Technik und Geisteskultur [Reprint 2019 ed.] 9783486764963, 9783486764956

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Technik und Geisteskultur [Reprint 2019 ed.]
 9783486764963, 9783486764956

Table of contents :
INHALT
I . TECHNIK, GEISTESKRISIS UND NEUGESTALTUNG DER IDEALE
II. DIE REVOLUTION DES GEWISSENS
III. TECHNIK UND RETTUNG DER SCHÖPFERISCHEN KRÄFTE
IV. VERGEISTIGUNG DER TECHNIK
V. MECHANISIERUNG UND SCHÖPFERISCHE ARBEIT
VI. TECHNIK UND ERNEUERUNG DER KUNST
VII. TECHNIK UND NEUES RELIGIÖSES WELTBILD

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TECHNIK UND GEISTESKULTUR VON

HANS 2 B I N D E N

MÜNCHEN UND BERLIN 1933

VERLAG V O N R. O L D E N B O U R G

Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechtes, vorbehalten. Copyright 1933 by R. Oldenbourg, München und Berlin.

Druck von R. Oldenbourg, München und Berlin.

Die vorliegende Schrift ist aus Vorträgen hervorgegangen, die der Verfasser in den Jahren 1931 und 1932 auf Einladung verschiedener Bezirksgruppen des Vereins Deutscher Ingenieure gehalten hat. Sie sind für den Druck zum Teil neubearbeitet und um einige Abschnitte erweitert worden. Möchten diese Ausfuhrungen, die ihre wesentlichsten Anregungen der Seelen- und Kulturforschung Rudolf Maria Holzapfels verdanken, zur Klärung eines der umstrittensten Probleme der Gegenwart beitragen und seiner Betrachtung neue, befreiende Perspektiven eröffnen helfen. H. Z.

INHALT Seite

I. II. III. IV. V. VI. VII.

Technik, Geisteskrisis und Neugestaltung derldeale Die Revolution des Gewissens Technik und Rettung der schöpferischen Kräfte. Vergeistigung der Technik Mechanisierung und schöpferische Arbeit . . . . Technik und Erneuerung der Kunst Technik und neues religiöses Weltbild

i 26 44 57 65 97 109

I.

TECHNIK, GEISTESKRISIS UND NEUGESTALTUNG DER IDEALE

Die Angst vor der Maschine. — Was hat die Technik geleistet ? — Die Störung des Gleichgewichts. — Der Zustand der geistigen Kultur bei Beginn des technischen Zeitalters. — Kämpfe gegen die Mechanisierung: Ruskin, Tolstoi, Dostojewski. — Die Isolierung der Wissenschaft und Technik. — Das Versagen der alten Geistesgrundlagen und der Mißbrauch der Technik. — Die Neugestaltung der Ideale. — Was bedeutet Kulturentwicklung ?

I. Mechanisierung, Rationalisierung, Amerikanismus sind die Schlagworte unserer Zeit geworden. Ein leidenschaftlicher Kampf für und wider die Technik ist entbrannt. Den einen bedeutet sie den Höhepunkt menschlicher Leistung und begeistert singen sie das Hohelied der Technik; die andern sehen in ihr das Grundübel der Zeit, Ursache der wirtschaftlichen Verwirrung, der Arbeitslosigkeit, der seelischen Verflachung und des Massenmenschentums. Im Namen des Geistes geht ein wildes Ringen an gegen die Mächte der rationalisierenden Vernunft. Unter den Bannern „Mensch" und „Maschine" prallen heute tiefste weltanschauliche Gegensätze aufeinander. Das Ringen freilich hat nicht erst in unserer Ära begonnen. Schon mit Rousseaus Kampf gegen die Schäden der Zivilisation, mit seinem Warnruf „Zurück zur Natur" begann die Abwehr. Die rasche Zunahme der Industrialisierung, mit ihren umwälzenden sozialen Folgen, erregte tief die Geister und ließ sie voll Bangnis und Unruhe in die Zukunft schauen. In jener Zeit schrieb Goethe in „Wilhelm Meisters Wanderjahren", in denen er den alten Ständestaat und das Handwerk preist, die ahnungsdüstern und schmerzlich resignierenden Worte: „Was mich aber drückt, ist doch eine Handelssorge, leider nicht für den Augenblick, nein, für alle Zukunft. Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam, aber es hat seine Richtung i

genommen, es wird kommen und treffen. Man denkt daran, man spricht davon, und weder Reden noch Denken kann Hilfe bringen. Und wer möchte sich solche Schrecknisse gern vergegenwärtigen I . . . Hier bleibt nur ein doppelter Weg, einer so traurig wie der andere: entweder selbst das Neue zu ergreifen und das Verderben zu beschleunigen — oder aufzubrechen, die Besten und Würdigsten mit sich fortzuziehen und ein günstigeres Schicksal jenseits der Meere zu suchen." Immer lauter und leidenschaftlicher ertönten seither die Warnrufe. Von Dostojewski und Tolstoi, die in der Wissenschaft und ihren Auswirkungen das Übel der Moderne sehen und die Bedürfnislosigkeit des russischen Bauern als Ideal menschlichen Daseins preisen — bis zu Nietzsche und Gandhi kennen die Feinde der Maschine und Zivilisation nur eine Wahl: entweder Bewahrung der Seele und der Kultur durch Rückkehr zu der Anspruchslosigkeit eines „natürlichen" Daseins und durch Niederringen der Herrschaft des Intellekts, oder aber Zermalmung jedes geistigenEigenlebens unter den alles ausgleichenden Rädern der modernen Technik und Industrie. Wie die Entscheidung ausfallen wird, erscheint freilich vielen zur Zeit kaum zweifelhaft. Unaufhaltsam schreitet das „Maschinenwesen" fort; über alle Widerstände und Notrufe hinweg erobert es in beispiellosem Siegeslaufe alle Provinzen des Lebens. Wirkt es nicht wie ein prophetisches Sinnbild dieses aussichtslosen Kampfes, daß gerade Nordamerika, das Land, welches Goethe und die Romantiker als Zuflucht vor der Verödung des industrialisierten Europa priesen und in dessen ungebrochener Naturfülle ein Lenau und andere Erneuerung suchten — heute, kaum hundert Jahre später, zum Inbegriff aller Mechanisierung geworden ist, zum gelobten Lande der Technik und der raffiniertesten Rationalisierung... ? Rastlos baut der Mensch zeit- und arbeitsparende Maschinen — aber immer karger ist seine freie Zeit bemessen, immer drückender wird die Fron der Arbeit. Wunder der Technik tragen die Menschen mühelos von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, auf Zauberwellen eilen ihre Worte über Meere und Kontinente in den entlegensten Winkel..— aber immer einsamer fühlen sich die Menschen, innerlich fremd und fern leben sie nebeneinander hin und ihr Leben ist inmitten der Reichtümer der Technik leer und gleichförmig geworden. Immer vielgestal2

tiger und wunderbarer wird das Räderwerk, mit dem der Mensch sich von der mechanischen Arbeit entlasten wollte — aber nun ist er selbst zu einem Räderwerk geworden, in mechanischer Eintönigkeit rollt sein Leben dahin, und er ist der Sklave der Maschine, durch die er sich befreien wollte. Wozu dieses sinnlose Treiben, mit all seinen paradoxen, schmerzvollen Widersprüchen ? Millionen Menschen verkümmern seelisch und körperlich unter der aufgezwungenen Arbeitslosigkeit, während gleichzeitig Millionen von drückender Arbeitslast gehetzt und überbürdet, geistig und physisch nicht minder zermürbt werden. Immer neue Maschinen werden gebaut, wozu ? Um neue Maschinen zu bauen. Sind wir glücklicher geworden, seit wir statt mit der Postkutsche mit dem Kraftwagen und dem Flugzeug reisen ? Sagt die unmenschliche Häßlichkeit eines modernen Industriezentrums, die trostlose Ödnis des Lebens ihrer Bewohner nicht schon genug ? Es erscheint manchmal nicht so unbegreiflich, wenn Ruskin am liebsten die Industriestädte in die Luft gesprengt sehen wollte. Und welches ist das Bild, das die Zukunft bietet ? Bedrükkend, erschreckend wie ein Angsttraum erhebt es sich vor unserem inneren Blick: Allenthalben wachsen die Ungetüme riesiger Städte und Fabriksviertel übers Land, greifen mit gierigen Armen nach den Stätten freier, einsamer Natur, und morden ihre Stille und Abgeschiedenheit; ein Netz von Verkehrswegen zerschneidet die Fluren; auf der Erde, unter der Erde, in der Luft dröhnen, donnern, rattern die Vehikel des Verkehrs. In Wohnmaschinen aus Glas und Stahl hausen die Menschen. Alles werden sie haben, was die Technik an Zauberdingen zu schaffen vermag, jede raffinierte Bequemlichkeit und die modernste Hygiene — nur eines wird verschwunden sein: die Seele. Denn sie sind selbst Apparate geworden, reibungslos funktionierende Automaten, Gesundheitsmaschinen ... Bis eines Tages, unerwartet, furchtbar, die darnieder gehaltenen elementaren Instinkte erwachen, und, von keinem geistigen Ziele geleitet, sich in hemmungsloser Zerstörungsgier gegen ihr eigenes Wunderwerk richten, in blindem Wüten mächtige Völkergruppen mit gigantischen Maschinenheeren widereinander ziehen, in einem grauenvollen Kriege der Technik in wenigen Tagen vernichtend, was Jahrhunderte aufgebaut... die Erde als rauchende, giftgetränkte Trümmerstätte zurücklassend, das 3

Grab einer Menschheit, die an ihrem eigenen Wahn zugrunde ging--Was soll angesichts dieser Perspektiven der Ruf: Die Technik soll dem Geiste dienen 1 Erscheint nicht alles geistige Wollen inmitten dieser entfesselten Mächte umsonst, ein verlorener Posten, das Überbleibsel einer früheren Epoche, ein Anachronismus in einer Zeit, da die sausenden Räder und die kalt rechnenden Hirne herrschen ? Welches törichte Beginnen, dieser Fahrt in die Speichen fallen, ihr eine neue Bahn weisen zu wollen. Mit jedem Tage schmilzt das Häuflein der geistigen Kräfte zusammen, zermürbt, entmutigt, ratlos. Was soll diese kleine Schar Einsamer, Suchender, Zweifelnder, Ringender, sie, deren einzige Waffe im besten Falle ihre Sehnsucht, die vage Ahnung eines edleren Daseins, gegen die Gewalten, die mit der Wucht der meßbaren, greifbaren Dinge und Massen das Feld beherrschen ? Ist es da nicht die einzige kluge und sinnvolle Haltung, zu resignieren, heldenhaft und geduldig den unvermeidlichen Untergang des Geistes und der Kultur hinzunehmen ? Erscheint doch alles Mühen um Wandlung, um entscheidende Erneuerung vergeblich. Mit der unentrinnbaren Gewalt einer Naturkatastrophe geht die seelenerstickende Woge der Mechanisierung über die Felder des geistigen Schaffens, und kindisch, selbstbetrügerisch wäre jeder Versuch, dieses Geschehen aufhalten zu wollen. Wir hören diese düstere Botschaft des „illusionsfreien Wirklichkeitssinnes" heute wieder lauter denn je und sie findet bei den Zermürbten, Hoffiiungsberaubten, Ermüdeten willig Gehör. Fordert sie doch nur, in blinder, heldenmütiger Ergebung auf dem Posten auszuharren, Gewehr bei Fuß, bis das Unheil hereinbricht ... und alles zu Ende ist ... *) Oder man gewöhnt sich an den neuen Zustand, man findet ihn sinnvoll und schließlich sogar schön, erhebend, begeisternd. Man preist das Zeitalter des Fortschritts und der Technik und sieht den Maßstab der Kultur in der Zahl der jährlich produ*) Unlängst hat u. a. auch Oswald S p e n g l e r in seiner Schrift „Der Mensch und die Technik" diese Botschaft, die sich in ihrem Skeptizismus sehr heroisch und realdenkend vorkommt, zu erneuern versucht. Die einzig mögliche und vorbildliche Haltung ist ihm die des pompejanischen Soldaten, den man abzulösen vergessen hat und der in treuer Pflichterfüllung den tödlichen Aschenregen des ausbrechenden Vesuv über sich ergehen läßt. Bs wird sich im weiteren zeigen, wie seht derartige Paradoxa die Wirklichkeit fälschen und lediglich den Blick in positive Lösungsmöglichkeiten verrammeln helfen.

4

zierten Automobile. Früher haben die Menschen gedichtet, gemalt, komponiert, heute tun das nur noch einige zurückgebliebene Nachzügler und romantische Träumer. Die wahrhaft schöpferischen und zukunftsgerichteten Köpfe haben schon längst andere, neue Felder der Arbeit erobert. Sie bauen Bahnhöfe, Flugzeuge, Fabriken, Wolkenkratzer. Und die Maler und Musiker schildern die schrillen Farben und Töne dieser Wirklichkeit. Im Geiste dieses Denkens ist es durchaus in Ordnung, wenn moderne Kirchenbauten sich von Getreidespeichern und Filmateliers möglichst wenig unterscheiden. Freilich, weder die Versuche der heroischen Resignation noch die Selbstbetäubung in einem Rausch der Technik sind imstande, die tiefe Unruhe und Unbefriedigung der modernen Seele auf die Dauer zu bannen. Allzu deutlich fühlt sie das Künstliche, Unwahre, Haltlose solcher dialektischer Ausflüchte. Aber wo ist ein Weg ? Wir können die Technik, so wie sie heute unser Leben beeinflußt, schwerlich gut heißen, allzu kraß treten ihre seelenverkümmernden Wirkungen zutage. Aber nicht minder sinnlos muß uns der Kampf gegen sie und gegen den Intellekt erscheinen. Was in Jahrhunderten, in Jahrtausenden allen Schwierigkeiten zum Trotz sich so mächtig entfalten konnte, ist nicht nur Irrtum und Abweg. Was aber ist der Sinn dieses Geschehens, wohin kann und wird es uns fuhren ? 2.

Es ist vielleicht nicht unangebracht, angesichts der heute üblich gewordenen Angriffe auf die Technik, zuerst kurz an einiges zu erinnern, was das „Maschinenwesen" für die Verbesserung der menschlichen Lebenshaltung und für das Geistesleben bisher beigetragen hat. Nur eine voreingenommene Betrachtung könnte übersehen, wie dank der Technik Gesundheit, Lebensdauer, Ernährung und Genußfähigkeit einer großen Menschenzahl in einer Weise gehoben wurden, die vor der Industrialisierung undenkbar erschienen wäre. So unzulänglich heute die sozialen Verhältnisse in Industrie und Wirtschaftsleben noch sind, so drückend das Los großer arbeitender Schichten, — mit der Lage und der erschreckend primitiven Lebenshaltung der Mehrzahl von Menschen früherer Epochen läßt es sich nicht entfernt vergleichen. Es ist eine Lieblingsidee spekulierender 5

Naturphilosophen, zu glauben, daß im „Naturzustande" die Menschen so viel glücklicher und sorgenfreier gewesen seien. In der Lebensführung und seelischen Entwicklung, in der Beziehung zu Natur und Welt herrschte allgemein eine Enge, Dumpfheit und Einförmigkeit, von der wir uns nicht einmal aus dem Leben heutiger primitiver Völkerschaften eine Vorstellung bilden können, weil deren Kultur schon erheblich über den „Naturzustand" hinausgelangt ist. Aber selbst heute herrscht in vielen Volksstämmen von primitiver sozialer Kultur, die kaum eine Technik, geschweige denn Industrie kennen, eine Vernachlässigung und Unterdrückung des Menschen, insbesondere der Kinder und Frauen, denen gegenüber selbst die sozialen und seelischen Leiden in den Anfangen moderner Industrie gering erscheinen. Und welcher moderne Industriearbeiter würde sich die Löhne und die Existenzbedingungen gefallen lassen, unter denen noch heute Millionen von arbeitenden Menschen wenig industrialisierter Länder — man denke an die indischen Bauern oder die chinesischen Kulis — leben und arbeiten müssen ? Auch die Verkürzung der Arbeitszeit von 16 und mehr Stunden auf den 9- und 8-Stundentag und die gleichzeitige relative Erhöhung der Löhne wäre ohne die Entwicklung der Technik schwerlich durchgesetzt worden; an dieser Errungenschaft haben Erfindergeist und Maschine nicht geringeren Anteil als die soziale Bewegung der Arbeiterschaft, die zudem in solchem Umfange selbst erst dank der modernen Verkehrs- und Mitteilungsmittel möglich wurde. Aber auch für die Verbreitung und Hebung der geistigen Bildung hat die Technik, trotzdem ihr Hauptziel bisher nicht darauf gerichtet war, Unersetzliches geleistet. Dank dem Buchdruck, den neuen Reproduktionsverfahren, dem Rundfunk usw. nehmen heute an geistigen Gütern ungezählte Menschen teil, die in früheren Zeiten in tiefster Unwissenheit und seelischer Armut dahinleben müßten. So hätte z. B. Pestalozzis Forderung einer allgemeinen und unentgeltlichen Volksbildung niemals eine so umfassende und rasche Verwirklichung gefunden, hätte nicht die Technik den Reichtum der Völker vervielfacht, die Mittel des Unterrichts verbilligt und zahllose neue Hilfsmittel in den Dienst der Bildungsarbeit gestellt. Aber gerade wer die positiven Wirkungen der Technik in vollem Umfange erkennt, wird sich um so weniger den Gefahren verschließen, die mit der gegenwärtigen Entwicklung 6

des „Maschinenwesens" und mit der Richtung, die es genommen hat, drohend heraufziehen. Es läßt sich nicht leugnen, daß die natürliche Beziehung zwischen Kultur und Technik heute tiefgehend gestört ist. War die Technik ursprünglich bestimmt, die Produktion zu fördern und die menschliche Arbeit zu erleichtern, so scheinen heute Gütererzeugung und menschliche Arbeit nur mehr dazu da, die Maschinen zu beschäftigen. Die Technik ist Zweck, der Mensch und seine Bedürfnisse sind die Mittel geworden. Welches sind die Ursachen dieser Verwirrung ? Zweifellos hat die rasche Entwicklung der Technik in den letzten 80 Jahren — auf die man gewöhnlich als Ursache hinweist — zu dieser Störung wesentlich beigetragen. Der unerwartete, rapide Aufstieg hat eine organische Anpassung zwischen den kulturellen Kräften und der Technik unmöglich gemacht. Wie ein unvermutet mächtig anschwellender Strom überbordete diese die gewohnten Ufer, überflutete immer mehr, in wilder Ziellosigkeit, alle Felder des Lebens und maßte sich schließlich aufdringlich und laut die Führung derjenigen Kräfte an, zu deren Dienerin sie bestimmt war. Wie aber, so müssen wir fragen, konnte es zu einer so einseitigen Entwicklung überhaupt kommen und warum verlor der Geist immer mehr die Herrschaft über die Maschine ? Der Hinweis auf die allzurasche und einseitige Entwicklung der rationalisierenden Kräfte kann da offensichtlich als Erklärung nicht genügen. Mit ebenso viel Recht läßt sich nämlich sagen, daß die kulturellen Lebensgebiete sich allzu langsam entwickelt haben und daß ihr Zurückbleiben hinter der voranschreitenden Wissenschaft und Technik es ist, das die Verwirrung verursacht hat. Vergegenwärtigen wir uns, wie die geistige Kultur aussah, als der Aufstieg der modernen Technik einsetzte. Es war eine in vollem Niedergang begriffene Geisteswelt. Das Gefüge der alteuropäischen Kultur krachte in allen Fugen. Das mächtig anwachsende schöpferische Erweiterungsverlangen der Seele sprengte überall die alten Formen, ohne freilich vollkommenere vorläufig zu finden. Die verhältnismäßig geschlossene Einheit des alten Weltbildes, in der die künstlerischen, religiösen, ethischen Kräfte wie auch Wirtschaftsleben und Technik, Staat und Recht lange Zeit eine gewisse Orientierung gefunden hatten, 7

zerbrach. An Stelle einstmals reich differenzierter und vielseitig, wenn auch nicht immer organisch verbundener Ideale und Bestrebungen trat eine fortschreitende Zersplitterung in isolierte Teilgebiete. Kunst, Moral, Religion, Wissenschaft, Wirtschaft gingen immer mehr gesonderte Wege. Diese Zersetzung begünstigte gleichzeitig eine beispiellose geistige Verflachung. Je mehr die innere Einheit fehlte, um so weniger konnte sich der Reichtum der Einzelgebiete voll fruchtbar auswirken* um so wehrloser waren Geistesleben und soziale Arbeit dem Einfluß grobnivellierender Lehren und rein utilitärer Ziele ausgeliefert, die seit der Aufklärung und der Revolution das Leben überschwemmten. Diese Veränderungen hatten längst mit aller Wucht eingesetzt, als die Technik in ihrer modernen Gestalt auf den Plan trat. Im Schatten und als Zeuge dieser Niedergangserscheinungen wurde sie groß. Was Wunder, daß sie den Geist dieser Zustände übernahm, daß sie ihr Werkzeug und ihr Opfer wurde. Indem sich Forschung und Technik vorwiegend im Dienste eines bereits atomisierten Denkens und Fühlens entfalteten, mußten sie selbst immer mehr zu Instrumenten weiterer Auflösung werden. Aber zu Unrecht wandte sich die nach schöpferischer Synthese verlangende Seele gegen sie. Dampfkraft und Eisenbahn, spezialisierte Forschimg und Industrie haben die Zersetzung und Uniformierung des Geisteslebens zwar ungeahnt beschleunigt, aber nicht primär verschuldet. Nicht von der Maschine, und nicht von Amerika kommt uns letzten Endes die „Amerikanisierung". Diese konnte nur deshalb in den letzten Jahrzehnten so rasch in der Alten Welt Fuß fassen, weil deren Boden schon längst von den Keimen eines seelischen Verfalls, von Nivellierungs- und Nützlichkeitsideologien durchsetzt war. Die Amerikanisierung hatte in den Seelen Europas längst begonnen, ehe die letzte Woge geistiger Verflachung aus der Neuen Welt sie erfaßte. So fiel die technische Entwicklung gleichsam in einen leeren Raum; ohne höhere Aufgaben wurde sie zu einem Instrument bloßer ungeregelter Erhaltungsbefriedigung und grobsinnlicher Macht- und Genußziele. Nirgends fand sie in der bestehenden Kultur die umfassenden, geistesschöpferischen Inhalte und Aufgaben, in deren Streben sie sich hätte einordnen und dem Seelenaufbau dienen können. Was aber die nieder8

gehende Kultur der Technik an lebendigen Resten künstlerischen, ethischen, religiösen Wollens noch zu bieten hatte, war viel zu schwach, dem Leben vielfach abgekehrt, vereinzelt, ohne Zusammenhang mit dem Ganzen, als daß es hätte die Gefahr einer Entgeistigung der Technik überwinden können. 3In tragischer Deutlichkeit trat diese Ohnmacht in einer Reihe von Versuchen zutage, die das 19. Jahrhundert zur Überwindung der fortschreitenden Intellektualisierung und Rationalisierung des Lebens unternahm. Sie zeigen anschaulich, wie das alte Geistesleben dem Strom verflachender und gefühlsverarmender Mächte, die der Buchdruck, die Presse, der moderne Verkehr mit vertausendfachter Gewalt in alle Winkel der Seelen und der Welt trugen, keinen kraftvollen Widerstand mehr entgegenzusetzen vermochte. Erscheint nicht das Schicksal John R u s k i n s , des mutvollen und glühenden Apostels einer künstlerischen und sozialen E r neuerung, fast wie ein Sinnbild dieses Versagens ? E r , der sein ganzes Leben dem Kampf gegen die entseelenden Folgen des Industrialismus geweiht hatte, der durch Wiederbelebung der schöpferischen Kräfte die geisthemmenden Wirkungen der Maschine zu überwinden hoffte, sah seine Erwartungen und Mühen bitter enttäuscht. Zwar vermochte er auf diesem Wege als Schöpfer der modernen Gartenstadtbewegung, des Naturschutzgedankens, des Kampfes gegen die Unmenschlichkeit der Slums, der sozialen und künstlerischen Reform entscheidende, fruchtbare Impulse zu schenken, und darüber hinaus wurde er der leidenschaftliche Erwecker des sozialen Gewissens seiner Zeit. Aber das Hauptziel seines Lebens sah er im Alter ferner gerückt denn je, und in tiefer Vereinsamung endete das heroische Ringen dieses edlen Pionieres. Nicht darum aber kam das Versagen, weil der eingeschlagene Weg — die Überwindung der Gleichmachung und der sozialen Verrohung durch eine Erneuerung der künstlerischen Kräfte und des religiösen Naturgefuhls — an sich irrig gewesen wäre; in neuer Form und in umfassenderem Z u sammenhange wird dieser Gedanke seine volle Fruchtbarkeit erst noch erweisen und Ruskins Wollen seine wahren Früchte erst noch tragen: sondern Ruskins Streben scheiterte daran, daß 9

Kunst, Handwerk und Naturgefuhl, an die er appellierte, selbst in ihrem Innersten ermattet waren; ihre schöpferischen Antriebe waren mit dem Versiegen der religiösen Quellen geschwunden, und auch die Romantik hatte sie nicht mehr dauernd zu beleben vermocht. Dem mächtigen Baume christlichen Glaubens und altreligiöser Lebensgestaltung entsprossen nur mehr einige kurzlebige Kunstblüten. Es war eine Epigonenkunst und ein schon entwurzeltes Handwerk, die Ruskin zu Hilfe rief, und diese mußten in diesem Kampfe unterliegen. Wie hätten auch die zarten, aber blutleeren Treibhausgebilde eines Dante Gabriel Rossetti und später des Jugendstils den mechanisierenden Kräften der Zeit ein urwüchsig beseelendes Streben entgegensetzen können ? Aber auch das ursprünglichere Schaffen eines Turner, in dem Ruskin den Bringer einer neuen, großen Kunst sah, mußte am Fehlen lebendiger religiöser Erlebniswege ermatten. Ruskin selbst verstrickte sich immer mehr in eine lebensfremde Ablehnung der Technik: so weigerte er sich z. B., für den Transport seiner Bücher die Eisenbahn zu benützen; bei aller Ahnung des grundsätzlich richtigen Weges vermochte er die wachsende Entfremdung zwischen Technik und schöpferischem Seelenwirken nicht zu überwinden. Ja, durch seine teilweise romantische, teilweise sein geistigstes Streben selbst verleugnende sozial-utilitäre Predigt trug er unwissentlich zur Verbreiterung der Kluft und damit in manchem zur Erschwerung der Lösung bei. Noch weniger erwiesen sich die e t h i s c h e n Ideale der Vergangenheit imstande, der Zersetzung des Lebens und der damit einhergehenden Veräußerlichung der Wissenschaft, Technik und Wirtschaft entgegenzuarbeiten. Vom evangelischen Gewissen aus, durch dessen Wiederbelebung er die moderne Kultur retten und erneuern wollte, gelangte T o l s t o i zu einer völligen Ablehnung von Technik und Wissenschaft, ähnlich wie in unseren Tagen, von analogen ethischen Voraussetzungen aus, G a n d h i . Aber während die von Tolstoi erhoffte geistige Erneuerung im wesentlichen ausblieb und die Menschheit, allen Reformversuchen zum Trotz, immer rascher der Katastrophe des Weltkrieges zutrieb, vermochte anderseits die erlahmende Kraft des diesseitsfeindlichen Gewissens den weiteren Aufstieg von Forschung und Erfindung nicht aufzuhalten; die Folge war lediglich, daß Technik und Wirtschaft sich auch von dieser Seite her in eine verhängnisvolle Isolierung getrieben sahen und daß die 10

Gegensätze zwischen ihnen und den seelischen Kräften noch tiefer wurden. Dabei übersah Tolstoi, indem er den primitiven Naturzustand des Menschen pries, wie sehr gerade die Barbarei sozialer Verhältnisse, wie sie etwa in dem von ihm als Vorbild erlebten russischen Bauerntum herrschten, einer sittlichen Hebung im Wege stand; der Verzicht auf die Technik müßte in der Tat die Kultur gerade eines wichtigen Mittels berauben, das im Dienste eines lebendigen Gewissens an einer Durchgeistigung der Menschen mitzuwirken berufen erscheint. Nicht die Technik und Wissenschaft, sondern die Ohnmacht des Gewissens, zu welchem Tolstoi Zuflucht nahm, verhinderten eine Überwindung des seelischen Niedergangs. Nicht einmal unter dem Einfluß großer sozialer Katastrophen aber könnte die Menschheit je dazu gelangen, den Zustand völliger „Naturhaftigkeit", wie sie Tolstoi vorschwebten, als Ideal zu erleben. Noch leidenschaftlicher wandte sich D o s t o j e w s k i im Namen der alten, durch die Wissenschaft bedrohten R e l i g i o n gegen Intellekt und rationalisierende Vernunft, in denen er die wahren Teufelsmächte des modernen Menschen sah. Alle Verödung und Verflachung leitete er von ihnen her. Auch ihm wies sein verstandesfeindlicher Glaube als einzigen Weg die Zertrümmerung der Gebilde, die Forschung und Technik hervorgebracht hatten. Und auch er mußte es erleben, wie durch seine Predigt weder der Glaube im Tiefsten erneuert, noch die intellektualistische Ernüchterung wirklich überwunden wurde. Sein einseitiger Vorstoß verschärfte lediglich die Entfremdung zwischen der Technik und Wissenschaft und den religiösen und irrationalen Sehnsüchten. Ja, er begünstigte damit, ohne es zu wollen, die Entgeistigung und Intellektualisierung der Forschung und Technik und bereitete so, entgegen seinem wahren Verlangen nach schöpferischer Erneuerung, jener Verödung den Boden, die heute mehr denn je das technische Schaffen bedroht. Immer von neuem hatte die Seele gegen die furchtbare Verflachung und einseitige Rationalisierung des Lebens anzuringen versucht. Doch immer weniger besaßen die geistigen Vorbilder und Direktiven der Vergangenheit, bei denen sie in diesem Kampfe ihre Waffen holte, die Kraft, Technik und Kultur, rationale und irrationale Bedürfnisse, mechanisierende und neuschöpferische Kräfte zu einer fruchtbaren Einheit zu verbinden. Und während Forschung und Technik, allen Angriffen zum Z b i n d e n , Tedinik und Geisteskultur.

II

Trotz, die im Namen der alten Seele gegen sie geführt wurden, sich immer machtvoller entfalteten, erschöpfte sich das übrige Geistesleben in den Zirkelwegen der alten Offenbarungen und Systeme, oder erging sich in einer fast mechanischen Umkehr der Werte und in immer einseitigeren, künstlicheren Experimenten, bis alles schließlich in einem öden Nützlichkeitsbetrieb versandete. Können wir es der Jugend und vielen Vertretern der Technik verargen, daß sie sich für die Errungenschaften moderner Forschung und Erfindung leidenschaftlich begeistern, während sie sich von den Bereichen der „geistigen" Kultur: Kunst, Philosophie, Religion, Literatur gleichgültig oder enttäuscht abwenden ? Sind doch Erfahrungswissenschaft und Technik heute nahezu die einzigen Großgebiete menschlicher Arbeit, in denen in fast ununterbrochener Folge neue, oft bahnbrechende und jedenfalls brauchbare Leistungen geschaffen werden. Während das künstlerische und religiöse Leben seit langem das Bild einer fast völligen Stagnation, einer ermüdenden Wiederholung stets der gleichen wenigen Typen und längst verbrauchten Grundinhalte oder individualistischer Willkür bieten, und hier wahrhaft schöpferische, umfassend erneuernde Gesichtspunkte und Erkenntnisse seit langem ausgeblieben sind — am klarsten wissen gerade die Besten und Begabtesten auf diesen Feldern um diese Ausweglosigkeit und dieses Epigonentum, mag es sich noch so neutönerisch und anmaßend revolutionär gebärden — , reißen exakte Forschung und technisches Schaffen in gewaltigem Aufschwünge ungezählte produktive Kräfte mit sich. Der Blick in eine moderne Konstruktionswerkstätte ist heute entschieden oft anregender und erweckt hoffnungsvollere Vorstellungen von der menschlichen Schaffenskraft und Intelligenz und von solidem, wirklichen Können als der Blick in so manche moderne Kunstsalons, Literaturerzeugnisse und Philosophiesysteme. Freilich kann sich diese einseitige Entwicklung nicht unaufhörlich fortsetzen. Es ist heute wohl kaum mehr zweifelhaft, daß das technische und wissenschaftliche Schaffen einer Krisis entgegengeht — die mit eben dieser Isolierung von den übrigen Lebensgebieten zusammenhängt. Eine Zeitlang konnte es sich selbst genügen, wie jedes Großgebiet, das einen beträchtlichen Schatz an fruchtbaren Erkenntnissen angesammelt hat. Es konnte es sich leisten, jahrzehntelang fast ohne jede Rücksicht auf die 12

Entwicklung der übrigen Geisteskräfte, insbesondere der künstlerischen und religiösen, seinen Sonderzielen zu folgen; ja, diese zeitweilige Vereinzelung erwies sich sogar als in vielem notwendig und günstig. Aber auf die Dauer ist eine solche Trennung nicht nur unnatürlich, sondern auch untragbar. So wie die Grundlage, auf denen die heutige Wissenschaft zu ihren Ergebnissen gelangt ist, durch Forscher und Denker geschaffen wurde, die vor allem von lebendigen religiösen Bedürfnissen erfüllt waren, so kann sie auch in Zukunft eine Verwurzelung im gesunden Erdreich eines vielseitig entwickelten, gesamtseelischen Lebens nicht entbehren. Sie müßte sonst — so wie eine Pflanze nach Entfernung der Wurzeln, ins Wasser gestellt, noch eine Zeitlang von den aufgespeicherten Säften zehrt und weiter wächst, dann aber rasch verwelkt —, in kurzer Zeit aus Mangel an belebenden Erneuerungs quellen immer dürftiger, ärmlicher werden und schließlich zerfallen. 4Je mehr die Isolierung von Wissenschaft und Technik zunahm, je weiter das übrige Seelenleben hinter ihren Zielen und Möglichkeiten zurückblieb, um so bedrohlicher wuchsen auch die Gefahren. Es ist, als würde man einem Menschen, der geistig noch dem Mittelalter oder dem Altertum angehört oder einem unerfahrenen Knaben sinnreiche, mächtige Maschinen anvertrauen. Die Wahrscheinlichkeit, daß er sie sinnvoll, sich und dem Ganzen zum Segen anwendet, ist weit geringer als die, daß er in kurzer Zeit die Maschine und sich selbst durch einen unerfahrenen Gebrauch zugrunde richtet. Die Primitivität und Enge der geistigen Orientierungen, die aus ganz anderen, einfacheren und bedürfnisärmern Zeiten übernommen, heute noch das Leben beherrschen, ist es, die die Technik vielfach zu einem Instrument der Hemmung und Zerstörung hat werden lassen. Durch diese Stagnation und das Chaos in den wichtigsten Gebieten der Geisteskultur konnte es geschehen, daß die Technik, die durch Telephon, Eisenbahn, Rundfunk, Flugzeug die Länder und Staaten immer inniger miteinander verflicht und ihre Interessen zu einem dichten Netz gegenseitiger Abhängigkeiten verwebt, zugleich mehr und mehr zu einem Werkzeug nationalistischer und imperialistischer In1}

stinkte wurde, ja, daß sie dem Gruppenegoismus eine Kraft und mächtige Auswirkungen verlieh, wie nie zuvor. Sie, die ihrem Wesen nach dazu bestimmt ist, die Menschen zu entlasten und ihr Dasein schöner, reicher zu gestalten, wurde in der Hand rückständiger Erwerbs- und Besitzesinstinkte, die kein Gewissen bisher zu veredeln getrachtet hatte, zu einem Mittel raffinierter Ausbeutung der Menschenkraft. Sie züchtete den Typus des modernen Industriekapitäns und Wirtschaftskondottiere heran, der mit der Hilfe der modernen Waffen, des Telephons, des Telegraphen, der Presse, gewaltige Söldnerheere der Wirtschaft und Politik beherrscht und lenkt, und der seine Macht- und Kampfinstinkte, an deren Vergeistigung und aufbauende Einordnung noch keine Erziehung und keine Moral gedacht hat, in rücksichtsloser Selbstsucht austobt. Und in dem gleichen Geiste eines ungezügelten Machthungers, nur mit anderen Vorzeichen, bedienen sich ihrer die Idealisten einer seelenlosen Gleichmacherei, die in der völligen Maschinisierung des Menschen den Weg zur „neuen" Kultur und zum irdischen Paradiese sehen, in dem die Menschen nur noch dazu da sind, die von ihm geschaffene und angebetete Maschine zu futtern und in Gang zu erhalten. Und die Reihe dieser Widersinnigkeiten krönend: — was Chemie, Biologie, Physik an lebenerhaltenden und lebenfördernden Erkenntnissen erdachten, ermöglichte nun dem Menschen, zum Schutze der „heiligsten Ziele und der Ehre der Nationen", den Ausbau der Höllenmaschinerie moderner Kriegstechnik. Wenn wir bedenken, daß heute ein großer Teil der Kriegsrüstungen nur dazu betrieben wird, um die stillstehenden Industrien zu „beschäftigen"; daß die freie Entwicklung des Flugzeugbaus schwer stranguliert ist, weil die Zivilaviatik sich auf Verwendbarkeit ihrer Flugzeugtypen als Kriegswaffen einzurichten hat, wenn sie staatliche Unterstützung beanspruchen will; daß es heute in allen „Kulturländern Bakteriologen und Chemiker gibt, die von der Möglichkeit, ganze Völker durch die Mittel der modernen Bazillenforschung und Chemie zu vernichten, zu Bewunderung hingerissen werden und darin gar ein Zeugnis für die „Macht" des Menschengeistes sehen: — so wird uns mit Schauder bewußt, an welchen Abgrund von Perversität und lauernder Gefahr uns die Rückständigkeit der geistigen Direktiven und die dadurch eingetretene Isolierung der Technik und des Intellekts geführt haben. 14

