SzenoTest: Pre-, Re- und Enactment zwischen Theater und Therapie [1. Aufl.] 9783839430163

Practices of reenactment, of reconstructing and anticipating future events, play a key role in many cultural fields. Thi

195 58 44MB

German Pages 256 Year 2014

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

SzenoTest: Pre-, Re- und Enactment zwischen Theater und Therapie [1. Aufl.]
 9783839430163

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Johann Christian Reil
Szenische Darstellungen im psychotherapeutischen Behandlungszimmer
Soul-Staging: Der Scenokasten und die systemische Therapie
Auftritt der Toten. Formen des Pre-, Re- und Enactments in der Geschichte der Theatrotherapie
Philippe Pinel
Schauplätze der Kur. Räume und Objekte in Breuers und Freuds Studien über Hysterie (Anna O. ..., Katharina...)
Zu Wort kommen – ›Echte Geschichten‹ und ›echte Menschen‹ auf der Bühne
Josef Breuer
Jakob Levi Moreno
Spektakuläre Fälle
An Arena In Which To Reenact
Über Bühnen- Und Gesellschaftsspiel. Auf Den Spuren Diderots
Fritz Perls
Bert Hellinger
Agon Und Agonie. Das Theatrale Opfer
Hoffmann&Lindholm Im Gespräch Mit Céline Kaiser:Vom Nutzen flüchtiger Erscheinungen und zukünftiger Ereignisse«
Diese Zukunft Heißt Ü70-Party. Zukunftsszenarien Als Performative Praxis Im Theater Mit Kindern
Bloomsday – Beim Begehen Der Orte Privater Odysseen Wieder Aufblühen
Andreas Spohn
Biobibliographische Angaben
Impressum

Citation preview

SzenoTest Pre-, Re- & Enactment zwischen Theater und Therapie

Inhalt Seite

Céline Kaiser Vorwort

4

13

Ulrich Streeck Szenische Darstellungen im psychotherapeutischen Behandlungszimmer

16

Katja Rothe Soul-Staging: Der Scenokasten und die systemische Therapie

28

Céline Kaiser Auftritt der Toten. Formen des Pre-, Re- und Enactments in der Geschichte der Theatrotherapie

44

59

Ingo Uhlig Schauplätze der Kur. Räume und Objekte in Breuers und Freuds Studien über Hysterie (Anna O. ..., Katharina...)

64

Stefanie Husel Zu Wort kommen – ›Echte Geschichten‹ und ›echte Menschen‹ auf der Bühne

82

JOHANN CHRISTIAN REIL

PHILIPPE PINEL

97

JOSEF BREUER

102

JAKOB LEVI MORENO

Seite

Nicolas Pethes Spektakuläre Fälle

106

Sven Lütticken An Arena in Which to Reenact

116

Heiner Wilharm Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel. Auf den Spuren Diderots

144

170

FRITZ PERLS

174

BERT HELLINGER

Ralf Bohn Agon und Agonie. Das theatrale Opfer

178

Hoffmann&Lindholm im Gespräch mit Céline Kaiser »Vom 

Nutzen 

flüchtiger 

Erscheinungen 

 und zukünftiger Ereignisse«

202

Eva Plischke Diese Zukunft heißt Ü70-Party. Zukunftsszenarien als performative Praxis im Theater mit Kindern

208

Andreas Spohn Bloomsday – beim Begehen der Orte privater Odysseen wieder aufblühen

228

241

Biobibliographische Angaben

246

Impressum

254

ANDREAS SPOHN

4

Hier steht die Kapitelüberschrift

SzenoTest Ein Vorwort Céline Kaiser

Céline Kaiser

5

Ausgangspunkte Im November 2012 wurde in der Ständigen Vertretung in Dortmund eine Ausstellung eröffnet, die sich unter dem Titel »SzenoTest« mit szenischen Therapieformen seit dem 18. Jahrhundert beschäftigte. Diese Ausstellung war das Ergebnis eines Lehrprojekts, das an der Fachhochschule Dortmund im 

Fachbereich 

Design 

seinen 

Ausgang 

nahm. 

Studentinnen 

der 

Studiengänge 

Film, 

Fotografie, 

Grafik 

 sowie Raum- und Objektdesign arbeiteten über einen Zeitraum von drei Jahren immer wieder zusammen, um anhand von Fallgeschichten aus gut zweihundert Jahren Psychotherapiegeschichte die Bedeutung von Zeit- und Raumverhältnissen für szenische Therapiemodelle selbst wiederum szenisch zu erforschen. Der 

vorliegende 

Band 

wirft 

einen 

›modellhaften‹ 

Blick 

in 

exemplarische 

Kulissen 

der 

Geschichte 

der 

 Psychotherapie und dokumentiert zugleich Stationen des Entstehungsprozesses von »SzenoTest«. Darüber hinaus greift er in einer Reihe von wissenschaftlichen Beiträgen sowie einem Interview mit dem Autoren- und Regieduo Hofmann&Lindholm historische und systematische Fragen auf, die sich stellen, wenn 

man 

auf 

das 

Verhältnis 

von 

Pre-, 

Re- 

und 

Enactment 

zwischen 

Theater 

und 

Therapie 

reflektiert. Welche Einblicke eröffnen sich, wenn man die Begegnung von Arzt und Patient, von Analytiker und Analysand, 

 von 

 Therapeut 

 und 

 Gruppe 

 als 

 ein 

 Aufführungsgeschehen 

 betrachtet, 

 das 

 sich 

 in 

 seiner 

 grundlegenden 

Dramaturgie 

und 

Szenographie 

beschreiben 

lässt? 

Wie 

blickt 

man 

auf 

die 

Geschichte 

 der Psychotherapie, wenn man sie, wie Michel Foucault in seinen Vorlesungen zur Macht der Psychiatrie vorschlug, als Szenen analysiert – als Szenen, die, anders als Foucault dies meinte, auch eine durchaus theatrale Seite haben?1 Was tut man, wenn man szenische Interventionen, wie sie seit dem 18. Jahrhundert in der Psychotherapie eingesetzt und getestet wurden, selbst wiederum einem SzenoTest unterzieht, in welchem sie als szenische Praktiken vorgeführt und im Rahmen ihrer jeweiligen Settings verortet werden? Wenn man sie aus dem Zusammenhang von klinischen Lehrbüchern und Fallstudien, in dem sie festgehalten, sozusagen wörtlich – im Modus der Einschreibung – szenographiert wurden, herauslöst und stattdessen in ästhetische Kontexte ein- und überführt? Fragen wie diese 

spielten 

gleichermaßen 

im 

Produktionsteam 

wie 

für 

die 

›flankierende‹ 

und 

kritisch 

hinterfragende 

 künstlerisch-wissenschaftliche 

 Reflexion 

 und 

 Forschung2 eine Rolle, die in Form einer ersten Modellausstellung, in Präsentationen, Vorträgen und auf Workshops zum Zuge kam. 1 2

Michel Foucault, Macht der Psychiatrie, Frankfurt am Main 2005, S. 23. Meine Forschungsarbeit zu den »Szenen des Subjekts. Kulturmediengeschichte der Theatrotherapie um 1800– 1900–1970/2000« wird seit Ende 2007 von der VolkswagenStifung gefördert. Für die Auswahl medizinhistorischer Quellen und die Formulierung medienwissenschaftlicher Fragestellungen bildete mein Fellowship eine wichtige Grundlage 

für 

das 

Projekt 

»SzenoTest«. 

Allerdings 

stellte 

sich 

schnell 

ein 

wechselseitiger 

Lernprozess 

ein, 

durch 

 den meine eigene medien- und wissenschaftshistorische Forschung nachhaltig beeinflusst wurde.

Vorwort

6

Die zweifache Aufgabe des vorliegenden Bandes ist es also, einerseits einen Eindruck von jenem Prozess 

zu 

vermitteln, 

der 

unter 

dem 

Titel 

»SzenoTest« 

begonnen 

und 

ein 

vorläufiges 

Ende 

gefunden 

hat, 

 und 

andererseits 

einen 

Reflexionsraum 

für 

wissenschaftliche 

Auseinandersetzungen 

mit 

Fragen 

des 

 Pre-, Re- und Enactments zwischen den Bereichen von Kunst, Theater und Therapie zu eröffnen. Pre-, Re- und Enactments zwischen Kunst, Theater und Therapie Letzteres mag erstaunen: Schaut man auf die kultur-, theater- und medienwissenschaftlichen Forschungs-, Tagungs- und Publikationsaktivitäten der letzten Jahre, wird schnell deutlich, dass das wissenschaftliche Interesse an Phänomenen des Reenactments seit einigen wegweisenden Ausstellungen und Katalogbänden wie A Little Bit of History Repeated (Berlin 2001)3, History will repeat itself (Dortmund, Berlin 2007)4 und Life, Once more (Rotterdam 2005)5 ungebrochen anhält und auf diese Weise alte Fragen zur Thematik der Wiederholung oder neuere zu den ›Kulturtechniken des Mimetischen‹ 

(wieder) 

beflügelt 

hat. 

Der 

Blick 

richtet 

sich 

dabei 

zumeist 

auf 

Strategien 

des 

Reenactments 

in 

 künstlerischen Kontexten, deren »Entstehungsherde«, wie jüngst im Sammelband Reenacting History: Theater & Geschichte 

von 

Günther 

Heeg 

beschrieben, 

als 

populärkulturelle 

Praktiken 

des 

Nachstellens historischer Ereignisse oder als eine kritische Auseinandersetzung mit der Performancekunst und 

 -theorie 

 des 

 20. 

 Jahrhunderts 

 identifiziert 

 werden.6 Wir freuen uns, dass wir einen grundlegenden Text zu diesem Thema, Sven Lüttickens eingehende Darstellung über die Entwicklung des Reenactments aus der Modernen Kunst und Alltagskultur des Nachstellens, An Arena in Which to Reenact, in deutscher Übersetzung in diesen Band aufnehmen durften. Doch Praktiken des Reenactments sind auch in einer Reihe weiterer kultureller Kontexte relevant und profilieren 

 sich 

 somit 

 jenseits 

 der 

 Performancekunst 

 und 

 der 

 Hobbyistenkultur 

 aus 

 anderen 

 Praxen 

 und Kulturtechniken; einzelne Publikationen gehen der Beziehung zwischen Reenactments und der christlichen Tradition des Abendmahls oder aber der Bedeutung von Formen der Reinszenierung in der Rechtsprechung nach.7 Auch in dem hier betrachteten Bereich der Psychotherapie, den man 3 4 5 6 

 7

A Little Bit of History Repeated, Ausst.-Kat. Kunst-Werke Berlin, hg. von John Bock, Tania Bruguera, Jens Hoffmann, Berlin 2001. History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactments in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance, Ausst.-Kat. 

Rotterdam, 

hg. 

von 

Inke 

Arns, 

Gaby 

Horn, 

Frankfurt 

am 

Main 

2007. Life, Once More. Forms of Reenactment in Contemporary Art, Ausst.-Kat. Rotterdam, hg. von Jennifer Allen, Sven Lütticken, Rotterdam 2005. Günther 

 Heeg, 

 »Reenacting 

 History: 

 Das 

 Theater 

 der 

 Wiederholung«, 

 in: 

 ders., 

 Micha 

 Braun, 

 Lars 

 Krüger, 

 Helmut 

 Schäfer (Hg), Reenacting History: Theater & Geschichte, Berlin: Theater der Zeit, Recherchen 109: 2014, S. 11. Hier sind etwa der Aufsatz von Alexander Schwan, »Jesus reenacted. Authentizität und Wiederholung im Abendmahl«, in: Uta Daur (Hg.): Authentizität und Wiederholung. Künstlerische und kulturelle Manifestationen

Céline Kaiser

7

gemeinhin scharf gegenüber dem Feld künstlerischer Praxis abgrenzt, spielen Reenactments eine Rolle. Jene Modelle des künstlerischen Reenactments, welche auf eine detaillierte, historisch genau 

 arbeitende 

 Reinszenierung 

 vergangener 

 Schlüsselszenen 

 der 

 (kollektiven) 

 Geschichte 

 abheben, 

 stehen also selbst in einem grundsätzlichen Verhältnis zu denjenigen Praxen therapeutischer Inszenierung, welche mit Mitteln des Reinszenierens, des Nachstellens und der Vorwegnahme antizipierter Ereignisse arbeiten. Dies gilt vornehmlich dort, wo mit Hilfe des Re- und Preenactments eine Transformation, eine Umschreibung der Ereignisse im Sinne einer Neuausrichtung oder Korrektur der Wahrnehmung oder ähnliche Effekte angestrebt werden.8 Dieser Befund war ein Impuls für die Zusammenarbeit mit dem für Reenactments wie »Die letzten Tage der Ceausescus« (2009/10), »Hate Radio« (2011/12) und zuletzt »Die Moskauer Prozesse« (2013) bekannt gewordenen Regisseur Milo Rau und dem Dramaturgen Jens Dietrich, die im Rahmen von zwei Workshops stattfand. Nähe und Ferne therapeutischer und künstlerischer Reenactments sollten hier ebenso beleuchtet werden wie die 

Möglichkeit, 

mit 

Hilfe 

von 

Reenactments 

selbst 

etwas 

über 

die 

szenische 

Seite 

der 

Geschichte 

der 

 Psychotherapie zu erzählen und spielerisch erfahrbar zu machen. In 

 der 

 Geschichte 

 der 

 Psychotherapie 

 wurde 

 und 

 wird 

 re- 

 und 

 pre-enacted 

 und 

 vermehrt 

 in 

 den 

 letzten 

 Jahren über die theoretische und methodische Bedeutung von Enactments in der therapeutischen Beziehung 

reflektiert. 

Dabei 

sind 

durchaus 

semantische 

Differenzen 

in 

der 

Begriffsverwendung 

festzustellen; 

 auch sind die Bezugsgrößen der reinszenierenden Verfahren selten von überindividueller Tragweite oder gar einem größerem Publikum zugänglich. Dennoch gibt es Ähnlichkeiten, die eine nähere Betrachtung lohnen. So erschien es als sinnvoll und vielversprechend, den Dialog mit klinischen Praktikern zu suchen und die Frage des Reenactments im Rahmen metatheoretischer Debatten der Psychoanalyse der letzten Jahre 

zu 

reflektieren. 

Beides 

war 

im 

Kontext 

der 

Ausstellung 

ansatzweise 

möglich: 

durch 

das 

Gespräch 

mit 

 Besuchern, die größtenteils aus der psychotherapeutischen Praxis kamen, und vor allem mit Hilfe des Eröffnungsvortrags des Klinikers Ulrich Streeck, der in den letzten Jahren die theoretische und methodische Reflexion 

von 

Formen 

der 

Reinszenierung 

im 

Verhältnis 

zwischen 

Psychotherapeut 

und 

Patient 

für 

den 

 deutschsprachigen Raum maßgeblich vorangetrieben hat.9 Anhand von konkreten Interaktionssequenzen beobachtet er Szenische Darstellungen im psychotherapeutischen Behandlungszimmer und verdeutlicht auf diese 

Weise 

die 

stets 

wechselseitigen, 

interaktiven 

Handlungsebenen 

im 

therapeutischen 

Geschehen.

8 9

eines Paradoxes, Bielefeld 2013, S. 255–271, sowie Cornelia Vismanns Analyse der Medien der Rechtsprechung, Frankfurt am Main 2011, zu nennen, die sich wesentlich auf Verfahren der Reinszenierung bezieht. Beispielsweise ist hier an Reenactments wie das Milgram Re-enactment von Rod Dickinson (2002) oder The Battle of Orgreave von Jeremy Deller aus dem Jahre 2001 zu denken. Ulrich Streeck (Hg.), Erinnern, Agieren und Inszenieren, 

Göttingen 

2000; 

ders., 

Auf den ersten Blick. Psychotherapeutische Beziehungen unter dem Mikroskop, Stuttgart 2004; ders. und Michael Ermann, Gestik und die therapeutische Beziehung, Stuttgart 2009.

8

Vorwort

Aus 

einem 

ähnlichen, 

durch 

praxeologische 

Ansätze 

der 

Soziologie 

und 

Erving 

Goffmans 

Interaktions- 

 und Rahmentheorie geprägten Hintergrund geht die Theaterwissenschaftlerin Stefanie Husel der Inszenierung von Fällen von der anderen Seite nach, nämlich derjenigen der theatralen Kunstpraxis. Dabei nimmt sie vor allem zeitgenössische Theaterformate in den Blick, die mit »echten Menschen« und »wirklichen Fällen« spielen, und fragt danach, auf welche Weise es diesen kommunikativ gelingt, dennoch 

einen 

theatral-ästhetischen 

Rahmen 

zu 

definieren, 

in 

welchem 

sich 

letztlich 

alle 

Akteure 

im 

 ›sicheren Rahmen‹ des ›Als-ob‹ bewegen können. Auch Heiner Wilharm nähert sich dem Spannungsfeld von Mimesis und Repräsentation in seinen Reflexionen 

Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel. Auf den Spuren Diderots. Dessen Paradoxe sur le comédien wird zum Ausgangspunkt genommen, um den auch für Praktiken des Reenactments virulenten 

Komplex 

von 

Simulation 

und 

Dissimulation, 

von 

Szenographie 

und 

Szenifikation 

zu 

reflektieren. Dagegen befragt Ralf Bohn therapeutische Szenen und theatrale Heilungserwartungen aus der Perspektive einer psychoanalytischen Medienwissenschaft. Agon und Agonie. Notizen zu einer theatralen Opferlogik – der Titel umreißt bereits Ausgangs- und Fluchtpunkt seiner kritischen Erörterungen, welche die Szene nicht aus einem geschützten Raum des ›Als-ob‹, sondern aus einer tiefgreifenden Agonalität heraus denkt und – in Auseinandersetzung mit antiker theatraler Praxis – auf eine inhärente Verschiebungs- und Opferlogik hinweist. Szenische Forschung im Maßstab 1:12 oder »Theater im Modell« Wie die Anspielung im Titel schon nahe legt, griff die Ausstellung auf ein Modell zurück, das als Testverfahren in der Psychotherapie vor allem bei Kindern und Jugendlichen eingesetzt wird, auf den sogenannten 

Scenotest 

von 

Gerdhild 

von 

Staabs, 

mit 

dem 

sich 

auch 

der 

Beitrag 

 Soul-Staging: Der Scenokasten und die systemische Therapie von Katja Rothe auseinandersetzt. Im Scenotest werden die Probanden aufgefordert, mit vorgegebenen Materialien (Bauelementen, Puppen, Figuren) auf einer Spielplatte eine Szene aufzustellen. Aufbauprozess und Ergebnis werden dabei als Testergebnisse ausgewertet. Dieses aufgreifend, sollten die Szenenmodelle der Ausstellung den Besucher mit Hilfe 

 von 

 Spielfiguren 

 und 

 Toneinspielungen, 

 die 

 über 

 Kopfhörer 

 korrespondierende 

 Fallgeschichten 

 hörbar machten, zum Nachspielen der jeweiligen Szene im Maßstab 1:12 einladen.

»›Ich habe mit meinen Studenten das unternommen, was ich historische Inszenierungen nennen möchte‹«, hat Albert Köster seine theaterwissenschaftliche Methode der Rekonstruktion um 1900 benannt. Wie Köster mit seinen Studenten habe ich mit ›meinen Studentinnen‹ in »akribischer Lek-

Céline Kaiser

9

türe […] Bild- und Textquellen ergänzt, analysiert und interpretiert« und wie angehende Architekten »am Reißbrett und am Modell den Bau eines Bühnenbildes, das […] An- und Übersicht des Raumes ermöglichen soll«, (re-)konstruiert. Auch unser Interesse war es, mit dem »Blick auf das Modell einer Bühne […] die gegenständlichen Bedingungen des Theaterraumes und den Ablauf der Aufführung vorstellbar und in Miniatur nachvollziehbar [zu machen]. Mit Figuren und Requisiten [wurde] das Geschehen 

gleichermaßen 

nachgestellt 

und 

eingeholt 

– 

in 

das 

Modell 

hineingeholt.«10 Auch für unser Verständnis kommt der Szenographie, den Bühnenräumen der therapeutischen Szenen, eine wichtige Bedeutung zu: Diese sind einerseits konkrete Architektur und Objekt-/Kulissenwelt, die 

historische 

Situationen 

der 

Geschichte 

der 

Theatrotherapie 

charakterisieren. 

Andererseits 

geben 

 sie in ihrer Form allgemeine Strukturen vor, z. B. wie viele Akteure an einer Szene teilnehmen, welche Funktion sie in dieser einnehmen können sowie deren generelle Möglichkeiten, zu handeln und das Geschehen 

 zu 

 beobachten. 

 Der 

 Arzt 

 kann 

 für 

 den 

 Patienten 

 etwa 

 ein 

 sichtbares 

 Gegenüber 

 sein, 

 mit dem er sich direkt auseinandersetzen muss, oder aber hinter dem Sichtfeld des Patienten verschwinden bzw. von vornherein als geheimer Regisseur der Szene unsichtbar bleiben. Der Zuschauerraum kann von der Bühne klar getrennt sein oder es können Übergänge zwischen beiden Sphären angelegt oder die ›Bühne‹ schlicht in der Alltagswelt des Patienten lokalisiert sein. Die Bühne kann auch 

doppelt 

medial 

markiert 

werden, 

indem 

der 

Aktionsraum 

eines 

Gruppentherapiesettings 

zugleich als Raum einer Videoaufzeichnung markiert ist und genutzt wird. Die räumlichen Parameter der therapeutischen Bühne und die mit ihnen gesetzten strukturellen Vorentscheidungen geben in hohem Maße vor, was in der therapeutischen Szene wahrnehmbar ist. Die Art und Weise, in der sich die 

 Akteure 

 einer 

 Szene 

 durch 

 Mimik, 

 Gestik, 

 Stimm- 

 und 

 Körperlichkeit, 

 Blickführung, 

 technischen 

 Medieneinsatz und Sprache zueinander verhalten und mit- oder gegeneinander agieren, erzeugt innerhalb 

dieses 

Rahmens 

eine 

spezifische 

Atmosphäre. 

Diese 

Atmosphäre 

ist 

ein 

wichtiger 

Ausgangspunkt für Anamnese und Therapie des Patienten und war von daher auch für unsere exemplarischen Fallstudien interessant. Doch anders als in Isa Wortelkamps kritischem Rückblick auf die frühen theaterwissenschaftlichen Bemühungen um eine historische Aufführungsanalyse vergangener Inszenierungen ging es uns letztlich nicht darum, »Inszenierungen«, »wie sie nachweisbar zur Zeit ihrer Entstehung wirklich vor sich gegangen«11 waren, zu dokumentieren oder die therapeutischen Begegnungen als solche wieder auferstehen zu lassen. Trotz aller offensichtlichen Nähe des Verfahrens zur »Sherlock Holmes-Kunst der historischen Kritik« (Max Herrmann) wollten wir die historistische Schlagseite reinszenierender 10 11

Isa Wortelkamp, Schreiben mit dem Stift in der Hand, Freiburg 2006, S. 63 f. Ebd.

10

Vorwort

Verfahren nicht noch einmal überbieten, sondern vielmehr in einer Serie von Modellen und Szenenaufbauten, 

 von 

 Miniatur-Reenactments, 

 Theaterspiel 

 und 

 Kurzfilmen 

 eine 

 strukturelle 

 Auseinandersetzung mit therapeutischen Rahmungen, Zeiten und Räumen ermöglichen und auf diese Weise den Blick auf die Heterogenität szenischer Arrangements und therapeutischer Settings freigeben. Angezettelt werden sollte auf diese Weise ein mehrfaches Spiel mit jenen Topoi einer Metaphysik der Präsenz, welche die Diskurse über künstlerische Reenactments ebenso wie viele therapeutische Inszenierungen prägen. Denn in letzteren wird die »Verlebendigung des ›toten‹ Vergangenen«, die »Vergegenwärtigung« 

vergangener 

Szenen, 

die 

Günther 

Heeg 

als 

Belege 

für 

das 

Wiederaufleben 

der 

 Klaviaturen des Historismus im Diskurs über Reenactments beschrieben hat,12 strukturell und leitmotivisch aufgegriffen. Prominent ist hier das Diktum Sigmund Freuds, das die Notwendigkeit der Übertragung für den psychoanalytischen Prozess herausstreicht, der angewiesen ist auf eine Form der 

Wiederbelebung 

vergangener 

emotionaler 

Besetzungen, 

auf 

»Neuauflagen, 

Nachbildungen 

von 

 […] Regungen und Phantasien«13 in der Beziehung zum Analytiker, damit diese im Zuge der Analyse als Übertragungen kenntlich gemacht und depotenziert werden können: »denn schließlich kann niemand in absentia oder in 

effigie erschlagen werden«.14 Das Konzept der Übertragung wurde von Freud bereits in den Studien zur Hysterie eingeführt, mit denen sich die eingehende Lektüre von Schauplätzen der Kur von Ingo Uhlig auseinandersetzt. Freuds Fallgeschichte der Katharina wird dabei mit Josef Breuers Anna O. zusammengelesen und die Funktion von Objekten und szenischen Anordnungen für die raum-zeitliche Architektur und deren komplexe Wiederholungsstruktur offengelegt. Die Wiederbelebung von Toten oder vielmehr Untoten ist in diesem Sinne ein Topos nicht nur des Historismus und aktueller populärer Reenactment-Kulturen, sondern in hohem Maße auch der dynamischen Psychotherapie. Nicolas Pethes folgt der Spur der Wiederbelebung von Toten in seiner literaturwissenschaftlichen Analyse Spektakulärer Fälle. Anhand von Texten Edgar Allan Poes und Samuel Warrens nimmt er rhetorische 

Inszenierungen 

an 

der 

Grenze 

zwischen 

Leben 

und 

Tod 

in 

den 

Blick 

und 

fragt 

danach, 

auf 

 welche Weise sich Literatur und Wissenschaft zwischen der Konstruktion spektakulärer Sonderfälle und wissenschaftlichen Normdiskursen hin und her bewegen.

12 Heeg, »Reenacting History», S. 11. 13 

 Sigmund 

Freud, 

»Bruchstücke 

einer 

Hysterieanalyse« 

(1905), 

in: 

ders., 

Gesammelte 

Werke, 

Band 

V, 

S. 

279. 14 

 Sigmund 

 Freud, 

 »Zur 

 Dynamik 

 der 

 Übertragung« 

 (1912), 

 in: 

 ders., 

 Gesammelte 

 Werke, 

 Band 

 VIII, 

 S. 

 364–374, 

 hier: S. 374.

Céline Kaiser

11

Wie ich in meinem Beitrag zum Auftritt der Toten argumentiere, lassen sich an dem Leitmotiv der Wiederbelebung Formen des Pre-, Re- und Enactments in der Geschichte der Theatrotherapie unterscheiden. 

Diese 

generieren 

nicht 

nur 

spezifische 

Zeitverhältnisse, 

sondern 

ihnen 

korrespondieren 

in 

 der therapeutischen Praxis auch unterschiedliche Szenenräume. Die so erzeugte Wechselbeziehung von 

Raum- 

und 

Zeitstruktur 

wird 

anhand 

von 

Geistergeschichten 

seit 

dem 

17. 

Jahrhundert 

schlaglichtartig beleuchtet. Mit Fragen nach dem Verhältnis von Pre- und Reenactment beschäftigt sich darüber hinaus nicht nur das 

 Gespräch 

 mit 

 dem 

 Regieduo 

 Hofmann&Lindholm, 

 das 

 unter 

 dem 

 Titel 

 »Vom 

 Nutzen 

 flüchtiger 

 Erscheinungen und zukünftiger Ereignisse« geführt wurde, sondern auch der Beitrag von Eva Plischke. Sie diskutiert anhand der szenischen Projekte Before Your Very Eyes der Performancegruppe Gob Squad (2011) und Junges Institut für Zukunftsforschung (2013), das sie selbst mit Hamburger Schülerinnen und Schülern zwischen 10 und 16 Jahren durchgeführt hat, das komplexe Verhältnis zwischen Performance und Zukunftsprognose, welches sich im Zusammenhang mit szenisch-medialen Techniken zur Darstellung von Zukunftsszenarien entfaltet und ausstellt. Während die Textbeiträge des Bandes Fragen nach Formen und Praktiken des Pre-, Re- und Enactments 

 immer 

 wieder 

 weiten 

 und 

 Gemeinsamkeiten 

 und 

 Differenzen 

 zwischen 

 künstlerischen 

 und 

 therapeutischen Inszenierungen ausloten, konzentriert sich der Katalogteil des Bandes ganz auf die Exploration 

von 

Raum- 

und 

Zeitstrukturen 

in 

der 

Geschichte 

szenischer 

Therapieformen. Die Auswahl der Szenen und damit der Ausstellungsstationen von »SzenoTest« gehorchte weder einer anerkannten 

Geschichtsschreibung 

der 

Drama- 

und 

Theatertherapie, 

noch 

behauptete 

sie, 

Meilensteine der klinischen Psychotherapie oder Diskursstifter theatraler Therapieformen zu versammeln. Sie erfolgte vielmehr zum einen im szenischen Forschungsprozess durch die Studierenden selbst, die sich im Zuge der Arbeit ganz pragmatisch und nach eigenen Interessen für eine Fallgeschichte entscheiden mussten. 

 Zum 

 anderen 

 richtete 

 sich 

 unser 

 Interesse 

 darauf, 

 möglichst 

 signifikante 

 szenische 

 Arrangements 

aufzugreifen 

– 

gleichgültig, 

wie 

fiktiv 

oder 

durchschlagend 

sie 

auf 

die 

weitere 

Geschichte 

der 

 Psychotherapie gewirkt haben. So ist eine Reihe von sieben Ausstellungsstationen entstanden, die sich mit Fallgeschichten und szenischen Modellen von Philippe Pinel, Johann Christian Reil, Josef Breuer, Jakob Levi Moreno, Fritz Perls, Bert Hellinger und Andreas Spohn auseinandersetzten. Diese Auswahl erschöpft die zugrunde liegende Fragestellung selbstverständlich keineswegs; unser Wunsch wäre es, dass sie Anregungen gibt für weitere SzenoTests und performative Explorationen des Verhältnisses von Ärzten und Patienten, Analytikern und Analysanden, Therapeuten und Klienten.

12

Vorwort

Danksagungen Schlussendlich ist nach einer langen Produktions- und Redaktionszeit einer Vielzahl von Menschen Dank auszusprechen: Dank für Impulse und Anregungen, Dank für engagierte Mitarbeit und Kritik, Dank 

 für 

 konkrete 

 Unterstützung 

 – 

 materielle 

 wie 

 immaterielle 

 - – 

 und 

 Dank 

 für 

 Nachsicht, 

 Geduld, 

 kühlen Kopf in hektischen Zeiten. Mein Dank gilt besonders den Studierenden der FH Dortmund, welche 

die 

Ausstellung 

maßgeblich 

gestaltet 

(und 

auch 

fotografisch 

dokumentiert) 

haben: 

Lioba 

von 

 Hardenberg, Victoria Waldhausen, Sandra Cvitkovac, Nadine Isabell Kipka, Linda Appelhans, Magda Semrau, Friederike Sommer, Isabelle Marohn und Ninja Schmaling. Für ihren klaren Kopf und Unterstützung aller Art danke ich Stefanie Husel, die uns als Produktionsassistentin durch die letzten Wochen begleitet hat, unserer Praktikantin Elisabeth Hensges, die sich als großes Talent in der Handhabung von Papiertheatern entpuppte, Milo Rau und Jens Dietrich für ihren Einsatz und ihr offenes Ohr für 

Gestaltungsfragen, 

dem 

Chefdramaturgen 

Michael 

Eickhoff 

und 

dem 

Theater 

Dortmund 

für 

ihre 

 Unterstützung, 

dem 

Sammler 

Christian 

Gramatzki 

für 

seine 

kostbare 

Leihgabe 

einer 

antiken 

Puppenstube und Reinhild Kuhn und Marc Röbbecke von der Ständigen Vertretung/Heimatdesign Dortmund, für technische Hilfestellung und vor allem dafür, dass sie uns kostenlos ihre Ausstellungsräume zur Verfügung gestellt haben. Für das Lektorat danke ich Reiner Raffelt. Ohne die Hilfe meines Mannes hätte es SzenoTest nicht geben können. Mein 

 Dank 

 gilt 

 auch 

 der 

 Rheinischen 

 Friedrich-Wilhelms-Universität, 

 Bonn, 

 ohne 

 deren 

 finanzielle 

 Unterstützung und verwaltungstechnische Begleitung das Ausstellungsprojekt nicht hätte umgesetzt werden können. Namentlich möchte ich hier Jürgen Fohrmann, Elfriede Döring, Hildegard Orth hervorheben sowie Rainer Kolk erwähnen, ohne den ich nie von der Existenz von Anreizmitteln erfahren hätte. Weiterhin danke ich der Fachhochschule Dortmund, die sich für die Finanzierung des PinelFilms engagiert hat und das Ausstellungsprojekt auf vielfache Weise unterstützt hat. Dem transcript Verlag, 

 insbesondere 

 Frau 

 Tönsing, 

 Herrn 

 Wierichs 

 und 

 Herrn 

 Kuralt, 

 danke 

 ich 

 für 

 ihre 

 flexible 

 und 

 freundliche Begleitung der Drucklegung dieses Bandes. Ohne die VolkswagenStiftung – und zwar besonders durch Anja Fließ und Kristina Baae-Lorenz – und ihre langjährige Förderung hätte es weder die Workshops und Vorträge noch diesen Band gegeben. Der offenen und hilfsbereiten Unterstützung durch das Team der VolkswagenStiftung möchte ich daher mit Nachdruck meinen Dank aussprechen.

Johann Christian Reil

[1803] Sandra Cvitkovac (Phase 1), Céline Kaiser (Phase 2)

Johann Christian Reil Sandra Cvitkovac Johann Christian Reil wurde 1759 in Rhaude bei Aurich in Ostfriesland als Sohn eines Pfarrers geboren. Er studierte Medizin und war als Medizinprofessor, Direktor des Klinikums und Stadtphysikus in Halle tätig. Persönlich im engen Kontakt mit Zeitgenossen wie Goethe, Wilhelm von Humboldt und Wilhelm Grimm war er auch weit über Halle hinaus wissenschaftlich hoch angesehen. Er starb 1813 an Typhus, nachdem er sich federführend um die Versorgung der Verletzten der Befreiungskriege in Leipzig und Halle gekümmert hatte. Stark von aufklärerischen und romantischen Ideen geprägt, schrieb er 1803 seine Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethoden auf Geisteszerrüttungen, eine nicht durch psychotherapeutische Praxis, sondern vielmehr durch ihren spekulativ-philosophischen und programmatischen Charakter geprägte Schrift. In Reils psychiatrischer Anstalt der Zukunft wird von allen an der Therapie Beteiligten ein hohes Maß an Kreativität gefordert. Es

soll auf den psychisch Erkrankten mit psychischen Mitteln eingewirkt werden. Der Patient wird im Zuge seiner Behandlung in immer neue Szenerien versetzt, die ihn von einer anfänglichen totalen Unterwerfung unter das Anstaltsregime Schritt für Schritt wieder zu einem handlungsmächtigen Subjekt machen sollen. Reil schlug vor, dass jedes »Tollhaus« ein »besonders eingerichtetes, durchaus praktikabeles Theater haben könnte, das mit allen nöthigen Apparaten, Masquen, Maschinerien und Decorationen versehen wäre. Auf demselben müszten die Hausofficianten 

 hinlänglich 

 eingespielt 

 seyn, 

 damit sie jede Rolle eines Richters, Scharfrichters, Arztes, vom Himmel kommender Engel, und aus den Gräbern wiederkehrender Todten, nach den jedesmaligen Bedürfnissen des Kranken, bis zum höchsten Grad der Täuschung vorstellen könnten. Ein solches Theater könnte zu Gefängnissen und Löwengruben, zu Richtplätzen und Operationssälen formirt werden. Kurz der Arzt würde von demselben und dessen Apparat nach den individuellen Fällen den mannichfaltigsten Gebrauch machen, die

Ursprünglich 

hatte 

die 

Fotografiestudentin 

Sandra 

Cvitkovac 

eine 

Fotoinstallation 

zu 

Reils 

Rhapsodien entworfen, die aufgrund äußerer Umstände nicht realiesert werden konnte. Für SzenoTest wurde 

stattdessen 

eine 

fiktive 

Fallgeschichte 

von 

Reil 

als 

Papiertheaterstück 

inszeniert.

Phantasie mit Nachdruck und dem jedesmaligen Zwecke gemäsz erregen, die Besonnenheit wecken, entgegengesetzte Leidenschaften hervorrufen, Furcht, Schreck, Staunen, Angst, Seelenruhe u.s.w. erregen und 

 der 

 fixen 

 Idee 

 des 

 Wahnsinns 

 begegnen können.« Die ganze Therapie, wie Reil sie für einen fiktiven 

Patienten 

entwirft, 

beruht 

in 

hohem Maße auf dem Einsatz szenischer Mittel, die diesen zunächst aus seinen Wahnwelten aufschrecken lassen, in szenische Arrangements als passiven Zuschauer verstricken sollen und ihn einer wahren 

 Bilderflut 

 aussetzen, 

 um 

 ihn 

 später dazu zu nötigen, selbst Akteur innerhalb der therapeutischen Inszenierung, handelndes Subjekt zu werden.

Szenische Darstellungen im psychotherapeutischen Behandlungszimmer Ulrich Streeck

Ulrich Streeck

17

In Zusammenhang mit der Psychoanalyse1 von Szenen, Inszenierungen und Darstellungen zu sprechen mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen. Immerhin hatte Freud2 betont, dass die Psychoanalyse 

ein 

Gespräch 

sei 

und 

im 

Behandlungszimmer 

nichts 

anderes 

vorgehe 

als 

ein 

›Austausch 

 von Worten‹: In der analytischen Behandlung geht nichts anderes vor als ein Austausch von Worten zwischen dem Analysierten und dem Arzt. Der Patient spricht, erzählt von vergangenen Erlebnissen und gegenwärtigen 

Eindrücken, 

klagt, 

bekennt 

seine 

Wünsche 

und 

Gefühlsregungen. 

Der 

Arzt 

hört 

zu, 

 sucht 

die 

Gedankengänge 

des 

Patienten 

zu 

dirigieren, 

mahnt, 

drängt 

seine 

Aufmerksamkeit 

nach 

 gewissen Richtungen, gibt ihm Aufklärungen und beobachtet die Reaktionen von Verständnis oder Ablehnung, 

welche 

er 

so 

beim 

Kranken 

hervorruft 

... 

Das 

Gespräch, 

in 

dem 

die 

psychoanalytische 

 Behandlung besteht, verträgt keine Zuhörer; es läßt sich nicht demonstrieren.3 Vermittelt 

über 

ein 

Gespräch 

– 

ein 

Gespräch 

besonderer 

Art 

– 

sollte 

der 

Patient 

verdrängte 

Erfahrungen 

 erinnern, 

 sich 

 vom 

 Bewusstsein 

 ferngehaltene 

 Wünsche 

 und 

 Gefühle 

 eingestehen 

 und 

 auch 

 verpönte 

Fantasien 

und 

Gedanken 

zulassen 

können. 

Zu 

diesem 

Zweck 

sollte 

der 

Patient 

alles 

aussprechen, was immer er bei und an sich bemerkte, während er sich auf der Couch liegend in Anwesenheit des Psychoanalytikers, der außerhalb seines Sichtfeldes saß, selbst beobachtete; er sollte aber nicht handeln, nicht agieren: Der Kranke spricht ähnlich wie im Traume den Ergebnissen der Erweckung seiner unbewußten Regungen 

Gegenwärtigkeit 

und 

Realität 

zu; 

er 

will 

seine 

Leidenschaften 

agieren, 

ohne 

auf 

die 

 reale 

Situation 

Rücksicht 

zu 

nehmen. 

Der 

Arzt 

will 

ihn 

dazu 

nötigen, 

diese 

Gefühlsregungen 

in 

 den Zusammenhang der Behandlung und in den seiner Lebensgeschichte einzureihen, sie der denkenden Betrachtung unterzuordnen und nach ihrem psychischen Werte zu erkennen. Dieser Kampf zwischen Arzt und Patienten, zwischen Intellekt und Triebleben, zwischen Erkennen und Agierenwollen spielt sich fast ausschließlich an den Übertragungsphänomenen ab.4 1

2 3 



4 



Im Folgenden lasse ich den klinisch relevanten, aber für die Zwecke dieser Arbeit peripheren Unterschied zwischen Psychoanalyse und Psychotherapie weitgehend außer Acht. Soweit von Psychotherapie die Rede ist, ist damit durchweg analytische Psychotherapie gemeint. Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/17), Frankfurt a. M. 1969, S. 43. Wahrscheinlich 

hat 

Freud 

den 

Gesprächscharakter 

des 

Geschehens 

im 

Behandlungszimmer 

betont, 

um 

sich 

 vor Unterstellungen und unlauteren Verdächtigungen zu schützen, mit denen der Psychoanalyse zur damaligen Zeit nicht ganz selten begegnet wurde. Sigmund 

Freud, 

»Zur 

Dynamik 

der 

Übertragung«, 

in: 

Sigmund 

Freud, 

Gesammelte 

Werke, 

VIII, 

1912, 

Frankfurt 

 a. M., S. 374.

18

Szenische Darstellungen im psychotherapeutischen Behandlungszimmer

Der Analytiker seinerseits war gehalten, sich darauf zu beschränken, dem Patienten dann, wenn er dafür aufnahmebereit zu sein schien, zu sagen, wie er die unbewusste Bedeutung seiner Mitteilungen verstand. 

Darüber 

hinaus 

sollte 

der 

Analytiker 

sich 

aber 

jeder 

Einflussnahme 

enthalten 

und 

schon 

 gar nicht handeln. Lange Zeit war in der Psychoanalyse die Auffassung vorherrschend, dass Handeln und Erinnern einander ausschließen und Handeln das Erinnern verhindert, somit auch jenes Handeln, das im Dienst von Darstellungen und Inszenierungen steht. Indem der Patient handelte oder agierte, so die damalige Überzeugung, vermied er, sich erinnern zu müssen. Der Begriff ›Agieren‹ wurde dabei in zweierlei Bedeutung 

 verwendet: 

 zum 

 einen 

 im 

 Sinn 

 eines 

 Verhaltens, 

 mit 

 dem 

 der 

 Patient 

 Zuflucht 

 zu 

 motorischen Aktionen nahm und mittels ›motorischer Abfuhr‹ gleichsam erledigte, was er doch erinnern sollte, zum anderen im Sinn von Aktualisieren in der Übertragung. Aktualisieren in der Übertragung meinte, dass der Patient mit seinem an motorisches Verhalten gebundenen Handeln frühere Beziehungserfahrungen 

in 

der 

Beziehung 

zum 

Analytiker 

neu 

auflegte 

und 

so 

wieder 

aktuell 

werden 

ließ. Die 

Vorstellung, 

die 

mit 

dem 

Gegensatz 

von 

Erinnern 

und 

Bewusstwerden 

auf 

der 

einen 

Seite, 

Handeln und motorischem Verhalten auf der anderen verbunden war, hat Renik 5 kritisch ein ›protoneurologisches Modell‹ genannt. Damit werde, so Renik, der Zusammenhang von unbewussten Wünschen und 

motorischem 

Handeln 

nach 

dem 

Muster 

eines 

Reflexbogens 

konzipiert: 

Unbewusste 

Wünsche 

 verhalten sich wie Impulse, die entweder einen efferenten Weg von zentral nach peripher einschlagen und in motorisches Verhalten oder Agieren münden, oder sie verlaufen, unterstützt durch das Couchsetting, in afferenter Richtung, stimulieren den sensorischen Apparat von innen her und führen zu 

Wünschen, 

Gefühlen 

und 

Fantasien. 

Ist 

der 

psychische 

Apparat 

eines 

Patienten 

wenig 

strukturiert, 

 können diesem Modell zufolge Impulse nicht psychisch verarbeitet werden, sondern werden motorisch abgeführt. Ist der psychische Apparat demgegenüber entwickelt, können Impulse psychisch verarbeitet und müssen nicht motorisch abgeführt werden. Folgerichtig haftete Agieren, das mit motorischem Verhalten einhergeht und das vermeintlich gegen das Erinnern gerichtet war, lange Zeit eine pejorative Bedeutung an. Weil es gegen das Erinnern und Bewusstwerden und damit gegen die Ziele der Behandlung gerichtet war, galt es, dieses Agieren nach Möglichkeit zu unterbinden. Anders Agieren im Sinne von Aktualisieren in der Übertragung: Indem der Patient Aspekte von Beziehungserfahrungen, die ins Unbewusste abgedrängt und aus seinen sprachlichen Mitteilungen nicht oder nur bruchstückhaft zu rekonstruieren waren, im Verhältnis zum5

Owen Renik, »Analytic Interaction: Conceptualizing Technique in the Light oft the Analyst’s Irreducible Subjectivity«, in: Psychoanalytic Quarterly LXII (1993), S. 553-571.

Ulrich Streeck

19

Therapeuten in Szene setzte, bot sich angesichts dieses Agierens die Chance, aus dem ›Benehmen‹ des Patienten6 und aus der Rolle, in die er den Therapeuten zu drängen versuchte, Erfahrungen zu rekonstruieren und bewusst zu machen. Wenn der Patient in der Behandlung agiert und damit frühere Erfahrungen in der Beziehung zum Therapeuten dargestellt und in Szene gesetzt werden, ist nichtsprachliches Verhalten meist ein mehr oder weniger ausgedehnt verwendetes Mittel der Darstellung. Vergangene Erfahrungen werden gezeigt, und der Patient stellt mit körperlichen und gestischen Mitteln dar, was sich der sprachlichen Mitteilung gewöhnlich entzieht. Loewald7 hat solches Verhalten ›language action‹ genannt, und ähnlich hat Busch8 von 

›action 

thoughts‹ 

gesprochen, 

von 

Gedanken, 

die 

sich 

im 

Handeln 

ausdrücken. 

Dabei 

muss 

das 

 nichtsprachliche Verhalten keine bestimmten Bedeutungen und keine symbolische Funktion haben. Psychotherapie und die Sprache des Theaters Schon lange bevor Begriffe wie ›Darstellen‹, ›in Szene setzen‹, ›Rolle‹ oder ›Inszenierung‹, die der Sprache 

des 

Theaters 

entlehnt 

sind, 

in 

der 

Psychoanalyse 

zur 

Beschreibung 

des 

Geschehens 

im 

Behandlungszimmer zu Hilfe genommen wurden, dienten sie in der Soziologie zur metaphorischen Beschreibung von sozialer Interaktion. Dort verweisen sie nicht auf eine zweite, nur nachgemachte, falsche Wirklichkeit, sondern machen kenntlich, dass wir uns immer auch im Hinblick auf die Anwesenheit von 

Anderen 

verhalten, 

deren 

Blicke 

wir 

auf 

uns 

gerichtet 

sehen. 

Vor 

allem 

Erving 

Goffman, 

der 

als 

 Soziologe das soziale Alltagsleben im öffentlichen Raum zum Thema gemacht und dazu eine eigene Begrifflichkeit 

entwickelt 

hat, 

hat 

mit 

der 

Sprache 

des 

Theaters 

vor 

Augen 

geführt, 

wie 

Verhalten 

im 

 öffentlichen 

Leben 

immer 

von 

der 

Anwesenheit 

Anderer 

und 

deren 

Blicken, 

der 

Gegenwart 

eines 

Publikums geprägt wird. Nicht umsonst trägt eines seiner weithin bekannten Bücher in der deutschen Übersetzung den Titel »Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag«.9 Verhalten von Akteuren in der Öffentlichkeit ist nicht aus der Subjektivität des Einzelnen und seiner individuellen Identität zu erklären, sondern trägt dem Umstand der Anwesenheit von fremden Anderen und deren Zeugenschaft Rechnung. Akteure verhalten sich im öffentlichen Raum nicht nur, sondern sie stellen sich auch dar. Sie sind nicht nur sie selbst, sondern sie geben sich auch aus als die, als die sie gesehen werden wollen – mit manchen Hilfsmitteln, die ihnen dafür zur Verfügung stehen, von der Kleidung 6 

 7 8 9 



Sigmund 

Freud, 

»Erinnern, 

Wiederholen 

und 

Durcharbeiten«, 

in: 

Sigmund 

Freud, 

Gesammelte 

Werke 

X , 

1914, 

 Frankfurt a. M., S. 126-136. Hans W. Loewald, »Psychoanalysis as an Art and the Fantasy Character of the Psychoanalytic Situation«, in: Journal of the American Psychoanalytic Association 23 (1975), S. 277-299. Fred Busch, »The Compulsion to Repeat in Action: a Developmental Perspective», in: International Journal of Psychoanalysis 20 (1989), S. 535-544. Erving 

Goffman, 

Wir alle spielen Theater, München 1969.

20

Szenische Darstellungen im psychotherapeutischen Behandlungszimmer

bis hin zu einer bestimmten Art und Weise zu reden und sich zu bewegen. Dabei sind Darstellung, Präsentation, Praktiken des Inszenierens und soziale Rollen nicht Ausdruck von Verstellung und falschem Selbst, sondern sind konstitutive Elemente des gesellschaftlichen Lebens. Aber 

 kann 

 das 

 auch 

 für 

 das 

 Geschehen 

 in 

 dem 

 vergleichsweise 

 intimen 

 Rahmen 

 des 

 psychotherapeutischen Behandlungszimmers gelten? Hier ist der Patient doch gehalten, sich zu zeigen als die Person, die er ist. Er soll seine Mitteilungen gerade nicht zensieren, sondern äußern, was immer ihm in den Sinn kommt und ihm gerade durch den Kopf geht; er soll mitteilen, was er an sich bemerkt, was ihm gleichsam geschieht, 

was 

sich 

einstellt, 

und 

soll 

in 

diesem 

Sinn 

authentisch 

sein 

und 

sein 

wahres 

Gesicht 

zeigen. Pat.: Ich habe am Wochenende immer wieder mal überlegt, wo ich in diesem Jahr gerne Urlaub machen würde. Letztes Jahr – dieser irrsinnig lange Flug und dann eine Enttäuschung nach der anderen. (Schweigen) Meine Eltern sind mit uns immer an die Ostsee gefahren. Das sind schöne Erinnerungen. Da würde ich gerne noch mal hin. (Schweigen) Anke hat überhaupt keinen Sinn für so was. Bei der muss es immer was Exotisches sein. (Schweigen) Na ja, wahrscheinlich gebe ich doch wieder klein bei. So oder so ähnlich mag ein Patient sich äußern. Ihm ist etwas in den Sinn gekommen, er beginnt zu erzählen. Erzählungen sind das vorherrschende Format, in dem Patienten sich in der Psychoanalyse äußern. Erinnerungen kommen ihnen in den Sinn. Sie erzählen von Erfahrungen und von Ereignissen. Im Erzählen werden Erfahrungen rekonstruiert, Vergangenheit wird vergegenwärtigt. Dennoch ist, was der Patient erzählt und mitteilt und wie er das tut, nicht unabhängig von der Anwesenheit des Anderen, des Therapeuten. Er richtet sich an einen Adressaten – nicht nur an einen abwesenden Adressaten seiner Vergangenheit, den er im Therapeuten wiedererleben mag, sondern auch an den realen Anderen, der im Behandlungszimmer präsent ist. Alles, was hier geschieht, trägt auch dessen Spuren und ist eine Koproduktion von beiden, von Patient und Therapeut. Dabei verwenden Patienten nicht nur Worte, wenn sie von früheren Erfahrungen und vergangenen Ereignissen in der therapeutischen Situation berichten, so wie auch Personen im Alltag, die miteinander kommunizieren, sich nicht nur auf sprachlich-lexikalische Mittel stützen.

Ulrich Streeck

21

»Aber was ist dann«, sagt eine Patientin, die an einer Angststörung leidet, auf die Aufforderung des Therapeuten hin, sich doch einmal vorzustellen, wie sie leben würde, wenn sie keine Angst mehr hätte. »Aber was ist dann? Dann läuft das alles so, läuft alles so längs – und mehr ist da dann nicht«. Und während sie so spricht, bewegt sie beide Arme und Hände in einer Weise, die die Spannungsarmut, das Langweilig-Unaufregende eines Alltags ohne Angst höchst anschaulich 

ins 

Bild 

setzt 

und 

für 

das 

Gegenüber, 

den 

Therapeuten, 

kenntlich 

macht.10 Schon früh hatte Freud die Erfahrung machen müssen, dass manche Patienten seiner Empfehlung, uneingeschränkt mitzuteilen, was ihnen in den Sinn kommt, nur bedingt nachkamen. Sie setzten dem nicht 

nur 

Widerstände 

entgegen, 

sondern 

was 

ihnen 

einfiel 

und 

was 

sie 

mit 

Worten 

auszudrücken 

 versuchten, ließ es oftmals auch nicht zu, auf sinnhafte Zusammenhänge zu schließen und vergangene 

Erfahrungen 

zu 

rekonstruieren. 

Gelegentlich 

sind 

die 

Äußerungen 

von 

Patienten 

widersprüchlich, 

 zerrissen, durchsetzt von Brüchen und Sinnlücken und begleitet von auffälligem körperlichem und gestischem Verhalten. Unter Umständen steht nicht die inhaltliche Bedeutung der Worte im Vordergrund, mit denen die Patienten sich äußern, sondern ihre Erfahrungen drücken sich in der Art und Weise aus, wie sie ihre sprachlichen Mitteilungen gestalten: Der Analysierte erzählt nicht, er erinnere sich, daß er trotzig und ungläubig gegen die Autorität der Eltern gewesen sei, sondern er benimmt sich in solcher Weise gegen den Arzt. Er erinnert nicht, daß er sich gewisser Sexualbetätigungen intensiv geschämt und ihre Entdeckung gefürchtet hat, sondern er zeigt, daß er sich der Behandlung schämt, der er sich jetzt unterzogen hat, und sucht dies vor allen geheim zu halten usw.11 Man könnte solches Verhalten auch Darstellen im ›Benehmen‹ nennen. Vergangenheit wird nicht erinnert, sondern szenisch dargestellt, in Neubearbeitung wiederaufgeführt. »Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat [...]«, so Freud.12 Erst nach und nach wurde deutlich, dass solches ›Benehmen‹ als eine zwar sprachlose, aber dennoch beredte Informationsquelle zu nutzen ist, indem der Patient das Verhältnis zum Therapeuten nach dem Muster früherer Erfahrungen gestaltete. Argelander13 hat Inszenierungen im Kontext von Erstinterviews beschrieben, die der Patient unter Rückgriff auf eine seelische Funktion gestaltet, der 10 11 12 13

Jürgen Streeck, Ulrich Streeck, Mikroanalyse sprachlichen und körperlichen Interaktionsverhaltens, Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (2000). Freud, »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«, S. 129. Ebd., S. 129. Hermann Argelander, Das Erstinterview in der Psychotherapie, Darmstadt 1970.

Szenische Darstellungen im psychotherapeutischen Behandlungszimmer

22

›szenischen Funktion des Ich‹. In Verbindung mit solchen Szenen hat Argelander von einer »dynamischen Informationsgestalt« gesprochen. Inszenierungen lassen sich als ›gehandelte Botschaften‹ verstehen. Ihr Mitteilungsgehalt ist nicht vorrangig an die inhaltliche Bedeutung von Worten gebunden, sondern kommt in einem bildförmigen Format zum Ausdruck. Auch Erzählungen können Inszenierungen sein – nicht dadurch, was sie erzählen, sondern durch das ›Wie‹ des Erzählens. So hat Bergmann14 unter dem Titel »Reinszenierungen in der 

 Alltagsinteraktion« 

 gezeigt, 

 dass 

 sich 

 die 

 spezifische 

 Qualität 

 religiöser 

 Bekehrungserfahrungen 

 manchmal weniger darin darstellt, was Erzähler darüber berichten, als vielmehr in der Art, wie der Erlebnischarakter der Konversion dargestellt wird. Die Schwierigkeiten, religiöse Konversionserfahrungen in Worten wiederzugeben, werden dann nicht einfach benannt, sondern die Schwierigkeiten werden 

dem 

Adressaten 

gezeigt 

und 

für 

das 

Gegenüber 

in 

Szene 

gesetzt: Ähm - es war so - ich - äh - ich konnt - ich konnt nicht anders, ja - es war - es war einfach – äh ich konnt - ich konnt mich garnicht dagegen wehren oder garnichts dagegen machen; jedenfalls mich hats dann echt - ich konnt bloß noch in die Knie gehen [...].15 Nichts, was hier inhaltlich gesagt wird, lässt das Besondere dieser Erfahrung erkennen. Erst die die Art und Weise, wie das Bekehrungserlebnis dargestellt wird, macht anschaulich, wie schwer diese Erfahrung in Worte zu fassen ist: »Die Nicht-Darstellbarkeit wird nicht benannt, sondern [...] vorgeführt, inszeniert«.16 Nun gehören Konversionserfahrungen nicht zu den Ereignissen, über die in Psychotherapiegesprächen 

häufig 

berichtet 

wird. 

Gleichwohl 

kann 

der 

›Austausch 

von 

Worten‹ 

auch 

im 

 Behandlungszimmer gespickt sein mit inszenierenden Darstellungen, die auch hier außer mit Worten oftmals mit nichtsprachlichen Mitteln auf die Bühne gebracht werden. Nichtsprachliches Verhalten und Interaktion im Behandlungszimmer Balint17 hatte schon früh betont, dass der Patient im Behandlungszimmer nicht einfach seine psychische Binnenwelt offenbart und sein Verhalten nicht unabhängig von der Anwesenheit des Analytikers und dessen Verhalten zu verstehen ist. Der von ihm angemahnte Weg hin zu einer Zwei-PersonenPsychologie wurde jedoch lange Zeit nicht oder nur zögernd beschritten. So wurden auch szenische 14 15 16 17

Jörg Bergmann, »Reinszenierungen in der Alltagsinteraktion«, in: Ulrich Streeck (Hg.), Erinnern, Agieren und Inszenieren, 

Göttingen 

2000, 

S. 

203-221. Bergmann, »Reinszenierungen in der Alltagsinteraktion«, S. 211. Ebd. Michael Balint, Der Arzt, sein Patient und die Krankheit, Stuttgart 1957.

Ulrich Streeck

23

Darstellungen, die doch die Zeugenschaft eines Zuschauers voraussetzen, meist als exklusive Hervorbringungen allein des Patienten aufgefasst, in denen sich dessen individuelle psychische Wirklichkeit 

 unbeeinflusst 

 von 

 der 

 Präsenz 

 des 

 Analytikers 

 und 

 dessen 

 Einfluss 

 zum 

 Ausdruck 

 bringt. 

 Dementsprechend richtete sich auch die Aufmerksamkeit des Analytikers allein auf die psychische Binnenwelt des Patienten, nicht jedoch auf das ›Zwischen‹,18 19 das intersubjektive Feld zwischen den Akteuren im Behandlungszimmer,20 in dem die szenischen Darstellungen platziert waren. Stattdessen wurde das ›Benehmen‹ des Patienten als Dokument gelesen, das Kunde aus seiner psychischen Binnenwelt bringt und eventuell einen ganz individuellen Sinnzusammenhang erschließt. Das Verhalten brachte vermeintlich unbewusste Aspekte der Beziehung des Patienten zu früheren Liebesobjekten gleichsam monologisch zur Darstellung; der Psychoanalytiker war scheinbar nur deren neutraler Zeuge. Auch die Körperlichkeit des Benehmens des Patienten war scheinbar nur ein nicht-narratives Mittel 

des 

Ausdrucks 

individueller 

unbewusster 

Konflikte, 

Fantasien 

oder 

Gefühle, 

die 

sich 

in 

Worten 

 nicht 

zu 

erkennen 

gaben, 

und 

schien 

unabhängig 

von 

jedem 

Einfluss 

des 

Psychoanalytikers 

nur 

psychische Wirklichkeit offenzulegen. Damit aber wurde das Verhalten, aus dem szenische Darstellungen hervorgehen, seinem intersubjektiven Kontext, in dem es verankert war, entzogen. Tatsächlich sind selbst idiosynkratische körperliche Verhaltensweisen, wie sie manchmal in Zusammenhang mit traumatischen Erfahrungen zu beobachten sind, keine einsamen Produktionen des Patienten, 

sondern 

verweisen 

auf 

andere 

Personen 

und 

soziale 

Situationen. 

Ganz 

in 

diesem 

Sinn 

hat 

 Jacobs21 einen Patienten beschrieben, der als Kind eine schmerzhafte Operation am Ohr über sich hatte ergehen lassen müssen und als Erwachsener auf der Couch des Psychoanalytikers durchweg auf der Seite lag und dabei stets einen Arm schützend über das freiliegende Ohr gestreckt hielt, eine Geste, 

die 

dem 

Schutz 

vor 

einem 

bedrohlichen 

Anderen 

galt. 

 Weil ein großer Teil der traditionellen psychoanalytischen Fachsprache mit dem Problem behaftet war, dass sie sich im Rahmen einer Ein-Person-Psychologie entwickelt hatte und darum nicht geeignet 

 war, 

 dem 

 interpersonellen 

 Charakter 

 des 

 Geschehens 

 in 

 der 

 Behandlung 

 gerecht 

 zu 

 werden, 

 nahmen 

 Begriffe, 

 die 

 auf 

 das 

 intersubjektive, 

 interpersonelle 

 Geschehen 

 in 

 Psychoanalyse 

 und 

 Psychotherapie Bezug nehmen, auf Interaktion und soziales Handeln, auf Enactments und szenische Darstellungen, auf Zeigen und Sehen, auf Präsentationen und Selbstpräsentationen, auf dialogisches Handeln und Rollen allmählich mehr Raum ein. Erzählungen sind im Behandlungszimmer nicht das 18 19 20 

 21

Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, München, Zürich 2002. Martin Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1979. Boston 

Change 

Process 

Study 

Group 

(BCPSG), 

Change in Psychotherapy: a unifying paradigm, New York 2010. Theodore Jacobs,»Unbewußte Kommunikation und verdeckte Enactments im analytischen Setting«, in: Ulrich Streeck (Hg.), Erinnern, Agieren und Inszenieren, 

Göttingen 

2000, 

S. 

97-126.

Szenische Darstellungen im psychotherapeutischen Behandlungszimmer

24

einzige Medium, in dem Erfahrungen vergegenwärtigt werden; Patient und Psychotherapeut stützen sich 

nicht 

ausschließlich 

auf 

Worte, 

wenn 

sie 

miteinander 

im 

Gespräch 

sind. 

So 

wie 

im 

Alltag 

Akteure im Zusammensein mit Anderen außer auf sprachlich-lexikalische auch auf nicht-narrative Mittel zurückgreifen, 

um 

sich 

mit 

ihrem 

Gegenüber 

zu 

verständigen 

– 

aufs 

Benehmen, 

aufs 

Zeigen, 

aufs 

Inszenieren und Darstellen – tun das auch Patienten und Therapeuten im dialogischen Austausch miteinander. 

 Nicht-narrative 

 Ausdrucks- 

 und 

 Verhaltensformen 

 spielen 

 im 

 therapeutischen 

 Geschehen 

 eine mindestens ebenso große Rolle wie sprachliche Mitteilungen. Dabei sind nichtsprachliche Mittel nicht etwa unreifer und weisen auch nicht auf ein weniger entwickeltes, primärprozessnahes psychisches Funktionsniveau hin, sondern sind ubiquitäre, meist unbewusst eingesetzte kommunikative Mittel, in denen sich implizites Beziehungswissen und damit jenes relationale Unbewusste anzeigt, »[...], 

das 

keineswegs 

an 

der 

Beziehungsoberfläche 

bleibt, 

sondern 

bis 

tief 

in 

die 

mentale 

Struktur 

 hineinreicht«.22 Zu dieser Erkenntnis haben nicht zuletzt klinische Erfahrungen mit der Behandlung von Patienten beigetragen, die ihre Beziehungserfahrungen im Zusammensein mit Anderen zeigen, statt sie mit Worten auszudrücken. Manchmal kann auch der Körper selbst zur Bühne von Darstellungen werden. So hat Joyce McDougall von den »Théâtres du Corps« gesprochen, den Theatern des Körpers – der Körper als Bühne zur Aufführung der »Tragödien und Komödien« psychischer Wirklichkeit.23 Aber auch im Umgang mit dem eigenen Körper taucht die Bezogenheit des Patienten auf den Anderen noch auf, etwa dort, wo die Selbstbeschädigung nicht nur der Spannungsregulierung dient, sondern einen dialogischen Akt in Szene setzt, der eine andere Figur mit meint. Zumal dort, wo unbewusste, abgespaltene oder dissoziierte Beziehungserfahrungen intersubjektiv nicht in Szene gesetzt werden können, wird der Körper leicht zum Austragungsort vergegenwärtigter Beziehungserfahrungen. Mittlerweile 

hat 

– 

insbesondere 

unter 

dem 

Einfluss 

intersubjektiver 

Ansätze 

in 

den 

Humanwissenschaften 

 – in der Psychoanalyse eine Auffassung an Bedeutung gewonnen, wonach nicht nur im Fall von Übertragungs- 

und 

Gegenübertragungsverwicklungen 

das 

Geschehen 

im 

Behandlungszimmer 

von 

Patient 

und 

 Therapeut 

gemeinsam 

gestaltet 

wird, 

sondern 

alles 

Geschehen 

die 

Spuren 

sowohl 

des 

Patienten 

als 

auch 

 des 

Therapeuten 

trägt 

und 

in 

diesem 

Sinn 

ein 

relationales 

Geschehen 

ist 

und 

dialogisch 

produziert 

wird. 



22 23

Martin Altmeyer, »Soziales Netzwerk Psyche«, in: Forum der Psychoanalyse 27 (2000), S. 107-127. Joyce McDougall, Theater des Körpers, zitiert nach Joachim Küchenhoff, »Der Körper als Ort der Beziehungsinszenierung«, in: Ulrich Streeck (Hg.), Erinnern, Agieren und Inszenieren, 

Göttingen 

2000, 

S. 

143-160.

Ulrich Streeck

25

Enactments Weil der Begriff des Agierens sich im Laufe der Zeit zunehmend ausgeweitet hatte und schließlich weitgehend 

unspezifisch 

verwendet 

wurde, 

sodass 

schließlich 

suizidales 

Verhalten 

ebenso 

wie 

die 

 Verwendung 

von 

Gesten 

im 

therapeutischen 

Gespräch 

Agieren 

genannt 

wurden, 

hypermotorisches 

 Verhalten ebenso wie delinquente Aktionen, konnte sich ein Begriff in das psychoanalytische und psychotherapeutische Vokabular einschleichen24 und teils neben den Begriff des Agierens, teils an dessen Stelle treten, der die interaktiven bzw. intersubjektiven Aspekte der therapeutischen Beziehung stärker betonte, der Begriff des Enactments.25 Auch um Enactments zu gestalten, greifen die Akteure im Behandlungszimmer auf nichtsprachliche Mittel zurück. Sie sind das Ergebnis beiderseitigen Handelns von Patient und Therapeut. Während Agieren gewöhnlich die Aktivität meint, wird Enactment als Ergebnis genannt.26 Enactments können unbemerkt und unbewusst koproduzierte nichtsprachlich vermittelte Interaktionen von Patient und Therapeut sein, die für beide eine unbewusste Bedeutung haben.27 Auch das Verhalten eines Patienten, das mit einem korrespondierenden Verhalten oder einer entsprechenden Handlungsbereitschaft auf Seiten des Therapeuten in Verbindung gebracht und von dem angenommen wird, dass es dieses Verhalten induziert oder provoziert hat, kann ein Enactment sein.28 Am Ende einer Behandlungsstunde richtet sich der Therapeut in seinem Sessel auf, stützt beide Arme auf die Lehnen, blickt auf die Uhr, die vor ihm auf einem kleinen Tisch steht, zeigt mit einer 

flüchtigen 

Körperbewegung 

darauf 

und 

sagt: 

»Ich 

sehe, 

unsere 

Zeit 

ist 

um. 

Wir 

müssen 

 jetzt Schluss machen.« Der Patient, der in seinem Sessel mehr bequem liegt als dass er sitzt, bleibt reglos. Seine Körperhaltung erscheint wie eingefroren. In demselben Tonfall wie vor der Aufforderung des Therapeuten, die Stunde zu beenden, schneidet er ein Thema an, von dem bis dahin noch nicht die Rede war: »Und jetzt noch [...]«, und dann erläutert er ungerührt und mit ausholender Rede, was ihn da noch beschäftigt.

24 25 26 27 28

James T. McLaughlin,»Clinical and theoretical aspects of enactment«, in: Journal oft he American Psychoanalytic Association 39 (1991), S. 595-614. Das konnte allerdings nicht verhindern, dass der Begriff, kaum in die Fachdiskussion eingeführt, bald ähnlich unspezifisch gebraucht wurde wie der des Agierens. Douglas H. Frayn,»Enactments: An evolving dyadic concept of acting out«, in: American Journal of Psychotherapy 50 (1996), S. 194-207. Judith Fingert Chused,»The evocative power of enactments«, in: Journal oft he American Psychoanalytic Association 39 (1991), S. 615-639. Ralph E. Roughton,»Repetition and interaction in the analytic process: enactment, acting out and collusion«, in: The Annual of Psychoanalysis 22 (1994), S. 271-286.

Szenische Darstellungen im psychotherapeutischen Behandlungszimmer

26

Das ist ein Enactment, eine von Patient und Therapeut gemeinsam ins Bild gesetzte szenische Darstellung. Der Hinweis des Therapeuten auf die fortgeschrittene Zeit und seine Aufforderung, die Stunde zu beenden, hat augenblicklich den Kontext verändert. Unvermeidlich ist das momentane Verhältnis 

von 

Patient 

und 

Therapeut 

in 

den 

Vordergrund 

des 

Geschehens 

gerückt. 

Mit 

allem, 

was 

er 

 jetzt tut und wie er das tut, nimmt der Patient, ob er das will oder nicht, mit seinem nächsten Schritt Stellung zu der Aufforderung des Therapeuten, zum Schluss zu kommen – nicht nur mit dem, was er im nächsten Moment sagt und wie er das sagt, sondern auch damit, wie er sich verhält. Nicht nur die Worte von Therapeut und Patient geben zu erkennen, was hier in diesem Augenblick gerade los ist. Eindeutiger 

 noch 

 enthüllt 

 sich 

 das 

 momentane 

 Geschehen dem Blick. Indem der Patient reglos bleibt und nicht einmal mit einem minimalen körperlichen Zeichen reagiert, nimmt er eben damit zu der Aufforderung, die der Therapeut sowohl mit Worten wie mit seinem körperlichen Verhalten kenntlich gemacht hatte, Stellung: Er verhält sich, wie er sich bereits vor der Aufforderung des Therapeuten verhalten hatte, als sei nichts geschehen, und selbst seine Stimme bleibt unverändert. Seine Antwort auf die vorangegangene Aufforderung des Therapeuten bringt er mit einer körperlichen Darstellung zum Ausdruck. Auf 

diese 

Weise 

gestalten 

Patient 

und 

Therapeut 

gemeinsam 

eine 

flüchtige 

Szene, 

die 

sich 

dem 

Blick 

 aus einer Dritte-Person-Perspektive unmittelbar erschließt. Im Kontext der Äußerung des Therapeuten, 

dass 

die 

Zeit 

um 

sei 

und 

man 

zum 

Schluss 

kommen 

müsse, 

versteht 

der 

Betrachter 

das 

Geschehen, das sich da vor seinen Augen ausbreitet, vermittelt über die Bildförmigkeit der Szene. Patient und Psychotherapeut bringen mit ihrem Verhalten ihr Verhältnis zueinander, ihre momentane Beziehung zur Darstellung, nicht grundlegend anders als in einer Szene auf der Bühne des Theaters.29 Manchmal 

sind 

szenische 

Darstellungen 

flüchtige 

Miniaturen, 

manchmal 

aber 

auch 

ausgedehnte 

Aufführungen, die mit Hilfe von Requisiten, die nicht zu den üblichen Elementen von Psychotherapie gehören, auf der Bühne des Behandlungszimmers inszeniert werden: Die Patientin beklagt sich, dass sie mit ihrem Freund nicht reden kann, weil der so gefühlsarm sei. Er habe ihr mal wieder seine übliche »Reklamesendung« geschickt. Während sie das sagt, greift sie neben sich und legt einen prall gefüllten Umschlag vor sich hin. Mit monotoner, 29

Ulrich Streeck, Auf den ersten Blick, Stuttgart 2004.

Ulrich Streeck

27

gelangweilter Stimme sagt sie, dass sie sich im ersten Moment gefreut hätte, Post von ihrem Freund bekommen zu haben, dann aber wütend und traurig geworden sei. Dabei zieht sie – von ihr kommentiert mit »Liebespost« – einen Packen Schriftstücke aus dem Umschlag, blättert sie in den Unterlagen, zieht aus dem Packen einen Brief des Freundes, aus dem sie einen Halbsatz vorliest, 

einen 

Zeitungsbericht 

über 

die 

Gefahren 

des 

Rauchens 

oder 

eine 

Rechnung, 

die 

sie 

desinteressiert 

als 

Dokumente 

der 

Lieblosigkeit 

kommentiert, 

nicht 

wert, 

sich 

darüber 

Gedanken 

zu 

 machen. 

Der 

Therapeut 

scheint 

die 

Rolle 

des 

wortkargen 

Richters 

zu 

übernehmen. 

Gelegentliche 

 Nachfragen scheinen der Vervollständigung der Beweisaufnahme für die lieblose Behandlung der Patientin durch ihren Freund zu dienen. Der Freund hat keinen Verteidiger. Die Szene zieht sich über mehrere Minuten hin. Danach, so scheint es, bedarf es keines Beweises mehr, dass sich das Unglück der Patientin aus einem Mangel an aufrichtiger Zuneigung erklärt. Nur wenig von alledem wird explizit kenntlich gemacht. Worten scheint nur die Funktion knapp gefasster Bildunterschriften zuzukommen. In der Szene verschafft sich nicht nur psychische Wirklichkeit der Patientin Ausdruck. Vielmehr machen zwei Darsteller, Patientin und Therapeut, die interpersonelle Erfahrungswelt der Patientin kooperativ gegenwärtig. Schluss In 

der 

Perspektive 

einer 

modernen 

Psychoanalyse 

verweist 

jedes 

Geschehen 

im 

Behandlungszimmer 

 nicht 

auf 

eine 

abgegrenzte 

Psyche 

des 

Patienten, 

sondern 

ist 

ein 

auf 

den 

Anderen 

bezogenes 

Geschehen, auf Intersubjektivität hin angelegt. Das gilt auch für die Darstellungen und Inszenierungen, die scheinbar ausschließlich von dem Patienten gestaltet werden. Aber auch szenische Darstellungen sind nicht jenseits des Kontextes der Anwesenheit des Therapeuten und dessen Verhalten zu verstehen. Dabei verwenden Patient und Therapeut keine grundlegend anderen Mittel als die, die Akteure im sozialen 

Alltag 

verwenden. 

Freud 

hat 

im 

Hinblick 

auf 

das 

Geschehen 

im 

Behandlungszimmer 

vom 

 ›Benehmen‹ des Patienten gesprochen, vom Zeigen und vom Reproduzieren als Tat. Danach vollziehen sich Psychoanalyse und Psychotherapie keineswegs nur als ›Austausch von Worten‹, auch dort nicht, wo die narrative Vergegenwärtigung von Erfahrung erklärtes Ziel der Behandlung ist. Mit allem, was sie sagen und wie sie sich verhalten, be-handeln Patient und Therapeut einander wechselseitig. Dabei lassen sich Sprechen und Handeln nicht voneinander trennen, und sie verwenden nicht entweder Worte oder das Format der Tat. Sie kommunizieren mit Worten ebenso wie mit der Art und Weise, wie sie sich dabei verhalten, mitteilend, darstellend, zeigend, inszenierend.

Soul-Staging Der Scenokasten und die systemische Therapie Katja Rothe

Katja Rothe

29

Zu 

 Beginn 

 des 

 20. 

 Jahrhunderts 

 entwickelte 

 Gerdhild 

 von 

 Staabs, 

 leitende 

 Ärztin 

 der 

 neurologischpsychiatrischen 

Klinik 

Ruhleben, 

in 

Berlin 

den 

sogenannten 

Scenotest. 

Gerdhild 

von 

Staabs 

stellte 

 zur Realisierung des Tests einen Scenokasten zur Verfügung, den sie persönlich vertrieb und der eine Reihe biegsamer Puppen, Holzbausteine und »der Handlung dienende[s] Zusatzmaterial«1 enthielt. [Abb. 1: »Puppen und Auswahl des Materials«]2 Der Scenokasten wiederum war eine Inspirationsquelle für das Familienbrett von Kurt Ludewig, eine bis heute wichtige Technik systemischer Familientherapie. Im Folgenden soll die Genealogie 

 der 

 systemischen 

 Familientherapie 

 anhand dieser beiden Techniken, dem Scenokasten und dem Familienbrett, skizziert werden. Obgleich 

die 

Geschichte 

der 

systemischen 

Therapie 

 als 

 Geschichte 

 verschiedener 

 Phasen 

 ky3 bernetischen Denkens erzählt wird, verfolge ich die These, dass die systemische Therapie in einer angewandten 

Bildkultur 

des 

Diagrammatischen 

verwurzelt 

ist 

und 

als 

eine 

Geschichte 

der 

Praktiken 

 skizziert werden kann. Das ist insofern überraschend, als die systemische Familientherapie gemeinhin unter dem Blickwinkel ihrer theoretischen Anleihen u. a. bei Konstruktivismus und Systemtheorien betrachtet wird und als eine Therapieform beschrieben wird, die ganz besonders auf Kommunikationsprozesse und 

letzthin 

auf 

Sprache 

abzielt. 

Denn 

eine 

der 

systemischen 

Grundfragen 

lautet: 

»Wie 

wird 

in 

sozialen Systemen das ›hergestellt‹, was wir gemeinsam mit anderen als Wirklichkeit erleben?« 4, womit Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer, die Verfasser der beiden maßgeblichen Lehrbücher zur systemischen Therapie,5 die »sprachliche Verhaltenskoordination«, das »Reich der Sprache« 1 

 2 3

4 5

Gerdhild 

 von 

 Staabs, 

 Der Scenotest. Beitrag zur Erfassung unbewußter Problematik und charakterologischer Struktur in Diagnostik und Therapie, Stuttgart 21951, S. 16. Staabs, Scenotest, S. 149. Beispielsweise in den beiden Lehrbüchern von Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer. Arist von Schlippe/Jochen Schweitzer (Hg.), Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung, 

 Göttingen 

 102007; Arist von Schlippe/Jochen Schweitzer (Hg.), Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Das Grundlagenwissen, Göttingen 

2012. 

Die 

beiden 

Lehrbücher 

unterscheiden 

sich 

inhaltlich 

erheblich. Schweitzer/Schlippe, Lehrbuch systemische Therapie, S. 94. Schweitzer/Schlippe, Lehrbuch systemische Therapie; Schlippe/Schweitzer, Grundlagenwissen. Siehe Fußnote 3.

