raum, Bauhausraum: Eine küns-

Auslandsbeziehungen, 2017).

of the role of women at the Bauhaus, see Ulrike Müller, Bauhaus-Frauen:

21 Raum, Bauhausraum, p. 18. 22 Ibid. 23 Interviews with Monika Stadler, 7 and 12 November 2018.

Meisterinnen in Kunst, Handwerk und Design (Berlin: Insel Verlag, 2014),

Gunta Stölzl usually would not make her assistants responsible for exe-

as well as T’ai Lin Smith, Bauhaus Weaving Theory: From Feminine Craft to

cuting the textiles.

2019, see e. g. Elizabeth Otto and Patrick Rössler eds., Bauhaus Women: A Global Perspective (London: Palazzo, 2019). For an extensive account

Mode of Design (Minneapolis: University of Minnesota Press, 2014).

24

4 5

She had married the Jewish architect Arieh Sharon in 1929.

tour’s concept of the immutable mobile, a device which, he argues,

It might be interesting here to compare the cards to Bruno La-

For an extensive bibliography see Gunta Stölzl. Meisterin am

helps to hold thoughts into place via inscriptions on a flat, two-dimen-

Bauhaus Dessau, ed. Ingrid Radewaldt, exh. cat. Stiftung Bauhaus Des-

sional surface, while at the same time functions to share these

sau (Ostfildern: Verlag Gerd Hatje, 1997), especially pp. 10–86. At the

thoughts, in order to convince others. See Bruno Latour, ‘Visualization

moment of writing, there is a new biography in press: Ingrid Radewaldt,

and Cognition: Drawing Things together’, Knowledge and Society: Stud-

Gunta Stölzl (Weimar: Weimarer Verlagsgesellschaft, 2019).

ies in the Sociology of Culture Past and Present 6 (1986), pp. 1–40.

6 7

Interview with Monika Stadler, 15 October 2018. Personal conversation via e-mail with Franzi Kohlhoff, October

8

Hans-Jörg Rheinberger, Toward a History of Epistemic Things:

Synthesizing Proteins in the Test Tube (Stanford: Stanford University Press, 1997), p.  28; Hans-Jörg Rheinberger, Epistemologie des Konkreten: Studien zur Geschichte der modernen Biologie (Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2007), p. 351.

9

25 26

Hans-Jörg Rheinberger, Epistemologie des Konkreten, p. 351. Hans-Jörg Rheinberger, Toward a History of Epistemic Things,

p. 26.

2018.

Walter Gropius, ‘Grundsätze der Bauhausproduktion’, in Neue

27 28 29 30 31 32

Ibid., p. 238. Ibid., p. 29. Ibid., p. 28. Ibid., p. 238. Hans-Jörg Rheinberger, Epistemologie des Konkreten, p. 353. See for example the essays in Rachel Esner, Sandra Kisters and

Arbeiten der Bauhauswerkstätten, ed. W. Gropius (München: Albert Lan-

Ann-Sophie Lehmann eds., Hiding Making, Showing Creation: The Studio

gen Verlag, 1925), p. 7.

from Turner to Tacita Dean (Amsterdam: Amsterdam University Press,

10

2013).

Anni Albers, ‘Bauhausweberei’, Junge Menschen 5, no.  8 (No-

vember 1924), p. 188.

33

11

tent, see Raum, Bauhausraum, p. 1.

Gunta Stölzl, ‘Weberei am Bauhaus’, Offset Buch- und Wer-

Judith Raum has explored possibilities of display to some ex-

bekunst 7 (1926), p. 405.

34

12

Regina Bittner, ‘Vom Handwerk des Übersetzens in den Werk-

spective Anni Albers (11  October 2018–27 January 2019), in which

stätten des Bauhaus Dessau’, in Handwerk wird modern. Vom Herstellen

samples of the types of yarn she used were made into touchable

am Bauhaus, ed. Regina Bittner and Renée Padt, exh. cat. Stiftung Bau-

swatches, inspired by her work, by weaver Louise Anderson.

haus Dessau (Bielefeld/Berlin: Kerber Verlag, 2017), p. 137.

178

13

via, 1929), p. 22.

Mirjam Deckers

Something similar was done by Tate Modern in the large retro-

Musterbuch als Trade Museum die Handelsbeziehungen zwischen England und Indien4 fördern, da auf der Grundlage der indischen, traditionellen Stoffmuster, industriell massenproduzierte Billig-Imitationen nach Indien verkauft werden konnten.5 Für dieses Vorhaben katalogisierte Watson rund 700 eigenhändig angefertigte Stoffmuster im Format 35 mal 20 Zentimeter, die er auf 18 Bände verteilte und nach deren Vorbild er 19 identische Sets herstellen ließ. 13 davon verkaufte

Patterns of the Conquerors: Zu den verschiedenen Ausstellungsformaten von John Forbes Watsons textilen Musterbüchern

er nach Großbritannien6, 7 nach Indien7, womit rund 16.0008 normierte und nummerierte indische Stoff-Rechtecke in Umlauf gebracht wurden. Nur sechs Jahre später nahm Watson die Arbeit an einer zweiten, noch umfangreicheren Serie auf, die aber nie fertiggestellt werden sollte – zu wenig Platz, zu wenig Zeit, zu sehr hat sich das Selbstverständnis des Museums in diesen wenigen Jahren verändert, als dass

Carla Gabriela Engler

das Zerschneiden indischer Stoffgüter noch als unterstützungswürdige Praxis empfunden wurde.

Sascha Regina Reichsteins Kurzfilm Patterns of

Indem nun 150 Jahre später, im Jahr 2017,

the Conquerors beginnt mit einem Ausschnitt. Maschi-

Watsons Musterbücher erneut gezeigt werden, und

nell gedruckte Lettern, Längen- und Breitenangaben in

zwar als Kurzfilm mit einer Länge von 21 Minuten,

Yards und Inches, eine Katalognummer und ein Ort,

einem Bildformat von 16:9 und der Zirkulation als DCP

Dacca, in der anglisierten Schreibweise Dhakas, der

2K auf Kurzfilmfestivals9, werden die Stoffe in einem

heutigen Hauptstadt Bangladeschs. Die Kamera gleitet

neuen Ausstellungsformat mit eigenen Bedingungen,

in mechanischer Manier über die Papierseite, ein

Möglichkeiten und Restriktionen ausgestellt. Fasst

aufwendig von Hand bestickter, bengalischer Stoff

man den Begriff des Formats dabei nach David

erscheint, hörbar wird in einem Buch geblättert

Summers Überlegungen in Real Spaces als ein System

(Abb. 1). Dieser fragmentarische Einblick in die hybride

innerer und äußerer Beziehungen in wirklichen

Konstellation von angloamerikanischem Maßsystem

Räumen10 und nach David Joselit als Netzwerk,

und südasiatischem Erzeugnis enthält in nuce die

innerhalb dessen Kunst als Ware der Globalisierung

Programmatik des im Film verhandelten Objektes, dem

zirkuliert11, wird die Art der Verhältnisbestimmung

englischen Textil-Musterbuch Collection of Specimens

zwischen Objekt und Betrachter als Aushandlungsort

and Illustrations of the Textile Manufactures of India aus

westlich hegemonialer Praktiken lesbar. Im Vergleich

dem Jahr 1866.

der unterschiedlichen Ausstellungsformate, in denen

1

2

Initiiert von John Forbes Watson, von Amts

die indischen Stoffe im Laufe der Zeit zirkulierten und

wegen „Reporter on the Products of India“ und

immer noch zirkulieren, eröffnet sich damit die

Direktor des India Museum in London , sollte das

Möglichkeit, nach kulturpolitischen Verschiebungen

3

Zu den verschiedenen Ausstellungsformaten von John Forbes Watsons textilen Musterbüchern

179

Abb. 1: Sascha Regina Reichstein, Patterns of the Conquerors, 2017, DCP, 16:9, 21 Minuten, AUT/GB

und ihren Implikationen zu fragen. Inwiefern sich darin

ließen, bis hin zur heutigen Aufarbeitung reicht, die

Kontinuität und Umbruch verschränken, soll Thema

sich verstärkt Fragen der Restitution widmet.

des hier vorliegenden Aufsatzes sein.

Watsons systematische Konzeption der Musterbücher und ihr praktischer Gebrauch speisten sich aus

Wertschätzung und Umg a ng

verschiedenen Kontexten. So gehörte die Inventur indischer Kulturprodukte und die entsprechende Entwicklung von Messverfahren und Auswertungen zu

„I was unfamiliar except as an outside visitor

180

den Pflichten eines „Reporters of the Products of

with the collection, so I was seeing everything with

India“ des India Museums14 – ein Amt, das Watson ab

complete new eyes. And they weren’t on display, they

1858 innehielt.15 In einem internen Schreiben zur

kept in a locked room in the Asian department library.

taktischen Ausrichtung des India Museum hielt James

So you unpack these books from their cardboard

Grant Duff, Under-Secretary of State for India, fest,

boxes and then inside it’s like a herbarium, like a

dass das Museum primär die Grundlage für das

collection of pressed plants, but it’s more like pressed

Ausschöpfen indischer Ressourcen liefern soll: „[The]

textiles“.12 Per Voiceover kommen drei Personen zu

Museum [is] not a mere museum for curiosity, nor

Wort: Felix Driver, Professor für historische Human-

even primarily a museum intended for the advance-

geographie an der Royal Holloway University of

ment of science, but the reservoir, so to speak, that

London, der Kurator und Schriftsteller Shaheen Merali

supplies power to a machinery created for the purpose

und Sonia Ashmore, ehemals Research Fellow am

of developing the resources of India, and promoting

Victoria and Albert Museum und mit der digitalen

trade between the Eastern and Western empires of

Katalogisierung südasiatischer Textilien beauftragt.13

Her Majesty, to the great advantage of both.“16 Damit

Wenn Ashmore zu Beginn des Filmes schildert, wie sie

wird zugleich eine weitere zentrale Ausrichtung

Watsons Musterbücher im Jahr 2007 das erste Mal

angesprochen: die Förderung der Handelspolitik. Die

vorfand – in einem abgeschlossenen Raum der

Idee, dass die Musterbücher, gerade aufgrund ihres

Sichtbarkeit entzogen und in Karton verpackt –,

praktischen Nutzens als Trade Museums dienen

eröffnet sich sogleich ein Bezugsrahmen, der von

können, beschreibt Watson bereits in dem Begleitwerk

Watsons Vision der umfassenden Zirkulation möglichst

The Textile Manufactures and the Costumes of the People

vieler zugeschnittener Textilproben, zur Scham seiner

of India17: „As each set is a copy of all the others, they

Nachfolger, die die Musterbücher verschwinden

may prove useful in facilitating trade operations […].

Carla Gabriela Engler

This aspect of their usefulness gives these collections

Report freien Lauf ließ: „It is indeed unfortunate that

a title to be called Trade Museums in a fuller and

for the purposes of this work some of the finest

broader sense than belongs to any which have yet

historical examples of Indian Kincobs in the Museum

been established“18. Rund zehn Jahre später präzisiert

were destroyed. They were cut up into small fingering

er in einer Abhandlung zur Etablierung von Trade

pieces as the manufacturers call them, shewing how

Museums und in einem Brief an die Times deren

many thread per square inch were in the weft and the

Funktions- und Wirkungsweise, indem er sie von den

woof of these glorious webs of sunshine and colour.“23

Institutionen Museum und Ausstellungen, wie den

Birdwood verglich das Zuschneiden der Stoffe ab-

gerade aufkommenden Weltausstellungen , abgrenzt.

schätzig mit dem wertvoller Gemälde und hielt in

Während Ausstellungen aufgrund ihrer ephemeren

seinen Notizen fest, dass ein Quadratzoll eines William

Natur und ihrer sprunghaften Unvollständigkeit

Turner den Kunststudenten schließlich auch nichts

lediglich in vager Erinnerung blieben, seien Museen

beibringen könne.24 Die Musterbücher verschwanden

trotz ihrer Nachhaltigkeit und ihren systematisch

daraufhin in den Tiefen des Archivs.25 Aus dem Jahr

angelegten Sammlungen nur für den rein wissen-

1885 findet sich ein Bericht, der festhält, dass die

schaftlichen Nutzen ausgerichtet.20 Trade Museums

Textilien aufgrund der unsachgemäßen Lagerung teils

hingegen, so Watson, seien als komplementäres

fast gänzlich von Motten zerfressen waren.26

19

Ausstellungsformat imstande, das Potenzial beider

In Reichsteins Patterns of the Conquerors wird

Einrichtungen auszuschöpfen, indem sie temporäre

sowohl Watsons als auch Birdwoods kuratorische

Erkenntnisse in permanente Sammlungen überführen

Praxis aufgearbeitet und kontextualisiert. Zwar wird

und sie ausschließlich für Produktions- und Handels-

das Entsetzen über Watsons pragmatische Handha-

geschäfte aufbereiten. Deren effektiver Nutzen stand

bung der Stoffe geteilt27, doch statt einer aktiven

für Watson in direkter Relation mit der Anzahl zirkulie-

Verdrängung wird für den Versuch einer Restitution28

render, identisch ausgeführter Musterbücher, die ein

plädiert: „We can look at such objects and think about

standardisierendes Referenzsystem bilden sollten.21

them in new ways and that’s indeed what we must do.

Watsons radikale, profitorientierte Handhabung

And trying to think about them in new ways and try

der indischen Stoffe stieß schon bald auf Kritik. Bereits

and search for example for question of agency and

im Jahr 1879 setzte Colonel Henry Yule, Mitglied des

authorship“29. Gerade diese Frage nach der Urheber-

India Councils, ein Schreiben auf, in dem er ernüchtert

schaft wird dabei nicht nur im Voiceover als intellektu-

konstatierte, dass Watsons Vision eines auf die Praxis

elle Aufarbeitung verhandelt, sondern scheint sich

einwirkenden Trade Museum scheiterte: „[...] experi-

auch ins Bild selbst einzuschreiben. Die Kamera tastet

ence has shown that it cannot be realized. The

einer Lupe gleich die Stoffe in Detailaufnahmen ab,

agitation which had aimed at securing its realization as

rückt einzelne Fäden, gar des Fadens eigene Verwor-

a part of a great Imperial scheme, embracing India and

renheit ins Sichtfeld. Der Film vermag so im

the Colonies alike, has failed of any practical result“ .

Riegl’schen Sinne die haptische Qualität der Textilien

Wesentlich energischer äußerte sich indes Watsons

und damit verbunden auch die darin eingeflochtene

Nachfolger, George Birdwood, der die Direktion des

Handarbeit sowie den eigentlichen Gebrauch als

India Museum im Jahr 1875 übernahm und im Jahr

Kleidung herauszustellen.30 Ins Sichtfeld rücken damit

1881 seinem Ärger in einem handgeschriebenen

Ausschnitte – Ausschnitte der Stoffproben, die selbst

22

Zu den verschiedenen Ausstellungsformaten von John Forbes Watsons textilen Musterbüchern

181

bereits Ausschnitte sind –, die mittels Schnitt aneinan-

systematischen Erfassung speist sich aber auch aus

dergereiht werden, dabei weder das Gefühl einer

imperialistischen Diskursen und Praktiken des

vollständigen Inspektion der Musterbücher noch der

19. Jahrhunderts, allen voran aus dem umfassenden

Proben zu evozieren suchen. In der tiefen Durchdrin-

Bestreben, weit entlegene Kolonien eines Imperiums

gung des Gewebes entsteht so ein Bild, das Walter

nicht durch Gewalt, sondern über möglichst restlose

Benjamin in seiner Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter

Erfassung zu beherrschen: „The ideology of mid-Victo-

seiner technischen Reproduzierbarkeit als „ein vielfältig

rian positivism had also led most people into believing

zerstückeltes“ beschrieben hat, „dessen Teile sich nach

that the best and most certain kind of knowledge was

einem neuen Gesetze zusammen finden.“

the fact. The fact was many things to many people, but

31

generally it was thought of as raw knowledge, knowl-

Vom Teil zum Ganzen und z um Te il zurück

edge awaiting ordering. The various civil bureaucracies sharing the administration of Empire were desperate for these manageable pieces of knowledge. They were light and movable. They pared the Empire down to

Dieser fragmentierende Blick der Kamera steht im starken Kontrast zu Watsons Versuch einer kom-

Mit der Entscheidung, zu Zwecken von Zirkula-

pletten, allumfassenden und restlosen Darstellung

tion und freiem Zugang auf das Format Musterbuch

indischer Textilkunst, wobei gerade dieses Verhältnis

zurückzugreifen, wurde Watson indes in mehrfacher

des Teils zum Ganzen ein zentrales Funktionsprinzip

Hinsicht zur Reduktion gezwungen. Das festgelegte

von Musterbüchern aufgreift. Mit Nelson Goodman

Seitenformat und die begrenzte Seitenanzahl pro Buch

gesprochen versteht sich das Stoffmuster als exempli-

bedingten nämlich nicht nur das Zuschneiden von

fizierende Probe, deren praktischer Anwendungsge-

Textilien, sondern auch die Reduktion des Beschrei-

brauch durch „Besitz plus Bezugnahme“ ermöglicht,

bungstextes auf Material, Länge, Breite, vermuteten

aber auch begrenzt wird: „[...] es ist eine Probe der

Herkunftsort und zugeordnete Ziffer zwecks Identifi-

Farbe, der Webart, der Textur und des Musters, aber

kation (Abb. 2). Weitere Angaben, die für die Herstel-

nicht der Grösse, der Form, des absoluten Gewichts

lung der einzelnen Kleidungsstücke unabdingbar sind,

oder des Wertes.“ Die Stoffproben in Watsons

vermerkte Watson im Begleitwerk The Textile Manufac-

Musterbücher waren dementsprechend nicht für die

tures and the Costumes of the People of India, in dem er

Massenreproduktion von 35 mal 20 Zentimeter

nicht nur die einzelnen Kleidungsstücke klassifizierte,

großen Stoffstücken, sondern als Studienobjekte

sondern auch zusätzliche Angaben, wie die Tragweise

konzipiert, auf Grundlage derer traditionell indische

der Stoffe oder die Applikation und Platzierung der

Kleidungsstücke imitiert werden sollten. Die systema-

Ornamente, vermerkte und stellenweise mit Zeichnun-

tische Anordnung der Stoffproben erinnert wiederum

gen oder Fotografien veranschaulichte (Abb. 3). Für

visuell und konzeptionell an Herbarien im Kontext

weiterführende Informationen verweist Watson auf

botanischer Taxonomie. Felix Driver33 sieht darin eine

die konkrete Sammlung der jeweiligen Textilien im

Verschmelzung von Watsons taxonomischer Obses-

India Museum: „If the manufacturer should still

sion als Naturwissenschaftler und instrumentaler

encounter difficulties, when exceptional points are in

Herangehensweise als Verwalter. Watsons Art der

question, these can be got over by reference to the

32

34

182

file-cabinet size.“35

Carla Gabriela Engler

Abb. 2: John Forbes Watson, Collection of Specimens and Illustrations of the Textile Manufactures of India, Second Series, London 1873–1880, Nr. 647

parent and more elaborate collection in the India

Diese rhetorische Suggestion von Vollständigkeit

Museum; and there also full information on doubtful

und Restlosigkeit lässt sich auch bei den Ausführungen

matters can be obtained.“36 Watson beschreibt das

zu den achtzehn Bänden der ersten Serie beobachten,

Museum als „systematischen und vor allem vollständi-

etwa wenn Watson angibt, dass sie nicht nur auf

gen Speicher von Information“, der immerzu Ort der

„vollständige und dienliche Weise die indische Web-

letztendlichen Referenznahme bleibt und suggeriert

kunst“39 veranschaulichen und damit das erste Mal ein

damit die Möglichkeit einer restlosen Erfassung von

„umfassendes und korrektes Wissen“40 über die

Wissen, die, dem Prinzip einer Montage nicht unähn-

textilen Bedürfnisse Indiens vermitteln, oder wenn in

lich, vom textilen Muster über den bebilderten

Zeitungsberichten attestiert wird, dass die Muster­

37

Begleittext bis hin zum eigentlichen Textil reicht.

38

bücher „in jeglicher Hinsicht komplett“41 sind. Als

Zu den verschiedenen Ausstellungsformaten von John Forbes Watsons textilen Musterbüchern

183

Abb. 3: John Forbes Watson, The Textile Manufactures and the Costumes of the People of India, London 1866, S. 19

Beweggrund für das Anfertigen einer zweiten Serie

nity of getting up an additional set of samples which

führt Watson indes die Chance an, eine noch ausführ-

would completely illustrate the whole subject.“42

lichere Übersicht anzulegen, die den Wissensschatz

184

Mit dem Blick auf das Fragment, dem ostentati-

ein für alle Mal komplementieren soll: „The series of

ven Ausstellen von Arrangements und der Verhand-

samples of Indian Textiles, already distributed, al-

lung des Unabgeschlossenen positioniert sich Patterns

though very extensive are not nearly so comprehen-

of the Conquerors geradezu antithetisch zu Watsons

sive as the resources now at our disposal are capable

Bestrebungen. Denn nicht allein werden im Film nur

of effecting. In addition to numerous examples still in

Bände der zweiten, unvollständigen Ausgabe gezeigt,

store here the collection recently forwarded from India

womit Watsons Vision der Vollständigkeit bereits in

to the Paris Exhibition affords an admirable opportu-

der Ausgangslage des Films zur Unmöglichkeit wird.

Carla Gabriela Engler

Auch erscheint das Fragment einerseits als Ausschnitt

Format dar. Einerseits benötigten sie zu viel Platz, den

einer Stoffprobe im Bild, als Anschnitt, Detailauf-

es im India Museum nicht gab,43 andererseits schützten

nahme, Auslassung, als zu kurz gehaltener Blick, um

sie die Textilien nicht hinreichend vor Schmutz, Hitze

die Fülle von Ornament und Webkunst erfassen zu

und Insektenbefall.44 Watson arbeitete daraufhin an

können; andererseits als Geräusch- und Gesprächsfet-

Skizzen zu einem Ausstellungsdispositiv, bestehend aus

zen auf der Tonebene, indem die Geräuschkulisse

einem Drehständer und siebzehn daran vertikal

ausschließlich aus isolierten Schritten, vereinzeltem

montierten und beweglichen, großformatigen Glaskäs-

Räuspern und Blättern besteht und die Gesprächsauf-

ten, in denen je sechzig Musterproben ausgestellt

nahmen mit Felix Driver, Sonia Ashmore und Shaheen

werden konnten (Abb. 4).45

Merali nur versatzstückartig wiedergegeben werden. Gerade in diesen Versatzstücken wird der gewaltvolle Akt des Schnitts und des subsequenten Neu-Arrangierens mit äußerster Deutlichkeit ausgestellt. Stringente Argumentationslinien werden auf Einzel-Aussagen gekürzt und, erneut im Sinne eines Montage-Verfahrens, neu verwoben. Der Eindruck eines Flickenteppichs aus Aussagen wird dabei auch auf der Bildebene gestärkt, und zwar in der Differenz zwischen der im Buch angelegten Ordnungslogik und der im Film verfolgten, erratischen Zufälligkeit, mit der die Stoffe ins Bild gerückt werden. Die Möglichkeit, kulturelle Produkte wie indische Textilerzeugnisse durch Überführung in westliche Erfassungssysteme in ihrer Vollumfänglichkeit erfassen zu können, scheint damit negiert. Stattdessen lässt sich eine Hinwendung zum Fragment beobachten, die sich als Reflexion der eigenen Unzulänglichkeiten liest.

Zu m Nu tzen von Raum und Zeit Watsons Wunsch nach einem Eindruck der Vollständigkeit schlug sich in den folgenden Jahren auch auf die Präsentationsform der Textilproben nieder. Während die Musterbücher zwar als handliche, schnell und einfach zirkulierende Referenzwerke praktische Anwendung fanden, stellten sie für die ortsgebundene, permanente Ausstellung im Museum ein unpraktisches

Abb. 4: John Forbes Watson, The Imperial Museum for India and the Colonies, London 1876, S. 49

Zu den verschiedenen Ausstellungsformaten von John Forbes Watsons textilen Musterbüchern

185

Watson warb unter anderem mit der Möglichkeit einer sicheren Aufbewahrung der Textilproben, indem sie nach einer Phase starker Erhitzung in hermetisch abgeschlossenen Glasvitrinen optimal konserviert werden würden. Zudem betonte er die maximale Raumökonomie dieses Dispositives, das mit einer Fläche von nur 1,7 Quadratmetern mehreren Betrachtern das gleichzeitige Studium sämtlicher Objekte ermöglichte. Auch sprach er sich für den „gesteigerten Effekt“46 aus, der sich durch die mechanische Bewegung der 1.000 Musterproben einstellte.47 Damit liegt eine auffällige Nähe zu prä-kinematografischen Dispositiven vor, wie dem von William E. Lincoln im Jahr 1867 patentierten Zoetrop (Abb. 5). Mit der gleichen Grundkonstruktion von auswechselbaren Platten und drehbarem Zylinder, der Möglichkeit einer kollektiven Seherfahrung48 und dem Vermögen suggestiver Bildwirkung scheinen die beiden Dispositive gewisse Grundprinzipien zu teilen. Bemerkenswerterweise werden im Film Patterns of the Conquerors nicht alle medialen Potenziale, die Watson bei dem von ihm skizzierten Ausstellungsdispositiv für besonders wichtig erklärte, eingelöst. Zunächst betrifft dies den von Watson beschriebenen „gesteigerten Effekt“, der aus der mechanischen Bewegung hervorgeht, mit der die 1.000 Muster­

Abb. 5: William E. Lincoln, US Patent No. 64, 117, 23. April 1867

proben zu Tausenden von Sinneseindrücken werden, in denen sich die gesamte indische Textilkunst zu entfalten scheint. Obwohl das Medium Film diese

we all want to know, where the rest of it is, because

suggestive Bildmacht bedienen kann, wird sie hier

this is just a short form, an abbreviation, an acronym.

bereits im Format unterbunden. Als Kurzfilm ent-

When we watch it, the short film, we give ourselves

spricht der Film einem Sub-Standard, der per Defini-

over to the fragment, the gesture, and can’t help

tion einer zeitlichen Restriktion von ungefähr 30 Minu-

wondering where the rest is.“49

ten unterliegt, der, wie der kanadische Filmemacher

186

Die Kürze des Films erinnert jedoch an ein

Mike Hoolboom in „9 Thoughts on Shortfilm“ be-

anderes Ziel, das Watson in seinem Ständer-Dispositiv

schreibt, immer auch das Ausgelassene impliziert: „The

verwirklicht sieht, die Zeitersparnis: „This purpose is to

‚short film‘ implies something else, something longer,

present the information in the shape most adapted to

something that isn’t just ‚short‘. And you want to know,

its being of direct use to the practical man of business,

Carla Gabriela Engler

who has neither time, inclination, nor the requisite

einsehbar, in denen er um eine Auslagerung der Arbeit

training for obtaining it by means of tedious extracts

bittet, weil er mit seinen zwei Assistenten nur 100 Pro-

from voluminous records“ . Diese Ökonomisierung

ben pro Tag verarbeiten kann und er in diesem Tempo

von Zeit, die Watson mit der Ökonomisierung von

ganze sechs Monate brauchen würde, um die Muster-

Energie gleichsetzt und die den umfassenden

bücher fertigzustellen.55 Obwohl Watsons Antrag

Effizienz-Diskursen des 19. Jahrhunderts entlehnt

angenommen wurde, sollte die Arbeit an den Muster-

ist , findet Ausdruck in Watsons Überlegungen zu

büchern doch noch ganze sechs Jahre dauern. Bei

Transport und Kommunikationsnetzwerken: „To be

seinem zweiten Versuch im Jahr 1872 lief ihm die Zeit

indifferent whether certain points of practical informa-

gänzlich davon – die Musterbücher der zweiten

tion will be known sooner or later, is like being

Ausgabe blieben bekanntlich unabgeschlossen.

50

51

52

indifferent whether one goes to a certain destination

Wie der Zahn der Zeit an Watsons Unterfangen

by rail or by road.“ Watson spricht sich für die

genagt hat und immer noch nagt, verbildlicht sich

Beschleunigung der Geschwindigkeit aus, mit dem

indes in den Resten der von Motten angefressenen

Wissen durch Zirkulation und Zugänglichkeit verbrei-

Stoffproben. Wie Felix Driver im Voiceover zu Beden-

tet wird54 – umso auffälliger erscheint auf dieser

ken gibt, stehen Sammlungen, wie diejenigen Watsons,

Vergleichsfolie die Langsamkeit von Reichsteins Film.

nicht still, auch wenn sie in Museen der ursprünglich

Bereits zu Beginn verstreichen ganze vier Minuten,

angedachten Zirkulation entzogen sind. Vielmehr kann

bevor das Voiceover einsetzt und auch im Verlauf der

deren sich allmählich verändernde Handhabung und

weiteren einundzwanzig Minuten kommt es immerfort

Ausstellung als Zeugnis kulturpolitischer Verschiebun-

zu Momenten der Stille, die als Pausen zum Innehalten

gen gelesen werden. Bei Watson reichen diese

einladen. Die hypnotische Wirkung, die von den

Verschiebungen bezüglich der Art des Umganges von

Textilien ausgeht, die in ruhiger Manier von der

der großangelegten, finanziellen Förderung zur

Kamera abgetastet werden, wird zum Katalysator der

schamvollen Reue bis hin zur Wiederentdeckung und

Kontemplation. Auch wenn verschiedene Muster

subsequenten Bemühung einer Restitution. Hinsicht-

angeschnitten werden, so dominiert doch das Gefühl

lich der Art der Ausstellung erstrecken sie sich von der

von Stagnation und Zeitenthobenheit. Länge stellt sich

praktischen Kompaktheit schnell zirkulierender Bücher

hier primär aus der Verhältnisbestimmung zwischen

zur eindrucksvollen Zurschaustellung einer restlos

kurzem Film und langem, gleichbleibendem Eindruck

erfassten Artenvielfalt bis hin zum Eingeständnis, dass

ein, was die Zeitlichkeit der gezeigten Textilproben zu

die Überführung kultureller Objekte in ihnen fremde

verhandeln scheint. Damit wird im Film gerade das

Erfassungs- und Ausstellungsdispositive immer mit

angesprochen, was Shaheen Merali im Voiceover als

dem Scheitern einhergeht. Dass derartige Überführun-

„unheimlich“ bezeichnet, nämlich, dass in Watsons

gen und Übersetzungen auch nicht reversibel sind,

Sammlungen das Gefühl für den teils tagelangen

verdeutlicht Patterns of the Conquerors letzten Endes

Herstellungsaufwand der Textilien gänzlich ausgeblen-

zweifach: im weißen, nummerierten Leintuch, das zum

det wird.

Schluss des Filmes daran erinnert, dass die Musterbü-

53

Der Herstellungsaufwand sollte letzten Endes

cher wieder ins Archiv zurückgeführt werden (Abb. 6),

auch Watson selbst zum Verhängnis werden. Im Jahr

und in der eigenen Medialität als Film, als Instrument

1860 sind noch Eilmeldungen ans India Museum

der westlichen Moderne schlechthin.

Zu den verschiedenen Ausstellungsformaten von John Forbes Watsons textilen Musterbüchern

187

Abb. 6: Sascha Regina Reichstein, Patterns of the Conquerors, 2017, DCP, 16:9, 21 Minuten, AUT/GB

188

Carla Gabriela Engler

1

An m e r k u ngen

more in ihrem vielbeachteten Aufsatz zitiert, siehe Felix Driver und So-

Sascha Regina Reichstein, Patterns of the ­Conquerors, AUT/GB

Textiles in Victorian Britain, in: Victorian Studies, Bd. 52, 2010, H. 3,

2017, DCP 16:9, 21’.

2

John Forbes Watson: Collection of Specimens and Illustrations

of the Textile Manufactures of India, London 1866.

nia Ashmore: The Mobile Museum: Collecting and Circulating Indian S. 353–385, hier S. 361.

17

John Forbes Watson: The Textile Manufactures and the Cos-

tumes of the People of India, London 1866.

1982, S. 47.

18 19

4

Rosemary Crill, Ausst.-Kat. Victoria and Albert Museum, London, Lon-

3

Vgl. Ray Desmond: The India Museum: 1801–1879, London Wobei hier Britisch-Indien angesprochen ist, das von 1858 bis

1947 nicht nur Teile der heutigen Republik Indien, sondern auch der

Ebd., S. 8 f. Zum Kontext Weltausstellungen siehe The Fabric of India, hg. v.

don 2015.

heutigen Staaten Pakistan, Bangladesch und Myanmar umfasste.

20

5

Zum Britisch-Indischen Textilhandel siehe Deborah Swallow:

tion in: ders. (Hg.): The Imperial Museum for India and the Colonies,

The India Museum and the British-Indian Textile Trade in the Late Nine-

London 1876, S. 39–46, hier S. 39. Siehe auch John Forbes Watson:

teenth Century, in: Textile History, Bd. 30, 1999, H. 1, S. 29–45.

Appendix B. On the Establishment of Trade Museums. in: ebd., S. 47–

6

Ein Exemplar blieb im India Museum, die anderen wurden nach

57, hier S. 53–55, und John Forbes Watson: Appendix C. International

Bradford, Dublin, Edinburgh, Glasgow, Halifax, Huddersfield, Leeds,

Exhibitions. Letter in the Times, 9th June, 1874 in: ebd., S. 57–60, hier

Liverpool, Macclesfield, Manchester, Preston and Salford verkauft,

S. 58.

Vgl. John Forbes Watson: Appendix A. The India Museum Ques-

relating to India Museum Publications on the Textile Manufactures and

21 22

Costumes of the People of India (1859–1885), collected by Ray Des-

India, 1870–1879, Affairs of the Madras Irrigation Company, 1860,

mond, British Library, London, Asia, Pacific, and Africa Collections, IOR

British Library, London, Asia, Pacific, and Africa Collections, IOR/C/142.

siehe Financial Papers, 1866, in: Photocopies and Transcripts of Papers

Vgl. Watson 1876, Appendix B (wie Anm. 20), S. 53–56. Colonel Yule: Memoranda and Papers laid before the Council of

MSS EUR F 195/50.

23

7

Nach Calcutta, Madras, Bombay, Kurrachee, in die Nordwestli-

partment, 1881, S. 6, in: IOR MSS EUR F 195/50 (wie Anm. 6). Dieselbe

chen Provinzen, Punjaub, und nach Berar, siehe Financial Papers 1866

Stelle wird auch zitiert von Driver/Ashmore 2010 (wie Anm. 16), S. 372.

(wie Anm. 6).

8

Vgl. John Forbes Watson: Letter to the India Office, 30th July

1860, in: IOR MSS EUR F 195/50 (wie Anm. 6).

9

Der Film wurde unter anderem am internationalen Filmfestival

24 25 26 27

George Birdwood: Minute Paper, Statistics and Commerce De-

Ebd., S. 6. Vgl. Driver/Ashmore 2010 (wie Anm. 16), S. 353–354. Vgl. Watson 1860 (wie Anm. 8). „One is shocked when one sees the cut up remnants of these

Viennale (2017) und an den 64. Internationalen Kurzfilmtagen in Ober-

textiles which is the complete opposite of modern curatorial practice“,

hausen (2018) gezeigt.

Voiceover Sonia Ashmore, Reichstein 2017 (wie Anm. 1)

10

David Summers: Real Spaces. World Art History and the Rise of

28

Zu Fragen der Restitution siehe Andrea Meyer und Bénédicte

Western Modernism, London 2003.

Savoy (Hg.): The Museum is Open. Towards a Transnational History of

11

Museums 1750–1940, Berlin 2014.

David Joselit: Nach Kunst, Köln 2016. Siehe auch Forschungs-

projekt „Exhibiting Film, Challenges of Format“ am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich, Leitung: Fabienne Liptay.

12 13

29 30

Voiceover Felix Driver, Reichstein 2017 (wie Anm. 1) Zur Brauchbarkeit des Begriffspaares „haptisch/optisch“ für die

Voiceover Sonia Ashmore, Reichstein 2017 (wie Anm. 1).

Filmwissenschaft siehe Antonia Lant: Haptisches Kino, in: Klemens

Siehe auch Avalon Fotheringham: Cataloguing the South

Gruber and Antonia Lant (Hg.): Texture Matters. Der Tastsinn im Kino.

Asian Textile Collection, 2018, https://www.vam.ac.uk/blog/asia-

haptisch / optisch 1. Maske und Kothurn, Bd. 58, Wien u. a. 2012, H. 4,

department/cataloguing-the-south-asian-textile-collection [Abruf:

S. 31–67.

17.12.2018].

31

14

nischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt 1980, S. 496. Siehe auch Lant

Vgl. Miscellaneous Paper, Financial Department, 1860, in: Pho-

tocopies and Transcripts of Papers and Correspondence relating to the

Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner tech-

2012 (wie Anm. 30), S. 60.

History of the India Museum with Notes by Ray Desmond (1858–

32

1859), collected by Ray Desmond, British Library, London, Asia, Pacific,

theorie, Berlin 2015, S. 59–60.

Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symbol-

and Africa Collections, IOR MSS EUR F 195/5.

33

15

John Forbes Watsons Musterbüchern bei. Seine zwei einschlägigen

Vgl. Anonym: Portrait and Biography of Dr. John Forbes Wat-

Felix Driver trug maßgeblich zum jetzigen Forschungsstand zu

son, in: The Journal of Indian Art, Bd. 3, 1890, H. 25, o. S.

Aufsätze dazu sind Driver/Ashmore 2010 (wie Anm.  16) und Felix

16

M. E. Grant Duff: Memorandum for the Duke of Argyll, 1869,

Driver: Exhibiting South Asian Textiles, in: Christopher Breward, Philip

S. 1, British Library, London, Asia, Pacific, and Africa Collections, IOR L/

Crang und Rosemary Crill (Hg.): British Asian Style. Fashion & Textiles,

SUR/6/3. Dieselbe Stelle wird auch von Felix Driver und Sonia Ash-

Past & Present, London 2010, S. 161–173.

Zu den verschiedenen Ausstellungsformaten von John Forbes Watsons textilen Musterbüchern

189

34

Driver/Ashmore 2010 (wie Anm. 16), S. 364. Driver bezeichnet

S.  363. Inwiefern Watsons Textilmuster derart ausgestellt wurden,

35

Thomas Richards: The Imperial Archive. Knowledge and the

bleibt zwar unklar, doch liegt folgender Bericht vor: „The greater part of

Fantasy of Empire, London u. a. 1993, S. 4. Richards bezeichnete

the examples of early textile fabrics have been framed and hung on the

Großbritannien als das „datenreichste“ Papier-Imperium: „A compre-

new rotating stands; several hundreds of specimens are now shown on

hensive knowledge of the world was for most of the century the ex-

these stands, and the facilities for consulting them have thus been

plicit goal of all forms of learning.“ ebd., S. 4. Auch Sonia Ashmore ver-

much increased, whilst a great saving of space has been effected. I am

gleicht im Voiceover die Britische Klassifikationswut mit der

in hopes of being able, in the course of the ensuing year, to bring to-

symbolischen Kontrolle über Indien, siehe Reichstein 2017 (wie Anm. 1)

gether the whole collection of textile fabrics, and to exhibit them in the

36 37

Watson 1866 (wie Anm. 17), S. 3.

West Cloisters.“ Richard A. Thompson: Report of the Museum Superin-

Siehe auch John Forbes Watson: The Textile Manufactures and

tendent and Assistant Director for Arrangement, in: Seventeenth Re-

the Costumes of the People of India. Opinions of the Press, London

port of the Science and Art Department of the Committee of Council

1867, S. 3–22, hier S. 5, und Watson 1866 (wie Anm. 17), S. 6, Anm.

on Education, with Appendix, London 1870, S. 337–339, hier S. 338.

38

Distanz voneinander zu errichten. Er sieht die Gesamtheit des Wissens

46 47 48

nur im seriellen, additiven Nebeneinander verwirklicht, siehe Watson,

meinsamen Seh-Erfahrung: „[…] with this any number of persons can,

Appendix B 1876 (wie Anm. 20), S. 56; Watson 1866 (wie Anm. 17),

by placing it in the centre of the room, be able easily to see, at the same

S. 2; John Forbes Watson: The Imperial Museum for India and the Col-

time, all the movements.“ William E. Lincoln: Letters Patent No. 64,

onies, London 1876, S. 3 u. 5; Watson, Appendix A 1876 (wie Anm. 20),

117, dated April 23, 1867, Toy, United States Patent Office 1867,

S. 41.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1867-04_lincoln_patent_

Ein ähnliches Montage-Prinzip lässt sich auch bei Watsons

Wunsch beobachten, einzelne Museumsgebäude in möglichst kurzer

39 40 41

Watson, Appendix A 1876 (wie Anm. 20), S. 46. Watson, Appendix B 1876 (wie Anm. 20), S. 46 und 48–53. In seinem Patent wirbt Lincoln mit der Möglichkeit einer ge-

Watson 1866 (wie Anm. 17), S. 1.

US64117-0R.jpg?uselang=de [Abruf: 07.01.2019].

Ebd., S. 3.

49

Watson 1867 (wie Anm. 37), S. 3. Siehe auch Driver/Ashmore

mikehoolboom.com/?p=186 [Abruf: 17.12.2018]. Für diesen Hinweis

Mike Hoolboom: Nine Thoughts on Short Films, 1995, http://

2010 (wie Anm. 16), S. 367.

danke ich Laura Walde.

42

Vgl. Watson, Appendix A 1876 (wie Anm. 20), S. 46.

50 51 52

Vgl. Watson, Appendix B 1876 (wie Anm. 20), S. 48.

Frederick Winslow Taylor and the Enigma of Efficiency, Cambridge/

Watsons Dispositiv teilt auch Grundprinzipien mit dem von

Mass. u. a. 2005.

John Forbes Watson: Financial Papers, 1867, in: IOR MSS EUR

F 195/50 (wie Anm. 6).

43 44 45

Henry Cole entwickelten „Pillar-Stand“ siehe Henry Cole: Report of the Director, in: Sixteenth Report of the Science and Art Department of the Committee of Council on Education, with Appendix, London 1869,

190

S. 281–288, hier S. 283; vgl. auch Driver/Ashmore 2010 (wie Anm. 16),

ihn auch als „applied natural historian“ ebd., S. 361.

Carla Gabriela Engler

53 54 55

Watson, Appendix B 1876 (wie Anm. 20), S. 47. Watson, Appendix A 1876 (wie Anm. 20), S. 43. Siehe unter anderem Robert Kanigel: The One best Way.

Watson, Appendix A 1876 (wie Anm. 20), S. 43. Ebd., S. 43. Vgl. Watson 1860 (wie Anm. 8).

TEXTILE ARCHITEKTUR UND RAUMGESTALTUNG / TEXTILE ARCHITECTURE AND SPATIAL DESIGN

moderner Architektur vertrat, deren kritische Stoßrichtung sich weniger durch den Kontrast zu historistischen Stilanleihen und Jugendstilornamentik definieren lässt als zu exhibitionistischen und expressionistischen Ambitionen, wie sie seit Beginn der Moderne in verschiedenen Forderungen nach Material- und Konstruktionswahrheit in der Architektur verfolgt wurden. Es ist bezeichnend, dass Loos in jenen Jahren, als

Der Stoff aus dem die Räume sind: Das Prinzip der Bekleidung in Adol f Loos’ Haus für Goldman & Salatsch

die moderne Architektur ihre Überwindung historistischer Stilhüllen und ornamentaler Exzesse feierte, noch einmal seine Einstellung zur Nacktheit in dem zitierten Text klären zu müssen glaubte. Während mit dem internationalen Stil eine auf schlichte Formen reduzierte, nackte Architektur propagiert wurde und der Ruf nach Material- und Konstruktionswahrheit, nach Ingenieursästhetik oder dem „jeu […] magnifique

Christian Scherrer

des volumes assemblés sous la lumière“3 überall auf offene Ohren stieß, stimmte Loos keineswegs in das

Fal s c h e Nacktheit, verleugnete Kleider

allgemeine Lob architektonischer Nacktheit ein und begründete es auch nicht damit, dass die Bekleidung als Verhüllung von Wesentlicherem verwerflich oder Nacktheit ein Wert an sich sei. Stattdessen führte er in

In einem 1923 datierten, jedoch zu Lebzeiten

einem subtilen Gedanken die zeitgenössische Fetischi-

unveröffentlichten Text mit dem Titel Nacktheit

sierung von Nacktheit auf einen typisch modernen

schreibt Adolf Loos: „Als einer, der um die Wende des

Missbrauch von Bekleidung zurück: nämlich jenen, mit

neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert gelebt hat,

ihr den Träger oder die Konstruktion zur Darstellung zu

fühle ich mich verpflichtet zu sagen, wie es dazu

bringen, die sie tatsächlich oder anscheinend umhüllt.

gekommen ist, dass Nacktheit heute anders auf uns

Der tiefere Grund, weshalb Nacktheit in hochzivilisier-

wirkt als auf vergangene Zeiten. Wie es gekommen ist,

ten Gesellschaften ‚verträglich‘ geworden ist und ihr

dass wir Nacktheit vertragen.“ Wie die obere Fassade

dort ein intrinsischer Wert zugesprochen wird, ist für

von Loos’ Geschäftshaus für die Schneiderfirma

Loos die vielsagende Tatsache, dass in ihnen Kleider

Goldman & Salatsch am Wiener Michaelerplatz

von so perverser Art erfunden worden seien wie das

(1909–1911, Abb. 1) scheint dieses Zitat das weitver-

fleischfarbene Trikot. Indem dieses mit all seinen

breitete Bild von der Nacktheit moderner Architektur

Eigenschaften (Farbe, Textur und Form) den nackten

und Loos als einem ihrer Wegbereiter zu bestätigen.

Träger evoziert, verkehre es Loos zufolge auf extreme

Doch bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass

und präzedenzlose Weise das Prinzip der Bekleidung,

Loos mit Konsequenz eine textile Konzeption von

als dessen Fürsprecher er bereits 1898 in einem

1

2

Das Prinzip der Bekleidung in Adolf Loos’ Haus für Goldman & Salatsch

193

Abb. 1: Adolf Loos, Geschäftshaus für Goldman & Salatsch, 1909–1911, Wien I., Michaelerplatz 3, aufgenommen zwischen 29. März 1912 und dem Abriss des Palais Liechtenstein im Jahr 1913, Bildarchiv Foto Marburg

gleichlautenden Artikel auftrat. Dort hatte er behauptet, man habe sich in früheren Zeiten so selbstver-

Beklei dung sp ri nz i p oder Materi a lwa hrhei t ?

ständlich an dieses Prinzip gehalten, dass es nie nötig gewesen sei, es in die Form eines Gesetzes zu bringen.

194

Loos’ Haltung wird oft auf eine Vorliebe für

Dieses Gesetz hat Loos in Das Princip der Bekleidung

echte Materialien reduziert und sein Gesetz daher so

(nachfolgend: „PdB“) so formuliert: „Die Möglichkeit,

gedeutet, als richte es sich im Grunde dagegen, irgend-

das bekleidete Material mit der Bekleidung verwech-

einem Material (durch dessen Verarbeitung oder

seln zu können, soll auf alle Fälle ausgeschlossen sein.

Verhüllung) das Aussehen eines anderen zu verleihen.

Auf einzelne Fälle angewendet, würde dieser Satz

Diese Auslegung ist jedoch nur insoweit begründet, als

lauten: Holz darf mit jeder Farbe angestrichen werden,

Loos in vielen seiner Schriften gegen die Verwendung

nur mit Einer nicht – der Holzfarbe.“

von Surrogaten für teure Materialien polemisierte.

Christian Scherrer

4

Dagegen machen neben anderen Texten „PdB“ und

ist nur das Bestreben, die Nacktheit und Präsenz des

Nacktheit deutlich, dass Nacktheit der Materialien

Trägers mithilfe von Bekleidung zu suggerieren.

nicht im Zentrum seiner Auffassung von (moderner)

Konsequenterweise lautet eine andere Konkretisie-

Architektur stand. Denn sein Gesetz setzt gerade

rung des Gesetzes: „Der Stuck kann jedes Ornament

voraus, dass Materialien in erster Linie (zu praktischen

erhalten, nur eines nicht – den Ziegelrohbau. […] Und

und auch rein ästhetischen Zwecken) bekleidet oder

so dürfen alle Materialien, die zur Wandverkleidung

selbst zur Bekleidung eines anderen verwendet

dienen, also Tapeten, Wachstuch, Stoffe und Teppiche,

werden, und verbietet nur, dass die Gestaltung des

Ziegel und Steinquadern nicht zur Darstellung brin-

bekleidenden Materials dessen bekleidende Funktion

gen.“5

verschleiert, also Nacktheit suggeriert, wo keine ist. Aus dem Primat der Bekleidungsfunktion für

In dem ebenfalls 1898 veröffentlichten Artikel Die alte und die neue Richtung der Baukunst wird die

Baumaterialien erklärt sich daher, warum Loos nicht

Diskrepanz zwischen Loos’ Bekleidungsprinzip und

anstelle seines Gesetzes die ähnlich klingende, doch

einer auf Nacktheit und Echtheit der Materialien

tatsächlich entgegengesetzte Forderung aufgestellt

beschränkten Sicht noch deutlicher. Loos antizipiert

hat, Vollmaterialien wie Beton, Holz, Stahl, Ziegel oder

dort einen Einwand gegen seine Behauptung, Archi-

dergleichen unverhüllt und nackt wirken zu lassen.

tekten und Handwerker vergangener Epochen hätten

Seine Beispiele klassischer Verstöße gegen das

in Bezug auf das Material nie gelogen. Der Einwand

Bekleidungsprinzip in „PdB“ und Nacktheit – das mit

möchte den Stuccolustro ins Treffen führen, also die

Holzfarbe bestrichene Holz oder das mit Metallfarbe

Imitation von echtem Marmor durch marmorierten

bestrichene Eisen – scheint Loos bewusst gewählt zu

Stuck. Loos aber lässt ihn nicht gelten, denn „die alten

haben, um diesen Unterschied zu markieren. Wäre es

Marmorierer“ hätten „zum Unterschiede von ihren

ihm bloß um das Prinzip der Echtheit und Nacktheit

modernen Nachfolgern“ weniger versucht „das

von Materialien gegangen, so hätten sich beliebige

Material, sondern die prächtige Zeichnung des

andere Fälle angeboten, in denen die ‚wahre Natur‘ des

Marmors“ nachzuahmen und es daher bewusst

bekleideten und/oder bekleidenden Materials ver-

unterlassen, dessen Haarfugen zu imitieren. „Im

schleiert wird: mit Metallfarbe bestrichenes Holz etwa.

Gegentheile: In der Verarbeitung großer Flächen ohne

Materialwahrheit könnte hier wegen eines (doppelten)

Fuge erblickten sie ja den Vorzug vor dem echten

Mankos der Bekleidung eingeklagt werden, das in dem

Marmor. Das nenne ich echten, stolzen Handwerks-

Verbergen des wahren Trägermaterials einerseits und

geist, gegen den mir unsere Stuccateure wie armselige

der Imitation eines von ihm verschiedenen Materials

Schwindler vorkommen […].“6

andererseits besteht.

Hier wird also verteidigt, was die auf Nacktheit

Das mit Holzfarbe bestrichene Holz hingegen

bedachte Material- oder Konstruktionswahrheit

verweist auf eine spezifische Art der Imitation, die sich

verbietet: die Verhüllung des echten Trägers (etwa

von solchen Verstößen gegen Materialwahrheit

einer Ziegelmauer) durch ein Kleid, das noch dazu ein

unterscheidet und im Fokus von Loos’ Kritik liegt.

anderes Material als sein eigenes sowie das des

Denn Loos hat in Wahrheit kein Problem damit, wenn

Trägers in Farbe und Muster imitiert. Loos’ einzige

das bekleidende Material das bekleidete verbirgt oder

Bedingung an den Stuccolustro und jedes andere

ein von beiden verschiedenes imitiert; problematisch

bekleidende Material ist offenbar, dass dieses nicht die

Das Prinzip der Bekleidung in Adolf Loos’ Haus für Goldman & Salatsch

195

konstruktive Form eines anderen erhält und dadurch

der Bekleidung besteht und deren Missbrauch als

seinen bekleidenden Charakter negiert. Der Stucco-

Darstellungsmittel der Konstruktion kategorisch

lustro wird für Loos erst dort verwerflich, wo er über

ablehnt.

die prachtvolle, aber konstruktiv bedeutungslose Marmorierung hinaus auch noch die konstruktive Form des Marmors als Quader oder Säule nachahmt. Das fleischfarbene Trikot wäre analog dazu nicht allein deshalb schon verwerflich, weil es die Farbe der

Da s Beklei dung sp ri nz i p , ei ne neg at i ve Konst rukt i on s wa hrhei t ?

Haut imitiert. Die Färbung des Trikots wäre wohl kaum problematischer als die Marmorierung des Stucco-

Insistenz auf dem Prinzip der Bekleidung die völlige

Form seines Trägers unterscheiden könnte. Wie die

Verwerfung der Konstruktionswahrheit folgen? Denn

fugenlose Stuccolustro-Wandfläche weist zwar der

auf der Autonomie des Kleides zu bestehen muss noch

gewirkte Trikotstoff keine spezifisch konstruktiven

lange nicht heißen, die sichtbare Darstellung der

Merkmale wie etwa Nähte auf; doch hier evoziert

Konstruktion nicht zu gestatten. Wenn Loos dagegen

gerade deren Abwesenheit die Präsenz des Trägers.

eintrat, Materialien, die dem Zweck der Bekleidung

Zudem verzichtet das Trikot aufgrund der allseitigen

dienen, charakteristische Merkmale des Trägers oder

Dehnbarkeit des Stoffes weitgehend auf eine eigen-

der Konstruktion zu verleihen, dann wäre seinem

ständige, durch den Schnitt bedingte Form. Die nackte

Anspruch doch bereits damit Genüge getan, dass jene

Haut hingegen verstößt Loos zufolge gerade nicht

Elemente, die in einem Gebäude entweder bekleiden-

gegen das Prinzip der Bekleidung, da sie (sofern sie

den oder konstruktiven Zwecken dienen, sichtbar und

nicht als Träger, sondern als natürliches Kleid auftritt)

deutlich voneinander getrennt würden. So könnten

Muskeln, Gelenke und Knochen bedeckt, ohne deren

diese gemeinsam in Erscheinung treten, ohne ihren

Farbe, Form und Struktur zu imitieren. Erst sobald ihr

jeweils nicht-/konstruktiven Charakter zu verunklären

ein Kleid angelegt wird, das sowohl seine eigene

(wie man es in dem Balkengerüst und den seine

Autonomie wie die seines Trägers untergräbt, findet

Zwischenräume ausfüllenden Wandflächen eines

der Gesetzesbruch statt.

Fachwerkhauses oder in modernen Entwürfen etwa

Hier also Loos’ Begründung, weshalb die Nackt-

196

Doch warum, ließe sich fragen, sollte aus Loos’

lustro, wenn es sich in anderen Hinsichten von der

eines Auguste Perret als vorbildlich realisiert sehen

heit eines Körpers, dessen Oberfläche dem Prinzip der

könnte). Oder es könnte, wo die Bekleidung die

Bekleidung entspricht, in der Moderne (wieder)

Hauptkonstruktion komplett verhüllt, zumindest die

erträglich, ja herbeigesehnt wird. Man könnte Loos’

Konstruktion des Kleides im engeren Sinn und damit

Position somit eine anti-exhibitionistische oder

sein (Zusammen-)Hängen zur Schau gestellt werden

anti-expressionistische nennen. Wie man sieht, lässt

(etwa in Analogie zur Aufhängung von Marmorplatten

sie sich nicht auf eine undifferenzierte Forderung nach

mittels sichtbarer Eisenbolzen in der Fassade von Otto

Materialwahrheit reduzieren, sofern diese Nacktheit

Wagners Postsparkasse oder zur sichtbaren Ausprä-

per se zum Prinzip erhebt. Ebenso wenig ist seine

gung von Nähten bei Kleidungsstücken). Würden

Position aber mit jeglicher Form von Konstruktions-

konkrete Umsetzungen beider Strategien in moderner,

wahrheit vereinbar, da sie auf unbedingter Autonomie

dem Primat und dem Ausdruck der Konstruktion

Christian Scherrer

dienender Architektur Loos’ Gesetz der Bekleidung

schosse sowie die Ziegelausfachungen zwischen den

nicht genügen? Unterstellen wir also zu Unrecht, dass

Fenstern desselben Geschosses zur Gänze aufzufan-

es sich gegen die Konstruktionswahrheit als solche

gen, und hätte daher durchgehende horizontale

richtet?

Fensterbänder als auch eine riesige stützenfreie

Loos’ Gesetz schließt seinem Wortlaut nach zwar den architektonischen Ausdruck konstruktiver Elemente und Verhältnisse nicht prinzipiell aus. Sein Haus

Öffnung im gesamten Erdgeschoss- und Mezzaninbereich der Fassadenfront ermöglicht. Die Gestaltung des oberen Fassadenteils gibt

für Goldman & Salatsch führt uns jedoch vor Augen,

jedoch (Abb. 1) weder den geringsten Hinweis auf die

dass er in der konkreten Umsetzung des Bekleidungs-

horizontal verlaufenden, voll tragenden Unterzüge

prinzips am Ausdruck konstruktiver oder tektonischer

noch auf die konstruktiv unwirksame, also rein

Verhältnisse tatsächlich kein Interesse hatte. Er hat die

raumabschließende Ziegelausfachung. Die tektoni-

Konstruktionswahrheit im positiven Sinn, als Veran-

schen Verhältnisse zwischen Stahlbetonrahmen und

schaulichung der primären oder dem Kleid eigenen

Ausfachung verschwinden hinter beinahe völlig

Konstruktion, gänzlich abgelehnt. Nur eine sozusagen

glattem Kalkverputz. Die einzigen, minimalen Mittel,

negativ gewendete Konstruktionswahrheit – die sich

um diesen Kalkverputz als Bekleidung hervorzuheben,

um die Artikulation der konstruktiven Unwirksamkeit,

verweisen auf dessen Plastizität, so die Tiefe der

also des Nicht-Tragens oder bloßen Lastens bekleiden-

Fensterlaibungen, die Verkantung der Gebäudeecken

der Elemente bemüht – scheint Loos ansatzweise, aber

zum Kohlmarkt (rechts) und zur Herrengasse (links)

keineswegs stringent verfolgt zu haben. Selbst diese

sowie die selten bemerkte Tatsache, dass die Marmor-

wurde von ihm, wie wir im Folgenden an seinem Haus

platten der unteren Fassade auf einer Ebene mit dem

für Goldman & Salatsch genauer sehen werden, den

Kalkverputz liegen und (mit Ausnahme des Gesimses)

wesentlicheren Aufgaben der architektonischen

nicht über diesen hervortreten. Wir finden hier die

Bekleidung geopfert.

Bekleidung durch andere Mittel als den sichtbaren

7

Nähern wir uns dem Gebäude zunächst von

Kontrast mit konstruktiven Elementen oder als

außen, also über das Verhältnis seiner Fassadengestal-

nicht-tragendes oder hängendes Element artikuliert.

tung zur Konstruktion. Aus den Bewehrungsplänen

Die Bedingung, das Kleid nicht mit seinem Träger

und einem Bericht der für sie verantwortlichen

verwechseln zu können, scheint trotz allem ausrei-

Ingenieure Pittel & Brausewetter8 ist zu erfahren, was

chend erfüllt.

die Gebäudefront zum Michaelerplatz zur Gänze

Zuweilen wurde jedoch die Ansicht vertreten,

verschweigt: Sie beruht auf einer ungewöhnlichen

dass der untere Teil der Gebäudefront mehr über die

Rahmenkonstruktion aus Stahlbeton, bestehend aus

konstruktive Bedeutung oder das Nicht-Tragen ihrer

zwei massiven, bis unter das Dach reichenden Eckpfei-

Elemente verrate. Viele der zeitgenössischen und

lern sowie fünf jeweils unter beziehungsweise über

späteren Kommentare zur Fassade haben hervorgeho-

jedem Wohngeschoss verlaufenden, horizontalen

ben, dass die Achsen der Säulen des Hauptportals

Unterzügen mit einer beachtlichen Spannweite von

(mitsamt den kurzen Pfeilern darüber) nicht mit jenen

über vierzehn Metern. Dieser Rahmen ist statisch

der vertikalen Mauerflächen zwischen den Fenstern

daraufhin berechnet, die fassadenseitig lastenden

der Wohngeschosse übereinstimmen. Dieses Detail

Boden- und Deckenkonstruktionen der Wohnge-

wurde von Kritikern umgehend als Loos’ plumpes

Das Prinzip der Bekleidung in Adolf Loos’ Haus für Goldman & Salatsch

197

Eingeständnis ausgelegt, dass es sich bei den Mono-

Wandfläche weder dementiert noch suggeriert. Wie

lithen um eine bloße Scheinkonstruktion handelt, die

kann die Position der Säulen also deren konstruktive

der Architekt (nach dem Maß der Konstruktion) zu rein

Wirksamkeit dementieren, wenn die Fassade doch

ornamentalen Zwecken verwendet hat.9 Könnte man

völlig offenlässt, was in ihr lastet oder trägt?

nun umgekehrt, aber unter Beibehaltung desselben

Zum anderen ließe sich diese Logik einer

konstruktionslogischen Blickwinkels, diesen Achsen-

negativen Konstruktionswahrheit auch nicht konse-

sprung nicht ins Positive wenden und ihn gerade als

quent auf die unmittelbar anschließenden Seitenfassa-

aufrichtigen Verweis auf das Nicht-Tragen der Säulen

den übertragen. Wir sehen bei den risalitartigen

zu deuten versuchen? Würde sich nicht dieselbe

Vorsprüngen zur Herrengasse und zum Kohlmarkt,

Deutung für Loos’ Entscheidung anbieten, die Säulen

dass sich das Verhältnis von konstruktiven Tatsachen

derart aus dem Stein herausarbeiten zu lassen, dass

und äußeren Anzeichen zugleich zuspitzt und verkehrt:

potentielle Lasten nicht orthogonal zu, sondern

Es wird selten hervorgehoben, dass sich hier die

entlang deren natürlicher Schichtung einwirken, was

vertikalen Achsen der mittleren, mit Marmor verkleide-

die Gefahr der Splitterung des Steins vervielfacht? Mit

ten Betonpfeiler direkt in jenen der mittleren Fenster-

anderen Worten könnte Loos doch – als Sohn eines

öffnungen der Wohngeschosse fortsetzen. Müsste

Steinmetz im vollen Bewusstsein der Konsequenzen! –

nach der Logik von vorhin nicht gefolgert werden, dass

die konstruktiv bedeutsame Eigenschaft horizontaler

hier der Achsensprung zwischen Wandfläche und

Schichtung in der Herstellung der Säulen konterkariert

Pfeiler dessen konstruktive Wirksamkeit noch deutli-

haben, um sie als nicht-tragende auszuweisen.

cher negiert, während wir es nun anders als bei den

10

Derartige Versuche einer Rettung der konstrukti-

Säulen hinter der Marmorverkleidung tatsächlich mit

ven Aufrichtigkeit von Loos’ Fassadenentwurf erschei-

einem konstruktiven Glied zu tun haben? Hätte Loos

nen jedoch unbefriedigend: Zum einen kann hier –

daher nicht mit denselben Mitteln die konstruktive

wenn überhaupt – nur in einem äußerst schwachen

Leistung des Pfeilers negiert und die konstruktive

Sinn von (negativer) Konstruktionswahrheit die Rede

Unwirksamkeit der Säulen affirmiert? Kann hier noch

sein. Um das Nicht-Tragen der Säulen auszudrücken,

von (negativer) Konstruktionswahrheit die Rede sein?

müssten viel deutlichere Mittel zum Einsatz kommen

198

Was schließlich das Muster des Marmors betrifft,

als die genannten. Einerseits müsste zumindest

so ist als Grund dafür, weshalb es bei den Säulen und

angedeutet werden, was anstatt ihrer tatsächlich trägt;

Pfeilerverkleidungen vertikal statt horizontal verläuft,

andererseits kann nicht ernsthaft von Konstruktions-

die Absicht, deren Belastungsfähigkeit zu negieren,

wahrheit die Rede sein, wenn die Erwartung daran,

höchstens die halbe Wahrheit. Da es wohl sein

was die Säulen zu tragen hätten, selbst auf falschen

vorrangiges Anliegen war, die Maserung des Marmors

Annahmen und scheinbaren Indizien beruht. Das

bestmöglich zur Geltung zu bringen, konnte Loos sie

Argument, der Achsensprung habe den Zweck, die

gar nicht anders als vertikal entlang der Säulen und

konstruktive Unwirksamkeit der Säulen auszudrücken,

Pfeiler verlaufen lassen; was übrigens auch für die

setzt ja voraus, dass die oberen Geschosse ihre Last

horizontale Maserung der horizontal liegenden

vor allem durch die vertikalen Mauerflächen zwischen

Flächen gilt (Abb. 2). Eher noch mag die Lage vertikaler

den Fenstern ableiten. Dies ist jedoch gerade nicht der

Fugen, an denen die kurzen Seiten der horizontalen

Fall und wird durch das glatte Raster der oberen

Platten zusammenstoßen, als ein Hinweis darauf

Christian Scherrer

besonders dort, wo die (negative) Konstruktionswahrheit als Deutungsansatz versagt, zum Vorschein kommt: nämlich der visuellen Gestaltung und Strukturierung von Raum. So betont die Verkröpfung an den Ecken der Hauptfassade nicht nur die Körperlichkeit des Kleides aus Kalkverputz. Durch den spitzen Winkel der Ecken reflektiert die Fassade den Umriss des Platzes, dessen räumlichen Abschluss sie bildet. Die abgewinkelten Ecken verweisen zugleich nach hinten ins Gebäudeinnere, wohin die Besuchenden gelangen, indem sie ihnen folgend die Kolonnade durchschreiten Abb. 2: Adolf Loos, Geschäftshaus für Goldman & Salatsch, Detailaufnahme des Eingangsportals am Michaelerplatz und der Ladenzone zur Herrengasse, ca. 1912

und zwischen einschwingenden Auslagenfenstern durch das Nadelöhr einer relativ schmalen Tür eintreten. Die Verkantung der Gebäudeecken sowie das Säulenportal mit zurückversetzter Auslage, das alleine

gedeutet werden, dass hier keine tragenden Elemente

die aufwendige Rahmenkonstruktion motiviert hat,

präsent sind: denn die Konstruktionslogik verbietet,

dienen zusammen mit anderen Details sowohl dem

dass belastete Elemente über einer Fensteröffnung in

Bezug zum öffentlichen Raum und seiner Gestaltung

deren Mittelachse eine Fuge aufweisen oder beider-

sowie der Herstellung visueller Grenzen und Schwellen

seits innerhalb der seitlichen Auflager in vertikalen

zwischen Außen- und Innenraum.

Fugen enden. Doch selbst die Platzierung vertikaler

Im Inneren des Gebäudes – genauer: im Mezza-

Fugen hat Loos, wie die häufige Spiegelung der

nin des ehemaligen Schneidersalons auf der Seite zum

Steinmaserung an ihnen bezeugt, insbesondere zur

Kohlmarkt (Abb. 3, rechts oben) – hat Loos einen

Betonung von Symmetrieachsen gedient, die durch die

Raum entworfen, der zu Recht als dessen Herz

Anordnung und Dimensionierung der Fassadenöffnun-

bezeichnet werden kann. Sein Entwurf zeigt, wie weit

gen vorgegeben waren.

der Antagonismus zwischen Bekleidungsprinzip und Konstruktionswahrheit bei Loos geht und wie eng der

Das K l e i d des Raums

Aspekt der Raumgestaltung an seine textile Konzeption von Architektur geknüpft ist. Es handelt sich bei diesem erstaunlich vernachlässigten Raum ausgerech-

Loos’ Fassade lässt sich aus dem Blickwinkel

net um das ehemalige Stofflager des Schneidersalons,

der – wenn auch negativ gewendeten – Konstrukti-

wo Kunden sich für ihre neuen Kleider Stoffe vorfüh-

onswahrheit daher kaum verstehen. Ihre sichtbaren

ren und Maß an sich nehmen ließen. Die einzige

Elemente sind zwar größtenteils als Bekleidung, die

Aufnahme vom ursprünglichen Zustand dieses Raums

nicht trägt oder tragen kann, erkennbar und zwar ohne

stammt aus einer Broschüre der Firma Goldman &

im Kontrast zu Elementen, die als tragende ausgewie-

Salatsch, die kurz nach der Eröffnung des neuen

sen werden, aufzutreten. Die Bekleidung der Fassade

Geschäftslokals produziert wurde (Abb. 4). Sie vermit-

dient jedoch im Grunde einem anderen Zweck, der

telt uns nicht nur den einst buchstäblich textilen

Das Prinzip der Bekleidung in Adolf Loos’ Haus für Goldman & Salatsch

199

unteren Ebene sich an der Stelle befinden sollen, wo Loos schließlich ein alle drei Mezzaninebenen verbindendes Stoffregal geplant hat. Dieses bildet im Endentwurf eine zusätzliche Wand zwischen einer der verkleideten Stützen des quadratischen Rasters der Hauptebene und dem ‚aus dem Raster gedrehten‘ hohlen Pfeiler (Abb. 3: im Plan nachträglich eingezeichnet). Loos scheint die in den ersten Einreichplänen von 1910 dokumentierte Variante offenbar aufgegeben zu haben, um diesem Raum trotz des unregelmäßigen Grundrisses eine einheitlichere Abb. 3: Adolf Loos, Geschäftshaus für Goldman & Salatsch, Grundriss der Mezzanin-Galerie samt Deckenkonstruktion, ca. 1910/11, Druck mit händisch hinzugefügten Bleistiftskizzen, 70,5 x 99,0 cm, Graphische Sammlung Albertina, Wien

Gestalt und Identität sowie durch bessere Abschirmung von Buchhaltung und Empfangsraum mehr Intimität zu verleihen und auch um seine Raumhöhe besser für die Zwecke der Lagerung und Ausstellung von Stoffen nutzen zu können.

Charakter dieses Raums – an mehreren Seiten bildeten von oben bis unten mit Stoffen befüllte Regale die

Wiederholung der Bekleidung eines konstruktiven

Wände, Vorhänge und Gardinen waren vor den

Gliedes in Absehung von deren Kern. Er hat nicht nur

Fenstern angebracht und der Boden der Mezzaninga-

den inneren Unterschied zwischen diesen beiden

lerie mit Teppich bespannt. Sie ist zudem eines der

Pfeilern unterschlagen, sondern auch auf subtile Weise

seltenen Zeugnisse in der Loos-Literatur von einem

die Wirkung des konstruktiven Glieds durch seinen

‚Pfeiler‘ aus Brettern mit Mahagoni-Furnier (als dunkle

hohlen Doppelgänger beeinflusst. Beim Betreten des

Fläche neben den links sich stapelnden Stoffballen

Stofflagers über die Galerie scheint der ‚echte‘ Pfeiler,

erkennbar). Dieser Wandpfeiler ist gänzlich hohl, also

dem Winkel des hohlen zur Stoffwand folgend, sich

reines Kleid.

ebenfalls aus dem Raster zu drehen. Er fungiert somit

Die Genese des endgültigen Entwurfs des

als kippbildartiges Scharnier, das zwischen beiden

Stofflagers und dieses von der Literatur vernachlässig-

Räumen vermittelt, in ihnen jedoch jeweils unter-

ten (oder geradezu verdrängten) Details kann anhand

schiedlich ausgerichtet erscheint.

11

der erhaltenen Pläne und Skizzen gut nachvollzogen

Durch den Einsatz zusätzlicher Elemente zur

werden. Bereits in den ersten Entwurfsstadien war

Stoffwand erhält der Raum eine visuelle Einheit, die

für diesen komplizierten, da unregelmäßigen Grund-

ihm sonst fehlte. Wie vor Ort und in Aufnahmen vom

rissteil auf der Seite des Kohlmarkts eine Aufteilung

heutigen Zustand des Stofflagers zu sehen ist (Abb. 5

des Mezzanins in jeweils eine gegenüber seiner

und 6), wird er durch deren Zusammenspiel annähernd

Hauptebene etwas tiefer und eine etwas höher

symmetrisch zentriert, regelmäßig strukturiert und von

gelegene Ebene geplant. Zunächst hätten alle Seiten

der angrenzenden Hauptebene des Mezzanins

der oberhalb liegenden Galerie parallel zu den Grund-

abgehoben: Die im gleichen Winkel zur hohen Stoff-

stücksgrenzen verlaufen und die kurze Treppe zur

wand ausgerichteten Pfeiler und dicken Deckenbalken

12

13

200

Loos hatte dabei keinerlei Skrupel vor der

Christian Scherrer

Abb. 4: Adolf Loos, Geschäftshaus für Goldman & Salatsch, Aufnahme vom ursprünglichen Zustand des Stofflagers aus einer Broschüre der Auftraggeber, ca. 1911/12, Graphische Sammlung Albertina, Wien

teilen mit dem unregelmäßigen Oktogon der Galerie

Vor Ort fällt es allerdings schwer, beide Seiten des

eine Symmetrieachse, die durch einen der sechs

Raums und den Verlauf der relativ dicht platzierten

schlankeren, orthogonal zur Fassade liegenden

Deckenbalken auf einen Blick zu erfassen. Der

Deckenbalken markiert wird und die Raumlänge

Achsensprung wird erst bemerkbar, wenn man

annähernd mittig teilt. Die regelmäßig angeordneten,

aufmerksam die Position der Enden einzelner Balken

parallelen Deckenbalken strukturieren aber nicht nur

auf beiden Seiten vergleicht oder einen Blick durch die

den Raum, sie verwischen zugleich den Unterschied

bei der Restaurierung installierte Spiegelwand auf sie

zwischen zwei dominierenden Symmetrieachsen. Die

wirft. Diese ‚Balken‘ sind offenbar ebenso hohl wie der

von Pfeilern eingefasste Stoffwand liegt zwar parallel

rechte Pfeiler der Stoffwand. Ihre Lage stimmt mit

zur Innenwand der Fassade, doch ihre Symmetrieachse

jener der in Abb. 3 eingezeichneten Unterzüge der

entspricht nicht jener der beiden gegenüberliegenden

Deckenkonstruktion an keiner Stelle überein. Sie sind

Baywindows (Abb. 3 und 5). In Loos’ Plänen und

weit davon entfernt, die Konstruktion auszudrücken,

Skizzen sticht dieser Achsensprung sofort ins Auge.

sondern dienen allein der Gestaltung des Raums.

Das Prinzip der Bekleidung in Adolf Loos’ Haus für Goldman & Salatsch

201

Abb. 5: Adolf Loos, Geschäftshaus für Goldman & Salatsch, Ansicht vom heutigen Zustand der Hauptebene des Mezzanins und der Regalwand des ehemaligen Stofflagers

Die architektonische Bekleidung, wie Loos sie

202

Abb. 6: Adolf Loos, Geschäftshaus für Goldman & Salatsch, Ansicht vom heutigen Zustand der Mezzaningalerie, Regalwand und Deckenbalken des ehemaligen Stofflagers

Oberflächen, die vollkommen glatt sind und keinerlei

aufgefasst und gestaltet hat, lässt sich ebenso wenig als

Kontrastierung von bekleidenden und konstruktiven

Ausdruck tektonischer Verhältnisse des Tragens oder

Elementen aufweisen, als nackt missverstanden werden.

Nicht-Tragens definieren wie als Bekleidung der Konst-

Andererseits hat Loos dort, wo es ihm für die Zwecke

ruktion. Loos denkt das architektonische Kleid strikt in

der Raumgestaltung notwendig erschien (wie etwa im

Hinblick auf den Raum, den es gestaltet. Architektur ist

Stofflager), die Verbindung von reiner Bekleidung mit

für ihn daher der Stoff, aus dem die Räume sind. Eine

konstruktiven Formen in Kauf genommen. Sein Ge-

auf die Konstruktion hin transparente Architektur hat

schäftshaus für Goldman & Salatsch bleibt nichtsdesto-

Loos abgelehnt und ihr das Bekleidungsprinzip entge-

weniger ein Zeugnis des konsequenten Versuchs, einer

gengehalten, weil sie in seinen Augen die primären

am Primat der Konstruktion, am Ausdrucksparadigma

Zwecke der Bekleidung zu unterwandern droht. Zwei

und an Nacktheit orientierten Moderne eine vom

Spannungen ergeben sich jedoch aus seiner Umsetzung

Prinzip der Bekleidung hergeleitete Architektur ent­

des Bekleidungsprinzips für dasselbe. Einerseits können

gegenzuhalten.14

Christian Scherrer

1

An m e r k u ngen

sen Bau kritisiert. Siehe Joseph August Lux: Wiener Kunstsorgen, in:

Adolf Loos: Nacktheit, in ders.: Gesammelte Schriften, hg. von

diesen Hinweis verdanke ich Markus Kristan. Zum konfliktreichen Ver-

Neues Wiener Tagblatt, 30.11.1911, S. 1, Sp. 1–3; S. 3, Sp. 1–3. Auch

Adolf Opel, Wien 2010, S. 592.

hältnis zwischen Loos und Lux siehe Ruth Hanisch: Moderne vor Ort:

2

Wiener Architektur 1889–1938, Wien/Köln/Weimar 2018, S. 263–274.