Diese furchtbare Wildheit der Instinkte, diese Enge und Dumpfheit der bisherigen Arbeits- und Kampfesziele, die auch durch die geistigsten Vorbilder der Vergangenheit nur unwesentlich gemildert wurden — weil jene Vorbilder meist noch allzu sichtbare Züge der früheren roheren Ideale in ihrem Antlitz tragen —, sie bildet letzten Endes den wahren und tiefsten Grund dafür, daß wir in der Technik heute vielfach einen Feind und eine Gefahr für die geistige Kultur erkennen müssen. Dieser Zustand hemmt nicht nur das seelische Leben. Er bringt auch Wissenschaft und Technik selbst um ihre besten Früchte. Ist es doch so, daß die Möglichkeiten, die die Wissenschaft schon heute bietet und die einer wesentlichen Verbesserung der Lebenshaltung und Lebensbereicherung aller Menschen zu dienen vermöchten, von der Technik nur zum geringsten Teile und in vielfach ganz oberflächlicher Weise aufgegriffen werden, weil sie in der Hand einer nur auf unmittelbaren Profit gerichteten, planlosen Wirtschaft lediglich diejenigen Erkenntnisse und Erfindungen verwertet, die einen möglichst sofortigen Nutzen und Gewinn versprechen. Unabsehbare Möglichkeiten bleiben völlig ungenützt liegen oder werden, wie bekannt, von mächtigen Industrien aus Konkurrenzangst durch Aufkauf unterdrückt und „tinschädlich" gemacht. H i e r , bei den O r i e n t i e r u n g e n u n d V o r b i l d e r n , die u n s e r g e i s t i g e s u n d soziales L e b e n h e u t e n o c h b e h e r r s c h e n , h a t d a r u m der K a m p f g e g e n die Gef a h r e n d e r M e c h a n i s i e r u n g e i n z u s e t z e n . Die Technik zwingt uns durch ihre guten wie durch ihre verderblichen Wirkungen zu erkennen, daß wir nicht länger zögern dürfen, die geistigen Grundlagen unseres Lebens, die Ziele, die das Handeln, Wollen, Sehnen der Führer wie der Massen lenken, einer grundhaften Kritik und Wandlung zu unterwerfen. Wir müssen die Ideale selbst, sie, die Phantasie und Instinkte der Menschen von klein auf durch tausend Poren beeinflussen und modeln, auf eine Stufe bringen, die den Perspektiven, welche uns die moderne Naturbeherrschung und Technik eröffnen, gewachsen sind. Es ist da weder mit Angriffen noch mit Satiren auf die Auswüchse heutiger und kommender Mechanisierung, noch mit einem Sich-Abfinden und Geschehenlassen der Dinge getan. Wir wissen, daß wir das Maschinenwesen weder ausrotten noch ihm entfliehen können, weil wir den menschlichen Geist nicht ij

hindern können, neue Erkenntnisse und Erfindungen hervorzubringen und anzuwenden, noch dem Menschen verwehren, daß er seine Arbeit rastlos erweitert und zugleich rationeller gestaltet. Um so wichtiger und dringender ist es, daß wir in uns selbst die geistigen Kräfte und Orientierungen erziehen, die uns zu einer fruchtbaren und sinnvollen Verwendung der ungeheuren, durch Wissenschaft und Technik erschlossenen Energien befähigen. Liegt nicht darin eine der unmittelbarsten, erzieherischen Funktionen der Technik ? Sie, die uns die N a t u r m e i s t e r n l e h r t e , ist u n s heute R u f u n d M a h n u n g zur M e i s t e r u n g u n d E r n e u e r u n g u n s e r e s S e l b s t , zu tieferer Erkenntnis unserer inneren Kräfte, damit wir um so gewisser die Technik beherrschen und wandeln können, und sie, die heute durch Mißbrauch so vielen zum Fluch geworden, einem neuen Geschlecht in immer größerem Umfange zum Segen zu werden vermöge. 5' Läßt sich denn aber eine wesentliche Wandlung und Vervollkommnung der menschlichen Ideale und der menschlichen Triebkräfte überhaupt erhoffen ? In den vielen Erörterungen, die sich heute mit der Frage nach den Formen und Auswirkungen der Technik in einer neuen Kultur befassen, begegnen wir fast durchwegs der merkwürdigen Tatsache, daß das Problem der Wandlung der Ideale und die Fragen der geistigen Entwicklung kaum und höchstens in traditioneller Weise oder nur in Form vager Andeutungen behandelt werden. Selbst bei Bertrand R u s s e l l , der in seinen geistvollen Essays wiederholt nachdrücklich betont, wie notwendig eine tiefere Ergründung der psychologischen Gesetze und eine Vervollkommnung der geistigen Direktiven ist, gelangt dieses Streben doch kaum über kraftlose Ansätze hinaus und äußert sich mehr in Kritik und in der Satire auf bestehende Verhältnisse. Und wenn bei W e l l s und andern der äußere technische Rahmen der Zukunft in allen Einzelheiten geschildert und eine gewaltige technische Vervollkommnung als selbstverständlich angenommen wird, so bleiben die geistigen und seelischen Inhalte dieses „neuen Lebens" auffallend blaß, allgemein, und höchstens da, wo sie mit 16

den Idealen, Begierden, Nöten und Glücksgefühlen heutiger Menschen weitgehend übereinstimmen, nimmt die Schilderung eine individuellere und lebensvollere Gestalt an. Es kann daher nicht verwundern, daß die meisten Ausflüge in die Zukunft technischer und industrieller Entwicklung — da sie das Idealproblem kaum stellen und noch weniger beantworten — teilweise recht pessimistisch enden (man lese etwa Russells „Ikarus") teils, wo sie zuversichtlicher erscheinen, nicht sehr überzeugend ausfallen. In der Tat — wenn die Ideale der Menschen bezüglich Dasein, Kampf, Erwerb, Besitz, Liebe, Gemeinschaft, nicht sehr anders werden als heute, wäre eine pessimistische Beurteilung der vermutlichen Folgen von Wissenschaft, Technik und Industrialisierung nur zu sehr berechtigt — ja, so gut wie unvermeidlich. Denn dann wäre es höchst wahrscheinlich, daß die Nivellierung und Standardisierung rasch fortschreitet, daß die Menschen von den technischen Möglichkeiten einen immer geistloseren Gebrauch machen und schließlich die Kultur auf lange Zeit hinaus zugrunde richten. Eine allgemeine Abstumpfung und Entgeistigung erschiene als unabwendbares Los der Menschheit. Aber solchen trüben Aussichten gegenüber ist nicht zu vergessen, daß geistig und seelisch verkümmerte Menschen auch immer weniger eine weitreichende Technik haben und anzuwenden imstande sein werden. Es träte dann eben vorübergehend ein Rückfall auf primitivere Lebens- und Kulturstufen ein, wie ihn die Menschheit ja schon öfters erlebt hat. Man denke an die Jahrhunderte sozialer Barbarei nach der gewaltigen technischen und zivilisatorischen Entwicklung des Römerreiches. Die Situation einer völligen geistigen und sozialen Selbstvernichtung der Menschheit jedoch durch zerstörende Anwendung ihrer Wissenschaft und Technik erweist sich bei näherem Zusehen glücklicherweise als höchst unwahrscheinlich und existiert hauptsächlich als Gespinst paradoxaler Köpfe. — Die Rolle der Technik in einer neuen Kultur läßt sich mithin objektiv nur erfassen aus der Beantwortung der Frage, ob die bisherigen Direktiven und Leitsterne des Lebens, ob insbesondere das Gewissen, die Religion und die Gruppenideale der Vergangenheit unveränderliche, „absolute" Werte darstellen — in welchem Falle allerdings geringe Hoffnung bestünde, den Zwiespalt zwischen Technik und Kultur, Intellekt und Seele je zu 17

überbrücken; oder ob sie wandlungsfahig, und das bedeutet, über die bisherigen Stufen hinaus v e r v o l l k o m m n u n g s f ä h i g sind, — und in welcher Richtung diese Vervollkommnung geht. Es gibt nun freilich nicht wenige, die die Lösbarkeit dieser Frage grundsätzlich leugnen. Sie bilden heute vielleicht unter den Gebildeten die Mehrheit. Aber, wenn wir genauer zusehen, so ist diese Leugnung bei den Meisten eher Folge einer Enttäuschung über das Versagen der bisherigen Geistesforschung in den Fragen der praktischen Lebensgestaltung. Bei anderen ist es die Wirkung paradoxen und einseitig wirklichkeitsfremden Denkens oder aber einer großen Ermüdung und Schwäche und allgemeinen Skepsis. Die Erfahrung zeigt jedenfalls mit aller Deutlichkeit, daß es schon jetzt in einem großen Zweige der Lebensgestaltung — in der Meisterung und Vervollkommnung der Naturkräfte nämlich — dank einer umfassenderen und vertieften Beobachtung gelungen ist, zahlreiche Gesetzmäßigkeiten zu ergründen, um von da aus die Kräfte zu einem vollkommneren und fruchtbareren Zusammenwirken zu organisieren und, darüber hinaus, sogar neue Wandlungen und Typen des Naturwirkens — man denke an die Schaffung neuer Formen und Kombinationen durch die Pflanzenforschung—zu erschließen. Wenn eine bloß instinktive Naturerfahrung den Menschen zwar zum Bau einfachster Hilfsmittel, eines Wagens, Pfluges, Bootes, befähigte, so ermöglichte erst die erweiterte und allseitige Kenntnis der dynamischen, statischen, chemischen, elektrischen Kräfte ihre kompliziertere Organisierung in einer Dynamomaschine, einem Explosionsmotor, einem Flugzeug. — Den grundsätzlich gleichen, bisher nur von der Naturforschung bewußt beschrittenen Weg wird auch, mit andern Methoden, die Arbeit zur Organisierung und Vervollkommnung seelischer Kräfte betreten müssen. Nur so kann sie aus der Phase eines vorherrschend instinktiven, mehr oder weniger willkürlichen und dadurch oft einseitigen und äußerst labilen, krisenreichen Kulturgestaltens herauskommen. Sind auch die schöpferischen Kräfte im Menschen von den Energiequellen der übrigen uns bekannten Natur weitgehend verschieden, und erfordert daher ihre Erforschung andere Methoden, so bilden sie doch einen Teil des Naturganzen und sind wie dieses bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterworfen, die zwar weit komplizierter sind als die meisten uns bisher bekannten Naturzusammenhänge, 18

aber wie diese in vielen wesentlichen Beziehungen grundsätzlich der wissenschaftlichen Erkenntnis zugänglich. Je mehr es gelingt, diese Zusammenhänge zu erhellen, um so freier, reicher und individueller kann die Seelengestaltung werden. Dagegen muß der Mangel einer solchen Orientierung um so größere Gefahren mit sich bringen, je vielgestaltiger die sozialen und geistigen Verhältnisse sich entwickeln, je höhere Aufgaben die Menschenfiihrung zu bewältigen haben wird. Wie im Laboratorium oder in der Werkstätte die unzureichende Berücksichtigung wichtiger Naturzusammenhänge zu Explosion und Zertrümmerung führen kann, so äußert sich auch in den Werkstätten der Seele, im Leben der Kulturen, die mangelhafte Kenntnis und die falsche Führung seelischer Energien in Zusammenbruch und Katastrophen — leider nur nicht mit der anschaulichen und lehrreichen Plötzlichkeit jener, die dem Fehler auf dem Fuße folgen — sondern oft erst nach Jahrhunderten und Jahrtausenden (und darum in ihren inneren Ursachen oft schwer erkennbar) in Form sozialer und geistiger Krisen. Das unaufhaltsame Anwachsen des psychologischen Interesses in den letzten Jahrzehnten scheint darauf hinzudeuten, daß die Seele sich dieser Situation immer mehr bewußt zu werden beginnt, und, zunächst mehr in Form zersplitterter Versuche, intuitiv, nach dem Aufbau einer wissenschaftlichen Grundlage für die kulturgestaltende Arbeit strebt. Es ist vielleicht noch kaum etwas anderes als ein Suchen nach den geeignetsten Methoden und ein Abtasten der Seelenperipherie; und wo bestimmtere Deutungen versucht werden, gelangen sie über teils physiologische Psychologie, teils rationalistische Hilfskonstruktionen noch kaum hinaus. Um so deutlicher aber beginnt sich heute aus diesen Anfängen die g r u n d s ä t z l i c h e A u f g a b e einer kommenden Seelenorientierung abzuheben. Die Voraussetzung für eine grundhafte Neugestaltung der Ideale und Werte ist — und diese Erkenntnis verdankt die Gegenwart der psychologischen Forschung Rudolf Maria H o l z a p f e l s — eine s y n t h e t i s c h e und i n d i v i d u a l i s i e r e n d e Seelenforschung, die aus einer tieferen Erkenntnis der Zusammenhänge, welche das Gewissen, die Kampfbedürfnisse, die menschliche Arbeit, das religiöse Verlangen beeinflussen, die vollkommeneren Formen dieser Kräfte vorahnend erschließt, zunächst in den allgemeinsten typischen Umrissen, allmählich

immer individueller, vielseitiger, konkreter. Aus dieser vertieften Kenntnis müßten sich auch die Beziehungen zwischen diesen Großgebieten des Lebens deutlicher erfassen und die Wege ihrer schöpferischen Synthese in einem „Panideal", einem sie alle in lebendigem Zusammenwirken vereinigenden Gesamtschaffen und höchsten Vorbild, erkennen lassen*). Es ist klar, daß eine solche Aufgabe ein Programm darstellt, das nur im Laufe von Generationen durchgeführt werden kann und im Grunde ebenso wenig je abgeschlossen ist, wie etwa die Aufgabe der Naturforschung. Gleichwohl lassen sich schon heute, dank den Untersuchungen der panidealistischen Psychologie, die Hauptumrisse erkennen, die für eine neue, objektivere und umfassende Idealgestaltung wegleitend sein können. Holzapfel hat in seiner Seelenforschung**), ausgehend von einer differenzierenden psychologischen Beschreibung der Hauptwurzeln des Gewissens, des Kampfes, der Arbeit und des kosmischen Welterlebens, die Inhalte und Vorbilder eines erneuerten Geisteslebens und einer neuartigen Gemeinschaftsgestaltung aufgewiesen. Aus ihnen ergibt sich auch eine objektivere und einheitlichere Bewertung von Naturbeherrschung und Technik, in ihrer Bedeutung für die Erneuerung der Kultur. Schon manche der Untersuchungen zu Beginn des „Panideal" sind geeignet, neues Licht auf die schöpferischen Quellen der technischen und wissenschaftlichen Arbeit zu werfen. Gegenüber einseitig rationalistischen oder vorwiegend intuitionistisch gerichteten Auffassungen vom Wesen des menschlichen Schaffens wird durch die Psychologien der „Einsamkeit", der „Sehnsucht" und „Träumerei", der „Hoffnung", der „Illusion" und des „Kampfes" (Panideal I) der entscheidende Einfluß dieser Erlebnisse in aller menschlicher Arbeit, auch in der des Forschers und des Erfinders, des praktischen Organisators und Technikers, *) Dieses Programm einer neuen sozialen Psychologie findet sich formuliert in Holzapfels Schrift: „ W e s e n u n d M e t h o d e n d e r s o z i a l e n P s y c h o l o g i e " (Archiv für systematische Philosophie, Jahrgang 1904/IV). **) R. M. H o l z a p f e l , P a n i d e a l , das Seelenleben und seine soziale Neugestaltung. Zwei Bände, Jena 1923. W e l t e r l e b n i s , daß religiöse Leben und seine Neugestaltung, zwei Bände, Jena 1928. Vgl. auch: W . A s t r o w , D a s L e b e n R . M . H o l z a p f e l s , mit einem Vorwort von Romain Rolland, Jena 192g. Als allgemeine Übersicht über Holzapfels Schaffen: E i n G e s t a l t e r der Z u k u n f t , hg. von Hans Zbinden, München 1932. W. Astrow: N e u e L e b e n s g e s t a l t u n g , G r u n d z ü g e der panidealistischen Weltanschauung,Müncheni9;2.

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sichtbar. Die Unterdrückung reicher und vielseitiger Erlebnisse dieser Art — wie sie etwa heute durch viele Rationalisierungsversuche in Erziehung und Arbeitsorganisierung, im Taylorismus usw., sowie durch die Überschätzung der dem Experiment zugänglichen Seite der Forschung und durch die Gleichsetzung von „nüchterner" Objektivität mit „Wissenschaftlichkeit" erzeugt wird — muß zu einer Hemmung wichtigster schöpferischer Antriebe in der wissenschaftlichen und technischen Arbeit führen. Keimt doch diese um so mehr aus den irrationalen Tiefen der Seele und ist mit ihren individuellen Hollhungen, Sehnsüchten, Träumen um so inniger verbunden, je bedeutender, neuartig bahnbrechender und zugleich fester in naturgetreuer Beobachtung verwurzelt ein wissenschaftliches Schaffen ist. Wir brauchen uns nur die innersten Arbeitsmotive zahlreicher Forscher, eines Galilei, Kepler, Newton, Gauß, aber auch vieler Erfinder zu vergegenwärtigen, deren oft eminent praktische Leistungen — man denke an Edison — gerade in ihren fruchtbarsten Ergebnissen aus irrationalen Bedürfnissen und Träumereien stammten, die oft weit abseits praktischer Rücksichten standen, um dies anschaulich zu erkennen. Die tiefere Kenntnis der verschiedenen Formen und Stufen von Einsamkeit, Träumerei, Hoffnung, Kampf und ähnlichen stark irrationalen Erlebnissen, die Erforschung ihres typischen und individuellen Entstehens und Wachsens in der Seele, und das Unterscheiden ihrer teils schöpferischen, teils hemmenden Richtungen erweist sich mithin als eine Aufgabe, die in hohem Grade auch der psychologischen Orientierung der wissenschaftlichen und technischen Kräfte zu dienen vermag. Sind doch diese und ähnliche Zusammenhänge in der Erziehung und Selbsterziehung der Forscher, Erfinder, Ingenieure bislang so gut wie unbeachtet geblieben, und meist einem bloß instinktiven und daher oft irrenden Verhalten überlassen geblieben. 6. Die wesentlichsten Orientierungen jedoch gibt uns die panidealistische Psychologie in den Untersuchungen über Gewissen, menschliche Arbeit und Religion und die Wege ihrer Neugestaltung. In ihnen finden wir auch die hauptsächlichsten Direktiven für die Einordnung der Technik und für die Erkenntnis ihrer Funktion in einem schöpferischen Geistesleben. 21

Ehe nun diese in einigen ihrer Grundzüge und Konsequenzen dargelegt werden sollen, erscheint eine kurze Klärung dessen notwendig, was hier unter Kulturentwicklung verstanden werden soll. In welchem Sinn können wir überhaupt von einem „Kulturfortschritt", von einem „Aufstieg" sozialer und geistiger Entwicklung, einer Vervollkommnung des Menschen und der Menschheit und einer entsprechenden „Aufgabe" der Technik sprechen ? Das Leben wifd ursprünglich von Bedürfnissen der Erhaltung und Lust bestimmt*). Die primitive Kultur ist fast ausschließlich auf eine möglichst starke Vermehrung und Steigerung dieser beiden gerichtet; sie bestimmen das Tun und Wollen. Aber bald zeigt die Erfahrung, daß eine bloß quantitative Mehrung von Erhaltung und Lust deren Dauer, Bestand und Intensität allein nicht zu sichern vermag. Es beginnt ein zuerst instinktives, dann bewußtes Streben nach Vermannigfaltigung, Bereicherung, nach Mehrung der Formen und Arten von Erhaltungs- und Lustbefriedigung. Je mehr diese sich aber verzweigen, um so stärker wird auch die Notwendigkeit ihrer möglichst vollkommenen Beherrschung, das Verlangen nach e i n h e i t l i c h e r O r g a n i s i e r u n g und damit auch nach immer bewußter auswählender Sichtung dieses Reichtums. Mit zunehmender Entwicklung in dieser Richtung gewinnt mithin das Merkmal der B e r e i c h e r u n g , der e r n e u e r n d e n , h a r m o n i s c h einheitlichen Vermehrung und Vermannigfaltigung des Erlebens und Schaffens, eine immer größere Bedeutung. Füllen primitive Daseinssicherung und grobsinnliches Glücksstreben ursprünglich den Hauptteil des Lebens aus, sind sie es, die ihm „Sinn" und „Wert" verliehen, so wird nun die einheitliche Mehrung und harmonisch wachsende Mannigfaltigkeit des geistigen Schatzes immer stärker als „Entwicklung" erlebt und zum höchsten Maßstab der Bewertung. Der weitaus größte Teil menschlichen Tuns und Wollens steht auch heute noch vorherrschend im Dienste der Erhaltungssicherung und Befriedigung sinnlichen Glückes. Nur sehr zaghaft und einseitig und in einer relativ kleinen Zahl von Menschen hat sich bis jetzt das Verlangen nach Seelenbereicherung und erneuernder Lebenswandlung, nach schöpferischer, har*) Man vergleiche zum Folgenden insbesondere die Ausfuhrungen von Holzapfel, Panideal I, Abschnitt JJ8.

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monisch-reicher Durchgeistigung entfalten können. Auch die Technik wurde bislang fast ausschließlich von Forderungen der Daseinssicherung und grober Lustbefriedigung beherrscht. Gerade davon aber droht ihr heute die Krisis; ja vielleicht liegt darin die Bedeutung der tiefgreifenden ungeheuren Umwälzung, in welcher sich die gegenwärtige Zeit befindet, daß das Vorherrschen reiner Erhaltungs- und Lustgesichtspunkte im sozialen und individuellen Leben sich immer weniger als ausreichend erweist, um auch nur das Dasein, geschweige das Glück der Menschen sicherzustellen. Es zeigt sich, daß auf die Dauer Erhaltung und Glück der Menschen nur dann wirklich gesichert werden können, wenn die menschliche Gesellschaft gleichzeitig von einem hinreichend starken Streben nach geistiger Bereicherung geleitet ist. Denn nur eine solche kann die verhältnismäßig hohe soziale Organisierung und deren seelische Voraussetzungen schaffen, die es zur vollkommeneren Daseinssicherung aller braucht. Lust, Erhaltung und schöpferische Seelenbereicherung bilden eine unzertrennliche Einheit; und je mehr sich das Leben differenziert, um so mehr muß die Tendenz nach harmonischreicher Vergeistigung diejenige nach Erhaltung und Lust beherrschen, sollen nicht alle drei verkümmern. Das bedeutet, daß die Steigerung von lebenerhaltenden und lustmehrenden, lustverfeinernden Kräften von der harmonischen Bereicherung des Seelenschatzes wesentlich und in wachsendem Ausmaß abhängig ist. Zugleich kann nur ein solcherweise orientiertes Leben einen Inhalt erlangen, der einer unerschöpfbaren Weiterentfaltung fähig ist. Wir sehen, wie der Mensch schon da, wo er vom Lebenskampfe weitgehend absorbiert wird, in der bloßen Sicherung des Daseins und in der Stillung primitiven Genußverlangens keine dauernde und ausreichende Befriedigung findet. Immer mehr strebt das Leben, bereits auf einfacher Stufe, instinktiv über diese engen Grenzen hinaus, wenn auch meist sehr unbewußn und mit der vagen Empfindung einer unerklärlichen inneret Unbefriedigung. Gebt einem Menschen zu essen, was und wieviel er begehrt, gebt ihm Kleidung, bequeme Wohnung und alles Nötige dazu, gebt ihm die Möglichkeit der Zerstreuung und Muße und unbeschränkten Genusses — und raubt ihm dafür alle anderen Erlebnisquellen, wie Sehnsucht, Traum, Einsamkeit, Kampf, Schaffen, Opfer, Geheimnisahnung, Schön23

heit: er wird an der Öde und Leere seines Daseins ersticken, er wird es bald als schrecklichste Strafe empfinden. Ja, er wird lieber, sofern er gesund ist, nach kurzer Weile den schwersten Daseinskampf, Not und Unsicherheit auf sich nehmen, wenn er damit jene Erlebnisquellen wieder gewinnen kann, die den Inhalt seiner reichsten, tiefsten Stunden, seiner höchsten Beseligung bilden. Niemals wird darum ein nur utilitär und eudämonistisch gerichtetes Ideal die Menschen wahrhaft befriedigen können. Es ist eine jener Lügen, die durch ewige Wiederholung nicht wahrer werden, daß der Mensch nur von Hunger und Liebe beherrscht werde. Mit elementarer Gewalt wird sich die Seele, aus ihren unverwüstlichen, nur zeitweise zu unterdrückenden schöpferischen Tiefen, gegen eine Verödung und Entgeistigung des Lebens wehren, der gegenüber selbst die Schrecken und Martern einer rohesten sozialen Barbarei noch leicht ertragbar erscheinen. Statt dessen hat die soziale Ideologie und Praxis des letzten Jahrhunderts die Fragen der Erhaltung, des „Hungers und der Liebe", in lebensfremder und paradoxer Weise von den Problemen der geistigen Kulturerneuerung völlig loszulösen versucht. Man glaubte, zuerst die Probleme der wirtschaftlichen und technischen Organisation endgültig lösen zu müssen und erst „nach" der Lösung der sozialen Frage könne der Aufbau einer neuen Kultur an die Hand genommen werden. Oder, genauer gesprochen: die „neue Kultur" werde dann mehr oder weniger „von selbst" kommen, gleichsam als natürliche und selbstverständliche Folge geordneter sozialer Verhältnisse. Ähnlich wie in bürgerlichen Utopien der „neue Mensch" fast automatisch als Resultat der wunderbar vervollkommneten technischen Lebensbedingungen auftaucht; die Erziehung hat lediglich dafür zu sorgen, daß der neue Mensch sich durch „Training" auf der Höhe seines technischen Paradieses erhalte. — Aus dem Bisherigen geht hinreichend deutlich hervor, daß in Wirklichkeit das Entstehen einer neuen Kultur, eines neuen Menschen, einer neuen sozialen Ordnung, damit auch das Schicksal der Technik, in erster Linie von der umfassenden Wandlung der Vorbilder, der Ideale selbst abhängig ist. Diese allein können den menschlichen Schaffenskräften die neuen Wege öffnen und die Erlebnisquellen erschließen, von denen der Sinn und Inhalt eines Lebens bestimmt wird. Je mehr ein Streben, ein Ideal über 24

die Arbeit zur Daseinssicherung und Lustbefriedigung hinaus auf eine immer reichere und harmonischere Differenzierung und Vergeistigung gerichtet ist, je mehr es auch dem Daseinskampfe und dem Genuß seine Züge aufprägt, um so mehr kann es Antrieb und Glied einer kulturellen Erneuerung sein. Das Streben nach seelischer Bereicherung und harmonisch erneuernder Individualisierung, nach unabsehbarer Differenzierung und neuschöpferischer synthetischer Wandlung bildet also den höchsten Inhalt der Kulturentfaltung selbst. Hingabe, künstlerische Arbeit, religiöser Glaube, Gemeinschaft, Kampf, Erhaltung sind nur insofern und in dem Grade „wertvoll", als sie diesem Streben dienen. Welche Direktiven einer neuen Kultur ergeben sich nun aus einer vertieften, synthetischen Erforschung der Seele und ihrer innersten Antriebe, und welches wäre die Aufgabe der Technik im Rahmen eines dadurch geleiteten Lebens ? Inwiefern kann das technische Schaffen Glied einer auf harmonische Seelenbereicherung gerichteten Kultur werden ? Dies möchten die folgenden Ausführungen in einigen andeutenden Umrissen veranschaulichen.

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DIE REVOLUTION DES GEWISSENS

Die „Krise des Vertrauens". — Was ist Gewissen ? — Gruppenmoral und soziales Chaos. — Das Ideal der allgemeinen gleichen Liebe. — Ursachen seines Versagens. — Das Prinzip der Differenzierung und das neue Gewissen. — Die neue soziale Verantwortung.

I. Schon heute könnten zahllose Menschen dank der Möglichkeiten der Technik nicht nur vor Not und Hunger bewahrt, sondern von der Fron menschenunwürdiger geistloser Arbeit weitgehend entlastet werden. Schon heute wäre es möglich, bei sinnvoller Verwertung der Maschine vielen Menschen in allen Völkern weit mehr Freiheit zu gewähren und ihnen neue Arbeitsfelder zu erschließen, in denen sie ihre persönlichen Kräfte wie ihr Verlangen nach tieferer Beglückung unvergleichlich reicher als bisher entfalten könnten. Was hindert die Verwirklichung dieser jetzt schon bestehenden Möglichkeiten ? Weshalb haben wir heute Armeen arbeitsüberlasteter Menschen neben Heeren von unfreiwillig Feiernden ? Wie kommt es, daß es noch Millionen Menschen auf Erden gibt, die das Primitivste entbehren müssen, die in Elend und Sorge verkümmern, während zu gleicher Zeit in unzähligen Fabriken die Maschinen stillstehen, deren Arbeit den darbenden Völkerschichten die notwendigsten Güter zu schaffen vermöchte ? Allmählich beginnt selbst in den Kreisen der Wirtschaft und der Industrie die Erkenntnis zu dämmern, daß die Widersprüche und Erschütterungen unseres ökonomischen und industriellen Lebens, das man bislang nur seinen eigenen Gesetzen unterworfen wähnte, im engsten Zusammenhange stehen mit der Verwirrung und dem Wanken der geistigen Grundlagen. „Die wirtschaftliche und soziale Krisis ist eine Krisis des Vertrauens" — was bedeutet diese Feststellung, die heute die Er26

örterungen der wirtschaftlichen wie der politischen Probleme beherrscht, anderes, als daß auch die Nüchternsten einsehen müssen, daß das Chaos der äußeren Lebensverhältnisse die Folge einer weit tieferen Erschütterung ist, die Folge vor allem einer Entwurzelung der e t h i s c h e n Werte — daß die Fragen der Wirtschaft und Technik, wie die aller anderen Lebensgebiete, Fragen des in diesen tätigen M e n s c h e n sind, abhängig von seinen Wünschen, Zielen, Bewertungen, die letzten Endes auch seine Wirtschaftsgestaltung und die Gesetze der Produktion und des Marktes bestimmen — eine jener Wahrheiten, die es heute, nach den Irrfahrten einseitig materialistischer Lehren, unter harten Opfern wieder neu zu erkennen und zu erfahren gilt. Von welchen Direktiven aber ist dieser moderne Mensch bei seinem Tun geleitet ? Gut und Böse sind ihm längst keine eindeutigen Wertinhalte mehr. In der Auflösung aller überlieferten Maßstäbe gedeihen umso üppiger alle Formen des Egoismus und Amoralismus, die nicht nur die Fundamente der Familie, der Ehe, der Gemeinschaft überhaupt, sondern auch einer geordneten, planvollen Wirtschaft und einer sinnvollen Anwendung der Technik zerstören. Das Vertrauen zwischen Mensch und Mensch ist deshalb nicht mehr da, weil die meisten Menschen das Vertrauen zu den Leitsternen in sich selbst verloren haben, weil längst für Viele das Gewissen nicht mehr der sichere Führer ist, auf den sie sich in den Entscheidungen des Lebens verlassen können. Vielleicht würde sich das Verlangen nach dem Führer nicht so laut regen, wenn die Menschen der Gegenwart ihn in sich selbst hätten. Aber mit dem Ruf nach Selbstbesinnung, nach ethischer Erneuerung und nach tieferem Verantwortungsgefühl allein ist es nicht getan. Worin sollen die Inhalte dieser Verantwortung und Gewissensbelebung denn bestehen ? Und warum haben die bisherigen ethischen Richtlinien nicht vermocht, eine harmonischere Gestaltung der menschlichen Gesellschaft herbeizuführen und zu sichern, warum ist durch sie in den Führern und den Massen ein stärkeres soziales Empfinden nicht geweckt worden ? Ist es nur die Unfähigkeit und Selbstsucht der Menschen, die bewirkte, daß geistigere Gewissensgebote auf ihr Handeln meist so wenig Einfluß hatten, oder hängt vielleicht deren Versagen mit tieferen, im Wesen der herrschenden Gewissensformen selbst bestehenden Ursachen zusammen ? Zbinden, Technik und Geisteskultur.

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Es ist klar, daß eine sittliche Erneuerung und damit eine Gesundung auch der Wirtschaft und des industriellen und politischen Lebens ohne eine Klärung dieser Fragen nicht denkbar ist. Dazu aber bedarf es in erster Linie einer Aufhellung dessen, was überhaupt das Gewissen ist, wie ein ethisches Idael entsteht, und durch welche Umstände sein Einfluß auf das menschliche Handeln geschwächt oder gestärkt werden kann. Diese Aufgabe hat Holzapfel in umfassender Weise in der Psychologie des „Gewissens" durchgeführt. Da zeigt sich als erste wichtige Tatsache, daß das Gewissen sich nicht fertig im Menschen vorfindet; es ist ihm nicht angeboren. Angeboren sind ihm lediglich die Dispositionen zu sozialen und antisozialen Empfindungen, zu Mitgefühl, Selbstheit (d. h. auf eigene Erhaltung, Lust und Entwicklung gerichtete Regungen) und zu Gegengefühlen, das sind teils wohlwollend, teils mißgünstig gegen die Mitmenschen gerichtete Gefühle. Je nach den Erfahrungen nun und je nach der Anlage Menschen bilden sich in ihm nach und nach bestimmte Auffassungen vom „Wert" dieser Regungen im Hinblick auf eigene und fremde Erhaltung, Lust und Entwicklung. So erscheint beispielsweise die unbedingte Liebe und Selbstaufopferung, oder die Selbstsucht, oder die Hingabe für eine bestimmte Gruppe als „wertvoll", „vorbildlich", „vollkommen". Durch die Anschauungen, die in der umgebenden Kultur über den Wert des Altruismus und Egoismus herrschen, werden im heranwachsenden Kinde diese instinktiven Bewertungen teils bestärkt, teils modifiziert. Mit der Gewöhnung und unter dem Einfluß der Umwelt entstehen immer festere Richtungen des ethischen „Vollkommenheits"erlebens, die sich wie Rinnsale im weichen Grund der Seele immer tiefer und stabiler eingraben. So kann sich z. B. die grundsätzliche Billigung allen Mitgefühls und die völlige Verurteilung aller selbstheitlichen Regungen zu einem ständigen Maßstab von „Gut" und „Böse" befestigen; er wird zu einer höchsten Instanz. Wenn nun zu den Gefühlen der Sicherheit und des Vertrauens diesem inneren Maßstab gegenüber noch die Überzeugung hinzukommt, daß diese Art des sittlichen Wertens von einer großen irdischen oder himmlischen Gemeinschaft sanktioniert wird, daß sie ihre Lebensgrundlage bildet, so kristallisiert sich das ganze Kräftespiel der ethischen Bewertungen im Menschen zu dem, was wir als G e w i s s e n bezeichnen. 28

Nach Form und Inhalt bildet das Gewissen also ein Ergebnis des Zusammenwirkens von persönlichen Gefühlsanlagen eines Menschen, — z. B. seiner Neigung zu Mitgefühl oder zu Gefühlsenge und Selbstsucht, eines Vorherrschens von Erhaltungsbedürfhissen oder von Vervollkommnungsstreben — mit den Einflüssen der näheren und ferneren Umwelt und ganzer Kulturen. Im Gewissen leben auf diese Weise jahrtausendealte, von Geschlecht zu Geschlecht überlieferte Wertungen nach Inhalt und Ausdruck fort, oft durch ihre Enge oder ihre Starrheit eine Vergeistigung der ethischen Gefühle und die Entfaltung einer feineren Bewertungsweise hemmend. Die Gewissensstimme ist also weder nur das Echo des Milieus — wie wären sonst Gewissenswandlungen erklärlich, das Entstehen neuer Gewissensideale ? — noch der Ausdruck eines unfehlbaren göttlichen Willens — wie wären sonst die Widersprüche in den Gewissensforderungen selbst erklärbar ? — , sondern eine mehr oder weniger organische, oft zwiespältige und widerspruchsvolle Verbindung der individuellen Gefühlsweisen und Werterlebnisse eines Menschen mit den durch Tradition der Familie, Nation, Religionsgemeinschaft befestigten Maßstäben. Diese überlieferten und im Gewissen teilweise oder ganz übernommenen Wertinhalte aber bilden selbst wieder den Niederschlag aus vieltausendjährigen Einzelerfahrungen, welche verschiedenartigste Menschen und Gruppen im Verlaufe ihres Lebens hinsichtlich Liebe, Hingabe, Haß, Feindschaft, Gewalt und Duldung usw. gemacht haben. Keineswegs stellen die Forderungen des Gewissens also etwas Absolutes und für alle Zeiten Gleiches und Gültiges dar. In dem Grade, als sich die E r f a h r u n g e n bezüglich der Berücksichtigung eigener und fremder Erhaltung und Entwicklung und ihrer Folgen wandeln, vervollkommnen, erweitern, ändern sich nach und nach die B e w e r t u n g e n dieser Regungen u n d d a m i t a u c h das G e w i s s e n . Dieses ist also der konzentrierte Ausdruck aller in einem Abschnitt der Menschheitsentwicklung oder einer Menschheitsgruppe als vorbildlich geltender Handlungsweisen und Willensantriebe. Da die ganze Gewissensbildung sich in der frühen Kindheit, größtenteils ganz unbewußt, vollzieht und beim Auftauchen der ersten, deutlicheren Gewissensregungen in der Hauptsache vollendet ist, so wird das unerklärliche, geheimnisvolle Ertönen der „inneren Stimme" 3*

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oft einem göttlichen Ursprung zugeschrieben. (Vgl. Panideal I, S.273f.) Daraus erklärt sich aber auch, warum das Gewissen nicht selten mit seinen Forderungen hinter dem Leben selbst zurückbleibt und zuweilen primitiver, roher, äußerlicher sein kann als die Empfindungsweise zahlreicher Menschen — so wie auch das Gesetz und die Rechtsnormen oft hinter den sich ständig vermehrenden Erfahrungen, die die Weiterentwicklung mit sich bringt, zurückstehen und dadurch oft ungerechter wirken als es die Nichtbefolgung des veralteten Rechts wäre. So kann ein erstarrtes, überholtes Gewissensideal mit seinen schematischen Geboten gerade einem geistigeren Wollen schwerste Hemmung bereiten und höhere Antriebe zerstören. Das Festhalten an einem überholten Gewissensideal, das Fehlen eines neuen, den vollkommeneren Erfahrungen feiner entsprechenden Bewertens kann so in das Leben immer verhängnisvollere Widersprüche tragen und eine Gesundung unmöglich machen. Dies ist heute in hohem Grade der Fall. 2.

Zwei Formen der Moral haben bislang die Geschicke der Menschheit am wesentlichsten bestimmt: die eine ist jene, welche wir als Moral der G r u p p e n l i e b e bezeichnen können. Sie billigt jegliches Mitgefühl, jedes Opfer, welches einer bestimmten Gruppe — der eigenen Familie, dem eigenen Clan, der eigenen Nation oder dem eigenen Stand, der eigenen Klasse, Berufs- oder Religionsgemeinschaft — dargebracht wird; dagegen verlangt sie den Angehörigen „fremder" Gruppen gegenüber Selbstsucht, Gleichgültigkeit, oder, je nach Umständen, Feindschaft, Haß, Rache. Im Falle eines Konflikts zwischen der eigenen und einer fremden Gruppe muß unter allen Umständen der eigenen Gruppe die höhere Rücksicht und Hingabe zugewendet werden. Es ist dies jene Moral, welche nicht nur in wilden Naturvölkern die herrschende ist, sondern die heute bekanntlich mit vervielfachter, furchtbarer Wucht das Leben der Großgruppen in Wirklichkeit bestimmt. Ganz besonders ist es die Moral, die den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen auch der christlichen Völker fast ausschließlich zugrunde liegt. 3°

Welche Folgen hat nun die Moral der Gruppenliebe fiir die Gestaltung der sozialen Verhältnisse und für die Auswirkungen der Technik gehabt ? Solange die Völkergruppen für sich abgeschlossen lebten, in Erzeugung und Verbrauch der Güter sich selbst genügten und auch die kulturellen Beziehungen spärlich waren, konnte eine sehr spürbare Kluft zwischen den Forderungen der Moral und denen der Lebensentwicklung nicht entstehen. Der Gruppenegoismus wirkte höchstens innerhalb der Großgruppen selbst störend, indem der Egoismus kleinerer Teilgruppen die Existenz der Großgruppe zuweilen bedrohte. Aber je mehr durch die Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen, der Technik und des Verkehrs die gegenseitige Verflechtung und Abhängigkeit der Völker und Stände zunahm, desto hemmender begann der Gegensatz zwischen der weiterbestehenden moralischen Grundlage — der ethischen und praktischen Sanktionierung des Gruppenegoismus — und den Erfordernissen des sich erweiternden und vielseitig verflechtenden Lebens zu wirken. Immer sichtbarer wurde der Widerspruch zwischen einer Moral, die aus engsten geographischen und sozialen Verhältnissen entstammt, und den wirklichen, veränderten Lebensnotwendigkeiten. Es bedurfte aber erst des Weltkrieges und seiner Folgen, um es weiteren Volkskreisen bewußt zu machen, daß der Gruppenegoismus — sei es in Form von Nationalismus, von Klassenmoral oder Rassenchauvinismus — eine der Hauptursachen des heutigen Chaos bildet. Es ist heute beinahe allgemein üblich geworden, der Maschine die Schuld für die herrschende Arbeitslosigkeit zuzuschieben. Nichts könnte oberflächlicher sein als eine solche Meinung. In Wahrheit verringert die Maschine nicht die Arbeitsmöglichkeiten, vielmehr vermehrt und steigert sie diese in ungeahntem Ausmaß. Vorläufig könnte jedenfalls schwerlich davon die Rede sein, daß die Menschen der ganzen Erde alle auch nur mit dem Mindestmaß an Gütern, mit Kleidern, Schuhen, mit billigen und gesunden Wohnstätten, und mit den Möglichkeiten einer geistigen Bildung ausreichend versehen seien. Hier wäre noch Arbeit für ein Vielfaches mehr an Menschen und Maschinen als sie heute überhaupt da sind. Was die Arbeitslosigkeit verursacht, ist die gruppenegoistische Anwendung der Maschine, 3i

die Gestaltung der Gütererzeugung und Güterverteilung, des ganzen Wirtschaftsprozesses nach eng nationalistischen oder kontinentalistischen Gesichtspunkten. Erst dadurch konnte die Maschine zum Unsegen werden, erst so konnte jene selbstmörderische Überproduktion in den einen, der völlige Mangel in den anderen Wirtschaftsgebieten entstehen, konnte es zu jenen, einer Menschheit des zo. Jahrhunderts wahrhaft unwürdigen Zuständen kommen, welche durch die Hungersnot unter M i l l i o n e n Menschen in China und Rußland und das gleichzeitige Verbrennen von Getreide in Südamerika und Kanada erschreckend gekennzeichnet sind. Die wahre Ursache solcher Zustände besteht in der Tatsache, daß heute noch jedes Land und jede Regierung sich in ihren Maßnahmen von Gesichtspunkten leiten läßt, die vielleicht im Zeitalter der Postkutschen und der Stadtmauern brauchbar sein mochten. Es ist der Fluch solcher Blindheit, daß sie immer ärgere Verwirrung stiftet, bis schließlich die allgemeine Lage so verrammelt ist, daß viele Länder nun aus Notwehr in einem sie selbst schädigenden Umfange das zu tun gezwungen sind, was sie vorher nur soweit es ihnen bequem und vorteilhaft schien, glaubten tun zu können, nämlich ihrem Individualismus und Gruppenegoismus zu fröhnen, bis er sie selbst an seiner Enge ersticken läßt oder sie einen neuen Weg zu suchen zwingt. So kommt es, daß heute selbst solche Länder wie England zum Hochschutzzoll greifen müssen — alle wollen sie nur ausfuhren und möglichst wenig einführen — als ob nicht schon ein Kind ausrechnen könnte, zu welchen unhaltbaren Zuständen dies fuhren muß. Es handelt sich dabei aber auch nicht mehr um logisch und sinnvoll begründete Maßnahmen, sondern wie Verzweifelte, die auf sinkendem Schiff in der Blindheit einer Panik um ihr nacktes Leben ringen, denkt auch hier jeder nur an sich — und gerade darum droht ihnen allen zusammen der Untergang. — Die Moral der Gruppenliebe stellt eine geistig und sozial verhältnismäßig so primitive Stufe dar, ihre hemmenden Folgen zeigen sich — sobald eine Kultur nur wenig über engste Verhältnisse hinausgelangt ist — so unheilvoll und offenkundig, daß es begreiflich ist, wie schon vor Jahrtausenden weiterschauende Geister die Unzulänglichkeit dieses Gewissens gefühlt und erkannt haben. Und sie trachteten an seine Stelle eine andere, voll32

kommenere Direktive für die Entfaltung des Mitgefühls zu setzen. Sie stellten als Grundlage der menschlichen Ordnung und des Zusammenlebens eine Moral auf, welche die Liebe zu allen Menschen fordert, ohne Rücksicht auf die Zugehörigkeit eines Menschen zu einem bestimmten Stand, Volk usw. Die Liebe soll alle in gleicher Weise umfassen; jeder soll des andern Nächster und Bruder sein. Zweifellos stellt eine solche Forderung einen gewaltigen Fortschritt dar gegenüber dem Gewissen der äußerlichen Rohdifferenzierung. Es hat in außerordentlichem Umfange beigetragen, die furchtbare, seelenhemmende Enge des Gruppengeistes zu lockern und dem Menschengeiste neue, ungeahnte Horizonte eines gewaltig erweiterten Mitfühlens zu öffnen, der Liebe eine kraftvollere Unmittelbarkeit und Frische zu schenken. Nicht mehr die Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Clan, zu diesem oder jenem Volke sollte den Weg der Hingabe und Neigung bestimmen, sondern frei sollte und durfte sich Mitleid und Liebe einem jeden widmen, der ihre Wege kreuzte. Unter welchem Gewände immer Leid sich birgt, in welcher Sprache der Notschrei des Menschen ertönt, es sind alles Menschen, in allen leidet, darbt, ringt die gleiche Kreatur, Blut von unserem Blut, Geist von unserem Geiste. Diese Erkenntnis hat wie kaum etwas anderes beigetragen, in den Menschen in jahrtausendewährender Erziehungsarbeit das Bewußtsein der allumspannenden Solidarität der Menschheit vorzubereiten, jenes tiefe Verlangen nach einer Einheit und Harmonie der Menschengemeinschaft zu entflammen, das heute in Millionen noch unklar, aber mit nicht mehr erstickbarer Sehnsuchtsglut lodert. Aber die tiefe Verehrung und Dankbarkeit, die wir für alle die Vorkämpfer empfinden, die dem Gewissen der allumfassenden gleichen Menschenliebe die Wege zu bahnen suchten, kann und darf uns nicht übersehen lassen, wie wenig dieses Gewissen bisher imstande war, die furchtbare Dämonie des Gruppengeistes zu bannen und seine Herrschaft entscheidend zu brechen. Die Geschichte dieses Gewissens ist im christlichen Abendlande wie im buddhistischen Osten die eines immer erneuten tapferen Ansturms auf die Bollwerke einer veralteten Standes-, Kastenund Nationalmoral, die sich aber trotz ihrer wachsenden Sinnlosigkeit immer neu zu behaupten weiß. War nicht der Weltkrieg für alle jene, denen an der Überwindung des Gruppen33

geistes liegt, eine erschütternde Bestätigung dafür, wie wenig bisher die Macht einer universelleren edleren Liebe gefestigt ist, wie sie heute bedrohter denn je erscheint ? Eine unvoreingenommene Betrachtung läßt keinen Zweifel, daß in Wahrheit der Einfluß dieser höheren Gewissensgestalt kaum über die engen Sphären des Privatlebens und caritativer Bemühungen hinausgediehen ist. Trotz aufopferndster Arbeit, welcher sich die Besten zahlreicher Völker seit zwei Jahrtausenden hingeben, herrscht heute im Leben der wirtschaftlichen und staatlichen Gruppen — seien es christliche, mohammedanische, buddhistische oder konfuzianische — nach wie vor der rücksichtslose Kampf bis aufs Messer, die gierige erbitterte Fehde aller gegen alle. Und wo einige Gruppen sich „verständigen", da geschieht es zumeist, um desto wuchtiger den Schlag gegen einen gefürchteten gemeinsamen Gegner oder Konkurrenten führen zu können. So begannen die Ziele einer Einigung Europas erst dann in den maßgebenden Kreisen populär zu werden, als die europäischen Industrien die Konkurrenz der amerikanischen Wirtschaft ernstlich zu spüren bekamen und sich zugleich gegen den russisch-kommunistischen Staat schützen mußten*). 3Wie kommt es, daß die Forderung einer alle in gleicherweise umfassenden Menschenliebe bis heute nur zu so spärlichen Resultaten gefuhrt hat und in der Hauptsache nicht verwirklicht *) Daß die Erweiterung dieses Gruppengefiihls auf die Völker eines Kontinents nicht minder gefährlich ist und nicht weniger einen Gruppenegoismus herbeifuhrt als der Egoismus einer bestimmten Klasse, Nation oder Rasse, scheint leider vielen „Internationalisten" noch wenig bewußt zu sein. Die Ideale von Panamerika, Paneuropa, Panasien können zwar beitragen, die engeren nationalen Gruppenegoismen abzuschwächen, aber es läßt sich nicht leugnen, daß sie zugleich neue, gruppenegoistische Ideologien größten Maßstabes heranzüchten. Das gleiche geschieht durch die heute so beliebten literarischen Konstruktionen wie die von der „europäischen Seele", der „Seele Asiens" etc., mit ihrer Neigung, ständig sich entwickelnde Gebilde äußerst mannigfaltiger Natur auf einige mehr oder minder hervortretende Merkmale ihres augenblicklichen Zustandes statisch festzulegen und daraus kulturpolitische Direktiven ableiten zu wollen. Statt einer Annäherung und Einigung zu dienen, erzeugen derartige Verzerrungen neue künstliche Gegensätze zwischen großen Gruppen und helfen den Boden für furchtbare Kontinentalund Rassenkriege vorbereiten.