Soul-Staging

30

meinen. 6 Die systemische Familientherapie ist aber im hohen Maße von bildlich-diagrammatischen und performativen Praktiken konstituiert, sowohl in der Konstruktion des Falls – in der »Aufnahme« 

werden 

mit 

dem 

Genogramm 

Informationen 

visualisiert 

– 

als 

auch 

in 

den 

therapeutischen 

 Sitzungen mit den symbolisch-handlungsorientierten Interventionen, wie beispielsweise Familienskulptur, Familienbrett, Videokonsultation selbst, und auch im sogenannten »Reframing«, der Neubewertung bisher als störend wahrgenommener Verhaltensweisen.7 Die systemische Familientherapie basiert auf einer Verräumlichung von Beziehungen, der Betonung einer sich selbst beobachtenden Beobachterposition und der Aufführung von Verhaltensweisen. Das Bild, die Rolle und das Darstellungsspiel gehören zu den Schlüsselkonzepten der systemischen Familientherapie. 8 Ich schlage also vor, eine neue Perspektive auf die systemischen Techniken des Therapeutischen einzunehmen, die bislang von der Forschung sowohl in den Kulturwissenschaften wie auch der Wissenschaftsgeschichte vernachlässigt wurde. Im Rücken der »großen Fächer« wie Psychoanalyse und dem Feld der Psychiatrie aber hat sich die systemische Familientherapie, heute einfach systemische Therapie, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens etabliert, ist also nicht allein eine nun (seit 2008) wissenschaftlich anerkannte Form der Psychotherapie, sondern wird auch in nicht-therapeutischen Bereichen wie der systemischen Sozialarbeit, der systemischen Organisationsberatung, der Mediation oder des systemischen Coachings eingesetzt. Man könnte sogar so weit gehen, dass die 6

7

8

Ebd. Tatsächlich bezieht sich eine der wichtigsten Methoden der systemischen Familientherapie auf Sprache, das zirkuläre Fragen. Aber auch hier lässt sich wiederum eine Betonung der Beobachtungsposition erkennen und damit eine Verräumlichung und Visualisierung des Frageprozesses selbst; denn das zirkuläre Fragen fragt nicht danach, was jemand gerade fühlt, denkt, vermisst usw. Das zirkuläre Frage richtet diese Frage an einen Beobachter: Was denken Sie, was dieser Mensch gerade fühlt, denkt, vermisst usw. »Verhaltensweisen, Symptome, 

 aber 

 auch 

 die 

 unterschiedlichen 

 Formen 

 von 

 Gefühlsausdruck 

 sind 

 nicht 

 nur 

 als 

 im 

 Menschen 

 ablaufende Ereignisse zu sehen, sondern sie haben außerdem immer eine Funktion in den wechselseitigen Beziehungsdefinitionen und Erwartungs-Erwartungen […].« Schlippe/Schweitzer, Grundlagenwissen, S. 215. Jede Äußerung, jedes Verhalten wird als im System »aufgeführtes« verstanden, was von Beobachtern beobachtet wird, die Beobachtung der Beobachtung wiederum ist Inhalt der systemischen Therapie. Zum Behandlungsschema der systemischen Familientherapie Schlippe/Schweitzer, Grundlagenwissen, S. 225–346. Ein Behandlungsschema könnte folgendermaßen aussehen: 1. Die Aufnahme: Auftragsklärung mit Patient 

und 

Angehörigen; 

Kennenlernen 

der 

›sozialen 

Familie‹: 

(Genogramminterview, 

Familiengespräch); 

Entwicklung des gemeinsamen Fallverständnisses, Therapiezielplanung; 2. Therapie: systemische Einzelgespräche, 

 Familiengespräche, 

 Kooperationsgespräche, 

 Angehörigenvisiten, 

 systemische 

 Gruppentherapie; 

 Besprechungskultur: systemische Intervision, Supervision (hier Skulpturarbeit, Videokonsultation; Live-Supervision und/oder reflektierendes Team usw.), Patient und Angehörige teilweise anwesend; 3. Entlassung: Familiengespräche vor Entlassung: Lesenlassen des Entlassungsbriefs. Zu den verschiedenen Techniken und Instrumenten: Rainer Schwing, Andreas Fryszer, Systemisches Handwerk. Werkzeug für die Praxis, 

Göttingen 

52012.

Katja Rothe

31

konkreten 

 und 

 handgreiflichen 

 Techniken 

 des 

 Aufstellens 

 das 

 gegenwärtige 

 Verständnis 

 vom 

 sozialen 

 Selbst, 

 von 

 Familie 

 und 

 Gruppen 

 maßgeblich 

 bestimmen. 

 Gleichwohl 

 mangelt 

 es 

 an 

 historischkulturwissenschaftlichen 

 Reflexionen 

 über 

 die 

 Durchsetzung 

 des 

 Systemischen 

 als 

 eines 

 kulturellen 

 Paradigmas eines sozialen Selbst.9 Der Scenokasten Anfang 

1938 

stellte 

Gerdhild 

von 

Staabs, 

eine 

Berliner 

Kinderpsychologin, 

innerhalb 

ihrer 

therapeutischen Praxis mit verhaltensauffälligen Kindern den Scenokasten zusammen, einen Spielkoffer, in dem Kinder biegsame Puppen fanden, mit denen sie Szenen aus ihrem Familienleben nachstellen sollten. 

Von 

Staabs 

wollte 

durch 

die 

figürliche 

Nachstellung, 

das 

»Reenactment«, 

die 

sprachliche 

Ebene und damit die Hauptaussagequelle Eltern umgehen und den Kindern eine eigene bildliche Darstellungsweise 

ermöglichen. 

Die 

Puppenfiguren 

konnten 

in 

Relation 

zueinander 

angeordnet 

werden 

und 

 stellten die Familienmitglieder dar, ja, konnten sogar über bestimmte Körperhaltungen (Biegsamkeit) Emotionen ausdrücken. Von Staabs stellte den Kindern die Puppen zur Verfügung, um einen eigenen Ausdruck ihrer Ängste und Probleme zu entwickeln. Dabei spielte allerdings die Deutung der Therapeutin eine entscheidende Rolle als Interpretin, als Produzentin von Sinn. Der Scenokasten wird bis heute beispielsweise in Sorgerechtsverfahren eingesetzt, in denen geklärt werden soll, bei welchem Elternteil die Kinder besser aufgehoben sind. Die Hauptaufgabe des Scenokastens liegt und lag in der Diagnostik und nicht in erster Linie in der Therapie. Er ist ein Forschungsinstrument. Von Staabs beruft sich in der Entwicklung des Scenokastens auf Anna Freuds und Melanie Kleins Spieltherapien, vor allem aber auf Margaret Lowenfelds »Weltspiel«10, eine Londoner Ärztin, die in ganz Europa die Entwicklung von therapeutischen Sandspiel-Verfahren inspirierte (z. B. in der Schweiz die 

Therapeutin 

Dora 

Kalff, 

in 

Schweden 

Gösta 

Harding, 

in 

Österreich 

Charlotte 

Bühlers 

»Welt-Test«11, in Frankreich de Beaumonts und Arthus’ »Village Test«).12 9 



Zum 

sozialen 

Selbst 

siehe 

den 

Band: 

Thomas 

Alkemeyer/Gunilla 

Budde/Dagmar 

Freist 

(Hg.), 

Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013. 10 Staabs, Scenotest, S. 14. In Lowenfelds Sandspiel formen Kinder in Sandkästen aus Zinkblech, gefüllt mit Sand und Wasser, verschiedene Szenerien. Lowenfeld entwickelte im Institut for Child Psychology auch andere Tests wie den Mosaik-Test, einen Test mit mehrfarbigen Würfeln, der heute in Intelligenztests eingesetzt wird. Margaret Lowenfeld, Play in Childhood 

[1935], 

London, 

New 

York 

1991. 

Dazu 

auch 

Alexander 

von 

Gontard, 

Theorie und Praxis der Sandspieltherapie. Ein Handbuch aus kinderpsychiatrischer und analytischer Sicht, Stuttgart 2006. 11 

 Charlotte 

Bühler 

entwickelte 

das 

Sandspielverfahren 

aber 

ähnlich 

wie 

Gerdhild 

von 

Staabs 

zu 

einem 

Test 

weiter, in dem Kinder mit Spielmaterial (Menschen, Tiere, Häuser) eine »Welt« entwerfen, die die Therapierenden dann deuten und nach einer Skala bewerten. Charlotte Bühler, Der Welt-Test, 

Göttingen 

1955. 12 Die Spieltherapie wurde in den 1920er Jahren vor allem von der österreichischen Psychoanalytikerin Hermi-

32

Soul-Staging

Das Spiel, so stellt bereits 1883 Moritz Lazarus heraus, hatte bereits Ende des 19. Jahrhundert Konjunktur.13 

Auch 

in 

den 

1920er 

Jahren 

wurde 

es 

quasi 

als 

Gegenfolie 

zur 

industrialisierten 

Welt 

und 

 ihren Zwängen vor allem auch im Kontext der Jugend- und Reformbewegungen vielfach diskutiert. Für von Staabs ist das Spiel in den von den Kindern entworfenen Szenarien dagegen ein Diagnoseverfahren. Sie ging davon aus, dass die Kinder gewissermaßen die »Landschaft« ihres Seelenlebens in den Puppen- und Sandspielwelten abbildeten, die sich dann den Therapierenden zur Interpretation, Diagnostik und Therapie anboten. Das therapeutische Puppenspiel spielte in den 1920er Jahren in der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern eine herausragende Rolle, wobei man sich auf Jakob Morenos Psychodrama und dessen Erfahrungen mit theatralen Kinderspielen (auch mit Puppen) in den Wiener 

 Gärten 

 bezog.14 Auch von Staabs gibt Jakob Morenos Psychodrama als Quelle an.15 Moreno entwickelte die Methode zwischen 1917 und 1921 im Wiener Augarten anhand der Beobachtung von spielenden Kindern, in deren Spiel er schließlich eingriff und es arrangierte.16 Er forderte die Kinder auf, ihre Lebensumstände nachzuspielen, dann forderte er auch Eltern auf, teilzunehmen. Moreno begreift 

 dabei 

 das 

 Spiel 

 ›klassisch‹ 

 als 

 Gegenpart 

 zur 

 Technik.17 »Es war ein Kindergarten in kosmischen Dimensionen, eine kreative Revolution unter Kindern. […] Ich wollte den Kindern die Fähigkeit zum Kampf gegen Stereotypen, gegen Roboter und für Spontaneität und Kreativität geben.«18 ne Hug-Hellmuth, Leiterin der Erziehungsberatungsstelle in Wien, entwickelt. In den 1930er Jahren nahmen Anna Freud und Melanie Klein den Ansatz auf und entwickelten ihn weiter. Die Spieltherapie basiert auf der Vorstellung, dass die Förderung der Kreativität das Ich stärkt und zur Heilung führen kann. Das Spiel wird also als 

 Gateway 

 zum 

 Unbewussten 

 verstanden, 

 der 

 sowohl 

 diagnostisch 

 als 

 auch 

 therapeutisch 

 genutzt 

 werden 

 könne. Man unterscheidet direktive (Leitung der Therapierenden) und non-direktive Spieltherapie. Ausführlich: 

Herbert 

Goetze, 

Handbuch der personenzentrierten Spieltherapie, 

Göttingen 

2002. 13 Moritz Lazarus, Über die Reize des Spiels, Berlin 1983, S. 5. Vgl. Astrid Deuber-Mankowsky, »Mediale Anthropologie, Spiel und Anthropozentrismuskritik«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1: Medienanthropologie (2013), S. 133–149, S. 144. 14 

 Gudrun 

Gauda, 

Theorie und Praxis des therapeutischen Puppenspiels. Lebendige Psychologie C. G. Jungs, Dortmund 2001; Hilarion Petzold, Puppen und Puppenspiel in der Psychotherapie. Mit Kindern, Erwachsenen und alten Menschen, München 1983; Hilarion Petzold, »Puppen und Puppenspiel in der Integrativen Therapie mit Kindern«, 

 in: 

 Hilarion 

 Petzold/Gabriele 

 Ramin 

 (Hg.), 

 Schulen der Kinderpsychotherapie, Paderborn 1991, S. 427–488. 15 Staabs, Scenotest, S. 14. 16 Vgl. Brigitte Marschall, »Jakob Levy Morenos Theaterkonzept: Die Zeit-Räume des Lebens als Szenenraum der Begegnung«, in: Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie 4, 2 (2005), S. 229–243, S. 236. 17 

 Die 

 Gegenüberstellung 

 von 

 freiem 

 Spiel 

 und 

 unfreier 

 Arbeit 

 in 

 einer 

 industrialisierten 

 Welt 

 bestimmte 

 die 

 ersten Spieltheorien. Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel [1938], Reinbek bei Hamburg 1956; Roger Callois, Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch [1958], München 1966. Vgl. Anm. 13, Deuber-Mankowsky, »Mediale Anthropologie, Spiel und Anthropozentrismuskritik«. 18 Jacob Levy Moreno, Auszüge aus der Autobiographie, hg. von Jonathan D. Moreno, Köln 1995, S. 44.

Katja Rothe

33

Aus zivilisationskritischer Sicht konzipiert er Theaterspiel in der Tradition des Stegreiftheaters,19 einer Form des Improvisationstheaters, das, aus der Commedia dell’arte kommend, gerade auch in Wien, im Alt-Wiener Volkstheater des 19. Jahrhunderts, von großer Bedeutung war, aber vom bürgerlichen Theater missachtet wurde.20 Das Stegreiftheater weist auf das Improvisationstheater des 20. Jahrhunderts voraus (z. B. Boals: Theater der Unterdrückten). Wesentliches Merkmal ist, dass das Stegreiftheater dem Schauspieler/der Schauspielerin die Möglichkeit einräumt, die Rolle improvisierend zu gestalten, der Text tritt hinter der Performance zurück. Was dem bürgerlichen Theater des 18. Jahrhunderts als eine »Verwilderung der Theatersitten« galt und bekämpft wurde (Johann Christoph Gottscheds 

Theaterreform), 

galt 

der 

Avantgarde 

des 

Fin 

de 

Siècle 

als 

fortschrittlich 

und 

innovativ. 

 Auch die Jugendreformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts griffen wieder verstärkt auf Formen des improvisierenden Laienspiels zurück. Moreno versteht das Psychodrama nicht allein als ästhetische Praxis, sondern als theatrale Erkenntnis- 

und 

Interventionsform. 

Er 

definierte 

es 

als 

»diejenige 

Methode 

[…], 

welche 

die 

Wahrheit 

der 

Seele durch Handeln ergründet«21. Dabei werden Erkenntnisse durch Positionierung und Interaktionen im Theaterraum gewonnen, also über eine Verräumlichung und Prozessualität des Handelns.22 Die 

Vorstellung, 

das 

theatrale 

Setting 

könnte 

ein 

Experimentalsystem 

zur 

Erforschung 

von 

Gruppen 

 sein, 

 findet 

 sich 

 in 

 ähnlicher 

 Weise 

 aber 

 nicht 

 nur 

 bei 

 der 

 Theateravantgarde 

 und 

 im 

 Psychodrama, 

 sondern 

auch 

in 

der 

deutschen 

Soziologie, 

z. 

B. 

bei 

Fritz 

Giese. 

In 

dem 

Buch 

»Girlkultur«23 zeigt er 1925 im Vergleich des Tanzes in Deutschland und den USA fast diskursanalytisch argumentierend auf, wie die Bewegungen bestimmte Erkenntnismöglichkeiten konstituieren.24 19 20

Jakob L. Moreno, Das Stegreiftheater, Potsdam 1924. 1923 gründete Moreno ein Stegreiftheater in Wien. Im Zusammenhang mit der»Internationalen Ausstellung für neue Theatertechnik« im Herbst 1924 plante er sogar die Eröffnung eines eigenen Stegreiftheaters, dessen Bühnen- und Raumarchitektur seinen Vorstellungen entsprechen sollte. Marschall, Morenos Theaterkonzept, S. 238–241. Bereits 1921 experimentierte Moreno im»Wiener Komödienhaus« mit einer happeningartigen dadaistischen Performance mit der Wiener Öffentlichkeit im Sinne eines Stegreiftheaters, scheiterte hier aber. Charakteristisch für seine Form des Theaters war die Abschaffung der passiven Zuschauenden. Moreno war mit der 

Zurückweisung 

der 

Guckkastenbühne 

und 

Dramentextausrichtung 

sowie 

der 

Forderung 

nach 

dem 

aktiven 

 Zuschauenden auf der Höhe des Theaterdiskurses der modernen Avantgarde Anfang des 20. Jahrhunderts. 21 Jacob L. Moreno, Gruppenpsychotherapie und Psychodrama: Einleitung in die Theorie und Praxis, Stuttgart, New York 2008, S. 77. 22 Moreno, Stegreiftheater, S. 34. 23 

 Fritz 

 Giese, 

 Girlkultur. Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl, München 1925. 24 Dazu auch Katja Rothe, »Economy of Human Movement. Performances of economic knowledge«, in: Perfor-

Soul-Staging

34

Auch der therapeutische bzw. pädagogische Zweck des Theaterspielens hatte Anfang des 20. Jahrhunderts eine breite Anhängerschaft. Vor allem im Umfeld reformpädagogischer Konzepte gewann die Idee von einer theatralen Erziehung hin zum freien, kreativen Menschen an Attraktivität, z. B. im Benjaminschen Konzept eines revolutionären Kindertheaters von 1928.25 Benjamin schlägt entgegen der »erzieherischen Schulung« die »radikale Entbindung des Spiels, dem der Erwachsene einzig und allein zusehen kann«26, vor. Benjamins Idee des Kindertheaters zielt auf die Eröffnung neuer Räume, die nicht vom intentionalen (Selbst-)Bewusstsein gespeist sind, sondern in denen Potentiale durch Intuition körperlich in Improvisationen ausagiert werden können.27 Auch bei Benjamin gibt es die Vorstellung, dass im theatralen Spiel der Kinder Erkenntnis- und Heilpotential liegt. Gerdhild 

von 

Staab 

konzipiert 

ein 

Spiel-Set, 

das 

Kindern 

der 

Möglichkeit 

gibt, 

»Miniaturwelt« 

zu 

gestalten 

 und 

zu 

bespielen. 

Die 

Puppenfiguren 

ermöglichen 

dabei 

eine 

»stärkere 

Distanzierung 

vom 

eigenen 

Erleben« als im Theaterspiel, aber diese Distanzierung eröffnet nur einem noch direkteren Zugang zum »unmittelbar Unbewußte[n]«28 unter Ausklammerung der Bewusstheit. »Affektive Auseinandersetzungen«, die inszeniert werden, bilden das ›unverfälschte‹ Ausgangsmaterial für den »Test«, so nennt von Staabs ihre Untersuchung mittels Scenokasten. Der »Test« sei, so von Staabs, ein »experimentelles Werkzeug«, »um für praktische Zwecke auf kurzem Wege zu einem Urteil zu gelangen«.29 Tatsächlich wird der Scenokasten-Test zu den projektiven Tests (auch Persönlichkeits-Entfaltungsverfahren oder Deutungstests genannt) gezählt, die interpretationsfähiges Material im Therapieprozess herstellen und dann in Hinblick auf die verborgene Persönlichkeit der Probanden deuten. Hierzu ge-

25

26 27

28 29

mance Research: A Journal of the Performing Arts. Special Issue: On Labour 17, 6 (2012), S. 33–40. Walter Benjamin, »Programm eines proletarischen Kindertheaters (1928)«, in: Walter Benjamin, Über Kinder, Jugend und Erziehung, Frankfurt a. M. 21969, S. 79–86. Dazu Katja Rothe, »Nicht-Machen. Lassen! Zu Walter Benjamins 

pädagogischem 

Theater«, 

in: 

Barbara 

Gronau/Alice 

Lagaay 

(Hg.), 

Ökonomien der Zurückhaltung – Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion, Bielefeld 2010, S. 331–352. Benjamin, »Programm eines proletarischen Kindertheaters«, S. 84. Andererseits schwingen im Begriff der Innervation ebenfalls psychotechnische und arbeitswissenschaftliche Kontexte mit, die zu eben jener Zeit, in der Benjamin sein Konzept einer revolutionären Pädagogik entwickelt, nicht mehr nur auf die Zurichtung der Körper durch bestimmte Normen (Arbeitsnormen beispielsweise) zielen, sondern auf Selbstregulierung und Selbststeuerung des Verhaltens innerhalb experimenteller Übungen. Zu diesem prekären Begriff grundsätzlich: Tom Holert, »›My phone’s on vibrate for you‹. Über Innervation und vibrotaktile Kommunikation nach Walter Benjamin«, in: Ralf Schnell (Hg.), MedienRevolutionen. Beiträge zur Mediengeschichte der Wahrnehmung, Bielefeld 2006, S. 121–146, hier S. 128. Miriam Bratu Hansen, »Benjamin and Cinema: Not a One-Way-Street«, in: Critical Inquiry 25 (1999), S. 306–343, hier S. 340. Staabs, Scenotest, S. 15. Ebd., Fußnote 1.

Katja Rothe

35

hören z. B. auch der Rorschachtest (1921, Tintenkleckse) und der Wartegg-Zeichen-Test (WZT) (acht Zeichenfelder, 

z. 

T. 

aus 

dem 

I 

Ging 

abgeleitet, 

werden 

weitergezeichnet). 

 Der 

 psychologische 

 Test 

 ist 

 das 

 Genre, 

 das 

 seit 

 1900 

 die 

 Etablierung 

 der 

 Psychologie 

 als 

 wissenschaftliche 

Disziplin 

begleitet, 

wenn 

nicht 

vorantreibt. 

Gerade 

die 

nicht 

standardisierten 

Tests 

wie 

 eben der Scenotest haben dabei die Eigenheit, dass sie die Normen, die sie »testen« wollen und die letztlich über die Pathologisierung der Patienten entscheiden, im Test erst herstellen.30 Es gibt keine »richtigen« oder »falschen« Szenarien, sondern interpretationsfähige Szenerien. Die Kinder entwerfen Bühnenbilder, über die im Nachhinein entschieden wird, ob sie noch zum »Normalen« gehören, wobei 

als 

normal 

gilt, 

was 

am 

häufigsten 

vorkommt.31 Bereits Rohrschach betrachtete aber auch schon bestimmte abweichende Wahrnehmungen als Originalitätsindikator, bewertete diese positiv und zog damit unversehens die Unterscheidung zwischen psychischer Normalität und Anormalität – die ja getestet werden sollten – selbst in Zweifel.32 Mit dieser Verschiebung hin zum Interesse am »originellen« Verhalten sei, so Andreas Reckwitz, eine »Persönlichkeitstheorie« verbunden, »die nicht mehr bei der Heilung des Kranken, sondern bei der qualitativen Verbesserung des Mittelmäßigen«33 ansetzt. »Es bedarf gerade nicht eines störenden psychischen Symptoms oder einer Abweichung, um die psychologische Arbeit beginnen zu lassen. Es geht vielmehr um die qualitative Verbesserung des normalen, 

 sozial 

 angepassten 

 und 

 unauffälligen 

 Verhaltes. 

 Damit 

 findet 

 ein 

 Strukturwandel 

 der 

 psychologischen Subjektivierungstechniken statt: Anstatt das Unerwünschte aufzuspüren und auszumerzen, geht 

es 

darum, 

psychische 

Potentiale 

zu 

mobilisieren, 

die 

im 

Prinzip 

unerschöpflich 

sind.«34 Reckwitz diagnostiziert diese Subjektivierungstechniken, die auf das Ideal der Selbstentfaltung ausgerichtet sind, in den USA der 1930er und 1940er Jahre. Tatsächlich kann man gerade mit Blick auf den Scenotest und die Spieltherapien bereits im Europa der 1920er Jahre Entsprechendes im Feld 

der 

Kinderpsychologie 

und 

-psychiatrie 

beobachten. 

Grundsätzlich 

scheint 

das 

spielende 

Kind 

 das Idealsubjekt dieser Entwicklung zu sein. So scheint es auch nicht verwunderlich, dass auch das Kinderspiel, 

besonders 

aber 

das 

Puppenspiel 

im 

Genre 

des 

Kasperletheaters 

eine 

vergleichbare 

Um30 31

32 33 34

Vgl. Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Frankfurt a. M. 2012, S. 199. »Was eine gute Form ist, bestimmt sich jedoch danach, ob diese Antworten von ›einer größeren Anzahl […] vollsinniger Versuchspersonen am häufigsten gegeben worden war‹.« Rorschach, zitiert nach Reckwitz, Erfindung der Kreativität, S. 200. Ebd., S. 200 f. Ebd., S. 217. Ebd.

Soul-Staging

36

wertung erfährt. Das Kasperle scheint Anfang des 20. Jahrhunderts zur Figuration des »normalen« Kindes geworden zu sein. Puppenspiel als Technik der Selbst-Bildung Im Übergang zum 19. Jahrhundert wird aus dem Kasperle, das noch im 18. Jahrhundert als eine Instanz 

 der 

 Kritik 

 des 

 ›gemeinen‹ 

 Volkes 

 auf 

 den 

 Jahrmärkten 

 sein 

 Unwesen 

 trieb, 

 eine 

 Gestalt 

 des medizinischen Diskurses. 35 

 Das 

 Kasperle 

 wird 

 Gegenstand 

 psychiatrischer 

 Beobachtung 

 und 

 ärztlicher Diagnose. »Der Suppenkasper« ist das erfolgreichste Kapitel des weltweit bekannten Struwwelpeters, den der Psychiater Heinrich Hoffmann 1844 für die Unterhaltung und die ›Charakterbildung‹ seines Sohn schrieb. Hoffmann, der als leitender Arzt in der Frankfurter Anstalt für Irre und Epileptische im Feld der Jugendpsychiatrie tätig war, benutzt die Kasperle-Figur, um der Öffentlichkeit die bis dato weithin unbekannte Krankheit der Anorexia nervosa bekannt zu machen. 

 Gleichzeitig 

 sollte 

 der 

 Text 

 das 

 jugendliche 

 Publikum 

 erziehend 

 unterhalten 

 und 

 anhand 

 recht drastischer Bilder zu einem ›normalen‹ Essverhalten anhalten. Der Suppenkasper als die Figuration 

des 

Anormalen 

wird 

Gegenstand 

wissenschaftlicher 

Darstellung 

und 

erziehendes 

E xempel, der beobachtende ärztliche Blick und die »Therapie« greifen hier ineinander über. Das Kasperletheater der Essensverweigerung ist zugleich Ort des Interesses der Psychiatrie wie Feld ärztlicher Interventionen. Das Kasperle wird dabei zur Figuration des Anormalen im Normalen. Das neue psychiatrische Wissen umkreist das Kasperle nicht mehr als Einzelnen, der außerhalb der Norm steht und sich gegen die Disziplin stellt, sondern als einen bestimmten Typ von Anormalität, als eine Form der zu beobachtenden Abweichung, die die Kindheit befällt und der von Seiten der ›Experten‹ (Pädagogen, Theologen, Ärzte und Eltern) entgegenzuwirken ist. Als ›Kinderbuch‹ mäanderte die Figuration der psychiatrischen Intervention der Normalisierungsmacht in den Alltag der Heranwachsenden und erlangte eine enorme internationale Popularität. Seinen 

Triumphzug 

als 

pädagogische 

Paradefigur 

bürgerlicher 

Erziehung 

tritt 

das 

Kasperle 

Anfang 

 des 20. Jahrhunderts an, als Max Jacob, Anhänger der Wandervogelbewegung, es zur Figur seines reformpädagogisch inspirierten und volkstümlichen Puppentheaters machte. Der so genannte Hohnsteiner Kasper bekommt durch Jacob sowohl das Aussehen als auch den erzieherischen Schliff, den er bis heute – beispielsweise in der Augsburger Puppenkiste – hat. Dieses neue, freundlichere Kasperle ist zumeist (wie schon der Suppenkasper) selbst ein Kind, ist nicht mehr derb und grob, sondern lustig und witzig, manchmal auch naiv, aber immer ein durchweg positiver, sympathischer Held. Wie 35

Dieser Abschnitt ist sinngemäß meinem Aufsatz zu Walter Benjamins Hörspiel »Radau um Kasperl« von 2009 entnommen. Katja Rothe, »Die Schule des Entzugs. Walter Benjamins Radio-Kasper«, in: Sinnhaft. Strategien des Entzugs 22 (2009), S. 74–89.

Katja Rothe

37

der Suppenkasper bewohnt das Hohensteiner Kasperle den Alltag der Kinder und treibt nicht mehr auf den Jahrmärkten sein Unwesen. Der Kasper der Moderne steht ganz offensichtlich im Dienste der Erziehung des zu bessernden Individuums: Es gibt inzwischen den Polizei- oder Verkehrskasper (Hans Krause 

aus 

Hamburg), 

den 

Feuerwehr-, 

Zahnputz-, 

Geldspar- 

und 

Umweltkasper. 

 Das Hohensteiner Kasperle ist dabei nicht mehr Figuration des Anormalen, von der sich abzugrenzen 

 ist, 

 sondern 

 hat 

 im 

 performativen 

 Spiel 

 der 

 Normalisierung 

 selbst 

 Platz 

 genommen. 

 Ganz 

 im 

 reformpädagogischen Sinne leitet es durch seine Abenteuer zur Selbsttätigkeit an, ist eine Figur der Selbst-Einübung durch Beobachtung und nicht der autoritären Unterweisung oder Abschreckung. Die Performativität von Handeln und Erleben steht im Vordergrund einer experimentellen »systemischen« Erschließung der Welt. Eingedenk 

dieser 

Kasperle-Geschichte 

ist 

der 

Scenokasten 

in 

einem 

pädagogisch-medizinischen 

Feld 

 der Kinderpsychiatrie und vor allem der Kindererziehung platziert, das sich seit dem 19. Jahrhundert der Puppenspiele bedient. Das darstellende Spiel mit Figuren gelangt Mitte des 20. Jahrhunderts über den Scenokasten in das Arrangement des Familienbretts, eine Technik, die heute noch sowohl in systemischer Psychotherapie als auch Beratung angewandt wird. Ludewig bezieht sich dezidiert auf 

Gerdhild 

von 

Staabs 

Scenotest 

als 

eine 

Inspirationsquelle.36 Kurt Ludewigs Familienbrett: Familien aufstellen Das Familienbrett wurde von Kurt Ludewig, einem Pionier der systemischen Therapie im deutschsprachigen Raum,37 1978 entwickelt.38 Es bildet die Beziehungen in der Familie nicht mit Hilfe von Puppen 

 wie 

 von 

 Staabs 

 Scenokasten 

ab, 

sondern 

will 

diese 

mittels 

wenig 

strukturierter 

Holzfiguren 

 auf einem 50 x 50 cm großen Brett sichtbar machen. Ludewig greift in seinen theoretischen Texten auf Konzepte der Autopoesis von Humberto Maturana39 und die Systemtheorie Niklas Luhmanns 36 

 Kurt 

 Ludewig/Katrin 

 P flieger/Ulrich 

 Wilken/Gabriele 

 Jakobskötter, 

 »Entwicklung 

 eines 

 Verfahrens 

 zur 

 Darstellung von Familienbeziehungen: Das Familienbrett«, in: Familiendynamik 8 (1983), S. 235–251, http://kurtludewig.de/Downloads/14%20Familienbrett%20Original%201983.pdf (Stand 23. 8. 2013), S. 1. 37 Sein 1992 erschienenes Standardlehrbuch Systemische Therapie wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Kurt Ludewig, Systemische Therapie. Grundlagen klinischer Theorie und Praxis, Stuttgart 1992. 38 Ludewig, »Entwicklung eines Verfahrens»; Kurt Ludewig/Ulrich Wilken (Hg.), Das »Familienbrett«. Ein Verfahren für die Forschung und Praxis mit Familien und anderen sozialen Systemen, 

Göttingen 

2000. 39 Vor allem auf Humberto R. Maturana/Francisco J. Varela, The Tree of Knowledge: The Biological Roots of Human Understanding, Boston 1987. Kurt Ludewig war Übersetzer der deutschen Ausgabe von Humberto R. Maturana/Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, München 1987.

Soul-Staging

38

zurück und formuliert aus beiden in Hinblick auf das »Phänomen des face-to-face Interagierens mit Leidenden« das so genannte »Mitgliedskonzept«.40 »Das Mitglied entsteht beim Vollzug der kommunikativen Operationen in einem bestimmten sozialen System, und es existiert nur so lange, wie diese Operationen andauern. Mitglied, Kommunikation, Sinn 

und 

mithin 

soziales 

System 

sind 

voneinander 

untrennbare 

Gebilde; 

ihre 

Existenz 

ist 

an 

die 

Existenz 

der 

jeweils 

anderen 

gebunden. 

[…] 

Soziale 

Systeme 

lassen 

sich 

hiernach 

definieren 

als 

Komplexe von Mitgliedern und ihren Operationen (Kommunikationen) in Hinblick auf einen Sinn.«41 Und diese sozialen Systeme können auch von »Problemen« erzeugt werden. Denn nach Ludewig (und in Anschluss 

an 

Harry 

Goolishian) 

haben 

»nicht 

soziale 

Strukturen 

(Familien, 

Ehen 

usw.) 

Probleme«, 

sondern 

 »Probleme [erzeugen] soziale Strukturen«.42 

 Das 

 »Problemsystem« 

 definiert 

 sich 

 also 

 nicht 

 durch 

 irgendwelche Sachverhalte, sondern über »die darüber etablierte und dauerhaft konservierte Kommunikation«.43 Die Therapie mittels Familienbrett setzt somit nicht an der Darstellung eines Problems an, sondern fokussiert auf die Mitglieder, die dieses Problemsystem im Interagieren konstituieren.44 Ludewig nimmt also von Staabs die Distanzierung vom Schauspielen durch die Probanden (z. B. bei Moreno) auf und radikalisiert sie, 

indem 

nunmehr 

schematisierte 

Holzfiguren 

»auftreten« 

und 

der 

Brettspielcharakter 

betont 

wird. 

Ludewig konzipiert das Brett dabei als eine Spielform des Soziogramms.45 Das Soziogramm wiederum wurde ebenfalls von Jacob Moreno entwickelt. Er entwarf Anfang der 1930er Jahre in den USA während seiner Arbeit als Leiter eines Wieder-Erziehungsinstituts für junge Mädchen in Hudson im Staat New York und unter Bezug auf »Bildpraktiken der Chemie in einer Form von fröhlichem Parasitentum« 46 das Soziogramm als ein »soziales Atom«. Das Soziogramm 40

Kurt Ludewig, »Das Problemsystem. Eine Alternative zu den Konzepten medizinischer Psychopathologie und sozialwissenschaftlicher Devianz«, in: Standpunkt: sozial 1 (1991), S. 23–28, in: http://www.kurtludewig.de/ Downloads/50%20Problemsystem%201990.pdf (Stand 24. 8. 2013), S. 4–5. 41 Ebd., S. 5. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 6. 44 

 Siehe 

auch 

Gerhard 

Walter, 

»Lösungsorientierte 

und 

narrative 

Ansätze 

in 

der 

systemischen 

Therapie«, 

in: 

Andrea 

Brandl-Nebehay/Billie 

Rauscher-Gföhler/Juliane 

Kleibel-Arbeithuber 

(Hg.), 

 Systemische Familientherapie. Grundlagen, Methoden und aktuelle Trends, Wien 1998, S. 88–106, S. 95. 45 Ludewig, »Entwicklung eines Verfahrens«, S. 1. 46 

 Sebastian 

Gießmann,»Ganz 

klein, 

ganz 

groß. 

Jacob 

Levy 

Moreno 

und 

die 

Geschicke 

des 

Netzwerkdiagramms«, 

 in: Ingo Koester/Kai Schubert (Hg.), Medien in Raum und Zeit. Maßverhältnisse des Medialen, Bielefeld 2009, S. 267–292, S. 271.

Katja Rothe

39

verstand 

er 

als 

Technik 

einer 

psychologischen 

Geografie 47, stellte es erstmals 1934 in dem sozialutopischen Buch »Who Shall Survive? A New Approach to the Problem of Human Interrelations« vor. Das Soziogramm ist eine diagrammatische Abstraktion von Beziehungen und treibt also solches eine Wissensgenerierung voran. 48 Nach Peirce unterscheiden sich nämlich »Diagramme von Bildern und Metaphern, weil sie nicht Qualitäten von Objekten zur Darstellung bringen (Bilder) oder Ähnlichkeiten zwischen Objekten herstellen (Metaphern), sondern weil sie Relationen des Bezugsobjekts repräsentieren. Diagramme sind Zeichen, die Relationen, Strukturen, Funktionslogiken und Ereignisfolgen anschaulich machen. Ihre Besonderheit besteht dabei darin, in dem Prozess 

der 

Veranschaulichung 

zugleich 

die 

Möglichkeit 

zur 

Rekonfiguration 

der 

diagrammatischen 

 Zeichenkonfiguration 

 zu 

 eröffnen. 

 Dies 

 macht 

 Diagramme 

 zu 

 Medien 

 des 

 anschaulichen 

 Denkens, die nicht nur Wissen vermitteln, sondern ein Erkenntnispotential bereitstellen.« 49 Matthias Bauer und Christoph Ernst sprechen deshalb von der Diagrammatik als einem »Entwurfs- und Erkenntnisverfahren« 50, welches über das konkrete Diagramm hinaus auch andere Techniken »des schlussfolgernden Denkens« 51 beschreiben kann. In diesem erweiterten Sinne könnte man auch das Familienbrett als diagrammatisch beschreiben und allgemein von einer Diagrammatik der systemischen Techniken sprechen. Auf jeden Fall muss der Bildpraktik des systemischen Familienbretts eine gewisse Operationalität zugestanden werden: Es stellt nicht einfach etwas (die Familie) dar, sondern »eröffne[t] damit Räume, um das Dargestellte auch zu handhaben, zu beobachten, zu explorieren«52, ein Dargestelltes, das ansonsten unsichtbar wäre.

47 48

Ebd., S. 273. In der systemischen Familienaufstellung greift man noch auf ein anderes Visualisierungs- und Verräumlichungsmodell 

zurück: 

das 

Genogramm, 

das 

erstmals 

1985 

von 

Monica 

McGoldrick 

und 

Randy 

Gerson 

in 

» Genograms: Assessment and Intervention» für die Therapie vorgeschlagen wurde und sich ebenfalls auf Morenos »soziales Atom« beruft. Dazu auch Jürgen Beushausen, Genogramm- und Netzwerkanalyse: Die Visualisierung familiärer und sozialer Strukturen, 

Göttingen 

2012. 49 Marcus Burkhardt, »Alles ist diagrammatisch: Rezension von Matthias Bauers und Christoph Ernsts Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld«, in: Kult Online 26 (2011), http://kult-online.uni-giessen.de/wps/pgn/home/KULT_online/26-16/ (Stand 14. 8. 2013). 50 Matthias Bauer/Christoph Ernst, Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld, Bielefeld 2010, S. 17. 51 Ebd., S. 64. 52 

 Sybille 

 Krämer, 

 »Operative 

 Bildlichkeit. 

 Von 

 der 

 ›Grammatologie‹ 

 zu 

 einer 

 ›Diagrammatologie‹? 

 Reflexionen 

 über erkennendes ›Sehen‹« (2009), in: http://userpage.fu-berlin.de/~sybkram/media/downloads/Operative_ Bildlichkeit.pdf (Stand 24. 8. 2013).

Soul-Staging

40

»Die operative Bildlichkeit erweist sich dann nicht nur als ein Anschauungsmedium, sondern auch als ein 

Werkzeug 

und 

ein 

›Reflexionsinstrument‹.«53 Und 

 mehr 

 noch: 

 Über 

 den 

 »instrumentellen 

 oder 

 reflexiven 

 Umgang 

 […] 

 mit 

 dem 

 Repräsentierten« 

 hinaus »geht [es] um Konstitutionsleistungen«.54 Die Familie, die in der Diagrammatik der Familienbretts erscheint, ist nicht einfach Abbildung einer Herkunftsfamilie, sondern generiert ein neues Wissen von Familie, ja, eine neue Familie als soziales Konstrukt. 

Ganz 

in 

diesem 

»konstruktiven« 

Sinne 

versteht 

Ludewig 

das 

Therapieren 

als 

einen 

Prozess, 

der 

 nicht um eine diagnostizierbare »Krankheit« operiert und »Patienten« pathologisiert, sondern versucht, »ein System-ohne-Problem […] zu errichten und aufrechtzuerhalten«.55 Das Brett ermöglicht dabei »die unmittelbare Beobachtung des Familienprozesses sowie das Dokumentieren des dabei sichtbar gewordenen ›Familienbildes‹. Zudem wirkt sich [sic!] dieses Bild im Sinne einer neuen ›Realität‹ auf die Familie rekursiv zurück und stößt mithin ihre weitere Evolution an«.56 Die Mitglieder des Problemsystems können zudem ihr Modell selbst re- und dekonstruieren (eben nicht der Therapeut, die Therapeutin im Nachhinein).57 Als Darstellungsverfahren bildet es unterschiedliche Relationsmuster ab, die durch die 

 »Entfernung 

 zwischen 

 den 

 Figuren, 

 Blickrichtung, 

 Platzierung 

 auf 

 dem 

 Brett, 

 Größe 

 und 

 Form 

 der 

 Figuren, 

Reihenfolge 

der 

Aufstellung 

auf 

das 

Brett 

und 

die 

resultierende 

Gestalt 

der 

Anordnung« 

symbolisiert werden.58 Als Beobachtungs-, Dokumentations- und Analyseinstrument ermöglicht es eine »Metakommunikation über Sichtweisen über die Familie zwischen allen am Aufstellungsprozess Beteiligten […], d. h. zwischen den Familienmitgliedern untereinander und dem Beobachter«.59 

 Gleichzeitig 

 ist 

 es 

 aber 

auch 

eine 

›kreative‹ 

Interventionstechnik, 

die 

bereits 

die 

Neukonfiguration 

des 

Systems 

anregt. 

 Ludewig versteht das Familienbrett deshalb nicht als einen klassischen psychologischen Test, sondern als »Kommunikationsmittel«60, das nicht die Kriterien der klassischen Testtheorien (Objektivität, Zuverlässigkeit, Validität) erfüllen muss, sondern neue Bewertungskriterien erfordert, Ludewig schlägt »Brauchbarkeit, Nützlichkeit und Zugewinn«61 vor. Diese Kriterien beziehen sich auf die kon53 54 55 56 57 58 59 60 61

Ebd. Ebd. Ludewig, »Das Problemsystem«, S. 6. Ludewig, »Entwicklung eines Verfahrens«, S. 1. Ebd. Ebd. Ebd., S. 2. Ebd., S. 3. Ebd., S. 3–4.

Katja Rothe

41

krete Praxis der Beobachter bzw. Beobachterinnen und Probanden, darauf, ob die Technik Familienbrett in der konkreten therapeutischen Situation für alle Beteiligten als Darstellungstechnik taugt, sie einen kommunikativen Prozess anstößt, anwenderfreundlich ist, ihre ›Usability‹ gut ist. Das Familienbrett ist somit ein Test und wird z. B. auch in Rechtsverfahren eingesetzt, vor allem in Sorgerechtsfällen. Dieser Anwendungsbereich verweist darauf, dass wir es hier – trotz und gerade, weil nicht über »normal« und »anormal« entschieden wird – mit einer neuen Form von Wahrheitstechnik zu 

tun 

haben. 

Im 

Gegensatz 

aber 

zu 

einer 

auf 

die 

Durchsetzung 

von 

Gesetzen 

fokussierten 

Rechtsprechung geben Praktiken wie das Familienbrett nicht Recht, sie stellen performativ im Spiel her, was ›das Beste‹ für alle Beteiligten ist. Sie beziehen sich nicht auf einen Sachverhalt und somit auch nicht auf eine Sachlage, sondern auf das Kommunikationssystem, das aus einem Problem entstanden ist. Das Familienbrett 

stellt 

auch 

keine 

Schuld 

fest, 

sondern 

möchte 

die 

Interaktionen 

sozialer 

Gruppen 

über 

 Selbstregulierungsprozesse harmonisieren. Diese Form der Mediation hält heute – unter Einsatz des Werkzeugkastens 

der 

systemischen 

Therapie 

– 

breitflächig 

Einzug 

in 

das 

deutsche 

Rechtssystem.62 Das Familienbrett ist als Wahrheitstechnik auch an der Konstruktion des gegenwärtigen Verständnisses beteiligt, 

was 

Familie 

meint: 

eine 

soziale 

Gruppe, 

die 

sich 

in 

der 

Aufführung 

ihrer 

Praktiken 

überhaupt 

 erst herstellt.63 

Anders 

als 

herkömmliche 

psychologische 

Tests 

definieren 

Ludewig 

und 

seine 

Mitautoren dabei das Familienbrett als ein dingliches, materielles, technisches Verfahren, das nicht einfach Sein- und Soll-Zustände ›aufdeckt‹ und nach ›objektiven‹ Kriterien beurteilt, sondern ganz explizit in der Darstellung 

 überhaupt 

 erst 

 etwas 

 hervorbringt, 

 was 

 dann 

 Gegenstand 

 einer 

 gemeinsamen 

 Forschung 

 werden kann. Die systemischen Verfahren beziehen sich so nicht auf ein Subjekt als wie auch immer verwirrter oder gespaltener ›Herr‹ im Hause, sondern auf Prozesse: Das Forschungsobjekt der systemischen Familientherapie entsteht erst im Prozess der räumlich-theatralen Aufführung von Szenen des Familienlebens. Dabei konzentriert man sich nicht auf die Binnenstruktur des psychischen Apparats (Psychoanalyse), sondern auf den performativen Prozess und die kreativen Techniken der Ich-Bildung. Dieser 

Prozess 

wird 

gewissermaßen 

einer 

visuell-theatralen 

»Oberflächenforschung« 

unterzogen, 

denn 

 man versucht nicht, hierin ein Bewusstsein oder Unterbewusstsein des Subjektes auszumachen, sondern 

an 

Haltungen, 

Gesten, 

Ausdrücken, 

Bewegungen 

bestimmte 

Systemzustände 

z. 

B. 

der 

Familie 

zu 

 messen. 

Dabei 

flankiert 

den 

Prozess 

der 

Ich-Bildung 

vor 

allem 

seit 

den 

1980er 

Jahren 

die 

Beobachtung 

 der Beobachtung, also eine Prozeduralisierung der Position des Therapierenden, die zu einer aktiven 62 

 Am 

21. 

Juli 

2012 

trat 

in 

Deutschland 

das 

Mediationsgesetz 

in 

Kraft 

(BGBl. 

I 

S. 

1577; 

Umsetzung 

der 

Richtlinie 

 2008/52/EG 

des 

Europäischen 

Parlaments). 63 Dazu Robert Schmidt, Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Frankfurt a. M. 2012, S. 70 f.

Soul-Staging

42

Partizipation der Patienten am Prozess der Therapie führt.64 Der Therapierende erscheint in der systemischen Therapie nicht mehr als Meisterdenker, sondern als Arrangeur und Partner bzw. Partnerin. Er/ Sie arbeitet nicht mit einem theoretischen Interpretationsrahmen, sondern verwendet Konzepte und Verfahren, die auf den Rezipienten, also den Patienten zielen. Der Therapierende entwirft geschickte 

 Versuchsanordnungen, 

 um 

 effektvoll 

 Reflexionsvorgänge 

 in 

 Gang 

 zu 

 setzen. 

 Den 

 Patienten 

 kommt 

 schließlich die Aufgabe zu, die Szenen für sich zu interpretieren und daraus ihre Schlussfolgerungen zu ziehen, was wiederum als Vorgang der Heilung verstanden wird. Diese Prozeduralisierung lässt mehr und mehr die Techniken der Therapie vor den großen Theorien in den Vordergrund treten. Man könnte von einer Materialisierung des Therapeutischen sprechen. Der therapeutische 

Prozess 

wird 

maßgeblich 

von 

den 

materiell-medialen 

Arrangements 

beeinflusst. 

 Von 

der 

Szenografie 

zum 

Kuratorischen Vom Scenokasten zum Familienbrett radikalisiert sich also sowohl die Prozeduralisierung als auch die 

Materialisierung 

des 

Therapeutischen. 

Gerdhild 

von 

Staabs 

ließ 

Bühnenbilder, 

Landschaften 

entwerfen, die an Denis Diderots Tableau-Technik erinnern. Bereits Diderot hatte gerade auch in Bezug auf Familienszenen das ›eingefrorene‹ demonstrative Bildarrangement auf die Bühne gebracht.65 Von Staabs macht das Tableau-Theater nun zum Testverfahren für ›auffällige‹ Kinder. Indem sie aber das theatrale Zurschaustellen in der eingefrorenen Szene mit dem Spiel verbindet, kommt es bereits bei von 

Staabs 

zu 

einer 

Prozessualisierung 

des 

Therapeutischen: 

Therapierende 

und 

Probanden 

befinden 

 sich in einem Prozess der gemeinsamen Bilderproduktion und –interpretation, im Spiel, das gleichzeitig Zugang zu Vorsprachlichem eröffnet. Im Hintergrund steht hier ein Verständnis des Spiels als ziellose, unbewusste Bewegung, eine »tänzelnde Bewegung« 66 wie etwa die Wellen auf dem Wasser. Dieses Verständnis des Spiels referiert auf das altdeutsche Wort »spielan«.67 Walter Benjamin griff dieses Verständnis auf und beschrieb den liminalen Charakter des Spiels. Astrid Deuber-Mankowsky führt aus, dass Benjamin in »Spielzeug und Spiel« (1928) die Essenz des Spiels in der Transformation einer einprägsamen 

Erfahrung 

in 

Gewohnheit 

verortete.68 Man könnte das Spiel in diesem Benjamin’schen 64

Paradigmatisch für diese Entwicklung ist die Einführung des »reflecting Teams« durch den norwegischen Psychiater und Psychotherapeuten Tom Andersen. Tom Andersen, Das reflektierende Team. Dialoge und Dialoge über Dialoge, Dortmund 1990. 65 

 Dazu 

ausführlich: 

Annette 

Graczyk, 

Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München 2004, S. 77–106. 66 Astrid Deuber-Mankowsky, »Playing and Time«, IKKM Lecture, 3. 7. 2013, in: http://vimeo.com/71808138 (Stand 4. 9. 2013). 67 Lazarus , Reize des Spiels, S. 20. 68 Deuber-Mankowsky, »Playing and Time«. Walter Benjamin, »Spielzeug und Spiel«, in: Gesammelte Schriften,

Katja Rothe

43

Sinne als Scharnier hin zur sozialen Praxis beschreiben, die »als sich wiederholende und intersubjektiv verstehbare, körperlich verankerte Verhaltensweise […] – auch im Umgang mit Artefakten – zu verstehen [ist], in [der] ein implizites Wissen verarbeitet wird und die immer auch die Sinne auf eine bestimmte Weise organisier[t]«.69 Das Spiel ist ein »ambivalentes Medium des Wandels, der Transformation und der Wiederholung«70, so Deuber-Mankowsky. Das Spiel markiert den Übergang zur Gewohnheit, 

 die 

 Benjamin 

 auch 

 als 

 »Erstarrung« 

 versteht.71 Das Spiel wäre dann umgekehrt auch als Spur einer unbewussten Bewegung in der sozialen Praxis zu verstehen. Auf eben jene Spurenlese wiederum begibt sich von Staabs mit ihrem Scenokasten. Eben jenes liminale Moment des Spielens wird auch das Familienbrett von Kurt Ludewig prägen. Doch von 

 Staabs 

 Scenokasten 

 wurde 

 trotz 

 aller 

 Affinität 

 zum 

 Spiel 

 noch 

 als 

 Technik 

 der 

 »Urteilsfindung«, 

 als Forschungsinstrument verstanden. Das Familienbrett dagegen »urteilt« nicht mehr, sondern ist Instrument einer Kreation, Technik eines dynamischen Prozesses der Re-, De- und Neukonstruktion von 

 sozialen 

 Gruppen. 

 Damit 

 wird 

 das 

 Therapeutische 

 radikal 

 neu 

 definiert: 

 als 

 Form 

 des 

 »Kuratierens« von spielerischen Selbst-Bildungsprozessen. Das Kuratorische verweist hier im Sinne des lateinischen Wortursprungs »curare« (Sorge tragen, sorgen um) auf das Sorgetragen als Kulturtechnik, die im systemischen Denken ästhetisiert wird.72 Indem das Therapieren an das Spiel gekoppelt wird, wird 

es 

zu 

einem 

Akt 

des 

Gestaltens, 

des 

Designs. 

Beim 

kuratorischen 

Therapieren 

kommt 

es 

auf 

das 

 Arrangement 

von 

Rezeptionsvorgängen 

an, 

auf 

die 

Gestaltung 

von 

Szenografien, 

die 

die 

gegenseitige 

 Beobachtung und Bewertung ermöglichen. Das Beobachten und Bewerten wird somit selbst zum zentralen Moment der Therapie.73 Das systemische Therapieren bezieht sich auf ein Wahrheitsregime, das nicht normiert und nicht einmal zur Normalisierung anregt, sondern das Kuratieren von Rezeptionsvorgängen als von Praktiken geleiteten Prozess der Subjektwerdung etabliert.

69 70 71 72 73

hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band III: Kritiken und Rezensionen (1912–1940), 1928, Frankfurt a. M. 1991, S. 127. Reckwitz, Erfindung der Kreativität, S. 25. Deuber-Mankowsky, »Playing and Time«. Übersetzung K. R. Benjamin, »Spielzeug und Spiel«, S. 127. Zum Verhältnis von rational-teleologischen, moralisch-normativen und ästhetischen Praktiken siehe Reckwitz, Erfindung der Kreativität, S. 25–29. Diese Entwicklung beschreibt Kai van Eikels als Ausbildung eines Regimes der »Assessokratie«. Siehe Kai van Eikels, »Nichtarbeitskämpfe«, in: Jörn Etzold/Martin Jörg Schäfer (Hg.), Nicht-Arbeit. Politiken, Konzepte, Ästhetiken, Weimar 2011, S. 17–39, S. 29.

Auftritt der Toten Formen des Pre-, Re- und Enactments in der Geschichte der Theatrotherapie Céline Kaiser

Céline Kaiser

45

Theater 

und 

Totenbeschwörung 

sind 

seit 

der 

Antike 

eng 

miteinander 

verbunden. 

Wie 

Günter 

Heeg 

 herausgestrichen hat, ist letztere »die Urform theatraler Repräsentation, Wiederholung des unwiederbringlich Abwesenden. Charakteristisch für sie ist nicht der Anschein, die Beschworenen wären lebendig anwesend, sondern deren geisterhafte Existenz.«1 Das Spannungsfeld von Ab- und Anwesenheit, Wiederholung und Einmaligkeit, geisterhafter Latenz und heraufbeschworener Präsenz kennzeichnet jedoch nicht nur den theatralen Raum im engeren Sinne. In 

 der 

 Geschichte 

 der 

 Theatrotherapie2, so möchte ich im Folgenden argumentieren, ist die Auferstehung der Toten ein über die Jahrhunderte immer wieder auftauchendes Motiv, das die Logik des Theatralen und das skizzierte Spannungsfeld in verschiedenen Hinsichten zu überbieten versucht, indem es die Anwesenheit des oder der Abwesenden beschwört. Relevant ist dabei der implizite oder explizite Anspruch, mehr oder anderes zu sein als ein theatrales Spiel. Dieser wirkungsbezogene Überbietungsgestus hängt zweifellos mit der therapeutischen Zielsetzung zusammen, mit dem und durch das szenische 

Geschehen 

zu 

heilen. 

Zugleich 

spielen 

theatrale 

Formen, 

spielen 

Strategien 

des 

Pre-, 

Re- 

und 

 Enactments im therapeutischen Kontext ebenso eine wichtige Rolle wie in aktuellen Kunst- und Theaterformen.3 Anhand des Motivs des Auftritts der Toten lässt sich diskutieren, inwiefern szenische Strategien der Theatrotherapie zentrale Prämissen des Repräsentationstheaters sowohl aufgreifen als auch durchkreuzen. 

Fragt 

man 

nach 

Grenzziehungen 

zwischen 

Wiederholung 

und 

Re-Animation 

und 

den 

hier 

 im Vordergrund stehenden (Zeit-)Formen von Pre-, Re- und Enactment, dann eröffnet ein Blick auf die Geschichte 

der 

Theatrotherapie 

eine 

andersartige 

Perspektive 

als 

jener 

auf 

die 

Theatergeschichte. 1 

 2

3 



Günther 

 Heeg, 

 »Szenen«, 

 in: 

 Heinrich 

 Bosse, 

 Ursula 

 Renner 

 (Hg.), 

 Literaturwissenschaft. 

 Einführung 

 in 

 ein 

 Sprachspiel, Freiburg im Breisgau 1999, S. 251–269, hier: S. 255. Der von mir verwendete Begriff »Theatrotherapie« ist ein Kunst- und Sammelbegriff für verschiedene Formen und Modi theatertherapeutischer Konzepte und szenischer Praktiken seit dem 18. Jahrhundert. Ich führe diesen Terminus in die wissenschaftliche Diskussion ein, um eine vorschnelle Identifikation mit aktuellen Formen wie dem Psychodrama, der Theater- oder Dramatherapie und damit eine Engführung auf im engsten Sinne theatrale Formen zu vermeiden. Aus 

 der 

 Fülle 

 aktueller 

 Publikationen 

 vor 

 allem 

 zu 

 Formen 

 des 

 Reenactments 

 in 

 der 

 Gegenwartskultur, 

 in 

 Theater und Performance, aber auch in Film oder Literatur siehe History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactments in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance, Ausst.-Kat. Rotterdam, hg. von Inke Arns, 

Gaby 

Horn, 

Frankfurt 

am 

Main 

2007; 

Life, Once More. Forms of Reenactment in Contemporary Art, Ausst.Kat. Rotterdam, hg. von Jennifer Allen, Sven Lütticken, Rotterdam 2005; Sabeth Buchmann, Wenn sonst nichts klappt: Wiederholung wiederholen – in Kunst, Popkultur, Film, Musik, Alltag, Theorie und Praxis, Hamburg, Berlin 2005; Clarissa Baldwin u. a. (Hg.), Experience, Memory, Reenactment, Frankfurt am Main 2005; Jan Carstensen u. a. (Hg.), Living History im Museum. Möglichkeiten und Grenzen einer populären Vermittlungsform, Münster u. a. 2008; Jens Roselt, Ulf Otto (Hg.), Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2012.

Auftritt der Toten

46

In diesem Sinne werde ich mich im Folgenden mit jenen szenischen Modi beschäftigen, in denen sich in 

der 

Geschichte 

der 

Theatrotherapie 

Zukünftiges 

und 

Vergangenes, 

Unabgegoltenes 

und 

Gegenwärtiges 

verschachteln. 

Grundlage 

dafür 

wird 

eine 

kleine 

Auswahl 

von 

Fallgeschichten 

und 

Texten 

sein, 

 die das Motiv der »Auferstehung der Toten« aufgreifen. Ausgehend von Johann Christian Reils Anmerkungen zum Einsatz von Theater in der »psychischen Kur«, werde ich kurz auf zwei Fallgeschichten, die Nathaniel Wanley im 17. Jahrhundert gesammelt hat, eingehen und nach kurzen Zwischenstopps bei Josef Breuer, Theodor Reik, Jakob Levi Moreno und der Freudschen Psychoanalyse schlussendlich Bert Hellingers Erfolgsmodell, das Familienstellen, in den Blick nehmen.4 Pre-Enactment 1803 hatte Johann Christian Reil in seinen Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttung die Einrichtung einer Theaterbühne in jeder psychiatrischen Anstalt gefordert. Auf diesem speziell gestalteten Theater müszten 

die 

Hausofficianten 

hinlänglich 

eingespielt 

seyn, 

damit 

sie 

jede 

Rolle 

eines 

Richters, 

 Scharfrichters, 

Arztes, 

vom 

Himmel 

kommender 

Engel, 

und 

aus 

den 

Gräbern 

wiederkehrender 

 Todten, 

nach 

den 

jedesmaligen 

Bedürfnissen 

des 

Kranken, 

bis 

zum 

höchsten 

Grad 

der 

Täuschung vorstellen könnten.5 Was Reil programmatisch formuliert – denn auf eigene psychotherapeutische Praxis konnte er nicht zurückgreifen –, wird in Fallgeschichten seit dem 17. und 18. Jahrhundert szenisch ausbuchstabiert. Ich möchte hier zwei Fallgeschichten aus Nathaniel Wanleys umfangreichem Werk The Wonders of the Little World; or a General History of Man von 1673 anführen, die die Wiederkehr der Toten thematisieren. 

Diese 

Miniatur-Fallgeschichten 

finden 

sich 

im 

zweiten 

Buch, 

»The 

Powers 

and 

Affections 

 of the Senses of Man«, unter der Rubrik »Of the Imagination, and the Force of it in some Persons«. Wanley 

 selbst 

 war 

 kein 

 Arzt, 

 sondern 

 ein 

 Geistlicher. 

 Sein 

 Hunderte 

 von 

 Seiten 

 umfassendes 

 Kompendium, das alle möglichen Kuriositäten und Merkwürdigkeiten aus dem Fundus alteuropäischer Literatur enthält, hat entsprechend eher belehrenden und unterhaltenden Charakter. Doch Wanleys Sammlung von Fallgeschichten war auch im Kontext der frühen psychiatrischen Literatur beliebt, seine 

Fälle 

wurden 

z. 

T. 

wie 

Erfahrungsberichte 

eines 

Kollegen 

kolportiert 

und 

finden 

Erwähnung 

etwa 

 4

5

Eine eingehende Untersuchung dieses Themenkomplexes wird im Rahmen einer Monografie erfolgen, die unter dem Titel Szenen des Subjekts. Kulturmediengeschichte der Theatrotherapie seit dem 18. Jahrhundert im transcript Verlag erscheinen wird. Johann Christian Reil, Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttung (Nachdruck der Ausgabe Halle 1803), Aachen 2001, S. 209 ff. Hervorhebung von mir, C.K.

Céline Kaiser

47

in William Pargeters Observations on Maniacal Disorders6 sowie noch 1835 / 1838 im Grundriss der Seelenheilkunde des Berliner Psychiaters Karl Wilhelm Ideler. Beide Fallgeschichten berichten von Männern, die sich fest einbilden, sie seien gestorben. Im ersten Fall verweigert ein adliger Mann jedwede Nahrungsaufnahme, weil er als Toter nichts mehr essen müsse. Aus Sorge, dass er deshalb bald wirklich sterben würde, denken sich seine Freunde ein therapeutisches Spiel für ihn aus. In seinen verdunkelten Aufenthaltsraum schicken sie einige Männer, die in Leichentücher eingewickelt und auf diese Weise wie Tote gekleidet sind. Vor den Augen des eingebildeten Toten verspeisen sie ein ausgiebiges Mahl. Auf seine Frage hin, wer sie seien, antworten sie, sie wären Tote. Verwundert erkundigt er sich, ob Tote etwa auch essen würden. Sie bejahen und laden ihn ein, an ihrer Tafel Platz zu nehmen. Er lässt sich nicht lange bitten und isst mit ihnen zu Abend, kommt wieder zu Kräften und, siehe da: »he was cured«7. Im zweiten Fall lässt sich »ein junger Hypochondrist« nicht davon abbringen, dass er endlich beerdigt werden möchte, bevor er verfault. Man lässt sich darauf ein, legt ihn auf eine Totenbahre und bringt ihn zum Friedhof. Auf dem Weg dorthin wird die Trauergemeinde von einigen »Purschen«8 aufgemischt, die sich hartnäckig über den angeblichen Toten lustig machen und ihn beleidigen. Der Kranke richtete sich in dem Sarge auf, und sagte, er habe eine solche Beschimpfung nicht verdient, und wäre er nicht todt, so sollten sie eines anderen belehrt werden. Da die losen Vögel nicht 

zu 

schimpfen 

aufhörten, 

sprang 

er 

von 

der 

Todtenbahre 

herab, 

fiel 

über 

sie 

mit 

Wuth 

her, 

 und prügelte sie so lange, bis er ganz müde wurde, worauf er genas.9 Beide Fallgeschichten stellen eine szenische Form dar, die ich in Anlehnung an die Verwendung des Begriffs in der heutigen Theaterpraxis als Preenactment beschreiben möchte. An beiden lässt sich eine Strategie beobachten, welche darauf setzt, durch die Inszenierung von Zukunftserwartungen der Patienten eine Heilung zu provozieren. Zugleich macht der Blick auf diese Fallvignetten schon deutlich, dass das Zukünftige, das sich im szenischen Spiel rund um den Patienten entfaltet, in seiner Zeitstruktur komplexer ist: Nicht nur sind 6 7 8 9

William Pargeter, Observations on Maniacal Disorders, Reading 1792. Nathaniel Wanley, The Wonders of the Little World; or a General History of Man, 1673, Reprint 1806, Buch 2, Abschnitt 14 und 15, S. 149 f. Ich zitiere nach der Übersetzung von Karl Wilhelm Ideler, Grundriss der Seelenheilkunde, Berlin 1838, Zweiter Theil, S. 906 f. Ebd.

48

Auftritt der Toten

die vorweggenommenen Ereignisse direkte Ableitungen eines angenommenen gegenwärtigen Ist-Zustandes der Patienten, sie beruhen darüber hinaus auf einer gewissermaßen rituellen Wiederholungsstruktur. Im einen Fall wird der Ritus des Leichenschmauses und gemeinsamen Essens so inszeniert und 

 modifiziert, 

 dass 

 der 

 Kranke 

 zu 

 der 

 Überzeugung 

 gelangen 

 kann, 

 auch 

 die 

 Toten 

 würden 

 einen 

 Leichenschmaus miteinander teilen. Mit dieser Reinszenierung wird zugleich mit dem Ritus auch das Rollenskript, das der Kranke sich verordnet hat, umgeschrieben. Dem ›Immer-schon‹ des Ritus wird eine différence der therapeutischen Wiederholung zur Seite gestellt. Im anderen Fall wird der Kranke dazu verführt, ›aus der Rolle zu fallen‹, weil die üblichen Verhaltenskodizes beim Beerdigungsritus nicht eingehalten werden und er quasi auf seinen eigenen, selbst wiederum nicht rollenkonformen verbalen und physischen Einsatz angewiesen ist, um diese ›falsche‹ Inszenierung zu ahnden. In dem Moment, in dem er die aktuelle Inszenierung mit der erwarteten abgleicht und Korrekturen an ihr vornimmt, verlässt er den Rahmen des Ritus und damit zugleich seines (für ihn selbst gar nicht als Spiel 

markierten) 

Handelns 

– 

und 

ist 

auf 

einen 

Schlag 

von 

seiner 

fixen 

Idee 

geheilt. Der Raum der Therapie ist in beiden Fallgeschichten jener der Alltagswelt des Patienten, eine Trennung von Zuschauer- und Bühnenraum ist weder räumlich noch strukturell eindeutig auszumachen. Die gespielte Welt einiger Akteure ist nicht allgemein erkennbar von jener der anderen (wahnhaft entrückten oder schlicht unbeteiligten) Akteure abgesondert. Die Struktur solcher Szenen greift zurück auf die ärztliche Praxis des ›frommen Betrugs‹ und implementiert diese in die Praktiken des ›moral treatment‹ oder ›moral management‹. So generieren die therapeutischen Preenactments einen Szenenraum 

von 

›schlagender‹ 

Evidenz, 

in 

welchem 

die 

fixen 

Zukunftserwartungen 

des 

Patienten 

aufgegriffen, inszeniert und im Zuge der Inszenierung an einen aporetischen Punkt getrieben werden, der hier im einen Fall direkt zur physischen Kur mutiert, im anderen Fall mitsamt der Inszenierung auch die wahnhafte Idee ad absurdum führt, aus den Angeln hebt und dadurch in ›einem glücklichen Moment‹ ›heilt‹.10 Reenactment In 

 seinen 

 unlängst 

 erschienenen 

 kritischen 

 Reflexionen 

 über 

 das 

 Verhältnis 

 von 

 Theater 

 und 

 Geschichte 

hat 

Günther 

Heeg 

die 

Frage 

nach 

dem 

Einsatzpunkt 

theatraler 

Praxis, 

die 

›unwiederbringlich 

 Abwesenden‹ wieder heraufzubeschwören, erneut aufgegriffen. Die »Zeitform« des Reenactments, 10 

 Szenische 

 Praktiken 

 dieser 

 Art 

 werden 

 in 

 der 

 medizinhistorischen 

 Literatur 

 vor 

 allem 

 unter 

 dem 

 Gesichtspunkt desjenigen Krankheitsbildes, in dem sie vorrangig Anwendung fanden, rubriziert und analysiert: dem der 

Melancholie. 

Meine 

Forschungsarbeit 

zielt 

dagegen 

auf 

eine 

Geschichte 

szenischer 

Formen, 

die 

sich 

nicht 

 deckungsgleich 

mit 

einer 

Geschichte 

der 

Therapie 

einzelner 

Krankheitsbilder 

erzählen 

lässt. 

Siehe 

zur 

Melancholie etwa die ausführliche Studie von Jean Starobinski, Geschichte der Melancholiebehandlung, Berlin 2011.

Céline Kaiser

49

mit 

dem 

sich 

der 

von 

ihm 

herausgegebene 

Band 

zum 

Verhältnis 

von 

Theater 

und 

Geschichte 

auseinandersetzt, sei, so schreibt er mit Bezug auf Rebecca Schneider11, durch ein »Ineinander von Belebtem und Unbelebtem«12 gekennzeichnet: Dieses lässt sich nicht mehr als Vergegenwärtigung eines Vergangenen begreifen. Vergegenwärtigung impliziert und suggeriert die restlose Verlebendigung des Vergangenen, während das Unbelebte, 

das 

im 

Reenactment 

zu 

Tage 

tritt, 

die 

Resistenz 

aller 

toten 

Geschlechter 

gegen 

ihre 

 Indienstnahme 

durch 

die 

Gegenwart 

markiert. 

In 

der 

abgestorbenen 

Gestalt 

nicht 

präsent 

zu 

 machender, 

nicht 

(re)präsentierbarer 

Überreste 

suchen 

sie 

die 

Gegenwart 

heim: 

als 

Gespenst, 

 Symptom und Unabgegoltenes, als Wiederkehrendes und Wiedergeholtes, als Wiederholung.13 Heegs 

 kritische 

 Reflexionen 

 auf 

 den 

 Status 

 der 

 szenischen 

 Wiederholung 

 in 

 aktuellen 

 Theorien 

 des 

 Reenactments 

beruht 

selbst 

wiederum 

auf 

einem 

Modell 

der 

Szene, 

das 

– 

blickt 

man 

auf 

die 

Geschichte der szenischen Therapieformen – auch von der Psychoanalyse geprägt ist, in der die Wiederholung des Unabgegoltenen, des Traumatischen sich in der Wiederkehr der Symptome manifestiert. Wenn Heeg das Reenactment in diesem Sinne als »nicht geheure Raum-Zeit«, als eine Zeit »des Nachlebens und Überlebens«14 charakterisiert, dann liegt das an der im Reenactment aufrechterhaltenen Schwebesituation 

zwischen 

Vergangenem 

und 

Gegenwärtigem, 

die 

mit 

der 

Figur 

des 

Gespenstes 

markiert 

 wird. Kein Wunder also, dass Hamlet-Reminiszenzen an solchen Punkten Konjunktur haben. Theodor Reik etwa hatte Hamlet auf den Plan gerufen, als es ihm im Zuge seiner Ausführungen über die Eigenart der psychoanalytischen Situation, die er 1948 im US-amerikanischen Exil unter dem Titel Listening with the Third Ear veröffentlichte, darum ging, wie unbrauchbar es für den Fortgang einer Psychoanalyse sei, den Phantasien des Patienten als Therapeut mit ›rationalen‹ Argumentationen zu begegnen: Es ist die Aufgabe des Analytikers, die unbewußte magische Sicht des Patienten in bewußte psychologische Einsicht zu verwandeln. […] Den unbewußten Prozessen mit Kälte und Rationalität 

zu 

begegnen, 

wäre 

genauso 

dumm 

wie 

zu 

protestieren: 

»Es 

gibt 

keine 

Geister!«, 

wenn 

der 

 Geist 

des 

Königs 

in 

›Hamlet‹ 

erscheint. 

Ehe 

man 

nicht 

die 

psychische 

Realität 

der 

Erscheinung 

 akzeptiert hat, ist es nicht möglich, zu verstehen, was in Hamlets Kopf vor sich geht. Bei dieser 11 

 Gemeint 

ist 

ihre 

Publikation 

Performing remains. Art and War in Times of Theatrical Reenactment, London, New York 2011. 12 

 Günther 

 Heeg, 

 »Reenacting 

 History: 

 Das 

 Theater 

 der 

 Wiederholung«, 

 in: 

 ders., 

 Micha 

 Braun, 

 u. 

 a. 

 (Hg), 

 Reenacting 

History: 

Theater 

& 

Geschichte, 

Berlin: 

Theater 

der 

Zeit, 

Recherchen 

109: 

2014, 

S. 

1 3. 13 Ebd. 14 Ebd.

Auftritt der Toten

50

Erkenntnis 

folgen 

die 

Zuschauer 

dem 

Rat 

des 

Prinzen 

selbst. 

Als 

der 

Geist 

spricht, 

schreit 

Horatio: »Beim Sonnenlicht, dies ist erstaunlich fremd!«, und Hamlet antwortet: »So heißt als einen Fremden es willkommen.« 15 Die 

Anerkennung 

der 

›Geister‹ 

des 

Patienten 

findet 

allerdings 

im 

Rahmen 

der 

psychoanalytischen 

 Situation statt, die räumlich und kommunikativ klar von der Alltagssituation und -wahrnehmung abgrenzt wird.16 Wie Reik herausstreicht, erzeugt der Sonderraum auch eine eigentümliche »Magie« der Psychoanalyse, in welcher die Schwelle hin und zurück zwischen Alltagswelt auf der einen und einer (in diesem Sinne eingehegten) ›Verlebendigung‹ der Vergangenheit auf der anderen Seite deutlich wahrnehmbar ist und wahrgenommen wird.17 In der Frühgeschichte der Psychoanalyse nahm die Arbeit mit Techniken des Nachstellens und Reinszenierens 

 noch 

 konkretere 

 Formen 

 an 

 als 

 in 

 den 

 späteren 

 Konzepten 

 von 

 Übertragung 

 und 

 Gegenübertragung. 

In 

der 

Fallgeschichte 

der 

Anna 

O., 

die 

häufig 

als 

Gründungsgeschichte 

der 

Psychoanalyse 

betrachtet wird, lässt sich Josef Breuer nicht nur ganz im Sinne Reiks auf das »Privatheater«18 ein, wie die Patientin Bertha von Pappenheim ihre intensiven Tagträume nennt, in die sie während alltäglicher Situationen entgleitet. Vergangenes wird in der 1895 gemeinsam mit Sigmund Freud in den Studien über Hysterie herausgegebenen »Beobachtung I. Frl. Anna O...« buchstäblich als Wiedergeholtes reinszeniert.19 15

Theodor Reik, Hören mit dem dritten Ohr. Die innere Erfahrung eines Psychoanalytikers, Hamburg 1976, S. 123. 16 

 Zur 

 Frage 

 der 

 Rahmung 

 szenischer 

 Therapieformen 

 siehe 

 die 

 grundlegenden 

 Schriften 

 von 

 Gregory 

 Bateson, 

 Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt 

 am 

 Main 

 1985, 

 Erving 

 Goffman, 

 Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt am Main, 1980 sowie frühere Überlegungen in: Céline Kaiser, »Spiel und Rahmen in der Theatrotherapie um 1800,« in: Regine Strätling (Hg.), Spielformen des Selbst, Bielefeld 2012, S. 151–166. 17 Reik, Hören mit dem dritten Ohr, S. 120: »Ein Patient beginnt seine Sitzung mit ›Wie geht es Ihnen?‹ Er sagt einige Worte über das, was heute oder gestern geschah, aber innerhalb einiger Minuten sind sie vergessen, und 

die 

Vergangenheit 

wird 

so 

lebendig, 

als 

wäre 

sie 

die 

Gegenwart. 

Eltern, 

die 

schon 

lange 

tot 

sind, 

werden 

 in seiner Erinnerung wieder lebendig, Kindheitsszenen werden wiedererlebt, als wären sie hier und jetzt, und frühe Sorgen werden empfunden, als ob sie heute entstanden wären. Wut und Liebe, Haß und Zärtlichkeit werden 

 freimütig 

 ausgedrückt, 

 und 

 Gedanken, 

 die 

 vor 

 dem 

 Tageslicht 

 zurückschrecken, 

 kriechen 

 aus 

 ihren 

 Verstecken hervor. Und dann kommt der Moment, wo der selbst auferlegte Bann gebrochen wird. Der Patient steht 

 von 

 der 

 Couch 

 auf 

 und 

 sieht 

 nur 

 noch 

 das 

 Behandlungszimmer. 

 Plötzlich 

 muß 

 er 

 seine 

 Gefühle 

 wieder 

 ordnen, wenn er sich in der Welt der Wirklichkeit wiederfindet.« 18 Sigmund Freud, Josef Breuer, Studien über Hysterie, Leipzig und Wien 1895, S. 15. Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: http://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_015. jpg&oldid=1122927 (Version vom 29.05.2010). 19 Mikkel Borch-Jacobsen hat den Vorbehalt formuliert, Anna O.s Privattheater sei eine Wiederauflage der Hyp-

Céline Kaiser

51

Breuer 

berichtete, 

dass 

seine 

Patientin, 

die 

während 

der 

Pflege 

und 

vor 

allem 

nach 

dem 

Tod 

ihres 

 Vaters schwer erkrankt war, sich bei den allabendlichen Visiten gut hypnotisieren ließ. Unter Hypnose sprach 

sie 

sich 

nicht 

nur 

›im 

Krebsgang‹ 

all 

jene 

Geschichten 

›von 

der 

Seele‹, 

die 

sich 

als 

›unerledigter 

 Rest‹ angesammelt hatten, und ›reagierte‹, so später auch Freuds Fazit, verdrängte Affekte ab. Sie stellte 

 darüber 

 hinaus 

 im 

 Verlauf 

 der 

 Therapie 

 eine 

 exakte 

 Reproduktion 

 der 

 Geschehnisse, 

 die 

 sich 

 ein Jahr zuvor zugetragen hatten, nach. Ihr Privattheater nahm im Zuge dessen ausgesprochen szenische Formen an: Möbel wurden so gerückt, dass ein exaktes Reenactment ermöglicht wurde, das von Breuer als Schlusspunkt der Therapie betrachtet wird.20 Hier wird, soweit ich sehe, die Strategie des Reenactments erstmals in der Form eingesetzt, traumatische Schlüsselszenen der individuellen Pathogenese szenisch zu wiederholen. Mehr noch: Im Sinne populärkultureller Reenactments oder juridischer Formen der Tatortbegehung geht es hier darum, sich 

 wieder 

 in 

 ein 

 vergangenes 

 Geschehen 

 hineinzuversetzen, 

 dadurch 

 dass 

 etwa 

 die 

 räumlichen 

 Parameter möglichst genau nachgestellt werden. Anna O. geht auf Zeitreise, allerdings um in und durch diese Zeitreise die verhängnisvolle Verwicklung (auch) ihres Zeiterlebens wieder aufzulösen, für die es in den populären Reenactment-Praktiken keine direkten Parallelen geben dürfte.21 Was Josef Breuer auf den Wunsch seiner Patientin hin in der Therapie geschehen lässt, wird später von Freud differenziert, 

theoretisiert 

und 

deutlich 

modifiziert. 1914 kommt er in seinem Aufsatz Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten auf Anna O. zurück, um eine Begriffsunterscheidung zu etablieren, die für die Frage eines Reenactments in der Psychoanalyse für lange Zeit wesentlich werden wird. In Stellung gebracht werden die Begriffe ›Erinnerung‹, ›Wiederholung‹ und ›Agieren‹. So heißt es über den in seinen alten Beziehungsmustern und Szenen verhafteten Patienten, er »erinnere überhaupt nichts von dem Vergessenen und Verdrängten, sondern er agiere es.

20 21

nosepraxis des ausgehenden 19. Jahrhunderts von Hansen und anderen sowie den therapeutischen Suggestionen Breuers geschuldet. Für unseren Zusammenhang ist jedoch weniger die Entscheidung Simulation ›Ja oder Nein‹, sondern vielmehr die szenische Form des psychotherapeutischen Arrangements von Interesse. Mikkel Borch-Jacobsen, Anna O. zum Gedächtnis. Eine hundertjährige Irreführung, München 1997. Zur Fallgeschichte der Anna O. siehe auch den Beitrag von Ingo Uhlig in diesem Band sowie seine Monografie: Poetologien des Ereignisses bei Gilles Deleuze, Würzburg 2008, insbesondere Seite 123–130. Zur These, Reenactments inszenierten populäre Zeitreisen, auf die die eingangs zitierten Bemerkungen von Günther 

 Heeg 

 kritisch 

 Bezug 

 nehmen, 

 siehe 

 Ulf 

 Otto, 

 »Die 

 Macht 

 der 

 Toten 

 als 

 das 

 Leben 

 der 

 Bilder. 