Der Topos von der Entwicklung moderner Architektur als fort-

schreitende Entkleidung von Unwesentlichem und historischen Hüllen

10

wurde von Werner Oechslin kritisch untersucht. Vgl. Werner Oechslin:

Entwurf und die ihm zugrundeliegende Wahrheitskonzeption über den

Stilhülse und Kern. Otto Wagner, Adolf Loos und der evolutionäre Weg

Begriff der „honest mask“ zu analysieren. Topps Lektüre unterscheidet

zur modernen Architektur, Zürich 1994. Das Bild von Loos als Anhänger

sich von meiner, indem sie sich einer undifferenzierten Konzeption von

von architektonischer Blöße wird in dieser Studie jedoch kaum hinter-

Materialwahrheit bedient und Loos’ Entwurf als letztlich doch um (ne-

fragt. Auch wird Loos eingereiht in eine von Tektonik und Baumassen

gative) Konstruktionswahrheit bemüht darstellt. So schreibt Topp: „In

als Wesen der Architektur ausgehenden Tradition, die laut Oechslin von

the public areas of Goldman & Salatsch shop, the […] structure is ex-

Laugier, Boullée und Bötticher über Wagner bis hin zu Le Corbusier

pressed: the reinforced concrete supports and ceiling beams are ‚hon-

reicht und sich für die Beziehung von äußerer Kunstform und innerem

estly‘ clad (the mahagony is clearly non-structural cladding) and the di-

Kern oder gedachter Leistungsform interessiert. Weshalb mir diese

viding walls and ceiling filling are clearly shown to be structurally

Einordnung irreführend scheint, hoffe ich im Folgenden plausibel ma-

subsidiary.“ Vgl. Leslie Topp: Architecture and Truth in Fin-de-siècle Vi-

chen zu können. Auch Julius Posener, dessen Betrachtungen zu Loos’

enna, Cambridge 2004, S. 161 f. In ihrer nach wie vor maßgeblichen

Schriften und Bauten in vielem treffender sind, meinte, dass dieser in

Studie zum Looshaus betonen Czech und Mistelbauer an den einge-

seinem Entwurf für Goldman & Salatsch „die Architektur nackt ausge-

setzten Säulen des Hauptportals den Eindruck der Entlastung, ohne ihn

zogen“ habe und wider Willen zum Vorboten von Nacktheit ohne Archi-

jedoch einer klaren Absicht zuzuschreiben oder auf den Achsensprung

tektur geworden sei. Vgl. Julius Posener: Vorlesungen zur Geschichte

zurückzuführen. Diesen leiten sie plausibel vom Aufeinandertreffen des

der Neuen Architektur, Bd. 2, Aachen 2013, S. 162–169.

regelmäßigen Fensterrasters, das die Homogenität der Wohneinheiten

3 4

Le Corbusier: Vers une Architecture, Paris 1924, S. 16.

unterstreichen soll, und der für das Portal notwendigen, breiteren Säu-

Adolf Loos: Das Prinzip der Bekleidung, in ders. 2010 (wie

lenanordnung her. Vgl. Hermann Czech und Wolfgang Mistelbauer: Das

Dazu scheint Leslie Topp in ihrem Versuch zu tendieren, Loos’

Anm. 1), S. 141.

Looshaus, Wien 1977, S. 112 ff. Marco Pogacnik hat in einem wichtigen

5 6

Ebd., S. 143.

Beitrag zur Chronologie und Analyse der Stadien des Fassadenentwurfs

Adolf Loos: Die alte und die neue Richtung der Baukunst, in

die tektonische Entlastung der Säulen vor allem in Hinblick auf den mit

ders. 2010 (wie Anm. 1), S. 199.

Kupferblech verkleideten „Architrav“ diskutiert. Dieser trägt zwar

7

Für eine Auseinandersetzung mit kulturkritischen Aspekten in

ebenso wenig wie die Säulen unter ihm, doch seine Ähnlichkeit mit ei-

Loos’ Schriften zur Bekleidung siehe Janet Stewart: Fashioning Vienna.

nem Eisenträger sowie seine Verlängerung in die Seitenpfeiler, in die er

Adolf Loos’s Cultural Criticism, New York/London 2000; zu Loos’ Ver-

eingespannt erscheint, würden ihm laut Pogacnik tragenden Charakter

hältnis zu seinen jüdischen Auftraggebern und den identitätspoliti-

verleihen. Ich würde darin zustimmen, dass der „eingespannte“ Archi-

schen Implikationen seiner Auffassung von moderner Architektur und

trav die Säulen optisch zusätzlich entlastet, doch scheint mir die Last

Bekleidung siehe Elana Shapira: Style and Seduction. Jewish Patrons,

der kurzen Pfeiler und des großen Gesimses über ihm bereits durch den

Architecture, and Design in Fin de Siècle Vienna, Waltham 2016,

Achsensprung gegenüber der oberen Fassade ausreichend dementiert,

S. 115–165.

um ihn als nicht-tragendes Geschossband wahrzunehmen. Vgl. Marco

8

Pogacnik: Adolf Loos und Wien, Salzburg/Wien 2011, S. 128 ff.

Dort heißt es: „Der Architekt hatte […] im Parterre vier Marmor-

sälen angeordnet, über welchen sich die ganze Front aufbauen sollte.

11

Diese Säulen durften jedoch nicht belastet werden und mußte [sic!]

Loos-Literatur findet sich in Rukschcios Dissertation. Siehe Burkhardt

daher die ganze Front auf eine lichte Spannweite von 14,05 m durch

Rukschcio: Studien zu Entwürfen, Projekten und ausgeführten Bauten

eine Eisenbetonkonstruktion auf die beiden Eckpfeiler übertragen wer-

von Adolf Loos (1870–1933), unpubl. Diss. Univ. Wien 1973, S. 70.

Der einzige Verweis auf diesen Hohlpfeiler in der gesamten

den.“ Vgl. Österreichischer Betonverein: Bericht über die IV. ordentliche

12

Hauptversammlung, 15.4.1912, Wien 1912, S. 156 f. Ich danke Markus

tation sind dazu die bei Czech/Mistelbauer publizierten Einreichpläne

Kristan für die Mitteilung seiner Entdeckung.

behilflich. Siehe Czech/Mistelbauer 1977 (wie Anm. 10), S.  18–23;

9

Diese Kritik, auf die Loos Ende 1910 in seinem berühmten

ebenso die teilweise von Christopher Long publizierten Entwurfsskizzen

Lichtbildvortrag zur Verteidigung des Gebäudes explizit Bezug nahm,

aus dem Loos-Archiv der Albertina Wien. Vgl. Christopher Long: The

wurde etwa von dem Kulturpublizisten und Wagner-Anhänger Joseph

Looshaus, New Haven/London 2011, S. 42–52.

Neben den diesbezüglichen Anmerkungen in Rukschcios Disser-

August Lux geäußert. Lux war damals zum radikalen Fürsprecher einer

13

Ingenieursästhetik geworden, hatte im selben Jahr ein Buch mit diesem

drei Ebenen als seinen ersten Versuch einer „Lösung des Grundrisses

Titel publiziert und kurz vor Loos’ Vortrag in einem Zeitungsartikel des-

im Raum“. Siehe dazu Christopher Long: The New Space: Movement

Loos verweist später auf diese Aufgliederung des Mezzanins in

Das Prinzip der Bekleidung in Adolf Loos’ Haus für Goldman & Salatsch

203

204

and Experience in Viennese Modern Architecture, New Haven/London

siehe Alfonso Díaz Segura, Ricardo Merí de la Maza und Bartolomé

2016, S. 39–64; allgemein zur Entwicklung und Umsetzung des soge-

Serra Soriano: La construcción del Raumplan, in: rita_ Revista indexada

nannten „Raumplans“ in Loos’ Architektur siehe Adolf Loos 1870–1933.

de textos académicos, Bd. 1, 2014, S. 60–69.

Raumplan – Wohnungsbau, hg. v. Dietrich Worbs, Ausst.-Kat. Akade-

14

mie der Künste Berlin, Berlin 1983; sowie Johan van der Beek: Adolf

ken und Architektur habe ich aus Vorlesungen und dem Buch Wittgen-

Loos  – Patterns of Town Houses, in: Max Risselada (Hg.): Raumplan

steins Grenze (Wien 1994) von Richard Heinrich erhalten, dem ich die-

Versus Plan Libre. Adolf Loos and Le Corbusier 1919–1930, Delft

sen Text widme. Ich bedanke mich bei Stefanie Kitzberger, Markus

1988, S. 27–46. Zum Verhältnis von Raumplan, Bekleidung und Kon-

Kristan, Wolfram Pichler, Burkhardt Rukschcio und Meredith Stadler

struktion in Loos’ letztem großen Entwurf, der Villa Müller in Prag,

für deren Kommentare während der Textgenese.

Christian Scherrer

Wichtige Anregungen für meine Beschäftigung mit Loos’ Den-

dafür, dass ihre Textilkunst in Vergessenheit geriet: Nur noch wenige textile Arbeiten von Dicker sind erhalten; während der Arbeitsgemeinschaft mit ihrem Partner Franz Singer stand sie in der Öffentlichkeit in dessen Schatten; die Geschichte der Pausa A.G., deren jüdische Inhaber_innen die Nationalsozialisten 1936 enteignet hatten, wurde erst in den 2000er Jahren aufgearbeitet; und Friedl Dickers Karriere selbst durch den Nationalsozialismus beendet.4 Es gilt daher

Die Textilien der Bauhaus-Künstlerin Friedl Dicker: Raumgestaltungen und Möbeldesign Katharina Hövelmann

zunächst die einzelnen Schaffensphasen ihres textilen Werks chronologisch zu rekonstruieren, um es in eine ‚textile Moderne‘ einordnen zu können.

Ausbi ldung i n Wi en und a m Ba uha us Obschon die in Wien geborene Dicker vielseitig begabt war, ist eine kontinuierliche Ausbildung im

Mit der Bauhaus-Weberei werden in erster Linie

Bereich Textil von 1915 bis 1923 belegt. Nach einer

Namen wie Anni Albers, Benita Otte oder Gunta Stölzl

Ausbildung als Reproduktionstechnikerin an der

in Verbindung gebracht. Die Bauhauskünstlerin Friedl

Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien von

Dicker findet hingegen im Kontext der Textilwerkstätte

1912 bis 1915 besuchte sie acht Monate bis zum

am Bauhaus kaum Erwähnung in der Literatur.1 Bisher

Sommer 1916 die Textilklasse an der Wiener Kunstge-

konzentrierte sich die Beschäftigung mit Dicker

werbeschule unter der Textil-, Teppich- und Gobelin-

vorwiegend auf ihre malerische und kunstpädagogi-

spezialistin Rosalia Rothansl. Aus dem Unterricht hat

sche Tätigkeit. Eine verstärkte Hinwendung auf jenen

sich die Fotografie einer von Dicker angefertigten

Gebieten setzte bei ihr jedoch erst ab den 1930er

Leinenstickerei Christus auf dem Ölberge erhalten.5

Jahren ein, zuvor konzentrierte sie sich beruflich

Nebenher belegte sie Kurse bei Franz Cizek, der an der

überwiegend auf den Bereich der angewandten Kunst,

Kunstgewerbeschule einen Kurs für „Ornamentale

insbesondere auf das Textile. Am Bauhaus zählte sie zu

Formenlehre“ abhielt. In allen Bewertungskriterien der

den ersten Schüler_innen der Weberei und war später

Werkstätte für Textilarbeiten wurde sie mit der Note

beruflich in diesem Bereich erfolgreich tätig: Zum

Eins beurteilt.6 Ab der zweiten Jahreshälfte 1916

einen in Arbeitsgemeinschaften mit ihrem Künstlerkol-

besuchte sie den privaten Kunstunterricht des Malers

legen Franz Singer und zum anderen indem sie von der

Johannes Itten in Wien, der eine ganzheitliche,

wegweisenden deutschen Textilfirma Pausa A.G. als

künstlerische Erziehung anstrebte. Friedl Dicker und

erste Entwerferin mit Bauhaus-Ausbildung herangezo-

Franz Singer, die später künstlerisch zusammenarbei-

gen wurde. Mehrere Faktoren sind ausschlaggebend

teten und eine Liebesbeziehung eingingen, lernten

2

3

Die Textilien der Bauhaus-Künstlerin Friedl Dicker: Raumgestaltungen und Möbeldesign

205

sich in der Kunstschule Ittens kennen. Mit ihrer

Die im Gründungsmanifest postulierte gleichbe-

Freundin Anny Wottitz, ebenfalls Itten-Schülerin,

rechtigte Ausbildung führte dazu, dass der Frauenan-

richtete Dicker sich ein Atelier ein, in dem sie „mod.

teil am Bauhaus relativ groß war.15 Die Gleichberechti-

[erne] Holz- und Batikarbeiten, Stickereien [und]

gung existierte jedoch weder formal noch in den

Zeichnungen“ ausstellten. Dicker beschreibt diese

Köpfen des vorwiegend männlichen Lehrkörpers, und

Zeit rückblickend 1922/1923 an ihre Freundin

so hatten sich die Formmeister 1920 dazu entschlos-

Wottitz: „Damals war es schön. Man hatte einen

sen eine ‚Frauenabteilung‘ einzurichten, die nach der

Grund und Boden; Itten. Opposition als einzigen

Neuregelung des Lehrbetriebs 1921 in der bereits

Gradmesser, Mut, der alle Verwirrung nicht gekannt

1919 gegründeten Weberei aufging.16 Einige Frauen

oder unterschätzt hat; einfach sich.“8

besuchten auch die Töpferei oder die Buchbinderei wie

7

Johannes Itten wurde 1919 Lehrkraft am neu

Dickers Freundin Anny Wottitz. Der Besuch anderer

gegründeten Staatlichen Bauhaus in Weimar. Friedl

Bauhaus-Werkstätten war im Prinzip nicht vorgesehen.

Dicker, Franz Singer und weitere seiner Wiener

Eine Ausnahme bildet hier Marianne Brandt, die in der

Schüler_innen wie Anny Wottitz folgten ihm im Herbst

Metallwerkstatt ausgebildet wurde.

9

1919 dorthin. Der Bauhaus-Student Erich Pfeiffer-Belli berichtet über die Neuankömmlinge aus der österrei-

chen Studierenden ab Wintersemester 1919/1920 die

chischen Hauptstadt: „Diese Handvoll Wiener brachte

Weberei, die zunächst formal von Itten und ab 1921

in die sehr deutsche, eher schwerblütige Welt des

von Georg Muche geleitet wurde. Handwerksmeisterin

Bauhauses einen Schuß musischer Heiterkeit, ein Gran

war Helene Börner, die bereits in van de Veldes

Literatur und gar nicht wenig graziösen Wiener Humor.

Vorgängerschule die Weberei betrieben hatte.

Sie waren ohne Zweifel eine große Bereicherung, [...].“

10

Ittens zunächst einmal wöchentlich am Bauhaus

Dicker arbeitete auch in der 1921 gegründeten Bühnenwerkstatt unter Lothar Schreyer und Oskar

stattfindender Unterricht sollte die „schöpferischen

Schlemmer, in der Druckerei für Ittens 1921 erschie-

Kräfte und damit die künstlerische Begabung der

nene Publikation Utopia –Dokumente der Wirklichkeit

Lernenden“ freimachen, wobei die „Material- und

und entwarf die aus Metallröhren und -kugeln konstru-

Texturübungen“ die Wahl einer Werkstätte zur

ierte Plastik Anna Selbdritt. Ihre künstlerische Vielseitig-

Fortsetzung des Studiums erleichtern sollten. Itten

keit und Produktivität wurden vom Bauhaus finanziell

begann seinen Unterricht mit gymnastischen Übungen

gefördert. Dies belegen die Hinweise auf Zuteilungen

zur Lockerung und Einstimmung auf die anschließen-

für Stipendien und Freistellungen von der Bezahlung

den Rhythmusstudien.12 Er übernahm Adolf Hölzels

des Lehrgeldes und der Beschluss, ihr ein eigenes

Kontrastlehre, die auf Goethe zurückgehende Farben-

Atelier zuzuweisen.17 In dem 1923 erschienenen Buch

kontrastlehre und die Material-Studien.13 Die Bildana-

Staatliches Bauhaus Weimar 1919–1923 sind von Dicker

lysen nach alten Meistern dienten einer gefühlsmäßi-

die Studie Helldunkel Verwerfung und zwei Aquarelle

gen Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk und beim

abgedruckt.18 Letztere lassen die Auseinandersetzung

Aktzeichnen wurde das Augenmerk auf „Ausdrucks-

mit Paul Klees Werken erkennen; dieser unterrichtete

form“ und „innere Bewegung“ gelegt. Dicker genoss

ab 1921 am Bauhaus „Bildnerische Formlehre“.

11

14

bei Itten also eine ganzheitliche ästhetische Erziehung, die Körper und Geist gleichermaßen einbezog.

206

Auch Dicker besuchte wie die meisten weibli-

Katharina Hövelmann

In den Bauhaus-Alben, mit denen exemplarische Werke des Bauhauses dokumentiert wurden, sind zwei

Abb. 1: Friedl Dicker, Wandteppich, 1920–1924, Bauhaus-Album, Bauhaus-Universität Weimar, Archiv der Moderne

Wandteppiche Friedl Dickers aus der Zeit 1920 bis

teils flache und in Flor ausgeführte Gewebepartien.

1924 aufgenommen, die heute nicht mehr erhalten

Vergleicht man diese Teppiche Dickers mit dem ersten

sind. Die Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen einen

1920 am Bauhaus entstandenen Webteppich ihrer

collageartigen Knüpfteppich mit abstrakten Formen

Studienkollegin Gunta Stölzl, so fallen Übereinstim-

einer Berg- und Flusslandschaft sowie einen Wandtep-

mungen in den teils noch gegenständlichen Motiven

pich, der eine Reihe kegel- und tafelförmiger Berge,

(Kühe), der Komposition und dem spielerischen

kugelförmige Baumkronen und gestaffelte Grabmäler

Umgang mit Bildwirkerei- und Webtechniken auf.

erkennen lässt (Abb. 1). Nach Ittens Kontrastlehre

Aus dem Protokoll einer Meisterratssitzung vom

geben Hell-Dunkel-Kontraste und verschiedene

2. Februar 1921 geht hervor, dass Dickers Textilarbei-

Materialien den Kompositionen Reliefwirkung durch

ten besonders geschätzt wurden: „Ankäufe von

Die Textilien der Bauhaus-Künstlerin Friedl Dicker: Raumgestaltungen und Möbeldesign

207

Schülerarbeiten. Es kommt als fertige Arbeit ein

Vordergrund stand. Ehemalige Bauhaus-Studierende

Teppich von Frl. Dicker zur Vorlage. Frl. Dicker hat den

wie der Silberschmied Naum Slutzky, die Kunststicke-

Wunsch, dieses Stück anderweit zu verkaufen, da sie

rin Hedwig Arnheim-Dülberg und die Buchbinderin

sich hierbei einen größeren Erlös verspricht, als das

Anny Wottitz schlossen sich den Werkstätten an.

Bauhaus zahlen dürfte. [...] Es müsse verhütet werden,

Dicker arbeitete in der Weberei, in der zeitweise neun

daß gerade die besten Arbeiten dem Bauhaus verlustig

Personen beschäftigt waren.24 Zum Angebot der

gehen, dieses käme dann nie in die Lage, eine Samm-

Textilabteilung gehörten Spitzendeckchen, Stickereiar-

lung hochwertiger Erzeugnisse zu besitzen. [...] Er

beiten, in Spritztechnik gestaltete Tücher, abstrakt

[Gropius] schlägt vor, Frl. Dicker den Arbeitswert des

gemusterte Stoffe und fünf Wandteppiche, von denen

Teppichs mit M[ark] 2000,– zu zahlen, womit der

noch drei erhalten sind. Die kunsthandwerklichen

Meisterrat einverstanden ist.“19 In einem Brief geht

Erzeugnisse wurden auf Messen in Berlin, Frankfurt

Dicker auf diesen Verkauf ein: „Für den Teppich (hab)

und Leipzig ausgestellt.25 Auf der Zweiten Deutschen

werd ich 2000 M[ark] bekommen. Na Schwamm

Spitzenmesse 1924 in Berlin wurde den Werkstätten

drüber. Uns ist es nicht bestimmt irgendwie reich zu

Bildender Kunst für die ausgestellten Textilien „als

werden [...].“20 Die gewinnbringende Veräußerung

Anerkennung für hervorragende Leistungen“ ein

wurde demzufolge von der Schule verhindert. Es war

Ehrendiplom verliehen.26

auch üblich, die Textilarbeiten ohne Namensnennung

Einer der noch erhaltenen Wandbehänge von

auszustellen und zu verkaufen, die Idee des Bauhauses

Dicker zeigt eine fantasiereiche Stickerei. Eingefasst

und des Produkts sollten vor die Urheberin gestellt

von einer rot-grauen Stoffbordüre – gleich einem

werden.

Bilderrahmen – winden sich um ein trichterförmiges

21

Gebilde auf dunklem Grund explosionsartig farbige

Be ruf liche Anfänge in Berli n

Tiere, Menschen, Bälle, Wellen und ein Krug empor (Abb. 2). Der Kunsthistoriker Hans Hildebrandt verstand die „neue Entfaltung des Wandteppichs“ als eine „Abart

Gemeinsam mit Franz Singer verließ Friedl Dicker im Herbst 1923 das Bauhaus Richtung Berlin, wo sie

Stölzl bezeichnete die am frühen Bauhaus entstande-

die Werkstätten Bildender Kunst GmbH aufbauten, die

nen Wandbehänge als „gemalte Stoffe“28.

Singer im Juni 1923 gegründet hatte.22 Es wurden eine

208

des Wandgemäldes“27, und auch die Weberin Gunta

Eine Auseinandersetzung mit dem Konstruktivis-

Tischlerei, eine Weberei, eine Stoffspritzerei, eine

mus lässt sich deutlich an einem von Dicker 1924

Buchbinderei und eine Goldschmiedewerkstätte

entworfenen Baumwollwebstoff mit geometrischem

eingerichtet. Mit den Werkstätten wurde – wie mit

Muster erkennen (Abb. 3). Grundlage ist ein Mäander-

dem Namen Werkstätten Bildender Kunst zum

bandmotiv, das von Dicker auch für ein Webmuster

Ausdruck kommt – eine künstlerische Ausrichtung

und einen Stoffentwurf aufgegriffen wurde, der 1926

verfolgt. Das am Bauhaus ab 1923 ausgerufene

in der Zeitschrift Stickereien und Spitzen unter dem

Leitmotiv „Kunst und Technik – eine neue Einheit“23

Titel Der endlose Irrgarten veröffentlicht wurde.29 Bei

wurde demzufolge nicht angestrebt, sondern die Idee

dem erhaltenen Stoff in den Farbtönen Blau, Grün,

des frühen Bauhauses weiter fortgesetzt, bei dem das

Braun, Beige und Weiß sind kleine rote und schwarze

künstlerische, handwerklich gefertigte Einzelstück im

Quadrate eingearbeitet, die teilweise mit einem Kreuz

Katharina Hövelmann

Abb. 2: Friedl Dicker, Wandbehang, um 1924/25, Stickerei auf Stoff, 34,5 x 27,2 cm, Privatsammlung

versehen sind.30 Unterschiedliche Webrichtungen

Weber_innen inspirierend waren.31 Bezüge zu Klee

geben dem Stoff in Leinwandbindung zusätzliche

finden sich auch bei dem von Friedl Dicker mit Anny

Struktur. Der Entwurf lässt zudem eine Beschäftigung

Wottitz entworfenen Bucheinband aus Stoffapplikati-

mit Paul Klees Quadratbildern erkennen, in denen

onen für den Roman Die kleine Stadt von Charles-Louis

Prinzipien wie Spiegelung, Drehung und Verschiebung

Philippe.32 Dicker und ihre Bauhaus-Kolleg_innen

angewendet werden, die auch für andere Bauhaus-

übertrugen so die Formensprache der abstrakten und

Die Textilien der Bauhaus-Künstlerin Friedl Dicker: Raumgestaltungen und Möbeldesign

209

Abb. 3: Friedl Dicker, Möbelstoff (Originalfarbe stark verblichen), 1924, handgewebte Baumwolle, Archiv Georg Schrom, Wien

konstruktivistischen Kunst in das Medium Textil, das

Kostüme für das im September 1923 im Berliner

zur Vermittlung und Verbreitung der neuen Formen-

Lustspielhaus aufgeführte Shakespeare-Stück Der

sprache beitrug.33

Kaufmann von Venedig orientierten sich formal an

In den Werkstätten entstanden zudem Kostüme

210

Kostümierungen Oskar Schlemmers. Da den Werkstät-

für das Theaterensemble „Die Truppe“ unter Berthold

ten Bildender Kunst mit der Auflösung des Theateren-

Viertel, mit dem Friedl Dicker und ihr Partner Franz

sembles nach nur acht Monaten Spielzeit einer der

Singer bereits während ihrer Studienzeit am Bauhaus

wichtigsten Auftraggeber fehlte, löste Franz Singer die

zusammengearbeitet hatten. Die ausdrucksstarken

Werkstätten schließlich 1926 wieder auf.34

Katharina Hövelmann

Wi e n e r Ateliergemeinschaf t

schiedliche Violett- und Rosatöne. Einige Elemente der heute in der Neuen Sammlung in München befindli-

Friedl Dicker zog um 1924/1925 wieder nach

chen Sitzmöbel sind zinnoberrot lackiert (Abb. 4). Die

Wien und richtete sich ein Atelier ein, dem sich Franz

Konstruktion der Stühle aus geometrischen Grundfor-

Singer um 1925 anschloss. Zunächst entstanden hier

men wie halbkreisförmiger Lehne, runden Sitzflächen

im Auftrag von Singers Schwester Frieda Russ (später

und säulenartigen Vorderbeinen wird durch Durchsich-

Stoerk) Handtaschen, die von der Verkaufsstelle des

ten zwischen den einzelnen Elementen betont und

Österreichischen Werkbunds in Kommission genom-

verweist auf am Bauhaus entstandene Möbelentwürfe.

men wurden. In einem kürzlich aufgefundenen

Mit dem Aufbau aus Elementarformen korrespondiert

Schreiben von 1926 gab Singer an: „Textilabteilung:

die ungewöhnliche aus zusammengefügten Stoff-­

Friedl Dicker, Abteilung Taschen: Frieda Russ“35.

Zylindern bestehende Polsterung. Die dunklen und

In der Folge wurde die Arbeit im Atelier durch

hellen Streifen des handgewebten Bezugsstoffs aus

den Entwurf von Möbeln, die Einrichtung von Häu-

Leinen variieren in der Breite so, dass sich beim

sern, Wohnungen, Geschäften, Kindergärten, Arztpra-

Sitzpolster eine Abstufung von dunkel zu hell ergibt.

xen und den Entwurf von Bauten erweitert. Charakte-

Solche Effekte bei Streifenstoffen sind signifikant für

ristisch waren insbesondere multifunktionale

die Leistungen der Bauhaus-Weberei und betonen

Einrichtungsgegenstände, die Dickers und Singers

Dickers dortige Ausbildung.38 Der ihr ebenso zuzu-

Wunsch einer Raumgestaltung mit unterschiedlichen

schreibende Vorhang mit einem Muster aus quadrati-

Nutzungsmöglichkeiten entsprach. Bisher war Dickers

schen Feldern fügt sich gleichermaßen in die durch

Anteil im Atelier weitgehend ungeklärt. Jüngst hat sich

Grundformen dominierte Raumgestaltung ein.

herausgestellt, dass sie offenbar insbesondere für

Weitere Bezüge zum Bauhaus lassen sich bei

Textilien wie Möbelbezugsstoffe, Gurtbespannungen,

Sitzmöbeln erkennen, die 1927 auf der Wiener

Vorhänge, Wandteppiche und Tagesdecken verant-

Kunstschau präsentiert wurden. Die Kettfäden der

wortlich war.36 Auf den erhaltenen Fotografien, mit

Bast-Bespannung waren direkt im Rahmen befestigt.

denen die Innenraumgestaltungen dokumentiert

Diese dem Afrikanischen Stuhl39 von Marcel Breuer und

wurden, sind Dicker zuzuschreibende Textilien zu

Gunta Stölzl aus dem Jahr 1921 ähnliche Bespannung

erkennen. Auf den Rückseiten der Fotos ist den –

und das verwendete Bastgeflecht zeigen einen betont

teilweise von Dicker vorgenommenen – Vermerken zu

handwerklichen Duktus, wie er für Entwürfe des

entnehmen, dass die Textilien in Handarbeit entstanden.

frühen Bauhauses kennzeichnend ist.40

37

Die 1925/1926 erfolgte Gestaltung des Damen-

Ebenfalls 1927 entstanden Sitzmöbel mit

und Herrenzimmers in der Wiener Wohnung von Anny

robusten, farbigen Gurtbespannungen, die erstmals für

Wottitz und deren Ehemann Hans Moller ist das erste

die Einraumwohnung von Hans Heller verwendet

dokumentierte Einrichtungsprojekt von Dicker und

wurden. Das Quadratmuster der verflochtenen Gurte

Singer und exemplarisch für ihr Raumgestaltungskon-

korrespondierte mit der kubischen Form der Möbel.

zept: Das Damenzimmer konnte als Wohn- und

Die roten, blauen, blaugrünen und gelben Gurte eines

Schlafzimmer genutzt werden und war farblich bis ins

noch erhaltenen Diwanbetts sind derart miteinander

Detail durchkomponiert. So zeigt der Zimmerentwurf

verwoben, dass sich ein farblich unregelmäßiges

eine Einteilung von Wänden und Decke in unter-

Quadratmuster ergibt (Abb. 5). Farblich harmonierte es

Die Textilien der Bauhaus-Künstlerin Friedl Dicker: Raumgestaltungen und Möbeldesign

211

Abb. 4: Friedl Dicker und Franz Singer, Armlehnstuhl für Anny Wottitz-Moller, 1925/26, Rotbuche, Esche, Nadelholz, Kirschholz, zinnoberroter Schleiflack, Rosshaarpolsterung, handgewebtes Leinen, 71,5 x 71 x 61 x 51 cm, Die Neue Sammlung – ­ The Design Museum, München

Abb. 5: Friedl Dicker und Franz Singer, Diwanbett, 1927–1930, Holz, farbige Gurtbespannung, 45 x 200 x 92 cm, Archiv Georg Schrom, Wien

mit der Gestaltung des Einwohnraums. Die damit

ten die Pausa A.G. aus. Sie gehörte zu den ersten

erzielte Wirkung lässt sich einerseits auf das Bauhaus

Firmen, die in Deutschland den modernen Textildruck

zurückführen, an dem Farbe als umfassendes Gestal-

einführten.44

tungsmittel Autonomie erlangte.41 Andererseits

Laut Vertrag war Dicker zuständig für die Anferti-

entsprach die Wohnungsgestaltung auch Theo van

gung von Entwürfen für Web- und Druckstoffe sowie

Doesburgs Anspruch einer malerischen Komposition

Web- und Druck-Decken, für die Kolorierung eigener

des Raumes. So bezeichnete Singer, der in Weimar bei

und fremder Entwürfe, künstlerische Versuche an

van Doesburg studiert hatte, den Raumgestaltungs-

Maschinen, Vorschläge und Pläne für das Arrangement

entwurf für Heller als „zusammenhängende Raumkom-

von Ausstellungen, Orientierungs-Reisen im Inland und

position“ .

Ausland und war berechtigt, Pausa-Stoffe nach ihren

42

eigenen Ideen zu entwerfen und auszuführen.45 Welche

Pa usa A .G .

Stoffe Dicker tatsächlich für die Firma entwarf, ist bislang ungeklärt. Eine in Wien erhaltene Stoffmustersammlung verdeutlicht Dickers textile Material- und

Vom 1. Juli 1928 bis April 1930 arbeitete Dicker

212

Technikexperimente. Neben Baumwolle und Wolle sind

neben ihrer Tätigkeit für das Wiener Atelier als

Chenille, Lederbändchen und metallisch glänzende

künstlerische Mitarbeiterin für die in Stuttgart-

Fäden verarbeitet. Insbesondere zwei erhaltene Muster

Mössingen ansässige Textilfirma Pausa A.G.43, für die

für geometrische Druckstoffe lassen darauf schließen,

später auch die am Dessauer Bauhaus ausgebildeten

dass diese als Entwürfe für die Pausa A.G. entstanden

Weber_innen Lisbeth Oestreicher und Ljuba Monas-

sein könnten (Abb. 6). Auch im Archiv des Victoria &

tirskaja tätig waren. Demokratisches, interdisziplinäres

Albert Museum in London sind im Nachlass von Franz

Arbeiten, flache Hierarchien, Frauen in Führungspositi-

Singer einige Musterstücke von Web- und Chiffonstof-

onen und ein innovativer Umgang mit Technik zeichne-

fen erhalten, die Dicker entworfen haben könnte.46

Katharina Hövelmann

Partner Paul Brandeis nach Hronov und arbeitete erneut für diese Firma, in der Brandeis eine Stelle als Buchhalter antrat.49 Dicker gestaltete den Stand für die Ausstellung Výstava 38 Náchod und präsentierte dort von ihr entworfene Stoffe, für die sie eine Goldmedaille erhielt.50 Als die Besitzer der Firma vor den Nationalsozialisten nach Palästina flohen, endete ihre dortige Tätigkeit. 1942 wurden Dicker und ihr Mann ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Friedl Dicker unterrichtete dort Kinder im Zeichnen und Malen mit jenen kunsttherapeutischen Methoden, die sie bereits in Prag erfolgreich angewendet hatte, und half so den Kindern, den Alltag im Lager zeitweise zu vergessen. 1944 wurden sie und ihr Mann nach Auschwitz deportiert. Dicker wurde ermordet, ihr Mann überlebte.51 Das textile Schaffen begleitete Dickers gesamte Abb. 6: Friedl Dicker, Druckstoff, um 1928–1930, Baumwolle, Archiv Georg Schrom, Wien

berufliche Laufbahn und war ein maßgeblicher Bestandteil ihres künstlerischen Werkes. Sie hatte sich darin sowohl an der Wiener Kunstgewerbeschule als auch am Weimarer Bauhaus ausbilden lassen. Am

Em i g rati on in die Ts c h e c h o slowakei

Bauhaus, in den Werkstätten Bildender Kunst und der Wiener Ateliergemeinschaft mit Franz Singer erarbeitete Dicker künstlerisch gestaltete Einzelstücke und

1933 emigrierte Dicker nach Prag und entwarf

verwirklichte damit die Forderung des Bauhaus-

dort mit Grete Bauer-Fröhlich und Karola Bloch

Gründungsmanifests, Kunst und Handwerk zu verbin-

Wohnungseinrichtungen. Ob dabei von ihr entworfene

den. Zeitgleich mit den Entwicklungen am Dessauer

Textilien zum Einsatz kamen, muss noch offen blei-

Bauhaus gelang ihr 1928 der Schritt von der Handwe-

ben. Für die Firma B. Spiegler & Söhne mit einer

berei zum Textildesign für die industrielle Produktion.

Produktionsstätte in Hronov in Böhmen hatte Dicker

Insbesondere für die Pausa A.G. hat sie das Fundament

vermutlich bereits von 1928 bis 1930 Entwürfe

für das ästhetisch hohe Niveau dieser weltweit

angefertigt. 1938 zog sie zusammen mit ihrem neuen

erfolgreichen Textilfirma gelegt.52

47

48

Die Textilien der Bauhaus-Künstlerin Friedl Dicker: Raumgestaltungen und Möbeldesign

213

Anmerkungen 1

Vgl. Das Bauhaus webt, hg. v. Magdalena Droste und Manfred

Ebd., S. 134. Ebd., S. 134, 147–148. Anja Baumhoff: „Ich spalte den Menschen.“ Geschlechterkon-

Ludewig, Ausst.-Kat. Bauhaus-Archiv Berlin, Kunstsammlungen Wei-

zeptionen bei Johannes Itten, in: Das frühe Bauhaus und Johannes It-

mar, Berlin 1998, S.  43–44. Dicker wird hier zwar erwähnt, auf ihre

ten. Katalogbuch anläßlich des 75. Gründungsjubiläums des Staatlichen

Webarbeiten wird allerdings nicht eingegangen.

Bauhauses in Weimar, hg. v. Rolf Bothe u. a., Ausst.-Kat. Bauhaus-Ar-

2

chiv Berlin, Ostfildern-Ruit 1994, S. 91–99, hier S. 91.

Elena Makarova: Friedl Dicker-Brandeis. Ein Leben für Kunst

und Lehre. Wien, Weimar, Prag, Hronov, Theresienstadt, Auschwitz,

16

Wien u. a. 1999. Auch die jüngst erschienenen Beiträge von Elizabeth

pation, in: Peter Feierabend und Jeannine Fiedler (Hg.): Bauhaus, 4.

Otto und Anja Guttenberger greifen dieses Themenfeld erneut auf:

Auf., Köln 2002, S. 96–107, hier S. 102.

Anja Baumhoff: Frauen am Bauhaus – Ein Mythos der Emanzi-

Elizabeth Otto: Passages with Friedl Dicker-Brandeis from the Bauhaus

17

through Theresienstadt, in: dies. und Burcu Dogramaci (Hg.): Passagen

Staatliches Bauhaus Weimar 12, Bl. 83–84, 85, 105–106, 235–242, in:

des Exils. Passages of Exile (Jahrbuch Exilforschung, 35), München

Volker Wahl (Hg.): Die Meisterratsprotokolle des Staatlichen Bauhauses

2017, S. 230–251; Anja Guttenberger: Friedl Dicker, https://www.bau-

Weimar 1919 bis 1925, Weimar 2001, S. 126, 129, 143, 269.

Meisterratsprotokolle, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar,

haus100.de/das-bauhaus/koepfe/studierende/friedl-dicker/ [Abruf:

18

14.1.2019].

ches Bauhaus Weimar 1919–1923, Weimar/München 1923, S.  50,

3

205, 213.

Vgl.: Friedl Dicker, Franz Singer, hg. v. Peter Wilberg-Vignau,

Staatliches Bauhaus Weimar und Karl Nierendorf (Hg.): Staatli-

Ausst.-Kat. Bauhaus-Archiv Darmstadt, Darmstadt 1970; Franz Singer,

19

Friedl Dicker. 2 x Bauhaus in Wien, Ausst. Kat. Hochschule für Ange-

lass Walter Gropius, in: Wahl 2001 (wie Anm. 17), S. 119.

Meisterratsprotokoll, 7.2.1921, Bauhaus-Archiv Berlin, Nach-

wandte Kunst, Heiligenkreuzerhof, Wien 1988; Sabine Breer: Zwischen

20

Werkbund und Bauhaus – Die Entwerfer der Pausa in den 1920er Jah-

für angewandte Kunst, Wien, Archiv, Inv.-Nr. 12.871.

Friedl Dicker an Anny Wottitz, undatiert [um 1921], Universität

ren, in: Hermann Berner (Hg.): Stoffe ohne Ende. Die Sammlungen der

21

ehemaligen Textildruckfirma Pausa in Mössingen, Darmstadt 2015,

2002 (wie Anm. 16), S. 466–477, hier S. 473.

S. 119–135, hier S. 129.

4

Hermann Berner und Werner Fifka (Hg.): Das Bauhaus kam

22 23

Anja Baumhoff: Die Webereiwerkstatt, in: Feierabend/Fiedler Berliner-Börsenzeitung, 23.11.1923, S. 8. „Kunst und Technik – eine neue Einheit“ lautete ein Vortrag, den

nach Mössingen. Geschichte, Architektur und Design der einstigen

Gropius im Sommer 1923 anlässlich der Bauhaus-Woche hielt und der

Textilfirma Pausa, Mössingen-Talheim 2006; Irene Scherer (Hg.): Artur

fortan für das Programm des Bauhauses maßgeblich war. Siehe Hans

und Felix Löwenstein. Würdigung der Gründer der Textilfirma Pausa

Maria Wingler: Das Bauhaus 1919–1933, Weimar, Dessau, Berlin und

und geschichtliche Zusammenhänge, Mössingen-Talheim 2013.

die Nachfolge in Chicago seit 1937 (1968), 4. Aufl., Köln 2002, S. 15,

5

90.

Friedl Dicker, Christus auf dem Ölberge, Leinenstickerei, 1916,

Universität für angewandte Kunst, Wien, Fotosammlung, Inv.-Nr.

24

12912/FW.

für angewandte Kunst, Wien, Archiv, Inv.-Nr. 13.708/2.

6

Einschreibeformular von Friedl Dicker vom 16.10.1915 sowie

Einschreibekatalog der Textilklasse von 1915/1916, Universität für an-

25

Friedl Dicker an Anny Wottitz, undatiert [um 1923], Universität Friedl Dicker an Anny Wottitz, undatiert [um 1924], Universität

für angewandte Kunst, Wien, Archiv, Inv.-Nr. 13.702.

gewandte Kunst, Wien, Archiv.

26

7

Berlin, Dokumentensammlung, Franz Singer, Mappe 8.

Annonce, in: Neue Erde. Kultursozialistische Wochenschrift,

Ehrendiplom, Deutsche Spitzenmesse 1924, Bauhaus-Archiv

16.8.1919, H. 23/24, S. 193.

27

8

Handbuch der Kunstwissenschaft, Wildpark-Potsdam 1931, S. 403.

Friedl Dicker an Anny Wottitz, undatiert, [um 1922/23], Univer-

Hans Hildebrandt: Die Kunst des 19. und 20.  Jahrhunderts.

sität für angewandte Kunst, Wien, Archiv, Inv.-Nr. 13.702/5.

28

9

reiwerkstatt des Bauhauses, in: Ausst.-Kat. Berlin 1998 (wie Anm. 1),

Eva Badura-Triska (Hg.): Johannes Itten. Tagebücher Stuttgart

1913–1916, Wien 1916–1919, Bd. 2: Kommentar, Wien 1990, S. 20.

10

Erich Pfeiffer-Belli: Junge Jahre im alten Frankfurt und eines

langen Lebens Reise, Wiesbaden/München 1986, S. 312.

11

214

13 14 15

Johannes Itten: Gestaltungs- und Formenlehre. Vorkurs am Bau-

Zit. n. Magdalena Droste: Anpassung und Eigensinn. Die Webe-

S. 11–20, hier S. 12.

29

Friedl Dicker: Der endlose Irrgarten, in: Stickereien und Spitzen,

1926, H. 2, S. 91.

30

Friedl Dicker, Stoffentwurf, Archiv Georg Schrom, Wien. In die-

haus und später, Stuttgart 2003 (Neubearb. von Anneliese Itten), S. 7.

sem Zusammenhang sei auf das 1914 entstandene Gemälde Teppich

12

Rainer Wick: Zwischen Rationalität und Spiritualität – Johannes

der Erinnerung von Paul Klee (Öl auf kreidegrundiertem Leinen, 19 x

Ittens Vorkurs am Bauhaus, in: Das frühe Bauhaus und Johannes Itten.

33 cm, Zentrum Paul Klee, Bern) verwiesen, in dem das Kreuz ebenfalls

Katalogbuch anläßlich des 75. Gründungsjubiläums des Staatlichen

verwendet wird.

Bauhauses in Weimar, hg. v. Rolf Bothe u. a., Ausst.-Kat. Bauhaus-Ar-

31

chiv Berlin, Ostfildern-Ruit 1994, S. 136.

Bauhauses, in: Ausst.-Kat. Berlin 1998 (wie Anm. 1), S. 33–41.

Katharina Hövelmann

Jenny Anger: Klees Unterricht in der Webereiwerkstatt des

32

Abb. in: Klaus-Jürgen Winkler (Hg.): Bauhaus-Alben 3. Weberei,

sie in die Buntweberei Bernheim in Mössingen, die nun unter dem Na-

Wandmalerei, Glasmalerei, Buchbinderei, Steinbildhauerei, Weimar

men Pausa A.G. mit Geschäftssitz in Stuttgart firmierte. Siehe: Berner/

2008, S. 192.

Fifka 2006 (wie Anm. 4), S. 24, 144, 156; Jacob Toury: Jüdische Textil-

33

unternehmer in Baden-Württemberg, 1683–1938, Tübingen 1984,

Gunta Stölzl. Weberei am Bauhaus und aus eigener Werkstatt,

hg. v. Magdalena Droste, Ausst.-Kat. Bauhaus-Archiv Berlin, Berlin

S. 215.

1987, S. 14.

44

34 35

Ausst.-Kat. Darmstadt 1970 (wie Anm. 3), S. 10, 61.

über die ersten Frauen in der Pausa, in: Schwäbisches Tagblatt,

Konsignation von Franz Singer, 19.2.1926, Archiv Georg

28.10.2011, https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Loewenstein-For-

Susanne Wiedmann: Löwenstein-Forschungsverein forscht

Schrom, Wien.

schungsverein-recherchiert-ueber-die-ersten-Frauen-in-der-

36

Pausa-172604.html [Abruf: 23.7.2018].

Katharina Hövelmann: Bauhaus in Wien? Möbeldesign, Raum-

gestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl

45

Dicker und Franz Singer, unpubl. Diss. Univ. Wien 2018, S. 99–114.

Archiv Mössingen, in: Scherer 2013 (wie Anm. 4), S. 343.

37

46

Bauhaus-Archiv Berlin, Fotosammlung, Franz Singer, Inv.-Nr.

Pausa A.G., Arbeitsvertrag mit Friedl Dicker, 7.6.1928, PausaStoffmustersammlung, Archiv Georg Schrom, Wien; Textilien,

7751/8, Inv.-Nr. 7751/25, Inv.-Nr. 7825/18, Inv.-Nr. 7825/47 Inv.-Nr.

Nachlass Franz Singer, Archive of Art and Design, Victoria & Albert

7825/48, Inv.-Nr. 7842/25, Inv.-Nr. 7851/16, Inv.-Nr. 7851/35, Inv.-

Museum, London, AAD 3-1982, PL 8.

Nr. 7851/39, Inv.-Nr. 7917/8, Inv.-Nr. 9420/8.

47

38 39

Droste 1998 (wie Anm. 28), S. 12.

deunterlagen Friederike [Friedl] Dicker, Wiener Stadt- und Landesar-

Abb. in: Klaus-Jürgen Winkler (Hg.): Bauhaus-Alben 1. Vorkurs,

chiv, Schriftliche Auskunft: 17.6.2011.

Laut Meldeunterlagen lebte Dicker bis Juni 1933 in Wien: Mel-

Tischlerei, Drechslerei, Holzbildhauerei, Weimar 2006, S. 77.

48

40

Da Bastfasern aus unterschiedlichen Pflanzen gewonnen wer-

der Firmensitz war in Wien und die Produktionsstätte in Hronov. 1936

den, könnte es sich um ein Gewebe aus Flachs, Jute oder Hanf gehan-

wurde die Firma von der von Hugo Moller geleiteten Textilfirma

delt haben.

S. Katzau mit Sitz in Wien und Produktionsstandort in Nachod-Babi

41

(C.S.R.) übernommen. Siehe Prager Tageblatt, 10.4.1936, S. 10.

Hajo Düchting: Farbe am Bauhaus. Synthese und Synästhesie,

Berlin 1996, S. 13.

42

Franz Singer, Einraumwohnung Hans Heller, Bauhaus-Archiv

Berlin, Fotosammlung, Inv.-Nr. 7751/68.

43

Artur und Felix Löwenstein hatten 1911 die Mechanische We-

49 50 51 52

Die Textilfirma B. Spiegler & Söhne wurde 1879/80 gegründet,

Makarova 1999 (wie Anm. 2), S. 26. Ebd. Ebd., S. 38. Scherer 2013 (wie Anm. 4), S. 360.

berei Pausa im Vogtland gepachtet, erwarben diese 1919 und verlegten

Die Textilien der Bauhaus-Künstlerin Friedl Dicker: Raumgestaltungen und Möbeldesign

215

contemporary architecture and its ancient prehistory, even defining textiles in terms of their “nomadic nature”.2 Despite this unusual approach, the essay has received little critical attention, due in part to the fact that Albers’s facility as a writer is only beginning to be recognized.3 In an attempt to correct this oversight, what follows considers Albers’s contribution to a discourse on textiles in architecture from the perspective of “The Pliable Plane”, teasing out not only its

Anni Albers’s “Pliable Plane”: Writing on Architecture and the Nomadic Textile

major themes and arguments but also the way in which it represents its subject through both text and image. “The Pliable Plane” first appeared in the journal Perspecta, a publication of Yale University’s department of architecture. Albers and her husband Josef Albers had moved to New Haven, Connecticut, in

Jordan Troeller

1950, leaving their posts at Black Mountain College in North Carolina, where they had both taught from

A prolific writer during her seven-decade-long

1933 – the year they emigrated from Germany to the

career, the weaver and artist Anni Albers published

US – until 1949. Although Anni Albers had been

numerous articles and three books on textiles, design,

employed as an assistant professor, teaching weaving,

and architecture, as well as on pre-Columbian art,

when the couple moved to New Haven for Josef’s

whose achievements in weaving she admired as

appointment at Yale’s School of the Fine Arts, she was

unsurpassed.1 This essay focuses on her most pro-

not offered a position. This was likely due to the

grammatic statement on the subject of textiles in

university’s policy at the time, which restricted

architecture. Titled “The Pliable Plane: Textiles in

teaching by faculty spouses.4 Nevertheless, Albers

Architecture”, it appeared in 1957, at the height of her

lectured across the country, presenting her ideas on

career. The decade was her most prolific, marked by

textiles and design at universities, galleries, and

the highest number of weavings (26) produced in a

museums. She also took on private students, including

ten-year span. Born in Germany and trained at the

the fiber artist Sheila Hicks.5

Bauhaus during the 1920s, Albers’s postwar period in

Albers’s 1957 article originated in lectures that

America was also a time in which she collaborated

she gave to architectural students at Yale, likely in Fall

with architects, including Louis Kahn, Philip Johnson,

1955.6 Because of the university’s policy against

Walter Gropius, and Marcel Breuer, designing textiles

female instructors, these lectures were held in the

for their new buildings. Although her essay may be

early mornings as to avoid notice by the rest of the

interpreted as a reflection on those collaborations, it

university. They took place in the Yale Art Gallery,

curiously does not mention them. Instead, Albers

which housed the students’ drafting studios and had

defines textiles as sharing the qualities of both

been completed in 1953 according to designs by Louis

Anni Albers’s “Pliable Plane”: Writing on Architecture and the Nomadic Textile

217

Ill. 1: Anni Albers card weaving at Black Mountain College, undated and unattributed photograph, State Archives of North Carolina, Black Mountain College Research Project (Visual materials, Box 90)

Kahn. Little is known of their content, but as one

could be done simply by tying threads to one’s own

former student recalls, “[w]e discovered from her that

body and then attaching them to another stable object

textiles might probably have been the very first

(ill. 1).8 It was an exercise that demonstrated the basic

architectural ‘overheadness’, or shelter […]. We also

principles of weaving with few and easy-to-obtain

learned how to twine with a series of cards”.7 This was

materials.

a simple exercise, also known as ‘card’ or ‘tablet’

218

During these lectures at Yale – of which no

weaving, in which students practiced basic forms of

teaching notes survive – Albers may have spoken on

binding thread together without a loom, one that

design as an artistic process that spanned media. This is

Jordan Troeller

suggested by one of her talks, entitled “Design as Visual

It was not only the all-male faculty that enthusi-

Organization”, which was given at Yale around 1958. In

astically supported Albers’s ideas on architecture and

that lecture, Albers speaks on design as a process in

textiles, the students also played a large role. It is

which the artist should not express him- or herself, but

significant that the publication in which “The Pliable

rather pay close attention to the materials at hand,

Plane” appeared was a student-run journal, suggesting

seeking to understand their properties and behavior.

that the impetus for its publication came directly from

In doing so, she offers a definition of her subject:

the student body. These were students who were

“Architecture, for instance, is concerned with space:

about to embark on careers at the forefront of their

with enclosing space, with extending into space, and

field. The journal’s editor, for example, was Marshall D.

with gravity and tension. Though sculptural elements

Meyers, who was finishing up his MA at that time and

(arrangement of masses), painterly elements (light,

later joined the architectural office of Louis Kahn.

shadow, color) and textural elements (inherent structure

Kahn was also a contributor to the issue, in addition to

of material and marks of working it) are also present,

other well-known figures, including Erich Mendelsohn

these should speak only quietly, not dominantly”.

and Richard Neutra, as well as the artists Ben Shahn

9

This statement recalls the encompassing definition of

and Henri Matisse, who argued for the importance of

architecture that circulated at the Bauhaus, where

drawing in his color-dominated painting. The line-up,

Albers enrolled as a student in 1922. At the German

in other words, speaks to the students’ broad under-

school of art and design, architecture inflected all media,

standing of architecture, with topics ranging from

from metal-working, to color theory and painting, to

concrete plans for a plaza, to architectural history, to

glass and collage, to weaving – a broad definition that

contemporary debates around regionalism versus

Albers here draws upon nearly thirty years later.

internationalism, to architecture’s relationship to the

That the architecture faculty took the risk of allowing Albers to teach speaks to the relevance they

visual arts, including weaving. That Albers appears at all in this journal is rather

saw in her ideas. In 1952, the chair of the department,

remarkable: she is, we should immediately point out,

George Howe, sent Albers a letter, thanking her for

the only woman in an otherwise entirely male cast of

sending him her articles, which he read, he says, “with

characters. It was not that Albers would have been

delight”. He goes on to say that they overlap with his

entirely unknown to architects and designers: a

own thinking: “Your point of view about Design and

decade earlier, in 1949, her retrospective had opened

the Machine, with their constantly recurrent problems

at The Museum of Modern Art in New York. It was the

of balanced choices, so coincides with my own about

first by a weaver in the museum’s history, and it was

Architecture and Structure”. And then at the end: “We

organized in part by the director of its architecture and

shall talk about the seminars again soon. Analogies are

design department, Philip Johnson.12 Nevertheless, her

the most useful tools of instruction”. Although we do

work had an oblique relationship to architecture;

not know whether Howe had architecture and weav-

whereas one could see how Matisse’s defense of

ing in mind when he used the word “analogies”, it is

drawing might appeal to students learning architec-

nevertheless a useful term in describing Albers’s

tural draftsmanship and Shahn’s contribution discusses

interdisciplinary approach to her subject – an approach

his murals, Albers’s work didn’t have such a direct

that even structures the language of her essay.

bearing on the field. Hers was almost metaphorical:

10

11

Anni Albers’s “Pliable Plane”: Writing on Architecture and the Nomadic Textile

219

she spoke of her pictorial weaving as “a kind of

provide for the many subdivisions and backgrounds it

portable mural”.13

needs” (PP, 40). Mobility of object (and even of image)

What made textiles architectural, in her mind, was that the process of weaving was a process of

ingly, the right panel depicted in the photograph is

construction, of what she calls ‘building-up’. By virtue

itself a photograph of a room divider, likely of a sample

of its structure as a grid (in the form of the perpendic-

not yet produced and one whose construction was

ular crossing of warp and weft), fabric was, for Albers,

very similar to this 1949 example of jute and Lurex.

a surface to be engineered, rather than decorated. The

Albers seems to have had the photographic detail

finished textile defined space and, in some cases,

blown up to full-scale proportions and either installed

functioned to compensate for (or even conceal) flaws

onto a wall or onto a free-hanging panel, as if to

in a room’s interior. Such fabrics primarily took the

resemble the other room dividers. A very similar

form of room dividers, wall-coverings, and curtains.

print – if not made from the same negative – appears

She describes her room dividers, for example, as

as the second illustration in “The Pliable Plane” (PP,

“integral architectural elements, as counterparts to

37). A topic to which I will return, photographs played

solid walls” (“The Pliable Plane: Textiles in Architec-

an important role in representing weaving to her

ture”, henceforth PP, 40). These fabrics were architec-

reading public.

tural because they were not ornamental; they pre-

Albers had learned to weave at the Bauhaus,

sented, “instead of mainly patterns, overall textural

where Paul Klee, she later recalled, often described a

designs and solid colors. By introducing materials

well-designed fabric as a “serving object”.15 Although

suited to portioning sections of interiors, they have

Albers cited Klee’s definition in her postwar writings,

contributed specifically to impressions of spaciousness

her own was more nuanced. In the 1957 essay, she

and lightness in our living areas, that is to tranquility”

defined architectural textiles in the terms of mobility.

(ibid.).

“Curtains”, she writes, “are drawn open or closed,

Several room dividers were on view in her

letting in light or shutting it out, thereby changing

exhibition at The Museum of Modern Art, with one

dramatically the appearance of a room. As table mats

photograph portraying these near an example of her

or tablecloths they are put on and taken off again; as

upholstery fabric on a chair (ill. 2). These dividers were

bedspreads they are removed at night. They can be

semi-transparent planes that both demarcated interior

lifted, folded, carried, stored away and exchanged

space and regulated the penetration of light into those

easily” (PP, 39 f.). Albers pointed out that this character

spaces. Some screens were of opaque materials, such

of mobility had a direct bearing on interior space in the

as the broad wooden panels that comprise the divider

“now immobile house”. Comparing such household

on the left in this photograph, while others bore more

fabrics to clothing, she continues, which we can think

transparent, open weaves. Still others offered reflec-

of as “a secondary skin, we might enlarge on this

tive properties through the use of metallic threads,

thought and realize that the enclosure of walls in a

such as Lurex (ill. 3).14 Hung from the ceiling, these

way is a third covering, that our habitation is another

panels could, moreover, be easily moved. Albers even

‘habit’” (ibid.).16

suggested their use in exhibition design: “A museum could set up textile panels instead of rigid ones, to

220

was central to Albers’s conception of textiles. Interest-

Jordan Troeller

One of the major themes of “The Pliable Plane” is how modern textiles, by virtue of their structural as

Ill. 2: Installation view of the exhibition Anni Albers Textiles, 14 September – 6 November 1949, Gelatin silver print, 19 x 24.1 cm, Photograph: Soichi Sunami, The Museum of Modern Art Archives, New York (IN421.1)

Anni Albers’s “Pliable Plane”: Writing on Architecture and the Nomadic Textile

221

Ill. 3: Anni Albers, Free-Hanging Room Divider, c. 1949, handwoven jute and lurex, 134.6 x 86.3 cm, The Museum of Modern Art, New York, Gift of the designer (410.1960)

222

opposed to decorative character, introduce aspects of

cally the felt-lined yurts of Outer Mongolia (PP, 39),

architecture’s nomadic prehistory into the contempo-

she argues for the inherent similarities between

rary, “settled”, interior. Albers locates in both architec-

textiles and nomadic architecture. She even saved a

ture and textiles, a shared prehistory, what she calls

newspaper clipping that, for her, must have referenced

their quality as “ancient crafts”. Predating ceramics and

this nomadic character, with a gathering of men seated

metal work, both textiles and architecture “had in

in front of a large circular tent, while horses and herd

common the purpose of providing shelter, one for a

animals populate a mountainous plain (ill. 4). Finding

settled life, the other for a life of wandering, a nomadic

shared ground between this cultural context and her

life”. Citing the tent as “the textile house”, and specifi-

own in postwar America, Albers writes: “Perhaps it is

Jordan Troeller

the restlessness of our manner of western living that has to be achieved by a planned simplicity, a strong subordination of details to the overall conception of an architectural plan” (PP, 40). As structural objects, textiles addressed themselves to the modern nomad, creating the interior as a space of stability in an increasingly transient, global culture. In arguing for textiles as space-defining elements, Albers curiously does not name her own

Ill. 4: Clipping from the New Haven Register (3 October 1963) in Anni Albers’s papers, Josef and Anni Albers Foundation (AA 32.13)

achievements, nor does she mention those of her fellow weavers, present and past. Otti Berger is one obvious omission. Albers’s colleague at the Bauhaus,

Mexico, Chile, and Peru, that she deepened her

Berger was the first to write about this dimension of

knowledge of these ancient weaving traditions.

textiles, publishing her important article on textiles in

In spring 1952, moreover, she took a course on

space in 1930 – an article that Albers surely knew.17

pre-Columbian cultures with George Kubler in Yale’s

Albers shares with Berger an understanding of textiles

anthropology department. During this period, she

as structural, rather than ornamental, objects,

closely analyzed ancient Andean textiles at the same

whose properties can be identified and analyzed.

time as she increasingly spoke about weaving in

“We research the relationships in the textile between

architectural terms.

color and material, between color and structure, and

What Albers had in mind by “excavations in the

we see that, with these means, the possibilities for

last decade” was a very specific discovery: that of the

fabrics are virtually endless”, a view that Albers

oldest known cotton fragments in North and South

shared.

America, found in 1946 at a site in northern Peru by

18

One notable exception to Albers’s silence on her

the anthropologist Junius Bird at The American

fellow weavers is the invocation of ancient Peruvian

National History Museum in New York. Kubler had put

weavers. Early on in the essay, she writes: “Initial

Albers in touch with Bird for her research. Her dia-

attempts [at producing fabrics] must have been

logue with Bird included detailed discussions about

concerned mainly with thread construction. In fact,

Andean weaving techniques.19 As “structural experi-

excavations in the last decade in northern Peru

ments”, these ancient fragments became a precedent

brought to light innumerable small pieces of cloth that

for and an affirmation of her own conception of

seem useless in their limited size unless understood as

weaving as a process of construction. The Huaca

structural experiments. The earliest specimens show

Prieta fragments in particular were pivotal. In one of

textile techniques other than weaving [and here Albers

her surviving lectures, she introduced her concept of

had in mind techniques like card weaving] but gradu-

textiles as “pliable planes” with reference to these

ally weaving evolved and finally took over” (PP, 36).

ancient fragments, showing two slides: one “from the

Albers had first learned of such textile fragments in

Huaca Prieta digging, and a diagram of twining”.20

Germany’s ethnographic collections, but it was in the

While the slide of the archaeological site does not

US, when she and her husband began traveling to

survive, the diagram appears in On Weaving and

Anni Albers’s “Pliable Plane”: Writing on Architecture and the Nomadic Textile

223

represents one of the early “techniques other than

surface that would also distribute the room’s artificial

weaving”, which she describes above.21

lighting. In stark contrast to Le Corbusier’s wall-cover-

Instead of citing Berger’s work or discussing her

visual interest instead derived from the warp and weft

textiles, Albers curiously names only those of contem-

of its structure as a woven surface.

porary male architects. She singles out Mies van der

Insulating and reflective qualities would become

Rohe, who, she writes, “was one of the first to use

characteristic of Albers’s architectural fabrics in the

them in this architectural form” and Le Corbusier, who

decades to follow. This side of Albers’s weaving

“in a different way, incorporates textiles into an

remains little known. Identified commissions include:

architectural scheme, using them as enormous flat

curtains for Rena Rosenthal’s Madison Avenue store,

wall-panels, banners that carry color and form and

circa 1935 (now in the Cooper Hewitt Museum); very

serve perhaps also as sound-absorbing flats. Above all,

likely a wall-covering for the Robert and Cecelia Frank

they become a focal point, as in the halls of his Indian

House in Pittsburgh, designed by Marcel Breuer in

High Court of Justice at Chandigarh” (PP, 40). Describ-

1940; curtains for Philip Johnson’s Rockefeller Guest

ing these as “pictorial walls”, Albers refers to several

House in New York City in 1949; and room dividers

monumental abstract tapestries that Le Corbusier had

and bedspreads for Walter Gropius’s Harvard Graduate

designed as part of his plans for the court building in

Center, also in 1949. Albers also completed two sets

Chandigarh, India, in the mid-1950s. Almost as tall and

of fabric-covered panels to cover the holy ark, one for

wide as the interior’s walls, these panels functioned to

the Temple Emanu-El in Dallas, which was featured in

deliver color, form, and symbolic content, into the

Life magazine in 1957, and the other for Congregation

room. Le Corbusier even conceived of one section,

B’nai Israel in Woonsocket, Rhode Island in 1962.24

portraying triangles and rods, as representing the metaphorical scales of justice (ill. 5).

22

Such tapestries constitute a very different

Albers’s conception of textiles in architectural space differed dramatically from her peers, and especially from Le Corbusier. Whereas Le Corbusier

proposal about the role of textiles in architectural

treated fabrics as pictorial elements, more akin to

space, as Albers herself points out. But in only reading

tapestries, Albers emphasized their structural charac-

Albers’s essay one would miss just how different the

ter. Already during her time at the Bauhaus, ‘Struktur­

two orientations were. Her mention of the tapestry’s

stoff’, or structural fabrics – a term that the weavers

possible “sound-absorbing” qualities recalls Albers’s

likely invented and enthusiastically discussed (often

first major architectural commission: a wall-covering

with Hannes Meyer) – became a distinct realm of

produced for Hannes Meyer’s auditorium at the ADGB

experimentation.25 By composing directly on the hand

Bundesschule in Bernau, Germany. According to

loom, the weavers could try out different thread

Albers’s recollections, Meyer had asked if she could

materials and binding techniques, observing how these

design a fabric that would dampen the room’s echo,

threads responded to the weave, but also how they

which had come about as a structural flaw in its cubic

interacted with one another in combination with

design. She devised a double-weave construction

ambient space. Albers was quite consistent in her

that featured chenille on the back, as sound-insulation,

preferences and almost always combined natural and

and cellophane on the front, creating a shimmering

synthetic fibers: such as jute or cotton for the warp

23

224

ing, the Bernau textile featured no figural elements; its

own accomplishments in the field of architectural

Jordan Troeller

Ill. 5: Main courtroom of the High Court at Chandigarh, India, 1951–56, with tapestry designed by Le Corbusier, Photograph: Manuel Bougot, 2011

Anni Albers’s “Pliable Plane”: Writing on Architecture and the Nomadic Textile

225

Ill. 6: Page from Anni Albers’s essay ‘The Pliable Plane: Textiles in Architecture’, in Perspecta: The Yale Architectural Journal 4 (1957)

(due to the tension that these threads had to bear on

The Museum of Modern Art, the images appear to

the loom) with weft threads of cellophane, Lurex, and

have come from her exhibition in 1949. That these

other newly developed fibers.

photographic pairs take up entire pages seems to

Photographs of Albers’s textiles exemplify this

226

have been a decision that she herself made. Albers

emphasis on structure as the foundation of textile’s

stressed elsewhere that “small reproductions become

nomadic character. The 1957 essay includes six

somewhat meaningless”.26 Moreover, to have been

photographic illustrations; these are paired and

able to include so many images, given the essay’s short

displayed on three full pages (ill. 6). Credited in part to

length, suggests that Albers was held in high regard

Jordan Troeller

Note s

by the students running the journal. Subsequent reprints of the essay, in On Designing and in the magazine Craft Horizons (both in 1959), include far fewer images. Three of the photographs in “The Pliable Plane”

This essay owes a great deal to the staff at the Josef and Anni ­Albers Foundation, especially to Brenda Danilowitz, Karis Medina, and Sam McCune, who all generously fielded questions on Anni Albers’s life and work. I’m also grateful to Briony Fer for inviting me to present early

also appear in her book On Weaving (1965).27 Here,

thoughts on Albers’s relationship to architecture at the Tate Modern

too, photographs play a substantial role, comprising

1

more than half of the 1965 publication. What seems to have been important for her was not only large reproductions, but close-ups, such that the construction of the weave was prioritized over and above the

For a collection of Albers’s writings, see Brenda Danilowitz ed.,

Anni Albers: Selected Writings on Design (Middleton, CT: Wesleyan University Press, 2000). Albers’s three books are: On Designing (New Haven: Pellango Press, 1959), which gathers a different selection of her essays; On Weaving (Middletown, CT: Wesleyan University Press, 1965); and Pre-Columbian Mexican Miniatures (New York: Praeger,

overall format and orientation of that weave in

1970). She dedicated her book On Weaving “to my great teachers, the

architectural space. And when one compares the

2

photographs that appear in both On Weaving and “The Pliable Plane” one sees that Albers freely cropped and re-orientated the image given the page format. She takes these measures in order to present the image as

weavers of ancient Peru”. Anni Albers, ‘The Pliable Plane: Textiles in Architecture’, Per-

specta: The Yale Architectural Journal  4 (1957): p.  39 (hereafter cited parenthetically as ‘PP’). The essay was republished during Albers’s lifetime in On Designing, as well as in abridged form as ‘Fabric, the Pliable Plane’ in Craft Horizons 18, no. 4 (July–August 1958): pp. 15–17.

3

See, for example, T’ai Lin Smith, ‘On Reading On Weaving’, in

large as possible, regardless of whether it skews the

Anni Albers, On Weaving, new expanded edition (Princeton, New Jer-

reader’s understanding of the fabric’s orientation in

4

space.

sey: Princeton University Press, 2017), p. 234–249. As suggested by James McNair in correspondence with Brenda

Danilowitz, see also Brenda Danilowitz, unpublished lecture (Yale Uni-

Albers’s ends her essay with an appeal for “a new understanding between the architect and the inventive weaver” (PP, 40). By “understanding”, Albers meant that weavers should be taken as seriously as architects, rather than as an “afterthought”. Her argument was in part a call for equality, between architects and weavers as well as between the predominantly male and female practitioners that made up those respective fields in the 1950s. But if Albers’s

versity, 18 November 2013).

5

Sheila Hicks reflected on her sessions with Anni Albers, recalling

how Josef Albers “drove me to their modest house in the suburbs of New Haven, a 15-minute journey from the school”, and introduced her to Anni. “I sat with Anni in the living room on a ripped-out automobile seat that served as a sofa, showing her the experiments I was struggling with. I remember that she had a small, standing floor loom in a room off to the side of the living room, where she was weaving. […] If Josef had awakened me to the world of color and ways of using color in his teaching at the school, I believe that, in the six or seven brief meetings I had with Anni, she helped me to think about structure”. Sheila Hicks, ‘My Encounters with Anni Albers’, Tate Etc.  44 (Autumn 2018) (accessed 13 November 2018). Anni Albers refers to the lectures in a letter to Josef Albers

(dated 5 July 1955), quoted in Frederick A. Horowitz and Brenda Danilowitz, Josef Albers: To Open Eyes: The Bauhaus, Black Mountain College, and Yale (London: Phaidon, 2009), p. 63. According to Albers‘s letter, the lectures were initiated by Paul Schweikher, then chair of ­Yale‘s School of Architecture.

7

James McNair, e-mail correspondence to Brenda Danilowitz,

1 December 2004, in Horowitz and Danilowitz, Josef Albers: To Open Eyes, p. 63. The place and time of the seminars is described here by McNair.

Anni Albers’s “Pliable Plane”: Writing on Architecture and the Nomadic Textile

227

8

Católica School of Architecture in Chile, a trip on which she accompanied him.

Albers devised numerous ways of teaching without looms given that

17

these were only later set up at Black Mountain College; see Neil Welli-

pp. 143–145.

ver, ‘A Conversation with Anni Albers’, Craft Horizons 25, no. 4 (July– August 1965), p. 43.

18 19

9

sure” his recent article on the excavation of these cotton fragments

Anni Albers, ‘Designing as Visual Organization’, in Danilowitz,

Otti Berger, ‘Stoffe im Raum’, ReD (Prague)  3, no.  5 (1930), Berger, ‘Stoffe im Raum’, p. 143 (author’s translation). In a letter to Bird, she mentions having read “with great plea-

Anni Albers: Selected Writings on Design, p. 62.

(Anni Albers to Junius Bird, 21 April 1952, Josef and Anni Albers Foun-

10

dation, AA 6.38). The article to which she refers is very likely: Junius

George Howe to Anni Albers, 2 July 1952 (Josef and Anni

­Albers Foundation, AA 6.20).

Bird and Joy Mahler, ‘America’s Oldest Cotton Fabrics’, American Fab-

11

rics, no. 20 (Winter 1951–52).

Albers even begins her essay in such terms: “If the nature archi-

tecture is the grounded, the fixed, the permanent, then textiles are its

20

very antithesis. If, however, we think of the process of building and the

script, p. 2 (Josef and Anni Albers Foundation, AA 28.21).

process of weaving and compare the work involved, we will find similarities despite the vast differences in scale” (Albers, ‘PP’, 36).

21 22

12

Brenda Danilowitz, ‘Anni Albers: Free-Hanging Room Divider’, in

Chandigarh, India, 1951 – 66, with texts by Hélène Bauchet-Cauquil and

Leap Before You Look: Black Mountain College 1933–1957, ed. Helen

Françoise-Claire Prodhon (Paris: Galerie Patrick Seguin, 2014),

Molesworth with Ruth Erickson, exh. cat. Institute of Contemporary Art

pp. 316–323.

Boston, Mass. (New Haven: Yale University Press, 2015), p. 176. Albers, in Welliver, ‘A Conversation with Anni Albers’, p. 45.

23 24

Newly available in 1946, Lurex was a synthetic, film-coated fi-

dresses the full-range of Albers’s architectural commissions. The previ-

ber; see Danilowitz, ‘Anni Albers: Free-Hanging Room Divider’, p. 176.

ously cited unpublished lecture by Brenda Danilowitz, given at Yale in

A close look at the range of Albers’s production in the postwar period,

2013, comes closest. See also the section on architecture in Briony Fer,

which employs Lurex in various sizes and techniques, makes clear that

‘Close to the Stuff the World is Made of: Weaving as a Modern Project’,

she was especially interested in this material.

in Anni Albers, ed. Ann Coxon, Briony Fer and Maria Müller-Schareck,

15

exh. cat. Tate Modern, London (Munich: Hirmer, 2018), pp. 20–43. On

13 14

228

I thank Ismini Samanidou for advising me on the technique of

tablet weaving and for suggesting its possible use in Albers’s teaching.

Anni Albers in ‘Fabrics’, Arts and Architecture (March 1948), p. 33.

Anni Albers, untitled lecture, New Haven, October 1963, typeSee plate 28 in Albers, On Weaving (2017). Laurence and Patrick Seguin ed., Le Corbusier, Pierre Jeanneret –

Welliver, ‘A Conversation with Anni Albers’, p. 42. To date, there exists no single-authored publication that ad-

For Paul Klee, see Charlotte A. Healy’s contribution in this volume.

her religious commissions, see Ann Coxon, ‘Temple Commissions and

16

Ibid. With the title ‘Habitation is a Habit’, artist Zoe Leonard

Six Prayers’, in that same volume (Anni Albers, Tate Modern, London,

published, alongside a reprint of Albers’s ‘The Pliable Plane’, a series of

pp. 144–151) and Kelly Feeney, ‘Anni Albers: Devotion to Material’, in

photographs that she had taken of commonplace textiles from her own

Anni Albers, ed. Nicholas Fox Weber and Pandora Tabatabai Asbaghi,

home. The series both responds to and provides a visual interpretation

exh. cat. Guggenheim Museum, New York (New York: Guggenheim

of the 1957 essay; see Center for Curatorial Studies, Bard College, Inte-

Foundation, 1999), pp. 118–123.

riors, ed. J. Burton, L. Cooke and J. McElheny (Berlin: Sternberg Press,

25

2012), pp. 44–53. It is also noteworthy that the term ‘habitat’ was cir-

‘Scenes from the Archive: Photography, Objecthood, and the Bauhaus’

culating in architectural discourse in the 1950s, most prominently at

(Ph.D. diss., Harvard University, 2018), pp. 305–386.

the tenth CIAM conference, held in 1956 in Dubrovnik. It is likely that

26

Albers would have been exposed to these ideas while teaching at Yale,

1959 (Josef and Anni Albers Foundation, AA 9.6).

but perhaps also through her husband’s courses for architecture stu-

27

dents, such as those he gave in 1953 at the Pontificia Universidad

illustrate here, with plate 57 in Albers, On Weaving (2017).

Jordan Troeller

I discuss this further in the last chapter of my dissertation

Anni Albers to Olga Gueft, editor of Interiors magazine, 22 April Compare, for example, the top photograph, on the page that I

begann Deutschland als aufstrebende Industrienation den Briten die Vormachtstellung auf See streitig zu machen. Die Gesellschaften versuchten sich, abgesehen von technischen Höchstleistungen, vor allem im Innenausbau der Passagierschiffe gegenseitig zu übertrumpfen. Innenarchitekten und Künstler trugen mit ihrem gestalterischen Können, mit durchdachten, handwerklich hochwertigen Entwürfen und luxuriösen Ausstattungen als Botschafter das kreative Knowhow

Textile Moderne unterwegs: Innenausstattung von Schiffen und Zügen durch die Deutschen Werkstätten Klára Němečková und Kerstin Stöver In enger Symbiose mit der rasant zunehmenden Industrialisierung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich auch die Verkehrsmittel. Der Bewegungsradius der Menschen wurde größer, und

eines Landes über die Ozeane.1 Die textile Ausstattung spielte bei den ersten in modernem Stil umgesetzten Schiffsinterieurs noch eine geringe Rolle. Zwar kam es auch hier zu einer Veränderung der Ornamentik und des eingesetzten Materials, aber die neue Formen­ sprache wurde über dekorative Metallelemente oder geschnitzte Motive transportiert. Vor allem ab den 1920er Jahren kam den Textilien eine immer größere Bedeutung der Raumbildung zu, wie im Folgenden dargelegt wird.

Deut scher Werkbund  – Motor der Erneuerung sbeweg ung i m Tra nsp ort wesen

Strecken ließen sich schneller bewältigen. Nach der Gründung des Deutschen Reiches bauten die einzel-

Von Beginn an wurden die exklusiven Passagier-

nen Teilstaaten ihre Staatseisenbahnen umfangreich

schiffe, die hauptsächlich zwischen Europa und

und mit steigendem Komfort aus. Auf den Ozeanen

Nordamerika verkehrten, zu Symbolen für die wirt-

lösten schnellere Dampfschiffe die wetterabhängigen

schaftliche, technische und kulturelle Entwicklung

Segelschiffe ab. Die Zeit der Kaufmannsreeder ging

eines Landes. Es verwundert deshalb nicht, dass viele

vorbei. Hohe Baukosten für die neuen, mit Dampfma-

der Erneuerungsbestrebungen zur anspruchsvollen

schinen betriebenen Schiffe erforderten den Zusam-

Inneneinrichtung der Schiffe vom Deutschen Werk-

menschluss zu Gesellschaften wie dem Norddeut-

bund, der um 1907 gegründeten Vereinigung von

schen Lloyd und der Hamburg-Amerikanischen

Künstlern, Architekten, Unternehmern und Sachver-

Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG). Bald

ständigen, ausgingen, die sich um die Verbesserung

entspann sich ein internationaler Wettstreit zwischen

der Qualität und Form in Gestaltung und Architektur

den europäischen Reedereien. Mit dem 1898 fertigge-

einsetzten. Es war ein stetiges Ringen um modernes

stellten Passagierschiff Kaiser Wilhelm der Große

Kunstgewerbe in den fortschrittlichen Verkehrsmitteln.