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werden konnte, am wenigsten in den Beziehungen der großen wirtschaftlichen, staatlichen und religiösen Gruppen ? Es sind, wie Holzapfels Untersuchungen gezeigt haben, in diesem Moralideal Widersprüche und Unklarheiten enthalten, die nicht nur schuld sind, daß es in der Vergangenheit gegenüber der Macht des Gruppenegoismus vinterliegen mußte, sondern die es auch in Zukunft unfähig machen, jene zu überwinden. Die Forderung des Gewissens gleicher Menschenliebe enthält vor allem keine bewußte, klare Berücksichtigung der Gesamtentwicklung. Sie geht nicht aus von einem Streben, dasjenige zu tun oder zu lassen, was im Hinblick auf die V e r v o l l k o m m n u n g der G e s a m t h e i t notwendig ist. Vielmehr richtet sie ihr Augenmerk auf den einzelnen und betrachtet die Gesamtheit lediglich als Summe von einzelnen, ungefähr gleichen und gleichwertigen Individuen. Wenn sie auch die individuellen Verschiedenheiten der Menschen keineswegs leugnet, so legt sie diesen doch keine wesentliche Bedeutung bei; entscheidend sind ihr vielmehr jene Züge und Eigenschaften, welche allen Menschen gemeinsam sind. Darum ist für sie in jedem Einzelnen die Gesamtheit bereits enthalten. Bei allem Bestreben, alle zu berücksichtigen und keine äußeren Unterschiede walten zu lassen, ist diese Moral individualistisch. Ihr höchstes Ziel ist Glück und Seelenheil des Einzelmenschen. Auch die Liebe selbst empfangt ihren höchsten Wert dadurch, daß sie das Heil und die Erlösung des Einzelnen herbeizuführen vermag. Je mehr aber in einem Menschen die Liebe zur eigenen Vervollkommnung entwickelt ist, um so mehr wird er erkennen, daß diese nur dann dauernd gesichert und gefördert werden kann, wenn auch die Entwicklung der Mitmenschen ein hinreichendes Ausmaß erlangt und entsprechende Förderung erfahrt, und daß nur eine Willensdirektive, die auf die größtmögliche Vervollkommnung der Gesamtheit bewußt gerichtet ist, das Leben und die Entfaltung des einzelnen am meisten zu bereichern und zu heben vermag. So mündet eine intensive Liebe zu eigener und mitmenschlicher Vervollkommnung notwendig in eine Liebe, die in der größtmöglichen Menschheitsentwicklung ihr höchstes irdisches Gut erblickt. Keine Teilgruppe vermag für sie den Wert und die Entfaltungsmöglichkeiten zu erreichen, welche der Gesamtheit innewohnen. Darum muß jede Bevorzugung einer Gruppe auf Kosten der Gesamtheit, aber 35

auch jede Berücksichtigung nur der augenblicklichen persönlichen Wünsche und Sehnsüchte einzelner unter Hintanstellung umfassenderer Gesichtspunkte zu einer Schädigung der Gesamtheit fuhren. Schon die bloße Nichtberücksichtigung, das Nichtdenken an die Erfordernisse der Gesamtheit können in den meisten Fällen als Schädigung bezeichnet werden; denn je komplizierter ein Gebilde ist, um so weniger kann es durch zufällige, nicht beabsichtigte Handlungen und Ziele gefördert werden, um so leichter tritt eine Hemmung oder gar Zerstörung ein*). Was aber stellt diese Gesamtheit eigentlich dar und wie kann ihre Vervollkommnung am meisten gefördert werden ? Wie die Menschheit kein bloßes Konglomerat von Individuen ist, so sind auch die physiologisch-rassenmäßig, geographisch, klimatologisch bedingten Verschiedenheiten ihrer Teile nicht die tiefsten und grundlegendsten. Wesentlicher und mit wachsender Differenzierung der menschheitlichen Kräfte am entscheidendsten sind die mannigfachen Stufen seelischg e i s t i g e r Entfaltungen, die in unaufhörlicher Wandlung und Wechselwirkung das komplizierte Gefüge des sozialen Lebens der Menschheit gestalten. Die allgemeine Entwicklungsstufe und der Grad der Entwicklungsfähigkeit, welche einem Menschen eignen, sind auch innerhalb einer nationalen Gruppe oder Rasse für seinen Wert entscheidender als seine Zugehörigkeit zu diesem oder jenem rasseartigen oder nationalen Typus. Im Reichtum dieser Grade und Abstufungen kommt nun zwar einer jeden Kraft eine besondere, unersetzliche Bedeutung zu, aber ihr Wert für die Gesamtheit ist je nach der Höhe und harmonischen Mannigfaltigkeit ihrer Anlagen ein sehr ungleicher. Wer die Vervollkommnung der Gesamtheit liebt und sie fördern möchte, wird in erster Linie dieser abgestuften Entwicklung ihrer Kräfte Rechnung tragen. Er kann und darf nicht alle Grade, nicht alle Einzelkräfte in gleicher Weise lieben und berücksichtigen wollen. Je schöpferischer, durchgeistigter, seelisch reicher und erkenntnistiefer ein Mensch, je mehr er das erstrebt und tut, was der Gesamtheit objektiv fruchtet, desto wichtiger ist sein Schaffen für diese und um so größere Berücksichtigung und Hingabe muß ihm daher zuteil werden. Nicht um Unterschiede mehr äußerlich-technischer Anlagen handelt es *) Vgl. Panideal, I, S. 2 j i f .

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sich hierbei — sehr oft sind bekanntlich solche mehr formale, technisch-virtuose Talente mit sehr durchschnittlicher oder gar minderwertiger Seelenanlage verbunden, mit Selbstsucht, Gefühlsroheit, Genußgier, Stumpfheit — sondern um Eigenschaften der seelischen Gesamtanlage, um den Grad der Vertiefung, der Güte und Hingabefahigkeit, der Verinnerlichung und Arbeitsintensität, um die Art der Arbeitsantriebe, um Unterschiede in schöpferischer Erkenntniskraft und Phantasie. Und es ist unter Förderung nicht nur die Sicherung und Verbesserung der materiellen Verhältnisse zu verstehen, sondern sie umfaßt vor allem auch die Ansprüche auf seelisches Mitverstehen, geistige Unterstützung, auf Berücksichtigung der individuellen Schaffensbedürfnisse und Entwicklungsbedingungen. An Stelle der rohäußerlichen Differenzierung nach Stand und Rang, nach Nation und Kontinent, nach Rasse und Klasse, und an Stelle der grundsätzlichen Gleichbewertung Aller tritt eine neue Art der Hingabe und Liebe, die bewußt allen Kräften Rechnung trägt, zugleich aber deren unterschiedlichen Wert für die Gesamtheit abstufend berücksichtigt. Indem dieses Verhalten mehr und mehr die Autoritätszüge einer als vorbildlich erlebten, künftigen Menschengemeinschaft erhält, instinktiviert es sich zu einem neuen ethischen Ideal. Diesem für die volle Entfaltung der Liebe so unentbehrlichen, seelischen Differenzierungsverlangen trug nun aber die Allverbrüderungsmoral keine Rechnung. Dies ist der Hauptgrund, weshalb sie den Gruppenegoismus nicht zu überwinden vermochte. Sie widerspricht einem unausrottbaren und für den Aufbau der Seele wie der Gemeinschaft unentbehrlichen Bedürfnis nach Abstufung, Bevorzugung. Je tiefer und kraftvoller eine Hingabe, je umfassender eine Entwicklungsliebe, um so mehr will sie gerade Unterschiede sehen und nach Möglichkeit berücksichtigen, um so entschiedener möchte sie einen jeden nach Maßgabe seiner Anlagen und Fähigkeiten fördern. Zu einem unterscheidenden Verhalten zwingt aber auch das Leben selbst, die unvermeidliche Beschränkung der Kräfte; die Grenzen, die einem jeden gesteckt sind, nötigen ihn eine Wahl zu treffen, manche stärker zu berücksichtigen, andere zurückzustellen. Will er nicht allen das gleiche, laue, im Grunde so abstrakte und wenig hilfreiche Wohlwollen zuwenden, und will er nicht die Niedrigen und Rohen in gleicher Weise oder gar un37

wissentlich mehr begünstigen als die Edlen und Gutgewillten, so darf er nicht der Entscheidung aus dem Wege gehen, er muß wählen. Wonach aber soll diese Wahl geschehen ? Auf Grund welcher Kriterien ? Auf diese Frage gibt das Gewissen der allgemeinen gleichen Menschenliebe keine klare und eindeutige Antwort*). Es überläßt die Entscheidung dem subjektiven Gefühl des einzelnen oder dem Zufall. Wie aber wird diese Wahl ausfallen ? In den allermeisten Fällen wird sie zugunsten jener Menschen und Gruppen erfolgen, die dem Wählenden durch Geburt, durch örtliche Nähe, durch Rassen- und Standesverwandtschaft, durch gleiche nationale Zugehörigkeit die „Nächsten" sind. Es ist dann im Falle eines Konflikts zwischen dieser Gruppe der „Nächsten" und einer fernerstehenden Gruppe kaum zu vermeiden, daß der vertrauteren Gruppe unwillkürlich ein tieferes und spontaneres Mitgefühl entgegengebracht wird. So erfolgt die Entscheidung fast zwangsläufig zugunsten der eigenen Familie, des eigenen Volkes, der eigenen Klasse, ohne Rücksicht auf die Gesamtheit. So sehr ist diese Bevorzugung des „Nächsten" instinktiviert, für die meisten infolge angeborener Trägheit und Einfluß der Erziehung so viel reicher an anschaulichen Erlebnisinhalten, daß alles Fernere, Umfassendere abstrakt, unwirklich erscheint. Um so leichter kann das Schicksal der eigenen Gruppe mit dem des Ganzen gleichgesetzt werden. Auf diese Weise ist es gekommen, daß die nivellierende Moral durch ihren Mangel an klaren Wegweisern für eine lebensaufbauende Unterscheidungsweise letzten Endes die Rohabstufung nach äußerlichen Merkmalen begünstigt. Im Schatten des Gleichheitsgewissens, von diesem unbewußt und wider Absicht geschützt, schleichen sich die alten Gruppeninstinkte aufs neue in die Seele ein und ergreifen von ihr Besitz. Mag sie sich dann *) Es fehlt freilich nicht an Versuchen, aus manchen Gleichnissen der Evangelien eine Aufforderung zur „Differenzierung" herauszulesen. Bekanntlich fällt es nicht schwer, ein neues Prinzip nachträglich in die alten Traditionen hineinzudeuten, besonders wenn diese durch ihre Vieldeutigkeit zu verschiedensten Interpretationen Anlaß geben. Aus solchen tastenden und oft recht gewaltsamen Ausdeutungen kann aber eine brauchbare, gerade in den konkreten Entscheidungen des Lebens standhaltende Orientierung nicht hervorgehen. Es bedarf dazu der klaren Erkenntnis des grundlegenden Prinzips der seelischen Differenzierung, wie sie sich erst aus der Anschauung von der Struktur der menschheitlichen Entwicklung selbst und aus dem Streben nach deren bewußter Vervollkommnung mit voller Eindeutigkeit ergibt.



noch so leidenschaftlich zur Gleichheit bekennen, mag sie mit aller Entschiedenheit alle nationalistische, klassenartige, rassenchauvinistische Bevorzugung bekämpfen — in Wirklichkeit herrschen in den Tiefen ihres Bewußtseins die alten Gruppenrohkräfte weiter, und es bedarf meist keiner großen Anstrengung, um die Forderungen der allgemeinen Menschenliebe über den Haufen zu werfen und den elementaren, primitiven Gruppeninstinkten die Bahn frei zu geben. Gerade in Dingen, wo es um Tod und Leben, um unentbehrlichste Lebenswerte geht, erhält das Gruppengewissen, das stets im Versteckten lauert, fast immer die Oberhand. Daraus wird verständlich, warum im Leben in Wirklichkeit auch heute meist die Gruppenmoral entscheidet. Nicht die Unfähigkeit der Menschen, sich allmählich zu einem geistigeren Verhalten emporzuheben, ist die tiefste Ursache für das Versagen des nivellierenden Gewissens. Der utopische Charakter des Gleichheitsgewissens, sein geringes Eingehen auf die seelische Beschaffenheit der einzelnen und ihre besonderen Entfaltungsbedürfnisse, die unzureichende Berücksichtigung der Aufgaben, die sich aus der Verschiedenheit und aus der Abstufung menschlicher Anlagen ergeben — sie sind, neben dem Mangel einer bewußt auf das Ganze gerichteten Direktive, die tiefsten Ursachen für das Versagen des Gewissens allgemeiner gleicher Menschenliebe; in ihnen haben wir den eigentlichen Grund dafür zu suchen, daß das Streben nach einem tieferen, hingebungsvolleren Mitgefühl, dem das Gewissen der gleichen Menschenliebe ursprünglich entsproß, sich im Leben so wenig durchzusetzen vermochte. Indem dieses Gewissen den natürlichen und notwendigen Bedürfnissen nach Unterscheidung den Weg verrammelte, statt sie einer seelischen Differenzierung zuzuführen und dem Aufbau einer harmonischeren Gemeinschaft dienstbar zu machen, konnte es den immer erneuten Rückfall auf Stufen lebenshemmender Rohabstufung nicht verhindern. 4Aus diesem Dilemma zwischen der Moral unterschiedsloser Menschenliebe und der des Gruppenegoismus kann nur das Vorbild eines n e u e n G e w i s s e n s uns herausführen — eines Gewissens, welchem die alle umfassende, aber nach seelischen Merk39

malen unterscheidende Liebe zur höchsten Direktive des Handelns in allen sozialen und erzieherischen Dingen wird. Erst wo das seelisch differenzierende Verhalten die Form eines Gewissens annimmt, kann es seinen vollen Einfluß auf das soziale und geistige Leben ausüben, die Mächte der Rohgruppierung und der Nivellierung an ihrer Wurzel erfassen und austilgen. Mit einer sporadischen, innerhalb kleinerer Interessengebiete oder im Bereich nationaler Schranken gelegentlich geübten „Verehrung und Höherschätzung des Geistigen" ist es da nicht getan, ganz abgesehen von der Willkür und Subjektivität, die solcher Bevorzugung zumeist, aus Mangel an umfassenderen Gesichtspunkten, anhaftet. Niemals hätte eine solche mehr nur instinktiv und gelegentlich von Einzelnen und kleinen Gruppen befolgte Vorliebe für seelisch Reicheres die Gewalt, den ungeheuren, tief verankerten Wildkräften der engen gruppenegoistisch oder utopisch gleichmacherischen ethischen Bewertungsweisen zu begegnen. Denn daß diese sich durch jahrtausendelange Übung und Erziehung als „Gewissen" befestigt haben, verleiht ihnen erst ihre völkerbeherrschende und so oft völkerverheerende Macht. Erst wo darum die Forderung einer menschheitlich-orientierten, geistig unterscheidenden Liebe zum Bestandteil einer neuen Wertorganisation wird, zum Glied eines panidealistischen, d. h. synthetisch umfassenden und zugleich abstufenden, individualisierenden Gewissens, welches alle Impulse des Wollens und Handelns ergreift und wandelt, und welches als ethisches Ideal einer vorbildlichen Großgemeinschaft erlebt wird, vermag sie nach und nach zu einer Zentralkraft in der Seele heranzuwachsen, die die bisherigen unzureichenden und hemmenden ethischen Wertorganisationen aus den Angeln hebt. Das neue Gewissen verlangt eine liebevolle und intensive Berücksichtigung aller, auch der geringsten Anlagen und .verurteilt nichts so leidenschaftlich wie eine Bevorzugung nach Stand und Rang, nach Nation und Klasse, Besitz und Rasse. Auch für das Unscheinbarste und selbst das Allerunbedeutendste fordert es eine Teilnahme und Hilfsbereitschaft, die wesentlich über die bisher geübte „allgemeine Menschenliebe" hinausgeht. Aber ebenso entschieden bekämpft es eine Gleichsetzung Aller. Es fordert, daß im Falle einer unvermeidlichen Wahl die höhere Liebe und Rücksicht stets dem für die Gesamtheit Wertvolleren zugewandt werde und es betrachtet eine Unterordnung einer 40

solchen seelisch reicheren und entwicklungsfähigeren Anlage unter eine stumpfe oder gar minderwertige oder unter das Interesse einer Einzelgruppe als größte Sünde wider die menschheitliche Vervollkommnung. Es kann sich dabei selbstverständlich immer nur um die Berücksichtigung solcher Unterschiede handeln, die objektiv hinreichend erkennbar sind. Wenn die Fähigkeit, solche zu sehen, heute in den meisten Menschen noch recht wenig ausgebildet ist, so unterliegt es keinem Zweifel, daß die fortschreitende Erfahrung und Übung im Unterscheiden, geleitet durch ein von Kindheit an zur Differenzierung anspornendes Gewissen, die Grenzen der Unterscheidungsfahigkeit gewaltig erweitern und die Sicherheit objektiver Urteile erheblich steigern wird. Da der Mensch überhaupt nicht anders kann als differenzieren, so hat natürlich in der Praxis auch die Gleichheitsmoral Unterschiede gemacht. Aber sie wandte ihre größte Fürsorge vorwiegend den Schwachen, Hilflosen, den im Besitze wie im Geiste Armen zu. Diese Fürsorge soll gewiß nicht nur keine Einbuße erleiden, sie muß vielmehr zu einer unvergleichlich tieferen und aktiveren, vielseitigeren Hilfe gegenüber den Bedrängnissen der Armen, Kranken, Bedürftigen entfaltet werden und das Bisherige in hohem Maße übertreffen, soll sie dem Willen eines panidealistischen Gewissens entsprechen. Weil jedoch das panidealistische Gewissen auch den Schlichtesten und Geringsten ein möglichst wirksames und verstehendes, einfühlendes Mitempfinden zuwenden will, fordert es, daß über dem Schutz und dem Beistand für die äußerlich Benachteiligten jene nicht außer acht gelassen werden, die durch ihre schöpferische Arbeit die Gesamtentwickluhg in gewaltigem Ausmaße heben und die dadurch auch den Einfachsten und Schwächsten eine Förderung bringen, die dauerhafter und wesentlicher ist als die mehr den Augenblicksnöten zugewandte caritative Menschenliebe. Wer sein Leben und Schaffen nicht nur der augenblicklichen Milderung und Linderung von Not, Krankheit, Elend, Ungerechtigkeit widmet, sondern der Erforschung der Ursachen dieser Übel, wer die Keime der sozialen und seelischen Verkümmerung erkennt und in oft martervoller, opferreicher Arbeit eines ganzen Lebens die Wege zu ihrer d a u e r n d e n Beseitigung ergründet, dessen Hingabe — wenn auch der Menge meist weniger sichtbar und weniger bewußt — ist für alle Men4i

sehen, auch für die Armen und Kranken, noch wertvoller und verdient einen womöglich noch intensiveren Schutz und eine noch reichere Förderung. Wen es aufrichtig verlangt, den Mitmenschen möglichst vielseitig Hilfe zu bringen, dem wird daher eine besonders intensive Berücksichtigung der seelischen, schöpferischen Kräfte nicht als eine Einschränkung, sondern als gewaltige Erweiterung der Liebe und des Opfergeistes erscheinen. Es wird aus diesem Streben ein bisher nicht gekanntes, kraftvolleres Verantwortungsgefühl für die großen Schöpfer hervorwachsen, für alle diejenigen, welche der Menschheit am meisten gegeben haben durch ihre Werke der Kunst, der Forschung, des Gedankens, des Glaubens, für die genialen Entdecker und Erfinder, die bahnbrechenden Erzieher — sie alle, denen die Menschheit für die von ihnen empfangenen Wohltaten bisher nur zu oft mit Hohn und Verfolgung, mit Elend und Vergessenheit gelohnt hat. Dabei steht dem neuen Gewissen aber nichts ferner als Geistesaristokratie, deren erbitterter Feind es ist. Denn bei allem leidenschaftlichen Schutz wahrhafter Größe ist es durchdrungen von der Erkenntnis, daß keine noch so große Einzelentwicklung und Sonderanlage den Reichtum und die schöpferischen Möglichkeiten, die in der Gesamtheit beschlossen sind, ersetzen oder gar überragen kann. Es ist m i t h i n eine m ä c h t i g e r e , ü b e r alles b i s h e r i g e Maß h i n a u s g e h e n d e L i e b e , welche dieses G e w i s s e n h e r b e i z u f ü h r e n sucht. Mit der Erkenntnisklarheit, mit dem objektiveren, bewußteren Unterscheiden wird das Mitgefühl nicht gehemmt, sondern befreit; ganz kann sich seine Wärme, seine segnende Kraft ausstrahlen. Seine Intensität und Frische ermüdet nicht durch die Gleichförmigkeit und so häufige innere Teilnahmslosigkeit einer unterschiedslosen Zuwendung; sondern in der Versenkung in reichste, sublime und seltenere Seelenstufen findet es stets neue Quellen der Verjüngung und Erweiterung, die dann belebend, befruchtend in die Liebe auch zu den Einfachsten einströmen. An den Hochgestalten geläutert und für Züge des Außergewöhnlichen, Edleren geübt, wird die panidealistische, liebevolle Hingabe mit sichererem Instinkt auch in den durchschnittlichen Anlagen die oft verborgenen, mißachteten wertvolleren und feineren Keime erspähen und sie schützend ans Licht heben. So befruchten sich Liebe zum Höchsten und Liebe zu den schlichteren Stufen wechselseitig. In seiner 42

seelischen Differenzierung trägt das neue Gewissen die Gewähr für eine wahrhafte Vertiefung und gewaltige Steigerung des Mitgefühls, für das Lebendigwerden eines Opfergeistes, weit über alle Schranken der bisherigen Nächstenliebe hinaus. Nur eine solche Steigerung der Liebe und Verantwortung für das Schöpferische im Menschen wird aber die Kraft haben, die Macht der Gruppeninstinkte wirklich zu brechen und das Fundament einer gerechteren, sozialen Ordnung, einer harmonischeren Menschengemeinschaft zu gründen.

Z b i n d e n , Technik und Geistesleben.

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III, TECHNIK UND RETTUNG DER SCHÖPFERISCHEN KRÄFTE

Erspart die Maschine menschliche Kraft ? — Die Verkürzung der Arbeitszeit. — Probleme der Arbeitsethik. — Technik und psychologische Erziehung; Erkennen und Schutz der Ausnahmekräfte. — Der Industrialismus und die ethischen Voraussetzungen einer künftigen Bevölkerungspolitik.

I. Wenn wir uns nun fragen, welches die Mittel und Wege zur Verwirklichung der Forderungen des neuen Gewissens sind, die wir im vorigen Kapitel kennengelernt haben und die auf den Schutz und die Befreiung der seelenerneuernden Kräfte im einzelnen und in der Gesamtheit hinzielen — so erkennen wir leicht, wie der Technik hierbei eine wesentliche, ja unentbehrliche Aufgabe zukommt. Erst durch ihre Hilfe wird es möglich sein, in umfassenderem Ausmaß die praktischen Voraussetzungen einer solchen Befreiung und Entfaltung des menschlichen Schaffens zu sichern. Manche Gegner der Technik meinen zwar, daß es ein großer Irrtum sei zu glauben, die Maschine erspare Menschenarbeit. Das Gegenteil sei der Fall, jede Verbesserung der Technik fresse neue Menschenkraft; wie ein unersättlicher Moloch verschlinge sie um so mehr Opfer, je mehr ihr solche dargebracht würden, je mehr Menschen an der Erweiterung und Vervollkommnung der Technik arbeiten. Als ob der Sinn der Technik darin bestünde, die Menschen zu Nichtstuern zu machen! In Wirklichkeit beruht das Große und Fruchtbare der Technik gerade darin, daß sie mit jeder neuen Errungenschaft auch neue Möglichkeiten menschlicher Tätigkeit öffnet, die freilich aus Mangel an sozialer Vorbereitung oft jahrhundertelang brach liegen bleiben. So haben Erfindungen und Entdeckungen wie die Buchdruckerkunst, die Dampfkraft, die Explosionsmotore bekanntlich ungezählte neue Berufsformen geschaffen, in denen

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sich das erfinderische, mechanische, organisatorische, wirtschaftliche Können von Millionen von Menschen in einer Weise entfalten kann, wie dies vordem undenkbar gewesen wäre. Schon eine Erfindung wie die des Pfluges hat die Arbeit großer Völkerschaften im materiellen wie im kulturellen Sinne ungeahnt gefördert. Zahllose Menschen, die vordem kaum intensive Bodenbebauung und Ackerwirtschaft ausüben konnten, fanden nun ganz neue Tätigkeitsgebiete, die sich immer mehr verzweigten. So hat schon in urgrauer Zeit ein Fortschritt der Technik der Menschheit ein neues gewaltiges Arbeitsgebiet eröffnet und zugleich die Tätigkeit zur Erhaltung des Daseins erleichtert. So bietet die moderne Biologie, die großenteils erst dank der Erfindung des Mikroskops entstehen konnte, ungezählten wissenschaftlich begabten Menschen eine Möglichkeit zur Entwicklung ihrer Anlagen, die in früherer Zeit unbeachtet, ohne Gelegenheit zu einer sinnvollen Arbeit verkümmerten, ohne daß vielleicht die dazu Veranlagten selbst ahnten, welche Fähigkeiten in ihnen ungenützt schlummern. Erfindungen auf mechanischem, physikalischem, chemischem Gebiet waren es, die eine unabsehbare Reihe neuer Berufe, wie den des Ingenieurs, des Technikers, des Konstrukteurs, des Fliegers, des Filmphotographen usw. schufen, in denen sich vordem brachliegende Kräfte entfalten können. Indem eine technische Errungenschaft von primitiver Fronarbeit und von geisttötenden Funktionen befreien helfen kann, dadurch, daß sie diese, soweit sie vorwiegend entwicklungshemmend wirken, automatisiert, erschließt sie zugleich neue Möglichkeiten eines befriedigenderen Schaffens. Sollen etwa die Menschen bis in alle Zeiten hinaus den ganzen Tag und ihr ganzes Leben nur dem Erringen ihres täglichen Brotes hingeben, so daß für die Entwicklung ihrer geistigen Bedürfnisse kaum mehr als ein dürftiger Rest von Zeit und Kraft übrigbleibt ? Wo steht es denn geschrieben, daß die meisten Menschen geschlagene acht Stunden oder mehr vorwiegend für eine Tätigkeit opfern sollen, die meist nur ihrer notdürftigen Erhaltung dient und die heute nur in Ausnahmefallen ihre tiefsten und oft verborgensten Sehnsüchte stillen kann ? Statt die deutlichen Zeichen der Entwicklung, zu welcher die Natur selbst hindrängt, zu erkennen und ihnen zu folgen, statt sie freudig zu begrüßen, wehren sich die Hüter einer erstarrten 4*

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„Ordnung" — die längst ein grauenvolles Chaos geworden — mit allen Mitteln gegen die unaufhaltsame Wandlung. Es ist völlig unbestreitbar, daß schon heute eine erhebliche Verkürzung der Arbeitszeit in zahlreichen Berufszweigen möglich wäre, und zugleich eine erhebliche Individualisierung der Arbeit, ohne daß dadurch die Menschheit das Geringste entbehren müßte*). Die Arbeit wird geleistet, und das Erzeugnis, welches zur Befriedigung einer Nachfrage dient, wird geschaffen — ob nun die Arbeit in mühsamer Handtätigkeit oder großenteils automatisch durch Maschinen erfolgt. Ob Millionen von Pferdekräften durch eine elektrische Kraftzentrale unter Aufsicht einer Handvoll Menschen erzeugt und über weite Länderstrecken verteilt werden, oder ob Hunderttausende von Menschen ihre ganze Kraft und ihr Leben hingeben müssen, um die gleichen Energien hervorzubringen — das ändert am Produkt selbst nichts. Es ist in beiden Fällen vorhanden und steht also zur Verfugung der Verbraucher. Sinnlos, ja verbrecherisch wäre es aber, das Kraftwerk nicht zu errichten, weil dadurch bisher benötigte Menschenheere „arbeitslos" würden. Es hängt von der richtigen Vorbereitung und Anwendung dieser technischen Möglichkeiten ab, ob die Ersparnis an Menschenarbeit auf dem einen Gebiete sich durch entsprechende Verringerung der Berufswahl auf diesem Bereiche auswirke und die freiwerdenden Menschenkräfte neuen, humaneren, geistig befreienderen Arbeitsaufgaben zugute kommen. Man erschöpft sich heute im Suchen von „Arbeitsgelegenheiten" innerhalb der bisherigen Berufsformen, statt die soziale Phantasie, die Gestaltungs- und Neuorientierungsarbeit auf das Finden und Öffnen ganz neuer Aufgaben und Berufe zu lenken. Die Entwicklung der Technik und deren Anwendung im Sinne des neuen Gewissens muß und wird in einem ungleich zielbewußteren und fruchtbareren Ausmaß als bisher zu einer Entlastung wachsender Menschengruppen von der reinen Erhaltungs- und „Erwerbs"arbeit und zur vielgestaltigen Entstehung neuer Arbeitsgebiete fuhren, in denen die seelischen Individualbegabungen von immer mehr Menschen sich in freier, schöpferischer Weise betätigen können. *) Wie seht dieses ein Hauptproblem der Wirtschaft in naher Zukunft, ja heute schon, ist, läßt sich deutlich auch aus den Erörterungen des Internationalen Arbeitsamtes in Genf erkennen, das der Frage der internationalen Verkürzung der Arbeitszeiten seit langem eine wachsende Aufmerksamkeit widmet.

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2.

Von den Perspektiven des neuen Gewissens aus gewinnt auch das Problem der Arbeitsethik und der Arbeitsfreude ein neues Gesicht. Man hatte geglaubt, dem ermüdenden Einfluß der einförmigen Arbeit an der Maschine, der geistlosen Tätigkeit am laufenden Bande und ihrer abstumpfenden Wirkung auf den Arbeiter dadurch begegnen zu können, daß man dem Arbeiter ein Bewußtsein für die Gesamtheit, für das „Kollektivum" und den Dienst an dessen gemeinschaftlichen Zielen einflösse. Indem man ihm erkläre, wie jede einzelne Hebelbewegung und jede kleinste Teilarbeit, so einförmig sie an sich auch sei, doch erst das Ganze möglich mache, und wie das Ergebnis von der hingebenden und gewissenhaften Ausführung dieser kleinsten Teilaufgaben abhänge, glaubte man das Verantwortungsgefühl des Arbeiters und seine Arbeitsfreude zu wecken, ihm das Gefühl, ein lebendiges Glied des Ganzen zu sein, zu geben. Diese Versuche sind, nach vorübergehenden Scheinerfolgen, in der Hauptsache völlig gescheitert. Es ist in der Tat auch ein recht utopisches Unterfangen, durch derlei rationale Überlegungen die psychologische Wirkung einförmiger Maschinenarbeit aufheben zu wollen. Freilich kann auch eine Maschine dem sie Bedienenden wertvoll und teuer werden. Lokomotivführer haben oft zu ihrer Lokomotive ein sehr persönliches Verhältnis, wie der Mechaniker zuweilen zu einem Motor, oder ein Drucker zu einer Druckereimaschine. Sie freuen sich über den guten, reibungslosen Gang und empfinden an den Bewegungen ihrer Schützlinge eine ästhetische Freude. Ja, es können auch erfinderische Begabungen dadurch angeregt werden. Nicht wenige Verbesserungen an Maschinen werden durch Arbeiter gefunden, die den Gang ihrer Maschine aufmerksam beobachten. Aber solches ist in höherem Grade nur da möglich, wo der einzelne eine Maschinengesamtheit übersieht und sich für sie verantwortlich fühlt, wo er durch sorgfaltige Pflege und Überwachung zu ihrem guten Gang beitragen kann, und somit im gewissen Grade eigene schöpferische Fähigkeiten angespornt werden. Auch einen Menschen mit der größten Arbeitsfreude und der eifrigsten Hingabe an die Ziele einer Gemeinschaft wird aber eine tagaus tagein, jahraus jahrein sich in grauer Eintönigkeit wiederholende Tätigkeit, die stets gleiche Bewegung an einer 47

Maschine, womöglich noch inmitten eines höllischen Lärms und drückender Hitze, auf die Dauer so entsetzlich quälen, daß er sie nur widerwillig oder dann lediglich durch fortschreitende Abstumpfung zu ertragen vermag. Nicht einmal die fanatischste Aufopferung für die „Kollektivität", wie sie heute etwa in Rußland gepredigt wird, kann dieses Wunder auf die Dauer vollbringen. Denn es sind unumstößliche psychische Gesetze, die hier wirken, und kein Dekret, keine Bemühungen wohlmeinender Arbeitsethiker vermögen diese Gesetze umzustoßen. In Wahrheit kann nur Zwang und Not oder geistige Anspruchslosigkeit die Menschen bewegen, eine solche geistlose Arbeit dauernd zu verrichten. Abstumpfung, Ernüchterung des ganzen Menschen ist die unvermeidliche Folge. Hier kann es nur den einen Weg zur Lösung geben: durch eine noch vollkommenere Entwicklung der Technik nach und nach die Möglichkeiten zu schaffen, um derlei Arbeiten weitgehend zu automatisieren, so daß der einzelne vielleicht nur noch wenige Stunden am Tage oder wenige Wochen im Jahre ihr obliegen muß. Dabei müßte eine solche Arbeit mit Rücksicht auf deren Charakter vor allem von solchen übernommen werden, die infolge ihrer geringeren Empfindlichkeit und einfacheren Arbeitsbedürfnisse durch eine einförmige Tätigkeit gleichwohl weitgehend befriedigt werden und darunter nur wenig leiden. Doch auch da müßte durch eine fortschreitende Verkürzung der Zeit, die einer solchen Tätigkeit gewidmet werden muß, die selbst für weniger sensible Naturen unbewußt lähmende Wirkung möglichst auf ein Mindestmaß beschränkt bleiben; da es sich gerade um die monotonsten Arbeitsvorgänge handelt, die leicht erlernbar sind und wenig Vorbereitung erfordern, so könnten bis zur völligen Mechanisierung der Teilgebiete leicht Schichten nach Tagen, Wochen oder Monaten eingeführt werden. Mit wachsendem Einfluß des panidealistischen Gewissens und der dadurch geförderten Organisierung der Gruppen und ihrer Arbeit wird dieses Postulat auch in immer größerem Umfang verwirklicht werden können. Es gilt dafür einen ebenso zähen Kampf zu fuhren wie vor einem Jahrhundert gegen die Ausbeutung der Kinder und Frauen und für die Herabsetzung der Arbeitszeiten in ungesunden Berufen. Eine entscheidende Hilfe wird hier nun gerade die Arbeit der Erfinder und Techniker sein, durch welche in zunehmendem 48

Ausmaß die vollautomatische Ausführung seelenhemmender Funktionen möglich gemacht wird. So hat, um nur ein Beispiel zu nennen, die Erfindung des automatischen Telephons den aufreibenden, nervenzerrüttenden Dienst von Telephonistinnen weithin entbehrlich gemacht und viele wertvolle Menschenkräfte könnten sich, da diese Arbeit nun durch die Maschine besorgt wird, anderen Tätigkeiten zuwenden; wenn statt dessen geklagt wird, daß durch diese Automatisierung viele Frauen arbeitslos geworden seien, so übersieht man, daß inzwischen gerade auch durch die Technik und durch die Wissenschaft der Frauenarbeit ständig neue, viel mannigfaltigere Berufsformen erschlossen werden. Aber erst, wenn wir auch im Aufzeigen neuer Möglichkeiten geistiger und sozialer Arbeitsaufgaben mit der Entlastung durch die Maschinenarbeit Schritt halten, wird es möglich werden, die Früchte der Technik den schöpferischen Kräften der Menschen voll zugute kommen zu lassen. Das bewußte Suchen und Bahnen neuer Berufe wird eine der Hauptaufgaben der Staatsmänner und Erzieher, der Wirtschafter und Sozialgestalter einer kommenden Kultur sein müssen*).