 Praktiken des Reenactments in Kunst und Kultur«, in: Jens Roselt, Christine Weiler (Hg.), Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten, Bielefeld 2011, S. 185–201, S. 192: »[Das Reenactment] will 

Kontakt 

zu 

den 

Ahnen 

herstellen. 

Nur 

reicht 

deren 

Macht 

eben 

nicht 

mehr 

bis 

in 

die 

Gegenwart. 

Deshalb 

 muss man sich zu ihnen herab begeben. Statt sie im Hier und Jetzt heraufzubeschwören, gilt es, die Zeitreise anzutreten und sich so selbst in die Vergangenheit zu begeben, um in Kontakt mit ihnen zu treten.«

52

Auftritt der Toten

Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, daß er es wiederholt.«22 Freud implizierte in dieser Frontstellung von Agieren und Erinnern eine Wertung, die klar zugunsten des sprachlich vollzogenen Erinnerns votierte und auf diese Weise die agierende Handlung als unreflektierte 

Wiederholungsform 

fest- 

und 

weitgehend 

abschrieb. 

Die 

psychoanalytische 

Sitzung 

 ist in seinem Verständnis ein »Tummelplatz« der Übertragungen, eine Bühne gewissermaßen, auf der es dem Analysanden »auferlegt ist, uns alles vorzuführen, was sich an pathogenen Trieben im Seelenleben […] verborgen hat.«23 Die wiederholende Aktion wird somit deutlich als eine zwanghafte 

Inszenierung 

unbewusster 

Triebe 

und 

Konflikte 

des 

Analysanden 

identifiziert. 

Zwar 

ist 

das 

 Konzept 

von 

Übertragung 

und 

Gegenübertragung 

z wischen 

Analysand 

und 

Analytiker 

bereits 

eines, 

 in welchem Wechselwirkungen zwischen den Akteuren thematisiert werden. Dennoch richtet sich der Blick des Analytikers im Wesentlichen auf den Patienten und seine pathologischen Reinszenierungen, ja: Reanimationen24 und nicht auf die gemeinsam hergestellte Situation zwischen den direkt beteiligten Akteuren. Michael Balint hat diesen Zusammenhang Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem Begriff der EinPersonen-Psychologie beschrieben, dem er, aufbauend auf Ansätzen seines Lehranalytikers Sandor Ferenczi, eine erweiterte Sicht, eine Zwei-Personen-Psychologie gegenüberstellte. In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben sich, Balints Thesen und Forschungen weiterführend, einerseits eine mehr oder minder konstruktivistische, andererseits eine an performativen Aspekten besonders der Traumatherapie interessierte Richtung der Psychoanalyse profiliert. Diese Ansätze betonen auf je unterschiedliche Weise den Aufführungscharakter der analytischen Situation und den Aspekt einer gemeinsamen Koproduktion von Analysand und Analytiker.25 Die Rede 22 

 Sigmund 

Freud, 

»Erinnern, 

Wiederholen, 

Durcharbeiten«, 

in: 

ders., 

G esammelte Werke. Band X: Werke aus den Jahren 1913–1917, Frankfurt am Main 1999, S. 126–136, hier: S. 129. 23 Ebd., S. 134. Zu dieser Textstelle siehe auch Regine Strätling, »Spielen, Wiederholen, Erinnern«, in: Uta Daur (Hg.), Authentizität und Wiederholung. Künstlerische und kulturelle Manifestationen eines Paradoxes, Bielefeld 2013, S. 105–118. 24 Siehe Sigmund Freud, »Bruchstücke einer Hysterieanalyse« (1905), in: Gesammelte Werke Band V, S. 279: »Was sind die Übertragungen? Es sind Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen und Phantasien, die während des 

 Vordringens 

 der 

 Analyse 

 erweckt 

 und 

 bewußt 

 gemacht 

 werden 

 sollen, 

 mit 

 einer 

 für 

 die 

 Gattung 

 charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes. Um es anders zu sagen: eine ganze Reihe früherer psychischer Erlebnisse wird nicht als vergangen, sondern als aktuelle Beziehung zur Person des Arztes wieder lebendig.« 25 Besonders hervorzuheben ist hier die Arbeit von Diana Pflichthofer, Spielräume des Erlebens. Performanz und Verwandlung in der Psychoanalyse, 

Gießen 

2008.

Céline Kaiser

53

vom Enactment in der Psychoanalyse markiert diesen Übergang: weg vom Reenactment hin zum Enactment. 26 Enactment Diese Ausrichtung innerhalb der Psychoanalyse hat sich vergleichsweise spät und erst gegen verschiedene 

Widerstände 

herauskristallisieren 

und 

etablieren 

können. 

Andere 

Ansätze 

in 

der 

Geschichte szenischer Therapieverfahren setzten schon deutlich früher auf die Bedeutung des Handelns im Hier und Jetzt für den therapeutischen Prozess. Mit Nachdruck hat Jakob Levi Moreno bereits in den 1920er Jahren auf diesen Punkt hingearbeitet. Der Mediziner und Theaterpraktiker setzte gegen das ›traditionelle‹, auf die Inszenierung von Dramentexten fokussierte Theater auf die Etablierung des Stegreifspiels, das er früh im psychosozialen Bereich erprobte und später zum Psychodrama in klinischen Kontexten weiterentwickelte.27 Schauspieler, Dramentext und der etablierte theatrale Rahmen sollen, wie er 1924 in seinem Stegreiftheater fordert, gegen frei improvisierende Akteure ausgetauscht werden, die keinem Rollenskript folgen, sondern Szenen ihres eigenen 

Lebens 

in 

der 

Gruppe 

auf 

der 

flexiblen 

Stegreifbühne 

ausagieren. 

Anstelle 

von 

wiederholenden 

 »Kulturkonserven« insistiert er auf der einmaligen Präsenz im Zeit-Raum der Szene. Für Morenos psychodramatische Sitzungen war es einerseits wesentlich, dass Szenen, die für die Vorstellungswelt des Protagonisten bedeutsam sind, auf der Bühne mit Hilfe von Mitspielern so nachgestellt werden, dass sie möglichst genau den Erinnerungen des Protagonisten entsprechen. Der Protagonist hat die Möglichkeit, die ihm zu- und mit ihm mitarbeitenden Akteure auf der Bühne in genau diejenigen Positionen und Haltungen zu manövrieren, die ihm wesentlich und ›korrekt‹ erscheinen. Dem wiederholenden Ausagieren der Phantasmen des Protagonisten steht andererseits ein szenischer Prozess gegenüber, in welchem die Ausgangssituation relativ offen weiterentwickelt werden kann. Der Präsenzeffekt, der im Psychodrama erzeugt werden soll, speist sich nicht aus einer täuschenden Ähnlichkeit, einer perfekten Simulation der vergangenen Szene, sondern aus der Emphase der Begegnung frei improvisierender Akteure, der Einmaligkeit und Authentizität des Spiels 26

27

Der Begriff des Enactments wird in der psychoanalytischen Diskussion keinesfalls einheitlich und häufig auch eng verquickt mit dem des Reenactments verwendet. Einen guten Überblick und Eindruck über relevante Positionen und begriffliche Binnendifferenzierungen liefert Ulrich Streeck, Szenische Darstellungen, nichtsprachliche Interaktion und Enactments im therapeutischen Prozess, in: ders. (Hg.), Erinnern, agieren und Inszenieren. Enactments und szenische Darstellungen in der Psychotherapie, 

 Göttingen 

 2000, 

 S. 

 1 3–55, 

 hier: 

 S. 

 31 

 f. 

 Siehe 

 auch den Artikel von Ulrich Streeck in diesem Band. Zu Moreno siehe die immer noch einschlägige Arbeit von Brigitte Marschall, »Ich bin der Mythe«. Von der Stegreifbühne zum Psychodrama Jakob Levy Morenos, Wien u. a. 1988.

Auftritt der Toten

54

im Hier und Jetzt. Darüber hinaus ist das Figurenarsenal des Psychodramas weit gespannt: »Auf der Bühne 

ist 

es 

beispielsweise 

auch 

möglich, 

mit 

Verstorbenen 

oder 

Wahnfiguren 

zu 

sprechen; 

dafür 

 schuf Moreno den Begriff ›surplus reality‹.«28 Auf Hamlet Bezug nehmend, heißt es bei ihm im Kontext von Psychosentherapie und einleitend in die Fallgeschichte einer Paranoikerin: Hamlet selbst sei auf der Psychodramabühne kein Schauspieler und 

 würde 

 auch 

 keinem 

 Shakespeare’schen 

 Rollenskript 

 folgen, 

 sondern 

 vielmehr 

 mit 

 dem 

 Geist 

 seines Vaters in unmittelbare, frei improvisierte Interaktion treten. Der wirkliche Hamlet mag jetzt sein eigenes Leben spielen. Im Psychodrama ist Hamlet nicht nur sein eigener Protagonist, er ist auch sein eigener Shakespeare; er ist es ja, der sein Spiel ungeschrieben in sich trägt. Wenn er die Bühne betritt, kommt er mit leeren Händen. Er ist ungeformt, 

er 

hat 

keine 

bestimmte 

Gestalt, 

nur 

einen 

unbestimmten 

Umriß. 

Was 

kommen 

wird, 

ist 

 noch 

in 

seinem 

Sein 

verborgen[,] 

es 

ist 

noch 

sein 

Geheimnis. 

[…] 

 Shakespeare in der Person des Arztes wird zu einer Art intellektueller Hebamme, ein Psychotherapeut, 

und 

im 

gemeinsamen 

Spiel 

wird 

die 

Hörerschaft 

eine 

therapeutische 

Gruppe. 

Damit 

die 

 Therapie 

wirksam 

wird, 

muß 

die 

Produktion 

sich 

vor 

aller 

Augen 

in 

der 

Gegenwart 

entfalten.29 Dieser Hamlet markiert eine wichtige Differenz zu demjenigen Theodor Reiks. Die Schwerpunkte der Szenographie haben sich verschoben. Der Therapeut ist nicht mehr wie bei Reik in der Position eines (Theater-)Zuschauers, der die Phantasiewelten des Analysanden im gesicherten Rahmen des psychoanalytischen Settings als zweite, geisterhafte Welt akzeptiert. Stattdessen wird er zum Koproduzenten, 

der 

als 

›Hebamme‹ 

Geburtshilfe 

bei 

der 

Figuration 

des 

jeweils 

anderen 

Hamlets 

leistet 

– 

welche 

 Gestalt 

dieser 

denn 

auch 

immer 

annehmen 

mag. 

Zu 

sehen 

ist 

kein 

Stück 

Literatur 

und 

auch 

keine 

 indirekte 

 Wiederauflage 

 eines 

 unabgegoltenen 

 Stücks 

 Vergangenheit. 

 Es 

 handelt 

 sich 

 nicht 

 um 

 eine 

 konkrete Rekonstruktion, Zeitreise oder geisterhafte Reinszenierung, sondern um die gemeinschaftliche Produktion einer Figur, an welcher der Protagonist ebenso wie der Therapeut und die Mitglieder der Psychodramagruppe Anteil haben. Neben 

 solchen 

 Formen 

 des 

 Enactments 

 finden 

 sich 

 in 

 den 

 letzten 

 Jahren 

 weitere 

 Modelle 

 szenisch 

 operierender Therapie, die in manchen Punkten eine Nähe zum Enactment aufweisen. 28 29

Michael Wieser, Artikel: »Moreno, Jakob Levy«, in: Personenlexikon der Psychotherapie, Wien 2005, S. 332–335, hier: S. 333. Jakob Levi Moreno, Gruppenpsychotherapie und Psychodrama. Einleitung in die Theorie und Praxis, Stuttgart 1959, S. 291.

Céline Kaiser

55

Als ein solches ist das sog. Familienstellen nach Hellinger anzusehen, eine szenische Arbeitsform, die Bert Hellinger aus unterschiedlichen Elementen vor allem gruppentherapeutischer Ansätze entwickelt hat und die gleichermaßen populär wie umstritten ist. Auch wenn Hellinger einige Jahre betont hat, er würde keine Psychotherapie betreiben, ist es ihm gelungen, eine ›Schule‹ zu etablieren, die in zahlreichen Beratungs- und Therapiekontexten auftritt.30 Das Motiv der Auferstehung der Toten spielt in Hellingers Konzept des Familienstellens eine zentrale Rolle. 

Die 

Toten 

und 

Ausgeschlossenen 

einer 

Familie 

oder 

Gruppe 

müssen, 

so 

sein 

Credo, 

in 

einer 

 Aufstellung 

vertreten 

werden. 

Eine 

Aufstellung 

soll 

insofern 

die 

verdrängten 

und 

verworfenen 

Gestalten, kurz: die mutmaßlich Untoten aus dem Umfeld der Protagonisten in Szene setzen und eine Aussöhnung zwischen Opfern und Tätern, Eltern und Kindern etc. herstellen. Eine Aufstellung wird somit als 

eine 

Form 

der 

nachholenden 

Trauerarbeit 

aufgefasst, 

die 

›falsche‹ 

Identifikationen 

auflösen 

soll. In der ›Fallgeschichte von Benjamin‹, einem jüdischen Nachfahren von Holocaust-Überlebenden und Flüchtlingen aus Russland, wird dieser aufgefordert, die Toten seiner Familie aufzustellen. Aus den Kursteilnehmern wählt er sechs Teilnehmer aus, stellt sich vor sie, weicht zurück, weint mit schmerzverzerrtem 

 Gesicht, 

 während 

 Hellinger 

 weitere 

 sechs 

 Stellvertreter 

 der 

 ›Mörder‹ 

 auswählt 

 und 

 im 

 rechten Winkel zu den Opfern platziert. Schmerz- und Wutreaktionen bei Benjamin, der mal auf die Opfer, mal auf die Täter zugeht. Dann fordert Hellinger ihn auf: Hellinger: Schau die Mörder an und sag: ›Ich bin einer von euch.‹ Benjamin mit ruhiger Stimme: Ich bin einer von euch. Er nickt zustimmend. Hellinger: 

Genau. zur Gruppe: 

Er 

ist 

mit 

den 

Tätern 

identifiziert. Benjamin nickt. Er neigt den Kopf, während er so vor den Tätern steht, und weint. Die Prozedur wird auf der Opferseite fortgesetzt, Benjamin wird hier aufgefordert, sich zu den Toten zu setzen, bei ihnen gewissermaßen Totenwache zu halten und auf diese Weise zu realisieren, dass sie ›wirklich gestorben‹ sind.31

30

31

Auf seiner aktuellen »offiziellen Homepage« spricht Hellinger wieder von seiner Arbeit als einer Form der Therapie. Der erste Satz der Startseite lautet sprechend: »Bert Hellinger is probably Europe’s most innovative and provocative psychotherapist and a best-selling psychotherapy author.« [http://www2.hellinger.com/en/home/ bert-hellinger/bert-hellinger/]. Vgl. Bert Hellinger, Der große Konflikt. Die Antwort, München 2005, S. 118 f.

Auftritt der Toten

56

In der gesamten Aufstellung werden keine Figuren entwickelt oder verbale Interaktionen ausgespielt. Allerdings werden ›Rollen‹ vergeben (die toten Familienmitglieder, die Mörder), ohne dass diese weiter ›gefüllt‹, mit konkreten Charakteristika ausgestattet würden. Die Stellvertreter agieren wie die Protagonisten sehr reduziert, bewegen sich vorsichtig aufeinander zu oder voneinander weg, reagieren auf Hellingers Einwürfe, zeigen emotionale Bewegtheit, die die Bedeutsamkeit des szenischen Geschehens 

beglaubigt 

und 

in 

Hellingers 

Protokollen 

und 

Videoaufzeichnungen 

festgehalten 

wird. 

 Ziel ist es offenkundig nicht, Szenen aus der Vergangenheit nachzustellen oder zu reinszenieren, da auf Darstellung im engeren Sinn grundlegend verzichtet wird. Hellingers Habitus und einzelne deutende Sätze rahmen die Szenen und inszenieren ihn zugleich als Vermittler 

eines 

Wissens, 

das 

dem 

szenischen 

Geschehen 

›schon 

immer‹ 

zugrunde 

liegt. 

In 

seiner 

 Ausdrucksweise: ›Es zeigt sich etwas‹, ›Etwas kommt ans Licht‹, kurz: In einer Aufstellung offenbare sich eine ›höhere Wahrheit‹. Folgerichtig wurde der Szenenraum der Familienaufstellungen von einem Schüler Hellingers, Albrecht Mahr, auch als »das wissende Feld« beschrieben, das die Bewegungen 

der 

Stellvertreter 

lenke 

und 

das 

szenische 

Geschehen 

steuere.32 Dagegen kommt die konkrete Szenografie 

dieses 

Offenbarungsgeschehens 

im 

Wesentlichen 

mit 

einem 

Stuhlkreis 

aus, 

in 

dessen 

 Mitte sich die Stellvertreter und Protagonisten bewegen. Hellingers Stellvertretungsmodell liegt zum einen eine bestimmte Interpretation des christlichen Auferstehungsglaubens zugrunde, die das Verhältnis von Judentum und Christentum in einen bestimmten Zusammenhang rückt. »Der Jude« in der christlichen Vorstellungswelt ist, so seine These, die Stellvertreterfigur 

des 

am 

Kreuz 

verzweifelnden 

Menschen 

Jesus 

Christus, 

den 

der 

christliche 

Auferstehungsglaube verdrängt habe.33 

In 

seine 

Adaptation 

dieser 

›Urszene‹ 

der 

Stellvertretungsfigur 

mischen 

sich 

 jedoch zum anderen auch Traditionen, deren Totenkult eine Heimsuchung der Lebenden durch die Toten denkt. 

So 

heißt 

es 

in 

seiner 

Monografie 

Der 

große 

Konflikt. 

Die 

Antwort aus dem Jahre 2005: In vielen Aufstellungen kam ans Licht, dass die Einzelnen, denen Unrecht getan wurde, als Einzelne die Seelen derer besetzen, die ihnen Unrecht taten oder aus ihrem Unglück Nutzen zogen, und dass sie nicht nur deren Seelen besetzen, sondern auch die ihrer Nachkommen, und zwar 32

33

Konzeptionen wie diese machen das Familienstellen nach Hellinger höchst anschlussfähig für esoterische Diskurse, auch wenn sich Mahr auf seiner Homepage als Leiter des Würzburger Instituts für Systemaufstellungen und Integrative Lösungen und Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse und Systemtherapie präsentiert. Siehe: Albrecht Mahr, »Das wissende Feld – Familienaufstellung als geistig – energetisches Heilen«, in Geistiges Heilen für eine neue Zeit, München 1999, Download unter http://www. mahrsysteme.de/literatur.html. Ebd., S. 114 f.

Céline Kaiser

57

so lange, bis das Unrecht anerkannt wird, bis man ihnen in die Augen schaut, bis sie als Menschen wie wir anerkannt werden, bis wir ihnen die Ehre geben und mit ihnen gemeinsam über ihr Schicksal trauern.34 Diese in seinem Denkmodell zwingende Versöhnung wird in den Sitzungen mit einer Dynamik gekoppelt, 

 die 

 auf 

 der 

 Dichotomie 

 von 

 Opfer- 

 und 

 Täterschaft 

 beruht. 

 Gleich, 

 ob 

 es 

 sich 

 um 

 »Inkas 

 und Spanier«35 oder um jüdische Holocaust-Opfer und deren Nazi-Mörder handelt, Opfer und Täter müssen strukturell in den Aufstellungen in Erscheinung treten, um auf diese Weise Unrecht und Rachegefühle, 

Trauer 

und 

Schmerz 

›anzuerkennen‹ 

und 

damit 

idealiter 

innerhalb 

einer 

Gruppensitzung 

 szenisch ›zum Abschluss zu bringen‹. Hellingers Ansatz arbeitet auf der einen Seite mit szenischen Techniken, die im Hier und Jetzt der therapeutischen Szene den pathogenen Komplex zur Aufführung und Wiederholung bringen wollen. Eine weitere Ähnlichkeit zum oben skizzierten Modell des Enactments besteht darin, dass auf eine mimetische Darstellungsweise, auf eine szenische Repräsentation vergangener Situationen verzichtet wird (die Stellvertreter agieren nicht wie Schauspieler, die einem Skript folgen könnten, die 

Szenographie 

beschränkt 

sich 

auf 

einen 

Raum 

inmitten 

einer 

Gruppe 

oder 

Gemeinschaft). 

Auf 

 der anderen Seite etabliert die Einbettung der Hellinger’schen Aufstellungen in esoterische Diskurse, die zentral von einer Wirkmächtigkeit der Ahnen ausgehen, einen ganz anderen szenischen Charakter, als wir ihn im Zusammenhang von Psychoanalyse und Morenos Psychodrama beschrieben haben. 36 Hellingers Vergangenheit »als Mitglied eines katholischen Missionsordens bei den Zulus in Südafrika«37, seine Konzeption des Ur-Stellvertreters Jesus und vor allem die Rahmung seiner Szenen legen nahe, dass seine Praxis des Familienstellens christliche Traditionen der Reinszenierung aufgreift. Zum protestantischen Konzept der Personalpräsenz, welches sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etablieren konnte, lässt sich, soweit ich sehe, eine grundlegende Struktur34 35 36

37

Ebd., S. 121. … wie in der Fallgeschichte, die der in diesem Band dokumentierten Ausstellungsstation zugrunde lag, siehe S. 174ff. Neuerdings hat Hellinger gemeinsam mit seiner Frau Sophie Hellinger den Bezugsrahmen über den Kreis der Ahnen hinaus erweitert: Die Rede ist nun von »Cosmic Power«, einer kosmischen Energie (und eingetragenen Marke), die ›uns‹ in den Aufstellungen grundsätzlich auch mit dem »Trauma von Vernichtungskriegen« wie zum Beispiel dem »Mongolensturm« in Verbindung setzt oder setzen könnte, wenn diese denn aufgestellt würde. Siehe: http://www2.hellinger.com/home/cosmicpower/die-neue-qualitaet-cosmic-powerr-familienstellen/. Ebd.

Auftritt der Toten

58

ähnlichkeit ausmachen: Die Wirkmacht der Szene wird nicht aus der Performanz der in ihr hervorgebrachten 

Aktionen 

oder 

einer 

Deutung 

des 

dargestellten 

Geschehens 

abgeleitet, 

sondern 

diese 

wird 

 vielmehr umgekehrt so gedacht, dass sie der Aufführung schon jeweils zugrunde liegt. Es sind die Ahnen und das Wirkungsfeld der Aufstellung, der spirituelle kosmische Zusammenhang, die etwas sichtbar werden lassen, nicht die Handlungen mehr oder minder autonomer Akteure.38 Nur so lässt sich auch verstehen, dass die aufgeführte Szene mehr wissen kann als die Protagonisten, wie einzelnen Aufstellungsaufzeichnungen zu entnehmen ist. Wird 

 das 

 Motiv 

 der 

 Auferstehung 

 der 

 Toten 

 in 

 der 

 Geschichte 

 der 

 Theatrotherapie 

 derart 

 gewendet und der Impuls des Enactments, die therapeutische Szene als Koproduktion aller Beteiligten zu betrachten, konterkariert, bleibt dem Protagonisten nicht viel anderes übrig, als die ›Offenbarung‹ dessen, ›was sich zeigt‹, die postulierte Anwesenheit des Abwesenden schlicht an- und hinzunehmen – oder aber sich aus der Szene zu verabschieden und gegebenenfalls andere Formen der Reinszenierung aufzusuchen.

38

Siehe hierzu den differenzierten Aufsatz von Alexander Schwan, »Jesus reenacted. Authentizität und Wiederholung im Abendmahl«, in: Uta Daur (Hg.), Authentizität und Wiederholung: Künstlerische und kulturelle Manifestationen eines Paradoxes, Bielefeld 2013, S. 255–272, hier: S. 271, wo er zum Konzept der Personalpräsenz der Leuenburger Konkordie von 1973 schreibt: »Nicht der exakte Vollzug einer Handlung, nicht das Aussprechen 

wirkmächtiger 

Worte 

des 

Liturgen 

und 

nicht 

die 

Glaubensvirtuosität 

der 

Rezipienten 

konstituieren die Authentizität der Wiederholung, sondern allein die Person Christi als Urheber und Anstifter der Abendmahlsgemeinschaft. Derart mit dem Axiom radikaler Theonomizität gedacht, wird Authentizität deutbar als ein Aspekt göttlichen Wirkens und menschlicher Einflussnahme radikal entzogen. Authentizität ist damit kein herstellbarer Effekt von Wiederholung, sondern umgekehrt die transzendentale Ermöglichungsbedingung performativer Repetition.« Weitere Untersuchungen (auch von theologischer Seite) wären zu diesem Zusammenhang wünschenswert.

Philippe Pinel

[1800] Lioba von Hardenberg, Victoria Waldhausen

Kurzfilm 

»Der 

Fall 

des 

Schneiders« 

der 

Filmstudentinnen 

Lioba 

von 

Hardenberg 

und 

V ictoria 

Waldhausen 

zu 

einer 

Fallgeschichte 

von 

Philippe 

Pinel. 

 (Deutschland, 15:30 Min)

Philippe Pinel Lioba von Hardenberg, Victoria Waldhausen In den 1790er Jahren und damit mitten in den Wirren der Französischen Revolution übernahm Philippe Pinel in Paris die Leitung der Anstalt von Bicêtre und war wenig später auch an der Salpêtrière leitend tätig. 1745 als Sohn eines Landarztes im Süden Frankreichs geboren, befand er sich Ende des 18. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt seiner medizinischen Karriere. Über Frankreich hinaus wurde er nicht nur als Begründer der institutionellen Psychotherapie, sondern auch als ›Befreier der Irren von den Ketten‹ gefeiert. Pinel, der sich dem Ansatz eines ›traitement moral‹ verpflichtet 

 fühlte, 

 experimentierte 

 als 

 einer 

 der Ersten mit szenischen Mitteln in der Psychotherapie.

Ein solches Experiment wird in einer Fallgeschichte aus seiner Philosophischmedicinische[n] Abhandlung über Geistesverirrungen oder Manie, die um 1800 in französischer und deutscher Sprache veröffentlicht wurde, geschildert. Ein Tagelöhner war völlig entkräftet eingeliefert worden, der von der Wahnvorstellung besessen war, dass er von Revolutionskommissaren arretiert und guillotiniert werden würde, weil er in der Öffentlichkeit einige kritische Bemerkungen zur aktuellen politischen Lage fallengelassen hatte. Nachdem andere therapeutische Maßnahmen nicht fruchteten, inszenierte er mithilfe einiger junger Ärzte eine Gerichtsverhandlung, in deren Verlauf der Schnei-

der von seiner angeblichen Schuld freigesprochen wurde. Auf diesem Wege sollte der Wahnsinnige von seiner Angst vor der Verhaftung und Verurteilung zum Tode befreit werden. Zunächst schien dieser Plan aufzugehen. Nachdem dem Patienten die Gerichtsverhandlung als reine Inszenierung 

erklärt 

worden 

war, 

fiel 

dieser 

jedoch 

 unrettbar in seinen alten Wahn zurück. Lioba von Hardenberg und Victoria Waldhausen haben aus dieser Fallgeschichte einen 

Kurzfilm 

gemacht.

Schauplätze der Kur. Räume und Objekte in Breuers und Freuds Studien der Hysterie (Anna O. ..., Katharina ...) Ingo Uhlig

Ingo Uhlig

65

1. Serie über Hysterie Heute ist es längst ein Topos, dass einem Serienhelden keine Pause vergönnt wird. Versucht er es dennoch – indem er Ferien macht, auf Reisen geht oder eine Auszeit nimmt –, holt ihn seine Berufung ein: 

Unverhofft 

und 

eher 

unwillkürlich 

findet 

er 

zurück 

in 

die 

Fortsetzung 

seiner 

Abenteuer. 

Ein 

neuer 

 Fall, ein zu lösendes Rätsel geleiten ihn zu jener Tätigkeit zurück, die er beherrscht oder – wahrscheinlich treffender formuliert – von der er beherrscht wird. Es scheint, als ob Sigmund Freud in den 1890er Jahren während der Abfassung der Studien über Hysterie längst um diese merkwürdige, ebenso schicksalhafte wie ironische Dynamik wusste. Die Studien über Hysterie1, erschienen 1895, bestehen im Kern aus einer Serie von fünf Krankengeschichten, betitelt mit den Vornamen der Patientinnen, einigen zumeist in Kürzeln dargestellten Angaben zu Alter, Familienstand oder Herkunft und der Angabe des Arztes beziehungsweise Autors: Beobachtung I. Frl. Anna O… (Breuer), II. Frau Emmy v. N…, 40 Jahre, aus Livland (Freud), III. Miss Lucy R…, 30 J. (Freud), IV. Katharina … (Freud) und V. Fräulein Elisabeth v. R… (Freud). Alle diese Frauen zeigen hysterische Symptome, alle leiden, wie es Breuer und Freud bündig ausdrücken, »an Reminiscenzen«2, das heißt an der Wiederkehr traumatischer Begebenheiten, die im unbewussten Teil ihres Erinnerungsvermögens fortdauern. Die mit der Krankheit in Zusammenhang stehenden Ereignisse der Lebensgeschichte, der eigentliche Verlauf der Krankheit und die angewandte Therapie werden von Breuer und Freud in diesen Texten dokumentiert. Nachdem sich der Leser bereits mit dem klinischen Umfeld und dem Ton des ärztlichen Berichts vertraut gemacht hat, wird in der vorletzten, der vierten der fünf Fallgeschichten eine überraschende Episode 

 eingeflochten. 

 In 

 die 

 Katharina … betitelte Studie führt eine kleine Einleitung, in der Freud berichtet, 

dass 

er 

selbst 

auf 

sonderbare 

Weise 

in 

den 

Einfluss 

der 

Wiederholung 

und 

ihrer 

Befremdlichkeit geraten ist. Nimmt man es genau, so gibt es in den Studien über Hysterie nicht nur jene fünf Frauen- oder Patientinnengestalten, deren Handeln eine Wiederholungs- oder Reminiszenz-Figur darstellt, sondern es gibt noch eine sechste: den Arzt und Erzähler Freud. Der Text eröffnet ganz im Stile einer Abenteuererzählung, wir treffen auf einen Helden, der sich Ferien 

in 

den 

Bergen 

gönnt, 

um 

dem 

Immergleichen 

des 

ärztlichen 

Berufslebens 

zu 

entfliehen, 

es 

dort 

 aber 

mit 

einer 

eigentümlichen 

Zielstrebigkeit 

wiederfindet. 

Der 

freie 

Himmel 

des 

Hochgebirges 

wird 

 scheinbar unverhofft zum Ort einer improvisierten Analyse:

1 2

Zitiert hier nach der Erstausgabe: Josef Breuer, Sigmund Freud, Studien über Hysterie, Leipzig und Wien 1895. Ebd., S. 5.

Schauplätze der Kur

66

In 

den 

Ferien 

189* 

machte 

ich 

einen 

Ausflug 

in 

den 

Hohen 

Tauern, 

um 

für 

eine 

Weile 

die 

Medicin und besonders die Neurosen zu vergessen. Es war mir fast gelungen, als ich eines Tages von der Hauptstrasse abwich, um einen abseits gelegenen Berg zu besteigen, der als Aussichtspunkt und wegen seines gut erhaltenen Schutzhauses gerühmt wurde. Nach anstrengender Wanderung oben angelangt, gestärkt und ausgeruht, sass ich dann in die Betrachtung einer entzückenden Fernsicht versunken, so selbstvergessen da, dass ich es erst nicht auf mich beziehen wollte, als ich die Frage hörte: »Ist der Herr ein Doctor?« Die Frage galt aber mir und kam von dem etwa 18jährigen Mädchen, das mich mit ziemlich mürrischer Miene zur Mahlzeit bedient hatte und von der Wirthin »Katharina« gerufen worden war. Nach ihrer Kleidung und ihrem Betragen konnte sie keine Magd, sondern musste wohl eine Tochter oder Verwandte der Wirthin sein. Ich antwortete, zur Selbstbesinnung gelangt: »Ja ich bin ein Doctor. Woher wissen Sie das?« »Der Herr hat sich in’s Fremdenbuch eingeschrieben, und da hab’ ich mir gedacht, wenn der Herr Doctor jetzt ein bischen Zeit hätte –, ich bin nämlich nervenkrank und war schon einmal bei einem Doktor in L..., der hat mir auch etwas gegeben, aber gut ist es mir noch nicht geworden.« Da war ich also wieder in den Neurosen, denn um etwas anderes konnte es sich bei dem grossen und kräftigen Mädchen mit der vergrämten Miene kaum handeln. Es interessirte mich, dass Neurosen in der Höhe von über 2000 Metern so wohl gedeihen sollten, ich fragte also weiter.3 So 

weit 

der 

Erstkontakt 

zwischen 

Arzt 

und 

Patientin, 

von 

Freud 

(wie 

auch 

das 

anschließende 

Gespräch) 

aus 

dem 

Gedächtnis 

rekonstruiert, 

der 

Dialekt 

Katharinas 

wird 

in 

der 

wörtlichen 

Rede 

nachempfunden. Die sonst übliche Befragung unter Hypnose unterlässt der Arzt angesichts des improvisierten Rahmens und ersetzt sie durch gezielte, den ihm vertrauten Mustern der Krankheit folgende Fragen. 

»Die 

Hypnose 

zwar 

wagte 

ich 

nicht 

in 

diese 

Höhen 

zu 

verpflanzen, 

aber 

vielleicht 

gelingt 

es 

 im 

einfachen 

Gespräche. 

Ich 

musste 

glücklich 

rathen.« 4 Freud – so könnte man dieses Verfahren skizzieren – stellt Vermutungen an und lässt sie von Katharina korrigieren oder, wie in den überwiegend ›glücklichen‹ Fällen, bestätigen. Interessiert zeigt sich Freud hier aber zunächst weniger an der Krankheit selbst, sondern an der Besonderheit ihres geographischen Auftretens: »dass Neurosen in der Höhe von über 2000 Metern so wohl gedeihen sollten«. Die Verwunderung, die hier mitschwingt, rührt wohl daher, dass eher Städte 3 4

Ebd., S. 107. Ebd., S. 108.

Ingo Uhlig

67

und 

vor 

allem 

die 

Großstädte 

des 

Fin 

de 

Siècle 

die 

Zentren 

des 

nervösen 

Zeitalters 

bildeten.5 Aber, so die überraschende Erkenntnis des Arztes, nicht nur die überreizten Metropolen, auch die Idyllen des Hochgebirges sind ein Entstehungsort der Hysterie. Es ist die Urlaubsreise, die zu diesen Überlegungen 

über 

eine 

vergleichende 

Geographie 

der 

Neurosen 

inspiriert 

und 

auf 

das 

Thema 

der 

Räume, 

der 

 Umgebungen verweist: In der Unterscheidung von Stadt und Land werden zwei Entstehungsmilieus der Krankheit markiert. Aber Freud lenkt in der kurzen Exposition der Katharina-Studie die Aufmerksamkeit noch in einer zweiten 

Hinsicht 

auf 

räumliche 

Gegebenheiten 

und 

Umwelten. 

 Das 

 kurze 

 Narrativ 

 entwickelt 

 die 

topographischen 

und 

situativen 

Gegebenheiten 

von 

Freuds 

unverhofftem Wiedereintritt in die therapeutische Situation, es führt durch konkret bezeichnete Orte und Objekte, 

protokolliert 

Empfindungen 

und 

Wahrnehmungen, 

um 

schließlich 

in 

der 

Wiedergabe 

dieser 

 empirischen und ästhetischen Komponenten ein singuläres, ›herausgehobenes‹ und – pointiert durch die 

literarische 

Geste 

– 

novellistisches 

Ereignis 

darzustellen.6 Wenn mit der Feststellung, »wieder in den Neurosen« zu sein, offensichtlich eine Figur der Wiederholung angesprochen wird, so wird sie eingebettet in eine skizzenhafte Topographie, sie gruppiert und dramatisiert Dinge und Subjekte, schließlich 

lässt 

sie 

sich 

als 

ein 

kohärentes 

Geschehen 

erzählen 

und 

datieren. 



5 



6

Vgl. 

etwa 

den 

exemplarischen 

soziologischen 

Befund 

von 

Georg 

Simmel 

aus 

dem 

Jahr 

1903: 

»Die 

Großstädte 

 und 

 das 

 Geistesleben«, 

 in: 

 ders., 

 Brücke und Tür, Stuttgart 1957, S. 227–242. Im Verlauf der Katharina-Studie zieht 

Freud 

noch 

ein 

z weites 

Mal 

den 

Stadt-Land-Vergleich. 

Gegenstand 

ist 

die 

für 

Freud 

überraschende 

Offenheit, mit der die Patientin über intime Einzelheiten Auskunft gibt: »[I]ch bin ihr ohnehin Dank dafür schuldig, dass sie soviel leichter mit sich reden lässt als die prüden Damen in meiner Stadtpraxis, für die alle naturalia turpia sind.» Ebd., S. 113. Im Blick auf die Studien über Hysterie hat Freud den novellistischen Charakter selbst bemerkt. Die berühmt gewordene Formulierung, »dass die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind«, findet sich in der Studie Fräulein Elisabeth v. R…, also in jenem Text, der auf Katharina … folgt und die Serie der Fallgeschichten 

beschließt. 

Der 

Satz 

lautet 

in 

Gänze: 

»Ich 

bin 

nicht 

immer 

Psychotherapeut 

gewesen, 

sondern 

 bin bei Localdiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigenthümlich, dass die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und 

 dass 

 sie 

 sozusagen 

 des 

 ernsten 

 Gepräges 

 der 

 Wissenschaftlichkeit 

 entbehren.« 

 Studien über Hysterie, S. 140. Bezüglich des literarischen Charakters der Freudschen Texte vgl. die Monographien von Walter Schönau, Sigmund Freuds Prosa. Literarische Elemente seines Stils, Stuttgart 1968 (Die Katharina-Einleitung wird hier besprochen auf S. 208–212), sowie Patrick J. Mahony, Der Schriftsteller Sigmund Freud, Frankfurt a. M. 1989.

Schauplätze der Kur

68

2. Vorboten Ich möchte zunächst bei diesem eigentümlichen, ebenso veduten- wie novellenartigen Auftakt der Studie Katharina verbleiben. Dieser Auftakt ist schon insofern bemerkenswert, als die Schilderung der Bergwanderung nichts zum wissenschaftlichen Verständnis hysterischer Erkrankungen beiträgt. Freud war sich darüber sicherlich im Klaren. Dies zeigt etwa eine Zusatzbemerkung zur KatharinaStudie von 1924, in der erklärt wird, dass der beschriebene Ort, die Hohen Tauern, nicht der tatsächliche 

Schauplatz 

des 

Geschehens 

war. 

Diese 

Hinzudichtung 

sei 

zum 

Zweck 

der 

Anonymisierung 

 erfolgt, 

 das 

 fiktive 

 Element 

 spiele 

 aber 

 hinsichtlich 

 des 

 sachlichen 

 Gehalts 

 keine 

 Rolle: 

 »belanglos« 

 sei die »Verlegung des Schauplatzes von einem Berg auf einen anderen«7. Es gibt also, so ließe sich diese 

beiläufige 

Formulierung 

verstehen, 

in 

diesem 

Text 

ohnehin 

Anteile, 

die 

Beiwerk 

sind; 

es 

sind 

 literarische 

und 

fiktive 

Ornamente, 

deren 

konkrete 

Gestalt 

nicht 

notwendig 

ist 

und 

deren 

Schilderung 

 vielleicht ebenso hätte unterbleiben können. Hinweise auf einen ernsthafteren Sinn dieses Textes gibt aber möglicherweise das pointierte ZuTage-Treten 

 der 

 Wiederholungsfigur: 

 Erscheint 

 nicht 

 Freuds 

 unbewusste 

 Rückkehr 

 zu 

 den 

 Neurosen 

 als eine regelrechte Spiegelung der pathologischen Wiederholungen der Frauengestalten? Und bietet sie nicht als eine solche eine gleichnishafte Anschaulichkeit und Propädeutik hinsichtlich des modernen psychoanalytischen Begriffs der Wiederholung, gerade indem deren paradoxe Struktur gezeigt wird? Sie ist eine Digression, die geradewegs zum Kern der Dinge führt. Dies gilt sowohl inhaltlich als auch formal: Inhaltlich, indem von der bemerkenswert zielgerichteten Abschweifung des Wanderers berichtet wird. Formal, indem diese Schilderung am Beginn der vierten Studie ein literarisches Ornament inmitten einer wissenschaftlichen Abhandlung darstellt, als ein solches Surplus aber in das argumentative Zentrum der Studien über Hysterie führt: zum Begriff unbewusster Reminiszenz und Wiederholung. Wie stellt sich dies auf der Textebene im Einzelnen dar? Einen ersten Hinweis, wie bei der Interpretation 

dieses 

Textes 

vorzugehen 

wäre, 

gibt 

Freud 

selbst. 

Er 

findet 

sich 

in 

der 

erwähnten 

1924 

hinzugefügten 

Anmerkung, 

wo 

in 

einer 

ebenso 

beiläufigen 

wie 

souveränen 

Formulierung 

die 

Verlegung 

 des »Schauplatzes« erklärt wird. Der Ortswechsel von »einem Berg auf einen anderen« ist womöglich nicht 

von 

Interesse, 

signifikant 

ist 

aber 

jene 

szenische 

Vokabel 

des 

Schauplatzes, 

die 

Freud 

hier 

drei 

 Jahrzehnte nach der Abfassung der Katharina-Studie zu ihrer Beschreibung verwendet. In der Tat erzeugt die Exposition der Studie mit ausgesprochen literarischen Mitteln einen Schauplatz. 7 



Die 

Rätsel 

um 

den 

tatsächlichen 

Ort, 

die 

reale 

Person 

und 

Familiengeschichte 

Katharinas 

lösen: 

Gerhard 

Fichtner, Albrecht Hirschmüller, »Freuds ›Katharina‹ – Hintergrund, Entstehungsgeschichte und Bedeutung einer frühen psychoanalytischen Krankengeschichte«, in: Psyche 3 (1985), S. 220–240, S. 2

Ingo Uhlig

69

Was trägt sich hier im Einzelnen zu? Am Anfang stand das eigentliche Vorhaben der beschaulichen Wanderungen in der Sommerfrische. Ein Bergidyll sollte der Ort sein, an dem der Erzähler ein wohltuendes Vergessen erfährt (auf diesen Wunsch, zu vergessen, wird in der zitierten Passage wiederholt hingewiesen). Was dort nun im Weiteren geschah, ist nicht zu trennen von Momenten des Unverhofften und der Überraschung sowie von einer nicht beobachteten oder verborgenen Kausalität. Fast war die kleine selbstverordnete Kur, also das Zurücklassen des Wiener Berufslebens gelungen, als sich – »eines Tages«, nach dem Verlassen der Hauptstraße und am entlegenen Ort – das, was zurückgelassen 

werden 

sollte, 

wieder 

Gegenwart 

verschaffte. 

Hier 

betritt 

jene 

Person 

die 

Szene, 

die 

 mit dem Namen »Katharina« gerufen wurde, anscheinend höher gestellt als die übrigen Hausbediensteten, ist sie Freud schon durch ihr mürrisches Betragen bei Tisch leise aufgefallen. All dies sind eher unbestimmte Wahrnehmungen und kleine Perzeptionen, in ihrer Retrospektive aber deutet sich an, dass 

sie 

unbewusst 

bereits 

vorgenommen 

wurden 

– 

die 

Abschweifung 

ins 

unwegsamere 

Gebirge, 

 eine Familienszene, eine mürrische Miene ... Diesen latenten Beobachtungen des Arztes kommt die zukünftige Patientin entgegen. Katharina hatte nach Freuds Erscheinen auf der Hütte umgehend das Gästebuch 

 ausgespäht 

 und 

 dort 

 jenen 

 Signifikanten 

 entdeckt, 

 der 

 Freud 

 ausweist 

 und 

 dessen 

 überraschendes 

 Aussprechen 

 im 

 Dialog, 

 dass 

 »der 

 Herr 

 ein 

 Doctor« 

 ist, 

 die 

 Wiederholungsfigur 

 weiter 

 vervollständigt. 

Es 

gab 

eine 

Art 

stiller 

und 

beobachtender 

Gegenseitigkeit, 

eine 

Entsprechung, 

die 

 dem 

Gespräch 

und 

dem 

offenen 

Vis-à-vis 

vorausging. 

Freud 

entwirft 

den 

Übergang 

vom 

Privatmann 

 zum Arzt, so ließe sich dies zusammenfassen, weniger als Vor- denn als Vorbotengeschichte.8 Auch wenn das eigentliche Zusammentreffen mit Katharina und die prompte Entstehung der therapeutischen 

Gesprächssituation 

erst 

nach 

der 

Wanderung 

und 

der 

Mahlzeit 

auf 

der 

Hütte 

erfolgen, 

 werden 

der 

Gang 

durchs 

Gebirge 

und 

das 

erste 

Gewahrwerden 

der 

Frauengestalt 

fester 

Bestandteil 

 dieses Wiederholungsgeschehens. Es lässt sich schwer angeben, wann es genau begann, die Auflösung der Urlaubsidylle ist aber von Anfang an zu erwarten: Es sind kaum merkliche Spuren und Affektionen, die die ursprünglichen Urlaubspläne des Erzählers durchkreuzen, ihn – auch wenn er dies alles nicht auf sich beziehen will – in »die Neurosen« zurückführen und schließlich dazu bringen, sich aus dem nachmittäglichen Dämmerzustand heraus staunend die Frage zu stellen: »Sollte ich hier einen Versuch der Analyse machen?« Die 

Wiederholung 

ist 

ein 

ereignishaftes 

Geschehen, 

das 

den 

Akteuren, 

die 

es 

verwickelt, 

für 

einen 

 Moment enteilt, aber gerade darin zur Überdeterminierung neigt und zur Erzählung reizt. Auch wenn uns 

 die 

 Wiederholung 

 (ähnlich 

 einem 

 Déjà-vu) 

 ans 

 Vertraute 

 und 

 Vergangene 

 fesselt, 

 bleibt 

 sie 

 ein 

 inspirierender Zufall, der erzählt werden möchte. Es macht jenen »Schauplatz« aus, dass er nicht nur 8 



Zu 

dieser 

Vorboten-Figur 

vgl. 

auch 

Gilles 

Deleuze, 

Differenz und Wiederholung, München 1997, S. 157 ff.

70

Schauplätze der Kur

anhand 

seiner 

raum-zeitlichen 

Gegebenheiten 

bestimmt 

ist, 

sondern 

als 

ein 

singuläres 

Datum 

der 

 Wahrnehmung, das eine poetische Anreicherung und Entfaltung erfahren muss: Wie ist der Wanderer nur auf jenen Pfad und an jenen Ort gelangt, der ihn geradewegs zum Vergessenen zurückgeführt hat? Auf dieser Szene übernimmt also Freud das Rollenklischee des Serienhelden, dem seine Berufung auch während der Ferien keine Pause gönnt. Sicher ist dabei auch eine gewisse Ironie im Spiel – eine Lust 

an 

der 

rhetorischen 

Geste, 

welche 

die 

Zufälligkeit 

der 

Begegnung 

mit 

beredtem 

Vergnügen 

aufgreift. Auffällig ist zudem, dass Freud mit dieser Konstellation von Hochgebirgsschauplatz und Wiederholung 

in 

eine 

literaturgeschichtlich 

signifikante 

Reihe 

von 

frühen 

Zauberberg-Variationen 

fällt. 

 In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts werden das Wiederholungsthema und dessen Akteure in sehr zentralen Texten in eine Alpenkulisse verlegt, so etwa in Friedrich Theodor Vischers Romangroteske der Neurose Auch einer. Eine Reisebekanntschaft (1879) oder in Friedrich Nietzsches philosophischer Dichtung Also sprach Zarathustra (1883). Zudem steht die Szene in der Nachbarschaft psychoanalytischer Theorie- und Darstellungselemente, welche in den Schriften der folgenden Jahrzehnte noch en détail ausgearbeitet und angewandt werden sollen: etwa die Kraft eines Wiederholungszwangs, dem das Subjekt unbewusst unterliegt und der es in ein stereotypes Muster zurückführt, oder das Feld jener Psychopathologien des Alltagslebens, die Freud in der gleichnamigen Studie von 1901 unter Anführung zahlreicher autobiographischer Episoden untersucht. Stets zeigt sich dort, dass die Fehlleistungen und Digressionen des Alltags eigentlich die schnurgeraden Wege des Unbewussten sind, man muss lediglich ihre verborgene Kausalität ans Licht bringen. Vor allem in dieses Muster von autobiographischen Miniaturen fällt jene Wiedergabe der Bergwanderung in Katharina: Was aus der Perspektive des Ruhesuchenden eine Abirrung war, erscheint in der Perspektive des Unbewussten als direkte Verbindung. In der Inszenierung dieser unbewussten Kräfte ist die Hochgebirgs-Episode ein schnell gegebenes Zeichen, eine Art Wink, den der Leser der Studien über Hysterie durchaus übersehen kann, der ihm aber die Intervention des Unbewussten kurz offenlegt. Aber diese Episode zeigt nicht nur die Struktur der Wiederholung, sie erschließt auch jenes Darstellungsprogramm, das Psychoanalyse und Literatur nahe zueinander führt und das Freud bei der Lektüre der eigenen Texte mit einer gewissen Verwunderung bemerkt hat. Der novellistische Charakter dieser Texte ergibt sich auch daraus, dass ein Ereigniszusammenhang geschaffen wird, der Situationen, Personen und Objekte gruppiert und dieses Umfeld den untergründigen und verborgenen Kräften der Wiederholung aussetzt. So erfordert das Widerfahrene einen gewissen Darstellungsaufwand – es sind die eigentümlichen undurchsichtigen Kausalitäten des Unbewussten, die am Auftakt der

Ingo Uhlig

71

Katharina-Studie inszeniert werden. Dem Bewusstsein sind sie immer einen Schritt voraus, sie verhüllen ihre Ursächlichkeit und führen unbemerkt Regie. So entstehen Szenen, die stets das Erwartbare 

an 

einen 

kritischen 

Punkt 

führen, 

um 

es 

dort 

poetisch 

anzureichern, 

die 

Dinge 

und 

Geschehnisse 

 werden rätselhaft und beinah phantastisch. (Damit wäre zugleich jener Knoten geschürzt, an dem die Analyse anzusetzen und den sie zu lösen hätte. Ihr obläge die Offenlegung der tatsächlichen Kausalzusammenhänge, das heißt die Offenlegung dessen, was als Verdrängtes wiederkehrt.) 3. espace seconde Die Katharina-Studie enthält sicher eine Reihe von Aspekten, die Anlass für ein literaturwissenschaftliches Herangehen bieten würden. Nach der Reprise am Auftakt entwickelt sich ja erst das Familiendrama der inzestuösen Annäherungen und der Traumatisierung sowie jene Enthüllungsgeschichte, welche 

 die 

 Person 

 Freud 

 ins 

 Spiel 

 bringt: 

 den 

 Arzt, 

 der 

 mit 

 detektivischem 

 Geschick 

 diese 

 Tatzusammenhänge aufspürt, offenlegt und damit Katharinas ominöse Atempanik erklären kann. Beide Anklänge, sowohl an die im 19. Jahrhundert beliebten Bauernromane als auch an das Detektivgenre sind bereits bemerkt worden.9 Ich möchte hier aber die Wiederholungs-Thematik nochmals anhand einer anderen Fallgeschichte in den Blick nehmen, einer Fallgeschichte, die nicht nur die Studien über Hysterie eröffnet, sondern in gewisser Weise die Psychoanalyse insgesamt begründen sollte: die Studie über Anna O. Dieses Gründungsdokument 

stammt 

nicht 

von 

Freud, 

sondern 

von 

dessen 

vierzehn 

Jahre 

älterem 

Kollegen, 

 damaligem Freund und Mentor: dem Wiener Arzt Josef Breuer. Hinter dem Patientenpseudonym Anna O. verbirgt sich Berta Pappenheim (1859–1936), eine junge Frau aus großbürgerlich-jüdischem Elternhaus, die nach ihrer Erkrankung und Therapie als politische Aktivistin und Frauenrechtlerin bekannt werden sollte.10 Obwohl jene Figur der Anna O. schon früh von Legenden und Fiktionen umgeben war (diese entsprangen vor allem aus den in der Studie verschwiegenen Libidoaspekten: das offene Fragen lassende Verhältnis zu ihrem Vater und die ominöse Übertragungsliebe zu Breuer), zeichnet sich Breuers Text durch eine große, ja bestechende Klarheit aus. Klar wird vor allem jene innovative These der Psychoanalyse, dass es sich bei der Hysterie nicht um ein körperlich verursachtes Leiden handelt, 9

10

Vgl. Renate Böschenstein,»Analyse als Kunst. Thomas Mann und Sigmund Freud im Kontext der Jahrhundertwende», in: Thomas Sprecher (Hg.), Literatur und Krankheit im Fin de Siècle (1890–1914). Thomas Mann im europäischen Kontext (Thomas-Mann-Studien Bd. XXVI), Frankfurt am Main 2002, S. 73–94, sowie Jutta Prasse, Sprache und Fremdsprache. Psychoanalytische Aufsätze, Bielefeld 2004, S. 183–193. Vgl. bezüglich der biographischen Einzelheiten: Marianne Brentzel, Sigmund Freuds Anna O. Das Leben der Berta Pappenheim, 

Göttingen 

2002.

Schauplätze der Kur

72

sondern dass sowohl die Ursachen wie auch die Therapieansätze der somatischen Symptome auf einer psychischen Ebene zu suchen sind. Die Freudsche Formel, dass der Hysteriker wesentlich an Reminiszenzen leidet, wird an dieser Darstellung ungemein plastisch. Auch wenn die tatsächliche Therapie der Berta Pappenheim nicht diesen fest umrissenen Verlauf nahm (die historische Sachlage ist in Teilen entstellt, der massive Einsatz von Chloral und vor allem Morphium wird zum Beispiel nicht erwähnt), verhalf die Studie über Anna O. wesentlich dazu, die zentralen Innovationen des psychoanalytischen Ansatzes einer breiteren Öffentlichkeit zu verdeutlichen. Breuer selbst wusste sehr genau um die Modellhaftigkeit seiner Studie: »In der weitgehenden Durchsichtigkeit und Erklärbarkeit seiner Pathogenese scheint mir vor allem das Interesse dieses Falles zu liegen.«11 Wobei sich diese Evidenz 

– 

Breuer 

trägt 

diesen 

Gedanken 

in 

einem 

ähnlich 

entschuldigenden 

Tonfall 

wie 

Freud 

vor 

– 

 nicht zuletzt einem gewissen erzählerischen Aufwand (dem »Eingehen ins Detail«) verdankt, der das übliche Maß medizinischer Fallberichte überschreitet: Soviel nicht uninteressanter Einzelheiten ich auch unterdrückt habe, ist doch die Krankengeschichte der Anna O … umfangreicher geworden, als es eine an sich nicht ungewöhnliche hysterische Erkrankung zu verdienen scheint. Aber die Darstellung des Falles war unmöglich ohne Eingehen ins Detail, und die Eigenthümlichkeiten desselben scheinen mir von einer Wichtigkeit, welche das ausführliche Referat entschuldigen dürfte.12 Jene narrative Ausführlichkeit wird vor allem bei der Rekonstruktion der Zustände beziehungsweise Zustandswechsel erforderlich, die die Patientin durchläuft. In auffälliger Weise alterniert Anna O. zwischen zwei Zuständen: zwischen einer Wachphase und einer (von ihr selbst so bezeichneten) condition seconde. Der zweite Zustand erscheint bald als jene Welt, die Breuers Erzählung aufsuchen und zur Darstellung bringen muss. Hier entdeckt der Arzt den Schauplatz, auf dem sowohl die rätselhaften 

 Symptome 

 der 

 Kranken 

 ihre 

 Erklärung 

 finden 

 als 

 auch 

 die 

 eigentliche 

 Kur 

 ansetzen 

 muss 

 – die Patientin wird hierhin geleitet und durchlebt die traumatischen Ereignissen in all ihrer sinnlichen Intensität und ihren Affektionen ein zweites Mal. Für diese Annäherung an das Trauma weist vor allem die Entschlüsselung der zeitlichen Struktur der Erkrankung 

den 

Weg. 

Das 

Grundmuster 

gibt 

sich 

rasch 

zu 

erkennen: 

In 

der 

condition seconde wiederholt die Patientin jene traumatischen Ereignisse, welche die Erkrankung ausgelöst haben, anders formuliert: Ihre Halluzinationen versetzen sie in die Vergangenheit. Das Verblüffende an diesen Zeitsprüngen ist allerdings ihre Exaktheit, die es erlaubt, die Hysterie als ein Phänomen einer regelrecht kalendarisch 11 12

Studien über Hysterie, S. 32. Ebd.

Ingo Uhlig

73

strukturierten Wiederholung zu beschreiben. Anna O. wiederholt über den Zeitraum von etwa einem halben Jahr, von Dezember 1881 bis Juni 1882, täglich Szenen, die sich auf den Tag genau vor einem Jahr abgespielt haben (ein Tagebuch, geführt von ihrer Mutter, sollte hierüber Aufschluss geben). So wird die Krankheit als ein Problem oder eine Pathologie der Zeit kenntlich: Es handelt sich um eine subjektive, 

 antinomische 

 Zeit 

 oder 

 Gegenwart, 

 die 

 nicht 

 vergehen 

 will 

 und 

 die 

 in 

 diesem 

 Fort- 

 oder 

 Andauern, das heißt als Wiederkehr des Traumas, die hysterischen Symptome hervortreten lässt.13 Die Krankheit ist, so Breuer, wesentlich ein »Wiederdurchleben«14 vergangener Zeit. Nicht zu übersehen ist nun, dass in jenem Moment, in dem Breuer von der Entdeckung jener mysteriösen Wiederholungsstruktur berichtet und mit ihrer Darlegung beginnt, in eine Prosa gewechselt wird, 

die 

verstärkt 

räumliche 

Umfelder 

und 

Objekte 

zur 

Darstellung 

bringt. 

Die 

Zuspitzung 

und 

Auflösung der Krankengeschichte geht mit der prägnanten Lokalisierung der Fallerzählung einher. Wie stellt sich dies im Aufbau und Zusammenhang des gesamten Textes dar? In einer etwa zweiseitigen Einleitung wird zunächst die Patientin vorgestellt und der Krankheitsverlauf wird, hervorgehoben und gegliedert durch vorangestellte arabische Buchstaben, zusammengefasst (S. 15–16). Danach folgt 

ein 

erster 

Teil, 

der 

die 

Krankengeschichte 

von 

Beginn 

(der 

P flegezeit 

des 

Vaters) 

bis 

zu 

dem 

Zeitpunkt behandelt, an dem die Patientin von einem Klinikaufenthalt auf dem Land nach Wien zurückkehrt (S. 16–25). Der letzte Absatz dieses Teils macht den Leser auf einen Ortswechsel aufmerksam, der im Folgenden eine wichtige Rolle spielen wird: »Als Patientin im Herbst wieder in die Stadt kam (in eine andere Wohnung als die, in der sie erkrankt war) […]«. So schließt dieser Teil mit dem Hinweis auf Wegstrecken und Umzüge: Anna O. ist nach dem Aufenthalt in der Landklinik, gemeint ist hier das südlich von Wien gelegene Sanatorium Inzersdorf, wieder bei der Familie untergebracht, allerdings hat die Familie zwischenzeitlich innerhalb Wiens die Wohnung gewechselt. Der zweite Teil der Fallgeschichte (S. 25–32) setzt nun an diesem Ort ein, er beginnt damit, dass von der Entdeckung der Wiederholungs- oder Kalenderstruktur der Krankheit berichtet wird. Breuer findet 

hier 

den 

vollen 

Zugang 

zu 

den 

Wahngebilden 

seiner 

Patientin. 

»Es 

hatte 

sich 

nun 

gejährt, 

dass 

 sie vom Vater getrennt, bettlägerig geworden war, und von da an klärte und systemisirte sich der Zustand in sehr eigenthümlicher Weise«.15 Im Nachvollzug dieser Systematik, das heißt im Nachvollzug und Durchgang jenes Wiederholungs-Kalenders, führt die Erzählung durch die zahlreichen Situationen der Kur. Breuer erzählt, wie sich dieses Leben im anderen, vorigen Jahr physisch und szenisch 13 14 15

Joseph Vogl, Zeit des Wissens, in: Dialektik 2 (2000), 137–148, hier S. 144. Studien über Hysterie, S. 12. Ebd., S. 25.

Schauplätze der Kur

74

realisierte – eine Schilderung von Schauplätzen setzt ein: Die Rückversetzung in das vorhergegangene Jahr geschah so intensiv, dass sie in der neuen Wohnung ihr früheres Zimmer hallucinirte und, wenn sie zur Thüre gehen wollte, an den Ofen anrannte, der nun zum Fenster so stand wie in der alten Wohnung die Zimmerthüre. Der Umschlag aus einem Zustand in den anderen erfolgte spontan, konnte aber mit der grössten Leichtigkeit hervorgerufen werden durch irgend einen Sinneseindruck, der lebhaft an das frühere Jahr erinnerte. Es genügte, ihr eine Orange vorzuhalten (ihre Hauptnahrung während der ersten Zeit ihrer Erkrankung), um sie aus dem Jahr 1882 ins Jahr 1881 hinüberzuwerfen. Diese Rückversetzung in vergangene Zeit erfolgte aber nicht in allgemeiner und unbestimmter Weise, sondern sie durchlebte Tag für Tag den vorhergegangenen Winter.16 Es 

 sind 

 diese 

 Objekte, 

 Interieurs 

 und 

 Sinneseindrücke, 

 welche 

 Vergangenheit 

 und 

 Gegenwart 

 der 

 Patientin in Resonanz versetzen und es Breuer erlauben, den Fixierungen des Unbewussten auf die Spur zu kommen. Initiiert wird dieses Theater durch den einen oder anderen Trick: die Installation von 

Gegenständen, 

das 

Nach- 

oder 

Aufstellen 

von 

Szenen. 

In 

der 

Folge 

wird 

die 

Liste 

dieser 

bemerkenswerten doppel-zeitigen Objekte, Sinneseindrücke noch um einiges erweitert: Es geht um Möbel, Kleider und Textilien, Wassergläser, Lokomotivengeräusche, Tanzmusik. Diesem Bericht folgend, wird der Leser gleichsam durch jenes neue Zimmer und sein Interieur geleitet, in dem sich die zwei Zustände oder Zeiten der Anna O. übereinandergelegt haben. Die Bewegung, 

die 

hier 

z wischen 

den 

beiden 

Zeitreihen 

in 

Gang 

kommt, 

wird 

begleitet 

von 

hypnotischen 

 Zuständen und starken Affekten. Vor allem dieses stark sinnlich geprägte Wiederdurchleben der vergangenen Ereignisse bringt die Zäsur, die von Breuer und Freud so genannte Katharsis hervor. Sind erst einmal diese Situationen geschaffen und die entsprechenden Affekte evoziert, kann die reflexive 

 Verarbeitung 

 erfolgreich 

 ansetzen: 

 Das 

 traumatische 

 Geschehen 

 wird 

 deutlich 

 erinnert 

 und kann in der talking cure »wegerzählt« werden. Aus den isolierten Ereignissen, die sich nur in ihrer rätselhaften Wiederkehr präsentieren, wird wieder das Syntagma einer biographischen Erzählung und so kommt es im zweiten Teil der Fallgeschichte zur Lösung jener Rätsel, die das Unbewusste aufgegeben hat. Josef Breuer hat an diesem Punkt der Behandlung seit mittlerweile über einem Jahr intensiv an der Entschlüsselung dieses Falles gearbeitet und ihm vor allem durch die beinah täglichen Visiten im Haus der Pappenheims sehr viel Zeit geopfert. Bevor das Finale, gleichsam der letzte Auftritt dieses »Privattheater[s]«17 beginnt, weist er nochmals auf die Fülle und den Detailreichtum dieses Aufarbeitungsprozesses hin. Es spricht durchaus eine gewisse Er16 17

Ebd., S. 25. Ebd., S. 33.

Ingo Uhlig

75

müdung aus dieser Passage, die gleichsam histoire und discours dieser Kur voneinander löst und darin 

 nochmals 

 den 

 eigenen 

 Text 

 und 

 dessen 

 Genese 

 reflektiert: 

 »Ich 

 bedauere 

 nicht 

 allzusehr, 

 dass die Unvollständigkeit meiner Notizen es unmöglich macht, hier sämmtliche Hysterica auf ihre Veranlassungen zurückzuführen.«18 Den Schlusspunkt und das Finale dieser szenischen Therapie gibt die folgende Passage wieder. Sie beschreibt den »letzten Tag« dieser Therapie als Überwindung des hysterischen Leidens und dokumentiert dabei wiederum ein genaues Arrangement von Objekten und Wahrnehmungssituationen. Ich zitiere zunächst diese Passage und im Anschluss die Erzählung der Angsthalluzination, auf die Breuer verweist: Die Kranke hatte sich selbst den festen Vorsatz gebildet, am Jahrestag ihrer Transferirung auf das Land müsse sie mit allem fertig sein. Sie betrieb darum Anfangs Juni die »talking cure« mit grosser, aufregender Energie. Am letzten Tag reproducirte sie mit der Nachhilfe, dass sie das Zimmer so arrangirte, wie das Krankenzimmer ihres Vaters gewesen war, die oben erzählte Angsthallucination, welche die Wurzel der ganzen Erkrankung gewesen war, und in der sie nur englisch hatte denken und beten können; sprach unmittelbar darauf deutsch und war nun frei von all den unzähligen einzelnen Störungen, die sie früher dargeboten hatte. Dann verliess sie Wien 

für 

eine 

Reise, 

brauchte 

aber 

noch 

längere 

Zeit, 

bis 

sie 

ganz 

ihr 

psychisches 

Gleichgewicht 

 gefunden 

hatte. 

Seitdem 

erfreut 

sie 

sich 

vollständiger 

Gesundheit.19 Die Erzählung der Angsthalluzination: Juli 1880 war der Vater der Kranken auf dem Lande an einem subpleuralen Abcess schwer erkrankt; 

Anna 

theilte 

sich 

mit 

der 

Mutter 

in 

die 

P flege. 

Einmal 

wachte 

sie 

Nachts 

in 

grosser 

Angst 

 um 

den 

hochfiebernden 

Kranken 

und 

in 

Spannung, 

weil 

von 

Wien 

ein 

Chirurg 

zur 

Operation 

 erwartet wurde. Die Mutter hatte sich für einige Zeit entfernt, und Anna sass am Krankenbette, den rechten Arm über die Stuhllehne gelegt. Sie gerieth in einen Zustand von Wachträumen und sah, wie von der Wand her eine schwarze Schlange sich dem Kranken näherte, um ihn zu beissen. (Es ist sehr wahrscheinlich, dass auf der Wiese hinter dem Hause wirklich einige Schlangen vorkamen, über die das Mädchen früher schon erschrocken war, und die nun das Material für die Hallucination abgaben.) Sie wollte das Thier abwehren, war aber wie gelähmt; der rechte Arm, über der Stuhllehne hängend, war »eingeschlafen«, anästhetisch und paretisch geworden, und als sie ihn betrachtete, verwandelten sich die Finger in kleine Schlangen mit Todtenköpfen 18 19

Ebd., S. 32. Ebd.

Schauplätze der Kur

76

(Nägel). Wahrscheinlich machte sie Versuche, die Schlange mit dem gelähmten rechten Arm zu verjagen, und dadurch trat die Anästhesie und Lähmung derselben in Association mit der Schlangenhallucination. – Als diese geschwunden war, wollte sie in ihrer Angst beten, aber jede Sprache versagte, sie konnte in keiner sprechen, bis sie endlich einen englischen Kindervers fand und nun in dieser Sprache fortdenken und beten konnte.20 Man sieht, wie die Wiederholung hier die Seiten wechselt: War sie zuvor jene Kraft, die das Trauma präsent hielt, wird sie jetzt, als nachgestellte Szene, zum Mittel der Therapie. Sie verhilft zur bewussten Reproduktion, zur Wiederkehr und Ableitung der Affekte und schließlich zur vollen Erinnerung. Der Schauplatz wird zum Ort einer Entwicklung, Regression wechselt in Progression. Es handelt sich nun um eine freisetzende Wiederholung, eine zwischen den beiden Reihen »erzwungene Bewegung«21, 

 die 

 den 

 Zeitstau 

 auflöst 

 und 

 den 

 Akteur 

 aus 

 Geschichte 

 und 

 Vergangenheit 

 entlässt. Entsprechend akzentuiert Breuer deutlich den Überwindungs- und Zäsurcharakter der Szene. Anstatt an der Wiederkehr des Vergangenen festzuhalten, wird ein zeitlicher Horizont sichtbar, der wieder eine Zukunft ermöglicht. Erneuerung steht hier gegen Fixierung und so öffnet und erweitert sich die Szene schließlich auch räumlich und führt aus dem Zimmer: die Reise der Patientin, deren Ziel im Text nicht genannt wird. Dem voraus geht aber jene mit »aufregender Energie« geleistete Arbeit in jenem doppelt belegten Interieur. Hier sind die Dinge nicht zu trennen von einem phantastischen Überschuss: Beschrieben wird eine Umgebung, die halb Wahngebilde, halb Realität ist.22 Die Reproduktion der Angsthalluzination als begehbares Setting bringt den ursprünglichen Affekt hervor und wird zum Ausgangspunkt der bewussten Beschreibung in der talking cure. Die sinnlich erfahrene Situation wird somit als eine Kippfigur 

zwischen 

unbewusster 

und 

bewusster 

Reminiszenz 

angelegt 

und 

erzeugt 

so 

eine 

Schwelle, 

 deren 

Überschreiten 

die 

Auflösung 

der 

Symptome 

bedeutet. 

Die 

Affekte 

erweisen 

sich 

in 

diesen 

exakten 

 Nachbarschaften 

 als 

 verschiebbare 

 Größen.23 Die kathartische Lösung aus der Vergangenheit nimmt den Weg über räumliche Kontaktstellen, folgt man Breuers Erörterungen, so wird ein regelrechter Ausweg geschaffen, über den der »eingeklemmte« Affekt abgeleitet wird. 20 21 22 23

Ebd., S. 30. Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 155 ff. Bei Elisabeth Bronfen findet sich der Versuch, die Studie in die Nähe der romantischen Nachtstücke zu rücken: Dies., Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht, München 2008, S. 316 ff. Vgl. Freud, »Über Psychoanalyse«, in: Ders., Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud u. a., Frankfurt am Main 1999, S. 1–60, hier S. 13.

Ingo Uhlig

77

Diese Intensivierung des Therapiegeschehens dramatisiert Breuer nicht zuletzt sprachlich als rasches Zulaufen auf das Ende der Krankheit, die Details der Szene werden hier nur schnell über den Index (»die oben 

 erzählte 

 Angsthallucination«) 

einbezogen. 

So 

kulminiert 

in 

diesem 

Absatz 

das 

bisherige 

 Geschehen und es wird zugleich das Ende des zweiten, die kalendarische Wiederholung schildernden Teils der Krankengeschichte 

markiert. 

Der 

Schauplatz 

wird 

nach 

dieser 

finalen 

Szene 

geschlossen. 

 Auf diese Zäsur folgt der dritte und letzte Teil der Studie (S. 25–37), es handelt sich um eine Art Epikrise, die 

mit 

der 

bereits 

zitierten, 

um 

Nachsicht 

bittenden 

poetologischen 

Reflexion 

Breuers 

beginnt: 

»Aber 

 die Darstellung des Falles war unmöglich ohne Eingehen ins Detail, und die Eigenthümlichkeiten desselben scheinen mir von einer Wichtigkeit, welche das ausführliche Referat entschuldigen dürfte.« 4.»Von einem Berg auf einen anderen ...» Im 

August 

1909 

unternehmen 

Sigmund 

Freud, 

Carl 

Gustav 

Jung 

und 

Sándor 

Ferenzi 

eine 

Reise 

in 

die 

 USA. 

Sie 

folgen 

einer 

Einladung 

von 

G. 

Stanley 

Hall, 

dem 

Rektor 

der 

Clark 

University 

in 

Worcester, 

 Massachusetts, und stellen die noch junge Psychoanalyse der amerikanischen Öffentlichkeit vor. An der 

 Clark 

 University 

 hält 

 Freud 

 fünf 

 Vorlesungen, 

 welche 

 die 

 Grundzüge 

 der 

 Methode 

 erläutern.24 In der ersten dieser Vorlesungen geht er auf Breuer und dessen Studie über Anna O. ein; er spricht hier voller Anerkennung über Breuer als den »eigentlichen Begründer« der Psychoanalyse. Über die freimütige Zuweisung dieser Entdeckerrolle und die Tatsache, dass Freud sie später gewissermaßen zurückverlangt 

 hat, 

 wurde 

 in 

 den 

 Darstellungen 

 zur 

 Geschichte 

 der 

 Psychoanalyse 

 viel 

 diskutiert. 

 Hinzuzufügen wäre dem, vor allem im Hinblick auf die Studie Anna O., dass Breuer wohl durchaus auch als Mitbegründer jenes literarischen Stils gelten müsste, den Freud in den Studien über Hysterie bemerkt hat. Womöglich liegt aber – abseits solcher Spekulationen über Urheberrolle und Autorengenius 

– 

ohnehin 

die 

Vermutung 

näher, 

dass 

dieser 

Stil 

weniger 

aus 

einer 

individuellen 

Geste 

entspringt, als von der Sache selbst erfordert wird. Mit anderen Worten: Die literarischen Darstellungen werden von der Problematik des Unbewussten hervorgerufen, sie sind Strategien oder Mittel, mit denen dieses Problem in seinen Aspekten – Rätselstruktur, Wiederholung, Affektverschiebungen etc. – bearbeitet wird. In der Poetik dieser Texte treten weniger individuelle literarische Vorlieben oder ein persönlicher Stil als vielmehr objektive Strukturen zu Tage, die ein ästhetisches Programm (vor allem in Form literarischer Darstellungselemente) erfordern. Abschließend möchte ich aber auf einen anderen Aspekt aus Freuds erster Vorlesung an der Clark University eingehen. Freud gibt hier nämlich wesentliche Auskünfte über den ästhetischen Charak24

Unter dem Titel »Über Psychoanalyse« enthalten in Bd. XI der Gesammelten Werke. Bezüglich biographischer Details 

vgl. 

Peter 

Gay, 

Freud. Eine Biographie für unsere Zeit, Frankfurt am Main 2006, S. 236 ff.

Schauplätze der Kur

78

ter jener Objektarrangements aus den Hysteriestudien und verortet sie in bemerkenswerter Weise im 

 kulturellen 

 Imaginären 

 des 

 Fin 

 de 

 Siècle. 

 Freud 

 gelangt 

 in 

 der 

 Vorlesung 

 rasch 

 an 

 den 

 zentralen 

 Punkt, an dem er seinen Hörern erklärt, was sie sich unter einem »Leiden an Reminiszenzen« vorstellen müssten. Er verwendet dafür zwei Beispiele. Diese Beispiele stammen diesmal nicht aus dem Bereich klinischer Studien, aus den Krankenzimmern und den notorischen Familienszenen, sondern aus 

der 

Geschichte 

Englands, 

genauer: 

aus 

der 

Stadtgeschichte 

Londons. Meine Damen und Herren, wenn Sie mir die Verallgemeinerung gestatten […], so können wir unsere bisherige Erkenntnis in die Formel fassen: Unsere hysterisch Kranken leiden an Reminiszenzen. Ihre Symptome sind Reste und Erinnerungssymbole für gewisse (traumatische) Erlebnisse. 

Ein 

Vergleich 

mit 

anderen 

Erinnerungssymbolen 

auf 

anderen 

Gebieten 

wird 

uns 

vielleicht 

tiefer in das Verständnis dieser Symbolik führen. Auch die Denkmäler und Monumente, mit denen wir unsere großen Städte zieren, sind solche Erinnerungssymbole. Wenn Sie einen Spaziergang durch 

London 

machen, 

so 

finden 

Sie 

vor 

einem 

der 

größten 

Bahnhöfe 

der 

Stadt 

eine 

reich 

verzierte gotische Säule, das Charing Cross. Einer der alten Plantagenetkönige im XIII. Jahrhundert, der den Leichnam seiner geliebten Königin Eleanor nach Westminster überführen ließ, errichtete gotische Kreuze an jeder der Stationen, wo der Sarg niedergestellt wurde, und Charing Cross ist das letzte der Denkmäler, welche die Erinnerung an diesen Trauerzug erhalten sollten. An einer anderen Stelle der Stadt, nicht weit von London Bridge, erblicken Sie eine modernere, hochragende Säule, die kurzweg The Monument genannt wird. Sie soll zur Erinnerung an das große Feuer mahnen, welches im Jahre 1666 dort in der Nähe ausbrach und einen großen Teil der Stadt zerstörte. Diese Monumente sind also Erinnerungssymbole wie die hysterischen Symptome; soweit scheint die Vergleichung berechtigt. Aber was würden Sie zu einem Londoner sagen, der heute noch vor dem Denkmal des Leichenzuges der Königin Eleanor in Wehmut stehen bliebe, 

anstatt 

mit 

der 

von 

den 

modernen 

Arbeitsverhältnissen 

geforderten 

Eile 

seinen 

Geschäften nachzugehen oder sich der eigenen jugendfrischen Königin seines Herzens zu erfreuen? Oder zu einem anderen, der vor dem »Monument« die Einäscherung seiner geliebten Vaterstadt beweinte, die doch seither soviel glänzender wiedererstanden ist? So wie diese beiden unpraktischen Londoner benehmen sich aber die Hysterischen und Neurotiker alle; nicht nur, daß sie die längst vergangenen schmerzlichen Erlebnisse erinnern, sie hängen noch affektvoll an ihnen, sie kommen von der Vergangenheit nicht los und vernachlässigen für sie die Wirklichkeit und die Gegenwart.25

25

Freud, »Über Psychoanalyse«, S. 11 f. (Herv. i. O.).

Ingo Uhlig

79

Die Erzählung erweitert den Zeitrahmen der Krankenbiographie auf eine historische Dimension, die begegnenden Objekte wechseln ebenfalls den Maßstab – Freud führt seine Hörer in die Welt historischer 

 Monumente. 

 Hier 

 ist 

 es 

 nun 

 die 

 Geschichte 

 selbst, 

 die 

 sich 

 in 

 der 

 Gegenwart 

 der 

 Objekte 

 wiederholt und darin völlig den tatsächlichen Kausalitäten zuwiderläuft. Einen Begriff aus Nietzsches Zweiter unzeitgemäßer Betrachtung aufnehmend, könnte man hier von »Effecten an sich« sprechen, die sich von den historischen causae gelöst haben.26 Freud spricht diesen imaginären Überschuss in einer Formulierung an, die fast wie eine Paraphrase Nietzsches wirkt: Die Betroffenen hängen »affektvoll« an den Erlebnissen. Angedeutet wird damit eine Parallele zwischen der pathologischen Zeitenverschiebung 

der 

Hysterie 

und 

den 

affektiven 

Geschichtskonstruktionen 

der 

monumentalistischen 

 Historie. Auf den ersten Blick geben diese Beispiele damit einen prägnanten Hinweis, wie die Studien über Hysterie 

diskursgeschichtlich 

einzuordnen 

seien: 

Es 

sind 

stets 

Problematiken 

der 

Geschichte 

und 

 der Zeit, die das neunzehnte Jahrhundert in Atem hielten – eine »Überlast der Toten«27. Aber diese Passage enthält auch nochmals Auskunft über die Natur jener in der Wiederholung auftauchenden Objekte und verdeutlicht wiederum wesentliche Darstellungsprinzipien des Wiederholungsmoments. So wird zunächst der poetische Charakter der Objekte deutlich: Zeiten und Ereignisse hängen regelrecht 

 an 

 diesen 

 Gegenständen 

 und 

 erzeugen 

 die 

 starken 

 affektiven 

 und 

 imaginativen 

 Impulse. 