Textile Moderne unterwegs: Innenausstattung von Schiffen und Zügen durch die Deutschen Werkstätten

229

Mehrfach widmete der Deutsche Werkbund dem

Norddeutschen Lloyd von 1897. Der Architekt Johann

Thema Aufsätze und 1914 sogar ein ganzes Jahrbuch.

Georg Poppe, Hauptvertreter des Historismus in

Bruno Paul schrieb darin zu Schiffsausstattungen:

Bremen, trug für die Ausstattung dieses und weiterer

„Nirgends wurde der Kontrast zwischen dem hohen

Dampfer die Verantwortung: „Von ihm und den

Stande technischer Entwicklung und dem Niedergange

Werkstätten von Bembé und Pfaff stammt das, was

und der Unzulänglichkeit der Leistungen dekorativer

bisher in den Schiffen des Lloyd an dekorativer Kunst

Kunst so fühlbar, wie beim Anblick einer Schiffsein-

angewandt wurde, um mit dem unübertroffenen

richtung zu Beginn dieses Jahrhunderts.“2 Kritisiert

Komfort, mit der sicheren Schnelligkeit der Fahrzeuge

wurde vor allem das Auseinanderklaffen der technisch

auch die stilvolle Behaglichkeit des Wohnens zu

herausragenden Leistungen und die Verwendung

vereinigen, so gut die Zeit das eben verstand.“4

historischer Stile in den Interieurs, die die Illusion

Die Annehmlichkeiten des heimischen Salons auf

erzeugen sollten, als seien die Reisenden in einem

das Schiff zu transferieren, war die Intention der

Haus auf festem Boden. Stattdessen sollte neues

Ausstatter.

Kunstgewerbe zur Geltung kommen und nicht über-

dampfern, etwa der Kronprinzessin Cecilie (1906/7), die

des Deutschen Werkbundes, die diese Entwicklungen

Innenausstattung der repräsentativen Gesellschafts-

beschleunigen und umsetzen konnten. Während die

räume. Für die Einrichtung der Kabinen der Erste-Klas-

Schiffe von HAPAG und Norddeutschem Lloyd

se-Passagiere jedoch initiierte der Lloyd eine Aus-

unmittelbar zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch im

schreibung, die sich vor allem an junge Gestalter mit

Stil des Historismus ausgestattet wurden, gehörten die

modernen, neuen Ideen wandte. Die bevorzugten

genannten Reedereien in den 1910er und 1920er

Räume zum Gegenstand eines Wettbewerbes unter

Jahren, auch auf Initiative des Deutschen Werkbun-

einer Anzahl von Künstlern zu machen, die aufgefor-

des, zu den ersten, die moderne Architekten beauf-

dert wurden, sich mit dem Thema der Schiffsausstat-

tragten und repräsentierten somit eine Veränderung

tung zu beschäftigen, war der ebenso originelle wie

im deutschen Schiffsdesign.

glückliche Einfall Heinrich Wiegands – Generaldirektor

3

Die Ozeandampfer zeichneten sich um 1900

230

Poppe übernahm auch auf weiteren Passagier-

kommener Luxus ausgestellt sein. Es waren Akteure

des Norddeutschen Lloyd.5 Die Künstler, die Wiegand

besonders durch eine exklusive und bequeme Ausstat-

auswählte, waren Bruno Paul, Richard Riemerschmid

tung im gängigen Stilmix der Zeit aus: schwere, reich

und Joseph Maria Olbrich.6 Damit wurden erstmalig

verzierte Dekorationsgewebe in gedeckten Farben

namhafte deutsche Innenarchitekten beauftragt und

waren unter anderem zu ausladenden Portieren und

die Bedeutung einer modern gestalteten Ausstattung

Vorhängen verarbeitet; dunkle mit goldornamentier-

aufgewertet – über die reine Behaglichkeit hinaus.7

tem Leder bezogene Möbel und ausschweifende Orna-

Alle genannten Architekten gehörten zu den Grün-

mente dominierten in der Raumgestaltung. Deutlich

dungsmitgliedern des Deutschen Werkbundes. Mit der

wurde dieser scharfe Kontrast zwischen tradierter

Gestaltung von Schiffsinterieurs hatte bislang lediglich

Innenausstattung und der modernsten technischen

Riemerschmid Erfahrung. Seine Entwürfe wurden von

Anforderungen entsprechenden Hülle an dem mit vier

den Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst

großen Schornsteinen versehenen, damals spektakulä-

umgesetzt, alle anderen von den Vereinigten Werk-

ren Schnelldampfer Kaiser Wilhelm der Große des

stätten für Kunst im Handwerk in München.

Klára Němečková und Kerstin Stöver

Riemerschmid stand seit 1902 bei den Dresdner

einheitliche Farbe der Textilien. Die roten Bezüge der

Werkstätten unter Vertrag. Als letzter Punkt in der

Sitzmöbel des Salons sowie die gleichfarbige Tagesde-

handschriftlichen Vereinbarung war folgendes ver-

cke des Bettes waren schlicht und ohne Musterung.

merkt worden: „Entwürfe von Schiffseinrichtungen

Sie wirkten edel und unterstützten die gestalterische

wird Herr Riemerschmid ausschließlich den Dresdner

Kraft der Möbel. Lediglich ein Stuhl neben dem Bett

Werkstätten für Handwerkskunst zur Ausführung

war mit einem hellen, dunkel gemusterten Leinen­

geben, sofern die selben sich um die Erlangung solcher

gewebe bezogen. Das gleiche Gewebe wurde später

bemühen, beziehentl. eine Ausführung nach Riemer-

auch als Bezugstoff für ein Sofa von Gertrud Klein­

schmid’schen Entwürfen übertragen erhalten.“ Bereits

hempel verwendet.14 Eine Variante in Braun mit gelben

1905 wurden erste Einrichtungen für Offiziersmessen

Akzenten befindet sich in der Sammlung des Museum

und Kommandantenräume auf deutschen Kriegsschif-

of Modern Art, New York.

8

fen nach Entwürfen Riemerschmids durch die Dresd-

Im Herrenzimmer dominierte dunkelgrünes Leder.

ner Werkstätten für Handwerkskunst realisiert.9 Hier

Der Gesamteindruck „wird [dadurch] im nächsten

lag der Schwerpunkt nicht auf der besonderen

[diesem] Raum gesteigert.“15 Während dieses Ensemble

Gestaltung der textilen Ausstattung. Lediglich helle

das Gefühl eines „behagliches Stübchen[s]“ in „traulicher

Leinentischdecken mit einem schmalen einfarbigen

Abgeschlossenheit“ vermittelt,16 wurden die Entwürfe

Bordürenband an der Kante und in der Mitte gehörten

von Bruno Paul für die Kabinen desselben Schiffes in

neben einfachen Gardinen zum textilen Inventar der

der Zeitschrift Die Kunst als klarer und nüchterner

Offiziersmesse der Prinz Adalbert; für die Danzig war

beschrieben; „sachlich, praktisch, vernickeltes Metall,

im Kommandantensalon eine dunkle Leinendecke mit

dazu passend anspruchslose, kleinmustrige Möbelstof-

umlaufenden schmalen Strich-Punkt-Zierlinien in

fe“17. Sie wurden von den Vereinigten Werkstätten in

heller Kurbelstickerei vorgesehen. Dasselbe Motiv

München hergestellt, die mit den Deutschen Werkstät-

zierte auch eine Decke von 1912. Zwischen 1905

ten den Reedereien vergleichbar um Vormachtstellung

und 1910 entstanden solche unifarben hellen oder

auf dem Markt rangen. Die modernen Gewebe nach

dunklen Tischdecken und Vorhänge mit sparsamen

1900 mit kleinen Flächenmustern, die vegetabile Motive

farblich kontrastierenden Stickereibordüren in größe-

ins Ornamentale auflösten, oftmals sich auf eine

rem Umfang nach Riemerschmids Entwürfen und

geometrische Linienführung reduzierten und insgesamt

finden sich noch 1912 im Preisbuch Dresdner Hausge-

eine ruhige Wahrnehmung vermittelten, sollten – wie

rät der Deutschen Werkstätten.

auch auf der Kronprinzessin Cecilie – den ästhetischen

10

11

12

Für die Kronprinzessin Cecilie hatte Riemerschmid

Eindruck der angestrebten Einfachheit des jeweiligen

„den Vorzug, vier zusammengehörende Kabinen

Gesamtbildes unterstützen. Ergänzt wurden sie bei

ausstatten zu können, die als Ganzes in Raumstim-

Pauls Schlafkabinen durch „helle Bettdecken mit

mung und konzentriertem Ausdruck wohl den meisten

Voilants, Stickerei“18. Dabei handelte es sich den

Beifall verdienen“13. Der Schlafraum war mit weißen

Abbildungen nach um ein leicht glänzendes, glattes

Möbeln, akzentuiert durch Messingbeschläge, Schar-

Gewebe – vermutlich Seide. Zwei schmale dunkle

niere und Knöpfe ausgestattet, der Salon dagegen in

Stickerei-Linien an den beiden Längsseiten und an der

grauem Ahornholz ergänzt mit tiefrotem Rosenholz

Naht des Volants strukturieren die Decke und nehmen

und Perlmuttereinlagen. Beide Räume verband die

die Konturierung der Wandfläche der Kabine auf.

Textile Moderne unterwegs: Innenausstattung von Schiffen und Zügen durch die Deutschen Werkstätten

231

Im Jahr 1914 lief die Burchardt vom Stapel, konnte jedoch auf Grund des Kriegsausbruchs ihren Dienst auf der Südamerika-Linie der HAPAG nicht aufnehmen. Durch die Vermittlung von Hermann Muthesius, eines der entscheidenden Gründungsmitglieder des Deutschen Werkbundes, hatte die HAPAG Adelbert Niemeyer, Karl Bertsch und Richard Riemerschmid für die Innenausstattung verpflichtet: Riemerschmid für die Luxuskabinen auf dem Brückendeck, Niemeyer ebenfalls für Kabinen und den großen Damensalon sowie Karl Bertsch für die Treppenhäuser. Gewünscht war eine helle, klare Ausstattung, die ein großzügiges Raumgefühl vermittelte. Eben diesen Eindruck erzeugte der Damensalon. Niemeyer entschied sich bei den bequemen Sitzmöbeln für ein einfarbiges, helles Gewebe, lediglich die an den

Abb. 1: Lisl Bertsch-Kampferseck (Entwurf), Teppichmuster Nr. 3734, 1933, Wurzener Teppich- und Veloursfabriken (Ausführung) für Deutsche Werkstätten, Kulturhistorisches Museum Wurzen

Wänden stehenden Ohrensessel hatten eine dezente Musterung. Der Teppichboden war einheitlich und kleinteilig gemustert und ergab dadurch ein geschlos-

Dewetex (Deutsche Werkstätten Textilgesellschaft

senes Bild. Zusammenfassend ist zu sagen, dass den

mbH). Für die Gesellschaft arbeiteten unterschiedliche

Textilien eine wichtige Funktion in der innovativen

Textilfirmen, darunter zum Beispiel die Wurzener

Ausstattung zukam, sie aber eher als Accessoires

Teppich- und Veloursfabriken und die Cammann

eingesetzt wurden.

Gobelin Manufaktur in Niederwiesa.20 Sie fertigten

19

sowohl nach ihren eigenen Entwürfen exklusiv für die

Spezialisierung – Deutsc he Werkstätten Tex tilgesellschaf t ( Dewetex)

Deutschen Werkstätten oder nach deren Künstlerentwürfen. In den Musterbüchern der Wurzener Teppichund Veloursfabriken finden sich unter anderem verschiedene Entwürfe von Lisl Bertsch-Kampferseck: Mit den Musternummern 3734 und 3735 sind zwei

Die Deutschen Werkstätten, damals noch Dresd-

232

Tourney-Rollenwaren – mechanisch hergestellte

ner Werkstätten für Handwerkskunst, boten bereits

Kettflorteppiche – in den Farben Orange (Grund),

1902 Textilien nach den Entwürfen von Künstlern an.

Gelb, Hellorange und Braun (Musterung) verzeichnet

Die Webstoffe wurden überwiegend in der Weberei­

(Abb. 1). Das Muster war Eigentum der HAPAG und

fabrik Gottlob Wunderlich in Waldkirchen-Zschopen­

wurde über die Dewetex in der Wurzener Fabrik in

thal ausgeführt. Deren Besitzer, Carl August Emmrich,

Auslegeware umgesetzt. Hinterlegt wurde das Muster

war Karl Schmidt seit Jahren bereits freundschaftlich

1933, das Jahr, in dem Karl Bertsch im Auftrag der

verbunden. Die Zusammenarbeit mündete 1923 in der

Deutschen Werkstätten die Speisesäle der 1. Klasse

Gründung der Tochterfirma der Deutschen Werkstätten:

der Dampfer Caribia und Cordillera der HAPAG

Klára Němečková und Kerstin Stöver

ausstattete. Im gleichen Musterbuch findet sich,

den Monaten August und September verschiedene

ebenfalls mit der Jahreszahl 1933 vermerkt, ein

Ergänzungen vermerkt, unter anderen zu den Betten:

Muster, das wiederum mit der Bemerkung „Eigentum

„Über dem Bett soll ein Volant angebracht werden,

Mitropa“ gekennzeichnet ist.21

rote Seide wie die Vorhänge mit brauner Franse“24 für B15. In B17 war ein Volant aus rot-lila Seide mit

Mate r i al ästhetik, Farbe und Ab s t rak ti on nach 1920

ebensolchen Fransen vorgesehen, die entsprechenden quadratischen Steppdecken waren ebenfalls in rot und lila gehalten. Bereits dieser detaillierten Auflistung kann man die Sorgfalt entnehmen, mit der der Einsatz

Die Etablierung des neuen Kunstgewerbes in den modernen Verkehrsmitteln wurde nach dem Ersten Weltkrieg vor allem in den 1920er und 1930er

von Textilien und Farbe in den Interieurs geplant wurde. In den Jahren 1925/26 und 1926/27 gestaltete

Jahren weiter vorangetrieben. Ein neuer Stil sollte die

der Teilhaber der Deutschen Werkstätten, Karl Bertsch,

Weimarer Republik repräsentieren.22 1924 statteten

gemeinsam mit seiner Frau Lisl Bertsch-Kampferseck

die Deutschen Werkstätten auf der Deutschland der

die Interieurs der beiden luxuriösen HAPAG-Passa-

HAPAG die Staatszimmer, Damenschreib­zimmer und

gierschiffe Hamburg und New York. Deren Innengestal-

das Treppenhaus aus. Die Entwürfe dafür lieferten

tungen zeichneten sich insbesondere durch eine

Bruno Paul und Adelbert Niemeyer. Im Sächsischen

gesteigerte Materialästhetik aus. Sowohl der Einsatz

Hauptstaatsarchiv Dresden liegt dazu eine maschinen-

der Nussbaumtäfelung als auch das geflammte

schriftliche Liste. Am 31. Juli 1923 wurde sie als

Birkenholz und die Textilien haben in den Räumen der

„endgültige Ausführung“ gekennzeichnet. Sie enthält

beiden Schiffe eine starke Präsenz. Bertsch-Kampfer-

die Beschreibung der Ausstattung zweier Suiten von

seck, die unmittelbar nach der Gründung der Dewetex

Bruno Paul. So erhielt zum Beispiel das Wohnzimmer

1923 als Textildesignerin für die Werkstätten tätig war,

B11 einen Teppich mit rotem Fond und einem 60 Zen-

hatte schnell einen eigenen Stil gefunden und war

timeter breiten umlaufenden braunen Band. Die

sicherlich maßgeblich für eine fortschrittliche Ausrich-

Sitzmöbel aus Nussbaum waren mit einem Bezug

tung der Textilproduktion der Dewetex verantwortlich.

aus orange-rotgestreiftem Seidenrips gepolstert.

Zu ihren Entwürfen gehörten Druck- und Webtextilien

Die roten Vorhänge zierte eine braune Paspelierung.

sowie zahlreiche Teppiche mit abstrakten Dekoren.

Der Bezug der Arme der Wandleuchten mit Seide war

Für die Salons der beiden HAPAG-Dampfer, die als

jedoch noch nicht entschieden. Im angrenzenden

modern gerühmt wurden, entwarf sie raumprägende

Schlafraum B15 wiederholten sich das Muster des

Teppiche, die mit geometrischen und stilisierten

Teppichs sowie der Möbelbezüge und Vorhänge.

vegetabilen Mustern auf die Gestaltung der Wand­

Der Wohnraum B19 wurde mit einem dunkelgrauen

verkleidung reagierten oder sie ergänzten (Abb. 2).25

Teppich ausgelegt. Die Möbel, hier aus Kirschbaum,

So wurden hier in der Kritik „Schlichtheit“26, aber

wurden mit dem Seidenrips Nummer 5594 von Josef

zugleich „Behaglichkeit“27 positiv hervorgehoben.

Hillerbrand bezogen, Vorhänge in Rot und Lila. Im

In der Deutschen Kunst und Dekoration hieß es dazu:

dazugehörigen Schlafraum B17 wurden die musteri-

„An Stelle der schwulstigen Pracht mißverstandener

dentischen Textilien verwendet. In der Liste wurden in

Königsstile ist behagliche Wohnlichkeit getreten. [...]

23

Textile Moderne unterwegs: Innenausstattung von Schiffen und Zügen durch die Deutschen Werkstätten

233

Abb. 2: Lisl Bertsch-Kampferseck (Entwurf Textilausstattung), Karl Bertsch (Entwurf Möblierung), Damensalon zweiter Klasse auf dem HAPAG-Dampfer New York, 1926, Deutsche Werkstätten (Ausführung), SLUB Dresden, Deutsche Fotothek

Die vorzüglichen Leistungen der Deutschen Werkstät-

Haptik eine besondere Wirkung. Bertsch-Kampfers­

ten in der Möbelpolsterung und die Qualität ihrer

ecks textile Entwürfe verliehen den Interieurs und

Möbelstoffe finden hier eine erfreuliche Anwen-

auch zahlreichen Produkten der Deutschen Werkstät-

dung.“28 Die Teppiche verbinden gekonnt abstrakte

ten eine zeitgemäße Note und setzten unübersehbare

vegetabile und geometrische Ornamente miteinander,

Akzente.

die der Wandtäfelung mit großflächigem geometrischem Muster ein starkes Gegenüber bieten.

aus dem Interieur des Mitropa-Schlafwagens Nummer

Bertsch-Kampferseck stellte sich hier als eine phanta-

22811 und feierte dieses als die gekonnte Umsetzung

sievolle Textilgestalterin mit eigenständiger Hand-

der innovativen Innenraumgestaltung eines modernen

schrift vor. Besondere Beachtung verdienen zudem

Verkehrsmittels. Zuvor merkte Walter Riezler an:

die Bezüge der Sessel und Stühle. Während im Fall der

„Auch seine Form wirkt nur ‚befriedigend‘, wenn sie die

Sessel und Sofas ein Bezugsstoff mit Längs- und

Tatsache der Bewegung berücksichtigt, nicht wenn sie

Querstreifen zum Einsatz kam, evozierten die

an sich, im Sinne eines ruhenden Gehäuses, mit Sorg-

samtähnlichen Bezüge der Stühle mit der orthotropen

falt und Gefühl für Proportionen durchgebildet ist.“30

29

234

Die Form publizierte 1928 mehrere Abbildungen

Klára Němečková und Kerstin Stöver

Abb. 4: Bruno Paul (Entwurf), Luxuskabine auf der Bremen, 1929, Deutsche Werkstätten (Ausführung)

Ausstattung nach Entwürfen von Bertsch-Kampfers­ eck, die diese starke Raumwirkung erzeugte. Zu den aufsehenerregendsten Großprojekten des Norddeutschen Lloyd gehörte der Bau des 286 Meter langen Schnelldampfers Bremen, der bei seiner Jungfernfahrt nach New York den Atlantik in einer Rekordzeit überquerte.32 Das Schiff überzeugte jedoch nicht nur mit der technischen Leistung, sondern auch mit der Innenausstattung: „Die Raumkunst der Abb. 3: Lisl Bertsch-Kampferseck (Entwurf Textilausstattung), Karl Bertsch (Entwurf Möblierung), Mitropa-Schlafwagen Nr. 22811, Gang im Abteilwagen, 1927, Deutsche Werkstätten und Wurzener Teppich- und Veloursfabriken (Ausführung), Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden

‚Bremen‘ bekennt sich nachdrücklich zur Gegenwart. Sie legitimiert sich als deutsche Innenausstattung unserer Neuzeit.“33 War der Norddeutsche Lloyd für seine konservativen Ausstattungen noch kritisiert worden, lobte 1929 Walter Riezler in Die Form: „In der Tat: man hat nun auch hier den Schritt gewagt, den die

Die „Tatsache der Bewegung“ zeigte Bertsch-Kam­

Hapag schon bald nach dem Kriege mit der Albert

pfers­eck vor allem in dem langen Waggongang, in dem

Ballin getan hatte und der auch früher schon in

durch die versetzten Farbelemente in Streifenanord-

Einzelfällen, bei den von den ‚Deutschen Werkstätten‘

nung die gerichtete Vorwärtsbewegung des Zuges

ausgestatteten Schiffsräumen da und dort getan

aufgegriffen und eine Anmutung von Dynamik

worden war; man hat auf die Anwendung der geheilig-

31

suggeriert wurde (Abb. 3). Charakteristisch sind

ten historischen Formen verzichtet und hat sich mit

zudem die breiten Streifen und die starken Kontraste

Begeisterung dem ‚modernen Kunstgewerbe‘ in die

der Sitzbankbezüge. Es war vor allem die textile

Arme geworfen.“34 Das Schiff setzte neue Maßstäbe.

Textile Moderne unterwegs: Innenausstattung von Schiffen und Zügen durch die Deutschen Werkstätten

235

Die meisten Gesellschaftsräume des Luxusliners

international herausragenden Expertise von den

Bremen gestaltete Fritz August Breuhaus de Groot für

Deutschen Werkstätten Vestibül, Gesellschaftshalle,

die Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk in

Speisesaal und Treppenhäuser ausbauen ließ.35 Die

München. Durch alle Räume zog sich die Verwendung

Entwürfe wurden einmal mehr Bruno Paul übertragen.

exotischer Hölzer und eine reiche, exklusive textile

„Durch die Mitwirkung begabter Künstler ließ sich die

Ausstattung, darunter sechs große Wandteppiche,

Raumwirkung zum festlichen Ausdruck steigern.“36

ausgeführt von der Münchner Gobelin-Manufaktur.

Die Gestaltung des Interieurs war geschmackvoll und

Bruno Paul entwarf die Luxussuite, die von den

evozierte ein Gefühl der Weiträumigkeit. Einen

Deutschen Werkstätten ausgeführt wurde. Die

entscheidenden Teil der dekorativen Ausstattung, die

Vertäfelung des Wohnraumes wurde in Zitronenholz

thematisch auf die Destinationen abgestimmt waren,

mit Paduk-Einlagen gefertigt. Eingebaute Schränke

übernahm Ulla Schnitt-Paul.37 Vor allem ihr gelang es,

und Regale unterstrichen den klaren Raumeindruck

mit der textilen Wandgestaltung – dem den Speisesaal

und die Wirkung des Materials in der Fläche (Abb. 4).

dominierenden Teppich Sumatra-Java-Borneo mit den

Die Streifenstruktur der Wand nahm der Bodenbelag

drei Frauenfiguren,38 seitlich davon die Neue Zeit und

aus hellen und dunklen Rechtecken im Positiv-­

Kolonialgründung – sowohl exotische als auch elegante

Negativ-Effekt diagonal gestreift auf. Die Bezüge der

Akzente zu setzen und dem Interieur Farbe zu geben.

Sitzmöbel wurden aus dem gleichen hochflorigen und

Die Teppiche wurden ebenfalls in der Münchner

breit gestreiften Bezugsstoff wie in dem 1928 gefeier-

Gobelin-Manufaktur ausgeführt. Einen farblichen

ten Mitropa-Schlafwagen ausgeführt. Sie stammten

Eindruck vermittelt der noch vorhandene Karton des

aus der Produktion der Dewetex und waren von Lisl

Hauptteppichs (Abb. 5 und 6). Warme Braun-, Orange-

Bertsch-Kampferseck entworfen worden. In dem

und Gelbtöne dominieren. Figuren und Pflanzen

harmonisch gestalteten Raum setzten sie kräftige und

wurden dunkelbraun konturiert. Der imposante

kontrastreiche Akzente. Die Kombination von hoch-

Bildteppich von 3,6 Metern Breite hing im Speisesaal

wertiger Holzvertäfelung und innovativen, wirkungs-

direkt hinter dem Buffet. Gemeinsam mit den Wand-

vollen Textilien – der bewusste Einsatz von Materia-

vertäfelungen in Zitronenholz mit Walnussholz

lien, Farbe und Ornamentik – wurden typisch für die

gerahmt und den grünen Stuhlbezügen ergab sich ein

Deutschen Werkstätten.

heller, erlesener Raumeindruck.

Di e Bo issevain  – Feier de s Dekorativen

Die Gesellschaftshalle der Boissevain war mit Teppichwaren mit von Bruno Paul häufig eingesetzten großen Streifenmustern ausgelegt. Sie brachten kräftige Farbtöne in den Raum. In die Mitte wurde zusätzlich ein

Einen weiteren Höhepunkt in der Ausstattung

236

heller Teppich mit stilisierten Blüten und umlaufender

von Ozeandampfern stellte der Auftrag für die Boisse­

gemusterter Kante gelegt. Die im Sächsischen Haupt-

vain, den sogenannten ‚Ostindien-Dampfer‘, im Jahr

staatsarchiv Dresden lagernden Bauunterlagen enthal-

1937 dar. Auftraggeber war die holländische Reederei

ten die Entwurfszeichnungen der Sitzmöbel sowohl in

Koninklijke Paketvaart Maatschappij, die das Schiff in

den Gängen als auch in der großen Gesellschaftshalle.39

Hamburg bei Blohm & Voss bauen und auf Grund ihrer

„Besondere Aufmerksamkeit erforderte unter anderem

Klára Němečková und Kerstin Stöver

Abb. 5: Bruno Paul (Entwurf), Ulla Schnitt-Paul (Entwurf Wandteppich), Speisesaal des Passagierdampfers Boissevain, 1937, Deutsche Werkstätten (Ausführung), Foto: Gebr. Dransfeld, Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden

Abb. 6: Ulla Schnitt-Paul (Entwurf), Karton für Wandteppich Sumatra-Java-Borneo im Speisesaal des Passagierdampfers Boissevain, 1937, Privatbesitz

Textile Moderne unterwegs: Innenausstattung von Schiffen und Zügen durch die Deutschen Werkstätten

237

Abb. 7: Bruno Paul (Entwurf), Gesellschaftsraum des Passagierdampfers Boissevain, 1937, Sächsisches Staats­ archiv, Hauptstaatsarchiv Dresden

die Durchbildung aller Sitzmöbel. Den Räumen ange-

verwenden, was wir an technischer Qualität leisten.“41

passt, sollten sie in eleganter einladender Form das

Diese Entwicklung erlangte ihren Höhepunkt in der

wochenlange Reisen bequem und die verschiedenen

Ausstattung der Schiffsinterieurs der 1920er bis hin

Raumgruppen wohnlich machen.“40 Im Gesellschafts-

zur Boissevain im Jahr 1937.42 Die Deutschen Werk-

raum wurden die explizit diesem Raum sich fügenden

stätten konnten durch ihre Expertise im Bereich der

und ebenfalls in die Nischen und Separees verteilten

Textilien einen wertvollen Beitrag leisten, da sie

Sitzmöbel mit zwei einfarbigen Epinglé-Geweben in

einerseits wie im Fall von Bertsch-Kampferseck auf

Blau und Rot bezogen (Abb. 7).

spezialisierte Gestalter sowie Gestalterinnen und

Dass die textile Ausstattung eine wichtige Rolle bei den Erneuerungsbestrebungen spielte, bestätigte

Hersteller zurückgriffen, um auf das jeweilige Projekt

Bruno Paul am Ende seines einleitend zitierten

individuell zu reagieren.

Aufsatzes mit den Worten: „Unsere Dampfer können,

238

andererseits auf mustergültige und erstklassige

Zusammenfassend ist zu erkennen, dass die

ohne daß die Kosten den bisherigen Rahmen über-

Textilien mit ihrer Materialität und Ornamentik

schreiten, das Beste unserer dekorativen Kunst zeigen,

zunehmend zu bestimmenden Elementen der Interi-

das Schönste an Mustern in Teppichen und Stoffen,

eurs wurden und gleichberechtigt neben Möbel und

wie sie schon heute gewohnt sind, das Beste zu

Wandverkleidungen traten.

Klára Němečková und Kerstin Stöver

An m e r k u ngen

21

Musterbuch VI 3701-4400 der Wurzener Teppich- und Velours-

fabriken, Kulturhistorisches Museum Wurzen.

Victoria and Albert Museum, London, 3.2.–17.6.2018.

22 23

2

Deutsche Werkstätten Hellerau (D), Nr. 2413. Liste 17457c, S. 1–5.

1

Siehe dazu jüngst die Ausstellung Ocean Liners. Speed & Style, Bruno Paul: Passagierdampfer und ihre Einrichtungen, in: Jahr-

Vgl. Ferrari 2018 (wie Anm. 10), S. 19. Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden, 11764

58, hier S. 55.

24 25

3

Vgl. Anna Ferrari: Rivalität auf hoher See. Der internationale

und Ulla Schnitt-Paul, in: Gegen die Unsichtbarkeit. Designerinnen der

Einfluss deutscher Passagierschiffe, in: Deutsche Werkstätten

Deutschen Werkstätten Hellerau 1898 bis 1938, hg. v. Tulga Beyerle

(Hg.): Eine Klasse für sich. Historischer Schiffsinnenausbau der Deut-

und Klára Němečková, Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen Dres-

schen Werkstätten, Dresden 2018, S. 12–23, hier S. 16; vgl. zu Schiffs-

den, Kunstgewerbemuseum, Dresden, München 2018, S.  164–167,

ausstattungen der Deutschen Werkstätten: Hans Wichmann:

hier S. 164

buch des Deutschen Werkbundes 1914. Der Verkehr, Jena 1914, S. 55–

Ebd. Ergänzung zur Liste 17497 als Ergänzung zu 474576, o. S. Klára Němečková: Schiffe und Bahn – Lisl Bertsch-Kampferseck

Deutsche Werkstätten und WK-Verband 1898–1990, München 1992,

26

S. 106 ff.

des Schiffsbaues – Eindrücke auf der „Hamburg“, in: Dresdner Neuste

4

Nachrichten, Nr. 191, 17.8.1926.

Karl Schaefer: Die Norddeutsche Lloyd und die moderne Raum-

Wilhelm Russo: Ein moderner Riesendampfer. Rationalisierung

kunst, in: Die Kunst, Bd. 18, 1908, S. 76–90, hier S. 76.

27

5 6 7

Münchner Neuste Nachrichten, Nr. 91, 3.4.1927.

Vgl. ebd., S. 82.

Hamburg – Neuyork. Zur ersten Fahrt des Dampfer Neuyork, in:

Vgl. ebd., S. 84–90.

28

Vgl. Konstantin Kleinichen: Die Ausstattung von Hochseeschif-

in: Deutsche Kunst und Dekoration, Bd. 59, 1926/27, S. 375.

Neue Arbeiten der Deutschen Werkstätten Hellerau-München,

fen durch die Deutschen Werkstätten 1903–1953, in: Dresdener

29

Kunstblätter, Bd. 3, 2018, S. 40–47, hier S. 42.

sehr wenig Beachtung zuteil. Als weniger autonome Gestaltungsele-

8

Leider wird den textilen Gestaltungselementen noch immer

Schriftverkehr mit Prof. Richard Riemerschmid, dienstlich

mente bleiben sie oft anonym und die Zuschreibung gestaltet sich

1902–1944, handschriftlicher Vertrag vom 20. September 1902, Säch-

schwierig. Die Entwerferin der Auslegware der New York konnte anhand

sisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden, 11764 Deutsche

der Abbildung in der Deutschen Kunst und Dekoration, Bd. 61, 1927/28,

Werkstätten Hellerau (D), Nr. 0539.

S. 319, identifiziert werden.

9

Betriebsgeschichte: Aufsätze zur Betriebsentwicklung, zur Rolle

der Deutschen Werkstätten bei der Entwicklung der deutschen Wohn-

30

Walter Riezler: „Zweck“ und „technische Schönheit“, in: Die

Form, Bd. 3, 1928, H. 14, S. 385–395, hier S. 391 f.

Nr. 3152, S. 1–5, hier S. 1.

31 32 33

10

über die raumkünstlerische Ausstattung, in: Innendekoration, Bd. 40,

kultur und zum Betriebsgründer Karl Schmidt, Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden, 11764 Deutsche Werkstätten Hellerau (D), Siehe Abb. in: Deutsche Werkstätten (Hg.): Eine Klasse für sich.

Historischer Schiffsinnenausbau der Deutschen Werkstätten, Dresden

Vgl. Němečková 2018 (wie Anm. 25), S. 164. Vgl. Deutsche Werkstätten 2018 (wie Anm. 10), S. 122. Wilhelm Michel: Der Ozean-Express „Bremen“. Ein Überblick

1929, H. 12, S. 434–453, hier S. 435.

2018, S. 43.

34

11

S. 619–625, hier S. 619.

Vgl. Klaus-Peter Arnold: Vom Sofakissen zum Städtebau. Die

Walter Riezler: Die „Bremen“, in: Die Form, Bd. 4, 1929, H. 23,

Geschichte der Deutschen Werkstätten und der Gartenstadt Hellerau,

35

Dresden/Basel 1993, S. 267.

Außendiensten, in: Innendekoration, Bd. 49, 1938, H. 8, S. 264–267,

12

hier S. 265.

Vgl. Dresdner Hausgerät. Deutsche Werkstätten Hellerau, Ber-

lin, Dresden, München, Hamburg Hannover, Preisbuch VIII, Dresden, Auflage 1912, S. 38, 43.

13 14

36 37

Der Holländische Dampfer „Boissevain“. Deutscher Schiffbau in

Ebd. Bereits in den 1920er Jahren ist in der Ausstattung der franzö-

Schaefer 1908 (wie Anm. 4) S. 86.

sischen Überseedampfer eine reiche dekorative Ausstattung zu beob-

Deutsche Werkstätten GmbH Hellerau bei Dresden und Mün-

achten. Vgl. Ghislaine Wood: Inter-war Liners: The Politics of Style, in:

chen, handgearbeitete Möbel, II. Dresden, Auflage 1910, S. 190.

Ocean Liners. Glamour, Speed and Style, hg. v. Daniel Finamore und

15 16 17 18 19 20

Schaefer 1908 (wie Anm. 4) S. 86.

Ghislaine Wood, Ausst.-Kat. Victoria and Albert Museum, London, Lon-

Ebd., S. 86.

don 2018, S. 120–147, hier S. 120f.

Ebd., S. 89.

38

Ebd., S. 77.

Sumatra, Java, Borneo als drei junge Frauen in eleganter Kleidung dar.

Deutsche Werkstätten 2018 (wie Anm. 10), S. 73.

Motivisch griff sie dabei auf tradierte koloniale Stereotypen zurück, vgl.

Vgl. Kerstin Stöver: Dewetex – lichtecht und farbenfroh. Texti-

Němečková 2018 (wie Anm. 25), S. 166.

Ulla Schnitt-Paul stellte die damaligen hollän­dischen Kolonien

les auch den Deutschen Werkstätten Hellerau, in: Dresdener Kunst-

39

blätter, Bd. 3, 2018, S. 22–31, hier S. 27.

Deutsche Werkstätten Hellerau (D), Nr. 4779/2.

Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden, 11764

Textile Moderne unterwegs: Innenausstattung von Schiffen und Zügen durch die Deutschen Werkstätten

239

40 41 42

240

Ebd., S. 266.

Freude“ gefertigt wurde, die sogenannte Große Halle auf dem unteren

Ebd., S. 58.

Promenadendeck aus. Als Architekt wirkte Woldemar Brinkmann. Vgl.

Im gleichen Jahr bauten die Deutschen Werkstätten in dem

Deutsche Werkstätten 2018 (wie Anm. 10), S. 138 ff.; zu den Deutschen

Kreuzfahrtschiff Wilhelm Gustloff, das im Auftrag der nationalsozialisti-

Werkstätten in der Zeit des Nationalsozialismus siehe Arnold 1993 (wie

schen „Deutschen Arbeitsfront“ für die NS-Organisation „Kraft durch

Anm. 11), S. 109 ff.

Klára Němečková und Kerstin Stöver

I N T ER M E D IAL UND INTE RDI S ZI PL I N ÄR / I N T ER M E D IAL AND IN TE RDI S CI PL I N ARY

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bei der Malerei, ließen sich mit Pinsel und Stift die Ideen leicht auf das Trägermaterial übertragen. In diesem Text wird der Frage nachgegangen, inwieweit die neue Beschäftigung von Maler_innen mit textilen Medien zu einem Crossover führte, das auf beide Bereiche stilbildend rückwirkte. Beispielhaft steht dafür der deutsche Expressionist August Macke, der sich schon während seines Kunststudiums mit Entwürfen für Stickerei beschäftigte

Crossover zwischen Textilien und Malerei um 1914 am Beispiel von August Macke und der Omega-Künstler_ innen Vanessa Bell, Duncan Grant und Roger Fry

und sich später im Umkreis der Künstlergruppe Blauer Reiter mit Gleichgesinnten zusammenschloss. In England gehörten Roger Fry, Vanessa Bell und Duncan Grant zur sogenannten Bloomsbury Group und damit zu den Vorreiter_innen einer neuen Kunstauffassung. Der Ansatz, Emotion in den Alltag zu überführen und damit in den häuslichen Lebensbereich zu übertragen, führte zur Gründung der Omega Workshops, einer kunsthandwerklichen Produktionsgemeinschaft. Hier wie dort verband die Künstler_innen ein gemeinsames Anliegen. Ihrer Kunstauffassung lag ein dezidierter Modernebegriff zugrunde, der gültige Normen in Frage stellte

Ina Ewers-Schultz

und neue ästhetische Maßstäbe definierte. Dabei spielte die Textilgestaltung, die in enger Verbindung mit den

Um 1900 erhielten Künstler_innen in der

neuen malerischen Konzepten stand, eine besondere

kunsthandwerklichen Reformbewegung eine Schlüssel-

Rolle. Sowohl in Deutschland als auch in England

funktion. Ein ausgebildeter Maler wie Henry van de

wollten die Künstler_innen in die Gesellschaft hineinwir-

Velde widmete sich fortan der Innenraumgestaltung.

ken und unterstrichen ihre Anliegen mit theoretischen

Maler der Künstlergruppe Nabis entwarfen nun auch

Äußerungen, die mit vergleichbaren oder identischen

Teller und Wandbehänge. Dekoration war nicht mehr

Begriffen, Referenzen und Konzepten arbeiteten.

äußerliche Gestaltung, sondern Teil eines gestalterischen Gesamtkonzeptes. Durch die Aufweichung der Hierarchien innerhalb der künstlerischen Gattungen hatte die Reformbewegung den Boden für eine veränderte Sichtweise bereitet, die auch die jüngere

Ent w ürfe f ür St i ckerei und i hre kat a lyt i sche Wi rkung f ür di e Ma lerei Aug ust Ma ckes

Künstler_innengeneration um 1914 prägte. Neben der Malerei rückten nun die Gestaltung von Stoffen und

Schon während seiner Ausbildungszeit an der

der Entwurf von Stickereien als künstlerische Medien

Düsseldorfer Kunstakademie zeichnete August Macke

in den Fokus. Hier war die Ausgangsbasis ähnlich wie

Stickerei-Entwürfe. Die altertümlichen Vorlagen, denen

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243

sich seine Freundin und spätere Frau, ihre Mutter und Großmutter allabendlich widmeten, sagten ihm nicht zu. Über die Jahre weitete Macke diese Tätigkeit aus und fertigte Vorlagen für Kissen, Stuhlbezüge, Wandbehänge und Kleiderbesätze.1 Sie dienten der Ausgestaltung der privaten Wohnräume sowie seines Ateliers und stellten einen wesentlichen Bestandteil bei der ästhetischen Neugestaltung des privaten Lebensumfeldes dar. Den überwiegenden Teil der Entwürfe zeichnete er direkt auf den Stoff vor und notierte dort die zu verwendenden Farbtöne. Andere gestaltete er in farbiger Kreide oder Aquarell als Vorlagen, sodass sie erst auf den Stoff übertragen werden mussten. Ausgeführt wurden die Entwürfe von den weiblichen Mitgliedern der Familie; später übergab Macke auch der Mutter seines Künstlerfreundes Louis Moilliet Entwürfe, mit denen sie sich auch noch nach dem Tod des Künstlers beschäftigte. Den Stickenden stellte sich dabei immer wieder das Problem der Umsetzung: So beklagte sich Mathilde

Abb. 1: August Macke, Waldbach, 1910, Öl auf Leinwand, 61,6 x 61,4 cm, WVZ G 215, Indiana University Art Museum, Bloomington

Moilliet über die Schwierigkeit, die richtigen Nuancen des Stickgarns zu beschaffen, um die vom Künstler

244

Die Beschäftigung mit dem Textilen veränderte

vorgegebenen Farbtöne zu realisieren.2 Ganz zwangsläu-

Mackes Blick auf die Malerei grundlegend: „Vorige

fig waren die Ausführenden so an der Farbwahl mitbe-

Woche habe ich auf einem Brett versucht, Farben

teiligt. Wie entscheidend ‚seine‘ Farbvorstellungen

zusammenzusetzen, ohne an irgendwelche Gegen-

jedoch für Macke waren, zeigte sich, als er während des

stände wie Menschen oder Bäume zu denken, ähnlich

Aufenthaltes 1913 am Thuner See ein Fachgeschäft

wie bei der Stickerei“4, berichtete er 1907. Es war

entdeckte, das feinste Mooswolle führte. Macke, so

Mackes Unvoreingenommenheit, die ihn immer wieder

erinnert sich seine Frau, bestellte dort „nach einer

veranlasste, ungewohnte Wege zu gehen, um sein im

Farbtafel ungefähr hundert verschiedene Farbtöne, die

gleichen Jahr formuliertes Ziel zu erreichen, „mit

extra in der Fabrik eingefärbt werden mußten.“3 Die

wenigen Strichen möglichst das auszudrücken, was ich

technische Umsetzung der Stickereien interessierte den

fühle [...].“5 Ihn faszinierte die Möglichkeit, mit vorhan-

Künstler weitaus weniger. Da die Ausführenden dem

denen Farben immer neue Zusammenstellungen zu

engsten Freundes- und Familienkreis angehörten, fiel

probieren. Das war genau der gegenteilige Prozess

die Entscheidung darüber vermutlich in persönlichen

zum klassischen Malvorgang wie er an den Akademien

Gesprächen. Einerseits fehlte ihm die genaue Kenntnis

gelehrt wurde, bei dem die Farbwahl von der Wahr-

der Stiche, andererseits zeigen seine Äußerungen und

nehmung abhing. Immer wieder gab es Wendepunkte

die Entwürfe, dass es ihm in erster Linie um die farbli-

in Mackes künstlerischen Entwicklungsphasen, an

chen Zusammenstellungen ging.

denen die Beschäftigung mit dem Textilen neue

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Abb. 2: August Macke, Clown und Kunstreiterin, 1913, Öl auf Leinwand, 81 x 105 cm, WVZ G 343, Rückseite: Bildnis einer Dame mit Hut, Privatbesitz

Impulse lieferte. 1907 löste sich Macke von der

Konturen des Baches, von Blumen, Bäumen und

akademischen Malerei und seiner Bewunderung für

Steinformationen sind mit starken Linien erfasst und

den symbolistischen Künstler Arnold Böcklin. Der

erhalten so eine flächige Wirkung. Das bewegte

Umweg über die Stickerei ermöglichte es ihm, das

Licht- und Schattenspiel auf dem Waldboden ist zu

Inhaltliche zurückzustellen und sich auf das für ihn

einem dekorativen, abstrakten Muster aus farbigen

Wesentliche, nämlich die rhythmische Anordnung der

Flächen verdichtet. Jegliche Bewegung erstarrt

Farben zu konzentrieren. Um 1910 rückt das Gemälde

beziehungsweise wird in den Ausdruck der lebendigen

Waldbach (Abb.1) die Gestaltung der Natur aus

Farbkontraste übertragen. Die Abstrahierung des

Farbformen in den Mittelpunkt. Der Blick fällt in

Abbildhaften nahm mit den Jahren weiter zu. Im

starker Aufsicht auf einen engen Naturausschnitt.

Gemälde Clown und Kunstreiterin, 1913 (Abb. 2), sind

6

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245

die drei männlichen Figuren und die Kunstreiterin in

Medium war ein entscheidender Katalysator für die

der festgefügten Bildstruktur kaum noch lesbar. Das

neuartige Verwendung der malerischen Mittel Farbe,

Stoffliche des Zirkuszelts, das Rund der Manege und

Form und Linie. Und andersherum nahmen seine

die szenische Darbietung sind in einer Bildebene durch

künstlerischen Vorstellungen über die Gestaltung von

die Farbformen gleichsam miteinander verkeilt. Die

Textilien Einfluss auf die Raumgestaltung.

Leinwand wird nun dezidiert als zweidimensionale Fläche behandelt. Dies entsprach Maurice Denis’ Neuinterpretation der Malerei. Mit seinem berühmten Ausspruch von der Leinwand als mit Farben zu füllender Fläche hatte er jahrhundertealte Kunstauf-

Text i li en a ls Ma lerei i m Ra u m : di e Idee der Om eg a -Künst le r _ i nnen

fassungen negiert.7 Auch bei Macke ist der Bildträger nur noch ein Stück Stoff, auf dem sich die Farben

bildeten das künstlerische Zentrum der Bloomsbury

den. Die Stimmung wird allein über Farben und ihre

Group und vertraten in ihrer Malerei radikale Vorstel-

Kontraste und rhythmische Verteilung auf der Fläche

lungen, die denen des deutschen Expressionismus

transportiert; der in Farbbahnen zerteilte Vorhangstoff

verwandt waren. Das Konzept, die emotionalen

ist in dem Gemälde Ausgangspunkt für die Gliederung

Qualitäten der Malerei in den Raum zu übertragen,

der gesamten Bildstruktur. Die Komposition erscheint

stand hinter der Gründung des Omega Workshops im

wie die gemalte Verwirklichung einer Idee, die Macke

Mai 1913 in London. Über das Kunsthandwerk sollten

1906 während seiner Tätigkeit als Bühnen- und

die revolutionären neuen Ideen in die Gesellschaft

Kostümbildner für das Düsseldorfer Schauspielhaus

hineingetragen werden. Auf der anderen Seite sollte

formuliert hatte: „Stimmungen durch Vorhänge und

die angewandte Arbeit den Künstler_innen zusätzliche

Farben allein [zu] machen, ohne Nachahmung der

Einnahmequellen bescheren. „I am intending to start a

Natur.“8 In dieser Phase entstand auch Mackes Serie

workshop for decorative and applied art“, formulierte

abstrakter Ölgemälde. Die pastosen Flächen erschei-

Roger Fry im Zusammenhang mit der Gründung des

nen als ein Puzzle ineinandergesteckter Formen, das

Workshops, „I find that there are many young artists

nun zu einem vollkommen flächigen Muster ohne

whose painting shows strong decorative feeling, who

jeden gegenständlichen Bezug zusammengefügt ist. Es

will be glad to use their talents on applied art both as a

ist wohl kein Zufall, dass Macke in den für seine

means of livelihood and as an advantage to their work

künstlerische Entwicklung so entscheidenden Jahren

as painters and sculptors.“11

9

1912 und 1913 auch zwei große Wandteppiche

246

Roger Fry, Duncan Grant und Vanessa Bell

nebeneinander zu einem dekorativen Muster verbin-

Abstrakte Segmente aus den Bildern dienten

entwarf, die beide einen hohen Grad an Abstraktion

teilweise unmittelbar als Anregung für die Stoffmuster.

aufweisen.10 Die willkürliche Farbigkeit, die auf das

Die bewegten Formen des Stoffes Amenophis scheint

Erzielen von Emotionen ausgerichtet war, und das

direkt von den farbigen Landschaftsstrukturen von

Zurücktreten des Gegenstandes, der sich der Bildwir-

Roger Frys Flusslandschaft River with poplars bezie-

kung als Gesamtheit unterordnen musste, resultierten

hungsweise von der gemalten Binnenstruktur der Eier

in entscheidendem Maße aus Mackes Beschäftigung

seines Still Life, Jugs and Eggs, beide 1912, übernom-

mit der Stickerei. Die Auseinandersetzung mit diesem

men.12 Darüber hinaus wurde eine dekorative Bildge-

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staltung auch als Ganzes im Textildesign adaptiert:

oder den Dilettantismus, die als gleichwertige Kunst-

eine Wandschirm-Dekoration ging auf Vanessa Bells

äußerungen definiert wurden und die sich die moder-

Gemälde Summer Camp, 1913, zurück, während Grants

nen Künstler_innen als neue Inspirationsquellen

Motiv Lily pond als Referenz für eine Tischoberfläche

erschlossen. Als Roger Fry die Idee zur Gründung von

und einen Wandschirm diente. Und die Kombination

Omega lancierte, hatte er die von dem Modeschöpfer

von schwarzen Winkellinien und dynamisch akzentu-

Paul Poiret 1911 in Paris gegründete École Martine im

ierten, farbigen Flächen einiger Gemälde greift ein

Blick, an der junge Autodidaktinnen als Entwerferin-

Teppichentwurf von 1913–15 auf.14 In einem

nen engagiert waren.20 Dilettantismus als kreatives

Zeitungs­artikel bemerkte Fry: „One of the essences of

Potenzial war hier zum Prinzip erhoben. Der Charakter

Post-Impressionism is the return to a more architec-

der Omega-Produkte, das scheinbar Unfertige, wirkte

tural and structural basis of design, and is therefore

ähnlich und verdeutlichte zusammen mit den leuch­

peculiarly adapted to the applied arts.” Es war also

tenden Farben den Anspruch auf Authentizität und

die neue Auffassung von Dekoration als ein Gesamt-

Emotion. Diese Optik widersprach den Sehgewohn-

konzept von Gestaltung, die Malerei und Kunsthand-

heiten: „My God, what colours you are responsible for!“,

werk gleichermaßen charakterisierte und zu einer

schrieb Virginia Woolf fassungslos über ein von ihrer

Übertragung führte.

Schwester Vanessa Bell entworfenes Kleid, „Karin’s

13

15

Textilien spielten dabei eine besondere Rolle und

clothes almost wrenched my eyes from the sockets –

zwar in der gesamten Periode der Jahre 1913 bis

a skirt barred with reds and yellows of the vilest kind,

1919, in der die Omega Workshops bestanden. Dem

and a pea green blouse on top, [...] supposed to be of

Omega Workshops Descriptive Catalogue 1914 ist zu

the very boldest taste.“21 Die Kunstauffassung der

entnehmen, dass von Anfang an handgefärbte Stoffe,

Omega-Künstler_innen war demnach bewusst als

Kleider und seidene Abendmäntel zum Verkauf

antibürgerliche Provokation gedacht. „The desire to

standen. Aus den Stoffen Maud und Margery wurden

ground modernism in anti-authoritarian individualism

Tuniken gefertigt16, 1915 dann eine eigene Modeabtei-

was fundamental to Bloomsbury“, konstatiert Reed.22

lung eingerichtet.17 „The modern movement in textile

Diese Haltung lag auch der Kunstauffassung von

design began with the establishment of the Omega

Macke und dem Blauen Reiter mit ihrem Angriff auf

Workshops“ , erklärte Paul Nash im Jahr 1925 über

gängige Kunstnormen, der Abwertung des Staffelei­

die Tragweite des Konzeptes.

bildes und ihrer grundlegenden ästhetischen Neu­

18

Die malerischen Eigenschaften des Entwurfes

konzeption zugrunde. „Jede Kunstform ist Äußerung

sollten auf den fertigen Stoff übertragen werden. In

seines inneren Lebens“23, konstatiert August Macke.

der französischen Firma Maromme Printworks wurde ein Hersteller gefunden, der diese Anforderung mithilfe eines vormodernen Druckverfahrens realisier-

Wechselw i rkungen

te. Die Sichtbarkeit des Pinselduktus’ vermittelte 19

Spontaneität und stand in bewusstem Gegensatz zur

„Working at the Omega helped to generate

hochwertigen Perfektion der beliebten Arts and

ideas“24, erinnert sich Grant. Die Arbeit an der Stoffge-

Crafts-Textilien. Damit ergeben sich bewusste An-

staltung wirkte auch auf die freie Kunst zurück. Als

klänge an Kinderkunst, die sogenannte primitive Kunst

vorbildhaft für die Neuerungen der Bloomsbury Group

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247

wird in der Forschungsliteratur vor allem die französische Malerei beurteilt.25 Sicherlich lässt sich eine grundsätzliche Neuorientierung im Œuvre der Künstler_innen auf die beiden von Roger Fry in den Londoner Grafton Galleries veranstalteten Ausstellungen von 1910 und 1912 zurückführen, die zunächst die französische, dann die europäische Avantgarde erstmals in England unter dem Begriff ‚Post-Impressionism‘ vorstellten. Wie sehr die Beschäftigung mit Textilien und ihren speziellen dekorativen Anforderungen jedoch auch die Befreiung der Malerei beeinflusste, zeigen insbesondere die zwischen 1913 und 1915 entstandenen Werke. In dieser Periode widmeten sich die Künstler_innen intensiv ihrer kunsthandwerklichen Arbeit für die Omega Workshops.26 In dem Gemälde Oranges and Lemons, 1914 (Abb. 3), zitiert Bell rechts im Bildhintergrund den von ihr entworfenen Stoff Maud (Abb. 4). Das Muster verselbstständigt sich, verschränkt sich mit den Blättern des Straußes und greift auf die gesamte Bildfläche über. Die Farben bewegen sich unabhängig von den Objektgrenzen über diese hinaus. Die Vase selbst wird zur schwarz umrandeten Fläche ohne Volumen, auf der sich das Stoffmuster spiegelt und

Abb. 3: Vanessa Bell, Oranges and Lemons, 1914, Öl auf Pappe, 73 x 51,5 cm, Privatsammlung

damit die Flächigkeit weiter betont. In Grants Frühwerk ist bereits eine Vorliebe für die Darstellung von Textilien sowie für eine stoffliche Wirkung der Bilder ablesbar. 1911 hatte der Künstler für die Hochschule Borough Polytechnic in London in der monumentalen Arbeit Bathing die Wellen zu einem abstrakten Linienmuster stilisiert.27 Durch die Tätigkeit für Omega lässt sich eine gesteigerte Flächigkeit und dekorative Rhythmisierung der Gesamtkomposition feststellen.

Abb. 4: Vanessa Bell (zugeschrieben), Stoffmuster Maud, 1913, Leinen, bedruckt, 14,3 x 41 cm, Hersteller: Omega Workshops, Stiftung August Ohm, Hamburg

In The Mantelpiece (Abb. 5) von 1914 sind die Bild-

248

ebenen kaum noch auseinanderzudivi­dieren, lediglich

Das Design des Stoffes Pamela erscheint dabei dem

einzelne Gegenstände sind aus dem sie umgebenden

Gemälde wie ein Bildgerüst zugrunde zu liegen.

dekorativen, zu einem dichten Farbteppich verwobe-

Die Abbildung von Stoffen und ihre dekorative Qualität

nen Muster durch farbige Umrisslinien hervorgehoben.

veranlasste die Künstler_innen ganz offensichtlich

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ganz eigenem Charakter und zeigen weniger Gemeinsamkeiten mit dem französischen Kubismus als vielmehr mit den eigenen angewandten Entwürfen. So richtete Bell im Dezember 1913 ein Kinderzimmer in den Geschäftsräumen der Omega Workshops ein, dessen Wanddekoration aus geschnittenem, koloriertem Papier gestaltet war. Es entstand gleichsam ein begehbares papier collé.29 Derartige Experimente wurden in den malerischen Bereich übertragen und spiegeln sich in abstrahierenden wie auch in figürlichen Gemälden wider. In Portrait of Molly MacCarthy, 1914/15, behandelt Bell die Malerei nun insgesamt wie eine Collage; Gemaltes und Geklebtes sind nicht mehr zu unterscheiden. Der gemusterte Vorhang im Hintergrund ist nur noch Anlass, die Komposition in Kompartimente aufzubrechen. Von der gemalten Textilie überträgt sich die Befreiung und Auflösung der Formen auf die gesamte Komposition. Wenn in den Abb. 5: Duncan Grant, The Mantelpiece, 1914, Öl, Papier auf Pappe, 45,7 x 39,4 cm, Tate Gallery, London

Gemälden das Material Stoff schließlich als Erweiterung der malerischen Mittel neben der Ölfarbe dann tatsächlich auf die Leinwand geklebt wird, findet das

zur freieren Handhabung der malerischen Mittel und

Crossover auch in ganz realem Sinn statt und wird

diente wie bei August Macke dazu, die malerischen

dieser Inspirationsquelle gleichsam Tribut gezollt.

Ebenen miteinander zu verschmelzen und die

Hervorzuheben ist ein Gemälde von Duncan Grant, in

­Materialität der Gegenstände aufzuheben.

dem er seine Lebensgefährtin in einem selbst entworfenen Omega-Kleid porträtiert und Originalstofffetzen des Kleides in das Bild fügt.30 Der Stoff ist Zitat und

Stoff i m Bild

zugleich gestalterisches Mittel, die Grenzen beider künstlerischer Bereiche aufzuheben. In seinem

„I want more and more to make pictures like

Gemälde Abstract, 1914–15 (Abb. 6), verwendet Grant

objects in some way and yet believe it is useless to

nun gemusterte Stoffstücke prominent als bildgestal-

invent“, schrieb Bell und fügte hinzu: „I want to paint

tendes Element. Das Gemälde gehört zu einer Serie

unrealistic realistic works.“28 In den Jahren 1914/15

von abstrakten Arbeiten, die Grant und Bell vor allem

verwendeten Bell und Grant in einer Serie von

1914/15 ausführen. Hier lassen sich deutliche Paralle-

Gemälden das Prinzip der Collage. Der Auslöser mag in

len zu der strengeren, blockhaft-geometrischen

Besuchen von Grant (1913) sowie Bell und Fry (Anfang

Komposition vieler Omega-Teppichentwürfe feststel-

1914) im Pariser Atelier von Picasso liegen. Allerdings

len, von denen sich zahlreiche in den Londoner

sind die Arbeiten der englischen Künstler_innen von

Sammlungen des Courtauld Institute of Art und des

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249

Abb. 6: Duncan Grant, Abstract, 1914/15, Farbe, Stoff, Collage auf Papier, auf Pappe, 63 x 45 cm, Sammlung Hoffmann, Berlin

Victoria & Albert Museum befinden. Frys Motto,

Vielmehr scheint die Strenge der Bildgestaltung

„There is no immediately obvious reason why the artist

aufgehoben, erhält durch den Stoff gleichsam einen

should represent actual things at all“ , das er schon

gestischen Anstrich. Das Textile erweist sich hier

1911 postuliert hatte, ist nicht mehr nur im textilen

sprichwörtlich als befreiende Intervention. Zugleich ist

Bereich umgesetzt, sondern nun auch in die Malerei

es eine Möglichkeit, jenseits farblicher Wirkung über

übertragen. Hier ist der Stoff jedoch mehr als nur

das Aufbrechen des Geometrischen Emotion und

verknüpfendes Mittel beider künstlerischen Bereiche.

Spontaneität zu transportieren.

31

250

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Ge s c h r i e benes

August Macke das Kunstwerk nicht mehr als Abbild, sondern als „Gleichnis der Natur“ und „selbständigen

Sowohl mit ihren Arbeiten im textilen Bereich

Gedanken des Menschen.“36 Wesentliche Begriffe

als auch mit den Bildern der Jahre 1913 bis 1915/16

waren dabei in Anlehnung an Eugène Delacroix

verstießen August Macke wie die Omega-Künstler_in-

„freedom and vitality“ und „joy“, mit denen Fry im

nen Roger Fry, Duncan Grant und Vanessa Bell gegen

Zusammenhang mit der Gründung der Workshops

Kunstnormen und überschritten Gattungsgrenzen. Das

operierte: „The artist is the man who creates not only

Crossover der unterschiedlichen Bereiche befruchtete

for need but for joy [...].“ 37 „Simplicity and gaiety“ in

dabei wechselseitig angewandte und freie Kunst.

der Dekoration des Hauses führten, so Bell, zu mehr

Beiden Bereichen lagen dieselben kunsttheoretischen

persönlicher Freiheit, diese wiederum zu einem

Ideen zugrunde. Die Zusammengehörigkeit der

besseren Familienleben und tieferen Freundschaften

Medien manifestierte sich, wenn sie zusammen

und zu einer erhöhten Kreativität in der Malerei.38

ausgestellt wurden wie beispielsweise in den beiden

Macke sprach vom „Gesang von der Schönheit der

Ausstellungen der Grafton Group in der Alpine Gallery

Dinge.“39

in London 1913 und 1914. Fry, Bell und Grant gehör-

Das traditionelle Repräsentationssystem als

ten der Ausstellungsgemeinschaft an und präsentier-

Bewertung für Kunst wurde außer Kraft gesetzt,

ten hier ihre textilen Arbeiten Seite an Seite mit ihren

Emotion als zentrale Kategorie in den Fokus gerückt.

Gemälden. August Macke wiederum trat 1912 der

Diese war das entscheidende Kriterium, das sich vom

‚Gilde‘ bei, einer Vereinigung angewandter Künstler_in-

Kunstwerk ganz unmittelbar auf die Betrachtenden

nen. Im selben Jahr plante er sogar, zusammen mit

übertragen sollte. Durch das Crossover realisierte sich

dem Künstlerfreund Heinrich Campendonk eine

das Bestreben der Künstler_innen nach der Gestaltung

neuartige Akademie zu gründen, an der freie und

der gesamten Lebenswelt. Die Trennung zwischen

angewandte Kunst gemeinsam und gleichberechtigt

freier Kunst und Handwerk war aufgehoben. Formen

gelehrt werden sollten.33

galten nun als „starke Äußerungen starken Lebens“40,

32

Kunst als Ausdruck und Stimulus des imaginati-

wie Macke formulierte. Die Suche nach einer künstle-

ven Lebens, dies bildete die Grundlage, die Textilge-

rischen Sprache, die ihrem Verständnis des Zeitgenös-

staltung und Komposition der Gemälde gleichermaßen

sischen entsprach, schloss alle schöpferischen Berei-

bestimmte und Kunst und Leben miteinander in

che gleichermaßen ein. Damit verbunden war die

Einklang brachte. Roger Fry ermutigte in seinen

Absage an die Vorherrschaft des Staffeleibildes, wie

Schriften dazu, die literarische Form zugunsten des

sie sich im 19. Jahrhundert herauskristallisiert hatte.

expressiven Potenzials des Kunstwerks hinter sich zu

Die neue Definition von Dekoration galt nicht mehr

lassen wie etwa in seinem Text „An Essay in Aesthe-

nur für den angewandten beziehungsweise textilen

tics“, den er 1909 verfasste.34 Und im Katalog zur

Bereich, sondern auch für das Bild, das damit seine

zweiten, von ihm 1912 organisierten Ausstellung zum

Bedeutung im Raumgefüge veränderte und in die

Post-Impressionismus bewertete er ihre Errungen-

Gesamtgestaltung eingebunden wurde.

schaften wie folgt: „They do not seek to imitate form,

Besonders interessant ist, dass für die neue

but to create form, not to imitate life, but to find an

Gestaltungsweise der Bilder auch ein neues Vokabular

equivalent for life; [...].“35 Ähnlich definierte auch

angemessen erschien, das dem textilen Bereich

Crossover zwischen Textilien und Malerei um 1914 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412514594 – ISBN E-Book: 9783412518059

251

entstammte. August Macke beschrieb seine Gemälde

lagen des modernen Bildes abzuwerten. Die kräftigen,

als „kunstvolle Teppiche“41, die Komposition einer

harmonischen Farben von Mackes Gemälde Zoologi-

heimatlichen Landschaft als „prächtige, starke Teppich-

scher Garten (1912), so hieß es in der Presse, würden

muster der Meßdorfer Felder“ 42. Und Roger Fry

einem Wandteppich gut anstehen.44 Das neue Kon-

verwendete Begriffe aus dem textilen Bereich, wenn

zept, Dekoration als zentrales Mittel für Emotion auch

er formulierte: „By that I mean that they wish to make

im Gemälde einzusetzen, wurde weiterhin ausschließ-

images which by the clearness of their logical structure

lich für den kunsthandwerklichen Bereich als ange-

and by their closely-knit unity of texture, shall appeal

messen angesehen, für die Malerei aber abgelehnt.

to our disinterested and contemplative imagination

Für die Künstler_innen selbst passten die Begriffe aus

with something of the same vividness as the things of

dem textilen Bereich offensichtlich jedoch genau, um

actual life appeal to our practical activities.“43 Umge-

die Andersartigkeit ihrer Gemälde zu beschreiben und

kehrt argumentierte die Kunstkritik mit ähnlichen

die Grenzüberschreitung zu verdeutlichen.

Kategorien, nun allerdings um die dekorativen Grund-

252

Ina Ewers-Schultz © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412514594 – ISBN E-Book: 9783412518059

1

An m e r k u ngen

The Courtauld Institute of Art, London, Online Collection, Abb.: http://

Dominik Bartmann: August Macke Kunsthandwerk, Frankfurt

4.1.2019].

www.artandarchitecture.org.uk/images/gallery/0e925465.html [Abruf:

a. M. 1982.

15

2

zette, 11.4.1913, S. 3.

Mathilde Moilliet: Brief an Sophie Gerhardt, Riehen,

Roger Fry: Post-Impressionism in the Home, in: Pall Mall Ga-

27.12.1919, Museum August Macke Haus, Archiv.

16

3

Eröffnung im Juli 1913 fertig. Vgl. Collins 1983 (wie Anm. 12), S. 44

Elisabeth Erdmann-Macke: Erinnerung an August Macke (1962),

bzw. S. 106 f.

Frankfurt a. M. 1987, S. 287.

4

Sechs Stoffe, entworfen von Fry, Duncan und Bell, waren zur

August Macke: Brief an Elisabeth Gerhardt, Kandern, 14.7.1907,

17

Elizabeth M. Sheehan: Dressmaking at the Omega: Experiments

in: Werner Frese und Ernst-Gerhard Güse (Hg.): August Macke. Brief an

in Art and Fashion, in: Beyond Bloomsbury: Designs of the Omega

Elisabeth und die Freunde, München 1987, S. 137.

Workshops, 1913–19, hg. v. Alexandra Gerstein, Ausst.- Kat. The Cour-

5

tauld Institute of Art, London, London 2009, S. 51–59.

August Macke: Brief an Elisabeth Gerhardt, Charlottenburg

(Berlin), 18.12.1907, in: Frese/Güse 1987 (wie Anm. 4), S. 163.

18

6

Febr. 1926, S. 83, zit. n. Mary Schoeser: Omega Textiles: A Sea-change

August Macke: Brief an Elisabeth Gerhardt, Kandern, 19.5.1907,

Paul Nash: Modern English Textiles, 1925, in: Artwork, Jan./

in: Frese/Güse 1987 (wie Anm. 4), S. 119.

into Something Rich and Strange, in: Ausst.-Kat. London 2009 (wie

7

Anm. 17), S. 17–25, hier S. 17.

Maurice Denis: Definition du Néo-Traditionnisme (1890), Wie-

derabdr. in: Théories 1890–1910. Du Symbolisme et de Gauguin vers

19

un nouvel ordre classique, 3. Aufl., Paris 1913, S. 1–13, hier S. 1.

Frances Spalding: Duncan Grant, London 1987, S. 136.

8

August Macke: Brief an Elisabeth Gerhardt, Düsseldorf, nach

20

Dafür wurden mit Filz bezogene Holzstöcke verwendet, nach Isabell Anscombe: Omega and After. Bloomsbury and the Deco-

rative Arts (1981), London 1989, S.  12–15, und Fiona MacCarthy:

dem 23.5.1906, in: Frese/Güse 1987 (wie Anm. 4), S. 82. WVZ

Roger Fry and the Omega Idea, in: The Omega Workshops 1913–19.

G 499–501 in: Ursula Heiderich: August Macke. Gemälde. Werkver-

Decorative Arts of Bloomsbury, hg. v. Judith Collins, Ausst.-Kat. Crafts

zeichnis, Ostfildern 2008, S. 478–481.

Council Gallery, London, London 1984, S. 9–23, hier S. 11.

9

10

Vgl.

August

Macke,

Farbige

Formen,

I–III,

Diese wurden erst posthum von einer Weberin ausgeführt. Vgl.

Ina Ewers-Schultz: Eine Reise durch das Leben von August Macke, in:

21

Virginia Woolf: Brief an Vanessa Bell, Asheham, 16.8.1916, zit.

n. Anscombe 1989 (wie Anm. 20), S. 62.

Macke ganz privat, Ausst.-Kat. Kunsthaus Stade, Stade, Köln 2008,

22

S.13–135, hier S. 104 f.

ture, and Domesticity, New Haven 2004, S. 11.

11

Roger Fry: Rundschreiben, Dezember 1912, zit. n. Douglas Blair

23

Vgl. Christopher Reed: Bloomsbury Rooms. Modernism, SubculAugust Macke: Masken, in: Der Blaue Reiter, hg. von Wassily

Turnbaugh: Duncan Grant and the Bloomsbury Group, Secaucus 1987,

Kandinsky und Franz Marc, Ausst.-Kat. Galerie Thannhauser München

S. 51.

(1911), Dokument. Neuausg., hg. von Klaus Lankheit, München 1984,

12

Judith Collins: The Omega Workshops, London 1983, S. 43, und

S. 53–59, S. 56, Hervorhebung durch die Autorin.

Karin Thönissen: Die Omega Workshops. Malerei im Raum, in: Auf Frei-

24

heit zugeschnitten. Das Künstlerkleid um 1900 in Mode, Kunst und

Collins 1983 (wie Anm. 12), S. 113.

Duncan Grant: Gespräch mit David Brown, Herbst 1972, zit. n.

Gesellschaft, hg. v. Ina Ewers-Schultz und Magdalena Holzhey, Ausst.-

25

Kat. Kunstmuseen Krefeld, München 2018, S. 214–219, hier S. 219.

Vgl. Richard Shone: Works, in: ders.: From Omega to Charleston. The

13

Art of Vanessa Bell and Duncan Grant 1910–1934, hg. v. Matthew

Collins 1983 (wie Anm. 12), S. 43. Vanessa Bell, Summer Camp,

1913, Öl auf Leinwand, 62,2 x 75 cm, Privatbesitz, und dies., Bathers in

U. a. werden Cézanne, Matisse, Picasso als Vorbilder genannt.

Traves, Ausst.-Kat. Piano Nobile, London, London 2018.

a Landscape, Faltbarer Schirm, 1913, Gouache auf Papier, auf Leinwand

26

aufgezogen, 178,5 x 208,3 cm, Victoria & Albert Museum, beide abge-

Roger Fry, Vanessa Bell and Duncan Grant, hg. v. Richard Shone, Ausst.-

bildet in: Collins 1983 (wie Anm. 12), Nr. 32 und Nr. 33. Duncan Grant,

Kat. Tate Gallery, London, London 1999, S. 23–96, z. B. S. 32: Grace

Lily pond table, 1913, Gips und Malerei auf Holz, 74 x 103,4 cm, The

Brockington: Relationships: Formal, Creative and Political, in: Grace

Courtauld Institute of Art, Online Collection, Abb.: http://www.artan-

­Brockington (Hg.): In Focus: Abstract Painting c. 1914 by Vanessa Bell,

darchitecture.org.uk/images/gallery/0f26f563.htm [Abruf: 4.1.2019].

Tate Research Publication, 2017, https://www.tate.org.uk/research/

Duncan Grant, Four-fold screen with Lily pond design, 1913/14, Öl auf

publications/in-focus/abstract-painting-vanessa-bell/relationships

Holz, 181,3 x 242,4 cm, The Courtauld Institue of Art, Online Collec-

[Abruf: 29.11.2018].

Siehe: Anscombe 1989 (wie Anm. 20); The Art of Bloomsbury.

tion, Abb.: http://www.artandarchitecture.org.uk/images/gallery/

27

f6673c45.html [Abruf: 4.1.2019].

306,1 cm, Tate Gallery, London, Abb. in: https://www.tate.org.uk/art/

14

artworks/grant-bathing-n04567 [Abruf: 4.1.2019].

Prinzip der Omega Workshops war, die Arbeiten anonym zu

Duncan Grant, Bathing, 1911, Öl auf Leinwand, 228,6  x

belassen, sodass Zuschreibungen schwierig sind. Vgl. Omega Work-

28

shops, Rug design, 1913–15, Gouache, pencil on paper, 40,5 x 50,7 cm,

1916, zit. n. Anscombe 1989 (wie Anm. 20), S. 67.

Vanessa Bell: Brief an Roger Fry, Wissett Lodge, Ende April

Crossover zwischen Textilien und Malerei um 1914 © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412514594 – ISBN E-Book: 9783412518059

253

29

Omega Workshops nursery, Omega publicity photograph,

Kato: The Omega Workshops: Roger Fry’s Search for Community, in:

30

Duncan Grant, Vanessa Bell, 1914, Öl auf Leinwand, 94  x

Ausst.-Kat. London 2009 (wie Anm. 17), S. 71–77, hier S. 73. Frys Ideen

60,6 cm, National Portrait Gallery, London, NPG 4331, Abb.: https://

basierten auf Delacroix. Dieser hatte 1863 in seinem Tagebuch notiert.

www.npg.org.uk/collections/search/portrait/mw00493/Vanessa-Bell

„Es ist die erste Pflicht eines Bildes, ein Fest für die Augen zu sein.“ Eu-

[Abruf: 4.1.2019].

gène Delacroix: Mein Tagebuch (1903), Zürich 1993, S. 251. Siehe auch

31

Spalding 1987 (wie Anm. 19), S. X.

Roger Fry: Post-Impressionism, in: The Fortnightly Review, Mai

1911, S. 862, zit. n. Julian Stair: The Employment of Matter: Pottery of

38

the Omega Workshops, in: Ausst.-Kat. London 2009 (wie Anm. 17),

Workshops, 1913–19, Rezension zur gleichnamigen Ausstellung,

S. 27–33, hier S. 28.

https://www.studiointernational.com/index.php/beyond-bloomsbury-

32

designs-of-the-omega-workshops-1913 [Abruf: 14.12.2018].

Grafton Group Exhibition, März 1913, siehe Spalding 1987 (wie

Janet McKenzie: Beyond Bloomsbury: Designs of the Omega

Anm. 19), S. 135; zur zweiten Grafton Group Exhibition, Januar 1914,

39

siehe Collins 1983 (wie Anm. 12), S. 79.

Frese/Güse 1987 (wie Anm. 4), S. 302.

33

leben, Interieur und Kunsthandwerk im rheinischen Expressionismus

40 41

(Schriftenreihe Verein August Macke Haus Bonn, 54), Bonn 2008,

in: Frese/Güse 1987 (wie Anm. 4), S. 58.

S. 49–103, hier S. 66.

42

34

8.1.1908, in: Frese/Güse 1987 (wie Anm. 4), S. 170.

Ina Ewers-Schultz: „Ringsum Schönheit“, in: Lebenswelten. Still-

Roger Fry: An Essay in Aesthetics, in: New Quarterly, 1909,

August Macke: Brief an Bernhard Koehler, Bonn, 30.3.1913, in: Macke 1911, in: Lankheit 1984 (wie Anm. 23), S. 57. August Macke: Brief an Elisabeth Gerhardt, Bonn, 14.7.1905, August Macke: Brief an Elisabeth Gerhardt, Berlin-Schöneberg,

wiederabgedr. in: ders.: Vision and Design, London 1920, hier S. 2, 4.

43

35

and Russian Artists, London 1912, S. 117, zit. n. Anscombe 1989 (wie

Roger Fry: Preface, in: Second Post-impressionist Exhibition,

Roger Fry: Second Post-Impressionist Exhibition. British French

British French and Russian Artist, Ausst.-Kat. Grafton Galleries, London

Anm. 20), S. 16.

1912, wiederabgedr. in: Roger Fry: Vision and Design, London 1920,

44

S. 157.

raf-Richartz-Museum, in: Kölner Stadtanzeiger, 9.1.1913, wiederab-

36

August Macke: Brief an Bernhard Koehler, 30.3.1913, in: Frese/

Anonym: Zur Jahres-Ausstellung der Kölner Sezession im Wall-

gedr. in: Max Ernst in Köln. Die rheinische Kunstszene bis 1922, hg. von

Güse 1987 (wie Anm. 4), S. 302.