3So wie die Forderungen des Schutzes und der Befreiung der schöpferischen Kräfte nur mit Hilfe einer vervollkommneten Technik erfüllbar sind, so verleiht rückwirkend eine vom neuen Gewissen vertiefte Vervollkommnungsliebe dem technischen Schaffen eine neue Weihe und gibt ihm entscheidende Wegleitung. Das rechtzeitige Erkennen und Fördern schöpferischer Kräfte verlangt eine immer feinere objektivere und vielseitigere Kenntnis dieser Anlagen und ihrer Entwicklungsbedingungen, ihrer unterschiedlichen Formen, Stufen, Beziehungen. In ungeahntem Ausmaße kann hierzu die Technik ein Hilfsmittel werden und ist es bereits in der Vergangenheit gewesen. So trug der Buchdruck schon früh Kunde geistigen Wirkens in immer weitere Bereiche des Volkes, und machte sie mit Leistungen dichterischen, wissenschaftlichen, erzieherischen, religiösen Schaffens in weit allgemeinerem Grade vertraut als dies früher *) Siehe darübet in anderem Zusammenhang die Ausfuhrungen Seite 76 ff.

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möglich gewesen. Die neuen Reproduktionsverfahren bringen in höherem Maße breite Volksschichten in Berührung mit Malerei, Plastik, Architektur und vermitteln zuweilen den Anblick von Antlitzen großer Menschen. Handelt es sich in diesen bisherigen Wirkungen meist um Verbreitung recht sporadischer und unter einem Wust von Minderwertigem fast erstickender Züge wahrer, schöpferischer Größe, so wird eine Direktive, die bewußt die technische Erfinderkunst in den Dienst des Studiums und des tieferen Verstehens, der Förderung wertvoller Ausnahmeentwicklungen stellt, die Möglichkeiten, die den technischen Mitteln unserer Zeit gegeben sind, in ungeahnt vollkommenerer Weise und produktiver als bisher ausnützen. Denn kein Gewissen hat es bislang den Menschen zur heiligsten Pflicht gemacht, sich um die Unterschiede und die abgestuften Eigenarten menschlichen Schaffens aufs intensivste zu kümmern, ihre Bedingungen zu erforschen und eine größtmögliche Entfaltung dieser Anlagen zu sichern. Im Dienste des neuen Gewissens können Buchdruck, Photographie, Film, mechanische Tonübertragung usw. zu ebenso vielen Werkzeugen werden, um auch breitere Volksschichten nach und nach in nähere Berührung mit schöpferischen Ausnahmen zu bringen und das Bewußtsein in ihnen zu wecken, was die Ausnahmekräfte für die Gesamtheit bedeuten und welches die objektiven Merkmale ungewöhnlicher, schöpferischer Entwicklung sind. Sie werden helfen, den Sinn für individuelles Tun, für durchgeistigte Schöpfungen, für den Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Graden seelischer Entwicklung zu wecken, zu vertiefen. Der Ausdruck überragender Geistesart wird Millionen von Menschen anschaulich gezeigt werden können, die vielleicht in ihrer engeren Umgebung nie Gelegenheit hätten, solches Wirken kennen zu lernen. Damit wird nicht nur dem Einfluß der Scheingröße der Boden genommen, sondern es kann das Verständnis für wirklich großes Schöpfertum und für dessen Ziele und Ringen selbst bei einfachsten Menschen geweckt werden; und so wird auch der Grund bereitet für eine Wandlung im Schicksal der gegenwärtigen und kommenden Ausnahmen. Dann wird es immer weniger geschehen, daß das Volk oder seine Führer, vor überragender Geistesentfaltung blind, diese verfolgen und martern, während zugleich den Tagesgenies und den Charlatanen reiche Hilfe und Förderung zu5°

teil wird. Aus der häufigen, schon von klein auf geübten Versenkung in das Wesen und die verschiedenartigsten Ausdrucksweisen schöpferischer Arbeit, dem Einblick in das Entstehen bahnbrechender Forschungen, Erfindungen, Gedanken, Kunstwerke — wird in einer immer größeren Zahl von Menschen das Organ dafür verfeinert werden, was echte Geisteshöhe und was maskierte Leere ist. In einer solchen Kultur wird „kein Christus gekreuzigt, kein Sokrates vergiftet, kein Phidias eingekerkert, kein Dante aus der Heimat gestoßen, kein Giordano Bruno verbrannt, kein Faraday zum Lakaiendienst angehalten, kein Robert Mayer in den Wahnsinn getrieben, kein Schubert der Dürftigkeit, kein Sebastian Bach der Entwürdigung und dem Elend preisgegeben" werden. (Panideal II, S. 395 f.) Aber auch der geringeren, selbst der schlichtesten seelischen Eigenart wird ein Verständnis, eine Förderung zuteil werden, die aus der verfeinerten Kenntnis und Beobachtving individueller Züge hervorwächst. W o immer ein feinfühliges, seelisch reiches Kind heranreift, wird es nicht dem bloßen Zufall überlassen bleiben, ob seine Umgebung dafür Verständnis hat oder es, oft in wohlmeinender, unwissender Liebe, zugrunderichtet. Das Gewissen der Gesamtheit wird es als eben so große Pflicht erachten, durch entsprechende Berufe und Vorbereitung von psychologisch Erfahrenen überall die ungewöhnlichen, tieferen Anlagen rechtzeitig zu erkennen, wie es heute dem Staat und den Privaten selbstverständlich geworden ist, für die Armen und die Kranken zu sorgen. In der Ermöglichung und Erleichterung dieser Aufgaben wird die Technik ihre Kraft und ihre geistige Fruchtbarkeit erst voll entfalten können. Sie wird hier zu einem der edelsten Instrumente der seelischen Bereicherung. Nicht mehr nach anarchischer Willkür gestaltet, oder von der Rücksicht vorwiegend auf ungeistiges Streben geleitet, sondern in ihrem höchsten Können von den Erfordernissen seelischer Verinnerlichungsarbeit geführt, wird sie weite, neue Gebiete dem Erfindergeist öffnen. Ganz neue Anforderungen werden an sie gestellt werden, und je mehr diese zum Allgemeingut weiter Schichten werden, um so mehr können Techniker, Erfinder, Wirtschaftsorganisatoren bei der Wahl ihrer Produktionsfelder, beim Schaffen neuer Industrien, sich von den neuen Bedürfnissen leiten lassen. Denn je mehr das Verlangen nach seelisch erweiternJi

den, bereichernden, vertiefenden Lebensinhalten unter dem Einfluß des panidealistischen Gewissens und der neuen Erziehung zunimmt, um so stärker kann und wird die Technik und Wirtschaft diesen Rechnung tragen. Gleichzeitig wird auch die blinde Willkür und die Anarchie der heutigen Gesellschaftsordnung einer Organisierung weichen müssen, die ganz bewußt gewisse Produktionsweisen und -richtungen unterbindet, sofern diese offensichtlich entwicklungshemmend für die Gesamtheit sind. (Wie heute etwa die Völker sich genötigt sehen, die Rüstungsindustrie einzuschränken — und hoffentlich einmal ganz zu verbieten —, so wird nach und nach manche seelenvergiftende Produktion und auf niedrige Instinkte spekulierende Verwendung der Technik in Film, Illustration, Buchdruck mit aller Macht, unter Umständen durch Zwang, unterbunden werden müssen). Je mehr zugleich die Erfinder selbst und die Führer der Wirtschaft, der Staaten, der Presse sich aus Menschen rekrutieren, die im Sinne des neuen Gewissens erzogen werden, um so weniger werden sie sich dazu hergeben, aus niedriger Gewinnabsicht einer geistverarmenden Verwendung der technischen Mittel Vorschub zu leisten. Es wird aber auch vom geschäftlichen Standpunkt aus immer weniger ratsam werden, solchem Mißbrauch der maschinellen Mittel zu frönen, weil eine wachsende Zahl von Führern und Gruppen diesen Mißbrauch und dessen Produkte immer entschiedener ablehnen werden. 4Unter den Fragen, die mit dem Aufkommen der neuzeitlichen Technik und Industrie akut geworden sind, bildet das Problem der künftigen Gestaltung der Bevölkerungsverhältnisse zweifellos eine der brennendsten und schwierigsten. Es läßt besonders eindringlich erkennen, wie unhaltbar der Zwiespalt zwischen traditioneller ethischer Orientierung und den durch die moderne Forschung und Technik geforderten Verhältnissen geworden ist, und wie notwendig auch hier die grundhafte Wandlung der ethischen Auffassungen ist, sollen nicht die düstern Prophezeiungen einer fortschreitenden Degeneration industrialisierter Völker in Erfüllung gehen. Es seien hier nur kurz die allgemeinen Gesichtspunkte angedeutet, die sich aus den Postulaten des neuen Gewissens grundsätzlich ergeben. 5*

Die ungeheure Bevölkerungsvermehrung, die mit dem Industrialismus des letzten Jahrhunderts und mit der Hebung der Lebenshaltung, der Hygiene und Medizin eintrat, ist als eine der Ursachen der sozialen Schwierigkeiten der Gegenwart längst erkannt. Aber zu Unrecht wird die neuzeitliche Entwicklung von Wissenschaft und Technik für jene Verhältnisse verantwortlich gemacht. Diese sind vielmehr eine Folge vor allem der unzureichenden, den neuen Verhältnissen nicht Rechnung tragenden sozialpolitischen und ethischen Anschauungen, die von alter Zeit her, blind und absolut, übernommen, unter den völlig veränderten Umständen eine immer unheilvollere Verwirrung gestiftet haben. Das Gewissen der Gruppenliebe, das auf eine Machtsteigerung der Gruppe in erster Linie gerichtet ist, sieht noch heute im zahlenmäßigen Wachstum der Gruppe einen Wert an sich. Diese Bewertung stammt aus den Zeiten, da die Anzahl der Gruppenmitglieder für die Wehrfähigkeit und den Bestand der Gruppe entscheidend war. Die Qualität, insbesondere seelische Eigenschaften, wurden nur insofern geschätzt, als sie Gesundheit, Wehrkraft und Macht der Gruppe erhöhten; darum standen unter den geistigen Zügen solche wie kriegerischer Mut, List, Tapferkeit, unbedingte Treue zu den Interessen der Gruppe, am höchsten. Aber die Bevölkerungszahl geht allem anderen vor, wie schon aus der Sanktionierung der Vielehe hervorgeht. Reicher Kindersegen bedeutet höchstes Glück und wird geradezu als Ausdruck göttlichen Wohlwollens empfunden; er ist um so wichtiger, als mit dem Kinderbesitz zugleich, nach uralter Auffassung, wie sie etwa im Ahnenkult der vorderasiatischen Kulturen oder des chinesischen Volkes zum Ausdruck kommt, der Kindersegen teils Ersatz, teils Garantie für die Unsterblichkeit ist. Von dieser unbedingten, fast absoluten Schätzung der großen Kinderzahl ist das gruppenegoistische Gewissen noch heute getragen, am auffallendsten in seinen nationalistischen und imperialistischen Formen. Das nivellierende Gewissen der allgemeinen gleichen Liebe nahm zu der Frage der Bevölkerung keine klare Stellung ein. In seinen urchristlichen und buddhistischen Anfängen ist es vorherrschend ehe- und familienfeindlich, was sich, im christlichen Gewissen, teilweise auch aus seinem eschatologischen Charakter erklärt. Insofern sich allmählich durch den Zwang des Lebens 53

eine bejahende Einstellung durchrang, griff sie einfach die alttestamentarische gruppenegoistisch bedingte Hochwertung der möglichst großen Kinderzahl wieder auf, die noch heute bekanntlich die katholische wie die protestantische und konfuzianische Familienethik beherrscht. So behauptet sich die vorwiegend quantitativ eingestellte Bevölkerungspolitik bis in die Gegenwart, während zugleich das geistigere Ideal der Einehe die Vielehe verdrängte. Wenn heute aus wirtschaftlichen Gründen eine Einschränkung der Kinderzahl weithin eingetreten ist und als notwendig erachtet wird, so beweist doch gerade der Umstand, daß die Bevölkerungsabnahme in manchen Ländern Aicht nur von den Theologen und Ethikern, sondern auch selbst von Eugenikern und Bevölkerungspolitikern jedesmal mit Kassandrarufen begleitet wird, wie tief die quantitative Bewertung heute noch in den Köpfen und im Gewissen wurzelt; man glaubt die Einschränkung der Kinderzahl unter allen Umständen als ein Unheil anschauen zu müssen, das nur durch die wirtschaftliche Not gerechtfertigt erscheine und möglichst bald wieder, mit der Verbesserung der Verhältnisse, „natürlicheren" Zuständen, d. h. einer möglichst großen Bevölkerungszunahme, weichen müsse. Wie unzulänglich solche schematischen Direktiven sind, wie wenig sie der durch die Technik grundhaft veränderten Erhaltungs- und Schutzbasis und einem auf Seelenbereicherung der Gesamtheit gerichteten Streben angepaßt sind, bekommen wir heute deutlich genug zu spüren. J e mehr (i) die Maschine viele Funktionen menschlicher Arbeit übernimmt; je mehr (2) durch die völkerverbindenden Wirkungen der Verkehrsund Mitteilungstechnik die Absonderung in kleine Gruppen wirtschaftlich und kulturell hinfällig wird und damit auch die Begriffe von Gruppenmacht, nationaler Autonomie und völkischer „ E h r e " , physischer Wehrkraft an Bedeutung verlieren und nur mehr, als Atavismen, die Heraufkunft neuer Zustände verzögern; je mehr (3) an Stelle der bisherigen äußeren Gruppierungen solche nach inneren, seelischen Verschiedenheiten treten und aus ihnen die Keime neuer Gemeinschaftsformen wachsen; je reicher sich (4) zugleich die menschlichen Arbeitsfelder differenzieren: um so entscheidender muß auch für die Bevölkerungspolitik an Stelle der Frage der Quantität die der Q u a l i t ä t werden. Die wahllose Vermehrung der Bevölkerung 54

zu Zwecken der politischen Hegemonie und der Kriegführung, als Kanonenfutter, wie zu Zwecken einer blind gesteigerten autarkischen Gütererzeugung und zur Vermehrung eines ziellosen Besitzes, wird immer sinnloser und zugleich ein steigendes Hemmnis kultureller Entwicklung. Zwar ist es durchaus wahrscheinlich, daß, dank der verbesserten Produktionsmethoden und bei gleichbleibenden niedrigen Durchschnittsansprüchen der Menschen, die Erde Raum und Güter für ein Mehrfaches der heutigen Menschenzahl schon in naher Zukunft zu bieten vermöchte. Die Gefahr einer allgemeinen Übervölkerung erscheint vom rein quantitativen Standpunkt aus noch recht ferne. Aber mit der höheren Gesittung nehmen die Ansprüche des einzelnen auf Kulturgüter, auf Bewegungs- und Entfaltungsfreiheit zu; unter anderem gewinnt das Verlangen nach menschlich unberührten oder wenig veränderten Erdgebieten für die religiöse und künstlerische Entwicklung eine wachsende Bedeutung. Vor allem erzeugt eine allzu große Häufung von Menschen fast unvermeidlich ein Sinken des geistigen Niveaus und begünstigt die Nivellierung. Es läßt sich kaum zweifeln, daß die moderne Technik und Industrie, wenn die bisherigen Zustände in der Bevölkerungspolitik noch längere Zeit andauern sollten, schon in naher Zeit einen immer rascheren Niedergang des Durchschnitts und eine Hemmung vor allem der schöpferischen Kräfte herbeiführen würden. Die Beurteilung des Bevölkerungsproblems nach vorwiegend quantitativen Gesichtspunkten und von rein utilitären oder eudämonistischen Maßstäben aus — und dahin gehören auch die meisten der bisher auf Einschränkung gerichteten Lehren — bildet daher eine immer drohendere Gefahr; nur durch das Eindringen einer neuen höheren ethischen Forderung kann diese beschworen werden. Eine von höchster Verantwortung getragene bewußte Berücksichtigung der biologischen, sozialen und geistigen Faktoren im Hinblick darauf, welche Art der Bevölkerungspolitik für die größtmögliche Erhaltungssicherheit und seelische Bereicherung der Gesamtheit die jeweils förderlichste ist, wird zur Notwendigkeit. Mit wachsendem Wohlstand infolge der Entwicklung der Technik und der Vervollkommnung der Gütererzeugung wird die Kinderzahl immer seltener von vorwiegend wirtschaftlichen oder egoistischen Erwägungen bestimmt und immer mehr durch Rücksichtnahme auf die er55

zieherischen Werte, die, je nach Umständen, mit einer größeren oder geringeren Kinderzahl verbunden sind. An sich bietet weder die kleine noch die kinderreiche Familie den günstigsten Boden für die seelische Entfaltung der Kinder. Es kommt hierbei durchaus auf die Anlagen der Eltern und Kinder an. Erst eine sehr ausgebaute Erforschung der verschiedenen Einflüsse und Wirkungen, die damit einhergehen» wird die Bedingungen erkennen und herbeiführen können, die einer vollkommeneren und individualisierenden Gestaltung dieser Verhältnisse jeweils günstig sind. Diese Erkenntnisse kann in größerem Ausmaße erst die Zukunft bringen. Heute sind dazu kaum Ansätze vorhanden. Aber Aufgabe schon der heutigen Stunde muß es sein, die Bevölkerungspolitik in ihrer grundsätzlichen Orientierung aus den Sackgassen der rein utilitären oder von primitiv egoistischem Standpunkte ausgehenden Betrachtung ebenso herauszuheben wie sie den Vorurteilen naturfremder moraltheologischer Dogmen zu entreißen. Es gilt, sie in die Sphäre einer durchgeistigteren Ethik zu heben, für die das Streben nach Rettung und Entfaltung möglichst vieler schöpferischer Kräfte oberstes irdisches Ziel ist. So wird es Aufgabe des neuen Gewissens, den Boden für eine neue Bevölkerungspolitik vorbereiten zu helfen, die dem unvermeidlichen Fortschreiten der Rationalisierung wie zugleich einer immer reicheren und individuelleren Entfaltung der menschlichen Arbeit Rechnung trägt. In freier Entschließung, geleitet durch eine tiefere Verantwortung gegenüber einem jeden Wesen und seinen Entwicklungskeimen, werden die Menschen die Fragen ihrer Elternschaft und der Kinderzahl von Erwägungen vorwiegend wirtschaftlicher Art oder von Rücksichten auf egoistische Wünsche und Bequemlichkeiten — wie sie heute noch weithin entscheidend sind — mehr und mehr loslösen können und sie den Zielen einer seelischen Vertiefung und Erneuerung der Familie und der Gemeinschaft unterordnen.

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IV.

VERGEISTIGUNG DER TECHNIK

Vom Adel des Werkzeugs. — Erziehung und seelische Grundlagen der Erfinderarbeit. — Mythos der Technik.

I. Was heute den feineren, künstlerisch und religiös veranlagten Naturen so viele Erscheinungen der Technik abstoßend macht und eine große Isolation ihr gegenüber erzeugt, ist nicht die Maschine an sich — sondern der Geist, in dem sie gehandhabt wird. Weil heute die unerschöpflichen Mittel der Technik zumeist im Dienst nüchterner, seelenarmer Ziele stehen und wie jedes andere Ding von der Atmosphäre derer, denen sie dient, durchtränkt wird, weil überhaupt die Technik sich aufdringlich vordrängt, deshalb wenden sich viele von diesem Gebilde befremdet ab. Sie vergessen darob, welche unermeßliche Erweiterung und Freiheit die Technik gerade dem geistigsten, verinnerlichten Schaffen zu öffnen vermag. Die Technik muß nicht nüchtern und „sachlich" wirken. So wie sie selbst Erzeugnis edelster schöpferischer Erfinderkraft ist, jahrelangen Mühens und Kämpfens, einsamen Suchens — so kann sie auch durch den Gebrauch, den wir von ihr machen, und durch die Art, wie wir sie dem Werk unterordnen, ungeahnt geadelt werden. Fühlen wir nicht eine unverwischbare Weihe um die Werkzeuge und Instrumente, die großen Menschen, Forschern, Malern, Bildhauern in ihrer Arbeit gedient haben ? Ist es nicht, als hätten diese „toten" Geräte, Hammer und Meißel, Pinsel und Palette, Spinett oder Geige, Lupe und Fernrohr, Laboratorium und Werkstatt — die täglichen Zeugen und Helfer seelischen Wirkens — von diesem eine Beseelung empfangen, eine ergreifende Schönheit, die selbst den einfachen grobgehobelten Tisch eines Jean Henri Fabre, die primitiven derben Instrumente eines Faraday, die plumpe Ausrüstung eines Galilei zu Gebilden erheben, 57

die uns wertvoller, lieber und näher sind als so manche virtuose, aber seelenlose Kunstwerke. Wie naturfremd muß ein Denken geworden sein, welches uns lehrt, von der ersten Erzeugung eines Werkzeugs an hätte sich der Mensch von der Natur entfernt und sei der „Sündenfall des Intellekts" geschehen. Gibt es doch weniges, was den Menschen so innig mit der Natur verbinden kann, wie das Werkzeug, das er der Natur entnommen, durch seine Geisteszüge gewandelt und seiner Arbeit dienstbar gemacht hat. Nicht umsonst haben zu allen Zeiten die Völker den Drang verspürt, dieses ihnen so innig vertraute Werkzeug, Waffe, Gerät, Schiff und Wagen, Pflug und Wohnhaus — sie alle „Erzeugnisse der Technik" — zu verzieren, mit künstlerischen Ornamenten oder Bildern zu bereichern, um sie sich gleichsam noch enger zu verbinden, die Fäden inniger Dankbarkeit und Freude, die Erinnerungen an ungezählte frohe und schwere Arbeitserlebnisse dadurch noch reicher, lebendiger, dauernder zu weben. Ist dem Menschen einmal Werkzeug und Maschine durch den Sinn, den seine Arbeit hat, selbst sinnvoll geworden, so wird er dieses Verhältnis auch in der Gestalt, die er diesen Helfern gibt, zum Ausdruck bringen. Daß die meisten Zwecke, Arbeitsziele, Berufe dem Menschen heute zweifelhaft geworden, daß er eine von tiefster Freude erfüllte Tätigkeit nur selten, fast ausnahmsweise mehr kennt, das mußte auch all den Mitteln, deren er sich bei seiner Tätigkeit bedient, den Charakter nüchterner Öde und entgeisteter Armut geben. Insofern sich die Technik bislang teils durch die unorganische Nachahmung früherer Stilvorbilder, teils durch die Herrschaft reiner Zweckbestimmung leiten ließ, wurden ihre Erzeugnisse selbst Spiegelbilder dieser Gesamtgeisteshaltung. Wohnmaschinen und Zweckmöbel (wenn sie bloß immer zweckmäßig wären 1) kann sich nur eine Zeit ausdenken, in der das Leben selbst Erfüllung rein utilitärer Zwecke und sinnliche Bedürfnisbefriedigung geworden ist, so wie Gaswerke als Ritterburgen und Bahnhöfe als griechische Tempel nur von einer Epoche gebaut werden konnten, der das Gefühl für organische Bereicherung und stilistische Individualisierung völlig abhanden gekommen war. Darum ist es hier auch weder mit einem äußerlichen Kampf gegen die Maschinen, noch mit einer unfruchtbaren Stilromantik getan. Nur eine allseitige Erneuerung der Seele, das Aufschließen neuer Quellen des 5»

Schaffens und Erlebens wird zu einer vertieften Beziehung zu Natur und Mensch, Arbeit und Werkzeug, und damit zur Überwindung dieser Auswüchse und zur Vergeistigung der Technik führen können. 2. Je mehr die Technik in den Dienst einer seelischen Erneuerungsarbeit und des Schutzes wertvoller Kräfte tritt, um so mehr empfangt sie, vervielfacht und bereichert, neue Antriebe für ihr eigenes Schaffen aus der Beseelung des Lebens. Gleichsam wie zum Dank für die Hilfe, die dieses von der Technik erfährt, erblüht aus dem vertieften Verständnis für das Wesen aller, insbesondere der bahnbrechenden Arbeit und für die Bedingungen ihrer Entfaltung eine intensivere Liebe auch zu den Erfinderkräften und zum geistigen Wesen des technischen Schaffens selbst. In der Arbeit des Erfinders werden die Menschen nicht mehr, wie so oft in der Vergangenheit und selbst in der Gegenwart, voll Mißtrauen einen Unruhebringer, einen Umwälzer altgeheiligter Lebens- und Arbeitsweisen sehen, einen Bedroher bisheriger Berufe und Erwerbsquellen — sondern einen Helfer und Befreier. Freilich wird auch der Erfinder sein Schaffen unter neue Ziele stellen: in wachsender Zahl wird erfinderisches Genie der Lösung solcher Aufgaben zugute kommen, die für die seelische Bereicherung und Vervollkommnung der Gesamtheit am wichtigsten sind; nicht mehr bloßem Gewinnstreben oder dem Zufall und ausbeuterischen Wirtschaftsgruppen wird die Erfindergabe ausgeliefert sein: das Gewissen, dem der Schutz und die Befreiung aller aufbauenden Instinkte zum innersten Gebot geworden ist, wird solchen Mißbrauch der Erfindungskraft ebensowenig dulden wie den Mißbrauch ihrer Früchte. Auch hier muß an Stelle enger Gruppenmacht und egoistischer Willkür der einzelnen eine Organisierung der Kräfte nach höchstem Ziele, nach Forderungen der Gemeinschaft treten. Nichts ist an sich heilig und wertvoll, auch nicht das Individuum und seine Freiheit; nur wo diese zum Besten der Gesamtheit wirkt, darf sie Anspruch auf Schutz erheben. Erfinderkraft, die egoistischen Zielen eines einzelnen oder einer Gruppe dient, freiwillig oder gezwungen, ist eine Gefahr, erschüttert die Grundlagen des Gemeinschaftslebens. Wie not tut Z b i n d e n , Tedinik und Geisteskultur.

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es da, wertvolle erfinderische Anlagen schon in früher Kindheit zu erkennen, ihnen außer materieller Sicherung eine besonders sorgfaltige Erziehung nicht nur ihrer Gabe, sondern ihres Gewissens, ihrer Willensimpulse zu geben, damit sie all ihre Kraft nach Möglichkeit im Hinblick auf das, was die Ganzheit fördert, einsetzen. Sie müssen auch bewahrt bleiben vor jener Einengung und seelischen Verkümmerung, die so oft die Gefahr technischer Talente ist und die durch die Einseitigkeit heutiger Verhältnisse unheilvoll erhöht wird. Kann sich doch auch eine sehr spezielle Begabung auf die Dauer nur auf dem Boden eines gesamtseelischen, harmonischen Reichtums segensreich entfalten. Es ist die Aufgabe der Seelenforschung und Erziehung, im Sinne des neuen Gewissens dafür zu sorgen, daß solche Begabungen über die ihnen eigenen besonderen Schwierigkeiten orientiert werden, über die Mittel, ihnen zu begegnen, und über die Wichtigkeit einer ständigen Erweiterung des Erlebens und Schaffens auch in anderen Richtungen als der technischen Hauptveranlagung*). Damit wird auch ein tieferes Erkennen der wahren Grundlagen erfinderischer Leistungen einhergehen. Nur zu leicht sieht der Unerfahrene vor allem die praktischen Ergebnisse, er bewundert alle jene, denen solche Erfindungen gelungen sind, als die bahnbrechenden Geister der Technik. In Wahrheit aber ruht jede spezielle und praktisch bedeutsame Erfindung auf den Grundlagen, welche durch die Forscherarbeit oft weit weniger bekannter, aber unvergleichlich umfassenderer Schöpfer gelegt wurden. Ohne Faradays, des großen englischen Physikers, grundlegende Experimente und Untersuchungen über das Wesen der Elektrizität, unternommen ohne jede „praktische" Absicht, *) England, das weniger als andere moderne Industriestaaten die traditionellen Ideale harmonischer Bildung den Forderungen der Spezialisierung zum Opfer brachte, läßt auch heute an den Ingenieurschulen die jungen Ingenieure ein bis zwei Jahre Vorlesungen allgemein bildender Natur hören, ehe sie ihr Spezialstudium ergreifen. Zweifellos wächst die Isolierung der Technik in der Kultur und die Gefahr, daß sie den ihr zugewiesenen Rahmen überschreitet, wenn die Vertreter der Technik durch allzu enges Spezialistentum den Zusammenhang mit den Aufgaben der Gesamtkultur verloren haben. Allgemeine, insbesondere kulturhistorische und psychologisch vielseitige Orientierung muß daher ein Postulat der Ausbildung der technischen Berufe sein.

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wären die meisten Erfindungen von Edison, Marconi und 2ahlreicher anderer, einseitigerer Anlagen, und das ganze heutige Rundfunkgebiet, die unabsehbare Welt der elektrischen Industrie unmöglich gewesen. Die Arbeit eines einzigen solchen Mannes von dem heute die meisten kaum viel mehr als den Namen kennen, hat Millionen von Menschen reichere Arbeitsmöglichkeiten geschaffen, hat unabsehbare Bereiche neuer Menschenberufe und Milliardenwerte entstehen lassen. So ist noch heute Robert Mayer Vielen, denen die Erfindungen der modernen Chemie und Physik geläufig sind, ein nahezu Unbekannter. Und doch hat seine geniale, durch Carnot vorbereitete Entdeckung der Erhaltung der Energie die große Umwälzung auf dem gesamten Gebiete der modernen Technik erst möglich gemacht. Die mehr einseitige, enger umzirkte Sonderbegabung kann nur da gedeihen, wo ihr ein umfassenderes, vielseitig bahnbrechendes Genie den Boden bereitet, die Gebiete erschlossen hat. Es gehört zur bisherigen Tragik großer Menschen, auch im Gebiet der Forschung und Technik, daß die begrenztere, aber sinnfälligere, gleichsam sensationellere, greifbarere Leistung höher gewertet wird und von den meisten allein gekannt ist, obwohl sie für die Gesamtheit weniger bedeutet als die stillere, weniger leicht zugängliche und nicht durch praktische Erfolge sofort sich auswirkende Arbeit des Ahners und Entdeckers neuer großer Naturzusammenhänge. Diese aber schöpft ihre mächtigsten Impulse in den umfassenden Bildern und Ahnungen religiöser und künstlerischer Weltschau. Ästhetisches und religiöses Verlangen, in der sichtbaren Welt die Harmonien des höchsten Wesens, die wunderbare Einheit seiner Schöpfung zu erkennen und zu verehren, war es, das, außer dem Erkenntnisdrang, einen Kopernikus, einen Kepler, einen Newton zu wissenschaftlicher Erforschung der Sterne trieb. Religiöse Andacht und Liebe beseelte das Schaffen eines der größten Finders aller Zeiten, Faradays, eines Robert Mayer, eines Darwin. So verbindet ein ununterbrochener Strom das scheinbar lebensferne, der Ewigkeit zugewandte Ahnen und das dichterische Schauen des Menschen mit den Errungenschaften der Erfindung und Technik, die den praktischen Erfordernissen des Lebens dienen. Diesen Zusammenhang muß eine neue Erziehung weit mehr als bisher schon den Kindern zu Bewußtsein zu bringen 5*

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trachten. Sie wird ihnen an zahlreichen Beispielen die hohe Bedeutung jener Arbeit veranschaulichen, die, nicht getrieben durch die Erwartung greifbarer Erfolge, in lebenslangem Mühen verborgenen Wurzeln des Naturgeschehens nachspürt und den Acker bereitet, auf dem die Scharen begabter Erfinder, Entdecker, Techniker, Organisatoren säen und ernten können. Zugleich muß auch immer mehr, durch den Einfluß dieser Betrachtungsweise, die unselige Scheidung in „geistige" und „physische" Arbeit verschwinden, die in ganzen Klassen und Berufsgruppen Minderwertigkeitsgefühle erzeugt und damit die Kluft zwischen den Ständen künstlich erweitern hilft. Wie es keine nur „geistige", so gibt es auch keine nur „körperliche" Arbeit. Immer, auch bei der unscheinbarsten Handarbeit, ist es letzten Endes die Arbeit des Kopfes, des beseelten Nervensystems, Charakter, Ausdauer, Einsicht, Intelligenz, die die Qualität der Arbeit bestimmen. Darin ist das Wirken des einfachsten Arbeiters dem des durchgeistigten Schöpfers verwandt; und je mehr es zugleich im Dienst einer von großen geistigen Zielen getragenen Gemeinschaft steht, um so stärker werden dadurch seine Züge veredelt.

Wie erst die Zusammenarbeit aller dieser Kräfte das Wunderwerk der Technik zu errichten vermag, so wird von dieser Betrachtungsweise auch die Maschine selbst ein neues, geisterfülltes Antlitz gewinnen. Wenn wir die wunderbare Präzision und Zuverlässigkeit eines technischen Meisterwerks in seinem so selbstverständlichen und doch unerhörten Zusammenwirken aller Glieder mit immer neuem Staunen betrachten, dann erinnern wir uns öfters als bisher der Forscher, Erfinder und Konstrukteure, dank deren oft durch die Jahrhunderte sich erstreckendem, immer erneutem Mühen erst dieses Werk gelang. Da tritt uns aus dem leisen, sausenden Surren mächtiger Dynamomaschinen das leidvoll gütige, wie von fernen Träumen umsponnene Antlitz Michael Faradays, die bescheiden gedankenvolle Gestalt eines Hertz, das ernste klare Gesicht eines Volta entgegen, und rings um diese Hochgestalten scharen sich die Zahllosen, die Namenlosen, die den Gedanken der Großen 62

folgten, ihre Tragweite faßten und unter Opfern und Hingabe in die Wirklichkeit umsetzten, was ihnen ihre Geistesfüihrer als gewaltiges Ziel gezeigt. Wir fühlen uns diesen Vorkämpfern gleichsam näher, durch geheimnisvolles Band verbunden, und Strahlen ihres Geistes, ihres heldenmütigen Wollens dringen in unser Gemüt, mächtiger noch, erhellender, erneuernder als die Zauberkräfte, die sie der Natur entrungen und dem Dienst der Menschen gebändigt. Wem flößt nicht der Anblick eines zum Nachthimmel einsam aufragenden Teleskops ein Gefühl der Ehrfurcht ein für den Geist, der hier dem Menschenauge Flügel verlieh, in ungeahnte, verhüllte Fernen zu dringen ? Galileis wie von Ewigkeitsraunen umwittertes Angesicht schaut uns entgegen, sein schweres einsames Ringen ersteht vor uns, und tiefer noch wächst unser Gefühl der dankbaren Freude. Und vor uns erstehen alle jene, deren Erkenntnis dank der Hilfe des gleichen Instrumentes in die geheimnisvollen Bereiche des gestirnten Himmels getragen wurde, Kepler, Newton, Herschel... Da wird uns der Kuppelraum des modernen Observatoriums zu einer Andachtsstätte, von den Seelen kühner Forscher und Denker geheiligt, mit ihnen schauen wir hinaus auf die strahlenden Himmelswiesen, und ihre Nähe fühlen wir, wenn wir betrachtend uns über Sternenbilder beugen, in denen die Visionen des Teleskops durch die Kamera festgehalten sind. W o ist da die „nüchterne" Technik, wer möchte es wagen, den Menschengeist zu züchtigen oder der Entartung zu zeihen, der durch die Wesen seiner Erfindungskraft solchen Reichtum, solche Schöpfernähe selbst dem ärmsten Menschen zu eigen zu geben vermag ? D u schaust durch die Wunderkristalle des Mikroskops und ein Augenblick trägt dich in die Bereiche eines ungekannten unermeßlichen Lebens, offenbart dir die Elfenwesen der Pflanzenzelle, den Flügelstaub eines Schmetterlings, die Farbenschönheit eines winzigen Mineralkörnleins *). So steigen allenthalben über den kleinen Geräten des Alltags, die uns die Technik geschenkt, und über den Riesenformen der Arbeit die Silhouetten der großen Bahnbrecher empor und der unabsehbaren Heerscharen ihrer Helfer, Konstrukteure, *) Diesen Erlebnissen im Zusammenhang mit einem neuen religiösen Empfinden hat Holzapfel wiederholt schönen Ausdruck gegeben. Vgl. Welterlebnis I, S. 32 u. II. S. 385. Siehe auch weiter unten S. 117f.

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Arbeiter. Wir ahnen die ungeheuren Kraftströme des Geistes, die erst vermochten, die Energien der Natur zu sammeln zu neuem Dienst. Wir schauen die untrennbare Einheit des Geistes und des Stoffes, der formenden Seele und der dienenden Form. Nicht mehr ein Fremdkörper ist uns das Gebilde, das Erfindergeist geschaffen, sondern ein Teil unseres Selbst, ein Glied unseres Körpers und unserer Seele. Und wie wir unsere Glieder und unseren Geist uns zum Wohle und uns zum Untergang gebrauchen können, so ist uns auch das Werkzeug der Technik übergeben — zum Wohle oder zum Untergang. Nur unsere Erkenntnis, unser Gewissen kann uns leiten, die richtige Wahl zu tun. Vielleicht werden in späteren Zeiten die Menschen es zu einem schönen Brauche werden lassen, an manchen Tagen des Jahres, so wie sie heute ihrer großen Dichter, Künstler, Erzieher gedenken, in eindruckstiefer Weise dem Volke die Gestalt eines großen Bahnbrechers der Technik zu schildern, es daran zu erinnern, welche Wohltaten es ihm, oft ohne es zu wissen, verdankt und ihm sein Leben, sein Schaffen, sein Ringen in anschauungsreichen Bildern nahezubringen. Nicht in Form einer „offiziellen" Ehrung, einer „Pflicht", sondern aus tiefer spontaner Dankbarkeit, aus der Erkenntnis, wie wenig bisher das Schaffen dieser Menschen und ihrer Bedeutung für die Allgemeinheit verstanden wurde. Und die, welche später Nachfolger und Mitbauer an ihrem großen Erfindungswerke waren, lernen wir kennen — in einer Geistesgemeinschaft über Länder und Sprachgrenzen hinweg sehen wir sie alle im Geiste vereinigt, die sich oft nicht kannten, die um die späteren Vollender ihres Lebenswerkes nicht wußten, und die doch von dem einen, gleichen Willen erfüllt, rastlos wirkten, forschten, getragen von dem Vertrauen, daß ihr Mühen nicht umsonst, daß sie Glieder seien einer unsichtbaren und doch völkerwandelnden, erdeerneuernden Gemeinschaft.

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V.

MECHANISIERUNG UND SCHÖPFERISCHE ARBEIT

Das Wesen der Arbeit. — Das „Mechanische" in der schöpferischen Arbeit. — Technik und Seelenausdruck in der Kunst. — Technik und Machterleben. — Das Verhältnis der rationalen und irrationalen Kräfte; Rationalisierung und Neuschaffen. — Die Entfaltung der geistigen Tätigkeiten und die Verringerung der Erhaltungsfunktionen. — Das Problem der Freizeit und die Gestaltung neuer Berufe. — Handwerk und Maschine. — Material und Stil. — Einiges über die Bewahrung alter Arbeitsformen. — Mechanisierung und Vergeistigung des Ruhms.

I.

Wie eng Geist und Maschine sich durchdringen, wie jedes dem andern gibt und von ihm empfangt, lehrt uns jede Stätte menschlicher Arbeit, jedes eigene Schaffen, und wir haben es hier in mannigfaltigsten Beispielen gesehen. Worauf beruht nun im Grunde dieser innige, unlösbare Zusammenhang von Werkzeug und Seele, von Naturkraft und Menschenarbeit ? Warum kann der Mensch auf höherer Geistesstufe ohne Technik und auch ohne eine gewisse Mechanisierung auf die Dauer nicht auskommen, und wovon hängt eine möglichst fruchtbare Gestaltung der Beziehungen zwischen neuschöpferischer Arbeit und Mechanisierung ab ? Was ist Arbeit ? „Arbeiten bedeutet ändern"*). Worin besteht dieses Ändern ? Die ungeheure Mannigfaltigkeit von Änderungsvorgängen in Natur und Mensch, läßt sich überall auf drei unlöslich miteinander verknüpfte Grundfunktionen zurückführen, die das gemeinsame aller Arbeit ausmachen, der Arbeit von Mensch und Tier sowohl wie der von mechanischen *) Aus den Untersuchungen Holzapfels über die menschliche Arbeit, in denen die Frage nach dem Gemeinsamen aller Arbeit gestellt und geklärt wird, greifen wir hier andeutend einige Gedankengänge heraus, die das Verhältnis zwischen mechanisierenden und schöpferischen Funktionen der Arbeit grundsätzlich beleuchten helfen. Vgl. hierzu: Panideal I, Kap. „Kunst" Seite 306ff.