 Dies 

 geht aber weit über das Auratische und den Wert des Einzigartigen hinaus, denn das längst Vergangene übernimmt sowohl eine derealisierende als auch aktive Rolle, das heißt, die immer noch intakten, in 

den 

Objekten 

präsenten 

Affekte 

determinieren 

das 

Geschehen 

und 

seine 

Akteure. 

Ein 

historisches 

 Handeln wäre hier völlig ausgeschlossen, da unbewusste Kräfte die Szene bestimmen und der passive 

Akteur 

(eher 

ein 

Gespenst 

oder 

ein 

Revenant) 

sich 

in 

referenzlose 

Zeiten 

und 

Bilder 

vertieft 

hat. 

 Die 

Geschichte 

erscheint 

damit 

als 

bloßes 

pointiertes 

Symbol 

beziehungsweise 

als 

ein 

paradigmatisches Element, das sich aus dem Syntagma des historischen Verlaufs herausgelöst hat. Statt der Erfordernisse des historischen Verlaufs dominieren Stillstellungen und regelrechte Tableaus, welche die 

Vergangenheit 

fixieren, 

ohne 

Entwicklungen 

zuzulassen. 



26

27

Friedrich Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«, in: Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe, 

 hg. 

 v. 

 Giorgio 

 Colli 

 u. 

 Mazzino 

 Montinari, 

 München 1999, S. 261. Michel Foucault, »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34–46, hier S. 34.

Schauplätze der Kur.

80

Die Art und Weise, wie Freud hier das hysterische Phänomen mit einem historisch-monumentalen Resonanzgeschehen in Verbindung bringt, verweist letztlich auf den Ansatzpunkt der psychoanalytischen Methode. Das Problem, das mit diesen unzeitgemäßen Szenen auftaucht und zugleich den Einsatzpunkt 

der 

Psychoanalyse 

definiert, 

besteht 

in 

der 

Wiedergewinnung 

zeitlicher 

Ordnung. 

Sie 

ist 

 eine Methode oder ein Verfahren, das es erlaubt, zwischen den aus den Fugen geratenen Ereignissen und ihren isolierten Effekten wieder Zusammenhang herzustellen, auch wenn sich die Figur der Kontinuität nur in der Rekonstruktion unbewusster Elemente ergibt. Hier, im Fortschreiten der Kur, übernehmen die Objekte und ihre szenische Anordnung nochmals eine 

Funktion, 

sie 

werden 

nun 

als 

Gelenkstellen 

oder 

Metonymien 

gebraucht: 

Nutzt 

man 

sie 

zur 

Verschiebung jener »eingeklemmten« Affekte, löst sich auch die Zeit aus ihrer Erstarrung. Das Tableau muss noch einmal aufgestellt werden, um die beiden Zeitreihen letztmalig in Resonanz zu versetzen. Freuds Vorlesung fasst die Funktion dieser »Szenen« wie folgt zusammen: Als sie [Anna O.] später die selben Szenen vor ihrem Arzt reproduzierte, trat der damals gehemmte Affekt mit besonderer Heftigkeit, als ob er sich so lange aufgespart hätte, auf. Ja, das Symptom, welches von dieser Szene erübrigt war, gewann seine höchste Intensität, während man sich seiner Verursachung näherte, um nach der völligen Erledigung derselben zu verschwinden.28

28

Freud, »Über Psychoanalyse«, S. 13 (Herv. I. U.).

Skizze, Nadine Isabell Kipka

Zu Wort kommen ›Echte Geschichten‹ und ›echte Menschen‹ auf der Bühne Stefanie Husel

Stefanie Husel

83

Die Ausstellung SzenoTest befasste sich mit den unterschiedlichen Dispositiven, die sich in etwa 200 Jahren psycho-therapeutischer Praxis entwickelt haben. Diese sind zu großen Teilen äußerst theatral gestaltet, Theater wird oft ganz explizit als Vorlage für Therapien genutzt, wobei die Idee eines therapeutischen Settings aus Handeln und Zuschauen immer wieder neu verhandelt wird.1 Dabei lässt sich – stark vereinfacht – konstatieren, dass psychotherapeutische Settings eine im weitesten Sinne theatrale Ordnung des Blickens (bzw. allgemeiner, des Wahrnehmens) etablieren, die es, je 

nach 

Provenienz, 

entweder 

dem 

Patienten 

selbst 

oder 

dem 

Therapeuten 

ermöglichen 

soll, 

reflektierender Zuschauer psychischer Phänomene zu werden. So entwickelte beispielsweise Josef Breuer, Zeitgenosse und Vorläufer Siegmund Freuds, in den 1880er Jahren eine »Redekur«, in der Patienten frei assoziierend ihr Innenleben beschrieben, während der Therapeut gewissermaßen als (interpretierendes) 

Publikum 

diente. 

Solch 

reflektierende 

Schau 

in 

die 

Psyche 

bzw. 

deren 

Szenen 

soll 

im 

Rahmen 

 psychotherapeutischer Settings zumeist helfen, psychische Missstände bzw. Missverhältnisse am/im Patienten und dessen sozialem Umfeld zu behandeln. Auch das Be-Handeln wird in einigen Fällen als ein theatrales, demonstratives und gestaltetes Handeln konzipiert, z. B. wenn bei einem der Urväter psychotherapeutischer Praxis, Johann Christian Reil, Patienten in wilden Inszenierungen aus ihren »kataleptischen Zuständen« aufgerüttelt werden sollen,2 oder aktuell in Familienaufstellungen nach Bert Hellinger, wenn unter Anleitung eines therapeutischen Spielleiters szenische Settings mit Patienten und Stellvertreter-Figuren aktiv »gestellt« werden. Das vorliegende Essay möchte sich der Schnittmenge von Theatralem und Therapeutischem von Seiten des Theaters nähern; Thema sollen Theaterformen werden, die sich besonders eng an ›echte‹ Menschen 

und 

ihre 

Geschichten 

anschmiegen 

und 

dabei 

häufig 

auch 

an 

tatsächliche 

Traumata 

rühren. 

 Auch 

 hier 

 finden 

 sich 

 also 

 Settings 

 des 

 »Handelns 

 und 

 Zuschauens«, 

 in 

 denen 

 Reflexionen 

 möglich 

 werden, und auch sie beziehen sich auf echte Menschen, auf deren soziales Umfeld und möglicherweise sogar auf psychologische Missstände. Nichts desto weniger werden dort keine therapie-artigen Situationen etabliert, ja, die Produzenten von Theater mit ›echten Menschen‹ wehren sich vehement dagegen, in eine therapeutische Ecke gerückt zu werden. Zum Beispiel Theatermacher Björn Bicker, der seine entsprechende Sorge wie folgt begründete: »Man landet schnell bei der alten Frage, wer denn eigentlich ein Problem hat: die oder wir?«3 Abgewehrt werden also klare Zuordnungen wie 1 2 3

Handeln und Zuschauen lautet der Titel eines Buches, in dem der »Theater-Soziologe« Uri Rapp die Settings des europäischen dramatischen Theaters behandelt, wie es bis in die 1950er Jahre vorherrschte. Vgl. Johann Christian Reil, Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen, Halle 1803. Ursprünglich war geplant, dieses Essay in Zusammenarbeit mit Björn Bicker zu verfassen, was sich leider zeitlich nicht verwirklichen ließ. Trotzdem möchte ich mich ganz herzlich für unsere sondierenden Vorgespräche bedanken!

Zu Wort kommen

84

»krank/gesund«, »problematisch/unproblematisch« oder »unnormal/normal«, die als konstitutiv für den therapeutischen Kontext wahrgenommen werden. Insofern schießt der vorliegende Text quer zur Ausstellungsthematik, nachdem er sich mit Theater-Inszenierungen befasst, die erfolgreich ›therapeutische‹ Zuordnungsklarheit abwehren – nicht ohne die Hoffnung, am Ende zu Erkenntnissen zu gelangen, die beiden Feldern zugutekommen können. Therapeutische bzw. theatrale Settings sollen dabei 

nicht 

als 

gegebene 

Größen, 

sondern 

als 

situativ 

verhandelte 

Verhältnisse 

betrachtet 

werden. 1) Wirklichkeits-nahes Theater Spätestens seit der Neo-Avantgarde (also etwa ab den 1960er Jahren) ist in der Theaterpraxis die Tendenz zu beobachten, ›das Echte‹ – im Sinne wirklicher Menschen, tatsächlicher Körper, wahrer Geschehnisse 

und 

authentischer 

Geschichten 

– 

auf 

der 

Bühne 

präsent 

werden 

zu 

lassen. 

Uns 

begegnen auf Theaterbühnen dokumentarisch aufbereitete Fakten zu Völkermorden (vgl. z. B. die erste Arbeit H. W. Krösingers mit dem Masterstudiengang Theatrale Forschung der Ruhr-Universität Bochum); es präsentieren sich Opfer politischer Verfolgung und Misshandlung und ihre Nachkommen, z. B. wenn Björn Bickers (Theater)-Text Exile illegale Flüchtlinge zu Wort kommen lässt. Auch ›echte‹ Täter betreten die Bühne, z. B. als Christoph Schlingensief in Bayreuth mit Neonazis aus einem Ausstiegsprogramm inszenierte oder als im HAU Berlin die Theatergruppe der JVA Tegel auf der Bühne stand. 

 Weiterhin 

 sprechen 

 Menschen 

 auf 

 der 

 Bühne, 

 die 

 ganz 

 persönliche 

 Geschichten 

 berichten 

 und dabei manches Mal auch schwierige bzw. belastende Themen behandeln, etwa in den Arbeiten des Regie-Kombinats Rimini Protokoll: In deren Stück Das Kapital berichtet ein Mitspieler von seiner Spielsucht, ein anderer Darsteller thematisiert (neben vielen anderen Themen) seine Blindheit, in Cargo 

Sofia 

u. 

v. 

a. 

Arbeiten 

der 

Gruppe 

wird 

der 

prekäre 

Arbeitsalltag 

in 

Billiglohn-Berufen 

aus 

erster 

 Hand erzählt usw.4 In solch wirklichkeits-nahem Theater besteht eine der zahlreichen Spielarten des »post-dramatischen Theaters«, wie es Hans-Thies Lehmann in seinem gleichnamigen Buch beschrieb; an 

Stelle 

fiktiver 

Inhalte 

tritt 

die 

Konfrontation 

mit 

den 

Darstellungsmöglichkeiten 

des 

Authentischen: 

 »… das Spiel mit dem Realen [ist] verbreitete Praxis des neuen Theaters geworden – meist nicht mehr als unmittelbar politische Provokation, sondern als theatrale Thematisierung des Theaters und somit – der Rolle der Ethik darin.«5 Im Folgenden soll anhand einiger ausgewählter Beispiele aus Theaterarbeiten mit ›echten‹ Protagonisten 

 reflektiert 

 werden, 

 auf 

 welche 

 Weise 

 dort 

 ein 

 künstlerisch-ästhetischer 

 Theater-Rahmen 

 eta4

5

Es ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele finden. Eine umfassende Auswahl solch wirklichkeits-naher Arbeiten sowie Reflexionen auf das Phänomen zeigte beispielsweise der Kongress Heimspiel im Jahr 2011 in Köln. Vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 2001, S. 177.

Stefanie Husel

85

bliert 

wird 

– 

trotz 

der 

Engführung 

mit 

›tatsächlich‹ 

schicksalhaften 

Geschichten 

und 

trotz 

der 

in 

der 

 Ausstellung SzenoTest dokumentierten großen Schnittmenge theatraler Praxis mit therapeutischen Settings; kurz: es soll gefragt werden, wie Theater in diesen Fällen Theater bleibt. 2) Methodisches Um mich diesen Fragen anzunähern, möchte ich »Theater« und »Therapie«, die bis hier lose als Settings bzw. Dispositive bezeichnet wurden, mit dem soziologischen Begriff des Rahmens belegen, wie ihn 

Erving 

Goffman 

einführte 

und 

entscheidend 

prägte.6 

Dass 

ein 

bestimmtes 

soziales 

Geschehen 

 einen 

Rahmen 

besitzt, 

heißt 

für 

Goffman 

nichts 

anderes, 

als 

dass 

ein 

geteiltes 

Verständnis 

der 

Situation durch die Situationsteilnehmer etabliert wird: »Ich gehe davon aus, dass Menschen, die sich gerade 

in 

einer 

Situation 

befinden, 

vor 

der 

Frage 

stehen: 

Was 

geht 

hier 

eigentlich 

vor?«7 

Goffmans 

situational und sozial aufrechterhaltene »Rahmen« sind insofern nicht als starres Regelwerk entworfen, sondern 

als 

häufig 

erst 

im 

Verlauf 

des 

Geschehens 

wachsende, 

in 

die 

Praxis 

eingelassene 

Strukturen; 

 sie 

 entstehen 

 »as 

 we 

 go 

 along«, 

 wie 

 Ludwig 

 Wittgenstein 

 fomulierte, 

 zu 

 dessen 

 Spätwerk 

 Goffmans 

 Thesen einige Ähnlichkeiten aufweisen.8 Mit dem Rahmenbegriff zu operieren bringt mit sich, den Blick auf die situative Aushandlung sozialen Sinns zu richten, also soziale Praktiken zu beobachten und zu beschreiben;9 zum Beispiel indem gefragt wird, wie, also auf welche Weise, Situationsteilnehmer gemeinsam Sinn machen.10 Weiterhin fordert ein rahmenanalytischer Blickwinkel dazu auf, Situationen 

 gewissermaßen 

 im 

 Ganzen 

 zu 

 begreifen, 

 beispielsweise 

 indem 

 Kommunikationen 

 nicht 

 nur nach ihren möglichen Inhalten befragt werden, sondern auch nach dem »production format«, das sie aufweisen, sowie den »participation frameworks«, die sie bieten – womit zwei weitere Begriffe

6 



7 

 8 9

10

Goffman 

übernimmt 

den 

Rahmen-Begriff 

seinerseits 

von 

Gregory 

Bateson, 

der 

ihn 

in 

seinem 

Essay 

Eine Theorie des Spiels und der Phantasie 

erstmals 

nutzte. 

Beide 

Theoretiker, 

Goffman 

wie 

Bateson, 

arbeiteten 

übrigens 

 prominent zu theatralen bzw. spielerischen Situationen und zu psychotherapeutischen Settings. Erving 

 Goffman, 

 Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a. M. 1989, S. 16. Vgl. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen § 83, z. B. in Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 2004, S. 287. Sozial- und kulturwissenschaftliche Theorien, die primär auf Praktiken fokussieren (anstatt z. B. auf Zeichen, Strukturen oder subjektiven Wahrnehmungen/Empfindungen) werden als »Theorien der Praxis«, »Praxeologie« oder»Praxis-Theorien« 

 bezeichnet; 

 vgl. 

 z. 

 B. 

 Andreas 

 Reckwitz, 

 »Grundelemente 

 einer 

 Theorie 

 sozialer 

 Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003, Heft 4), S. 282–301. Jean Luc Nancy nutzt den inzwischen in zahlreiche Sprachen diffundierten Anglizismus »Sinn machen« in genau diesem Sinn, wenn er das Wahrnehmen im Theater als ein kollektives Produzieren von Sinn beschreibt (vgl. Jean-Luc Nancy, »Making Sense«, in: Lorna Collins/ Elizabeth Rush (Hg.), Making sense. For an effective aesthetics, Oxford 2011, S. 215–220).

86

Zu Wort kommen

eingeführt 

wären, 

die 

Goffman 

als 

analytische 

Werkzeuge 

einsetzt.11 Mit dem »production format« adressiert er die Art und Weise, in der Äußerungen abgefasst werden; das damit eng verbundene »participation framework« umschreibt Teilnahmemöglichkeiten, die für die Kommunizierenden situativ zur Verfügung stehen. So ließe sich beispielsweise eine prototypische psychoanalytische Therapiesitzung wie folgt beschreiben: Ein Patient produziert, auf einer Couch liegend, assoziatives narratives Material, z. B. erzählt er seine Träume. Der Psychoanalytiker sitzt unterdessen, vom Patienten ungesehen, hinter ihm und hört 

zu; 

später 

bietet 

er 

eine 

Analyse 

des 

Gehörten 

an 

und 

arbeitet 

das 

Material, 

das 

ihm 

der 

Patient 

 geliefert hat, zu einer psychoanalytisch kompatiblen Erzählung um. Würde der Patient seinen Teilnehmerstatus verändern und selbst analysierend tätig werden (z. B. weil er mit der Erzählung des Analytikers nicht einverstanden ist), würde dies in einem klassischen psychoanalytischen Setting als Rahmenbruch gewertet (der Analytiker würde dann z. B. versuchen, das als reaktant wahrgenommene 

Verhalten 

des 

Patienten 

zur 

Folge 

eines 

unbearbeiteten 

Vaterkonflikts 

zu 

erklären 

o. 

ä.). 

 Das Beispiel illustriert, dass die (hier bewusst plakativ entworfene) Analyse-Situation ein starkes Machtgefälle aufweist, insofern die Teilnahmemöglichkeiten der Kommunikationspartner asymmetrisch verteilt sind. Unabhängig davon zeigt die Beschreibung auf, dass das Aufrechterhalten eines »Rahmens« (z. B. einer klassichen Psychoanalyse-Situation) sowohl in der Produktion geeigneter »production-formats« durch die Teilnehmer besteht (z. B. der Patient produziert assoziatives Material, der Therapeut produziert eine Analyse) als auch im Einhalten bestimmter »participation frameworks« (z. B. 

der 

Teilnehmer-Rollen 

›Patient‹ 

und 

›Therapeut‹). 

Ganz 

ähnliche 

Beobachtungen 

lassen 

sich 

für 

eine 

 prototypische 

dramatische 

Theater-Aufführungs-Situation 

anstellen; 

in 

Goffmans 

»Rahmen-Analyse« 

 wurde eine solche zum Beispiel situativer Rahmung schlechthin, wobei er das Setting (traditioneller Dramen-)Theateraufführungen wie folgt umreißt: »Eine Aufführung [...] ist eine Veranstaltung, die einen Menschen in einen Schauspieler verwandelt, und der wiederum ist jemand, den Menschen in der Publikums Rolle des langen und breiten ohne Anstoß betrachten und von dem sie ein einnehmendes Verhalten erwarten können«.12 Ich möchte nun, gerüstet mit den Begriffen des Rahmens, des »production format« und des »participation framework« zur Beschreibung einiger besonders wirklichkeits-naher Theaterarbeiten kommen, die ich selbst aus einer Publikums-Position kenne; ich berichte insofern mit einem Blick ›aus dem 11 

 Die 

Begriffe 

»production 

format« 

und 

»participation 

framework« 

führt 

Goffman 

in 

seinem 

Aufsatz 

»Footing« 

 ein. 

Vgl. 

Erving 

Goffman, 

»Footing«, 

in: 

Erving 

Goffman 

(Hg.), 

Forms of talk, Oxford 1981, S. 124–157. 12 

 Goffman, 

Rahmen-Analyse, S. 143.

Stefanie Husel

87

Zuschauerraum‹. Meine Beschreibungen der beispielhaft ausgewählten Arbeiten, die alle mit ›echten Menschen‹ 

und 

›echten 

Geschichten‹ 

spielen, 

konzentrieren 

sich 

darauf, 

auf 

welche 

Weise 

dort 

jeweils ein »Theaterrahmen« praktisch verwirklicht wird: Welche Form der theatralen Äußerung bieten die Inszenierungen und welche Teilnahme-Weisen stehen dort für Zuschauer zur Verfügung? 3) Trollmanns Kampf – Mer Zirkales In der etwa zweistündigen Aufführung Trollmanns Kampf – Mer Zirkales wird 

 die 

 Geschichte 

 des 

 Hannoveraners Sinto Johann Trollmann, genannt »Rukeli«, erzählt, der 1933 Deutscher Halbschwergewichtsmeister im Boxen war.13 Der Titel wurde ihm durch die Nationalsozialisten schon kurz nach seinem 

 Gewinn 

 wieder 

 aberkannt; 

 dabei 

 hieß 

 es, 

 Trollmanns 

 wendiger 

 und 

 tänzerischer 

 Stil 

 wäre 

 »undeutsch«. Um die Lächerlichkeit solcher Zuordnungen zu demonstrieren, zeigte Trollmann eine außerordentlich mutige Performance: mit blondierten Haaren und mit Puder geweißter Haut trat er 

 gegen 

 seinen 

 nächsten 

 Gegner 

 an, 

 blieb 

 stocksteif 

 stehen 

 und 

 ließ 

 sich 

 ohne 

 Gegenwehr 

 k. 

o. 

 schlagen. 1944 wurde Johann Rukeli Trollmann im KZ Wittenberge ermordet, nachdem er zuvor zu unwürdigen 

Schaukämpfen 

gezwungen 

worden 

war. 

Trollmans 

Geschichte 

war 

unter 

Nicht-Sinti 

lange 

 Zeit so gut wie vergessen. Im von Marc Prätsch und Björn Bicker arrangierten Stück sind die Darsteller Sinti, die heute in Deutschland leben; auch ein Nachfahre Trollmanns tritt auf. Biographische Erzählungen der Darsteller wechseln sich in der Inszenierung mit anekdotisch-poetischen Narrationen der Rukeli-Trollmann Geschichte 

ab. 

 Das Stück bedient sich einer ganzen Reihe unterschiedlicher »production formats«: Während der ersten Szenen stellen sich die Darsteller als Radiomoderatoren vor und gestalten ihre Ansprachen entsprechend; später wird das Publikum adressiert, als würde es sich in einer Show, z. B. einer Reality- 

 oder 

 Unterhaltungs-Show 

 befinden, 

 dabei 

 werden 

 Zuschauer 

 immer 

 wieder 

 per 

 Mikrophon 

 als 

 »Liebes Publikum« oder als »Verehrte Zuschauer« etc. adressiert. Die Darsteller sitzen unterdessen an einer Tafel, essen »Zigeunerschnitzel«, unterhalten sich über deutsche Sinti-Traditionen und geben Lieder zum Besten, wobei sie u. a. durch die Jazz-Musikerin Dotschy Reinhardt unterstützt werden. Die Stimmung, die dieser Format-Mix produziert, bewegt sich zunächst in einem fröhlich nonchalanten Zwischenbereich zwischen bunter Lieder-Abend-Show und launig-geselligem Beisammensein, wobei allerdings die immer wieder eingestreuten Versatzstücke der Trollmann-Erzählung ebenso wie 13

Eine Beschreibung der Inszenierung sowie Fotos und viele weitere Daten zu Johann »Rukeli« Trollmann finden sich auf der Homepage von Manuel Trollman. Vgl: http://www.johann-trollmann.de/mer-zikrales.html (Stand 10. 06. 2013).

88

Zu Wort kommen

die 

 häufig 

 sarkastisch 

 zum 

 Einsatz 

 gebrachten 

 »Zigeuner«-Klischees 

 einen 

 leise 

 bedrohlichen 

 Unterton einführen. In der zweiten Hälfte der Aufführung verlassen Darsteller und Zuschauer das Theater und begeben sich in eine Kirche. Hier steht das Publikum in den Seitenschiffen, während vor dem Altar in der Mitte des Raums ein Boxring aufgebaut ist. Auch in diesem düsteren zweiten Teil des Abends werden Formate kombiniert: Neben Assoziationen von Predigt und Litanei, welche allein schon die Örtlichkeit, ebenso aber der Duktus der Auftretenden hervorruft, tritt ein gespenstisches angedeutetes Reenactment des letzten Kampfes Rukeli Trollmanns: Alle Darsteller betreten mit grob geweißten und mit 

Kunstblut 

beschmierten 

Gesichtern, 

mit 

blonden 

Perücken 

und 

in 

kunstseidene 

Boxer-Mäntel 

gehüllt den Ring. Ihre Texte sprechen sie nun chorisch; sie artikulieren die grausamen Beschimpfungen, die 

Sinti 

nicht 

nur 

unter 

den 

Nationalsozialisten, 

sondern 

oft 

noch 

bis 

in 

die 

Gegenwart 

zu 

ertragen 

 haben. Diese 

 finstere 

 Beschwörung 

 des 

 letzten 

 Kampfs 

 Trollmanns, 

 seiner 

 Ermordung 

 sowie 

 gegenwärtiger Antiziganismen wird allerdings zum Ende der Aufführung in eine feierlich-hoffnungsvolle Stimmung 

überführt: 

Ein 

authentischer 

Nachkomme, 

der 

Großneffe 

Trollmanns, 

tritt 

auf, 

er 

trägt 

Rukelis 

 Meisterschafts-Gürtel 

 (der 

 dem 

 Boxer 

 erst 

 2003 

 noch 

 einmal 

 rückwirkend 

 verliehen 

 wurde) 

 wie 

 ein 

 Heiligtum in Händen. Schließlich singen Darsteller und Publikum gemeinsam ein Lied. Die mannigfachen »production formats«, die in Aufführungen von »Trollmanns Kampf« geboten werden, bringen also zahlreiche unterschiedliche Möglichkeiten situativer Teilnahme für das Publikum mit sich: Werden Zuschauer gerade noch als das anonyme, weit entfernte Publikum einer Radiosendung angesprochen, sind sie schon bald umkodiert zum Saalpublikum einer Unterhaltungsshow. Kurz darauf werden sie zu Beisitzenden eines bunten Liederabends, schließlich feiern sie eine Toten-Messe, werden dabei, im gruseligen Nachspielen von »Trollmanns letztem Kampf« schmerzlich zum 30erJahre-Publikum. Sie bezeugen stumm eine ganze Litanei grausamer Beschimpfungen, um schließlich, in 

der 

Gegenwart 

angelangt, 

mit 

Rukelis 

Großneffen 

das 

Überleben 

einiger, 

viel 

zu 

weniger 

zu 

feiern, 

 mit ihnen zu singen und auf eine bessere Zukunft zu hoffen. 4) Disabled Theater Das Stück Disabled Theater entwickelte Choreograph Jerome Bel gemeinsam mit der Schweizer Kompanie Theater Hora, bei der Menschen mit geistigen Behinderungen zusammenarbeiten. Als eine der bemerkenswertesten Inszenierungen der vergangenen Spielzeit wurde Disabled Theater auf das Berliner Theatertreffen eingeladen, Julia Häusermann, eine der Darstellerinnen vom Theater Hora, erhielt

Stefanie Husel

89

dort den mit 5000 Euro dotierten Alfred-Kerr-Darstellerpreis für Nachwuchsschauspieler. Inzwischen tourt die Inszenierung weltweit. Die Aufführung zeigt einen denkbar simplen Aufbau: Auf einer leeren Bühne stehen Stühle bereit und formen einen dem Publikum gegenüberliegenden Halbkreis. Rechts vorne, ganz am Rand der Bühne, ist ein Tisch mit Mikrophon platziert. Dort sitzt ein/e Simultandolmetscher/in, der oder die zugleich als eine Art Nummern-Ansager fungiert. Als würde in den Aufführungen der Produktionsprozess noch einmal nachvollzogen, spricht er/sie berichtend ins Mikrophon (entweder auf Englisch oder Deutsch, je nach Aufführungsort), z. B.: »Dann hat Jerome die Schauspieler gebeten, einzeln auf die Bühne zu kommen und sich vorzustellen« oder: »Dann hat Jerome die Schauspieler gebeten, ihre Behinderung zu nennen«. Die Darsteller führen darauf live die benannten Aufgaben aus, nach Ausführung setzen sie sich auf die Stühle. Sie sprechen »Schwiizer Dütsch«, ihre Aussagen werden vom Ansager/der Ansagerin übersetzt bzw. auf Hochdeutsch wiederholt. Unverständliches wird dabei ausgelassen, grammatikalische Besonderheiten so exakt wie möglich beibehalten. Neben Sprech-Aufgaben (sich vorstellen, vom Beruf oder der Behinderung berichten u. ä.) formen vor allem körperlich-tänzerische Aufgaben den Abend; im Zentrum der Abfolge stehen sieben Tanz-Soli, von denen es heißt, dass die Darsteller selbst die Choreographien entwickelt und die Musik ausgewählt hätten. Das 

 bis 

 hier 

 geschilderte 

 Format 

 der 

 Aufführung 

 könnte 

 an 

 moderierte 

 Talkshows 

 oder 

 Gesprächskreise erinnern, ebenso aber an Podiumsdiskussionen oder politische Events mit Simultanübersetzung. Zugleich ruft das Ausführen einer Reihe von Aufgaben vor Publikum Assoziationen zu Talentoder Castingshows u. ä. auf. Indem das »production format« der Aufführung derart changierend unklar bleibt, bieten sich dem Publikum abwechselnd äußerst unterschiedliche Teilnahme-Möglichkeiten: In einzelnen Momenten bietet sich ein bewertend-voyeuristischer Blick an, der sich anonym auf das Bühnengeschehen richtet – also eine Zuschauerhaltung wie in einer Talent-Show, in der Auftretende nach ihren Leistungen bewertet 

 werden. 

 Andere 

 Momente 

 hingegen 

 produzieren 

 große 

 Nähe 

 zum 

 Geschehen; 

 die 

 Auftretenden scheinen dann ganz gegenwärtig und authentisch, sie wirken wie nahestehende Bekannte, rühren 

zu 

Tränen 

oder 

kitzeln 

begeistertes 

Lachen 

hervor. 

Aus 

diesem 

Grund 

können 

Zuschauer 

auch 

 nie ganz sicher sein, wie viel von dem, was sich im Disabled Theater zeigt, ›tatsächlich authentisch‹ ist, was hingegen fest eingeplant und mit Kalkül inszeniert ist. Das Publikum kann (und muss) insofern beständig hinterfragen, wie fremdartig diese ›echten Behinderten‹ tatsächlich sind und wie viel von dem, was in der Aufführung sichtbar wird, auf Projektionen, auf eingelösten oder enttäuschten Erwartungen 

 auf 

 Seiten 

 der 

 Zuschauer 

 beruht. 

 Aus 

 diesem 

 Grund 

 wird 

 die 

 Aufführung 

 zu 

 einer 

 Re-

Zu Wort kommen

90

flexion 

eigener 

Sehgewohnheiten, 

vielleicht 

sogar 

zu 

einer 

Meditation 

über 

das 

Sichtbare 

und 

das 

 Unsichtbare im Theater und in anderen Öffentlichkeiten, über das Normale und das Fremde, das Gesunde 

und 

das 

Kranke 

(bzw. 

›Behinderte‹). 

 Das Konzept, ›echte Behinderte‹ auftreten zu lassen, wird hier also subversiv angewendet, indem der 

Theaterauftritt 

per 

se 

in 

seinen 

Grundprinzipien 

verfremdet 

wird, 

oder 

wie 

Benjamin 

Wihstutz 

in 

 seinem Impulsbeitrag …und ich bin Schauspieler im Rahmen des Berliner Theatertreffens formuliert: »Es geht hier tatsächlich darum, das Theater selbst zu behindern, das heißt, seine Konventionen und Normen 

zu 

dekonstruieren 

und 

der 

Performance 

als 

Grundprinzip 

einer 

ökonomisierten 

Gesellschaft 

 eine andere Performance entgegenzusetzen.«14 5) Schutz im Spielraum Die beschriebenen Stücke ähneln sich insofern, als dort mit ›echten Menschen‹ als Ko-Produzenten und 

Darstellern 

sowie 

mit 

›echten 

Geschichten‹ 

als 

Inhalten 

gearbeitet 

wird, 

wobei 

ein 

Großteil 

dieser 

 Inhalte für die Auftretenden von ›tatsächlicher‹ biographischer Relevanz ist. Die ›echten‹ Koproduzenten und Darsteller in beiden Beispielen entsprechen zudem nicht dem Mainstream einer ethnisch relativ 

 homogenen 

 und 

 relativ 

 ›gesunden‹ 

 Gesellschaft, 

 sie 

 sind 

 damit 

 gewissermaßen 

 randständig. 

 Die 

erzählten 

Geschichten 

verdeutlichen 

dabei, 

wie 

traumatisch 

solche 

Randständigkeit 

sein 

kann; 

 Beleidigung, Diskriminierung, Marginalisierung werden Thema. Nun könnte gerade der Rahmen des Theaters, der gewöhnlich mit einer scharfen Trennung in eine Bühne und einen Zuschauerraum assoziiert ist, einem Machtgefälle zwischen Darstellern und Zuschauern Vorschub leisten, der genau dem Thematisierten entspricht, dieses sogar verdoppelt: Die ›Freaks‹, die ›Anderen‹, stünden dann geblendet im Rampenlicht, während ein privilegiertes Publikum die Anonymität eines dunklen Zuschauerraums genießt.15 Allerdings wird, wie oben beschrieben, in beiden Inszenierungen der Etablierung klarer »participation frameworks« entschieden entgegengewirkt. Auf diese Weise kann sich auch kein durchgängig objektivierender Blick aus dem Zuschauerraum entwickeln: Das ständige spielerische Umkodieren des Settings, das Spiel mit semi-theatralen Fomaten, wie ›Talent- oder Unterhaltungs-Show‹, ›Radiosendung‹, ›Predigt‹ oder ›Plenarsitzung‹, lässt die Theatersituation selbst auffällig werden: Der theatrale Blick 14 15

Vgl. Transkription des Vortrags auf der Webseite nachtkritik.de. Tatsächlich wird diese Möglichkeit in den Inszenierungen sogar explizit angesprochen; z. B. erzählt Damian Bright, Schauspieler vom Theater Hora, in der Aufführung eine Reaktion seiner Schwester, die über die »FreakShow« geweint habe, das Stück aber dennoch gemocht habe.

Stefanie Husel

91

eines Publikums auf die ›Anderen‹, die da auf der Bühne posieren (die ›Zigeuner‹, die ›Behinderten‹), gerät seinerseits ins Spiel, wird zu einem konstitutiven Teil der verspielten Aufführung: Zuschauer blicken 

 spielerisch 

 einmal 

 als 

 Zuschauer 

 einer 

 Unterhaltungs-Show, 

 im 

 nächsten 

 Moment 

 als 

 Gäste 

 der gespenstischen Spiegelung eines Boxkampfes aus den 30ern, dann wieder als die Jury einer Talentshow. Diese formale Betonung des Spielerischen in der Aufführungssituation, die durch die Nutzung multipler »production formats« etabliert wird, produziert einen schützenden Möglichkeitsraum, einen Spielrahmen des ›Als-ob‹: Die Teilnehmenden in verspielten Aufführungen wie den hier beschriebenen stehen damit nie gänzlich als ›sie selbst‹ auf der Bühne, sondern eher als spielerische Versionen ihrer selbst, z. B. als das Selbst, das gerade als Schauspieler agiert, oder das Selbst, das gerade 

die 

Geschichte 

Rukeli 

Trollmanns 

erzählt.16 Zwar werden also in beiden Inszenierungen, Trollmanns Kampf und Disabled Theater, Authentizität, Echtheit und damit einhergehend auch Schutzlosigkeit der Protagonisten in den Fokus gestellt, sie verharren aber als ästhetische Möglichkeiten im Spielerischen. Eine Schließung, eine letztgültige Zuordnung, wie zum Beispiel ›Das hier sind die Hilfsbedürftigen‹ oder ›Die hier sind die Andersartigen/Problematischen‹, wird erschwert, wenn nicht gar verhindert. Entsprechendes betont Matthias Brückner, Schauspieler vom Theater Hora, in einem TV-Interview, das im Rahmen einer Korea-Tour von Disabled Theater aufgezeichnet wurde: »Wenn ich auf der Bühne bin, bin ich jemand anderer«; und Brückners Kollegin Sara Hess merkt im selben Interview an, dass das Publikum der Aufführung selbst entscheiden könne, wann etwas Rolle ist und wann sie sich selbst spielt.17 In Disabled Theater ebenso wie in Trollmanns Kampf wird also ein Schutzraum der Potentialität für die auf den Bühnen Auftretenden etabliert, ein spielerischer Möglichkeitsraum, der endgültige Zuschreibungen unmöglich macht und entsprechend keine Objektivierung erlaubt: Darsteller und Zuschauer spielen gemeinsam mit unterschiedlichen Theater-Rahmungen. Das spielerisch-theatrale Moment des ›Als-ob‹, das schon der klassische Dramen-Theater-Rahmen beinhaltet, wird hier verschoben, es weitet sich gewissermaßen von der Bühne auf die gesamte Aufführungssituation aus.18 16

17 18

Auf Darstellungs-Praktiken, die die Authentizität von Personen, die »sich selbst« spielen, in Frage stellen, gehe ich an anderer Stelle detailliert ein (vgl. Stefanie Husel, »Sich selber spielen? Zur bodenlosen Mehrbödigkeit der Figuren Forced Entertainments«, in: Friedemann Kreuder/Nadine Peschke (Hg.), Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion, Bielefeld 2012, S. 205–216). So zu hören in einem Fernsehbeitrag des SWR (online unter http://www.srf.ch/player/tv/kulturplatz/video/dastheater-hora-ruehrt-koreaner-zu-traenen?id=c95a8782-a1a2-4ad5-892c-72bfd67134d9). Hans-Thies Lehmann spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Theater emphatisch »Situation« wird: »Wo 

immer 

diese 

beunruhigende 

Grenzverschiebung 

geschieht, 

wandert 

in 

postdramatisches 

Theater, 

auch 

 wo es insgesamt dem klassischen Theater mit seiner behaupteten klaren Trennung von Bühne und Theatron (Zuschauerraum) zuzugehören scheint, die Qualität einer Situation im emphatischen Sinn des Wortes ein.«

Zu Wort kommen

92

Anhand eines dritten Beispiels soll im Folgenden darauf fokussiert werden, dass eine solche Verschiebung des theatralen ›Als ob‹ beileibe nicht nur für die Rolle(n) bzw. »participation frameworks« der Darsteller gilt. Vielmehr wird dabei, wie schon oben mehrfach anklingt, die Positionierung der Zuschauer intensiv herausgefordert. 6) Susan and Darren Das Stück Susan and Darren ist eine Zusammenarbeit der Künstlerkollektive Quarantine und Company Fierce mit Darren und Susan Pritchard; es wird immer in Kombination mit einem vorherigen Tanzworkshop angeboten, an dem einige der späteren Zuschauer teilnehmen. Während der eigentlichen Aufführung sitzt das Publikum an drei Seiten um eine quadratische Bühne, in deren Mitte sich die beiden 

Darsteller 

befinden, 

Susan 

Pritchard, 

die 

etwa 

Mitte 

50 

ist, 

und 

Darren 

Pritchard, 

der 

etwa 

30 

 Jahre alt ist. Beide tragen bequeme Freizeitkleidung, Trainingshosen und ärmellose Unterhemden, Susan 

in 

Pink, 

Darren 

in 

Grau. 

Sie 

stellen 

sich 

den 

Zuschauern 

(die 

sie 

noch 

nicht 

aus 

dem 

Workshop 

 kennen) als Mutter und Sohn vor und bitten darum, zu imaginieren, man befände sich in ihrem, der Pritchards Wohnzimmer – denn im ›echten Leben‹ wohnen Mutter und Sohn gemeinsam in einem Vorort von Manchester. Über eine Reihe von Fernsehbildschirmen werden zwischendurch Freunde und Nachbarn der beiden eingeblendet, die über sie erzählen, und auch die beiden Darsteller berichten, anekdotisch und sehr privat wirkend, von ihrem gemeinsamen Leben. Unterdessen sind einige der 

Zuschauer 

dazu 

aufgefordert, 

Gemüse 

zu 

schneiden 

und 

Brote 

zu 

schmieren, 

denn 

der 

Abend 

soll 

 in einer gemeinsamen kleinen Party mit Buffet und Tanz kulminieren. Die biographischen Erzählungen von Susan und Darren berichten im Verlauf der Aufführung von einem Leben, das kaum bürgerlichen Normen entspricht: Susan hat Darren allein großgezogen und arbeitet als Putzfrau. Darren ist homosexuell und professioneller Tänzer, u. a. arbeitete er mit einigen äußerst renommierten Kompanien für zeitgenössischen Tanz zusammen.19 Zwischenzeitlich hat das Publikum die Möglichkeit, den beiden Protagonisten Fragen zu ihrem Leben und zur Aufführung zu stellen. Thematisch wie praktisch durchzieht das gemeinsame Tanzen die Aufführung, z. B. wenn Darren bestimmte 

erzählte 

Situationen 

mit 

sprechenden 

Gesten 

unterlegt, 

die 

auf 

diese 

Weise 

manchmal 

 in kurze Soli kulminieren, oder wenn Susan und Darren gemeinsam vorführen, wie sie manchmal im Wohnzimmer zusammen tanzen. Einer der Höhepunkte der anekdotisch mäandernden Erzählungen ist der Auftritt derjenigen Zuschauer, die vor der Vorstellung den Workshop besucht haben und nun

19

(Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 178). Vgl. zum Kontext von Susan and Darren z. B. die Homepage des Regie-Combinats Quarantine oder folgendes Guardian-Interview: 

http://www.guardian.co.uk/stage/2010/may/09/susan-and-darren-quarantine-jennings (Stand 10.06.2013).

Stefanie Husel

93

mit Susan und Darren gemeinsam einen disco-artigen Tanz vorführen, zur Einspielung von Barry Whites You’re My First, My Last, My Everything.20 Die 

Geschichten, 

die 

Mutter 

und 

Sohn 

erzählen, 

bewegen 

sich 

dabei 

nicht 

nur 

im 

Bereich 

alltäglichen 

 Geplauders, 

sondern 

kommen 

dem 

Publikum 

immer 

näher; 

nach 

etwa 

einer 

Stunde 

Aufführungszeit 

lässt 

Susan 

in 

eindringlich 

ruhiger 

Erzählweise 

ein 

grauenhaftes 

Erlebnis 

aufleben: 

Sie 

berichtet 

 davon, wie sie als junge Frau vergewaltigt wurde – ein Moment regelrecht schmerzlicher Intensität. Und doch endet der Abend, wie von Susan und Darren angekündigt, in einer gemeinsamen Party: Zuschauer können nach der Vorstellung mit den beiden Darstellern im Raum verbleiben, das vorbereitete 

Buffet 

verspeisen, 

ein 

Gläschen 

trinken 

– 

und 

miteinander 

tanzen. 

Das 

Publikum 

verläuft 

sich 

 auf 

 diese 

 Weise 

 nur 

 allmählich, 

 die 

 Grenzziehung 

 zwischen 

 Theaterstück 

 und 

 alltäglicher 

 Realität 

 verschwimmt in der Partysituation. Die Inszenierung Susan and Darren beginnt also mit einer ›Als-ob‹-Erzählung, in die die Zuschauer sanft hineingezogen werden und die schließlich die gesamte Aufführungssituation spielerisch umfasst: Man solle sich vorstellen, der gemeinsam besetzte Theater-Raum wäre das Wohnzimmer von Susan und Darren. Im Verlauf des Abends wird diese spielerische Vorstellung weiter verstärkt, z. B. indem einige der Zuschauer ›in der Küche helfen‹, um die spätere gemeinsame Party zu verköstigen; der Theaterabend spielt hier gewissermaßen Wohnzimmer-Party. Weiterhin fällt auf, dass der Auftritt Darrens auf einer Theaterbühne nicht weiter verwundert, nachdem er, wie berichtet wird (und wie Darrens trainierter Körper und seine Bewegungen sichtbar werden lassen), von Beruf professioneller Tänzer 

ist. 

Der 

Auftritt 

von 

Darrens 

Mutter 

Susan 

aber 

wirkt 

wie 

die 

Verwirklichung 

eines 

Gedankenexperiments: »Stell Dir vor, der Tänzer hätte seine Mutter auf der Bühne dabei ...« oder »Stell Dir vor, Du könntest ihn in seinem Wohnzimmer besuchen.« Selbst Darrens Trainingshose wirkt in Kombination mit seiner beschriebenen Leiblichkeit kaum befremdlich, nachdem im zeitgenössischen Tanz Auftritte 

 häufig 

 in 

 funktionaler 

 (Trainings-)Kleidung 

 bestritten 

 werden. 

 Susan 

 hingegen 

 ist 

 nicht 

 durchtrainiert 

 oder 

 schlank, 

 ihr 

 rosé-farbenes 

 Wohlfühl-Outfit 

 scheint 

 ganz 

 authentisch 

 vom 

 privaten 

 Alltag 

 einer gewöhnlichen, nur wenig privilegierten (Putz-)Frau zu sprechen. Insofern verknüpfen Susan und Darren, allein schon in ihrer Körperlichkeit und Kleidung, ein Setting öffentlichen (und hochkulturell konnotierten) Bühnentanzes mit dem eines privaten, ärmlichen Wohnzimmers. Nun tritt der soziale Hintergrund von Darstellern im traditionellen Theater bzw. Bühnentanz-Setting meist zurück; im Vordergrund steht vielmehr der gut trainierte Körper bzw. dessen virtuose Beherrschung. Bei Susan and Darren hingegen wird der soziale Kontext, die alltägliche Wirklichkeit der beiden Auftretenden, zum 20

Ein Video dieser Sequenz findet sich unter https://www.youtube.com/watch?v=EQwG_ToEouQ (Stand 10.06.2013).

Zu Wort kommen

94

zentralen Thema. Zuschauer, die Darren sonst auf ganz andere Art und Weise beobachten, die seinen Körper und dessen Bewegungsexpertise betrachten, lernen nun auf einmal Darrens Mum kennen und werden so in den alltäglichen und familiären Hintergrund Darrens eingeweiht. Die Inszenierung verwirklicht hier also einen ungewöhnlichen Blick auf die ›Hinterbühne‹ eines Darstellers, ja in dessen privates Wohnzimmer. Allerdings geschieht dies ganz demonstrativ spielerisch; dass sich das Spiel mit Bühne und Privatheit im Rahmen einer gemeinschaftlichen Fiktion, eines kollektiv angestrengten »Als-ob« abspielt, wird niemals verborgen, sondern jeweils klar und explizit betont, z. B. indem die Darsteller Sprechweisen nutzen wie »Stellen Sie sich vor, dies wäre unser Wohnzimmer ... Hier stünde dann eine Couch«, während sie zugleich auf den leeren Bühnenboden weisen etc. Ein Moment der Aufführung kann die spielerische Verquickung von Bühne und Privatheit und die Reflexion 

 beider 

 »Settings«, 

 die 

 auf 

 diese 

 Weise 

 geschieht, 

 besonders 

 eingängig 

 illustrieren:21 Susan erzählt davon, wie sie es sich jeden Tag mit ihrem Tee in der immer gleichen Ecke ihrer Couch bequem macht. Darauf erzählt Darren, wie er zum ersten Mal einen Liebhaber mit nach Hause gebracht hat; beim sich anbahnenden Liebesspiel habe der ihn leidenschaftlich genau in dieser Ecke der Couch niedergedrückt – worauf er den eigentlich sehr attraktiven Partner abgewehrt habe: »No! Not in me Mum’s corner!« So anekdotisch und damit möglicherweise wenig relevant diese kleine Erzählung in der 

Gesamtdramaturgie 

des 

Abends 

zunächst 

vielleicht 

erscheint, 

kann 

man 

sie 

doch 

als 

prototypisch 

 für das begreifen, was die Aufführung Susan and Darren insgesamt vorführt: Es werden Settings bzw. Räume 

thematisiert, 

in 

denen 

unterschiedliche 

soziale 

Gesetze 

gelten. 

In 

Mums Corner muss man sich anders verhalten als in der Disco; ebenso sitzen auch die Zuschauer hier nicht vor einer ganz typischen Bühne, wo sie die Protagonisten ungeniert betrachten und dabei rücksichtslos objektivieren können. 

 Vielmehr 

etabliert 

sich 

im 

Hier 

und 

Jetzt 

der 

Aufführung 

spielerisch 

die 

Gesetzmäßigkeit 

 einer privaten Begegnung. Den Situationsteilnehmern bietet sich an, für ein Weilchen zu spielen, sie hätten eine »echte« Beziehung zu Susan und Darren. Das Publikum befreundet sich für die Dauer des Abends mit den beiden. Man teilt Susans und Darrens Wohnzimmer und bringt den beiden den Respekt 

entgegen, 

den 

man 

freundlichen 

Gastgebern 

gegenüber 

hat; 

statt 

sie 

anzustarren, 

wird 

mit 

den 

 Darstellern 

gesprochen 

und 

gegessen, 

man 

teilt 

persönliche 

und 

sogar 

schmerzhafte 

Geschichten, 

 tanzt miteinander. Zuschauern wird in der Inszenierung insofern ermöglicht, sich selbst in einer bisher ungekannten Rolle 

zu 

erleben: 

als 

Freund 

und 

Gast 

von 

Susan 

und 

Darren. 

Nachdem 

diese 

beiden 

nicht 

besonders 

 bürgerlich sind, mag dies für manchen eine höchst ungewöhnliche, vielleicht sogar exotisch reizvolle 21

Diese Szene lässt sich auf Youtube als Video nachvollziehen, vgl.: https://www.youtube.com/watch?v=g4ZifyydZ6s (Stand 10.06.2013).

Stefanie Husel

95

Rolle sein, die doch in jedem Moment darauf aufmerksam macht, dass Susan und Darren nicht als interessante 

 ›Freaks‹, 

 sondern 

 als 

 respektvoll 

 zu 

 behandelnde 

 Freunde 

 und 

 Gastgeber, 

 also 

 auf 

 Augenhöhe zu adressieren sind. 7) Ausblick In den hier beschriebenen wirklichkeits-nahen Theaterarbeiten treten ›echte‹ Darsteller als ›sie selbst‹ auf; authentische, teilweise für die Darsteller biographisch hoch-relevante Erzählungen werden dabei Thema von Aufführungen. Dennoch produziert keines der erwähnten Beispiele einen Rahmen, in dem eine 

schließende, 

definierende 

Sichtweise 

auf 

die 

Protagonisten 

und 

ihre 

Narrationen 

ermöglicht 

wäre. 

 Eine Klarheit von »production format« und »participation framework«, wie sie beispielsweise im therapeutischen Kontext anzustreben ist, wird hier verweigert; stattdessen bleibt bei aller Authentizität der besprochenen Aufführungssituationen ästhetische Unschärfe, spielerische Vagheit erhalten. Einen klassischen dramatischen Theaterrahmen, wie man ihn sich für traditionelle Aufführungen vorstellt, brechen die beschriebenen Stücke dabei in vielerlei Hinsicht auf: Alle drei beispielhaft angeführten Inszenierungen bedienen sich hierfür einer eklektischen Vielfalt von Äußerungsformen bzw. »production formats«; Schauspieler scheinen sich einmal als Moderatoren, ein anderes Mal als Teilnehmer einer Talentshow zu äußern oder das Publikum ganz freundschaftlich privat zu adressieren. Über diese Vielheit der Formate kommen auch zahlreiche, zum Teil wenig gewohnte oder einander widersprechende »participation frameworks« ins Spiel: Die Teilnahmepraxis von Zuschauern an der Aufführung verändert sich, wird auf diese Weise auffällig gemacht, wird ästhetisiert und erscheint somit veränderbar. Es steht spielerisch in Frage, wie man sich den auftretenden ›echten Menschen‹ und/oder 

 ›wahren 

 Geschichten‹ 

 gegenüber 

 positioniert: 

 Neben 

 klassisch 

 theatrale 

 Blicke 

 aus 

 dem 

 Dunkeln, neben ein kolonialisierend-beherrschendes Schauen bei kleinem eigenen Risiko treten Positionen der Zeugenschaft, des ungemütlichen Voyeurismus ebenso wie solche der freundschaftlich unverbindlichen Kumpanei, der persönlichen Teilnahme usw. Die beschriebenen Inszenierungen betreiben insofern keine Aussetzung des Theaterrahmens, sondern eher eine Intensivierung und Vervielfachung theatraler Settings, indem alternative Äußerungs- und Zuschauformate (Show, Podiumsdiskussion etc.) spielerisch aufgerufen werden; auf diese Weise werden verspielte Aufführungssituationen etabliert, in denen nichts ganz so ist, wie es scheint (und umgekehrt).22 Zusammenfassend lässt sich damit konstatieren, dass Theater offenbar manchmal, um (ästhetisches) Theater zu bleiben, aufhören muss, (nur) Theater zu sein: Theaterprojekte mit ›echten Menschen‹ 22

Zum Begriff »Verspieltes Theater« und zur Analyse »verspielter« Aufführungssituationen vgl. Stefanie Husel, Grenzwerte – Im Spiel Forced Entertainments, Dissertationsschrift, Frankfurt a. M. 2013.

96

Zu Wort kommen

und 

 ›wahren 

Geschichten‹ 

scheinen 

zusätzliche 

Strategien 

der 

Verfremdung 

bzw. 

Fiktionalisierung 

 zu benötigen, alternative theatrale Rahmen, die die Aufführungs-Situation zusätzlich »modulieren« und sie auf diese Weise stärker ambivalent halten, offen für Interpretationen und offen für vielfältige Zuschaupraxis.23 Erinnert man sich daran, dass theatrale Settings seit etwa 200 Jahren therapeutisch genutzt werden – wie die Ausstellung SzenoTest beeindruckend vor Augen führen konnte –, lässt sich die Abwehr und Modulation traditioneller Theater-Settings innerhalb von wirklichkeits-nahen post-dramatischen Theaterarbeiten auch als eine Abwehr von Strukturen begreifen, die sich in traditionellen therapeutischen 

Rahmen 

wiederfinden: 

Zuschreibungen 

wie 

›normal‹ 

und 

›anders‹ 

(bzw. 

›gesund‹ 

und 

›krank‹ 

 etc.) sind in den wie beschrieben modulierten Theater-Settings ausgehebelt, stehen in Frage, stemmen 

sich 

gegen 

jede 

definitorische 

wie 

ästhetische 

Schließung; 

Zuschauer 

werden 

auf 

diese 

Weise 

 immer wieder auf die eigenen Wahrnehmungs- und Zuschreibungs-Routinen zurückverwiesen und zum Zweifel an denselben animiert. Etabliert wird so (wenn auch nur für die Dauer der Aufführung) eine spielerische Haltung zur sozialen Realität, ihren Sichtbarkeits-Regeln, ihren normierten Differenzierungen von Mainstream und Randständigem. Diese Erweiterung eines im Theaterspiel immer schon angelegten »Als-ob« produziert in den vorgestellten Theaterarbeiten Schutzräume für die auftretenden Darsteller; und auch die Rolle der Zuschauer darf dort in der Schwebe gehalten werden. Vielleicht könnte sich ein solch spielerisch-multifokaler Entwurf des Settings auch für therapeutische Formate anbieten – zum neuen Import aus der zeitgenössischen Theaterpraxis für heutige Psychotherapie-Settings.

23 

 Den 

 Begriff 

 der 

 Modulation 

 nutzt 

 Goffman 

 in 

 der 

 Rahmenanalyse: 

 »Darunter 

 verstehe 

 ich 

 das 

 System 

 von 

 Konventionen, wodurch eine bestimmte Tätigkeit, die bereits im Rahmen eines primären Rahmens sinnvoll ist, in etwas transformiert, das dieser Tätigkeit nachgebildet ist, von den Beteiligten aber als etwas ganz anderes gesehen wird. Den entsprechenden Vorgang nennen wir Modulation. Eine gewisse Analogie zur Musik ist beabsichtigt.« 

(Goffman, 

Rahmen-Analyse, S. 55).

Josef Breuer

[1895] Nadine Isabell Kipka (Phase 1), Céline Kaiser (Phase 2)

Foto der Modellausstellung

Josef Breuer Nadine Isabell Kipka »Der Breuersche Fund ist noch heute die Grundlage der psychoanalytischen Therapie. Der Satz, dass die Symptome verschwinden, wenn man ihre unbewussten Vorbedingungen bewusstgemacht hat, ist durch alle weitere Forschung bestätigt worden […]« (Sigmund Freud). Die Krankengeschichte der Anna O., alias Bertha Pappenheim, beschreibt wie kaum eine andere eine eindringliche Atmosphä-

re, in der sich ein für das 19. Jahrhundert ganz neuer Therapieansatz abzeichnet. Josef Breuer, für die psychotherapeutische Behandlung der Kranken um 1880 verantwortlich, rekonstruiert den Fall in »Beobachtung I Frl. Anna O.«. Dabei gibt Josef Breuer durch seine intensive Betreuung der Kranken und die ausführliche Beschreibung des Krankheitsverlaufs Einblick in eine von ihm – zum Teil gemeinsam mit der Kranken – entwickelte, neue

Therapiemethodik: die des Absprechens (Redekur/talking cure) von und Konfrontierens mit Symptome auslösenden Situationen. Der Leser erhält durch den Arztbericht sowohl ein klares Verständnis des psychologischen Zustands der Patientin als auch eine Vorstellung von der Räumlichkeit, in der sich die Kranke zur Zeit der Behandlung befand.

Ursprünglich hatte die Studentin für Raum und Objektdesign, Nadine Isabell Kipka, das Konzept für ein Reenactment der Breuerschen Anna O. entwickelt. Dazu gehörte eine szenische Fassung der Fallgeschichte, die im Tonstudio eingespielt wurde. Im Rahmen von SzenoTest konnte nur eine Miniaturversion ausgestellt werden. Eine Original-Puppenstube des Sammlers Christian Gramatzki wurde in eine Holzkiste versenkt, in welcher man durch Gucklöcher zwei Szenen betrachten konnte. Die Tonspur des ursprünglichen Konzepts konnte man über einen Audioguide anhören.

Josef Breuer wurde 1842 in Wien geboren, wo er sich nach seinem Medizinstudium gleichermaßen als Forscher im Bereich der Physiologie wie als praktischer Arzt einen Namen machte. Breuer gilt durch seine 1895 gemeinsam mit dem jüngeren Sigmund Freud (1856–1939) veröffentlichten Studien über Hysterie als Mitbegründer der Psychoanalyse. Er starb 1925. Neben anderen Symptomen zeichnete sich die Hysterie der »Anna O.« dadurch aus, dass die Patientin zeitversetzte Epi-

soden durchlebte, die genau um ein Jahr zurückdatierten. Unter Hypnose gingen Therapeut und Patientin mit Hilfe der »Redekur« im Krebsgang den hysterischen Symptomen nach – zurück zum Punkt ihres ersten Auftretens. Breuer schildert das Ende der Therapie: »Auf diese Weise schloß auch die ganze Hysterie ab. Die Kranke hatte sich selbst den festen Vorsatz gebildet, am Jahrestag […] müsse sie mit allem fertig sein. Sie betrieb darum anfangs Juni die ›talking

cure‹ mit großer, aufregender Energie. Am letzten Tage reproduzierte sie mit der Nachhilfe, daß sie das Zimmer so arrangierte, wie das Krankenzimmer ihres Vaters gewesen war, die oben erzählte Angsthalluzination, welche die Wurzel der ganzen Erkrankung gewesen war und in der sie nur englisch hatte denken und beten können; sprach unmittelbar darauf Deutsch und war nun frei von all den unzähligen einzelnen Störungen, die sie früher dargeboten hatte.«

Jacob Levy Moreno

[1924] Linda Appelhans

Foto der Modellausstellung

Spielaufbau und -anleitung der Raum- und Objektdesign-Studentin Linda Appelhans. Grundlage ist eine Auseinandersetzung mit Jakob Levy Morenos Modell für die Stegreifbühne und seinen Ausführungen zum Bühnenraum im Psychodrama. Tonspur: Einspielungen von Texten Morenos.

Jacob Levy Moreno Linda Appelhans Jacob Levy Moreno, geboren 1889 in Bukarest, studierte Medizin und war als Arzt in Wien und später in den USA tätig. Daneben experimentierte er schon in Wien mit Formen des Stegreifspiels. Im April 1924 hielt Moreno einen Vortrag über Idee und Praxis des Stegreiftheaters im Wiener Konzerthaus und plante im Zusammenhang mit der »Internationalen Ausstellung für neue Theatertechnik« die Eröffnung eines Stegreiftheaters mit adäquater Bühnenund Raumarchitektur. Dieses Vorhaben wurde jedoch nicht ausgeführt, nur als Skizze und Modell umgesetzt. Inhaltlich und formal setzte Morenos Stegreiftheater neue Akzente. Was er sein »Theater der Spontaneität« nannte, sollte als Forum dienen, auf dem mit Hilfe von Improvisationsarbeit sowohl tagesaktuelle als auch persönliche Inhalte bearbeitet werden sollten. In seinem 1924 veröffentlichten Buch Das Stegreiftheater entwarf er die Programmatik, die sich aus diesen praktischen Erfahrungen speiste. Die Theaterwissenschaftlerin Brigitte Marschall beschreibt Ablauf und Aufbau des Moreno’schen Stegreifspiels wie folgt: »Die

Auswahl der Themen fand jeweils ad hoc statt. Im Mittelpunkt des Theaterkonzepts stehen die spontanen Aktionen und Reaktionen der Spieler und Mitspieler. […] Im improvisierten Theater in der Maysedergasse dienten wenige Versatzstücke zur Markierung und Beschreibung der imaginären Handlungsorte der Aktionen. Stühle wurden in einem Halbkreis aufgestellt, bisweilen skizzierte ein Schnellmaler die Situation, Stegreifzeichen, eine Art Partitur, bestehend aus Zeit-, Raum- und Bewegungsabläufen, sollten Rhythmus, Ablauf und kollektives Spiel ermöglichen.« In den 1930er Jahren übernahm Moreno in Beacon (NY) eine kleine psychiatrische Klinik, in welcher er Formen des Stegreifspiels für die Psychotherapie einsetzte und sein Konzept des Psychodramas ausarbeitete. Das Psychodrama, im welchem eine ganze Reihe von szenischen Techniken eingesetzt werden kann, wird als direkte Weiterentwicklung der frühen Experimente Morenos mit dem Stegreifspiel betrachtet. Moreno starb am 14. Mai 1974 in New York.

Morenos Stehgreifbühne blieb unvollendet. Gestalten Sie hier Ihre eigene Version: Spieltisch, »Hilfs-Iche« und Bauelemente stehen Ihnen frei zur Verfügung.

Spektakuläre Fälle Nico Pethes

Nico Pethes

107

Wann 

immer 

die 

modernen 

Wissenschaften 

vom 

Menschen 

angetreten 

sind, 

ihren 

Gegenstand 

zu 

definieren, 

haben 

sie 

sich 

in 

einer 

eigentümlichen 

Spannung 

wiedergefunden. 

Die 

Frage 

nach 

dem 

Menschen ist zwar, Kant zufolge, diejenige, auf die alle philosophischen Fragen hinauslaufen. Sie kann aber nicht beantwortet werden, denn ›der Mensch‹ ist weder ein verallgemeinerbares Objekt noch überhaupt eines: Er wird, wiederum seit Kant, als Individuum und Subjekt verstanden und entzieht sich somit dem Verfahren der empirischen Wissenschaften, allgemeines Wissen anhand objektiver Beobachtung zu gewinnen. Die 

Verfahren, 

mittels 

derer 

Menschen 

trotz 

dieses 

epistemologischen 

Paradoxes 

zum 

Gegenstand 

 der Wissenschaften gemacht wurden, sind bekannt: Man hat den Menschen als empirisch-transzendentale Doublette konzipiert, um seinen Status als Subjekt des Wissens auch dann aufrechtzuerhalten, wenn man sein Leben, Sprechen und Arbeiten empirisch erforscht.1 Man hat die Positionen von Subjekt und Objekt rassisch codiert und zwischen dem Menschen als ›zivilisiertem‹ Ethnologen und ›primitivem‹ Eingeborenen unterschieden, um empirische Anthropologie ohne anthropologische Kränkung betreiben zu können.2 Und man hat dieselbe Unterscheidung innerhalb 

Europas 

eingezogen 

und 

im 

System 

des 

Gefängnisses 

und 

der 

Psychiatrie 

›Delinquenten‹ 

und 

 ›Anormale‹ konstituiert, um auf diese Weise Wissen über die sozialen und psycho-physischen ›Normalitäten‹ zu generieren.3 Die Relation von Normalität und Anormalität ist allerdings nicht weniger paradox als diejenige zwischen 

Objekt 

und 

Subjekt 

oder 

Allgemeinem 

und 

Besonderem: 

Zwar 

beschränken 

sich 

Gefängnis 

und 

 Klinik auf die Beobachtung devianter Subjekte. Insofern diese Beobachtungen aber darauf zielen, Kriminalität bzw. Krankheit zu korrigieren bzw. zu heilen, bleiben auch Institutionen des Macht-Wissens stets auf die Normalität bezogen, die sie anhand der Ausgrenzung von Anormalen konstituieren. Daß auf diese Weise der vermeintliche Ausschluß anormaler Individuen umschlägt in einen Einschluß aller Individuen unter das Dispositiv von Beobachtung, Kontrolle und Disziplinierung, hat Michel Foucault anhand 

des 

Verfahrens 

der 

pädagogischen 

Prüfung 

nachgezeichnet, 

das 

sich 

in 

Gestalt 

der 

allgemeinen 

 Schulpflicht 

 tatsächlich 

 auf 

 die 

 gesamte 

 Gesellschaft 

 erstreckt 

 und 

 in 

 ihr 

 jedes 

 Individuum 

 als 

 aktenkundigen »Fall« konstituiert.4

1 2 3 4

Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1971. Sergio Moravia, Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung, München 1973. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1976. Ebd., S. 246.

Spektakuläre Fälle

108

Daß Wissen vom Menschen in der Moderne fallförmig organisiert wird, wie dies insbesondere auf den Feldern 

Recht, 

Medizin, 

Psychologie 

und 

Sozialwissenschaft 

geläufig 

ist, 

kann 

mithin 

nur 

zum 

Teil 

auf 

 jene empirische Wende der Anthropologie zurückgeführt werden, die zur Ablösung theologischer, metaphysischer oder idealistischer Ansätze geführt hat. Zwar begreift man den Menschen, wenn man ihn als ›Fall‹ betrachtet, tatsächlich nicht länger als exemplarischen Repräsentanten allgemeiner Konzepte 

bzw. 

Gattungen, 

sondern 

als 

konkrete 

– 

und 

das 

heißt 

immer 

auch 

kontingente 

– 

Singularität. Der Modus dieser Betrachtung aber, die verschiedenen Kategorien, anhand derer jeder Einzelfall vermessen, 

klassifiziert 

und 

registriert 

wird, 

ist 

stets 

derselbe, 

sodaß 

diejenige 

Individualität, 

die 

dem 

 18. Jahrhundert noch als Besonderheit erscheinen wollte, selbst standardisiertes Format ist.5 Und auf dieselbe Weise wird das Deviante oder Pathologische, das juristische oder medizinische Fälle als Normabweichung erscheinen ließ, selbst zur Normalität: Zum modernen Subjekt wird man Foucault zufolge nur anhand der Institutionen der Überwachung und Therapie und also nur als potentiell kriminelles und krankes. Wenn auf diese Weise Abweichung zur Normalität wird, stellt sich die Frage, welche Fälle überhaupt noch ›auffallen‹. Für die Kriminal- und Medizingeschichte der Frühen Neuzeit konnte man noch von der Komplementarität von monstrositas und curiositas ausgehen: Verbrecher waren Ungeheuer, Kranke entstellt und juristische species facti wie medizinische historiae morbi, in der Folge interessant, weil ungewöhnlich, spektakulär und beispiellos.6 Diese Ausrichtung der Wissenschaftskommunikation an Innovation ist mit der Wende zum 18. Jahrhundert, für die Foucault die Normalisierung des Sonderfalls 

 behauptet, 

 aber 

 keineswegs 

 beendet. 

 Es 

 bedarf 

 lediglich 

 neuer 

 Strategien 

 der 

 Generierung von Aufmerksamkeit, wenn die Darstellungsform des Falls allein nicht länger ausreicht, um das Besondere eines Ereignisses oder einer Person hervorzuheben. Diese Strategien sind medialer und rhetorischer Natur. Das gilt zum einen generell: Fälle sind grundsätzlich darauf angewiesen, als solche beobachtet und kommuniziert zu werden. Die Welt besteht nicht nur einfach aus allem, »was der Fall ist«, vielmehr bedarf es Verfahren der Selektion und Dokumentation, 

 um 

 aus 

 der 

 Menge 

 des 

 Gegebenen 

 dasjenige 

 auszuwählen 

 und 

 festzuhalten, 

 was 

 anschließend als empirische Wirklichkeit behandelt werden kann: Ein Mord wird erst zum Fall, wenn er entdeckt, angeklagt oder zumindest vermutet wird, eine Krankheit erst, wenn es zu einer Diagnose kommt. Das kann in Form handschriftlicher Protokolle oder Formulare ebenso erfolgen wie in nar5

6

Vgl. hierzu auch Niklas Luhmann, »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1989, S. 149–258. Vgl. Lorraine Daston, Wunder, Beweise und Tatsachen: Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt a. M. 2003.

Nico Pethes

109

rativ, wenn nicht gar literarischelaborierten Fallgeschichten oder als Anordnung von Fällen zu Serien in 

Kompendien 

bzw. 

als 

Transformation 

eines 

Falls 

aus 

einem 

Medium 

(z. 

B. 

der 

Gerichts- 

oder 

Krankenakte) in ein anderes (z. B. in eine Kriminalgeschichte oder ein medizinisches Lehrbuch).7 Von dieser allgemeinen Angewiesenheit von Fällen auf mediale Formen sind aber zum anderen diejenigen Strategien zu unterscheiden, die innerhalb des normalisierten Fallformats neuerliche Normabweichungen einführen. Das kann im 19. Jahrhundert nicht mehr durch die Hervorhebung eines Ereignisses als Fall oder Berichte über Verbrechen und Krankheit allein erfolgen. Wenn diese Sonderfälle 

selbst 

zum 

Normalfall 

geworden 

sind, 

müssen 

Ereignisse 

und 

Personen 

an 

der 

Grenze 

 zum Unwahrscheinlichen oder Unerklärlichen angesiedelt werden, um noch Aufmerksamkeit für den Einzelfall zu erregen. Wie im Folgenden an einigen ausgewählten Beispielen aus der englischsprachigen Literatur der 1830er und -40er Jahre gezeigt werden soll, sind daher auf dem Feld der Wissenschaften insbesondere diejenigen Phänomene von Interesse, die als übernatürliche, wunderbare oder phantastische einen Schauwert reinszenieren, den das Individuum als einzigartiger Sonderfall längst verloren hat. Dieser Zusammenhang läßt sich besonders anschaulich an denjenigen Fällen studieren, die die Grenze 

z wischen 

Leben 

und 

Tod 

überschreiten. 8 So entwickelt der Mesmerismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts 

veritable 

Versuchsanordnungen 

für 

das 

Gespräch 

mit 

Toten, 

etwa 

in 

Justinus 

Kerners 

 Bericht über die Seherin von Prevorst von 1829 oder in Johann Karl Wötzels Meiner Gattin wirkliche Erscheinung nach dem Tode von 1805, worin der Verfasser von dem Experiment berichtet, das er mit seiner im Sterben liegenden Frau vereinbart, die ihm dann nach ihrem Tode auch tatsächlich erscheint.9 

 Eine 

 solche 

 Gespensterwissenschaft 

 ist 

 mit 

 der 

 Etablierung 

 des 

 Positivismus 

 in 

 der 

 zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keineswegs erledigt: Der Spiritismus bemüht sich, die Kom7 



8

9

Vgl. 

Gianna 

Pomata, 

»Sharing 

Cases. 

The 

Observationes 

in 

Early 

Modern 

Medicine«, 

in: 

Early Science and Medicine 15 (2010), S. 193–236; Volker Hess/ Andrew Mendelsohn, »Case and series: Medical knowledge and paper technologies, 1600–1900«, in: History of Science 48 (2010), S. 287–314; Sophie Ledebuhr, »Schreiben und Beschreiben. Zur epistemischen Funktion psychiatrischer Krankenakten, ihrer Archivierung und deren Übersetzung in Fallgeschichten«, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 34 (2011), Heft 2, S: 102–124; Yvonne Wübben, Die kranke Stimme: Erzählinstanz und Figurenrede im Psychiatrie-Lehrbuch des 19. Jahrhunderts, in: Rudolf Behrens/Carsten Zelle (Hg.), Der ärztliche Fallbericht. Epistemische Grundlagen und textuelle Strukturen dargestellter Beobachtung, Wiesbaden 2012, S. 151–170. Vgl. zum Folgenden auch meine Ausführungen in: »Totengespräche. Zur Konstitution von Fällen zwischen Individuum 

und 

Gattung, 

Ereignis 

und 

Medium, 

Spektakel 

und 

Norm«, 

in: 

Inka 

Mülder 

Bach/Michael 

Ott 

(Hg.), 

Was 

 der Fall ist (im Druck). Vgl. Katrin Schumacher,»Der ›wunderbare Sinn‹ zwischen Experiment und Text. Anmerkungen zur Organisation eines Feldes der Un-/Sichtbarkeiten um 1800», in: Aurora 64 (2004), S. 1–20.

Spektakuläre Fälle

110

munikation mit dem Jenseits auf wissenschaftliche Methoden zu gründen und, wie eine Schrift von Ludwig Staudenmaier aus dem Jahr 1912 betitelt ist, Die Magie als experimentelle Naturwissenschaft zu etablieren.10 Inmitten dieser diskursiven Konjunktur von Totengesprächen erscheint 1845 aber auch eine Fallgeschichte mit dem Titel The Facts in the Case of M. Valdemar im New Yorker Broadway Journal. Sie berichtet von einem mesmeristischen Experiment zur Wiederbelebung eines Toten: Der sterbende Valdemar wird hypnotisiert, um dann nach seinem Ableben unter erneutem Einsatz magnetischer Verfahren zum Sprechen gebracht zu werden. Den Erfolg dieses Versuchs dokumentiert der Text mit dem paradoxen Sprechakt, den der magnetisierte Leichnam hervorbringt: »I have been sleeping – but now – now – I am dead.«11 Diese Paradoxie hat zeitgenössische Leser keineswegs daran gehindert, den Versuchsbericht für bare Münze zu nehmen – oder eben als dasjenige, was der Titel explizit verspricht: als Faktizität eines Falls. Der Verfasser, Edgar Allan Poe, erhielt mehrere Zuschriften ›begeisterter‹ Leser, die das Experiment wiederholen wollten, und der Fall Valdemar wird im Jahr darauf als Beleg in Thomas South’ Kompendium Early Magnetism in Its Higher Relations to Humanity zitiert. Diese Rezeption ist natürlich weniger ein Irrtum der Leser als deren durchaus konsequenter Anschluß an Poes Schreibstrategie. Denn es geht in The Facts in the Case of M. Valdemar gerade um den Nachweis, daß der korrekte Einsatz wissenschaftlicher Darstellungsformen etwaige Unwahrscheinlichkeiten des beschriebenen Sachverhalts selbst zu überlagern imstande sei. Dieser Nachweis gelingt Poe durch das konsequente Durchhalten einer nüchternen Beschreibungssprache sowie der in präziser Fachterminologie erfolgenden Beschreibung von Krankheits- und Versuchsverlauf. Das heißt aber auch, daß Poes Text gerade als literarischer die Funktionsweise einer Fallgeschichte besonders deutlich offenlegt, insofern sich ein hoax (so Poes Eingeständnis gegenüber einem seiner faszinierten Leser)12 viel strenger an bestehende Lesererwartungen halten muß, um erfolgreich zu sein, als jeder ›echte‹ Bericht. Die Ironie des Valdemar-Falls besteht also nicht nur darin, daß der Sprechakt »Ich bin tot« per se unmöglich 

ist, 

sondern 

auch 

darin, 

daß 

es 

möglich 

ist, 

ein 

Sujet, 

das 

in 

den 

Bereich 

phantastischer 

Ge10 11

12

Vgl. Torsten Hahn/Nicolas Pethes/Jutta Person (Hg.), Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koevolution von Experiment und Paranoia 1850–1910, Frankfurt a. M., New York 2002. Edgar Allan Poe, »The Facts in the Case of M. Valdemar« [1845], in: ders., Poetry and Tales, hg. von Patrick F. Quinn, New York 1984, S. 833–842, hier S. 833. Vgl. Roland Barthes, Analyse textuelle d›un conte d›Edgar Poe, Paris 1973, sowie zum literatur- und wissenschaftshistorischen Kontext Martin Willis/Catherine Wynne (Hg.), Victorian Literary Mesmerism, Amsterdam 2006. Vgl. den Nachweis bei John W. Robertson, Edgar A. Poe: A Study, San Francisco 1921, S. 315 f., sowie Lynda Walsh, Sins Against Science. The Scientific Media Hoaxes of Poe, Twain, and Others, Albany 2006, S. 97–102.

Nico Pethes

111

spenstergeschichten gehört, als wissenschaftlichen Beitrag zu kommunizieren. Poe leitet zu diesem Zweck gerade aus dem Verdacht des Unwahrscheinlichen, wenn nicht Fiktionalen, den eigentlichen wissenschaftlichen Wert seiner Beobachtungen ab – einen Wert, der umso höher ist, je mehr sich das Berichtete als ein bislang ungesehener und unerhörter Sonderfall erweist: »I now feel that I have reached a point of this narrative at which every reader will be startled into positive disbelief. It is my business, however, simply to proceed.«13 Poes hoax hatte demnach Erfolg, nicht obwohl, sondern weil er einen gänzlich unmöglichen Fall schilderte – und das mit dem Anspruch, die bisherige »exaggerated accounts« zu korrigieren, die zu »many unpleasant misinterpretations, and very naturally, a great deal of disbelief« in der öffentlichen Meinung geführt haben.14 Damit legt Poes Valdemar aber offen, daß ein Fall zum Fall wird, gerade wenn er nicht realistisch ist, aber dennoch erzählt, publiziert und rezipiert wird – so daß das »to proceed« des Erzählers und die wissenschaftliche Anschlußkommunikation der Leser die Faktizität des Falls komplementär konstituieren. Auf diese Weise vermag Poe durch die Wahl einer fallförmigen Darstellungsweise zwischen spektakulärem Sonderfall und wissenschaftlichem Normdiskurs, aber auch zwischen Literatur und Wissenschaft zu vermitteln. ›Fall‹ wäre demnach, was zugleich unerwartet und erwartbar ist, neu und vertraut, normabweichend und normalisierbar: Fälle beziehen sich auf Normabweichungen, weil nur diese berichtenswert sind, sie müssen diese Abweichungen aber zugleich darstellungstechnisch auf bisherige Normen beziehen, um kommunikativ anschlußfähig zu bleiben. Das umso mehr, als Poes Text auch und gerade in seiner extremen Engführung wissenschaftlicher und literarischer Perspektiven kein Einzelfall ist. Und womöglich ist er auch weniger eine Satire auf die Wissenschaftsgläubigkeit seiner Zeit als auf die im 19. Jahrhundert bereits etablierte literarische Konvention, Novellen als Krankengeschichten zu schreiben. Das legt nicht zuletzt ein Artikel nahe, den Poe bereits 1838 im Blackwood Magazine veröffentlicht hat, und zwar unter dem selbstreferentiellen Titel How to Write a Blackwood Article. Poe thematisiert hier die wachsende Beliebtheit spektakulärer Stoffe im populären Massenmedium einer Publikumszeitschrift, die er »sensation paper«15 nennt. Dieser Begriff ist durchaus doppelsinnig: Poe zufolge kommen im Blackwood Magazine nur solche Sensationsberichte zur Veröffentlichung, die ihren Sensationswert aus der Darstellung eigentlich 

 undarstellbarer 

 Empfindungen, 

 also: 

 sensations, 

 beziehen. 

 Zu 

 solchen 

 undarstellbaren 

 Empfindungen gehört vornehmlich diejenige des Sterbens, oder wie Poe formuliert: »Should you ever be 13 14 15

Poe, »The Facts«, S. 839. Ebd., S. 833. Edgar Allan Poe, »How to Write a Blackwood Article« [1838], in: Edgar Allan Poe, Poetry and Tales, hg. von Patrick Quinn, New York 1984, S. 278–287, hier S. 286.