Wulf Herzogenrath, Ausst.-Kat. Kölnischer Kunstverein, Köln, Bonn

37

1980, S. 39. Gemeint war sein Gemälde Zoologischer Garten I, vgl. Hei-

Roger Fry: Vorwort, in: Omega Workshops Descriptive Cata-

logue, Herbst 1914, zit. n. Collins 1983 (wie Anm. 12), S. 15. Vgl. auch

254

Anonymus: Prospectus for the Omega Workshops (1913), zit. n. Akiko

Dezember 1913, Abb. in: Collins 1983 (wie Anm. 12), Nr. 20.

derich 1987 (wie Anm. 9), Nr. 421.

Ina Ewers-Schultz © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412514594 – ISBN E-Book: 9783412518059

künstlerischen Mittel und Ausdrucksweisen bereits zu ihren Entstehungszeiten von vielen Zeitgenossen nicht gleichberechtigt neben andere Gattungen wie Malerei oder Bildhauerei gestellt wurden, hing sicherlich mit geschlechtsspezifischen Zuschreibungen zusammen. Handarbeiten wurden dem Weiblichen und Häuslichen zugeordnet; eine tatsächliche Anerkennung des Stickens als ‚hohe Kunst‘ begann erst vor wenigen Jahren und dann vor allem in Bezug auf die Gegen-

Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilb ilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Ko ntext Burcu Dogramaci

wartskunst.3 Die textile Kunst der Moderne, wie sie von Künstlerinnen wie Maria Marc oder Lilli Vetter praktiziert wurde, gehört noch immer nicht zum künstlerischen Kanon und wird in Überblickswerken zur modernen Kunst nicht berücksichtigt.4 Es ist längst an der Zeit, diese eingeschränkten Perspektiven zu erweitern und das Ausdrucksspektrum der Moderne nicht auf tradierte Gattungen festzuschreiben. Auch die Neue Sachlichkeit ist eine vornehmlich als Malerei, Fotografie und Grafik wahrgenommene und kanonisierte Strömung. So waren keine textilen

Unter den modernen Textilkünstlerinnen nimmt

Arbeiten auf der 1925 von Gustav Friedrich Hartlaub

Franziska (Fränze) Pfannkuche eine prägnante Position

eingerichteten, stilbildenden Ausstellung Neue Sach-

ein. Ihre neusachlichen Stickbilder und Textilapplikati-

lichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus in

onen sind bislang kaum beachtet worden.2 Neben ihrer

der Mannheimer Kunsthalle vertreten.5 Diese Ausstel-

Anstellung in Studios für Textildessins führte Pfannku-

lung und einige zeitgenössische Texte6 prägten die

che in den 1920er Jahren kontinuierlich freie textile

Begriffsgeschichte und Historiografie der Strömung.

Arbeiten aus, die der Kunstströmung Neue Sachlich-

Bis in die Gegenwart halten sich hartnäckig die bereits

keit eine ganz eigene Ausprägung gaben. Statt mit

in den 1920er Jahren artikulierten Prämissen, was die

Pinsel und Farbe arbeitete die Künstlerin mit Nadel,

Neue Sachlichkeit sei und in welchen Techniken und

Garnen und Schere (Abb. 1) und schuf Werke, die den

Gattungen sie Ausdruck finde.7

1

Kanon der modernen Kunst nicht nur technisch

Die folgenden Ausführungen wenden sich einem

erweiterten. So stickte Pfannkuche Seiltänzerinnen,

Werk zu, das bislang keine Präsenz in der Kunstge-

Prostituierte und Schaufensterpuppen, formulierte

schichte der Moderne hat. Franziska Pfannkuches textiles

Körper und urbane Räume in kräftigen Farben,

Œuvre, das nicht mehr als ein Dutzend erhaltener, im

stilisierten Formen und prägnanten Linien. Ihre

Familienbesitz verwahrter Werke umfasst8, ist dabei auch

Applikationen sind textile Collagen aus verschiedenen

ein Ausgangspunkt, um die Neue Sachlichkeit neu zu

Stoffen wie Seide, Baumwolle oder Tüll, die mit- und

perspektivieren und damit zugleich das Spektrum der

übereinander komponiert werden. Dass diese textilen

modernen Kunst um eine textile Moderne zu erweitern.

Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext

255

Themen des Alltags. In einer undatierten Kritik von Willi Wolfradt heißt es: „Auch Fränze Pfannkuche setzte ein mit religiösen Themen, gestickten Ikonen östlichen Gepräges; es folgten allgemeinere Darstellungen romantisch-lyrischen Inhalts, Segelboote etwa aus sinnenüberstrahltem Meer oder ein Liebespaar in traumstiller Umarmung; eine jüngste Schicht ihres Schaffens bevorzugt Gegenstände von exzentrischer Art wie die Wachsfiguren eines Friseur-Schaufensters oder die Drahtseil-Artistin hoch über den Häusern. Es ist eine sehr bezeichnende und in jeder Hinsicht Abb. 1: Franziska Pfannkuche mit Stickrahmen, undatiert [1920er Jahre]

zukunftshaltige Entwicklung.“11 Da bislang keine Forschungsliteratur und lexikalischen Einträge zur Künstlerin existieren, seien

Körp er als Ware: Tex tile Ikonograf ien der Neuen Sa chlichkeit

in aller Kürze Ausbildung und zentrale Schaffensjahre umrissen: Franziska Pfannkuche, geborene Schmidt, kam als Älteste von drei Schwestern am 4. März 1894 in Landshut zur Welt und wuchs in Breslau und im oberschlesischen Neiße auf.12 Die Eltern unterstützten

In seiner Publikation Nach-Expressionismus von 1925 beschreibt Franz Roh die zentralen Parameter

Schwester Erna Schmidt-Caroll13, die im Berlin der

der expressionistischen und der neusachlichen

1920er Jahre eine erfolgreiche Gebrauchsgrafikerin

Kunstströmung: Neben dem expressiven Duktus als

und Lehrerin an der Schule Reimann werden sollte,

Form der Selbstentäußerung diagnostiziert er rückbli-

studierte Franziska Pfannkuche 1911 bis 1916 an der

ckend eine „Vorliebe für phantastische, überirdische

Königlichen Akademie für Kunst und Kunstgewerbe in

oder entlegene Objekte“ und „[a]uffallend viel religiöse

Breslau.14 Unter der Leitung des Architekten Hans

Themen“ . Diesen Motiven setzt er das nach-expressi-

Poelzig gehörte diese Kunsthochschule zu den

onistische (damit ist die später als neusachlich defi-

progressiven Ausbildungsstätten im Wilhelminischen

nierte Strömung gemeint) Interesse für „unsere eigene

Kaiserreich. Im Berliner Modehaus Herrmann Gerson

Welt“ entgegen, wobei ebenso der Alltag und das

fand Pfannkuche ihre erste Anstellung als Modezeich-

Alltägliche wie auch die „unausgerottenen Greuel

nerin und wechselte 1917 in die Werkstätten textiler

unserer eigenen Zeit“ gemeint sind. Unter Letzterem

Kunst und Vereinigte Seidendruckerei in Berlin, wo sie

fasst Roh die Gemälde von Otto Dix und George

bis 1927 Textildessins entwarf. In ihrem Arbeitszeugnis

Grosz, die sich Kriegsversehrten, Bettlern, Kriegsge-

werden Pfannkuches „Sinn für Farbengebung“ und ihre

winnlern, Prostituierten und Schaustellern widmeten.

„souverain zeichnerische Sicherheit“15 hervorgehoben.

9

10

Im künstlerischen Nachlass von Franziska

256

ihre Töchter in ihren beruflichen Ambitionen. Wie ihre

Zwischen 1936 und 1944 war Pfannkuche im Studio

Pfannkuche finden sich sowohl religiöse Bilder wie ein

von Maria May als Zeichnerin für Stoffmuster tätig

Engel-, Marien- und Christusmotiv (Abb. 2) als auch

(Abb. 3). In der Zeit des Nationalsozialismus konnte die

Burcu Dogramaci

Schmidt-Caroll lehrten, gingen die politischen Umbrüche nicht vorbei. Immer weniger jüdische und ausländische Schüler konnten die Schule besuchen, und der Gründer Albert Reimann emigrierte 1938 nach London.19 Es ist also anzunehmen, dass Franziska Pfannkuche durchaus die politisch bedingte Erosion der Berliner Kunst- und Modelandschaft wahrnahm; wie sie sich dazu verhielt, ist indes nicht zu rekonstruieren. Fakt ist allerdings, dass das Studio Maria May im Nationalsozialismus prestigeträchtige Aufträge erhielt, darunter 1935 die Ausstattung des Luftschiffes LZ 129 Hindenburg und 1939 die Inneneinrichtung des Auswärtigen Amtes in Berlin.20 Welchen Anteil Franziska Pfannkuche an diesen Entwürfen hatte, lässt sich nach heutigem Kenntnisstand allerdings noch nicht sagen. 1944 wurde das Studio Maria May aufgelöst.21 Seit 1948 bis zu ihrem Ruhestand im Jahr 1958 war Pfannkuche in Biberach bei WM Schmitz & Abb. 2: Franziska Pfannkuche, Engel, undatiert [1920er Jahre], Applikation, 37 x 32,7 cm

Co., Württembergische Seidenweberei als Entwerferin im Musterungsatelier tätig und schuf Dessins für verschiedene Stoffe und Verwendungszwecke.22

Künstlerin also aufgrund eines Nachweises ihrer

Im Folgenden soll der Schwerpunkt allerdings

„arischen Abstammung“ ihre Tätigkeit fortführen. Im

nicht auf Pfannkuches Entwürfen für Stoffdessins

Gegensatz zu vielen anderen Künstler_innen musste

liegen, sondern auf ihren freien Stickbildern. Für ihre

sie nach 1933 nicht um ihr Leben oder ihren Beruf

außergewöhnliche Arbeiten setzte sich der Architekt

bangen. Dennoch war sicherlich ihr künstlerisches

Hans Poelzig ein, der ihr seit der Breslauer Zeit

Umfeld von der rassistischen Kultur- und Verfolgungs-

verbunden war, und empfahl ihr Werk dem Galeristen

politik der Nationalsozialisten betroffen: In der Kunst-,

Alfred Flechtheim und der Schriftstellerin Thea

Mode- und Kulturszene wurden jüdische Mitarbeiter

Sternheim. In seinem Brief an Flechtheim schreibt er

entlassen, Verlage und Modehäuser in jüdischem

am 7. Mai 1928: „Nun hat Frau Thea Sternheim die

Besitz wurden zwangsweise „arisiert“. Dazu gehörte

Arbeiten von Frau Pfannkuche gesehen und ist

auch das Modehaus Herrmann Gerson, in dem

ausserordentlich dafür, dass diese wirklich künstlerisch

Pfannkuche im Jahr 1916 kurze Zeit als Zeichnerin

sehr eigenartigen Stickereien bei Ihnen ausgestellt

tätig gewesen war. Gerson, das in den zwanziger

werden sollten. Ich war ja damals schon der Meinung,

Jahren über 1.200 Angestellte verfügte, wurde durch

dass Ihre Galerie für diese Arbeiten der einzige Platz

die Firma Horn „arisiert“ . Auch an der Berliner Schule

ist, vor allem auch wegen Ihrer Beziehungen zu Paris,

Reimann, an der Pfannkuches Vorgesetzte, die Textil-

und da ich die Arbeiten von Frau Pfannkuche wirklich

künstlerin Maria May, und ihre Schwester Erna

hervorragend finde, so bitte ich Sie, sie doch anzuse-

16

17

18

Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext

257

Abb. 3: Franziska Pfannkuche im Studio Maria May, Berlin, ca. 1936–1939

hen und, wenn möglich, auszustellen.“23 Alfred Flecht-

258

Ein prägnantes Beispiel für Pfannkuches Werk

heim war mit vielen avantgardistischen Künstlerinnen

der 1920er Jahre ist ihr Stickbild Schaufenster (Abb. 4),

und Künstlern seiner Zeit freundschaftlich und

das das Interesse der Künstlerin an der Entgrenzung

beruflich verbunden, darunter auch George Grosz, den

zwischen Mensch und Objekt offenbart. So lässt sich

er in seiner Galerie vertrat, und Otto Dix, der Flecht-

bei den im Schaufenster eingefassten Dingen zunächst

heim porträtierte. Zum Werk beider Künstler, die zu

nicht wirklich erfassen, ob sie Frauen oder Schaufens-

den bekanntesten Exponenten der veristischen Kunst

terpuppen sind. In einem Raum sind zwei Büsten auf

gelten, weisen Pfannkuches Arbeiten besondere

Sockeln aufgestellt, rechts liegt eine Hand mit beklei-

Analogien auf. So finden sich in den Werken der drei

detem Unterarm, darüber stehen zwei Flakons. In der

Künstler ähnliche Motive im Milieu der Schausteller,

Bildmitte steht neben einem Blumenbouquet die

des Varietés und der Großstadt.

zentrale Figur: ein maskierter weiblicher Akt mit einem

Burcu Dogramaci

gerüschten Slip und Knöpfstiefeln – beides im selben

scher Produktion gesehen werden. Vielmehr lässt sie

hellen Rotton – hält den linken Arm über dem Kopf.

sich auch innerhalb ihres Werkes mit einem anderen

Eine weiße Blume in der linken Hand und ein Fächer

Stickbild (Abb. 6, 7) kontextualisieren. Gemeinsam

in der Rechten betonen die laszive Pose. Um die

formulieren beide Werke einen künstlerischen Kom-

Taille und den Hals trägt die Figur Ketten, den Ober-

mentar zu Prostitution und Sexarbeit: In einem Haus,

arm ziert ein Armreif. Die Figur steht auf einem kleinen

vor dessen Backsteinfassade Pflanzen ranken, befin-

Teppich; auffällig ist, dass der Bildraum nicht zentral-

den sich drei Frauen. Eine von ihnen steht im Türrah-

perspektivisch komponiert, sondern einer eigenen

men und fasst sich mit der Hand unter ihre entblößte

Logik verschiedener Perspektiven folgt. Mit Blick auf

Brust und streckt diese den Betrachter_innen entge-

die Büsten und die ausgestellte künstliche Hand ließe

gen. Sie trägt ein geschnürtes Mieder mit Federn an

sich auch die nackte Figur in der Bildmitte als Puppe

der Hüfte, Strapse und ein Strumpfband. Der hellblaue

identifizieren. Sie kann aber auch eine Prostituierte

Lidschatten korrespondiert zu dem dunklen Blau der

sein, die sich den Blicken ihrer Freier präsentiert.

Haare und der Strümpfe. Hinter ihr führt eine Treppe

Vergleichend heranziehen lässt sich das Still­

hinauf. Im Fenster sitzen zwei weitere Frauen: vorn

leben Frisierpuppen (1927, Abb. 5) von Grethe Jürgens,

beugt sich eine Sitzende in die Fensteröffnung; sie

bei dem im Bildvordergrund eine Büste und eine

trägt einen Armreif und einen Kamm im Haar. Die

Halbfigur zu sehen sind, wobei die eine streng zur

hinter ihr Stehende präsentiert mit aufgestütztem Arm

Seite blickt, die andere den Blick frontal aus dem Bild

den nackten Oberkörper. Sie hat sich geschmückt,

lenkt. Die Figurinen sind von Stoffen bedeckt und

trägt Perlen im Haar, Schmuck um den Hals und am

teilen sich den engen Raum mit Gegenständen wie

Arm. Alle drei Frauen stellen ihre Reize aus und

einer Lampe, einem Fächer, einem Sockel. Hinten ist

adressieren mit Blicken und der Körpersprache ihr

eine weibliche Hand zu erkennen. Die Menschenähn-

Gegenüber. Bei dem Haus wird es sich um ein Bordell

lichkeit der Dinge wird durch Details aufgehoben: die

handeln. Eine vorn am Eingang hängende rot leucht-

Büste steht auf einem Sockel, die frontal stehende

ende Lampe verweist auf das Rotlichtviertel, in dem

Puppe hat keine Arme, beider Blick ist seltsam erstarrt.

wir uns befinden. Die Frau als Ware, die das Begehren

Und dennoch bleibt ein Rest Grauzone zwischen den

ihrer Kunden mit sexuell konnotierter Kleidung,

unbelebten Dingen und dem eingefrorenen Leben

nackter Haut und expliziten Gesten wie Blicken weckt,

erhalten.24 Der Vergleich von Franziska Pfannkuches

wird hier ebenso ausgestellt, wie die Puppenkörper im

Stickbild mit dem gemalten Stillleben von Grethe

Schaufenster. Die Intimität des Sujets wird durch das

Jürgens offenbart, dass textile Künste bereits ikono-

übersichtliche Format der Stickbilder, die in etwa die

grafisch eine Nähe zu anderen künstlerischen Techni-

Größe DIN A4 besitzen, noch betont. Stickerei

ken und Ausdrucksweisen ihrer Zeit aufweisen. Aber

verweist auf detailreiche Feinarbeit, das Auge bewegt

auch in der zeitgenössischen Fotografie finden sich

sich von den einzelnen Stichen zu den bestickten

zahlreiche Beispiele für das große medienübergrei-

größeren Flächen, nimmt die Konturen der Figuren

fende Interesse an Puppenkörpern.25

auf, gleitet über die sorgfältig formulierten Blütenblät-

Pfannkuches Stickerei, die den weiblichen

ter zu den kleinen festen Brüsten und den winzigen

Körper als Ware reflektiert, sollte jedoch nicht nur im

Brustwarzen der Frau im Fenster. Stickerei fordert ein

Kontext zeitgenössischer künstlerischer und fotografi-

Sehen in Details, die Nacktheit erfahrbarer macht.

Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext

259

Abb. 4: Franziska Pfannkuche, Schaufenster, undatiert [1920er Jahre], Stickerei, 21,4 x 16,7 cm

260

Burcu Dogramaci

und Verführung waren in den 1920er Jahren vor allem in den malerischen oder grafischen Werken von männlichen Kunstschaffenden wie Otto Dix, Rolf Nesch oder Rudolf Schlichter präsent.26 Doch gibt es selbstverständlich Ausnahmen: Künstlerinnen wie ­ Elsa Haensgen-Dingkuhn, Elfriede Lohse-Wächtler oder Hella Jacobs malten Prostituierte, Zuhälter und Freier im Hamburger Rotlichtmilieu.27 Allerdings formulierten sie ihre Motive im Medium der Zeichnung, des Aquarells oder der Ölmalerei. Damit bewegten sie sich in den tradierten akademischen Gattungen. Pfannkuche jedoch wählte die Technik der Stickerei für ihre provokanten Sujets. Sticken war lange Zeit eine betont weiblich und häuslich konnotierte textile Ausdrucksform, bei der es um die Disziplinierung und geschlechtsspezifische Erziehung von Mädchen und jungen Frauen ging: „Finally, in the nineteenth century, embroidery and feminity were entired fused, and the connection was deemed to be natural“28, schreibt Rozsika Parker in ihrer grundlegenden Studie The Subversive Stitch. Parkers Buch versammelt auch das historische Motivrepertoire häuslichen Stickens, das von Blumenmotiven und Ornamenten hin zu harmonischen Familienporträts reicht. Pfannkuches Themen bilden aus dieser Perspektive einen doppelten Bruch mit Konventionen: Sie schleuste – gerade für Frauen – Abb. 5: Grethe Jürgens, Frisierpuppen, 1927, Öl auf Leinwand, 96,5 x 59,5 cm, Privatsammlung

tabuisierte Themen wie Sexualität und Prostitution in die überschaubare Welt der Stickerei ein. Und sie wählte eine textile Technik für diese neusachlichen

Dabei scheinen die stark reduzierten Physiogno-

Sujets, die nicht als ‚hohe‘ Kunst akzeptiert war.29

mien – die Frauen besitzen stets übergroße Augen, deren Augenaufschlag durch den Lidschatten betont ist – und die farbenfrohe Übersetzung des Themas Prostitution zunächst keinen Anhaltspunkt für eine

Ta kt i li t ät und Kont rolle: Text i le Bei t rä ge z ur Neuen Sa chli chkei t

explizit (sozial-)kritische künstlerische Perspektivierung zu geben. Erst der größere kunsthistorische Kontext

Zumindest von einigen Zeitgenossen Pfannku-

zeigt auf, dass Pfannkuche hier mit Konventionen

ches wurde die künstlerische Qualität ihrer Stickereien

bricht. Sujets wie Prostitution, Käuflichkeit, Begehren

aber bereits erkannt; so schreibt der Kunstkritiker Willi

Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext

261

Abb. 6: Franziska Pfannkuche, Rotlichtviertel, undatiert [1920er Jahre], Stickerei, 21 x 23 cm, 24 x 27 cm (Untergrund)

262

Wolfradt: „Die heute der Aufmerksamkeit empfohle-

fest geflochtenen Streifen verweben, wie gehäkelt

nen Bilder der Poelzig-Schülerin Fränze Pfannkuche

verketten, in Schnüren, Biesen oder engmaschigen

unterscheiden sich hiervon [der ‚Nadelmalerei‘ von Lilli

Texturen von glatter und gekräuselter Beschaffenheit

Vetter] wesentlich durch die Selbständigkeit und den

zusammendrängen. Diese verschiedenen Sticharten,

Strukturreichtum der stickerischen Form. Der Grund

sämtlich mit miniaturistischer Finesse ausgeführt,

ist ganz dicht bedeckt mit Seidenstichen, die sich zu

erfüllen in ihrem Wechsel die Bildfläche mit kostbarem

Burcu Dogramaci

Abb. 7: Franziska Pfannkuche, Rotlichtviertel, undatiert [1920er Jahre], Stickerei, 21 x 23 cm, 24 x 27 cm (Untergrund), Rückseite

Eigenleben. [...] Die künstlerischen Ausdrucksmittel,

Neuen Sachlichkeit zu leisten vermag als die Ölmalerei,

schön übereingestimmt, vermeiden ebenso die

die Zeichnung oder die Druckgrafik. Diese Medienspe-

ornamentale wie eine malerische Wirkung, um stets

zifität der neusachlichen Stickerei soll im Kontext

den Begriff ‚gesticktes Bild‘ zu verwirklichen.“ Damit

anderer Ausdrucksformen der Neuen Sachlichkeit

wird deutlich, dass die Stickerei als taktil erfahrbare

untersucht werden.

30

Ausdrucksform einen anderen Beitrag zur Kunst der

Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext

263

Malerei und hier vor allem auf den Werken von Otto Dix, Alexander Kanoldt, Georg Schrimpf und anderen. Aber auch die Gemälde von Christian Schad erfüllen die genannten Kriterien: die Ölfarbe wurde in dünnen Schichten aufgetragen, der Pinselstrich bleibt nahezu unsichtbar.33 Die glatte Oberfläche von Haut, Dingen und beobachteter Natur evoziert die von Roh beschriebene Kälte und Distanzierung (bei ihm als „Objektivation“). Auch Wieland Schmied adaptiert die bereits in den 1920er Jahren festgeschriebenen stilistischen Merkmale für seine Analyse der Neuen Sachlichkeit, darunter „die Austilgung der Spuren des Malprozesses, die Freihaltung des Bildes von aller Gestik der Handschrift“34. Übertragen auf die Stickerei von Franziska Pfannkuche lassen sich nur einige dieser Kriterien verifizieren. Zunächst einmal existiert eine gewisse Nähe zwischen Stickerei und Malerei. Silke Tammen hat darauf verwiesen, dass in beiden Techniken ein vorhandener Grund – bei einem Gemälde beispielsweise die Leinwand – bearbeitet wird, während beim Weben Grund und Motiv erst erschaffen werden: „In contrast Abb. 8: Franziska Pfannkuche, Entwurf für das Stickbild Seiltänzerin, undatiert [1920er Jahre], Gouache, 29,2 x 21,6 cm

to weaving, where images and patterns are created by interlacing yarns, the embroiderer relates to the foundation fabric as if drawing or painting on canvans; as a consequence of its manifold possibilities, embroidery

Zunächst stellt sich die Frage, wie die Neue Sachlichkeit jenseits ihrer Motivwelten und Hinwen-

Die Ordnung des Stickbildes, bei der die regel-

dung an die „Wirklichkeit“ begriffen wird und ob

mäßigen Stiche Flächen bedecken oder feine Umrissli-

Zuschreibungen an künstlerische Techniken, an

nien ziehen, wirkt kontrolliert. Die Technik der Sticke-

neusachliche Form und Ästhetik existieren. In Rohs

rei kann damit der angenommenen Sachlichkeit und

Nach-Expressionismus werden Expressionismus und

Kälte neusachlicher Kunst durchaus zugeordnet

Neue Sachlichkeit einander tabellarisch und dichoto-

werden. Zudem verweigert auch der Nadelstich den

misch gegenübergestellt. Dort heißt es zu den neu-

Rückverweis auf eine individuelle Handschrift, das

sachlichen Merkmalen unter anderem: „Kühl, bis kalt“,

heißt, es gibt auf der technischen Ebene keine erkenn-

„Dünne Farbschicht“, „Glättend, vertrieben“, „Wie blank

bare, unverwechselbare und eindeutige Beziehung

gemachtes Metall“, „Arbeitsprozeß austilgend (reine

zwischen Objekt und Urheber_in. Auf einer anderen

Objektivation)“ . Roh gründete sein Schema auf

Ebene bricht die Stickerei mit einer zentralen der

31

32

264

can adapt to almost any foundation fabric […].“35

Burcu Dogramaci

Abb. 9: Franziska Pfannkuche, Seiltänzerin, undatiert [1920er Jahre], Stickerei, 29,5 x 21,8 cm

Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext

265

Neuen Sachlichkeit zugeschriebenen Eigenart: Die

des verbreiteten Themas. Im Entwurf (Abb. 8) ist die

Oberfläche des Stickbildes ist nicht glatt, sondern

Komposition mit Gouachefarbe detailliert angelegt:

haptisch erfahrbar. Die gestickten Garne sind, abhän-

eine Artistin balanciert mit Schirmen auf einem Seil,

gig von Material, Fadenstärke und Stichtechnik, auf

unter ihr ist eine Stadtkulisse zu sehen, und der Mond

unterschiedliche Weise taktil erfassbar. Diese Taktilität

beleuchtet die Szenerie im blauen Himmel. Dabei ist

ist dabei nicht nur auf das händische Erfassen, sondern

der Himmel mit den Mitteln der Malerei gestaltet;

auch den Blick bezogen: denn dieser kann das Stick-

pastose und wässrige Blautöne lassen ein changieren-

bild ebenfalls abtasten, gerade wenn es aus der

des und lebendiges Himmelsgebälk entstehen. In der

Nahsicht fokussiert wird. Auf die Wirkung von Stoffen

Übertragung auf das Stickbild (Abb. 9) werden aus

und ihren taktil erfahrbaren Oberflächen auf Hände

diesen differenzierten Blautönen regelmäßig gestickte

(begreifen) und das Auge (sehen) verweist die Bau-

Wellenformen in Taubenblau. Doch kann die Stickerei

haus-Künstlerin Otti Berger in ihrem Text „Stoffe im

auf einer weiteren Ebene mehr Wirklichkeitsnähe oder

Raum“ von 1930, in dem sie (hier allerdings mit

‚Realismus‘ erzeugen als es die Malerei vermag. Dort,

Schwerpunkt auf Weberei) schreibt: „wichtig ist das

wo das Textile Textiles beschreibt, entsteht eine

taktilische im stoff. das taktilische im stoff ist das

Überlagerung zwischen der gestickten Wirklichkeit und

primäre. ein stoff soll gegriffen werden. man muß ihn

jener des Bildes: Das Kostüm der Seiltänzerin und vor

mit den händen ‚begreifen‘ können! der wert eines

allem die feinen Fransen wirken in der Anmutung der

stoffes soll zuerst im taktilischen, im tastwert erkannt

Stickerei lebensnah. Und auch das Seil, auf dem die

werden. das begreifen eines stoffes mit den händen

Frau steht, ist aus Garn und damit eine textile Struktur.

kann ebenso schön empfunden werden, wie eine farbe vom auge oder wie ein klang im ohr.“36 Diesen Überlegungen gingen Ende des 19. Jahrhunderts Alois Riegls Ausführungen zu dem Tast- und Gesichtssinn im

Für ei ne p lura le Neue Sa chli chkei t

Kontext altorientalischer Teppiche voraus; Riegl brachte das „abtastend Gesehene und das Ertastete“37

Technik der Stickerei oder, vice versa, das Verständnis

Herstellungstechniken.

von Stickerei als neusachliche Ausdrucksform führt

Der Unterschied zwischen Malerei und Stickbild

unweigerlich zur Erweiterung der Definition dieser

wird noch einmal deutlicher, wenn Pfannkuches

Kunstströmung der 1920er Jahre. Neben der Malerei

Entwurfszeichnung zu ihrem Stickbild Seiltänzerin

hat bislang vor allem die neusachliche Grafik Aufmerk-

herangezogen wird. Das Motiv der Seiltänzerin ist eine

samkeit erhalten, für die bereits ein Zeitgenosse, der

Konstante in der Bildwelt der Weimarer Republik,

Künstler Rudolf Dischinger, ähnliche Merkmale wie für

findet sich etwa in der Zeichnung Die Seiltänzerin

die Malerei notierte: „Penetrante Beobachtung der

(1925) von Conrad Felixmüller oder dem Aquarell

(ausgewählten) optischen Szene. Kühl, interessiert, in

Seiltänzer. Emilie Meier geht über den Kuhmühlenteich

der Zeichnung suchend den optischen Schock, die

(1921) von Elsa Haensgen-Dingkuhn. Pfannkuche

Aggressivität präziser Wiedergabe, eingehend mög-

findet in ihrem Stickbild Seiltänzerin aber eine eigene,

lichst in auch geringfügige Details, ohne große Form

dem Medium der Stickerei spezifische Formulierung

zu verlieren.“39 Obgleich viele der hier beschriebenen

38

266

Die Öffnung der Neuen Sachlichkeit für die

ins Verhältnis zu Textilien, Fragen von Material und

Burcu Dogramaci

Abb. 10: Franziska Pfannkuche, Brautpaar, undatiert [nach 1924], Applikation, 38,5 x 29 cm, 42,5 x 34 cm (Untergrund)

Eigenarten auf die Malerei anwendbar sind, folgt die

Fläche führen zu einer besonders kontrollierten

neusachliche Zeichnung sowohl ihren medienspezifi-

Erfassung der Wirklichkeit – oftmals in Schwarzweiß.

schen Bedingtheiten, wie sie auch zur Erweiterung der

Reduktion betrifft hier also sowohl die Ausdrucksfor-

Ausdrucksformen beiträgt. Die Betonung der Umrissli-

men als auch die Farbpalette.

40

nie, das Bei- und Gegeneinander von leeren Flächen oder unbearbeitetem Grund, gezeichneter Linie und

In der neusachlichen Radierung führen Schraffuren zu einer optischen Abgleichung von Mensch und

Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext

267

Abb. 11: Franziska Pfannkuche, Porträt Victor Henning Pfannkuche, undatiert [nach 1924], Applikation, 33,3 x 28 cm, 38,5 x 33 cm (Untergrund)

268

Ding.41 Zudem verlangt die Radierung einen kontrol-

Werkzeuges, der Nadel, besteht eine Nähe zwischen

lierten technischen Prozess über mehrere Stufen mit

Druckgrafik und Stickbild. Zugleich greift das Stickbild

der Ätzung der Platte, der Arbeit mit der Radiernadel,

wieder in die Malerei über, indem Farbwerte im

die Krater und damit auch Grade herstellt bis hin zum

Arbeitsvorgang gemischt (durch Übereinandersticken

Druck. Diese Kontrolle ist also dem Bildwerdungspro-

mit verschiedenfarbigen Garnen) und überhaupt in

zess eingeschrieben; hier und auch in der Analogie des

Polychromie gearbeitet werden kann. Dieser kurze

Burcu Dogramaci

Rekurs auf die Malerei, Grafik und Stickerei der Neuen

Übersetzer Victor Henning Pfannkuche.43 Dieser tritt

Sachlichkeit zeigt auf, dass jede Ausdrucksform ihre

nicht nur als rothaariger Bräutigam ins Bild; auch ist

jeweiligen Eigenarten besitzt, die eng mit der Technik

ihm ein textiles Porträt gewidmet (Abb. 11). Die

und ihrer Geschichte zusammenhängen. Zugleich sind

Applikation zeigt den Schriftsteller mit einem Buch als

aber auch Ähnlichkeiten und Überschneidungen

Attribut, er ist von Blumen umrankt, hinten segelt ein

deutlich, die Ikonografie, Sachlichkeit, Wirklichkeits-

Schiff. Es ist zu vermuten, dass dieses auf dunklem

nähe und -distanz betreffen.

Grund formulierte Bildnis ein Erinnerungsbild an den

Dieser Beitrag plädiert einerseits zur Einbezie-

Verstorbenen war. Im Übrigen konnte auch die Technik

hung erweiterter neusachlicher Ausdrucksmittel und

der Applikation in diesem Aufsatz nur am Rande einbe-

Techniken jenseits der Malerei, Grafik oder Fotografie.

zogen werden; hier ließen sich Bezüge zu anderen

Andererseits lenkt er den Blick auf eine schon zu

künstlerischen oder medialen Praxen wie der Collage

Lebzeiten wenig im öffentlichen Blick stehende

oder Montage aufzeigen. Die Annäherung eines Bildes

Künstlerin, deren schmales Werk über Jahrzehnte

an die Lebenswirklichkeit ist ein gängiges Stilmittel der

keine Aufmerksamkeit auf sich zog. Dies ist sicherlich

Collage, wie sie beispielsweise Pablo Picasso und

dem Gender-Gap geschuldet wie auch der textilen

Georges Braque in ihrer kubistischen Phase praktizier-

Kunst, wobei beide Marginalisierungen oftmals Hand

ten, indem sie Spiel- oder Speisekarten als Objekte in

in Hand gehen. Das Plädoyer für eine plurale Neue

die Gemälde integrierten. In Pfannkuches Applikatio-

Sachlichkeit fordert auch eine plurale Kunstgeschichte,

nen wird beispielsweise Tüll verwendet, um den

die Textiles nicht mehr als Randständiges marginali-

Schleier einer Braut oder den zarten Stoff einer

siert, sondern es als einen ihrer zentralen Gegenstände

Gardine zu verbildlichen. Dadurch entsteht unweiger-

perspektiviert. Damit werden auch unweigerlich die

lich eine Wirkung von Lebensnähe.

Urheberinnen der textilen Künste nach und nach entdeckt und gewürdigt werden. Für Franziska Pfannkuche gilt dabei, dass die

Die Technik der Stickerei weist darüber hinaus eine Analogie zu einer weiteren unterschätzten Gattung auf: die Hinterglasmalerei. Beide Verfahrens-

Themen und technischen Ausdrucksmöglichkeiten

weisen bieten eigentlich zwei Werke mit jeweils

zukünftig noch umfassender untersucht und in den

eigener Logik: die Schauseite und die Rückseite. Die

größeren Rahmen einer textilen Neuen Sachlichkeit zu

von vorn nach hinten gemalten Hinterglasbilder

stellen sein werden. Dies gilt auch für jene Motive, die

offenbaren auf ihrer Rückseite oftmals eine weitaus

in dieser Abhandlung aufgrund der Beschränkungen in

abstraktere Komposition als auf der Vorderseite.44 Eine

Umfang und Ausrichtung nicht Gegenstand waren:

ähnlich binäres Gegeneinander von Vorder- und

Dies wären etwa ihre Paardarstellungen, die mit jenen

Rückseite bietet die Stickerei: ihre Rückansicht

von Elsa Haensgen-Dingkuhn ins Verhältnis gesetzt

vermittelt, wenn nicht mit einem Karton verschlossen,

werden könnten.42 Oder aber das Motiv der Braut

einen Einblick in den Maschinenraum des Werks

(Abb. 10), das in der Moderne ein wichtiges ist und ein

(Abb. 7). Hier bewegen sich die Fäden innerhalb eines

Ausgangspunkt für eine genderkritische Befragung

expressiven Spannungsfeldes. Der geordneten

ihres Werks sein könnte. Zugleich verweist gerade das

neusachlichen Bildwelt der Bildoberfläche ist damit

Brautbild auf den Ehepartner Franziska Pfannkuches,

eine dynamische Kehrseite beigegeben.

den 1924 jung verstorbenen Schriftsteller und

Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext

269

Anmerkungen 1

Ich danke Sibylle Bertheau und Björn Bertheau für ihr Vertrauen

Ausst.-Kat. Museo Correr, Venedig, München/London/New York 2015.

8

Im Nachlass befindet sich ein Schreiben mit Hinweis, dass viele

und die umfassende Unterstützung meiner Forschungen zu Franziska

der Stickbilder der 1920er Jahre verloren gegangen sind (Ludwig Gies:

Pfannkuche sowie bei der Arbeit an ihrem Nachlass.

Gutachten, Januar 1947). Es muss also davon ausgegangen werden,

2

dass es sich um ein weit umfangreicheres textiles Werk handelt, als es

Eine Ausnahme bildet eine kleine Vitrinen-Ausstellung mit Wer-

ken Franziska Pfannkuches im Kallmann-Museum Ismaning im Kontext der Werkschau, die ihrer Schwester Erna Schmidt-Caroll gewidmet war (13.5.–9.7.2017).

3

Vgl. Dagmar Neuland-Kitzerow: Das Sticken der Frauen und

der Nachlass vermittelt.

9 10 11

Roh 1925 (wie Anm. 6), S. 23. Ebd., S. 24. Willi Wolfradt: Gestickte Bilder von Fränze Pfannkuche, unda-

Mädchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen Diszipli-

tiert [1920er Jahre], Nachlass Franziska Pfannkuche (fortan NL Pfann-

nierung und Kreativität, in: Jahrbuch Stiftung Preußische Schlösser und

kuche). Dass die religiösen Motive früh entstanden, ist nicht gesichert.

Gärten Berlin-Brandenburg, Bd. 3, Berlin 1999/2000, S. 19–32; siehe

Nach dem Tod ihres Ehemannes, des Schriftstellers Victor Henning

dazu auch: Matilda Felix: Nadelstiche. Sticken in der Kunst der Gegen-

Pfannkuche (siehe Anm. 43), im Jahr 1924, wandte sich die Künstlerin

wart, Bielefeld 2010; Hanne Loreck: Gewebe und Textil als Material,

dem katholischen Glauben zu. Es ist anzunehmen, dass seit dieser Zeit

Machart, Modell und Metapher, in: Sabeth Buchmann und Rike Frank

vermehrt religiöse Bilder entstanden.

(Hg.): Textile Theorie der Moderne. Alois Riegl in der Kunstkritik, Berlin

12

2015, S. 77–105.

schiedenen Dokumenten im Familienbesitz rekonstruieren, darunter

4

eine Ablichtung aus dem Sterberegister. Die Künstlerin starb am 2. Fe-

Siehe u.  a. die in mehreren Neuauflagen publizierten Über-

blickswerke, in denen Textiles keine Rolle spielt: Uwe M. Schneede: Die

Die Lebensdaten Franziska Pfannkuches ließen sich aus ver-

bruar 1982 in Brühl.

Kunst der Klassischen Moderne, München 2009; Herbert Read: A Con-

13

cise History of Modern Painting (1959), London 2010; H. H. Arnason

Aufmerksamkeit, darunter 2017 in einer Ausstellung im Brandenburgi-

und Elizabeth C. Mansfield: History of Modern Art: Painting, Sculpture,

schen Landesmuseum (Frankfurt/Oder und Cottbus), das ihr Werk Ar-

Architecture, Photography (1968), Upper Saddle River, N.J. 2010.

beiten von Otto Dix gegenüberstellte. Zu Schmidt-Caroll siehe die er-

5

ste umfangreiche Monografie: Erna Schmidt-Caroll 1896–1964, Bönen

Zur Ausstellung siehe Neue Sachlichkeit. Bilder auf der Suche

nach der Wirklichkeit, figurative Malerei der zwanziger Jahre, hg. v.

Schmidt-Caroll erfuhr in den vergangenen Jahren zunehmend

2003.

Hans-Jürgen Buderer und Manfred Fath, Ausst.-Kat. Städtische Kunst-

14

halle Mannheim, München 1994. Zur Mannheimer Ausstellung siehe

Kunstgewerbe in Breslau, NL Pfannkuche.

Abschlusszeugnis der Königlichen Akademie für Kunst und

auch Helen Adkins: Neue Sachlichkeit  – Deutsche Malerei seit dem

15

Expressionismus, Mannheim 1925, in: Stationen der Moderne. Die be-

Pfannkuche.

Leo Cohn: Zeugnis für Franziska Pfannkuche, 1.11.1927, NL

deutendsten Kunst­ausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland,

16

Ausst.-Kat. Berlinische Galerie, Berlin 1988, S. 216–235.

Abstammung, 9.7.1933, NL Pfannkuche.

Franziska Pfannkuche: Aufstellung zum Nachweis der arischen

lismus. Probleme der neuesten europäischen Malerei, Leipzig 1925;

17 18

Wilhelm Westecker: Die neue Sachlichkeit: Probleme des Nachexpres-

einer Tradition 1836–1939. 2. Auf., Berlin 1992, S. 207.

6

270

Weimarer Republic, hg. v. Stephanie Barron und Sabine Eckmann,

Siehe etwa: Franz Roh: Nach-Expressionismus. Magischer Rea-

Modehaus Herrmann Gerson, 31.7.1916, NL Pfannkuche. Uwe Westphal: Berliner Konfektion und Mode. Die Zerstörung

sionismus, in: Die Kunst, Bd. 55, 1927, S. 16–23.

19

7

Siehe u. a. Aspekte der Neuen Sachlichkeit, Ausst.-Kat. Galleria

Wickenheiser: Die Reimann-Schule in Berlin und London 1902–1943.

del Levante, München/Mailand, Florenz 1968; Wieland Schmied: Neue

Ein jüdisches Unternehmen zur Kunst- und Designausbildung interna-

Sachlichkeit und Magischer Realismus in Deutschland 1918–1933, Han-

tionaler Prägung bis zur Vernichtung durch das Hitlerregime, Aachen

nover 1969; Realismus zwischen Revolution und Machtergreifung

2009.

Zur Geschichte der Schule Reimann siehe vor allem Swantje

1919–1933, hg. v. Uwe M. Schneede, Ausst.-Kat. Württembergischer

20

Kunstverein, Stuttgart, Stuttgart 1971; Realismus und Sachlichkeit. As-

stalterin der Wanddekorationen im Luftschiff LZ 129 Hindenburg und

pekte deutscher Kunst 1919–1933, hg. v. Roland März, Ausst.-Kat.

die Protagonistin der Spritzdekortechnik im Deutschland der 20er und

Staatliche Museen zu Berlin, Berlin 1974; Neue Sachlichkeit and Ger-

30er Jahre, in: Wolfgang Meighördner (Hg.): Wissenschaftliches Jahr-

man Realism of the Twenties, Ausst.-Kat. Hayward Gallery, London,

buch 2005 des Zeppelin Museum Friedrichshafen, Friedrichshafen

London 1978; Neue Sachlichkeit  – Magischer Realismus, hg. v. Jutta

2005, S. 34–63; Robert M. W. Kempner: Das Dritte Reich im Kreuzver-

Hülsewig-Johnen, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bielefeld, Bielefeld 1990;

hör. Aus den unveröffentlichten Vernehmungsprotokollen des Anklä-

Ausst.-Kat. Mannheim 1994 (wie Anm. 5); Sergiusz Michalski: Neue

gers Robert M. W. Kempner, München 2005, S. 307–321.

Vgl. Swantje Kuhfuss-Wickenheiser: Maria May. Aktive Mitge-

Sachlichkeit. Malerei, Graphik und Photographie in Deutschland 1919–

21

1933, Köln 1994. Aktueller: New Objectivity. Modern German Art in the

22.3.1944, das die Auflösung des Studios benennt, NL Pfannkuche.

Burcu Dogramaci

Siehe Christian Diering: Zeugnis für Franziska Pfannkuche,

Später versuchte Pfannkuche, ihre Textildessins freiberuflich zu veräu-

35

ßern. Im Nachlass findet sich ein Schreiben von Friedlinde Papla-Dinzl

Terms: A Glossary (Textile Studies, 0), Emsdetten/Berlin 2017, S. 89–93,

(Wien) an Pfannkuche vom September 1944, das den Eingang von

hier S. 92.

Textildessins bestätigt.

36

22 23 24

Siehe WM Schmitz & Co.: Zeugnis, 30.11.1958, NL Pfannkuche.

145, hier S. 145. Siehe auch siehe auch T’ai Smith: Texture, in: Reineke

Hans Poelzig an Alfred Flechtheim, 7.5.1928, NL Pfannkuche.

2017 (wie Anm. 35), S. 273–275, hier S. 273.

Zu Jürgens’ Gemälde siehe Kristina Heide: Das Stillleben der

37

Silke Tammen: Embroidery, in: Annika Reineke u. a. (Hg.): Textile

Otti Berger: Stoffe im Raum, in: ReD, Bd. 3, 1930, H. 5, S. 143–

Elke Gaugele: Textil und Stil. Alois Riegls Kritik an der Überhö-

Neuen Sachlichkeit in Hannover, in: „Der stärkste Ausdruck unserer

hung der Textilkunst, in: Sabeth Buchmann und Rike Frank (Hg.): Textile

Tage“. Neue Sachlichkeit in Hannover, hg. v. Christian Fuhrmeister,

Theorien der Moderne. Alois Riegl in der Kunstkritik, Berlin 2015,

Ausst.-Kat. Sprengel Museum Hannover, Hildesheim/Zürich/New York

S. 29–49, hier S. 44. Gaugele bezieht sich in ihrer Analyse auf Alois

2001, S. 63–67, hier S. 65; siehe auch Isabell Schenk-Weininger: Die

Riegl: Altorientalische Teppiche, Leipzig 1892. Siehe aber auch Alois

Neue Frau? Zur Differenzierung des Frauenbildes in Darstellungen von

Riegl: Historische Grammatik der bildenden Künste, hg. v. Karl M. Swo-

Malerinnen und Grafikerinnen der Neuen Sachlichkeit, in: Die Neue

boda, Graz/Köln 1966, hier insbesondere das Kapitel „Form und Flä-

Frau? Malerinnen und Grafikerinnen der Neuen Sachlichkeit, Ausst.-

che“, S. 129–132.

Kat. Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen, Bietigheim-Bissingen

38

2015, S. 8–21, hier S. 8.

müller. Zwischen Kunst und Politik, hg. v. Ingrid Mössinger und Thomas

25

Conrad Felixmüller, Die Seiltänzerin, 1925, Abb. in: Conrad Felix-

Siehe hier die Bildbeispiele in: Puppen, Körper, Automaten.

Bauer-Friedrich, Ausst.-Kat. Kunstsammlungen Chemnitz, Köln 2012,

Phantasmen der Moderne, hg. v. Pia Müller-Tamm und Katharina Sy-

S. 109; Elsa Haensgen-Dingkuhn, Seiltänzer. Emilie Meier geht über den Kuh-

kora, Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf,

mühlenteich, 1921, Abb. in: Ausst.-Kat. Flensburg 2017 (wie Anm. 27), S. 8.

Köln 1999.

39

26

Siehe unter einer Vielzahl möglicher Beispiele: Otto Dix, Salon II,

nungen oder Druckgraphiken der Neuen Sachlichkeit aus dem Museum

1921, Abb. in: Otto Dix – Der böse Blick, Ausst.-Kat. Kunstsammlung

für Neue Kunst Freiburg (Kabinettstücke, 02), Ausst.-Kat. Museum für

Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, München/London/New York 2017,

Neue Kunst, Freiburg 2000, S. 2.

S. 77; Rudolf Schlichter, Tingel-Tangel, 1919/20, Abb. in: Das Auge der

40

Welt. Otto Dix und die Neue Sachlichkeit, Ausst,-Kat. Kunstmuseum

lichkeit. Aquarelle, Zeichnungen und Graphik aus dem Berliner Kupfer-

Stuttgart, Ostfildern 2012, S. 158.

stichkabinett mit Leihgaben, hg. v. Anita Beloubek-Hammer, Ausst.-Kat.

27

Siehe dazu Axel Feuß: Elsa Haensgen-Dingkuhn  – Zwischen

Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Petersberg 2010, hier

Avantgarde und Familie, in: Elsa Haensgen-Dingkuhn (1898–1991).

vor allem das Kapitel „Messerscharf und glasfederhart – ein neuer Stil

Malerin der Neuen Sachlichkeit, Ausst.-Kat. Museumsberg Flensburg,

der Zeichnung“, S. 21–31.

Flensburg 2017, S. 7–74, hier S. 21–23; siehe auch Petra Lanfermann:

41

„Die Frau von heute“ – die Künstlerin um 1929: Themen, Motive, Im-

Herda 2000 (wie Anm. 39), S. 19.

pulse und Hintergründe, unter besonderer Berücksichtigung der Künst-

42

lerinnen Tina Bauer-Pezellen, Elsa Haensgen-Dingkuhn, Gussy Hip-

Flensburg 2017 (wie Anm. 27).

pold-Ahnert, Hella Jacobs, Paula Lauenstein, Lotte Lesehr-Schneider,

43

Eva Schulze-Knabe und Erika Streit, in: Ausst.-Kat. Bietigheim-Bissin-

Pfannkuche (21.6.1893–26.3.1924) am 16.12.1919. Siehe die Heirats­

gen 2015 (wie Anm. 24), S. 174–189, hier S. 185–187.

urkunde, NL Pfannkuche. Im Nachlass befindet sich zudem ein Nachruf

28

auf Pfannkuche von Walter Petry sowie einige Manuskripte des Schrift-

Rozsika Parker: The Subversive Stitch. Embroidery and the Mak-

Isabel Herda: „Die Aggressivität präziser Wiedergabe“. Zeich-

Siehe dazu u. a. Gefühl ist Privatsache. Verismus und Neue Sach-

Siehe z. B. Otto Lais, Doppelbildnis im Atelier, 1927, Abb.  in: Siehe dazu ihre Familien- und Paarbildnisse im Ausst.-Kat. Franziska Pfannkuche (geb. Schmidt) heiratete Victor Henning

ing of the Feminine, London 1984, S. 11.

stellers. Im ZVAB finden sich einige Einträge zu Victor Henning Pfann-

29 30

Siehe dazu auch die Einleitung zu diesem Band.

kuche: so etwa die Novelle Flucht in die Dämmerung, die 1924 postum

Wolfradt undatiert (wie Anm. 11). Zu Wolfradt hielt Pfannkuche

erschien und auf eingelegtem Blatt den Tod des Schriftstellers im März

weiterhin Kontakt. So ist ein Brief von Wolfradt aus seinem New Yorker

1924 vermerkte. Außerdem war Pfannkuche Übersetzer von Made-

Exil im Nachlass erhalten. Willi Wolfradt an Franziska Pfannkuche,

leine Marx – ihr Roman Du erschien 1922 in seiner Übersetzung – und

30.7.1951, NL Pfannkuche.

von Henri Barbusse: Ein Mitkämpfer spricht. Aufsätze und Reden aus

31

den Jahren 1917–1921, Basel/Leipzig 1922.

Gustav Friedrich Hartlaub in: Paul Westheim: Ein neuer Natura-

lismus?? Eine Rundfrage des Kunstblatts, in: Das Kunstblatt, Bd.  6,

44

1922, S. 369–414, hier S. 390.

Bretz und Gisela Geiger (Hg.): Heinrich Campendonk – Die Hinterglas-

32 33

Roh 1925 (wie Anm. 6), S. 119.

bilder. Werkverzeichnis, Köln 2017. Derzeit arbeitet Diana Oesterle an

Siehe dazu Pavel Liška: Die Malerei der Neuen Sachlichkeit in

der LMU München an einer Dissertation zu Hinterglasbildern der Mo-

Siehe dazu u.  a. die Bildbeispiele in der Publikation: Simone

Deutschland, Diss. Univ. Osna­brück 1976, Düsseldorf 1976, S. 145.

derne, die auch die Rückseiten dieser Werke in besonderem Maße

34

einbeziehen wird.

Schmied 1969 (wie Anm. 7), S. 26.

Stickerei der Neuen Sachlichkeit. Textilbilder von Franziska Pfannkuche im intermedialen Kontext

271

Tänzerin Lubov Tchernicheva und Delaunays Beteiligung sich an diesem Vorbild orientierte, sowohl in Bezug auf das Kostüm als auch hinsichtlich der Choreografie. Fotografien der als Cléopâtre posierenden Tchernicheva verdeutlichen, dass sie (zumindest im Bild, das sicherlich in Anlehnung an das Stück entstand) Posen einnahm, die den Eindruck von Zweidimensionalität und Statik erzeugten. So starr der Tanz und der Stoff des Gewandes

Körper masken und bewegte Bilder: Künstler kostümieren Tänzer

zwar anmuten, so bewegt ist doch die Farbgestaltung und Ornamentik. Die rhythmischen Kreise und Linien, die sich am Bauch in verschiedenen Farben und am Rock in einem dunkleren Ton von der Grundfarbe des Stoffes, einem hellen Orange, absetzen, kontrastieren sich gegenseitig. Ein flirrender Effekt entsteht, der den Stoff selbst tanzen lässt und mit der zusätzlichen

Anja Pawel

Bewegung des Tänzers gewissermaßen ‚doppelt‘ bewegt erschien.3 Für die Künstlerin war das Bild nicht mit dem

Bi l d e r i n Bewegung

Rand der Leinwand zu Ende, vielmehr verstand sie den Körper als Erweiterung des Bildes.4 Als Malerin,

Das eindrucksvolle Gewand der Protagonistin

Textildesignerin und Schneiderin bezeichnete sie ihre

des Stücks Cléopâtre war aus schwerem Stoff und das

textilen Werke als unmittelbar von der Malerei

Oberteil wurde von einem perlenbesetzten, um den

inspiriert: „[...] Then the book covers of 1913 [...] the

Hals geschlungenen Band gehalten (Abb. 1). An der

robes simultanées of 1913–14, and later on the fabrics

Brust und am Bauch befanden sich verschiedenfarbige

and embroidered coats – they all stand in close

Ringe in Simultankontrasten, die einen hypnotisch

relationship to the laws of painting.“5 Bild und Körper

anmutenden ‚Op-Art‘-Effekt hervorriefen und die sich

waren in ihren Entwürfen im Austausch; die Malerei

in einer Art Schärpe, die vom Oberteil herabhing, noch

wurde durch die Bekleidung auf den Körper übertra-

verlängerten. Weitere Perlen- und Glanzelemente des

gen, sodass dieser beim Tanz zum bewegten Bild

Rockes belebten die Muster zusätzlich. Sonia Delaunay

wurde.6 Der Rhythmus der Farben verschmolz mit dem

entwarf die Kostüme für das Stück, das am 6. Septem-

der Musik, und der farbige Flickenstoff avancierte vom

ber 1918 in London uraufgeführt wurde.

bewegten Beiwerk zum bewegten Hauptwerk. Durch

1

Die Tänzerin Bronislava Nijinska, die in einer

die Bewegung wurden die Bildmuster an der Tänzerin

früheren Inszenierung der Choreografie tanzte,

lebendig. Zugleich wurde der Körper der Tanzenden

berichtete, dass der Tanz gezielt so choreografiert war,

zum künstlichen Wesen stilisiert.

dass er flach wie ein ägyptisches Relief wirkte.2 Es ist also anzunehmen, dass die zweite Inszenierung mit der

Als „tanzende Gewänder“ beschrieb der Kunsttheoretiker Carl Einstein überschwänglich die Kostüme

Körpermasken und bewegte Bilder: Künstler kostümieren Tänzer

273

ein Mensch, eher ein Ornament tanzt, Formen fliegen und sausen. Der Tänzer ist ein Teil der farbigen Kraft des Malers geworden, fast vom Maler erschaffen.“8 Andererseits sah Einstein bei einer solchen Zusammenarbeit zwischen bildenden Künstlern und Tänzern die Gefahr, dass der Körper, das Element des Tanzes selbst, in den Hintergrund geraten könne: „Die farbige Gestaltung wirkt stärker als der Körper des Tanzenden und schon darum übersieht man die Anstrengung des Tänzers.“9 Die Ornamentwerdung des Tänzers, die Anwendung der malerischen Gesetze auf seinen Körper hätten auch seine Entkörperlichung zur Folge.10 Wenn Einstein diese Sorge schon bezüglich Bakst textilen Entwürfen, die noch zur klassischen, romantischen Tradition des Kostümballetts gehörten, hegte, stellt sich die Frage, wie er die Kostüme der Kubisten, Dadaisten und Expressionisten bezeichnet hätte. Denn arbeitete Bakst hauptsächlich mit Textil und setzte vor allem eine prachtvolle Ornamentik und expressive Farbgestaltung ein, wurden im frühen 20. Jahrhundert zunehmend andere Materialien und Abb. 1: Sonia Delaunay, Kostüm für das Ballett Cléopâtre, 1918, Seide, Pailletten, Wollgarn, Spiegel und Perlen, geflochtener Metallfaden, Lamé, Rückenlänge 114,62 cm, Kopfbedeckung 57,63 x 37,15 x 32,7 cm, County Museum of Art, Los Angeles

Formen für das Tanzkostüm verwendet, wie es Georg Kirsta im Artikel Vom Tanzkostüm rückblickend beschrieb: „Diese neue Hülle, die die verwelkten Kleider von Bakst abgelöst hat, wurde unter Benützung der damaligen kubistischen Malerei geschaffen. Pappe,

der Ballet Russes in einem Artikel über den bildenden

Draht, Blech und grobes Leinen erlebten Aufstieg.

Künstler und Kostümbildner Léon Bakst, was jedoch

Bekenntnis zum edleren Stoff, zum Sammet und Seide,

durchaus auch auf Delaunay zutreffen könnte: „Durch

gehörte damals zu einem ausgesprochen schlechten

die Farbe wird die kleinste rhythmische Variante

Ton. Das war eine kampffrohe Zeit.“11

sichtbar, das Gewand tanzt und der Tänzer ist in ihm verschwunden, doch erst durch sein Gewand wird er – uns hinreißend – sichtbar.“7 Die Körper der Tänzer werden durch das Kostüm gegliedert, ihre anthropo-

Den Körp era usdruck durch Gest a lt ung verä ndern

morphe Form verändert und zu einem dynamischen Kunstgebilde stilisiert; sie werden zu tanzenden

274

Dies wird bereits in einer Fotografie um 1916

Bildern, beschreibt er weiter: „Diese Tänzerin ist

ersichtlich, die eine maskierte und kostümierte Person

zerteilt von den Ornamenten der Kleidung, weniger

zeigt, bei der es sich um Sophie Taeuber-Arp handeln

Anja Pawel

Abb. 2: Anonym, Sophie Taeuber-Arp in Tanzpose mit Kostüm und Maske 1917, Silbergelatine-Print, 17,8 x 10,8 cm, Fondazione Marguerite Arp, Locarno

könnte12, Kopf und Körper sind vollkommen verdeckt

ungefähr zeitgleich entstandene Marionetten für das

(Abb. 2). Die Kopfmaske ist rechteckig und am Ende

Stück König Hirsch von Carlo Gozzi, deren Holzkörper

mit Zacken versehen, wie eine Krone. 13 Dazu trägt die

zwar einen menschlichen Aufbau hatten, jedoch durch

Person eine Art Überwurf aus dunklen und hellen

geometrische Formen der Gliedmaßen abstrahiert

Flicken sowie Armstulpen aus einem festeren Material

wurden (Abb. 3).14 An Kopf, Schultern und Händen der

(wahrscheinlich Pappe), die ebenso wie die Kopfbedec-

Puppen waren Bindfäden befestigt, die ihre Beweglich-

kung am Ende zackenförmig auseinanderlaufen. Die

keit durch die Hand des Marionettenspielers garantier-

teilweise einer Ritterrüstung ähnelnde Verkleidung

ten. Die unterbrochenen Gliedmaßen der Puppen­

führt zu einer steifen Haltung der Arme, der Hände und

körper sollten einerseits Flexibilität gewährleisten,

des Kopfes, auch der Körper verschwindet größtenteils

andererseits zerstückelten die geometrischen Volumina

unter dem Gewand und erinnert an Taeuber-Arps

den Körper in einzelne Fragmente.

Körpermasken und bewegte Bilder: Künstler kostümieren Tänzer

275

Die Kostümierung wurde wahrscheinlich bei einem Auftritt des Eröffnungsfestes in der Galerie Dada am 29. März 1917 getragen.15 Kostüm und Maske negierten die Form des Körpers. Vor allem die vom menschlichen Körper abstrahierten Hände mit ihren spitzen Elementen wirken bedrohlich, waren jedoch ihrer Greiffunktion beraubt. Kostüm und eingenommene Pose ließen die Figur eckig, künstlich und mechanisch wirken, als werde sie von anderen Kräften bestimmt. Handelte es sich um Taeuber-Arp, so inszenierte sie sich hier als fremdbestimmtes Wesen, als Tanzschülerin des Choreografen Rudolf Laban war sie sicherlich dennoch in der Lage ihrem steifen, geometrischen Kostüm eine anspruchsvolle Beweglichkeit abzuverlangen, ebenso wie der Marionettenspieler seinen Puppen. Im Aufsatz Über das Marionettentheater erörterte Kleist die Einfühlung des Puppenspielers in sein Handwerk. Er schlug vor, jener solle selbst tanzen können, um die nötige Empfindsamkeit für die Bewegung der Puppe und ihren Körperschwerpunkt zu entwickeln.16 Welche Eigendynamik dem Kostüm im DadaKreis zugeschrieben wurde, verdeutlichte TaeuberArps Freundin, die Tänzerin Mary Wigman, anlässlich eines Dada-Abends in ihrer Züricher Wohnung: „[...] Meine Freundin Sophie Taeuber [...] und ich hatten uns gegenseitig [...] fest in unsere extravaganten Kostüme eingenäht [...].“17 Das Zitat zeugt von einem bewusst hervorgerufenen Ausgeliefertsein des menschlichen Körpers durch das ‚störende‘ Kostüm. Die beiden Tänzerinnen schienen selbst zu Marionetten ihrer eigens geschneiderten Bekleidung zu wer-

Abb. 3: Sophie Taeuber-Arp, Freudanalytikus (Marionette aus dem Stück König Hirsch), 1918, Holz gedrechselt und bemalt, Ölfarbe, Metall: Messing, Metallösen, 61 x 17 x 17 cm, Zürcher Hochschule der Künste/Museum für Gestaltung Zürich, Kunstgewerbesammlung, Zürich

den. Dabei dürfte eher interessiert haben, was die Kostüme mit ihnen machten als sie selbst mit den Kostümen. Dada-Künstler setzten Masken und Kostüme ein,

276

deres Anliegen gewesen zu sein, die Autonomie des Kostüms hervorzuheben. Hugo Ball behauptete sogar,

um ihr Körpergefühl und ihre Bewegungen gezielt zu

dass Tänze direkt durch die Art und Weise der Gestal-

stören und zu verändern. Es schien ihnen ein beson­

tung der Masken entstanden seien: „Wir sahen uns

Anja Pawel

jetzt die aus Pappe geschnittenen, bemalt und beklebten Dinger genauer an und abstrahierten von ihrer vieldeutigen Eigenheit eine Anzahl von Tänzen, zu denen ich auf der Stelle je ein kurzes Musikstück erfand. Den einen Tanz nannten wir ‚Fliegenfangen‘. Zu dieser Maske paßten nur plumpe tappende Schritte und einige hastige fangende, weit ausholende Posen [...].“18 Durch die Masken schienen die Träger, seien es (geübte) Tänzer oder nicht, erst zu einer neuen Ausdrucksform (im Tanz) zu gelangen. Die kreative Neugestaltung ihres Körpers durch Kostüme befeuerte auch die Kreativität ihres Ausdrucks.

Kö r pe r m asken „[...] denn hier ist die Maske nicht aufgesetzt, nicht Kostüm, sondern der eigentliche Tanzkörper, dem der lebendige Leib nur seine Kräfte lieh“19, hieß es in einem anderen Kontext über das Hamburger Künstler- und Tänzerehepaar Lavinia Schulz und Walter Holdt, die bei ihren Auftritten in den 1920er Jahren selbst hergestellte Ganzkörpermasken trugen, bei denen „Kopf und Körper zu fast anorganischen

Abb. 4: Minya Diez-Dührkoop, Tanzmasken Tanzpaar Toboggan von Lavinia Schulz und Walter Holdt, um 1924, Silbergelatine-Print, 21,6 x 16,7 cm, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Hamburg

Formen verwandelt [...] und bis zu mystisch architektonischen Gebilden gesteigert (wurden).“20 Schulz war bildende Künstlerin und hatte akademisches Zeichnen in Berlin studiert.21 Ihre Kostüme entstanden in

Draht, Watte und Leder wurden die Körper der Tänzer

Eigenarbeit. In einer Fotografie um 1924 posierten die

durch das Kostüm regelrecht modelliert. Von den

beiden Tänzer in Gewändern, deren stilistische Zu­-

Tänzerkörpern selbst war kaum mehr etwas zu

gehörigkeit schwer einzuordnen ist (Abb. 4). Es handelt

erkennen. Die raumgreifenden Kostüme lassen sich

sich um bunte Fantasiewesen mit großen, froscharti-

auch als „Architekturen“ bezeichnen. Neben der

gen Kopfmasken, die Körper komplett eingehüllt in

Choreografie und der Musik stand bei den Stücken vor

teils ausskulptierte Formen. An verschiedenen Stellen

allem deren Wirkung im Vordergrund.22

ihrer Körper sprießten schlingpflanzenartige Gebilde,

Kostüme und Masken vermochten die Tanzper-

die den Körperumfang erweiterten und an die Lenk­

formance entscheidend zu prägen. Sie veränderten die

fäden einer Marionette erinnerten. Mithilfe von ver-

Körperformen, die Beweglichkeit und die Raumwege

schiedenen Materialien wie Sackleinen, Pappmaché,

des Tänzers.23 Die physische Erscheinung des Körpers,

Körpermasken und bewegte Bilder: Künstler kostümieren Tänzer

277

die im Tanz eine zentrale Rolle spielt, kann durch das

Bi ld oder Ta nz ?

Kostüm gesteigert, aber auch negiert werden. Zusätzlich zu seinem eigenen Körper bewegt der Tänzer auch

frühen 1920er Jahren zur Verteidigung seines Triadi-

dies zusätzliche Anstrengungen verursachen,24 weswe-

schen Balletts vor den Kritikern, die ein Bild vom Tanz

gen die logische Aufgabe eines Kostümgestalters darin

hatten, das die freie und expressive Bewegung des

bestehen müsste, dem Körper zu möglichst viel

Körpers vorsah. So hieß es in der Neuen Zürcher Zeitung:

Bewegungsfreiheit zu verhelfen und den Stoff leicht

„Das Kostüm des Tänzers war bisher mehr oder minder

und unsichtbar erscheinen zu lassen beziehungsweise

nur dekorative Zutat: Schlemmer gibt ihm gleichsam

bestimmte Körperpartien des Tänzers wie beispiels-

konstruktive Bedeutung [...] seine einzige Funktion ist

weise die Beine zu betonen (wie das Tutu im Ballett).

die Ermöglichung, ja Erzwingung eines bestimmten

Im Vortrag Über das Tanzkostüm bemerkte der

Tanzes. Schlemmer hat das fließende, ständig die Form

Tänzer Alexander Sacharoff, dass die Bekleidung nicht an

wechselnde Gewand beseitigt und meist durch starre

der Bewegung hindern dürfe. Es erscheint naheliegend,

Hüllen aus Papiermasse ersetzt [...].“26

25

dass Tänzer an möglichst ungehinderten Bewegungsab-

Die Kostüme wurden um 1920 im Cannstatter

läufen oder an zumindest die Bewegung unterstützen-

Atelier in Stuttgart hergestellt, als in der Nachkriegs-

den oder verstärkenden Kostümen interessiert waren.

zeit Materialknappheit herrschte. Plastische Schwere

Mit Loïe Fuller und Isadora Duncan war um 1900

und materielle Überfrachtung setzten den Tänzern zu.

der leichte, fließende Stoff des weiten, den Körper von

Schlemmers Ehefrau Tut berichtete diesbezüglich: „Die

den Einschränkungen des Korsetts befreienden

Kostüme wurden gelötet, genietet, gehämmert. Die

Gewandes sowie der lange Schleier im Tanz noch

Chachées, die Formen aus Papier-Maschée, wurden

bestimmend. Doch alsbald entwickelte sich auch eine

mit unendlich vielen Lagen Zeitungspapier geklebt und

gegenläufige Strömung. Die zunehmende Beteiligung

wurden dabei schwerer und schwerer.“27 Auch Schlem-

von Künstlern am Bühnentanz und deren Durchset-

mer musste einsehen: „Ich hatte z. B. auch bei der

zung ihrer eigenen stilistischen Vorstellungen bewirk-

Aufführung erstmals Kostüme an, die die Bewegung

ten, dass Kostüme gefertigt wurden, die den Bewe-

derart hinderten, daß eine völlige Umstellung nötig

gungsspielraum des Tänzers einschränkten, ja sogar

war.“28

negierten. Plastisch ausgearbeitete Formen wie Kuben,

278

Kämpfen musste auch Oskar Schlemmer in den

stets das Kostüm mit. Je nach Gewicht oder Form kann

Es ist davon auszugehen, dass die Kostüme nicht

Kegel oder Scheiben, mit denen sich die Tänzer zu

nur durch ihre Form die Bewegung behinderten,

arrangieren hatten, konnten die Bewegung stark

sondern auch Masse und Gewicht die Tänzer körper-

beeinträchtigen. Waren in dem Beispiel von Lavinia

lich enorm einschränkte. In einem Foto mit den

Schulz und Walter Holdt die Tänzer (glücklicherweise)

Originalkostümen von 1922/23 sind die beiden Tänzer

selbst auch ihre eigenen Kostümbildner, so konnten

Albert Burger und Elsa Hötzel zu sehen, die an der

die Vorstellungen vom Kostüm von Tänzern und

Entwicklung maßgeblich beteiligt waren (Abb. 5). Vor

Künstlern doch durchaus gegenläufig sein. Die sanft

allem der kugelrunde Rock von Hötzel erscheint als

fließenden Stoffe wurden, in und durch die Zusam-

klobig schwere Last an den Hüften. Beide Tänzer

menarbeit mit den bildenden Künstlern, tatsächlich

wurden als Gliederpuppen inszeniert, hatten die Arme

durch „kampferprobtere“ Materialien ersetzt.

im 90° Winkel zu halten und die Füße im klassischen

Anja Pawel

en dehors zu positionieren. Es wurde bereits gezeigt, dass die beiden, von Beginn am Stück beteiligten Tänzer, sich nach der Premiere in Stuttgart davon distanzierten, was an der zunehmenden Verabschiedung vom Handlungsballett und an der Kostümauswahl gelegen haben könnte.29 Die Entindividualisierung und Passivität sorgten dafür, dass sich die tanzenden Figuren des Triadischen Balletts dem „unbewussten Agieren“ einer Gliederpuppe annäherten.30 Auch die Langsamkeit, Eckigkeit und Statik der tänzerischen Ausführung erinnerte an eine Fremdbestimmtheit oder gar an einen mechanischen Ablauf, der nicht mehr dem menschlichen Willen unterlegen war. Der Kulturwissenschaftler Walter Sorell charakterisierte die Kostüme Schlemmers als „Totalmaske“ und setzte die tanzenden Figuren mit Marionetten gleich.31 Auch der Tanzkritiker Fritz Böhme betonte: „Aber all diese Schöpfungen wirken nicht durch die Bewegung, sondern durch die Proportionen der Maske, d. h. durch etwas Ornamental-Plastisches.“32 Er bezeichnete das Gesehene als Marionettentanz, bei dem „eine schwache, von außen her bauende, im Äußeren versandende, mehr für Unterhaltungsreize, aber nicht für verinnerlichte Kunst geeignete Formung“33 vorliege. Die tänzerische Leistung schien

Abb. 5: Anonym, Albert Burger und Elsa Hötzel in Kostümen der gelben Reihe des Triadischen Balletts, Fotografie, 1922/23, 17,8 x 13 cm, Bühnenarchiv Oskar Schlemmer, Sammlung C. Raman Schlemmer, Oggebbio

den Kritikern hier zugunsten des Kostüms eingeschränkt worden zu sein, wie es Einstein auch befürchtet hatte. Bis in die Gegenwart reicht die Kritik, dass der

Abstraktion zum Kontrollinstrument avanciere.

Tanz in den Hintergrund gerate und Kostüm, Kunstfi-

Außerdem lasse das Kostüm den Tänzern keine

gur, Form und Farbe eher im Zentrum stünden. Im

Gelegenheit zur Initiative, der Anspruch an sie sei

Zuge dessen wurde das Triadische Ballett lange Zeit als

gering, sodass Schlemmer auf menschliche Tänzer

Negativbeispiel der Interaktion zwischen bildender

verzichten und Maschinen oder Puppen hätte einset-

Kunst und Tanz verstanden, denn dort konkurriere das

zen können.36 Das Kostüm modellierte den Tanz wie

Kostüm mit dem Menschen, wodurch die Bewegungs-

der Bildhauer die Skulptur und ließ eine abstrakte

möglichkeiten reduziert und der Körper „in vorherr-

Bildkomposition aus geometrischen Elementen

schende Strukturen eingepasst“ werde, sodass die

entstehen, bei der der Körper und die dynamische

34

35

Körpermasken und bewegte Bilder: Künstler kostümieren Tänzer

279

Bewegung in den Hintergrund geraten. Nicht mehr nur bemalt, sondern selbst ausgestaltet waren Schlemmers Figurinen bereits das Negativ ihrer räumlichen Ausbreitung. Ein Jahr nach der Uraufführung des Triadischen Balletts in Stuttgart präsentierte Sonia Delaunay ein ähnlich raumgreifendes Kostüm für eine Choreografie mit dem Titel Danseuse aux Disques, die 1923 in der Galerie La Licorne (Paris) wohl anlässlich einer Abendveranstaltung des Dichters Ilya Zdanevič (genannt Iliazd) aufgeführt wurde. Das Kostüm trug die Tänzerin Lizica Codréano, mit der auch Constantin Brancusi zusammen gearbeitet hatte. „Eine große Pappscheibe, mit Stoff überzogen, in orange und grün, die der Tänzerin um das Gesicht gebunden war und den Oberkörper bedeckte. Ein Rock aus roten und blauen Halbkreisen bestehend, sowie ein schwarzer Kreis an der rechten Hand befestigt und ein weißer an der Linken“37, beschrieb Delaunay den Entwurf (Abb. 6). Die farbigen Scheiben wurden durch den Stoff nicht mehr auf den Körper aufgetragen, sondern der Körper selbst wurde zur Farbscheibe, die Bewegungsein-

Abb. 6: Anonym, Lizica Codréano in einem Kostüm von Sonia Delaunay für das Stück Danseuse aux Disques in der Galerie La Licorne in Paris, 1923, Fotografie, Maße unbekannt, Ort unbekannt

schränkung durch das Kostüm erreichte eine neue Dimension. Delaunay selbst bestätigte, dass die Steifheit des Kostüms, wie schon zuvor beobachtet, der Bewegung des Körpers einen „Zwang auferlegte“38. „Die Tänzerin war genötigt, sich frontal zu bewegen

eingeschränkt bewegen konnte, um eben diesen

und in ihren Bewegungen die Fläche zu berücksichti-

flächigen Eindruck aufrechtzuerhalten. Zwar ging es

gen. Mit viel Gefühl variierte Codréano die Position

um Bewegung und Variation, um plastische Ausgestal-

der Flächen und schuf und veränderte so ständig die

tung von Farben und Formen, dennoch blieb diese

Beziehungen der Farben untereinander. Auf diese

Unternehmung den Gesetzen des Bildes treu. Der

Weise wurde eine neue Sprache der Farbe erreicht“ ,

Körper der Tänzerin wirkte in der Fotografie wie ein

so Delaunay. Das Schaffen einer neuen „Sprache der

Mittel zum Zweck, wie ein Antrieb, ein Motor, um die

Farbe“ blieb, obwohl es sich um das Medium des

Scheiben in Bewegung zu versetzen. Er selbst trat

Tanzes und demnach um die Bewegung in der Dreidi-

vollkommen in den Hintergrund. Nur noch der Kopf

mensionalität handelte, dennoch der Zweidimensiona-

und die Knöchel waren unter den Scheiben zu erken-

lität verhaftet. Das Scheibenkostüm machte aus dem

nen. Schwer ersichtlich ist in der Fotografie, ob die

Körper eine Fläche, auf der sich die Tänzerin nur

Scheiben zwei- oder dreidimensional ausgestaltet

39

280

Anja Pawel

waren. Es scheint, dass die Tänzerin nur von ihrer

Erfahrung hatten. Taeuber-Arp war, wie bereits

Vorderseite aus als Scheibe zu erkennen war und sich

erwähnt, als Ausdruckstänzerin bei Laban tätig, Schulz

bei einer Drehung der Effekt auflöste. Sollte dies der

war sowohl Künstlerin als auch Tänzerin, Delaunay

Fall gewesen sein, so musste sie hauptsächlich als

besuchte regelmäßig Tanzlokale, bei denen sie sich in

Fläche und frontal posieren, um den Eindruck des

ihren eigens nach dem Vorbild ihrer Bilder geschnei-

Kostüms zu erhalten und war nicht mehr allansichtige,

derten Kostümen präsentierte, und Schlemmer

skulptierte Malerei in Bewegung. Womit sich Delau-

begründete in einem Brief an Otto Meyer-Amden

nays Ausführung wiederum unterschied von vollplas­

seine sechsmalige Teilnahme (in verschiedenen

tisch ausgearbeiteten, allansichtigen Kostümen, wie in

Kostümen) im Triadischen Ballett mit seinem eigenen

Schlemmers Triadischem Ballett.