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Naturkräften, Wind, Wasser, Wärme und Frost. Jeder Arbeitsprozeß geht aus von einem vorgefundenen Kräftezusammenhang (es kann darum auch ein Schaffen aus dem Nichts, wie es manche religiöse Mythen lehrten, nicht geben); aus diesem werden manche Teile einbezogen, andere ausgemerzt und durch neu hinzugefügte ergänzt. So wählt der Handwerker aus den vielen Stoffen der Natur ein bestimmtes Material, z. B. Stein oder Holz, er übernimmt es mit all seinen physikalischen, chemischen, mechanischen Eigenschaften; der Maler entnimmt der Natur ein bestimmtes Motiv und dessen Farben, Formen, Umrisse. Ähnlich sammelt die Ameise zum Bau ihres Nestes allerlei Reiser, Blattstücke, Gräser und Würzelchen. In der Auswahl bei all diesen Prozessen ist bereits eine weitgehende unvermeidliche Ausschaltung zahlreicher Möglichkeiten und Teñe, die die Natur darbietet, enthalten; sie wird durch eine mehr oder weniger bewußte Weglassung weiterer Merkmale erweitert. Der Schreiner entfernt mit Hobel und Meißel zahlreiche Teile des Holzstammes oder des Brettes, der Maler unterdrückt, teils unvermeidlich, teils absichtlich, viele Züge des Vorbildes. Mit dem Einschalten und Ausschalten ist aber die Änderung nicht erschöpft. Es geht damit einher die wichtigste der Arbeitsfunktionen, das Hinzukommen und Hinzufugen neuer Merkmale, die der Eigenart des Schaffenden entspringen und von diesem auf das Werk teils bewußt, teils unbewußt überströmen. Sie sind es, die am eindrücklichsten dem Werk das Gepräge seines Urhebers verleihen. Je reicher diese ergänzenden oder komplementierenden Merkmale sind, je organischer sie sich mit den aus der Natur übernommenen Zügen und mit der Art der Weglassungen verbinden, um so höher steht die Arbeit selbst und ihr Ergebnis. Es gibt keinen Schaffensvorgang, der nicht durch das Zusammenwirken der drei Funktionen von Einschaltung, Ausschaltung und Ergänzung zustande käme, die sich auch in jedem, selbst dem kleinsten Teilprozeß einer Arbeit wiederholen. Es ist nun für die Art eines Werkes entscheidend nicht bloß, was aus der Natur übernommen, weggelassen und hinzugefügt wird, sondern auch in welchen Verhältnissen dieses erfolgt. Die Übernahme von Teilen und Zusammenhängen aus einem Naturausschnitt kann so groß sein, daß für eine schöpferische Wandlung und Ergänzung wenig Raum mehr bleibt und eine 66

nahezu sklavische Nachahmung, eine bloße Wiederholung von Naturbestandteilen entsteht; in der Malerei etwa im Naturalismus, in der Landschaftsgestaltung im Verzicht auf menschliches Eingreifen, in der Erziehung im völlig freien „Waltenlassen" der jeweiligen Anlage in der Art Rousseaus. Oder es kann das Weglassen von Bestandteilen und Merkmalen soweit gehen, daß die ergänzende Arbeit allzuspärliches zur Anknüpfung vorfindet und den Boden unter den Füßen verliert, sich in leerer Phantastik, in der willkürhaften Kombination dürftiger Naturausschnitte erschöpft; so z. B. in expressionistischen und subjektivistischen Kunstrichtungen, deren geringe Einbeziehung von Farben und Formen der Wirklichkeit und Vernachlässigung objektiver Naturzusammenhänge zu einer Verkümmerung auch derneuschöpferischenElemente fuhrt, die sich ohne hinreichende Natureinschaltung nicht voll entfalten können. Wir ersehen schon daraus, daß durchaus nicht jegliche Art der Verteilung von einschaltenden, weglassenden, ergänzenden Funktionen von gleichem Werte und gleicher Entwicklungsfähigkeit ist. Je nach dem Vorherrschen der einen oder anderen gewinnt oder verliert ein Werk, ein Tun an Erneuerungskraft, an Reichtum und an Beseelung. Es kommt also für die Vervollkommnung der menschlichen Arbeit und ihrer Beziehung zur Gesamtnatur vor allem darauf an, zu erkennen, welche Proportion der drei Schaffensfunktionen untereinander die jeweils größte und freieste Entfaltung einer schöpferischen Anlage und Eigenart sichert. Unter den Arbeitsfunktionen ist, wie wir sahen, das Hinzufugen, Ergänzen diejenige, durch welche einem Werk am allermeisten der Stempel der individuellen Persönlichkeit des Schaffenden aufgeprägt wird. Das Ausmaß der schöpferischen Züge einer Tätigkeit, eines Werkes oder einer Kultur wird durch die möglichst vielseitige und harmonische reiche Entfaltung dieser Funktion der „Komplementierung" am wesentlichsten bestimmt. Welches Verhältnis von Einschaltung und Auslassung ermöglicht nun aber die denkbar reichste und organischste Ergänzung, welche Art der Naturbeherrschung eröffnet dem Neuschaffen die vielseitigsten und wenigst erschöpfbaren Möglichkeiten ? Je mehr der Schaffende in seinem Werk die t y p i s c h e n Merkmale der Dinge, die er umgestalten möchte, ausreichend 67

berücksichtigt und die in der Natur damit zufallig verbundenen, einmaligen, individuellen Züge ausschaltet, um so mehr kann er sie durch neue reichere Individualzüge aus seinem eigenen Wesen ergänzen — Individualmerkmale, die selbst wieder ein Ergebnis zahlreicher vorangegangener Einschaltungen, Weglassungen, Ergänzungen sind —, um so mehr kann sein Werk Wirklichkeitstreue und Allgemeingültigkeit bieten und zugleich dem Verlangen nach seelenbereichernder, verjüngender Neuartigkeit und Einmaligkeit genügen. Für die höchste Vervollkommnung eines Schaffens, einer Arbeit reicht also weder die Berücksichtigung bloß der typischen Eigenschaften eines Dinges aus, noch aber darf diese fehlen. Vielmehr müssen zwar möglichst die typischen Formen, Farben und sonstigen Eigenschaften einer Landschaft, eines Menschen erfaßt und angedeutet sein, aber nur als Grundlage für eine neuartige, nicht der Natur, sondern der inneren Beseelungskraft entspringende, jene übertreffende Individualisierung. Die Einbeziehung vor allem der typischen Merkmale und Zusammenhänge eines bestimmten Naturbereichs und die möglichste Ausmerzung der damit verbundenen zufalligen Züge ist also für dessen vielseitig-neuartige Wandlung, neuschöpferische Variierung und Ergänzung unentbehrlich. 2. Was ergibt sich nun daraus für das Verhältnis von Mechanisierung und Neuschaffen in der menschlichen Arbeit ? Je mehr die Kenntnis der typischen, stets wiederkehrenden Naturgesetzmäßigkeiten entwickelt ist, und je tiefer ihre Beherrschung instinktiviert wird, um so freier kann sich die individualisierende, neuschöpferische Arbeit entfalten. In jeder Arbeit ist also eine gewisse „Mechanisierung", „Automatisierung" mancher Funktionen notwendig zur höchstmöglichen Entfaltung anderer. Erst in dem Grade als ein Maler die typischen Eigenschaften von Farbe und Kontur, Licht und Schatten, die Gesetze der Perspektive so weit meistert, daß er sie ohne besondere Anstrengung, gleichsam spielend, handhabt, und nur wenn er in dieser Ausübung die technisch-rationellsten, am meisten kraftsparenden Methoden anwendet, ist sein Verfugen frei und kann sich 68

seine Schaffensenergie mit ihrer höchsten Kraft der Neukombination, dem schöpferischen Ergänzen zuwenden. Es war die vollendete Meisterung des Typus des menschlichen Körpers und seiner Bewegungen, welche — aus zahllosen, fast wissenschaftlich genauen Beobachtungen gewonnen — die Griechen und später einen Mantegna, einen Michelangelo zu einer freien, Vom Modell unabhängigen Erfindung neuen individuellen Körperausdrucks befähigte, zur Gestaltung von Gebärden, Haltungen, Proportionen, die in so reicher Ausdrucksgewalt, in solchem Adel in der Natur gar nicht vorkommen, und die trotzdem mit der unmittelbaren Evidenz einer vollen Wirklichkeit vor uns stehen, nicht wie von Menschen erfundene, sondern wie von einer höheren Natur selbst geschaffene Wesen. Ahnlich kann der Forscher, dem die grundlegenden wissenschaftlichen Verfahren und praktischen Handhabungen sowie die gesetzmäßigen Beziehungen seines Forschungsgebietes, also dessen Typus, so vertraut, instinktiviert sind, daß er sie fast „automatisch" anwendet, um so ungehemmter und sicherer seiner besonderen jeweiligen Aufgabe seine ganze Intensität und Gedankenarbeit widmen. So bildet auch in der allereinfachsten Arbeit die nahezu mechanische Beherrschung mancher Funktionen und das völlig ungehinderte Verfügen über die typischen Bedingungen des gewählten Arbeitsbereiches ein unerläßliches Erfordernis. Die Technik in ihren geistigen wie in ihren maschinellen Formen ist aber nichts anderes als die Folge dieser Zusammenhänge, mit denen jede Arbeitsentwicklung verknüpft ist. Sie ist Ausdruck und Frucht des Dranges nach einem immer vollkommeneren freien Verfügen über bestimmte Gebiete der Natur als notwendige Voraussetzung für die schöpferische Wandlung und Erweiterung. Sie ist also eine Folge und Ursache zugleich der schöpferischen Erneuerungssehnsucht des Menschen. Nur eine virtuose, intuitiv gewordene Beherrschung der Sprache und ihrer Gesetze ermöglicht es dem genialen Redner, dem Rhapsoden, dem Dichter, seinen innersten Gedanken, Gesichten, Regungen spontan künstlerischen Ausdruck zu verleihen. Im Musiker werden erst durch die fast reflexmäßig vor sich gehende Meisterung der Instrumente und ihrer wesentlichen Besonderheiten die Kräfte befreit, die sein Spiel zu 69

reichstem Individualgepräge und zu höchster Durchgeistigung emportragen. Darum waren alle wahrhaft schöpferischen Menschen und Kulturen rastlos bemüht, den Bereich der „Technik", der mechanischen Fertigkeiten und Hilfsmittel zu erweitern. Denn zuerst unwillkürlich, und dann bewußt, stellte sich die Erfahrung ein, daß je mehr das Verfugen über die äußere Natur und ihre Kräfte zunahm, um so gewaltiger sich auch die Möglichkeiten der reichen schöpferischen Arbeitsentfaltung steigerten. Aus dem Verlangen nach sublimer plastischer Schilderung seelischen Erlebens schuf sich Dante das edel schwungvolle Werkzeug der modernen italienischen Sprache; Johann Sebastian Bach steigert die Kompositions- und Instrumentaltechnik seiner Vorläufer in sich zu souveräner Meisterschaft, schließt sie in weit umfassender Synthese zusammen und befreit erst durch diese „Technisierung" zahlreicher Arbeitsvorgänge seine Kräfte in solchem Grade, daß sie trotz der lebenslangen Ungunst seiner äußeren Lebensverhältnisse eine fast unbegreifliche Fülle von Werken hervorzubringen vermochten. Ein so vielseitig schöpferischer Künstler wie Lionardo da Vinci widmet der genauen Erforschung zahlreicher Naturgebiete, wie Perspektive, Anatomie, Geologie, Wasser und Spiegelung, Pflanzenwelt usw. einen großen Teil seines Lebens, von der Erkenntnis gedrängt, daß nur die weitgehende Beherrschung der gesetzmäßigen. Zusammenhänge und die Vervollkommnung ihrer technischen Anwendung dem Welterleben, der Kunst und Wissenschaft neue Wege der persönlich reichgearteten Entfaltung öffnen werde. Wie Lionardos Schaffen, so war auch das eines Rembrandt von einer unlösbaren Verbindung irrational-schöpferischer und rational-technischer Kräfte getragen. In eindrucksvoller Klarheit tritt uns diese innige Einheit beider Tendenzen bei einem Vermeer van Delft entgegen: Seine traumhaft visionäre Farbenkunst, von überlegenster bewußter Kombinationsgabe gebändigt und geläutert, erfüllt uns mit dem Gefühl einer entrückten und doch seltsam realen Märchenwirklichkeit. Dieselbe wechselwirkende Beziehung von neuschöpferischer Kraft und technischem Vervollkommnungsdrang kommt auch im Schaffen ganzer Kulturen zum Ausdruck. Ein gewaltiges religiöses Erweiterungsverlangen trieb die Baumeister der gotischen Dome zum Betreten neuer kühner Wege technischer 7°

Raumgestaltung, und erst die völlige Beherrschung bisher ungelöster Probleme der Bautechnik, die mit einem noch heute in Erstaunen setzenden intellektuellen Scharfsinn und mit unerhörter Kühnheit erreicht wurde, legte den Grund zu den Kathedralbauten, in denen strenge, fast wissenschaftliche Berücksichtigung der Gesetze der Mechanik und Statik, ein souveränes Verfügen über das Material und dessen Eigenschaften und seine äußerst rationelle Anwendung sich aufs engste verschwistern mit der irrationalen Wucht und dem Schwung einer tiefen Himmelssehnsucht; nie vielleicht hat die Menschheit vorher und nachher in der Baukunst diese wundervolle Synthese von Technik und Seele, von rechnendem Verstand und leidenschaftlicher Gefühlskraft erreicht. Die Erweiterung des Weltbildes und aller Wege des Denkens und Schaffens in der Renaissance war zugleich ein mächtiger Antrieb zu vielseitiger wissenschaftlicher und technischer Pionierarbeit, die sich in solchem Ausmaße entwickelte, daß sie jener Epoche mit Fug den Namen des Zeitalters der Entdeckungen und Erfindungen verschafft hat. Rückwirkend beeinflußten die neuen technischen Möglichkeiten das Denken und religiöse Fühlen und wurden so selbst wieder zu Förderern weiteren Forschens und Schauens in der modernen Naturwissenschaft. So hat zu allen Zeiten und in jedem Gebiet die technische Beherrschung immer größerer Naturbereiche und die Mechanisierung von zahlreichen Arbeitsvorgängen, die früher einen großen Teil der Energie und Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, den Boden bereitet, aus dem eine immer vollkommenere geistige Seelenentfaltung hervorblühen konnte; mehr denn je ist sie in unserer Zeit die unerläßliche Grundlage für den Ausbau einer neuen, reicheren und harmonischeren Geisteskultur. 3Die befreiende Wirkung einer dem Kulturganzen sich einordnenden Technik besteht aber nicht allein darin, daß sie dem Menschen viele ärmere Tätigkeiten abnimmt. Sie übt einen unmittelbaren, tiefgreifenden Einfluß auf seine Verfugungsgefuhle aus und wird damit zu einem wichtigen Glied in der Erziehung der Freiheits- und Machterlebnisse des Menschen. Das Verfügen spielt in der Entwicklung der geistigen Kräfte des Men7i

sehen eine entscheidende Rolle. Nicht nur der ungehinderte Gebrauch der eigenen Glieder, das Verfugen über Sprache, Raum und Zeit ist dabei wesentlich, sondern es sind im Verlaufe der Kulturentwicklung wie der Entwicklung des einzelnen in steigendem Ausmaße auch der Besitz und das freie Verfugen über Werkzeuge und technische Mittel unentbehrlich. „ Z u m Gefühl des vollen Verfugens über einen physischen oder geistigen Gegenstand gehört stets das Gefühl der Freiheit, ihn nach Belieben ändern, umgestalten zu können." (Welterlebnis II, S. 94.) Der Besitz von Waffen und Werkzeugen erhöht gewaltig dieses Gefühl der Möglichkeit zu weitgehender Wandlung von Dingen, Verhältnissen, Menschen, er steigert dadurch das Sicherheits- und Freiheitsgefühl, durch welches wieder Erweiterungserlebnisse entstehen, die das gesamte Schaffen befruchten. Dichterische, soziale, religiöse Arbeit kann dadurch angeregt werden. Daher brachte der Gebrauch schon der ersten Werkzeuge und Waffen, wie Hammer und Axt, Messer und Keule, Bogen und Speer, Hacke und Sichel eine tiefgreifende Befreiung des ganzen Erlebens, trug mit dem erhöhten Sicherheits- und Schutzempfinden neue Sehnsüchte und Erwartungen reicherer Art in die Seele, und ließ so überhaupt erst die Keime höherer Kultur aufsprießen, die vordem unter dem furchtbaren Zwangs- und Abhängigkeitsgefühl gegenüber der Natur kaum atmen konnten. Je mehr die Vervollkommnung der Werkzeuge und Waffen zunahm, um so größer wurde auch ihre Wirkung auf die Verfügungserlebnisse und damit auch die Freiheitsgefühle. In dieser Wirkung liegt nun freilich auch die große Gefahr der Technik, denn ihre oft fast sprunghafte Entwicklung bringt eine unerwartete Steigerung von Freiheits- und Machtempfindungen mit sich, die zu schweren Störungen des seelischen und sozialen Gleichgewichts führen kann. Wenn nämlich die allgemeine seelische Reife und Selbstbeherrschung, insbesondere die Entfaltung der Phantasie, des Gewissens, der künstlerischen Ideale nicht Schritt hält mit den machterweiternden technischen Mitteln, und eine große Zahl von Menschen in den Besitz dieser Mittel gelangt, tritt leicht eine Demoralisierung und Entwurzelung ein. Neigungen zu trägem Genießen werden begünstigt. Indem die Technik auch dem ungebildetsten und rohesten Menschen die Möglichkeit gibt, ohne bedeutende 7-*

seelische Vorbereitung seinen Machtbereich zu erweitern, erleichtert sie das Aufkommen machtlüsterner Elemente, die sich in den Besitz von Presse, Fabriken, Verkehrsmitteln, Telegraph, Kriegswerkzeugen setzen und damit große Gruppen beherrschen. Gegen diese Gefahren, die wir heute in nie erlebtem Umfange vorfinden und die im Aufkommen entwicklungsfeindlicher Diktaturen und Kakokratien deutlich genug sichtbar werden, gibt es nur den einen Weg: durch das Aufzeigen neuer Direktiven xind Ideale des geistigen Schaffens und der Gruppengestaltung und unter f o r t s c h r i t t l i c h e r A n w e n d u n g aller M ö g l i c h k e i t e n der T e c h n i k eine Führerschar und allmählich größere Gruppen im Geiste der neuen Ziele heranzubilden, in deren Dienst die machterhöhenden Mittel der Technik sich mehr und mehr aufbauend und kulturfördernd auswirken können. Darum bedeutet die Feindseligkeit vieler geistiger Menschen gegenüber der Technik, wie sie u. a. auch in der indischen Freiheitsbewegung Gandhis besteht, eine verhängnisvolle Verwirrung, die lediglich den Rohmächten die skrupel- und hemmungslose Ausbeutung der technischen Möglichkeiten für ihre egoistischen Machtzwecke erleichtert. 4Wenn durch die Fortschritte der Technik und durch Mechanisierung viele Tätigkeiten, die früher ganz durch Menschen mit primitiven Werkzeugen ausgeübt werden mußten, zahlreiche Berufe überflüssig wurden, so ist dies nur scheinbar eine Verarmung und Einschränkung der menschlichen SchafFensmöglichkeiten. Die Rationalisierung mancher Arbeitsformen und das Verschwinden vieler Berufe geht einher mit dem Auftauchen neuer, reicherer und vielseitigerer Tätigkeitsfelder und Aufgaben. Es zeigt sich, daß „gerade die Verringerung großer Arbeitsgebiete, selbst der Tod außerordentlicher Funktionen und die Automatisierung nur zur Erweiterung viel großartigerer Gebiete und Funktionen menschlicher Arbeit dienen" (Panideal, I. Kampf, S. 141). Die Befürchtung, daß die Rationalisierung mancher Lebensgebiete zu einer Lähmung und Unterdrückung der neuschöpferischen Instinkte fuhren müsse, entspringt ebenso wie die einseitige Verherrlichung der rationalisierenden Vernunft einer un73

zureichenden Kenntnis der Beziehungen zwischen den rationalen und irrationalen Kräften der Seele. Das menschliche Bewußtsein weist verschiedene, aber in engster Wechselwirkung stehende Stufen und Plastizitätsgrade des Erlebens auf. Während in den vollbewußten Zuständen die Seele vorwiegend einer Anpassung an die äußere sinnliche Erfahrungswelt und deren logisch rationaler Ordnung zugewandt ist, herrscht in den irrationalen und mindestbewußten Regionen des Bewußtseins eine Anpassung an die innere Welt der Nervenvorgänge und ihrer seelischen Auswirkung vor. Wie in jeglichem Akt des Denkens^ Fuhlens und Wahrnehmens, so sind in noch höherem Grade in jedem komplizierteren Schaffen diese verschiedenen Bewußtseinsgrade stets in enger Verbindung vorhanden, wenn auch in sehr unterschiedlicher Verteilung und Art der Wechselwirkung. Es kann z. B. in einem naturbeobachtenden Forscher oder Künstler die irrationale Verbindungsarbeit stärker sein als die logisch aufnehmende oder ordnende, während bei einem mehr nach innen gewendeten Träumen gleichwohl rationale Kombinationsweisen vorherrschen können. Von der wechselseitigen organischen Durchdringung der verschiedenen Bewußtseinsstufen*), vom Einströmen vollbewußt organisierten, umweltangepaßten Seelenlebens in das weniger plastisch abgehobene, mindestbewußte, dem Innern des Nervenlebens entstammende Bewußtseinsweben und dem gleichzeitigen ständigen Eindringen tiefbewußter Regungen und irrationaler SchafFensweisen in die stärker organisierten Bereiche der Seele hängt die harmonische Verbindung von Wirklichkeitsanpassung und Erneuerungskraft, von sinnlich reicher und zugleich vergeistigter Entfaltung der Arbeit und damit deren eigentlich schöpferischer Charakter ab. Eine Unterdrückung irrationaler Bedürfnisse führt auf die Dauer ebenso zu Ermüdung und Versiegen der Schaffensquellen wie eine Vernachlässigung der ordnenden, sich an der äußeren Wirklichkeit orientierenden Erlebnisgestaltung. * ) Die Bezeichnung Bewußtseinsstufen ist nicht zu verwechseln mit den bisher üblichen, von Holzapfel als wissenschaftlich nicht haltbar abgelehnten Terminologien und Anschauungen eines „unbewußten" (oder „unterbewußten") und „bewußten" „Bewußtseins", die durch eine „Bewußtseinsschwelle" getrennt seien. Gegenstand wissenschaftlich-psychologischer Forschung können immer nur die Vorgänge sein, die wenigstens als „mindestbewußte" sich im Erleben abheben und dadurch faßbar sind.

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So gleicht die menschliche Seele im Zusammenhang ihrer Bewußtseinsstufen einem Baume: je mächtiger die Wurzeln ins Tiefreich der irrational kaum bewußten Vorgänge hinabgreifen, um so reicher breitet sich das Geäst und die Blätterkrone des lichten, rationalen Vollbewußtseins aus, so wie deren Wachstum und Arbeit wiederum dem Stamme und den Wurzeln des Kaum- und Tiefbewußten lebendige, organisierende Energien zuleiten. Rationale Arbeitsgestaltung ist also nichts „seelenwidriges", „unnatürliches". Wie die tiefbewußten Regungen ist auch sie Ausdruck und Bestandteil der Geistesarbeit' und unerläßliche Mitbedingung ihrer Vervollkommnung. Wenn manche Kulturphilosophen schon in der Erfindung und Verwertung des ersten Werkzeugs den Abfall des Menschen von der Natur, die „Verführung" durch den Intellekt sehen möchten, so beruht eine solche Auffassung auf einer willkürlichen, unwissenschaftlichen Verengung des Begriffs „Natur". Sie zählen zu dieser nur eine bestimmte, meist subjektiv bevorzugte Gruppe von Eigenschaften — meist die animalischen, vegetativen, und von den seelischen nur die irrationalen (die sie der Seele überhaupt gleichsetzen); und auch unter diesen vorwiegend die primitiveren Regungen, jene, die der Mensch mit den meisten anderen Lebewesen gemeinsam hat. Damit glauben sie den Intellekt und dessen technisch-rationale Mittel, als Entartung, als „Unnatur", als „künstlich" gebrandmarkt zu haben — während in Wirklichkeit damit höchstens die Unnatur ihrer eigenen Unlogik sich selbst ad absurdum führt. Denn aus ihrer Vorstellung von „Natur" haben sie gerade diejenigen Kräfte entfernt, welche der Ausdruck einer höheren Lebensentfaltung sind, sowohl biologisch wie seelisch: nämlich die Funktionen eines reicher organisierten schöpferischen Nervensystems als organischem Boden einer vielseitigeren souveränen Seelenarbeit, deren natürliches Streben auf eine immer vollere Harmonie von Verstand und Gefühl, der vollbewußten und tiefbewußten Kräfte gerichtet ist. So ist die Erfindung und Anwendung von Werkzeugen, von „künstlichen" Hilfsmitteln, bis zu den immer feiner gegliederten Maschinen nicht bloß Glied und Folge einer natürlichen menschlichen Vervollkommnung, sondern auch Bedingung für deren weitere Förderung. Z b i n d e n , Tedinik und Geiste .kultur.

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Wie unbegründet war die Angst der Arbeitskollegen Jaccards, des Erfinders des mechanischen Webstuhls, die diese sinnreiche Maschine in blinder Wut zerstörten, fürchtend, sie werde Tausende brotlos machen. In Wahrheit wurde durch diese geniale Erfindung die Weberei so verbilligt und vereinfacht, daß es zu einer ungeahnten Vermehrung der Webereien kam, zu einer großen Preissenkung für Gewebe und damit zu Arbeitsgelegenheiten für ungezählte Weber und viele andere, mit der neuen Produktionsweise neu entstehende Berufe. Gewiß wurden durch die Erfindung der Dampfmaschine viele frühere, primitivere Formen der Krafterzeugung und damit auch mancherlei Menschentätigkeiten überflüssig oder vermindert und auch wirtschaftlich unergiebig, aber nur, um viel größere neue Berufsgebiete ins Leben zu rufen, in denen sich menschliche Kräfte in teilweise wesentlich differenzierterer Weise betätigen konnten.

5Unaufhaltsam fuhrt die Maschinenarbeit eine Vereinfachung zahlreicher Funktionen herbei. Indem sie manche davon dem Menschen vollständig oder großenteils abnimmt, macht sie die Bahn frei für eine andere Verwendung seiner Zeit und Arbeitskräfte. Waren bislang die meisten Berufe vorwiegend Tätigkeiten zur Lebenserhaltung und äußerlichen Lebenserhöhung — selbst die sog. geistigen Berufe sind es — und wurde den Meisten Ziel und Aufgabe, Form und Inhalt des Berufes von außen gegeben, so wird die Vervollkommnung der Technik in immer größerem Umfang dazu führen, daß sich eine wachsende Anzahl von Menschen neue individuellere Berufe gestalten, aus der Eigenart ihrer Bedürfnisse und geistigen Anlagen heraus Ziele und Mittel ihrer Tätigkeit wählen kann. Gewiß werden selbst in fernsten Zeiten noch sehr viele Menschen über zu wenig eigene, persönliche Antriebe verfügen, um nicht auch weiterhin die Hauptzeit ihres Lebens und Arbeitens der Daseinssicherung zu widmen, die ihnen schon erhebliche Überanstrengung bringt. Aber auch diese werden dank der Übernahme vieler Aufgaben durch maschinelle Einrichtungen so weit entlastet werden, daß wenigstens ihre geringen selbständigen Schaffensbedürfnisse Zeit und Möglichkeit einer Entfaltung finden. Dies 76

ist aber auch notwendig, wenn in breiteren Volksschichten nach und nach ein Verständnis für geistigeres Schaffen und fiir Ausnahmegröße entstehen soll. Denn wer sich wenigstens auf einem kleinen Gebiet mit bescheidenen Kräften produktiv betätigt, ist schon dadurch mit Fäden gemeinsamen Erlebens dem Schaffen der Großen verbunden. Aus den Schwierigkeiten der eigenen Arbeit ahnt er eindrucksvoller die Mühen und Seligkeiten schöpferischer Arbeit genialer Menschen. So bildet die Befreiung auch der schlichten Arbeitskräfte von übermäßiger Belastung und die erhöhte Möglichkeit zu individueller Betätigung ein überaus wichtiges Mittel, um die tiefe Kluft, die heute den einfachen Arbeiter von dem Wirken der Ausnahmekräfte trennt, durch ein unmittelbareres Mitverstehen zu überbrücken. Je größer und eigenartiger aber die seelischen Schaffensanlagen eines Menschen, um so mehr wird die Technik ihm helfen, sich von einer schematisch äußerlichen Betätigung zu entlasten und neue Formen, neue Ziele für seine Arbeit zu suchen, durch die er auch der Gemeinschaft seine Kräfte fruchtbringender zugute kommen lassen kann. Nur allmählich freilich kann dieser Abbau auf der einen, der Aufbau auf der andern Seite geschehen. Es werden zuerst Solche von reiner Erhaltungsarbeit weitgehend befreit werden müssen, deren besondere Schaffenskraft für die Gesamtheit von überragendem Werte ist. Die Fähigkeit, solche Kräfte objektiv und zeitig zu erkennen, wird durch die zunehmende Übung in solchen Beobachtungen und Entscheidungen, in Verbindung mit einer ungeahnten Vertiefung und Erweiterung der psychologischen Erfahrung durch Ausbildung besonders hierzu Geeigneter entwickelt werden, so daß zunächst wenigstens die allerbedeutendsten Kräfte immer seltener einer sinnlosen Fronarbeit ausgeliefert sein werden. Immer weniger wird es vorkommen können, daß etwa ein genialer Biologe jahrzehntelang in aufreibendem praktischem Arztberuf seine wissenschaftliche Forscherkraft verkümmern lassen muß, ehe er sich ganz der wissenschaftlich-biologischen Arbeit hingeben kann; daß einer der größten Entomologen, J. H. Fabre, bis ins Alter als Landschulmeister seine Kräfte aufreiben und seine Forschungen als Beschäftigung einer kargen Freizeit ausfuhren muß; daß künstlerische oder dichterische Edelkraft in dumpfer Schreibstubenluft darben, ihre beste Zeit— 6*

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•wie ein Grillparzer, ein Storm und viele andere — auf Arbeiten verschwenden muß, die ein einfacherer, weniger begabter Mensch meist ebenso gut oder sogar besser und ohne Einbuße wertvollster Schaffenskeime besorgen könnte: diese tragische und unnötige Vergeudung von Menschenkraft in einer Zeit, da uns die Technik bereits so gewaltige Mittel einer Befreiung zahlreicher Kräfte bietet und da die Arbeitslosigkeit ein so deutliches Mahnzeichen zur durchschnittlichen Entlastung der Menschen gibt, muß und kann überwunden werden. Oder soll ewig der Notschrei des versklavten Menschengeistes ertönen, der in sinnloser Fron oft sein Bestes ersticken muß ? Wie soll der Zustand der Menschheit in absehbarer Zeit ein anderer werden, wie soll eine berufene Führerschaft erstehen, die fähig wäre, den gewalttätigen Usurpatoren das Handwerk zu legen — wenn sie wie bisher, in der Blindheit ihres alten Gewissens, fortfahrt, Tag um Tag ihre besten Kräfte unnötigerweise zu zermürben, und jene Menschen aufopfert, von denen die größte Erneuerung ausgehen kann, jene, die wie ein lebendiger unerschöpflicher Quell in einer Zeit leben und die die Wüsten der Gegenwart in Gärten des Geistes verwandeln könnten ? Es gilt, die Möglichkeiten, die die Technik schon heute bietet, zu sehen, zu verwirklichen, die durch die Maschine freiwerdenden Kräfte innerhalb des Ganzen rechtzeitig durch eine Neuorientierung der Erziehung und der Arbeit, neuen Aufgaben und Betätigungsfeldern zuzuführen. Dabei sind vor allem solche Aufgaben zu berücksichtigen, die durch ihren individuell gearteten Charakter so sehr an die Menschenkraft gebunden sind, daß die Konkurrenz zwischen Mensch und Maschine immer kleiner wird. Sehen wir nicht, wie schon heute gerade diese Berufe zu einer erstaunlichen Entwicklung drängen. In der sozialen Fürsorgearbeit, in den mannigfaltigen Zweigen der Pflege, der Erziehung, der Sozialgestaltung sind immer mehr Menschenkräfte beschäftigt, die vor Jahrhunderten vermutlich in einer fast ausschließlich utilitären Beschäftigung, in einem Arbeitsschema eingespannt, kaum eine Möglichkeit persönlich gearteter Tätigkeit gehabt hätten. Unwillkürlich zeigt uns die Natur selbst, wie die Entwicklung zwangsläufig dahin geht, einer zunehmenden Zahl von Menschen beseeltere, damit frei7«

lieh auch anspruchsvollere Aufgaben zuzuweisen und der Maschine das Feld der mechanisch zu bewältigenden Funktionen soweit zu überlassen, als diese seelisch mehr eine Last als eine Förderung bedeuten.

6. Darum ist eines der entscheidendsten Probleme, das die Technik schon heute stellt und das immer mehr ein Hauptproblem der Zukunft werden wird, nicht das der Arbeitslosigkeit, sondern das der F r e i z e i t . Es geht um die Frage: wie können die Menschen dazu gebracht werden, sich in großer Zahl neuen Arbeitsformen und Aufgaben zuzuwenden*). Erziehung und Wirtschaft haben bis jetzt so gut wie nichts unternommen, um sich der rapid sich verändernden Situation anzupassen und den Fortschritten der Technik auch sozialorganisatorisch auf dem Fuße zu folgen. Wie hypnotisiert starren sie auf die bestehenden traditionellen Berufe. Als ob dies die einzig möglichen Tätigkeitsweisen wären, als ob die Entwicklung der Menschenarbeit abgeschlossen wäre und die Großzahl der Menschen in alle Zeiten hinaus vorwiegend Bauern, Industriearbeiter, Handwerker, Händler und Kaufleute sein werden, und eine kleine Minderheit den sog. geistigen Berufen angehören werde. Ja, man sperrt heute gerade absichtlich den Zugang zu Gebieten, die in ungeahntem Ausmaße einer Differenzierung fähig sind und erst in den Anfangen ihrer Entwicklung stehen. Immer reichere Möglichkeiten und Aufgaben der erzieherischen Arbeit in Schule und Haus und Gemeinde, der Pflege und Fürsorge, der Volksbildung, Forschung, Krankenhilfe, Hygiene, Medizin usw. können heute, obwohl theoretisch längst erkannt und als wünschenswert erachtet, praktisch nicht verwirklicht werden, weil es an der genügenden Anzahl entsprechend vorgebildeter Menschen fehlt. Die Schulen kranken an Überfiiillung der Klassen (und die Überfullung beginnt nicht erst mit dreißig und mehr Schülern in einer Klasse), eine wirklich individuelle Arbeit ist dadurch überaus behindert, der Unterrichtsschematismus wird *) Bekanntlich wild seit langem in Nordamerika dem „Leisure problem" (Freizeitproblem) eine -wachsende Aufmerksamkeit gewidmet. Freilich hat die dabei angewandte, isolierte und fast ausschließlich utilitäre Betrachtungsweise zu Ergebnissen, die in weiterem Ausmaße wegleitend wären, kaum fähren können.

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fast unvermeidlich, die sensiblen begabteren Lehrer leiden darunter nicht weniger als die wertvolleren Schüler. Die Richter sind überarbeitet und können dem einzelnen Fall nicht die erforderliche Sorgfalt widmen, wertvolle Möglichkeiten erzieherischer Einflußnahme auf Willensschwache oder Gefährdete gehen damit verloren. Die medizinische Arbeit und die Spitäler werden durch den Mangel an ausreichenden, genügend vorgebildeten Kräften schwer beeinträchtigt. Individuelle, selbst in den unscheinbarsten Fall sich vielseitig einfühlende und fein abgestufte Behandlungsweisen, wie sie doch allein zu wirklichem Erfolg führen können, können dadurch nur wenigen, meist nur den Bemittelten, zuteil werden. Dazu kommt, daß die Ausbildung der Ärzte selbst durch den Zwang, in möglichst kurzer Zeit fertig zu werden, zur Einseitigkeit verurteilt ist, und vor allem die psychologisch-menschliche Seite der Vorbildung vernachlässigt wird. Ungezählte Menschen müssen fast jegliche Anregung und Hilfe in ihrer seelischen Entwicklung und in ihren inneren Nöten entbehren, weil niemand da ist, der es sich zur Lebensaufgabe machen könnte, sich ihrer anzunehmen, weil es solche „Berufe", anderen geistig zu helfen und ratend zur Seite zu stehen, noch kaum gibt, und auch da, wo Ansätze dazu vorhanden sind, dienen sie meist in Industrie, Berufsberatung vorwiegend utilitären Aufgaben, einer möglichst rationellen „Ausnutzung" der Menschenkraft. In Millionen Menschen darben wertvolle Kräfte, künstlerische, ästhetische, wissenschaftliche, erzieherische, praktische, organisatorische, die aus Mangel an Erweckung und Führung unbeachtet zugrunde gehen oder nur in rudimentärer Weise sich äußern können. Unermeßliche Äcker des Lebens liegen brach, ganz spärlich, da und dort, schreitet ein Pflüger, ein Sämann über die Felderbreiten, die niemand achtet, weil alle immer nur nach den gewohnten Richtungen und Äckern der Arbeit schauen, weil sie ihre Pflüge immer nur in die alten Furchen legen, statt auf Eroberung neuen Erdreichs auszugehen. Die Menschheit braucht zu ihrer Vervollkommnung unermeßlich viel mehr Lehrer, Erzieher, Helfer, Forscher, von einem neuen Geiste erfüllte, gottbegnadete Künstler, geniale Baumeister, der Seelenbefreiung dienende Männer und Frauen. Sie sind da, diese Kräfte, in viel größerer Zahl als wir ahnen schlummern sie in vielen Seelen, aber die Herrschaft harter 80

Daseinslast läßt diese zarteren, reicher begabten Keime nur selten und meist zufallig zum Wachstum kommen. Bestrebungen, wie die Volkshochschulbewegung Grundtvigs unter den dänischen Bauern und deren Auswirkungen in anderen Ländern, bezeugen, wie elementar diese Kräfte aus dem Volke hervorbrechen, wo ihnen hingebende Erwecker und Führer und verständnisvolle Institutionen erstehen. Und zugleich zeigt die Hebung der Landwirtschaft in Dänemark, wie durch solche geistige Hebung auch die wirtschaftliche Kampfkraft wächst und damit rückwirkend höhere Kulturmöglichkeiten erschlossen werden. Aber wie klein und schwach sind diese Anfange im Vergleich zu dem, was es noch zu tun gilt. Unser ganzes soziales Dasein krankt daran, daß auf den Gebieten, wo man Hilfe am meisten brauchte, die Menschen fehlen, die Vorbereitung entsprechend veranlagter Kräfte ausbleibt, während zu gleicher Zeit auf anderen, traditionellen Berufsgebieten die Arbeiter wimmeln und sich gegenseitig die Arbeit und den kargen Lohn wegstehlen. Man wird demgegenüber vielleicht daraufhinweisen wollen, daß es an den materiellen Mitteln zur Verwirklichung dieser Postúlate fehle und daß mit der Mehrung der geistigen Berufe nur das intellektuelle Proletariat zunehmen würde. Man übersieht dabei — wie meist bei derlei Einwänden — , daß eine Wandlung der sozialen Zustände im Sinne der hier angedeuteten Aufgaben das Ergebnis einer langsamen Entwicklung ist, und daß jeder Schritt der Realisierung auch fortlaufend die Mittel für immer umfassendere Verwirklichungen frei macht und zugleich die Erkenntnis von der Notwendigkeit solcher Aufgaben in den breiten Volksschichten weckt, so daß diese Ziele eine immer allgemeinere Unterstützung finden. Gleichzeitig nimmt auch die Nachfrage nach geistig entsprechend vorbereiteten Kräften zu und damit die ihr zukommende Vergütung. Einem Menschen aus dem Mittelalter wäre es vermutlich höchst phantastisch erschienen, hätte ihm jemand die gewaltigen Aufwendungen vorausgesagt, die die Kulturstaaten des 20. Jahrhunderts allein für hygienische Zwecke als selbstverständlich und unbedingt notwendig erachten. E s kommt auch hier vor allem darauf an, daß die einsichtigen Elemente der führenden Schichten wie der Massen die Notwendigkeit dieser Wege erkennen. 81