112

Spektakuläre Fälle

drowned or hung, be sure and make a note of your sensations – they will be worth to you ten guineas a sheet.«16 Als Beispiel für den Publikumserfolg derartiger »Unwahrscheinlicher Wahrhaftigkeiten« (wie Heinrich von Kleist die fragliche Engführung von Wissenschaftsdiskurs und sensation paper in seinen Berliner Abendblättern bezeichnet hatte) nennt Poe die Serie von Krankengeschichten, die Samuel Warren zwischen 1832 und 1837 im Blackwood Magazine veröffentlicht und noch im gleichen Jahr unter dem Titel Passages from the Diary of a Late Physician als Roman veröffentlicht hatte. Auch Warren 

 gestaltet 

 seine 

 durchweg 

 fiktiven 

 Erzählungen 

 als 

 realistische 

 Falldokumentationen. 

 Und 

 dennoch bzw. gerade deswegen sprechen auch hier wieder die Toten: Zum einen, insofern der Arzt selbst »late« ist, also gemäß dem Romantitel bereits verstorben, so daß man die Textspur eines Toten liest, zum anderen, weil auch die Passages 

 Gespenstergeschichten 

 als 

 klinische 

 Fälle 

 kolportieren. 

 Auf 

 diese 

 Weise 

 offenbart 

 Warrens 

 Ärztetagebuch, 

 wie 

 bruchlos 

 das 

 Genre 

 der 

 Falldarstellung den empirischen Anspruch der modernen Medizin, den Bedarf des Zeitschriftenmarkts nach Sensationsmeldungen 

und 

die 

Szenarien 

von 

Geistern 

und 

Untoten 

zu 

verbinden, 

imstande 

war. 

Das 

 Genre 

des 

gothic novel und die Schreibweise eines »clinical realism« schließen einander demnach nicht etwa aus, sondern gehen die produktive Konstellation eines »ghost in the clinic« ein, wie Meegan Kennedy sie genannt hat.17 In 

dieser 

Konstellation 

können 

sich 

literarische 

Erzählungen 

ebenso 

sehr 

beim 

Gestus 

der 

realistischen Dokumentation medizinischer Krankengeschichten bedienen, wie diese die Aufmerksamkeit für ihre Fälle durch Anleihen bei schauerromantischen Motiven steigern. Auf welche Weise beide am Ende zusammenfallen, zeigt beispielsweise das Kapitel The Thunder Struck, das von dem Versuch berichtet, die nach einem Blitzeinschlag kataleptische Agnes P. wiederzubeleben. Die junge Frau ist zwar 

nicht 

 tot, 

 erscheint 

 dem 

 berichtenden 

Arzt 

aber 

deutlich 

gemäß 

der 

Topik 

einer 

Gespenstererscheinung: 

»Within 

less 

than 

a 

yard 

of 

me 

stood 

the 

most 

fearful 

figure 

my 

eyes 

have 

ever 

beheld. 

It 

 was Agnes! She was in the attitude of stepping to the door, with both arms extended. Her hair was partially dishevelled. Her face seemed whiter than the white dress she wore. Her lips were of a livid hue. 

Her 

eyes, 

full 

of 

awful 

expression, 

were 

fixed 

with 

a 

petrifying 

stare 

at 

me.«18 16 Ebd., S. 281. 17 

 Meegan 

Kennedy, 

»The 

Ghost 

in 

the 

Clinic: 

Gothic 

Medicine 

and 

Curious 

Fiction 

in 

Samuel 

Warren’s 

Diary of a Late Physician«, in: Victorian Literature and Culture 32 (2004), S. 327–351. 18 Samuel Warren, Passages from the Diary of a Late Physician, London 1837, S. 296. Nachweise aus diesem Text erfolgen fortan in Klammern nach dem Zitat. Die Erzählung The Thunder Struck erschien das erste Mal gemeinsam mit The Boxer im September 1832 anonym in Blackwood’s Magazine.

Nico Pethes

113

Auch hier betont der erzählende Arzt simultan zur Unerhörtheit der spektakulären Erscheinung umgehend die wissenschaftliche Normalität des Falls: »I confess that, besides the other agitating circumstances of the moment, this extraordinary, this unprecedented case, too much distracted my self-possession to enable me promptly to deal with it. I had heard and read of, but never before seen, such a case. No time, however, was to be lost.« (298) Schließlich folgt diesem heroischen Aufruf zum praktischen Handeln (im Sinne eines »business […] to simply proceed«) die Beschreibung des konkreten therapeutischen Experiments, des Versuchs nämlich, die Lähmungserscheinungen durch galvanische Elektrizität zu beheben, deren »generelle« und das heißt: ›normale‹ Erscheinungen enggeführt werden mit den schauervollen Begleitumständen der Praxis: »We returned her gently to her recumbent posture; and determined at once to try the effect of galvanism upon her. My machine was soon brought into the room; and when we had duly arranged matters, we directed the nurse to quit the chamber for a short time, as the effect of galvanism is generally found too startling to be witnessed by a female spectator. I wish I had not myself seen it in the case of Miss P–! Her colour went and came – her eyelids and mouth started open – and she stared wildly about her, with the aspect of one starting out of bed in a fright«. (305) Auch 

 diese 

 Erscheinung 

 rekurriert 

 auf 

 Gespenster 

 bzw. 

 wiederbelebte 

 Tote, 

 insofern 

 der 

 Erzähler 

 sie 

 auf 

 die 

 erwähnten 

 spektakulären 

 Galvanisierungsversuche 

 bezieht, 

 nachdem 

 er 

 zunächst 

 den 

 ›normalen‹ (»usual«) Verlauf dieses Verfahrens betont: »When the galvanic shock was conveyed to her limbs, it produced the usual effects – dreadful to behold in all cases – but agonizing to me, in the case of Miss P—. The last subject on which I had seen the effects of galvanism, previous to the present instance, was the body of an executed malefactor«. (305) Dann aber wird diese Erinnerung in einer Fußnote auf einen Vergleichsfall bezogen: »A word about that 

case, 

by 

the 

way 

in 

passing. 

The 

spectacle 

was 

truly 

horrific. 

[…] 

The 

first 

time 

that 

the 

galvanic 

 shock was conveyed to him will never, I dare say, be forgotten by any one present. We all shrunk from the table in consternation, with the momentary belief that we had positively brought the man back to life; for he suddenly sprung up into a sitting posture – his arms waved wildly – the colour rushed into his cheeks – his lips were drawn apart, so as to show all his teeth – and his eyes glared at us with apparent fury«. (305) Der wissenschaftliche Versuch wird zur Wiederkehr der Toten und der medizinische Fallbericht zum Schauermärchen, an dessen Ende Agnes stirbt und der Erzähler zum nüchternen Normalstil zurückkehrt: »I have no mystery to solve, no denouement to make. I tell the facts as they occured; and hope they may not be told in vain!« (314)

114

Spektakuläre Fälle

Worin besteht demnach die Relevanz von Totengesprächen für die Frage nach dem Fall? Sie verdeutlichen anhand eines Extrems die Normalität von Falldarstellungen: zwischen Norm und Abweichung zu vermitteln. Fall ist, was einerseits erzählenswert, 

 weil 

 von 

 allem 

 bisher 

 Gewußten 

 abweichend 

 ist, andererseits aber nur erzählbar, weil es den wissenschaftlichen Darstellungskonventionen entspricht. Und so, wie derart Wissen über die Normalität aus dem Erzählen von Normabweichungen erschlossen wird, kann umgekehrt die Annahmewahrscheinlichkeit von Fiktionen durch die Simulation fallförmiger Faktizität erhöht werden. Zugleich macht der Fall eines Totengesprächs im Modus des hoax bzw. der literarischen Fiktion deutlich, daß der Fall niemals der Vorfall – also das reale Ereignis selbst – ist, sondern dieses erst durch narrative Formung sowie mediale Rahmung, Verbreitung und Rezeption 

 als 

 Fall 

 konstituiert. 

 Geistererscheinungen 

 sind 

 mithin 

 lediglich 

 eine 

 extreme 

 Form 

 derjenigen wissenschaftlichen Praxis, die ihre Wahrnehmung des Normativen durch das Nachdenken über das Außerordentliche schärft. Aus 

 diesen 

 Gründen 

 könnte 

 es 

 lohnend 

 sein, 

 die 

 in 

 der 

 Fallgeschichtsforschung 

 dominierende 

 erkenntnistheoretische Relation zwischen Allgemeinem und Besonderem zu verschieben auf den Bezug zwischen Spektakulärem und Normalem – eine Verschiebung, die allerdings nicht nur paradoxen Sprechakten 

Tür 

und 

Tor 

öffnet, 

sondern 

auch 

Grenzüberschreitungen 

zwischen 

Leben 

und 

Tod 

oder 

 Fiktion 

und 

Fakten. 

Die 

Gespenster 

bei 

Poe 

und 

Warren 

sind 

damit 

keinesfalls 

Anschauungsbeispiele 

 für eine allgemeine Theorie des Falls. Sie zeigen aber und stattdessen, auf welche Weise Fälle sich im Spannungsfeld zwischen Literatur und Wissen konstituieren: als Bezug des Wissens auf das Unerhörte, als narrativer Entwurf eines empirischen Berichts als hoax und als Entwachsen ganzer Romane aus den Fallsammlungen der Sensationspresse des 19. Jahrhunderts.

»Bloomsday« im Ausstellungsraum

An Arena in Which to Reenact 1

Sven Lütticken

Sven Lütticken

117

»History has emerged as a drama seen from within by a spectator who, willy nilly, is also an actor 

and 

in 

some 

indefinable 

sense 

an 

author.«1 Harold Rosenberg, 19702 Als 

Guy 

Debord 

und 

die 

Situationistische 

Internationale 

in 

den 

1960er 

Jahren 

den 

Kapitalismus 

in 

 seinem 

fortgeschrittenen 

Stadium 

als 

Gesellschaft 

des 

Spektakels 

attackierten, 

fassten 

sie 

dieses 

 Spektakel auf als ein Theater von Waren-Bildern, die passiv konsumiert werden von Menschen, die verkümmerte Leben führen. Was in dieser Analyse nicht ausreichend herausgearbeitet wurde, war der an die Menschen gerichtete Imperativ des Spektakulären, sich selbst darzustellen, sich selbst als Waren vorzuführen. In der postfordistischen Ökonomie, in welcher die Dienstleistungsbranche wichtiger geworden ist, ist es unerlässlich, sich nicht so sehr als einen austauschbareren Anbieter von Arbeitskraft – jener Handelsware, welche die meisten Leute verkaufen –, sondern sich selbst vielmehr als einzigartigen Selbstunternehmer vorzuführen. In einer Kultur des Spektakels ist jeder ein 

Schauspieler 

– 

dazu 

verurteilt, 

sich 

ständig 

selbst 

auf 

attraktive 

Weise 

zu 

re-präsentieren. 

Gewiss, 

 wie 

Erving 

Goffman 

in 

seiner 

Studie 

von 

1959 

über 

die 

»Darstellung« 

oder 

die 

Performance 

des 

Selbst 

 im 

Alltagsleben 

gezeigt 

hat, 

ist 

der 

Gesellschaft 

prinzipiell 

etwas 

Theatralisches 

zu 

eigen; 

Menschen 

 präsentieren sich selbst in einer Weise, die ihnen als vorteilhaft und passend für sich erscheint. Diese Selbstdarstellung repräsentiert gleichzeitig das, was sie sein wollen oder in bestimmten Situationen sein müssen – vor einem Publikum, dessen Mitglieder sich an der gleichen Übung beteiligen.3 Dennoch 

ist 

Goffmans 

Buch 

typisch 

für 

seine 

Zeit, 

die 

späten 

1950er 

Jahre, 

als 

die 

Unternehmenskultur 

 bereits 

 anfing, 

 sich 

 mit 

 der 

 Performativität 

 von 

 Angestellten 

 zu 

 beschäftigen; 

 das 

 Buch 

 selbst 

 regte 

 diese Entwicklung an und war in diesem Sinne selbst eher performativ als deskriptiv. Das jeder sozialen 

Situation 

inhärente 

performative 

Moment 

verschärfte 

sich, 

als 

Sicherheiten 

anfingen 

zu 

erodieren; 

kurze 

Zeit 

später 

wurde 

die 

Betonung 

des 

Kreativen 

der 

Gegenkultur 

und 

der 

Protestbewegungen 

 der 1960er vom Kapitalismus absorbiert, als dieser Angestellte als kreative, verantwortliche Leute beanspruchte, die sich permanent selbst optimieren müssen.4 1

2 3 



4

Anmerkung der Übersetzerin: Die ursprüngliche Fassung dieses Textes ist 2005 im Kontext der Ausstellung Life once more, die vom 27. Januar bis zum 27. März im Witte de With Center for Contemporary Art in Rotterdam stattgefunden hat, erschienen: Sven Lütticken, „An Arena in Which to Reenact“, in: Live, once more. Forms of Reenactment in Contemporary Art, hg. von Sven Lütticken, Rotterdam 2005, S. 17-60. Harold Rosenberg, »Foreword: After Ten Years«, in: Harold Rosenberg, The Tradition of the New, London 1970 [11959], S. 21. Erving 

Goffman, 

The Presentation of Self in Everyday-Life, 

New 

York 

1959. 

Obgleich 

Goffman 

den 

Begriff 

»presentation of self« verwendet, spricht er auch von »misrepresentation« (S. 58), auf diese Weise nahelegend, dass die Selbstdarstellung »some kind of image« (S. 252), ein Akt der Repräsentation sei. Siehe hierzu Luc Boltanski / Eve Chiapello, Le nouvel esprit du capitalisme, Paris 2000.

An Arena in Which to Reenact

118

Mittlerweile haben Reality-TV-Shows und ein immenser Vorrat von banalen Quasi-Berühmtheiten Warhols bekannte Prophezeiung von den 15 Minuten des Ruhmes wahr gemacht. Mediale Bilder – einschließlich 

solcher 

von 

Künstlern, 

deren 

Selbstdarstellung 

heute 

häufig 

wichtiger 

ist 

als 

die 

Werke, 

 die 

sie 

herstellen 

– 

sind 

freilich 

gewissermaßen 

nur 

die 

Superstrukturen 

einer 

Gesellschaft 

von 

neoliberalen, performativ erzeugten Subjekten. Als Akteure in einem Spektakel haben wir als authentische 

Wesen 

mit 

unverwechselbaren 

Gefühlen 

und 

Handlungen 

zu 

erscheinen, 

aber 

Promi-Shows 

 und Doku-Soaps zeigen nur zu deutlich die unoriginelle, repetitive Natur der performativen Akte. Die Schauspieler – wir, potentiell jeder – sind Anhäufungen, Montagen von Wiederholungen. Während es jedoch eine Sache ist, festzustellen, dass alle Subjekte durch Etwas hervorgebracht werden, was ihnen vorausgeht – durch Sprache, durch Anrufung –, ist es eine andere, zur Kenntnis zu nehmen, dass 

diese 

Zitathaftigkeit 

in 

engen 

Grenzen, 

ohne 

große 

Variation 

vorgehen 

muss.5 Grundsätzlich 

müssen 

alle 

Handlungen 

Wiederholungen 

der 

ultimativen 

Handlung 

sein: 

der 

Selbstperformance zwecks besserer Sichtbarkeit, um so seinen Tauschwert gegenüber anderen Selbstdarstellern zu erhöhen – gleich, ob die Zuschauer ein Fernsehpublikum sind oder eines von potentiellen Arbeitgebern, mit denen es vernetzt zu sein gilt. Doch wenn im neoliberalen Theater jeder ständig sich selbst nachspielt und indirekt jeden anderen auch, wird die Wiederaufführung zu einer wesentlichen performativen Strategie – einer, die auf unterschiedliche Art und Weise von Künstlern und anderen Performern erforscht wird. Wenn man immer Rollen nachspielt, die zum Teil von anderen geschrieben wurden, könnte man das Reenactment ebenso gegen sich selbst einsetzen, indem man gezielt historische Ereignisse wieder re-aktualisiert. Aber kann solch eine Wiederholung 

 erfolgreich 

 die 

 ewige 

 Wiederkunft 

 des 

 Gleichen 

 durchbrechen, 

 anstatt 

 seine 

 Verstetigung sicherzustellen? Historische Wiederaufführungen mögen oft lediglich eine eskapistische Ablenkung vom Alltagsleben sein, aber vielleicht beinhalten sie auch eine anachronistische Infragestellung 

 der 

 Gegenwart. 

 Beide 

 Alternativen 

 können 

 selbst 

 als 

 ein 

 Reenactment 

 älterer 

 Formen 

 von Reenactments angesehen werden. Von der Malerei zur Performance In 

 einer 

 Gesellschaft, 

 in 

 der 

 Performanz 

 zu 

 einer 

 Ware 

 par 

 excellence 

 wird, 

 kann 

 der 

 Akt 

 des 

 Malens 

 eine 

eigenständige 

Funktion 

annehmen, 

die 

das 

fertige 

Gemälde 

auf 

den 

Status 

eines 

Abfallprodukts 

reduziert, wie Harold Rosenberg es bekanntlich formuliert hat: »At a certain moment the canvas began to appear to one American painter after another as an arena in which to act – rather than a space in which 5

Zu Anrufung und Zitathaftigkeit siehe Judith Butler, Excitable Speech: A Politics of the Performative, New York/ London 1997, S. 43–52.

Sven Lütticken

119

to reproduce, redesign, analyze or ›express‹ an object, actual or imagined. What was to go on the canvas was not a picture but an event.«6 Rosenbergs The American Action Painters ist ein sonderbarer Text. Es ist nicht wirklich klar, über wen Rosenberg spricht; er nennt keine Namen. Meistens wird Action-Painting mit Jackson Pollock assoziiert, doch Rosenberg war zu dieser Zeit ein Verteidiger von De Kooning. Es war sein 

Rivale 

Clement 

Greenberg, 

der 

Pollock 

berühmt 

machte, 

doch 

dieser 

pries 

ihn 

als 

einen 

ernsthaften 

 modernen Maler an, der einige formale Probleme, die vom Kubismus ungelöst zurückgelassen worden waren, 

durchgearbeitet 

hat 

– 

nicht 

als 

einen 

›Action-Painter‹. 

Greenberg 

war 

entsetzt 

über 

Rosenbergs 

 dadaistisch-surrealistische bis existentialistische Rhetorik, die geeignet war, die formalen und farblichen Qualitäten 

 zu 

 vernachlässigen, 

 die 

 Greenberg 

 so 

 teuer 

 waren: 

 »An 

 action 

 is 

 not 

 a 

 matter 

 of 

 taste. 

 You 

 don’t 

let 

taste 

decide 

the 

firing 

of 

a 

pistol 

or 

the 

building 

of 

a 

maze.«7 Mary McCarthy hat Rosenberg mit der Bemerkung geantwortet: »[You] cannot hang an event on the wall, only a picture.«8 

Genau 

dieser 

fehlende 

Objektcharakter 

war 

es, 

was 

jüngere 

Künstler 

wie 

Allan 

 Kaprow an Rosenbergs Kunst-als-Aktion- oder Kunst-als-Ereignis-Theorie faszinierte. Events, Happenings 

und 

Performances 

schienen 

jenseits 

des 

Prozesses 

der 

Kommerzialisierung 

zu 

sein; 

flüchtig, 

 wie sie waren, konnten sie nicht als wertvolle Artefakte verkauft werden. Für Künstler wie Kaprow vermischten sich Sätze aus Rosenbergs Aufsatz – auch wenn diese nicht explizit auf Pollock zielten – mit 

Hans 

Namuths 

Fotografien 

und 

seinem 

Film 

(1950) 

über 

den 

seine 

Bilder 

malenden 

Pollock, 

um 

 daraus ein Bild des prototypischen Action-Painters zu entwerfen.9 Die ›Aktionen‹, die in diesen Bildern sichtbar wurden, erscheinen letztendlich genauso lebendig und faszinierend wie Pollocks Bilder und 

dennoch 

sind 

sie 

lediglich 

zugänglich 

als 

Bilder. 

Während 

der 

Herstellung 

von 

Namuths 

Film 

fing 

 Pollock 

wohl 

an, 

sich 

selbst 

als 

falschen 

Fuffziger 

zu 

empfinden, 

der 

vor 

der 

Kamera 

spielte 

– 

schauspielerte. Zahlreiche Publikationen und Ed Harris’ Film Pollock heben hervor, dass es diese Erfahrung war, die Pollock veranlasste, wieder mit dem Trinken anzufangen. Es ist nahegelegt worden, dass Rosenberg absichtlich etwas zweideutig in seiner Art und Weise, das Verb »to act« zu verwenden, gewesen sei, indem er etwa das Method-Acting als Modell nahm, eine Form des Spiels, die zugleich gefühlsmäßig real erscheint. Pollock hat jedoch offenbar eine verhängnisvoll rigorose Unterscheidung 6 7 



8 9

Harold Rosenberg, »The American Action Painters (1952)«, in: Harold Rosenberg, The Tradition of the New, London 1970 [11959], S. 36. Rosenberg, 

»American 

Action 

Painters«, 

S. 

47. 

Greenberg 

attackierte 

Rosenbergs 

Essay 

(nachträglich) 

in: 

»How 

 Art 

Writing 

Earns 

Its 

Bad 

Name 

(1962)«, 

in: 

Clement 

Greenberg, 

The Collected Essays and Criticism, Volume 4: Modernism with a Vengeance, 1957–1969, Chicago/London 1993, S. 135–144. Zitiert in: Harold Rosenberg, »Preface (1960)«, in: Harold Rosenberg, The Tradition of the New, London 1970 [11959], S. 9. Allan Kaprow, »The Legacy of Jackson Pollock, (1958)«, in: Allan Kaprow, Essays on the Blurring of Art and Life, hg. von Jeff Kelley, Berkeley/Los Angeles/London 1993, S. 1–9.

120

An Arena in Which to Reenact

zwischen authentischen, nicht-theatralen Handlungen und unaufrichtiger Schauspielerei (oder FilmSchauspielerei) gezogen.10 Spätere Happenings und Events wurden völlig von der spektakulären Ökonomie eingeholt; hatten sie anfänglich als obskure Avantgarde-Ereignisse begonnen, wurden sie schnell vom Spektakel absorbiert, das sich selbst in eine Vorführung von Happenings verwandelte. Der Prozess der Kommerzialisierung von performativen Arbeiten in den 1960er und verstärkt in den 1970er Jahren offenbarte sich in solchen Phänomenen 

wie 

dem 

Verkauf 

von 

limitierten 

Ausgaben 

von 

Fotografien 

und 

Videos, 

von 

Objekten 

oder 

ganzen 

 »Sets«. Und während in vielen Performances das Objekt eine wichtige und oft marktfähige Rolle spielte, wurde 

 andererseits 

 die 

 Objektkunst 

 performativ 

 – 

 Greenbergs 

 Nachfolger 

 Michael 

 Fried 

 verurteilte 

 den 

 Minimalismus für seine »Theatralität«, da minimalistische Objekte im wahrsten Sinne des Wortes denselben Raum mit den Zuschauern teilen.11 Diese wortwörtliche, alltägliche ›Präsenz‹, die für Fried den Minimalismus in Verruf brachte, wurde von Verfechtern der Performancekunst als grundlegende Qualität und Daseinsberechtigung 

verteidigt. 

Gegenüber 

medialen 

Repräsentationen, 

die 

uns 

auf 

Passivität 

reduzieren, 

 schenkt uns Performancekunst eine Live-Präsenz, die dem Zugriff der permanenten Repräsentation ausweicht. 

Dieser 

Aspekt 

ist 

häufig 

für 

die 

Behauptung 

der 

progressiven 

und 

kritischen 

Eigenschaften 

der 

 Performancekunst stark gemacht worden, ungeachtet der Tatsache, dass Performance in einem weiteren Sinne voll und ganz in das Medienspektakel eingebunden worden ist. Peggy Phelan insistiert darauf, dass »Performance’s only life is in the present. Performance cannot be saved, recorded, documented, or otherwise participate in the representations of representations: once it does so, it becomes live something other than performance. To the degree that performance attempts to enter the economy of reproduction it betrays and lessens the promise of its own ontology.«12 Performancekunst würde dementsprechend als ein Vorstoß erscheinen, Performanz gegen die Ziele einer dominanten performativen Kultur zu nutzen, welche lediglich zu bereitwillig »lessen the promise of performance’s ontology« würde. Der Ausdruck »representations of representations« impliziert, dass eine Performance in einem starken Sinn Präsenz erzeugen könnte, sich aber nichtsdestotrotz in einem Kontext abspielt, welcher sie von dem ›normalen Leben‹ unterscheidet und sicherstellt, dass sie als Repräsentation wahrgenommen wird. Doch die Sache, welche die Performancekunst seit den späten 1950er Jahren ausgezeichnet hat, ist, wie Erika 10 

 Graham 

Birtwistle, 

»Actie, 

oordeel 

en 

authenticiteit: 

Hoofdstukken 

uit 

de 

geschiedenes 

van 

het 

schildergebaar«, in: Jong Holland 19, Nummer 3 (2003), S. 22–29. Für eine detaillierte Analyse von Namuths PollockFotografien und -Film siehe Pepe Karmel, »Pollock at Work: The Films and Photographs of Hans Namuth«, in: Jackson Pollock, Ausst.-Kat. Museum of Modern Art, New York 1998, S. 87–137. 11 Michael Fried, »Art and Objecthood (1967)«, in: Michael Fried, Art and Objecthood: Essays and Reviews, Chicago/London 1998, S. 148–172. 12 Peggy Phelan, Unmarked. The Politics of Performance, London/New York 1993, S. 146.

Sven Lütticken

121

Fischer-Lichte 

bemerkt 

hat, 

dass 

dieser 

repräsentationale 

Kontext 

häufig 

herausgefordert 

wird: 

Wenn 

Marina Abramovic sich selbst im Rahmen einer Performance verstümmelt, sind ihre Handlungen nichtsdestotrotz schockierend real, auch wenn wir wahrnehmen, dass dies »Kunst ist«.13 Dies hat ebenso Folgen für das Verhalten der Zuschauer. Das Publikum kann einschreiten, um zu helfen, wie wenn Zuschauer versuchen, Abramovic zu schützen oder Vorgänge zu unterbrechen, wie im Fall des berühmten Fluxusabends in Aachen (1964), als Mitglieder des Publikums sich provoziert fühlten und mit Joseph Beuys kämpften, woraus 

das 

berühmte 

Foto 

vom 

blutenden, 

ein 

Kruzifix 

haltenden 

Beuys 

entstand. 

Zweifellos 

ist 

dies 

›etwas 

 anderes‹ 

als 

das 

reale, 

flüchtige, 

einmalige 

Ereignis. 

Doch 

hat 

Phelan 

deshalb 

recht, 

wenn 

sie 

eine 

derart 

 rigorose 

Grenze 

um 

die 

›reine‹ 

Performance 

herum 

zieht? 

Mit 

dem 

verdrehten 

Essentialismus 

von 

Roland 

 Barthes‘ Behauptung – in The Third Meaning 

–, 

die 

Essenz 

des 

Kinos 

sei 

in 

Standbildern 

zu 

finden, 

könnte 

 man ebenso behaupten, dass die Essenz einer Performance oder eines Ereignisses in den Reproduktionen liege, die ihnen ein Nachleben verschaffen – Fotos, Filme und Videos, Beschreibungen.14 Ist nicht an dieser Stelle festzustellen, dass das Flüchtige der Kunst wirklich im Nachleben zum Leben erwacht, welches immer neuen Interpretationen – und Phantasien – Aufschwung verleiht? An diesem Punkt gewinnt das Reenactment von ›klassischen‹ Performances an Bedeutung. Auf der einen Seite scheinen solche Reenactments auf eben der Annahme zu beruhen, dass nur ein Reenactment 

 einen 

 wirklichen 

 Eindruck 

 von 

 solch 

 flüchtigen 

 Arbeiten 

 geben 

 könne 

 – 

 im 

 Gegensatz 

 zu 

irreführenden 

Darstellungen 

in 

Fotografien 

und 

Videos, 

die 

dazu 

tendieren, 

die 

Performancekunst 

 in 

das 

vorherrschende 

Spektakel 

zu 

integrieren. 

Auf 

der 

anderen 

Seite 

sind 

diese 

Fotografien 

und 

 Videos in einigen Fällen derart bekannt, dass ein Reenactment riskiert, wie bloßer Abklatsch, wie armseliger Ersatz für die auratischen Bilder des ursprünglichen Ereignisses zu wirken. In ihrer Videoarbeit Fresh Acconci (1997) stützen sich Mike Kelley und Paul McCarthy auf die Film- und Videoaufnahmen von Acconcis Performances aus den frühen 1970er Jahren. Einige dieser Filme und Tapes waren ›unmittelbare‹ Aufnahmen von Performances, während andere, wie Theme Song, in welchem Acconci 

 direkt 

 in 

 die 

 Kamera 

 spricht, 

 spezifisch 

 für 

 das 

 Medium 

 Video 

 konzipiert 

 waren. 

 Kelley 

 und 

 McCarthy reinszenieren diese Arbeiten im Porno-Stil – nackte Männer und Frauen spielen Acconcis Performances in einer kalifornischen Villa nach und suggerieren auf diese Weise, dass das alte Bildmaterial nicht sexy genug sei für die heutige visuelle Kultur und dass das, was nötig sei, nicht so sehr 

ein 

Live-Reenactment 

von 

Acconcis 

Werken 

ist, 

sondern 

vielmehr 

ein 

gefilmtes 

Reenactment, 

 welches schlussendlich wie ein Remake der alten Filme und Videos funktioniere.15 13 14 15

Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004, S. 9–30. Roland Barthes, »The Third Meaning: Research Notes on Several Eisenstein Stills (1970)«, in: Roland Barthes, The Responsibility of Forms, übersetzt von Richard Howard, Berkeley/Los Angeles 1991, S. 41–62. Zu Remakes siehe Sven Lütticken, »Planet of the Remakes«, in: New Left Review, Nummer 25, Januar/Februar

An Arena in Which to Reenact

122

Historismus in Aktion: Festzug, Historienspiel und Reenactment Der Erfolg der Begriffe ›Happening‹ und ›Event‹ in den 1960er Jahren, der schnell über seine Ursprünge in der Neo-Avantgarde hinauswuchs, ist ein Anzeichen für die Theatralisierung der Kultur in den Sechzigern und darüber hinaus.16 

 Gerade 

 als 

 die 

 steigende 

 Performativität 

 des 

 Kapitalismus 

 zu 

 der 

 neoliberalen Ideologie von der Arbeit-als-Spiel führte, welche die Begriffe, die in den Bewegungen der 1960er Jahre gegen den Kapitalismus zielten, für die Wiederherstellung kapitalistischer Zwecke nutzte, wurden Happenings zum Bilderlieferanten des Spektakels – ungeachtet der Tatsache, dass sie ursprünglich gegen das spektakuläre Regime der Warenbilder gerichtet waren. 1961 hat Daniel J. Boorstin eine Zunahme von »Pseudo-Events« festgestellt, die nur deshalb vorkämen, damit über sie Bericht erstattet würde, damit sie in den Medien repräsentiert würden; in seinem Blue Key Archive präsentiert der Künstler Eran Schaerf Kriegsreenactments als eine von mehreren Kategorien solcher Pseudo-Ereignisse.17 Diese theatralen Ereignisse ergeben dann zweidimensionale Repräsentationen, Warenbilder. Künstlerische Happenings sollten jenseits dieser Repräsentationslogik zu verorten sein, aber 

auch 

sie 

wurden 

mit 

Fotografien 

und 

manchmal 

mit 

Filmen 

dokumentiert, 

und 

manche 

Happenings wurden wirklich Pseudo-Events, die beabsichtigten, mediale Aufmerksamkeit hervorzurufen. Als Eröffnungen von Modegeschäften oder Kunstshows auch zu »Happenings« wurden, wurde das Happening zu einer Ware. Warhols Silver Factory war ein permanentes Happening von Exhibitionisten unter Vorsitz eines Voyeurs. Weit entfernt von einer ›reinen‹ Live-Performance, drehte sich die Factory um Medien maschineller Wiedergabe: Film, Tonbänder, Siebdrucke. Allan Kaprow zog sich, angewidert von dieser Entwicklung, mehr und mehr von der Kunstwelt zurück. In den frühen 1960ern, als Events und Happenings die Kunst eroberten, wimmelte es in den Vereinigten Staaten von Aktivitäten, die mit der Hundertjahrfeier des Bürgerkriegs zu tun hatten – Aktivitäten, die in manchen Fällen ebenfalls eine Art von Happening wurden. Die Hundertjahrfeier der Schlacht von Bull Run (oder First Manassas) im Jahr 1961 gedachte der Schlacht mit einem Reenactment auf dem Originalschauplatz, das eine große Aufmerksamkeit in der Presse bekam und sich als sehr beliebt bei Touristen erwies.18 Die Teilnehmer des Reenactments – angeführt von einem pensionier16

17

18

2004, S. 103–119. Im deutschen Sprachraum war der Begriff »Aktion« dominant; eine Arbeit, die in der englischsprachigen Welt als happening oder event galt, wurde hier als Aktion charakterisiert. Für die jungen Amerikanischen Künstler war (auch oder gerade wenn sie wie Kaprow Rosenberg viel zu verdanken hatten) der Begriff action zu sehr mit dem action painting 

der 

vorigen 

Generation 

verbunden. Daniel J. Boorstin, The Image: A Guide to Pseudo-Events in America, New York 1961; Eran Schaerf, »Scenario data for demographic design : selections from the Blue Key archive«, in: Territories, Ausst.-Kat. KW Institut for Contemporary Art, Berlin 2003, S. 198–212. Jenny Thompson, War Games: Inside the World of Twentieth-Century War Reenactors, Washington 2004, S. 29–33.

Sven Lütticken

123

ten Armeegeneral – waren hauptsächlich Mitglieder der North-South Skirmish Association (NSSA), einer Organisation, die wie die North-South-League 1950 gegründet wurde. Obzwar die Maßstäbe für Authentizität zu dieser Zeit relativ niedrig waren, strebten einige Einheiten danach, exakt zu sein – Vorgänger der späteren, zum harten Kern gehörenden Teilnehmer.19 Nach dem First Manassas und ähnlichen Reinszenierungen fand das Reenactment als Hobby immer mehr Verbreitung. Obwohl die NSSA sich nach wie vor auf Schießfeste konzentrierte, nicht darauf, sich in »realistischen« Kämpfen zu engagieren oder historische Schlachten nachzustellen, wurden diese Aktivitäten ausschlaggebend für spätere Reenactors, die immer genauer auf ihrer Suche nach historischer Authentizität wurden. In den späten Sechzigern gelangte das historische Reenactment auch über den Atlantik – die erste Reenactment-Gruppe 

 in 

 Großbritannien, 

 The 

 Sealed 

 Knot, 

 entstand 

 1967. 

 Sie 

 wurde 

 nach 

 einer 

 Geheimgesellschaft benannt, die nach der Niederlage von Charles I. aktiv war. Es war die napoleonische Zeit, 

welche 

schnell 

das 

europäische 

Gegenstück 

zum 

amerikanischen 

Bürgerkrieg 

als 

populärster 

 Epoche 

für 

Reenactments 

wurde 

– 

ergänzt 

um 

frühere 

Konflikte, 

aber 

ebenso 

solche 

neueren 

Datums wie die Weltkriege des zwanzigsten Jahrhunderts. Reenactments sind historistische Happenings. Zu einer Zeit, in der Pop Art, Fluxus und Minimalismus 

das 

Jetzt 

feierten, 

versuchten 

Reenactments 

eine 

Erfahrung 

von 

der 

Vergangenheit 

als 

Gegenwart oder als so gegenwärtig wie möglich herzustellen. Sowohl Kriegs-Reenactments als auch viele 

 Happenings 

 und 

 Performances 

 scheinen 

 sich 

 von 

 der 

 Sprache 

 zurückzuziehen 

 in 

 die 

 Gefilde 

 von – scheinbar – rein körperlichen Aktionen, weg von vorgeformter Sprache und ihren Konventionen, Klischees und ihren versteckten Sprengsätzen. Happenings wie auch Formen der 1960er und frühen 1970er Avantgarde-Performance und des Theaters im Allgemeinen schafften darüber hinaus auch den sicheren Abstand zwischen Darstellern und Zuschauern ab, um mehrdeutige, uneinheitliche Situationen herzustellen. In ähnlicher Weise platzieren Schlachten-Reenactments Zuschauer und Darsteller in derselben Landschaft, auch dann, wenn sich im Fall von ›öffentlichen‹ Events das Publikum 

in 

sicherer 

Entfernung 

befindet. 

Im 

Falle 

von 

Living-History-Museen 

ist 

diese 

Distanz 

deutlich reduziert – Darsteller in historischen Kostümen und Besucher, die selbst Teil der Darstellung werden, vermischen sich in etwas, das Stephan Eddy Snow ein ›environmental theatre‹ genannt hat.20 Manche amerikanischen Living-History-Museen – im Wesentlichen historische Themenparks, die auf Rekonstruktionen von historischen Städten oder Dörfern beruhen – stammen aus den 1920er oder 19

20

Ebd., S. 36–38. Für einen Bericht in der Ich-Form über Reenactments während der Hundertjahrfeiern zum Bürgerkrieg der frühen 1960er Jahre siehe Ross. M. Kimmel,»My Recollections as a Skirmisher during the Cival War Centennial: or, Confessions of a Blackhat« auf http://wesclark.com/jw/k_1960.html (Stand: November 2004). Stephan Eddy Snow, Performing the Pilgrims: A Study of Ethnohistorical Role-Playing at Plimoth Plantation, Jackson 1993, S. 185–212.

An Arena in Which to Reenact

124

1930er 

Jahren. 

Beispiele 

sind 

etwa 

Henry 

Fords 

Greenfield 

Village 

oder 

das 

mit 

Geld 

von 

Rockefeller 

 wiederhergestellte Colonial Williamsburg. Wenn der Fall des Pilgerdorfes von Plimoth Plantation, welches geringfügig später gegründet wurde, charakteristisch ist, war es um die 1970er herum, dass Museumsführer oder -übersetzer zur Erzählung in der ersten Person wechselten, das heißt dazu, historische 

Charaktere 

wirklich 

vorzuführen, 

statt 

Geschichte 

aus 

einer 

gegenwärtigen 

Perspektive 

zu 

 erläutern.21 Im Bereich der Living History wird die Handlung nicht abstrahiert zu etwas Existentiellem und Körperlichem jenseits der Sprache. Living History zeigt Alltagsleben und infolgedessen Themen, die 

 durch 

 Sprache 

 und 

 andere 

 Mittel 

 in 

 die 

 Gesellschaft 

 eingebunden 

 sind. 

 Nichtsdestotrotz 

 haben 

 sich diese Museen mit der historischen Reenactment-Bewegung vereinigt – viele Reenactors ziehen es vor, sich selbst als ›lebende Historiker‹ zu beschreiben, und abseits von der Nachbildung von Schlachten nehmen sie auch teil an weniger kriegslüsternen Living-History-Vorführungen. Umgekehrt werden die täglichen Aktivitäten in Living-History-Museen ergänzt durch gelegentliche größere Wiederaufführungen außergewöhnlicher Ereignisse, und im Fall der ›Besetzung‹ von Williamsburg durch britische 

Truppen 

sind 

die 

›Darsteller‹ 

Mitglieder 

von 

Reenactment-Gruppen. Letztendlich liegen die Wurzeln dieser gegenwärtigen Formen von Historismus genau im der eigentlichen historischen Epoche des Historismus – im neunzehnten Jahrhundert. Das heißt nicht, dass die Ursprünge die derzeitige Form begründet haben, die eine Transformation des Historismus in einem neuen kulturellen Regime darstellt. Unter Historismus verstehe ich hier die Wiederverwendung von verschiedenen alten oder ›exotischen‹ Stilrichtungen und Modellen in der Kunst und Kultur des neunzehnten Jahrhunderts. Dieser kulturelle Historismus wurde in hohem Maße geprägt durch einen Denkansatz 

 in 

 Philosophie 

 und 

 Geschichtswissenschaft, 

 die 

 Historizismus 

 genannt 

 wird.22 Angefeuert durch Romantik und Deutschen Idealismus, wurde jede historische Epoche und Kultur als etwas betrachtet, das seinen eigenen unverwechselbaren organischen Kern besitzt und das zugleich den Charakter 

 einer 

 bestimmten 

 Entwicklungsstufe 

 des 

 Geistes, 

 der 

 Menschlichkeit 

 oder 

 ›des 

 Volkes‹ 

 darstellt. Durch Integration des einzigartigen Wesenskerns, der in einer historischen Epoche stecken sollte, 

den 

Gang 

des 

Fortschritts 

oder 

den 

geistigen 

Fortbestand 

eines 

Volkes 

oder 

einer 

Rasse 

konnte 

 die 

 Vergangenheit 

 Bedeutung 

 für 

 die 

 Gegenwart 

 erlangen. 

 Die 

 Wiederbelebung 

 von 

 historischen 

 Stilrichtungen, 

Formen 

und 

Details 

diente 

ebenfalls 

dazu, 

die 

Identifikation 

mit 

der 

Vergangenheit 

 anzukurbeln 

 und 

 die 

 Differenz 

 zwischen 

 dieser 

 und 

 der 

 Gegenwart 

 zu 

 überwinden. 

 Der 

 kulturelle 

 21 22

Ebd., S. 21–37. Im Englischen wird der Begriff historicism auf beide Phänomene angewandt; der Unterschied Historismus/Historizismus ist eine deutsche Eigenart. Letzterer Begriff ist eng mit Karl Poppers Historizismuskritik verbunden. Für eine differenzierte historische Betrachtung, die auch die frühe deutsche Begriffsgeschichte mit einbezieht, siehe 

Georg 

G. 

Iggers, 

»Historicism: 

The 

History 

and 

Meaning 

of 

the 

Term« 

in: 

Journal of the History of Ideas 56, no. 1 (January 1995), S. 129–52.

Sven Lütticken

125

Historismus 

 generierte 

 zahllose 

 historische 

 Romane, 

 üppige 

 historische 

 Gemälde 

 und 

 Neo-Stile 

 in 

 der Architektur und der Raumausstattung; europäische (und amerikanische) Kultur entwickelten sich zu einer ständigen Wiederaufführung jedweder historischen Periode oder ›exotischen‹ Kultur. Auf diese Weise wurde eine Kontinuität suggeriert, welche den modernen Bürger nicht nur zum legitimen Erben der eigenen Volksgeschichte, sondern auch zu dem anderer Kulturen machte. Die 

 historische 

 Genauigkeit, 

 welche 

 durch 

 zahlreiche 

 Formen 

 des 

 Historismus 

 in 

 Literatur, 

 Kunst, 

 Architektur und verschiedenen Arten von Feierlichkeiten suggeriert wurde, konnte ihn nicht davor schützen, 

 ins 

 Phantasmagorische 

 zu 

 kippen. 

 Im 

 Gegenteil, 

 die 

 ständige 

 Faktenkontrolle 

 begründete 

 und verstärkte ihren traumartigen Charakter. Wie Walter Benjamin bemerkt hat, bezweckten die Interieurs des neunzehnten Jahrhunderts, dem Bourgeois den Eindruck zu vermitteln, dass ein historisches Ereignis wie eine Krönung oder wie der Mord an einem Kaiser im Nachbarzimmer stattgefunden haben könnte.23 Heutige Reenactments wurden ebenso zu einem integralen Bestandteil dieser Kultur. Während im Theater Stücke von Dramatikern wie Shakespeare verstärkt in Kulissen und Kostümen aufgeführt wurden, welche peinlich genau auf der fraglichen Epoche beruhten, brachten historische Paraden oder Festzüge die gespielte Vergangenheit auf die Straßen der Stadt.24 Obschon diese Paraden Vorläufer in Festspielen der Renaissance und der Zeit des Barock haben, waren Mythologie 

und 

Allegorien 

in 

den 

früheren 

Formen 

sehr 

viel 

bestimmender. 

Nun 

verdrängte 

die 

Geschichte den Mythos. Anders als im Theaterschauspiel bildeten diese historischen Paraden üblicherweise keine 

konkreten 

Ereignisse 

nach; 

sie 

führten 

Geschichte 

in 

Form 

von 

feierlichen 

Umzügen 

wieder 

auf 

 und betonten auf diese Weise gewissermaßen die Linearität der geschichtlichen Zeit, indem sie die Vergangenheit zurückbrachten. Im späten neunzehnten Jahrhundert kamen wesentliche Impulse für historistische Spektakel aus der Kunst, besonders aus der Arts-and-Crafts-Bewegung und deren romatischem Versuch, das vorindustrielle Kunsthandwerk wiederzubeleben. Vor dem Jugendstil, dem Symbolismus 

und 

der 

Avantgarde 

des 

20. 

Jahrhunderts, 

die 

den 

Begriff 

des 

Stils 

von 

spezifischen 

 historischen Vorläufern trennten, um einen unverwechselbaren modernen Stil zu schaffen – Modernität ist Historismus, der auf die Modernität selbst angewandt wird –, schaute die Arts-and-CraftsBewegung zurück auf historische Stilrichtungen, um die Kultur wiederzubeleben und das Alltagsleben 23 24

Walter Benjamin, »Das Passagen-Werk», in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band V.1, hg. von Rolf Tiedemann Frankfurt am Main 1991, S. 286. Werner Telesko, »Der Triumph- und Festzug des Historismus in Europa«, in: Der Traum vom Glück: Die Kunst des Historismus in Europa, Ausst.-Kat. Künstlerhaus Wien/Akademie der Bildenden Künste in Wien, Wien 1996, Band 1, S. 290–296. Über historische Paraden im Belgien des neunzehnten Jahrhunderts siehe Tom Verschaffel, »Aanschouwelijke Middeleeuwen. Historische optochten en vaderlandse drama’s in het negentiende-eeuwse Belgie (1999)«, in: Digitale bibliothek voor de Nederlandse letteren, http://www.dbnl.nl/tekst/vers059aans01/ (Stand: Oktober 2004).

126

An Arena in Which to Reenact

zu 

 adeln. 

 Kostümfeste 

 waren 

 ein 

 Teil 

 der 

 Arts-and-Crafts-Bewegung 

 und 

 fanden 

 häufig 

 in 

 einem 

 privaten 

Kontext 

statt. 

Der 

Historismus-in-Aktion 

erreichte 

in 

England 

einen 

neuen 

Grad, 

bezogen 

auf 

 Umfang, Öffentlichkeit und öffentliche Aufmerksamkeit, mit dem Sherborne Historienspiel im Jahre 1905, welches von Louis Napoleon Parker organisiert wurde – dessen Eltern gleichfalls ein verblüffendes Reenactment ausführten, als sie ihm seinen Namen gaben.25 Parkers Historienspiele und viele von diesen inspirierte im Vereinigten Königreich und anderswo waren stärker narrativ als die meisten Festzüge. Typischerweise boten sie ausgearbeitete Szenen aus der Stadtgeschichte oder der Region dar, in welcher das Historienspiel stattfand, erstreckten sich vom Mittelalter bis ins neunzehnte Jahrhundert und wurden an manchen Stellen von Ballett oder allegorischen Maskenspielen unterbrochen. Diese Historienspiele waren keine Paraden: Sie wurden vor 

 einer 

 Haupttribüne 

 von 

 einer 

 großen 

 Gruppe, 

 die 

 in 

 der 

 Stadt 

 selbst 

 angeworben 

 war, 

 aufgeführt, vor einem malerischen Hintergrund wie einer Burg. Ein zentrales Ziel war eindeutig, durch die Feier 

regionaler 

und 

– 

indirekt 

– 

nationaler 

Geschichte 

Bürgerstolz 

einzuflößen. 

Das 

Historienspiel 

 versuchte Kontinuität und Fortschritt, Tradition und den unvermeidlichen Vormarsch der Moderne zu vermischen. Parkers Festspiele wurden bereitwillig in den Vereinigten Staaten nachgeahmt; von 1910 an wurden die USA überschwemmt von einem wahrhaften Reenactmentwahn. Wie in Europa hatte es auch in den USA Formen von historistischen Spektakeln und Festlichkeiten gegeben; auf Feierlichkeiten zum 4. Juli marschierten bisweilen Veteranen in historischen Kostümen, und Paraden enthielten mitunter Festzugswagen mit tableaux vivants – manchmal inspiriert von Historienmalereien. Auf einer historischen Parade in Philadelphia im Jahr 1908 wurden Schlüsselrollen von Mitgliedern der städtischen Oberschicht übernommen; so wurde Benjamin Franklin von seinem eigenen Urenkel gespielt.26 Auf diese Weise nutzte die herrschende Klasse die historische Parade, um einen Besitzanspruch geltend zu machen; die neuen historischen Festzüge wurden auch in dieser Weise eingesetzt. Andere versuchten dagegen die Festzüge in einer anderen Weise zu nutzen: »progressive educators and playground workers viewed the new pageantry as a way to orchestrate the popular recreational features of celebrations so that the public would not only be exposed to history and art from the podium but also learn by doing through the medium of play. To them, historical pageantry was an elaborate ritual of democratic participation …«27. 25 

 David 

Glassberg, 

American Historical Pageantry: The Uses of Tradition in the Early Twentieth Century, Chapel Hill, 

London 

1990, 

S. 

43–44. 

Parkers 

Enkel 

machte 

später, 

dem 

Rezept 

seines 

Großvaters 

folgend, 

mit 

historischen 

Festspielen 

in 

Großbritannien 

weiter, 

siehe 

Anthony 

Parker, 

Pageants. Their Presentation and Production, London 1954. 26 

 Glassberg, 

American Historical Pageantry, S. 16–20. 27 Ebd. S. 64.

Sven Lütticken

127

Verglichen mit heutigen historischen Reenactments, drehten sich die Festspiele weniger um nachspielende 

Individuen 

als 

um 

eine 

Gemeinschaft, 

die 

sich 

durch 

ein 

Bild 

ihrer 

selbst 

ausstellte. 

Während aktuelle Kriegs-Reenactments eine Art negativer Doppelgänger des performativen Imperativs des 

postmodernen 

Kapitalismus 

darstellen, 

wurde 

das 

Festspiel 

auf 

Gemeinschaft 

ausgerichtet 

und 

 gegen die aufstrebende Filmindustrie in Stellung gebracht. Die örtliche Beteiligung war ausschlaggebend. Es handelte sich um eine (Re-)-Präsentation für die und von der Bevölkerung, obwohl die meisten Festspiele tatsächlich von extra für diesen Anlass eingeführten Spezialisten inszeniert wurden – 

 den 

 Festspielregisseuren, 

 die 

 sich 

 häufig 

 selbst 

 als 

 aufgeklärte 

 Künstler/Pädagogen 

 betrachteten. 

 Wie in manchen Paraden des späten neunzehnten oder frühen zwanzigsten Jahrhunderts gab es im Grunde 

zwei 

Erfahrungen 

aus 

den 

Historienspielen 

– 

aus 

der 

Innen- 

und 

aus 

der 

Außenperspektive. 

 Die 

Reenactors, 

die 

teilnahmen 

– 

häufig 

Tausende 

von 

ihnen 

für 

ein 

einziges 

Historienspiel 

–, 

waren 

 als 

Mitglieder 

der 

Gemeinschaft 

gleichermaßen 

Teil 

des 

intendierten 

Publikums. 

Der 

›passive‹ 

Teil 

 der Zuschauer betrachtete das Historienspiel als großes Spiel, ein prächtiges Spektakel, während die Leute in historischen Kostümen der aktive Teil des Publikums waren; mitten im Spektakel, lebendig und an ihm beteiligt, aber stets eingeschränkt durch ein Skript. In dieser Hinsicht ähneln diese Laienschauspieler den Statisten auf der Bühne oder im Film, obgleich in 

 diesen 

 Medien 

 die 

 Verbindung 

 zwischen 

 Repräsentation 

 und 

 Gemeinschaft 

 gekappt 

 ist; 

 der 

 Film 

 verschärft 

den 

Graben 

zwischen 

Schauspielern 

und 

Publikum, 

indem 

er 

die 

Verbindungen 

zwischen 

 dem Spektakel und dem Leben der Zuschauer radikaler trennt, als dies im populären Theater der Fall ist. Erst später drang das Spektakel der Medien wiederum ein ins Alltagsleben, als post-fordistische ökonomische 

 Verhältnisse 

 aus 

 permanenter 

 Selbstneuerfindung 

 die 

 Norm 

 machten 

 und 

 RealityShows und Webcams zu einer logischen Konsequenz wurden. Warhol, der Bewunderung für große Hollywoodstars 

des 

Goldenen 

Zeitalters 

kombinierte 

mit 

der 

Überzeugung, 

jeder 

könnte 

für 

fünfzehn 

 Minuten ein Star werden, ist vielleicht diejenige Figur, die am deutlichsten den Übergang zum neuen Regime markiert. Das permanente Happening in der Factory mit ihren dauernden Probeaufnahmen war eine Versuchsanordnung für vieles, das später kam. Repräsentation und Immersion Festspiele 

versuchten 

den 

Grenzen 

der 

Bühne 

zu 

entkommen, 

in 

die 

Landschaft 

oder 

in 

der 

Nähe 

der 

 Stadt, welche in dem Festspiel gefeiert wurde; das historische Festspiel ist ›Environmental-Theatre‹, welches darauf ausgerichtet ist, mit seinem Kontext zu verschmelzen, eine Repräsentation, die bezweckt, 

 die 

 dargestellte 

 Gemeinschaft 

 und 

 ihre 

 Umwelt 

 ineinander 

 übergehen 

 zu 

 lassen. 

 Die 

 ersten 

 Pläne für den Kaiser-Huldigungs-Festzug, der 1908 in Wien organisiert wurde, um die sechzigjährige Herrschaft des Kaisers zu feiern, enthielt noch Schilderungen von Festzugswagen mit Darstellungen

128

An Arena in Which to Reenact

verschiedener dramatischer Szenen. Das endgültige Konzept vom März 1908 schaffte allerdings derartige 

 Vorrichtungen 

 ab 

 und 

 konzentrierte 

 sich 

 auf 

 Volksgruppen 

 (häufig 

 Nachfahren 

 von 

 wichtigen 

 Familien, die ihre eigenen Vorfahren darstellten, wie auf der Parade in Philadelphia ein paar Jahre zuvor), die marschierten oder auf dem Pferderücken oder in Kutschen saßen. Eher als in Form von Tableaus herumgezeigt zu werden, bewegten sie sich ›natürlich‹, mehr oder weniger so, wie sie es im jeweiligen Zeitalter marschierend oder reitend getan hätten.28 

Sie 

befinden 

sich 

nicht 

auf 

beweglichen 

 Podesten, sind nicht Bilder aus einigem Abstand; ihre Füße, die Hufe der Pferde oder die Räder ihrer Kutschen berühren die Straßen. Repräsentation löst sich vom Podest und aus dem Rahmen. Obwohl 

 die 

 kapitalistische 

 Nutzung 

 des 

 Kinos 

 für 

 das 

 Gegenteil 

 dessen 

 stand, 

 was 

 die 

 Festzugsbewegung erreichen wollte, beobachtete der Meister der Historienspiele, Thomas Wood Stevens, dass »pageant workers can gain much … from a study of moving pictures, in which, of course, the interest 

is 

held 

entirely 

by 

action. 

Think 

your 

pageant 

through 

in 

terms 

of 

moving 

pictures; 

filter 

out 

 the 

talk 

and 

find 

out 

how 

much 

action 

remains.«29 Schon bald triumphierte der Historismus auf der Leinwand über denjenigen der Live-Festzüge und man kann sagen, dass das Kino des zwanzigsten Jahrhunderts beides bezeugt: die Apotheose und die Selbstkritik des künstlerischen Historismus des neunzehnten Jahrhunderts. Das populäre Kino griff – allen avantgardistischen Elementen offensichtlich ausweichend – sowohl in narrativer als auch in visueller Hinsicht Konventionen des neunzehnten Jahrhunderts auf, um eine schnelle Akzeptanz bei den Massen zu erzeugen. Der Historismus konnte auf 

diese 

Weise 

in 

einer 

filmischen 

Form 

aufblühen, 

bis 

er 

später 

in 

der 

›ernsten‹ 

Kunst 

verpönt 

wurde. Wie in zahllosen Romanen des neunzehnten Jahrhunderts wurde die Vergangenheit als exotisch und 

 dennoch 

 grundsätzlich 

 vereinbar 

 mit 

 Gefühlen 

 und 

 Vorverständnissen 

 des 

 zwanzigsten 

 Jahrhunderts dargestellt; sie war eindrucksvoll gegenwärtig, allerdings lediglich als ein Hintergrund für Geschichten, 

die 

Variationen 

eines 

Plots 

waren, 

der 

überall 

hätte 

spielen 

können. 

Im 

Gegensatz 

dazu 

 stellten Filme wie Max Ophüls Lola Montez (1955), Viscontis Ludwig (1972) oder Stanley Kubricks Barry Lyndon (1975) eine selbstkritische Wende des Historismus dar. Für Barry Lyndon verwendete Kubrick Recherchematerial seines aufgegebenen Napoleon-Films, welcher die Zerstörung des Ancien Régime durch die Französische Revolution und den Aufstieg und Fall von Napoleons Herrschaft gezeigt hätte – eine Wiederaufführung des Römischen Reiches.

28 

 

 Elisabeth 

 Grossegger, 

 Der Kaiser-Huldigungs-Festzug, Wien 1908. Mit einem Vorwort von Margaret Dietrich, Philosophisch-Historische Klasse, Sitzungsberichte, 585. Band, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1992, S. 30–36. 29 

 

Glassberg, 

American Historical Pageantry, S. 118.

Sven Lütticken

129

Zum 

 harten 

 Kern 

 gehörende 

 Reenactors 

 der 

 Gegenwart 

 sind 

 häufig 

 kritisch 

 gegenüber 

 der 

 Art 

 und 

 Weise, 

in 

der 

Geschichte, 

besonders 

Militärgeschichte, 

in 

Filmen 

dargestellt 

wird, 

doch 

seit 

den 

1990er 

 Jahren haben viele Reenactors als Komparsen in Filmen wie The Patriot (2000) über den Krieg der Amerikanischen Revolution und Saving Private Ryan (1998) mitgewirkt. Möglicherweise verrät die Kritik an Filmen, 

obwohl 

sie 

sich 

auf 

Details 

begrenzt, 

einen 

gewissen 

Generalverdacht 

gegenüber 

der 

Fähigkeit 

 von 

 flachen, 

 bildschirmorientierten 

 Repräsentationen, 

 ein 

 wirkliches 

 Gefühl 

 von 

 Kriegserfahrungen 

 zu 

 liefern. Reenactors wollen zweidimensionale Bilder zugunsten körperlicher Erfahrung durchbrechen: Das historische Reenactment, wie es sich seit dem 1960er Jahren entwickelt hat, zeichnet sich durch eine Emanzipation des Reenactors aus. Veröffentlichungen über dieses ›Hobby‹ unterstreichen, dass der harte Kern der Reeanctors eine negative Sicht auf ›öffentliche‹ Ereignisse hat, wenn sie sich – wie in den Festspielen 

früherer 

Tage 

– 

für 

das 

Publikum 

einer 

zentralen 

Choreografie 

anpassen 

müssen.30 

Gewiss 

 sind diese Hardliner nur eine Fraktion in der Reenactment-Szene und viele sind gerne bereit, Schlachten für Touristengruppen aufzuführen. Nichtsdestotrotz ist die Erfahrung des Reenactors wichtiger geworden als in den historischen Festspielen; es ist nicht so sehr eine hochgesinnte Angelegenheit der Allgemeinheit 

als 

vielmehr 

ein 

Hobby 

für 

Gruppen 

von 

Enthusiasten. 

Daher 

ist 

es 

auch 

nicht 

erstaunlich, 

dass 

 einige ›private‹ Reenactments vorziehen, in denen sie historische Schlachten nur für sich selbst – ohne ein nur passives Publikum – nachstellen. Hier ist die aktive Erfahrung, die Erfahrung des Spielens – des Nachstellens – alles. Um diese Erfahrung noch unwiderstehlicher zu gestalten, werden die Schlachten mit offenem Ausgang geschlagen, was so viel bedeutet, wie dass das Reenactment einer historischen Schlacht, von der bekannt ist, dass sie von den Deutschen gewonnen wurde, in ihrer nachgespielten Form von den Briten gewonnen werden kann.31 Obschon diese kompromisslosen Reenactors in ihrer Aufmerksamkeit auf kleinste Details bezüglich der Kleidung oder der Ausstattung obsessive Perfektionisten sind, die auch moderne Brillen untersagen, scheinen sie sich in dieser Hinsicht eine erstaunliche Freiheit zu erlauben. Da aber das Ergebnis der ursprünglichen Schlacht im Vorhinein auch nicht klar war, muss ein authentisches KriegsReenactment Elemente von Überraschung und Zufall sowie ein offenes Ende bereithalten. Für den harten Kern der Reenactors muss ein Reenactment einer authentischen Handlung so nah sein, wie dies ohne den Einsatz von echter Munition und echten Toten möglich ist. Zumindest ist in manchen Wiederaufführungen von Schlachten die Erfahrung der Spieler wichtiger als der Wunsch, eine bestimmte Wirkung auf das Publikum zu erzielen. Verglichen mit früheren Formen des Historismus-inAktion, legt das heutige Reenactment mehr Nachdruck nicht nur auf Erfahrungen in der ersten Person, sondern auch auf die extremste aller Handlungen, das Kämpfen in einem Krieg. Ein Alltagsleben, 30 31

Thompson, War Games, S. 95–116, 141–163. Ebd., S. 153–154.

An Arena in Which to Reenact

130

das sich durch eine ständige Selbst-Performance auszeichnet und in diesem Sinne theaterhaft ist, wird ersetzt durch eine ›authentische‹ Kriegshandlung, die als historistisches Happening dann doch nur die Fortsetzung des Theaters mit anderen Mitteln ist. Die ökonomisch-performativen Zwänge des täglichen Lebens werden spielerisch sublimiert. Wie Tom Holert und Mark Terkessidis erwähnt haben, 

wird 

die 

Metapher 

des 

Soldaten 

oder 

des 

einsamen 

Kämpfers 

häufig 

für 

die 

Beschreibung 

 zeitgenössischer neoliberaler Subjekte genutzt – vor allem solcher, die Jobs im Bereich des Finanzmarktes haben.32 Ist ein Tag in Wall Street nicht das ultimative Schlachtenreenactment? Dass viele Reeanctors bescheidenere Stellen bekleiden als die eines Börsenmaklers oder Managers, wird ihre Identifikation 

 mit 

 dem 

 ›einfachen 

 Soldaten‹ 

 nur 

 erhöhen. 

 Stellen 

 sie 

 sich 

 in 

 historisierter 

 Gestalt 

 selbst dar und nach? Dass das Reenactment die Betonung auf eine umfassende Erfahrung legt, kann in Beziehung gesetzt werden zu der ›alternativen Tradition‹, die Lev Manovich dem dominanten Verfahren der Repräsentation in der modernen Kultur gegenübergestellt hat, jenem der bildschirmbasierten Repräsentation. Diese alternative Tradition »can be found whenever the scale of a representation is the same as the scale of our human world so that the two spaces are continuous. This is the tradition of simulation rather than that of representation bound to a screen«; Simulation wie etwa in jenen künstlichen Dörfern, 

mit 

denen 

Potemkin 

angeblich 

Katharina 

der 

Großen 

eine 

wohlhabende 

Bauernbevölkerung 

 vorgaukelte.33 Diese Tradition schließt Attraktionen des späten achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts 

ein 

wie 

Wachsfigurenkabinette 

und 

bis 

zu 

einem 

gewissen 

Grade 

auch 

das 

Panorama 

und 

 die 

 Phantasmagorie 

 – 

 jene 

 Geistershow, 

 deren 

 Name 

 durch 

 Marx 

 später 

 zu 

 einem 

 Synonym 

 für 

 die 

 Illusionen des Warenfetischismus wurde und die von Benjamin in seiner Analyse der Kultur des neunzehnten Jahrhunderts aufgegriffen wurde. Obgleich sie in der modernen Kunst gemieden wurde, ist diese Tradition der Simulation nie wirklich verschwunden und hat in den letzten Jahrzehnten stetig an Kraft dazugewonnen – nicht nur in allen Formen von Themenparks, sondern ebenso in der virtuellen Realität, zum Beispiel in Flugsimulatoren. Das erste Unternehmen für die Entwicklung von computerisierten Flugsimulatoren wurde 1968 gegründet; in späteren Jahrzehnten wurde zunehmend dieselbe Technologie genutzt, um Computerspiele für den Verbrauchermarkt zu produzieren.34 Obgleich ein ›Egoshooter‹-Spiel offensichtlich eine andere Erfahrung ermöglicht als diejenige, während eines Reenactments durchgefroren auf ein paar Feldern zu stehen, gibt es eine grundlegende Ähnlichkeit dieser beiden, die eine viel eindringlichere und fesselndere Erfahrung erzeugen wollen 32 33 34

Tom Holert/Mark Terkessidis, Entsichert. Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert, Köln 2002, S. 104–116. Lev Manovich, The Language of New Media, Cambridge MA, London 2001, S. 112. Ebd., S. 276–277.

Sven Lütticken

131

als eine zweidimensionale Darstellung. Auch wenn das Spiel in technischer Hinsicht auf einem zweidimensionalen 

Bildschirm 

stattfindet, 

entwickelt 

der 

Spieler 

die 

Illusion, 

einen 

Raum 

zu 

durchqueren 

 und in diesem zu handeln. Filme haben ebenso mehr und mehr versucht, den Zuschauer in der Mitte der Aktion zu platzieren, ihn in die Handlung hineinziehend, doch dieser Effekt wird normalerweise durch eine hektische Montage erzeugt und nicht durch den ›Aufnahme-Effekt‹ von Spielen. Paradoxerweise war es Kubrick, der Meister der stillstehenden Tableaus, welcher von den 1950er bis in die 1980er Kriegsszenen mit einem beispiellosen Sinn für Nähe und für die Realität einer Schlacht entwarf. Doch während Kubrick den Zuschauer in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges oder in verwirrenden Schlachtszenen in Vietnam platziert, bleibt sein Kamerastil unbeteiligt und fördert nicht 

die 

Identifikation 

mit 

Figuren. 

Dies 

ist 

eine 

wesentliche 

Differenz 

zu 

aktuelleren 

Filmen, 

wie 

 sehr 

sie 

auch 

von 

Kubricks 

Kameraarbeit 

beeinflusst 

sein 

mögen 

– 

wie 

im 

Fall 

von 

Spielbergs 

Saving Private Ryan. Kubricks Kamera ist ein Beobachter und suggeriert keine Teilnahme, gleichgültig, wie beweglich 

sie 

ist; 

im 

Gegenteil, 

viele 

jüngere 

Kriegs- 

und 

Actionfilme 

machen 

den 

Zuschauer 

zu 

einem 

 Quasi-Spieler. Immer mehr kompromisslose Reenactors setzen auf kleinste Einzelheiten, um die Illusion so authentisch wie möglich zu machen, sie versuchen, ihren Figuren eine eindeutige Identität zu verleihen, und gehen für die Herstellung des entsprechenden Eindrucks auch bis zum Einweichen von Knöpfen in Urin, um diesen die richtige Patina zu verleihen. Alles moderne Ausstattungsmaterial muss verborgen werden, um den Eindruck, sich ganz in der dargestellten Zeit zu bewegen, zu verfestigen, auch wenn dies einige Reenactors nicht davon abhält, vollständig unauthentische Aufnahmen und Videokameras in den Schlachten zu benutzen. Schlussendlich ist es wichtig, dass zweidimensionale Darstellungen dazu beitragen, sich die Erfahrung einzuprägen: Wie in der Performancekunst ruft das Reenactment eine 

nahezu 

endlose 

Prozession 

von 

fotografischen 

Repräsentationen 

hervor, 

die 

häufig 

stolz 

auf 

den 

 Websites der »Regimenter« oder »Einheiten« gezeigt werden. Solche Websites haben auch die Aufgabe, potentielle neue Reenactors anzuziehen. Das Sich-hindurch-Klicken durch die Bildergalerien kann zum Wunsch führen, selbst an einem Reenactment teilzunehmen. Die bildschirmbasierten Repräsentationen 

und 

die 

»Simulation« 

des 

Reenactments 

sind 

miteinander 

verbunden 

und 

beeinflussen 

sich 

 wechselseitig. Im Fall der moderaten Mainstream-Reenactors ist die Verlockung, die vom schicken Aussehen eines Napoleon oder einer Bürgerkriegsuniformen ausgeht, welche für schöne Bilder gemacht werden, sicherlich ein Faktor von einiger Bedeutung. Wenn solch eine von Bildern geprägte Betrachtungsweise von kompromisslosen Reenactors gering geschätzt wird, wollen auch sie immer und immer wieder ihre Erfahrungen durch das Vertiefen in Bilder wieder-erfahren; manche beleben sogar die alte Technik des Kollodium-Nassplattenverfahrens wieder, um auf diese Weise zu ›authentischen‹ Bildern zu kommen. Auf der einen Seite beansprucht also die heutige performative Kultur sowohl die

An Arena in Which to Reenact

132

Freizeit als auch den Arbeitsplatz, der in einen Ort der Kreativität und des Spiels umgewandelt wird, wenn man nur die richtige Einstellung hat. Auf der anderen Seite betont sie das Erscheinungsbild des Darstellers, das visuelle Ergebnis – das Bild. Indem sie eine momentane Freistellung von der gewöhnlichen Performance offerieren, wiederholen Kriegs-Reenactments und Living-History-Attraktionen diese Spannung zwischen der Erfahrung und dem Bild einer Performance; es ist genau diese Art von Spannung, welche die Anziehungskraft dieser theatralen Formen ausmacht. Tony Horwitz hat, als er über Hardcore Reenactor schrieb, den Begriff vom ›Zeitalter-Rausch‹ geprägt, einer vorübergehenden Illusion, tatsächlich in der Vergangenheit zu sein.35 Auch wenn der Reenactor will, 

 dass 

 die 

 Fiktion 

 so 

 schmerzhaft 

 wirklich 

 wird 

 wie 

 möglich, 

 ist 

 er 

 nicht 

 stärker 

 in 

 der 

 Gefahr, 

 vollständig zu vergessen, dass er an einer Fiktion teilnimmt, als ein Spieler. Wenn manche Formen der Performancekunst Unsicherheit darüber herstellen, ob das, was passiert, wenn der Künstler oder die Künstlerin sich selbst verstümmeln, als eine Aufführung zu verstehen ist oder aber als ein sehr realer Akt der Selbstverletzung, welcher gestoppt werden sollte, gehen Hardcore Reenactments weniger weit darin, die Unterscheidung zwischen der Aufführung in einem Spiel und einer Darstellung im alltäglichen Spektakel des Lebens auszulöschen. Auch wenn manche Unbequemlichkeiten von Schlachtsituationen unmittelbar gefühlt werden, ist es doch klar, dass es sich um ein Spiel handelt und 

dass 

niemand 

tatsächlich 

in 

Gefahr 

ist, 

getötet 

zu 

werden. 

Historische 

Performancekunst 

ahmte 

 häufig 

 ritualisierte 

 Formen 

 nach, 

 um 

 eine 

 transformatorische 

 Erfahrung 

 zu 

 suggerieren. 

 Im 

 Fall 

 der 

 Kriegs-Reenactments ist der Anspruch bescheidener – für eine begrenzte Zeit aus dem Alltagsleben herauszutreten, um anschließend mit neuen Kräften, aber völlig unverändert zurückzukehren. Jetztzeit und Zeitreise Mit 

Blick 

auf 

ein 

Reenactment, 

das 

1998 

in 

Gettysburg 

stattfand, 

hat 

Christopher 

Hitchens 

bemerkt, 

 dass, »wer der Vergangenheit nicht vergeben kann, ist dazu verurteilt, sie wieder aufzuführen (nicht ohne ein gewisses Pathos).«36 

Diese 

Bemerkung 

ist 

offensichtlich 

eine 

Variation 

von 

George 

Santayanas berühmtem Satz: »Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.« 

 Diese 

 Worte 

 sind 

 selbst 

 endlos 

 wiederholt 

 worden 

 auf 

 allen 

 Arten 

 von 

 Gedenkveranstaltungen 

 – 

 gerade 

 in 

 Deutschland. 

 In 

 einer 

 leicht 

 modifizierten 

 Fassung 

 waren 

 sie 

 auch 

 das 

 Motto des Kult-Anführers Jim Jones, kürzlich das Thema des Jonestown Re-enactments des Künstlers Rod Dickinson. Hitchens Ersetzung von »wiederholen« durch »nachspielen« suggeriert, dass er das Reenactment 

 eher 

 als 

 eine 

 Geschichtsverleugnung 

 betrachtet 

 denn 

 als 

 intensive 

 Beschäftigung 

 mit 

 ihr. In diesem Sinne könnte es vergleichbar sein mit der Kultur des 19. Jahrhunderts, die Walter Benja35 36

Tony Horwitz, Confederates in the Attic: Dispatches from the Unifinished Civil War, New York 1998, S. 7. Hitchens, zitiert in: Thompson, War Games, S. 284.

Sven Lütticken

133

min zufolge nicht länger um die revolutionäre Jetztzeit bemüht war, in der die Französische Revolution das antike Rom hatte auferstehen, wieder erleben und nachspielen lassen.37 Die republikanischen Tugenden des frühen Rom, die der Öffentlichkeit von den vor-revolutionären Bildern von David und anderen 

eingeflößt 

wurden, 

sprangen 

von 

der 

Leinwand 

in 

das 

gesellschaftliche 

Leben 

und 

die 

politische Aktion, gleichermaßen Kleider, Feierlichkeiten und politische Strukturen verändernd – bevor die Republik in das Imperium Napoleons einmündete –, ein Rom gegen das andere eintauschend. So antiquiert sie in Architektur, Schrift, Kleidung gewesen sein mag, die Französische Revolution strebte 

 an, 

 die 

 antiken 

 Tugenden 

 und 

 politischen 

 Ideen 

 wieder 

 aufleben 

 zu 

 lassen, 

 anstatt 

 Jahrhunderte des Obskurantismus umzuwerfen, mit dem Ancien Régime durch einen Akt des radikalen Anachronismus zu brechen. Auch wenn die neoklassische Kultur des späten achtzehnten Jahrhunderts dem Historismus mit auf die Sprünge geholfen hat: In ihren radikalsten Manifestationen nutzte sie alte Formen, um zeitgenössische zu zerschlagen. Wenn die Revolution ein Reenactment der Antike war, dann war es eines, welches 

die 

Vergangenheit 

nutzte, 

um 

die 

Gegenwart 

zu 

verändern, 

und 

mündete 

in 

etwas 

noch 

nie 

 Dagewesenes. 

 Mehr 

 als 

 auf 

 diese 

 Weise 

 eine 

 vergangene 

 Epoche 

 wieder 

 aufleben 

 zu 

 lassen, 

 nutzte 

 der 

 Historismus 

 historische 

 Stile, 

 um 

 die 

 zeitgenössische 

 bürgerliche 

 Gesellschaft 

 zu 

 stabilisieren. 

 Während das revolutionäre Reenactment das Ancien Régime in einer Jetztzeit zerschlug, stützte das historistische Nachspielen von Epochen und Stilen den neuen Status quo, kleidete diesen in Formen eines unaufhörlichen Fortschreitens der Modernisierung ein, welche Kontinuität und eine logische Entwicklung suggerierten. Aber derweil Neo-Stile aufs Engste mit den historistischen Begriffen der Evolution und des Fortschritts verbunden waren, deuteten ein historistischer Stil in den Künsten und materiellen Kulturen eine mythische, zyklische Wiederkehr an. Schließlich wurde, wie Benjamin erörtert, nicht nur die Fortschrittsideologie selbst zunehmend ein unbefragter Mythos der Moderne, sondern das neunzehnte Jahrhundert brachte auch die Theorien ewiger Wiederkehr von Blanqui und Nietzsche hervor. Aus Benjamins Blickwinkel waren solche Theorien eine Wiederkehr des Mythos, die für eine Kultur ganz 

passend 

erschienen, 

die 

sich 

in 

eine 

Traumzeit 

der 

Gleichförmigkeit 

einwob, 

um 

die 

bürgerlichen 

 Besitzansprüche 

gegenüber 

der 

Geschichte 

durch 

das 

Nachspielen 

vergangener 

Stile 

zu 

zementieren.38 37 

 Walter 

 B enjamin, 

 » Über 

 d en 

 B egriff 

 d er 

 G eschichte 

 (1940)«, 

 in: 

 Walter 

 B enjamin, 

Gesammelte Schriften, Band I.2: Abhandlungen, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991, S. 701. 38 Benjamin, »Passagen-Werk«, S. 169–178.

134

An Arena in Which to Reenact

Moderne 

Theoretiker 

haben 

betont, 

dass 

in 

traditionellen 

Gesellschaften 

mythische 

Ereignisse 

laufend 

 in Ritualen vergegenwärtigt werden; Zeit wird damit zyklisch statt linear gedacht. Die moderne Wiederkehr des Mythos bezieht sich dahingegen mehr auf historische als auf ›zeitlose‹ mythische Ereignissen. Wiederholung wird so eher zu einer Wiederholung eines ›Originals‹ als zu einer von vielen möglichen Aktualisierungen eines Mythos; hierbei handelt es sich um die mutierte Wiederkehr einer zyklischen Zeit unter modernen, industriellen Bedingungen. Der geschichtliche Abschnitt, der dabei kopiert wird, ist vielleicht schon zu sehr besetzt mit gegenwärtigen Fantasien und Projektionen, um den aktuellen Status 

quo 

zu 

durchbrechen. 

Bei 

aller 

Genauigkeit, 

die 

eine 

historisierende 

Wiederholung 

besitzen 

mag, 

 reproduziert 

sie 

oft 

doch 

die 

konservativsten 

Züge 

einer 

festgefahrenen 

Gegenwart. Wiewohl Benjamin Nietzsches Theorie der ewigen Wiederkehr als ideologischen Ausdruck des bürgerlichen Historismus gelesen hat, hat Nietzsche selbst den Historismus seiner Zeit dafür kritisiert, das 

 Leben 

 mit 

 antiquierter 

 Bildung 

 zu 

 lähmen. 

 Gilles 

 Deleuze 

 hat 

 argumentiert, 

 dass 

 Nietzsches 

 Begriff der ewigen Wiederkehr in Wahrheit gegen die zyklische Reproduktion von Archetypen oder Originalen ziele. In Deleuzes Auffassung beabsichtigte Nietzsche mythische Wiederholung samt ihrer modernen Äquivalente durch eine Form der Wiederholung zu ersetzen, die Differenzen produziert statt irgendwelche Vorlagen zu kopieren. »But is not repetition capable of breaking out of its own cycle and of ›leaping‹ beyond good and evil? It is repetition which ruins and degrades us, but it is repetition which can save us and allow us to escape from the other repetition … To the eternal return as reproduction of something always already-accomplished, is opposed the eternal return as resurrection, a new gift of the new, of the possible.«39 Wenngleich in Benjamins Augen Nietzsches ewige Wiederkehr eher eine ›schlechte‹ als eine ›gute‹ Wiederholung war, theoretisierte auch Benjamin über eine Form der Wiederholung, welche sich weigert, in archäologisch korrekter Wiederholung des Vergangenen stecken zu bleiben. Nachdem das Bürgertum Macht erlangt hatte, bemühte es sich, die revolutionären Kräfte zu kontrollieren, die es selbst freigesetzt hatte; auf kultureller Ebene manifestierte sich dies in der schlechten Wiederholung einer historistischen Kunst, welche die bürgerliche Ideologie naturalisierte und eher dazu geeignet war, 

 das 

 Publikum 

 ruhig 

 zu 

 stellen, 

 als 

 es 

 zu 

 aktivieren. 