Körpergefühl, das er selbst benötigte, um das Stück zu

40

Bei solchen Kostümexperimenten in Extremen

einem befriedigenden Ergebnis zu bringen.41 Emil Utitz

ging es weniger um das bewegte Beiwerk, sondern um

stellte bereits 1908 in dem Artikel Reform der Tanz-

farblich und plastisch ausgestaltete Formen. Diese

kunst fest, dass es von Nöten sei, dass die Künstler mit

bestimmten den Körper des Tänzers, der vom beweg-

dem Tanz vertraut seien, wenn sie Kostüme für Tänzer

ten Bild zur bewegten Architektur wurde. Das Material

schneiderten: „Das Gewand der Tanzenden und der

schuf einerseits Hindernisse, eröffnete andererseits

Rahmen, in dem der Tanz vor sich geht, müssen ein das

aber auch neue Möglichkeiten. Das anthropomorphe

Auge befriedigendes Bild liefern [...]. Hier erwachsen

Bild vom Körper wurde Experimentierfeld, in Frage

demnach für den bildenden Künstler neue und

gestellt, sogar negiert, zugunsten einer Stilisierung ins

dankbare Aufgaben, und zwar für bildende Künstler,

Abstrakte, Puppenhafte oder gar Maschinelle. Die

die etwas vom Tanz und von der Musik verstehen.“42

Gestaltung konnte die Bewegungen der Tänzer lenken,

Eine solche Zusammenarbeit von bildenden

einschränken oder überhaupt erst hervorbringen. Die

Künstlern und Tänzern ließ nicht immer Ergebnisse

Tanzkritik hieß diese Tendenzen nicht immer willkom-

entstehen,43 die dem althergebrachten Verständnis des

men. Sie diskutierte, wann die Kostümgestaltung von

jeweiligen Mediums entsprachen. Die Experimentier-

Künstlern an ihre Grenzen gelangte, wo der Tanz

freude wurde jedoch belohnt mit einem Blick über die

aufhörte und die bildende Kunst begann.

medialen Grenzen hinaus. Eine neue Perspektive, die

Bei allen Beispielen handelte es sich um Künstler, die in beiden Medien, bildender Kunst und Tanz,

sich jedoch nicht nur auf das fremde, sondern auch auf das eigene Medium beziehen konnte.

Körpermasken und bewegte Bilder: Künstler kostümieren Tänzer

281

Anmerkungen

dieser Kostümgestaltung für den hier interessierenden Kontext in

Der vorliegende Artikel stellt in gebündelter und überarbeiteter

Dadaistin. Eine Wunschvorstellung der Rezeption?, in: Mona de Weerdt

Form ein Kapitel aus der Dissertation „Abstraktion und Ausdruckstanz.

und Andreas Schwab (Hg.): Monte Dada. Ausdruckstanz und Avant-

Bildende Kunst und Tanz im frühen 20. Jahrhundert“ vor, die 2019 bei

garde, Bern 2018, S. 149–163, hier S.150 ff.

1

De Gruyter erscheinen wird.

14

2

Bronislava Nijinska: Early Memoirs, hg. u. übers. v. Irina Nijinska

und Alexandra Exter Marionetten an. Vgl. Sigrid Barten: Und alle Pup-

und Jean Rawlinson, Durham/London 1992, S.  276; vgl. auch Juliet

pen tanzen. Die Dada-Marionetten von Sophie Taeuber, in: Kunst +

Bellow: Fashioning Cléopâtre. Sonia Delaunay’s New Woman, in: Art

Architektur in der Schweiz, Bd. 47, 1996, H. 4, S. 426–430. Zu den

Journal, Bd. 68, 2009, H. 2, S. 6–25, hier S. 16.

Stickereien Sophie Taeuber-Arps siehe den Beitrag von Walburga

3

Krupp im vorliegenden Band.

Juliet Bellow: On Time. Sonia Delaunay’s Sequential Simultan-

Neben Taeuber-Arp fertigten auch Hanna Höch, Kurt Schmidt

ism, in: Sonia Delaunay, Ausst.-Kat. Tate Modern, London, London

15

2014, S. 99–101, hier S. 101.

burga Krupp: „Echte Indianer“. Sophie Taeuber-Arps Frühwerk im Hin-

4

Wahrscheinlich ihr einziger im dadaistischen Kontext. Vgl. Wal-

Vgl. Kathleen James-Chakraborty: Von der Leinwand zum Körper.

blick auf fremde Kulturen: eine Spurensuche, in: Dada Afrika. Dialog

Die Kleiderentwürfe von Sonia Delaunay, in: Karl R. Kegler, Anna Minta

mit dem Fremden, hg. v. Ralf Burmeister, Michaela Oberhofer und

und Niklas Naehrig (Hg.): RaumKleider. Verbindungen zwischen Archi-

Esther Tisa Francini, Ausst.-Kat. Museum Rietberg, Zürich, Zürich 2016,

tekturraum, Körper und Kleid, Bielefeld 2018, S. 79–98, hier S. 85 f. Vgl.

S. 49–55, hier S. 52. Es ist möglich, dass dieses Foto nicht während des

weiterführend zu den Textilentwürfen von Delaunay: Color Moves. Art

Auftritts aufgenommen, sondern gesondert und für diesen Zweck eine

and Fashion by Sonia Delaunay, hg. v. Matilda McQuaid und Susan

Pose eingenommen wurde, die der Choreografie ähnelt bzw. das

Brown, Ausst.-Kat. Cooper-Hewitt Museum of Decorative Arts and

­Kostüm besonders gut in Szene setzt.

­Design, New York, New York 2011; Cécile Godefroy: Sonia Delaunay.

16

Sa mode, ses tableaux, se tissus, Paris 2014; Sonia Delaunay – art, de-

2002, S. 80; vgl. allgemein: Puppen, Körper, Automaten. Phantasmen

sign, fashion, Ausst.-Kat. Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid, Madrid

der Moderne, hg. v. Pia Müller-Tamm, Katharina Sykora und Horst Bre-

2017.

dekamp, Ausst. Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf,

5

Anhang eines Briefes von Sonia Delaunay an H. de Leeuw,

Heinrich von Kleist: Über das Marionetten­theater, Stuttgart

Köln 1999.

27.3.1962, Privatsammlung, zit. n. Petra Timmer: Sonia Delaunay. Fa-

17

shion and Fabric Designer, in: Ausst.-Kat. New York 2011 (wie Anm. 4),

1986, S. 129.

Walter Sorell: Mary Wigman. Ein Vermächtnis, Wilhelmshaven

S. 25–103, hier S. 51.

18

6

Die Flucht aus der Zeit (1927), hg. v. Bernhard Echte, Zürich 1992,

Delaunay gestaltete auch Autos, Bekleidung und Einrichtungs-

gegenstände mit den Mustern ihrer Bilder. Im Sinne des „schemati-

Tagebucheintrag Hugo Balls vom 24.5.1916, in: Hugo Ball:

S. 97.

schen Bildakts“ von Horst Bredekamp, strebte die Künstlerin danach,

19

„die Distanz zwischen Artefakt und Mensch aufzulösen“. Vgl. Horst

chen 1923, S. 260–261; vgl. Athina Chadzis: Die Maskentänzer Lavinia

Bredekamp: Der Bildakt: Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin

Schulz und Walter Holdt, Frankfurt a. M. 1998, S. 93.

Hans Waldemar Fischer: Hamburger Kulturbilderbogen, Mün-

2015, S. 128.

20

7

Carl Einstein: Tanzende Gewänder, in: Carl Einstein. Werke.

Oktober 1926, H. 10, S. 430–433, hier S. 432; vgl. Nils Jocke: Elbischer

Band 2. 1919–1928, hg. v. Marion Schmid unter Mitarbeit von Henri-

Kobold und Versunkene Kathedrale. Die Ausdrucks- und Maskentänze

ette Beese und Jens Kwasny, Berlin 1981, S. 341–368, hier S. 358.

von Ursula Falke, in: Entfesselt. Expressionismus in Hamburg um 1920,

8 9 10 11

Ebd.

hg. v. Anette Baumann und Rüdiger Joppien, Ausst.-Kat. Museum für

Ebd., S. 360.

Kunst und Gewerbe Hamburg, Hamburg 2006, S. 95.

Joseph Richard: Tanzmaske und Bühne, in: Der Kreis, Bd. 3,

Ebd.

21

Georg Kirsta: Vom Tanzkostüm, in: Schrifttanz, Bd.  3, 1930,

Inspirationsquellen, in: Ausst.-Kat. Hamburg 2006 (wie Anm. 20), S. 50–

H. 3, S. 51.

Vgl. Stanislaw Rowinski: Lavinia Schulz und ihre künstlerischen

55, hier S. 51.

sätzlich den Nachnamen ihres Ehemannes Hans Arp an. Im vorliegen-

22 23

den Artikel wird dieser Doppelname verwendet.

wen?, in: Anna-Brigitte Schlittler und Katharina Tietze (Hg.): Mode und

13

Bewegung. Beiträge zur Theorie und Geschichte der Kleidung, Emsdet-

12

Die Künstlerin nahm bei der Heirat am 20. Oktober 1922 zu-

Die maskierte Person in der Fotografie wird in der Forschung als

Sophie Taeuber-Arp bezeichnet. Doch Walburga Krupp stellt dies in

Chadzis 1998 (wie Anm. 19), S. 92. Vgl. Katja Stromberg: Kleider  – Tanz  – Schuhe. Wer bewegt

ten 2013, S. 23–33, hier S. 24.

Anlass des Fotos und den Erschaffer des Kostüms zweifelt sie an. Ihre

24 25

Einwände sind berechtigt, was jedoch nicht die besondere Bedeutung

berg 2013 (wie Anm. 23), S. 27.

einem jüngst erschienenen Artikel in Frage. Auch die Datierung, den

282

Zweifel zieht. Walburga Krupp: Sophie Taueber-Arp als Tänzerin und

Anja Pawel

Ebd., S. 48. Alexander Sacharoff: Über das Tanzkostüm, 1950, zit. n. Strom-

26

Hans Hildebrandt: o. T., in: Neue Zürcher Zeitung, Abendblatt,

24.10.1922, zit. n. Dirk Scheper: Oskar Schlemmer. Das Triadische Ballett und die Bauhausbühne, Berlin 1988, S. 55.

27 28

35 36 37

Ebd., S. 230 f. Ebd., S. 230 u. 234. Sonia Delaunay: Die getanzte Farbe in: Aujourd‘hui, Mai 1958,

Zit. n. ebd., S. 26.

H. 17, zit. n.: Robert Delaunay, Sonia Delaunay. Das Centre Pompidou

Ebd., S. 54. Kate Elswit kommt auf Basis dieses Zitats zu ähnli-

zu Gast in der Hamburger Kunsthalle, Ausst.-Kat. Hamburger Kunst-

chen Schlussfolgerungen, in: Kate Elswit: Watching Weimar Dance,

halle, Hamburg, Köln 1999, S. 204.

Oxford 2014, S. 42 f.

tus et Imago, 19), Berlin 2016, S. 508–510.

38 39 40 41

31

28.12.1919, zit. n. Karin von Maur: Oskar Schlemmer als Tanzgestalter

29 30

Scheper 1988 (wie Anm. 26), S. 52. Vgl. Markus Rath: Die Gliederpuppe. Kult, Kunst, Konzept (AcWalter Sorell: The Other Face. The Mask in the Arts, London

Ebd. Ebd. Ebd. Schlemmer in einem Brief an Otto Meyer-Amden vom

1973, S. 154.

und Bühnenbildner, in: Oskar Schlemmer. Visionen einer neuen Welt,

32

hg. v. Ina Conzen, Ausst.-Kat. Staatsgalerie Stuttgart, München 2014,

Fritz Böhme: Tanzkunst, Dessau 1926, S. 51. In der Originalver-

sion trugen die Tänzer wohl auch Gesichtsmasken.

S. 195.

33 34

Ebd.

42

Vgl. Renate Berger: Vorstellungen des Abstrakten und Absolu-

ration, Bd. 23, 1908, S. 238.

Emil Utitz: Reform der Tanzkunst, in: Deutsche Kunst und Deko-

ten im Ausdruckstanz und Triadischen Ballett, in: Susanne Deicher

43

(Hg.): Die weibliche und die männliche Linie. Das imaginäre Geschlecht

Tanzkostüme benennen, wie etwa solche aus Pablo Picassos Parade

der modernen Kunst von Klimt bis Mondrian, Berlin 1993, S. 221–255,

(1917).

Über diese Beispiele hinaus lassen sich weitere raumgreifende

hier S. 229.

Körpermasken und bewegte Bilder: Künstler kostümieren Tänzer

283

tapestries made from modernist paintings by great manufactories that usually worked for the Mobilier National, in order to sell them in her gallery and around the world (Brussels in 1935, then London, Chicago, New York). Only Lurçat and Coutaud produced their own tapestry cartoons. In most other cases, painters were not much implicated in the production of the tapestry: they just gave their original painting or drawing to the weaver. This contribution

Matisse’s Tapestry The Woman with the Lute (1949): Interweaving Modernist Painting and Tapestry

has its focus on a tapestry made after an artist who was not considered as an impulse of the French tapestry renaissance (as were Lurçat and Coutaud), The Woman with the Lute by Henri Matisse: he got involved in the process of production and offered in this tapestry an interesting reflection upon medium specificity and decoration. Resorting to painters in order to provide the

Claire Salles

model for the cartoon (the full-sized sketch that guides the weaver, realised by the weaver or by an assistant

Context  – The French Tap estry Re n a i s s ance through Modern Pai nt i n g

dedicated to this task) had become frequent at the end of the 15th century, precisely at a time when painters became full-part artists and no craftsmen like others anymore. Madeleine Jarry’s grounding work on modern tapestry characterises it as a come-

In the 1930s, French tapestry took an interesting

back of the authority of the painter that had been so

twist, awaking from the prolonged use of pastoral,

deleterious for tapestry and had led to its decline at

regionalist and exotic subjects. It was well recounted

the end of the 18th century. In both eras, tapestries

in an exhibition that took place in 2018 at the Manu-

are mere reproductions of paintings or drawings

facture des Gobelins in Paris entitled Over the Century,

considered as originals. Jarry sees the tapestries

1918–2018, Masterpieces of Tapestry. The French

ordered by Marie Cuttoli as “veritable trompe-l’oeil”

tapestry renaissance is partly due to the artist Jean

and adds: “The result is amazing and at some

Lurçat (who advocated a return to the roots of

distance one cannot distinguish the painting from

tapestry by using a reduced range of tones and a

its woven replica.”1 Weavers are seen as copists

simplified model) and to Marie Cuttoli, collector and

whereas modern painters are supposed, in the

gallerist of many modernist painters (Pablo Picasso,

common sense of modern art, to always create

Georges Braque, Henri Matisse, Georges Rouault,

something new, in an ambivalent position oscillating

Fernand Léger, Jean Lurçat, Raoul Dufy and Lucien

between understanding tradition and forever starting

Coutaud among others). She had the idea of having

afresh.

Matisse’s Tapestry The Woman with the Lute (1949): Interweaving Modernist Painting and Tapestry

285

In 1946, an exhibition called French Tapestry from

Bihan relates that “we learn from Lydia Delectorskaya

the Middle Ages to our Days at the National Museum of

[Matisse’s assistant] that Matisse was disappointed by

Modern Art in Paris showed that the national manu-

the result”.4

factures were almost absent of the tapestry renaissance. Yet, they quickly followed Cuttoli’s tracks.

When Matisse was in contact with Marie Cuttoli in 1937, he wrote to her that he wanted to “insist on the variation in tone because of the transparencies

How The Wo man with the Lute Revolutionised Tap estry

and the brush games that will have to be observed by the copist”5 and Olivier Le Bihan wrote in the catalogue for the exhibition hold in France in 2014 under the name Weaving Matisse that Matisse was “very

I will take as a case study a tapestry by Henri Matisse entitled The Woman with the Lute (ill. 1), woven

work”.6 At the time, he clearly thought that tapestry

by the Gobelins’ Manufactory and finished in 1949,

was copy. But ten years later this first experience, The

because Marie-Hélène Dali-Bersani showed that, with

Woman with the Lute appears as the result of a com-

that tapestry, the Mobilier National made the decisive

plex interweaving of mediums, from a painting to a

move to revolutionise modern tapestry and its dialec-

tapestry through a black and white photograph and a

tics of model and copy: “With Matisse, the manufacto-

colour one, altogether with a real implication of the

ries are approaching for the first time the process of

artist. For Dali-Bersani, “this is a first, the true recrea-

dialogue necessary for the transposition of one

tion of the original model designed above all according

technique to another.”

to the profession of licier”.7

2

Ten years after Matisse had given it a try with

It does not mean that the technical separation

Marie Cuttoli (Papeete I, 1936), the Gobelins’ Manufac-

between the world of the painters and that of the

tory contacted him. They agreed on The Lute, a

weavers that dominated the pictorial tapestry disap-

painting of 1943 that was no longer available3 but

peared. Tapestry (as stained glass) needs highly

from which a photograph in colour had recently been

qualified executors; comparatively, engraving does not

published in the art journal Verve (ill. 2). Matisse used

require so much specialisation and painters could do

this photograph to draw a new project: he withdrew

their own woodcut. Of course, many weavers have

one of the ornamental patterns of the wall behind the

challenged the distinction between fine arts and

woman, replaced the carpet by acanthus patterns on

applied arts, asking and obtaining acknowledgement

the floor and added an ornamental border. This new

as art of their tapestries. Furthermore, many artists

project was photographed and the cartoon was

combine a graphic production with weaving (but they

obtained by editing in black and white this photograph

work at another level of complexity than that of the

to the dimensions of the tapestry to be produced,

teams of the Mobilier National: the last tapestry made

twice and a half bigger than the painting The Lute from

from a painting by the Gobelins’ Manufactory, A Map

1946. Matisse and the tapestry weaver Maurice

of Japan by Alain Séchas, was woven in no less than

Cauchy prepared the yarn sampling together. Two

seven years from 2011 to 2018).8

copies were woven (from September 1947 to May 1948 and from May 1949 to October 1950). Olivier Le

286

upset by the liberties taken in the interpretation of his

Claire Salles

This technical separation is all the more brought to light by the very process of production of The

Ill. 1: Henri Matisse, The Woman with the Lute, 1949, haute lisse tapestry, 165 x 200 cm, Mobilier National and Gobelins Manufactory, Paris

Woman with the Lute, because Matisse modified his painting in order to create a more suitable model for tapestry (the ornamental border he added is typical in tapestry). What happens in this transformation? Is the balance of forces between colours (Matisse’s iterative main interest in painting) the same in tapestry? ‘Pictorial tapestry’ offers a fascinating case study because its high technical requirements necessarily make it a copy from the graphic work chosen as a model. This transmediality therefore questions the very possibility to talk about ‘modern tapestry’ in the sense of all ‘modernist art’, where the work of art is supposed to emerge from the very properties of the medium.

Ill. 2: Henri Matisse, The Lute (colour plate), Verve, Vol. IV, December 1945, No. 13, Mobilier National and Gobelins Manufactory, Paris

Matisse’s Tapestry The Woman with the Lute (1949): Interweaving Modernist Painting and Tapestry

287

What Medium Sp ecif icity for Tap estry and Painting?

In 1893, Alois Riegl, curator of the Textiles Department at the Museum of Art and Industry in Vienna, criticised the materialist approach that

I here raise the question of the specificity of the medium in modern art. Today, we mainly refer to this

Gottfried Semper’s theory. The latter was a German

notion in the way it was popularised by the

architect exiled in London, who taught Metallurgy at

North-American critic Clement Greenberg, who used

the Department of Practical Art from 1852 to 1855.

it in the 1960s to promote painters that, in his opinion,

He published in 1860 the first tome of Style in the

met the self-referential requirement of modernist

Technical and Tectonic Arts: or, Practical Aesthetics

painting: namely Jackson Pollock, Willem de Kooning,

where he explained the form of ornamental patterns

Jules Olitski, then Mark Rothko and Barnett Newman.

by the technical constraints of weaving.11 Design had

His notion of medium specificity is summarised in

to adapt to the specificity of the fabric. Riegl’s concep-

“Modernist Painting”, a lecture given in 1960, first

tion of ornamental patterns fights Semper’s materialis-

published in 1961 and revised in 1965. According to

tic determinism: what matters for him is the way the

Greenberg’s reading of Immanuel Kant (“the first real

form is inwardly experienced and the ‘Kunstwollen’ that

Modernist” ), each domain of thought and each

drove the fabrication, which can be the same for a

artistic medium should justify its existence through the

ceramic or for a tapestry.

9

10

affirmation of its own specificities. Since Manet and

Masheck insists on Semper’s determinism and

Cézanne, painting states that it is neither a window

flatness as it was promoted in applied arts (in order to

nor a mirror but rather an autoreferential object.

depart patterns from narrativity and to show a

Painting should state surface as a surface: it should

self-conscious artificiality), in order to show its reso-

state that its coloured configuration is responsible for

nance by painters, namely by the French Post-Impres-

its flatness.

sionists from approximately 1880 to 1910. But he does

But Greenberg cut his idea of modern art based

288

dominated the analysis of styles, in the wake of

not really study the differences, nuances and passages

on medium specificity from its roots. As a matter of

between Pointillists (Paul Signac from The Great Father

fact, medium specificity calls upon debates on deter-

Signac, 1884), Synthetists (Paul Gauguin, Émile Ber-

minism that developed at the end of the 19th century

nard), Symbolists (Odilon Redon, Georges Seurat) and

by craftsmen and theorists of the applied arts but

Nabis (Paul Sérusier, Maurice Denis). He does not so

were used by painters as well. In his polemical essay of

much address either the implications of extending what

1976 entitled “The Carpet Paradigm”, Joseph Masheck

he calls the “carpet paradigm” from craftsmen and

took as a starting point the growing fetishisation of

theorists of applied arts to those artists who combined

Greenberg as the only authority about flatness (the

different practices (cartoons for tapestries, stained

specificity of painting) and tried to reconstruct the

glass, fabrics and wallpapers; posters, illustrations for

genealogy of medium specificity. Masheck insists on

books and journals; theatre sets), nor the links between

materialistic determinism in the wake of Gottfried

craftsmen and artists (many of the artists named above

Semper and William Morris, and therefore leaves aside

had symbolistic and metaphysical rather than purely

another interpretation of decoration, the one repre-

formal and functional goals, unlike most of craftsmen

sented by Alois Riegl.

and theorists of applied arts).

Claire Salles

Masheck builds a connection from Denis to

curtains, costumes and screens. He took them with

Matisse in regards to this decorative painting that insists

him when he moved from a studio to another. Spurling

on flatness and patterns, in opposition to easel painting

also recalls that Matisse was born in a region that was

that is supposed to open a window on the world in an

a hotbed of the textile industry and that one of

illusionist way. Masheck thus inscribes Matisse in the

Matisse’s greatest collectors, Sergei Shchukin, was the

“carpet paradigm” inherited from the materialistic

leader of one of the biggest textile empires of Russia.15

determinism of Semper about the applied arts; the

But what matters is the use that Matisse made

“carpet paradigm” lasts, in Masheck’s eyes, until cubism

of these textiles in his paintings. Until now most of the

(which parts the painting from its environment).

authors who published on Matisse and textiles agree

One may find interesting to know that a special-

on seeing them as a way to destabilise the laws of the

ist of Matisse, Rémi Labrusse, preferred to link Matisse

three-dimensional illusion. The examples abound,

to Riegl’s theory, which was based on Islamic decora-

especially in the works from 1906 to 1918 when

tive art.12 He recalls that the whole post-impressionist

textiles were used to activate the background, to

generation of artists engaged with by textiles and

expand the painting and make it enter in tension with

carpets, with decorative art and oriental art, in order

its environment. In Matisse’s Still Life with Red Carpet

to renew painting and the occidental conception of

(1906), the painted Algerian carpet abolishes the

images. The relations between forms are more

distinction between the foreground and the back-

important than the forms themselves. Matisse visited

ground, as well as the Jouy-printed textile in Still Life

in 1910 the Exhibition of Mohammedan Art in Munich

with Blue Tablecloth (1909; ill. 3). The wall and the floor

and, in Labrusse’s eyes, he meets the Islamic decora-

form a continuum in Interior with Aubergines (1911;

tive art’s requirement of the abolition of limits (the

ill. 4), as well as the wall and the table in The Dessert.

chromatic energy is deployed beyond the limits of the

Harmonie in Red (1908; ill. 5).

canvas, by means of the repetition of patterns in Islamic art, and by means of the work on coloured forces by Matisse).13 It is time now to specify what I mean behind this idea of the work of forces by Matisse, and it can precisely be done at best by studying Matisse’s use of textiles in his paintings.

Texti l e s i n Matisse’s p aintings In point of fact, Matisse extensively resorted to textiles in his paintings. As Hilary Spurling emphasized in 200514, Matisse collected textiles from his first years spent in the Beaux-Arts School: he bought in flea markets Persian carpets, African hangings, all sorts of

Ill. 3: Henri Matisse, Still Life with Blue Tablecloth, 1909, oil on canvas, 88 x 118 cm, The Hermitage Museum, Saint Petersburg

Matisse’s Tapestry The Woman with the Lute (1949): Interweaving Modernist Painting and Tapestry

289

Ill. 4: Henri Matisse, Interior with Aubergines, 1911, tempera and other techniques on canvas, 212 x 246 cm, Painting and Sculpture Museum, Grenoble

Ill. 5: Henri Matisse, The Dessert. Harmonie in Red, 1908, oil on canvas, 180 x 220 cm, The Hermitage Museum, Saint Petersburg

290

Claire Salles

Ill. 6: Henri Matisse, Still Life with The Dance, 1909, oil on canvas, 89 x 116 cm, The Hermitage Museum, Saint Petersburg

Jack Flam also notices the confusion between

As a result, one has the sensation that the

the vegetal printings of the textiles and the fruits or

patterns go beyond the painting. Matisse always

flowers placed on the tables, a lesson that Matisse

repeated that this decorative characteristic would

would have learned from Paul Cézanne16: one can

destroy the tableau, the easel painting heard as a

compare Cézanne’s Still Life with Fruit Dish (1879/80)

close frame that opens a window on something else

to Matisse’s Still Life with “The Dance” (1909; ill. 6). The

than its environment. From the 1940s, he went as far

same confusion occurs in the tapestry The Woman with

as to reject painting that still did not allow enough

the Lute: Matisse has added vegetal patterns on the

this extension to the environment, as we can see in

wallpaper and on the carpet, and these patterns are

his last works (cut painted papers, decoration of

almost confused with the flowers ­arranged in vases.

the Chapel of the Rosary of Vence) and as expressed

What does the treatment of textiles in these

in a letter to Marguerite Duthuit from 1945:

earlier paintings imply? Matisse does not look after

“Paintings seem over to me […]. I am for decoration –

copying nature, but expresses its forces. Vitality of

that is where I give everything I can – and I use

colours is one of his main themes and he modifies the

the acquisitions of my life – in paintings I go back-

colours rather than the drawing according to the

ward […]. In drawings and decoration, I master, I am

needs of the painting.

sure.”17

Matisse’s Tapestry The Woman with the Lute (1949): Interweaving Modernist Painting and Tapestry

291

Re def ining Decoration

than itself, to extend to its environment and act on the viewer, on the other hand. One can see that it is the

These implications of the use of textiles in

theorists of applied arts whereas Matisse combines

of ‘decoration’, that Matisse participated to reshape.

both. As the art historian Jean-Claude Bonne writes:

As the artist stated from a letter written in 1913 (“For

“By Matisse, painting is intended to be explicitly

me, a painting should always be decorative” ) to an

decorative and it achieves its goal by developing a

interview with Léon Degand in 1945: “[Degand asks:]

double expansiveness, both internal and external,

We have not yet given up reproaching your art with

all-over and all-around: it must ensure a rhythmic or

being extremely decorative, and we hear it in the

afocal circulation through itself (the parts can have a

pejorative sense of the superficial. [Matisse answers:]

very variable importance but their interrelations must

[...] The decorative for a work of art is an extremely

be such that no element must subordinate others) so

precious thing. It is an essential quality. It is not pejora-

that it radiates on the surrounding environment to

tive to say that an artist’s paintings are decorative. [...]

stimulate the vital feeling of the spectator.”20

18

The characteristic of modern art is to participate in our

The modifications Matisse did in view of the

life. A painting in an interior spreads around joy by its

tapestry question this polarity between flat and

colours, which lighten us. […] A painting on a wall

repetitive patterns on the one hand, and expansivity

should be like a bouquet of flowers in an interior.

and vitality on the other. By replacing the carpet by

These flowers have an expression, tender or lively. Or

vegetal patterns on the floor, by unifying the vegetal

simply, the joy comes to us from a surface of yellow or

patterns on the wall and by adding an ornamental

red, which asserts flowers of more tender expression,

border, Matisse tended to flatten his composition and

like roses, violets, daisies, compared to the ardent and

to multiply and generalise repetitive patterns. It is also

purely decorative orange of marigolds.”

clearer in the tapestry than in the painting that the

19

One can notice that Matisse’s concept of

plate positioned on the table, because it is blue and

decoration emphasizes activity rather than passivity: a

red as the wall, brings the wall back to the front, to its

work of art along with a bouquet of flowers should

own plane. One may go one step further by noticing

spread light in a room and produce emotions in the

that the objects and patterns represented in the

viewer.

tapestry do not have hard contours but overflow one

As a tapestry (a medium more frequently

292

former that was put into scrutiny by the craftsmen and

Matisse’s work can thus be synthesised under the idea

into each other in order to reproduce the liberty of the

associated with the common meaning of decoration),

brush in painting (there is even a yellow trace that

The Woman with the Lute brings to light and refreshes

trickles, as fresh paint would). This interlacing of things

the implications of decorativeness that arose by

is all the more visible in tapestry because of its

Matisse from his paintings. Decorativeness combines

technique: the horizontal and vertical wires are

here two polarities of meanings that are intrinsically

interwoven at right angles, so that the overflowing is

interlaced: the pure materiality of the plane surface

quite visible (as in a pixeled picture). The flattening of

becoming self-conscious by the very repetition of

the composition participates to the powerful effect of

patterns on the one hand and the capacity of the work

transcendence towards the wall: all the light cast by

of art to transcend itself towards another dimension

the tapestry comes from the tension (both confronta-

Claire Salles

tion and confusion) of blue and red planes through

philosopher Hubert Damisch about the French artist

diverse patterns. And it works, even if the tapestry

François Rouan who weaves two painted canvases that

seems unfortunately granular and gritty (perhaps its

he has cut into strips, and sometimes paints on this

brightness and softness has lowered because of the

weaving. The thickness of the surface does not only

passage of time).

apply to real weavings such as Rouan’s (or to tapestry, I would add) but to all kind of visual displays that tension

Beyo n d Flatness

the relation of the planes between them. Hubert Damisch thought that the “braid paradigm” that emerges with thickness has replaced the

The reader may have noticed that the notions of

“perspective paradigm”.25 For instance, it can be applied

decoration, flatness and medium specificity, in their

to medieval painting from the tenth to the twelfth

interweaving between painting and tapestry, call upon

century (known in French as art roman, but not to be

an analysis that oscillates between a materialistic

confused with the arts made in Ancient Rome) and to

description (but without a forced determinism) and the

ornamental patterns. Jean-Claude Bonne, as a special-

description of the effects on the viewer and his

ist of medieval art, offered tracks in this direction.26

environment.

Two theoretical renewals have occurred. First,

In this oscillation, the notion of flatness (usually

Bonne’s and Damisch’s notions of thickness and of

associated with modernism) becomes perplexing. The

decorative flatness offer a more complex approach

tapestry The Woman with the Lute underlines the

than Greenberg’s flatness. Flatness does not necessar-

effects of tension of planes that grounds Matisse’s

ily mean that a painting should enunciate his flatness

paintings.

through a sole plane (modern painting would die with

Jean-Claude Bonne and Eric Alliez offered a brilliant analysis of Matisse’s ‘décoratif’ in La

monochrome). Second, Damisch’s braid paradigm answers

Pensée-Matisse published in 2005.21 In their eyes, there

Masheck’s carpet paradigm for modernist painting by

is a synthesis between the decorative effect (all-over

going beyond the sole pure flatness promoted by the

and all-around) and some traces of three-dimensional-

craftsmen and theorists of applied arts of the 19th

ity in the representation (we still recognise that there

century and introducing a renewed perception of the

is a wall and a floor, we have an approximate idea of

relations between the planes.

the location of the objects represented in paintings).

It would be too easy to range tapestry as a whole

There is here neither a contradiction between two-di-

in the braid paradigm, on the sole materialistic argu-

mensionality and three-dimensionality nor a resolu-

ment that it intrinsically is braiding. The braid paradigm

tion: they rather talk of the third dimension as the

appears as a possibility for many mediums and goes

“tensor for flatness”.22 Flatness is no longer a synonym

beyond the technical characteristics – even if, of

of surface or plane, but occurs in several planes at the

course, it seems more self-evident in Rouan’s braids or

same time: henceforth one shall understand this as

in The Woman with the Lute by Matisse whose defini-

“decorative flatness”.

tion of decoration fits so well with the braid paradigm.

23

The authors call upon the concept of the “thickness of the surface” forged by the art historian and 24

In the same way, perspective and decoration appear as the two main possibilities for a flat support

Matisse’s Tapestry The Woman with the Lute (1949): Interweaving Modernist Painting and Tapestry

293

to be painted or weaved: flat supports do not deter-

pulled away. Beyond the sole enchantment of contem-

mine one or the other. The flatness of the support is

plation, Matisse’s works offer “a specifically modern

either underlined by the decorative paradigm, or veiled,

reflection upon the nature of the process of producing

forgotten, by the perspectivist paradigm. Decoration

images”.28 Fragmentation and recomposition of the

clearly undermines Ernst Gombrich’s idea about the

relations of the planes create impermanence: decora-

impossibility to see simultaneously the battle horse

tion is indeed, in the end, critical, “inseparable from a

and the plane surface in a painting.

reflection upon its own conditions of possi­bility”.29

27

Hence, one could see decoration as intrinsically

Conclusions

modern. I have underlined that, in Matisse’s eyes, decoration was not confined to a sole technic but could apply to painting as well as to tapestry. Decora-

Taking a look at tapestry thus offered us multiple

one medium or the other but rather involves a specific

should rely, on medium specificity. First, as a highly

use of the relations between the planes (all-over) in

skilled technique, tapestry is the exception to the rule:

connection with the environment (all-around). Thanks

most of modern artists combined several practices

to decorativeness, weaving and painting (despite the

that undermined the distinction between fine arts and

technical differences in regard of time and of the

applied arts, in conjunction with the revendication by

production of colour and light) prove to share the

many craftsmen of a higher acknowledgement of their

same reflective potential. Decorativeness implies

work. Second, there is no possible determinism of a

reflexivity, impermanence and a constant attack of

medium, only possibilities that can be explored,

the form against itself: in that sense, some particular

rejected or interlaced by every artist or craftsman, and

tapestries or paintings can be said ‘modernist’, regard-

that apply to many mediums at the same time. Third,

less of their date of creation. One can thus question

analysing a tapestry helped us to understand paint-

the overuse of the term ‘modernism’ in the call on

ings: hence, transmediality has a heuristic power.

‘modernist’ painters that gave the impetus to the

I will conclude with some considerations on the

294

tiveness is not determined by some characteristics of

ways to complexify the idea that modern art relies, or

French tapestry renaissance: it is definitely not a mere

critical potential of the ‘décoratif’. Labrusse developed

historical notion applying to artists working approxi-

an idea that proves congruent with Damisch’s ‘thick-

mately from the avant-gardes era to the Second World

ness’: the use of textiles by Matisse is the emblem of

War, but a critic and heuristic notion. Matisse’s

the ambiguity of the form, which does not leave the

(decorative) modernism may not apply to many

viewer being absorbed. Through repetition and ex-

tapestries that were simply made after paintings in the

pansion of patterns (that Labrusse calls “rhythm”), the

course of the French tapestry renaissance. Only a

gaze is led outside the borders; thanks to the relations

further study of the all-over and all-around effects of

between planes (that Labrusse calls “folds”), the gaze is

those tapestries could confirm this hypothesis.

Claire Salles

Note s 1

Madeleine Jarry, La Tapisserie: art du vingtième siècle (Fribourg:

Office du Livre, 1974), p. 87.

2

Marie-Hélène Dali-Bersani, ‘Matisse aux Manufactures nation-

15 16

Ibid., p. 24. Jack Flam, ‘Matisse et la décoration comme métaphysique’,

in Matisse et la couleur des tissus, Musée départemental Matisse, Le Cateau-Cambrésis, pp. 34–45.

17

Henri Matisse to Marguerite Duthuit, 11 February 1945

ales’, in Tisser Matisse, ed. Olivier Le Bihan and Marie-Hélène Dali-Ber-

(Archives Matisse, Paris), quoted in Spurling, ‘Seulement il faut oser’,

sani, exh. cat. Musée départemental Matisse, Le Cateau-Cambrésis

p. 15.

(Gand: Snoeck Publishers, 2014), p. 99.

18

3

Hermann, 1972), p. 308, note 31.

Olivier Le Bihan, ‘Tisser Matisse’, in Tisser Matisse, Musée dépar-

Henri Matisse, Écrits et propos sur l’art, ed. D. Fourcade (Paris:

Ibid., p. 40 f.

19 20

Henri Matisse to Marie Cuttoli, 20 November 1937, quoted in

delà ou en deçà de l’image (art médiéval, art contemporain)’, Images

Dominique Paulvé, Marie Cuttoli: Myrbor et l’invention de la tapisserie

Revues no.  10 (2012) (accessed 9 October 2018). Emphasis in original.

temental Matisse, p. 40.

4 5

Ibid., p. 308 f. Jean-Claude Bonne, ‘Art ornemental, art environnemental: au-

Norma, 2010), p. 64.

21

6 7 8

l’art contemporain (Paris: Presses du Réel, 2013).

Le Bihan, ‘Tisser Matisse’, p. 20.

Also see Eric Alliez and Jean-Claude Bonne, Défaire l’image. De

Dali-Bersani, ‘Matisse aux Manufactures nationales’, p. 100.

22

Alain Séchas, ‘Commandes publiques’ (n. d.) (accessed 9 October 2018).

23 24

9

reste (Paris: Le Seuil, 2016), p. 195.

sechas.com/details_categorie.php?from=9&date=&page=0&id=650&Clement Greenberg, ‘Modernist Painting’, Art and Literature

Ibid. Hubert Damisch, La Ruse du tableau – La peinture ou ce qu’il en

no. 4 (Spring 1965), pp. 193–201.

25

10

jaune cadmium – Ou les dessous de la peinture (Paris: Le Seuil, 1984),

Clement Greenberg, ‘Modernist Painting’, in Modern Art and

Modernism: A Critical Anthology, ed. F. Frascina and C. Harrison (New

Hubert Damisch, ‘La peinture est un vrai trois’ (1983), in Fenêtre

pp. 275–305.

York: Harper & Row, 1982), p. 5.

26

11

roman)’, in Erwin Panofsky (Cahiers pour un temps) (Paris: Centre Georges

For Gottfried Semper see Arthur  Crucq’s contribution in this

Jean-Claude Bonne, ‘Fond, surface, support (Panofsky et l’art

volume.

Pompidou/Pandora Éditions, 1983), pp. 117–134; idem, ‘Histoire et

12

théorie de l’art médiéval. Le modèle d’Otto Pächt’, in Y voir mieux, y re-

Rémi Labrusse, ‘‘Ce qui appartient à Dieu’. Matisse, Riegl et les

arts de l’Islam’, in Matisse et la couleur des tissus, exh. cat. Musée départemental Matisse, Le Cateau-Cambrésis (Paris: Gallimard, 2004), pp. 46–61.

13 14

Ibid., p. 49.

garder de plus près (Paris: Rue d’Ulm, 2003), pp. 29–62.

27 28 29

Ernst Gombrich, Art et illusion (Paris: Gallimard, 1971), p. 349. Labrusse, ‘Ce qui appartient à Dieu’, p. 57. Ibid., p. 59.

Hilary Spurling, ‘‘Seulement il faut oser’: Matisse, son art et ses

textiles’, in Matisse et la couleur des tissus, Musée départemental Matisse, Le Cateau-Cambrésis, pp. 14–33.

Matisse’s Tapestry The Woman with the Lute (1949): Interweaving Modernist Painting and Tapestry

295

det hingegen das Unbewusste mit dem Wissenschaftlichen, indem Antoni die von einem EEG während ihres Schlafes aufgezeichneten Hirnströme tagsüber an einem Webstuhl in Stoff webt. Antoni steht dabei in der Tradition feministischer Künstlerinnen und der Performancekunst der 1970er Jahre. Statt auf die Technik lenkt Antoni den Blick dabei auf die weiblichen Konnotationen des Handwerks, indem die Weberei als fingerfertige Feinarbeit vorgestellt wird.

Interferenzen von Webkunst, Algorithmen und Raster in der Kunst der Moderne

Insbesondere Künstlerinnen jener Jahre setzen quilten und häkeln dezidiert als Technik ein, um gerade im Rekurs den Diskurs einer weiblichen Zuschreibung an Handarbeit zu dekonstruieren.1 Schultz und Antoni operieren auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Während Schultz vor allem den handwerklichen Gebrauch der Weberei in den Vorder-

Daniel Becker

grund stellt und damit eine historische Technik als Kulturtechnik in den Fokus rückt, überwiegt bei Antoni

Auf der documenta 14 war mit Replica of a Chip

der metaphorische Gebrauch, indem dieselbe Technik

eine Arbeit von Marilou Schultz ausgestellt, die die

als Projektion kultureller Beschaffenheit verstanden

Replik eines Computer-Chips in Wolle auf Holz

wird. Allerdings lassen sich beide künstlerischen

darstellt (Abb. 1). Die US-amerikanische indigene

Interpretationen auf eine Bifurkation der Weberei

Kunsthandwerkerin Schultz wurde erstmals 1994 von

zurückführen, die sich mit dem Beginn der Moderne

der Intel Corporation damit beauftragt, die Compu-

vollzieht.2

terchips der Firma in der traditionellen Webtechnik der

Um diese Aufspaltung soll es im Folgenden

Navajo herzustellen. Replica of a Chip reiht sich mit dem

gehen, wobei der Fokus auf den Interferenzen des

Aufeinandertreffen zweier Kulturen in den Themen-

Digitalen mit der Weberei liegt, wie sie immer wieder

komplex der documenta 14 ein, indem sich verschie-

beobachtet wird und ihren Ursprung in der ersten

dene konträre Felder verbinden: eine als ‚primitiv‘

Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Überschneidung

verstandene Technik basierend auf lokalen Grundlagen

von automatischem Webstuhl und Rechenmaschine

gegenüber einem Hightech-Produkt in einer globalen

hat. Denn gerade hier konstituiert sich das Problem in

Produktionskette; die Fertigung in Handarbeit gegen-

der Beziehung von Technik, Weberei und Moderne. Als

über der industriellen Produktion; und nicht zuletzt

technische Entwicklung wird vor allem die Erneuerung

eine stoffliche Materialität gegenüber der Digitalität,

des Handwebstuhls verstanden. Die Weberei wird im

die durch Weberei auf der einen und die Computer­

Übrigen erst im Kontext der Art Nouveau und später

industrie auf der anderen Seite repräsentiert werden.

am Bauhaus erneut in den Rang einer genuinen Kunst

Janine Antonis Arbeit Slumber, auch von 1994 und ebenso auf der documenta 14 ausgestellt, verbin-

erhoben. Im 19. Jahrhundert und damit in dem Jahrhundert der Moderne werden Technik und

Interferenzen von Webkunst, Algorithmen und Raster in der Kunst der Moderne

297

Com p uter und Webst uhl i m Gei ste der Moderne „Am treffendsten können wir sagen, daß die Analytical Engine algebraische Muster webt, gerade so wie der Jacquard-Webstuhl Blätter und Blüten.“4 (Ada Lovelace, 1834)

Ada Lovelace, die mit diesem Zitat einen direkten Bezug zwischen Weberei und der Analytical Engine, einer Rechenmaschine und Vorläufer des Computers, herstellt, gilt oft als erste Programmiererin und Visionärin des Digitalen. Hierbei ist hervorzuheben, dass Lovelace eben nicht Entwicklerin der Rechenmaschine ist, sondern sich mit der ‚Software‘ beschäftigt. Die Hardware, die Analytical Engine, wurde hingegen von Charles Babbage erdacht. Diese Maschine existiert allerdings nur auf dem Papier, da die feinmechanischen Bestandteile den ProduktionsAbb. 1: Marilou Schultz, Replica of a Chip, 1994, auf Holz gezogene Wolle, 120 x 146 x 20 cm, American Indian Science and Engineering Society, Albuquerque, New Mexico

bedingungen ihrer Zeit voraus waren. Babbage, dessen Hauptwerk die Schrift Ökonomie der Maschine ist, versteht seine Maschine als Optimierung der Arbeitsteilung.5 Lovelace hingegen haucht ihr Leben ein, indem sie sich für die Programmierung und Algorithmisierung der Prozesse interessiert. Hier prägt sich ein Körper-Geist-Dualismus weiter aus, wie er im 18. Jahr-

Weberei im ästhetischen Diskurs noch getrennt

hundert, ganz prominent in den Maschinen des

voneinander verhandelt und auch unterschiedlich

Jacques de Vaucanson, vorherrschend ist.6

bewertet. Dementsprechend wird hier verfolgt,

Der von Lovelace zitierte Webstuhl von Joseph-

inwiefern die Weberei der Moderne zugleich Bezugs-

Marie Jacquard stammt aus der Zeitenwende um 1800

punkt des Digitalen, des Weiblichen und des Hand-

und erlangt seine Bedeutung vor allem dadurch, dass

werklichen ist sowie als Gegenpol zum Künstlerischen

er mit Lochkarten gesteuert werden kann. Gerade an

gilt. Durch die Historisierung des Gegenwärtigen soll

diesem Steuerungsmechanismus entzweit sich die

aufgezeigt werden, dass die unterschiedlichen Lesar-

Geschichte: auf der einen Seite ist Lovelace, die das

ten nur vermeintlich divergieren und ihren gemeinsa-

Lochkartensystem als Möglichkeit erkennt und

men Ursprung in einer textilen Moderne haben.

revolutioniert, indem sie Rekursion und Speicherung

3

298

Daniel Becker

einbaut; auf der anderen Seite findet sich die sozialhis-

Zumeist werden die verschiedenen kulturellen

torische und kunstästhetische Perspektive, die in der

Ausformungen, die die Weberei im Zuge der Automati-

Automatisierung und Industrialisierung der Weberei

sierung durchläuft, wenig berücksichtigt, wenn sie mit

einen Niedergang erkennt, da das Handwerk nur noch

dem Computer in Beziehung gesetzt wird. Wenn es

durch Maschinen ausgeführt wird. So steigt die Zahl

etwa bei Sadie Plant heißt, „[d]er Computer geht aus

der Webstühle in Lyon, einer der Hochburgen europäi-

der Geschichte des Webens hervor, einem Prozess, der

scher Weberei, im 19. Jahrhundert von 20.000 (1819)

oft als Inbegriff weiblicher Tätigkeit gilt“, dann trägt sie

auf 50.000 (1848) bis hin zu 120.000 (1870).8 Obwohl

dem Unterschied zwischen männlichem Handwerks-

sich so durchaus ein Potenzial zur künstlerischen

meister und weiblicher Fabrikarbeiterin nicht Rech-

Gestaltung hätte entfalten können, indem sich die

nung, obwohl dieser bezeichnend für den Wandel der

Arbeit auf Prototypen konzentrierte, ist das Gegenteil

Weberei zu einem maschinellen Verfahren ist.13

7

der Fall, wie Brigitte Tietzel in ihrer Anthologie der

Birgit Schneider bezieht sich hingegen vor allem

Webkunst schreibt: „So stehen wir […] vor der Merk-

auf die gemeinsamen technikgeschichtlichen Bezugs-

würdigkeit, daß die Vollendung der technischen

punkte von Webkunst und digitaler Technologie.14

Kunstfertigkeit im 19. Jahrhundert, von der man doch

Auch bei ihr steht die Verwendung von Lochkarten als

eher eine Erleichterung des künstlerischen Prozesses

gemeinsamer ‚Ursprungsmythos‘ im Zentrum: „Mit der

erwarten sollte, ganz im Gegenteil mit einer zuneh-

Lochkartenweberei wurde mithin auf etwas aufgebaut,

menden Verarmung der künstlerischen Phantasie

was die Weberei seit ihrem Beginn ausmacht: die

Hand in Hand ging.“9 Stattdessen entwickelt sich die

diskrete Struktur des Textilen.“15 Im Unterschied zu

Weberei im 19. Jahrhundert zu einem Feld der

Plant sieht sie darin allerdings nicht den Ursprung für

ungelernten Arbeiter und insbesondere der Frauen –

ein verwandtes Verhältnis von Computer und Web-

im heutigen Sinne könnte man sagen, der ‚Industriero-

stuhl. Vielmehr sei die Webkunst ‚nur‘ ein technischer

boter‘. Denkt man an Heinrich Heines Gedicht Die

Vorgänger, der generell, sei es manuell oder maschi-

schlesischen Weber von 1845 mit dem Vers „Deutsch-

nell, Strukturen prozessiere, die heute als digital

land, wir weben dein Leichen Tuch“ wird deutlich, dass

verstanden werden. Dementsprechend sei ‚Vernet-

im gesellschaftlichen Diskurs die Weberei als Politikum

zung‘ kein Ausdruck der Digitalität der Weberei,

und Handwerk wahrgenommen wird, nicht aber als

sondern der Textilität der Computertechnologie. So

Kunst.10 Ebenso gibt es bereits zu Beginn des 19. Jahr-

stehen für Schneider auch nicht die Bezüge auf

hunderts Aktionen der Maschinenstürmer, bei denen

Prototypen des Computers wie bei Charles Babbage,

Webrahmen zerstört werden.11 William Morris betont

Ada Lovelace oder Herman Hollerith im Fokus,

dementsprechend im Kontext der Arts and Crafts

sondern sie betrachtet das Textile als Ausdruck binärer

Bewegung den Kunstcharakter des Textilen jenseits

Logik in Form von technischen Bildern.16 Ein direkter

der maschinellen Produktion: „whatever improvements

Vergleich zu digitalen Bildern, die mit Grafikdateifor-

have been introduced have been purely commercial,

maten operieren, hinkt dementsprechend auch, weil

and have had to do merely with reducing the cost of

sie nicht wie die Lochkarte in Maschinencode ge-

production; nay, more, the commercial improvements

schrieben, sondern bereits in einen anderen Code

have on the whole been decidedly injurious to the

transformiert sind. Hierauf verweist auch Schneider

quality of the wares themselves.“

und betont in diesem Zusammenhang, dass darin

12

Interferenzen von Webkunst, Algorithmen und Raster in der Kunst der Moderne

299

gerade das Originäre des Textilen bestehe, weil es in

Querverweisen, die sich zu einem Gewebe verknüp-

Form von Lochkarten wie auch als textiles Produkt

fen. Hierin sieht sie auch einen metaphorischen Bezug

haptische Eigenschaften besitze, sodass sich das

des Digitalen zum Webstuhl und Textilen, denn es

Digitale hier auch materialästhetisch fassen lasse.17

entstehe eine Vorform des Hypertextes.19

Allerdings argumentiert Schneider vor allem auf

Ist die Weberei also als Vorläufer der Computer-

einer technisch-formalen Ebene, die in der Automati-

technologie zu verstehen? – Ja und Nein. Einerseits ist

sierung der Weberei das entscheidende Kriterium sieht

der Bezug unumstritten, indem sich die Pioniere der

und dementsprechend auch weit mehr auf die Automa-

Rechenmaschine und primitiven Computer immer

tenphantasien des 18. Jahrhunderts abzielt. Denn

wieder auf die Funktionsweise des Webstuhls bezie-

bereits der Webstuhl von Jean-Baptiste Falcon 1728 ist

hen. Allerdings basiert die Funktionsweise und

automatisiert, doch Jacquard benutzt zu Beginn des

Steuerung auf einer völlig anderen Prämisse. Das

19. Jahrhunderts zum ersten Mal Lochkarten. Dass es

prozessuale Berechnen und das Programmieren stehen

sich hier nicht um Lochkarten im heutigen Sinne

auf einer anderen Ebene als die reine Ausführung einer

handelt, verdeutlicht die Anekdote, dass Charles

vorgegebenen Arbeitsanweisung in Form einer

Babbage ein gewebtes Porträt von Jacquard besaß,

Schablone. Andererseits zeigt der Webstuhl als

welches nach der Vorlage von 24.000 Lochkarten

Hardware Parallelen zum Computer mit Blick auf Auto-

hergestellt wurde. Die binäre Logik, die Schneider

matisierung und Industrialisierung. Die visionären

hierin sieht, beschränkt sich auf eine materielle Logik

Funktionsweisen des Computers existieren bis in die

von Loch und Nicht-Loch, die schablonenhaft das

Mitte des 20. Jahrhunderts nur auf dem Papier, bis

Heben und Senken der Schäfte inkorporiert. Erst gegen

dahin wurden diese mathematischen Prozesse von

Ende des 19. Jahrhunderts wird durch das Patent des

Menschen ausgeführt. Wie die Fabrikarbeiterinnen die

Amerikaners Herman Hollerith von 1889 die Lochkarte

Steuerung der Webstühle übernahmen, so wurden

als symbolischer Speicher eingeführt, der bei Ada

insbesondere zur Berechnung der Ballistik von militäri-

Lovelace, nicht jedoch bei Jacquard, mitgedacht ist.

schen Flugkörpern Frauen als „Human Computers“

Die Ähnlichkeit der Steuerungstechnik von Computer und Webstuhl, die als Beleg des gemeinsa-

Konnotation des Weiblichen im Digitalen, die erst im

men Ursprungs dient, wird aber durchaus kritisch

Cyberfeminismus der 1990er Jahre langsam aufgebro-

gesehen. So betonen Martin und Virginia Davis, dass

chen wird.21 Es ist ein ähnlicher Prozess, wie ihn die

sich die Similarität lediglich auf die äußere Maschine

textile Kunst in den 1970er Jahren durchläuft, indem

bezieht, nicht jedoch auf den Prozess: „To belabor the

das Handwerk nicht nur durch kritische Künstlerinnen

point, Jacquard looms, marvelous machines that they

hinterfragt wird, sondern handwerkliche Textilien wie

are, do not execute algorithms. Holes in the cards

Quilts oder auch die Webereien der Navajo nicht mehr

correspond in a one-to-one manner only to a group of

allein in Kunstgewerbesammlungen, sondern auch in

particular threads being raised. That is all.“ Sadie

Kunstmuseen gezeigt werden.22 Von einer Rehabilita-

Plant merkt dagegen an, dass Lovelace selbst auf einen

tion oder gar einer Nobilitierung lässt sich allerdings

anderen Punkt hinweist, nämlich dass ihre Überlegun-

nicht sprechen; zu sehr sind auch zu dieser Zeit noch

gen nicht zu einem linearen Prozess führen, sondern

geschlechtsspezifische Stereotypen in der Theorie und

zu parallelen und unabhängigen Wirkungsketten mit

dem Verständnis der Kunst verankert.

18

300

herangezogen.20 Dies führt zu einer abschätzigen

Daniel Becker

We b k u n s t zwischen Gender und Cy b e r fe minismus

Gebiet Schöpferisches zu leisten.“26 Stölzl versucht damit gerade durch den Bezug auf den handwerklichen Charakter des Textilen gegenüber der industriellen

„Wo Wolle ist, ist auch ein Weib, das webt, und

Produktion den Frauen am Bauhaus einen Platz

sei es nur zum Zeitvertreib.“

einzuräumen. Denn obwohl das Bauhaus im Wesentli-

23

(Oskar Schlemmer, 1920)

chen progressiv angelegt ist und bei den Zugangsvoraussetzungen nicht zwischen den Geschlechtern

Mit diesem abschätzigen Aphorismus, der an der

unterscheidet, ist es in der Realität nicht so, denn

Kunstschule Bauhaus zum geflügelten Wort wurde,

bereits 1920 beschließt der Meisterrat, dass die Frauen

schildert Oskar Schlemmer seine Sicht auf die Webe-

nach Abschluss des Vorkurses zum Weben sollen, in die

reiwerkstatt. Gunta Stölzl übernimmt diese Klasse als

so diminuierte „Frauenabteilung“.27 Mit dem Hervorhe-

Meisterin, nachdem sie zuvor von Georg Muche

ben der handwerklichen Erfahrung und Materialkennt-

geleitet wurde. Obwohl das Bauhaus seinen Grundsät-

nis für die Weberei kehrt Stölzl zwar die Argumentation

zen nach auf die geschlechtliche Gleichstellung

für eine ‚Frauenabteilung‘ um, indem sie betont, dass

bedacht ist, sind es aber vor allem Frauen, die in der

empfindsame Feinheiten vor allem von Frauen geleistet

Webereiwerkstatt arbeiten und letztlich gegen Muche

werden können, sie bestätigt aber zugleich die vorherr-

‚revoltierten‘, da dieser die handwerkliche Expertise

schende Geschlechtszuschreibung.

vernachlässige, wie Stölzl schreibt: „Dieser [Muche]

Ähnlich argumentiert Sadie Plant in ihrem Essay

investierte im Kontext der Neuausrichtung in Dessau

über „The Future of Looms“. Sie vergleicht dabei die

in teure Jacquardwebstühle und mechanische Web-

Webkunst, die mit dem Setzen von Kettfäden und

stühle, um den Forderungen nach Profitabilität

Steuern von Pedalen und Schiffchen äußerst kompli-

nachzukommen, ohne allerdings auf die Expertisen der

ziert sei, mit der Kybernetik.28 Damit folgt sie im

Weberinnen Rücksicht zu nehmen.“24 (Abb. 2)

Grunde Gunta Stölzl, indem sie die Stereotypie

Es ist schwierig diesen Streit einzuordnen, denn

wiederholt, dass es sich bei der Webkunst um ein

er widerspricht eigentlich den vorherrschenden

prädestiniert weibliches Feld handele. Da sie aber

Zuschreibungen. Auf der eine Seite steht Georg Muche,

zugleich mit Bezug auf die Kybernetik die Komplexität

der die Weberei im industriellen Sinne des Bauhauses

der Webkunst betont, wertet sie diese auf. Dies ist

versteht: „Die Imitation vergangener Handwerkskultu-

auch vor der oben erwähnten Folie zu sehen, dass

ren widerspricht der maschinellen Herstellung ebenso

Frauen im Bereich der Computer-Forschung als

sehr wie der mittelalterliche Handel den kaufmänni-

‚Human Computers‘ wahrgenommen wurden. Während

schen Prinzipien der Neuzeit.“ Auf der anderen Seite

des Zweiten Weltkrieges werden sie zur Berechnung

argumentiert Gunta Stölzl, die die Weberei als feminin

von Flugbahnen eingesetzt, da die meisten männlichen

bezeichnet: „Die Weberei ist vor allem Arbeitsgebiet

Mathematiker an der Front dienen. Doch anstatt nach

der Frau. Das Spiel mit Form und Farbe, gesteigertes

dem Krieg wie ihre männlichen Kollegen Karriere zu

Materialempfinden, starke Einfühlungs- und Anpas-

machen, bleiben sie auf ihre Rolle der Ausarbeitung von

sungsfähigkeiten, ein mehr rhythmisches als logisches

Gleichungen beschränkt und werden wieder durch die

Denken sind allgemeine Anlagen des weiblichen

Heimkehrer ersetzt oder verharren in niedrigen

Charakters, der besonders befähigt ist, auf dem textilen

Positionen. Sie übernehmen damit die Rolle der

25

Interferenzen von Webkunst, Algorithmen und Raster in der Kunst der Moderne

301

Abb. 2: Handwebstühle in der Textilwerkstatt am Bauhaus Weimar, 1923

heutigen Computerprozessoren, indem sie massenhaft

Schönheit … vielleicht die Möglichkeit der Nachah-

Berechnungen ausführen (Abb. 3).

mung selbst, diejenige, die ihre eigenen Verkleidungen

Plant allerdings leitet daraus eine überbordende Metaphorik ab, die sich darauf stützt, dass die Arbeit

­gleichgesetzt, allerdings in einem positiven Sinne

der Frauen, wie die des Computers, zwar unsichtbar

und nicht im Sinne einer unreflektierten Maschine,

im Hintergrund läuft, gleichzeitig aber die Grundlage

wie es bei dem Bezug zum Webstuhl der Fall ist.

für alle weiteren Schritte sei. „Die Frau“, so Plant,

Plant führt diese Analogie soweit, dass sie den

„kann nichts sein, aber sie kann alles, was vom Mann

Computer oder Rechenmaschinen im Allgemeinen

wertgeschätzt wird, imitieren: Intelligenz, Autonomie,

als feminin versteht, da die Matrix, als Grundlage

29

302

webt.“30 Die Frau wird hier mit dem Computer

Daniel Becker

Abb. 3: Bonus Bureau, Computing Divison, 24. November 1924, Glasnegativ, ca. 10 x 12 cm, Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C.

der Berechnung, im Lateinischen auch ‚Gebärmutter‘

Einzelstücks führen könne, allerdings nicht in einem

bedeutet.

somatischen Sinne wie bei Stölzl.32 Albers geht es

31

Anni Albers, die als Nachfolgerin von Gunta

mehr um die handwerkliche Kenntnis und damit um

Stölzl ab 1931 die Webereiklasse am Bauhaus leitet,

die Idee von Entwurf und Designs. Damit ähnelt ihr

verzichtet auf eine geschlechtsspezifische Zuschrei-

Verständnis der Webkunst, ähnlich wie bei Lovelace,

bung der Webkunst. Zwar betont auch Albers,

dem des Programmierens, indem die eigentliche

dass die Mechanisierung zur Entfremdung vom

Ausführung durch die Maschine oder Hardware als

Material führe und dass der Weg zur industriell

weit weniger wichtig erachtet wird.

hergestellten Massenware nur über Kenntnisse des

Interferenzen von Webkunst, Algorithmen und Raster in der Kunst der Moderne

303

Das Raster als gemeinsam er Ursp rung

sich die Abstraktion bei Albers als ein spezifisch textiler

„Wenn man davon ausgeht, daß das Weben in

Matrix, Raster und Moderne wohl am prominentesten

erster Linie einen Prozeß strukturellen Ordnens

geprägt: „Das Raster verkündet die Modernität der

darstellt, ist dies ein verblüffender Gedanke,

modernen Kunst auf zweierlei Weise […]. Auf der

denn heutzutage scheint strukturierendes

räumlichen Ebene proklamiert das Raster die Autono-

Denken eher den Männern als den Frauen

mie der Kunst. Flach geometrisch geordnet, ist es

zugeschrieben zu werden.“

anti-natürlich, anti-mimetisch, anti-real. […] In der

Beitrag zur Bildsprache der Moderne verstehen.34 Rosalind Krauss hat diesen Zusammenhang von

33

(Anni Albers, 1961)

zeitlichen Dimension ist das Raster allein deshalb ein Emblem der Moderne, weil es in der Kunst unseres

Für Anni Albers liegt der Fokus der Webkunst vor

nirgends, an keiner Stelle, in der des letzten Jahrhun-

kann dies nur durch eine genaue Kenntnis von Ge-

derts findet.“35

schichte, Material und Maschine bewerkstelligt

Was Krauss hier für das Bild beschreibt, lässt

werden, die eigentliche Ausführung ist allerdings nicht

sich ebenso auf die Weberei übertragen. Denn wie für

so sehr entscheidend, da sie im Geiste des Bauhauses

die Leinwand sind die medialen Grundbedingungen

als ‚Meterware‘ gedacht ist. So ähneln ihre Arbeiten

des Webens der (Web-)Rahmen und mehr noch der

zwar auch solchen ihrer Zeitgenossinnen wie Sonia

technische Aufbau des gewebten Bildes von Zeile für

Delaunay oder Sophie Taeuber-Arp, doch anders als

Zeile beziehungsweise Kettfaden für Kettfaden, die für

Albers arbeiten diese beiden auch mit der Nadel und

das technische Prinzip des Webstuhls stehen. Für die

fertigen Modetextilien an. Albers hingegen beschränkt

Webkunst lässt sich sogar sagen, dass die Flächigkeit

sich auf die Weberei. Ihre Arbeiten basieren dabei auf

des Rasters dem Kunstideal des 19. Jahrhunderts

Kompositionen, die sie wie Tabellen oder Matrizen

zuwiderläuft.36 Die Zurückführung auf eine Matrix bei

anlegt (Abb. 4). Diese Überschneidung zu Rechenma-

Krauss erlaubt es, deshalb auch das Raster im Kontext

schinen, die ursprünglich zur Berechnung von Tabellen

der Webkunst als Gegensatz zum Ornament zu

gedacht waren, ist nicht verwunderlich und auch nicht

verstehen.

besonders für Albers, denn der Webstuhl basiert auf

304

Jahrhunderts allgegenwärtig ist, während es sich

allem auf einem rationalen Prozess der Vorarbeit. Zwar

Ein ähnlicher Prozess vollzieht sich im Digitalen.

einem Zeilen-Prinzip, sodass matrizenförmige Kompo-

Mit „snap to grid“ wird in der grafischen Computer­

sitionen generell in der Webkunst verbreitet sind.

arbeit ein Kommando bezeichnet, dass eine

Albers allerdings versteht diese Muster nicht nur als

Freihand-Zeichnung zu einem geometrischen Gebilde

Vorstufe für die Arbeit des Webstuhls, sondern als

in einen mathematischen Raum transformiert.37 Diese

Bausteine oder Variablen, die neu, wandelbar, kombi-

Transformationsgabe zeichnet auch die Webereihand-

nierbar und vor allem wiederholbar sind. Durch

werker in Zeiten der Maschinisierung aus. Die Fähig-

Variationen entstehen immer neue Formen der

keit, in Mustern und Rastern zu denken, gleicht dabei

Rapporte, die, vergleichbar mit den Informationseinhei-

der Leistung eines heutigen Computerprozessors.

ten bei Computern, als kleinste Einheiten verstanden

Nicht nur beim Lochkartenwebstuhl von Jacquard,

werden können. Durch diese Herangehensweise lässt

sondern auch bei dessen Vorgängern findet sich in

Daniel Becker

zwischen Handwerk und Kunst aufgehoben: „[…] where artists worked mainly with flat areas, are they works of art.“39 Obwohl sich hier eine gewisse formale Übereinstimmung zur Herstellung von Platinen und Prozessoren ergibt, bei denen Schaltkreise flach und geschichtet aufgetragen werden, ist diese nur eine Abb. 4: Anni Albers, Diagramme zu Variationen bei der Leinwand­ bindung, 1965, in: Anni Albers: On Weaving (1965), Princeton/ Oxford 2017, Taf. 10, 11

oberflächliche Übereinstimmung (Abb. 5). Die Ähnlichkeit besteht vielmehr im Prozess der Verarbeitung, was auch schon Babbage betont, indem er den Prozessor seiner Analytical Engine als „Mill“ bezeichnet und damit Bezug auf die Cotton Mills nimmt, dem englischen Begriff für Spinnereien oder Webereien.40 Dementsprechend wird die Gegenüberstellung von Prozessor und Weberei, wie sie sich bei der anfangs erwähnten Arbeit von Marilou Schultz findet, auch viel mehr auf einer rationalen Ebene verhandelt. Die Suche nach Serialität, Rekursion, kleinsten Einheiten und einer algorithmisierbaren Arbeitsweise ist es, worin sich die Weberei und die digitale Technik überschneiden. Der Zusammenhang von Textilem und Digitalem

Abb. 5: Mikroprozessor Intel i486DX2, 1992

wird auch von einigen anderen zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern reflektiert. Schultz’ Arbeit hebt sich aber dadurch ab, dass sie in einer Weise

Form von Pedalen und Hebeln eine solche Form des

zwischen dem Textilen und dem Digitalen changiert,

binären Denkens in der Steuerung.38 Allerdings ähnelt

die keine definitive Zuordnung zulässt. Obwohl etwa

dies doch viel mehr dem Spielen eines Instruments.

in den 1970er Jahren sowohl die Kybernetik als auch

Erst in den abstrakten Mustern, die sich gleicherma-

die feministische Textilkunst eine Hochkonjunktur

ßen in der indigenen und modernen Webkunst finden,

durchlaufen, sind ihre Schnittmengen in der Kunstge-

gibt sich eben diese als mediengerechte Kunstform zu

schichte doch gering. Betrachtet man allerdings die

erkennen, die sich nicht der Imitation des Gemäldes

Geschichte des Computers und der Weberei der

durch maschinelle Mittel verschreibt.

Moderne nicht als lineare Abfolge, sondern als eine

Anni Albers leitet ihr Primat der flächigen Kunst

reziproke und parallele Entwicklung, so wie Schultz es

nicht von der abstrakten Malerei der Moderne ab,

mit ihrer Arbeit nahelegt, wird deutlich, dass wesentli-

sondern bezieht sich hierfür auf die Webkunst der

che Bestandteile der Diskurse im jeweils anderen Feld

indigenen Völker Amerikas, insbesondere Südamerikas,

schon vorweggenommen werden und sich im Wesent-

aber auch der Navajo. In deren mediengerechtem

lichen in der Moderne ausgeprägt haben.

Umgang mit der Webkunst sieht sie die Diskrepanz

Interferenzen von Webkunst, Algorithmen und Raster in der Kunst der Moderne

305

Anmerkungen 1

In den 1970er und 80er Jahren ist das Verhältnis zwischen tex-

Ebd. Ebd., S. 302 f. Martin und Virginia Davis: Mistaken Ancestry. The Jacquard and

tilem Handwerk und Kunst ein wesentlicher Bestandteil des feministi-

the Computer, in: Textile. Cloth and Culture, Bd. 3, 2005, H. 1, S. 76–87,

schen Diskurses; siehe hierzu etwa: Pat Mainardi: Quilts. The Great

hier S. 82.

Lippard: Up, Down, and Across. A New Frame for New Quilts, in: Char-

19 20

lotte Robinson (Hg.): The Artist and the Quilt, New York 1983, S. 32–

Princeton 2005, S. 145 ff.

American Art, in: Feminist Art Journal, Bd. 2, 1973, H. 1, S. 18–23; Lucy

Plant 1998 (wie Anm. 11), S. 16–18 u. 26 f. Siehe hierzu David Alan Grier: When Computers Were Humans,

39; Griselda Pollock und Rozsika Parker: Old Mistresses. Women, Art

21

and Ideology (1981), New York 2013, insb. S. 50–81.

gen über das Verhältnis von Frauen und Technologie gibt, findet sich der

2

Obwohl es im 20. Jahrhundert immer wieder Auseinandersetzun-

Obwohl mit dem Begriff der Moderne eine Vielzahl von sozi-

Cyberfeminismus, der sich dezidiert mit der Rolle von Frauen in Hinblick

alen, kulturellen und politischen Umbrüchen verbunden ist, sei hier die

auf den Cyberspace beschäftigt, erst in den 1990er Jahren bei einzelnen

Schwelle um 1800 bis zu Beginn des 20. Jahrhundert in Hinblick auf die

feministischen Gruppen. Gegen Ende dieser Dekade organisieren sich

Maschinisierung und Automatisierung als Zeit der Moderne verstan-

diese Gruppen gemeinsam auf der „First Cyberfeminist International“

den.

Konferenz, die im Rahmen der documenta X in Kassel stattfand.

3

Wenn hier vom ‚Textilen‘ gesprochen wird, be­an­sprucht der

22

Vgl. Silke Tammen: „Seelenkomplexe“ und „Ekeltechniken“  –

Begriff keine umfassende Gültigkeit, sondern ist aus Gründen des Um-

Von den Problemen der Kunstkritik und Kunstgeschichte mit der

fangs nur in Bezug auf Weberei und Webkunst definiert.

‚Handarbeit‘, in: Anja Zimmermann (Hg.): Kunstgeschichte und Gender.

4

Eine Einführung, Berlin 2006, S. 215–239, hier S. 219.

Ada Lovelace: Grundriß der von Charles Babbage erfundenen

Analytical Engine. Aus dem Französischen des Luigi Federico Menabrea

23

übersetzt und kommentiert von Ada Augusta Lovelace (1834), in:

verspottete Webereiwerkstatt, in: Gunta Stölzl. Weberei am Bauhaus und

­Bernhard J. Dotzler (Hg.): Babbages Rechen-Automate. Ausgewählte

aus eigener Werkstatt, hg. v. Magdalena Droste, Ausst.-Kat. Bauhaus-

Schriften, Computerkultur: Bd. 6, Wien/New York 1996, S. 309–381, hier

Archiv Berlin, Berlin 1987, S. 11.

S. 335.

5

Charles Babbage: Die Ökonomie der Maschine (1833), Berlin

6

24

Aphorismus von Oskar Schlemmer über die als ‚Frauenabteilung‘

Regina Bittner: Vom Handwerk des Übersetzens in den Werk-

stätten des Bauhaus Dessau, in: Handwerk wird modern. Vom Herstellen am Bauhaus, hg. v. dies. und Renée Padt, Ausst.-Kat. Stiftung Bau-

1999. Zur Vorgeschichte der Automatisierung insbesondere im Kon-

haus Dessau, Bielefeld 2017, S. 126–140, hier S. 136.

text der Aufklärung siehe: Allison Muri: The Enlightenment Cyborg. A

25

History of Communication and Control in the Human Machine 1660–

strebung des Weimarer Bauhauses  – Neue formschöpferische Ziele.

1830, Toronto u. a. 2007.

Los von der Rückwärtsorientierung in der Stoffmusterung (1924), in:

7

Zu Entwicklung der Weberei im 19. Jahrhundert siehe auch:

Das Bauhaus webt. Die Textilwerkstatt am Bauhaus, hg. v. Magdalena

Ursula Kircher: Von Hand gewebt. Eine Entwicklungsgeschichte der

Droste und Manfred Ludewig, Ausst.-Kat. Bauhaus Archiv Berlin, Berlin

Handweberei im 20. Jahrhundert, Marburg 1986, S. 63 ff.

1998, S. 94–96, hier S. 94.

8

Brigitte

Tietzel:

Geschichte

der

Webkunst.

Tech-

26

Georg Muche: Neue Wege in der Gewebemusterung. Die Be-

Gunta Stölzl an Erwin Stölzl, 25.10.1926, in: Gunta Stölzl. Meiste-

nische Grundlagen und künstlerische Traditionen, Köln 1988, S. 197.

rin am Bauhaus Dessau. Textilien, Textilentwürfe und freie Arbeiten

9 10

1915–1983, Ausst.-Kat. Stiftung Bauhaus Dessau, Ostfildern 1997, S. 42.

Ebd. Heinrich Heine: Die schlesischen Weber, in: Hermann Püttmann

(Hg.): Album. Originalpoesien, Borna 1847, S. 145–146, hier S. 145, V. 2.

11

Sadie Plant: nullen + einsen. Digitale Frauen und die Kultur der

neuen Technologien, Berlin 1998, S. 22.

12

William Morris: Textiles, in: Arts and Crafts Exhibition Society

(LONDON) (Hg.): Arts and Crafts Essays, London 1893, S. 22–38, hier S. 23.

27

Sigrid Wortmann-Weltge: Bauhaus-Textilien. Kunst und Künst-

lerinnen der Webwerkstatt, Schaffhausen 1993, S. 41.

28 29

Plant 2017 (wie Anm. 13), S. 127 f. Zur Kritik an Plant siehe auch Davis/Davis 2005 (wie Anm. 18),

S. 86.

30 31 32

Plant 2017 (wie Anm. 13), S. 136 f. Ebd., S. 135. Anni Fleischmann [später Anni Albers]: Bauhausweberei, in:

Sadie Plant: Die Webstühle einer drohenden Zukunft. Webende

Junge Menschen. Monatsheft für Politik, Kunst und Leben aus dem

Frauen und Kybernetik (1996), in: Tilman Baumgärtel (Hg.): Texte zur

Geiste der jungen Generation, Bauhausausgabe, November 1924, H. 8,

Theorie des Internets, Ditzingen 2017, S. 119–141, hier S. 120.

S. 188.

13

schichte der Lochkartenweberei, Zürich 2007.

33 34

15

Band.

14

306

16 17 18

Vgl. Birgit Schneider: Textiles Prozessieren. Eine MediengeEbd., S. 37.

Daniel Becker

Anni Albers: On Designing, Middletown, CT 1961, S. 19. Zu Anni Albers siehe den Beitrag von Jordan Troeller in diesem

35

Rosalind Krauss: Raster (1979), in: dies. (Hg.): Die Originalität

38

Siehe hierzu Ellen Harlizius-Klück: Weaving as binary art and the

der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Amsterdam/Dres-

algebra of patterns, in: Textile. Cloth and Culture, Bd.  15, 2017, H.  2,

den 2000, S. 51–66, hier S. 51 f.

S. 176–197.

36

oder: Mythologien der Fläche bei Gottfried Semper, Alois Riegl und

39 40

Henri Matisse, in: Sabeth Buchmann und Rike Frank (Hg.): Textile Theo-

the Life of a Philosopher, London 1864, S. 117: „The Analytical Engine

rien der Moderne. Alois Riegl in der Kunstkritik, Berlin 2015, S. 107–143.

consists of two Parts: […] 2nd. The Mill into which the quantities about

37

to be operated upon are always brought.“

Siehe hierzu Regine Prange: Vom textilen Ursprung der Kunst

Vgl. Peter Lunenfeld: Snap to Grid. A User’s Guide to Digital

Anni Albers: On Weaving (1965), Princeton/Oxford 2017, S. 51. Zu dem Begriff „Mill“ siehe: Charles Babbage: Passages from

Arts, Media, and Cultures, Cambridge, Mass. 2000, S. xvi.