Schon heute kann und muß dahin gewirkt werden, daß in der Behandlung kulturpolitischer Probleme diese Gesichtspunkte zur Anwendung kommen: etwa durch Begünstigung aller Bestrebungen, die, unter Vermeiden eines schädlichen Schematismus, auf eine Verkürzung der Arbeitszeit hintendieren, durch Schaffung zahlreicher Gelegenheiten zu geistiger Ausbildung und Betätigung in weit höherem Ausmaße als heute, besonders auch in kleineren Orten und Dörfern. Als Pestalozzi vor mehr als einem Jahrhundert den Plan einer allgemeinen Volksschule aufstellte, erschien vielen diese Forderung utopisch, weil sie sich nicht vorstellen konnten, woher die vielen Lehrkräfte kommen und wie die Mittel aufgebracht werden sollten, um so viele Schulen zu gründen und zu erhalten. Heute ist der vieljährige unentgeltliche Schulunterricht in vielen Staaten selbstverständliche Einrichtung geworden. Gerade diese rasche Ausbreitung aber deutet darauf hin, daß es bei den heutigen Zuständen und Grenzen nicht bleiben wird. Die heutige Volksschulbildung stellt ein Minimum dar; weit mehr Menschen als bisher muß Gelegenheit zu umfassenderer Entwicklung ihrer geistigen Anlagen geboten werden. Freilich muß mit der Erweiterung der Bildungsmöglichkeiten auch die innere Reform der Schule und Erziehung selbst erfolgen, soll sie dann wirklich zur geistigen Befreiung und zur Entfaltung der schöpferischen Kräfte beitragen und nicht, wie heute leider noch allzu oft, ein Werkzeug der einseitigen Rationalisierung und Mechanisierung der Menschen sein. Es ist mithin eine der größten Aufgaben einer neuen Erziehung, den Menschen neue Berufsfelder zu zeigen und sie auf diese vorzubereiten. Wenn bisher die Probleme der materiellen Sicherung und Entwicklung, des wirtschaftlichen Kampfes die Hauptprobleme der Mehrheit bildeten, so werden in der kommenden Berufsentwicklung die Fragen der seelischen Vervollkommnung und des geistigen Ringens einen immer größeren Raum einnehmen. Dies wird möglich sein, weil dank der Hilfe der Maschinenarbeit die wirtschaftliche Erhaltung der Gemeinschaft vielseitig erleichtert und vereinfacht ist. Und es wird notwendig sein, weil sich die Seele nicht länger mehr unter das Joch rein utilitärer Lebenszwecke beugen will, die heute auch dem geistigen Schaffen meist das Gepräge geben. Bildet die Arbeit zur Daseinserhaltung für die meisten Menschen heute noch den 82

Hauptinhalt ihres Lebens, und steht das geistige Leben darin abseits, in karge Stunden gedrängt, halb wie ein Luxus, den man sich mit schlechtem Gewissen gönnt, halb wie ein Aschenbrödel, dem nur in wenigen heimlichen Stunden das Feiergewand vergönnt ist, so wird sich mehr und mehr der Schwerpunkt verschieben. Das Gewissen wird Reue und Scham empfinden, daß der Mensch sich der seelischen Vervollkommnung nicht weit mehr hingeben kann, es wird alles daran setzen, dem geistigen Suchen und Kämpfen den Hauptteil seiner Kraft und Zeit widmen zu können. In der Technik wird es seinen mächtigen Helfer finden. Dann wird auch das alltäglichste Wirken ein neues Antlitz erhalten. Wie in alten Zeiten an fast jedem Hause und an alltäglichen Geräten einige einfache Linien oder Ornamente an das große, höchste Vorbild, die Kathedrale, erinnerten und damit den innigen Zusammenhang zwischen dem Erhabensten und dem Unscheinbarsten erkennen ließen, so wird in der schlichtesten Arbeit der Haucheines überragenden, alle verbindenden Geisteszieles leben und wirken können. Die Strahlen eines von seelenbereichernder Arbeit erfüllten Wirkens dringen überall hin und durchtränken alles Tun, auch das der Lebensnotdurft dienende, mit einem neuen Sinn, einer Weihe, die uns heute verlorengegangen ist. Nicht mehr ein Fluch wird diese Arbeit sein, sondern unerschöpflicher Segen, Erneuerung, Beglückung. 7Aus diesem Geiste wird auch die Beziehung zwischen Handwerk und Technik eine entscheidende Klärung und Wandlung erfahren. Es ist üblich geworden, den Verfall des guten Handwerks vor allem der Verbreitung der Maschine zuzuschreiben. Die billige, rasche Maschinenarbeit habe die langsamere, teurere, wenn auch meist dauerhaftere Leistung des Handwerkers verdrängt. Es wäre sinnlos, zu leugnen, daß die Maschine in hohem Grade dazu beigetragen hat, das alte Handwerk zu entwurzeln. Die kleinen Provinzen, in denen bodenständiges Handwerk gedeihen konnte, erliegen rasch der zentralisierenden und standardisierenden Wirkung der Technik. Neben den bequem und leicht herstellbaren Warentypen der Maschinenarbeit scheint 83

kein Raum mehr zu sein für ein reiches, eigenartiges Handwerk. So wie der Zusammenhang unter den Dörfern durch die Schienenstränge nach der Stadt aufgelockert wurde, und die kleinen Zentren, gleichsam ihres inneren Zusammenhaltes beraubt, in ihrer Vereinzelung nun leichter das Opfer der Stadteinflüsse werden, so wird auch das Band der kunstgewerblichen Tradition zerrissen, bis nur da und dort kleine Inseln einer hartnäckig sich bewahrenden künstlerischen Überlieferung bleiben, die aber gegen die Wucht der Industrieprodukte ohnmächtig ist. Das Warenhaus und seine Ableger beherrschen den Markt, töten den künstlerischen Geschmack und verdrängen schließlich auch die letzten Überreste originellen künstlerischen Empfindens. Zwar erfahrt dieses im Dienst nationaler Propaganda zuweilen eine Wiederbelebung, doch bleibt diese meist künstlich und formal, weil sie nicht mehr getragen ist von einem urwüchsigen, das Volksganze belebenden Kunstgefühl. Gibt es gegen diese Ausrottung der künstlerischen Tradition und des Handwerks überhaupt eine Waffe ? Muß dieser Prozeß nicht unaufhaltsam zur völligen Vernichtung eines lebendigen Kunstgewerbes und schöpferischen Handwerks führen ? Die Antwort auf diese Frage hängt nicht so sehr von der Technik, als von der Gestaltung des Handwerks selbst ab. Die Verflachung in Kunst und Handwerk und der Verfall der alten Tradition wurde zwar durch die Maschinenarbeit beschleunigt, aber die Grundursache liegt in der Entwurzelung der künstlerischen Ziele selbst, die zu eng und zu einseitig geworden waren und die sich aus eigener innerer Erschöpfung nicht mehr fortbildeten. Als die Maschinenerzeugnisse kamen, hatten sie leichtes Spiel — sie eroberten Burgen des Kunsthandwerks, die bereits von innen her unterhöhlt waren. Die Erstarrung und das Verschwinden des religiösen Empfindens und die Auflösung der alten Gemeinschaftsformen, mit denen das Kunsthandwerk eng verknüpft war, hatte dieses seiner wichtigsten Erneuerungsquellen beraubt. Gleichzeitig drangen die Nivellierungslehren des 18. Jahrhunderts, begünstigt durch Buchdruck und Presse und durch die neuen Verkehrsmittel, in immer entlegenere Dörfer und bereiteten so den seelischen Boden für die Standardisierung des Geschmacks und der Güter, lange ehe die Massenproduktion der Technik einsetzte. So sind es auch hier im Tiefsten geistige Faktoren, die Entwurzelung der alten Ideale und 84

der Mangel an kraftvollen neuen Geistesinhalten, die Handwerk und Kunst der Maschine gegenüber wehrlos machten. Darum mußten auch die Versuche, durch eine Erweckung der künstlerischen Kräfte die Gefahren der Technik und Industrialisierung zu bannen, in ihrem Hauptziele erfolglos bleiben. Es ist daher auch verkehrt, durch den Kampf gegen die Technik das Handwerk schützen zu wollen. Dadurch werden die wahren Gründe für den Untergang der Handwerksarbeit nicht erfaßt, und außerdem wird damit der einzig gangbare Weg zur positiven Lösung der Frage versperrt: nämlich die Befreiung des Handwerks nicht gegen, sondern mit Hilfe der Technik. Denn es ist auch hier die Aufgabe der Technik, daß sie dem Handwerk viele Funktionen abnimmt, die die Maschine besser, rascher und wirtschaftlicher ausfuhrt; indem sie den Handwerker entlastet, gibt sie ihm die Möglichkeit, seine Kraft und Aufmerksamkeit um so intensiver der künstlerisch persönlichen Ausgestaltung seiner Arbeit zu widmen. Er fuhrt damit nur das fort, was das Handwerk seit jeher getan hat: Denn schon das alte Handwerk hat sich stets bemüht, durch eine Vervollkommnung der Werkzeuge und Hilfsmaschinen die Roharbeit zu vereinfachen. Was würden wir von einem Kunsttischler denken, der das Zersägen der Bäume, das Hobeln der Bretter, die Herstellung der Nägel usw. noch mühsam mit der Hand bewerkstelligen wollte, statt sich der maschinellen Einrichtungen zu bedienen ? Je mehr der Maschine die Roharbeit überlassen werden kann, um so freier kann sich der Handwerker der künstlerischen, individuellen Feinarbeit hingeben. Eine solche aber wird auch wieder geschätzt und gewünscht, und dementsprechend auch gelohnt werden, wenn dank der Entlastung vieler Menschen von übergroßer Existenzarbeit die seelischen und insbesondere auch die ästhetischen Bedürfnisse sich voller entfalten können. Was aber dem Handwerk außer den bereits genannten Gründen die Wachstumsmöglichkeit entzogen hat, ist das einseitige und fast ausschließliche Hervortreten von Nützlichkeitsrücksichten im Leben des modernen Menschen. Es hat in den meisten das Verlangen nach künstlerisch verfeinerter Arbeit und das Verständnis hierfür erstickt oder gar nicht zur Entfaltung kommen lassen. Wie ein Rauhreif legte sich auf die Völker der materialistischen Ära der Aberglaube, es müßten die Probleme des praktisch-sozialen Lebens unabhängig von den 85

Kräften des Geistes, von Kunst, Moral, Religion gelöst werden; diese seien so lange Luxus, als die „Voraussetzungen", nämlich die Grundlagen der materiellen Sicherung, nicht geschaffen seien. Während sich nun die Kreise der Wirtschaft und Politik langsam von diesem Irrtum zu befreien beginnen, sind es sonderbarer Weise heute Vertreter von Kunst, Architektur und Handwerk, welche diesen Nützlichkeitslehren extremer denn je huldigen. Wir sehen das moderne Kunstgewerbe und die Architektur weithin vom Glauben beherrscht, daß die Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, eines Gebäudes dessen künstlerischen Wert bestimme und daß die Zweckhaftigkeit die höchste ästhetische Norm bilde. Darum müsse aus den neuen Materialien, wie Beton, Eisen, Stahl, Glas, auch der Stil des Bauens abgeleitet werden. Als ob je in einer künstlerisch-schöpferischen Epoche das Material den Stil diktiert und nicht vielmehr dieser die Art der Bau- und Gewerbetechnik und der Verwendung der Baustoffe bestimmt hätte*). Als ob nicht der geistige Inhalt der Bauaufgabe es wäre, der die Form, die Verwendung der gegebenen Materialien und auch das Suchen neuer Stoffe und technischer Mittel lenken müßte. Gewiß wäre es recht sinnlos, wenn ein Baumeister oder Handwerker von heute sich mit den Mitteln und Methoden der Vergangenheit allein behelfen wollte. Welcher dächte auch daran I Je gewaltiger die Aufgabe ist, die ihm gestellt, je kompliziertere und reichere Mittel sie erfordert, um so mehr wird er alle technischen und stofflichen Möglichkeiten beiziehen, die Wissenschaft und praktische Erfahrung bis heute gefunden haben, und er wird vielleicht darüber hinaus noch geeignetere neue Mittel suchen. Aber einen „Stil" wird er aus dem Material und dem Zweck allein ebensowenig finden wie die Abdrücke einer Betonverschalung auf der Mauer etwa ein künstlerisches Ornament bilden (wenn man auch dieses uns bereits einzureden begonnen hat). Stil entwickelt sich nur da, wo gegebener Stoff im Dienste seelischer * ) So ist z. B. der griechische Tempel bekanntlich aus dem Holzbau hervorgegangen, dessen vom Holzmaterial herstammende Formen und Ornamente die Griechen später in den Marmor übertragen haben. Das neue Material, der Marmor, hatte sich also einem bereits bestehenden, von einem anderen Material übernommenen Stilvorbild unterzuordnen. Wer wollte auch behaupten, daß die an einen Baumstamm gemahnende Säule aus dem Material des Steines herausgedacht sei ? 86

Ziele gewandelt, durchgeistigt wird; daß heute diese Inhalte und Geistesziele fehlen, ist der eigentliche Grund auch für die Krisis des Handwerks, der Kunst und Architektur. Das Stilprogramm der „Kollektivität" und der überpersönlichen „Sachlichkeit" ist, tiefer gesehen, nur ein anderes Gewand für jene selbe vor 50 Jahren herrschende Entgeistung, welche damals zur Nivellierung aller Stile und zu deren kritikloser Nachahmung und Vermischung, heute aber zu einer ebenso dürftigen Preisgabe aller künstlerisch formenden, den Stoff ergänzenden, umwandelnden Arbeit geführt hat. Stilkitsch der achtziger Jahre und Mechanisierung des „neuen Bauens" sind in Wahrheit Sprößlinge der gleichen religiösen, künstlerischen und sozialen Entwurzelung und können daher auch nur durch eine Neugestaltung der Ideale in Glauben, Kunst, Gewissen überwunden werden. Erst aus einer neuen Durchgeistigung der Beziehungen des Menschen zum Menschen, zu Natur und Ewigkeit kann ein neues Verlangen wachsen, dem Reichtum dieser erlebten Beziehungen individuellen Ausdruck in den Dingen des praktischen Lebens, der Kunst und Architektur, zu verleihen, eine Spur persönlichen Empfindens allem aufzuprägen, was uns im täglichen Gebrauch umgibt. Mit dem Erwachen eines solchen Wunsches in weiteren Schichten wird auch die handwerkliche Arbeit sich neu beleben und jene Tradition langsam wieder entstehen, die früheren Handwerker-Generationen eigen war, und die sie vor willkürlichen Stilexperimenten ebenso sicher bewahrte, wie sie in ihnen zugleich das Bewußtsein unaufhörlichen Wandeins, Erweiterns und Vervollkommnens der Technik und Stile vermittelte. Diese individuelle Arbeit wird auch einen immer größeren Raum im Leben der Menschen einnehmen können, je mehr dank der vermehrten Bedürfnisse die wirtschaftliche Entwicklung gefördert wird und die erhöhte Sicherung, der zunehmende Wohlstand weiter Schichten es ermöglichen, ein verfeinertes handwerkliches Können zu schützen und materiell wie geistig zu fördern. Dann wird auch manche wertvolle Einzelerfahrung und Reinigungsarbeit der „Sachlichkeitstendenzen" im heutigen Gewerbe dem positiven Schaffen eine wertvolle Hilfe bieten können. Eine Rückkehr zu den alten Formen der Wirtschaft kann nur der Romantiker oder der Ideologe erhoffen. Hier gibt es in Wahrheit nur den einen Weg — die immer vollkommenere Aus87

gestaltung der Möglichkeiten, die die Maschine zur Entlastung der Menschenarbeit bietet, um dadurch die Kräfte und Begabungen freizumachen für ein individuell reiches Schaffen auf allen Gebieten der menschlichen Tätigkeit. 8. Es ist nun freilich durchaus nicht anzunehmen, daß die einfacheren Arbeitsformen, wie etwa die urtümlichen Verrichtungen in Landbau oder Handwerk, infolge der fortschreitenden Rationalisierung völlig verschwinden werden. Auch bei großzügigster Versorgung der Welt durch gewaltig zentralisierte Ackerbaugebiete mit modernster rationeller Bewirtschaftung wird der Kleinbetrieb seine Bedeutung innerhalb begrenzterer und teilweise neuer Aufgaben nicht einbüßen. Dabei wird dies vermutlich nicht einmal vorherrschend durch solche Landgebiete bewirkt werden, deren Bodengestalt eine weitgehende Mechanisierung des Landbaus ohnehin verhindert. Noch wesentlicher für die Beibehaltung mancher ursprünglicher Formen menschlicher Arbeit wird ihr seelischer Erlebniswert sein. Dieser wird um so mehr ins Gewicht fallen, je weniger, dank einer vervollkommneten Wirtschaftsversorgung durch Großbetriebe, die rein ökonomischen Rücksichten für die Gestaltung individuellerer Landbauformen vorzuwalten brauchen. Dem Wirken des ungeheure Felderweiten beherrschenden Maschinenpfluges entspringt als neuer seelischer Eindruck der Anblick endloser Meere wogenden Kornes, das gesteigerte Zuversichtsgefühl einer müheloseren und reicheren Ernährung für alle. Aber darob soll die Intimität und trauliche Schlichtheit kleiner Felderstreifen und Äcker nicht aus dem Landschaftsbilde verdrängt werden, so wenig wie die uralten Weisen der Landmannsarbeit, Pflügen, Säen und Mähen gänzlich verschwinden. Ja, wer die episch ruhige Schönheit dieser und anderer alter Arbeitsformen, ihren friedvoll atmenden Schwung, in dem Urrythmen der Menschheit zu leben scheinen, je empfunden hat, müßte das völlige Aufgehen dieser Arbeitsgestalten in einer fortschreitenden Rationalisierung des Feldbaus als seelischen Verlust empfinden, wenigstens solange nicht andere, neue Arbeitsformen entstanden sind, in denen eine ähnlich elementare Naturbeziehung sich mit reicheren geistigen Zügen 88

verbindet. Es ist darum von hoher Bedeutung, daß die Arbeitsweisen der Vergangenheit — soweit sie seelisch erneuernde Züge tragen — nicht verloren gehen, sondern daß sie, wie die Kindheit im Leben des Gereiften, lebendig im Bewußtsein der Menschheit nachwirken. Dabei werden viele dieser Arbeiten, wie das Bepflanzen der Äcker mit Korn, Mais und anderen Gewächsen, die bis jetzt allein um ihres Nutzens willen gepflegt wurden, immer mehr auch aus landschaftskünstlerischen Gründen erfolgen. Es ist sogar anzunehmen, daß manche Anpflanzungen, die heute in manchen Gegenden aussterben, -weil sie unwirtschaftlich geworden sind, aus ästhetischen Bedürfnissen dereinst wieder gehegt werden. Welche Verarmung des Landschaftsbildes bedeutet z. B. das Verschwinden weiter blühender Flachsfelder, die wie Himmelslicht über zartgrünen Meereswogen schimmern. Ungezählte — man denke an Adalbert Stifters schöne Schilderungen — schöpften aus ihrem Anblick Stimmungen urwüchsig zarten, durchgeistigten Lebens. Während heute für die Gestaltung der weitaus größten Teile der Erdoberfläche, wie auch für das Verhältnis des Menschen zu vielen Tieren rein wirtschaftliche Zwecke ausschlaggebend sind, wird es die durch Rationalisierung in gewissen Großgebieten und umfassende Marktorganisation ungeahnt erhöhte Wirtschaftlichkeit des Landbaus möglich machen, daß andere, bevorzugte Landstriche in größtem Ausmaße einem gartenkünstlerischen seelenerneuernden Landschaftsgestalten, im Geiste eines neuen religiösen Empfindens, zugeführt werden. Ähnlich muß auch in den täglichen Lebensformen in Wohnung, Gewandung, Hausbau und Gerät, eine allzu einseitige oder fanatisch aufdringliche Verwendung technischer Möglichkeiten auf die Dauer als seelische Verarmung empfunden werden. Sie erzeugt eine Einförmigkeit und Öde des Lebensrahmens, gegen die die Seele selbst sich eines Tages auflehnt. So kündigt sich heute die gesunde und berechtigte Reaktion gegen die geistlosen Übergriffe eines entwurzelten Baubetriebs schon an, der sich naiv genug die Bezeichnung „Architektur" beilegen zu können glaubt. Gewiß wird niemand die Vorteile neuzeitlicher Wohnungseinrichtungen, der Zentralheizung, des elektrischen Lichts und die möglichst rationelle Anwendung vieler moderner Errungenschaften auf die Dauer vermissen wollen, wenn er sie einmal kennengelernt hat. Er wird sie um so mehr schätzen, 89

als er weiß, in wie hohem Grade dadurch auch die Arbeit der Frau im Hause vereinfacht und damit die Lösung eines der schwierigsten Probleme, die weitgehende Befreiung der Frau von den mechanischen, zersplitternden Funktionen der Hausfuhrung, erleichtert wird. Aber diese selbstverständliche und dankbare Verwendung aller technischer Vereinfachungen des täglichen Lebens wird ihn um so empfanglicher machen für die seelischen Werte, die so manchen der früheren Begleiter menschlichen Wohnens und Schaffens eigen sind: prasselndes Feuer in Herd und Kamin, Duft und lebendige Strahlung brennender Kerzen. Sie, die einst dem Alltag dienten, werden nun öfter zu Begleitern erlesener Feierstunden und im Dienst eines beseelenden Wirkens geadelt. Eine vielseitig künstlerisch empfindende Kultur wird daher manche der Zeugen einer älteren Zeit in ihren urtümlichen Formen nach Möglichkeit zu bewahren suchen. Die Bereicherung des Lebens um neue Möglichkeiten, wie sie die Technik bietet, kann gerade den Sinn für vielseitige Stufung in der Verwendung aller vorhandenen, der neuen wie der früheren Mittel schärfen und zu einem feiner unterscheidenden Erkennen ihrer jeweiligen Werte für die innere Bereicherung des Lebens erziehen helfen. Nur dem armen, trägen Geiste wird die Technik auf die Dauer zur Gefahr und zur Urheberin von Verödung. Indem die Technik das Register der menschlichen Arbeitsmittel und den Kreis der Erlebniswege unaufhörlich erweitert, bereichert sie die Wahl und kann der Differenzierung des Empfindens dienen. So wird die Erfindung von Kraftwagen und Flugzeug nicht hindern, daß die Menschen die Schönheiten der Fußwanderung und des Reitens intensiver erleben; ja, zum Teil dank der neuen Perspektiven und Erleichterungen, welche jene bieten, werden diese älteren Formen von neuen Stimmungen und Möglichkeiten ergänzt. Ähnlich werden Film und Musikplatte in einem künstlerisch empfindenden Menschen das Verlangen nach unmittelbarer menschlicher Darstellungskunst und nach lebendiger musikalischer Darbietung nicht verkümmern lassen, sondern vielmehr vertiefen und mit neuen, bisher ungekannten Zügen durchtränken. Der Bejahung der Technik entspringt so eine gesteigerte Verantwortung; ihre Anwendung verlangt einen verfeinerten Instinkt, der aus den unabsehbaren Wegen und Mitteln, die die Technik darbietet, immer sicherer diejenigen herauswählt, die 90

die Ziele der Lebensvergeistigung und Seelenerneuerung unter den gegebenen Umständen am vollkommensten zu erreichen erlauben. Darin liegt der große erzieherische Wert der Technik. Ihre mächtig angewachsenen Gewalten zwingen die Menschheit zur Erhöhung ihrer geistigen und seelischen Kräfte. D i e E r z i e h u n g zu e i n e m stets f e i n e r d i f f e r e n z i e r e n d e n u n d z u g l e i c h der G e s a m t v e r v o l l k o m m n u n g i m m e r bewußter dienenden Streben wird auch von der techn i s c h e n E n t w i c k l u n g aus zu e i n e m u n a u s w e i c h lichen G e b o t . 9Durch eine solcherweise verantwortungsvollere und differenziertere Anwendung der Technik allein werden auch die Gefahren überwunden werden können, die heute durch die Veräußerlichung und Mechanisierung in der Beziehung zu großen Menschen eingetreten sind. Es ist für das Verhältnis zu den Führern und bahnbrechenden Gestaltern der Menschheit nicht gleichgültig, auf welchen Wegen und unter welchen Formen die Kunde ihres Wirkens zu den Menschen dringt. Holzapfel weist in seinen schönen Ausfuhrungen über den „Ruhm" und seine kulturpsychologische Entwicklung*) darauf hin, wieviel farbiger und künstlerisch anregender die Formen des Ruhmes in alten Zeiten waren und wie viel reicher sich dadurch die Beziehungen der Menschen zu den Ausnahmen mit Stimmungen des Ungewöhnlichen, Geheimnisvollen, Irrationalen verweben konnten. Mit der Kunde eines seltenen, überragenden Schaffens verbanden sich die Bilder und Ahnungen der vielverschlungenen Wege, auf denen die Ruhmesbotschaft zu den Stämmen und Völkern gelangte: die Einsamkeit und die geheimnisvolle Ferne unbekannter Steppen und Gebirge, die sagenumwobene Weite gewaltiger Ströme und Meere, die Schauer und Gefahren dämmernder Urwaldtiefen und verlassener Pfade, abenteuerreicher Inselfahrten — sie alle trugen in den Ruhm der Helden und Propheten früherer Zeiten Züge idyllischer und erhabener, ruhig-epischer und leidenschaftlich-bewegter Szenerien. Sie verwoben das geistige Wirken innig *) Vgl. Panideal II, S. 53 ff., dem auch die folgenden Zitate entnommen sind. Z b i n d e n, Technik und Geistcskiilcur.

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mit tausendfaltigen Formen der Natur und Landschaft, rätselvoller Völker und Schicksale und verliehen dem Ruhmesweben eine Frische und Erneuerungskraft, die das Werk des sagenhaften Mannes mit reichen Ahnungen umzitterte und Keime einer beglückenden Erweiterung und Phantasieanregung in die Seele des Hörers trug. „Der Ruhm unter primitiven Völkern ist in lauter Natur getaucht. In Lichtungen fast undurchdringlichen Gewäldes erzählten sich Jäger und Krieger die Taten eines Helden, eines Häuptlings und verliehen der Sage etwas vom Dämmer des Dickichts, von den Lauten der Baumriesen und Sträucher, von deren Melodien und Rhythmen, von deren Krachen und Ächzen, Zischen und Wimmern, Knarren und Donnern ... Wie ist die Legende von Hiawatha, einem Heiland der Indianer, von Wäldern umduftet, von Seen und weiten Prärien umleuchtet: ,In den Vogelnestern der Wälder / In den Bäumen der Biber / In den Hufspuren des Büffels / Im Horste des Adlers* hat der Sänger Navadaha die Sage erschaut und vernommen." Mit den großen Entdeckungsfahrten späterer Zeiten, eines Marco Polo, eines Magelhaens, eines Kolumbus bereicherte sich das Bild vom Weltwirken großer Menschen um neue Züge ungeheurer Weiten und seltsam fremdartiger Länder und Kulturen. Sie umwoben die Taten tapferer Missionare und Geisteskämpfer, kühner Forscher und Entdecker. Und durch sie gewann auch der Ruhm großer Dichter, Musiker, Erzieher, deren Werke auf den Pfaden jener Pioniere zu neuen Völkern drangen, neuartige Stimmung, vielseitigere Naturverwurzelung. Aber mit dem Aufkommen der modernen Verkehrsmittel und der mechanischen Vervielfaltigungsmittel schwanden diese Züge aus dem Antlitz der Gruppenwertung und des modernen Ruhmes. „Wurde vor der Entdeckung des Druckes die Wertung nur durch handschriftliche Symbole ergänzt, die meist physiognomische Merkmale des Schreibenden trugen, so kam durch Gutenbergs Tat eine Wertmodifizierung hinzu, welche auf den Nachbildern und Erinnerungen an tote, mechanische und fast unphysiognomische Symbole der Druckschrift beruht. Zwischen ihr und der Eisenbahnfahrt besteht eine gewisse Verwandtschaft. Beide dienen zum Teil dem Seelenaustausch. Beide haben die improvisierten Fahrten, welche dem individuellen Antrieb und Gefühl ganz freien Lauf gelassen hatten, durch künstlich 9

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festgelegte und fertige Geleise ersetzt und alle individuellen Unterschiede und Improvisationen beseitigt. Bewegten sich vor alters die Ruhmeswerte in Wort und Gesang oder in herrlicher, kunstreicher Schrift der Mönche und auf freier Fahrt der Reise, so bietet die Neuzeit einen Ruhm von größerem Umfang, aber einen, der an Eisenbahn und Automobil, an Fabriken und Druckerschwärze erinnert." Wo vor Zeiten Jahrhunderte nötig waren, um die Kunde eines großen schöpferischen Wirkens, einer umwälzenden Tat unter den Völkern zu verbreiten, da dringt heute der Ruhm in wenigen Jahren über die ganze Erde hin; aber wie er damit flüchtiger, abstrakter, weniger eindrucksvoll geworden ist, so scheint auch seine Beständigkeit geringer geworden; er vermag nicht mehr jene Gefühle der ewigen Dauer, die Ahnungen eines geschlechterweiten Wirkens zu wecken, wie sie vorzeiten die Legende des großen Menschen auslöste. Gefüllte Konzertsäle, hohe AuflagezifFern, Reklame, spaltenlange Artikel und große Lettern in der Zeitung, oder auch einfach die trockene Erwähnung in wissenschaftlichen Mitteilungen sind die Ausdrucksformen eines mechanisierten, oft kurzlebigen Ruhmes geworden, der durch seine nüchtern armen Züge auch das Bild der geistigen Größe selbst und das Weben des überragenden Wirkens in den Seelen der Menschen verflacht und es um unersetzliche religiöskünstlerische Stimmungen beraubt hat. So hat „der wenigstens teilweise dem Druck, der Reklame, dem Geld, der Eisenbahn und dem Dampfer entsprossene Ruhm nicht wenig seiner mythenbildenden Anregung verloren. Es ist ihm die Kraft abhanden gekommen, den großen Schöpfer und Kulturgestalter mit dem bedeutsamen Raunen der Natur, mit dem symbolischen Leben der Wälder und Meere zu umgeben und in seinem Wesen und in seiner Gestalt das Flüstern und Weben der Ewigkeit ahnen zu lassen." Freilich wird durch diese Entblößung der bedeutenden Leistung von allen persönlichen und individuellenBegleitmerkmalen die rationelle Organisierung internationaler Arbeitsbeziehungen, insbesondere in der Wissenschaft, vielfach erleichtert. In der Entpersönlichung liegt auch zuweilen ein selbstloses Opfer, das die der Forschung Dienenden ihr bringen. Auch gibt sich darin vielleicht ein unwillkürliches, berechtigtes Streben nach Vergeistigung des Ruhmes selbst kund, nach Überwindung der 7*

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lauten, aufdringlichen Arten öffentlicher Anerkennung. Die Gefühle für einen Meister der Forschung oder Kunst können dadurch an Innerlichkeit gewinnen. Aber immer und unterschiedslos angewandt, fuhrt die extreme Versachlichung zu einer Verarmung der Beziehung zu großen Leistungen. Man darf nicht übersehen, daß damit neue Erkenntnisse und große Gedanken nicht mit der gleichen Kraft, mit dem Reichtum und der Tiefe des Gefühls in den Wissenschaftlern selbst und in den Laien Wurzel fassen und sich in ihrem Innern entfalten können, wie da, wo mit dem Inhalt der Leistung auch die Wege ihres verborgenen Werdens im Schöpfer selbst wie ihrer Verbreitung und Vervollkommnung anschaulich erlebt werden. Es ist für Wissenschaft und Erziehung nicht das gleiche, ob z. B. im Schulunterricht die Newtonschen Gesetze mitgeteilt werden ohne jede Schilderung der Wege, auf denen Newton dazu gelangte, oder ob dem Kinde ein lebensvolles Bild der Kämpfe, des Suchens und der individuellen Erlebnisquellen, die diese Entdeckungen ermöglichten, gegeben wird. So manche bahnbrechende Tat in Forschung oder Kunst gleicht in ihrem Werden einem Epos, reich an verborgenen und offenen Kämpfen, an Gefahren, Schwierigkeiten; und nicht minder bilden die weitern Schicksale im Verlaufe der Verbreitung oft Geschehnisse von dramatischer Spannung. Hier liegen noch kaum gehobene Schätze einer neuartigen, dichterisch-psychologischen Darstellung, kommender Epen des Geistes, durchseelter, farbenreicher und zuweilen abenteuerlicher als die Heldenfahrten alter Zeiten. Heute sind diese Quellen der Erneuerung wissenschaftlicher und dichterischer Arbeit noch so gut wie unerschlossen. Die Schuld daran trägt aber nicht bloß eine rationalistisch angewandte Technik, sondern vor allem das falsche Ideal einer Wissenschaftlichkeit, die in der Abstreifung alles Persönlichen, Gefiiihlsverbundenen, Künstlerischen — auch in den Methoden der Verbreitung und Popularisierung — das Vorbild wahrer Wissenschaft und Geschichte sieht. So liegen mannigfaltige Kräfte der Gefuhlserweiterung, der künstlerischen und religiösen Anregung, die von geistigen Taten ausgehen könnten, heute nicht nur zum Schaden der seelischen Bereicherung und Erziehung, sondern auch der Wissenschaft selbst brach. „Wie könnten wir diesem Schicksal entgehen, das uns zum Teil um die gewaltige Erhöhung unseres Lebens durch ein 94

kosmisch-religiöses und künstlerisches Erfassen der Seele unserer größten Schöpfer gebracht hat, der Geister von der Gewalt eines Faraday, eines Darwin oder eines Beethoven ? Nur die v ö l l i g e E r n e u e r u n g unseres religiösen Lebens hätte die Macht, uns zu verjüngen. Dann könnten wir, von den Hindernissen maschinös-automatischen Verkehrs absehend, mit der Leichtigkeit wiedererwachter Adler die Fittiche ausbreiten und über dem Gerassel der Fahrzeuge, über allen Rauch der Fabrikschlote, Lokomotiven und Dampfer hinaus, gen Himmel fliegen, aus heiligen Lüften und in reinsten Wasserspiegeln den sehnenden Menschen ein neues Leben verkünden." Aber nicht im Kampfe wider die Technik wird diese Erneuerung sich vollziehen. Die Technik hat zwar mit dem Verfall der religiös-künstlerischen Kräfte die Veräußerlichung des Ruhmes und damit die Ernüchterung in der Beziehung zum Wirken großer Menschen begünstigt; aber sie ist es auch, die im Dienste einer neuen Verantwortung gegenüber den schöpferischen Kräften an der Überwindung jener Gefahren mitwirken kann. Indem sie den Menschen befreit von seiner sklavischen Abhängigkeit von der Natur, kann sie sein Verhältnis zu Meer und Gebirge, Strom und Wäldern, freier und geistiger gestalten und diesen Naturmächten reichere Entfaltung im Erleben des Menschen ermöglichen als je zuvor. Wenn früher die alles übertönende Schutzbedürftigkeit und Nahrungssorge seine Gefühle für die Natur nur zu oft durch Regungen der Feindschaft und Ohnmacht verengte, und zuweilen vergiftete, so bietet sich ihm mit der Naturbeherrschung durch die Technik die Möglichkeit, in bewußter, freier Wahl diese Beziehung so zu lenken, daß sie mehr und mehr der Seelenerneuerung und geistigen Verjüngungsarbeit dient. Auf einer höheren Stufe wird ihm, unendlich bereichert und geläutert, die innige Verwobenheit mit der Natur wieder geschenkt und zu einem Grundgefiihl seines Lebens und Schaffens. Dann werden auch die Verbreitungsformen genialer Schöpferarbeit und dessen Wirken in den Seelen der Völker mit Stimmungen einer Naturfulle und Naturnähe durchtränkt, wie sie die alten Zeiten nicht gekannt haben. Aber um dies zu erreichen, ist es schon heute notwendig, den Gefahren der Mechanisierung bewußt zu begegnen und den Boden für jenes neue Welt- und Naturbewußtsein vorzubereiten, von dem, wie weiter noch zu 95

zeigen sein wird, die Technik in Zukunft immer mehr beseelt und geleitet werden muß. Dazu gehört auch die Vergeistigung und künstlerische Individualisierung der Verbreitungsweisen überragender Werke und Erkenntnisse. Es wäre „schon jetzt an der Zeit, unter freiem Himmel, in einsamen Hainen und Wäldern, an weltverlassenen Strömen und Meeresbuchten das Heiligste zu sagen und ewigkeitsweckende Gestalten in den Geistern zu schaffen. Es wäre auch heilsam, das nüchterne oder gar affektiert-deklamatorische Reden und Vorlesen durch schlicht andächtige und intime Aussprache zu ersetzen. Auch sollten wenigstens heilige und großzügige Bücher nicht dem Maschinendruck und dem Handel völlig preisgegeben werden. Die Schrift der neuen Erlösung, die Schrift der Dichtung, des Gedankens, der Weissagung, wie wir sie erwarten, ersehnen und ahnen, sie soll nicht nur wie andere Bücher verbreitet werden. Sie soll mit Händen, aber mit Liebe und Kunst, geschrieben werden, wie die Bücher des Mittelalters in den Zellen der Mönche. Sie soll verbreitet werden wie die herrlichsten Blumen und Bilder."

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VI.

TECHNIK UND ERNEUERUNG DER KUNST.

Der Künstler als Forscher. — Neue Ziele des künstlerischen Schaffens. — Wie kann die Technik zu ihrer Verwirklichung beitragen ? — Die Kunst der Menschheitsgestaltung und das neue Menschheitsbewußtsein. — Die Technik im Dienste differenzierender Völkerforschung. — Weltflug der Phantasie.

I. Unermeßlich ist die Hilfe, die die Technik einer vertieften, naturverwurzelten und zugleich naturwandelnden Kunst zu bieten vermag. Schon im schlichtesten künstlerischen Wollen äußert sie sich in mannigfaltiger Weise. Der Maler, der die Schönheit eines Halmes, einer Blütendolde gestalten möchte, der aus dem Adel dieser Naturformen das unserer Seele Wertvollste, Reichste schöpferisch erneuern will — er wird nicht nur in Tausenden wirklicher Gräser und Blumen, er wird auch in unzähligen guten Bildern zahlreicher anderer, ihm nicht zugänglicher Formen die verborgenen Wesenszüge zu erfassen, aus Wirklichkeit und treuen Wiedergaben die mannigfaltigen Individualgestalten ein und derselben Pflanzenart kennenzulernen trachten. Mit Hilfe vergrößernder optischer Instrumente wird er wieder und wieder die wundervoll zarten Gebilde betrachten, sich in das Gesetz ihres Wachstums und ihrer Formensprache vertiefen; er wird zugleich den Einfluß von Wind und Wärme, von Licht und Feuchtigkeit ergründen, er wird in zeitraffenden bewegten Bildern die unvergleichliche Schönheit und Ausdrucksgewalt der keimenden, der sich entfaltenden, der sterbenden Pflanze immer aufs neue schauen müssen — ehe ihm eine einzige Blüte, ein einziger schlichter Halm wahrhaftig so gelinge, als hätte eine höhere, durchseeltere Naturkraft sie geschaffen. Alles, was die Versenkung in die Natur hilfreich ergänzen kann, Bilder, Filme und Photographien, Reisen und biologisches Forschen, alles wird ihm willkommen sein. Wer dies einmal erahnt, wer erkannt, 97

was es braucht, um nur das Einfachste künstlerisch zu meistern, der wird gefeit sein einzustimmen in die blinde Verachtung so manches Künstlers gegenüber der Technik. Denn ohne ihre Hilfe vermöchte er nicht einen Bruchteil seiner Aufgabe zu bewältigen. Er ist auch gefeit dagegen, einem Naturgebilde, einer Blüte oder einem Angesicht mit vergröbernder, schwammig charakterloser oder klecksig roher Wiedergabe Gewalt anzutun. — 2.