 Im 

 Gegensatz 

 dazu 

 hatte 

 das 

 Bürgertum 

 während der Französischen Revolution, als es noch selbst eine revolutionäre Klasse war, die römische Vergangenheit in der revolutionären Wiederholung der Jetztzeit reaktiviert – eine Explosion, welche den 

Zirkel 

der 

›sich 

wiederholenden 

Wiederholung‹ 

aufgebrochen 

hatte. 

Gewiss, 

die 

Unterscheidung 

 39 

 Gilles 

 Deleuze, 

 Cinema I: The Movement-Image, übersetzt von Hugh Tomlinson and Barbara Habberham, Minneapolis 1991, S. 191. Zu Deleuzes Lektüre von Nietzsches ewiger Wiederkehr siehe Logique du sens, Paris 1968, S. 121.

Sven Lütticken

135

zwischen einer revolutionären Jetztzeit und einem konservativem Historismus ist eine Vereinfachung, wenngleich eine nützliche. Man könnte auch argumentieren, dass das Viktorianische England und das Zweite 

Kaiserreich 

von 

Louis 

Napoleon 

ihre 

eigene 

imperiale 

Jetztzeit 

besaßen, 

die 

eine 

Identifikation 

 mit dem späten Römischen Reich mit einer qualvollen Leidenschaft, die in Napoleons ›erstem‹ Empire, welches niemals vollständig die Dynamik der Jetztzeit der Revolution aufgegeben hatte, noch weitgehend fehlte. Filme wie Gladiator oder Angriff der Klonkrieger mit ihren römischen Referenzen suggerieren, dass ebenfalls das derzeitige US-amerikanische Herrschaftssystem von seiner eigenen Kulturindustrie als eher problematische Wiederkehr des römischen Imperiums betrachtet wird. Die Verwendung von historischen Elementen vergangener Epochen in der zeitgenössischen Kultur wird häufig 

als 

ein 

triviales 

Recycling 

nostalgischer 

Symbole 

bewertet 

und 

wird 

kontrastiert 

mit 

dem 

historischen Bewusstsein des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Dennoch: Wenn wir auf die Produktionen von Steven Spielberg schauen, steht die Popcorn-Nostalgie der Indiana Jones-Filme neben Filmen wie Schindlers Liste (1993) und Saving Privat Ryan (1998), die deutlich beanspruchen, ernsthafte Historiendramen zu sein. Man kann allerdings dagegenhalten, dass sie nicht weniger phantasmatisch sind als die Indianer Jones-Abenteuer, und in diesem Punkt ähneln sie dem Historismus des neunzehnten 

 Jahrhunderts: 

 Historische 

 Details 

 verstärken 

 den 

 ideologischen 

 Einfluss 

 auf 

 die 

 Darstellung 

 des 

 Zweiten Weltkriegs und den Holocaust. Etwas Ähnliches ist der Fall mit den Living-History-Museen wie in Plimoth Plantation oder Colonial Williamsburg, in denen die utopischen Ursprünge der USA nachgespielt werden. Einerseits durchdringt diese historistischen Environments/Happenings eine seltsam konservative Jetztzeit – die ersten Nordamerika besiedelnden Pilgerväter und der (vor-)revolutionäre Zeitraum werden als hochrelevant für die zeitgenössische Situation angesehen –, andererseits werden die fraglichen historischen Phasen in eine große Narration über Amerikas Bestimmung eingebunden; die frühen puritanischen Siedler und die vor-revolutionären und revolutionären Phasen scheinen dazu verurteilt zu sein, eine ideologische Rechtfertigung des zeitgenössischen US-amerikanischen Imperiums zu 

werden. 

Es 

ist 

aufschlussreich, 

dass 

die 

Metapher 

der 

Zeitreise 

häufig 

auf 

solche 

Attraktionen 

angewandt wird: Man reist in die Vergangenheit wie ein historischer Tourist, um mehr oder weniger unverändert 

in 

die 

Gegenwart 

zurückzukehren. 

Das 

theatrale 

Äquivalent 

einer 

Zeitmaschine 

ermöglicht 

einem, 

 eine entfernte Epoche ohne irgendwelche zeitliche Verwirrung zu erleben, ohne irgendein Risiko, dass die 

Vergangenheit 

die 

Gegenwart 

zerreißen 

könnte. 

Wie 

in 

der 

historistischen 

Kultur 

des 

neunzehnten 

 Jahrhunderts wird hier eine teleologische Erzählung auf eine potentiell verstörende Jetztzeit aufgepfropft, um so ein abgemildertes, pittoreskes Reenactment der Vergangenheit zu schaffen, das tatsächlich wie eine Wiederkehr des Mythos erscheinen mag. Wenn Williamsburg kontinuierlich den Vorabend der Amerikanischen Revolution nachspielt, dann tut es das in einer Art und Weise, die sie konserviert und 

einfriert 

– 

um 

die 

Revolution 

in 

einen 

stabilisierenden 

Faktor 

für 

die 

Gegenwart 

zu 

verwandeln.

136

An Arena in Which to Reenact

The revolution will be reenacted Etwas Ähnliches kann zum Beispiel von napoleonischen Reenactments in Europa gesagt werden. In gewissem Sinne handelt es sich dabei um ein Reenactment des Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts selbst, insofern der Aufstieg des Nationalismus in den europäischen Ländern ganz außerordentlich von den napoleonischen Kriegen angefacht worden war. Als europäische Ereignisse können 

diese 

Kriege 

allerdings 

ebenso 

als 

eine 

Art 

von 

Gründungsmythos 

für 

ein 

vereinigtes 

Europa 

 betrachtet werden, solange sie auf beruhigende Weise die malerischen Eigenschaften derjenigen Nationen zur Schau stellen, die Europa bilden. Der Amerikanische Bürgerkrieg ist ein potentiell viel verstörenderes 

 Ereignis: 

 Sein 

 Reenactment 

 scheint 

 eine 

 stärkere 

 Bedeutung 

 für 

 die 

 Gegenwart 

 zu 

 haben als das napoleonische Reenactment. In der stark selektiven und idealisierten Fassung der Geschichte 

in 

den 

amerikanischen 

Festzügen 

des 

frühen 

zwanzigsten 

Jahrhunderts 

wurde 

der 

Untergang der indianischen Zivilisation nach der Ankunft der weißen Siedler gewöhnlich als eine historische Notwendigkeit präsentiert und der revolutionäre Krieg romantisch verklärt. Der noch nicht so weit zurückliegende und stärker traumatisierende Bürgerkrieg wurde nur indirekt dargestellt: in Form von Soldaten, die zum Schlachtfeld ausziehen oder zurückkehren, nachdem der Kampf vorüber ist. 

Während 

die 

Historienzüge 

Gemeinschaft 

und 

Kontinuität 

betonten, 

befassen 

sich 

heutige 

historische Reenactments hauptsächlich mit dem einfachen Soldaten und seiner Kriegserfahrung, und in diesem Zusammenhang wird der Bürgerkrieg zum Krieg par excellence: Die Tatsache, dass sich Amerikaner mit Amerikanern bekämpften, steigert seine Tragik. Nicht dass beide Seiten gleichermaßen attraktiv wären: In einem Klima des Misstrauens gegenüber der zentralen Regierung und der herrschenden Elite werden die Konföderierten idealisiert als tragische und edle Widerstandkämpfer. Während 

der 

 normale 

 weiße 

 Mann 

 als 

 das 

heroische 

Opfer 

der 

Geschichte 

dargestellt 

wird, 

werden 

 Frauen 

und 

Afro-Amerikaner 

mitunter 

aus 

Gründen 

der 

historischen 

Authentizität 

von 

der 

Teilnahme 

 abgehalten 

– 

und 

hinter 

solchen 

Argumenten 

verstecken 

wohl 

auch 

tiefere 

und 

unschöne 

Gründe. 

 Bei manchen Reenactors des Zweiten Weltkrieges scheint es eine befremdliche Faszination dafür zu geben, die Haltung von SS-Herrenmenschen anzunehmen. Währenddessen wird, am anderen Ende des Spektrums, in einer großen Filmproduktion wie Der Untergang (2004) ein erstaunliches Maß an Empathie 

mit 

Hitler 

gezeigt, 

dessen 

letzte 

Tage 

im 

Bunker 

von 

Bruno 

Ganz 

als 

eine 

allzu 

menschliche 

 Tragödie nachgespielt werden. In manchen Fällen gab es Anregungen für Reenactments, die sich gegen konservative und reaktionäre Tendenzen in Reenactments zur Wehr setzten. Während des amerikanischen Festzugswahns organisierten die Industriearbeiter einen Historienfestzug über die Paterson Streiks auf dem Madison Square 

Garden, 

auf 

dem 

streikende 

Arbeiter, 

die 

ihre 

Streikpostenkette 

nachspielten, 

ausgehend 

von 



Sven Lütticken

137

den Paterson-Mühlen bis hin zu den gewaltsamen Konfrontationen mit den Agenten der Firma, von John Reed angeführt wurden.40 

 Dies 

 war 

 die 

 Glanzzeit 

 der 

 Gewerkschaftsbewegung. 

 Andererseits 

 kehrte vor Kurzem der Künstler Jeremy Deller mit The Battle of Orgreave (2001) zu einem Moment zurück, 

 der 

 den 

 Niedergang 

 der 

 Arbeiterorganisationen 

 in 

 Thatchers 

 Großbritannien 

 symbolisiert: 

 Es 

handelt 

sich 

um 

ein 

Reenactment 

der 

polizeilichen 

Gewaltausbrüche, 

die 

streikenden 

Bergleuten 

 entgegenschlugen. 

Wenn 

normale 

historische 

Reenactments 

Geschichte 

als 

eine 

Serie 

von 

Kriegen 

 und Schlachten präsentieren, dann hat Deller eine andere Art von Schlacht zum Repertoire hinzugefügt. Das Ereignis zog ein Buch und einen Film von Mike Figgis nach sich – wieder einmal erscheint das Reenactment trotz allem dazu vorbestimmt, Film zu werden. Während Deller sein Ereignis mit institutioneller Unterstützung als Kunstprojekt inszenierte, schlägt die Website der London Riot Reenactment Society anarchistisch vor, historische Krawalle in London nachzustellen: »… there are inherent 

difficulties 

in 

asking, 

or 

even 

informing, 

the 

relevant 

bodies 

of 

our 

plans. 

For 

example, 

if 

 we 

asked 

the 

Corporation 

of 

London 

if 

we 

could 

use 

the 

City 

for 

a 

week 

or 

so 

to 

re-enact 

the 

Gordon 

 riot they might charge us some considerable sum of money, which we don’t have, and there is really not much point in writing to Mercedes Benz about using their showroom as part of a June 18 reenactment, or to the monarch about our desire to sack the Tower dressed as Wat Tyler’s army. It may be best to just go ahead and re-enact. Hopefully no one will mind.« 41 Derartige (Vorschläge für) alternative Reenactments verblassen im Vergleich mit der Französischen Revolution als einem Reenactment des antiken Roms im Modus der revolutionären Jetztzeit. Allerdings wurde die Französische Revolution wiederum nicht nur in zahllosen Nachspielen des Sturms auf die Bastille wiederholt, sondern auch in Form der Russischen Revolution, die sich in einer JetztzeitBeziehung zum französischen Vorbild sah. Doch die junge Sowjetunion führte auch Reenactments in einem engeren Sinne des Wortes auf. Der Sturm auf das Winterpalais, ein ausschlaggebendes Ereignis 

 während 

 der 

 Revolution, 

 wurde 

 später 

 mehrfach 

 zu 

 Gedenkzwecken 

 nachgespielt 

 – 

 zum 

 ersten 

 Mal im Jahr 1920, drei Jahre nach dem Ereignis. Slavoj Zizek hat die Bedeutung dieses Reenactments wie folgt beschrieben: »On 7 November 1920, on the third anniversary of the October Revolution, a re-enactment of the Storming of the Winter Palace was performed in Petrograd. Tens of thousands of workers, soldiers, students and artists had worked round the clock, living on kasha (tasteless porridge), tea and frozen apples, to prepare the performance, which took place just where the original event 

 had 

 occurred. 

 Their 

 work 

 was 

 coordinated 

 by 

 army 

 officers, 

 as 

 well 

 as 

 avant-garde 

 artists, 

 musicians and directors, form Malevich to Meyerhold. Although this was theatre and not ›reality‹, the soldiers and sailors who took part played themselves. Many of them had not only participated in 40 

 Glassberg, 

American Historical Pagentry, S. 128. 41 ›London Riot Re-enactment Society‹, http://c8.com/anathematician/lrrs.htm (Stand: Oktober 2004).

An Arena in Which to Reenact

138

1917, 

but 

were, 

at 

the 

time 

of 

the 

performance, 

fighting 

in 

the 

civil 

war 

– 

Petrograd 

was 

under 

siege 

 in 1920 and suffering from severe food shortages. A contemporary commented: ›The future historian will record how, throughout one of the bloodiest and most brutal revolutions, all of Russia was acting;‹ the Formalist theoretician Viktor Shklovsky noted that ›some kind of elemental process is taking place where the living fabric of life is being transformed into the theatrical.‹ Such performances – particularly in comparison with Stalin’s celebratory Mayday parades – are evidence that the October Revolution was not a simple coup d’état carried out by a small group of Bolsheviks, but an event that unleashed a tremendous emancipatory potential.«42 Wie immer man zu Zizeks revolutionärem Reenactment-Pathos stehen mag: Es steht außer Zweifel, dass derartige Reenactments den Versuch unternahmen, das Volk für eine Art von partizipatorischem Massentheater 

 in 

 den 

 Dienst 

 zu 

 nehmen, 

das 

in 

größtmöglichem 

Gegensatz 

zu 

den 

Konsumspektakeln des Kapitalismus angelegt worden war. Das Programm des Reenactments strich heraus, dass künstlerische Freiheit gegenüber den historischen Details bestimmend sein durfte, was möglicherweise eine Kritik der westlichen Historienfestzüge implizierte: »The tone of the historical events that serve as the raw material for the making of this spectacle is here reduced to a series of artistically simplified 

 moments 

 and 

 stage 

 situations. 

 The 

 directors 

 of 

 the 

 current 

 spectacle 

 did 

 not 

 give 

 any 

 consideration to a precise reproduction of the events that took place in the square in front of the Winter Palace three years ago. They did not, and indeed could not, because theatre was never meant to serve as the minute-taker of history.«43 Dieses 

Reenactment 

sollte 

die 

Revolution 

befestigen, 

die 

Massen 

aktivieren 

und 

der 

Geschichte 

einen 

 weiteren fortschrittlichen Impuls geben. Abgesehen von 8.000 aktiven Teilnehmern, war dort ein Publikum von 100.000 – ein Viertel der Stadtbevölkerung. Ebenso wie der Historienfestzug mit dem Kino konkurrierte, wurde auch der Sturm auf das Winterpalais gleichermaßen in einem Live-Reenactment und für das Kino reinszeniert. Eisenstein ließ das Ereignis erneut für Oktober (1927) nachspielen. Die Revolution endet als Kino, aber dies war ein Film, der sich sehr von den Produktionen Hollywoods oder Babelsbergs unterschied: einer, der die Menschen an ihre Erfolge und ihre historische Mission erinnerte. Im Fall von Oktober waren zu viele der Teilnehmenden bereits im ursprünglichen Sturm auf das Winterpalais beteiligt gewesen. Später und in einem bescheideneren Maßstab wurde Dellers Battle of Orgreave ebenfalls zum Teil von Bergarbeitern ausgeführt, die schon am ursprünglichen 42 43

Slavoj Zizek, »Seize the Day. Lenin’s Legacy’«, in: London Review of Books 24, no. 14 (25 July 2002) at www.egs. edu/faculty/zizek/zizek-seize-the-day-lenins-legacy.html (Stand: Oktober 2004). Programm für das Reenactment von 1920, zitiert bei Richard Taylor, www.bfi.org.uk/bookvid/books/catalogue/ sample/text.php?bookid=349 (Stand: Oktober 2004).

Sven Lütticken

139

Ereignis beteiligt waren. 1976, 

als 

die 

Sowjetunion 

in 

Lethargie 

erstarrte 

und 

die 

Gegenreaktionen 

auf 

die 

Achtundsechzigerbewegungen 

im 

Westen 

Fahrt 

aufnahmen, 

nannte 

eine 

Gruppe 

von 

Kunstkritikern 

und 

-theoretikern 

 ihre neue Zeitschrift October, in einem symbolischen und akademischen Reenactment der Oktoberrevolution 

 und 

 ihres 

filmischen 

Reenactments 

durch 

Eisenstein: 

»We 

have 

named 

this 

journal 

in 

 celebration of that moment in our century when revolutionary practice, theoretical inquiry and artistic innovation were joined in a manner exemplary and unique.«44 Man kann diese Absichtserklärung als einen – geschriebenen – Sprechakt ansehen, der versucht, mit Sprache nicht so sehr etwas festzustellen, als eine Wirkung zu erzielen. Aber wie Judith Butler, (die ausführlich über die Performativität der Sprache geschrieben hat) bemerkt, gelingen nicht alle Sprechakte.45 Hat der von October Erfolg gehabt? Man kann schwerlich behaupten, dass das Magazin erneut zu einer exemplarischen Kombination aus »revolutionary practice, theoretical inquiry and artistic innovation« geführt habe. Wohl ist es October gelungen, einen Raum zu eröffnen für einen Diskurs, 

 der 

 in 

 unterschiedlichen 

 Graden 

 konstativ 

 oder 

 performativ 

 sein 

 mag. 

 Die 

 Erzeugung 

 eines 

 solchen Diskurses hat bereits selbst eine performative Qualität. Zyniker mögen behaupten, dass der Haupteffekt von October darin bestand, die Karriere seiner Herausgeber voranzutreiben, doch ebenso kann man sagen, dass diese Art von Erfolg ein Hinweis auf ein weithin empfundenes Bedürfnis nach einer solchen Praxis ist, die October vorgeschlagen, wenn auch nicht realisiert hat. Reenacting Contemporary Art Wie auch in anderen Zusammenhängen ist es in der Kunst selten klar, ob es sich (um Deleuzes Unterscheidung aufzugreifen) bei etwas nur um »die ewige Wiederkehr von etwas ohnehin schon anderswo Ausgeführtem« handelt oder ob »die ewige Wiederkehr als Wiederauferstehung« erreicht wird. Es ist unwahrscheinlich, dass ein künstlerisches Reenactment den Beweis dafür erbringen wird, »ein Ereignis« zu sein, »welches ein großes emanzipatives Potential entfesselt«, doch was die zeitgenössische Kunst tun kann, ist, die Modalitäten des Reenactments, seine Möglichkeiten und die Probleme, die ihm anhaften, zu erforschen. Die Appropriation Art der späten 1970er und 1980er ist hier von wesentlicher Bedeutung. Zur gleichen Zeit, als Sherrie Levine Werke von Walker Evans oder Edward Westen neu 

fotografierte, 

um 

eine 

infra-dünne 

Differenz 

aus 

der 

Gleichheit 

heraus 

zu 

erschaffen, 

betonte 

 Mike Bidlo den performativen Aspekt in seinen Aneignungen von Arbeiten von Pollock. Weit entfernt 44 45

Aus dem ersten October-Leitartikel, zitiert bei Roger L. Conover,»1–100: Some Particulars», in: October Nummer 100, Frühjahr 2002, S. 229. Judith Butler, Excitable Speech, S. 16.

140

An Arena in Which to Reenact

davon, nur Bilder zu malen, stellte Bidlo auch ein Remake von Hans Namuths Pollock Film her, und in der Installation/Performance Jack the Dripper at Peg’s Place (1982) ließ er einen Schauspieler (der später durch eine Puppe ersetzt wurde) ein wesentliches Element des Pollock-Mythos wiederholen: Die 

Arbeit 

zeigt 

den 

Künstler, 

wie 

er 

in 

den 

Kamin 

von 

Peggy 

Guggenheim 

pinkelt. 

Die 

Episode 

wird 

 auch 

in 

Ed 

Harris’ 

Spielfilm 

Pollock (2000) gezeigt, für welchen Bidlo als Berater fungierte; er brachte Harris Pollocks Maltechnik bei. Die beste Sequenz in Pollock ist dem Making-of von Hans Namuths Film gewidmet. Pollocks traumatische Erfahrung mit der Zurschaustellung seines Mal-Akts neu inszenierend, zeigt Harris genüsslich, wie Namuth Pollock tyrannisiert und herumscheucht. Vielleicht sind Warhols Piss Paintings mit ihrer queeren Aneignung des mythischen Pollock und seines Machogehabes das ultimative Pollock-Reenactment. Sprache kann die Form von performativen Sprechakten annehmen, und Warhol sah Pollocks scheinbar sprachlose Akte als diskursive Bewegungen, deren Folgen kaum überschaubar sind. Sie sind somit keine zu kopierenden ›Originale‹, sondern unabgeschlossene Handlungen, die immer wieder neu artikuliert oder manipuliert werden können. Militärische Reenactments und Living-History-Museen verbinden gewöhnlich eine extreme Buchstäblichkeit mit pragmatischen Konzessionen. Die erfolgreichsten künstlerischen Reenactments oder 

Betrachtungen 

über 

das 

Reenactment 

erschüttern 

dieses 

Gleichgewicht, 

stören 

die 

klischeehafte Versammlung von Detail und Delirium, die ebenso typisch ist für den zeitgenössischen Historismus, wie sie es für frühere Formen gewesen ist. Während einige Reenactments in der zeitgenössischen Kunst die Form von sehr freien Variationen annehmen, folgen andere der Appropriation Art in dem Versuch, Differenz aus einer extrem buchstäblichen Wiederholung zu entwickeln; offenkundig schlechte, sklavische Wiederholung wird ins Extrem getrieben, um zu zeigen, wie die De- und Rekontextualisierung eines anscheinend unveränderten Bildes in der Lage ist, eine tiefgründige Veränderung 

herbeizuführen. 

Ausdrückliche 

Reflexion 

auf 

das 

Reenactment 

und 

seine 

Komplexitäten und Widersprüche ist ebenso ein wichtiges Element der künstlerischen Reenactments in der Kunst. Pierre Huyghe zum Beispiel bot in seiner Video-Installation The Third Memory (2000) dem Bankräuber 

 John 

 Wojtowicz 

 die 

 Gelegenheit, 

 seine 

 eigenen 

 Taten 

 nachzuspielen. 

 Er 

 lud 

 ihn 

 ein, 

 den 

Raubüberfall 

in 

einem 

Filmstudio 

nachzuspielen, 

sodass 

er 

seine 

Geschichte 

zurückgewinnen 

 könnte, die in der Hollywoodversion der Ereignisse in Dog Day Afternoon von Al Pacino gespielt worden war. Die Buchstäblichkeit, mit der Wojtowicz zeigte, was passiert war, wurde zu einem Akt der Befreiung vom Filmbild. Dennoch wirkte der alte Mann im abstrakten Studioset derart unwirklich, als wäre sein Reenactment ein Traum – ein Traum, der zum Teil von ihm selbst, zum Teil von Hollywood erschaffen worden war.

Sven Lütticken

141

Doch welche Rolle kann künstlerisches Reenactment in einer Welt spielen, die zunehmend geformt wird 

von 

Neokonservativen 

und 

religiösen 

Fundamentalisten, 

die 

der 

Gesellschaft 

und 

Kultur 

eine 

 trostlose Jetztzeit aufzwingen. Islamisten versuchen einen phantasmatischen ›reinen‹ Islam wieder aufzuführen, der weitgehend eine moderne Ideologie ist, und ungeachtet ihrer scheinbaren Abneigung gegenüber Bildern benutzen sie moderne Medien und spektakuläre Effekte – mit dem 11. September als einem extremen Beispiel. Die Taliban waren ebenfalls große anti-theatralische Darsteller, welche den primitiven Themenpark, in welchen sie Afghanistan verwandelt hatten, mit fürchterlichem Effekt einsetzten. Auf der anderen Seite versuchen westliche Neokonservative auf weniger gewaltsamem Wege, aber ebenfalls durch Einbeziehung aktueller Technologie, die Zeit vor den 1960er wieder herzustellen. Manche möchten weiter als in die fünfziger Jahre zurückgehen, bis in die Zeit vor der Französischen Revolution. Zeitgenössische Philosophie und Politik werden zum pathetischen Edmund-Burke-Reenactment.46 

Die 

Situation 

ist 

komplex: 

George 

W. 

Bushs 

berüchtigter 

– 

und 

 hastig 

 zurückgezogener 

 – 

 Gebrauch 

 des 

 Begriffs 

 Kreuzzug 

 gab 

 uns 

 einen 

 Eindruck 

 von 

 demjenigen 

 Programm der christlichen Fundamentalisten in den USA, die nur zu bereitwillig zu den Tagen der Pilgerväter oder eben in die Zeiten der Kreuzzüge zurückkehren würden. Außerhalb des Lagers der christlichen Fundamentalisten wären die meisten westlichen Neokonservativen wohl mit einer irgendwie neo-viktorianischen Moderne, mit der Wiederherstellung eines verlorenen Status quo zufrieden. ›Konservative Revolutionen‹ sind Restaurationen, auch wenn sie Strategien der Studentenbewegung und der alten neuen Linken kapern und sich zur konservativ-subversiven 

Aktion 

hochstilisieren. 

Wenn 

es 

gilt, 

die 

Gegenwart 

zu 

verändern, 

dann 

nicht 

um 

etwas 

noch 

 nie Dagewesenes zu erschaffen, sondern um Altes wiederherzustellen, um ein konservatives Modell von ewiger Ordnung und ›natürlicher‹ Ungleichheit zu kopieren. Der performative Imperativ des Kapitalismus 

wird 

häufig 

vorausgesetzt, 

doch 

das 

ständige 

Happening 

muss 

jetzt 

nach 

traditionelleren 

 Vorbildern organisiert werden; die Exzesse der zeitgenössischen Selbstdarstellung – vor allem in den Freizeitaktivitäten und den Medien – müssen gezügelt werden. Der performative Imperativ ist nur dann hinnehmbar, wenn wir uns die Pilgerväter oder die 50er Jahre zum Vorbild nehmen. Die Linke scheint die Initiative völlig aus den Händen gegeben zu haben, und künstlerische Handlungen – oder theoretische Sprechakte – können kein Ersatz für fehlende politische Macht sein. Doch 

 auch 

 Raum 

 für 

 Reflexionen 

 wird 

 dringend 

 benötigt, 

 und 

 bis 

 zu 

 einem 

 gewissen 

 Grad 

 kann 

 46 

 Hiermit 

 sind 

 englische 

 Konservative 

 bzw. 

 Reaktionäre 

 wie 

 Roger 

 Scruton 

 und 

 ihre 

 niederländischen 

 Gesinnungsgenossen aus dem Kreis der Edmund Burke Stichting gemeint. In Deutschland bezieht sich die Reaktion größtenteils auf andere, spezifische deutsche Vorbilder.

142

An Arena in Which to Reenact

die Kunstwelt diesen anbieten. Kunst kann – gewissermaßen unter Laborbedingungen – Formen der Wiederholung untersuchen und erproben. Handelt es sich um Wiederholungen, die in der Lage sind, 

 festgefahrene 

 Geschichte 

 aufzusprengen? 

 Haben 

 sie 

 eine 

 historistische 

 Rückkehr 

 vergangener 

 Epochen zum Ziel? Kunst kann historische Augenblicke oder Zeitalter als Potentiale erforschen, die darauf warten, reaktiviert zu werden – in Formen, die nichts ähneln müssen. Wenn auch von einer marginalen Position aus, kann die Kunst mitten im performativen Spektakel kleine, 

aber 

signifikante 

Unterschiede 

in 

Szene 

setzen. 

Von 

dieser 

Seite 

aus 

betrachtet, 

mögen 

auch 

 das ›real existierende‹ historische Reenactment und die Living History ein zu aktivierendes Potential beherbergen. Es ist offensichtlich, dass sie auf verhängnisvolle Weise mit dem heutigen konservativen Klima verwickelt sind – als spielerischer Zeitvertreib tragen sie bei zur Rechtfertigung des Stands der Dinge. Dennoch: Alles ist offen für Aneignung und auch das populäre historische Reenactment kann 

 Anstöße 

 geben, 

 über 

 seine 

 eigenen 

 Grenzen 

 hinauszugehen. 

 Es 

 kann 

 zu 

 künstlerischen 

 Handlungen führen, die, auch wenn sie nicht sofort ein ›enormes emanzipatives Potential‹ entfesseln, einen Raum erzeugen – eine Bühne für mögliche und unmögliche Vorführungen. Übersetzung aus dem Englischen von Céline Kaiser

Filmstill aus »Der Fall des Schneiders«

Über Bühnenund Gesellschaftsspiel. Auf den Spuren Diderots Heiner Wilharm

Heiner Wilharm

145

Denkt man an die Marionettenbühne, bei der die Schauspieler der gewöhnlichen Bühne gleichsam in zwei Figuren zerlegt werden, die handelnden Charaktere und die lenkende Kraft, scheint die Frage, wer das Sagen auf der Bühne hat, entschieden – offenbar wer die Fäden zieht. Das ist einsichtig, wenn man an das Marionettentheater denkt. Davon abgesehen, handelt es sich um ein Bild. Das Bild ermöglicht, 

 die 

 Informiertheit 

 der 

 Szene 

 durch 

 die 

 Szenografie 

 vorzustellen. 

 Genaueres 

 Hinsehen 

 allerdings lässt erkennen, dass die Metapher nicht trägt. Jedenfalls lässt der Bühnenauftritt des professionellen Schauspielers jedes Anzeichen von Lenkung vermissen. Was er zur Darstellung bringt, ist nichts als das instantan Vorgeführte. Einerseits. Andererseits weiß jeder Zuschauer, dass der Schauspieler in der Regel einer Darstellung folgt, die darzustellen er übernommen hat. Doch scheint es eine geheime Absprache zwischen Bühne und Publikum zu geben, diesen Umstand zu ignorieren. Die Szenografie 

wird 

von 

beiden 

Seiten 

dissimuliert. 

Alle 

Darstellung 

soll 

in 

der 

Präsentation 

erscheinen. 

 Offensichtlich oszilliert der Begriff »Darstellung« zwischen Performanz und Projektion einerseits, Performanz und Repräsentation andererseits. Der Bruch scheint auf den ersten Blick kaum heilbar. ›Performanz der Repräsentation‹ jedenfalls böte argumentativ kaum eine akzeptable Entfaltung von ›Darstellung‹. Wäre nicht zurecht eine contradictio in adjecto zu vermuten? Es fragt sich, ob die Vorstellung einer gedoppelten Perspektivität helfen könnte, das Paradox aufzulösen, oder ob diese Figur lediglich eine Variation des Paradoxes beinhaltete. Die Frage wäre auch, aus welcher Richtung betrachtet die Relation vorteilhafterweise untersucht werden sollte. Denn Bühne und Schauspieler, das Bühnenspiel für sich genommen, müssten schließlich niemandem paradox erscheinen. Einiges spricht 

dafür, 

die 

Perspektive 

der 

Darstellung 

als 

szenografische 

Perspektive 

der 

Konzeptualisierung 

 und 

 des 

 szenischen 

 Entwurfs 

 in 

 Anschlag 

 zu 

 bringen. 

 Die 

 doppelte 

 Perspektive 

 der 

 Szenografie 

 bestünde 

dann 

darin, 

zugleich 

auch 

als 

Repräsentation 

fungieren 

zu 

können. 

›Szenografie‹ 

beinhaltete 

 beides, eine projektive Darstellung für die Bühne und eine repräsentative Darstellung hinsichtlich ihrer stellvertretenden Formatierung. Die Einschränkung wäre zumindest angebracht, wenn solche Szenografie 

in 

manifester 

Gestalt 

vorläge 

und 

derart 

eine 

entsprechende 

Notation 

fände. 

Auf 

welche 

 Weise 

die 

Szenografie 

diese 

zunächst 

widersprüchlich 

anmutenden 

Momente 

vermitteln 

– 

oder 

vielleicht nicht vermitteln, sondern nur realisieren – könnte, müsste genauer eruiert werden. Ein nicht bühnenorientiertes Darstellungsformat jedenfalls fordert gewöhnlich, dass aus den arrangierten Zeichen gewisse Schlüsse auf das, was sie bezeichnen, gezogen werden. Was bezeichnet, ist nicht das Gleiche 

wie 

das 

Bezeichnete. 

Angelegt 

für 

die 

Bühne 

indes 

sieht 

es 

so 

aus, 

als 

wären 

die 

Zeichen 

der 

 Darstellung hauptsächlich dafür gut, vorgezeigt zu werden. Wir wollen uns im Folgenden mit den Überlegungen Diderots vertraut machen, der sich mit dem Problem beschäftigt hat – einem Problem offenbar, das zu tun hat mit der Unterscheidung von Bühnen- 

und 

Gesellschaftsspiel, 

mit 

zweierlei 

Inszenierung.

Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel

146

1 In seiner erst 1830 veröffentlichten Schrift Paradoxe sur le comédien weist Diderot auf die gänzliche Unähnlichkeit von Darstellungslogik und Zeichenwirkung qua Bedeutung im Rahmen der hier diskutierten Bühnenperformanz hin.1 Für die korrespondierende Darstellung läge die Sache danach so: Wenn sie tut, was sie tun soll, muss sie lancieren, dass sie verstanden wird, wie sie sich zeigt. Ihr repräsentativer Charakter wäre konsequenterweise parallel zu fassen. Allein wie die Darstellung sich zeigt, macht aus, was sie repräsentiert. Letzteres ist intuitiv weniger eingängig; auf jeden Fall dürfte man eine Repräsentationskritik vermuten. Diderot expliziert sein Verständnis an der ›Szene‹ des Schauspielers. Wenn der 

Schauspieler 

Gefühlen 

Ausdruck 

verleiht, 

ist 

er 

nicht 

emotional 

bewegt. 

Wenn 

er 

Leidenschaften 

 zeigt, 

darf 

er 

nicht 

auch 

so 

empfinden. 

Weder 

ist 

davon 

auszugehen, 

dass 

er 

ängstlich 

ist, 

wenn 

er 

sich 

 ängstlich gibt, noch hoffnungsfroh, wenn er behauptet, es zu sein. Schauspieler spielen, so Diderot, »beinahe wie Automaten«. Ihre Darstellung funktioniert wie ein technischer Effekt.2 Moralisch ist diese Feststellung irrelevant; es geht nicht darum, dass jemand der Unmenschlichkeit bezichtigt würde. Was interessiert, ist eine Analyse des Funktionskontextes ›Darstellung‹. Im 

Blick 

auf 

ein 

textliches 

Repräsentationsgefüge 

oder 

eine 

als 

Ding, 

Objekt 

oder 

Gegenstand 

isolierbare diagrammatische Darstellung3 würde es nicht in Erstaunen setzen, wenn die technische Seite ihrer Wirksamkeit in den Fokus geriete. Ebenso würde nicht verwundern, dass solche Schein produzierenden Maschinen das, was sie ausstoßen, zu Bedeutungen verdichten. Dass derartige Bedeutungen mit dem Mechanismus der Maschine oder des Artefakts, der dafür sorgt, dass die benötigten Zeichen zur Erscheinung gebracht werden, nicht zu verwechseln sind, liegt auf der Hand. Die Produktivkräfte der 

Darstellung 

müssen 

nicht 

unter 

dem 

Aspekt 

ihres 

Vermögens, 

(begriffliche) 

Bedeutungszuweisungen zu ermöglichen, bemessen werden. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass die auf der Bühne 

agierenden 

Charaktere 

trotz 

ihrer 

Rollenverwicklung 

funktional 

identifiziert 

werden. 

In 

diesem 

 Sinne würden sie als ›Produktionsinstrument‹ mit einem bestimmten Funktionsumfang betrachtet. In 

vergleichbarer 

Weise 

wären 

beispielsweise 

›Text-‹ 

oder 

›Diagramm-Maschinen‹ 

zu 

identifizieren. 

So 

 wie 

Text, 

Entwurf 

oder 

Modellierung, 

szenografisch 

gesehen 

und 

in 

die 

Differenz 

zu 

ihren 

möglichen 

 ›Szenifikationen‹ 

 gesetzt, 

 für 

 sich 

 genommen 

 hier 

 und 

 dort 

 jeweils 

 als 

 etwas 

 Eigenes 

 erscheinen, 

 performativ jedoch als eben dieses eine Andere, so gehört der Schauspieler offenbar sowohl zur entwerfenden 

als 

auch 

zur 

lebenden 

Szenografie, 

zur 

Szenografie 

des 

Konzepts 

wie 

der 

des 

Spiels. 

 1 2 3

Denis Diderot, Paradoxe sur le comédien/Paradox über den Schauspieler (1773), erstpubliziert 1830, in: Denis Diderot, Ästhetische Schriften. Zweiter Band, hg. von Friedrich Bassenge, Frankfurt am Main 1968. Denis Diderot, Paradox über den Schauspieler, S. 496. »Diagrammatische Darstellung« als allgemeine Form ikonischer Darstellung im Sinne des disegno, der ”zeichnenden Hand“.

Heiner Wilharm

147

Diderots Einlassungen relativieren die gewöhnliche Perspektive der Darstellung und erhellen das szenografische 

Verständnis 

des 

homme 

de 

lettres. 

Diderot 

spricht 

dabei 

allerdings 

von 

den 

szenografischen 

Leistungen 

unter 

den 

Bedingungen 

der 

theatralen 

Bühne 

der 

Kunst. 

In 

dieser 

Perspektive 

 erhellt 

 die 

 Szenografie 

 als 

 darstellende 

 Darstellung 

 deren 

 Repräsentationen, 

 wenn 

 sie 

 zeigen 

 und 

 zum 

Ausdruck 

bringen, 

was 

sie 

repräsentieren, 

diejenige 

Szenifikation 

hervorbringen, 

die 

der 

Darstellung für die Dauer einer Szene wirkliches Leben einhauchet. Dabei geht es nicht um das Allgemeine eines Sinngehalts, sondern einen bestimmten Augenblick, die Darstellung etwas bedeuten zu lassen. Zugleich erhellt, dass diejenige Darstellung, die den Schein oder die Beleuchtung ihrer Bedeutung nicht 

 auf 

 diese 

 Weise 

 erfährt, 

 die 

 Darstellung 

 vielmehr 

 als 

 das 

 Ganze 

 ihrer 

 Funktion 

 darzustellen 

 in 

 Stellung zu bringen trachtet, dass eine solche Darstellung die Performanz eines konkreten Bedeutenlassens nur vortäuscht, damit gleichsam einen Schatten über den Schein legt. Eine solche Darstellung gibt nicht frei, was sie im Augenblick beabsichtigt, sondern zeigt nur, wie, als welche Art Artefakt oder Maschine, sie arbeitet. Sie demonstriert, was sie kann – jederzeit Macht ausüben –, nicht was sie soll – lebendigen Sinn erzeugen –, so wie wenn ein Schauspieler immer nur darauf aus wäre, zu demonstrieren, was alles er kraft seiner Kunst vermag, ganz unabhängig von Anlass und Stück. Als Künstler wäre er nicht zu gebrauchen. Vom wirklichen Schauspieler werden andere Qualitäten erwartet. 

Wer 

nur 

sich 

selbst 

zu 

spielen 

vermag, 

ruiniert 

jede 

Geschichte. 

Der 

wahre 

Künstler 

hingegen 

 weiß von allen sein Tun betreffenden Zeichen. Er weiß, wofür sie Zeichen sind und welchem Sinn sie damit zu einem vorübergehend festgehaltenen Ausdruck verhelfen können. So 

zu 

verstehen 

heißt 

zugleich, 

zur 

wahren 

Gestalt 

zu 

bringen. 

»Wahr« 

wiederum 

ist 

für 

Diderot 

kein 

 Prädikat, das qualitätslose Bedeutungsfülle indiziert, sondern ein situativ Passendes anzeigt; passend gemäß dem, wozu ein die Zeichen nötigender ›Sachverhalt‹ anhält. Das heißt, dass die Darstellung 

um 

Vermittlung 

bemüht 

ist. 

Genauer 

gesagt, 

steht 

der 

Schauspieler 

für 

den 

turn 

der 

Vermittlung 

 zu 

 ihrer 

 eigenen 

 Vermitteltheit, 

 zu 

 ihrer 

 Auflösung. 

 Da 

 es 

 sich 

 indes 

 um 

 diejenige 

 Drehung 

 handelt, 

 in 

der 

sich 

der 

Schauspieler 

tatsächlich 

seelisch 

wie 

körperlich 

von 

der 

wissenden 

Szenografie 

auf 

 die 

lebendige 

Szene 

umstellt, 

fällt 

die 

Auflösung 

nicht 

als 

Identitätsschluss 

nach 

dialektischer 

Art 

 aus. Der Schauspieler leistet, was ein Medium oder Zeichen leistet, ohne schon auf dem Stand einer 

 begrifflich 

 logischen 

 Schlussfolgerung 

 zu 

 agieren. 

 Auf 

 diese 

 Art 

 findet 

 die 

 Repräsentation 

 zu 

 ihrer Präsentation ›zurück‹. Darum fordert Diderot »kalte Verstellung« vom Schauspieler. Er muss sich verstellen, nicht weil er sich für die Lüge entscheidet, sondern weil er sich umstellt, eine Wendung vollzieht. Um dies fertigzubringen, sagt Diderot, brauche es allerdings einen »kühle[n] und ruhige[n] Beobachter«, 

durchdringenden 

»Scharfblick, 

aber 

keine 

Empfindsamkeit«, 

die 

»Kunst, 

alles 

nachzuahmen oder – was auf dasselbe hinausläuft – eine gleiche Befähigung für alle möglichen Charak-

Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel

148

tere und Rollen«.4 Um am Ende zu einem »erhabenen Schauspieler« aufzusteigen, sei es sogar sehr dienlich, 

überhaupt 

keine 

Empfindungen 

zu 

haben. 

Egal 

ob 

Empfindungen 

zu 

haben 

angeboren 

oder 

 künstlich 

erworben 

ist, 

»Empfindsamkeit 

ist 

in 

keiner 

Rolle 

am 

Platz.«5 Warum? Damit möglichst alle Formen 

der 

Empfindsamkeit 

in 

gleicher 

Weise 

überzeugend 

und 

glaubwürdig 

zum 

Ausdruck 

gebracht 

 werden können. Diderots Charakteristik des Schauspielers scheint plausibel, auch wenn die Forderungen, die zwischen den 

Gesprächspartnern 

des 

Paradoxe in Rede stehen, angesichts einer schließlich nur berufsbezogenen Kompetenz ambitioniert erscheinen mögen. Angewendet auf die Theaterpraxis, will Diderot alles unmittelbar 

 subjektive 

 Fühlen 

 und 

 Agieren 

 zugunsten 

 einer 

 Reflexion 

 und 

 Vermittlung 

 überwunden 

 sehen. Dabei scheinen diese Forderungen zunächst ausschließlich an die Akteure adressiert zu sein; wo sie eingelöst sind, darf dies als Zeichen wirklichen Agierens gelten – ein durchaus aufklärerisches Programm mit der Hoffnung auf Kompetenz- und Orientierungsgewinn. Verallgemeinert hieße es, dass ein jedes Erscheinende, situationsgerecht für Auftritt und Szene, als Index seines Zeichencharakters fungierend verstanden und zum Repräsentamen gemacht werden müsste. Das aber impliziert in 

der 

Tat, 

dass 

es 

aus 

der 

Perspektive 

der 

Performanz 

heraus 

geschieht, 

aus 

dem 

Machen 

und 

Geschehen, 

 Erleben 

 und 

 Ereignen 

 heraus, 

 nicht 

 aus 

 der 

 Distanz 

 der 

 Reflexion; 

 wie 

 wenn 

 jemand 

 alles, 

 was ihm unterwegs begegnet, daraufhin prüft, ob es nicht ein Text sein könnte, den es zu erlesen gelte, nicht um ihn bündig zu verstehen, sondern um mit der daraus zu gewinnenden Orientierung ein Stück 

weiter 

im 

Gelände 

zu 

kommen. 

Allerdings 

wäre 

zu 

bedenken, 

dass 

sich 

solches 

Gelände 

in 

der 

 Folge 

durchaus 

wieder 

zu 

einem 

Text 

verdichten 

könnte. 

Die 

Unterscheidung 

von 

reflexiver 

und 

energetischer Perspektive ist nicht unerheblich, auch wenn man die Unterscheidung als frei wählbaren ›Gesichtspunkt‹ 

relativieren 

möchte. 

Dass 

Diderot 

die 

Unmittelbarkeit 

des 

Erlebens 

und 

Handelns 

als 

 Element der Vermittlung, genauer vermittelt anbietet, ist logisch. Mit der Verkehrung der Perspektive des 

Schauspielers 

von 

der 

Empfindung 

zur 

Reflexion 

nämlich 

propagiert 

Diderot 

schließlich 

keine 

Verkehrung des Handlungsmodus – mit der Konsequenz, dass die Präsenz der Szene gänzlich unterginge. Der Künstler ist Praktiker, technítes, wie Aristoteles sagt, jemand, der die téchne beherrscht, die nicht Technik ist, sondern Kunst, die auch Wissen ist. Doch der Künstler soll nicht zum Intellektuellen oder Wissenschaftler mutieren, auch wenn er »aus der Überlegung (réflexion) heraus aufgrund des Studiums 

der 

menschlichen 

Natur 

[...], 

aus 

der 

Einbildungskraft 

und 

aus 

dem 

Gedächtnis« 

heraus 

agieren 

 soll. 

 Worum 

 es 

 zu 

 tun 

 ist, 

 ist 

 szenische 

 Synthesis. 

 Zu 

 ihrem 

 Gelingen 

 soll 

 alles, 

 was 

 zur 

 Aufführung 

 gebracht 

wird, 

möglichst 

wie 

»aus 

einem 

(un) 

Guß« 

erscheinen, 

und 

wer 

auftritt 

in 

dieser 

Beziehung 

 4 

 5

Auch 

wenn 

im 

Französischen 

scène 

durchaus 

auch 

nur 

den 

Auftritt, 

› die 

Szene 

des 

Schauspielers‹ 

bezeichnen kann. Denis Diderot, Paradox über den Schauspieler, S. 484.

Heiner Wilharm

149

»in allen Vorstellungen ein und derselbe und immer gleich vollkommen« sein, Medium und Message.6 Darum 

 müssen 

 Studium 

 und 

 Reflexion 

 in 

 den 

 Dienst 

 des 

 eigenen 

 Verstehens 

 genommen 

 werden 

 und eines aus diesem Verstehen Schlüsse ziehenden Spiels. Wer spielt, sollte in der Lage sein, auf allen Ebenen der Zeichenwirkung zu agieren. Dass er sich auf die energetische Wirkung konzentriert und insbesondere Leidenschaften und Affekte anspricht, kommt seinen Zwecken zugute. Das Ziel schließlich heißt nicht, Theaterbesucher zum Schauspielerberuf zu bewegen, sondern handelnde und leidende Charaktere so vorzuführen, als ob es die eigene Person wäre, ohne jede Möglichkeit, auch nur den geringsten Unterschied zwischen Bühnen- und Realschein festzustellen. »Worin besteht also das wahre Talent? Darin, die äußeren Symptome der erborgten Seele gut zu kennen; 

sich 

an 

die 

Empfindung 

derer 

zu 

wenden, 

die 

uns 

hören 

und 

sehen, 

und 

sie 

durch 

die 

Nachahmung jener Symptome zu täuschen – eine Nachahmung, die alles in ihren Köpfen vergrößert und zur Richtschnur ihres Urteils wird. Auf andere Weise lässt sich das, was im Innern der Menschen vor sich 

geht, 

gewiß 

nicht 

ausschöpfen. 

Und 

was 

liegt 

nun 

wirklich 

daran, 

was 

sie 

empfinden 

oder 

nicht 

 empfinden 

 – 

 vorausgesetzt, 

 daß 

 wir 

 das 

 letztere 

 nicht 

 merken? 

 Wer 

 also 

 die 

 äußeren 

 Anzeichen 

 kennt, und sie nach dem besten ideellen Modell (modèle ideal le mieux conçu) am vollendetsten wiedergibt, ist der größte Schauspieler.«7 Diderot 

unterstreicht 

die 

Kompetenz 

des 

Schauspielers, 

idealerweise 

als 

szenografische 

Instanz 

des 

 eigenen Auftritts wie seiner Wirkung zu agieren, »schwankend zwischen der Natur und dem eigenen Entwurf«. 

 Die 

 tatsächlich 

 maßgebliche 

 Szenografie 

 (die 

 der 

 wirkliche 

 Schauspieler 

 auch 

 in 

 Diderots 

 Theater nicht selbst verantwortet, selbst wenn er sich so verhalten soll, als ob es so wäre) ist umso bemerkenswerter einzuschätzen, je besser es ihr gelingt, den eigenen Emotionen der Spieler jeden Entfaltungsraum zu nehmen.8 Deshalb braucht der Künstler »sehr viel Urteilskraft«, um im szenischen Spiel etwas zu zeigen, was nichts Subjektives ist, sondern einer Darstellung angehört, die es zu individuieren gilt.9 – »Und warum sollte sich der Darsteller vom Dichter, vom Maler, vom Redner, vom Musiker unterscheiden?«10 Er tut es nicht. Eine bemerkenswerte Erweiterung, die Diderot kurzer Hand vornimmt. Sie zeigt, dass die Divergenzen des Bühnenscheins nicht nur die Kunst des Theaters betreffen.

6 7 8 9 10

Ebd., S. 487, S. 510. Ebd., S. 485. Ebd., S. 521. Ebd., S. 521. Ebd., S. 484.

150

Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel

Nun ist die Problematisierung des Bühnenscheins in Diderots Theaterschrift auf den ersten Blick gar nicht an der Bühne als Rauminstallation interessiert, sondern allein am Auftritt des Schauspielers und dem Schein, den er zu erzeugen vermag. Der Scheinraum entfaltet sich zunächst lediglich zwischen Skript (gemäß modèle ideal) 

 und 

 Szenifikation, 

 was 

 hier 

 erhellt, 

 ist, 

 wie 

 es 

 erscheint. 

 Die 

 Täuschung, die dem Zuschauer widerfahren könnte, läge daher durchaus bei ihm und käme einer Selbsttäuschung gleich. Denn worüber allein sich der Besucher täuschen könnte, wäre, dass das, was als 

Theaterkunst 

in 

Szene 

gesetzt 

geschieht, 

nicht 

Theater 

wäre, 

die 

Szenifikation 

nicht 

geprobt 

und 

 die 

Leidenschaft 

nicht 

›nachgeahmt‹. 

Folglich 

ist 

der 

Bühnenschein 

in 

diesem 

Fall 

Szenifikations- 

als 

 Inszenierungsschein. 

Die 

Szenifikation 

folgt 

der 

Inszenierung, 

macht 

sie 

sichtbar; 

entsprechend 

kann 

 sich ihr Schein verbreiten. Je bereitwilliger das Publikum die Überblendung seines Wissens um die theatrale 

Rahmung 

akzeptiert, 

desto 

schlüssiger 

gelingt 

der 

Transfer 

aus 

dem 

Wissen 

der 

Szenografie 

 in die ephemere Kunst der Bühne. Es leuchtet ein, dass sich diese positive theatrale Inszenierung schon von einem Versuch tatsächlicher Täuschung des Publikums nichts erhoffen kann. Denn dies hieße zu unterstellen, dass das Publikum nicht wüsste, dass die Protagonisten der Dramen und Komödien vor seinen Augen professionelle Rollenspieler 

 sind. 

 Und 

 sollte 

 sich 

 doch 

 jemand 

 finden, 

 der 

 sich 

 zu 

 sehr 

 in 

 Geschehen 

 und 

 Erleben 

 der Aufführung verloren hat, ein einziger Blick auf die Bühne als gemeinsamen Installationsraum von Spielern 

und 

Zuschauern 

reichte 

aus, 

um 

in 

die 

Wirklichkeit 

zurückzufinden. 

Spätestens 

wenn 

der 

 Vorhang 

fällt 

und 

das 

Saallicht 

aufleuchtet, 

zeigt 

sich 

die 

Installation 

der 

Kunst. 

Eine 

Täuschung 

über 

 das Verhältnis von Werk und Auftritt kann es mithin in diesem Raum nicht geben. Unberührt davon bleibt, dass die Interpretation der téchne jederzeit infrage gestellt werden kann – im vollen Sinne des Begriffs als Kunst und Wissen. Die Kunst der Nachahmung, die der Schauspieler beherrschen muss, im Übrigen, wird auch bei Diderot ausdrücklich nicht als Nachahmung natürlicher Ausdrucksformen verstanden, 

sondern 

als 

Nachahmung 

erfahrungsgeleiteter 

szenischer 

Gewohnheiten 

und 

der 

sich 

 von dort empfehlenden Bedeutungen. Die Interpretation entstammt dem Diskurs und wird ihm zurücküberantwortet. 

Und 

nur 

in 

der 

Präsenz 

des 

szenischen 

Geschehens 

kann 

es 

für 

einen 

Augenblick 

 ein Ereignen geben, in dem die Kunst den Diskurs nicht braucht. Da alles nicht nur so ist, wie es ist, sondern offensichtlich auch so erscheint, wie es sein sollte – einem idealen Modell entsprechend –, braucht es dort keine Vermittlung. 2 Dass dies mutatis mutandis für alle Künste gelten soll, ist nachvollziehbar. Der Schauspieler allerdings könnte wie natürlich als Instanz der Vermittlung adressiert erscheinen. Doch wird er nicht deswegen, 

nicht 

wegen 

der 

Vermittlung, 

deren 

Werkzeug 

er 

ist, 

sondern 

ihrer 

szenischen 

Auflösung, 



Heiner Wilharm

151

der 

Gestalt 

annehmenden 

Identitätsstiftung 

wegen 

gefeiert. 

Trotz 

Diderots 

Einverständnis 

mit 

der 

 aristotelischen Tradition, die dem mythos den Vorzug vor der ópsis gibt, dem Werk vor dem Spiel, stehen beim Theater – wie bei Musik, Tanz oder Film, auch bei der als Kunst geschätzten Rhetorik – die Würdigung des aufgeführten Werks und die daran gebundene Aufführungskunst im Zentrum. Als Kunst ist sie an die Zeichen und deren Bedeutung gebunden. Doch gehört zu ihr, das hic et nunc Vermittelte 

anwesend 

zu 

machen, 

nicht 

die 

Vermittlung. 

Die 

Vermittlung 

selbst, 

im 

Gegenteil, 

muss 

 gänzlich unsichtbar bleiben. Die Resultate der Inszenierung sind erwünscht, die Techniken dagegen, die dies bewerkstelligen, müssen sich selbst zum Verschwinden bringen, ganz anders als in den Performanzen eines Diagramms oder eines auf interaktive Kommunikation bedachten Modells zum Beispiel. Die Überblendung von Handwerk und Technik und ihren Effekten ist nicht gleichzusetzen damit, dass unter gewissen Voraussetzungen verhindert wird, dass die Tatsche der Inszeniertheit überhaupt selbst ans Licht dringt. Hier wäre gar kein Inszenierungsschein zu erwarten. Selbst wenn der Schauspieler von Diderot als eine Figur der Vermittlung oder der Medialität exponiert wird, zeigt dies nur an, was es heißt, den Ausdruck »Schauspieler« korrekt zu verwenden. Situationsgerecht indes ist die Szene, die der Schauspieler hinlegt, nur, wenn es keine Schauspieler gibt, wenn die Wunder und Abgründe der Saga und ihrer Helden unmittelbar mitzuerleben sind, ganz unvermittelt. Diese Perspektive 

fokussiert 

die 

Gegenwart 

des 

gemeinsam 

und 

in 

Gemeinschaft 

Erlebten. 

 Ähnlich ließen sich anstelle der Musik die Musiker, anstatt des Tanzes die Tänzer, anstatt des Films die Schauspieler auszeichnen – um sie in vergleichbarer Weise zu dekonstruieren, nicht in ihrer Vermittlung 

je 

unterschiedlicher 

szenografischer 

Darstellungen, 

sondern 

als 

Instrumente 

einer 

lebendigen Kunst, die sich ihrer bedient, um sich als gegenwärtig darzustellen. Beim Spielen und im Spiel vollzieht 

 sich 

 der 

 Dreh 

 der 

 Darstellung 

 selbst. 

 Szenografisch 

 betrachtet, 

 bestimmt 

 das 

 Werk 

 oder 

 Artefakt sich dazu, zeichengerecht zu repräsentieren. So wird verwiesen auf die Möglichkeit szenifikatorischer 

 Auflösung 

 im 

 Raum 

 temporären 

 Bedeutenlassens 

 durch 

 Interpretation, 

 gleichviel 

 ob 

 in 

einer 

noch 

so 

flüchtigen 

Notation 

eines 

musikalischen 

Werks, 

in 

den 

Codes 

einer 

Choreografie, 

 in der Celluloid- oder Digitalfassung von Filmbildern, im Manuskript einer Rede. Die Freiheitsgrade der Performanz gegenüber den Fixierungen im Entwurf unterscheiden sich im Einzelnen sehr, doch existieren sie allenthalben, und wenn die Freiheit nur darin bestünde, die Verhältnisse von Repräsentation und Werk zu vertauschen, sodass die Darstellung erscheint, als habe sie ihr Repräsentationsvermögen 

aufgegeben, 

um 

sich 

einer 

ganz 

bestimmten 

ihrer 

möglichen 

Gestalten 

und 

Bedeutungen 

 als Kunst-Ding anzuvertrauen. Dass solche Kunst wiederum als Quelle einer ihrer Darstellungen im repräsentativen Verständnis genutzt werden kann, beispielsweise einer, in der es um die Repräsentation von ›logischen‹, ›grammatischen‹, ›sprachlichen‹ ... Strukturmomenten des lebenden Kunstwerks geht, illustriert die mögliche, ja wahrscheinliche Rücküberweisung eines jeden Auftritts, einer jeden

Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel

152

Präsenz an den Diskurs. Die ›Kritik‹ einer Aufführung etwa vermag zu demonstrieren, was gemeint ist. Das sich zeigende, sich anbietende Werk dagegen repräsentiert nicht, steht nicht für etwas anderes als sich selbst. Doch offeriert es, die Fixierung auf einige wenige seiner Ereignisse wieder zu lösen, erneut als Repräsentamen, als Verkörperung von Zeichen, die Weiteres, Neues bedeuten können, behandelt zu werden. Dies allerdings sprengt den abgeschlossenen Kunstraum und öffnet ihn dem sozialen 

Raum 

der 

Kommunikation, 

des 

Tuns 

und 

Leidens, 

Arbeitens 

und 

Gestaltens 

und 

ihrer 

Zwecke. 3 Diderot 

weist 

tatsächlich 

nicht 

nur 

den 

Weg 

vom 

Theater 

zu 

den 

anderen 

Künsten. 

Er 

findet 

auch 

den 

 Weg 

von 

der 

Kunst 

in 

die 

Gesellschaft. 

Er 

ventiliert 

die 

Öffnung 

des 

Kunstraums 

– 

auch 

wenn 

er 

anmahnt, wieder auf ihn zurückzukommen. »Worin denn die vielgerühmte Magie der Kunst bestehe«11, fragt 

einer 

der 

beiden 

Gesprächspartner 

des 

Paradoxe – darin, dass alles so »wohlgeplant und in sich 

geschlossen« 

vor 

sich 

gehe 

wie 

in 

einer 

»wohlgeordneten 

Gesellschaft, 

in 

der 

jeder 

etwas 

von 

 seinen 

Rechten 

zum 

Wohle 

der 

Gemeinschaft 

(ensemble) 

und 

des 

Ganzen 

(tout) opfert. Wer kann das Maß dieses Opfers am besten würdigen?« Der Schauspieler oder der rationale Künstler ist es in der Kunst, 

»in 

der 

Gesellschaft 

ist 

es 

der 

gerechte 

Mensch«. 

Unter 

dem 

Begriff 

des 

›gerechten 

Menschen‹ 

 finden 

sich 

alle 

diejenigen 

Darsteller 

subsumiert, 

die 

den 

›kühlen 

Kopf‹ 

besitzen, 

die 

Dinge 

zu 

bedenken 

und 

kalt 

zu 

agieren. 

Dass 

der 

zum 

Gerechten 

beförderte 

Mimetiker 

sich 

deshalb 

moralisch 

über 

 die Niederungen der gesellschaftlichen Verwicklungen, denen er entstammt, erheben dürfe, wird zurückgewiesen. In Wirklichkeit, so das Argument, gehe es doch auch auf der Bühne zu wie in ganz normalen 

 »Straßenszenen«. 

 Eine 

 Katastrophe 

 beispielsweise, 

 die 

 eine 

 Gesellschaft 

 heimsuche 

 – 

 argumentiert der moralkritische Part Diderots, und die Berichte über das Erdbeben von Lissabon sind dem Schriftsteller zur Zeit der Abfassung seiner Arbeit am Beginn der 1770er Jahre noch sehr präsent –, eine Katastrophe sei doch hinreichender Beweis dafür, dass jeder Mensch unter gewissen Umständen 

seinen 

natürlichen 

Empfindungen 

folge. 

Trotzdem 

– 

jetzt 

erst 

folgt 

die 

Pointe 

der 

Intervention 

– 

 komme doch auch so ein »wundervolles Schauspiel« zustande »mit tausend wertvollen Modellen für Bildhauerei, Malerei, Kunst und Poesie«, gleichsam ohne jede Verstellung und durchaus nicht kalten Herzens. Tatsächlich zieht der Einwand nicht, wie man erkennt. Denn der Vertreter des Paradoxes ist 

 ja 

 ganz 

 einverstanden 

 mit 

 seinem 

 Gesprächspartner, 

 wenn 

 der 

 geltend 

 machen 

 wollte, 

 dass 

 die 

 Modellbildung, 

die 

der 

Künstler 

vornimmt, 

sich 

realer 

Geschehnisse 

und 

Charaktere 

versichern 

muss. 

 Kunstintern mag es zwar so erscheinen, dass Diderot den Bedenken Rechnung trägt, dass das Regiment des Schauspieler-Szenografen möglicherweise doch zu sehr an der Idealität der Bühne gemessen sein, seine emotionale Beteiligung deshalb im Vergleich allzu rigide zurückgeregelt erscheinen 11

Wobei als »Entwurf« ausdrücklich nicht ein erster Entwurf der Begeisterung reklamiert wird, sondern der reflektierte, durchdachte Entwurf gemeint ist. Denis Diderot, Paradox über den Schauspieler, S. 486.

Heiner Wilharm

153

könnte. Doch steht dem entgegen, dass alles Studium und alles Bedenken des ernsthaften Künstlers schließlich 

auf 

die 

Wiedergabe 

authentischer, 

wahrhafter 

Erfahrungen 

und 

Empfindungen 

zielen 

soll. 

 Das Studierfeld des Künstlers ist das Leben selbst, sind die Straßenszenen. Die 

Auflösung 

des 

Widerspruchs 

zwischen 

Kunst 

und 

Natur, 

einer 

Natur, 

die 

sich 

deutlich 

als 

Gesellschaft bemerkbar macht, birgt deshalb keine Überraschungen. Der geltend zu machende Unterschied betrifft den zwischen verschiedenen Modalitäten gesellschaftlicher Einrichtungen, möglichen Versionen des Politischen. Wenn sich normale Straßenszenen, wie der Verteidiger der Inszenierungskünste repliziert, zur Theaterszene verhalten »wie eine Horde Wilder zu einer Versammlung zivilisierter Menschen«12, dann benötigt die Straße die Kunst der Einhegung und Zivilisierung der Formen. Mit dieser Kompetenz erst wächst die Kunst heran, noch ungetrennt in die Künste der Einrichtung des Gesellschaftlichen 

und 

die 

schönen 

Künste, 

die 

ihren 

eigenen 

Zwecken 

folgen. 

 Was 

oberflächlich 

aussieht 

wie 

eine 

Analogie 

zwischen 

Kunst 

und 

Gesellschaft, 

offenbart 

tieferliegend ein kausales Wirkungsverhältnis. Noch ehe die Kunst als künstlerisches Werk oder Artefakt auftritt, übt sie sich darin, die wirklichen Verhältnisse zur Kenntnis zu nehmen, zu untersuchen, zu verstehen und sich zu erklären. Daraus erwirbt sie, was sie braucht als Kunst. Der Widerspruch, dem Diderot hier auf der Spur ist, ist also nicht aufzuheben und nicht zu verbergen, auch wenn der Philosoph ihn unter irreführendem Namen thematisiert. Warum noch einmal spielen, was allenthalben auf 

 der 

 Straße 

 zu 

 finden 

 und 

 zu 

 erleben 

 ist? 

 Eben 

 nicht, 

 um 

 es 

 auf 

 dieselbe 

 Weise 

 zu 

 wiederholen, 

 sondern um es gereinigt, begriffen und in einer einsichtig machenden Form zu präsentieren. Das wirkliche 

Leben 

ist 

auf 

der 

Straße 

zu 

finden, 

doch 

offenbart 

sein 

Studium, 

dass 

es 

zivilisiert 

werden 

 muss. An vorderster Front betrifft dies die Transparenz des Sinns. Niemand wüsste angesichts der Zufälligkeiten 

 des 

 alltäglichen 

 Geschehens 

 und 

 Erlebens 

 abschließend 

 zu 

 entscheiden, 

 ob, 

 was 

 sich 

 abspielt, so ist, wie es erscheint, oder vorgetäuscht sein könnte. Dieser ›Wildheit‹ mit Vertrauen zu begegnen 

erschiene 

gänzlich 

unangebracht. 

Deshalb 

heißt 

das 

Gebot, 

in 

den 

zivilisierten 

Sphären 

 einer Kunst zu inszenieren, um wahrhaftig aufzuführen, was wirklich passiert, ohne auch nur den Anschein eines anderen Interesses zu erwecken, als die Wahrheit zu zeigen – ein ideales Szenario reiner Effekte der Kunst, die allererst eine Kunst unter dem Regiment des Wahrsagens ist. Diderot nennt die Dinge durchaus beim Namen, auch wenn so scheint, als ginge es im Paradoxe sur le comédien allein um die Schauspielkunst. Die Divergenzen betreffen in der Tat die Alternativen von Wildheit und Zivilisiertheit. Und zweifellos ist es eine Kunst, den Sieg der Wildheit zu verhindern und allen Streit um 

die 

Geltung 

zivilisiert 

zu 

bestehen. 

 12

Denis Diderot, Paradox über den Schauspieler, S. 494.

Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel

154

Christoph Schlingensief soll, angesprochen auf die gesellschaftspolitischen Implikationen seines künstlerischen Engagements und die Chancen, mit solchen Interventionen sozial relevante Veränderungen zu befördern, zurückgefragt haben, warum denn, wenn dies anzunehmen wäre, frustrierte Politiker nicht als Künstler arbeiteten. Man muss die Rückfrage richtig lesen, um zu sehen, welche vernünftigen Konsequenzen sie zeitigen könnte. Wenn es denn zu den Herausforderungen der zivilgesellschaftlichen Wirksamkeit gehört, sich Interesselosigkeit und Wahrhaftigkeit, wie man sie in der Kunst kennenlernen kann, zu eigen zu machen, wäre eben dies ein wesentliches Kriterium, woran sich die Kunst der Politik orientieren könnte, ohne dass Politiker den Beruf wechseln müssten. 4 Schauen wir noch einmal auf den Punkt des Verschwindenmachens, der den turn der künstlerischen Inszenierung ebenso markiert wie den der Inszenierung im Rahmen nichtkünstlerischer Diskursfelder. Beim Bühnenauftritt, egal zunächst, ob im künstlerischen oder profanen Ambiente, fällt die gegebenenfalls 

 für 

 solche 

 Performance 

 erarbeitete 

 Szenografie 

 in 

 großen 

 Teilen, 

 wenn 

 nicht 

 vollständig, mit der Inszenierung – im Sinne des intendierten Scheins des Spiels – zusammen. Dies gilt am Ende nicht nur für diejenigen lebendigen Akteure, die dem bestbekannten idealen Modell im Einzelfall folgen, sondern ebenso für alle sonstigen agencies13, in gewisser Weise auch für die Agenzien der 

 Bühne. 

 »Szenografie« 

 insofern 

 ist 

 ein 

 Kollektivbegriff. 

 Kein 

 Ding 

 ist 

 hier 

 nur, 

 was 

 es 

 ist; 

 alles 

 ist 

 auch – soweit es dazu bestimmt werden kann –, was es sein soll. Dasselbe gilt für das »Doppelwesen« 

 der 

 gesamten 

 Inszenierung. 

 Seine 

 eine 

 planende 

 und 

 kalkulierende 

 Gestalt 

 darf 

 bei 

 Strafe 

 des 

 Scheiterns 

des 

Vorhabens 

nur 

in 

seiner 

anderen, 

der 

bündigen 

Gestalt 

eines 

ereignishaften 

Auftritts 

 oder 

Geschehens 

– 

Tuns, 

Machens, 

Lebens 

– 

erscheinen. 

Die 

Szenifikation 

wird 

die 

Inszeniertheit 

 verschwinden machen müssen wie der Schauspieler die Tatsachen der ›kalten Verstellung‹. Denn nur 

so 

wird 

der 

Schein 

der 

erfolgreich 

erzeugten 

Illusion 

die 

Wirkung 

des 

Gemeinten 

tatsächlich 

ins 

 Licht bringen können. Auf den Bühnen der Kunst geschieht die Illusionierung mit dem Einverständnis des Publikums. Es willigt ein, sich für eine Weile dem Schauspiel hinzugeben, weil und soweit es sich gewiss ist, dass es der Inszenierung im gewählten Medienformat vertrauen darf. Zudem sind geeignete Sicherungsmaßnahmen für den Fall vorgesehen, dass sich jemand in der Illusion zu verlieren, der Illusionierung zu vertrauen droht. Von solchem Einverständnis indes darf nicht grundsätzlich ausgegangen werden – nirgendwo. Überhaupt stellt sich die Frage der Einwilligung oder Ablehnung gar 

nicht, 

solange 

 keine 

 Bühneninstallation 

die 

mögliche 

Differenz 

zwischen 

situativer 

Szenifikation 

 und 

 szenografischer 

 Planung 

 anzeigt. 

 Wir 

 stoßen 

 hier 

 auf 

 das 

 Problem 

 der 

 ›Schattenbühne‹. 

 Man 

 versteht, dass der Schatten der ›Schattenbühne‹ auf sie selbst fällt und die Bühne als Bühne nicht mehr erkennbar werden lässt. 13

Denis Diderot, Paradox über den Schauspieler, S. 494–495.

Heiner Wilharm

155

Wie auf den wirklichen Bühnen der Kunst handelt es sich wieder um eine Dissimulation. Doch während das Spiel dort seinen simulativen Charakter (Medea, der verletzte Andreas oder der Holländer treten auf) institutionell offenlegt (es geschieht im städtischen Schauspiel, in Museum oder Opernhaus), mithin die Dissimulation der Inszenierung in der simulierten Szenik der theatralen bzw. künstlerischen Aufführung wie in einem reenactment als durchschaut bestätigt wird (»die Szenen hier sind ein Spiel«), verhält es sich mit der Dissimulation der Inszenierung außerhalb von Kunst und vergleichbar angesagten Medienformaten anders. Deren Erfolg ist garantiert, solange die Überzeugung herrscht, dass die gesellschaftliche Territorialisierung mit der dezidierten Trennung der inszenierungsintensiven Erbauungs-, Spiel- und Unterhaltungskultur von allen anderen weitgehend inszenierungsfreien gesellschaftlichen Bereichen und entsprechenden Techniken auch davor feit, in der wirklichen Welt auf Inszenierungseffekte zu stoßen. Da nicht getan wird, als ob, bedarf es nicht deren Bestreitung durch ein So-Tun-als-ob-nicht. Freilich ließe sich einwenden, dass das Paradox des theatralen Modells demonstriere, warum für diese 

Ausgrenzung 

von 

grundsätzlich 

inszenierungsfreien 

Gesellschafts- 

und 

Diskursräumen 

kaum 

 vernünftige 

 Gründe 

 beizubringen 

 sind. 

 Die 

 Unterscheidung 

 zwischen 

 Inszeniertheit 

 und 

 Nichtinszeniertheit gehört sehr wohl auch in den Kunst- und Medienraum. Das Spiel selbst würde sich indes, jedenfalls im klassischen Verständnis des künstlerischen Auftritts, auf keinen Fall selbst als solches decouvrieren. Mit anderen Worten: Alle agencies beziehen sich mimetisch auf Situationen des tatsachenverbundenen Lebens – oder lassen sich darauf beziehen. Dass Fiktionen vorgenommen werden und Fiktionales vorkommt, steht dazu nicht in Widerspruch. Aufgrund des professionell szenografischen 

 Hintergrunds 

 der 

 ›Nachahmungsstudien‹ 

 kann 

 man 

 sogar 

 davon 

 ausgehen 

 (die 

 Disparität 

 der Sujets vorübergehend außen vor), dass die nachahmende Aufführung wie auch die Exposition ›echter‹ Artefakte den Auftritt insgesamt ›echter als echt‹ geraten lassen könnten, vor allem im Übergang von der Kunst zur Wissenschaft oder den ihr verbundenen Formaten der Information und Dokumentation. Dass dies sogar ein besonderes Merkmal der Moderne ist, insbesondere im Zuge der Einschleusung darstellungsbezogener ›Realkontexte‹ in ›die Kunst‹, ist bekannt. Kunstareale lassen sich 

im 

Wesentlichen 

nur 

anhand 

entsprechender 

topografischer 

Indices 

ermitteln. 

Sie 

zeigen 

den 

 Kunst-Ort an, wie Opernhaus-, Konzerthaus- oder Museumsarchitektur. Im Medienbereich fungieren entsprechende Formatindices auf ähnliche Weise. Auch sie zeigen an, ob es ernst ist oder nicht. Die Performances selbst mögen dann dennoch oft daran zweifeln lassen, ob die Indikation zurecht behauptet 

wurde. 

Im 

Fall 

fehlender, 

schlecht 

zu 

identifizierender 

oder 

möglicherweise 

irrelevanter 

 Indizes 

 muss 

 mithin 

 situationsspezifisch 

 aus 

 der 

 Szene 

 heraus 

 ermittelt 

 werden. 

 Der 

 Mechanismus 

 der 

szenografisch 

gelenkten 

Inszenierung 

gibt 

Aufschluss 

darüber, 

worin 

die 

Inszenierungstechnik 

im 

 Wesentlichen 

 besteht. 

 Umgekehrt 

 wie 

 der 

 Rezipient, 

 der 

 die 

 dissimulierten 

 Anteile 

 des 

 Geschehens 



156

Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel

erinnern oder indexikalisch detektieren muss, um nicht in ein asymmetrisches Verhältnis zur Direktive zu geraten, muss die Inszenierung bestimmte Hypothesen bilden. Die Vermittlungstätigkeit, der sich der Entwurf eigentlich verschreibt, muss den Auftritt antizipieren, eine szenische Verwirklichung des Intendierten. Soweit die Vermittlung eben darin ihr Ziel sieht, muss ihr Projekt in zwei Teile zerbrochen werden. Die Arbeit wird vom Produkt getrennt. Die disparaten Versatzstücke der 

 vermittelnden 

 Reflexions- 

 und 

 Entwurfsarbeit 

 sollen 

 den 

 Authentizitäts- 

 und 

 Identitätsschein 

 des Resultats nicht irritieren. Umgekehrt proportional verhalten sich mithin auch die affektiven Dispositionen auf der Seite der Inszenierung und der Seite der Inszenierungsbetroffenen. Letztere müssen ihre Aufmerksamkeit unter diesen Bedingungen sehr viel kritischer als im Fall weithin bemerkbarer, bekannter oder gar anerkannter indexikalischer Markierungen auf die Anzeichen der medialen Vermittlungsarbeit hinlenken, insbesondere auf die Techniken und die ästhetische Gestaltung. 

 Die 

 in 

 der 

 Inszenierung 

 Ambitionierten 

 müssen 

 sich 

 noch 

 mehr, 

 als 

 es 

 in 

 den 

 Probeläufen der Entwurfsarbeit und den mit ihr verbundenen mimetischen Übungen üblich ist, auf die Unmittelbarkeit des Events konzentrieren. Was mithin die Differenz zwischen den beiden Parteien der Inszenierungsinteressierten angeht, erhellt, dass hier nicht die Unterscheidung von sciences, arts oder metiers14 im Mittelpunkt steht, sondern 

die 

von 

Tun 

und 

Erleiden, 

zwei 

Grundstellungen, 

die 

Leib, 

Körper 

und 

Geist 

jedes 

einzelnen 

Subjekt-Objekts unter den Agenzien bestimmen. Macht sich der Unterschied im szenischen Spiel ungut bemerkbar, was er keinesfalls in den meisten Situationen, nicht einmal Szenen des Lebens tut, wird das dringendste Interesse der unangenehm Betroffenen darin bestehen, die verborgenen Zwecke des Inszenierungsaufwands aufzudecken. Diejenigen, die sich davon nichts für ihre Ziele erhoffen, werden daran festhalten wollen, die Mittel der Vermittlung zu dissimulieren. Diese generellen Reaktionsformen 

entsprechen 

nicht 

der 

Unterscheidung 

von 

Gestaltenden 

und 

Gestaltungsbetroffenen. 

Viel 

eher 

 liegen sie in der Konsequenz der Zustimmung oder Ablehnung des Bewahrungsamts, von dem Heidegger in seinen Kunstwerkvorträgen der 30er Jahre spricht.15 Kunstwerke bedürfen der Bewahrung, für die jemand aufkommen muss. »Bewahrung« ist identitätsstiftend, indes nicht durch Aufhebung. Das der Bereitschaft zur Bewahrung innewohnende Wahrheitsinteresse gilt nicht der Ruhigstellung der Bedeutung. Die gegensätzlichen Bewegungen bleiben bestehen, doch werden sie zivilisiert. Hierin liegt die Bedeutung des Diderot’schen Paradigmas vom künstlerischen Umgang mit den Weiterungen aller Katastrophik von ›Straßenszenen‹.16 Den Streit von Anstrengung und Widerstand im Erleben und 14 Womit angedeutet ist, dass es sich nicht allein um personale Charaktere handelt. 15 

 Gemäß 

den 

Unterscheidungen 

im 

T itel 

der 

Encyclopédie 16 Vgl. Martin Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerks«, in: Holzwege, Frankfurt a. M. 1972, S. 50 f.: Die Bewahrenden treten neben und vor die Schaffenden, denn die Bewahrenden sind diejenigen, die »der im Werk geschehenden Wahrheit entsprechen«.

Heiner Wilharm

157

Fühlen wird es weiterhin geben und keine ›Vermittlung‹, deren Wirkung, zum Vermittelten verdichtet, der eines Keulenschlags gleicht – ganz entgegen dem Anschein des Ausdrucks. Das angepeilte Maß beurteilt vom informierten Ding aus, nicht vom Standpunkt eines Subjekts oder Objekts. Hierin bestünde die Territorialisierungen sprengende Kraft einer Kunst, welche die heteronome Bestimmung des ›Objekts‹ zurückweist und deshalb am dafür verantwortlichen ›Subjekt‹ nicht 

festhalten 

kann. 