Interferenzen von Webkunst, Algorithmen und Raster in der Kunst der Moderne

307

G E ND ER UND KREAT IV I TÄT I N KOOPE R ATI ON / G E ND ER AND C REAT IVI TY I N COOPE RATI ON

1950 gab es verschiedene Formen von Transformations- oder Verwandlungskleidern. Bei der Untersuchung steht die Frage nach deren transformativen Qualitäten im Vordergrund, das heißt zunächst Begriffe zu klären, Material auszubreiten und dann Kategorien am Material zu entwickeln. Die Idee des Transformationskleides existiert und materialisiert sich schon sehr viel länger als der Begriff. Sie – und damit wäre gleichzeitig eine Defini-

Textile Transformationen: Die „Frau comme il faut“ in der robe à transforma­ tion und die „Tempofrau“ im Verwandlungskleid

tion gegeben – lässt sich beschreiben als eine Form der Variabilität durch Zusammenstellung verschiedener „Kleidteile“ oder durch technische Vorrichtungen. Als Kleidteile werden dabei weder die zusammenzunähenden Schnittteile noch eigenständige, zu kombinierende Kleidungsstücke, sondern die einzelnen Teile einer mehrteiligen Kleidform bezeichnet. Welche Kleidteile wie zusammengestellt werden, welche Gründe zu den

Kerstin Kraft

jeweiligen Entscheidungen führen und ob ein eigener Begriff hierfür geschaffen wird, ist von mehreren

Die Abschaffung der Kleiderordnungen und die

Faktoren abhängig und somit dem Wandel unterwor-

zunehmende Differenzierung der Gesellschaft macht die

fen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind

kulturelle Praxis des Sich-Kleidens seit dem 19. Jahr-

dies die robes à transformation und um 1930 das

hundert zu einem immer komplexeren Vorgang. Die

sogenannte Verwandlungskleid.2

Etikette gibt nun das Ideal vor, die Anstandsliteratur

Der Begriff des Transformations- oder Verwand-

hilft, es zu erreichen, die zeitgenössische Modetheorie

lungskleides (engl. transformation dress/ transformable

(vor allem Georg Simmel und Friedrich Theodor

dress, franz. robe à transformation) findet sich nicht in

Vischer) analysiert und kritisiert die Mode, die in

Bekleidungs- oder Modelexika, scheint eher historisch

Modejournalen und Kleidungsstücken visualisiert und

gebunden und nicht eindeutig definiert. Es ist sehr viel

materialisiert wird. Das Verhältnis von Mode und

mehr die materielle Existenz und die gelegentliche

Moderne wurde schon verschiedentlich beschrieben1,

Erwähnung in zeitgenössischen Modezeitschriften, die

im Folgenden soll nun eine spezifisch textile Lesung

eine Begriffsbildung in der Spezialliteratur notwendig

anhand des Begriffs der Transformation vorgenommen

machen. Catherine Join-Diéterle schreibt beispiels-

werden. Dieser Begriff fokussiert Motive der Verände-

weise, die robe à transformation sei um die Mitte des

rung und der Geschwindigkeit als Charakteristika der

19. Jahrhunderts sehr verbreitet gewesen, man finde

Moderne. Es wird jedoch nicht zentral um die transfor-

aber praktisch keine Hinweise auf diese Kleidform in

mative Kraft, den Wandel als einzige Konstante der

den zeitgenössischen Magazinen. Sie selbst beschreibt

Mode gehen, sondern um textile, also materielle

sie für die Zeit des Second Empire als Rock, den man

Transformationen. In der Zeit zwischen etwa 1850 und

mit verschiedenen Oberteilen zu verschiedenen

Die „Frau comme il faut“ in der robe à transforma­t ion und die „Tempofrau“ im Verwandlungskleid

311

Anlässen tragen konnte.3 Im Le Moniteur de la mode

nur vermutet werden, dass sie Teil mehrteiliger

von 1862 werden solche Kleidungsstücke, die eine

Kleidformen waren und die Röcke nicht erhalten sind

„transformation complète“ erlaubten, als „robes à

beziehungsweise nicht dem Museum überlassen

corsages de rechange“ bezeichnet.4 Diese „corsages“,

wurden.

im Deutschen als Taillen benannt, variieren in Ausstattung und Schnitt. Es lässt sich vermuten, dass in vielen Sammlun-

und dies auch nur zu Dokumentationszwecken vor

gen Kleidungsstücke, für die ich im Folgenden den

etwa 60 Jahren (Abb. 1a und b). Das Kleid ist sehr

Begriff „robe à transformation“ verwenden werde,

fragil und kann im heutigen Zustand nicht auf eine

aufbewahrt, aber nicht als solche bezeichnet oder

Figurine aufgezogen werden. Es zeigt die für die Zeit

erkannt werden. Die Geschichte des Couture-Hauses

der frühen 1850er Jahre charakteristische Form mit

Worth ist beispielsweise gut dokumentiert und zahlrei-

einem kuppelförmigen Rock, der aber mit einem mit

che Quellen sind erhalten. Unter den Objekten

Rosshaar (franz. crin) gefütterten Unterrock und nicht

befinden sich unter anderem dreiteilige Kleidungsstü-

mit einer Krinoline getragen wurde und dementspre-

cke aus den 1860er Jahren. Sie werden nicht als zu

chend mit einer Saumweite von 280 cm von relativ

einer bestimmten Objektgruppe zugehörige Kleidform

geringen Ausmaßen ist. Auch die Gestaltung des

identifiziert, sondern einzeln zum Beispiel als „versatile

Oberteils mit Schneppentaille, abfallender Schulterli-

day-into-evening dress“ beschrieben. Worth habe mit

nie und in das Rückenteil verlegten Schulter- und

dieser Möglichkeit, aus dem Tages- ein Abendkleid zu

Seitennähten, entspricht noch der Mode der 1840er

machen und damit die Trageanlässe zu maximieren,

Jahre im Übergang.6 Die Nähte sind alle von Hand

seine sehr hohen Preise gerechtfertigt.5

genäht, die Oberteile und die Rockvolants sind aus

Die umfangreiche Textilsammlung des Frankfur-

einer sehr leichten, bedruckten Seide gefertigt, der

ter Historischen Museums setzt einen ihrer Schwer-

Unterrock hingegen aus sehr grobem Leinen. Die

punkte in der bürgerlichen Bekleidung. Die erwähnte

Ausführung insgesamt verweist auf die Herstellung im

Benimmliteratur wandte sich vorwiegend an das

häuslichen Bereich beziehungsweise durch eine

Bürgertum mit seinen strengen Vorstellungen von

Hausschneiderin. Da die Datenbank keine weiteren

vestimentärer Angemessenheit und so lässt sich

Informationen, zum Beispiel über den (Vor-)Besitzer

vermuten, dass man auch in Frankfurt robes à transfor-

des Kleidungsstückes, liefert, bedarf es der Hinzuzie-

mation trug. Die Suche in der Datenbank nach mehr-

hung kontextualisierender Quellen und Darstellungen.

teiligen Kleidungsstücken war hier erfolgreich und

312

Nur eine der robes à transformation der Frankfurter Sammlung wurde mit beiden Taillen fotografiert

Ulrike Döcker beschreibt in ihrer Untersuchung,

einige konnten als robe à transformation identifiziert

wie sich Verhaltensideale im langen 19. Jahrhundert

werden. Dies ist nur über den materiellen Befund

wandeln und welche Rolle die Mode in den zeitgenös-

möglich und in einigen Fällen erst durch das Aufziehen

sischen Umgangslehren und Manierenbüchern spielt.7

auf eine Figurine, als rekonstruktive Kleidungspraxis.

Analog hierzu verändern sich die Inhalte und vor allem

Dabei kann zum Beispiel deutlich werden, dass die

ihre Gewichtung in der Anstands- und Benimmlitera-

vorhandenen Oberteile nicht alternativ, und damit als

tur. Ist diese in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

robe à transformation, sondern übereinander getragen

in Bezug auf Kleiderfragen noch darauf ausgerichtet,

werden. Bei der großen Anzahl erhaltener Taillen, kann

Mäßigung und Angemessenheit zu fordern, gewinnt

Kerstin Kraft

dann die Mode als solche an Bedeutung und nimmt in

bereits erwähnten Kleider für den Aufenthalt am Meer,

den Anstandsbüchern bis zum Ersten Weltkrieg den

in den Bergen, auf den Straßen der Städte und in

größten Raum ein. Nun reichte es nicht mehr aus,

neuen Verkehrsmitteln erforderten eine vestimentäre

Stand, Alter und Tageszeit zu berücksichtigen und die

Anpassung, die zunächst nur temporär erfolgte, das

Tugenden Reinlichkeit und Ordnung vestimentär zu

heißt der Kleiderrock wurde nicht endgültig und

demonstrieren.8

dauerhaft gekürzt, sondern eine Zugvorrichtung

Die deutsche Anstandsliteratur orientierte sich

verschaffte der Trägerin Fußfreiheit.14 Diese Vorrich-

in Modefragen vor allem am französischen Ideal und

tungen wurden als tirette oder porte-jupe bezeichnet

beriet [d]ie Frau comme il faut. Die Komplexität – und

und ihre Funktionsweise erklärt: Man könne „[…] beim

Modernität – des Themas klingt schon im Titel des

Besteigen des Wagens die Robe augenblicklich zu

1866 in Paris publizierten Le code de la mode an, und

beliebiger Höhe emporziehen […]“ und „[s]chürzt man

der Autor beschreibt zunächst, welche Veränderungen

sich beim Gehen auf der Straße, so bindet man die

die Mode als solche durchlaufen habe.10 Früher sei sie

Schnüre vorne zusammen oder steckt sie unter den

leicht zu greifen und zu beschreiben gewesen, heute

Gurt.“15 Die Berücksichtigung dieses modischen

dagegen sei die Mode überall zu finden, erneuere sich

Details im Kontext der Silhouettenentwicklung zeigt

permanent und es gebe eine „diversité extrême des

die Wechselwirkung zwischen formalen und funktio-

costumes“.11 Daraus leitet er ab, dass die Garderobe

nalen Aspekten im Zusammenhang mit gesellschaftli-

einer Frau eine eigene Wissenschaft bilde. Die

chen Normen und Veränderungen der Lebensum-

Beschreibung der „Toilettes à la ville et à la campagne“

stände.

9

nimmt entsprechend fünfzehn Seiten ein und emp-

Im Verlauf der 1850er Jahre nahm der Umfang

fiehlt der Dame von Welt sich sieben bis acht Mal am

des Krinolinenrocks immer mehr zu und erweiterte

Tag umzukleiden. Neben den Tageszeiten wird die

sich schließlich zur Schleppe, sodass es nicht mehr

Kleidung weiter differenziert nach der Art der Fortbe-

ausreichte, den Rock von Hand zu raffen und die

wegung („à pied“ oder „en voiture“), dem Aufenthalts-

erwähnten Rockhochzieher aufkamen. Der hochgezo-

ort („sur les plages“), der Beschäftigung („toilettes de

gene Oberrock ließ nun den Unterrock sichtbar

chasse et de patineuse“) und der Jahreszeit.12 Ange-

werden (Abb. 2a und b). Dies hatte zur Folge, dass der

sichts der Tatsache, dass nicht nur das Bekleidungsver-

Unterrock gestaltet wurde und damit eine neue,

halten, sondern auch die Kleidung selbst sehr komplex

dauerhafte Silhouette entstand. Diese Kleider mit

war und aus sehr vielen Schichtungen und Accessoires

kürzerem Rock wurden als petit costume bezeichnet

bestand, erscheint die Idee der robe à transformation

und nicht bei offiziellen Anlässen, sondern vorwiegend

als fast zwingend: sie ermöglicht es, richtig gekleidet

in der Sommerfrische getragen.16

zu sein, ohne jeweils die gesamte Toilette13 zeitintensiv wechseln zu müssen, und verringert die Kosten. Die Anpassung der Kleidung für die beschriebe-

Von einer Kleidung, die aktive Bewegung zulässt, kann aber noch nicht gesprochen werden. Die sich verändernde Silhouette betont die Vertikale sowie die

nen Anlässe lässt sich jedoch nicht immer durch einen

Gesäßpartie und dynamisiert optisch unter anderem

Wechsel des Oberteils erzielen. Und so führten sich

durch Pseudobewegungen auf der Oberfläche der

verändernde Lebensformen auch zu anderen Lösun-

Kleidungsstücke, erzeugt durch changierende Stoffe

gen, die die Kleidungsstücke transformierten. Die

(zum Beispiel Moirés), Drapierungen, Fältelungen,

Die „Frau comme il faut“ in der robe à transforma­t ion und die „Tempofrau“ im Verwandlungskleid

313

Abb. 1a, 1b: Robe à transformation mit Tages- und Balltaille, 1853–55

314

Rüschen und andere flexible Stoffverzierungen.

Schleppenhalter wird als kleiner Metallring beschrie-

Um diese Silhouette zu realisieren, müssen die

ben, in den man die Schleppe einklemmen und sich

Stoffmassen gestützt werden: mit Tournüren, Polstern,

dann die Befestigungsschnur um die Taille legen

Poufs und Gestellen. Aber es gibt auch weiterhin

kann.17 Als eine weitere Modeneuheit wird „Oswalds

Hilfsmittel, die nur temporär eingesetzt werden. In

Taillenverbindung Perfect“ angepriesen, die einen

zeitgenössischen Zeitschriften und Katalogen finden

lange empfundenen Mangel beheben könne: mit einer

sich Hinweise auf Schleppenhalter, Schleppenträger,

Vorrichtung, die aus einer Metallplatte und Me-

Rockaufschürzer, Rockhalter und Ähnliches. Der

tallknöpfen besteht, könne man Taille und Rock so

Kerstin Kraft

miteinander verbinden, dass ein Hochschieben des

immer häufiger auch Kleidungsstücke, die nicht

Rockes verhindert würde. Der materielle Befund der

aus dem gleichen Stoff bestehen (also keine robe à

robe à transformation hatte ergeben, dass die Röcke

transformation sind), zusammengetragen wurden.

und Taillen nicht immer Haken und Ösen zur Verbin-

Rockhalter und ähnliche ‚kleine Hilfsmittel‘ finden

dung aufweisen, und es stellte sich die Frage, wie ein

sich kaum in Sammlungen beziehungsweise kann ihre

Verrutschen zu verhindern war. Die eben zitierte

Funktion nicht immer identifiziert werden, sodass die

‚Modenotiz‘ aus Der Bazar gibt hierauf eine konkrete

Hinzuziehung von Bild- und Textquellen unerlässlich

Antwort und verweist darüber hinaus darauf, dass

ist.

18

Die „Frau comme il faut“ in der robe à transforma­t ion und die „Tempofrau“ im Verwandlungskleid

315

Abb. 2a, 2b: Sommerensemble bestehend aus Bolero, Rock und Schärpe, um 1865. Die Zugbänder an der Rockinnenseite erlauben das Hochziehen des Oberrockes

Dieses unscheinbare Detail kann als Ausdruck

hierdurch jedoch nicht ab – im Gegenteil, es gibt nun

xis gelesen und in den Kontext historischer Entwick-

noch mehr Anlässe und Aktivitäten, die eine adäquate

lungen gestellt werden. So stellen die ersten Dekaden

Kleidung erfordern.

des 20. Jahrhunderts für Frauen eine Zeit radikaler

In der Zeitschrift Die Bühne von 1937 heißt es

Veränderungen dar und erweitern ihre Lebensbereiche

dazu: „Vielbeschäftigt sind moderne Frauen. Nicht nur

erheblich. Sport, Erwerbsarbeit, Politik, Universität und

die Businesswomen – auch jene, die nach dem

das urbane Leben sowie nicht zuletzt die Kriegszeit

Shopping einen Besuch zu machen haben, vom

nehmen Einfluss auf das Leben der Frauen und

Nachmittagstee zum Tennis gehen, die den Nachmit-

gleichermaßen auf Kleidung und Mode. Die Anforde-

tag um 3 beginnen und bis in den Abend ausdehnen.

19

316

rungen an die Angemessenheit der Kleidung nehmen

grundlegender Veränderungen in der Bekleidungspra-

Kerstin Kraft

Berufsverpflichtungen ebenso wie gesellschaftliche

schriebenen Repertoire der Verwandlung. Die Abbil-

und sportliche halten die Frau in Atem und machen es

dungen (Abb. 3a und b) zeigen das gleiche Kleid aus

ihr unmöglich, immer wieder nach Hause zu eilen und

schwarzem, leicht glänzendem Taft in zeittypischer

immer wieder die Toilette, der Tageszeit, der Gelegen-

Form, vervollständigt durch schwarze Handschuhe,

heit entsprechend zu wechseln. Und so kommt es, daß

passende Pumps, Hut, Handtasche und Gürtel. Das

das ‚Verwandlungskleid‘, ursprünglich nur-praktisch

Kleid ist vorne durchgeknöpft und mit einem kleinen

gedacht, dazu geschaffen, den Frauen mit magerer

angeschnittenen Kragen versehen, die Silhouette wird

Börse Abwechslung zu ermöglichen, auch in den

durch eine Schulter- und Taillenbetonung sowie einen

elegantesten Kollektionen Einzug gehalten, ja, in ihnen

leicht ausgestellten, kniebedeckenden Rock erzielt.

eine besondere und bevorzugte Rolle einnimmt.“ Hier

Soweit auf den Fotografien zu erkennen, lassen sich

werden zwei Motive für die ‚Erfindung‘ des Verwand-

farblich abgesetzte Schulterpassen sowie lose Stoff-

lungskleides genannt und in eine zeitliche Abfolge

bahnen mit großen Taschen aufknöpfen, die durch den

gebracht, die sich zumindest historisch nicht belegen

Gürtel mitgefasst zu einer Art Weste werden.

20

lässt. Für die robe à transformation wurde festgestellt,

Die häufigste Art der ‚Verwandlung‘ sind ver-

dass es schon im 19. Jahrhundert darum ging, das

schiedene Kragen- und Jabotformen, wie weitere

zeitraubende, täglich mehrfache Umziehen zu verein-

Fotografien und ein Blick in die Sammlungen zeigen.23

fachen. Was sich verändert hat, ist die Art des Trans-

Die zugehörigen Kleider und Oberteile wurden

formierens und die Bezeichnung als Verwandlungs-

wahrscheinlich aufgetragen oder entsorgt, die teil-

kleid, die sich vorwiegend in den Zeitschriften der

weise sehr aufwendig gearbeiteten Kragen hingegen

ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem um

aufgehoben. Die Grundidee dieses Bekleidungsprin-

1930, findet. Diese sogenannten Verwandlungskleider

zips ist das einer Rationalisierung und erscheint als

erfahren ihre Verwandlung vor allem dadurch, dass sie

Phänomen, das ab den 1920er Jahren auftritt und

mit unterschiedlichen Accessoires oder losen Kleidtei-

auch in Bezug auf Kleidung thematisiert wird. Als

len wie anknöpfbaren Kragen, Schößchen, Ärmeln und

Stichpunkte seien die sich weiter entwickelnde

Taschen sowie unterschiedlichen Jackenformen und

Konfektion mit Größensystemen, die Typisierung und

Umhängen kombiniert werden.21 Die Variationsbreite

Normierung von Körper und Kleid, die Fordisierung,

wird dadurch eingeschränkt, dass jeweils nur mit

die ihre vestimentäre Entsprechung angeblich im

einem einteilig geschnittenen Kleid kombiniert wird.

‚kleinen Schwarzen‘ findet, und politisch grundierte

Da diese Kleider eher schlicht in ihrer Grundform und -ausstattung sind und in eine Zeit datieren, die durch großen Mangel gekennzeichnet ist, lassen sich

Bestrebungen, Einheitskleidungen einzuführen, genannt. Konkret beschäftigten sich aus zeitgenössischer

Sammlungsobjekte kaum eindeutig als Verwandlungs-

Sicht die Modeschriftstellerinnen und -journalistinnen

kleider bestimmen.

Helen Hessel (geborene Grund) und auch Ré Richter,

Das Frankfurter Historische Museum hat einen umfangreichen Bestand an Modefotografien, die im

alias Renate Green, mit diesen Gedanken.24 Helen Hessel schreibt 1931, „die aktive Frau

Modeamt Frankfurt entstanden. Darunter finden sich

unserer Tage [braucht] Kleider, die das Hin und Her

auch Aufnahmen von zeitgenössisch als Verwand-

ihrer beschäftigten Tage ausdrücken“25. Die Differenz

lungskleidern entworfenen Modellen mit dem be-

zu vergangenen Moden sieht Hessel darin, dass diese

22

Die „Frau comme il faut“ in der robe à transforma­t ion und die „Tempofrau“ im Verwandlungskleid

317

Abb. 3a, 3b: Verwandlungskleid aus schwarzem Taft mit Schulterpasse oder Weste, 1940, Silbergelatine, Hochglanz, Barytpapier, Foto: Emy Limpert, Modeamt der Stadt Frankfurt

Kleider sich damit begnügten, die Rolle eines „Fonds“

Haute Couture ging als vielmehr um eine Art program-

einzunehmen, also nur Grundierung für wechselnde

matisches Kleiderkonzept, das es allen Frauen ermögli-

Ausstattungen und Garnierungen zu sein: ein „Wech-

chen sollte, immer gut gekleidet zu sein.27 Grundlagen

sel des Zubehörs genügte, um die Erscheinung zu

dieses Konzepts sind die Einteilung des Frauenkörpers

verändern und der neuen Situation anzupassen.“ Sie

in vier Grundtypen, die Verwendung sehr guten

führte zwei Gespräche (1932 und 1933) mit der an

Materials und ausgefeilter Schnitte. Ihr war klar, dass

adäquater Kleidung für moderne Frauen interessierten

dies dem Grundprinzip der Haute Couture, die immer

Modeschöpferin Renate Green. Dabei wird deutlich,

neue Linien erfinden müsse, um immer neue Kleider

dass es dieser viel weniger um innovative Mode oder

verkaufen zu können, widersprach, und ihr Scheitern –

26

318

Kerstin Kraft

sie schließt ihr Geschäft in Paris 1934 – erklärt Green

besteht (um die Jahrhundertwende werden die Taillen,

soziologisch: Jede Gesellschaftsschicht imitiere die

die jeweils mit Futterstoff und Verstärkungen als

nächst höhere und habe kein Interesse an nivellieren-

Oberteil gearbeitet wurden, zunehmend durch Blusen

der Kleidung.28 Retrospektiv lässt sich dieses Scheitern

aus leichteren Stoffen ersetzt). Wie vorherrschend

auf verschiedene Faktoren zurückführen, die dem

aber die Idee des Kleides als einteiliges Kleidungsstück

Modebetrieb immanent erscheinen. Einer der wenigen

war, zeigt auch die Entwicklung der Jumpermode in

erhaltenen Entwürfe für ein Transformationskleid (eine

den 1920er Jahren: aus dem Jumper, dem Kleidungs-

Ausführung dieses Entwurfs scheint nicht überliefert)

stück, das ab etwa 1930 dann als Pullover bezeichnet

zeigt deutlich, dass dieser weder künstlerisch noch

wird, der zusammen mit einem Strickrock getragen

schnitttechnisch überzeugt und formal der herrschen-

werden konnte, wird das Jumperkleid, das wiederum

den Mode entspricht (Abb. 4). Das heißt, es fehlt das

keine Kombinationsmöglichkeit bietet. Für die „Tem-

Avantgardistische und Innovative, zum Beispiel einer

pofrau“ ist das zweiteilige Kleid insofern „unentbehr-

Elsa Schiaparelli, oder das Selbstvermarktende einer

lich“, als dass es sich schnell an- und ausziehen lässt.29

Coco Chanel.

In den 1930er und 1940er Jahren, die unter anderem

In Bezug auf den transformativen Aspekt – Green

durch Mangel gekennzeichnet waren, wurde das

selbst nennt den Entwurf „Transformationskleid“ –

Verwandlungskleid zur ideologischen und praktischen

wird dieser zunächst nicht weiterentwickelt, sondern

Lösung von Kleiderfragen.30 Viele Mode- und Frauen-

auf das gleich gebliebene Bedürfnis nach Kostenre-

zeitschriften, darunter auch die NS-Frauen-Warte, das

duktion und Zeitersparnis mit Verwandlung geantwor-

parteiamtliche Organ der NS-Frauenschaft, zeigen

tet. Diese Verwandlung wird jedoch der jeweils

Beispiele für „verwandelbare“ Kleider, die es auch

bestehenden Mode angepasst, die im 19. Jahrhundert

ermöglichen, in „schwerer Zeit“ Feste zu feiern und

vorwiegend Kleider aus Rock und Oberteil (Taille) und

Lebensfreude auszudrücken.31

seit der Jahrhundertwende dann durchgehend ge-

Resümierend lässt sich festhalten, dass der

schnittene Kleider zeigte, sodass nur durch zusätzliche

Transformationsbegriff geeignet erscheint, eine textile

Kleidteile variiert werden konnte. Greens erwähntes

Lesung der Moderne durchzuführen und zu grundsätz-

Transformationskleid kann beispielsweise durch einen

lichen Aussagen zur Mode zu kommen. Darüber hinaus

zweiten Rock verwandelt werden. Dieser wird über

wurde deutlich, dass die Erforschung von Mode der

dem Kleid getragen und mit einem Reißverschluss

Untersuchung von real getragener Kleidung als ihrer

geschlossen – die Schichtung von Röcken mit ihren

Materialisation und von Kleidungspraxen bedarf. Eine

Nachteilen erscheint hier rückschrittlich, die Verwen-

objektbasierte, quellenpluralistische Bekleidungsfor-

dung des zu dieser Zeit noch kaum eingesetzten

schung mit materiellen Befunden, Formen der rekonst-

Reißverschlusses als fortschrittlich. Wirklich spektaku-

ruktiven Kleidungspraxis und kontextualisierender

lär wäre hingegen gewesen, den Reißverschluss als

Hinzuziehung weiterer Quellen führt diese Bereiche

Mittel, den Rock temporär mit dem Oberteil zu

interpretierend zusammen.

verbinden, zu nutzen.

Gerade am Beispiel der Frankfurter Sammlung

Parallel zu den modischen Veränderungen

lässt sich zeigen, dass der materielle Befund und die

entwickelt sich eine Form der Gebrauchskleidung, vor

Objektrecherche in der Mode- und Textilforschung

allem der berufstätigen Frauen, die aus Rock und Bluse

nicht zu vernachlässigen sind. Auch andere Sammlun-

Die „Frau comme il faut“ in der robe à transforma­t ion und die „Tempofrau“ im Verwandlungskleid

319

Abb. 4: Renate Green, Das Transformationskleid, 1930

320

Kerstin Kraft

gen besitzen häufig eine Vielzahl von noch nicht

kratisch bezeichnet werden, entspricht dem Prinzip

analysierten, nicht identifizierten Objekten oder auch

der rationellen Fertigung als Baukasten und lebt bis

solchen, die auf andere Fragen hin bearbeitet und

heute in Ratgebern fort, die sogenannte Basics

verschlagwortet wurden.

propagieren.

In Bezug auf die robes à transformation konnte

Voraussetzung hierfür – bezogen auf den

neben der beschriebenen Problematik der Bezeich-

gesamten Zeitraum – sind die Existenz gesellschaftli-

nungen, die eine Stich- und Schlagwortsuche erschwe-

cher Normierungen in Bezug auf das Bekleidungsver-

ren, festgestellt werden, dass die zweigeteilte Form

halten, verbunden mit dem Wunsch, diesen Normen

Voraussetzung für diese Art der Veränderbarkeit war

zu entsprechen, aber nicht die finanziellen Mittel

und dass als Gründe der gesellschaftlich geforderte

hierfür aufbringen zu können oder Zeit sparen zu

mehrfache Kleiderwechsel und Sparsamkeit genannt

wollen.34 Es lassen sich Tendenzen ablesen, die

wurden. Da es sich vorwiegend um den Wechsel von

Geschlechtermodelle (re)produzieren und die vesti-

Tages- zu Abendgarderobe handelte, waren die Weite

mentäre Anpassung an gesellschaftliche und ästhe-

des Dekolletés und die Ärmellänge die Hauptvariablen

tisch-modische Normen vorwiegend den Frauen

in der Ausgestaltung der wechselnden Taillen.32 Beim

überlassen und die Lösung in der Kombination, der

Verwandlungskleid hingegen war das Hinzufügen die

geschickten Ensemblebildung und dem Sampling

Grundidee. Durch die Isolierung von einzelnen

suchen. Dem gegenüber steht eine Form der funktio-

Elementen – kleidungshistorisch keine Neuerung –

nalen Anpassung der Bekleidung durch technische

entsteht die Möglichkeit der Variation.

Lösungen, meist von Männern erfunden.35 Für die

Moderne Kleidungspraxis, bis heute gelebt,

Herausforderungen der Frau des 21. Jahrhunderts

erscheint als Synthese dieser beiden Transforma-

bedeutet das: „Falls Sie direkt nach Büroschluss noch

tionsformen, wird seit den 1930er Jahren praktiziert

ein Date haben und keine Zeit zum Umziehen bleibt,

und wurde damals schon als modern empfunden.

müssen Sie dies berücksichtigen, indem Sie etwa einen

33

Hierbei steht die Idee des Kombinierens im Vorder-

Hosenanzug anziehen, im Office mit Sneakers und

grund und es entwickelt sich eine Kleidungspraxis

abends mit den schicken Mules, die Sie in der Handta-

hin zur Ensemblebildung und zum eigenständigen

sche mitnehmen.“36 Die männliche Lösung dieses

Zusammenstellen einer aufeinander abgestimmten

weiblichen Problems findet sich im Manager-Maga-

Garderobe. Diese Idee, die nicht konzeptuell ent-

zin37, wenn dort steht, drei Männer hätten die Lösung

standen ist und die nun vor allem von den Frauen

für das Damenschuh-Dilemma erfunden: den Flexheel,

selbst und nicht mehr den vorwiegend männlichen

einen auswechselbaren Absatz, der durch ein Klicksy-

Couturiers bestimmt wird, kann durchaus als demo-

stem Pumps zu Ballerinas macht.38

Die „Frau comme il faut“ in der robe à transforma­t ion und die „Tempofrau“ im Verwandlungskleid

321

Anmerkungen 1

Vgl. zum Beispiel: Julia Bertschik: Mode und Moderne. Kleidung

als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur (1770– 1945), Köln u. a. 2005.

2

Im italienischen Futurismo erscheint die Idee der Transforma-

Natalie Bruck-Auffenberg: Die Frau comme il faut. Die vollkom-

10 11 12 13

Henri Despaigne: Le code de la mode, Paris 1866. Ebd., S. 13 f. Ebd., S. 58. Dieser französische Begriff für die Zusammenstellung aller Be-

tion auf schnitttechnischer Ebene nicht ausgearbeitet und hat keine

kleidungsteile kennt keine deutsche Entsprechung, heute wird der

materielle Umsetzung erfahren. Es werden Variabilität und Modifizier-

englische Begriff des Outfits verwendet.

barkeit als Begriffe genannt und mit den modificanti (farbige kleine

14

Stoffstücke, die an der Kleidung angebracht werden können, um die

Ausst.-Kat. Paris 2008 (wie Anm. 4), S. 18–28, hier S. 24.

Catherine Join-Diéterle: Revisiter le style Second Empire, in:

Stimmung des Trägers anzuzeigen) auch beschrieben. Wie aber die

15

‚Überraschungskleider‘ und die ‚veränderbaren Kleider‘ aussehen, die

Nr. 38, S. 300. Zit. n.: Die zweite Haut. Zur Geschichte der Unterwä-

Volt (Vincenzo Fani) im Manifest der futuristischen Damenmode er-

sche 1700–1960, hg. v. Almut Junker und Eva Stille, Ausst.-Kat. Histo-

wähnt, erfährt man nicht. Vgl. Gegen den Strich. Kleider von Künstlern

risches Museum Frankfurt, Frankfurt a. M. 1988, S. 120.

Der Bazar. Illustrirte Damen-Zeitung, 4. Jg., 8. Oktober 1858,

1900–1940, hg. v. Radu Stern, Ausst.-Kat. Museum Bellerive, Zürich,

16

und Musée des Arts Décoratifs, Lausanne, Bern 1992, S. 120 f. Judith

Ausst.-Kat. Paris 2008 (wie Anm. 4), S. 104–109, hier S. 104.

Françoise Tétart-Vittu: Petits costumes et robes courtes, in:

Clark: Kinetic Beauty. The Theatre of the 1920s, in: Addressing the

17

Century. 100 Years of Art & Fashion, Ausst.-Kat. Hayward Gallery, Lon-

1879, Nr. 33, Berlin, hier S. 259–261.

Der Bazar. Illustrirte Damen-Zeitung, 25. Jg., 1.  September

don, und Kunstmuseum Wolfsburg, London 1998, S. 79–87.

18

3

1902, Nr. 1, Paris/Berlin/Wien, hier S. 630.

Robes du soir, hg. v. Catherine Join-Diéterle, Ausst.-Kat. Palais

Der Bazar. Erste Damen- und Moden-Zeitung, 48. Jg., 5. Januar

Galliera, Musée de la Mode et du Costume, Paris, Paris 1990, S.  26.

19

Auch Marie-Pierre Ribère verwendet den Begriff „transformation dress“

Sportlich, sachlich, männlich. Das Bild der ‚Neuen Frau‘ in den

ohne ihn näher zu erläutern für Kleider, die aus einem Rock und zwei

Zwanziger Jahren, Dortmund 2000; Burcu Dogramaci: Mode-Körper.

unterschiedlichen Taillen bestehen. Fashion forward. 300 Years of Fash-

Zur Inszenierung von Weiblichkeit in Modegrafik und -fotografie der

ion. Collections of the Musée des Arts Décoratifs, Paris, hg. v. Marc As-

Weimarer Republik, in: Michael Cowan und Kai Marcel Sicks (Hg.):

coli, Ausst.-Kat. Musée des Arts Décoratifs, Paris, Paris u. a. 2017, S. 88.

Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis

4

1933, Bielefeld 2005, S. 119–135.

Catherine Join-Diéterle: Robes à transformation, in: Sous l’em-

Vgl. hierzu: Bertschik 2005 (wie Anm. 1); Gesa Kessemeier:

Musée Galliera, Paris, Paris 2008, S. 101–103, hier S. 101.

20 21

5

In der Sammlung des Museum of the City of New York befindet

kleid beschrieben und in eine Textilkunde aufgenommen. Anton Jau-

sich ein Dress with Day and Evening Bodices, 1864–67 mit einer ent­

mann (Hg.): Textilkunde. Ein Hand- und Nachschlagebuch für die Praxis

sprechenden Beschreibung. Das Kleid ist Teil der Online-Ausstellung

des Textilkaufmannes und für alle Zweige des Textilfaches, Nordhausen

Worth & Mainbocher und zu finden unter www.collections.mcny.org

1938, S. 692.

pire des crinolines, hg. v. dies. und Françoise Tétart-Vittu, Ausst.-Kat.

Die Bühne, 1. Maiheft 1937, H. 447, Wien, S. 52. Zeitgenössisch wurde der Begriff erklärt, das Verwandlungs-

[Abruf: 10.9.2018]. In einer Monografie über das Modehaus Worth

22

wird dieses Kleid auch gezeigt (S. 84) und weitere dreiteilige Kleidungs-

konnte.

Sie sind dort Teil der Graphischen Sammlung, die ich einsehen

stücke, darunter ein Hochzeitskleid (S. 76–77), zu dem erläutert wird,

23

dass die verschiedenen Taillen für Kirche und Abendfeier benötigt wur-

solcher Kragen und Jabots in unterschiedlichster Ausführung.

Das LVR-Industriemuseum verwahrt beispielsweise sehr viele

den. Chantal Trubert-Tollu u. a.: The House of Worth 1858–1954. The

24

Birth of Haute Couture, London 2017.

rin (1886–1982). Ré Richter wurde als Meta Erna Niemeyer (1901–

6

Helen Hessel, geb. Grund, war eine deutsche Modeschriftstelle-

Ein vergleichbares Objekt europäischer Herkunft befindet sich

1996) in Deutschland geboren und war Bauhausschülerin, Modezeich-

im Metropolitan Museum of Art in New York und wird auf 1853–56

nerin, Fotografin, Übersetzerin und Essayistin. Als Modejournalistin

datiert. Inv.-Nr. C.I.38.23.60a, b. Oder auch bei Join-Diéterle findet sich

schrieb sie unter dem Pseudonym Renate Green. 1937 nimmt sie den

eine sehr ähnliche robe à transformation, datiert auf 1852. Join-Diéterle

Nachnamen ihres zweiten Ehemanns Philippe Soupault an.

2008 (wie Anm. 4), S. 103.

25

7

und die Liebe, hg. v. Mila Ganeva, Wädenswil 2014, S. 180.

Ulrike Döcker: Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensi-

Helen Hessel: Ich schreibe aus Paris. Über die Mode, das Leben

York 1994, S. 137 ff.

26 27

8

Für die Frau: Verwandlungen, Mai 1931, Nr. 5, und Deutsche Mode in

deale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New Döcker 1994 (wie Anm. 7), S. 149. Vergleichbare Entwicklungen

beschreibt Join-Diéterle für Frankreich: Ausst.-Kat. Paris 1990 (wie Anm. 3), S. 44.

322

9

mene Frau, 4. Aufl., Berlin 1911.

Kerstin Kraft

Ebd., S. 180. Beide Gespräche erschienen in: Frankfurter Zeitung, Beilage:

Paris. Ein Gespräch mit Renate Green, 24.1.1932.

28

Hessel 2014 (wie Anm. 24), S. 214.

29 30

Die Dame, Bd. 58, 1930, Nr. 5, S. 28.

Ratingen, Ausst.-Kat. LVR-Industriemuseum Textilfabrik Cromford, Ra-

Frankfurt Macht Mode 1933–1945, hg. v. Almut Junker, Ausst.-

tingen 2012, S. 20–30, hier S. 29.

Kat. Historisches Museum, Frankfurt a. M., Frankfurt a. M. 1999, S. 36.

34

31

heitskleidung, wie sie programmatisch immer mal wieder gefordert

Magda Watzal schlägt vor, „ein schlichtes, dunkles Kleid mit ei-

Ein Gegenentwurf wäre beispielsweise eine nivellierende Ein-

nem lichten, gehäkelten, genetzten oder geklöppelten Kragen“ zu

oder auch entworfen, aber nicht umgesetzt wurde.

schmücken. In: Oskar Lukas (Hg.): Das deutsche Frauenbuch. Ein Buch

35

für Werktag und Feiertag, Karlsbad-Drahowitz u. a. 1937/38, S. 213.

gen für Krinolinen, Patentverschlüsse, Körpervermessungsgeräte usw.

Die Praktische Damen- und Kinder-Mode zeigt 1933 „neue verwandel-

im 19. Jahrhundert.

bare Wirtschafts-, Wander- und Sportkleider“ und „praktische Ver-

36

wandlungskleider“, Nr. 3, S. 7–12. Weitere Beispiele in: Hella (Beyers

schrank. Der Styleguide für Frauen, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 19 f.

Frauen-Illustrierte), November 1936, Nr. 33, S. 9; NS-Frauen-Warte,

37

Bd.  4, 1935/36, H.  17, S.  554; Mode und Wäsche. Illustrierte Zeit-

Manager Magazin, 19.6.2014, http://www.manager-magazin.de/life-

schrift für die praktischen Interessen der Frauenwelt, 1934/35, Nr. 1,

style/mode/damenschuhe-mit-wechselabsatz-flexheel-a-976118.html

S. 7; Moderne Welt, Bd. 17, 1936, Nr. 8, S. 25.

[Abruf: 12.9.2018].

32

38

Die Sammlung Kamer/Ruf (Schweiz) weist die mehrteiligen Klei-

Dies bezeugen beispielsweise die zahllosen Patentanmeldun-

Claudia Piras und Bernhard Roetzel: Mein wunderbarer KleiderMaren Hoffmann: Das ist die Höhe! Oder doch lieber das hier?

Für die zahlreichen Hinweise und Gespräche, die zur Entste-

dungsstücke als robe à transformation aus und differenziert darüber hinaus

hung dieses Aufsatzes beigetragen haben, danke ich Birgit Haase, Re-

die Taillen nach verschiedenen Anlässen am Tag (Besuchs-, Promenaden-,

gina Lösel und Maren Christine Härtel sowie dem Historischen Mu-

Dinner-, Empfangstoilette).

seum Frankfurt für den Zugang zu den Sammlungen.

33

Kerstin Kraft: Dirndl, Diva oder Deutsches Mädel in Uniform?, in:

Glanz und Grauen. Mode im „Dritten Reich“, hg. v. LVR-Industriemuseum

Die „Frau comme il faut“ in der robe à transforma­t ion und die „Tempofrau“ im Verwandlungskleid

323

Technik der Applikationsstickerei zu erlernen und eigenständig umzusetzen. Seine Schwester wiederum hatte mit einer Freundin die verschiedenfarbigen Wolltuche zusammengetragen, die van de Velde schließlich im Zusammenspiel mit mehrfädigen Seidengarnen nach den Theorien der komplementären Farbwirkung auf grobes Leinen applizierte und in rotes Wolltuch einfasste (Abb. 1). Indem er den Stickfäden sowohl funktionale als auch gestalterische Zwecke zuwies, nahm er eines seiner wichtigsten späteren

„Die Kleider müssen vor allem gut gemacht sein [...]“ 1 . Henry und Maria van de Veldes künstlerische Allianzen für das Reformkleid

Gestaltungsprinzipien vorweg. Aufgrund der persönlichen und künstlerischen Bedeutung des in mehreren Monaten geschaffenen Kunstwerks betrachtete van de Velde die Engelwache als sein Aufnahmewerk in den Stand des Kunsthandwerkers und als sein Gesellenstück. Bezugnehmend auf das Buch der Zünfte (Livre des Métiers) von Etienne Boileau aus dem Jahr 1268 stellte er den Wandbehang unmittelbar nach Fertigstellung mit folgender erklärender Notiz 1893 in

Antje Neumann und Laura Petzold

Brüssel aus: „Wenn aber der Geselle nicht Sohn eines Frauen spielten im textilkünstlerischen Schaffen

2

Meisters war, verlangte man vor seiner Berufung zum

des belgischen Künstlers Henry van de Velde von

‚Meistersticker‘ von ihm eine Darstellung einer Gruppe

Anbeginn eine zentrale Rolle. Nach dem Tod seiner

von mehreren Personen.“4 Van de Veldes Schritt vom

krebskranken Mutter reifte in van de Velde ab 1890 in

Maler zum Kunsthandwerker war mit Ausführung

Folge einer Sinnkrise der Entschluss, sich von der

dieses Gesellenstücks vollzogen. „Deutlicher konnte

Malerei zu lösen und dem Kunsthandwerk zuzuwen-

ich nicht erklären, daß ich mich als Kunsthandwerker

den. Das Bild von vier knienden Mädchen, die in einem

betrachtete und daß ich von nun an als solcher

Obstgarten über den Schlaf des Gotteskindes wach-

betrachtet zu werden wünschte“5, schrieb van de

ten, ließ ihn nicht mehr los. Er ersann daraufhin eine

Velde rückblickend in seinen Memoiren. Die Engelwa-

Komposition, fertigte eine Kartonskizze an, legte die

che begleitete den Künstler fortan auf all seinen

Disposition der Materialien fest und führte mit seiner

Lebensstationen und befindet sich heute im Museum

Tante Maria Elisabeth de Paepe in der Abgeschieden-

für Gestaltung in Zürich. Ebenfalls dort sind die

heit des belgischen Küstenortes Knocke-sur-Mer

Besatzstücke und Applikationen verwahrt, die seiner-

einen großformatigen Wandbehang mit dem prägen-

zeit die Kleider von Maria van de Velde schmückten.

den Titel Engelwache aus. Als Tochter des renommier-

Zusammen mit einer Vielzahl von Stoffproben be-

ten Antwerpener Goldstickers und Paramentenherstel-

wahrte van de Velde auch diese Kleiderbesätze zeit

lers Josephus Arnoldus Albertus Van Halle war van de

seines Lebens auf und überließ sie dem Schweizer

Veldes Tante eine versierte Stickerin. Sie half ihm, die

Museum (Abb. 6).

3

Henry und Maria van de Veldes künstlerische Allianzen für das Reformkleid

325

Abb. 1: Henry van de Velde, Wandbehang Engelwache (Detail), 1892/93, Wolltuch, Leinwandbindung, Wolle, geraut und verschiedene Farben (Stückfärbung), Anlege- und Überfangfäden: Seide, verschiedene Farben, 141 x 234 cm, Breite der Einfassung ca. 4,3 cm, Museum für Gestaltung Zürich, Kunstgewerbesammlung, KGMZ 1959-71

326

Antje Neumann und Laura Petzold

Als Tochter des Filzfabrikanten Gérard Sèthe

(Abb. 4, 5), sie zeigen Maria van de Velde als Ehefrau,

setzte sich van de Veldes Frau Maria frühzeitig mit der

Künstlerin, Mutter und Hausfrau. So notierte Harry

englischen Arts and Crafts-Bewegung auseinander. Sie

Graf Kessler 1898 während eines Besuchs in Brüssel

lernte 1893 William Morris kennen und trug während

bezugnehmend auf ein weit fallendes Kleid6 mit

ihrer Aufenthalte in London eine private Vorbilder-

Ballonärmeln und dekorativ besticktem Kragenbesatz

sammlung textiler und kunsthandwerklicher Arbeiten

in sein Tagebuch: „Die Frau ist eine schöne Blondine,

zusammen, indem sie zahlreiche Firmen aufsuchte, die

die eine Art von präraphaelitischem Kostüm, meistens

noch nach althergebrachten Fertigungstechniken

blau, mit viereckigem Ausschnitt trägt, das ihr sehr gut

arbeiteten und die Massenfabrikation ablehnten.

steht.“7 Maria van de Velde trug dieses Kleid zu Hause

Darüber hinaus war sie für kurze Zeit im Atelier des

sowohl als Umstands-, und auch als normales Haus-

belgischen Künstlers Frank Brangwyn tätig. Durch den

und Gartenkleid. So ist sie darin am Herd beim

Umstand, im Abstand weniger Jahre sieben Kinder zur

Zubereiten einer Speise oder beim Durchpausen einer

Welt zu bringen, war Maria van de Velde über längere

Applikationsvorlage zu sehen (Abb. 3). Entgegen dem

Zeit auf eine bequeme und korsettfreie Kleidung

vorherrschenden Pariser Modeideal, das eine schmale

angewiesen. Da sie verschiedene textile Techniken

Silhouette und s-förmige sans ventre-Linie auch im

beherrschte und äußerst kreativ war, entstand ab

häuslichen Umfeld vorsah, trug sie das Kleid ohne

1894 eine fruchtbare künstlerische Kooperation

Korsett und präsentierte sich bewusst als moderne

zwischen den Ehepartnern (Abb. 2). Diese Zusammen-

Frau, die selbst kocht, den Haushalt führt, die Kinder

arbeit war in vielerlei Hinsicht vorbildhaft und brachte

wickelt und gleichzeitig künstlerisch tätig ist. Mit

eine Bandbreite textiler Arbeiten hervor, die hinsicht-

dieser Haltung und Einstellung war sie ein Leitbild für

lich Technik, Materialien, Raffinesse und Qualität von

Frauenrechtlerinnen und Mediziner, die zur Bildung

einem hohen künstlerischen Anspruch zeugen.

einer „Versuchsanstalt für vernünftige Frauentracht“

Während Henry van de Velde vorwiegend die Schnitte

aufriefen und 1896 auf dem „Internationalen Kongreß

und Dekore unter Verwendung von exklusiven

für Frauenwerke und Frauenbestrebungen“ die

Liberty-Stoffen, exotisch anmutenden Batikdrucken,

gängige Frauenkleidung mit eng geschnürtem Korsett

indisch beeinflussten Stoffen von Thomas Wardle oder

ablehnten. Maria van de Velde verfasste zudem eigene

selbst entworfenen Künstlerseiden der Krefelder

Beiträge zur Thematik8 und trug ihre Neuschöpfungen

Firma Deuss & Oetker entwarf, übernahm Maria die

auch öffentlich zur Schau, wie etwa in den Salons der

Erstellung der Pausen und die Ausführung der Besätze,

Berliner Hautevolee, wofür sie jedoch mehr Kritik als

wobei die Zusammenarbeit Hand in Hand erfolgte und

Lob erhielt. Despektierlich hieß es, ihre Kleider seien

eine individuelle Zuschreibung aus heutiger Sicht

„hässlich“, gar „scheusslich“ und ein Kleid aus Kamel-

schwierig ist.

haar habe ausgesehen, als sei sie „48 Stunden Eisen-

Mit Vorliebe trug Maria van de Velde weit

bahn gefahren“.9 An anderer Stelle ließ jemand verlau-

fallende Garten- und Hauskleider, die mit dem Interi-

ten: „Wenn meine Frau arbeiten sollte, so würde ich

eur von Haus Bloemenwerf gesamtkünstlerisch

dieses Kleid verstehen; aber im Salon sollen wir doch

harmonierten und aufgrund ihrer schlichten Eleganz

nicht arbeiten.“10 Karikaturen in namhaften Zeitschrif-

auffielen. Inszenierte Fotoaufnahmen dokumentieren

ten taten ihr Übriges. Ungeachtet vieler kritischer

nicht nur die Vorder- und Rückseiten der Kleider

Stimmen fanden sich durchaus werbewirksame

Henry und Maria van de Veldes künstlerische Allianzen für das Reformkleid

327

Käuferinnen und Liebhaberinnen der Kleider, wie etwa Sophie Herrmann, Alma Warburg, Wilma de Brion, Elisabeth Förster-Nietzsche und Gertrud Osthaus. Indem sich diese Damen in den Kleidern öffentlich zeigten und fotografieren ließen, trugen sie auf ihre Weise zum Bekanntheitsgrad der Mode van de Veldes bei. Marias Schwester Irma Saenger-Sèthe konnte sich indes nicht überwinden, Kleider ihres Schwagers auch öffentlich während eines ihrer viel beachteten Violinkonzerte zu tragen.11 Maria und Henry van de Velde forderten die Frauen auf, sich „von der geisttötenden Tyrannei der Abb. 2: Maria und Henry van de Velde im Atelier des eigenen Hauses Bloemenwerf in Uccle, 1899. Maria trägt ein Kleid aus dem 1878 entworfenen Stoff Salangore von Thomas Wardle.

Mode”12 frei zu machen, selbst kreativ tätig zu werden und eigene Entwürfe zu fertigen. „Wenn erst die Frau die Verantwortung und die Folgen auf sich genommen hat, die ihr entstehen, sobald sie versucht, in und ausser dem Hause Kostüme zu tragen, die sie selbst geschaffen hat; wenn sie die Schwierigkeiten durchgemacht hat, die ein sorgfältig überlegtes Wählen der ihrem Typus entsprechenden Stoffe und Formen mit sich bringt; wenn sie die Zeit und die Ausdauer überlegt, die erforderlich waren, etwas Tüchtiges zustande zu bringen, die Kämpfe mit den Lieferanten, die sich ihren Wünschen aus Bequemlichkeit so gern entzogen hätten – nach alledem wird sie davon durchdrungen sein, dass die That ihrer Überzeugung eine wahre Revolution in ihrer Existenz, eine Evolution zu einer besseren Lebensform herbei führen muss.“13 Henry van de Velde empfahl den Frauen, sich zu Hause individuell und auf der Straße gemäßigt individuell zu kleiden. Für festliche Gelegenheiten begrüßte er eine Art feststehende „Zwangstoilette“ („toilette de rigueur“) wie bei den Herren.14 Tatsächlich sollte sich die Optik des Kleides der Persönlichkeit der Trägerin sowie dem Ort anpassen. Van de Velde unterschied daher zwischen Empfangstoiletten, Straßenkostümen

Abb. 3: Maria van de Velde beim Durchpausen einer Applikations­ vorlage, um 1898

328

Antje Neumann und Laura Petzold

und Gesellschaftskleidern. In seinem Aufsatz „Das neue Kunst-Prinzip in der modernen Frauen-Kleidung“

schrieb er in diesem Zusammenhang: „Die Toilette wird

Größe anpassen. Danach schicken Sie es mir zurück,

durch den Ort, wo man sie trägt, bestimmt, und diese

und Henry entwirft die Stickerei. Sobald dies gesche-

Orte sind entweder private oder gemeinsame. Im

hen ist, empfehle ich Ihnen, sich das Modell durch Ihre

Hause, am eigenen Herde, herrscht eine andere

Schneiderin kommen zu lassen. Ich teile Ihnen dann

Atmosphäre als auf der Straße und wieder eine andere

mit, inwieweit das Kleid fertiggestellt werden muß,

in den feierlichen Zusammenkünften, und es liegt klar

damit Sie es mir erneut schicken, um die Stickerei

auf der Hand, dass die Toilette sich diesen wesentli-

anzubringen.“18 Die Ausführung sämtlicher Besatzteile

chen Unterschieden anpassen muss.“15

übernahm Maria van de Velde in Zusammenarbeit mit

Wie schwierig und zeitaufwendig die Herstel-

einer Näherin bzw. Stickerin. Für ihre eigenen Kleider,

lung eines Kleides vom Entwurf bis zur Umsetzung war

insbesondere für ein aufwändig gearbeitetes Abend-

und wie viel Mühe dieser Prozess Maria und Henry van

kleid19, sowie für das Teekleid20 von Sophie Herrmann

de Velde tatsächlich bereitete, dokumentiert der

engagierte sie Sidonie Tassel aus Brüssel, die Gattin

Briefwechsel mit dem Direktor des Krefelder Kaiser

des Freundes Émile Tassel. Für die Ausführung des

Wilhelm Museums, Friedrich Deneken, auf anschauli-

Gesellschaftskleides von Gertrud Osthaus zog sie

che Weise und gipfelt in der von Harry Graf Kessler

hingegen Frau Gärtner-Schulze aus Elberfeld hinzu.21

überlieferten Bemerkung, van de Velde „baue lieber

Ihr war bewusst, dass die Kleider „vor allem gut

10 Häuser als ein Kleid“16. Die Vorbereitungen zur

gemacht sein“ müssen.22 So bliebe der schönste

Sonderausstellung moderner, nach Künstler-Entwürfen

Entwurf nur eine klägliche Sache, „wenn nicht das

ausgeführter Damenkleider, die im August 1900 zwei

Genie des ‚guten Zuschneiders‘, der ‚vortrefflichen

Wochen zusammen mit der Großen Allgemeinen

Näherin‘ und die Feenhände der ‚bonne couturière‘ am

Ausstellung für das Bekleidungswesen in Krefeld zu

Werk” sind.23 Im Vorwort zum Album moderner, nach

sehen war, nahmen allerdings nur drei Monate in

Künstler-Entwürfen ausgeführter Damenkleider schrieb

Anspruch. In dieser Zeit mussten Maria und Henry van

sie: „Schnitt, Verbindung der Stücke, Stickereien und

de Velde einen Großteil der insgesamt sechs gezeigten

Besatz vertragen keine mittelmässige Ausführung.

Kleider unter immensem Zeitdruck ausführen. Bereits

Ohne die Garantie der Vollkommenheit in der Aufma-

zu Beginn erläuterte van de Velde gegenüber Deneken

chung dieser Teile bleibt die Verwirklichung der

seine Vorgehensweise beim Entwurf der Kleider. Den

interessantesten und glücklichsten Ideen zweifelhaft.

Aufbau eines Kleides („la construction d’une toilette“)

Dieser wunderbar entworfene Schnitt, jene herrlich

und das Zusammenspiel der Stoffe legte er ohne

erdachte Stickerei verlieren jeden Wert, da sie hervor-

vorheriges Anfertigen einer Skizze oder Vorzeichnung

gegangen sind aus einem Atelier, wie dies bereits in

direkt am Modell fest. Auch die Stickereien und

der Möbelindustrie, der Keramik, der Glasfabrikation

Ornamente entwarf er direkt auf den Körper der

etc. geschieht.“24

17

Trägerin. Bei einem Kleid für Sophie Herrmann, dessen

Maria und Henry van de Velde arbeiteten im

Herstellung aufgrund der räumlichen Distanz mehrere

besten Sinne Hand in Hand – und dies mit Erfolg. Für

Monate gedauert hatte, gab Maria van de Velde im

die vorbildliche technische Ausführung der Kleider

Voraus folgende Verfahrensweise vor: „Ich werde ein

erhielt Maria van de Velde zusammen mit Sidonie

Modell aus Musselin anfertigen und Ihnen schicken

Tassel vom Ausstellungskomitee des Kaiser Wilhelm

lassen. Sie probieren es an und lassen es auf Ihre

Museums Ende August 1900 das Diplom zur Goldme-

Henry und Maria van de Veldes künstlerische Allianzen für das Reformkleid

329

Abb. 4: Maria van de Velde vor ihrem Flügel in Haus Bloemenwerf in Uccle, 1897. Sie trägt das Teekleid (Tea-gown) aus braunem ­Liberty-Samt.

daille.25 Zudem bekam sie ein „Pelzcape“ geschenkt,

verschrieben sich zeitgleich und in der Folge dem

das nach ihren Wünschen angefertigt wurde. Der

Entwurf von Damenkleidern, die als „Eigenkleider“

Impuls der Krefelder Sonderausstellung, die anlässlich

oder „Künstlerkleider“ in die Geschichte der Mode

des Deutschen Schneidertags stattfand, beflügelte

eingingen. Zu ihnen zählen Margarete von Brauchitsch,

enorm. Henry van de Velde veröffentlichte in nahtloser

Else Oppler, Anna Muthesius, Gertrud Kleinhempel,

Folge die Schriften Künstlerische Hebung der Frauen-

Emilie Flöge, Julie Wolfthorn, Richard Riemerschmid,

tracht , Die Renaissance im modernen Kunstgewerbe

Otto Eckmann, Alfred Mohrbutter sowie die

26

27

28

und „Das neue Kunst-Prinzip in der modernen Frauen-­

­Künstlerehepaare Peter und Lilli Behrens, Heinrich

Kleidung“ . Außerdem befürwortete er die Gründung

und Martha Vogeler, August und Elisabeth Macke

eines internationalen Komitees im Kampf gegen das

sowie Sonia und Robert Delaunay, um nur einige zu

von Paris diktierte Modeideal. Zahlreiche Künstler

nennen.31

29

30

330

Antje Neumann und Laura Petzold

Abb. 5: Die rückseitige Ansicht des Teekleides mit kurzen Puffärmeln, um 1897

Wie eingangs erwähnt, waren die Kleider von

der Epoche. Obwohl die originalen Besatzstücke im

Maria van de Velde für ihre Zeit innovativ, bahnbre-

Museum für Gestaltung in Zürich verwahrt sind, hielt

chend und erregten positive wie negative Aufmerk-

sich über mehrere Jahrzehnte die Annahme, es handle

samkeit. Dies betraf nicht nur das Aussehen und den

sich um ein blaues Kleid.32 Tatsächlich hatte van de

Schnitt der Kleider, sondern auch die Materialien und

Velde jedoch die Farbigkeit des Kleides ganz bewusst

Techniken, die in der Art und Weise ihrer Kombination

auf die ambrafarbene Haut und das honigblonde Haar

gewissermaßen Neuerungen innerhalb der Frauenklei-

seiner Frau abgestimmt.

dung darstellten, wie das Teekleid von 1896 exempla-

Die überlieferten bestickten Besätze (Abb. 6)

risch veranschaulicht (Abb. 4, 5). Dieses von Maria van

umfassen den Halsausschnitt, die Ärmelmanschetten

de Velde getragene Tea-gown aus braunem Liber-

und den Saumbereich, wobei Letztere vollständig

ty-Samt gehört zu den bekanntesten Künstlerkleidern

erhalten sind und geschlossene Kreise bilden. Diese

Henry und Maria van de Veldes künstlerische Allianzen für das Reformkleid

331

Besätze und historische Aufnahmen lassen einige

van de Velde belegen. Anhand dieser Aufnahmen wird

interessante Rückschlüsse auf die Art der Anfertigung

ersichtlich, dass es zwei Varianten des Kleides gab.

des Kleides zu. So sind die Besätze des Teekleides mit

So existierte eine kurzärmelige Variante mit Puff­

den traditionellen Sticktechniken des Schnurstichs34 und

ärmeln, die bis zu den Ellenbogen reichten und deren

der Kurbelstickerei verziert. Nach dem beinahe erfolgten

zugehörige Manschetten vollständig erhalten sind.

Niedergang der Stickerei im Bereich der Damenmode bis

Diese leichtere Variante des Kleides war vermutlich für

Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte diese Handwerks-

wärmere Jahreszeiten gedacht. Ferner gab es eine

kunst gegen Ende desselben Jahrhunderts erneut eine

langärmelige Variante mit kurzen, vorne offenen und

kurze Blüte, was nicht zuletzt auf zeitgenössische

an der Schulter – analog den Puffärmeln – in Falten

Anleitungen zur Herstellung solcher Textilien zurückzu-

gelegten Ärmeln. Diese sind entlang aller Kanten mit

führen ist.36 Zudem führte die Erfindung der Kurbelstick-

einer Rüsche versehen, die auch den Halsausschnitt

maschine um 1850 zur Vereinfachung dieser vormals

beider Varianten ziert. Unter diesen Ärmeln trug Maria

aufwendigen Technik. Für Buntstickereien auf Seide

van de Velde lange, geraffte Ärmel, die offenbar aus

fanden üblicherweise kurzflorige Samte Verwendung.

der gleichen Seidengaze (vermutlich einem Seidenor-

Wie bereits beschrieben, war das Teekleid von Maria

ganza) gefertigt waren. Diese Variante war vermutlich

van de Velde aus Liberty-Samt gefertigt. Analog der

für formelle Gelegenheiten, wie den Empfang von

Empfehlung zeitgenössischer Quellen wurde für die

Gästen im häuslichen Umfeld, geeignet. Der im Vorfeld

Stickerei eine Unterlage gewählt , damit die Stickerei

beschriebene Zeitaufwand, aber auch die Menge an

wie gewünscht zur Geltung kam und nicht zwischen

benötigtem Material lassen den Schluss zu, dass es

dem Samtflor versank und somit ein unsauberes Bild

sich nicht um zwei vollständig ausgeführte Versionen

entstand. Trotz des relativ kurzflorig erscheinenden

des Kleides handelt. Vielmehr ist anzunehmen, dass

Samtes wurde durchscheinende Seidengaze benutzt, die

die Ärmel austauschbar waren. Da es sich bei dem

neben dem Effekt der Transparenz auch ein zusätzliches

bestickten Bereich von Halsausschnitt und Schulter-

Farbenspiel erlaubte. Auch wenn es zunächst den

partie nicht um ein rein dekoratives Element handelt,

Anschein hat, dass es sich um bestickte applizierte Gaze

wird hier der Ansatz der Ärmel am Kleid vollständig

handelt, so ist – wie bei der Buntstickerei auf Samt

verdeckt. Ein Befestigungsmechanismus für die Ärmel

üblich – die Arbeit klassisch durch den Samt und eine

mittels Haken und Ösen oder zum Knöpfen erscheint

zusätzliche Unterlage ausgeführt. Obwohl nur einzelne

durchaus plausibel. Leider sind durch verschiedene

Partien am Kleid bestickt sind, muss davon ausgegangen

Veränderungen im Bereich des Halsausschnittes am

werden, dass die vollflächige Stickerei sehr zeitaufwen-

Originalbesatz keine Spuren erkennbar, die diese

dig war. So benötigte man allein für die Stickerei einer

Vermutung stützen. Allerdings konnte diese Annahme

ornamentalen Welle am Saumbereich etwa einen Tag.

mittels eines extra angefertigten Modells der Halsaus-

33

35

37

38

39

Darüber hinaus war die Arbeit physisch anstrengend, da

schnitt-Ärmel-Partie bestärkt werden.40 Der bestickte

der Samt jeweils flächendeckend bestickt wurde und als

Teil um Halsausschnitt und Schultern macht gleichzei-

sehr dichter und fester Stickgrund schwierig zu durch­

tig einen Großteil des Kleidoberteils aus. Der im

stechen ist.

Bereich der Falten bis zu fünf Lagen Samt umfassende

Auch die Schnitttechnik des Kleides war sehr durchdacht, wie die zahlreichen Fotografien von Maria

332

Antje Neumann und Laura Petzold

Rockteil ist auf Vorder- und Rückseite fest mit dem bestickten Abschnitt um Hals und Schultern verbun-

Abb. 6: Henry van de Velde (Entwurf) und Maria van de Velde (Ausführung), Kragen, Manschetten und Saum eines Teekleides (Baumwolle, Seide, Messing; Applikationen, Kurbelstickerei, Schnurstich), um 1896, Museum für Gestaltung Zürich, Kunstgewerbesammlung, KGS-1958–82, 1–4

Henry und Maria van de Veldes künstlerische Allianzen für das Reformkleid

333

Anm erkungen

den. Für die saubere Ausführung dieser Verbindungsnaht war vermutlich eine professionelle Damenschneiderin verantwortlich.41 Die Verarbeitung der Verbindung von bestickter Halsausschnitt-SchulterPartie mit dem Rockteil weist zudem eine große Ähnlichkeit mit dem für Sophie Herrmann entworfenen Kleid auf.42 Die historischen Fotografien von Maria van de Velde geben neben der Stickerei zu erkennen, wie wichtig der Fall der Falten und damit die Wechselwirkung von Licht und Schatten für den Gesamteindruck des Kleides waren. Der Rockteil des Kleides ist auf Höhe der Taille in seiner Weite leicht eingehalten. Versuche am Modell haben gezeigt, dass innen vermutlich ein Taillenband angebracht war, das innerhalb der Falten der Rückenpartie verlief. Auf diese Weise wurden die Falten im Rückenteil (Abb. 5), die zusätzlich den Verschluss in der Mitte verdeckten und an eine robe à la française erinnern, in Position gehalten. Nicht nur die betont qualitativ hochwertige

1

„Die Kleider müssen vor allem gut gemacht sein, und der schön-

ste Entwurf bleibt eine klägliche Sache, wenn nicht das Genie des ‚guten Zuschneiders‘, der ‚vortrefflichen Näherin‘ und die Feenhände der ‚bonne couturière‘ am Werk sind.“ Henry van de Velde: Geschichte meines Lebens, München 1962, S. 154.

2

Henry van de Veldes textilkünstlerisches Œuvre wurde 2014 im

Rahmen des mehrjährigen Forschungsprojektes der Klassik Stiftung Weimar zum Gesamtwerk des Künstlers publiziert. Vgl. Thomas Föhl und Antje Neumann (Hg.): Henry van de Velde – Raumkunst und Kunsthandwerk / Interior Design and Decorative Arts. Ein Werkverzeichnis in sechs Bänden / A catalogue raisonné in six volumes, Band II: Textilien / Volume II: Textiles, Leipzig 2014.

3

Van Halle war zwischen 1838 bis 1878 in Antwerpen als

­Hersteller von Paramenten tätig und firmierte unter der Bezeichnung „Fabrique de Broderies en Or et Ornements d’Église“. Er besaß eine Niederlassung in Brüssel und erwarb zahlreiche Medaillen auf Ausstellungen. Vgl. Annemie Van Dyck: Kerkelijk textiel in Vlaanderen en Brussel in de 19de en 20ste eeuw, Centrum voor religieuze kunst en cultuur, Heverlee 2009, S. 71.

4

„Mais si le compagnon n’était pas fils de maître, on exigeait de lui

conférer le titre ‚maître brodeur‘ une histoire entière où il y ait plusieurs personnages. (Livre des métiers d’Étienne Boileau, prévôt des marchands de 1258 à 1268)“, in: Les XX Bruxelles. Catalogue de la dixième exposition annuelle, février 1893, Ausst.-Kat. Les XX, Brüssel 1893, o. S.

Kombination alter und neuer Techniken, die Verwen-

5 6 7

dung der neuen und europaweit geschätzten Materia-

Kessler: Das Tagebuch 1880–1937, Bd. 3: 1897–1905, hg. v. Carina

Ausführung, sondern auch die Art und Weise der

lien, hier insbesondere der Liberty-Samt, aber auch die Reminiszenzen an historische Kleiderschnitte trotz der neuartigen Reformmode sind besondere Merkmale dieses Kleides, das gemeinschaftlich von Henry und Maria van de Velde konzipiert und ausgeführt wurde. Die Rekonstruktion eines weitaus näher am Original befindlichen Kleides ist ab April 2019 in der neu konzipierten Dauerausstellung im Neuen Museum in Weimar zu sehen.

Van de Velde 1962 (wie Anm. 1), S. 68. Föhl/Neumann 2014 (wie Anm. 2), Nr. II.1.1.4, S. 7, 40, 41. Harry Graf Kessler, Eintrag vom 22.3.1898, in: Harry Graf

Schäfer und Gabriele Biedermann, Stuttgart 2004, S. 132.

8

Album moderner, nach Künstler-Entwürfen ausgeführter Da-

menkleider. Mit Einleitung von Frau Maria van de Velde, Uccle-Brüssel, Düsseldorf 1900, o. S.; Album de robes de dames exécutées d’après des projets d’artistes modernes. Avec préface de Madame Maria van de Velde, Uccle-Bruxelles, Düsseldorf 1900, o.  S.; Maria van de Velde: Sonderausstellung moderner Damenkostüme, in: Dekorative Kunst, Bd. 4, 1901, H. 1, S. 41–47.

9

Harry Graf Kessler, Eintrag vom 8.3.1901, in: Kessler 2004 (wie

Anm. 7), S. 399.

10 11

Ebd. Henry van de Velde an Friedrich Deneken, 1.12.1902, Kaiser

Wilhelm Museum (fortan KWM), XI., Bl. 291.

12

Henry van de Velde: Die künstlerische Hebung der Frauen-

tracht, Krefeld 1900, S. 33.

13 14

Ebd. Ebd., S.  30, 31; H.F. [Verfasser unbekannt]: Die Reform der

Frauenkleidung, in: Sport & Salon, Wien, 14.3.1901, S. 15.

15

Henry van de Velde: Das neue Kunst-Prinzip in der modernen Frauen-

Kleidung, in: Deutsche Kunst und Dekoration, Bd. 5, 1902, H. 10, S. 367.

334

Antje Neumann und Laura Petzold

16

Harry Graf Kessler, Eintrag vom 29.7.1900, in: Kessler 2004

langen Vorstiche auf der Vorderseite im rechten Winkel umstochen.

(wie Anm. 7), S. 308.

Um der gewünschten Linie mehr Volumen zu verleihen, kann, wie auch

17

bei den Besätzen des Teekleides, ein zusätzlicher Faden in der ge-

Henry van de Velde an Friedrich Deneken, 29.4.1900, KWM,

XI., Bl. 41, 42.

wünschten Stärke mit eingelegt werden. Siehe auch Thérèse de Dill-

18

mont: Encyklopädie der weiblichen Hand­arbeiten, neue verm. und

„Je vais faire couper un modèle en mousseline que je vous en-

verrai et que vous ferez essayer et corriger sur vous. Ensuite vous me le

verb. Ausg., Ndr. der Ausg. von 1908, Ravensburg 1983.

renverrez et Henry dessinera les broderies dessus. Quand cela sera fait

35

je vous conseille beaucoup de vous laisser renvoyer le modèle par votre

reich verwendet. Marianne Stradal und Ulrike Brommer: Mit Nadel und

couturière. Je vous dirai à quel point elle devra être achevé afin que

Faden durch die Jahrhunderte, aus der Kulturgeschichte vom Sticken,

vous puissiez l’envoyer ici pour faire appliquer les broderies.“ Maria van

Stricken und Häkeln, Heidenheim o. J., S. 127. Buntstickerei auf Samt

de Velde an Sophie Herrmann, 13.11.1898, Privatbesitz.

wurde in dieser Zeit besonders für die Anfertigung von Paramenten

19 20 21

Föhl/Neumann 2014 (wie Anm. 2), Nr. II.1.1.7, S. 17–21, 44–47.

eingesetzt. Die Verwendung für festliche Damenmode kann daher na-

Ebd., Nr. II.1.1.19, S. 16, 17, 19, 64.

hezu als Neuerung angesehen werden.

Ebd., Nr. II.1.1.34, S. 20, 21, 82, 83, 93; Die Neue Frauenklei-

36

Stickerei wurde im 19. Jahrhundert vorrangig für den Heimbe-

Die Erstausgabe von Thérèse de Dillmonts Encyklopädie der

dung, Nr. 2, April 1907, S. 4, Abb. III.

weiblichen Handarbeiten erschien 1886. Bereits 1908 wurde eine neue

22 23 24 25

Van de Velde 1962 (wie Anm. 1), S. 154.

vermehrte und verbesserte Ausgabe herausgegeben. Wie das 1882

Ebd.

von A. W. Cowan in London herausgegebene The Dictionary of Needle-

Album 1900 (wie Anm. 8), o. S.

work: An Encyclopedia of Artistic, Plain, and Fancy Needlework, das bereits

Friedrich Deneken an Henry van de Velde, 16.8.1900, Abschrift,

1887 in einer neuen Auflage von S. F. A. Caulfeild und Blanche C. Sa-

KWM, XI., Bl. 111.

ward publiziert wurde, handelte es sich um Standardwerke zur Anlei-

26

tung weiblicher Handarbeiten, insbesondere der unterschiedlichen

Maria van de Velde an Friedrich Deneken, 17.9.1900, KWM, XI.,

Bl. 119.

Stickerei-Techniken, für den anspruchsvollen Hausgebrauch sowie zur

27

Anfertigung von Paramenten.

Henry van de Velde: Die künstlerische Hebung der Frauen-

tracht, Krefeld 1900.

37

28

handelte es sich in der Regel um reine Seidensamte oder um Samte mit

Henry van de Velde: Die Renaissance im modernen Kunstge-

Föhl/Neumann 2014 (wie Anm. 2), S. 32. Bei Liberty-Samten

werbe, Berlin 1901.

Baumwollgrund und Seidenflor, wie sie in der Zeit um 1900 weit ver-

29

breitet waren. Auf den Fotografien ist der Samt als relativ kurzflorig zu

Henry van de Velde: Das neue Kunst-Prinzip in der modernen

Frauen-Kleidung, in: Deutsche Kunst und Dekoration, Bd.  10, 1902,

erkennen.

S. 363–371.

38 39

30

Henry van de Velde an Friedrich Deneken, 13.8.1900, KWM,

Dillmont 1983 (wie Anm. 34), S. 150. Auf den Saumumfang von 356 cm entfallen 35 Ornamente,

XI., Bl. 107.

ähnlich dem wellenartigen Motiv „Laufender Hund“.

31

40

Siehe hierzu: Auf Freiheit zugeschnitten. Das Künstlerkleid um

Als Grundlage zur Anfertigung des Modells dienten in erster Li-

1900 in Mode, Kunst und Gesellschaft, hg. von Inga Ewers-Schultz und

nie die abgenommenen Maße der original erhaltenen Besätze sowie die

Magdalena Holzhey, Ausst.-Kat. Kunstmuseen Krefeld, Kaiser Wilhelm

historischen Fotografien, die Maria van de Velde in dem Teekleid zeigen.

Museum, München 2018.

Zur Feststellung der Kleiderlänge ermittelte Antje Neumann anhand er-

32 33

Föhl/Neumann 2014 (wie Anm. 2), S. 19.

haltener Möbel und Architekturelemente nach Entwurf Henry van de

Von allen Kleidern nach Entwurf Henry van de Veldes sind le-

Veldes außerdem die ungefähre Körpergröße Maria van de Veldes.

diglich einzelne Teile, zumeist die bestickten Partien wie Halsaus-

41

schnitte mit Verschlüssen, Ärmelmanschetten oder Saumbereiche,

festes Material. Allerdings ist er durch den Flor, der leicht verpresst wer-

überliefert.

den kann, gleichzeitig ein Material mit sehr empfindlicher Oberfläche,

34

das das Beseitigen von Fehlern bei der Verarbeitung nicht ohne Weite-

Beim Schnurstich wird die gewünschte Form mit Vorstichen in

Samt mit gewebtem Grund ist zwar meist ein äußerst dickes und

Linien auf den Stickgrund gestickt, wobei der Faden nur über sehr kurze

res zulässt.

Strecken durch das Gewebe geführt wird. Anschließend werden die

42

Föhl/Neumann 2014 (wie Anm. 2), Nr. II.1.1.19, S. 64.