Je höher ein künsderisches Schaffen, auf je reichere Motive und Inhalte gerichtet, um so unentbehrlicher werden ihm, über die besondere Technik seines Kunstgebietes hinaus, die allgemeinen Mittel sein, die von Forschung und Erfindung geschaffen wurden. Nirgends erkennen wir diese unlösbare Verwobenheit eindringlicher als angesichts der höchsten Aufgabe, die das Panideal dem künstlerischen Wollen zeigt: der erfindenden Darstellung überragender Schöpfergestalten, durch Charakterisierung ihrer individuellen seelischen Entfaltung und ihrer Werke — eine Aufgabe von einer Erneuerungskraft, wie sie Dichtung, Plastik und Musik bislang nicht gekannt haben. Gibt es doch unter allen Erscheinungen der Erde keine, die an Fülle der Motive, an Schattierungsmöglichkeiten, an Kombinationsreichtum so hoch stünde wie das geistige Schaffen selbst, das Entstehen neuer Gedanken, Visionen, Erkenntnisse in der Seele eines genialen Menschen. Freilich setzt die Erfüllung einer solchen Aufgabe eine Vielseitigkeit der seelischen Erfahrung und eine Meisterschaft individueller Charakterisierung sublimster Vorgänge voraus, die nur selten vorkommt. Nur wer als Mensch wie als Künstler seine Zeit gleicherweise weit überstrahlt, wird an solche Arbeit sich wagen und sie zum Gelingen fuhren können. Seit Alters haben die Völker in Mythen, Legenden, Heldensagen gewaltige, überragende Wesen darzustellen versucht und in den Schöpfungsmythen das Entstehen neuer Welten und Werke geschildert. Aber es handelte sich dabei um recht kindliche Versuche, menschliches und göttliches Schaffen in Bildern ahnend zu erfassen. Diese schematischen und am Äußerlichen haftenden Darstellungen bieten nicht den geringsten Ansatz, in die verborgeneren seelischen Prozesse, in das keimhafte



Werden neue Ziele, Sehnsüchte, Realisierungswünsche im Geiste eines großen Schöpfers einzudringen. Wenn eine solche künstlerische Aufgabe, überragende geniale Naturen erfindend darzustellen, bisher nicht einmal gestellt, geschweige denn verwirklicht worden ist, so liegt dies nicht bloß an dem geringen psychologischen Interesse für die inneren Zusammenhänge schöpferischer Arbeit. Es ist auch bedingt durch den Mangel an Gelegenheiten, die Merkmale seelischer Ausnahmeentwicklung in hinreichend vielseitiger Weise studieren zu können. Das Gebiet der Psychologie schöpferischer Seelenarbeit lag noch so gut wie unerforscht da. Ohne eine genaue, allseitige Erkenntnis der typischen Züge genialen Schaffens, seines physiognomischen Ausdrucks, seiner innersten Wurzeln und Verflechtungen mit dem Gesamtleben, war aber eine lebenswahre naturverwurzelte Erfindung von Schöpfergestalten undenkbar. Es konnten höchstens Selbstschilderungen großer Menschen entstehen; wo darüber hinausgegangen wurde, waren karikierende, tote Phantasiegebilde unvermeidlich. Nur wer mit den Wesensmerkmalen bahnbrechenden Schaffens in Kunst und Forschung, Religion und Sozialgestaltung innig vertraut ist, nicht nur aus eigenem Erleben, sondern aus reichster Beobachtung an zahlreichen Schöpferpersönlichkeiten verschiedenster Richtungen, Epochen, Kulturen, und wer schöpferisches Wirken in zahlreichen Graden unterschiedlichster seelischer Entwicklung beobachtet hat, wird imstande sein, n e u e , erfundene Schöpfercharaktere mit solcher Lebenswahrheit vor uns erstehen zu lassen, daß ihr Schicksal und ihre Gestalt ebenso real und einmalig-ewig wirken wie die eines großen Menschen, der wirklich gelebt hat. Ohne die mannigfaltigen Hilfsmittel, welche die Technik schon in ihrer heutigen Form bietet, wäre die Vorbereitung und Ausführung dieser Aufgabe, in der das höchste panidealistische Kunstwollen gipfelt, kaum oder doch nur in recht unzulänglicher Weise möglich. Die Kenntnis unterschiedlicher Stufen des Schaffens in verschiedenen Zeiten, Völkern, Kulturen ist heute schon durch zahlreiche Reproduktionsverfahren in einem Umfange möglich geworden, der eine unermeßliche Erweiterung des unmittelbaren Erfahrungsgebietes erlaubt. Daraus strömen dem Künsder die Merkmale vielfaltigster Arbeitstypen und Vollendungsgrade zu. Noch kaum genutzt ist freilich bisher, trotz vieler Ansätze, 99

diese Macht der technischen Mittel im Vergleich zu den Aufgaben und Möglichkeiten, die sich hier bieten. Doch nicht nur in menschlich-seelische Zusammenhänge ermöglicht die Technik eine mühelosere Versenkung als je in einer früheren Epoche. Auch das Naturgeschehen, das innig mit jeder Menschenarbeit verbunden ist und am allermeisten dem genialen Schaffen seine Züge aufprägt, die Eigenart verschiedenster Landschaften, Pflanzenreiche, Tiere, Sterne und Himmelsräume, alle Dinge, die auf die Seele ungewöhnlicher Menschen und ihre verborgene wie bewußte Arbeit besonders tiefe Wirkung üben, werden durch Bild und Druck in immer ungeahnterem Maße zugänglich; die Laute ferner Länder und Stämme, nie gehörter Gesänge und Lieder, die Stimme bedeutender Menschen läßt die Tonplatte in die stille Aibeitsstätte des Künstlers dringen. Unaufhörlich erweitern die Geschöpfe modernen Erfindungsgeistes den Umkreis des Erlebens und der unmittelbaren Erfahrung, bereichern diese mit neuen Stimmungen, Ahnungen, mit Düften und Gesichten anderer Erdteile und Himmelsstriche. Und was früher nur den Auserwählten vorbehalten war, das rücken sie in den Bereich selbst der wenig Begüterten : Reisen in andere Länder, Vertrautwerden mit den Originalwerken großer Kunst, Eindringen in das Leben fremder Völker. Aus diesem Strom der Gesichte, den die Genien der Technik in die Seele des Schöpfers tragen helfen, erstehen, im tiefsten Kaumbewußtsein gewandelt, die Bilder nie gesehener Länder, erdentrückter Gebirge, stiller Heimattäler des Geistes, in denen ungeahntes heiliges Geschehen sich vollzieht. Aus der tiefen Versenkung in das Geheimnis des Schaffens erheben sich die Antlitze und Gestalten neuartiger Schöpfer, in denen nie geschaute Welten geboren werden, deren Angesicht die Züge gewaltiger Erneuerungsmacht trägt. Heilige Vorbilder genialer Erlöserkraft werden lebendig, in urgewaltiger Dichtung, im geheimnisvollen Leuchten der Farbenfenster, in Stein und Holzbildwerk treten sie unter die Menschen, erfüllen ihre Träume und ihre Sehnsucht, leiten ihr Gewissen, wecken Ahnung ungekannter Seligkeiten*). Und in diesen höchsten Urbildern findet *) Diesen Weg einet künstlerisch-psychologischen, neuerfindenden Darstellung von Zukunftsgestalten zum ersten Male betretend, läßt Holzapfels nachgelassene Dichtung „ H e i l i g e E w i g k e i t " (Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1932) eine Welt künftiger, heiliger Schöpfer, Baumeister, Gründer religiöser Gemeinschaften und Kulte in reichen Visionen vor uns lebendig werden. IOO

das Schaffen aller, selbst der Schlichtesten, seine unverrückbaren Leitsterne. Sie alle aber, die Schöpfer des Größten wie die bescheidenen Handlanger der Kunst finden in den Werkzeugen, welche Wissenschaft und Erfindergabe ihnen reichen, die unentbehrlichen Helfer ihrer seelenwandelnden, geisterneuernden Arbeit. Und rückwirkend öffnen die Ziele eines heiligeren, verantwortungsbewußteren Kunstschaffens, einer ungeahnten Durchgeistigung und Bereicherung auf allen Stufen der Kunst den Erfindern und Entdeckern zahllose neue Aufgaben, neue Arbeitsfelder, die die Welt der toten Instrumente mit einem neuen Adel, mit dem Leben eines neuen Geistes beseelen werden. 3Die höchste Entfaltung und die umfassendste Synthese von Technik und Geisteskultur vollzieht sich jedoch nicht auf den Gebieten der bisher geübten, in Wort und Farbe, Stein und Klang sich ausdrückenden Kunstweisen. Sie wird verwirklicht im Dienste einer neuen, gemeinschaftsbildenden Kunst, die alle Kräfte der Menschheit nach und nach zu einem allumspannenden Schaffen, im Panidealstreben einer M e n s c h h e i t s k u n s t , verveinigt. Die Menschheit selbst, in ihrem lebendigen und stets sich wandelnden Reichtum der Grade und Richtungen, wird hier zum vollkommensten, erneuerungsfahigsten Material eines neuartigen, sozial-künstlerischen Schaffens, das auf eine vollkommenere Organisierung und Durchseelung der Menschengruppen gerichtet ist. Die Menschheit, heute noch ein kaum geordnetes Gebilde, geistig chaotisch, in feindselige Gruppen natipnaler, wirtschaftlicher, kontinentaler, konfessioneller Art zerrissen, trägt doch in sich selbst die Keime zu einer harmonischeren Gestaltung. Nur zaghaft freilich wagten sich diese bisher inmitten der Herrschaft roher Gewaltinstinkte vor, nur innerhalb kleinerer Gruppen oder zuweilen eines einzelnen Volkes gelang eine geistigere Organisierung und seelenfördernde Führung, und zumeist für kurze Dauer nur. Die Wirkungen, die von einem Amenophis IV., einem Kong Tze, einem hl. Benedikt, dem Schöpfer des mittelalterlichen Ordenswesens ausgingen, zeugen davon. Aber es sind trotz ihrer Spärlichkeit und der verhältnismäßig geringen Auswirkungen auf die Gesamtheit die Vorläufer dessen, was in der menschheitskünstlerischen IOI

Arbeit sich dereinst zu voller Blüte und zu machtvollem Wirken der Besten aller Völker entfalten wird und muß. „ E s hat niemals eine Kunst gegeben, die mit derselben Kenntnis der Ziele und Mittel und mit einer ähnlich bestimmten Absicht, wie etwa die Plastik, auf Änderungen der Menschheit selbst zum Zwecke einer künstlerischen Seelenerneuerung der Kulturschöpfer und ihrer Mitmenschen ausgegangen w ä r e . . . . Die kulturgestaltende Arbeit muß zur zielbewußten Menschheitskunst erhoben werden, soll aus diesem chaotischen Gewirre ein Einklang entstehen, ein erdumfassender Einklang der Gruppen, der Sphärenharmonien würdig, von denen die Weisen träumten"... „ D a die Menschheitskunst, wie ein jedes künstlerische Schaffen, auf geistig schattierende abstufende Differenzierung des zu ändernden Stoffes, mithin auf geistig abstufende Berücksichtigung und Förderung des einzelnen und der Gruppen gerichtet sein wird, so muß nach und nach eine neue Menschheit entstehen, in der wilde, rohe, tierische Differenzierung in feindselige Gruppen, Stände, Regierungen ebensowenig Raum haben wird, wie eine stumpfe Nivellierung. Es wird eine Menschheit entstehen, in der Unterschiede unter den Gruppen und unter einzelnen großenteils aus Unterschieden der geistigen Anlage und Entwicklung hervorgehen und als Maßstab der sozialen Berücksichtigung, Wertung und Gesellschaftsordnung dienen werden. Dann werden die dämonischen Gruppengestalten bluttriefender Völker und despotischer Stände mehr und mehr zurücktreten, um allmählich den V ö l k e r n des G e i s t e s zu weichen, in denen die erlösenden Kräfte der Menschheit unterschiedlichste Individualformen der Gemeinschaftsbildung annehmen werden. . . Erst dann wird die Forderung des Panidealgewissens, wird dessen Verlangen nach schattierendster Rücksichtnahme auf die Abstufung der Anlagen und Entwicklungen in Einklang kommen mit den Menschheitsvisionen der Kulturgestalter." (Panideal I, S. 420 ff.) In dieser Vision einer fernen Zukunft sind die Leitsterne gegeben, aus denen das soziale Ringen und Schaffen der Gegenwart höchstes Ziel und Richtung zu empfangen vermag. Rationale Argumente und logische Beweise allein vermöchten niemals die tief in den Schichten des Kaumbewußtseins lebenden Mächte des Gruppenhasses, des Nationalismus auszutilgen. Es bedarf dazu der phantasiebewegenden, die tiefsten Ge-

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fühle aufrüttelnden Schau einer neuen Menschheitsgestalt, des vorstellungsreichen Bildes kommender Gemeinschaftsformen, zu deren Verwirklichung alle Kräfte, künstlerische wie soziale, religiöse wie wissenschaftliche und praktische aufgerufen sind, und die durch ihre reiche Harmonie und Vollendung, Farbenfülle und Gefühlstiefe alle nationalen Gruppenidole in den Schatten zu stellen imstande sein müssen. Nicht nur als ethisch rationale, sondern auch als künstlerische Konzeption muß dieses Ziel lebendig werden, soll es die Menschen begeistern und zur Verwirklichung anfeuern. Internationales Fühlen und Wollen muß sich zum menschheitskünstlerischen Streben vertiefen, wenn das sinnlose Wüten Aller gegen Alle und die Enge eines dogmatisch erstarrten Patriotismus überwunden werden sollen durch die Synthese einer innigen Heimatverankerung, die nicht durch künstlich-politische Grenzen bestimmt wird, mit einer alles Tun durchpulsenden und lenkenden Menschheitsliebe. Eindringlich läßt uns gerade die Technik das Unvermeidliche, das organisch Folgerichtige dieses Weges erkennen. Sie ist es, die auf dem Wege der Überwindung enger Schranken und geographischer, historischer, nationaler Vorurteile vorangegangen ist, sie läßt ihre Errungenschaften allen Völkern zuteil werden und hilft solcherweise einem menschheitskünstlerischen Wirken die Wege ebnen. Während die Romantiker eines altersschwachen und vielleicht darum so zäh an sein entweichendes Leben sich klammernden Nationalismus und Klassenchauvinismus immer noch im engen Gruppengeist die Errettung suchen, hat die Natur selbst längst in der sozialen und technischen Wirklichkeit neue Wege betreten. Recht lebensfremd erscheint es in der Tat, in einer Zeit erdumspannenden, völkerverkettenden Verkehrs der Bahnen, Flugzeuge und Schiffe, des elektrischen Funkens, der mit Windeseile überallhin vordringenden Wissenschaft, von nationaler „Unabhängigkeit" und von einer nationalen Kultur oder einem kontinentalen Ideal zu träumen. Umfaßten schon in der Vergangenheit die großen Weltkulturen zahlreiche Rassen und Völker, so kann eine Kultur der Zukunft erst recht nur eine internationale, eine menschheitliche sein, eine künstlerisch gegliederte, von vielseitig abstufender Menschenkunde getragene Organisierung geistig charakterisierter Gruppen und Gemeinschaften, in denen Menschen aus allen Völkern und Rassen in innigster Zusammenarbeit ihr 103

Bestes und Edelstes freier und in vollkommenerer Eigenart entfalten werden, als dies in der Enge nationaler und nivellierender Begriffe möglich war. Es ist ein Ziel, dessen Verwirklichung ohne eine hochentwickelte Technik und ihre überlegene Anwendung nicht gelingen könnte. Nur Menschen, die weit mehr als bisher von mechanischer Arbeit entlastet sind, werden insich das Verlangennach kraftvoller Durchgeistigung ihres Lebens erwachen fühlen und es nach und nach zum Hauptinhalt ihres Daseins machen. Mit geistloser Tätigkeit übermäßig bedrückte, von Not und Sorge zermürbte Menschen sind kein Boden für das Gedeihen geistiger Ziele, sie sind es um so weniger, je geringer in ihnen die Anlage zu geistigem Wollen ist. Gerade diese Menschen wird die Befreiung durch die Hilfe der Maschine, durch Verkürzung der Arbeitszeit und durch Erziehung zu einer fruchtbaren Anwendung der Freizeit erst fähig machen, die Perspektiven menschheitskünstlerischer Arbeit zu erfassen, und so einen Lichtschein dieses gewaltigen Zieles auch in ihre Kammern tragen. Vor allem wird den Führern wie den breiteren Schichten des Volkes eine weit feinere, abstufendere Kenntnis anderer Gruppen und Völker zugänglich gemacht werden müssen als dies bisher der Fall war. Wo Kunde anderer Kulturen, Nationen, Rassen verbreitet wird, da soll nicht vorherrschend das Durchschnittliche oder gar geistig Minderwertige zur Geltung kommen (oft im schein-demokratischen Bestreben, das „allen Gemeinsame" zu zeigen), sondern es gilt weit mehr, gerade das Ausnahmeartige, das Überragende und das Wertvollste sichtbar zu machen. Dank der modernen Mittel der Bildreproduktion und des Nachrichtenwesens nimmt heute bereits eine ungeheure Menschenzahl am Geschehen fast aller Völker der Erde teil. Unaufhörlich wird durch Verkehr, Presse, Rundfunk den Menschen die schicksalhafte Verwobenheit der Nationen zu Bewußtsein gebracht. Zugleich erhöht die Kunde fremder Länder und Kulturen, die in Bild und Film, Druck und Wort in entlegenste Weiler dringt und diese mit aller Welt verbindet, das Interesse und allmählich auch das Verständnis für fremde Eigenart. Mögen die Erfahrungen und Eindrücke, die solcherweise gewonnen werden, oft einseitig, ja selbst irreführend sein und zu Ab104

lehnung oder Kritik reizen — sie helfen gleichwohl Keime menschheitlichen Bewußtseins in die Seele zu tragen. So hat, mehr vielleicht noch als die Predigt von der Allverbundenheit der Menschen, die Hilfe von Dampfmaschine und Motor, elektrischer Kraft und Buchdruck dazu beigetragen, das Gefühl von der Zusammengehörigkeit Aller zu fördern. Was in Jahrhunderten in den Tiefen des Bewußtseins sich geformt, was die Vorausschau einiger Weniger war, tritt heute ins Licht des Bewußtseins weiter Schichten, als immer lebendigeres, unerstickbares Menschheitsgefühl, eine immer deutlichere Ahnung dessen, was die Menschheit als Organismus bedeutet. Die Mittel und Möglichkeiten, die die Technik zur Entfaltung dieses Gefühls bietet, sind freilich heute noch kaum zielbewußt angewendet. Denn es ist mit einer wahllosen Verbreitung zufallig zusammengekommenen oder nach äußerlichen Sensationsgesichtspunkten ausgelesenen Materials nicht getan. Wir brauchen nur die üblichen Nachrichten der europäischen Presse etwa über Nordamerika zu lesen: den größten Raum und die häufigste Wiederholung finden die Mitteilungen von Verbrecherjagden, Kindesentführungen, Zuchthausrevolten, Siegen von Boxern und Fußballhelden. Dazu noch einige politische und finanzielle Nachrichten. Hie und da Skandalberichte aus dem Leben von Literaten, Filmgrößen, als Einblick in das „geistige Amerika". Was aber erfährt der Leser vom geistigen Leben und Wollen, vom Forschen und Schaffen derer, die überall und zu allen Zeiten das ausgemacht haben, was die Nachfahren „Kultur" einer Zeit nennen ? Was weiß er von dem Ringen und Suchen, in dem die Besten um neue Wege für ihr Volk kämpfen ? Man sage nicht, daß es die Aufgabe von Zeitschriften und Büchern sei, darüber zu orientieren. Je mehr die Tagespresse die Hauptlektüre vieler Menschen bildet, um so wichtiger ist es, daß auch sie das Geschehen eines fremden Landes in einem Querschnitt bringe, der eine objektivere Abstufung der Werte bedeutet, als es die Raum- und Stoffverteilung der meisten Blätter heute darbietet. Hängt doch die Vorstellung, die sich die meisten von einem anderen Lande bilden, großenteils davon ab, was sie an repräsentativen Leistungen und Werken kennenlernen. Wenn heute zahlreiche Filme uns die Welt anderer Völker und Kulturen vermitteln, so liegt darin zweifellos ein wertvoller IOJ

Ansatz, dieses bislang noch so arg mißbrauchte Instrument produktiven Zielen dienstbar zu machen. Aber auch hier wird die volle Fruchtbarkeit erst aus feiner differenzierender Beobachtung und Anwendung kommen, aus einer verständnistieferen Auswahl bei der Aufnahme der Bilder, die selbst im einfachsten Volksstamm auf Unterschiede der Anlagen, der Begabung, vor allem auf ungewöhnliche schöpferische Menschen mit besonderer Liebe achtet und deren Wesen, Antlitz, Schaffen in wahrhaft charakteristischen, nicht halb zufälligen Bildern festhält. Freilich, solche Filme und Bildberichterstattung erfordern oft jahrelanges Zusammenleben mit einer Volksgruppe und können nicht in wenigen Wochen oder Monaten, manchmal nach kaum erfolgter Ankunft, geschaffen werden. Allzusehr stehen die wundervollen Instrumente, die Forscherkraft und Erfindergeist uns geschenkt, noch im Banne der groben Sensationslust und aufdringlich-theatralischer Aufmachung, und noch allzu selten dient sie einem liebevollen, sorgsamen Auge, das unermüdlich acht hat auf die individuellen Abweichungen, auf die vielen Grade und Formen eines Lebensbezirks. Aber erst ein solches kann wahrhaft eindringen in die fremde Eigenart, sei es von Landschaften, Pflanzen oder von Tieren und Völkergruppen. Immer sind es die positiven Ausnahmen, in denen sich in besonderer Kraft und Sonderart die Anlagen oft eines ganzen Volkes, einer ganzen Kultur kundgeben. Eine wahllose, nach oberflächlich reporterhaften Zwecken vorgenommene Darstellung wenig bekannter Länder und Völker, das Festhalten hauptsächlich gleichgültigerer oder gar vorwiegend roher Typen und Ereignisse in Photographie und Film begünstigt, ähnlich wie die Darstellung vorwiegend durchschnittlicher Erscheinungen fremder Völker in anthropologischen und rassekundlichen Werken, eher die Neigung zur Nivellierung und zu einem verwaschenen Kosmopolitismus als den Sinn für feinere Abstufungen. Wo als Haupteindruck immer nur das Gefühl des ungefähr gleichen, der großen Gemeinsamkeiten aller Wesen zurückbleibt, oder aber die Empfindung des völlig anderen, im Wesen grundlegend verschiedenen durch künstliche Übertreibung erweckt wird, da kann ein naturwahres, objektives Bild der reichgestuften Menschheitsentwicklung nicht in der menschlichen Phantasie Wurzel fassen.

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So fordert das menschheitskünstlerische Ideal, der höchste irdische Inhalt panidealistischen Strebens, eine ungleich feinere, sorgsamere Anwendung der technischen Möglichkeiten und einen rastlosen Ausbau ihrer Mittel zu immer umfassenderer Orientierung und erzieherischer Wandlung der Menschen im Sinne des individualisierenden Gewissens. Der Anschauungsbereich eines heutigen Menschen ist bereits in einer Weise erweitert, die dem Mittelalter noch unvorstellbar gewesen wäre. Wie klein war im Verhältnis zu heute die objektive, durch äußere Erfahrung vermittelte „Welt" eines Homer, eines Dante, eines Michelangelo oder Rembrandt I Aber schon aus diesem verhältnismäßig eng begrenzten Schatz von Beobachtungen und Anschauungen vermochte die religiöse Phantasie dieser Schöpfer eine ungeheure Fülle der Gesichte zu weben. Die Visionen der „Göttlichen Komödie" zeugen von der großartigen Kraft, die aus der Erfahrung gewonnenen Elemente zu wunderbaren neuen Landschaftsgebilden zusammenzufügen, so wie in Lionardos Gemälden die Eindrücke zahlreicher Reisen zu einem organischen Neuen gewandelt sind. Zu welchem Reichtum, zu welch noch vielseitigerem Schaffen können einem genialen Künstler die schon heute zugänglichen Einblicke in fremde Länder und Kulturen, die jene früheren Gestalter entbehren mußten, Stoff und Anregung bieten 1 Der Phantasie sind unabsehbare Wege geöffnet, die Kunde von Ländern und Meeren der ganzen Erde, von urmächtigen Gebirgen und unergründlichen Wäldern, der Blick in die Zwergwelten der Zellen wie die Schau in die unermeßlichen Fernen des Sternenalls haben vielleicht mehr als alle bisherige Erziehving die Gemüter vorbereitet für die Gedanken und Visionen einer kommenden Welt. Wie wenige Künstler unserer Zeit hat Holzapfel selbst sich unaufhörlich durch Bilder und Schilderungen in fremde Landschaften, Rassen, Vegetationsformen, Tiergestalten versenkt, die unmittelbare eigene Erfahrung seines Wanderlebens ergänzend und erneuernd. Ihn umgaben in seinem Arbeitszimmer Photographien ferner Landschaften, Rinden exotischer Bäume und Bilder einheimischer Flora, eigenartige Mineralien, Falter südlicher Länder, Muscheln und Schalen ferner Gestade und Epochen—und sie alle, durch die emsigen Hilfskräfte modernen technischen Verkehrs herbeigeholt — trugen die Bilder, Laute, Z b i n d c n , Technik und Gostcskultur.

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Düfte ferner Himmelsstriche, ihre Farben und Strahlen in die innere Welt seines Schaffens, um verwandelt, in neuer Gestalt, der dichterischen Schau kommender Kulturen und neuer Landschaften zu dienen*). Die Menschen in die Enge ihrer früheren Lebensformen zurückdrängen zu wollen, ihnen den Horizont primitiver Zeiten als idealen Lebensraum für alle Zeiten hinstellen zu wollen, bedeutet nicht nur eine völlige Verkennung kulturgeschichtlicher Entwicklung. Es ist auch eine gewaltsame Fesselung des menschlichen Geistes, der sich, in einem Ringen voll Qual und Bangnis, langsam von morschen Hüllen zu befreien müht und zum Fluge in neue Reiche des Schauens und Ahnens anschickt. Von ganz ungleichen, scheinbar entgegengesetzten Ursprüngen her entfalten sich die Kräfte der Technik und der Seele, wachsen in organischer Erfüllung ihrer Sonderaufgaben zu immer höheren Zielen empor. Je mächtiger sie ausgreifen, je gewaltiger ihr Reich sich weitet, um so wunderbarer zeigt sich das Zusammenströmen ihrer reifsten Energien. Erfinderund Forschergeist, der Ergründung und Bewältigung der bestehenden, sinnlich faßbaren Wirklichkeit zugewendet, durchbricht unaufhaltsam die engen Schranken, die gruppenhaftes Denken errichtet hatte, begründet mit jeder Entdeckung, mit jeder neuen Erfindung fester die gemeinsamen Interessen der Völker, die unlösbare Verkettung ihrer Schicksale in Schutz und Erhaltung, in Glück und Vervollkommnung. Aber noch leidenschaftlicher erhebt sich der Kampf gegen die stumpfen Gewalten der Gruppenmächte und der Geistverflachung, der Ruf zum Schutze der Schöpferkräfte im Menschen aus den tiefsten ethischen und ästhetischen Sehnsüchten der Seele. Und aus dem innersten Stamme wissenschaftlichen, sozialen und künstlerischen Wollens wächst das umfassendste Ideal irdischen Schaffens hervor, die menschheitsgestaltende Kunst: Alle aufbauenden Geisteskräfte sammelnd zu höchster Entfaltung, schließt dieses Ziel Seele und Technik, rationale Erkenntnis und schöpferische Neugestaltung zur vollkommensten Einheit zusammen, fuhrt sie ihrer reichsten Erfüllung entgegen. *) Vgl. „Die Arbeitsstätte R. M. Holzapfels" in dem Sammelwerk „ E i n G e s t a l t e r der Z u k u n f t , aus Leben und Werk R. M. Holzapfels", München, Verlag Hirth 1932. 108

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TECHNIK UND NEUES RELIGIÖSES WELTBILD.

Wissenschaft und Glaube. — Grundlagen eines neuen religiösen Weltbildes. — Werkzeuge der Forschung im Dienste religiöser Vervollkommnung. — Das neue religiöse Naturgefiihl und die Technik. — Die Synthese der Kräfte. — Gemeinschaftsleben der Zukunft und Technik — ein Ausblick.

I. Rätsel um Rätsel der Welt hat die moderne Forschung gedeutet, unser Raumgefühl unabsehbar erweitert, die Wunder der Sterne, die Geheimnisse des Atoms hat sie enthüllt und den Menschen zum Herrscher über unermeßliche Kräfte der Natur erhoben. Aber sind wir nicht inmitten dieses Reichtums verwaist und vielfach ärmer, und enger gefangen in unserer Erkenntnisfville als der kindlich gläubige Hirte im kleinen Gebirgstal ? Denn keine Paradieseshoffnung mehr weitet unsere Seele, keine Himmelsgestalten tragen uns durch die Finsternisse des Lebens einem ungeahnten Licht entgegen. Erst wenn die irdischen Ziele wieder eingegliedert sind in ein kosmisches Weltbild, wenn sie im lebendigen und klaren Bewußtsein eines allumfassenden Ewigkeitszusammenhanges verwurzelt sind, kann das irdische Schaffen seinen höchsten Sinn wieder erlangen, wird es in der Gewißheit unergründlicher Vollkommenheiten seine wirkliche Heimat finden. Auch das hingehendste Aufgehen in irdischem Tun allein vermag niemals dauernde und tiefste Befriedigung zu schenken. Was soll in der Tat die Arbeit für menschliche und menschheitliche Vervollkommnung, wenn alles doch nur ein Spiel blinder Naturkräfte oder der mechanisch seelenlose Ablauf abstrakter Naturgesetze ? Wozu sich mühen für eigenes und fremdes Wohl, für eine Gestaltung immer reicherer Kultur auf Erden, wenn all das Ringen zahlloser Geschlechter dereinst, mit dem Tode der Menschheit, in einem Nichts spurlos verschwindet, ein wehevoller Klang, der ohne Echo im leeren Weltraum erstirbt ? 8*

Wir wissen es, und wir fühlen, daß ohne einen religiösen Glauben, der unser winziges Erdengeschick mit ewigen Vollkommenheitsmächten vereint, all unser Tun sinnlos bliebe. Ist es aber nicht eben die Wissenschaft, die uns den Glauben genommen und zerstört hat, ist es nicht der rechnende Verstand, der abstrakte Prinzipien und Maschinen an Stelle des lebendigen Gottes gesetzt hat ? Aber zugleich spüren und erkennen wir wohl: einen Glauben, der im Gegensatz zur wissenschaftlichen Forschung steht, können wir nicht mehr annehmen; denn hier muß die Seele auf den sichersten Grundlagen bauen können, die aller Prüfung standhalten. Auch hier konnte nur eine neue, umfassende Erforschung der Triebkräfte des religiösen Lebens Antwort bringen und feste Grundlagen schaffen. Aus Holzapfels Untersuchungen im „Welterlebnis", die die Hauptwurzeln und Antriebe ergründen, welche den Menschen gleicherweise zu kritischem Erkennen wie zur religiösen Hingabe an Unerwiesenes drängen, ergibt sich nicht nur eine völlig neue Einsicht in die Zusammenhänge dieser so oft widerstreitenden Seelenmächte; es zeigen sich vor allem auch die Wege einer unerwarteten Wandlung, einer grundhaften Neugestaltung der Beziehungen von Wissenschaft und Glauben. Die moderne Forschung, die die alten Glaubensinhalte auflöste, ist es zugleich, welche, z. T. dank vollkommenerer technischer Forschungsmittel, den Weg zu einem neuen, vollkommeneren und in der Erfahrung allseitig verankerten religiösen Weltbilde öffnen hilft. Kopernikus, der die Erde aus ihrer Zentralstellung entthronte, und Galilei, der mit dem neuerfundenen Fernrohr die Wahrheit des kopernikanischen Systems erwies, haben uns die Pforten in die unabsehbaren Ozeane der Himmelswelten aufgetan. Die Gewißheit sternendurchstrahlter, unermeßlicher Fernen, die Ahnung unfaßbarer, unerschöpflicher Systeme lebendiger Kräfte haben die kindlich engen Vorstellungen von himmlischen Sphären, die die Erde umkreisen, überwunden. Durch das Teleskop im Dienste des denkenden, forschenden Geistes ist der Seelenraum der Menschheit ungeahnt erweitert, von eng irdischen und anthropozentrischen Wertungen befreit worden. Der Flug in neue, unerforschte Geheimnisreiche wurde frei. Mehr denn je wendet sich heute die Sehnsucht der Menschen IIO

den Himmelsrätseln zu. Die Erde ist klein geworden, und wir fühlen deutlicher als je zuvor ihre Vergänglichkeit, die Unvollkommenheit ihrer Geschöpfe. Zweifelnd, suchend, hoffend erheben sich die Blicke zum gestirnten Firmament. Ruhig, in unwandelbarem gewaltigen Schweben und Kreisen ziehen die Milliarden Welten dahin, in unergründliches Geheimnisschweigen gehüllt. Ist es denkbar, daß die unerschöpfliche Fülle, die Himmelsraum über Himmelsraum, Sternenheer um Sternenheer erschuf, nichts Vollkommeneres hervorgebracht hätte als den Menschen auf seiner winzigen Erdeninsel ? Und wieder ist es das Auge der Forschung, das durch Wundergläser schauend, weiteren Grund legt zu neuem Welterleben. Das Mikroskop enthüllte den Aufbau des Lebens aus kleinsten organisierten Einheiten und zeigte das Gesetz der Abstufung alles Organischen, der stufenreichen Gliederung der lebendigen Systeme durch immer reichere Differenzierung und immer vollkommenere Harmonie der Teile. Über den bisherigen Formen des Lebens läßt dieses in der ganzen Natur wirkende Gesetz vollkommenere, andersartige, reicher begabte Wesenheiten ahnen. Unter anderen Bedingungen der Entwicklung, der immer höheren Gliederung, können und müssen lebendige Formen, beseelte Gestalten entstehen, die unsere höchste Erdenstufe, den Menschen, fast ebenso unabsehbar überragen wie die Unermeßlichkeit der Räume und Zeiten die Daseinsgrenzen unseres Planeten übersteigt. Haben die schaffenden Kräfte der Welt schon auf diesem verschwindenden Staubkorn des Kosmos eine so vielgestaltige Stufenreihe der beseelten Gebilde, von der Amöbe bis zum hochorganisierten Menschen, geschaffen — wie viel gewaltiger erst müssen die Wesen sein, die aus ungleich reicherem, mächtigerem Zusammenströmen der Kräfte, unter Bedingungen, deren Geheimnis und Gewalt wir nur ahnen können, entstanden sind und in den nie versiegenden Erneuerungsfluten der Ewigkeit unaufhörlich geboren werden 1 Wäre es nicht kindischer Aberglaube, zu denken, die Wunderkräfte der Ewigkeit hätten zu allen Zeiten und in allen Fernen nichts Höheres, Herrlicheres, Heiligeres und Schaffensmächtigeres zu erzeugen vermocht als den Menschen ? Nein, der Glaube an das Dasein und lebendige Wirken unabsehbar vollkommenerer, überirdischer Wesen, deren Vollendung selbst das sublimste Ahnen heiliger Menschen unerIII

meßlich überstrahlt — dieser Glaube steht nicht nur in keinem Widerspruch mit der objektiven Erkenntnis, er wird von ihr mit unausweichlicher Notwendigkeit gefordert. Die Werkzeuge der Forschung selbst sind es, die Kinder kühnen Suchergeistes und seiner Helferin, der Technik, die uns diesen Weg weisen; sie lügen nicht, Teleskop und Mikroksop, Spektralanalyse und Strahlenforschung. Immer deutlicher künden sie von den geheimnisvollen Zusammenhängen, die das kleinste Geschehen mit dem größten verbinden, die im Atom die Gesetze der Sonnenwelten erneuen, die unser enges Erdengefängnis mit Himmelskräften umweben und tragen, sein Leben geheimnisvoll wandeln und führen. Wenn es sich hierbei, wie bei jedem religiösen Verhalten um geglaubte Annahmen, nicht um beweisbare Tatsachen handelt, so stützen sich diese Annahmen auf eine Kette wissenschaftlicher Erkenntnisse, aus denen die hier angedeuteten Schlußfolgerungen sich zumindest zwingender ergeben als jedes andere religiöse Weltbild. Je höher eine Lebensmacht organisiert ist, je vollkommener ihre biologische und seelische Differenzierung, um so weiter reichen die Wellen ihres Schaffens, die Strahlen ihres Geisteswirkens. Vermag auf Erden das Forschen, Denken, Schauen eines großen Bahnbrechers auf Jahrhunderte und oft Jahrtausende hinaus Erkenntnis, Glauben, Erziehung und Arbeit ganzer Völker zu bestimmen, indem es erst die Führer, dann die breiteren Schichten erfaßt und schließlich selbst in jenen ein Lichtlein erglimmen läßt, die vielleicht nie ahnen, woher der zündende Funke kam — wieviel gewaltiger muß der Einfluß sein, der von unfaßbar vollkommeneren, höher organisierten Wesen ausgeht, deren innerste Seelenwelt reicher ist als das Leben einer ganzen Menschheit, die mit urmächtigem Erneuerungsverlangen das Leben ganzer Weltenbereiche umgestalten, Völker des Himmels wandeln. Nur die wenigsten Einwirkungen werden uns bewußt. Unsere spärlichen, kurzsichtigen Sinne dringen kaum in das Dunkel, in dem wir tasten, und ahnen nur weniges von den unermüdlich wirkenden, webenden Kräften, die uns umgeben, die uns ständig wandeln, Verjüngung und Vernichtung in ewig strömende Lebenssäfte tragend. Was ahnten unsere Vorfahren von den unsichtbaren Strahlen, die Erdgestein, Sonne und Sterne aussenden, die wir heute, ohne sie direkt zu fühlen oder zu sehen, doch kennen, und von denen 112

Wachstum und Bestand des Lebens so wesentlich abhängt ? Wäre es denkbar, daß Schaffen und Walten höchster Himmelsvollkommenheiten nicht auch auf unserer Erde, in der Menschenseele Ungeahntes wirken, unaufhörlich an der Entfaltung, Vervollkommnung der lebendigen Kräfte in einem jeden arbeiten ? Vermag uns schon ein einziger oft kaum erfaßter großer Gedanke, von einem unbekannten Samenkorn in unser Inneres getragen, für unser ganzes Leben zu ändern, wieviel größer muß die Macht der Wandlung sein, die vom stetigen, unbewußten Einfluß der Überirdischen ausgeht. Nicht von okkulten Wesen ist hier die Rede, sondern von etwas durchaus realem, das so natürlich ist wie die Tatsache der unwägbaren, unfaßbaren Strahlenkräfte der Sonne und Sterne, die doch da sind und Unersetzliches, Lebensnotwendiges wirken. Entspricht doch schon jedem Nervenprozeß ein noch kaum erforschtes kompliziertes Ausstrahlen zahlreicher elektrischer, magnetischer, also physischer Kräfte. Je höher eine biologische und geistige Lebensform, um so vollkommener und reicher sind auch die geistig-physischen Begleiterscheinungen ihrer Arbeit und ihre Fähigkeit, auf andere Systeme einzuwirken. So zwingen uns die Ergebnisse der Forschung, den Irrglauben an eine außerhalb der Welt stehende Allmacht, ein Transzendentes, „Absolutes" ebenso preiszugeben wie den Unglauben, die Leugnung jeder Himmelsvollkommenheit. Widerspricht der Allmachts- und Absolutheitsglaube der Erkenntnis von der Einheit aller Welten und vom Zusammenhang aller Dinge — der es ausschließt, daß es ein Bewirkendes „außerhalb" und unabhängig von allen Naturgesetzen gibt — so steht die rationalistische Ablehnung allen religiösen Glaubens nicht minder im Gegensatz zur Wissenschaft, die uns die Begrenztheit unserer Sinne und die Unermeßlichkeit, Unendlichkeit der Weltkräfte und ihrer Gestaltungsmöglichkeiten offenbart. An die Stelle eines Weltbildes, in dem der Mensch Vorzugsgeschöpf eines Demiurgen, eines Weltschöpfers war, und an Stelle der Leere reiner Negation tritt die Uberzeugung vom Dasein unabsehbarer Stufen und Grade der Vollkommenheit in Welt und Ewigkeit, welche in den Entwicklungsformen der Erde gleichsam ihr mikrokosmisches Abbild finden, und von deren Schaffen alle Dinge und Wesen der Erde, Mineralreich und Pflanze, Tier und Mensch gemäß der abgestuften Empfanglich113

keit und Differenzierung ihrer Organisierung in unterschiedlichster Macht und Intensität mitgestaltet werden. 2.