Sie 

weiß, 

dass 

sie 

zwangsläufig 

zu 

solchem 

Objekt 

degeneriert, 

wenn 

sie 

nicht 

 opponiert. Wenn dem so ist, dass Inszenierungstatsachen zu den »Tatsachen des Wollens« (Peirce) gehören, werden sie überall auftreten, wo gewollt wird. Soweit dies bedeutet, Vermittlungsarbeit zu leisten, liegt der Schluss auf die Implikationen der Vermittlung auf der Hand. Vermittlung kann logisch semiotisch in die Elemente von Disjunktion (Andersheit) und Unmittelbarkeit zerlegt werden. Handelt es sich hierbei tatsächlich, wie etwa Peirce annimmt, um absolut notwendige Kategorien, mit Hilfe derer überhaupt es gelingen kann, Überlegungen der veranstalteten Art anzustrengen, wird dieser Umstand kaum als bloß theoretische Bedingung, zu Bedeutungen zu gelangen, gelten können. Vielmehr wird er seinerseits die theoretischen Postulate tatsächlich motiviert haben. Kor-Relationen entfalten sich auf dem Boden realer Relationen. Mithin ist es sinnvoll, wie Peirce von der Realität der Tatsachen des Wollens auszugehen. Damit aber löst sich der Schein a priori inszenierungsfreier Bezirke des Realen auf. Überall muss man auf die Effekte einer sich verselbstständigenden Vermittlung gefasst sein. Sie kommt in allen denkbaren Formaten des medialen Auftritts daher, um die transportierten Botschaften, 

ästhetisch 

angepasst, 

an 

Gefühle 

und 

Affekte 

zu 

adressieren 

und 

auf 

diese 

Weise 

an 

den 

Instanzen möglicher rationaler Beurteilung vorbeizuschmuggeln. Darf man in den deklarierten Sphären kreativer 

Produktion 

– 

Kunst, 

Gestaltung, 

Technik, 

Wissenschaft 

vor 

allem 

– 

vielleicht 

darauf 

hoffen, 

 tatsächlich auf Plan, Konzept und Entwurf zu stoßen, kann diese Forderung für die gewöhnlichen Bezirke 

des 

Gesellschaftlichen 

nicht 

verallgemeinert 

werden. 

In 

weitaus 

den 

meisten 

Fällen 

dürften 

wir 

 mit 

unausdrücklichen 

oder 

schon 

ritualisierten 

Szenografien 

konfrontiert 

werden, 

mit 

Szenifizierung 

 und szenischem Anschluss aus nicht professionell gehandhabter Nachahmung. Umso mehr spielt die Begabung 

 eine 

 Rolle, 

 auf 

 welcher 

 Seite 

 der 

 Einfluss 

 nehmenden 

 Kräfte 

 auch 

 immer 

 man 

 steht. 

 Die 

 Nachahmung wird eskortiert vom Urteilsvermögen sowie den maßgeblichen Instanzen, die dieses Vermögen elastisch halten und zu Schlussfolgerungen drängen.

Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel

158

5 Sprechen 

 wir 

 von 

 »Wirkung« 

 oder 

 »Effekt« 

 hinsichtlich 

 eines 

 präsenten 

 Geschehens, 

 Artefakts 

 oder 

 Werkes, 

verwenden 

wir 

die 

Ausdrücke 

mit 

Blick 

auf 

das 

Ganze 

der 

performativen 

Szenifikation 

gleichsam 

als 

›Ursache‹ 

solcher 

Folgen. 

Eine 

Bedeutungsnuance 

im 

Gebrauch 

könnte 

darin 

bestehen, 

dass 

 »Wirkung« 

 auch 

 im 

 Blick 

 auf 

 den 

 situativ 

 existentiellen 

 Zustand 

 nicht 

 eines 

 Geschehens, 

 aber 

 eines 

 Dings, Artefakts oder Werks Bezug nehmen könnte. Auf jeden Fall handelt es beim Begriff Szenifikation 

 um 

 eine 

 Abstraktion, 

 die 

 ein 

 komplexes 

 szenisch 

 geprägtes 

 Gestaltungshandeln 

 und 

 Gestaltannehmen beinhaltet, was nicht deckungsgleich ist mit einer isolierten Objektpräsenz. Nicht nur 

die 

Wirkung 

der 

Szenografie 

ist 

intentional 

(wenn 

auch 

keineswegs 

ausschließlich), 

die 

Wirkung 

 der 

Szenifikation 

ist 

es 

ebenso, 

und 

zwar 

wesentlich. 

Deshalb 

werden 

derartige 

Effekte 

leicht 

mit 

 dem 

verursachenden 

Eingriff 

von 

›Kreativen‹ 

identifiziert. 

Doch 

sollte 

man 

›Künstlerpersönlichkeit‹ 

 oder ›Autorschaft‹ nicht mit einer Instanz ungebundener Freiheit der Bestimmung von Zeichen und Objekten gleichsetzen. Dem entgegen steht der Zwang der Dinge, wenn sie denn dieses oder jenes bedeuten 

sollen, 

ihrem 

semiotischen 

Vermögen 

Genüge 

zu 

tun 

und 

sich, 

dementsprechend 

begriffen, fassen zu lassen. Die Effekte, mithin auch die intentionalen, gingen insofern von den Dingen aus. Ein Verständnis, das sich in der Rede vom informierten Objekt oder informierten Ding spiegelt.17 Allerdings 

ist 

die 

damit 

angepeilte 

›Verursachung‹ 

an 

die 

Dichotomie 

des 

Gestells 

(Heidegger18) oder des Installierten überwiesen. Beim Versuch, sich der Installation des Bühnenraums zu versichern, kann 

die 

Szenifikation 

verunglücken, 

sei 

es, 

dass 

es 

sich 

um 

die 

unzutreffende 

Unterstellung 

einer 

 existierenden Rahmung handelt, sei es, dass die Rahmung nicht zu erkennen ist und aus Indizien rekonstruiert werden muss, was ebenfalls einige Risiken birgt. Soll sich ein wahrhaftiger, schlüssiger und befriedigender Schein über die aktuellen Szenen legen, muss er 

aus 

der 

Szenifikation 

heraus 

erhellen, 

aus 

dem 

Jetzt-und-Hier 

einer 

Szene. 

Das 

geht 

aus 

Diderots 

Ausführungen über das Paradox des Schauspielerseins hervor. Vertrauen in das Eigenlicht der Installation zu setzen, so es denn auszumachen wäre, ist kaum anzuraten, wenn dieses Licht mehr als das Fakt der Installiertheit beleuchten soll – was, zugegeben, nicht wenig ist. Doch selbst die ›nur‹ technischen Implemente 

einer 

selbstständig 

agierenden 

Szenografie 

fungieren 

nicht 

nur 

als 

Indikatoren 

eines 

solchen 

 Sachverhalts, 

sondern 

erzählen 

(auch) 

ihre 

eigenen 

Geschichten. 

Entsprechend 

können 

sie 

auch 

zur 

 Darstellung gebracht werden. Deshalb fokussiert Diderot den Schauspieler, eine in der Wahrnehmung deutlich 

szenifikatorische 

Figur, 

nicht 

die 

Inszenierung. 

Die 

idealisierte 

Bühne, 

beschrieben 

im 

isolierten 

 17

18

Dass es im Beispiel der Katastrophe, denkt man an das Erdbeben von Lissabon, die ›Natur‹ ist, der sich die Reaktionen verdanken, wird im Diderot’schen Mimesis-Konzept, wie gesagt, zurechtgerückt. Insofern spielen die alltäglichen Katastrophen der Straßenszenen für die Nachahmung die viel bedeutendere Rolle. Vgl. Michel Serres, Hermès III. Interferenz, Berlin 1992, S. 130.

Heiner Wilharm

159

Auftritt eines idealen Künstlers oder idealen Artefakts, hat weder mit der komplexen Realität künstlerisch gestalterischer (Re-)Präsentation zu tun noch mit der verwickelten Realität inszenierungsgesellschaftlicher Tatsachen in den Residuen von Politik, Recht und Ökonomie, Medien oder Wissenschaften, im Profanen oder im Heiligen. Theoretische Einlassungen dazu gehören in diesen Tatsachenraum, gehören 

zu 

einer 

erweiterten 

Szenografie.19 

So 

kann 

es 

sein, 

dass 

Effekte 

in 

die 

Szenifikation 

eingeschleust 

 sind, 

die 

der 

Reflexion 

und 

Planung 

im 

Rahmen 

eines 

szenografischen 

Entwurfs 

entstammen 

könnten 

 oder aber seiner kritischen Beurteilung als besonderes Darstellungsformat, dies aber unentschieden bleiben 

 muss, 

 weil 

 im 

 Getümmel 

 der 

 Szenifikation 

 niemandem 

 die 

 Anzeichen 

 auffallen 

 oder 

 sich 

 ohnehin 

 niemand 

 für 

 szenografische 

 Subtilitäten 

 interessiert. 

 Es 

 gibt 

 Effekte, 

 die 

 aus 

 Lücken 

 wirken. 

 Die 

 Antwort auf unbewusste Absichten scheinen unbewusste Effekte zu sein. Informationell 

ist 

die 

Szenifikation 

in 

den 

meisten 

Fällen 

ohnehin 

nicht 

begünstigt, 

wahrscheinlich 

 weit weniger als die Situation – die freilich ihre Informiertheit nicht zugleich auch als Information im Sinne einer message entlässt. So stehen in der Regel zu wenige Informationen zur Verfügung, um mögliche 

 Hypothesen 

 zum 

 Geschehen, 

 vor 

 allem 

 aber 

 zu 

 seiner 

 Vorgeschichte, 

 aufgrund 

 unabhängiger 

Daten 

zu 

erhärten 

und 

auf 

bestimmte 

Einflussgrößen 

zu 

schließen. 

Denn 

aus 

der 

Präsenz 

heraus 

 ist 

 auf 

 Szenografisches, 

 die 

 Wirkung 

 von 

 Repräsentationen, 

 ohnehin 

 nur 

 zu 

 schließen. 

 Szenisch 

 kommt es zu Interferenzen.20 Mit anderen Worten, es gehört nicht zur Eigenart von Szenen, stabil zu 

sein. 

Gehen 

wir 

davon 

aus, 

dass 

es 

außerhalb 

orthodoxer 

Konzepte 

und 

Direktiven 

keine 

stabilen 

 Szenen gibt, gilt dies für so ziemlich alle die hermeneutischen Wissenschaften beschäftigenden Festlegungen dogmatischer Art – im Rechtswesen und in der Bürokratie, in der Ökonomie, in den Religionen, ebenfalls in der Kunst, auch wenn es dort am wenigsten noch zum guten Ton gehört. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass sich gerade orthodoxe und im Wortsinn fundamentalistische Doktrinen damit 

anfreunden 

würden, 

ihre 

normativen 

Vorstellungen 

von 

der 

Eigenart 

des 

von 

ihnen 

identifizierten Territoriums – Systems oder Subsystems – als »Szene« zu charakterisieren, egal ob instabil oder stabil. Folglich werden, wo es darum geht, ›Stabilität‹ zu inszenieren, kaum »Szenen« in Erscheinung treten. Szenen gedeihen nur, wo die Kunst am Werk ist, mit Interferenzen, Instabilitäten und Vagem umzugehen. Das heißt keineswegs, dass das Ziel sei, derart Eingefärbtes ertragen zu lernen. Vielmehr steht die Aufgabe, in ästhetischer, praktischer wie logischer Hinsicht transparente Vermittlungen herbeizuführen, 

vergleichsweise 

stabile 

Szenen 

im 

Zustand 

eines 

labilen 

Gleichgewichts.

19 20

Vgl. Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze 1936-1953, in: Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 7, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 2000. Siehe Heiner Wilharm, Szene ohne Theater. Die Ordnung der Inszenierung, Bielefeld 2014 (angekündigt).

Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel

160

6 Schaut man auf die Inszenierungsperformanz, scheinen Effekte, die leisten, was Instrumente, Werkzeuge, Maschinen, Techniken, Kniffe und Tricks zu leisten vermögen, eher tolerierbar, wenn sie narrativ eingebunden sind und von daher begründet erscheinen, wobei die Beurteilung, ob leichter, ob schwerer zu akzeptieren, im Auge des Betrachters und bei seinen Absichten liegt. Doch allgemein dürfte gelten, dass technische Effekte als energetische Voraussetzungen zur Erzeugung des szenischen 

Scheins 

einer 

gut 

erzählten 

Geschichte 

hinnehmbar 

sind, 

zur 

bloßen 

Inszenierung 

eines 

vergleichbaren Scheins, der nur ästhetisch animiert, aber nicht. Entsprechend würden demnach die Wirkungen lanciert. Und entsprechend wären bestimmte Effekte gut oder weniger gut zu rechtfertigen. Die 

 Binnendifferenzierungen 

 von 

 »Inszenierung« 

 und 

 »Szenifikation«, 

 allemal 

 die 

 von 

 »Szenifikation« 

 und 

»Szenografie« 

(adressiert 

an 

die 

mediale 

Instrumentierung 

schon 

bei 

der 

technischen 

Effektwahl 

 im Produktionsbereich) rekurrieren auf dieses Kriterium der Vermitteltheit oder der Mischung. Das hat 

 zu 

 tun 

 mit 

 der 

 Offenheit 

 oder 

 Geschlossenheit 

 der 

 Szenifikation 

 gegen 

 die 

 erweiterte 

 Szenografie, 

 also 

 alle 

 relevanten 

 Konzepte 

 und 

 Entwürfe, 

 nicht 

 nur 

 die 

 aktuell 

 engagierten. 

 Um 

 an 

 die 

 Diderot’schen 

Überlegungen 

anzuknüpfen: 

Der 

Schauspieler 

ist 

in 

der 

Lage, 

die 

Gleichgültigkeit 

seiner 

 professionellen Einstellung zu verbergen, performativ stets in der Maske der Effekte entsprechender Übungen und Studien auf die Szene zu treten – ein »Mann ohne Eigenschaften«, dessen künstlerisches 

 »Genie« 

 darin 

 liegt, 

 allseits 

 mimetisch 

 zu 

 sein.21 

 Der 

 Abstand 

 der 

 scenografia 

 als 

 Perspektive 

 der Projektplanung22 

zur 

scene 

ist 

in 

der 

Ausführung 

überwunden; 

die 

Szenografie 

ist 

nurmehr 

als 

 Inszenierung in actu anwesend. Vergleichbares gilt für die Perspektive der narratio oder historia nicht. Zwar liegt es auch in der Perspektive 

der 

Botschaft, 

zur 

Gestalt 

bringen 

zu 

wollen 

und 

›dergestalt‹ 

auf 

die 

Szene 

zu 

treten, 

 doch 

gibt 

es 

keinen 

Grund, 

den 

entsprechenden 

Auftritt 

inhaltlich 

als 

spontan 

erfunden 

erscheinen 

 zu lassen. Dies gilt insbesondere, wenn es zur emotionalen Wirkmächtigkeit der Story gehört, dass die 

 Geschichte 

 nicht 

 nur 

 gut 

 erzählt, 

 sondern 

 auch 

 eine 

 gute 

 Geschichte 

 erzählt 

 wird. 

 Eine 

 gute 

 Geschichte 

aber 

ist 

eine 

bewährte 

Geschichte. 

Was 

es 

heißt, 

dass 

dazu 

zählt, 

dass 

die 

Geschichte 

glaubwürdig ist, hängt ab vom Diskurs, aus dem sie stammt. Dass, um sie aufzumöbeln für den aktuellen Geschmack, 

zuweilen 

kosmetische 

Behandlungen 

gut 

tun, 

gehört 

zum 

Paradox 

des 

Schauspielens. 

 Es 

ist 

an 

der 

ópsis, 

den 

mythos 

in 

kommunikativ 

gegenwartsadäquater 

Gestalt 

zu 

lancieren. 

Auch 

 hierfür ist das Talent der sich verbergenden mímesis gefragt. Sie verbirgt sich nicht, weil die Inhalte dessen, 

 was 

 nachzuahmen 

 Gegenstand 

 sein 

 könnte, 

 verborgen 

 werden 

 müssten. 

 Sie 

 verbirgt 

 sich 

 21 22

Vgl. Serres, Interferenz, Berlin 1992. Vgl. Philippe Lacoue-Labarthe, »Paradox und Mimesis«, in: Die Nachahmung der Modernen, Basel/Weil am Rhein 2003, S. 25.

Heiner Wilharm

161

vielmehr, weil sie sich überhaupt an keinen Inhalt binden darf, um leisten zu können, was sie leisten soll, 

alle 

Inhalte 

an 

die 

Oberfläche 

ihrer 

energetischen 

Wirkung 

zu 

befördern; 

denn 

die 

Vergangenheit 

 ist 

nur 

ein 

Modus 

gegenwärtiger 

Erinnerung 

in 

die 

Zukunft. 

Mímesis 

ist 

projektive 

anámnesis. 

Was 

als 

 Geschichte 

auftreten 

möchte, 

muss 

deshalb 

nicht 

als 

Herkunft 

und 

Vergangenheit 

zuvor 

dissimuliert 

 werden, da es buchstäblich nichts zu dissimulieren gibt.23 Worum es geht, ist die Qualität des Nachahmens selbst. Es bedeutet so viel, wie die poíesis in die Evolution zu stellen. Der hervorbringende ›Nachvollzug‹ des Dargebotenen durch das eigene Bedeutenlassen realisiert sich als bewährtes Modell von Wiederholung und Variation. Es macht keinen Sinn, um ein Beispiel einer ›Darstellung‹ zu 

 wählen, 

 die 

 kein 

 Text 

 ist, 

 der 

 Darstellung 

 der 

 Souveränität, 

 wie 

 sie 

 aus 

 Velásquez’ 

 Hoffräulein abstrahiert werden kann und gut dazu sein mag, bestimmte Einsichten in die politiktheoretischen Verwicklungen 

 von 

 Herrschaft 

 zu 

 befördern, 

 den 

 Anschluss 

 an 

 die 

 Geschichten 

 über 

 das 

 Leben 

 der 

 höfischen 

Gesellschaft 

zu 

Zeiten 

des 

Absolutismus, 

wie 

das 

Bild 

sie 

in 

Szene 

setzt, 

nehmen 

zu 

wollen, 

 um den dann bleibenden Modellauftritt des Bildes von der Szene, in der es immer schon spielt, zu trennen. Es macht keinen Sinn, weil es gar nicht möglich ist, da diese Vergangenheit anwesend ist, sich artikuliert und jederzeit artikuliert werden kann. Mithin 

 gilt 

 für 

 die 

 Binnendifferenzierung 

 zwischen 

 Szenifikation 

 und 

 Szenografie, 

 dass 

 die 

 Inszenierung 

von 

Gestaltgebung 

und 

Formensprache, 

ihre 

Wirkung 

aber 

von 

der 

Geschlossenheit 

der 

Szenifikation 

 abhängig 

 ist, 

 die 

 eine 

 Echtzeitanwendung 

 auf 

 die 

 Geschichte 

 beinhaltet. 

 Dass 

 dabei 

 die 

 szenografischen 

Studien 

und 

die 

dort 

geübte 

mímesis 

unterschlagen 

werden, 

heißt 

lediglich, 

dass 

es 

 sich 

in 

der 

szenografischen 

Praxis 

des 

Entwerfens, 

Planens 

und 

Experimentierens 

um 

andere 

Szenen 

 handelt. Unbeschadet aber davon bleibt, dass die mimetische Kompetenz im Szenenwechsel stabil bleibt. Die trennenden Momente zwischen den Szenen werden dadurch überwunden, dass Nachahmung gegenüber dem narrativen Entwurf ganz selbstverständlich toleriert wird, da es sonst gar keine Geschichte 

 gäbe. 

 Nur 

 für 

 die 

 Nachahmung 

 der 

 Nachahmung 

 gilt 

 das 

 nicht. 

 Weder 

 führt 

 der 

 Schauspieler 

 sie 

 auf, 

 noch 

 tun 

 es 

 die 

 Zuschauer. 

 Szenisch 

 entsteht 

 ein 

 Gemischtes. 

 Von 

 Seiten 

 der 

 theatralen oder theatrischen24 Präsentation beschränkt sich das Vermittlungsangebot auf die Darstellung eines darin Vermittelten. Hinsichtlich eines gemeinsamen Spiels ist das nicht genug oder zu viel, wie man will. Ist die Vermittlung vollständig, die Darstellung zur Identität gebracht, braucht es kein Spiel mehr, sie zu Ende zu bringen. Anders die praktische Aufkündigung der dialektischen Vermitteltheit 23

24

Wie etwa bei den Künstlern und Architekten der Renaissance. Vgl. Sebastiano Serlio, Tutte l‘opere d‘architettura di Sebastiano Serlio Bolognese (Libri I.-VII.), Venetia 1584; Onlineressource erreichbar auf: http://digi.ub.uniheidelberg.de/diglit/serlio 1584. Ital. Text: Sette libri dell‘architettura, Forni (Sala Bolognese), 1978, Bd. 1, Libri I.-IV.; Bd. 2. Libri V.-VII. (Zugriff 12_2012). Vgl. Lacoue-Labarthe, Paradox und Mimesis, S. 26/27.

162

Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel

oder Vermittelbarkeit. Sie wertet das dargebotene Vermittelte als ein Eines, dem durch ein Anderes handelnd, energetisch zu begegnen ist. Mit anderen Worten: Ist es ein Spiel, kann es nur vom Ensemble 

 der 

 Anwesenden 

 zu 

 Ende 

 gebracht 

 werden, 

 soweit 

 es 

 die 

 jeweilig 

 aktuelle 

 Szenifikation 

 zulässt. 

 Für die Adressaten indiziert die Möglichkeit, so auf die Darstellung des Auftritts reagieren zu können, eine 

adäquate 

szenische, 

nichtrepräsentative 

Art, 

sich 

mittuend, 

empfindend, 

verstehend 

auf 

eine 

 Geschichte 

einzulassen. 

Wenn 

es 

mit 

Blick 

auf 

die 

Performanz 

vielleicht 

so 

vorkommen 

mag, 

dass 

mit 

 Exposition und Perzeption das meiste schon gewonnen sei, die Bedeutung der Szene erschließt sich dem bloßen Wahrnehmen höchst selten und keinesfalls mit Notwendigkeit. Für eine erstmalige Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen eines Plots scheinen die Chancen auf Verständnis geringer zu sein als bei gut Eingeführtem. Indes bedeutet »Zusammenhang«, Variation und Assoziation in Rechnung zu stellen, die Kompetenz der mímesis. Ansonsten liegt das Problem 

einer 

ausdrücklichen 

Vermittlung 

von 

›Neuem‹ 

eher 

beim 

Stoff 

als 

bei 

der 

Gestaltung 

der 

 kommunikativen Szenarien. Verläuft die Interaktion asymmetrisch und zielt die Begegnung nicht auf ein partnerschaftliches Erschließen und Aneignen, sind davon auch keine Erfolge zu erwarten. Dies gilt 

 für 

 jede 

 einseitige 

 Sender-Empfänger-Vermittlung. 

 Statt 

 Kommunikation 

 finden 

 wir 

 Information, 

 insbesondere die technisch aufbereitete und übermittelte. Sie suggeriert Erklärung außerhalb der Geschichte, 

allein 

in 

Gestell 

oder 

Installation. 

Was 

derart 

›mythosfern‹ 

gerät, 

kann 

außerhalb 

der 

 platonischen Ideenlehre schwerlich als mimetisch angeeignete und deshalb schon anwesende Sage betrachtet werden. Das gilt für die Nachricht über die neuesten Erfolge bei der Suche nach Erdgas auf Basis der Fracking-Technologie ebenso wie für die Konfrontation mit der auf die neuesten Forschungsergebnisse gestützten Erklärung des Alzheimer-Syndroms. Das Problem ist nicht, dass man eventuell noch nie etwas von der Sache gehört hat, sondern dass es keine kommunikativen Szenen der 

Verständigung 

darüber 

gibt. 

An 

ihrer 

Stelle 

finden 

sich 

sozusagen 

rein 

›informelle 

Situationen‹. 

 Entsprechend schlecht bestellt ist es um die Chancen der Urteilskraft. Ob es sich um seriöse oder völlig aus der Luft gegriffene Informationen handelt, ist kaum zu beurteilen. Die Information erscheint als vom informierten Objekt und der gegenseitigen Informierung der Objekte isoliert. Um die Urteilskraft 

ins 

Spiel 

zu 

bringen, 

müssen 

stattdessen 

sachbezogene 

Szenifikationen 

in 

Gang 

kommen, 

die 

es 

 erlauben, 

die 

Hilflosigkeit 

angesichts 

einer 

szenisch 

nicht 

aufzulösenden, 

nur 

scheinbaren 

Kommunikationssituation zu überwinden. Es kann nicht verwundern, dass die überwältigende Konfrontation mit dem unerhört Unbekannten in bestimmten Metiers geradezu zwingend daran zweifeln lässt, dass es sich überhaupt um eine glaubwürdige 

oder 

eine 

gute 

Geschichte 

handeln 

könnte. 

Für 

das 

alltägliche 

Leben 

und 

seine 

Szenen 

 gilt 

 ohnehin, 

 dass 

 ihre 

 Geschichten 

 im 

 Großen 

 und 

 Ganzen 

 bekannt 

 sind, 

 zumindest, 

 worauf 

 es 

 mit 



Heiner Wilharm

163

ihnen hinaus soll. Ob diese Annahmen berechtigt sind, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls artikulieren sich im Allgemeinen wenig Vorbehalte, an vorgeschlagene Narrative anzuschließen. Das unterstreicht, dass der Anschluss mehr den Transfer im Sinn hat als die intellektuelle Auseinandersetzung. Je selbstverständlicher die Übernahme, desto unauffälliger erscheint die Prozedur. Das kann auch bedeuten, je unverständlicher die Zumutung, desto reibungsloser ihre Einverleibung. Da es immer 

nur 

in 

engen 

Grenzen 

um 

epistéme 

zu 

tun 

sein 

kann, 

steht 

enérgeia 

um 

so 

höher 

im 

Kurs, 

die 

 praktische Antwort auf die Frage, wie es weitergeht, höher als das theoretische Wissen um die Fülle möglicher 

Bedeutungen, 

das 

dennoch 

ebenso 

vorläufig 

ist. 

Also 

muss 

die 

angebotene 

und 

einverleibte 

 Geschichte 

 der 

 gegenwärtigen 

 Lebens- 

 und 

 Verständnissituation 

 eingepasst 

 werden. 

 Dies 

 gilt 

 auch dann, wenn die Story, ganz abgesehen von ihrem Inhalt, so, wie sie daherkommt, auf den ersten Blick als neuartige, nie dagewesene Inszenierung begegnet. Was die Anstrengungen der Einpassung und Einverleibung zustande bringen, gehört zum prestigio, wie es in der Bühnensprache heißt. Da der ›Gewinn‹ 

bei 

der 

Sache 

indes 

immer 

auch 

mit 

Opfern 

verbunden 

ist, 

kann 

er 

negativ 

ausfallen. 

Dass 

 die Botschaften, deren Inhalte besonders inventionsverbunden sind und ihren Entwurfscharakter in ihre 

Manifestation 

hineintragen, 

sperrig 

bleiben 

und 

dies 

gemeinhin 

auch 

ihre 

Gestaltung 

betrifft, 

 versteht sich, ganz abgesehen davon, auf welche Weise diese Irritation aus der Welt geschafft wird und ob es überhaupt gelingen kann. Trotz 

der 

generell 

mehr 

oder 

weniger 

gut 

gelungenen 

Abschottung 

der 

szenografischen 

Hinterbühne, 

 was den Prozess der Formgebung im Entwurfsbereich angeht (die Nachahmungskompetenz, wenn man so will), indiziert die (Wieder-)Erkennbarkeit des Narrativs auf dem Hintergrund einer langen Geschichte 

 des 

 Wiedererkennens 

 die 

 Chancen 

 auf 

 eine 

 Öffnung 

 des 

 Inszenierten 

 in 

 Richtung 

 seiner 

 Inszenierung. 

Vielleicht 

geschieht 

sie 

nicht 

in 

einer 

einzigen 

Szenifikation 

und 

im 

Rahmen 

eines 

einzigen szenischen Arrangements, aber doch in the long run. Die Bedingungen sind erfüllt, wenn die Anverwandlung des dargebotenen Stoffs, veranlasst durch die Vergegenwärtigung der Installation, Unterstützung bekommt und weitere Anstrengungen gegen weiteren Widerstand mobilisieren kann. Sich der relevanten Installation oder Bühne zu versichern, erlaubt günstigenfalls einen Schluss auf die 

 paradoxe 

 Situation 

 der 

 Aufführung, 

 den 

 Blick 

 hinter 

 das 

 Offenkundige. 

 Gewissheit 

 zu 

 gewinnen 

 bliebe indes ein praktisches Projekt eigener Art, entsprechend die Relativierung möglicher Ergebnisse, 

 sowohl 

 was 

 die 

 Techniken 

 der 

 Inszenierung 

 als 

 Gestaltung 

 betrifft 

 als 

 auch 

 was 

 mittels 

 dessen 

 im medialen Transfer auf der Strecke geblieben sein könnte. Der Adressat des Künstlers eignet sich dessen Tugenden an; er studiert das Nachahmen, um es zwischen Anstrengung und Widerstand zu vergessen. Ohnehin ist die Erkennbarkeit der relevanten Installation eher gewährleistet als die Erkennbarkeit der Variationen und Hintergründe des plots, zumindest wo das theatrale oder theatrische Bühnenarrangement obligatorisch ist; denn auf die Indizes der Installation zu reagieren, reicht

Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel

164

Wahrnehmung in der Regel aus. Ob es diejenigen Anzeichen sind, die für das relevante Objekt symptomatisch 

sind, 

stellt 

sich 

allerdings 

erst 

im 

Laufe 

der 

Szenifikation 

heraus. 

So 

oder 

so, 

wenn 

die 

 Effektkultur der Performanz geeignet ist, das aktuelle Verständnis der Botschaft zu bestätigen (mehr denn es nur zu befördern), werden die Wirkungen medialer Verstärkung verträglicher sein als im Fall eines bloßen coup de théâtre. Der weiß zwar Affekte in Bewegung zu setzen, aber keinen Hinweis darauf 

zu 

geben, 

in 

wessen 

Dienst 

sie 

genommen 

werden 

sollen, 

allemal 

wenn 

die 

Gelegenheit 

genutzt 

 wird, hinter die Bühne zu schauen. Steht 

ohne 

die 

Öffnung 

der 

Szenifikation 

in 

ein 

gemeinsames 

Feld 

von 

poíesis 

und 

páthos 

gar 

nicht 

 zur 

Diskussion, 

ob 

die 

Einverleibung 

der 

Botschaft 

zugleich 

auch 

die 

einer 

wahrsagenden 

Geschichte 

 beinhalten 

 könnte, 

 führt 

 der 

 Weg 

 zu 

 Entwurf 

 und 

 Genealogie 

 der 

 Szene 

 sowohl 

 ästhetisch 

 als 

 auch 

 sachlich zur Befassung mit der Evolution gegenwärtiger Bedeutung. Die Mischung mithin aus professioneller Inszenierung, die im Wesentlichen Nachahmungskompetenz verlangt, und Übermittlung einer Darstellung, welche das Vermögen im turn der Vorstellung verschwinden lässt, kann nur zustande kommen in der praktischen Vermittlungstätigkeit der szenisch Beteiligten. Erst darin verwirklicht sich die Doppelnatur der ›Inszenierung‹. Alle mímesis richtet ihr Augenmerk auf diese Kompetenz. Dass freilich 

 eine 

 szenografiebestimmte 

 Inszenierung 

 mit 

 Zustimmung 

 aller 

 Beteiligten 

 auf 

 diese 

 Weise 

 aufgeschlossen werden kann, gehört zu den Charakteristika der theatral oder theatrisch verfassten Bühnen 

des 

Spiels. 

Wird 

nicht 

gespielt, 

wird 

Gewalt 

angewendet. 7 Wahl aus Freiheit ist demnach die Alternative in der Frage nach den Möglichkeiten des Umgangs mit dem erkennbar Inszenierten. Denn in diesem Fall werden die zu Mitakteuren Aufgerufenen die Symptome der Verschiebungen und Verdeckungen zu analysieren suchen. Sie werden sich der magischen 

Wirkung 

der 

Performance 

nicht 

ausliefern, 

im 

Gegenteil 

das 

Verschwundene 

wieder 

hervorholen und sich mit den Techniken des Inszenierens vertraut machen wollen, seien es die der neuesten Szenifikationen 

und 

Szenografien, 

seien 

es 

die 

der 

gut 

gereiften 

Rituale 

und 

Zeremonielle. 

Den 

Trost 

 des 

Glaubens 

freilich 

müssen 

sie 

dann 

eventuell 

aus 

dem 

Zutrauen 

zur 

eigenen 

Kraft 

beziehen; 

denn 

 die 

Freiheit 

der 

Wahl 

gründet 

sich 

auf 

die 

Autonomie 

des 

Subjekts, 

die 

bekanntlich 

eine 

Erfindung 

 der Neuzeit ist. Die Zuwendung zur Technik der Effekte, die am Horizont der Installation erkennbar wird, wiedereröffnet allerdings auch einen Zugang zu ihrer Herkunft aus der Physis und dem mimetischen 

Geschäft 

der 

damit 

verbundenen 

Artefaktproduktion, 

»daß 

das 

Eingedenken 

durch 

die 

Kunst 

 der Natur unmittelbar sich zuwende«25. Adorno diskutiert im Umkreis dieses Zitats aus seiner Ästhe25

Ein Ausdruck, der den Unterschied zwischen künstlerischen und nicht im Kunstkontext vorgenommenen Dramatisierungen artikulieren soll.

Heiner Wilharm

165

tischen Theorie die Frage nach der magischen Wirkung der Kunst und der Künste. Er unterstreicht, dass der Widerruf vorgenommener Trennung und Verdeckung seinerseits keineswegs blind sein sollte gegenüber 

der 

magischen 

Gründung, 

der 

Weite 

der 

Möglichkeiten, 

zu 

erkennen 

und 

zu 

verstehen. 

 Das rationale Moment nämlich, dem das Subjekt sich verschreiben möchte, gilt es seinerseits zu entsühnen. Zwar ist die »Rede vom Zauber der Kunst [...] Phrase, weil Kunst allergisch ist gegen den Rückfall in Magie.« Doch liegt es in der eigenen Ideologie der Kunst, die die Technik, die sie bedroht, ihr aber selbst einwohnt, verketzert, dass »ihr magisches Erbe in all ihren Verwandlungen zäh sich erhalten hat«. »Die Sentimentalität und Schwächlichkeit«, schreibt Adorno, »fast der gesamten Tradition ästhetischer Besinnung rührt daher, daß sie die der Kunst immanente Dialektik von Rationalität und Mimesis unterschlagen hat. Das setzt sich fort in dem Staunen über das technische Kunstwerk als 

wäre 

es 

vom 

Himmel 

gefallen: 

beide 

Ansichten 

sind 

eigentlich 

komplementär. 

Gleichwohl 

erinnert 

 noch die Phrase vom Zauber der Kunst an ein Wahres.«26 Denn 

es 

ist 

die 

»fortlebende 

Mimesis«, 

die 

mit 

anderen 

als 

mit 

begrifflichen 

Mitteln 

zwischen 

Artefakt 

 und Physis vermittelt und »Kunst« gerade auf diese Weise als »Erkenntnis«, als ein Verstehen bestimmen kann. Säkularisierte Magie lässt dies nicht zu,; denn in solchen Inszenierungen von Erleben und Spektakel, 

 selbst 

 an 

 der 

 Grenze 

 zum 

 Kult, 

 wird 

 »das 

 magische 

 Wesen 

 inmitten 

 von 

 Säkularisierung 

 zum mythologischen Restbestand, zum Aberglauben herabsink[en]«. Folglich gibt es keinen anderen Weg, 

als 

dass 

die 

Kunst 

auf 

die 

Gefahr 

hin, 

jeder 

Art 

erwarteter 

Eindeutigkeit 

eine 

Absage 

erteilen 

zu 

 müssen, die Erkenntnis »um das von ihr Ausgeschlossene« komplettiert.27 Die »Kunst«, von der hier die Rede ist, ist die Kunst des In-Szene-Setzens. Stellt man ab auf die Unterscheidung von Produzenten- und Rezipientenschaft hinsichtlich eventuell 

tatsächlich 

vorliegender 

szenografischer 

Perzepte, 

leuchtet 

ein, 

dass 

sich 

die 

szenifikatorischen 

 Beiträge des Publikums nicht ohne Weiteres auf der Höhe einer von der Regie favorisierten Inszenierung einstellen. Doch braucht es Zustimmung und Unterstützung, wenn sich Rezipienten als Mitproduzenten und Mitakteure des szenischen Auftritts verstehen, die Vermittlung mitbesorgen sollen, was offenbar unter bestimmten situativen Voraussetzungen – getrennte Räume, Zeitverschiebungen, Informationsdefizite, 

 divergierende 

 Zwecke 

 –, 

 kaum 

 gelingen 

 kann. 

 Blockiert 

 hingegen 

 keine 

 dogmatische 

 Szenografie 

 die 

 Vermischung, 

 vermögen 

 individuelle 

 Ansprache 

 und 

 Zuwendung 

 aufseiten der ›Planer‹, Erfahrung, Erinnerungskünste und Engagement aufseiten engagierter Adressaten, schließlich 

 gegenseitige 

 Agitation 

 und 

 Inspiration 

 der 

 aufeinandertreffenden 

 Gruppen 

 das 

 szenografisch-szenifikatorische 

Gefälle 

einzuebnen 

und 

zu 

einem 

gemeinsamen 

szenischen 

Plateau 

zu 

 26 27

Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 86. Ebd., S. 86 f.

Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel

166

formen. 

 Folglich 

 darf 

 man 

 annehmen, 

 dass 

 die 

 im 

 Rahmen 

 einer 

 aktuellen 

 Szenifikation 

 angebotenen Bedeutungen für die damit Konfrontierten nicht im luftleeren Raum einer gerade entdeckten 

 ›Bühne‹ 

 aufflackern 

 und 

 ihr 

 Schicksal 

 finden, 

 selbst 

 wenn 

 diese 

 ›Bühne‹ 

 ihr 

 Setting 

 auf 

 diese 

 Prämisse stützen sollte. Dass die entfaltete szenische Performance und die von ihr ausgehenden Befindlichkeits-, 

 Stimmungs- 

 und 

 Deutungsangebote 

 ohne 

 Wirkung 

 blieben, 

 ist 

 jedenfalls 

 kaum 

 wahrscheinlich. Selbst wenn es gelänge, dass das Publikum seine eigene Anwesenheit vorübergehend vergäße28 , stünde es nicht zu erwarten. Szenifikationen 

der 

geschilderten 

Art 

schließen, 

insbesondere 

was 

die 

Sache 

betrifft, 

um 

die 

es 

sich 

 dreht, 

offensichtlich 

 nicht 

 nur 

 an 

 eine 

 eventuell 

vorhandene 

aktuelle 

Szenografie 

an, 

sondern 

– 

mit 

 Diderots Worten – an das bestbekannte ideale Modell. Dieses Modell ist nicht identisch mit einem manifesten 

 szenografischen 

 Artefakt, 

 auch 

 wenn 

 ›die 

 Szenografie‹ 

 (verstanden 

 als 

 Inbegriff 

 des 

 ästhetischen und inhaltlichen Entwurfs) schlechthin oder auch der aktuell vorliegende Entwurf diesen Modellcharakter vielleicht gerne für sich in Anspruch nehmen würde. Doch ist das ideale Modell nicht deshalb, weil es nicht unmittelbar adressiert werden kann, bloß eine ferne Idee, ein theoretisches Konstrukt, 

 wie 

 wenn 

 der 

 Diskurs, 

 dem 

 die 

 Szenografie 

 entstammt, 

 gleichsam 

 als 

 Produktionsbedingung 

 einer 

 jeden 

 einzelnen 

 Szenifikation 

 als 

 modellierend 

 stets 

 mitgedacht 

 werden 

 müsste. 

 Viel 

 eher 

handelt 

es 

sich 

um 

das 

erfahrungsgesättigte 

Wissen 

der 

an 

der 

Szenifikation 

Beteiligten, 

um 

die 

 eigenen 

 und 

 die 

 kollektiven 

 Bilder 

 vergangener 

 Szenifikationen 

 oder 

 von 

 zu 

 Szenen 

 Vermitteltem 

 – 

 auch und nicht zuletzt in den Kontinuitäten des Sinns. Auf die beteiligten Individuen bezogen, sind es Szenen der Vorstellung und Erfahrung unterschiedlicher Herkunft, formeller wie inhaltlicher Natur. Doch 

wenn 

die 

Situation 

der 

Szenifikation 

unterworfen 

wird 

im 

Augenblick 

des 

Zusammenschlusses 

 aller 

 Agenzien, 

 die 

 sich 

 für 

 die 

 Szenifikation 

 entscheiden 

 (was, 

 wie 

 gesagt, 

 nicht 

 mit 

 Zustimmung 

 verwechselt werden darf), wird sich die Heterogenität der Herkünfte einem gemeinsamen Interesse an 

der 

Szenifikation 

assimilieren. 

Denn 

dies 

ist 

das 

Kriterium 

dafür, 

in 

die 

Szene 

zu 

gelangen 

und 

zu 

 ihr zu gehören. Im Artefakt scheint dies offensichtlich zu sein, in der Handlungsperformanz nicht unbedingt. Doch unter der szenischen Beschreibung wird deutlich, dass dies auch im Werk oder Artefakt 

keineswegs 

so 

offensichtlich 

ist, 

wie 

es 

scheint. 

Es 

ist 

die 

Szene 

eines 

Gemäldes 

keineswegs 

mit 

 dem 

sichtbaren 

Raum 

der 

Malfläche 

identisch. 

Entsprechend 

dehnt 

sich 

der 

szenische 

Raum 

nach 

 eigenem 

 Gesetz 

 auch 

 in 

 allen 

 anderen 

 Konfigurationen 

 von 

 Hervorgebrachtem. 

 Es 

 erhellt, 

 dass 

 aus 

 diesem 

Umstand 

gerade 

dann 

ein 

Korrektiv 

gegenüber 

Szenifikation 

bzw. 

Inszenierung 

erwachsen 

 kann, wenn es sich nicht um die Bühnen von Kunst und Spiel und die Offensichtlichkeit ihrer Installation handelt. Wo der Blick auf das Unsichtbare durchaus erlaubt ist, um vom Erleben zu pausieren und sich der Fabrikation des Sinns genauer zuzuwenden – wenn auch auf eigene Initiative und eigene 28

Ebd.

Heiner Wilharm

167

Kosten –, wird es zu den kulturellen Praktiken gehören, ihn auch zu benutzen. Wo pure Sichtbarkeit darüber hinwegtäuscht, dass es überhaupt szenisch relevant Unsichtbares zu entdecken gäbe, liegen die Dinge anders. Warum sollte der gewöhnliche Medienauftritt im Infotainment-Format seine Konsumenten dazu nötigen, nach den unsichtbaren Elementen der Szene zu fahnden, einer Szene, die vordergründig 

darin 

besteht, 

dass 

allabendlich 

Zuschauer 

vor 

ihrem 

T V-Gerät 

sitzen 

und 

einer 

Sendung 

 namens Tagesthemen folgen? Zu schweigen von denjenigen Szenen, denen dasselbe Fernsehformat Gelegenheit 

gibt, 

fernen 

Ereignissen 

beizuwohnen: 

Szenen 

des 

syrischen, 

ägyptischen, 

afghanischen 

 Bürgerkriegs, Szenen der aktuellen Pokalspiele, Szenen der europäischen Politwelt vom Tage. Wo schließlich der Zugang offensichtlich gewaltsam versperrt wird, obwohl die Inszenierungstatsachen deutliche Symptome hinterlassen und darauf hinweisen, dass sich bedeutsame Verwicklungen im nichtsichtbaren Bereich abspielen müssen, werden sich die Engagierten aufmachen und konkurrierenden Zwecken zur Bewährung verhelfen. Aktuell assoziieren wir mit diesem Appell zum Beispiel die Frage nach der Verfügungsgewalt über private Daten und deren Sicherheit im weltweiten Datenverkehr. Die Szenik der ubiquitären Smartphone-Nutzung, um, überall verbunden, Freud und Leid mit ›Freunden‹ zu teilen, 

lässt 

leicht 

auf 

den 

Gedanken 

kommen, 

nach 

den 

unsichtbaren 

commitments 

zu 

fahnden. 

Von 

 daher wäre diese oder jene Idylle etwas luftiger zu gestalten. Einen Schritt weiter zu tun dürfte sich weit schwieriger gestalten. Konfrontiert etwa mit Erfahrungen einerseits massenmedienvermittelter Tauglichkeit der Kommunikations- und Netztechnologie, andererseits einer beispielsweise arbeitsplatzvermittelten Kenntnis der technischen Funktionalität bestimmter Programmierungskünste im Hintergrund der konkreten Facebook-Szenen wie auch der Werbeauftritte, die das Bedürfnis danach befeuern, wird es für die meisten Normalsterblichen so gut wie unmöglich sein, den Mächten, die, was hier ans Licht zu ziehen wäre, unter Verschluss halten, wirksam entgegenzutreten. 8 Wenn 

nun 

eine 

große 

Menge 

disparater 

Gefühle 

und 

Energien, 

Bilder 

und 

Vorstellungen, 

Erinnerungen und Schlussfolgerungen aufdämmert und Assoziationen bereitstellt, die sich auf dem Weg der Gewohnheit 

an 

die 

longue 

durée 

von 

sedimentiert 

Szenischem 

anschließen, 

so 

ist 

die 

Entscheidung 

 über 

das 

Gelingen 

einer 

aktuellen 

Szenifikation 

zunächst 

davon 

abhängig, 

wie 

die 

Balance 

zwischen 

 den 

unmittelbar 

Einfluss 

nehmenden 

Kräften 

und 

den 

imaginären, 

aus 

Erinnerung 

und 

Geschichten 

 herangetragenen 

 Einflussgrößen 

 gelingt. 

 Mimesis 

 ist 

 in 

 jedem 

 Fall 

 im 

 Spiel, 

 sei 

 es, 

 dass 

 die 

 Szenifikation 

 eher 

 konventionell 

 ausfällt 

 und 

 im 

 Sinne 

 bekannter 

 Inszenierungsformate 

 Anschluss 

 an 

 entsprechende 

 Paradigmen 

 und 

 Ikonizitäten 

 findet, 

 sei 

 es, 

 dass 

 szenisch 

 Sedimentiertes, 

 szenografisch 

 Intendiertes 

 und 

 situationsspezifisch 

 kreativ 

 Szenifiziertes 

 sich 

 mischen 

 zu 

 einer 

 neuartigen 

 szenischen 

Melange, 

der 

Bewusstseins- 

und 

Gewohnheitsveränderungen 

zuzutrauen 

sind: 

die 

wei-

Über Bühnen- und Gesellschaftsspiel

168

tere 

 Ausgestaltung 

 der 

 Szenen 

 oder 

 die 

 Gründung 

 neuer. 

 Die 

 Bilder 

 und 

 Geschichten, 

 Gebräuche 

 und Rituale in der Bibliothek der Szenen werden nicht unbedingt als private Erfahrung geltend zu machen sein, weder im Sinne individuellen Widerstands noch individueller Angebote. Diderots Hinweis darauf, dass das ideale Modell, das zurate zu ziehen sei, mieux conçu sein soll, akzentuiert, dass es um Vergemeinschaftetes geht. Szenisches dieser Art ist wie alles gemischt Semiotische vom ontologischen Zuschnitt der gesprochenen Sprache, wenn auch phänomenal reicher. ›Privatszenisches‹ 

 wird 

 man 

 zurückweisen 

 wie 

 Wittgenstein 

 das 

 Privatsprachliche. 

 Die 

 Gefühlsmodulation 

 eines 

beabsichtigten 

Spiels 

muss 

sich 

darauf 

einstellen, 

dass 

man 

im 

Spiel 

auch 

auf 

Empfindung 

und 

 Gemütsbewegung 

 nicht 

 ausdrücklich 

 engagiert 

 Beteiligter 

 treffen 

 wird. 

 Dennoch 

 wird 

 es 

 vorteilhaft 

 sein, auch ihr Wohlwollen zu erringen – wenn es denn beabsichtigt ist, dass es einen Zusammenklang auch unterschiedlich motivierter agencies geben soll. Nur unter diesen Umständen jedenfalls wird sich das Deutungsangebot des herangeführten Repertoires mit Sprache und Melodie der aktuellen Szenifikation 

befriedigend 

in 

Einklang 

bringen 

lassen. 

Umgekehrt 

wird 

es 

in 

der 

eigentlichen 

Intention 

 einer 

Szenifikation 

nach 

Art 

der 

offenen 

Inszenierung 

liegen, 

zu 

einer 

gut 

geerdeten, 

deshalb 

sowohl 

 friedlichen als auch wahrhaftigen Exposition beizutragen. Nur so besteht die Chance, an einer szenisch, 

das 

heißt 

sozial 

überzeugenden, 

wahren 

Geschichte 

beteiligt 

zu 

sein. 

 Was heißt »wahr zu sein« im Zusammenhang solcher Darstellung? Diderot ist entschieden: »Die Dinge zu 

zeigen, 

wie 

sie 

in 

der 

Natur 

sind? 

Keineswegs. 

Das 

Wahre 

in 

diesem 

Sinne 

wäre 

nur 

das 

Gewöhnliche.« Das Wahre auf der Bühne hingegen »ist die Übereinstimmung der Handlung, der Reden, der Gestalt, 

der 

Stimme, 

der 

Gebärden, 

mit 

einem 

vom 

Dichter 

erdachten 

ideellen 

Modell«. 

Mit 

einem 

 vom mythos beglaubigten Modell, fügt Aristoteles hinzu. Und Heidegger, mit Schelling und Hölderlin – aber auch mit Wagner, ergänzt: mit einem von der Dichtung erdachten Modell. Und Nietzsche fügt an: von einem von der Bildung geprägten Modell. So oder so, es heißt in Übereinstimmung mit einer Natur, wie sie, erst vorgestellt, noch nicht existiert, aber aufgrund von téchne, von Kunst und Wissen, existieren könnte. Und so – wird man Diderots dem Lob der Kunst geschuldeten Distanzierung von der Natur entgegenhalten – wie solche ›Natur‹ in unendlicher Variation auch tatsächlich existiert, ohne dass sie abhängig wäre davon, dargestellt zu werden. Was aber einen möglichen Vorlauf von Mythos und Dichtung vor dem Auftritt der Akteure betrifft29, so ist Diderot wiederum unmissverständlich 

den 

Vorzügen 

der 

Inszenierung 

verpflichtet. 

Vergleicht 

man 

die 

Modelle, 

den 

»Menschen 

 der Natur« mit dem »Menschen des Dichters« mit dem »Menschen des Schauspielers«, ist dem Modell des Dichters wohl der Vorzug vor dem der Natur zu geben, doch nicht vor dem Modell des Schauspielers. Sein Modell allein nämlich verspricht Autonomie, eher allerdings für den Spieler außerhalb der Bühnen der Kunst. Warum? Weil er in diesem Modell seine eigene Marionette ist, folglich auch seine 29

Was unter Umständen, wenn nämlich die Bestimmung als Publikum vergessen würde, durchaus ein Szenario darstellen 

könnte, 

das 

vielleicht 

aber 

eine 

umso 

intensivere 

Gemeinschaft 

bei 

der 

Feier 

anzeigte.

eigenen Texte sprechen darf. »Er stellt sich auf die Schultern seines Vorgängers [des Dichters – HW] und 

hüllt 

sich 

in 

eine 

große, 

aus 

Weidenrute 

geflochtene 

Marionette, 

deren 

Seele 

er 

ist.« 

Anders 

als 

 auf 

dem 

Theater 

wird 

ihm 

in 

Gesellschaft 

zufallen, 

»auch 

noch 

[das] 

Reden 

zu 

erfinden, 

[er] 

hat 

also 

 zwei Aufgaben zu erfüllen – die des Dichters und die des Schauspielers.«30

30 

 Eine 

 Position, 

 für 

 die 

 weder 

 Aristoteles 

 noch 

 auch 

 Heidegger 

 und 

 seine 

 Gewährsleute 

 am 

 Ende 

 reklamiert 

 werden können.

Fritz Perls

[1969] Magda Semrau, Friederike Sommer (Phase 1) Céline Kaiser (Phase 2)

Fritz Perls Céline Kaiser Gemeinsam mit seiner Frau Laura Perls und unter Mitarbeit von Paul Goodman begründete Frederick (Fritz) Perls die Gestalttherapie. Perls, der 1893 geboren wurde, studierte in Berlin Medizin, machte in den 1920er Jahren eine Analyse bei Karen Horney und bildete sich später bei Wilhelm Reich zum Psychoanalytiker aus. Perls interessierte sich während seines Studiums aktiv für das expressionistische Theater und war Statist in Inszenierungen Max Reinhardts. Er war Assistent bei dem Gestaltpsychologen Kurt Goldstein in Frankfurt, bevor er aufgrund des NS-Regimes Deutschland verlassen musste. Nach einer Zeit in Südafrika, wo er das »South African Institute for Psychoanalysis« gründete, übersiedelte er 1946 in die Vereinigten Staaten.

Die Raum- und Objektdesignstudentinnen Magda Semrau und Friederike Sommer konnten ihr Konzept einer Fallvignette von Fritz Perls im Rahmen einer Modellausstellung präsentieren. Für SzenoTest wurde mit Hilfe von Originalton- und videomaterial Die Fallgeschichte von Mary Kay als bespielbarer Modellbau realisiert.

Bereits in den 1940er Jahren entwickelte er eine dezidiert kritische Position gegenüber der Psychoanalyse. In seinem ersten Buch Das Ich, der Hunger und die Aggression von 1941 entwickelte er gemeinsam mit Laura Perls grundlegende Aspekte der Gestalttherapie. Auch während sich die Gestalttherapie, ausgehend vom New Yor-

ker Gestaltinstitut, weiter etablierte, gab es Kontakte zur Theaterwelt wie die zu Judith Malina und Julian Beck, die 1947 das Living Theater gegründet hatten. In den 1960er Jahren ging Perls an das EsalenInstitut in Big Sur, Kalifornien, wo er eine ganze Reihe von Workshops abhielt, die in Form von Video- und Tonaufnahmen dokumentiert wurden. Perls starb 1970. Die hier präsentierte Fallgeschichte stammt aus diesem Zusammenhang. Eine junge Frau arbeitet sich in einer Sitzung unter Begleitung von Fritz Perls an der Beziehung zu ihrer Mutter ab. Dabei übernimmt sie, typisch für das Setting der Gestalttherapie, mal die Position ihrer Mutter, mal ihre eigene und verbindet den Rollenwechsel mit einem Wechsel zwischen zwei Stühlen. Zu hören war in dieser Station die Original-Tonspur (mit freundlicher Genehmigung des Gestaltinstituts, New York).

Bert Hellinger

[2003] Isabella Marohn, Ninja Schmaling

Isabella 

Marohn 

(Studentin 

Grafikdesign) 

und 

Ninja 

Schmaling 

(Studentin 

Raum- 

und 

Objektdesign) 

haben 

Bert 

Hellingers 

Fallgeschichte Inkas und Spanier als bespielbaren Modellbau entworfen und die Dialoge der Fallgeschichte im Tonstudio für den Audioguide eingespielt.

Bert Hellinger Isabella Marohn, Ninja Schmaling Das Familienstellen nach Hellinger ist derzeit eine der populärsten Formen szenischer Arbeit, die auch für psychotherapeutische Zwecke eingesetzt wird – auch wenn sie von ihrem Begründer und Hauptprotagonisten, Bert Hellinger, als ›Lebenshilfe‹ und nicht als ›Psychotherapie‹ gekennzeichnet wird. Familienaufstellungen nutzen eine Reihe von therapeutischen Techniken, vor allem aus dem Feld systemischer Therapien. So wird etwa die Familienskulptur, mit der Virginia Satir schon in den 1960er Jahren gearbeitet hat, aufgegriffen, die eingesetzt wird, um Beziehungsdynamiken innerhalb von Familien metaphorisch aufzudecken. Seine 

 spezifische 

 Form 

 des 

 Familienstellens hat Bert Hellinger seit den 1970er Jahren entwickelt. Hellinger, der 1925 in Leimen geboren wurde, hatte Philosophie, Theologie und Pädagogik studiert; er war zunächst geweihter Priester und arbeitete einige Jahre missionarisch in Südafrika, bevor er sich intensiver mit psychoanalytischen und anderen psychotherapeutischen Ansätzen (z. B. der Primärtherapie und der Provokativen Therapie) beschäftigte. 1971 legte er sein Priesteramt nieder und arbeitet seitdem vorrangig im therapeutischen und beratenden Bereich. Er hat zahlreiche

Bücher sowie Video- und Tonaufnahmen veröffentlicht, in denen seine Aufstellungen präsentiert und von ihm gedeutet werden. Hellinger verbindet systemische und andere therapeutische Techniken mit einem stark normativen Weltbild, das deutlich esoterische Anklänge hat. Weit entfernt von konstruktivistischen Grundannahmen, wie sie für systemische Ansätze nicht unwesentlich sind, geht er davon aus, dass ›sich‹ in den einzelnen Aufstellungen ›etwas zeigt‹, das sich Abweichungen von der ›Ordnung‹ auch über die Generationen hinweg in den Bewegungsimpulsen derjenigen, die an einer Aufstellung teilnehmen, manifestieren. Das Familienstellen nach Hellinger ist ebenso populär wie aufgrund der Hintergrundannahmen und der Art und Weise, wie mit den Klienten gearbeitet wird, höchst umstritten. So hat sich die ›Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie‹ (DGSF), ein berufsübergreifender Fachverband für Systemische Therapie, Familientherapie, Beratung und Supervision, deutlich von Hellingers Familienaufstellungen abgegrenzt und diese als gefährlich für die Protagonisten der Aufstellungen eingestuft.

Agon und Agonie Notizen zu einer theatralen Opferlogik Ralf Bohn

Ralf Bohn

179

1. Vom unvermeidlichen Opfer-Künden Sowohl das Theater als auch die Therapie gelten als Formen der Krisenbewältigung und der Opferverschiebung ins Fiktive – ins Imaginäre. Im Theater als Spiel werden liminal Krisenprozesse jedoch auf der gesellschaftlichen Ebene gleichsam rituell dargestellt und verhandelt. In der Regel sind Akteure und Publikum funktional, räumlich oder sinnendifferenziell bestimmt. Ziel der Aufführung (Performance) 

 ist 

 ein 

 Reflexionsgewinn 

 in 

 der 

 Anschauung 

 von 

 individuellem 

 und 

 personalem 

 Handeln 

 als 

 sinnlich szenische Form. Im Wesentlichen trägt dabei die Unterscheidung von Performanz (Handlung/ Aufführung) und Kompetenz (Wissen/soziale Regel). Die Maxime des Theaters ist, den Menschen an seinen Handlungen zu erkennen und aus der Erkenntnis ethisch produktive Handlungen abzuleiten. Die radikalste Form dieser Handlungen bestimmt sich für die westliche Theaterkultur aus dem griechischen Agon1, 

 dem 

 zunächst 

 opferreichen, 

 dann 

 opferrituell 

 verpflichteten 

 Wettkampf. 

 Eine 

 Therapie setzt eine dialogische Form der Krisenbewältigung zumeist nicht personal-gesellschaftlicher, sondern subjektiver Natur voraus, und zwar als ein echtes Ritual (klassisch das der Übertragung), in dem der Therapeut und der Patient ohne 

 primären 

 Reflexionsgewinn 

 den 

 Widerstand 

 gegen 

 gesellschaftliche und gemeinschaftliche Regeln aufgeben. Dieser Widerstand entsteht aber dadurch, dass in der Symptomatik das Theater der Opferverdrängung als Verdrängung der Theatergenealogie nicht akzeptiert wird. Das Symptom zeigt als Theater der Wirklichkeit, was im wirklichen Theater an Opferverdrängung stattgefunden hat. Denn das wirkliche Theater leitet sich eben vom Agon als realem Opferlauf ab. Die Symptomdarstellung besteht darin, nicht zugleich wieder nur auf der Ebene der theatralen Szene auf die Opfer zu verweisen. Symptom verbleibt so als Selbstopfer. Als ökonomischer Ort der Opferbilanzierung und -verschiebung gemäß der Freudschen Triade »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten«2 gilt die Szene. In der Szene stellt der Patient grundsätzlich die Unmöglichkeit der opferlosen Krisenbewältigung in einem Körperraum vor, muss diesen aber für andere darstellend erhalten können. In der Manifestation des Opferwiderstandes wird das Symptom zu einer Selbstverdinglichung gemäß der des Theaters: Der Körper wird selbst zur Szene. Die Szene oder das Setting sind demnach weder konkrete Räume oder Ereignisse oder Praktiken, sondern ökonomische 

 Felder 

 der 

 Hierarchisierung 

 von 

 Kompetenz 

 und 

 Performanz, 

 von 

 Identifikation 

 und 

 Individuation. Halten wir fest: Das Theater verdeckt einen realen Opfervorgang, es macht ihn opferlos 1

2

»In westlichen Sprachen hat ›action‹ (Aktion, Handlung) den Beiklang von Kampf. Aktion ist ›agonal‹. Akt, agon, Agonie und agitieren stammen alle vom selben indo-europäischen Stamm *ag-, ›treiben‹, ab, auf das das lateinische agere, ›tun‹, und das griechische agein, ›leiten‹, zurückgehen.« Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a. M., New York 2009, S. 162. Sigmund Freud, »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten« (Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse, II) (1924), in: Sigmund Freud, Zur Dynamik der Übertragung. Behandlungstechnische Schriften, Frankfurt a. M. 1992.

Agon und Agonie

180

darstellbar. Das Symptom macht an sich selbst darstellbar, dass es keine Produktionsökonomie ohne Opfer 

gibt, 

muss 

aber 

den 

zeitlichen 

und 

effektiven 

Gehalt 

seiner 

Darstellung 

mit 

einer 

Verdinglichung erkaufen, also einer Produktion, die sich, anders als das Theater, nicht vom Körper ablöst. Das Theater der Therapie besteht nun in dem paradoxen Unternehmen, das Opfer produktiv werden zu 

 lassen 

 für 

 eine 

 Gesellschaft, 

 die 

 unentwegt 

 den 

 Opferstoff 

 annulliert, 

 indem 

 sie 

 ihn 

 permanent 

 opfernd der Produktion, d. h. der vermittelnden Darstellung zuführt. Nach der frühgriechischen Tradition ist der Kampf um Heilung und Opferung (Sühne und Katharsis) mit dem Agon, dem Opferkampf verbunden. Theater ist der Ort, an dem die Dramatik zwischen Opfer und Heil 

reflexiv 

in 

einer 

poetischen 

Metasprache 

bilanziert 

wird. 

Aber 

auch 

im 

therapeutischen 

Setting 

wird 

 auf 

 diese 

 Katharsis 

 hingearbeitet. 

 In 

 der 

 Szene 

 des 

 Neurotikers 

 finden 

 die 

 Bewegung 

 oder 

 der 

 Tausch 

 statt, in denen das Scheitern eines Ideals opferlosen Heils dargestellt wird und somit auch das Scheitern einer jeden Therapie an dem verzweifelten, ›neurotisch hysterisierten‹ Wunsch der Letztopferabschaffung, der Unsterblichkeit.3 Es ist dieses ›natürliche‹ (schicksalhaft-dramatische) Scheitern, das alle sichernden Kulturprodukte als eine zweite, eine theatralische Ökonomie als Kunstpraxis etabliert. Diese zweite Natur ist durch Technik und Warenkultur geprägt. Insofern muss man nach den technischen Bedingungen und Zwängen des Settings gegenüber denen des Theaters fragen. Denn die Techniken bringen 

im 

Zuge 

der 

Medialisierung 

der 

Realien 

eine 

fiktive, 

theatralische 

Natur 

hervor 

(Simulationen, 

 Simulakren, 

Szenografien, 

also 

Maschineneffekte), 

die 

jene 

phantasmatisch 

krisenlatente 

Opfernatur 

 ersetzen, die es als erlöste niemals gegeben hat, da ihr Erlösungsstatus der einer Imagination ist. Das Paradies als Erträumtes realisiert sich in der Fiktion als verdinglichter Traum. ›Natur‹ ist die nachträgliche Fingierung einer Realität zu diesen Erlösungseffekten als Szenifikationen zu verstehen, nämlich die Situation4, 

als 

synchrone 

und 

synchronisierte 

Existenz 

(Praxis) 

des 

Individuums 

in 

der 

Gesellschaft. 3

4

Als neurotisch bezeichne ich undifferenziert der Kürze wegen alle psychosomatischen Störungen im frühen Freud’schen Sinne. Die Psychosen sind deshalb davon ausgenommen, weil sie nicht auf der Ebene der Signifikanten erreichbar sind, d. h. nicht in einem Setting, das auf der Ebene eines spielerischen oder sprachlichen Durcharbeitens konditioniert ist. ›Situation‹ ist verstanden im Sinne der existentiellen Analyse Heideggers, aber vor allem Sartres, der in dieser Hinsicht sein Theater der Situation 

reflektiert. 

Vgl. 

Jean-Paul 

Sartre, 

»Literatur 

als 

Engagement 

für 

das 

Ganze. Interview mit Madeleine Chapsal, 1960«, in: Jean-Paul Sartre, Was kann Literatur? Interviews Reden Texte 1960–1976, Reinbek 1985, S. 11. »Heute glaube ich, daß die Philosophie dramatischen Charakter hat. Es geht nicht mehr darum, die Unbeweglichkeit der Substanzen zu betrachten, die sind, was sie sind, noch die Regeln für eine Phänomenologie zu finden. Es geht um den Menschen – der zugleich ein Agent und ein Akteur ist –, der sein Drama hervorbringt und spielt, indem er die Widersprüche seiner Situation bis zum Zerspringen seiner Person 

oder 

bis 

zur 

Lösung 

seiner 

Konflikte 

durchlebt.« 

Die 

Situation 

ist 

derjenige 

Unort, 

der 

in 

der 

Gesellschaft nicht vermittelt ist. Das aber ist die Praxis als Evidenz. In einer (maschinellen) Produktionskultur muss man davon ausgehen, dass das Theater der vermittelnden Opferverdrängung alle Lebensbereiche durchdringt,

Ralf Bohn

181

Die Frage ist nun, an welchen Polen des Scheiterns einer kontingenten Natur wir uns ansiedeln. Im Theater ist nicht Natur, sondern Wirklichkeit als immer schon geopferte vorausgesetzt. Das Theater dringt auf die Rekonstitution einer menschlichen Natur, der Konventionalisierung menschlichen 

Verhaltens 

und 

menschlicher 

Gesten. 

Im 

therapeutischen 

Setting 

wird 

demgegenüber 

die 

 Natur des Menschen als agonisch aufgefasst werden müssen. Der Neurotiker ist kein Simulant. Therapie muss als Akt einer ›Zivilisierung‹ verstanden werden, die die Krise nicht beseitigt, sondern sie personalisiert und kultiviert – eingedenk des Umstandes, dass sich das Subjekt nicht in Natur 

auflösen 

lässt 

noch 

sich 

in 

radikaler 

Freiheit 

singularisieren 

kann. 

Es 

muss 

sich 

zwischen 

 Situation 

und 

Szenifikation 

in 

Vermittlung 

setzen. 

Eine 

›Heilung‹ 

– 

in 

Bezug 

auf 

eine 

nie 

stattgehabte (imaginäre) erste, ›romantisch befriedete Natur‹ – kann nicht erwartet werden: Sie würde eine Komplette Inversion der gesellschaftlichen Produktion (ihre Agonie) zur Folge haben. Heilung muss mit Handlungsfreiheit übersetzt werden, also mit der Möglichkeit, Alternativen zu sehen, zu wissen und sich offerieren zu können. Es ist in Erfahrung zu bringen, worauf wir uns mit den Techniken dieser 

 z weiten 

 Naturproduktion 

 (die 

 der 

 Dinge) 

 einlassen, 

 die 

 wir 

 nach 

 den 

 Regeln 

 einer 

 fiktiven, 

 ersten versprechen – einer Simulation ohne Urbild. In diesem Sinne sind alle Produktivkräfte von theatralen Techniken durchdrungen. Ethnologisch betrachtet sind Inszenierungen keine Rituale. Der Möglichkeitsraum des Rituals besteht in der tatsächlichen Überschreitung von alternativen Regeln, der der theatralen Inszenierung besteht darin, eine der möglichen Deutungen eines Stücks zu erproben, nicht zu überschreiten. Die Inszenierungseinübung (Proben), nicht die Aufführung ist der Möglichkeitsraum. Das Symptom ist nun die Spitzenform einer Technik der Aufklärung darüber, dass es das Phantasma der Heilung (Krisenabschaffung) selbst ist, was als projektive erste Natur zu allererst in Frage steht. Das Symptom ist das Wissen (Identitätsbesetzung) darüber, dass Heilung nur in der vollständigen Opferung 

 der 

 Gesellschaft 

 als 

 deren 

 Negation 

 besteht. 

 Dieses 

 Wissen 

 wird 

 flankiert 

 von 

 der 

 Angst 

 des 

 tatsächlichen 

 Verlustes 

 der 

 Gesellschaft 

 als 

 vermittelte 

 Realität 

 (Gedächtnisverlust). 

 Was 

 bleibt 

 an Opfervermeidung anderes übrig, als die Verdinglichung/Symptomatik als Krankheit am eigenen Körper 

 (Identifikation 

 mit 

 dem 

 Aggressor) 

 zu 

 produzieren? 

 Verdinglichung 

 meint 

 hier 

 Opferverdichtung, 

so 

wie 

das 

Gewaltpotential 

der 

Gesellschaft 

sich 

im 

Bombenbau 

verdichtet, 

aber 

zugleich 

auch 

 disponibel hält. Die Einbehaltung/der Aufschub kann aber selbst nicht autonom sein, er muss sich als Symptom für einen anderen darstellen und zur Aufführung bringen, als das Andere an mir selbst: Jede Bombe ist Rettung und Bedrohung. Was will man dem Neurosentheater in einem Therapiethewährend es die nichtfingierte Realität einer Natur nur in der Perversion dieser Kultur gibt. Das ist der Standpunkt des Neurotikers.

Agon und Agonie

182

ater anderes entgegensetzen als die Dekomprimierung, d. h. szenisch-narrative Dekomprimierung seines Anliegens, von der unvermeidlichen Opferlogik der Verdinglichung zu künden. 2. Agonistik zwischen symbolischer und funktionaler Deutung Wie 

ist 

die 

Leistung 

der 

szenografischen 

Maschine 

zwischen 

der 

Heilserwartung 

und 

dem 

Opfer, 

das 

 dafür 

 aufgewendet 

 wird, 

 ökonomisch 

 zu 

 bewerten? 

 Geht 

 es 

 darum, 

 die 

 Grenzen 

 des 

 Wissens 

 durch 

 die Wiedereinführung ritueller Traditionen zu erweitern, oder geht es darum, die Synchronizität von Wissen, Erfahrung und Handlung (Begehung) zu rekonstruieren, um somit eine künstliche Situativität zu 

erschaffen? 

Gerieren 

sich 

Szenografien 

als 

Pseudonaturen 

oder 

deren 

szenisch-narrative 

Auflösung? Es geht darum, die Bombe, die man baut, als Attrappe platzen zu lassen. Theatralität handelt mit Effekten. Wie kann man opfern, ohne zu opfern? Naheliegend ist zu behaupten, im Theater würde ein vormals im frühen Agon noch reales Opfer symbolisch vergemeinschaftet, während in der Therapeutik das Opfer kulturell vergesellschaftet, also der situativen Struktur, d. h. den Techniken unterstellt wird. Theatertherapie kann zu einer Lehre werden, in der die Verschiebbarkeit des Opfers entgegen dem Symptom als Opfereinbehaltung (Entschuldung der Welt) in einen Handel gebracht wird. Das heißt allerdings, das Theater selbst muss in Bezug auf das Opfer gedacht werden, nicht in Bezug auf eine opferfreie Zone. Handlungen sind von Handel als gesellschaftlicher Vermittlung nicht zu trennen. Nennen wir die Opferblockade Agonie, ihre Darstellung Agonistik und die ökonomische Brechung/Mitteilung Szenik. Die Szene macht aus dem Agon (Widerstreit/Wettkampf) eine Agora: einen Ort der Darstellung. Sie verschiebt nicht das Opfer, sondern zeigt, dass es notwendigerweise Verschiebungen geben muss, und zwar einerseits als Transformationen in der Performanz eines Rituals, andererseits als Produktionen, Übersetzungen, Tauschhandlungen. Das Übersetzungsproblem – das der Bombe als Attrappe – kann als solches nur thematisiert werden, indem in einer liminalen Überschreitung (rituell) die ethisch-ästhetische Differenz als dialektische Beziehung offenbar wird.5 Es gibt keine Vermittlung ohne Täuschung respektive Deutungsfreiheit. Hier kommt es vor allem darauf an, ein exklusives Zeitintervall, eine Inszenierung von Zeit zu arrangieren, was nichts anderes 5

Turner spricht von liminalen Prozessen (Schwellensituation) als Phase der Krisenbewältigung in einem rituellen Ablauf und von liminoiden Prozessen, in denen der Übergang nicht in einer vergemeinschafteten Handlung, sondern im Austausch und Übergang des Individuums zu seinen personalen (sozialen) Regeln besteht. Vgl. Turner, Vom Ritual zum Theater, S. 50-66, hier S. 66: »Liminoide Phänomene sind also durch Freiwilligkeit, liminale durch Pflicht gekennzeichnet«. Turner verbindet diese beiden Handlungsmodale mit der für unsere Gesellschaft 

 t ypischen 

 Unterscheidung 

 von»Arbeit« 

 und 

 »Muße«, 

 muss 

 aber 

 zugleich 

 konzedieren, 

 dass 

 in 

 einer postmodernen Freizeitgesellschaft beide Relationsbeziehungen ineinander verflochten sind, was heißt, dass zwischen Krise, Arbeit, Heilung, Muße die Übersetzungsopfer transformatorisch ineinander so verwandelt 

werden, 

dass 

dem 

ökologischen 

Gedanken 

nach 

kein 

Opferrest 

bleibt, 

was 

unweigerlich 

eine 

Form 

der 

 Agonie 

der 

Gesellschaft 

bedeutet.

Ralf Bohn

183

heißt, als ein Außer-Kraft-Setzen der sozialen Regeln durch mögliche individuelle Interventionen. Jedes Theater muss den Einspruch verkraften. In der szenischen Darstellung dieser exklusiven Zeit erscheint das, was in der Situation synchron gegeben ist, diachron, narrativ gestaffelt und dadurch erst 

raumkonstitutiv. 

Es 

ist 

der 

Rhythmus 

der 

Individualität, 

der 

Gesellschaftlichkeit 

notwendig 

konstituiert. Jedes Drama wird zum symbolischen Zeitspielraum einer Einübung in die Unvermeidlichkeit des 

Transpositionsopfers, 

denn 

in 

der 

fiktiven 

Zeit 

ist 

die 

reale 

Zeit 

geopfert.6 Der Spielraum der Individualität, also die andere Praxis, ist im Dualismus von symbolischer (kompetenter) oder funktionaler (performativer) 

Lesart 

immer 

schon 

gegeben. 

Genau 

darin 

liegt 

aber 

der 

Sinn 

des 

Agons: 

die 

doppelte 

 Lesart 

 als 

 intrinsischen 

 Möglichkeitsraum 

 fiktionaler 

 Systeme 

 auszuweisen. 

 Dass 

 eine 

 Bombe 

 gehorteter Opferstoff ist, erweist sich sowohl an der Tabuisierung ihrer Benutzung als am Effekt ihrer Explosion. Angst und Lust arbeiten Hand in Hand. Man darf darauf hinweisen, dass das komplementäre Verhältnis von funktionaler und symbolischer Lesart auf eine für die Inszenierung wichtige Unterscheidung existentialhermeneutisch gedachter Erzählung (Historie und Phantasma des Ichs) und performativer Reinszenierung (Intentionalität und Selbstbewusstsein als autopoietische Bewegung) basiert. Beide Fokussierungen sind im hermeneutischen Spiel ökonomisiert. Techniken setzen, da sie nicht mehr zu verstehen sind, auf symbolischen Gebrauch. 

Die 

symbolische 

Ebene 

wird 

vom 

Design, 

dessen 

funktionale 

Transformation 

durch 

die 

 entsprechenden 

szenografischen 

Techniken 

übernommen. 

Es 

geht 

darum, 

Dinge 

in 

Ereignisse 

zu 

verwandeln, 

auf 

die 

ich 

reagieren 

kann, 

ohne 

sie 

reflektieren 

zu 

müssen. 

Dieser 

sich 

in 

das 

Delir 

(Agonie) 

 rettende Logos charakterisiert den heutigen Agon einer in den unvermittelten Konsum übergehenden Produktion, einer Produktion, die gleichzeitig Konsum ist. Letztlich ist die Strategie der Opferkompensation, der Heilung auf gesellschaftlicher Ebene, mit einer Art Reset verbunden, durch den alle Dinge sich als verbündete Waffen gegen eine in mir selbstmörderische Natur aus mir heraus als mein Anderes für Andere im Lichte dieser widerstreitenden anderen Auffassung paralysiert werden. Der Effekt der Agonie der Produktion ist die Paralyse.

6

Insbesondere Erika Fischer-Lichte weist darauf hin, dass das Aufführen etwas anderes ist als das Darstellen. Die Aufführung verlangt die »leibliche Ko-präsenz von Akteuren und Zuschauern«, sie ist deshalb aber ebenso wenig wiederholbar wie der Akt der Darstellung. Es ist ja gerade der Aufführungscharakter und seine Inszeniertheit, die Wiederholungen entgegen der Irreversibilität der Zeit ermöglichen soll, und zwar im Austausch. Zeit wird in Handlung und Handel verwandelt und erreicht so einen Status der Reziprozität, verwandelt also kalendarische Zeit in soziale Zeit. Vgl. Erika Fischer-Lichte, »Theatralität und Inszenierung«, in: Erika FischerLichte, Christian Horn, Isabel Pflug, Matthias Warstat (Hg.), Inszenierung von Authentizität, Tübingen und Basel 2007, S. 17.

Agon und Agonie

184

Der Agon ist weniger Wettkampf im sportlichen Sinne als vielmehr der motorische Versuch des ökonomischen Durchdrehens, der Dissoziation des Opfers, seine Verwesung. Er produziert das Delier und die Paralyse des Neurotikers, beides Opfervermeidungsstrategien, um nicht das zu kontaminieren, was rettet: den Anderen. Die Symptomatik ist eine Selbstverdinglichung, eine Selbsttechnisierung, die 

 den 

 perfiden 

 Wunsch 

 unterhält, 

 für 

 die 

 Gesellschaft 

 im 

 Symptom 

 das 

 Dilemma 

 ihrer 

 selbst 

 opferlos ausweisen zu wollen. Das Symptom ist Wissen, das darauf zielt, zu zeigen, ohne schuldig zu werden: deswegen der innere Zusammenhang zwischen Hysterie und Theater. Im Beisein Freuds zeigt Charcot am Theater der Hysteriker solche Szenen im Bühnenarrangement seiner Vorlesungen.7 Was muss man dem Kranken bieten: eine Bühne, auf der er die Agonie der menschlichen Opferabschaffung als Fiktion entlarvt, damit aber zugleich auch das Bühnen- und Inszenierungswesen als eine potenzierte Technik der Realitätsversicherung durch Simulation desavouiert: Die Attrappe der Handlungen vermittelt sich im therapeutischen Sprechen. 3. Die Szene als Ort der Selbstvermittlung vom Kompetenz und Performanz Wie der Titel »Agon und Agonie« anführt, geht es um die Erörterung einer Logik dessen, was Theatertherapie 

im 

Gegensatz 

zur 

rituellen 

Theatralik 

an 

Krisenerkenntnis 

und 

Übersetzung 

leisten 

kann, 

 insbesondere 

 wenn 

 der 

 finale 

 Erlösungsgedanke 

 von 

 Therapie 

 auf 

 etwas 

 abzielt, 

 dessen 

 Unerreichbarkeit die innere Dramatik des Agons, des ›neurotischen Theaters‹, allererst ausmacht. Techniken der Körperbeherrschung sollen mit eben den Opferabschiebungsprämissen eingeführt werden, die in 

Zweifel 

zu 

stellen 

die 

Symptomatik 

darstellt? 