Henry und Maria van de Veldes künstlerische Allianzen für das Reformkleid

335

genannt. Wie gestaltete sich aber diese Zusammenarbeit zwischen dem etablierten älteren deutschen Maler und der jungen begabten polnischen Künstlerin, und was war modern in ihren Werken? Max Wislicenus, der aus einer Künstlerfamilie stammte, durchlief einen für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts typischen Werdegang eines Künstlers.3 Geboren in Weimar, studierte er in den 1880er Jahren an der Düsseldorfer Kunstakademie, ging dann

Kreative Zusammenarbeit oder künstlerische Abhängigkeit? Die Bildteppichweberei des deutsch-polnischen Künstlerpaares Max Wislicenus und Wanda Bibrowicz Katarzyna Sonntag

nach München und gehörte der dortigen Sezession an, bevor er 1896 an die Königliche Kunst- und Kunstgewerbeschule zu Breslau berufen wurde. Hier lehrte er unter anderem Freihandzeichnen an dem Seminar für Zeichenlehrer und Zeichenlehrerinnen, wo er die 17 Jahre jüngere Wanda Bibrowicz kennenlernte. Diese wollte Porträtmalerin werden. Sie kam aus ihrer Geburtsstadt Grätz (heute Grodzisk Wielkopolski) zum Kunststudium nach Breslau, da die dortige Kunstschule als eine der wenigen im deutschsprachigen Raum schon Ende des 19. Jahrhunderts den Frauen Zugang zur künstlerischen Ausbildung ermöglichte.4 Zum Wintersemester 1902/03 wurde der Berliner Architekt Hans Poelzig zum neuen Schuldirek-

Kaum jemand kennt das deutsch-polnische

tor an der Breslauer Kunstschule berufen.5 Angeregt

Künstlerpaar Max Wislicenus und Wanda Bibrowicz,

durch die Ideen seines Vorgängers Hermann Adolf

das Anfang des 20. Jahrhunderts die Bildteppichwirke-

Kühn, führte er 1904 ein innovatives Ausbildungssys-

rei zu modernisieren versuchte. Nach ihrem Tod sind

tem für Kunststudenten und -studentinnen ein. Diese

beide in Vergessenheit geraten, obwohl sie zu Lebzei-

sollten nun gleichzeitig unter der Leitung eines

ten zu den viel beachteten Textilkünstlern in Deutsch-

Künstlers und einer Lehrkraft in einer handwerklich

land gehörten.1 Sie gründeten 1904 an der Königlichen

ausgerichteten Werkstatt lernen.6 Später wurde das

Kunst- und Kunstgewerbeschule zu Breslau (heute

Bauhaus für diese Ausbildungsmethode bekannt.7

Wrocław in Polen) eine der ersten ‚modernen‘ Werk-

Zum Professor für die neu eingerichtete Klasse

stätten für Bildteppichwirkerei in Deutschland.2 Ihr

für Textilkunst wurde der Maler Max Wislicenus

Anliegen war es, diese jahrhundertealte Kunstgattung

nominiert. Wanda Bibrowicz wurde seine Assistentin,

zu erneuern, indem sie zeitgemäße neue figürliche

die für den praktischen Unterricht zuständig war. Da

Muster entwickelten. In den fast 50 Jahren ihrer

aber die beiden Künstler bis dahin keine Erfahrung mit

gemeinsamen Arbeit entstanden hunderte figürliche

der Textilkunst und Weberei hatten, mussten sie sich

Bildwirkereien, auch Gobelin, Tapisserie oder Arazzo

diese damals kaum praktizierten Techniken selbst

Die Bildteppichweberei des deutsch-polnischen Künstlerpaares Max Wislicenus und Wanda Bibrowicz

337

beibringen. Zwar gab es in Deutschland noch im 18. und 19. Jahrhundert in vielen Großstädten eine Bildwirkerei- beziehungsweise Gobelin-Manufaktur, aber am Anfang des 20. Jahrhunderts waren sie bereits eine Seltenheit.8 Zuerst begaben sich Wislicenus und Bibrowicz auf eine mehrmonatige gemeinsame Ausbildungsreise durch Deutschland, Dänemark und Schweden, während der sie die Web- und Textilkunst in zahlreichen Museen studierten. Wanda Bibrowicz hatte zusätzlich in Berlin die ersten technischen Unterweisungen erhalten.9 Diese Ausbildungsreise bildete eine Grundlage, um ihre eigene individuelle Lehrmethode auszuarbeiten. Bald darauf hieß es: „Man weiß […], daß Professor Max Wislicenus die Entwürfe für die großen Wandteppiche […] gezeichnet hat. Wenige aber haben von Wanda Bibrowicz gehört. Und doch ist sie es, die all den schönen Dingen der Breslauer Kunstweberei die materielle Form gegeben hat. Sie ist eine ausgezeichnete Technikerin […].“ Dieses Zitat aus der 10

Stickerei-Zeitung sagt einiges über der Aufgabenteilung

Abb. 1.: Max Wislicenus (Entwurf), Wanda Bibrowicz ­(Ausführung), Der Pelikan, 1904, Wolle gewirkt, Maße unbekannt, verschollen

in der Textilkunst damals. Der Mann übernahm das Entwerfen einer Bildwirkerei, was viel mit dem Entstehungsprozess eines Gemäldes zu tun hat.11

der Ausführung mancher Projekte halfen. Damit

Maler wie Raffael oder Rubens entwarfen Tapisserien.

tradierte die Schule, trotz vieler innovativer Ansätze,

Künstler führten auch die wichtigsten Gobelin-Manu-

die gängige Rollen- und Aufgabenzuweisung an die

fakturen. Die Bildwirkereien galten als die edelsten

Geschlechter.

und teuersten Kunstgattungen, auch wegen der hohen

338

1904 nahm die Fachklasse für Textilkunst die

Materialkosten sowie des großen Arbeits- und

Arbeit auf, und schon im selben Jahr wurden ihre

Zeitaufwandes.12 Daher war das Entwerfen der

Werke in der Kunstgewerbeausstellung Das Einfamili-

Webteppiche eines männlichen Künstlers würdig,

enhaus in Breslau ausgestellt.14 In dem von Hans

obwohl die textile Kunstfertigkeit allgemein weiblich

Poelzig entworfenen Haus wurden Arbeiten mehrerer

konnotiert war. Die manuelle Arbeit am Webstuhl

Schulwerkstätten präsentiert, darunter auch die ersten

wurde meist weiblichen Hilfskräften überlassen.

Bildwirkereien der Textilklasse, wie etwa Der Pelikan

13

An der Breslauer Kunstschule war Wanda Bibrowicz

(Abb. 1), entworfen von Max Wislicenus und ausge-

für die praktische Ausführung der Webteppichent-

führt von Wanda Bibrowicz.15 Zu dieser Arbeit schrieb

würfe von Wislicenus zuständig. Sie betreute außer-

Horst Riemer 1947: „In jenem auf grober Kette geweb-

dem die Schülerinnen in der Schulwerkstatt, die bei

ten, großzügig stilisierten, auf Grau und Rosa gestimm-

Katarzyna Sonntag

ten Wandteppich ‚Pelikan‘ fand das künstlerische Glaubensbekenntnis von Wislicenus seinen ersten Ausdruck. Wir dürfen heute nicht vergessen, daß die ganze frühe Wirkerei, die Wislicenus schuf, für die damalige Zeit eine Kühnheit bedeutete, der zunächst selbst Hans Poelzig kopfschüttelnd gegenüberstand, um nach Jahren, wie uns Alfred Schellenberg überliefert hat, zu bekennen, daß z. B. dieser Teppich seiner Zeit weit voraus war.“16 Der Webteppich Pelikan war, wie das Zitat andeutet, sehr radikal für die damalige Zeit. Er war

Abb. 2: Wanda Bibrowicz (Entwurf und Ausführung), Junge Störche, 1904, Wolle gewirkt, ca. 40 x 80 cm, verschollen

streng geometrisch und auf die wesentlichen Elemente reduziert. Das gleiche Thema – Vögel – jedoch anders aufgefasst, wählte auch Wanda Bibrowicz. Sie entwarf

sische Gobelin, das gewebte Bild mit Tiefenwirkung

für dieselbe Ausstellung Junge Störche (Abb. 2) einen

[wie ein Gemälde], schwebte allgemein als Ideal vor.

Webteppich für ein Kinderzimmer. Durch die gerunde-

Mir erschien der gotische Bildteppich als Vorbild, ein

ten Linien der Vogelkörper ist diese Arbeit naturnäher

buntes Nebeneinander von flachwirkenden Figuren,

als der Pelikan von Wislicenus, trotzdem ist das Tier

klar die Wandfläche wahrend, den Forderungen der

ähnlich flach aufgefasst, nur im Vordergrund gehalten

Technik angepaßt, ja aus ihnen heraus geboren, eine

und auf die wichtigsten Grundformen reduziert.

Kunst, die nur so entstehen konnte, daß der Künstler

Folglich benutzten die beiden Künstler schon damals

Weber und der Weber Künstler war. Engstes Zusam-

eine ähnliche Formsprache.

menwirken von Idee und Ausführung schwebte mir

In seinen Erinnerungen schreibt Wislicenus

vor.“19 In dieser Aussage offenbart Wislicenus, dass

1954, dass Bibrowicz die Entdeckerin „des flächenhaf-

seine künstlerischen Wurzeln im 19. Jahrhundert

ten Stils, wie ihn einst die Gotik als Stilprinzip aufstell-

liegen, als die Kunst des Mittelalters, vor allem der

te“17, sei. „Die Flächigkeit ist dem Wandteppich ein

Gotik, zum Vorbild genommen wurde und man die

unumstößliches, formales Gesetz“, das bisher wenig

Erneuerung und Vereinigung der Künste und des

Beachtung gefunden habe.18 Der formale Stil der

Handwerks anstrebte. Gleichzeitig sind schon bei

modernen Webteppiche resultierte also vor allem aus

diesen ersten Webteppichen der beiden Künstler

der Webtechnik. Mit ‚modern‘ ist hier ‚nicht historis-

charakteristische Elemente der Kunst der späteren so

tisch‘, fortschrittlich und neuartig in der Gestaltung

genannten klassischen Moderne erkennbar, wie etwa

gemeint. Die charakteristische flächige Auffassung des

die Arbeit mit der Fläche und die ‚Ehrlichkeit‘ von

Themas ohne perspektivische Tiefentäuschung, die für

Material und Technik.

die Gobelinweberei seit der Renaissancezeit typisch

Der Kunstkritiker Horst Riemer konstatierte 1947

war, sowie die Reduktion auf die wichtigsten Elemente

zu dieser Entwurfsmethode: „Mit dieser Entscheidung

schien 1904 besonders progressiv. Wislicenus und

zugunsten der gotischen Formtendenzen, die den

Bibrowicz beriefen sich hierbei auf mittelalterliche

Wandbehang als wand – b e t o n e n d und nicht als

Vorbilder. 1920 schrieb Wislicenus dazu: „Der franzö-

wand  – a u f l ö s e n d oder gar wand  – v e r n e i n e n d ,

Die Bildteppichweberei des deutsch-polnischen Künstlerpaares Max Wislicenus und Wanda Bibrowicz

339

Abb. 3: Max Wislicenus (Entwurf), Wanda Bibrowicz (Ausführung), Tanz, 1911, Wolle und Metallfaden gewirkt, 299 x 299 cm, hergestellt für den Festsaal im Regierungsgebäude zu Breslau, heute im Muzeum Narodowe w Warszawie (Nationalmuseum in Warschau)

als das Teppichbild f l ä c h e n h a f t   – d e ko r a t i v

beherrscht hatte“20. Es lässt sich behaupten, dass es

auffaßte, trat Wislicenus in krassen Gegensatz zu dem

sich um moderne Webteppiche handelte, obwohl sie

perspektivischen, raumillusionistischen Stil, wie er in

immer noch figürlich und nur partiell (im Detail)

Abhängigkeit von der Malerei den Wandteppich der

abstrakte Elemente aufwiesen.

Spätrenaissance, wie auch die Gobelins des Barock

340

Nach diesem ersten Erfolg kamen andere

und Rokoko bis zu den mit Tiefenwirkungen arbeiten-

gemeinsame Projekte, wie 1906 die textile Ausstat-

den Gobelins der zeitgenössischen Manufakturen

tung des von Hans Poelzig umgebauten Trauungszim-

Katarzyna Sonntag

mers im Löwenberger Rathaus oder 1911 der knapp 3

künstlerisch aufgeschlossene Gesellschaft im Riesen-

mal 3 Meter große Wandteppich Tanz für die Regie-

gebirge, die Befreiung von gesellschaftlichen Konven-

rungsgebäude in Breslau (Abb. 3). 1914 zeigte das

tionen und die Nähe der unberührten Natur begüns-

Paar seine Wirkereien auf der großen Werkbund-Aus-

tigten die künstlerische Entwicklung von Bibrowicz. In

stellung in Köln. Sieben davon hingen im Raum

Schreiberhau schuf sie ihre ersten eigenständigen

„Schlesien“, andere, kleinere im „Haus der Frau“.21

großformatigen Webteppiche mit animalischer und

In den folgenden Jahren entwarf Wislicenus vor

religiöser Thematik, wie Weißer Hirsch, Heiliger Hierony-

allem großformatige allegorische und mythologische

mus oder Heiliger Franziskus (Abb. 4).24 Die letzteren

Webteppiche mit Frauengestalten, wie Hexe, Venus

charakterisierte Felix Zimmermann wie folgt: „[Sie]

oder Diana. Sie wurden hauptsächlich von Wanda

sind Schöpfungen von reinem, legendärem Gehalt, aus

Bibrowicz oder unter ihrer Leitung gewebt. Sie selbst

kindlich ‚gotischem‘ Geiste gläubig erzählt und mit

entwarf eigene Muster für die Webteppiche. Allerdings

dem leisen Humor der paradiesischen Einheit von

bevorzugte sie ein anderes Thema – etwa Tierdarstel-

Mensch und Tier erfüllt. […] Es lebt ein Poet in Wanda

lungen – und wählte ein kleineres Format. Sie schuf

Bibrowicz, der ein Bilderbuch voll Naturatems und

mehrere Bildwirkereien, die vor allem symmetrisch

entrückten Gestaltungzaubers an die Wände webt.“25

komponierte Tiere und Pflanzen zeigten, wie Katzen-

Der Bezug zur mittelalterlichen Kunst wird hier

baum oder Hasentanne und naturnahe Kompositionen

deutlich betont. In der Themenauswahl ist das wach-

mit Tieren (Hasen). Damit knüpfte sie stilistisch an die

sende Interesse Bibrowicz̕’ für Natur und Religion zu

in der Volkskunst beliebten Motive, an die mittelalterli-

bemerken.

chen Verdüren mit Tieren sowie an die Muster der

Auf dem großformatigen (2,4 mal 2 Meter)

orientalischen Knüpfteppiche und polnischen Kelims

Wandteppich Heiliger Franziskus schien Wanda

an. Gleichzeitig griff sie die Themen auf (Tiere und

Bibrowicz zwei Heiligenfiguren in einer zu vereinen –

Pflanzen), die als typisch für eine ‚Frauenkunst‘

Franziskus von Assisi, der den Vögeln predigte, und

galten.22

Antonius von Padua, der laut Legende den Fischen von

1911 gab Wanda Bibrowicz ihre Assistenzstelle

Gott erzählte.26 Der barfüßige Heilige in brauner Kutte

an der Breslauer Kunstschule auf und machte sich

predigt hier auch den Seehunden, Pinguinen, Pelika-

selbstständig. Es mögen persönliche Gründe dazu

nen, Eidechsen und Möwen. Damit wird auf diesem

beigetragen haben, dass die Künstlerin die schlesische

Webteppich die Tierwelt der Erde, der Luft und des

Metropole verließ, um mit ihrer Mutter und Schwester

Wassers symbolisch vereint präsentiert und ein neues

in Schreiberhau im Riesengebirge ihre eigene Web-

ikonografisches Modell geschaffen. Das Wasser im

werkstatt mit einer kleinen Verkaufsgalerie zu grün-

Hintergrund ist ganz flach gehalten und gleichausse-

den – die Schlesische Werkstätte für die Kunstwebe-

hende Fische springen rhythmisch aus den Wellen.

rei, wo sie auch Weberinnen auf Hochwebstühlen

Dies ähnelt dem Rapport eines dekorativen Stoffes

ausbildete. Trotz anfänglicher finanzieller Schwierigkei-

oder einer Tapete. Dem Gebot der ‚Material-Ehrlich-

ten betrieb sie diese bis Ende des Ersten Weltkrieges.

keit‘ beziehungsweise der ‚Material-Zurschaustellung‘,

Damals gab es in Schreiberhau eine Künstlerko-

das Anfang des 20. Jahrhunderts postuliert wurde,

lonie um die Brüder Carl und Gerhart Hauptmann, mit

wird hiermit entsprochen. Alles umfasst und begrenzt

denen Wanda Bibrowicz befreundet war. Die

eine Borte mit abstrahierendem Muster und der

23

Die Bildteppichweberei des deutsch-polnischen Künstlerpaares Max Wislicenus und Wanda Bibrowicz

341

Abb. 4: Wanda Bibrowicz (Entwurf und Ausführung), Heiliger Franziskus, 1914, Wolle und Metallfaden gewirkt, 240 x 200 cm, hergestellt in der Schlesischen Werkstätte für die Kunstweberei, heute im Muzeum Narodowe w Warszawie (Nationalmuseum in Warschau)

342

Signatur mit Entstehungsdatum. Der Teppich ist

nen – flach, ohne eine Raumillusion, dennoch dekora-

äußerst komplex komponiert, weist zahlreiche Details

tiv, innovativ in der Auffassung des Themas und farbig

auf, wirkt aber dennoch flach (ohne die Absicht, eine

auf wenige Töne beschränkt.

Tiefenwirkung vorzutäuschen). Damit lässt sich das

Durch Unterstützung von Poelzig und Wislice-

Werk als moderner figürlicher Webteppich bezeich-

nus, mit denen Wanda Bibrowicz auch im Riesenge-

Katarzyna Sonntag

birge weiterhin regen Kontakt unterhielt und die sie

angewiesen: Wanda Bibrowicz entwarf die großformati-

öfters besuchten, bekam die Künstlerin einen wichti-

gen Webteppiche für die Gartenbauschule in Pillnitz,

gen staatlichen Auftrag für einen Fries großformatiger

für die Forstschule in Freital und für das Rathaus von

Bildwirkereien für den Kreissaal im Rathaus von

Plauen. Sie verband hier weiterhin menschliche Figuren

Ratzeburg. Dieser monumentale 60 Quadratmeter

mit Flora und Fauna, wie beispielweise in der Wirkerei

große Wandteppich-Zyklus gilt als ihre größte eigen-

Das Mädchen mit dem Lamm (Abb. 5). Mit der Zeit

ständige Arbeit. Damit etablierte sie sich als Urheberin

wurden die Linien ihrer gewebten Bilder immer redu-

komplexer dekorativer Szenen mit Menschen, Tieren,

zierter, geometrischer und kantiger, was einerseits der

Pflanzen und Landschaften. Für diese Arbeit bekam sie

holzschnittartigen Ästhetik der expressionistischen

30.000 Mark zugesichert, die jedoch durch die

Malerei und Grafik nahe kam und anderseits dem

Inflation nach dem Krieg ihren Wert verloren, wodurch

aufkommenden Art Déco entsprach. Auch Wislicenus

sie um ihre wirtschaftliche Existenz kämpfen musste.

verließ die Jugendstilästhetik und schuf mehrere

27

Durch die Vermittlung von Poelzig, der 1916

figürliche, dekorative Bildwirkereien im neuen Art Déco

Stadtbaumeister in Dresden wurde, kamen Bibrowicz

oder im expressionistischen Stil, wie Schwerttänzerin

und Wislicenus 1919 nach Sachsen.28 Das Sächsische

(Salome oder Judith) (Abb. 6), Drei Grazien oder Amor.

Wirtschaftsministerium, bemüht der führenden

1926 versuchte Marie Frommer, in einer Kritik

Textilindustrie im Lande neue künstlerische Impulse zu

die individuellen Merkmale der Künstler zu bestim-

geben, hatte das deutsch-polnische Künstlerpaar

men: „Im Kompositionsprinzip gehen beide Künstler

eingeladen.29 Wislicenus und Bibrowicz bezogen

auf den gotischen Wandteppich zurück. […] Trotz der

Räume in der ehemaligen königlichen Sommerresidenz

gemeinsamen Schaffensgrundlage sind die Tempera-

in Schloss Pillnitz bei Dresden und gründeten die

mente der beiden Künstler von prägender charakteris-

Werkstätten für die Bildwirkerei Schloss Pillnitz. Um

tischer Unterschiedlichkeit und äußern sich ganz

die beiden Künstler der Öffentlichkeit vorzustellen,

individuell in ihren Arbeiten. Max Wislicenus ist üppig

organisierte der Sächsische Kunstverein 1920 eine

in der Bewegung, sinnlich in der Farbe. Seine Motive

Ausstellung ihres bisherigen künstlerischen Schaf-

sind phantastisch, symbolisch, sein Aufbau bewegt,

fens.30 In der fast dreißigjährigen Tätigkeit der Pillnitzer

reich gegliedert. Er arbeitet gern in Gegensätzen, spielt

Tapisserie-Manufaktur (mit einer Zwangspause im

Bewegung und Gegenbewegung musikalisch gegenei-

Zweiten Weltkrieg) wurden zahlreiche Webteppiche

nander aus, bevorzugt die Farbendominante: ein Rot,

hergestellt und etliche Weberinnen ausgebildet. In

ein Grün oder ein Gelb schreit und zuckt durch eine

Pillnitz arbeiteten Bibrowicz und Wislicenus nahezu

Arbeit hindurch […]. Wanda Bibrowicz empfindet

gleichberechtigt an den Aufgaben. Je nach Thema

herber. Ihr Ausdruck sucht die letzte Vereinfachung

übernahmen er oder sie den Auftrag und fertigten

der Linie. Ihre Farbgebung ist wunderbar leuchtend,

Entwürfe an, wobei die praktische Ausführung aller

dabei symphonisch klangrein abgestuft. Sie hat

Entwürfe weiterhin Wanda Bibrowicz und ihren

unvergleichliche Tierteppiche geschaffen voll Reinheit

Schülerinnen überlassen blieb.

der Form und Einfachheit des Umrisses, dabei voll

Da die Bildteppichweberei eine sehr kostspielige,

tiefster Nachfühlung der Linien und eines Tierkör-

material- und zeitintensive Kunst ist, war die Werk-

pers.“31 Die subjektive Aussage von Frommer, dass

stätte auf staatliche Unterstützung durch Aufträge

Bibrowicz „herber“ empfindet, scheint hier eine

Die Bildteppichweberei des deutsch-polnischen Künstlerpaares Max Wislicenus und Wanda Bibrowicz

343

Wertung darzustellen, die heute nicht mehr nachvollziehbar ist. Beim Vergleich der Entwürfe der beiden Künstler aus den 1920er Jahren fällt auf, dass die von Wislicenus dynamischer in der Komposition sind als jene von Bibrowicz. Allerdings ist die flächige, kantige und reduzierte Formsprache beiden gemeinsam und beide benutzen damals die starken Farbkontraste, was bei dem Mädchen mit dem Lamm und der Schwerttänzerin zu sehen ist. Der wesentliche Unterschied liegt nach wie vor in der Themenwahl. Bei Wislicenus dominieren allegorische Darstellungen mit menschlichen Figuren in Bewegung, vor allem beim Tanzen. Wiederum kommen Tiere und Pflanzen fast ausschließlich in Arbeiten von Bibrowicz vor und nehmen hier, neben den eher statisch aufgefassten menschlichen Figuren, viel Platz ein. 1931 wurde Wanda Bibrowicz zur Lehrerin der Webwerkstatt an die Akademie für Kunstgewerbe in Dresden berufen. Nach der Machübernahme durch die Nationalsozialisten wurden ihre Bezüge gekürzt und gleichzeitig auch die staatlichen Aufträge gestrichen. Damit geriet die Pillnitzer Werkstätte nach 1933 in existenzielle Schwierigkeiten. Wanda Bibrowicz machte diese Not erfinderisch. Sie erinnerte sich: „Um Geld zu verdienen habe ich den von mir bisher verächtlich als ‚Scheuerlappen‘ bezeichneten Halbgobelin in meinem besonderem Sinne gestaltet und habe kleine Wandteppiche, hauptsächlich mit Tiermotiven, als Muster auf der Leipziger Messe ausgestellt und beliebig oft, je nach Bestellung – die fanden überraschend gute Aufnahme – wiederholen lassen. Die Technik des Halbgobelins bietet zwei Vorteile: man braucht weniger Material und man arbeitet schneller, weil das Gewebte weniger dicht ist […]. Dazu kommt, dass ein öfters wiederholter Entwurf Abb. 5: Wanda Bibrowicz (Entwurf und Ausführung), Das Mädchen mit dem Lamm, um 1925, Wolle und Metallfaden gewirkt, 162 x 79 cm, hergestellt in der Werkstätte für die Bildwirkerei Schloss Pillnitz, heute im Kunstgewerbemuseum Pillnitz, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

344

Katarzyna Sonntag

eine Verbilligung gestattet, so daß der Preis dieser kl. Serien Teppiche es auch minder bemittelten gestattet, sie zu erwerben.“32 Vor allem in den 1930er Jahren wurden in der Pillnitzer Werkstätte nach Bibrowicz̕’

Abb. 6: Max Wislicenus (Entwurf), Wanda Bibrowicz (Ausführung), Schwerttänzerin (Salome oder Judith), 1925, Karton, Pastell auf Papier, 205 x 100 cm, hergestellt für die Werkstätte für die Bildwirkerei Schloss Pillnitz, heute im Kunstgewerbemuseum Pillnitz, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

Die Bildteppichweberei des deutsch-polnischen Künstlerpaares Max Wislicenus und Wanda Bibrowicz

345

Anm erkungen

Entwürfen zahlreiche Halbgobelins mit Papageien, Enten und Fischen hergestellt, deren kommerzieller Erfolg der Werkstätte eine bescheidene Existenz sicherte. Im Zweiten Weltkrieg musste die Pillnitzer Manufaktur wegen Auftragsmangel zeitweise schließen, trotzdem arbeiteten die beiden Künstler weiter.33 Anfang des Krieges war er schon 78 Jahre alt, sie 61. Wislicenus entwarf Webteppiche zum Thema mittel­ alterliche Ritter, wie zum Beispiel der Drachentöter für das Rathaus in Chemnitz.34 Während dessen, schuf Bibrowicz Webteppiche mit religiösen Motiven. (Die Tätigkeit der Pillnitzer Werkstätten in der Zeit des Nationalsozialismus, die bislang kaum erforscht ist, bildet einen Schwerpunkt des Dissertationsprojekts der Verfasserin.) Nach dem Krieg setzte die TapisserieWerkstatt in Pillnitz ihre Arbeit fort, wurde jedoch 1949 endgültig geschlossen. Max Wislicenus galt zu Lebzeiten als einer der ersten Erneuerer der Bildwirkerei. Seine Schülerin Wanda Bibrowicz etablierte sich im Laufe der Zeit zu seiner künstlerischen Partnerin und autonomen Textilkünstlerin. Ihre langjährige Zusammenarbeit wird sehr unterschiedlich bewertet. Bereits Zeitgenossen wie Horst Riemer stellten fest: „Allein hätte Wislicenus das ihm vorschwebende Ziel [die Erneuerung des Bildteppichs] nicht erreicht, wenn er nicht in Wanda Bibrowicz eine Kraft gefunden hätte, die mit hervorragendem handwerklichen Können zugleich auch [eine] starke künstlerische Begabung vereinte. So konnte sie völlig materialgerecht und dennoch künstlerisch frei schaffen.“35 Und Wolfgang Balzer schrieb 1957: „Es ist das Verdienst von Wislicenus, ihre [Wanda Bibrowicz] künstlerischen Fähigkeiten entdeckt und entwickelt und die anfängliche Schülerin zur ebenbürtigen Mitarbeiterin herangebildet zu haben.“36 Die Zusammenarbeit des deutsch-polnischen Künstlerpaares Wislicenus-Bibrowicz war zweifelsohne eine kreative und zugleich schienen beide in gewissem Sinne voneinander künstlerisch abhängig gewesen zu sein.

346

Katarzyna Sonntag

1

Davon zeugen zahlreiche Artikel in der zeitgenössischen Fach-

presse und den Tageszeitungen. Danach gab es bis zur politischen Wende keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Schaffen der beiden Künstler. Die erste monografische Publikation über Wanda Bibrowicz erschien 2001: Ewa Maria Paradowska-Werszler: W kręgu sztuki Wandy Bibrowicz. Im Kreise der Kunst von Wanda Bibrowicz, Wrocław 2001. Erste Ausstellungen gab es 2004 und 2009. Siehe: Życie i twórczość Wandy Bibrowicz. Międzynarodowa Konferencja, hg. v. Marek Liksztet, Emil Mendyk und Przemysław Burchardt, Ausst.-Kat. Muzeum Tkactwa Dolnośląskiego, Kamienna Góra 2004; Rollenwechsel. Künstlerinnen in Schlesien um 1880 bis 1945, hg. v. Markus Bauer, Ausst.-Kat. Schlesisches Museum zu Görlitz, Görlitz/Zittau 2009. Publikationen über Max Wislicenus erschienen erst 2015 anlässlich zweier Sonderausstellungen in Görlitz und Breslau. Vgl. Max Wislicenus. Malarz wrocławskiej secesji / Max Wislicenus. Maler des Breslauer Jugendstils, hg. v. Maciej Łagiewski, Ausst.-Kat. Muzeum Miejskie we Wrocławiu, Wrocław 2015; Kunst zur Kriegszeit 1914–1918. Künstler aus Schlesien zwischen Hurrapatriotismus und Friedenssehnsucht / Sztuka czasu wojny. 1914–1918: Artyści ze Śląska między hurrapatriotyzmem i pragnieniem pokoju, hg. v. Johanna Brade und Tobias Weger, Ausst.-Kat. Schlesisches Museum zu Görlitz, Görlitz/Zittau 2015.

2

Die Kunstwebschule in Scherrebek (1896–1905) gilt als der

erste Versuch, die Kunst der Teppichweberei zu modernisieren. Vgl. Scherrebek. Wandbehänge des Jugendstils, hg. v. Dorothee Bieske, Ausst.-Kat. Museumsberg Flensburg, Heide 2002.

3

Sein Vater Hermann Wislicenus war ein damals geschätzter Hi-

storienmaler und Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie, der 1877–1890 die monumentalen Wandmalereien in der Kaiserpfalz Goslar schuf. Vgl. Siegfried Gehrecke: Hermann Wislicenus 1825–1899, Göttingen 1987.

4

Vgl. Anne-Kathrin Herber: Frauen an deutschen Kunstakade-

mien im 20. Jahrhundert. Ausbildungsmöglichkeiten für Künstlerinnen ab 1919 unter besonderer Berücksichtigung der süddeutschen Kunstakademien,

Heidelberg

2009,

S.  22–52,

https://d-nb.

info/1007430338/34 [Abruf: 20.11.2018].

5

Bereits seit 1900 war er dort als Lehrer für architektonisches

Zeichnen und Kunsttischlerei tätig. Ausführlich zur Geschichte der Breslauer Kunstschule vgl. Petra Hölscher: Die Akademie für Kunst und Kunstgewerbe zu Breslau. Wege einer Kunstschule 1791–1932, Kiel 2003.

6 7

Ebd., S. 94–194. Die Kunstschule in Breslau wird auch „Bauhaus vor dem Bau-

haus“ genannt. Vgl. Hartmut Frank: Ein Bauhaus vor dem Bauhaus. Die Ausbildungsreform an der Königl. Kunst- und Gewerbeschule in Breslau, in: Bauwelt, Bd. 73, 1983, H. 41, S. 1640–1653.

8

Wanda Bibrowicz erinnerte sich später: „Als wir aber 1904 in

Breslau anfingen, da fristet[e] nur noch in Berlin eine solche Manufaktur ein kümmerliches Dasein.“ Wanda Bibrowicz: Vortrag im Kulturbund

am 8. Mai 1949, [Dresden] 1949, S. 1, unver. Typoskript, Kunstgewer-

23

bemuseum Pillnitz, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Nachlass

noszach w XX wieku / Die imposante Landschaft. Künstler und Künst-

Wislicenus-Bibrowicz, Inv.-Nr. 54591.

lerkolonien im Riesengebirge im 20. Jahrhundert, hg. v. Klaus Bździach,

9

Wanda Bibrowicz: o. T. [Änderungsvorschläge für den Aufsatz

Ausst.-Kat. Gesellschaft für interregionalen Kulturaustausch e. V., Ber-

von Horst Riemer von 1947], o. O. [Dresden], o. D. [wohl 1947], o. S.

lin 1999; Carl Hauptmann: Eine Künstlerin, in: Berliner Tageblatt,

[S.  1], unver. Typoskript, Kunstgewerbemuseum Pillnitz, Staatliche

10.7.1912, o. S.

Kunstsammlungen Dresden, Nachlass Wislicenus-Bibrowicz, Inv.-Nr.

24

54591.

leicht voneinander abweichenden Ausführungen – im Nationalmuseum

10

Robert Breuer: Webereien von Wanda Bibrowicz, in: Stickerei-

Vgl. Wspaniały Krajobraz. Artyści i kolonie artystyczne w Karko-

Der Webteppich Heiliger Franziskus existiert heute in zwei farbig

in Warschau (Teppich von 1914) und im Kunstgewerbemuseum in Pill-

Zeitung (früher Tapisserie- und Stickerei-Zeitung). Zeitschrift zur Pflege

nitz, Staatliche Kunstsammlungen Dresden (Teppich von 1926).

künstlerischer Handarbeiten. Zentral-Organ für Künstler, Fabrikanten u.

25

Händler, Bd. 10, 1.3.1910, H. 6, S. 2.

Die Kunst. Monatshefte für freie und angewandte Kunst, 1920, H. 42,

11

S. 312–319, hier S. 314.

Statt mit Farbe und Pinsel arbeitet der Künstler hier mit farbi-

Felix Zimmermann: Die Wandteppiche der Wanda Bibrowicz in:

gen Woll-, Seiden- oder Metallfäden.

26

12

Werszler 2001 (wie Anm. 1), S. 34–37.

Über Technik und Stellenwert der Gobelinwirkerei vgl. Heinrich

Riemer 1947 (wie Anm. 16), S.  5.; siehe auch Paradowska-

S. 1–56. Wanda Bibrowicz hat vor allem auf Hochwebstühlen gearbeitet.

27 28

13

an die Oder“. Die Rolle der Kunstschulen im Künstleraustausch zwi-

Göbel: Wandteppiche, I. Teil, Bd.  1: Die Niederlande, Leipzig 1923, Vgl. Verzeichnis der Schüler; Hölscher 2003 (wie Anm. 5),

Bibrowicz 1949 (wie Anm. 8), S. 3. Vgl. Katarzyna Sonntag: „… im Sommer zum Malen und Baden

S. 449–484.

schen Breslau und Dresden, in: Susanne König, Gilbert Lupfer und Ma-

14

ria Obenaus (Hg.): Drehscheibe Dresden. Lokale Kunstszene und glo-

Vgl. Karl Masner: Das Einfamilienhaus des Kunstgewerbever-

eins für Breslau und die Provinz Schlesien auf der Ausstellung für

bale Moderne, Dresden 2018, S. 54–61, hier S. 59.

Handwerk und Kunstgewerbe in Breslau 1904, Berlin 1905, S. 5–13;

29

siehe auch Hans Poelzig in Breslau. Architektur und Kunst 1900–1916,

37 allein in Sachsen, sowie 31 von 40 Spitzenklöppelschulen. Vgl.

hg. v. Jerzy Ilkosz und Beate Störtkuhl, Ausst.-Kat. Architekturmuseum

Reichs-Handbuch der Universitäten, Akademien und Hochschulen, hö-

Breslau, Breslau, Delmenhorst 2000.

heren und mittleren Schulen, Fachschulen, Berufs- und Gewerbeschu-

15

len des Deutschen Reiches, Teil 1, Düsseldorf 1931, S. 179 f. u. 183 f.

Diese Arbeit wurde in dem Ausstellungskatalog aus Dresden

Noch 1931 gab es in Deutschland 72 Textilfachschulen, davon

(Gobelinweberei) Schloss Pillnitz, Ausst.-Kat. Sächsischer Kunstverein,

30 31

Dresden 1920, S. 11.

Die Kunst. Monatshefte für Malerei, Plastik und Wohnkultur. Sonder-

16

druck. Werkstätten für Bildwirkerei Schloss Pillnitz bei Dresden, Bd. 54,

1920 unter dem Titel Die Pelikane erwähnt. Werkstätte für Bildwirkerei

Horst Riemer: Die Werkstätten für Bildwirkerei Schloß Pillnitz

Ausst.-Kat. Dresden 1920 (wie Anm. 15). Marie Frommer: Die Bildwirkerei der Pillnitzer Werkstätten, in:

von Wanda Bibrowicz und Prof. Max Wislicenus, [Berlin] 1947, S. 2,

1926, S. 126–132, hier S. 127 u. 132.

unveröff. Typoskript, Kunstgewerbemuseum Pillnitz, Staatliche Kunst-

32 33

sammlungen Dresden, Nachlass Wislicenus-Bibrowicz, Inv.-Nr. 54591.

16 17 19

Im Gegensatz dazu wurden andere deutsche Gobelin-Manufak-

Zit. n. Hölscher 2003, (wie Anm. 5), S. 144.

turen, wie die in München (gegr. 1908) oder Nürnberg (gegr. 1941), von

Ebd.

dem NS-Regime stark gefördert. Vgl. Anja Prölß-Kammerer: Die Tapisse-

Max Wislicenus, in: Ausst.-Kat. Dresden 1920 (wie Anm. 15),

rie im Nationalsozialismus. Propaganda, Repräsentation und Produktion.

S. 3 f.

20 21

Bibrowicz 1947 (wie Anm. 9), S. 1.

Facetten eines Kunsthandwerks im „Dritten Reich“, Hildesheim/Zürich/ Riemer 1947 (wie Anm. 16), S. 2. Hervorhebungen durch Riemer.

New York 2000.

Die Schlesier auf der Werkbund-Ausstellung Cöln 1914, Ausst.-

34

Hermann Heuss: Künstlerische Wandteppiche in Chemnitzer

Kat. o. A., o. O., o. D. [1914], S. 5, 7, 12.

Dienststellen, in: Allgemeine Zeitung Chemnitz, 7.5.1942, S. 3.

22

Carola Muysers (Hg.): Die bildende Künstlerin. Wertung und Wandel in

35 36

deutschen Quellentexten 1855–1945, Amsterdam u. a. 1999, S. 41–

nem 100. Geburtstag am 17.  Juli 1957, [Dresden] 1957, o.  S.; Zei-

45, hier S.  43; Wilhelm Lübke: Die Frauen in der Kunstgeschichte

tungsauschnitt im Nachlass Wislicenus-Bibrowicz, Kunstgewerbemu-

(1862), in: ebd., S. 45–49, hier S. 47.

seum Pillnitz, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Inv.-Nr. 54591.

Vgl. Ernst Guhl: Die Frauen in der Kunstgeschichte (1858), in:

Riemer 1947 (wie Anm. 16), S. 3. Wolfgang Balzer: Erinnerung an Prof. Max Wislicenus. Zu sei-

Die Bildteppichweberei des deutsch-polnischen Künstlerpaares Max Wislicenus und Wanda Bibrowicz

347

middle-class clientele, forming a precedent for modern British craft and design that extended beyond their short-lived shop. A hazy monochrome photograph (ill. 1) depicts the gallery, located at 5 Ellis St, London, with its slick lacquered black shop frontage and delicately painted signage. The window is dressed in flowing folds of block printed fabric positioned as the central display. The long serving indispensable shop assistant, Edith

Traces of Lost Modernisms: Repositioning Block Printed Textiles in Interwar London

Flint, described the prominent position of textiles in the shop interior: “Suspended from rails around the showroom of The Little Gallery were lengths of hand block printed materials. Cotton, linen, silk – they were very subtle colours and many designs. The creators of these patterns and colours were Miss P. Barron and Miss D. Larcher, who worked together, and Miss E. Marx who worked by herself. Only the

Lotte Crawford

best quality materials were used, as to put all the hours of hand work into inferior materials would

Following the Late Arts and Crafts Movement

have been a waste of art and time.”2

and Bloomsbury’s Omega workshops, there developed

In this chapter I shall explore the artistic

a number of experimental shop/ gallery hybrid spaces

relations between and the joint practices of Phyllis

in Interwar London that were, for the first time, run

Barron and Dorothy Larcher, and their apprentice

almost exclusively by women. Established in reaction

Enid Marx.3 I will examine their unique synthesis of

to the high-craft Bond Street emporia – which fa-

textile processes before putting their work within

voured traditional wares made by male artists – these

the context of the shop structure. I seek to show

pioneering environments provided essential spaces for

how important it is to include not just the ornamen-

a first generation of professional craftswomen and

tal function of the materials but also the complex

designers to form experimental material practices, to

incorporation of traditional techniques and modern

cultivate creative networks and sell their wares. This

patterning produced by these women within the

chapter elucidates the praxis of a small network of

narrative of emergent modernist cultures between

women practitioners who revived block printing and

1923 and the outbreak of the Second World War in

natural dyeing techniques in the early Twentieth

1939. My analysis shows their material practices of

Century, at the same time establishing the pivotal role

printing, colour, motif and abstraction, to unravel

of one such space in the support and facilitation of

the artistic experimentation of modern and tradi-

handmade modern textiles. From 1928 to 1940 Muriel

tional practices within the emergence of contempo-

Rose and Peggy Turnbull’s1 The Little Gallery displayed

rary design made by women in the cultural climate

the finest handmade craft and design to a savvy upper

of Interwar Britain.

Traces of Lost Modernisms: Repositioning Block Printed Textiles in Interwar London

349

Ill. 1: The Little Gallery Shop Frontage, ca. 1920s, Photographer unknown, Farnham Crafts Studies Centre, Muriel Rose Archive, Accession No. MRA 1217 

The highly documented Bloomsbury Omega

porary and traditional crafts: ceramics by Bernard

Workshops (1916 to 1919) are perceived as an

Leach, Michael Cardew and Shoji Hamada, jewellery by

essential facilitator of domestic modernism and a

Catherine Cockerel, Swedish tableware, English glass,

precursor to the modern craft gallery, yet little research

decorative papers and rugs from Finland, North Africa

has been conducted on the pioneering shop/spaces

and Peru. Yet perhaps the most unique process of

that directly followed their closure. These spaces

hybrid artistic and craft experimentation is evidenced in

formed a distinctly modern approach to the production

the modern block-printed and woven textiles displayed

and sale of artist-made, modern domestic ‘handicrafts’

in the shop, which reveal experimentation with abstrac-

for the British home in a hostile commercial climate

tion, transnational motifs and vegetable dies.

4

during the long-lasting economic following the Great Depression. The toymaker Sam Smith described the Little Gallery proprietor Muriel Rose as a champion of

On Block Pri nt i ng

modern British craft, with “an immediate eye for separating the genuine from the spurious, and [as

350

A textile sample (ill. 2) depicts a classic example of

someone] who had a way of discovering abilities in

Barron’s and Larcher’s geometrical aesthetic. Printed in

people they had not discovered for themselves.”5 Under

iridescent red on luscious cream coloured velvet, the

her patronage the gallery showcased the finest contem-

thickly edged zig-zag forms are replete with fine

Lotte Crawford

Ill. 2: Phyllis Barron and Dorothy Larcher, Sample Book Page, ca. 1920s–1940s, Farnham Crafts Studies Centre, Muriel Rose Archive, Accession No. 2001.1.143

elliptical dots that emphasise the sharp point of the

not only mean something in your patterns, but must

motif. The central form is run through with fine comple-

also be able to make others understand that meaning.”6

mentary lines to invoke a dynamic, rhythmic infinite

Morris had revived wood-blocking in England in the

repeat. “No pattern should be without some sort of

1870s, yet Barron, Larcher and Enid Marx paid little

meaning”, wrote the artist William Morris, “you must

attention to his floral aesthetic, actively rejecting it in

Traces of Lost Modernisms: Repositioning Block Printed Textiles in Interwar London

351

favour of highly abstract motifs. Instead they reinter-

found in ethnographic collections, including Polynesian,

preted the practice as a form of personal artistic

Oceanic and Native American collections held in the

exploration of abstract pattern and experimental form.

Museum of Mankind by the British Museum.

Despite the lack of an explicit written manifesto by Barron, Larcher or Marx, there are discernible

flourished alongside emergent Modernism during the

aesthetic principles to be found within their process,

1910s and 1920s,” and was a time of great diversity and

stylisation and pattern-forms. Alan Powers notes that

innovation in pattern design, before the entrenchment

“the fact that all three women designers were origi-

of Bauhaus and before Le Corbusier’s ideas came to

nally painters and continued to paint and observe

dominate avant-garde discussions.12 Yet the intersec-

nature with a painter’s eye is important as they were

tion of design and artistic impact in textiles displaying

not creating patterns in the isolation of a workshop or

principles of modernist abstraction has been systemati-

studio.” In acknowledging their unique synthesis of

cally overlooked.13 Processes associated with domestic-

techniques, their contemporary, the artist Paul Nash,

ity and sensual ‘softness’, are historically perceived as

noted that “the artists are not painters” but that “it

feminine and a ‘natural’ extension of women’s roles in

would scarcely be feasible for a painter to follow his

the home. And they are seen as contradictory within

own work and devote the time necessary for such

the binary conception of modernism, described by

complete autographical expression in another medium”.8

Hazel Clark as “predicated on polarized oppositions

Yet each had been educated in painting, and experi-

where the masculine was always superior to the

mented with abstraction9 in the techniques which they

feminine, rationality over intuition, culture over nature,

directly applied to printing on cloth. In 1984 Isabelle

function over decoration, progress over tradition, public

Anscombe acknowledged that “although women

over private, production over consumption, and design

designers contributed little to the theoretical writings

equated male over female.”14 Female artists are repeat-

on modern design, their practical influence was

edly associated with organicism, in the view epitomised

enormous”. Furthermore “it was women who re-inter-

by Sherry Ortner, that “female is to male as nature is to

preted Cubism and other forms of abstraction for use

culture.”15 Later the language of natural versus geomet-

in the home and in fashion design; who for the first

ric shapes will be explored in relation to the modernist

time, went outside European culture to find patterns

terms of ‘biomorphism’. Yet, it is important to emphasise

and colour combinations; and who remained true to

the qualities of tactility and abstraction displayed in the

their theoretical ideals while bringing colour and

geometrical patterns created by Barron, Larcher and

pattern into line with modern architecture.”11 In

Marx. For their composite praxis of designing, blocking,

addition to their extensive collections of French and

printing and dyeing textiles represents a critically

Indian blocks, Barron and Larcher derived a sense of

overlooked but essential contribution of experimenta-

rhythmic geometry from the visual languages of

tion with abstraction ­by women in the Interwar period.

Vorticism and African patterns, whilst Marx primarily

Furthermore, their repeating patterns engaged with

engaged with Charles-Édouard Jeanneret (Le Corbusier)

those deeper modes of sensorial abstraction and

and Amédée Ozenfant’s Platonic geometrical forms

modernist experimentation that are found within

described in La Peinture Moderne (Paris 1925), as well as

displays of abstract painting historically associated with

global forms of popular art, and non-Western materials

orthodox modernist credo.

7

10

352

According to Leslie Jackson “rampant decoration

Lotte Crawford

On Ab s traction and Su pe rs e n suality Muriel Rose retained and filed every newspaper cutting that mentioned her shop or the artist/craftsmen that she championed within it. Among her papers, a cutting in her archive directly illuminates the potency of this genealogy of British women designers within the contemporary vernacular of early modernist critical thought. Significantly, the article conceptualises the modern woodblock textiles in the terminology of artistic practice, whilst providing a concrete connection between these textiles and Fry’s archetypal writings on modernism that mark a pivotal moment in the canonical polemic of modernism and transcenden-

Ill. 3: Phyllis Barron and Dorothy Larcher’s Workshop, ca. 1920s, Photographer unknown, Farnham Crafts Studies Centre, Muriel Rose Archive, Accession No. 78

talist abstraction. Writing on the ‘ambience’ of Phyllis Barron and Dorothy Larcher’s “Hand Printed Stuffs” for Vogue in April 1926, the artist and critic Roger Fry

their work is in their application of haptic process, in

described the quality of abstraction in their fabrics

the artists “close contact with the changes the material

with admiration. He preferred the “simple geometric

undergoes.” Fry refers to the unique quality of their

patterns” over the more “complex arabesques”,

praxis as displaying “the magic hand of chance”17,

describing the overall repeat as containing a “richness

which allows for unpredictable textural effects within

of matière [his emphasis]”, which “tends to get de-

the technical approach to dyeing and blocking.

stroyed in the ordinary processes of manufacture”.16 The text itself has an arch tone displaying,

This description of the modern block-printing process provides an essential argument for a critical

characteristically, contradictory thoughts on the poor

re-materialisation of Barron and Larcher’s work within

quality of mass production and the restrictive limits of

these contemporary definitions of modernist abstrac-

design as a practice for artists, as well as hierarchical

tion and sensorial tangibility. Fry suggests that the

language on the position of ‘pure art’ over ‘applied art’.

“artist himself carries his design through from its first

Yet, in critically articulating elements of the production

conception to its realisation in the very fiber of the

process of Barron and Larcher’s hand-blocked textiles

material. Miss Barron and Miss Larcher draw their

Fry meticulously describes a “quality of preciousness”

designs, cut their blocks, prepare their dyes, print the

visible in their textiles, within his terminology of

materials themselves.”18 This modulation of pressure

modernist abstraction. Their materials are described as

and contact of the hand on the block, and inked block

conforming to notions of optical ‘purity’, and Fry talks

to fabric, is noted by Fry as the essential factor in the

at the same time of tangible embodiment within the

artistry of the work, even more so than their refined

blocking process and the existence of designed

quality of geometrical abstraction. It is the sur-

commodities. He suggests that the special quality of

face-quality, the applied block to the material plane

Traces of Lost Modernisms: Repositioning Block Printed Textiles in Interwar London

353

that is essential to the perception of textile production

theories of spirit” together, connecting notions of

as artistic practice. He suggests that the experimental

memory and image generation – as a form of affective

nature of the dyeing blocking process, and the infinite

material embodiment, perceiving “the body as a centre

combination of colour, wood-blocks and motifs

of action.” Memory is linked to creative duration and

distinguishes the work from “ordinary manufacture”

to physical repetition, where the surface of an object is

when “every precaution is taken to avoid such acci-

“the common limit of the external and the internal” for

dents, and when they occur the faulty object is

it “is the only portion of space which is both perceived

ruthlessly scrapped; but they supply the artist with his

and felt.”20 Human memory is more than a receptacle,

happiest material.” The flat ground of the textile may

it conjoins the past and present, whilst also function-

be worked and reworked with textured pattern,

ing in an inventive and creative capacity.

19

discharge dyeing techniques and the base colour of the material. In illustration 3, Barron and Larcher’s

textile process as operating within Fry’s definitions of

assistants are block printing in their Painswick studio.

the optically ‘supersensual’. This Bergsonian reading

The arduous nature of the work is palpable: the

now enables a deeper exploration of this form of

painstaking application of the individual block to the

modern wood blocking. Here it contains temporal

flat length of fabric.

repetition, the sensuality of touch through the modu-

Located within modernist concepts of ‘supersen-

354

We have framed Barron, Larcher and Marx’s

lation of the wood block, and the manifestation of the

suality’, Fry’s terminology relates the physical and

image (or in this case, the textile pattern), which allows

emotional qualities embodied within Barron, Larcher

for a deeper understanding of their inherent complex

and Marx’s shared processes of designing, carving,

process and creation of form. For Fry, the material

dyeing and blocking to the early modernist credo.

conditions of the women’s block printing process

He argues that their fabrics express the tangible

demonstrate a type of memory that exists within the

quality of ‘matière’ (material). The technical usage of

pattern and their temporal wood blocking process.

‘matière’ to describe the textiles provides an essential

Furthermore, he applies the notion of a temporal

ontological point through which to explore this

co-existence of past and present imbued within the

particular form of shared material practices in meta-

material and the wood blocked “impression” of motif

physical terms. It illuminates the quality of abstraction

that is “vastly enriched and modulated by our vague

applied to the fabrics as special and distinct from other

consciousness.” The print is overdyed with several

forms of mass-produced design, and artistic abstrac-

patterns and colours which imbues its material lengths

tion, and it reveals this interdisciplinary process, at a

with transcendental aesthetic “value”.21 Fry’s recogni-

fundamental level, as a distinctive form of art and

tion in 1926 of the sense of bodily materiality within

design praxis. This terminology of the ‘matière’ is

their praxis, as well as in the production of the motif,

drawn from Henri Bergson’s definition of gestural

locates these materials in the language of affective

dynamics in Matière et Mémoire (1896). In that work

sensuality. It moves this discussion beyond any notion

matter is imbued with Bergson’s philosophical treat-

of these materials as ‘merely’ decorative imitators of

ment of memory, of spiritual qualities embodied within

art, revealing the fundamental level at which there is a

pure perception in an organic, physical and essentially

complex synthesis of artistic process at play within the

temporal sense. Bergson drew the “matter and

textiles.

Lotte Crawford

On Col o ur

for dyeing to be reinstated as a craft, exploring the experience of living with colour and the positive

When Geoffrey Grigson coined the term ‘biomor-

variation of colours produced by natural process

phism’ – combining ‘bios’(‘life’) and ‘morphe’(‘form’) –

through a manual that explicitly demonstrated how to

the point was to distinguish abstracted visual language

collect, make pigment, and dye with vegetable materi-

that contained a sense of organicism from ‘pure’

als procured from lichen, bark and flowers, fasted with

geometricity. The art historian and the first director of

copper and soaked into hand-spun materials made of

the Museum of Modern Art in New York, Alfred H.

cotton, flax and wool.23 Working contemporaneously

Barr Jr., subsequently used the term in his canonical

with Mairet in the 1910s, Phyllis Barron had discovered

catalogue Cubism and Abstract Art to demonstrate the

dyeing recipes through independent research which

incompatibility of the two visual strands of modernism.

she shared with Larcher and later Enid Marx, accessing

His thinking formed a critical duality between the

archives at the patent office and in the British Library

“intuitional and emotional rather than intellectual;

through the eighteenth-century handbook of Edward

organic or biomorphic rather than geometrical in its

Bancroft’s Philosophy of Permanent Colour. Barron used

forms”.22 Barr’s resistance to organicism was an objec-

the text to accumulate dyeing techniques through trial

tion to the ‘emotive’ qualities in art. Modern art, he

and error. But she was also critical of the publication

suggested, could either be emotive and natural, or

“finding inaccuracies […] by then she had taught herself

rectilinear and scientific. Within this reading of mod-

indigo discharge and dyeing with cutch and iron to

ernist abstraction, the organic is presented as the

yield a brown and a black.”24

nearly-abstract, but the geometrical shape is ‘purely’

Shared knowledge of dying processes between

abstract. His doctrine utilised the imagery of the square

Ethel Mairet, to Phyllis Barron and Dorothy Larcher

versus the vegetal rounded shape. This plays into the

and through them to their student, Enid Marx, present

dominant narratives of American and German moder­

a clear example of women’s artistic networks of this

nisms – particularly in hegemonic masculine modes of

period as forming a supportive mechanism and

artistic expression, such as are evident in the clear lines

facilitating modern and traditional artistic practices.

and minimal detailing of architectural modernism.

Barron wrote to Mairet in response to her text, which

Barron, Larcher and Marx’s patterning of the 1920s

led to a correspondence, including textile samples.

and 1930s engaged with both visual modes. Yet, there

Barron noted that Mairet “thought she could help me,

is an alternative reading of the geometrical repeated

and was having an exhibition in London very shortly

shape in the context of textiles produced with colour

and would I come and bring everything that I had

dyes – which were literally produced by the treatment

done” encouraging her to sell her textiles inviting her

of natural materials gathered from the landscape.

to stay for “dye weeks in which she asked people to

The shared vegetable dyeing practices used by

come and dye stuff for her to weave.”25 The close

Barron. Larcher and Enid Marx exhibit a further

connections between these women are suggested by a

sensorial experimentation with colour. An overlooked

jacket made for Muriel Rose with wool died and woven

figure in her own right, the weaver Ethel Mairet’s A

by Mairet (ill. 4). The jacket was constructed from

Book on Vegetable Dyes (1916) profoundly affected the

loosely woven eri silk, which had formerly been

colour principles of the block printers. The text called

exhibited as an exemplary length of fabric at the Paris

Traces of Lost Modernisms: Repositioning Block Printed Textiles in Interwar London

355

Ill. 4: Ethel Mairet, Muriel Rose’s Jacket, ca. 1920s, Farnham Crafts Studies Centre, Muriel Rose Archive, Accession No. T.74.7

356

International Exhibition of 1925. The boxy utilitarian

(1925 to 1927) Enid Marx continued to implement the

shape of the garment, replete with neat Indigo woven

dyeing techniques for the following sixteen years of

collar and cuffs and delicate contrasting pockets, is

independent practice. She noted that “when I first

offset with the joyful application of colour – woven

started, I was reacting against the garish colours used

ribbons of yellow, green, red, brown and blue stripes.

in mass production: I liked the range that could be

After applying a fusion of Mairet, Barron and

obtained by using the old fast vegetable and mineral

Larcher’s practices during her short apprenticeship

colours, Indigo, Quercitron, Madder red and Walnut,

Lotte Crawford

Ill. 5: Enid Marx, Fishnet, ca. 1920s, Farnham Crafts Studies Centre, Muriel Rose Archive, Accession No. TS.76.51 

Ill. 6: Phyllis Barron and Dorothy Larcher, Table setting featuring block printed cloth and lengths, The Little Gallery, November 1938, Farnham Crafts Studies Centre, Muriel Rose Archive, Accession No. MRA 1198

Iron Black and Buff”.26 Marx described her professional

some hours with a special steamer to drive the dye

practice as retaining a domestic quality27 due to

well in. Then you wash it again, dry it, and probably

practical necessity – materials were handmade, using

iron it the next day.”29

rudimentary tools and available natural materials that

In The Little Gallery Barron, Larcher and Marx’s

yielded extraordinary qualities of pattern, texture and

patterns were provided space to be displayed and sold,

experimentation with colour. This process of

and they were set against other forms of craft, often

“over-printing, discharging or printing with resists”, she

forming a textural backdrop for the displays. Yet it is

believed, gave her the freedom to “exploit all sorts of

important to note that Muriel Rose supervised The

qualities that it would not have been feasible to do any

Little Gallery with a distinct set of aesthetic principles:

other way”.

it was distinctly not a gift shop. In fact, the space was

In creating an angular sense of motif, charged with a

formed to maintain a sense of the domestic in a public

dynamic sense of touch she found it “exciting to

gallery and shop, which would reveal an alternative

experiment directly on the cloth”.28 The composite

engagement with modern aesthetics and qualities of

traditional process of natural dyes and geometric style

optical abstraction in functional objects. She saw the

is depicted in Fishnet (ill. 5) which depicts a sample of

display of craft materials as “an exhibit showing

galled cotton dyed in iron and printed with muriate of

domestic objects” which “does not present the barrier

tin to discharge the design that is comprised of

of strangeness many feel in regard to modern paint-

rhythmic interlacing triangles that enmesh to form the

ing”, and that, in fact, a collection of functional objects,

undulating repeat. The physical construction of the

arranged in groups and rooms “closely related to the

textile is put into perspective when, following the

daily life of visitors of every sort”.30 This space and its

blocking and dyeing process, she perceived “sixteen

contents, therefore, provided an alternative engage-

yards a good day’s work. And it’s not finished when

ment with modern abstract pattern and shape – which

you have the colours. You must steam the fabric for

she claimed – offered an alternative, gentler but

Traces of Lost Modernisms: Repositioning Block Printed Textiles in Interwar London

357

nonetheless engaging quality of abstraction and

Vincentelli notes that Rose’s principles “were consist-

contemporaneous forms of modernism made available

ent with a modernist philosophy of pure form, egalitar-

to the public than painting or sculpture. The table

ian ideals and arts and crafts moralism”.33 This hybrid

setting (ill. 6) presents the textile in its intended

space with its domestic aestheticism encouraged the

domestic context yet each object on the table contains

customer to think of the home as a gallery, and design

a similar intensity of creative process: the arrangement

as a contribution to and enhancement of lived experi-

includes hand-thrown British Slipware by Michael

ence that was radical at its time. The unique forms of

Cardew, fine English glassware and stoneware bottles

artistic practice cultivated by Barron, Larcher and

by Bernard Leach, and it is underpinned by a delicately

Marx, were essentially supported by The Little Gallery

chequered table-cloth produced by Barron and

as they commissioned the textiles, held mixed and

Larcher.

solo-shows, acted as a London agent for its craftspeo-

31

When examining the position of modern textiles

Ultimately, it was Rose’s aesthetic choice and unwa-

unravel. The critical values inherent in the displays

vering commitment to craft process and experimenta-

which Muriel Rose orientated and curated reveal her

tion that enabled Marx, Barron and Larcher to con-

critically hybrid approach to traditional processes and

tinue to develop their unique exploration of abstract

contemporaneous aesthetics in the early Twentieth

form, colour and material texture in the interwar

Century, and they relate to a complex interlacing of

period, and to gain the artistic skills to create the

craft, design and pictorial exploration. Indeed, Moira

finest modern patterns.

32

358

ple, and actively sought press coverage for their work.

within the materiality of this space we find more to

Lotte Crawford

1

Note s

14

Muriel Rose was the creative director the shop, whilst Peggy

p. 239.

Hazel Clark, ‘The Difference of Female Design’, in Design Stud-

ies: A Reader, eds. H. Clark and D. Brody (London: Bloomsbury, 2009),

Turnbull handled the accounts.

15

2

Woman, Culture, and Society, ed. M. Z. Rosaldo and L. Lamphere (Stan-

Edith Flint, ‘Some Notes on The Little Gallery’, Muriel Rose Ar-

chive, (Crafts Studies Centre, Farnham, Muriel Rose Archive, 1978), 934.

3

For further scholarship on Enid Marx see Alan Powers, Enid

ford, CA: Stanford University Press, 1974), pp. 67–87.

16

tance and Submission, Warp and Weft: Unravelling the Life of Ethel Mairet’, Textile: The Journal of Cloth and Culture, no. 3 (2005): pp. 292–

p. 111.

Artmonsky and Brian Webb, Enid Marx: Design (Woodbridge: Antique Collectors’ Club, 2013). For Ethel Mairet see Kirsty Robertson, ‘Resis­

Roger Fry, ‘Hand Printed Stuffs by Phyllis Barron and Dorothy

Larcher’, Vogue (April 1926), p. 68 f.

17 18 19 20

Marx: The Pleasures of Pattern (London: Lund Humphries, 2018); Ruth

Sherry B. Ortner, ‘Is Female to Male as Nature is to Culture?’, in

317. For Barron and Larcher see Michal Silver and Sarah Burns, Barron

21

& Larcher Textile Designers (Woodbridge: ACC Art Books, 2018). For

p. 69.

Ibid., p. 96. Ibid. Ibid. Henri Bergson, Matière et Mémoire (London: Bloomsbury, 2002), Fry, ‘Hand Printed Stuffs by Phyllis Barron and Dorothy Larcher’,

Muriel Rose and Interwar textiles see Hazel Clark, ‘Printed Textiles:

22

Artist Craftswomen 1919–1939’, Ars Textrina, no. 10 (December 1988):

­Museum of Modern Art, 1936), p. 19.

Alfred H. Barr Jr., Cubism and Abstract Art (New York: The

pp. 53–70.

23

4

las Pepler, 1916), pp. 1–11. For dying and weaving in the work of the

For the Omega Workshops see the contribution of Ina Ew-

Ethel M. Mairet, A Book on Vegetable Dies (Hammersmith: Doug-

ers-Schulz in this volume.

German artists Maria Marc see the contribution of Susanna

5

Baumgartner in this volume.

Kate Woodhead, ‘Foreword’, in Muriel Rose: A Modern Crafts

Legacy, ed. J. Vacher (Farnham: Crafts Study Centre, 2006), pp. 3–5.

24

6

­Haven: Yale University Press, 1999), p. 49.

William Morris, ‘Hopes and Fears for Art’ (first published 1882)

Tanya Harrod, The Crafts in Britain in the 20th Century (New

(accessed 12 September 2018).

Centre, Farnham, Robin and Heather Tanner’s Barron and Larcher col-

7

lection 1926–1974, undated), BLB/2, 2002/13/2.

Alan Powers, Modern Block Printed Textiles (London: Walker

Books, 1992), p. 38.

8

Paul Nash, ‘Modern English Textiles’, The Listener (27 April

Artmonsky and Webb, Enid Marx: Design, p. 12. Particularly in regards to washing, ironing and steaming the

fabric, which took several days to complete

1932), p. 607.

9

26 27

Phyllis Barron, ‘Typed Manuscript’ (unpublished, Crafts Study

Indeed, Marx had failed her Royal College of Art exam for pro-

viding a painting that was “too modern, too abstract”. Artmonsky and

28

Enid Marx, ‘Recollections’, Marx’s Artists Papers Archive, (Victo-

ria & Albert Museum Blythe House, undated), AAD/2007/3/1234.

Webb, Enid Marx: Design, p. 11.

29

10

A London Craftswoman’s Fascinating Art’ The Evening News (7 July

Barron was educated at the Slade School of Art, Larcher at

Hornsey College of Art and Enid Marx at the Central School and the

Sylvia Ouston, ‘Flower Dyeing and Hand-printing Fabrics:

1930), p. 17 f.

Royal College of Art, London where her peers included Henry Moore,

30

Barbara Hepworth and Eric Ravilious.

Crafts Study Centre’, in Muriel Rose: A Modern Crafts Legacy, ed.

11

J. Vacher (Farnham: Crafts Study Centre, 2006), p. 39.

Isabelle Anscombe, A Woman’s Touch (London: Virago Press,

1984), p. 14.

12

Lesley Jackson, Pattern Design (Princeton: Princeton Architec-

31 32

Jean Vacher, ‘A Modern Crafts Legacy: Muriel Rose and the

Ibid., p. 39. A promotional leaflet (designed by Edward Bawden for The

tural Press, 2001), p. 126.

­Little Gallery) reads that, as well as block printed textiles, they simulta-

13

With the exception of focused Art Historical scholarship on

neously displayed: traditional Welsh and English quilts, stoneware by

textile abstraction and the Bauhaus weaving school, see Anni Albers, ed.

the St Ives potter Bernard Leach, and his apprentices Norah Braden and

Briony Fer, Maria Müller-Schareck and Ann Coxon, exh. cat. Tate Mod-

Katherine Pleydell-Bouverie, Italian and French pattern papers, Swed-

ern, London (London: Tate Publishing, 2018). For Design History on

ish glassware, and Mexican rugs, Muriel Rose Archive, (Crafts Studies

modern British textiles see Powers, Modern Block Printed Textiles and Jill

Centre, Farnham, Muriel Rose Archive, undated), 902.

Seddon and Suzette Wordon ed., Women Designing: Redefining Design

33

between the Wars (Brighton: University of Brighton, 1994).

chester: Manchester University Press, 2000), p. 182.

Moira Vincentelli, Women and Ceramics: Gendered Vessels (Man-

Traces of Lost Modernisms: Repositioning Block Printed Textiles in Interwar London

359

künstlerische Gestaltungsformen in Textil zu entwickeln, um damit dem Handwerk zu neuer Wertschätzung zu verhelfen. Die Web- und Knüpfarbeiten von Lisbeth Bissier sind in der kunst- und textilgeschichtlichen Forschung in Vergessenheit geraten und wurden bisher wenig im Zusammenhang mit anderen Kunstschaffenden der Moderne analysiert.2 Neben ihren Damasten sind im Œuvre von Lisbeth Bissier vor allem farbige

Textile Koproduktionen von Künstlerpaaren der Moderne: Die Webund Knüpfarbeiten von Lisbeth und Julius Bissier

Knüpf-teppiche mit künstlerischen abstrakten Formen zu finden, die nach eigenen Entwürfen und in Kooperation mit ihrem Ehemann entstanden sind. Julius Bissier, selbst als Maler tätig, fertigte Vorlagen aus zeichenhaften Flächen und Formen, die Lisbeth in eigener Komposition in ein anderes Medium – den Knüpfteppich – übertrug. Welche formalen Überschneidungen finden sich zwischen malerischem Entwurf und fertiggestelltem Teppich? Inwiefern kann behauptet werden, dass das Künstlerpaar Inspiratio-

Helene Roth

nen für das eigene Werk aus der gemeinsamen Kooperation schöpfen konnte? Anhand technischer

„Di e Ar b eit muß heute expe r i m e ntell sein“

sowie kultur- und kunsthandwerklicher Kriterien des Knüpfens wird der transformative Vorgang vom Entwurf in die textile Arbeit als auch der Stellenwert

Künstlerisch gestaltete Textilien haben einen

von Tradition und Handwerk in diesem Beitrag

Ursprung in den textil- als auch kunsthistorischen

analysiert. Die Einordnung in den kunstgeschichtlichen

Veränderungen des frühen 20. Jahrhunderts. In dieser

Kontext klärt außerdem, welchen Status textile

Zeit wandelte sich die Bedeutung des Textilen, da es

Medien im kooperativen Arbeiten von Künstlerpaaren

nicht mehr als reines kunsthandwerkliches Produkt,

in der Moderne besitzen.

sondern als Kunstobjekt anerkannt wurde. 1924 proklamierte die Bauhaus-Weberin Anni Albers: „Die Arbeit muß heute experimentell sein.“1 Die Künstlerin arbeitete sowohl mit dem Medium wie

Di e Knüpf tep p i che z w i schen Tra di t i on und Ha ndwerk

auch der Technik des Webens und experimentierte mit der Verbindung von Kunst und Textil. Doch auch

Lisbeth Bissier baute sich 1939 nach dem

andere Künstlerinnen der Moderne, wie beispielsweise

Studium an der Textil- und Modeschule in Berlin ihre

Lisbeth Bissier, versuchten im 20. Jahrhundert durch

eigene Handweberei mit angeschlossener Spinnerei

das Zusammenspiel unterschiedlicher Medien neue

und Färberei in Hagnau am Bodensee auf.3 In der

Die Web- und Knüpfarbeiten von Lisbeth und Julius Bissier

361

Abb. 1: links: Julius Bissier, Entwurf für Knüpfteppich, 1954, Aquarell auf Tinte und Büttenpapier, 55 x 28,5 cm, signiert, datiert und bezeichnet; rechts: Lisbeth Bissier, Entwurf für Knüpfteppich, 1954, Aquarell auf Millimeterpapier, 55 x 26 cm, Archivio Bissier, Ascona

362

Nachkriegszeit fertigte sie künstlerisch gestaltete

Beispiel für diese gesehen (Abb. 1, 2). Mit der klaren

Damaste, die ab 1951 in Entwurf und Ausführung von

personalen Trennung der Arbeitsschritte in Entwurf

Knüpfteppichen mündeten. Nachfolgend wird die

und Ausführung griff Lisbeth Bissier auf die traditio-

dreiteilige – aus Entwurf, Werkzeichnung und Knüpf-

nelle Teppichwebkunst zurück.4 Ihre Kenntnisse und

teppich bestehende – Werkgruppe, die von Julius und

Erfahrungen alter Webtraditionen verschiedener

Lisbeth Bissier gefertigt wurde, als exemplarisches

Kulturen veranlassten sie außerdem, mit der Praxis des

Helene Roth

Knüpfens zu beginnen.5 Das Weben bildet die Ausgangsbasis für die Knüpftechnik, bei der verschiedene Fäden mit Hilfe eines Teppichknotens in ein Grundgewebe eingearbeitet werden. Ein Knüpfteppich setzt sich aus Kette, Schuss und Flor zusammen. Die Kette ist längs über den Webrahmen gespannt und bestimmt die Länge des Teppichs. Der Schuss besteht aus ein oder mehreren zur Kette quer gezogenen Fäden, der beim Knüpfen durch die Kette hindurchgeführt wird. Anschließend wird der Schuss mit einem Anschlagkamm aus Eisen und Holz nach unten in das Gewebe geklopft. Dieser Vorgang wird nach jeder beendeten Knotenreihe durchgeführt. Kette wie Schuss bilden das Gerüst des Teppichs und sind für dessen Struktur, Stabilität und Qualität verantwortlich. Durch das Einknoten von Woll- oder Seidenfäden entsteht der Flor, der eine dritte Dimension des Teppichs bildet.6 Daraus ergibt sich ein wesentlicher Unterschied zu einem Gemälde, das nur aus zwei Dimensionen besteht. Die technische Erklärung verdeutlicht, dass dem Knüpfen ein zeitintensiver Entstehungsprozess zu Grunde liegt, der äußerste Konzentration erfordert. Durch die genau vorgegebene Abfolge von Kette und Schuss unterliegt die Herstellung eines Knüpfteppichs einem geregelten Prinzip. Sowohl die langwierige Herstellungsdauer als auch die gestalterische Ordnung differenzieren sich von der Malerei, deren Entstehungsprozess variabel sein kann. Dabei ist es den Kunstschaffenden selbst überlassen, ob das Bild

Abb. 2: Julius Bissier (Entwurf), Lisbeth Bissier (Ausführung), Knüpfteppich, 1954, Wolle, 210 x 110 cm, Archivio Bissier, Ascona

geplant oder intuitiv und spontan gestaltet wird. Neben der Knüpftechnik spielt das Material eine wichtige Rolle für die Qualität des Teppichs.7 Lisbeth Bissier verwendete für ihre Knüpfteppiche handge-

Florlänge zugeschnitten. Somit ist es wichtig, dass die

sponnene Garne aus einer Mischung von Wolle und

Garne gleichmäßige Farbtöne aufweisen. Aus diesem

Mohair.8 Zudem hatte für sie die Wahl der Farben eine

Grund färbte sie die Teppichwolle eigenhändig, um

zentrale Bedeutung, „da die Wolle im Schnitt weit

eine einheitliche Farbgestaltung zu erreichen. Mit der

größere Farbnuancen aufweist als im Strang“9. Die

eigenen Herstellung bestimmte sie selbst die Qualität

Wolle wird bei der Knüpftechnik auf die gewünschte

des Materials und Teppichs.

Die Web- und Knüpfarbeiten von Lisbeth und Julius Bissier

363

Die Konzentration auf handwerkliche Qualitäten

die sich zu immer farbigeren geometrischen Elemen-

ist auch in den Arbeiten ihres Mannes zu entdecken,

ten wandelten. Nach dem Aquarellentwurf skizzierte

der vor allem in den Miniaturen die Mehrzahl seiner

die Künstlerin die Werkzeichnung (Patrone), um diese

Malutensilien wie beispielsweise Bildträger, Pinsel und

anschließend in einen Teppich umzusetzen (Abb. 1,

sogar die Farbmischung selbst produzierte (Abb. 4).

2). Über diesen Vorgang schreibt Lisbeth Bissier: „Bei

Nicht zuletzt durch das Arts und Crafts Movement ist

den geknüpften Bildteppichen ist nicht allein der

diese handwerkliche Ausrichtung in einem Zeitalter, in

Entwurf ausschlaggebend. Die Übertragung in die

dem die maschinelle Produktion von Stoffen, Garnen

Werkzeichnung, die Patrone, kann nur von einfühlen-

und Malmitteln längst entwickelt war, erklärbar.

der Hand und nie von Außenstehenden vollzogen

Angesichts von expandierender Industrialisierung und

werden. Hier geschah es durch mich im Einverneh-

Mechanisierung wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts

men mit Julius Bissier, der die Patrone prüfte. In

eine Rückbesinnung auf die handwerklichen Qualitä-

einem Fall wurde ein Bissier-Entwurf von einem

ten und eine engere Zusammenarbeit zwischen dem

Pariser Atelier übernommen. Die Ausführung ließ

Handwerk und der Kunst gefordert. Der wiederge-

kaum noch etwas von ‚Bissier‘ erkennen. Die Farb-

wonnene Stellenwert von Material und handwerkli-

skala war falsch übersetzt, die Formen waren

chen Gestaltungsformen prägte im Kontext der

verändert und damit völlig entstellt worden.“15

10

11

allgemeinen Veränderungen des Textilhandwerks die

Durch diese Aussage wird ersichtlich, dass die

darauffolgenden Jahrzehnte. Es ist anzunehmen, dass

Transformation von der Patrone zum Teppich einige

auch Lisbeth und Julius Bissier diese Tendenzen

Herausforderungen beinhaltete. Insbesondere

aufgriffen.

achtete Lisbeth Bissier auf die entwurfsgetreue

12

Übersetzung der Farben als auch Formen. In einem

Bi lder werden zu Tep p ich en

weiteren Schritt erforderte die Umsetzung des kleineren Entwurfs in den großformatigeren Teppich ebenfalls technisches Können. Diese Transformation

Neben dem Handwerk legte das Ehepaar

schen Version zum Entwurf vollbracht. Herbert Pée

zess der Knüpfteppiche. Zeitgleich zur Entwurfstätig-

verwendet für ihre geknüpften Arbeiten den Begriff

keit beschäftigte sich Julius Bissier mit farbigen

der „Bildteppiche“16. Damit ist gemeint, dass durch

Monotypien, Holzschnitten sowie Aquarellen, die

die Verwendung abstrakter bildhafter Motive der

anfangs ostasiatische Schriftzeichen und später

ursprünglich durch Muster geprägte dekorative

abstrakte Elemente enthielten. Der Vergleich von

Aspekt verschwinde und eine neue Art des Teppichs

Bissiers Entwurfsarbeiten und seiner freien Werke

entstehe. Die Form werde zu einem organisch

zeigt formale und ästhetische Gemeinsamkeiten. Für

wirkenden Bildgefüge auf Textil.17 Die farbigen

den Maler Bissier erschien der Knüpfteppich als

Elemente scheinen aufgrund der Mehrdimensionali-

geeignetes Ausdrucksmittel, um die reduzierten

tät des Teppichs einen Zustand des Schwebens

abstrakten Formen seiner Bilder in einen Teppichent-

einzunehmen und ihre eigene Wirkung zu entfalten.

wurf zu übertragen.14 Gleichzeitig finden sich auch im

Die Neuinterpretation des Knüpfteppichs als nicht

Frühwerk von Lisbeth Bissier ostasiatische Symbole,

mehr rein handwerkliches und gebrauchsorientiertes

13

364

wurde von Lisbeth Bissier in einer nahezu identi-

außerdem besonderen Wert auf den Gestaltungspro-

Helene Roth

Produkt, sondern textiles Kunstwerk, entsprach auch

Bissier-Teppiche wurden bis heute nur in je einem

dem Verständnis von Lisbeth Bissier, die „alles nur

einzigen Stück gewebt und daran wird sich kaum

dekorativ Bestechende immer wieder auszuschalten

etwas ändern.“26

versucht[e]“18.