Jedem kraftvolleren religiösen Erleben ist das Verlangen eigen, des Daseins einer höchsten Vollkommenheit nicht nur gewiß zu sein, sondern diese auch in bildhaft reichen Gestalten zu schauen. Wenn auch die außerirdischen Kräfte in größtenteils unvorstellbarer Weise, uns gänzlich unbewußt, auf unser Nervensystem und unser seelisches Leben wirken, so kann doch deren Einfluß seine gesammeltste Macht nur gewinnen durch das gleichzeitige Einströmen ihrer ahnbaren Vollkommenheitszüge in unser waches Bewußtsein. Darum hat seit jeher das religiöse Sehnen bei dem bloßen Wissen um Ewigkeitsmächte, bei dem bloßen, „schlechthinnigen Abhängigkeits-" und Ewigkeitsgefuhl nicht haltgemacht, sondern ist zur Gestaltung anschaulicher Bilder höchster Vollkommenheit vorgedrungen. In Unkenntnis der wahren Zusammenhänge dieser bildhaften Vergegenwärtigung haben die Gläubigen dabei meist die teils innerlich erschauten, teils aus der Natur erschlossenen Merkmale der Gottheit mit dem göttlichen Wesen selbst identifiziert und sind dadurch der Dogmatisierung, der Unfehlbarkeitserklärung einmal gefundener Glaubensformen verfallen. Es ist auch hier wieder die forschende Erkenntnis, die die Seele von diesen Irrwegen der religiösen Phantasie befreit und sie einer organischeren und sicherer gegründeten religiösen Neugestaltungsarbeit zufuhrt. Die Psychologie der Repräsentation, die Holzapfel im „Welterlebnis" gegeben hat, läßt die schöpferische Funktion jener Seelenkraft erkennen, welche uns die Fähigkeit verleiht, aus dem Teil ein Ganzes, aus dem Zugänglichen ein Unzugängliches zu erschließen und stellvertretend zu vergegenwärtigen. In allem Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Schaffen, Lieben ist dieser Vorgang tätig, nur durch ihn wird es möglich, daß wir ein volles Wirklichkeitserleben, das Gefühl eines Ganzen haben, trotzdem uns unsere Sinne immer nur Ausschnitte, Einzelstücke aus einem großenteils verborgenen Mosaik übermitteln. Die Oberfläche des Steines vertritt uns dessen Gesamtkörper, das Antlitz oder die Worte eines Menschen geben uns die Empfindung, mit einem ganzen Menschen, einer seelischen Wirklichkeit verbunden zu sein, 114

obwohl diese unseren Sinnen großenteils ganz entzogen bleibt. Nirgends wirkt diese Gabe der Repräsentation so mächtig und weittragend wie in der Religion. In stellvertretenden Bildern, die zugleich Glieder eines geahnten Größeren sind, schenkt sie uns aus dem Erleben der zugänglichen Welt die Ahnung eines unzugänglichen Ewigkeitsgeschehens. Repräsentationen sind es, die unserer Seele die Schwingen verleihen, auf denen sie dem Höchsten entgegeneilt. Je vollkommener unsere Kenntnis der zugänglichen Welt, je umfassender wir ihre Gesetze ergründen, um so reicher, wahrer können wir die stellvertretenden Vorstellungen der Ewigkeit und ihrer höchsten Vollkommenheiten gestalten; so wie wir die uns unmittelbar nicht zugängliche Seele eines Menschen um so tiefer erfassen, je besser wir ihre Äußerungen in Wort, Gebärde, Tat kennenlernen. Die erforschbare Welt, ein winziger Ausschnitt aus der Ewigkeit und doch ihr lebendiges Glied, deren kleinem Bau jene ihre Spuren aufgeprägt, ermöglicht uns, wie aus einem uns zugewandten Angesicht, dessen Inneres wir nur erschließen können, die Beseelungsweisen der Ewigkeit zu erahnen. Damit wird die Forschung selbst, die Arbeit der Sinne und ihr immer vielseitigeres Erfassen der Welt zu einer unentbehrlichen Grundlage, zum Helfer und Förderer der religiösen Entfaltung. Je mehr aber diese in ihren stellvertretenden Vorstellungen des Ewigkeitsgeschehens auf objektiven Erkenntnissen ruht, um so fruchtbarer vermag sie durch ihre Ahnungen und Gesichte von bisher verborgenen Ewigkeitszusammenhängen den Forschergeist auf neue Bahnen zu leiten, ihm Perspektiven zu öffnen, durch die der Wissenschaft neue Probleme gestellt und unbekannte Arbeitsfelder erschlossen werden. Und die hier gewonnenen Erkenntnisse können wiederum das Samenkorn zu bahnbrechenden Erfindungen und Entdeckungen werden. In inniger Zusammenarbeit wirken so Glaube und Forschung daran, das Bild der Himmelsvollkommenheiten in Einklang mit der Erfahrung zu gestalten, und diese wiederum durch die neuen religiösen Ahnungen unaufhaltsam zu erweitern, der Naturforschung und Naturbeherrschung neue Wege zu öffnen. Das Bewußtsein, stellvertretende Vergegenwärtigungen, Teile, und nicht die vollen Wesenszüge der Höchsten selbst zu erleben, bewahrt einerseits vor einer dogmatischen Gleich" 5

setzung beider und macht zugleich die religiösen Inhalte einer unabsehbaren Wandlung und Vervollkommnung fähig; „das Festhalten an starr unveränderlichen, dogmatischen Glaubensbildern muß einer panidealistischen Religionskunst der freien Gestaltung weichen". (Welterlebnis II, S. 284.) Zugleich erfüllt aber die Überzeugung, daß die vorgestellten Merkmale der außerirdischen Wirklichkeit um so näher kommen, je vollständiger die Erkenntnisse der zugänglichen Welt berücksichtigt werden, mit dem Gefühl einer wirklichen Verbindung, und schenkt die Möglichkeit eines innigen religiösen Verkehrs mit den angebeteten Himmelsvollkommenheiten. In der kosmischen Schau, die im „Welterlebnis", aus der innigsten Gemeinschaft von wissenschaftlicher Forschung und religiösem Erweiterungsverlangen emporwächst, gestaltet Holzapfel den neuen Mythos, das stellvertretende Bild der höchsten uns ahnbaren Wesen der Ewigkeit, des Himmelsvollkommensten und seiner heiligsten Gemeinschaft. Das neue religiöse Empfinden verehrt in der Gestalt des „Wunderbaren" das vollkommenste unserem Geiste noch erahnbare Geschöpf unseres Weltbereichs. E s sieht in ihm die vollendetste Blüte der Geistesentfaltung, und zugleich der Welt erhabensten Wandler und Erneuerer. Von einer Gemeinschaft höchster Himmelswesen umgeben, wirkt er rastlos an der Vervollkommnung aller Stufen und Anlagen; er ist der mächtigste Neugestalter auch unseres irdischen Lebens, und alles Geschehen trägt, wo immer uns Edles, Reines und Hohes entgegentritt, die Spuren seines und seiner Himmelsgemeinschaft Wirken. Ihre Hilfe spenden sie uns nicht in rätselhafter Willkür, sondern im unaufhörlichen heiligen Streben nach Schutz und Förderung aller wertvollen und aufbauenden Kräfte der Welt. Die Wundermacht ihres Schaffens gibt sich nicht in künstlicher Durchbrechung der Naturgesetze kund, wie sie eingebildeter Menschenhochmut so oft kleinen Wünschen zuliebe von den alten Göttern erflehte. In der unbegreiflich gewaltigen, wenn auch nicht allmächtigen Beherrschung der Naturgesetze und deren kühner, unerwartet neuschöpferischer Anwendung äußert sich am eindringlichsten der Beistand des Wunderbaren und seiner Helfer. Darum sind sie auch den Menschen selbst die erhabensten Vorbilder in seinem eigenen Ringen um tiefere Naturerkenntnis und immer vollkommenere Naturbeherrschung zum Wohle der Menschen. 116

Je tiefer aber unsere Kenntnis der Weltzusammenhänge, je reicher unsere eigene Wandlungsarbeit in ihnen, um so klarer und herrlicher kann sich uns das geheimnisferne Antlitz des heiligsten Ewigkeitswesens offenbaren. Neues religiöses Schauen, menschheitskünstlerische Erneuerungsarbeit und naturerobernde Forschung verbinden sich hier zu einer unauflöslichen Einheit. Kühner und leidenschaftlicher als es der Erkenntnisdrang je bisher getan, verlangt dieser neue Glaube nach rastloser wissenschaftlicher Ergründung der Weltgesetze. Darum wird er auch in der Technik und in ihren Kräften unersetzliche Helfer und Freunde religiöser Vervollkommnung erblicken. So wie das Fernrohr und das Mikroskop uns die endgültige Befreiung vom alten dogmatischen Weltbilde erst ermöglichten, so werden sie, gemeinsam mit neuen, der Zukunft vorbehaltenen Erfindungen, uns machtvoll beistehen, um die Züge des neuen Weltbildes immer reiner, wahrer, vollendeter zu gestalten. „In dieser Hinsicht können wir die großen Kulturen der Vergangenheit, denen wir in so vielem nachstehen, himmelhoch übertreffen. Nicht nur haben uns geniale Forscher durch Entdeckung ewiger Gesetze den neuen Weg erschlossen. Sie haben uns endlose Heere von Himmelswelten, Lauf und Beschaffenheit so vieler Sterne, Leben und Wesen zahlloser Pflanzen und Tiere gezeigt und durch Erfindung des Teleskops und Mikroskops die Möglichkeit geschenkt, in die Ewigkeit des Weltalls und in Ewigkeiten fast unsichtbarer Stäublein des Lebens zu schauen. So können wir unsere Seele mit so vielen neuen Formen und Gestalten bevölkern, in den Abgrund des Tiefbewußtseins mikroskopische Welten einströmen lassen und niemals ohne jeglichen Trost und Ersatz nach einem großen Kunstwerk vergeblich Ausschau halten. Zu allen Zeiten bleibt der Schatz fast unsichtbarer Welten unerschöpft und kann immerdar und mühelos gehoben werden. W i e das F e r n r o h r , so wird auch das M i k r o s k o p zum heiligsten Rüstzeug der panidealistischen Religion gehören. Es wird unser Tiefbewußtsein unermeßlich bereichern und neue Knospen in Kunst und Religion treiben lassen, unsere Seele gleichsam mit unbekannten Schaffensinstinkten und schöpferischen Bewegungen zahlloser Lebewesen und Stoffe erfüllen. Wer ein Stücklein Staubfaden oder ein Fäserchen unter dem vergrößernden Zauberglas nur einmal gesehen, wem sich da die herrliche Märchenwelt aufgetan, Wunder auf Wunder "7

gehäuft hat, der wird niemals mehr an der Oberfläche der Dinge sein Genügen finden, ein ständiges Sehnen nach der Welt der Elfen wird ihn nicht verlassen". (Welterlebnis I, S. 32) Die technischen Werkzeuge der Forschung werden zum Mittel, um das Ahnen des Geheimnisses zu erweitern, sie werden zu Helfern der Meditation, die den Geist dem Angesicht der Vollkommensten entgegentragen. Nicht Jene nämlich, die von der Welt fast nichts wissen oder dem Schemen eines eigenschaftslosen Absoluten verfallen, die die Erkenntnis verachten und die Sinneserfahrung — sondern Jene, die am tiefsten in die Werkstatt der Natur eingedrungen sind, die ihr verborgenes Wirken am innigsten erlauschen, ihr Antwort um Antwort abringen — sie erleben am überwältigendsten die Unerforschbarkeit des Daseinsrätsels, in ihnen erblüht am reichsten die Ahnung des ewigen, unausschöpfbaren Geheimnisses der Ewigkeit, des Geheimnisses, das immer nur größer und erhabener emporwächst, je weiter der Lichtfunke der Erkenntnis dringt und dessen Gefühl nirgends so allgewaltig lebendig ist wie in der Seele des Himmelsvollkommensten selbst... 3Aus diesem neuen Glauben, der uns in der Natur das Wirken der Himmelshöchsten in neuer Weise ahnen läßt, wird auch das Verhältnis von Natur und Technik eine tiefe, befreiende Wandlung erfahren. Religiöses Empfinden, das den Menschen lehrte, in der Natur das Walten göttlicher Wesen zu verehren, bildete schon früh einen Schutz gegen allzu rücksichtslose und ernüchternde Zerstörung der Natur. Wie hat der buddhistisch vergeistigte Shintoglaube das Naturgefuhl des japanischen Volkes vertieft und in ihm eine religiöse Liebe zu Hügeln, Hainen und Blumen geweckt, welche die kraftvollste Quelle eines sorgsam beschützenden, im ganzen Volke lebendigen Hegens von landschaftlicher Schönheit, von Tieren und Pflanzen noch heute ist, der Ursprung der hohen gartenkünstlerischen Begabung der Japaner. Ahnlich entsproß dem von der taoistischen Naturmystik durchtränkten chinesischen Buddhismus eine verinnerlichte Naturverehrung, der wir nicht nur die Blüten ostasiatischer. Landschaftsmalerei verdanken, sondern die auch auf die künstlerische Landschaftsgestaltung tiefsten Einfluß übte. Und 118

das Christentum hat trotz seiner vielfach diesseits- und naturfeindlichen Richtungen das Wachstum einer religiös inspirierten Naturliebe, wie sie machtvoll in der franziskanischen Bewegung zum Ausdruck kam, nicht aufhalten können, und es selbst z. T. stark gefördert. Innigste Naturversenkving spricht aus der Ornamentik der mittelalterlichen Bauwerke und aus der fein einfühlenden Eingliederung von Klosterkirchen und Kapellen in die Landschaft. Freilich waren diese religiösen Antriebe nur in geringem Umfange und sporadisch mächtig genug, um gegen die Gewalt der utilitären Bedürfnisse und ihrer skrupellosen Naturausbeutung aufzukommen. Der Dualismus von Geist und Körper, der den meisten reiferen Religionen anhaftete, bewirkte zudem eine dauernde Schwankung in der Bewertung der Natur und schwächte den schützenden Einfluß des Glaubens. Vollends schwand dieser Einfluß aber mit der Entwurzelung der altreligiösen Impulse und mit der Verflachung des ästhetischen Empfindens, das damit einherging. Die Natur, entgeistet, dem Menschen fremd und tot, ohne Beziehung zum Schaffen einer höchsten Gottheit, war immer wehrloser rein egoistischen, von Gegenwartsbedürfnissen fast ausschließlich beherrschten ausbeuterischen Instinkten preisgegeben. Immer grausamer wurde der innere, komplizierte Haushalt der Natur mißachtet und durch einseitige Eingriffe zerstört. Mit dem Aufkommen der modernen Technik und dem rapiden Bevölkerungswachstum nahmen diese Eingriffe und Zerstörungen ein ungeahntes, verhängnisvolles Ausmaß an und wurden zu einer immer drohenderen Gefahr. Die kleine Schar derer, die seit geraumer Zeit mit schützendem Arm vor die bedrohten Reste urwüchsiger Natur sich stellt, fühlt sich nur zu oft machtlos vor der heranbrechenden Flut naturvergewaltigender Kräfte. Hat aber ihre Ohnmacht nichteinen tieferen, inneren Grund: Kranken nicht so viele Verteidiger der Natur an dem gleichen Übel, das die anderen zu gleichgültigen Verderbern der Natur gemacht hat — am Mangel eines religiösen, die Natur beseelenden Glaubens, der durch keine noch so aufrichtige, bloß ästhetische, ethische oder wissenschaftliche Liebe zur Natur ersetzt werden kann ? Auch ihnen birgt die Erde ja nicht mehr die Spuren einer höchsten vollkom1x9

mensten Macht, die dem Menschen in Blüte und Halm, in Hügel und Hain, in Sturm und Gewitter nahe ist. Es bedarf der Kraft eines neuen kosmischen Weltbildes, eines neuen religiösen Naturgefuhls, um im Verein mit einer von ihnen beseelten wissenschaftlichen Berücksichtigung der Naturzusammenhänge, einer immer umfassenderen Kenntnis des Naturhaushalts, die Grundlagen zu schaffen für einen großzügigen, vielseitigen Schutz gegen rohe Entstellung und Zerstörung. Das neue religiöse Empfinden ahnt in den Formen des irdischen Lebens das Schaffen geheimnisvoller Himmelswesen; je durchgeistigter und harmonisch reicher ein Naturgebilde ist, um so stärker wird es als Ausdruck solchen Wirkens erlebt. Gleich wie in rätselvollen Hieroglyphen kündet sich im Wunderbau der Blüte, im Strahlen des Kristalls, in Woge und Gebirge die Arbeit unfaßbarer, unergründlicher Meisterhände, erhabener kosmischer Künstler. Überall umgeben uns die Spuren einer außerirdischen Heimat, Ahnungen einer höheren Vollkommenheit. Wer dies einmal erfaßt, wer im Zittern eines Libellenflügels, im Schweigen der einsamen Firne das Wunder gespürt, den fernen Laut unaussprechlicher kosmischer Schöpfermacht vernommen — wie könnte er jemals mit frevler Hand leichtfertig zerstören nur um niedrigen Gewinns willen ? Und wenn einmal in neuen Menschen von Kind auf das Wissen um das Geheimnis der Himmelswalter lebt, dann werden sie nicht länger dulden, daß nüchtern rohe Zweckgier heiligstes Gut schändet. Hingabe und Andacht für die Werke der Höchsten werden die kraftvollsten Waffen eines leidenschaftlichen Schutzes der Edelgestalten der Natur werden. Sie werden auch der Technik neue Wege weisen. Menschheitskünstlerisches und neues religiöses Empfinden wird es der Ingenieurkunst zur Gewissenspflicht machen, die ästhetischen und religiösen Gefühle des Menschen gegenüber der Natur ebenso sorgsam zu schützen wie seine körperliche Sicherheit. Viele Mitarbeiter der Technik werden nichts anderem ihren Erfindergeist weihen als unaufhaltsam neue Mittel und Methoden zu finden, durch die die technischen Forderungen, welche ein unersetzliches Naturgut bedrohen könnten, in Einklang gebracht werden mit den religiösen und künstlerischen Wünschen. Es wird immer mehr eine wichtige Aufgabe der Biologie werden müssen, den Einfluß technischer Eingriffe auf die 120

Pflanzenwelt, auf Menschen und Tiere zu erforschen, so wie man heute etwa, durch die Wirkungen der Großstadtverhältnisse genötigt, die Wirkungen der Verkehrsgeräusche und der maschinellen Ausdünstungen ergründet und zu beseitigen versucht. Auch die Hygiene muß ihren Aufgabenkreis erweitern. Sie darf nicht vorwiegend nur das berücksichtigen, was die physische Gesundheit des Menschen unmittelbar beeinflußt. Sie wird auch die weitere Naturumgebung als Quelle wichtigster seelischer Einflüsse in Betracht ziehen müssen. Es muß bald ebenso selbstverständlich werden, eine arge Schädigung landschaftlicher Reize wenn nötig durch Zwangsmittel zu verhindern, wie man viel früher schon dazu gelangt ist, für die Sicherheit des Verkehrs und maschineller Betriebe bestimmte Forderungen aufzustellen. Sieht man es heute längst als selbstverständlich an, daß die ziemlich hohen Kosten dieser Maßnahmen — die zuerst als unnötiger „Luxus" und als Einschränkung der „Gewerbefreiheit" bekämpft wurden — teils durch Gemeinden und Staat, teils durch Private aufgebracht werden, so werden auch die Lasten eines der Gesamtheit dienenden Schutzes der Natur gegen mißbräuchliche Technik und Industrie getragen werden können. Es fehlt auch hier, wie meist in diesen Fällen, weniger an den Mitteln, als an der Erkenntnis der dringenden Notwendigkeit eines solchen großzügigen Schutzes. Der Kampf gegen die Verwüstung der Natur durch einen verantwortungslosen Mißbrauch der Technik muß heute mit aller Macht gefuhrt werden, soll nicht binnen kurzem Unersetzliches für alle Zeiten zugrunde gehen. So wie ein einziger Mensch mit Hilfe moderner Zerstörungsmittel leicht eine Kathedrale, das Werk von Jahrhunderten, vernichten kann, so vermag ein einziger rücksichtsloser Unternehmer heute mit den Mitteln der Technik eine ganze Landschaft, an deren Gestaltung Jahrtausende gearbeitet haben, in kürzester Zeit um alle ihre Schönheit zu bringen. In den meisten Fällen sind die Gesetze zu einem rechtzeitigen und wirksamen Schutz noch völlig ungenügend. Das ärgste Hindernis bildet die Gleichgültigkeit und Ahnungslosigkeit breitester Schichten und vieler wirtschaftlicher und politischer Führer; diese aber kann durch bloße Abwehr gegen zerstörende Eingriffe nicht beseitigt werden. Hier gilt es, von tieferen Wurzeln aus den Kampf zu führen. Es ist höchste Zeit, daß im Volke in breitestem Ausmaße ein ästhetisches GeIZI

w i s s e n — das mehr ist als bloßer Sinn für Schönheit — geweckt werde, das die Verletzungen des künstlerischen Empfindens ebenso entschieden verurteilt und ahndet, wie eine Mißachtung ethischer Grundgebote. Das Werden eines kraftvollen ästhetischen Gewissens hängt aber aufs innigste zusammen mit der Erneuerung des religiösen Fühlens durch eine Weltschau, die, wie hier dargetan, den Dualismus von Natur und Geist, der so viel zur Vernachlässigung der Natur beigetragen hat, durch das Bewußtsein der innigen Verbundenheit und Wechselwirkung beider überwindet. Schon jetzt sollte in der Erziehung der Techniker, Ingenieure, Unternehmer, Baumeister dieser Erweckung und Befestigung eines religiös verwurzelten ästhetischen Gewissens größte Beachtung geschenkt werden. Rücksichtslose Eingriffe moderner Technik sind fast immer mit wirtschaftlichen Erwägungen verknüpft. Um so wichtiger ist es, dem Volk und seinen Führern anschaulich zu machen, daß auch Naturschönheit, Adel und Unberührtheit einer Landschaft Güter von höchstem Werte für die Volksgesundheit und die seelische Verfeinerung der Menschen darstellen, und daß diese auf die Dauer von größerer Bedeutung auch für das wirtschaftliche Gedeihen sein können, als die Tagesvorteile so mancher industrieller Anlagen. Solange aber das Bewußtsein der Allgemeinheit dies noch nicht einzusehen vermag, ist es Aufgabe des Staates, für einen Schutz dieser Güter zu sorgen. Nicht nur der wirtschaftliche Besitz hat ein Recht auf Schutz, es gibt ein Mindestmaß an seelischen Ansprüchen — und dieses wächst mit dem Aufstieg der Kultur — , die ein Recht auf Wahrung haben. Dazu gehört das Erleben von urwüchsiger Naturschönheit. Noch hat die Erziehung wenig getan, um der Allgemeinheit, insbesondere den arbeitenden Schichten, zu Bewußtsein zu bringen, wie eng soziale Zustände und ästhetisches Empfinden — das Gegenteil eines müssig leeren und unfruchtbaren egoistischen Ästhetentums — verknüpft sind, und wie nur eine auch in ihrem religiöskünstlerischen Fühlen hoch entwickelte Gesellschaft eine höhere Stufe sozialer Gerechtigkeit und vertieften menschlichen Mitgefühls wird hervorbringen und erhalten können. In diesem Sinne hat die Kunstfeindlichkeit mancher großer ethischer und religiöser Bewegungen die soziale Hebung nicht wenig verlangsamt. Sie hat auch die erschreckende Gleich122

gültigkeit weiter Kreise gegenüber dem Schicksal der Natur mitverursacht. So wird eine im Dienste der Menschheitskunst und des neuen religiösen Fühlens stehende Technik nicht mehr der Feind, sondern die erfinderisch verschönende Helferin der Natur sein, rastlos bemüht, durch immer vollkommenere Mittel die Notwendigkeit, ins Antlitz der Natur sichtbar einzugreifen, auf ein Mindestmaß herabzusetzen. Was seit geraumer Zeit von einer kleinen Zahl einsichtiger, weitblickender Menschen erstrebt und da und dort in schönem Beginnen verwirklicht wurde, das muß und wird unter der Erneuerungsmacht des panidealistischen Glaubens und unter der Verantwortungsleidenschaft des neuen Gewissens zu einem immer gewaltigeren Strome neuen N a t u r f ü h l e n s anschwellen, aus dem Technik und Geistesleben gemeinsame Orientierung und unabsehbare Vervollkommnung, Erfrischung schöpfen. *

Immer reicher mit jedem neuen Schritt entfaltet sich die Synthese der Kräfte. Wo falsche Führung, einseitiges Streben bislang immer wieder Hemmung und Vernichtung des Besten gebracht, da öffnen sich weit und unabsehbar die Wege einer schöpferischen Einheit aller aufbauenden, lebenswichtigen Tendenzen. Kritische Wissenschaft und religiöse Hingabe, technisches Können und seelisches Gestalten, Erdverbundenheit und Himmelssehnen — sie sind nicht unversöhnliche Feinde, sie sind in ihrem tiefsten Streben auf das gleiche Ziel gerichtet. Je vollkommener Gewissen, religiöser Glaube, Kunst und Sozialgestaltung sich entwickeln, je mehr sie sich befreien von der primitiven Enge dogmatischer Ideale und subjektiver Willkür — um so mehr nähern sie sich in ihren Aufgaben, und um so hilfreicher tritt ihrem Wollen die Technik zur Seite, von ihnen sinnvoll geleitet und befruchtet. Technik und Kunst, Erkenntnis und Schöpfertum — sie sind Kinder der gleichen Seele, Ausdruck des gleichen Verlangens nach unaufhaltsamer Erneuerung, Bereicherung und Vergeistigung des Lebens. Gemeinsam nur können sie sich entfalten, keines darf zurückbleiben, soll nicht eine arge Störung sie alle bedrohen. Was wir heute in schmerzvoller, aufwühlender Krisis erleben, was ist es anderes als der instinktive Drang der Z b i n d e n , Technik und Geisteskultur.

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Seele, dieses seit Jahrhunderten gestörte Gleichgewicht wieder herzustellen und es zugleich auf festere Grundlagen denn je zuvor zu stellen ? Eine gewaltige Aufgabe ersteht hier, die nur in gemeinsamer Arbeit und in einem unentwegten vereinten Ringen, von den Männern der Wirtschaft und Technik und den Führern der Kulturerneuerung zusammen, gelöst werden kann. Nur das Eindringen des Geistes eines neuen, panideal orientierten Gewissens, Schaffens und Glaubens in alle Bereiche der Erziehung und Wirtschaft, des Staates und der Wissenschaft kann der Technik den Boden bereiten zu fruchtbarer, aufbauender Arbeit am Menschheitsganzen. Und nur die rastlose Vervollkommnung und Durchgeistigung der Technik und ihrer Verwendung kann diese gewaltige Erziehungsarbeit, die Befreiung immer größerer Volksschichten von materiellen und geistigen Fesseln verwirklichen helfen.

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Wir ahnen ein Geschlecht der Zukunft, kommende Reiche der Arbeit • . . Verschwunden sind von den Wohn- und Arbeitsstätten die grellen, lauten Zeugen, mit denen die Technik heute noch Landschaft und Städte verunstaltet. Lautlos, wiedererstandenen verborgenen Erdmännlein gleich, wirken die Zauberkräfte genial erfundener Werkzeuge. Gleich den Wurzeln der Bäume, die in rastloser Arbeit tief im nährenden Erdgrund Kräfte sammeln und sie den lichten Blüten und Blättern, den zarten Gebilden der Zweige zuführen, aber selbst unsichtbar bleiben, erzeugen sie unauffällig, kaum merkbar, tausendfaltige Güter. Die Kunst der Erfinder und Forscher hat die tobenden Fabrikungetüme besiegt, hat sie verwandelt, ihre Martern gehören einer barbarischen Vergangenheit an. Keine Schornsteine, keine rauchigen Gerüstgespenster, keine Hochspannungsleitungen entstellen das Land. Längst haben die Ingenieure die Mittel gefunden, diese Dinge, einstige Zeugen technischer Unbeholfenheit aus dem ersten Jahrhundert der Technik, entbehrlich zu machen. Viele der Werkstätten stehen inmitten großer Gärten und Parke, die schlichten edlen Formen ihrer Gebäude sind von mächtigen Baumkronen überwölbt. Ihr Inneres gemahnt oft mehr an Hallen und Kammern stiller Versenkung und künstlerischen Schaffens. Und während hier kaum hörbar gebändigte Kräfte surren, entfaltet sich an andern Stätten technischer Arbeit in voller Schönheit der Anblick einer immer kühneren und grandioseren Meisterung und Wandlung elementarer Naturkraft. Wo aber der Erfinderarbeit diese Läuterung der technischen Prozesse noch nicht gelungen, oder wo die Natur der Dinge selbst ihr unüberwindliche Hindernisse entgegenstellt, da wird durch Konzentration an bestimmten, geeigneten Stätten, an möglichst abgelegenen Stellen der störende Einfluß dieser technischen Vorgänge nach Möglichkeit gemildert. Denn nicht mehr 9*

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beugen sich die Forderungen der Seele den Ansprüchen der Maschine; die Menschen haben gelernt, die Güter des Geistes, das Verlangen nach innerer Sammlung, nach Verkehr mit der un2erstörten Natur, nach religiöser Andacht und künstlerischem Erleben vor den Zudringlichkeiten rein utilitärer Wünsche zu schützen. Darin erblickt der Staat sogar eine der wichtigsten Aufgaben in seiner Arbeit zum Schutze der seelischen und materiellen Güter seiner Angehörigen. Der grobe Rausch der Technik, der die Menschheit einst beherrscht, ist längst einem edleren, beherrschteren Verhältnis zur Maschine gewichen. Wie ein Künstler den Beschauer nicht unaufhörlich auf die technischen Erfordernisse hinweist, die zum Schaffen des Werkes nötig waren, sondern das formale Können möglichst vergessen läßt, so sieht die gereifte Technik es als ihr schönstes Vorrecht an, nach Möglichkeit dem Menschen, der sie nicht sucht, gar nicht zu Bewußtsein zu kommen, und zugleich wie ein unsichtbarer Geist ihm dienend jederzeit zur Seite zu sein*). Die Großstädte, unselige Kinder der anarchischen Anfänge der Technik, sind verschwunden. Die fortschreitende technische Vervollkommnung selbst ist es, die zu ihrer Auflösung geführt hat. Die Möglichkeiten des raschen Fernverkehrs und der Fernverständigung haben die unnatürlichen Menschenanhäufungen überflüssig und sinnlos gemacht. W o Sammlungsstätten für große Menschengruppen entstehen, da entspringen sie nicht den blind waltenden Kräften einer ungeregelten Spekulation und Wirtschaft, sondern bewußtem Wollen im Dienste und zur Verwirklichung geistiger Aufgaben. Wenn auch die Maschine im sozialen Ganzen eine große Aufgabe und Bedeutung hat, so bewirkt doch die intensivere geistige Entfaltung, die Hinlenkung des Augenmerks zahlreicher Menschen vor allem auf die Werte und den Ausdruck des inneren Lebens, daß Viele den Errungenschaften der Technik für ihr persönliches Leben meist eine periphere Aufmerksamkeit schenken. Wer dauernd und mit großer Hingabe geistigen Dingen zugewandt ist, verzichtet lieber auf manche Vorteile der *) Vgl. hierzu den Aufsatz von E r w i n H a u s h e r r „ N a t u r s c h u t z und T e c h n i k " , (Schweizerische Blätter für Naturschutz, Basel, Heft 2, Jahrgang 1932), in welchem dieses Unsichtbarwerden der Technik als eine ihrer vornehmsten Aufgaben überzeugend und anschaulich dargestellt ist.

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Technik, solange er sie durch Preisgabe anderer ihm wichtigerer Güter, wie Abgeschiedenheit, Stille, Versenkung, Konzentration, Unabhängigkeit, erkaufen müßte. Weit von jeder Verachtung oder auch nur Geringschätzung dessen, was die Technik ihm an Hilfe und Erleichterung bietet, und sie je nach Bedarf gerne bis zu ihren letzten Errungenschaften benützend, ja selbst an ihrem Ausbau tätig Anteil nehmend, wird er sich doch ihr gegenüber eine Souveränität wahren, die ihn gegen die Übergriffe einer rein materiellen Zivilisation feit. Industrie, Handel, Wirtschaft nehmen nicht mehr den Hauptraum des sozialen Lebens und Schaffens ein. Andere, heute noch sehr kleine und an die Peripherie des Lebens gedrückte Arbeitsbereiche sind zu zentralen Großgebieten des Lebens angewachsen, um die das gesamte Schaffen kreist, von denen auch das materielle Leben seine Direktiven empfängt und in die alles Streben mündet: Felder der vorwiegend geistigem Aufbau dienenden Arbeit, der Forschung, der Kunst, Erziehung und Menschenbildung, der religiösen Arbeit und Andacht. Was heute den meisten als das Wichtigste erscheint, als die allein geltende „Realität" —Handel, Wirtschaftspolitik, Finanzwesen — ist verblaßt vor den wesentlicheren Realitäten des seelischen Lebens und der unabsehbaren Fülle von Formen und Gestalten, in denen sich dieses sichtbar auswirkt und durch die es dem sozialen Leben, dem gesellschaftlichen, baulichen, landschaftlichen Gesicht der Staaten das entscheidende Gepräge gibt. Hier ist die Technik kein Fremdkörper mehr, kein Störer der Kräfteharmonie, sie ist auch nicht unterdrückt, sondern hat ihre natürliche organische Eingliederung gefunden. Das Problem Technik und Kultur ist gegenstandslos geworden. Das Antlitz der Erde, das einst, unter den rohen Griffen der Maschine aufgestört, zerwühlt und ernüchtert den Menschen ansah, leuchtet wieder in edlen, reinen Formen ... Und während im Stillen, Verborgenen Millionen von Rädern sausen, in den Tiefen der Erde und an abgelegenen Stätten Zauberkräfte das Dasein der Menschheit in heute unvorstellbarer Fülle sichern helfen — entfalten sich in nie gekannter Kraft und Freiheit uralte Träume der Menschheit zu vollem Leben. In Auen und Wäldern, an lichten Ufern und auf ein127

samen Inseln, in abgeschiedenen Tälern und Gebirgen erblüht das Leben neuer Gemeinschaften; im Schöße der „Völker des Geistes" wird ein Schaffen geboren, das die Fesseln des harten Daseinskampfes abgestreift hat und von dem die Male der Sklaverei getilgt sind. Die unerschöpflichen Äcker der Seele haben ihre Furchen geöflhet. Nachdem die Menschen Jahrtausende hindurch all ihr Mühen nur darauf richten mußten, der feindlich-wilden Erde mühselig ihr Brot abzuringen, können die befreiten Kräfte sich nunmehr der höheren Aufgabe zuwenden: Saaten eines neuen Geisteslebens zu säen, immer neue Blüten und Haine in den Gärten der Seele zum Wachstum zu bringen und zu hegen. Was einst nur wenigen vorbehalten blieb, das erfüllt nun als Hauptinhalt das Leben Ungezählter. Und diesen Aufgaben dient auch die Natur, dient die Arbeit, die das Dasein zu erhalten hat. Das altgeheiligte Schaffen der Hirten und Bauern empfangt eine neue, ungeahnte Weihe. Es wird Symbol und sinnenhafte Vorstufe geistiger Pflüger- und Sämannsarbeit. Ihre einfachen altgewohnten Verrichtungen umstrahlt die Kraft einer neuen Lichtwelt und verleiht allem eine ahnungsreiche tiefere Deutung. Nicht mehr gedrückt in harter Fron, zu der das anarchisch zerklüftete Wirtschaftsleben die Tätigkeit des Landmannes immer mehr entstellt und entwürdigt hatte — sondern im Bebauen der Erde ein ursprüngliches religiöses Verlangen stillend, findet das Sehnen nach Naturverwurzelung großer Menschenscharen hier beglückende Erfüllung. Aus diesem neuen Verhältnis zu Natur und harter Ackerarbeit erblühen neue Kulte und Andachtsformen. Alles, was im Naturleben durch seine Unberührtheit, durch sein stilles, unmerkliches Wirken wie durch die Gewalt urmächtiger Wandlung und Erschütterung im Menschen religiöse Stimmung zu erwecken vermag, findet hier, an Stätten der Andacht und religiösen Naturverehrung, mannigfaltiges Sinnbild. In den prophetischen Bildern seiner Dichtung läßt Holzapfel diese Welt neuer Gemeinschaften vor uns erstehen. Es weht aus ihnen der Hauch eines neuen Lebens, dessen machtvoll geahnte Formen und Gestalten nach und nach unser Dasein im Sinne dieser Visionen umgestalten können und müssen. Denn nur aus dem lebendigen Erschauen eines neuen Zustandes 128

unseres Lebens, neuer kommender Organisationsformen der Gesellschaft entspringen die Kräfte, die fähig sind, die Gegenwart zu wandeln. Pflug und Sense, Spindel und Webstuhl sind hier nicht die Symbole einer engen, neuem Fühlen und Wagen sich verschließenden Welt. Wie die Werkzeuge moderner Forschung, sind auch sie die Sinnbilder eines kühnen Pionierwillens, der aus den Ackerbreiten der Seele immer neue, herrlichere Früchte holt, der aus den Fäden der Erkenntnis immer vollendetere Gewebe dichterischen und mythischen Schauens zaubert. So breitet sich in unendlichem Reichtum auf dem Boden einer durch die Hilfe der Technik gewaltig erweiterten Daseinssicherung das Leben geistiger Gruppen, in denen bisher kaum gekannte, im Lebenskampfe unterdrückte Erlebniskeime und verborgenste Sehnsüchte des inneren Lebens sich voll und unbehindert entfalten. Was früher nur als zage Regung, als ahnendes Träumen ohnmächtig ans Licht drängte — unter den Schlägen eines rücksichtslosen Ringens Aller gegen Alle meist früh zermalmt — das kann nun mächtiger Erlebnisstamm werden, der die Äste und Zweige ganzer Gemeinschaften trägt und nährt. Liebe zu einzelnen Bereichen und Gestalten der Natur — zu Wasser und Gestein, zu Pflanzen und Vögeln, zu Heimat und Sternen — wird Keim ebenso vieler Gruppen und religiöser Kulte, in denen der Strahl der Hingabe an die Himmelshöchsten sich in ungezählten Facetten bricht. Und so erfahren auch die Großgebiete menschlichen Schaffens, Erziehung, Kunst, Forschung eine Ausgestaltung, die frühere Geschlechter für undenkbar hielten, eine Differenzierung und machtvolle Zusammenfassung, wie sie nur dank der sich vervielfachenden Arbeit von Menschen, die früher ihre besten Anlagen in einem einseitigen Berufe kaum entwickeln konnten, möglich ist. Einer jeden Teilaufgabe seelischer Erneuerungsarbeit erwachsen Führer, Pioniere, Gruppen, die in religiösem Gemeinschaftsleben dem erwählten Ziele dienen*). *) In seiner Dichtung wollte Holzapfel verschiedenartigste solcher Gruppen in ihrem individuellen Leben, ihrer Gemeinschaftsarbeit, in ihren Kulten, Bauwerken, ihren Gestaltern und Kämpfern schildern. Es sind nur die Anfänge zu drei Gemeinschaften: dem Volk der heiligen Natur, den Brüdern und Schwestern der heiligen Sterne, und den Brüdern und Schwestern der heiligen Geheimnisse in ihrer ersten Niederschrift erhalten. Der Tod verwehrte Holzapfel die Ausführung der weiteren Arbeit. 129

Gemeinschaften des heiligen Kindes, denen die Erforschung und Führung der Kindesseele zum Mittelpunkte ihres Erlebens und zum Hauptdome ihrer Verehrung des Wunderbaren wird... Gemeinschaften des heiligen Geheimnisses, die die Formen der Geheimnisgefiühle im Menschen und ihre Bedeutung fvir die religiöse Entfaltung ergründen und neue Wege des Geheimniserlebens suchen ... Gemeinschaften der heiligen Kunst, die nicht nur in künstlerischen Schöpfungen bisher kaum haschbaren Träumen und Ahnungen Gestalt verleihen, sondern die auch rastlos die verborgenen Zusammenhänge der menschlichen Arbeit selbst erforschen und dem Schaffen neue Aufgaben zeigen. Unabsehbar hat sich der Baum schöpferischen Menschheitslebens verzweigt, Gemeinschaften der heiligen Selbstaufopferung, der heiligen Ehe, des heiligen Gewissens, der heiligen Sehnsucht, der Suche, des heiligen Leidens, der Erneuerung... Und wie dieser Reichtum der Gruppen und Ziele durch das irdische Panideal der menschheitskünstierischen Arbeit geleitet und zur Harmonie verbunden wird, in deren Dienst das Schaffen der Forscher und Seher, der Künstler und Erzieher, der Baumeister und Landschaftsgestalter und der Heere ihrer unbekannten Helfer steht — so sammeln die Bilder einer neuen Ewigkeitsahnung die tiefste Erlösungssehnsucht der Völker. Und sie läutern sie zur mächtigen Flamme, die von den Altären einer gewandelten Erde emporlodert und die Seelen zum Höchsten hinaufträgt... Diese Insel der Seligen, diese Eilande und Haine einer erneuerten Menschheit — sie schweben nicht unerreichbar in einer jenseitigen Welt. Wir können und müssen zu ihnen gelangen, wir werden ihre Vollendungswege beschreiten. Viele Kräfte müssen dazu helfen; eine unter ihnen ist die Technik. Geleitet von einer verjüngten Kunst, von einem neuen Glauben, einer der Seelenerneuerung dienenden Forschung, wird sie helfen, die Pfeiler zu legen, auf deren unsichtbarer, gebändigter Kraft die lichten Dome des neuen Lebens sicher ruhen und ihre Kuppeln zum Himmel heben werden.

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Der Weltsinn der Technik

als Schlüssel zu ihrer Kulturbedeutung.

Von Paul Krannhals. 221 Seiten. 8°. 1932. Brosch. M. 6.50, in Leinen gebunden M. 7.80. Eugen Diesel an den Verfasser: Ich möchte Ihnen nur kurz jetzt schon sagen, daß ich den Eindruck einer außerordentlichen Leistung habe und daß Sie die Aufgabe, eine Philosophie der Technik zu geben, bisher relativ wohl am vollkommensten gelöst haben. Deutsche Zeitung: Ein unerhört kluges Buch, das sich zum Ziel gesetzt hat, den Sinn und das Wesen der Technik herauszuschälen und einzuordnen in die Ganzheit der Welt.

Der kapitalistische und der technische Mensch Von Heinrich Hardensett. 128 Seiten. 8°. 1932. Brosch. M. 3.50. Prof. Dr. E. Spranger an den Verfasser:... Es hat mir im Grundgedanken •wie in der Durchfuhrung einen starken Eindruck gemacht... Wenn es überhaupt möglich ist, den technischen Menschentypus als selbständige Lebensform zu erweisen, so ist das bei Ihnen unübertrefflich geschehen... Kölnische Volkszeitung: Hardensetts Werk ist mehr aufzeigende Schau als lindernde Abhilfe jener Not, in die heute Kultur und Wirtschaft verstrickt sind. Diese Schau ist prachtvoll farbig; sie redet innig, bald vom Mitleid gebannt, bald von heilendem Willen beflügelt.

Kulturphilosophie Von Alois Dempf. 148 Seiten. Gr.-8°. 1932. Kart. M. 6.30. Das neue Buch: Die noch umkämpfte und sich neu erst bildende Disziplin der Kulturphilosophie festigt sich hier zur kritisch überschauten Wissenschaft, mit ihrem letzten Ziel — lebendiges Verstehen der Gesamtkräfte des Kulturganzen. In umfassender geschichtlicher Entwicklung wird die Entstehimg des Kulturbegriffes verdeutlicht, wie anderseits die „Vorgeschichte einer kritischen Kulturphilosophie" in der durch (Aufklarungs-) Vernunfts- und Wirtschaftsvormacht nacheinander einseitig bedingten Geschichtsphilosophie und Soziologie des frühen und des späten 19. Jahrhunderts. Natur und Kultur: Es ist erstaunlich, mit welch intuitiver Gestaltungskraft Alois Dempf auf 148 Seiten die Riesenwelt der Kultur in ganz neues Licht rückt und diese von der Welt des Geistes und der Natur abgrenzt.

R. OLDENBOURG • M Ü N C H E N 32 UND BERLIN