Als eine weitere Vertreterin dieses Ansatzes ist Anni Albers zu nennen.27 Trotz ihrer anfänglichen Abneigungen gegenüber dem Textilen experimen-

De r Te ppich als Kunst der Mod e r n e

tierte Albers in der Weberei am Bauhaus frei und inspirativ mit Materialen und Techniken. Indem sie Wolle, Fäden und Webstuhl äquivalent zu Pinsel,

Der von Lisbeth Bissier vertretene Standpunkt

Farbe und Leinwand verwendete, setzte sie ihre

lässt sich in die kunstgeschichtlichen und textilen

künstlerischen Ideen am Webstuhl um und unter-

Veränderungen des 20. Jahrhunderts einbetten. Da

schied folglich nicht länger zwischen der Malerei und

nun auch Kunstschaffende malerische Entwürfe auf

dem Weben.28 Nach der Emigration mit ihrem Mann

textile Materialien wie Teppiche übertrugen, änderte

in die Vereinigten Staaten interessierte sich die

sich deren Stellenwert von einem rein handwerkli-

Künstlerin zunehmend für präkolumbianische und

chen Produkt zu einem Kunstobjekt. Ziel war es,

moderne lateinamerikanische Textilarbeiten.29

das Textilhandwerk mit der Kunst zu verbinden, um

Inspirationen fand sie in den lokalen kunsthandwerk-

dadurch dem Kunsthandwerk die ihm gebührende

lichen Praktiken andiner Kulturen und entwickelte

Bedeutung zukommen zu lassen. Der Deutsche

daraus eine neue Webtechnik. Bei dem Teppich

Werkbund und das Bauhaus folgten dieser Bewe-

Monte Albán führte Albers über die gewebte Struktur

gung. Im Bereich der Teppichgestaltung entstand

einen zusätzlichen Schussfaden, der ihr ermöglichte,

die von der Kunsthistorikerin Karin Adrian von

weitere Linien über die Oberfläche zu ziehen

Roques bezeichnete zeitgemäße Ausdrucksform der

(Abb. 3).30 Mit dieser neu angewandten andinen

Künstlerteppiche. Dabei wurde insbesondere mit

Technik gelang es ihr, den schwebenden Zierfaden

textilen Techniken wie dem Weben, Stricken, Färben

wie ein Zeicheninstrument zu verwenden und durch

als auch Knüpfen gearbeitet und experimentiert.22

unter- und überirdische Linien dem Gewebe Tiefen-

Künstlerinnen und Künstler wie Paul Klee, Wassily

strukturen zu verleihen.31

19

20

21

Kandinsky, Piet Mondrian oder Gunta Stölzl übertru-

Ein Vergleich der Arbeiten von Anni Albers und

gen ihre Bildideen und moderne Formensprache auf

Lisbeth Bissier zeigt, dass sich trotz verschiedener

das textile Medium.23 Der Teppich erlangte durch die

Techniken auch Gemeinsamkeiten finden lassen.

neuartige Verwendung eine andere Bedeutung und

Beide versuchen in ihren Vorgehensweisen das

changierte als Boden-, Wand- und Designobjekt

konventionell und als altmodisch angesehene

zwischen Alltags- und Kunstgegenstand.24 Außerdem

Textilhandwerk in der Verbindung mit einer maleri-

wurde der Künstlerteppich in Einzelstücken handge-

schen und zeichnerischen Formensprache aufzu-

fertigt und bildete somit einen Gegensatz zu industri-

werten. Lisbeth Bissier erreichte diesen Wandel,

ell gefertigten Textilien. Auch Lisbeth und Julius

indem sie die farbigen, abstrakt-geometrischen

Bissier griffen in ihren Arbeiten die neuen Prinzipien

Elemente ihres Mannes in Bildteppiche übersetzte.

der Künstlerteppiche in der Moderne auf. „Die

Anni Albers verwendete dagegen eine neue Web-

25

Die Web- und Knüpfarbeiten von Lisbeth und Julius Bissier

365

Abb. 3: Anni Albers, Monte Albán, 1936, Seide, Leinen, Wolle, 146 x 112 cm, The Busch-Reisinger Museum, Harvard University Art Museums, Cambridge

technik, um mit einem zusätzlichen Faden eine

Zwei Künst ler ei n Werk?

abstrakte Bildweberei zu schaffen. In beiden Fällen übernahmen die Künstlerinnen gezielt Elemente

366

Während Lisbeth Bissier mit den Knüpfteppi-

aus der Malerei in das textile Medium und kreierten

chen öffentliche Anerkennung fand, war ihr Mann

im Weben als auch Knüpfen ihre eigenen textilen

ebenfalls auf der Suche nach einer neuen künstleri-

‚Bilder‘. Laut Brüderlin sind diese Veränderungen

schen Ausdrucksform in der Malerei.33 Interessant ist,

und Experimente die Basis für die Emanzipation

dass für Julius Bissier seit den 1950er Jahren neben

des Textilen als eigenständiges künstlerisches

der schwarzen Tusche die Farbe wieder an Bedeutung

Ausdrucksmittel.

gewann.34 Anregungen für diese Farbexperimente fand

32

Helene Roth

er über die Tätigkeit des Entwurfszeichners und der handwerklichen Ausrichtung der Weberei seiner Frau, die in der eigenen Färberei Wollgarne herstellte. Versuche im Umgang mit verschiedenen Unterlagen, Färbe- sowie Bindemitteln inspirierten ihn zu einer neuen Malweise. Neben der eigenen Herstellung der Malutensilien griff er ebenfalls auf alte Techniken zurück und mischte Farbpigmente, Mohnöl und Eiweiß zusammen. Zeitgleich entwarf er kleinformatige, abstrakte Formen, Flächenfragmente und Buchstaben, die er mit farbiger Ei-Öl-Tempera auf Leinen, Nessel oder Baumwolle malte (Abb. 4). Als Bildgrundlage für die Miniaturen, wie sie der Künstler nannte, verwendete er zunächst Stoffreste aus der Weberei seiner Frau.35 Wie „kleine Organismen“36 ergeben sie eine eigene zusammenhängende Bildwelt. Zudem verleiht der textile und selbst grundierte Bildträger den

Abb. 4: Julius Bissier, 13. Sept. 62 NO, 1952, Ei-Öl-Tempera auf Baumwolle, 15,8 cm x 18,3 cm, signiert und datiert m. l.: 13. Sept. 62 NO Jules Bissier (BISSIJ/M 90), Galerie Schlichtenmaier, Stuttgart

Miniaturen einen fragmentarischen und unregelmäßigen Charakter. Julius Bissier kam über den Umweg der farbigen Teppichentwürfe zu einer neuen und

Arbeit. Unter Symbiose wird „das engere Zusammenle-

eigenen Bildaussage in der Malerei, die sich weder an

ben mehrerer, gewöhnlich zweier Lebewesen verschie-

einer gegenständlichen noch bereits existierenden

dener Art, die einander wechselseitig nützen und

abstrakten Kunstrichtung orientierte.

zusammen besser gedeihen als jeder der Genossen-

37

Somit lässt

sich behaupten, dass das Künstlerpaar Bissier über die gemeinsame Zusammenarbeit an den Knüpfteppichen

schafter für sich“38, verstanden. Auch bei Josef und Anni Albers lassen sich

Inspirationen für neuen Techniken und Materialien für

gegenseitige Inspirationen in den Arbeiten finden.

das jeweilige eigene künstlerische Werk fand. Obwohl

Wie seine Frau verfolgte Josef Albers den von Walter

der Entstehungsprozess der Knüpfteppiche von zwei

Gropius formulierten Bauhausgedanken „Wiederver-

Personen ausgeführt wurde, sind zwischen dem

einigung aller werkkünstlerischen Disziplinen – Bild-

Entwurf und der fertigen Ausführung keinerlei Abwei-

hauerei, Malerei, Kunstgewerbe und Handwerk“39

chungen vorzufinden. Folglich kann durch die präzise

und widmete sich speziell dem Glashandwerk.

gegenseitige Abstimmung nur bedingt von einer

Obwohl Anni und Josef Albers in verschiedenen

Zweiteilung gesprochen werden. In Arbeitsteilung

Medien arbeiteten, lässt sich dennoch von einer

entstand stattdessen ein gemeinsames Werk, in dem

Zusammenarbeit sprechen, die sich hauptsächlich in

beide auf gleiche Weise präsent waren. Die Koopera-

ähnlichen formalen, künstlerischen Gestaltungsprin-

tion zwischen Lisbeth und Julius Bissier war nicht nur

zipien äußerte.40 Josef Albers fertigte in Tektonische

eine Inspirationsquelle für das jeweilige Schaffen des

Gruppe geometrische Formen aus sandgestrahltem

anderen, sondern auch eine Form von symbiotischer

Glas, wohingegen seine Frau zeitgleich den Entwurf

Die Web- und Knüpfarbeiten von Lisbeth und Julius Bissier

367

Abb. 5: Anni Albers, Entwurf zu Wandbehang, 1926, Gouache und Bleistift auf Foto-Offset-Papier, 38,1 x 24,5 cm, signiert u. l.: AA1926, The Josef and Anni Albers Foundation, New York

368

für einen Wandbehang in einem abstrakt wirkenden

die Längs- und Querstreifen derselben Bewegung

Muster gestaltete (Abb. 5, 6). Gemeinsam sind den

(Abb. 6). Josef Albers modulierte in Tektonische

beiden Werken die kräftigen Farben und das in

Gruppe die Komposition, indem er die orthogonale

parallelen und rechtwinkligen Linien gezogene

Gitterstruktur in zusammenhängenden rechtwinkli-

Streifenmuster. Bei genauerer Betrachtung erinnert

gen sowie parallelen Streifenelementen auflöste.

es an die Struktur eines Gewebes: den übereinander

Anhand des Beispiels ist zu erkennen, dass für Anni

gelagerten Fäden von Kette und Schuss, wie es

und Josef Albers sowohl das Handwerk als auch die

bereits bei Monte Albán angedeutet wurde. Im

textile Technik gemeinsame Anknüpfungspunkte und

Entwurf von Anni Albers ziehen sich graue und rote

Inspirationsquellen in ihrem jeweiligen Schaffen

quer gerichtete Linien abwechselnd unter oder über

waren. Sichtbar wird diese Anregung in der gemein-

einen Längsfaden (Abb. 5). Auch im Glaswerk folgen

samen abstrakten Formensprache, die sich aus der

Helene Roth

entstand kein gemeinsames textiles Werk, wie das der Bildteppiche der Bissiers.

Coup les Modernes: Text i le Kop rodukt i onen i n der Moderne In einem Bauhaus-Sonderheft der Zeitschrift Junge Menschen schrieb Anni Albers: „Wir haben zu sehr das Materialgefühl früherer Zeiten verloren. Wir Abb. 6: Josef Albers, Tektonische Gruppe, 1925, Glas, opak, sandgestrahlt mit schwarzer Farbe, 29 x 45 cm, Privatsammlung, Schweiz

müssen neu versuchen, dies Gefühl zu schulen. Wir müssen handwerkliche und technische Möglichkeiten neu durchdringen. Das macht Hand-Arbeit möglich. Der langsame Arbeitsweg läßt jeden Versuch zu. Er ermöglicht vollkommene formale, technische, materi-

orthogonalen Gewebestruktur ableiten lässt. Durch

ale Durchbildung.“42 Sie erklärte, dass die maschinelle

die Webarbeiten seiner Frau inspiriert, beschäftigte

Arbeit nur noch eine lose Verbindung zwischen dem

sich Josef Albers ebenfalls mit textilen Strukturen.

Weber und dem Webstuhl zulasse und mit dieser auch

Charakteristisch ist dabei, dass jeder der beiden auf

eine Entfremdung vom textilen Material einhergehe.

seine Art und Weise Ideen und Experimente in das

Mit der Einrichtung einer Handweberei wurde am

jeweilige Medium umsetzte und dabei ein eigenstän-

Bauhaus versucht, den Fokus von der Massenherstel-

diges Werk bildete.41

lung hin zur Einzelfertigung zu legen.

Der Exkurs zu den Web- und Glasarbeiten des

Der vorliegende Beitrag verdeutlicht, dass etliche

Bauhauspaares Albers verdeutlicht, dass die gemein-

Jahre später eine andere Künstlerin an den gleichen

same künstlerische Koproduktion von Lisbeth und

Bestrebungen festhielt und Anni Albers’ Aussagen

Julius Bissier Verwandte findet und sich sehr gut in

erneut Gültigkeit verlieh. Lisbeth Bissier wurde in der

den kunstgeschichtlichen wie den textilhandwerkli-

eigenen Handweberei von der materialen und taktilen

chen Kontext des 20. Jahrhunderts einordnen lässt.

Wertschätzung für das Textile geleitet. Das Material

Dennoch gibt es gewisse Unterschiede in der Zusam-

und die handwerklichen Qualitäten spielten für sie

menarbeit zwischen Anni und Josef Albers auf der

eine wichtige Rolle. Sie suchte, wie Anni Albers’, in der

einen und Lisbeth und Julius Bissier auf der anderen

Verbindung von Tradition und Handwerk nach neuen

Seite. Denn das Künstlerpaar Albers kreierte in der

technischen Möglichkeiten, das Material aufzuwerten.

Kooperation kein gemeinsames Werk, an dem beide

Über das Weben fand Lisbeth Bissier zur Technik des

gleichermaßen beteiligt waren. Folglich findet sich im

Knüpfens, in der sie neue formale Experimente wagte.

Schaffen von Anni und Josef Albers eine andere Art

In der Kooperation mit ihrem Partner, der die Entwürfe

des symbiotischen Arbeitens. Zwar lässt sich von einer

fertigte, gelang ihr zudem die Verbindung des Textil-

gegenseitigen Inspiration für neue formale und

handwerks mit der Malerei. Dabei schuf sie im Werk

mediale Ausdrucksmöglichkeiten sprechen, aber es

der Bildteppiche eine neue künstlerische Form.

Die Web- und Knüpfarbeiten von Lisbeth und Julius Bissier

369

Anm erkungen

Interessant ist, dass auch Julius Bissier dem Zitat von Anni Albers folgte und mit verschiedenen Materialien und Techniken experimentierte. Durch die Werkstatt seiner Frau inspiriert, übertrug er die Farbe und das Textile in seine Malerei und gelangte in den Miniaturen zu einer neuen Ausdrucksweise.

sprache zu artikulieren und in geometrischen, abstrakten Kompositionen avantgardistische textile Arbeiten

2

Die 1956 erschienene Erstausgabe der Zeitschrift Werkkunst in

der Reihe Kunsthandwerkliche Werkstätten erwähnte erstmals Julius

Karlsruhe 1956. Die 1966 stattfindende Ausstellung Lisbeth Bissier – Julius Bissier, Bildteppiche betonte zum ersten Mal den künstlerischen Charakter der Knüpfteppiche. Vgl. Lisbeth Bissier – Julius Bissier. Bildteppiche, hg. v. Herbert Pée und Toni Schneiders u. a., Ausst.-Kat. Museum Ulm, Ulm 1966. Die 2015 zum 50. Todestag von Julius Bissier

herzustellen. Die kunsthistorische Aufarbeitung

gewidmete Sonderausstellung präsentierte erstmals öffentlich die tex-

textiler Koproduktionen von Künstlerpaaren in der

tilen Koproduktionen. Vgl. Julius und Lisbeth Bissier. Die Hagnauer Zeit

Moderne ist aktueller denn je, wie die Ausstellung

1939–1961, hg. v. Galerie Schlichtenmaier, Ausst.-Kat. Hagnauer Museum Bodensee, Grafenau 2015.

Couples Modernes im Centre Pompidou in Metz

3

zeigte.43 Der umfangreichen Präsentation fehlte dennoch ein kritischer Blick auf das komplexe Geflecht

Detaillierte biografische Angaben zu Lisbeth und Julius Bissier,

vgl. Ausst.-Kat. Ulm 1966 (wie Anm. 2); Ursula Kircher: Von Hand gewebt. Eine Entwicklungsgeschichte der Handweberei im 20. Jahrhundert, Marburg 1986, S. 149 ff.; Ausst.-Kat. Hagnau 2015 (wie Anm. 2).

von „partnerschaftlichen Gemeinschaftswerken“44. Wie bereits kunsthistorische, soziologische als auch feministische Analysen aufzeigen, existiert neben einer produktiven und fördernden Zusammenarbeit auch die kontraproduktive und behindernde Kooperation, die von Konkurrenz, Unterdrückung und gegenseitiger

4

Diese Zweiteilung entsprach nicht den Konventionen der dama-

ligen Zeit, in der es üblich war, dass beide Vorgänge von einer Person ausgeführt wurden. Vgl. Christin Wolsdorf: Wir waren halt die Dekorativen im Sternbanner Bauhaus, in: To open eyes. Kunst und Textil vom Bauhaus bis heute, hg. v. Friedrich Meschede und Jutta Hülsewig-Johnen, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bielefeld, Bielefeld 2013, S.  60–67, hier S. 62.

Vernichtung geprägt sein kann. Ebenfalls kann der 45

Fall eintreten, dass einer der beiden Partner, oftmals die Frau, aufgrund sozialer Asymmetrien, wie Altersun-

5

Auch wenn der Fokus des Beitrags auf den textilen Koproduktio-

nen in der Moderne liegt, darf nicht vergessen werden, dass die Teppichund Webkunst auch im Kontext kultur-, kunst- und religionsgeschichtlicher Entwicklungen zu sehen ist. Funde von Teppichfragmenten aus 2600 v. Chr. belegen, dass die Technik des Teppichknüpfens bereits in

terschied, Schichtzugehörigkeit oder psychischer 46

Inwiefern Lisbeth Bissier (un)freiere künstlerische Entfaltungsmöglichkeiten als ihr Partner besaß, ist nicht genau nachweisbar. Dennoch findet sich ein Ungleichgewicht in der zuletzt erschienenen Ausstellungspublikation zu den Bissiers: Lisbeth Bissier ist in Hauptkatalog gewidmet.47

Ausst.-Kat. Bauhaus-Archiv Berlin, Berlin 1998, S. 110.

handwerkliche Werkstätten: Lisbeth + Julius Bissier, Bd. 1, 1956, H. 18,

Interaktion mit ihren Partnern, eine moderne Formen-

einem Begleitheft separiert, Julius Bissier ist der

Anni Albers: Bauhausweberei, in: Das Bauhaus webt – Die Textil-

werkstatt am Bauhaus, hg. v. Magdalena Droste und Manfred Ludewig,

Bissier als Entwurfszeichner. Vgl. Werkkunst, 1. Heft der Reihe: Kunst-

Lisbeth Bissier und Anni Albers gelang es, in

Passivität, weniger künstlerische Freiheiten besitzt.

1

dieser Periode bekannt war. Vgl. Karin Adrian von Roques: Teppiche. Von den Anfängen der Teppichkunst bis heute, München 1993, S. 20; In the carpet. Über den Teppich, hg. v. Iris Lenz und Valérie Hammerbacher, Ausst.-Kat. Institut für Auslandsbeziehungen, ifa-Galerie Stuttgart, Stuttgart 2016.

6

Vgl. Karin Adrian von Roques: Teppiche. Das Standardwerk für

Liebhaber und Sammler, München 1999, S. 38–44.

7 8

Ebd., S. 38. Vgl. Ausst.-Kat. Ulm 1966 (wie Anm. 2); Kircher 1986 (wie

Anm. 3), S. 149.

9 10

Ausst.-Kat. Ulm 1966 (wie Anm. 2). Vgl. Will Grohmann. Texte zur Kunst der Moderne, hg. v. Kon-

stanze Rudert und Volkmar Billig, Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, München 2012, S. 254.

11

Vgl. Marie-Amélie zu Salm-Salm: Der Stoff und die Malerei. Wech-

selspiel von freier und angewandter Kunst um 1900 – eine europäische

370

Helene Roth

Bewegung, in: Kunst und Textil. Stoff als Material und Idee in der Moderne

chen 1989, S. 132; Anni und Josef Albers. Begegnung mit Lateiname-

von Klimt bis heute, hg. v. Markus Brüderlin, Ausst.-Kat. Kunstmuseum

rika, hg. v. Brenda Danilowitz und Heinz Liesbrock, Ausst.-Kat. Josef

Wolfsburg, Ostfildern 2013, S.  298–330, hier S.  298; Hans Wichmann

Albers Museum Bottrop, Ostfildern 2007.

(Hg.): Von Morris bis Memphis. Textilien der Neuen Sammlung. Ende

30

19. Jahrhundert bis Ende 20. Jahrhundert, Basel u. a. 1990, S. 23.

v. Ann Coxon, Briony Fer und Maria Müller-Schareck, Ausst.-Kat.

12 13

Vgl. Wichmann 1990 (wie Anm. 11), S. 120.

Kunstsammlung Nordrhein-Westfahlen, Düsseldorf, München 2018,

Vgl. Harry Schlichtenmaier: Die Symbole in diesen Bildern sind

S. 74–86.

Ausst.-Kat. Ulm 1966 (wie Anm. 2).

31 32 33

Vgl. Herbert Pée: Vorwort, in: Ausst.-Kat. Ulm 1966 (wie Anm. 2).

Kunsthandwerk, 1956 den Staatspreis von Baden-Württemberg. Vgl.

Vgl. Eva Zimmermann: Die Werkstätte Lisbeth und Julius Bissier,

Ausst.-Kat. Ulm 1966 (wie Anm. 2); Ausst.-Kat. Hagnau 2015 (wie

stumme Gleichnisse, in: Ausst.-Kat. Hagnau 2015 (wie Anm. 2), S. 7.

14 15 16 17

Vgl. María Minera: Monte Albán entdecken, in: Anni Albers, hg.

Vgl. Kirchner 1986 (wie Anm. 3), S. 151.

Ausst.-Kat. München 1989 (wie Anm. 29), S. 132 f. Vgl. Brüderlin 2013 (wie Anm. 25), S. 35. 1955 erhielt Lisbeth Bissier den Hessischen Staatspreis für

in: Werkkunst 1956 (wie Anm. 2).

Anm. 2).

18 19 20

Vgl. Ausst.-Kat. Wolfsburg 2013 (wie Anm. 11), S. 119.

34 35

Daher ist es nicht abwegig, dass auch Lisbeth Bissier, als sie

Julius Bissier. Zum hundertsten Geburtstag, hg. v. Volkmar Essers,

1929 die Textil- und Modeschule in Berlin besuchte, mit diesen Ten-

Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf, Ostfildern-

denzen und Methoden vertraut wurde. Vgl. Wichmann 1990 (wie

Ruit bei Stuttgart 1993, S. 10–39, hier S. 36.

Anm. 11), S. 23.

36 37

21

Ausst.-Kat. Ulm 1966 (wie Anm. 2).

Von Roques 1993 (wie Anm. 5), S. 262. Vgl. Leonie von Wilc-

Vgl. Schlichtenmaier 2015 (wie Anm. 13), S. 7. Vgl. Volkmar Essers: Aus enger Begrenzung zur lichten Weite, in:

Schlichtenmaier 2015 (wie Anm. 13), S. 7. Nach Will Grohmann kennzeichnen die Miniaturen den Höhe-

kens: Die Geschichte der deutschen Textilkunst. Vom späten Mittelalter

punkt seines bisherigen Schaffens. Vgl. Ausst.-Kat. Dresden 2012 (wie

bis in die Gegenwart, München 1997, S. 173 ff.

Anm. 10), S. 254.

22

38

Vgl. zu Salm-Salm 2013 (wie Anm. 11), S. 298; Wichmann 1990

Meyers Konversationslexikon, Bd. 15, Leipzig und Wien, 1885–

(wie Anm. 11), S. 120.

1892, S.  456. Außerdem zum Begriff der Symbiose im Kontext von

23

Ebenfalls übertrugen Fernand Léger oder Pablo Picasso ihr

Künstlerpaaren siehe: Paolo Bianchi: Künstlerpaare (Mann-&-Frau-

abs­traktes Formenrepertoire zwischen den 1940er und 1960er Jahren

Paare), Teil 1, in: Kunstforum International, Bd. 106, 1990, S. 78–87;

auf Tapisserien und entwarfen handgeknüpfte Boden- und Wandteppi-

Carola Muysers: Das Sinnbild Zwilling – Kunst, Kreativität und Autor-

che. Bislang sind diese Teppiche noch nicht ausreichend erforscht und

schaft von Künstlerpaaren heute, in: Renate Berger (Hg.): Liebe Macht

werden lediglich in einer kleinen Broschüre der Galerie Beyeler er-

Kunst. Künstlerpaare im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2000,

wähnt. Vgl. Teppiche. Arp, Bissier, Bissière, Calder, Ernst, Vieira da Silva,

S. 435–448, hier S. 442.

Klee, Laurens, Léger, Miró, Picasso, Ausst.-Kat. Galerie Beyeler, Basel Vgl. von Roques 1999 (wie Anm. 6), S. 30 f.

39 40 41

Ebd., S. 322 f.; Markus Brüderlin: Zur Ausstellung. Die Geburt

Pitiot, Ausst.-Kat. Centre Pompidou Metz, Paris 2018, S. 47.

1961.

24 25

Brüderlin 2013 (wie Anm. 25), S. 35. Ausst.-Kat. München 1989 (wie Anm. 29), S. 54. Couples modernes, hg. v. Emma Lavigne, Elia Biezunsk und Cloé

der Abstraktion aus dem Geiste des Textilen und die Eroberung des

42

Stoff-Raumes, in: Ausst.-Kat. Wolfsburg 2013 (wie Anm. 11), S. 14–45.

mes Leben, gemeinsame Arbeit, in: Josef und Anni Albers. Europa und

26 27

Ausst.-Kat. Ulm 1966 (wie Anm. 2).

Amerika. Künstlerpaare – Künstlerfreunde, hg. v. Josef Helfenstein und

Vgl. Brüderlin 2013 (wie Anm. 25), S. 35; Anja Baumhoff: Webe-

Henriette Mentha, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bern, Köln 1998, S. 110

rei intern. Autorität und Geschlecht am Bauhaus, in: Ausst.-Kat. Berlin 1998 (wie Anm. 1), S. 53–58, hier S. 53.

28

Neben Anni Albers verfolgten auch Gunta Stölzl, Benita Koch-

43 44 45

Zit. n. Nicholas Fox Weber: Anni und Josef Albers: Gemeinsa-

Vgl. Ausst.-Kat. Metz 2018 (wie Anm. 41), S. 66–73, S. 182–185. Bianchi 1990 (wie Anm. 38), S. 78. Vgl. Renate Berger: Leben in der Legende, in: Berger 2000 (wie

Otte, Else Mögelin und Getrud Arndt in der Webereiwerkstatt das Ziel,

Anm. 38), S. 1–34, hier S. 2; Karoline Künkler: Modellhafte Paargemein-

die modernistische Formensprache in ihre Teppiche aufzunehmen. Vgl.

schaften am Anfang des 20.  Jahrhunderts, in: Berger 2000 (wie

Ausst.-Kat Stuttgart 2016 (wie Anm. 5); Wolsdorf 2013 (wie Anm. 4),

Anm. 38), S. 359–389, hier S. 365.

S. 60–67.

46

29

Gesellschaft 1905–1955, München 2005, S. 142–157.

Vgl. Anni und Josef Albers – Eine Retroperspektive, hg. v. Mark

Kuhrt und Maximilian Schell, Ausst.-Kat. Villa Stuck München, Mün-

47

Vgl. Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Vgl. Ausst.-Kat. Hagnau 2015 (wie Anm. 2).

Die Web- und Knüpfarbeiten von Lisbeth und Julius Bissier

371

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© 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412514594 – ISBN E-Book: 9783412518059

which was made of silk spun from silk waste, was much cheaper than other silk textiles, making it suitable for mass consumption. Penelope Francks characterized this as follows: “For the big city department stores, the meisen kimono provided the vehicle by means of which to introduce the techniques of the fashion system to the marketing of Japanese-style clothing.”4 Thus modernization in Japanese clothing was not only an acceptance of Western clothing but

Kimono as Fashion: Japanese Department Stores Designing New Kimono Patterns, 1890s–1910s

also the foundation of a new fashion system. Kimono fashion did not develop all at once in the interwar period. From the 1890s to the 1910s, Mitsukoshi 三越, Shirokiya 白木屋 and other Japanese department stores attempted to set trends with their kimono patterns, which they released once or twice a year. Although mass consumption had not yet emerged by the rise of the meisen kimono, it is

Hissako Anjo

impossible to ignore that a system had been established to provide constantly fashion trends. In this article, I discuss early attempts of Japanese depart-

Introd u c t ion What is modernization in the context of Japanese clothing? This is a complex question. The term is often used as a synonymously for Westernization,

ment stores to create kimono fashions, and I illustrate how constant novelty was created in the kimono.

Mi t sukoshi ’s Innovat i ons a nd t he Genroku-St yle Pat tern

referring to the acceptance of Western clothing.1 In spite of the fact that it flies in the face of history and

The kimono shop Mitsukoshi was founded in

ignores that Japanese-style clothing – which includes

1673 at Edo Honchō (present-day Nihonbashi Honchō

the kimono2 – experienced numerous changes

in Tokyo). It continued to be one of the largest and

throughout the modern era, it is widely accepted that

best-known kimono shops in Edo (present-day Tokyo)

Japanese-style clothing has always been the same.

for most of the Edo period (1603–1868). At the end of

Recent histories of consumption have exhibited due

the 19th century, Mitsukoshi became Japan’s first

attention to the development of kimono fashion in

department store. Following Wanamaker’s business

Japan in the interwar period.3 In the 1920s and 1930s,

model from the United States, Yoshio Takahashi 高橋

new designs of meisen (銘仙) kimono were produced

義雄, who became director of Mitsukoshi in 1895,

by department stores every year and were widely

introduced certain innovative sales techniques, such as

purchased by women as a fashionable. The meisen,

displaying products in showcases and installing show

Kimono as Fashion: Japanese Department Stores Designing New Kimono Patterns, 1890s–1910s

375

windows on the ground floor.5 In January 1905,

Mitsukoshi began to hold exhibitions for new kimono

Mitsukoshi issued a declaration, which became widely

patterns and pattern design competitions as seasonal

known as ‘Mitsukoshi’s Department Store Declaration’,

events. The Kimono fashion spurred by Mitsukoshi

in the form of a full-page advertisement in newspa-

received more and more attention as a result of holding

pers, announcing the decision to transform it into a

these events. The store eventually would put out a new

modern commercial space to attract more clients.6

pattern every spring and autumn in the 1910s.

As Yuki Jinno 神野由紀 noted, in addition to the innovations mentioned above, Mitsukoshi also deliberately set out to influence fashion trends by

Two Funda m ent a l Quest i ons

designing new kimono patterns for women. In 1895, 7

Takahashi built a design department (Ishōbu 意匠部), whose first assignment was to study it. First, he

visit to Paris in 1889 may have given him a hint for

obtained help from the Japanese-style painting artists

future designs.11 In his 1933 memoir, he described the

Kandō Katayama 片山貫道, Kōtei Fukui 福井江亭,

events leading up to the creation of the Genroku-style

Ryūtō Shimazaki 島崎柳嶋 and Gyokuen Takahashi 高

pattern: “When I had visited Paris a few years before, I

橋玉淵, and they put out a book, Moyō shūchō 模様集

heard that couture houses in Paris were creating a new

帳 (Pattern Collective), to be used as inspiration for

style of clothing every year and had a great influence

pattern design. This book contained images of many of

not only in Paris and in European countries but also in

the greatest works in Japanese art of all time, including

the United States. I thought that it would be difficult

examples of the Tosa school and the Sumiyoshi school.

to do something like that in Japan, where granddaugh-

In 1905, Takahashi used this book to select designs

ters often wore their grandmothers’ kimonos.”12 Given

from the Genroku era (1688–1704), and he launched

this, why did Takahashi not try to create a new

the Genroku-style pattern (Genroku moyō 元禄模様), a

Western style for women’s clothing like the couture

pattern that was characterized by large motifs and

houses of Paris? Why, precisely, did he choose to set

vivid colors. This is because he thought that loud and

fashion trends by designing new kimono patterns?

8

colorful patterns would be suitable for Japanese

The first question should be addressed first.

people who were excited about Japan’s victory in the

Although Western clothing had certainly become

Russo-Japanese War (1904–1905). This pattern

accepted in modern Japan, it was spreading quite

succeeded in the market.

slowly, especially among women.13 In 1887, Mitsu-

9

Mitsukoshi’s own monthly magazine, Jikō 時好

koshi began selling Western clothing, for which it

(Taste of the Times), founded in August 1903, played an

engaged a French couturier at an exceptionally high

important role in promoting the Genroku-style

salary. However, only a few years later, Mitsukoshi

pattern. Jikō was in part a catalogue for promoting new

ceased sales of Western clothing, and the couturier

items at Mitsukoshi, but it also published essays on

was dismissed.14 This indicates that the demand for

fashion and clothing, literary fiction and other materi-

Western clothing may have been quite low. This

al. It was important to publish information on

pushed Mitsukoshi to only sell kimonos.

10

Mitsukoshi because there were very few fashion magazines in Japan at the time. Simultaneously,

376

It is not widely recognized that Takahashi’s first

The second question requires a little of history. It is not an exaggeration to say that the kimono form

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generally does not change and has not changed. In fact, the form of the kosode, or the antecedent of the kimono, has hardly changed at all since about the beginning of the 17th century. It has become longer, with wider sleeves and a narrower body.15 The characteristics of the kimono were well listed by Nobuhiko Maruyama 丸山伸彦: “Although clothing appears stable, it is never fixed. […] When the form of a piece of clothing is fixed, the changes that are inevitable can only happen on its decorative surface. The form of the kosode changed from the Momoyama period to the beginning of the Edo period. […] Where the form changed, to some extent, the pattern moved. […] This shows that the pattern came to take the role of a changeable element, which the form had previously played.”16 Hence, for Takahashi, who wished to start trends in kimono fashion, the design of new patterns was the only option.

Ch an ge of Styles: From Retro to Mod e r n , f rom Modern to Retro

Ill. 1: Mitsukoshi, Kōrin-style pattern from the Meiji, 1909

After the Genroku-style pattern was launched, Mitsukoshi continued to create retrospective patterns. For example, the Kōrin-style pattern from the Meiji

spirals and planar plants was often modelled by

(Kōrin shiki Meiji moyō 光琳式明治模様) (ill. 1), which

Japanese designers – especially in Kyoto – inspired by

was launched by Mitsukoshi in 1909, was based on

Vienna Secession.19 It had similar characteristics to

the works of Kōrin Ogata 尾形光琳 (1658–1716), a

those of Ella Weltmann and Emanuel J. Margold’s work

well-known artist of the Rimpa school. This pattern

in Deutsche Kunst und Dekoration during the second

was characterized by smooth curves and rhythmic

half of the 1900s and the first half of the 1910s (ill. 3).

repetition of motifs, like Kōrin’s works.

Moreover, Mitsukoshi’s Taishō-style pattern (Taishō

17

Mitsukoshi’s patterns referenced Japanese

shiki moyō 大正式模様) should not be forgotten. Taishō

historical styles as well as contemporary art and design

(大正) is the name of the era of Japanese history that

in Europe. For example, in the October 1913 issue of

started on 30 July 1912, with Emperor Meiji’s death. In

Mitsukoshi 三越, a new pattern was presented: the

1914, Mitsukoshi launched this pattern to celebrate

Secession style (ill. 2). This distinctive style with its

the new emperor’s enthronement, which had been

18

Kimono as Fashion: Japanese Department Stores Designing New Kimono Patterns, 1890s–1910s

377

scheduled the autumn of that year.20 Like the name that was chosen to signify the new era, this pattern was intended to indicate modernity.21 Its wavy shapes and spirals show the influence of Art Nouveau and Secession more than that of any Japanese historical style (ill. 4). Nevertheless, in 1915, Mitsukoshi launched the New Kōrin-style pattern (Shin Kōrin shiki moyō 新光琳 式模様) (ill. 5), which brought run of the Taishō-style pattern, which was a Mitsukoshi product deliberately designed in the previous year to fit to the new era, to an end. Although this new pattern was a version of the Kōrin-style pattern of 1909, in this version unfamiliar Ill. 2: Mitsukoshi, Secession-style pattern, 1913, enlarged image

plants, such as primula, hyacinth and moth orchid, which Mitsukoshi called Western plants, were used as design motifs. Interestingly, although this was a retrospective pattern, fresh motifs were mixed in it as well. Articles in the February 1915 and the March 1915 issues of Mitsukoshi adduced two reasons for the launch of the New Kōrin-style pattern. First, the environment characterized by the outbreak of the First World War and “Japan’s victorious autumn” influenced people’s taste; consequently, it was necessary to return to Kōrin Ogata, the most widely known Japanese artist in the world in order to show Japan’s greatness.22 Second, fashion required constant change; no one pattern could last long.23 We should not overlook Mitsukoshi’s deliberate attestation of the necessity of change in fashion: this shows that the regular advent of new patterns was a conscious attempt to design new patterns and create change.

Shi roki ya i n t hose Days Shirokiya, one of the best-known department Ill. 3: Ella Weltmann‘s design in Deutsche Kunst und Dekoration, 1910

378

stores in Tokyo, founded during the Edo period, was having an experience that was not much different

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Ill. 4: Mitsukoshi, Taishō-style pattern, 1914

Ill. 5: Mitsukoshi, New Kōrin-style pattern, 1915

from the one that obtained in Mitsukoshi. Shirokiya

style pattern (Shin Edo shiki moyō 新江戸式模様). ­

brought out new patterns once a year in the 1910s.

This pattern was literally art and design stylings from

Although Shirokiya tended to declare each year that

the Edo period. An article in the September 1914 issue

the current pattern actually fit the times, the overall

of Ryūkō 流行 (Fashion), Shirokiya’s own magazine,

churn was essentially in pursuit of novelty, continually

discussed the reason for its launch: “The Nūbō (Art

designing different patterns.

Nouveau) style was having a great influence on the

Contemporaneously with Mitsukoshi’s Taishōstyle pattern, Shirokiya was launching its New Edo-

design of our country a few years ago, and the Secession style also did so two or three years later. How-

Kimono as Fashion: Japanese Department Stores Designing New Kimono Patterns, 1890s–1910s

379

discussed above, the nation’s tastes will not easily change.”24 Thus, Shirokiya turned away from Europe’s influence and advertised its New Edo-style pattern as something suitable for “nation’s own tastes”.25 In 1915, Shirokiya launched its Tempyō-style pattern (Tempyō shiki moyō 天平式模様) (ill. 6), emphasizing that the people who had entered a new international era needed an input from the style of art and design that was prevalent in the Tempyō era.26 That is, the promotion of the New Edo-style pattern that had begun in the previous year was already over and done with. Tempyō is the name of a Japanese historical era, which took place in the 8th century, when an internationalized culture, which was imitation of the Tang dynasty of China, flourished under Emperor Syōmu 聖武天皇. An article in the June 1915 issue of Ryūkō expressed admiration for the Tempyō era’s cultural diversity; on the other hand, it criticized the cultures of other Japanese periods, including that of the Edo period, as if to deny the existence of the previous New Edo-style pattern. In that article, the classic spirit of Tempyō era held vitality and pure grandness as of greater importance than mere technical skill; indeed, this new pattern had an air of artlessness.27 Nevertheless, it also lasted only a year. In 1916, another new pattern replaced it and was promoted in its turn as “that which meets the needs of the national taste”.28 As Mitsukoshi had done, Shirokiya established a system of constant novelty. Ill. 6: Shirokiya, Tempyō style pattern, 1915

Conclusi on ever, these styles were replaced by the Maruhōhu style: the Secession style, but transformed into a

380

In Japan, a system was put into place to provide

uniquely Japanese style. The Kyūbizumu (Cubist) style

constant trends in fashion by department stores

has now begun to appear on the first page of maga-

between the 1890s and 1910s. These institutions

zines. […] Although the trends are rapidly changing, as

attempted to set annual or seasonal trends in Japa-

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Note s

nese-style clothing. As has been recognized by a number of thinkers, a fashion must continuously and ephemerally create ‘novelty’.29 Given this, where is the constant novelty in fashion trends in the kimono? The kimono form always stayed the same.30 It was found in the constant flow of new patterns that referenced various styles, sometimes retrospective and sometimes based on contemporary European art; that is, they were in the styles of different countries, including Japan, eras and artists, all of which were indispensable source of novelty. More importantly, the sole criterion for discovering a style was its relative freshness in relation to recent fashion trends, regardless of whether it was traditional or modern. Even though some modern styles imported from Europe were eagerly promoted, their moment on the heights of Japanese fashion only lasted a moment. Afterwards, traditional Japanese styles appeared in full splendor in the magazine of one department store or another, but shortly thereafter, it was gone, also replaced with another Japanese style from a different era. In addition, each style could be rediscovered when least expected. This incessant change of styles to create endless novelty is similar to Western fashion system, except it must be limited to two dimensions. The arrival of the novelty-pursuing, seasonally renewing churn of fashion is one of the most important changes in the modern history of Japanese clothing.

1

For example, see Hiroshi Minami 南博 ed., Nihon modanizumu

no kenkyū: shisō, seikatsu, bunka 日本モダニズムの研究―思想・生活・ 文化 [A study of Japanese modernism: thought, life and culture] (Tokyo: Burēn syuppan ブレーン出版, 1982); Toby Slade, Japanese Fashion: A Cultural History (Oxford/New York: Berg, 2009).

2

The term ‘kimono’ is often used as a general term for Japanese

traditional clothing, including juban (underwear), obi (sash) and haori (jacket or coat). In this case, it is a synonym for ‘wafuku’ 和服 



that

includes the two letters, ‘和’ meaning ‘Japanese’ and ‘服’ meaning ‘clothing.’ On the other hand, this term only refers to a Japanese traditional full-length dress without an obi (sash). In this article, the term ‘kimono’ is used in the latter sense.

3

Yūki Yamauchi 山内雄気, ‘1920 nendai no meisen shijō no kaku-

dai to ryūkō dentatsu no shikumi’ 年代の銘仙市場の拡大と流行伝達の 仕組み [Market growth of the silk textile Meisen in the 1920s and the fashion creation system], Keiei shigaku 経営史学 [Japan Business History Review] 44, no. 1 (June 2009): pp. 3–30; Penelope Francks, ‘Kimono Fashion: The Consumer and the Growth of the Textile Industry in PreWar Japan’, in The Historical Consumer: Consumption and Everyday Life in Japan, 1850–2000, ed. P. Francks and J. Hunter (Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2012), pp. 151–175.

4

Francks, ‘Kimono Fashion: The Consumer and the Growth of the

Textile Industry in Pre-War Japan’, p. 169.

5

Tōru Hatsuda 初田亨, Hyakkaten no tanjō 百貨店の誕生 [The

birth of department stores] (Tokyo: Sanseidō 三省堂, 1993); Yuki Jinno 神 野由紀, Syumi no tanjō: hyakkaten ga tsukuttta teisuto 趣味の誕生―百貨 店がつくったテイスト [The birth of taste: taste created by department store] (Tokyo: Keisōsyobō 勁草書房, 1994).

6

Asahi Shimbun 朝日新聞 [Asahi Newspaper] (3 January 1905), p. 8;

Yomiuri Shimbun 読売新聞 [Yomiuri Newspaper] (3 January 1905), p. 6.

7 Jinno, Syumi no tanjō: hyakkaten ga tsukuttta teisuto, pp. 72–76, 123–129. See also Yuka Nemoto 根本由香, ‘Kindai no fukusyoku to fukko syumi: Genroku no ryūkō wo megutte’ 近代の服飾と復古趣味― 「元禄」の流行をめぐって [Modern clothing and classicism: Genroku fashion], Fukusyoku bigaku 服飾美学 [Aesthetics of costume], no. 27 (March 1998), pp. 33–48.

8 9

Yomiuri Shimbun (2 April 1905), p. 3. Yomiuri Shimbun (12 July 1905), p. 1; Yomiuri Shimbun (16 Octo-

ber 1905), p.  4; Jinno, Syumi no tanjō: hyakkaten ga tsukuttta teisuto, pp. 123–129.

10 Before Jikō, Mitsukoshi had published its own magazine twice a year with a different title each time: Hanagoromo 花ごろも [Flower clothing] in January 1899, Natsugoromo 夏衣 [Summer clothing] in June 1899, Harumoyō 春模様 [Spring pattern] in January 1900, and Natsumoyō 夏模様 [Summer pattern] in June 1900. In addition, Jikō was replaced by Mitsukoshi Taimusu 三越タイムス [Mitsukoshi Times] founded in May 1908. It was also replaced by Mitsukoshi 三越 founded in March 1911.

Kimono as Fashion: Japanese Department Stores Designing New Kimono Patterns, 1890s–1910s

381

11

Yoshio Takahashi 高橋義雄, Hōki no ato 箒のあと [After sweep-

Japan Society of Design], no.  24 (November 1985), pp.  40–61; Hisao

ing] (Tokyo: Akitoyoen 秋豊園, 1933), p. 147.

Miyajima 宮島久雄, ‘Takeda Goichi to Kansai dezain kai’ 武田五一と関

12 13

Ibid., p. 415 f.

西デザイン界 [Goichi Takeda and design of the Kansai region], Dezain

According to a report by Wajirō Kon 今和次郎 and Kenkichi

riron, no. 57 (June 2011), pp. 91–104.

Yoshida 吉田謙吉, even in 1925, women wearing Western clothing was

20

only 1% in comparison with 99% wearing kimono in Ginza. Wajirō Kon

Dowager Shōken 昭憲皇太后 had died in April 1914.

今和次郎 and Kenkichi Yoshida 吉田謙吉, Moderunorojio: kōgengaku モ デルノロヂオ―考現学 [Modernologio: a study of modern social life] (To-

21 22

kyo: Syunyōdō 春陽堂, 1930), p. 3, reprinted in Kōgengaku nyūmon 考現

(February 1915), pp. 12–13; Mitsukoshi 5, no. 3 (March 1915), pp. 12 f.

学入門 [Introduction to Modernologio], ed. Terunobu Fujimori 藤森照信

“Japan’s victorious autumn” mentioned in Mitsukoshi is probably the

(Tokyo: Chikumasyobō 筑摩書房, 1987), p. 106.

Siege of Tsingtao between 31 October and 7 November 1914 against

14

Germany.

Yomiuri Shimbun (24 April 1989), p. 3. In addition, Mitsukoshi re-

The enthronement was put off until next year because Empress Mitsukoshi 4, no. 2 (February 1914), p. 5 f. Mitsukoshi 5, no.  1 (January 1915), p.  13; Mitsukoshi 5, no. 2

clothing in 1925.

23 24

15

Maruhōhu style was named after Josef Hoffmann and Emanuel J. Mar-

started selling men’s Western clothing in 1906 and women’s Western Nobuhiko Maruyama 丸山伸彦, ‘Fukusyokushi no naka no ko-

Mitsukoshi 5, no. 3 (March 1915), pp. 12–13. Ryūkō 流行 [Fashion] 11, no.  9 (September 1914), p.  1 f. The

sode: naze kimono ni monyō ga aru no ka’ 服飾史のなかの小袖―なぜキ

gold, architects and designers of the Vienna Secession.

モノに文様があるのか [Kosode in the History of Japanese Clothing: Why Does Kimono Have Patterns?], in Edo mōdo daizukan: kosode monyō ni

25 26

miru bi no keifu 江戸モード大図鑑―小袖文様にみる美の系譜 [Edo à la

ber 1915), p. 44.

mode: aesthetics lineages seen in kosode kimono motifs], ed. Kokuritsu Re-

27 28 29

kishi Minzoku Hakubutsukan 国立歴史民俗博物館 (Tokyo: Enu eichi kei



promōsyon NHKプロモーション, 1999), pp. 217 230.

16 17

Ibid., p. 223.

Ibid. Ryūkō 12, no. 6 (June 1915), pp. 2–11; Ryūkō 12, no. 9 (SeptemRyūkō 12, no. 6 (June 1915), pp. 2–11. Ryūkō 13, no. 6 (June 1916), no page number. For example, see Georg Simmel, ‘Fashion’, International Quar-

terly 10, no. 1 (October 1904), pp. 130–155, reprinted in American

Mitsukoshi Taimusu 三越タイムス [Mitsukoshi Times] 7, no. 9

Journal of Sociology 62, no. 6 (May 1957), pp. 541–558; see also Roland

(July 1909), no page number; Mitsukoshi Taimusu 7, no. 12 (October

Barthes, The Fashion System, trans. Matthew Ward and Richard Her-

1909), pp. 5–10.

ward (New York: Hill and Wang, 1983).

18

30

Mitsukoshi 三越 3, no. 10 (October 1913), p. 7. We can also find

On the other hand, from the second half of the 19th century to

another new pattern presented as ‘Art Nouveau style pattern’ in this

the first half of the 20th century, Japanese artists, designers and peda-

issue of Mitsukoshi.

gogues often tried to create and diffuse new clothing that contained

19

both Japanese and Western styles. However, their projects were not

Setsurō Hamano 濱野節朗, ‘E. J. Marugōrudo: Wīn–Darumusy-

utatto’ E. J.マルゴールド―ウィーン–ダルムシュタット [Emanuel Josef

successful.

Margold: Wien–Darmstadt], Dezain riron デザイン理論 [Journal of the

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but local in design. Language of Design reveals the extent to which post-war Australian designers tried to embrace modernism’s promises of universality, technological and scientific progress, and innovation within the localised discursive practices of Australian culture.3 Prestige Fabrics was a post-war offshoot of Prestige Limited, a company established by George Foletta in 1922, which became renowned in the 1920s

Textile Modernism in Australia: The Impact of Emigré Designer Gerard Herbst at the Prestige Textile Design Studio in Melbourne in the 1940s and 1950s

and 1930s for its luxury hosiery and lingerie, “the first company in Australia to enter the fine weaving industry”.4 Like other Australian companies, Prestige was required to contribute to the war effort and, from 1940 to 1945, it manufactured silk and rayon parachutes for paratroopers, bombs and supplies as well as “aeroplane fabrics, fine shirtings, linings etc.” in a plant in Sydney.5 Prestige prepared their own silk yarns and became expert in the technical side of producing fine woven fabric at a scale never before attempted in Australia. Concerned that the large investment in the

Harriet Edquist and Isabel Wünsche

plant would come to nought with the termination of the government contract at the end of the war, Foletta

Introd u c t ion

had decided, by 1944 if not earlier, that the only realistic future for Prestige was to begin to produce

In 1951, the documentary film Language of

textiles for the fashion trade.6

Design was shown at the L’Exposition Textile Internationale De Lille (‘International Textile Exhibition in Lille’). It had been produced for Cine-Service by an Australian textile manufacturer, Prestige Fabrics of Melbourne,

From Wi ndow Dresser to Ém i g ré Desi g ner

written by the company’s art director Gerard Herbst and directed by Melbourne cameraman Geoffrey

It is unlikely that Foletta would have embarked

Thompson. Language of Design was the second of

on this expansion of the company without having had

three films produced for Prestige by Herbst and

someone in mind to run it, namely Gerard Herbst, who

Thompson between circa 1949 and 1951. The three

had arrived in Melbourne from Germany in 1939. In

films together illustrate the means by which Herbst,

his papers, he describes himself as a “window dresser”

art director at Prestige from 1945 to 1955, took the

(which the interviewing immigration officer changed to

tropes and methods of modernism to forge an Austra­

“commercial artist”), living at Town Hall Hotel in South

lian fashion product that was international in quality

Melbourne and employed at Prestige, a position

1

2

Textile Modernism in Australia

383

secured for him by Kurt Jacob, whom he had known in

alma mater, most likely referring to the Preußische

Munich but who was then living in Sydney.7 Herbst

Höhere Fachschule für Textilindustrie, which taught

began his work at Prestige by assisting with advertis-

weaving, dressing, dye works, darning, spinning and

ing and display. In February 1942, he signed a Mobili-

milling, and also offered a qualification in design.13

zation Attestation form, now describing himself as a

retail which included window display. Ambitious and

Imperial Force, in the 4th Employment Company,

wishing to go further afield, he applied for a position in

stationed at Albury, New South Wales, and Bonegilla,

Stettin on the Baltic Sea “as part of a team doing shop

Victoria. The evidence of these documents infers that

front and window displays”.14 By the mid-1930s,

the significant shift from ‘window dresser’ to ‘designer’

Herbst accepted a post in charge of window and

occurred at Prestige, not in Germany. Herbst’s service

merchandise displays with Bach, the large Jew-

record shows a steady rise through the ranks to ser-

ish-owned department store in central Munich.

geant by 1944. Herbst rejoined Prestige after demobili-

Established by Isidor Bach in 1871, the store was

sation in September 1945. Given Foletta’s firm intent-

compulsorily sold to one of the managerial staff,

ion to repurpose his silk and rayon plant to produce fine

Johann Konen, and ‘aryanised’ in 1936.15 Presumably

weaves after the war, it may well be that this possibility

Herbst left after this; he was in Paris where he

had been discussed prior to his enlistment.

attended the Exposition Internationale des Arts et

8

Gerard Herbst, originally named Paul Gerhard Herbst, was born out of wedlock to Anna Herbst, a

Techniques dans la Vie Moderne in 1937.16 Back in Munich, Herbst found another position

medical student, and Gustav Thiele on 1 Febru-

at the Musikhaus Odeon, a multi-storey music shop on

ary 1911, in Dresden-Blasewitz. Thiele was a textile

Sonnenstraße owned by the Jewish family Jacob. A

machinery designer and engineer who was credited

published advertisement for Hohner harmonicas and

with innovations in weaving machine automation. As

accordions shows the front window of the Musikhaus

an infant, Herbst was fostered out to Franz and Emmi

in which Herbst had placed a cardboard silhouette of

Lode who had no children of their own. The Lodes

an accordion player with various instruments at his

lived in the textile processing town of Cottbus,

feet (ill. 1). The text accompanying the advertisement,

south-east of Berlin, but had previously lived in

in addition to guaranteeing that all stock was available,

Dresden. Franz Lode was a businessman who dealt “in

noted that the head decorator, Herbst-Lode, was

the sale of locally manufactured cloth for making suits

responsible for the design and execution of the

and other apparel” and it is possible that it was

window display, a clear affirmation of his skill.17 Herbst

9

10

through mutual contacts in the textile industry in

soon became friends with son Kurt Jacob, and when

Dresden that Thiele and Lode knew each other.

the business was targeted during the Kristallnacht

Herbst took his mother’s name and that of his foster

pogrom, in 1938, Herbst helped the family hide and

parents, becoming Herbst-Lode. Family records

lent them money to escape Germany.18 Brought to the

indicate that following primary and secondary school

attention of the police and briefly imprisoned, he left

Herbst attended a technical college where his studies

Germany for Australia, his migration in turn being

“included life and technical drawing and commercial

assisted by Kurt Jacob, who had been sent to Sydney

art”. Herbst named the Höhere Handelsschule as his

to establish a branch of the family business and,

11

12

384

Herbst’s first job was in fabric wholesale and

“designer”, and entered service in the Australian

Harriet Edquist and Isabel Wünsche

factory from the back across a courtyard; upstairs was the studio. At each end of the rectangular studio were stages for displays and photography and to the sides a tiny dark room for photography and screenings and Herbst’s office.20 The position of art director first emerged in the commercial advertising industry in the United States in the 1920s. Jackie Dickenson puts its emergence in Australia much later, in the 1950s or 1960s, so the creation of such a position at Prestige in 1945 was highly unusual and should be seen as a pioneering development in modern Australian commercial enterprise.21 As art director, Herbst was able to execute his own designs as well as generate design ideas for others to follow, Copolov recalled, but he was primarily in charge of Prestige’s overall design, promotion and advertising, responsible for providing a unifying vision for the company’s brand. To support the enterprise, Foletta set up a dye and printing workshop, Dyecraft Limited, in 1945 and imported high-end Swiss looms.22 H G Foletta & Co, “merchanIll. 1: Gerard Herbst, Window Display for Musikhaus Odeon, Munich, ca. 1938

dise representatives for Prestige Ltd”, was established to distribute the resulting fashion fabrics.23 Initially, their only real competition was Claudio Alcorso’s Silk

presumably, to secure his own safety. The families

and Textile Printers, which had opened in Sydney in

were to remain in contact throughout Herbst’s life and,

1939, a year after Alcorso and his brother had mi-

in 1995, Herbst was honoured by Yad Vashem as one

grated to Australia from Italy but moved to Hobart,

of the Righteous Among the Nations for his help in

Tasmania in 1947. While Silk and Textile Printers had

saving the lives of the Jacob family.

introduced the Modernage range of textiles designed

19

by Australian artists in 1946 and 1947, much like Zika

Ge rard Herbst, Art Director of Pre s t i ge Design Studio, 1945 to 1955

Asher’s artists’ scarves project in England at the same time, the designs were not especially suitable for repeats and the initiative was not a success.24 Herbst brought into the Prestige studio young artists and designers who worked as a collaborative

George Foletta established a design studio at

team through the design process from initial concept

Prestige to be led by an art director. Former employee

to manufacture and display. Some, like Nan Gooder-

Susan Copolov (formerly Tandler) recalls entering the

ham, William Salmon and Viennese-born Susan

Textile Modernism in Australia

385

Copolov, had studied art at the Melbourne Technical

tional vehicle for Prestige, the film also exemplifies the

College (now RMIT University), while others, such as

practice of modern design, which is explained in a few

Polish-born émigré artist Stanislaus Ostoja-Kotkowski

well-illustrated steps: having first conceived a new

were émigrés like Herbst. There was no in-house

design, Herbst would take it to one of the artists in the

aesthetic; quite the contrary, the array of designs was

studio (in this case, Copolov), who would mock it up in

enormous, with Herbst consciously resisting the idea

paint and paper, draping the results on miniature

of conforming to accepted design norms: “Our task

models (ill. 2). The models were then photographed,

[was] to create conventional as well as experimental

and Herbst would assess whether the fabric was ready

design work. From the original concept to that of the

to go into production. The next sequence in the film

drawing board, a multitude of exploratory designs

illustrated the Phototex process from photograph to

evolved.”25

silkscreen, as well as a process combining silhouette

Designers at Prestige worked according to their own strengths; some textiles were avant-garde, others

with camera-less photography, a combination probably inspired by László Moholy-Nagy’s discussion of both

traditional. Designs attributed to Herbst tended to be

techniques in his book Vision in Motion, first published

abstract, derived from natural forms or influenced by

in 1947, a text that Herbst was familiar with and

contemporary British textile design. Copolov, whom

referred to in his later career as a teacher at RMIT.27 A

Herbst praised as a great colourist, recalled that she

number of authors have suggested that Herbst met

tended to focus on florals and Paisley designs although

and was encouraged by Moholoy-Nagy while still in

she also collaborated with Herbst on bold designs for

Germany, but the evidence for this is not strong.28 It is

the wide ties in fashion at the time, which were

more likely that Herbst first became seriously inter-

presented in thematic ranges (Zanzibar, Transjordan,

ested in Moholy-Nagy in 1947, when Vision in Motion

Wanamaker, Streamline, Bayadere etc.).26 Ostoja-Kot-

was published.

kowski’s fabric designs were generally abstract with

Along with fashion fabrics, Prestige produced

bold forms and colourways. There were also highly

accessories based on the same photographic motifs –

experimental novelty designs that were more to do

ties, scarves and handkerchiefs. The garments were

with publicity than fashion.

modelled on a specially prepared stage in the studio by Copolov and well-known Melbourne model Elly Lukas,

Ph ototex and Po rtraits in Fa b r i c s

among others. The fabrics were regarded as novelty products intended to project to the public Prestige’s capacity for innovation and technical expertise;

The drive to innovation can be seen in an early

386

photographic busts of Phar Lap (Australia’s most

process called Phototex, invented in 1948, a modifica-

popular racehorse), the American actress Rita Hay-

tion of an American process that combined photogra-

worth and others loom out of the densely-figured

phy and screen printing. To promote these fabrics,

backgrounds. Possibly intended to be shown before a

Herbst hired the cinematographer Geoffrey Thompson

feature in the cinema, Portraits in Fabrics concludes

of Cine Review, to help him produce Portraits in

with the statement “a Melbourne designer puts

Fabrics, a short (3.5 minutes) film, released in 1949,

Australia on the map of fashion”, a succinct summary

which he himself directed. Although clearly a promo-

of Herbst’s ambition. The press was intrigued and the

Harriet Edquist and Isabel Wünsche

Ill. 2: Unknown photographer, Prestige Studio showing designer Susan Tandler with small mannequins she has draped in Prestige fabric, 1950

film received widespread coverage in 1949, not only in

of photography in the studio paralleled industry

the trade literature but also in such far-flung publica-

developments worldwide.31

tions as Austral News (Bombay).

29

Portraits in Fabrics is significant in that it demon-

While Herbst developed film as a new promotional tool both to enhance the image of Prestige and

strates Herbst’s interest in film and photography both

also to articulate the role of the designer, he also used

as an artefact and as a technology capable of manipu-

still photography as an advertising medium. Although

lation at all stages of the design process. The camera

often behind the camera himself, he also commis-

became a working tool for the staff, who found that “a

sioned German émigré Wolfgang Sievers, one of

camera, as well as a pencil and drawing pad, can catch

Australia’s most acclaimed modernist photographers,

a detail they need for future reference in working out

to produce advertising material. Today, Sievers is

a design”.30 Following Moholy-Nagy, Herbst was also

celebrated for his powerful depictions of post-war

interested in camera-less techniques such as the

Australian industry and architecture: “In the fore-

combining of silhouettes with photosensitive paper,

ground of many of his photographs of machines,

photograms and other experimental processes. His use

factories and laboratories are men and women at

Textile Modernism in Australia

387

Ill. 3: Wolfgang Sievers, Elbeo Stockings Advertisement, Contempora – ­Lehrateliers für neue Werkkunst, Berlin, 1938

work, including miners, welders, assembly workers,

migrating to Melbourne in September 1938.34 Like

craftsmen, draughtsmen, technicians, scientists,

Herbst, he spent parts of the war in the 4th Employ-

computer operators and managers.”32 Sievers had

ment Company of the Australian Imperial Force. His

studied photography at Contempora – Lehrateliers für

work of the immediate post-war period has received

neue Werkkunst in Berlin in the 1930s and was a

little attention from scholars, but the small body of

follower of Bauhaus principles, “in particular the

work he created for Prestige in the late 1940s and

commitment to the applied arts, and the view that art

early 1950s demonstrates an unheroic side to his work

and industry should be united, with the artist serving

that should not be ignored.

an important social role”. He produced architectural 33

388

Sievers’s work for Prestige in the early 1950s is

photography for his father, art historian Johannes

of particular interest, as it thematically and composi-

Sievers, as well as commercial photography, prior to

tionally relates directly to photographs shot by Sievers

Harriet Edquist and Isabel Wünsche

in Berlin in 1938. In an advertisement for Elbeo Stockings, we see a woman, her face partially obscured by the synthetic nylon stocking she holds up before her eyes (ill. 3). Although an advertisement for a product emblematic of modern technological progress and evidence of Sievers’s accomplished understanding of modernist photography, as Helen Ennis has argued, the languorous beauty of the figure suggests a pictorial lineage extending back to the Madonnas of Bellini and early Titian, works that Sievers would have seen while travelling through Italy with his mother in 1930.35 The Australian version, for Prestige, uses the same conceit but is pitched to a contemporary audience; its composition of two suntanned,

Ill. 4: Wolfgang Sievers, Advertisement for Prestige Hosiery Ltd, Melbourne, ca. 1950s, photograph

bare-shouldered women is glamorous, seductive and outward looking (ill. 4). The early advertisements for Prestige are

white images which convey a feeling of suspense, even

important registers of Sievers’s accommodation to his

intimacy, but also the artificiality of the theatre envi-

new environment, his new audience and the distance

ronment. This quality of human interaction in Sievers’

he had travelled aesthetically from Berlin, they are

early post-war work contrasts strongly with the photo-

indubitably modern. One of the best-known of

graphs he took for Prestige after Herbst had left the

Sievers’s Prestige commissions is a photograph taken

company, compositions such as Stocking drying machine

at Red Bluff in the beach suburb of Black Rock,

at Prestige Ltd, Brunswick and Prestige Stockings, Bruns-

depicting Herbst cast in shadow standing on the cliff

wick Melbourne, which celebrate industrialised moder-

overlooking the sea. Herbst holds aloft what looks like

nity, for which Herbst himself had little affection.37

a flag but is in fact a billowing length of Prestige fabric with a floral motif. Its projection of victory and

Language of Design

freedom is powerful (ill. 5). What is interesting in these photographs is their

The film Language of Design expanded on the

humanity. Sievers, no doubt directed by Herbst, dis-

theme of Portraits in Fabrics – the ideas behind the

plays the textiles in relation to the human body and,

processes of fabric design as practised in the Prestige

even in abstract compositions, draped as they would

studio. Herbst was “anxious to give an insight into the

naturally fall, rather than flat or stretched taut like a

abstract world of the artist and to reduce into under-

canvas. Herbst believed that “most illustrations of

standable terms the motivating factors which activate

textiles are like wallpaper, and at all costs this should

the designer”.38 The film opens on the sea shore where

be avoided when presenting fabrics through any

Georgia Lee, swathed in a sarong, walks along the sand

pictorial medium”.36 Sievers also photographed the

picking up drift wood, seashells and, as she climbs a

making of Fabrics in Motion in high contrast black and

nearby cliff, twigs from a ti tree. A voice-over explains

Textile Modernism in Australia

389

Ill. 5: Wolfgang Sievers, Gerard Herbst with his Design of Prestige Fabric at Red Bluff, Melbourne, 1950, black and white photograph, 5.1 x 40.3 cm

390

Harriet Edquist and Isabel Wünsche

how these natural forms provide the inspiration for

Herbst desired to produce a film about Austral-

design, particularly, Australian design. Born Dulcie Pitt

ian design and the identity of his setting is unmistaka-

in Cairns, Queensland, Georgia Lee was Australia’s first

ble. As Elizabeth Auld reported: “To those overseas

indigenous jazz singer. She formed the Harmony

eyes at the Exposition at Lille the scene is a languor-

Sisters as a teenager in Cairns and was introduced to

ous one of tropical seas and sands, but to the Austral-

jazz and blues during the war. Moving south and

ian who takes the glory of his sea beach too much for

adopting the name Georgia Lee, she became well-

granted, it is simply the shore of Black Rock, four miles

known as a performer in jazz and blues clubs in both

from Melbourne”.41

Sydney and Melbourne. In 1951, she appeared in the 39

indigenous theatre production An Aboriginal Moomba: Out of the Dark staged in Melbourne during the

Fabrics in Motion and Visual Advertising

festivities celebrating 50 years of Federation.40 In Herbst’s film, however, Georgia Lee did not

Fabrics in Motion is the third film produced and

represent Aboriginal culture, which is generally absent

directed by Thompson and Herbst for Prestige, in

as a design influence in Prestige textiles. She appears

1951; it was shown at the inaugural Melbourne

as an individual in her own right who, having intro-

International Film Festival in 1952.42 The festival, today

duced the natural forms that will be transformed into

one of the oldest film festivals in the world, was held

design, follows them into the Prestige studio where,

in the small hill town of Olinda and screened 8 feature

dressed in a smart suit, she inspects the work of the

films and 79 short films over the Australia Day

designers and becomes an active participant in the

weekend of 25 to 28 January. The fact that the film

narrative.

was entered in a film festival rather than shown at a

As the film cuts from the beach to the Prestige

trade event such as the Lille L’Exposition Textile

design studio where the staff are working at their

Internationale indicates the increased level of profes-

desks, the voice-over assures the viewer that “the field

sional ambition and experimentalism in film-making

of industrial design is today providing increasing

the two had acquired in the three years since Language

opportunities for the creative artist”. In its pursuit of a

of Design. The tightly scripted film is divided into five

local design initiative, Prestige reflects Australia and

parts: Summer, Harlequin Le Bateleur, Magic Box, The

“its new world approach to living”, a context in which

Artist and Nocturne. Each is prefaced by one of the

“nature provides the mainspring of thought when

studio designers at an easel working on a design over

considering design for textiles”. Moving from one

which the segment title is superimposed. Valerie Grieg,

designer to the next, the film records the various

a dancer from the Melbourne Ballet Guild, enters,

techniques used to transfer natural forms, including

scans the stage and draws out lengths of fabric from a

shells and ti-tree twigs, to patterns suitable for repro-

basket, a magic box and a trunk and displays them on

duction on fabric. The textile designer thus “emerges as

her body or on a suitable stage prop. The magic box

a vital force in the design for living”. Finally, the film

segment may have been inspired by the 1951 British

returns to the beach, where various models, including

film of the same name, a biographical drama about

Georgia Lee, are filmed on the rocks modelling gar-

William Friese-Greene, who designed one of the

ments made from the fabric shown in the studio.

earliest working cinematic cameras.43 The recently

Textile Modernism in Australia

391

released film was to be shown at the film festival; Herbst’s magic box, a large black box which the dancer explores to find fabric, could therefore represent the camera, fittingly, given Herbst’s enthusiasm for photography. In May 1953, Herbst presented Fabrics in Motion again, as a stage performance in a suburban town hall with a different dancer and musicians. It formed the second part of a programme that included screenings of Language of Design as well as Fabrics in Motion. The stage performance had eight segments, which, their titles suggest, were different from those in the film.44 Recalling the project many years later, Herbst noted that while fabrics “originally commenced in an animated, creative world”, when placed on models, they became “lifeless”, hence his idea to present them in film and on stage “uncut and alive”.45 Beyond his talents as a film-maker, Herbst’s design strength was in visual merchandising and poster art, and his contribution to these areas while at Prestige complemented his art direction. In the 1940s, he gained an honourable mention in the first exhibi-

Ill. 6: Cover of Das Schaufenster, 1955, No. 7, with display by Gerard Herbst

tion of the Annual Australian Commercial and Industrial Artists Association (ACIAA) for an advertising display of

featuring ties.47 In each, the objects were arranged

lingerie; in 1951, he showed his work in Lille. A

informally with sparse backdrops: a piece of cloth

photograph by Sievers of a model standing on the

draped across a table or chair or loosely arranged in a

beach wearing a garment made from the Prestige

straw basket, ties looped across a simple rack. Com-

fabric Bayadere was featured in the Lille Exposition

pared with the illustrations from Europe and Canada in

and was reproduced in Les Nouvelles Litteraires, Paris at

the same publication, Herbst’s work looks modern and

the time.46 Herbst’s work could be seen in the win-

fresh.48 The 1955 edition of Das Schaufenster (The

dows of fashionable boutique shops such as John

Window Display) carried on its cover a Herbst ar-

Browning Opticians, whose enlightened owner,

rangement of Prestige fabrics (ill. 6).

Yvonne Raphael, was a friend and supporter of contemporary design, as well as in Melbourne’s largest

Conclusion

department store, Myers. Herbst’s studio displays were also featured in European trade journals. In one,

392

Herbst left Prestige in 1955. He had been a

a one-page spread depicted three small displays

sessional lecturer at the Melbourne Technical College

arranged in the studio, two featuring fabric and one

(now RMIT University) since the late 1940s and, in

Harriet Edquist and Isabel Wünsche

Note s

1960, he was appointed senior lecturer and head of the Industrial Design Department where he remained until retiring in 1976. The Australian textile industry had been in a decline during the 1950s and, in 1951, a flood of cheap imports, combined with inflationary pressures, tariffs and difficult government regulatory regime sent shock waves through the industry. By the early 1950s, Prestige had committed almost half their funds to the fabrics division, although their core business was still hosiery. It may be that Herbst’s production of Language of Design was intended as a response to this challenging environment to promote Prestige’s interests. In 1955, H G Foletta & Co, still privately held by the Foletta family which probably supported the textile arm of Prestige, including Herbst’s design studio, was amalgamated with Prestige.49 The company continued to manufacture fashion fabrics, but the fate of the design studio is unknown. An advertisement in Australian Home Beautiful in 1960 indicates that fabrics were now being brought to market by a Prestige subsidiary, Décor Textiles, and that the designs were “based initially on overseas ideas, then modified and interpreted to suit Australian conditions”. In 1961, Prestige ambitiously launched a 50

range of fashion in Paris designed by Peter Quittenbaum, who “has had years of experience in the haute couture centres of Europe” and whose garments were made from fabrics produced by various Prestige subsidiaries.51 Prestige had fallen back into the culture of eurocentric adaptation from which Herbst had tried so valiantly to rescue it in the vital post-war years.

1

L’Exposition Textile Internationale De Lille was held at the Grand

Palais de la Foire de Lille. Georges Bidault, Vice-President of the Council of Ministers, and André Guillant, Secretary of State for Industry and Commerce, attended the opening ceremony on 28 April 1951. Delegates from 22 countries attended the exhibition, which had 1.5 million visitors over a three-week period, and it was covered by 150 journalists, see Livre d’or de l’Exposition textile internationale, 1951, exh. cat. (Lille/Paris: Mauranchon-Lamy, 1951) and ‘The International Textile Exhibition’ (accessed 16 November 2018).

2

The first film, Portraits in Fabrics, was probably the first film

about design made in Australia; it was followed by Language of Design in 1950 and Fabrics in Motion in 1951.

3

Daniel Huppatz, ‘Visualising Settler Colonialism: Australian

Modernism and Indigenous Design’, RMIT Design Archives Journal  8, no. 2, 2018, p. 35.

4

George G. Foletta, Woven Threads. A Family Story (Melbourne:

privately published, 1975), p. 141.

5

George  G. Foletta to Hon.  J.  A.  Beasley, M.  P.  Minister for

­Supply & Development, 8 December 1941, University of Melbourne Archives, Prestige Ltd, 1975.0085, Unit 11.

6

Details of Foletta’s arguments about the future of the Prestige

fabrics are found in University of Melbourne Archives, Prestige Ltd, 1975.0085, Unit 11.

7

For Herbst’s immigration papers see the records for ‘Gerhard

Herbst’ at the National Archives of Australia, (accessed 16 November 2016).

8

‘Mobilization Attestation Form for Gerhard Herbst’ (National

Archives of Australia) (accessed 16 November 2016).

9

Most published accounts of Herbst’s life are based on inter-

views with him and his own brief accounts produced in the 1980s and 1990s when he was in his 80s. See, for example, Ann Brennan, ‘A Philosophical Approach to Design: Gerhard Herbst and Fritz Janeba’, in The Europeans: Emigre artists in Australia 1930–1960, ed. Roger Butler, exh. cat. National Gallery of Australia (Canberra, ACT: National Gallery of Australia, 1997), p.  154; Veronica Bremer and AnneMarie van de Ven, ‘The Bauhaus Link in the Life and Work of Émigré Artist Gerard Herbst’ (emaj, 9 May 2016) (accessed 15  November  2018). There is, in fact, little documentation of Herbst’s life in Germany.

10

This information on Gerard Herbst’s birth and foster parents

was kindly shared with Edquist by his son Daniel Herbst; information on Franz and Emmi Lode was kindly supplied by Udo Bauer from Cottbus City Archives, 16 September 2018.

Textile Modernism in Australia

393

11

E-mail correspondence between Edquist and Daniel Herbst, 4

László Moholy-Nagy, Vision in Motion (Chicago: Paul Theobald,

1947), p. 187.

12

28

At the time, there existed in Cottbus the Preußische Höhere

The strongest case has been put by Bremer/van de Ven, ‘The

Fachschule für Textilindustrie (‘Prussian Higher Technical College for

Bauhaus Link’, p. 2. Much of their evidence is based on Herbst’s recol-

Textile Industry’) that taught weaving, dressing, dyeworks, darning, spin-

lections and writings which are not particularly reliable documents for

ning and milling, and also offered a qualification in design; the Niedere

historical accuracy. His account of his education is vague and cannot be

Fachschule (‘Lower Technical College’), a commercial vocational college

verified by Cottbus archives, as discussed above. Moholy-Nagy could

for young men between the ages of 15 and 18; the Städtische Han-

not have noticed Herbst’s window designs for Jacob Musikhaus in Mu-

delslehranstalten (‘Communal Business School’) that trained young

nich because he had moved to Chicago at the time Herbst was working

people for business professions in a two-year program; and, at the same

for Jacob. There is no evidence that Moholy-Nagy published anything

location as the Städtische Handelslehranstalten, another technical col-

of Herbst in International Textiles.

lege which offered training for the mercantile professions, including

29

business administration, European languages, economics, typewriting,

bourne.

calligraphy and gymnastics. We are grateful to Wiebke Gronemeyer for

30

getting this information from Cottbus archivist Steffen Krestin.

an’s Day and Home (7 January 1952), p. 45.

13

bourne: RMIT, Department of Fashion and Textile Design, 1996), p. 1.

31 32

14

ed-library-collections/sievers-collection> (accessed 16  Novem-

Gerard Herbst, Prestige Fabrics Design Studio 1945–1955 (MelE-mail correspondence between Edquist and Daniel Herbst, 4

Cutting in Herbst collection at RMIT Design Archives, MelElizabeth Auld, ‘New textiles with an Australian accent’, WomDickenson, ‘Australian Advertising Art between the Wars’, p. 15. Jorge Calado, Life Line (2000)