Der 

ambige 

Gehalt 

ist 

in 

der 

komparatistischen 

Setzung von Agon und Agonie angezeigt, was meint, dass es zwei Darstellungspole gibt: die der Agonie praktischer Situativitäten und die des Agon, was so viel wie »Widerstreit« oder »Wettkampf« meint, d. h. ein Spiel mit expliziten Regeln und expliziten Freiheiten, eine Aktion, die sich nicht autopoietisch durch 

sich 

selbst 

erhält, 

sondern 

zur 

Finalisierung 

eines 

sozialen 

Konflikts 

überhaupt 

erst 

angesetzt 

 wird. Dieser Widerstreit wird nicht durch Ermüdung oder Desinteresse beendet, sondern durch einen externen, 

richterlichen 

Eingriff, 

durch 

einen 

Entscheid 

der 

Götter. 

Unter 

Agonie 

versteht 

man 

neben 

 dem Überdrehen der Produktion die Ohnmacht oder die Lethargie einer Handlung, die Weigerung unter den paradoxen Verhältnissen überhaupt in ein Spiel zu geraten – was freilich eine Strategie der 

 Opfervermeidung 

 darstellt. 

 Es 

 sind 

 keine 

 Regeln 

 explizit, 

 die 

 das 

 Spiel 

 finalisieren. 

 Hier 

 sind 

 es 

 gerade also die externalisierenden Momente, die problematisch sind und abgewehrt werden müssen. Im extremen Fall wird das Spiel zur Sucht und muss sich in der Sucht an sich selbst erhalten und vernichten. Insofern sagt die Symptomatik der Agonie etwas über die Illusion aus, die Unterscheidung 7

Vgl. Durchgehend zu den Darstellungsformen des Unbewussten: Henry F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, Bern 1996.

Ralf Bohn

185

›Spiel‹ 

versus 

›Ernst‹ 

respektive 

wie 

bei 

Turner 

›Arbeit‹ 

(d. 

h. 

P flicht/Opfer)8 und Muße als ontologische Kriterien anzusetzen. In der vielfachen Bedeutung des Wortes Spiel (game und play) muss beachtet werden, dass ›Spiel‹ eine Relationsbeziehung bezeichnet, die durch Übergänge (Transformation, Handel oder Produktion) gekennzeichnet ist. Besser wäre, nicht Spiel und Ernst gegenüberzustellen, sondern von einem externen oder impliziten Widerstand gegen die Widerständigkeit (Realität) von Arbeit 

(finalisierter 

Zeit) 

und 

Muße 

(sozialisierter 

Zeit) 

zu 

sprechen. 

Die 

Agonie 

fragt 

nach 

dem 

Gott 

 der Dinge, nach dem externen Bewusstsein (dem Uhrmachergott des Mittelalters) einer Kontinuität des Lebenslaufes, orientiert sich in der Strategie des Todesaufschubs, an einer Logik der Unsterblichkeit und Unendlichkeit. Agon meint im profanisierten Sinne dasjenige Spiel, dessen Aufgabe es ist, durch das Spiel performativ 

die 

Regeln 

zu 

finden, 

die 

es 

stabilisieren, 

also 

eine 

Vermittlung, 

einen 

sachgemäßen 

Gebrauch 

 von den Dingen, Naturstoffen und -räumen zu erlauben. Dieses Spiel läuft zwar linear ab, kann sich aber zyklisch wiederholen.9 Dieses in sich Vermittelnde macht das Szenische der Szene aus. Sie präsentiert sich in relativ abgeschlossener Ökonomie, sowohl in zeitlicher (Inszenierung) als auch in 

 darstellender 

 Hinsicht 

 (Szenifikation). 

 Die 

 Szenifikation 

 bezeichnet 

 jenen 

 Modus, 

 in 

 dem 

 die 

 Situation für einen anderen (oder für den Neurotiker selbst) in ein vermittelndes Anderenverhältnis tritt: den Schmerz. Der Schmerz nimmt auf Seiten des Protagonisten oft die moderierte Form des Lampenfiebers 

an. 

Eine 

wesentliche 

Position 

der 

autoreferentiellen 

Vermittlung 

ist, 

den 

Schmerz 

so 

 lange wie möglich als Widerstand für sich zu gewinnen, was der Agonie und vielen Neurosen ihren syndromischen Charakter verleiht. Der syndromische Charakter ist ein sowohl für das Spielen wie für motorische Techniken üblicher Wunsch, das Unendliche durch die Kraft der Wiederholung zu bannen und zugleich diese Wiederholung in die Modalitäten von Zeitlichkeit (Tauschprozesse, Ritualprozesse, Rhythmisierungen, Maschinisierung etc.) zu überführen und diese Zeit als sinnhaft zu verstehen. Die 

narrativen 

Formen 

syndromischer 

Szenik 

sind 

in 

vielen 

Choreografien 

möglich, 

die 

von 

einem 

 Apriori der Raum- und Zeitordnung träumen: das minoische Labyrinth, die Odyssee, Reise, Wanderung, Wettrennen, Taumel ... Solche Ordnungen zu etablieren ist insbesondere Aufgabe der Szenografien als funktionale, weniger symbolische Deutungsvorgaben respektive Kontextualisierungen. Es ist dieses Grafische 

gerade 

der 

fingierte 

Aspekt 

am 

Spiel, 

zwischen 

der 

syndromischen 

Agonie, 

 8

9

Siehe Victor Turner, Vom Ritual zum Theater, S. 54–66. Turner stellt für die Industriegesellschaften das Verhältnis von »Muße« und »Arbeit« im Sinne der Ableitung pietistischer, individueller Verantwortung heraus und bezieht 

sich 

dabei 

auf 

Max 

Weber. 

Der 

Pietist 

kann 

seinen 

Glauben 

nicht 

mehr 

per 

Ritual, 

sondern 

nur 

dadurch 

 ausweisen, dass er gottgemäß handelt, also gute Werke tut. Um das zu leisten, muss er sie aber einer anderen Ökonomie (der kapitalistischen Opferökonomie) entziehen. So etwa beim Karnevalszug oder bei der Kreuzwegpassion.

Agon und Agonie

186

der Ausweglosigkeit bis zur zielgerichteten Attacke die lineare und liminale Verengung und damit die Erhöhung des dramatischen Potentials zu balancieren, Deutungshandlungen vorschreiben und in ihren Effekten vorhersehen zu können, als Praxis, die uns immer schon voraus ist. Der Regisseur als Mantiker erlaubt es, die individuelle Deutungsinitiative mit den überindividuellen Bedeutungen zu vermitteln. In der Szene sind im Bühnen-, Raum- und Lichtarrangement ebenso natürlich syndromische 

Techniken 

möglich, 

die 

insgesamt 

eine 

szenografische 

Kunstform 

institutionalisieren, 

die 

 die 

 Wiederholbarkeit 

 der 

 Ereignisse 

 und 

 Erlebnisse 

 in 

 gewissem 

 Grade, 

 wenigstens 

 auf 

 Höhe 

 der 

 Affekte und Effekte garantieren soll. Dieses ›klassische‹ Theater der Aufführungen, Begehungen und Verweisungen ist in seiner institutionalisierten bürgerlichen Form eine vergemeinschaftete Einrichtung zur Abwehr der ambigen Kräfte sich verfehlender Selbstautarkisierung: das gerettete, external bewahrte, kathartisch opfergereinigte Symptom, das Theater. Die Szene, sofern sie therapeutisches Heil wie Offenbarung des Unheilbaren und Unheiligen schon ist, ist das vergesellschaftete Symptom, das in einer Vergemeinschaftung die Durcharbeitung der komplementären Ambiguität erlaubt und somit den triadischen 

Prozess 

von 

Erinnern, 

Wiederholen, 

Durcharbeiten 

erfüllt. 

Das 

Heil 

der 

Szenifikation 

beruht 

 darauf, vor der agonistischen, psychotischen Selbstabschließung zu bewahren, indem sie sich dem Blick des 

anderen 

 notwendig 

 öffnet. 

 Das 

 Heil 

 einer 

Szenografie 

beruht 

darauf, 

die 

Unendlichkeit 

der 

Opfermotorik 

in 

ein 

fiktionales 

Programm 

zu 

überführen, 

das 

die 

Attrappe 

seiner 

eigenen 

Realität 

ist. Die Rettung im Fiktiven und die Technik der Ökologisierung, d. h. der Verwesung der Opfersubstanz, kann am Mythos des Marsyas abgelesen werden.10 

 In 

 ihm 

 geht 

 es 

 nicht 

 um 

 Gewalt 

 und 

 Mitleid, 

 sondern um die nüchterne Feststellung, dass in der sezierenden Kraft einer Technik, einer Therapie, eines 

 Graphismus 

 notwendig 

 die 

 Gesamtheit 

 der 

 lebendigen 

 Gestalt, 

 die 

 Organmembran 

 der 

 Haut, 

 szenisch-narrativ 

 wiederhergestellt 

 werden 

 muss. 

 Die 

 Krise 

 (Verlust 

 des 

 Grundes, 

 Verlust 

 der 

 Natur 

 und 

 Verlust 

 der 

 Einheit 

 des 

 Ichs/Gedächtnisses) 

 soll, 

 insbesondere 

 im 

 Bereich 

 szenografischer 

 Professionalität 

(Szenografie 

als 

Dienstleistung), 

gar 

nicht 

zur 

Darstellung 

kommen. 

Die 

Sezession 

anatomischer, chirurgischer Wissenschaft (aber auch die Inszenierungen des Films als Montage in disparaten Räumen und Zeiten) durchkreuzt diesen Anspruch in der Fingierung der Krise. Darin erst wird die Dramatik lebendig. Es kann im eigentlichen (klassischen) Theater nicht darum gehen, externale Passagen zu dekorieren (das schafft die theatrale Architektur mit Treppe, Lobby, Loge und Vorhang etc.), sondern das zur Darstellung zu bringen, was sich nur in einem einheitlichen Raum und in einer 10

Marsyas, ursprünglich ein griechischer Flussgott, später Satyr, findet die Flöte der Athene und fordert nach Erlernen 

 des 

 Spiels 

 Apollon 

 zum 

 Wettkampf. 

 Apollon 

 gewinnt, 

 weil 

 er 

 dem 

 Kitharaspiel 

 noch 

 den 

 Gesang 

 hinzufügen kann. Der Satyr wird daraufhin an eine Fichte genagelt und ihm wird bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Der Sinn der Strafe wird mit der herausfordernden Verbindung von Kunst und Wettkampf in Zusammenhang gebracht, letztlich also mit der Fusion von Kompetenz und Performanz.

Ralf Bohn

187

einheitlichen 

Zeit 

fiktionalisieren 

lässt, 

das 

Drama, 

die 

Krise. 

Die 

(Vivi-)Sektion 

der 

reproduzierenden 

 Medientechniken dagegen gibt immer einen Bezug zur konkreten Universalität in einer Designumhüllung (eben der Haut des Marsyas) vor. Die Designhüllen der Warenkörper sind nichts anderes als die unvermittelte Konfrontation von Anfang und Ende: Bombenhüllen. Was den komplexen technischen Dingen die Notwendigkeit des Designs ist, das ist dem Theater die Kulisse: Alle technische Kompetenz (und 

die 

Opfer 

der 

Produktivkräfte) 

soll 

zu 

Gunsten 

der 

Performanz 

der 

Schauspieler 

im 

Bühnenhintergrund verborgen bleiben. Die Frage ist, was subkutan durch diese Umhüllungen notwendigerweise verborgen bleibt: die natürliche Einheit der Sinne, wie sie Marsyas im Agon mit Apollon repräsentiert? Denn auch der Mythos nimmt seinen Ausgangspunkt in einem Agon, also der Strategie, eine nicht zu vermittelnde Aporie natürlicher Einheit darzustellen. Der 

Film 

als 

szenografischer 

Antipode 

des 

Theaters 

hat 

eine 

besondere 

Form 

des 

Narzismus 

kultiviert. 

 ›Film 

im 

Film‹ 

ist 

geradezu 

ein 

eigenständiges 

Genre, 

das 

statt 

der 

Pseudonatur11 mit dem ›Pseudoleben‹ der Bilder in ihrer unlebendigen Sequenzierung zurückgreift. Denn das Inszenierte des Films ist immer 

auf 

zwei 

Weisen 

präsent: 

einmal 

real, 

wenn 

auch 

oft 

simulativ, 

in 

dem, 

was 

gefilmt 

wird, 

und 

 ein 

 zweites 

 Mal 

 in 

 der 

 Fiktion 

 einer 

 homogenen 

 Aufführung, 

 des 

 Kinos. 

 Simulierte 

 und 

 fiktive 

 Wirklichkeit stehen sich nicht in einem Möglichkeitsverhältnis gegenüber – auch wenn es gewiss ist, dass jede identische Vorführung eine unterschiedliche Rezeption hervorbringt, die etwa die Autoren der Nouvelle Vague dadurch bewiesen, dass sie sich mehrmals am Tag den gleichen Film ansahen. Der Film ist aufgrund seiner Pseudolebendigkeit grundsätzlich immer realistisch.12 Seine sezierende Elementarität vernichtet real das, was sie zu montieren vorgibt: Sie schafft perfekte allegorische Hüllen, ohne jedoch physiologisch zeigen zu können, dass jedes Einzelbild eine Totstellung bedeutet. Im Film Blow up von Antonioni (1966) wird gezeigt, dass der Film nicht in das Bild einzudringen vermag, ohne sich selbst zu zerstören. Der sezierende Logos ist versucht, sich in der Mediensimulation seiner Opfer 11

12

Helmut Dahmer hat diesen Begriff gebraucht, um die schon durch Schelling aufgeklärte Analyse des Naturbegriffs als einer ideologischen Phrase des Imaginären schlechthin zu kennzeichnen. Für die Psychoanalyse bedeutet das, dass auch die ›Heilung‹ sich von einer Natur der Normalität zu verabschieden hat, insofern der Ödipus-Komplex 

vollständig 

in 

die 

Kultur 

der 

Sachen 

und 

Dinge 

übergegangen 

ist. 

Das 

Geschlechtsverhältnis 

 ist eines von Maschinen und Produktionsmitteln, indem Vaterschaft sich im Umgang mit Maschinen und Psychoanalyse sich im Umgang mit der Marx’schen Ökonomie zu bewähren hat. Vgl. Helmut Dahmer, Pseudonatur und Kritik. Freud, Marx und die Gegenwart, Frankfurt a. M. 1994. Vgl. André Bazin, Was ist Film?, Berlin 2009, S. 194–195: »Die Existenz von Märchenhaftem oder Phantastischem 

im 

Kino 

beeinträchtigt 

die 

Behauptung 

vom 

Realismus 

des 

Bildes 

keineswegs, 

sie 

ist 

im 

Gegenteil 

der 

 überzeugendste Beweis dafür. Im Film basiert die Illusion nicht wie im Theater auf vom Publikum stillschweigend akzeptierten Konventionen, sondern auf dem unantastbaren Realismus dessen, was gezeigt wird.« – »Mit anderen Worten und negativ ausgedrückt: Der Film kann alle Wirklichkeiten aufnehmen – außer der leibhaftigen Präsenz des Schauspielers.« (S. 183).

Agon und Agonie

188

zu entledigen, und zwar als das, was er ist: als Horror einer unergründlichen Agonie, eines Zooms in das Bild hinein. Das funktionale Phänomen wird hier symbolisch: Jede Untersuchung der Kamera beginnt mit der Mutmaßung einer Leiche, einer Leiche, die sich durch die Sequentialisierung der Bilder 

 in 

 der 

 Zeit 

 verflüchtigt. 

 Antonioni 

 zeigt 

 in 

 der 

 Konstruktion 

 einer 

 Kriminalgeschichte, 

 wie 

 die 

 disparaten Ausweise der Dekontextualisierungen sich zwanghaft zu einem narrativen Faden weben lassen: 

 Das 

 Leben 

 ist 

 die 

 Geschichte, 

 der 

 Nachruf, 

 den 

 zu 

 Lebzeiten 

 niemand 

 resümieren 

 kann. 

 Der 

 Spielfilm 

 bildet 

 ein 

 komplexes 

 Ritual 

 aus, 

 an 

 dessen 

 Ende 

 die 

 Artikulation 

 einer 

 Reflexivität 

 sowohl 

 ausdrücklich als auch unausdrücklich bleibt.13

Das Problem der Theatertherapie ist nicht Therapie vom vivisezierenden Logos und seinen rekombinatorischen Lebenssimulationen der (Medienprogrammier-)Technik, sondern die Therapie davon, dass zwischen Theatertherapie und Therapietheater nicht unterschieden wird. Wer heilt die größeren Massen: das Kino oder die Psychoanalyse? Der 1958 gedrehte Film Peeping Tom von Michael Powell expliziert mit Hinweis auf Ethnopsychologie und empirische Verhaltenstherapie die verzweifelte Form einer Pathologie, den Aufstand eines quasiwissenschaftlichen Voyeurismus, in dem das Publikum mit den Mitteln des Horrors sich an Stelle des Helden opfern soll, in einem als tödlich inszenierten Spiel. Das Publikum des Films bekommt demonstriert, wie es seines eigenen Todes, seiner eigenen Entzauberung der Kultur und Zivilisation ansichtig werden kann, den die Kamera zugleich simuliert wie dissimuliert. 13

Im Spielfilm als rituellem Objekt bildet die Untersuchung oder die Kriminalgeschichte, abstrakt der Voyeurismus der Kamera, den Rahmen für die Bewältigung einer intrinsischen Krise, nämlich im Ritual Zuschauer und Akteur zugleich zu sein. »Denn sowohl gerichtliche als auch rituelle Verfahren tragen dazu bei, daß aus den nackten Tatsachen, der rein empirischen Koexistenz von Erlebnissen, Geschichten entstehen, und versuchen, die eine bestimmte Situation integrierenden Faktoren zu beeinflussen. Man erfaßt die Bedeutung, indem man auf einen zeitlichen Ablauf zurückblickt.« Turner, Vom Ritual zum Theater, S. 121.

Ralf Bohn

189

Das 

Gezerre 

dieses 

Zugleichs, 

also 

das 

Verhindern 

einer 

technischen 

Lösung 

oder 

einer 

Todesselbstansicht 

ist 

das, 

was 

als 

vermittelnde 

Lösungsfigur 

der 

Ökonomie 

der 

Technik 

widerspricht: 

Ihr 

gradliniger 

 Realitätszwang, die Eliminierung von Möglichkeitsperspektive, ihr Telos soll verhindern, worum der Hysteriker alter Schule sich noch gekümmert hat: sich selbst in seiner Selbstansicht zu zeigen. Vor allem im 

Gebrauch 

diverser 

Spiegeltechniken 

(entsprechend 

den 

hysterischen 

Konvulsionen) 

und 

Inszenierungen des blinden Flecks der Kamera macht Powell einsichtig, wie die Kamera das tote Objekt ist, das es zu animieren gilt. Ein sezierend-voyeuristischer Kameramann (Karlheinz Böhm) hält seinen Opfern einen 

Spiegel 

vor, 

während 

er 

sie 

ersticht 

und 

filmt, 

um 

die 

Selbsterfahrung 

des 

Todes 

dem 

anderen 

zu 

 entreißen. Nun ist das ja das, was der Film immer schon macht: das Lebendige zu töten, um es ihm als seine Lebendigkeit, eine Pseudolebendigkeit zeigen zu können.

Die 

 finale 

 Selbsttötung 

 in 

 Peeping Tom zeigt die paranoische Zuspitzung des Wahns der Identität von Publikum und Akteur als Ausdruck einer Ungeduld gegenüber der Regel, dass die Finalisierung des Spiels, das heißt die Krise der Individualität, unendlich aufgeschoben werden muss: aufgeschoben und bewahrt zugleich. Die Selbsttötung ist in Peeping Tom nicht ein banaler Akt, sondern erfolgt als eine Reihe lang geplanter, wissenschaftlich ausgewiesener Experimente, die im Milieu eines Filmstudios spielen, an deren Etappen das Produktionsgeheimnis einer Vision autopoietischer ›Todesanimation‹ geopfert wird: Als Aneignungsbegehren (Kompetenz) des Mannes begleiten Frauenleichen den Weg dieses performativen Produktionsneides. Peeping Tom zeigt somit präzise, wie ein Agon sich durch seine ›Verwissenschaftlichung‹, die zugleich immer eine Entindividualisierung ist, in eine Agonie verrennt. Dass die sezierende Bestimmung der Differenz von Wirklichkeit und Theater nicht mehr so einfach ist, seit Fiktionen technisch beliebig inszeniert, simuliert und modelliert werden können und seit

190

Agon und Agonie

das Theater die Rampe überschritten oder aufgelöst hat, verdeutlicht etwa auch der Film Sein oder Nicht-Sein 

(USA, 

Regie: 

Ernst 

Lubitsch, 

1942). 

In 

dieser 

Tragikomödie 

wird 

das 

szenografische 

Theater 

 der 

Nazis 

mit 

dem 

Inszenierungstheater 

des 

Theaters 

in 

unauflösliche 

Beziehung 

gebracht, 

sodass 

 man 

 innerhalb 

 des 

 Spiels 

 auf 

 mehreren 

 szenifikatorisch 

 verschachtelten 

 Ebenen 

 zwischen 

 Situation 

 und Spiel nicht mehr zu unterscheiden vermag: Jedenfalls können es die Nazis nicht, weil ihr Spiel nur in der Variante von Tod oder Leben, das der Theatertruppe aber in vielfältigen Varianten gespielt und inszeniert werden kann. Lubitsch zeigt, dass die Theaterlogik nicht zweiwertig ist (Spiel und Wirklichkeit), sondern mehrwertig, und dass die grundlegende Differenz von Szene und Situation vom Kontext und von den Deutungsvorgaben der Inszenierungstechniken, nicht aber von den Konventionen 

der 

Bedeutungen 

abhängt, 

ja 

dass 

Szenografien 

nichts 

anderes 

sind 

als 

programmatische 

 Techniken zur Initiation individuierter Deutungen angesichts eines fehlenden Parameters ›Natur‹ oder ›Welt‹. Dabei geht es im Theater gerade darum, den Sinn in einer Folge von Handlungen zu verstehen, indem 

man 

von 

den 

Bedeutungen 

absieht 

und 

sie 

in 

allgemeinen 

(dramatischen) 

Situationen 

auflöst. 

 Der Film muss diesen theatralen Schematisierungen aus dem Wege gehen, sich vollständig in die Individualität 

des 

Szenischen 

auflösen. 

Anders 

gesagt, 

das 

Theater 

lebt 

von 

Situationen, 

der 

Film 

von 

 Szenifikationen. 

Sinn 

heißt 

dabei, 

den 

Bedeutungen 

misstrauen 

zu 

können. 

Individuell 

motivierter 

 Sinn ist in diesem Fall strikt von (konventionalisierter) Bedeutung zu unterscheiden. In dieser Hinsicht spielt die Therapie stets mit dem Sinn, nicht mit den Bedeutungen: Sie geht von der konkreten Szene aus, um von dort aus die schematischen, zwanghaften Situationen aufzuklären.

Ralf Bohn

191

4. Opfertechniken Die Kunst des Inszenierens besteht darin, aus einem agonalen System den Finalisierungsdruck ebenso herauszunehmen wie den eines Ursprungsnachvollzuges. Der Ausweis von ›Inszeniertheit‹ kann nur in der Unterstellung eines Deutungsanspruchs eines anderen begründet sein, setzt also voraus, dass man sich darauf vorverständigt, dass eine jede Bedeutung eine Vorverständigung benötigt, ein Vorurteil, dessen Revision nachträglich ein Urteil motiviert. Wenn eine Dramaturgie des (klassischen) Theaters die menschlichen Probleme als schicksalhaft und opferbesetzt zeigen kann, dann ist eben dieses Zeigen eine Technik der Transzendierung ihrer selbst: Sie ist stets nur Weltdeutung, und zwar genau in dem Moment, wie sie szenische Welten entwirft, nicht Produktion im Sinne der Verdinglichung. Daran anschließend, im gleichen systemischen Duktus, verweist die Theatertherapie auf den unendlichen Sinn im endlichen Spiel als immanenter Technik – wobei das Technische der Technik im Stellen14 (Heidegger), genauer in der Begegnung der dynamischen Verweisungen des Pseudolebendigen als offene Mitte besteht. Mit ›Stellen‹ ist eine begegnende Gegenüberstellung 

(passager) 

gemeint, 

die 

als 

szenisches 

›Bild‹ 

imponiert. 

Heidegger 

sieht 

in 

dieser ›Stellung‹ alle diejenigen Techniken begründet, die, wie das Bild, das Imaginäre als lebendige Zeit opfern. Theatertherapie nimmt das Spiel zwischen Agon und Agonistik als Wahrheit der menschlichen Sinnökonomie in eine Spiegelsituation auf, sodass die Frage nach dem Opfer im mehrfachen Hegelschen Wortsinne ›aufgehoben‹ und invertiert wird. Es geht ihr darum, zu zeigen, dass z. B. die Vergangenheit nicht in jeder Repräsentanz als geopferte vor-›gestellt‹ werden muss, sondern dass in ihrer Repräsentation erst die Erfüllung des je situativen Momentes erfolgt, der in ihr gar nicht reflektiert 

worden 

war. 

Das 

Theater 

ist 

ja 

schon 

eine 

therapeutische 

Form, 

nämlich 

die 

der 

Gedächtnissicherung durch Verdinglichung. Nicht ›Ernst‹ und ›Spiel‹ stehen sich gegenüber, sondern an beiden radikalen Enden, dem Agon und der Agonie, droht ein universelles Spiel der menschlichen Unbestimmtheit in seine Verdinglichung zu zerfallen, um sogleich die Verdinglichung als technische Realität erneut zu animieren – will sagen: Die Ökonomie des dynamischen Prozesses und die Überdehnung 

des 

szenischen 

Raums 

will 

sich 

in 

der 

Inflation 

der 

Szenografien 

und 

Inszenierungsausweise progressiv und regressiv zu halten versuchen: Zu viele Wahrnehmungsdaten stehen zu wenig 

Geschichten 

gegenüber, 

sodass 

jede 

Geschichte 

als 

eine 

Rettung 

verstanden 

werden 

muss. 

 14 

 Vgl. 

Norbert 

Bolz, 

der 

sich 

der 

Bestimmung 

des 

Heideggerschen 

›Gestells‹ 

als 

dem 

Realisierungszwang 

der 

 Technik widmet. Norbert Bolz, Das Gestell, München 2012, S. 22: »Heidegger spricht von ›stellen‹ im Sinne von ›herausfordern‹. Moderne Technik ist nicht mehr das Hervorbringen, Herstellen und Darstellen im Sinne des griechischen 

Grundworts 

›poiesis‹. 

Während 

die 

Poiesis 

die 

Welt 

noch 

hervorkommen 

ließ 

und 

hervorbrachte, 

 fordert 

das 

Gestell 

sie 

nur 

noch 

heraus.« 

Die 

Herausforderung 

geschieht 

im 

Sinne 

eines 

Agons, 

eines 

Wettkampfes.

Agon und Agonie

192

Theatertherapie 

hätte 

im 

Gegenzug 

nachträglich 

über 

die 

Theatralität 

der 

technischen 

Praxis 

Aufklärung 

zu 

geben. 

Das 

macht 

sie 

definitiv 

nicht, 

im 

Gegenteil, 

sie 

stellt 

fälschlicherweise 

das 

Theater 

 als einen anthropologischen Ausweis menschlicher Natur fest. Es ist angesagt, die Opferökonomien im Agon zu vergleichen. Dazu ist zu zeigen, dass das Theater Ausdrucksform 

der 

Vermeidung 

einer 

bestimmten 

Opferoffenbarung 

der 

Produktion 

der 

Gesellschaft 

( genitivus subjectivus und objectivus) ist. Ihre Erinnerung setzt an der Ursprungslegende des griechischen Theaters an, die nur als nachträgliche konstituiert werden kann. Die Pointe der Überlegungen ist die, ob es 

in 

der 

Theatertherapie 

nicht 

um 

die 

Refiktionalisierung 

der 

Opfersubstanz 

dessen 

geht, 

was 

an 

Leben 

 nach der Zerstückelung des Marsyas bleibt: die projektiven Membranhäute, das Bilderwesen. Es ist die Ambivalenz des Symptoms – Schmerz (Opfer) und Aufklärung (Opfervermittlung) zugleich zu sein, die man mit Hilfe eines theatralen Arrangements, eines therapeutischen Settings offenbart, eines Settings, das 

der 

Rückerinnerung, 

eben 

einer 

Durcharbeitung 

jener 

Wahrnehmungen 

sich 

verpflichtet, 

die 

sich 

als 

 unvermittelt, schockhaft erweisen. Nur was vermittelt war, lässt sich vermitteln. Zur Erinnerung ist erstens 

auf 

die 

Gegenstands- 

und 

Begriffsgeschichte 

des 

Agons 

einzugehen, 

zweitens sind die Opfer und Opferverschiebungen zu präzisieren und drittens ist an einem Beispiel über die möglichen Orte der Nichtinszenierung (Situativitäten) zu sprechen, dort wo einem die Nähe dessen, was einem zustößt, das Symptom, dazu verführt, die ganze Agonistik der Ableitung in einem medizinisch-therapeutischen Kausalitätsdiskurs zunichte zu machen, indem man die Erzählungen als Kausalitäten 

in 

das 

agonale 

Spiel 

der 

Fürsorge 

und 

der 

Objektivität 

einer 

Gesundheit 

einbindet. 

Dieser letzte Punkt läuft auf die Frage hinaus, ob das Symptom einen Menschen als schicksalhaftes Ereignis zufällig befällt oder ob das Symptom eine Darstellungstechnik der Abwehr der List des Zufalls ist als dem Überbieten der Technik. Technik selbst wäre als Realisierung das Negat zur ›Sorge‹15: die 15

Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1979, § 39–42. Heidegger knüpft das Problem der Sorge als Herausforderung an die Welt als ganze, also an die freie Möglichkeit (ebd., S. 188), womit die Theatralität der Angst als ursprünglichster Form der Bannung der Möglichkeit von Welt im ›Theater‹ als Selbstentwurf einer relativen Freiheit aufscheint. Heidegger gibt zur vorontologischen Bestimmung der Sorge eine seltene szenische Konkretion des Begriffs, indem er den Streit der ›Sorge‹, die ein Wesen aus Ton formte, mit Jupiter um den Namen dieses 

Wesens 

am 

Mythos 

orientiert. 

(Ebd., 

S. 

197–198: 

»Du 

Jupiter, 

weil 

du 

den 

Geist 

gegeben 

hast, 

sollst 

bei 

 seinem 

Tode 

den 

Geist, 

du, 

Erde, 

weil 

du 

den 

Körper 

geschenkt 

hast, 

sollst 

den 

Körper 

empfangen. 

Weil 

aber 

 die ›Sorge‹ dieses Wesen zuerst gebildet, so möge, solange es lebt, die ›Sorge‹ es besitzen. Weil aber über den Namen Streit besteht, so möge es ›homo‹ heißen, da es aus humus [Erde] gemacht ist.« Heidegger erklärt die Bestimmung der Sorge unter dem Urteilsspruch der menschlichen Zeit in Form des saturnalischen Richteramtes, 

ist 

doch 

Saturn 

der 

Gott 

der 

Zeit. 

Der 

in 

der 

Sorge 

fundierte 

Agon 

zeigt 

sich 

in 

der 

Bestimmung 

einer 

›wirklichen‹ Realität bei Heidegger. (ebd., S. 209) Als Widerstand fordert sie die Sorge heraus. Mit Widerständigkeit ist 

das 

» Gestell« 

gegen 

die 

Dynamik 

des 

Zeitmodals 

gesetzt. 

Es 

geht 

Heidegger 

also 

um 

eine 

Verknüpfung 

von 



Ralf Bohn

193

Angst vor dem Zufall. Überall dort, wo Hilfe ist, muss auch Krise sein. Der Zufall oder das Schicksal sind nur andere Worte für die Ambivalenz der Freiheit. Die höhere List des Symptoms gegenüber der List der Technik besteht darin, das Drängen und die voreilige Bedrängnis der Technik zur Realisierung als inkonsequent auszugeben. Das Symptom als Designäquivalent verschwindet in der Regel nicht durch den zauberischen Zuspruch der Technik. Was nichts anderes heißt, als dass es die Bedrängnis des Symptoms ist – Sorge und Angst gehen bei Heidegger Hand in Hand –, die den Klienten den Therapeuten aufzusuchen zwingt, in dem Moment, wo sich seine Überlegenheit in der ohnmächtigen Sinnsuche keines anderen Publikums versichern kann.16 5. Kurzgeschichte des Agon In einem Brief vom 18.1.1924 macht Florens Christian Rang Walter Benjamin auf die Bedeutung des Agon für die Vorgeschichte der Saturnalien aufmerksam. Benjamin geht es um die Auslegung eines religiös 

motivierten 

Opferrituals, 

das 

als 

Vorform 

des 

griechischen 

Theaters 

identifiziert 

werden 

soll. 

 Zwei Tage nach Erhalt des Briefes von Rang antwortet Benjamin ihm: »Es ist nämlich für mich sehr wichtig, zu erfahren, welche Belege für eine Herleitung der Tragödie aus dem Agon außer dem Wort Protagonist sich angeben ließen, und auch ob die Deutung jenes Wortes für den Schauspieler in Deinem Sinne sichergestellt ist. Damit hängt die weitere Frage zusammen, ob der Opferaltar im Mittelpunkt der antiken Bühne, sowie ein altes Lösungsritual des Entlaufens und um den Altar Herumlaufens wissenschaftlich kurrente Fakten sind ...«.17 Benjamin fragt nach den historischen Legitimitäten des westlichen Theaters, ausgehend vom Opferritual innerhalb seiner Herleitung der barocken Tragödientheorie.18 Rang hatte ihm den Sachverhalt folgendermaßen geschildert. »Agon kommt von Totenopfer. Der zu Opfernde darf entlaufen, wenn er schnell genug. Seitdem über blasse Angst vor dem Toten, der den Überlebenden als Opfer heischte, der 

Glaube 

wieder 

siegte, 

daß 

der 

Tote 

liebend 

segne.«19 Im Agon kommt nicht zuerst der Streit mit dem 

strafenden 

Gott, 

sondern 

der 

Seelenspiegel 

des 

Wettkampfs 

zwischen 

einem 

guten 

und 

einem 

 16

17 18 19

Sorge, Vorsorge und Technik als neuer Zeitfigur von Realität. Das Problem der zauberischen Medikamentation, deren Fortschritte ungeheuerlich sind, ist, dass sie als Wirkungsgeschichte völlig unvermittelt bleibt. Medikamentation kann keine szenisch-agonale Durcharbeitung leisten, die z. B. Theatertherapie verspricht, das macht, neben den szenifikatorischen Placebo-Effekten, Medikamentation zu einem technischen Akt. Walter Benjamin, Briefe 1, Frankfurt a. M. 1978, S. 332; Brief vom 20.1.1924. Zu den Produktionsproblemen Benjamins mit seiner abgewiesenen Habilitationschrift Ursprung des deutschen Trauerspiels vgl. Ralf Bohn, Sendungsbewusstsein. Walter Benjamin und sein Medium, Würzburg 2005. Benjamin, Briefe 1, S. 333: Agon und Theater (Aus dem Tagebuch von Florens Christian Rang).

Agon und Agonie

194

bösen 

 Gott 

 zum 

 Ausdruck. 

 Der 

 zeremonielle, 

 nicht 

 mehr 

 rituelle 

 Sieg 

 des 

 Läufers 

 im 

 Gymnasion, 

 später im rhetorischen Wettstreit der Arena des Theaters, erstreitet dort durch Sport (Körpereinsatz und -präsenz), hier durch Wettreden die Zeit, in der der eine 

Gott 

in 

seine 

Hälften 

zerfällt. 

Aus 

dieser 

Idee 

 ist die Ambivalenz der Technik als Zivilisation und Kultur respektive als Arbeit und Muße (oder ›Ernst‹ und 

›Spiel‹) 

abzuleiten. 

Der 

Zerfall 

des 

Göttlichen 

versinnbildlicht 

ein 

Fortschrittsbewusstsein, 

das 

sich 

 im 

nietzscheanischen 

Sinn 

einer 

»ewigen 

Wiederkehr« 

als 

Gottmaschine 

manipulieren 

lassen 

soll. 

Diese 

 Maschine wird zunächst nur im theatrum machinarum realisiert und im Barock – so dürfte Benjamin seine Fragestellung intendieren, als theatrum mundi – katholisch als unum versum – einen gütigen Gott 

(Natur) 

fiktionalisieren, 

so 

wie 

er 

ab 

der 

Spätgotik 

in 

den 

Apsiden 

auf 

den 

Altar 

herunterblickt. 

 Dieser Kurzschluss von Agon, Theater und Maschine sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Theaterbegriff 

zunächst 

auf 

die 

Idee 

der 

Darstellbarkeit 

Gottes 

(oder 

des 

Göttlichen) 

hin 

figuriert. 

Das 

 wahre 

Gute 

wird 

mit 

dem 

Ästhetischen 

identifiziert. 

Aus 

der 

historischen 

Geschichte 

wird 

eine 

archäologische20, oder, mit Hinblick auf Nietzsche, eine philologische. Was gut ist, muss an Handlungen, was schön 

ist, 

an 

Sinnlichkeit 

erwiesen 

werden. 

Die 

Idee 

des 

Theaters, 

dass 

das 

Gute 

auch 

das 

Schöne 

ist, 

 streicht schlicht die hermeneutische Differenz von Texturen ein, die im Theater nicht mehr gelesen, sondern erkannt werden sollen. Seit Maschinen wegen ihrer Komplexität sich unter Design verbergen müssen – und das ist zu Zeiten des Eisenbaus noch nicht der Fall, übernehmen Medien den göttlichen Vermittlungsversuch. 

Die 

Medien 

sind 

nun 

die 

guten 

Götter: 

gut 

und 

schön 

– 

aber 

nicht 

mehr 

wahr. Jener alte Rachgott, der deus absconditus, 

der 

die 

Welt 

unsichtbar 

als 

agonal 

defizitäre, 

weil 

launisch 

 schicksalhafte Willkür rationiert und blind straft, war seit Moses und Aaron schon nicht mehr Herr im eigenen Haus, sondern Partner, mit dem Verträge geschlossen und Designmöglichkeiten erörtert werden.21 

An 

ihn 

war 

jedes 

Opfer 

eine 

Herausforderung 

an 

die 

Gerechtigkeit. 

Der 

gute 

Gott 

aber 

war 

 nun nicht mehr frei genug, um der Herausforderung sich gewachsen zu zeigen, die der Mensch mit seinem Selbstopfer als vernünftige ›Maschine‹ aufs Spiel setzte. Töte uns in deinem Zorn – das ist das Angebot, 

das 

Moses 

macht. 

Kein 

Gott 

kann 

dieses 

Angebot 

annehmen. 

Zum 

Schein 

und 

Spiel 

ließen 

 das griechische Theater und die orakelnde Priesterkaste auf seine Ordnung sich noch ein und gaben ihm, 

dem 

demaskierten 

Gott, 

dem 

Ideal 

des 

Über-Ichs 

(letztlich 

also 

dem 

Artefakt) 

die 

Chance, 

der 

 Menschen 

Opfer 

anzuerkennen. 

Die 

Griechen 

als 

Bürger 

waren 

so 

frei, 

weil 

sie 

den 

göttlichen 

Vertrag 

 sich 

demokratisch 

selbst 

gaben 

– 

so 

viele 

Götter 

sich 

ihrer 

auch 

bemühten.22 20

Vgl. Siegfried Zielinski, Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens, Reinbek 2002, 

S. 

16-17: 

»Medien 

sind 

Handlungsräume 

für 

gebaute 

Versuche 

der 

Verbindung 

von 

Getrenntem. 

Es 

gab 

 Zeiträume, in denen diese Verbindungsarbeit besonders intensiv war und sein musste, unter anderem um das Verrücktwerden der Leute zu verhindern.« 21 Siehe Exodus, Kap. 32. 22 

 Auch 

hier 

ist 

der 

Gründungsmythos 

einem 

Agon 

mit 

den 

Göttern 

abgerungen. 

Vgl. 

Ralf 

Bohn, 

»Paris, 

Ruhr. 



Ralf Bohn

195

Die Architektur des Theaters, in der der göttliche Vertrag auf dem Spielplan stand, ist abgeleitet von der ovalen Laufbahn: sie wird durch die Scena entzwei geschnitten, als Halbheit des göttlichen Runds. Das Drama zeigt so den Schicksalslauf des Menschen, verbunden durch das Medium des Chors. Der Chor 

 muss 

 einigen, 

 was 

 in 

 der 

 historischen 

 Tradition 

 des 

 Theaters 

 sublimiert 

 wird, 

 die 

 Gabe 

 der 

 halbierten 

Gottmenschlichkeit, 

der 

weiß 

bemalten, 

aus 

dem 

Tode 

zurückgekehrten 

Protagonisten. 

In 

 der 

 jüdischen 

 Gottesvorstellung 

 – 

 die 

 halbierte 

 und 

 duplizierte 

 Gesetzestafeln 

 (Gottesmembranen) 

 und Bruderkämpfe erduldet (die Agonie des Aaron) – wird ersichtlich, dass nur dasjenige geopfert werden kann, was zu der Hin- und Herbewegung des Agons in einer universalen Frontalität Stellung bezieht. Es geht um den narrativen Faden, aber ebenso um die Linearität der Kausalitätsbeziehungen als einer Zwangsbewegung, die göttliche Separationen ausschließt. Erinnern wir uns daran, dass die ursprünglich runde Bühne des frühen griechischen Theaters erst in der Scena des römischen Theaters real 

halbiert 

wird, 

aus 

akustischen 

Gründen, 

aus 

solchen 

der 

bildhaften 

Aufführung 

und 

aus 

denen, 

 die 

mit 

der 

Einführung 

eines 

autarken 

Rechtssystems 

und 

eines 

Geschichtsbewusstseins 

einhergehen, 

das 

die 

Griechen 

so 

nicht 

gekannt 

haben, 

und 

dem 

Gedächtnis 

eine 

trennende 

Funktion 

(Abspaltung der Vergangenheit) verleiht. All das führt dazu, die schicksalhafte Kraft der Naturgottheiten zivilisatorisch zu entzaubern, ohne dass das Prinzip einer Humanisierung der technischen Listigkeiten durch ein inszenatorisches Design aufgegeben werden muss und so die bedingungslose Anerkennung des 

 Technikgottes, 

 eines 

 Gottes 

 der 

 logischen 

 Vertragstreue, 

 sich 

 als 

 ethische 

 Form 

 der 

 Ästhetik 

 bestätigen kann. In 

der 

mosaischen 

Prosa 

folgt 

aus 

dem 

Regulativ 

der 

Gesetze 

noch 

hinterrücks 

der 

Tanz 

ums 

Goldene 

 Kalb. 

Techniken 

der 

Ordnung 

und 

solche 

des 

Deliers 

(Agonie) 

in 

Gestalt 

eines 

apollinisch-dionysischen 

 Ensembles 

führen 

im 

alttestamentarischen 

Mythos 

zur 

Herstellung 

all 

jener 

Gadgets, 

mit 

denen 

die 

 technikgläubigen Verbindungen zum Weltingenieur gefestigt werden.23 Im Kreislauf des Zeremoniells wird diejenige Einheit inszenatorisch einem Maschinenrhythmus unterstellt, die im verlorenen Ritual, das 

zum 

Theater 

geworden 

ist, 

die 

Gestalt 

einer 

zirkulären 

Einheit 

beschwören 

will. Ob 

man 

im 

Kreis 

der 

Dauerpräsenz 

alles 

Vergangenen 

und 

Gegenwärtigen 

läuft 

oder 

ein 

Ziel 

verfolgt, 

 in 

universaler 

Allgegenwart 

sich 

mimetisch 

dem 

einen 

ambivalenten 

Gott 

anbiedert, 

das 

zeichnet 

 den Unterschied von ritueller und technischer Marschrichtung aus. Es handelt sich dabei aber eben nicht um einen Fortschrittsaspekt (vom Mythos zum Logos), sondern um einen der arbeitsteiligen

23

Zur geschichtsliterarischen Inszenierung von Urbanität«, in: Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.), Inszenierung der Stadt. Urbanität als Ereignis, Bielefeld 2012. Vgl. Exodus, 

Kap. 

35–39. 

In 

diesen 

Kapitel 

wird 

sowohl 

das 

liturgische 

Gerät 

als 

auch 

die 

Performance 

seines 

 Gebrauchs 

vorgegeben.

196

Agon und Agonie

Ökonomie. Als Zwischenform etabliert sich aus dem Theater eine Technik der Rede, die dialektische Argumentation. Diese kann als eine Art therapeutischer Vermittlung zwischen dem unendlichen Kreislauf und der Bewegung zum Ziel (Realisierungs- bzw. Verdinglichungszwang) angesehen werden. 

Die 

Fragen 

der 

Gerechtigkeit 

und 

des 

Opfers 

sind 

damit 

unweigerlich 

an 

den 

Lauf 

des 

Lebens24 wie 

an 

den 

sachgerechten 

Umgang 

mit 

den 

Dingen 

gebunden. 

Als 

Hexis 

einer 

Grundschuld 

von 

Gott 

 und 

Mensch 

kann 

der 

Lauf 

im 

Buch 

der 

Geschichte 

verrechnet 

werden: 

Das 

Gedächtnis 

zu 

verlieren 

 heißt, sich selbst nicht mehr gebrauchen zu können und damit jene äußere theatrale Spaltung im Inneren nachzuvollziehen. Dieser fundamentalneurotischen Aufrechnung wird das Christentum mit seiner Entschuldungspolitik der Verdinglichung (Devotionalienkult) gerecht. Der entschuldete Körper ist 

nicht 

länger 

göttlich, 

er 

wird 

Gegenstand 

einer 

anatomischen 

Bewunderung, 

spätestens 

mit 

La 

 Mettrie25 eine Maschine, deren Handlungen und Bewegungen im Fortschrittssinne Einheit erzeugen. Im Briefwechsel zwischen Rang und Benjamin gibt es weitere Indizien zum Verständnis des Agons, die darauf hinauslaufen, eine Brücke zwischen den psychischen und den sozialen Diskursfeldern zu schlagen, 

das 

Problem 

der 

Initiation 

einer 

Gruppe 

zu 

thematisieren 

und 

den 

Sinn 

der 

Inszenierung 

 einer Aufführung zu erfassen, die, obwohl auf Wiederholbarkeit angelegt, sich der Reproduktion entzieht, 

 weil 

 in 

 ihr 

 die 

 Universalität 

 des 

 Göttlichen 

 als 

 des 

 Menschlichen, 

 der 

 Kompetenz 

 und 

 der 

 Performanz 

gedacht 

werden 

muss. 

Gerade 

der 

Universalitätsausweis 

von 

Präsenz 

macht 

es 

notwendig, 

dem 

Ereignis 

eine 

prätendierte, 

also 

szenografische 

Aufmerksamkeit 

zu 

widmen, 

um 

die 

Einmaligkeit 

im 

kommenden 

künstlichen 

Ereignis 

zu 

würdigen. 

Szenografisch 

heißt, 

Wiederholbarkeit 

im 

 technisch/maschinellen 

 Graphismus, 

 der 

 Partitur, 

 der 

 Choreografie, 

 dem 

 Libretto 

 zu 

 sichern, 

 d. 

 h. 

 dem Zufall keine Chance lassen. Die theatrale Form erprobt Figuren des Übergangs von zirkularen und linearen Bewegungen, ›performiert‹ die funktional gleichzeitigen Operationen und Programme zwischen Selbstverhältnis und Regelverhältnis in der Zeit. Die Frage nach dem Sinn läuft bei Benjamin und Rang nicht auf eine Einheit des Ereignisses, sondern auf eine Einheit des Erlebnisses hinaus, in dessen Folge der göttliche Sinnfunken die Universalität erfasst: ein Effekt individueller Differenzierung in sprachlicher Vergemeinschaftung: individuierte Allgemeinheit.26 Denn über die gleiche Sache auf unterschiedliche Weise zu sprechen erlaubt erst ein identisch erlebtes, 

einmaliges 

Ereignis 

und 

bannt 

den 

Zufall 

in 

einem 

Moment 

geteilter 

Freiheit. 

Aus 

diesem 

Grunde 

 24 Vgl. Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt a. M., Leipzig 1999. 25 Julien Offray de La Mettries Buch L’Homme Machine (Der Mensch eine Maschine) erscheint 1747. 26 

 Der 

 Begriff 

 des 

 ›individuellen 

 Allgemeinen‹ 

 geht 

 auf 

 die 

 Frühromantiker 

 zurück 

 und 

 ist 

 die 

 Grundlage 

 für 

 die 

 Idee des hermeneutischen Tauschortes, aufgenommen insbesondere von Sartre und von Manfred Frank in: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt a. M. 1977.

Ralf Bohn

197

bieten sich Medien als Reversionen von Maschinen an und sichern so das Unendliche im Endlichen. Aus diesem 

Grunde 

tritt 

die 

situativ 

agonische 

Sprache 

im 

Drama 

und 

im 

priesterlichen 

Zusammenhang 

aus 

 sich 

selbst 

heraus 

und 

wird 

programmatisch 

Poetik. 

Erst 

mit 

der 

christlichen 

Geschichtlichkeit 

eines 

abwesenden 

Gottes 

gewinnt 

der 

Abbildcharakter 

als 

Anwesenheitsausweis 

verstärkt 

Bedeutung, 

Hermeneutik gerinnt in Dogmatik: Das Zeichen oder das Symbol erweist sich so als Miniaturmaschine und wird zur 

Erklärung 

Gottes 

geheiligt. 

Erst 

das 

spätaufklärerische 

Bewusstsein 

von 

der 

Hierarchisierung 

der 

 Klassen 

und 

damit 

die 

Ungerechtigkeit 

der 

Stellung 

der 

Mitglieder 

einer 

Gruppe 

zeigt 

die 

Ungerechtigkeit 

der 

Präsenz, 

der 

Teilhabe 

am 

Erlebnis. 

Genau 

diese 

ursprüngliche 

Erlebnis- 

und 

damit 

Sinnstiftung 

 als Individuation des Allgemeinen kann in der Theatertherapie als angemessener Medientherapie im Gegensatz 

 zur 

 klassischen 

 psychoanalytischen 

 Gott-Mensch-Dualität 

 gruppentherapeutisch erfahren werden. Wenn man so will, hat die klassische psychoanalytische Therapie Freuds eine griechisch-duale, die Theatertherapie eine demokratisch szenische, d. h. politische Agonistik vor Augen. Die nicht sehr komplizierte Logik der Raumorientierung vom Zirkularen zum Sezierten und Linearen, die Opferteilung, ist notwendig einzuführen, um Spielhierarchien in den Blick zu nehmen, aufgrund derer eine Unterscheidung zwischen ›sozial-wirklicher‹ und ›therapeutischer‹ Technik relevant werden kann. Rang hat einige Hinweise dazu in seiner »Historischen Psychologie des Karnevals«27 veröffentlicht. Therapeutisches Moment dort ist, wie man die komparatistische Not zwischen ›Spiel und Ernst‹, zwischen autistischer Vereinzelung und Vergesellschaftung durch eine geordnete Abfolge sozialer Praktiken 

 und 

 Riten 

 in 

 implizite 

 Gesetze 

 inszeniert 

 und 

 damit 

 die 

 Codifizierung, 

 die 

 Ritualisierung 

 als Legitimation von sich ereignender und tatsächlich erlebter Wirklichkeit vollzieht. Es liegt auf der Hand, dass in der fortgeschrittenen Mediengesellschaft mit ihren Simulakren nicht mehr die ›Wirklichkeit an sich‹, sondern nur die ›authentische Situation‹ als absolute Vergemeinschaftung und absolute Vereinzelung den Ausgangspunkt eines nicht kommunizierbaren Erlebnisses bildet. Im Übergang zu den Regeln, grob gesagt, von der situativen Ekstase zum regulativen Spiel, fallen Neurotiker als Opfer auf, da sie den Autorisierungen als jeweiligen Praktiken der Inszenierung von Macht misstrauen. 

Macht 

heißt 

in 

diesem 

Falle: 

Bezugnehmen 

auf 

Abwesenheit, 

was 

auch 

Geistesabwesenheit 

mit 

 einbezieht, also Ereignisse, die mir nicht als Erlebnisse zur Durcharbeitung zur Verfügung stehen. 27

Florens Christian Rang, Historische Psychologie des Karnevals, Berlin 1983, S. 23:»Das Rasen entbrannte in zeitlichen Zyklen; der Hohn auf Menschlichkeit brach sich als Karneval Bahn. Als babylonisch-trunkenes Lachen maskierter verkehrter Welt in Schalt-Prozession. Durch das Kalender-Loch der Unordnung brach der Triumphzug der Außerordentlichkeit.« Rangs Hinweis auf die Kalenderordnung entstammt dem nie zu Lebzeiten publizierten gleichnamigen Vortrag von 1909. Dass es sich bei agonischen Riten um Modifikationen (Rang spricht von »Mutationen«) sozialer Zeit handelt, in denen der Tausch durch Verausgabung konterkariert wird, bestätigt Marcel 

Mauss 

für 

die 

Momente 

des 

Gabentauschs. 

Andere 

Momente 

dieser 

Theorie 

der 

»außerordentlichen 

 Zeit« tauchen Ende der 30er Jahre auch bei Roger Callois auf (La Fete und L’Homme et le Sacré).

198

Agon und Agonie

6. Die Opferverschiebung Rang 

leitet 

seine 

Überlegungen 

von 

den 

saturnalisch-dionysischen 

Ekstasen 

ab, 

die 

im 

späten 

Gefolge babylonischer Religion auch in die römische Welt Einzug halten. Nach seinen Untersuchungen 

hängt 

das 

Karnevalsfest 

unmittelbar 

mit 

der 

Disziplinierung 

des 

Laufs 

der 

Gestirne 

und 

deren 

 Übertragung auf kalendarische Ordnung zusammen, d. h. mit der agonalen Bannung vor allem der irregulären Planetenbewegungen und den daraus resultierenden astrologischen Schicksalsanalogien. Wenn nämlich die Planetenbewegungen schon nicht vorausberechnet werden können, aber gebannt werden sollen, müssen ihre Ekstasen, also die am Himmel zu beobachtenden epizyklischen Rückwärtsbewegungen, mit einer eigenen Zeitgestaltung versehen werden.28 Diese Zeitgestaltung ist zuerst astrologische Schicksalsmantik. So wird insbesondere die irreguläre Bewegung des Saturn als Saturnalien gefeiert.29 

 Daraus 

 erklärt 

 sich 

 die 

 Umsetzung 

 von 

 Körperchoreografie 

 in 

 Zeitfiguren. 

 Die Zeit des Festes bestätigt, dass das Inszenierungsprogramm solcher Irregularitäten als außerordentliche soziale Zeit verstanden werden muss, die nur am Rand etwas mit einem ›atmosphärischen Gefühl‹ 

 zu 

 tun 

 hat, 

 in 

 Wirklichkeit 

 schon 

 einer 

 erkalteten 

 Vernunft 

 folgt. 

 Es 

 geht 

 nicht, 

 wie 

 die 

 Phänomenologen 

der 

Szenografie 

behaupten, 

um 

eine 

Raumstrategie, 

sondern 

um 

eine 

Zeitstrategie, 

d. 

 h. 

die 

Übersetzbarkeit 

von 

Einbildungskraft 

in 

Handlung, 

um 

die 

experimentelle 

Auflösung 

des 

Sinns 

 von zielgerichteten Handlungen. ›Fest‹ meint nämlich Einheitsbezeugung und bannt so in der Einheit der Vielfalt die zufällige Vereinzelung. Im römischen Carnevale kommt es gleichsam zu einem Rollen28 

 Vgl. 

 Otto 

 von 

 Guericke, 

 Neue (sogenannte) Magdeburger Versuche über den leeren Raum, Düsseldorf 1996. Schon 

1670 

wundert 

sich 

Otto 

von 

Guericke 

über 

die 

Maschinentransmissionen, 

mit 

denen 

die 

Planetenbewegungen imaginiert wurden, um die Sonne als Zentrum der Himmelssphären retten zu können: »Zur Rettung, Verteidigung und Wahrung dieses [ptolemäischen, heliozentristischen; R.B.] Weltbildes war die Mehrzahl der Astronomen zusamt der ganzen Zunft der Scholastiker mit Bienenfleiß tätig, wie wir aus ihren Schriften und Büchern zur Theorie der Planetenbewegungen und des gestirnten Himmels des langen und breiten hervorgeht. Darin ist auch zu sehen, wieviel verschiedenartige Planetensphären, sowohl Hauptkreise für jeglichen Planeten wie Beikreise für jeden einzelnen besonders – an Zahl über 50 –, sie aufstellten, wie viele verschiedenen Zirkel, Örter, Epizykel, Deferenten, Linien, Zentren, Exzentren, Bewegungen usw. der Planeten sie gleichermaßen sich ausdachten.« 

 (S. 

 8) 

 Von 

 Guericke 

 verweist 

 auf 

 drei 

 konkrete 

 Kritikpunkte: 

 1. 

 Unzeitgemäßheit, 

 2. 

 Ä sthetische 

 Grotesken, 

3. 

Unberechenbarkeit.»Solche 

und 

zahlreiche 

andere 

ähnliche 

Unzulänglichkeiten 

dieses 

Weltbildes zeigten klar genug seine Unzuverlässigkeit, Mißgestalt und Vernunftwidrigkeit …» (S. 9) 29 Vgl. Jörg Rüpke, Zeit und Fest. Eine Kulturgeschichte des Kalenders, München 2006. Rüpke weist an etlichen römischen Kalenderreformen nach, dass es in der Platzierung der Feste oft weniger um rituelle Huldigungen der 

Götter, 

geschweige 

denn 

um 

astronomische 

Präzision 

ging, 

sondern 

um 

die 

Verteilung 

und 

günstige 

Ausbeutung von Arbeitstagen und Kreditablösungen, da Zinsen oft tageweise berechnet wurden, es um die Kreditierung sozialer Zeit und eine Auslöschung etwa von Schulden ging – so wie es in Frankreich üblich war, nach der Wahl eines neuen Präsidenten die Strafzettel für unbedeutende Verkehrsdelikte zu annullieren. Das Fest steht 

in 

direktem 

Gegensatz 

zum 

Streit 

und 

zum 

Verschulden, 

indem 

es 

immer 

kommunikatives 

Einverständnis 

 und nicht Streit voraussetzt.

Ralf Bohn

199

tausch von Vernunft und Ekstase, in dessen Folge ganz vernünftige Leute sich bis heute orgiastisch verhalten 

dürfen. 

Im 

Karneval 

wird 

relative 

Gesetzlosigkeit 

in 

eine 

regulative 

Praxis 

zurückübersetzt. 

 Das entspricht der virtuellen Rückwärtsbewegung des Saturn am Sternhimmel einerseits, andererseits aber dem Sinn der Mechanisierung und Maschinisierung, die schon bei Archimedes ihren frühen Höhepunkt hat. Es 

 sollte 

 im 

 Agon 

 des 

 Karnevals 

 so 

 viel 

 Gewalt 

 befreit 

 werden, 

 wie 

 sich 

 das 

 Jahr 

 über 

 aufstaut. 

 Die 

 weitere Behauptung Rangs, »durch das Kalender-Loch der Unordnung brach der Triumphzug des Dramas« sich Bahn (gemeint ist der Vierteltag zum Jahreszyklus, unser Schalttag),30 ist als Sprung, als Bockssprung 

zu 

verstehen, 

in 

dem 

das 

Individuum 

in 

ekstatischer 

Verzückung 

mit 

der 

Gemeinschaft 

 verschmilzt, damit Vernunft selbst als ein in der Gemeinschaft vorherrschender Sprung offenbar wird. D. h., die Vernunft, die lineare Einholung der Vergangenheit und deren kausale Fortschreibung in die Sorge 

um 

die 

Zukunft 

(und 

die 

Schicksalsbahnen 

der 

Planeten), 

die 

Expansion 

ihres 

Geltungsbereichs 

 als technischer Fortschritt, schafft die theatrale Lücke als Ventil, die sie für sich selbst als blinden Fleck exorziert. Das aber kann vernünftig nicht erfahren werden, sondern nur in einer Art contrepartie, einem Widerpart oder Widerstreit, der die Einlassstelle für die Ironie jeder szenische Dramatik darstellt. Man kann nicht darüber streiten, ob das Theater oder die Maschine zuerst von der Realisierung einer im Fiktiven gebannten Einheit kündet. Das Syndromische des karnevalesken Umzugs ist radikalisierte Vernunft. Baudrillard spricht von der »Agonie des Realen«31 und er meint damit eine Vernunft, die sich selbst als geschichtsenthoben nur durch ihre epizyklischen Rückfälle legitimieren kann: 

Alle 

Vernunft 

dient 

der 

Abschaffung 

von 

Krankheit, 

Krieg 

und 

Krise 

und 

somit 

der 

vollen 

Geistesgegenwärtigkeit, nährt sich aber opferreich von der Vision einer paradiesischen anderen Zeit. Man kann, nimmt man Baudrillard ernst, der Wirklichkeit als der technisch durchgedrehten Vernunft nur noch Symptomstatus konzedieren. Der Neurotiker ist derjenige, der die Kulturverdeckungen entlarvt, 30 31

Rang, Historische Psychologie des Karnevals, S. 23. Jean Baudrillard, Agonie des Realen, Berlin 1978. Baudrillard geht es darum, zu zeigen, dass die Realität mit einer Simulation identisch geworden ist, die entlarvt, dass es die Realität nie gegeben hat. Folgende Intervention im öffentlichen Raum ließe sich denken:»Ein Beispiel: es wäre interessant zu beobachten, ob der Repressionsapparat auf einen simulierten Raubüberfall weniger gewaltsam reagiert als auf einen realen. Ein realer Überfall bringt die Ordnung der Dinge, das Besitzrecht, ins Wanken, ein simulierter Überfall dagegen ist ein Attentat 

auf 

das 

Realitätsprinzip 

selbst. 

Die 

Überschreitung 

und 

die 

Gewalt 

sind 

weniger 

schwerwiegend, 

denn 

 sie lehnen sich nur gegen die Verteilung (partage) des Realen auf. Die Simulation ist weitaus gefährlicher, denn sie 

 läßt 

 über 

 ihr 

 Objekt 

 hinaus 

 die 

 Annahme 

 zu, 

 die 

 Ordnung 

 und 

 das 

 Gesetz 

 könnten 

 selber 

 ebensogut 

 nur 

 Simulation sein.» (S. 37–38) In diesem Sinne wäre zu fragen, ob die Theatertherapie trotz ihrer Simulationen nicht gerade darauf aus ist, die Realitätsmächte, also die vorherrschende Inszenierung des Widerstandes als Sorge (Heidegger) wiederherzustellen, während die Symptomatik darstellt, dass eine solche Wiederherstellung sich nur einem Simulakrum unterwirft.

200

Agon und Agonie

deren drogierende Notwendigkeit er aber nur zu zeigen, nicht aber abzuschaffen wagt, um eben nicht selbst in die inzestuöse Falle zu laufen, die er im Symptom symbolisiert. Schon Freud hat in der Professionalisierung des Berufes von einer glücklichen Neurose gesprochen. Baudrillard zeigt in seiner Analyse, dass es eben nicht, wie Rang das untersucht, um anthropologische und historische Eroberungen und Zähmungen innerhalb einer fortschreitenden Zivilisierung des Menschen geht, sondern um eine Mikroanalyse des Aktes oder Satzes jeder Vernunftbehauptung, also um den situativ szenischen Übergang. Vielleicht war Heidegger der Erste, der die Rückständigkeit von Technik und ihre fortschreitende Pseudonaturierung verstanden hat. Was ergibt sich daraus für unsere Vorüberlegungen: Logisch gesehen stellt nicht die Theatertherapie den ökonomischen Saldo der Sozialisierung, der Heilung her, sondern sie spielt die neurotische Ekstase der Vernunft nach. Die Wahrheit liegt allemal auf Seiten der Neurotiker. Wenn diese nun durch die Therapie zu Opfern deklariert oder ihrer Opfersubstanz beraubt werden, dann unter der Ägide einer Vernunft, die sich als Realitätsprinzip ermächtigt. So gesehen treibt die Theatertherapeutik als Technik ein ambivalentes Spiel: Sie depotenziert die gegenständliche, physikalische Wirklichkeit zu Gunsten 

einer 

phantasmatischen 

Besetzung 

des 

Spiels, 

sie 

verdeckt 

andererseits 

in 

ihrer 

Heilsvorstellung 

den 

Wahn 

der 

Techniken 

als 

Legitimationsfigur 

ihrer 

selbst. 

Hieße 

das 

nicht, 

einen 

Konflikt 

 zwischen 

den 

öffentlichen 

Szenografien 

mit 

ihrer 

Retheatralisierung 

der 

Wirklichkeit 

und 

den 

Therapeuten mit ihrer Realisierung des Theatralischen in einen Wettstreit zu bringen? Welche Therapie kann 

man 

als 

Saturnalie 

entwickeln, 

wenn 

die 

technische 

Zivilisation 

sich 

schon 

in 

Gänze 

als 

solche 

 ausweisen kann? 7. Die technisch-therapeutische Agonistik (die Illusion) Gehen 

wir 

auf 

einige 

Gedanken 

Lyotards 

bezüglich 

des 

Begriffs 

›Agonistik‹ 

ein. 

Es 

geht 

Lyotard 

darum, 

 den von Habermas vertretenen Konsensgedanken, der den status quo der zivilisierten Wirklichkeit festschreibt, aufzubrechen und zurückzuführen auf eine Ebene, wie sie etwa Wittgenstein in seinen Ansichten zum Sprachspiel erwogen hat. Der sprachliche Wettstreit setzt Kompetenz in sprachlicher Technik 

voraus. 

Aber 

das 

Grundelement 

des 

Theaters 

ist 

nicht 

das 

Sema, 

sondern 

das 

Soma. 

Das 

 Zeichen teilt (und bedeutet), das Soma synthetisiert (und zeigt), und zwar als illudisches Element im Sinne Winnicotts. Nach Winnicotts Ansicht beginnt die frühkindliche Spaltung, d. h. die Subjektivität mit der Szene der Diffenzierung dessen, was zu meinem Körper gehört und was sich davon absondert, also in der Disposition des »Besitzes«. Die Dinge des Besitzes sind im Verhältnis zur bedrohlichen Natur (Einheit des Körpers) Waffen und deren Abwehr, und weil sie beides zugleich sind, bannen sie sich in ihrem Explosionsaufschub wie Waren im Kaufhaus. Ihre Isolation beschert ihnen einen fetischistischen Charakter. Die Illusion über den Waffencharakter der Dinge betrifft ihre vom Körper

Ralf Bohn

201

abgelöste 

Seinsweise 

(Besitz), 

nicht 

ihre 

reale 

Waffen- 

oder 

Schutzqualität. 

Genau 

um 

diesen 

Besitz 

 (also 

die 

Präsenz 

eines 

Gegenwärtigen, 

um 

die 

gehortete 

Vernunft) 

des 

›Ichs‹ 

geht 

es 

in 

der 

Spielform 

 ›Subjekt‹. Der Widerstreit, so vermutet Lyotard, ist eine »Legitimierung durch die Paralogie«, die in der agonalen Szene ausgetragen wird, ohne je dramatisch entschieden sein zu dürfen.32 Die Plastizität der Referenz von Ich und Welt, von Besitz und Präsenz, das Szenische, kann sich aber, so fürchtet Lyotard, unter den vorherrschenden Objektivierungstendenzen nur noch als Abweichung/Pathologie darstellen. 

Es 

scheint 

so 

zu 

sein, 

dass 

sowohl 

szenografisch 

sozial 

als 

auch 

therapeutisch 

psychisch 

 an der Technisierung dieser Paralogie noch gearbeitet werden muss, in Sonderheit als Tiefenrekonstruktion 

des 

Designs, 

der 

Haut 

des 

Marsyas, 

der 

Leinwände, 

Projektionsflächen 

und 

Bildschirme, 

die 

 mir zwar Präsenz sichern, mich aber nicht mehr in Besitz bringen. Diese Paralogie sorgt für die permanente Vermittlung der Extreme, womit die Therapie tatsächlich zum unendlichen Moment einer Kultivierung des Zivilen wird, jedoch löst sich das Bewusstsein der Körpergrenzen auf. Besitzverhältnisse werden in Handel und Kreditierung ausgetragen. Das aber schafft soziale Zeit. Das Wissen, die Kompetenz um diesen Handel an Besitz und Bedeutungen hat im Zeitalter der globalen Dauerpräsenz und Waffenwache seinen Wert verloren. Es repräsentiert nur noch eine Ordnung der Realität, aber keine Macht der Präsenz. Es zählen nun die Erlebnisbemächtigung und die Macht, dabei zu sein, also die Performativität des Ereignishaften als Produkt. Da Aufführungen als unwiederholbare Events zelebriert werden, ist das Kostbarste die persönliche Anwesenheit. Das hat Auswirkungen auf eine Welt, die insgesamt ludisch geworden ist und sich diese Ludizität in Aufmerksamkeitswährung bezahlen 

 lässt. 

 Die 

 Spitzenform 

 dieser 

 Gegenwartswachsamkeit 

 bildet 

 der 

 Neurotiker 

 aus. 

 Kompetenzaneignung alter Schule (Wissen) verlangt nach identitätsstiftenden Mustern, nicht nach persönlichem Erleben mit seinen Deutungsfolgen. »Was aber sicher scheint«, so Lyotard, »ist, dass in beiden Fällen 

die 

Delegitimierung 

und 

der 

Vorrang 

der 

Performativität 

der 

Ära 

des 

Professors 

die 

Grabesglocken läuten: Er ist nicht kompetenter zur Übermittlung des etablierten Wissens als die Netze der Speicher.«33 Diese sich bereits realisierende Prophezeiung bereitet folgendes Szenario vor: Zunächst wird im Spiel um die Legitimitätsmacht von Realität der Neurotiker die Theatertherapie favorisieren. Dann werden die Neurotiker sich professionalisieren und als Kreative ihr Opferpotential in die Waagschale 

werfen 

(Reality 

T V). 

Für 

die 

Hochschulen 

bleibt 

nur 

noch 

der 

szenografische 

Ausbildungsgang, 

 in dem die Professoren zu Theatertherapeuten werden.

32

33

Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, Wien 1993 *1973, S. 175. Zum Agon (Widerstreit) bei Lyotard, insbesondere in Auseinandersetzung mit Platon und Kant: Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, München 1989. Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 156.

Vom Nutzen flüchtiger Erscheinungen und zukünftiger Ereignisse Hofmann&Lindholm im Gespräch mit Céline Kaiser

Hofmann&Lindholm im Gespräch mit Céline Kaiser

Kaiser: Ihr künstlerisches Repertoire unterteilen Sie in die Sparten Theater / Intervention, Film / Installation, Hörstück. Schaut man sich Ihre Arbeiten dann an, wird m. E. aber schnell deutlich, dass es 

sich 

hierbei 

nicht 

um 

strenge 

Gattungsgrenzen handelt. Hofmann&Lindholm: Die Unterteilung in Sparten stellt ein Zugeständnis an 

die 

Gegebenheiten 

des 

Marktes 

dar, 

der 

klare 

 Konturen wünscht; aus ästhetischer Perspektive 

 ist 

 sie 

 für 

 uns 

 nicht 

 erheblich. 

 Im 

 Gegenteil, 

 Gattungsgrenzen 

stellen 

häufig 

Beschneidungen 

 von Möglichkeiten dar, die nicht nötig sind. Wir kommen ursprünglich aus dem Theaterbereich, haben uns nach dem Studium und der notwendigen Infragestellung traditioneller theatraler Dispositive (wie Rollenspiel, der Illusion des Als-ob, Textbasiertheit usw.) der Bildenden Kunst zugewandt, ohne das Interesse an Fragen der Inszenierung und des Inszeniertseins zu verlieren. Gegenwärtig 

verstehen 

wir 

uns 

vor 

allem 

als 

konzeptuell arbeitende Künstler: Am Anfang des Arbeitsprozesses stehen zumeist Ideen, Fragestellungen oder ein Forschungsinteresse; die Form und das Medium der Bearbeitung versuchen wir vom konzeptuellen Ansatz abzuleiten. Wir realisieren Installationen, Filme, Aktionen im öffentlichen Raum, entwickeln Bühnenperformances und Radiostücke. Alle Projekte suchen dabei Schnittstellen zwischen szenischer, bildender und akustischer Kunst zu berühren. Aber auch wenn die Bandbreite unserer Mittel weit reicht,

203

ist den Arbeiten einiges gemein: Ein Umgang mit seriellen Arbeitsweisen ist uns wichtig, ein Insistieren auf wiederkehrenden Mustern; ein stark (medien-)reflexiver 

 Zug; 

 und 

 natürlich 

 die 

 Erarbeitung interventionalisitischer Strategien. Kaiser: Welche Bedeutung hat für Sie der Begriff der Intervention? Hofmann&Lindholm: Interventionen – wie wir sie verstehen – sind bewusst herbeigeführte Reaktionen auf vorhandene Strukturen, es sind Eingriffe in vertraute Systeme oder Räume. Es sind Manöver, die im Rahmen vorherrschender Diskurse, Anschauungen, Umgangsformen 

 stattfinden 

 und 

 diese 

 bestenfalls 

 unterlaufen, irritieren, in die Irre führen. Bei unseren Interventionen handelt es sich um Aktionen, die in alltägliche Bereiche des Lebens eingreifen und nach dem Eingriff präsentiert, dokumentiert oder 

 in 

 szenische 

 Gebrauchsanweisungen 

 übersetzt und als solche inszeniert werden. Oft führen wir diese Interventionen nicht selbst durch, sondern 

delegieren 

sie: 

Gemeinsam 

mit 

unseren 

 Komplizen – wie wir sagen – entwickeln wir dabei Strategien und Handlungen, die funktionierende Systeme 

und 

Gefüge 

benutzen, 

umdeuten, 

nachahmen, täuschen oder sich aneignen. In »Aspiranten« (2003) hat unsere Komplizin Alice Ferl in einem Zeitraum von fünf Monaten die Palette der Warenhauskette Kaufhof um insgesamt 73 Produkte erweitert. Im Vorfeld bat sie Freunde, Bekannte und Verwandte darum, ihr alte Klei-

204

Vom 

Nutzen 

flüchtiger 

Erscheinungen 

und 

zukünftiger 

Ereignisse

dungsstücke zur Verfügung zu stellen. Zeitgleich sammelte sie Preisschilder und Etiketten von neu erworbenen Textilien, mit denen sie die Stücke ihrer Sammlung auszeichnete. Dann stattete sie einer Filiale der Warenhauskette Kaufhof eine Vielzahl von Besuchen ab, bei denen sie T-Shirts, Blusen, Hosen und Jacketts aus ihrer Sammlung in die Regale einordnete und darauf achtete, dass ihre Kollektion sowohl farblich als auch thematisch zu den angebotenen Markenartikeln passte. Alice Ferl griff also störend ins System ein, indem sie das Angebot und nicht – wie vorgesehen – die Nachfrage schürte ... Ein 

 anderes 

 Beispiel: 

 Für 

 »Geschichte 

 des 

 Publikums« (2006) entwickelten wir Methoden zur Aneignung des öffentlichen Raums. In diesem Zusammenhang richtete unser Komplize Roland Görschen 

 seinen 

 Fokus 

 auf 

 die 

 Zentralbibliothek 

 seiner Heimatstadt. Über einen langen Zeitraum entlieh er gezielt Bücher aus der Abteilung für Geschichte 

und 

Gesellschaft, 

um 

sie 

wenige 

Tage 

 darauf zurückzugeben. In der Zwischenzeit erwarb er Neuausgaben der entliehenen Titel im Handel, um diese nach Maßgabe der Exemplare aus der Zentralbibliothek zu bearbeiten. Bearbeitung 

 meinte: 

 das 

 Übertragen 

 von 

 Gebrauchsspuren der Leihbücher in seine Privatausgaben. Roland 

 Görschen 

 imitierte 

 umgeknickte 

 Ecken, 

 Riefen und Prägespuren, reproduzierte abgegriffene Seitenränder und Anstreichungen, er kopierte die Muster der auf den Buchrücken befestigten Barcodes – um schließlich nicht die entliehenen Originale, sondern die aufwendig manipulierten Kopien der Leihbücher zurückzugeben.

Unseren Berechnungen zufolge würde Roland Görschen 

ungefähr 

anderthalb 

Jahre 

benötigen, 

 um 

die 

komplette 

Abteilung 

für 

Geschichte 

und 

 Gesellschaft 

privat 

zu 

vereinnahmen. 

 Bei solchen Interventionen geht es uns um Verfremdungen, um den Begriff von Brecht aufzugreifen: um das Fremdmachen von scheinbar Bekanntem mit dem Zweck, die uns umgebenden 

 Strukturen, 

 Abläufe, 

 Gewohnheiten, 

 Bereiche sichtbar zu machen – z. B. Warenkreisläufe oder die öffentliche Sphäre. Die geplanten Aktionen werden im realen öffentlichen und privaten Raum durchgeführt und anschließend für die Bühne, den Ausstellungsraum oder das Radio inszeniert. Kaiser: Sie beschäftigen sich aber auch mit dem ReEnactment? Hofmann&Lindholm: Neben den Interventionen bzw. Delegierten Interventionen gibt es eine zweite Werkgruppe, mit der wir versuchen, kommunikative Prozesse im öffentlichen und nichtöffentlichen Raum zu untersuchen, zu funktionalisieren und zu inszenieren. Da dabei vor allem der Konstruktionscharakter 

von 

Geschichte 

und 

Geschichtsschreibung 

 im Vordergrund stehen – und nicht historische Begebenheiten –, sind wir ein wenig vorsichtig im Umgang mit dem Begriff Re-Enactment. Kaiser: Inwiefern?

Hofmann&Lindholm im Gespräch mit Céline Kaiser

Hofmann&Lindholm: In der Regel wird mit dem szenischen ReEnactment ein pseudo-realistisches, pseudo-naturalistisches Nachstellen historischer Ereignisse verbunden, [und zwar] so, als ob es einen objektiven Tathergang gegeben hätte, den man erneut durchführen könnte. Aber Erinnern heißt natürlich immer Erzählen; ein Ereignis ist nicht, es wird im Rückblick gemacht, erzählt, inszeniert. Dieser Aspekt steht für uns im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Für unsere Videoinstallation Serie Deutschland (seit 2008 fortlaufend, zuletzt 2012 im Frankfurter Kunstverein gezeigt) re-inszenieren wir gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern Fotografien 

 bedeutender 

 Ereignisse 

 der 

 Nachkriegszeit 

 Deutschlands – beispielsweise die Unterzeichnung 

des 

Grundgesetzes 

durch 

Konrad 

Adenauer, 

 den Kniefall von Warschau von Willy Brandt oder die Entführung Hanns-Martin Schleyers durch die RAF. Dabei geht es allerdings nicht um ein Nachstellen der historischen Abläufe oder um die Darstellung der Inhalte der Ereignisse, sondern um eine visuelle Rekonstruktion des Bildes. Uns interessiert die Bildform und -sprache der Fotografie, 

die 

uns 

als 

Referenz 

dient, 

der 

Aufbau, 

die 

 Positionierung der Bildelemente und die Aufteilung zwischen Vorder- und Hintergrund. Das Referenzbild wird seriell und minutiös in Handlung (rück-)übersetzt – in eine Handlung, die mit dem ursprünglichen Ereignis nur die Äußerlichkeit eines deckungsgleichen Bildaufbaus gemein hat. Jedes Foto wird viermal mit unterschiedlicher Besetzung am Originalschauplatz inszeniert. Ort,

205

Kameraeinstellung, die Länge der Aufnahme und Anzahl der Beteiligten bleiben dabei gleich. In der Schweiz initiierten wir 2010 »Basler Unruhen« (Theater Basel), indem wir massenmedial verbreitete Vorstellungen und Klischees von Aufständen 

und 

Revolutionen 

inszenierten 

und 

filmten. Wir ließen an die 300 Basler Bürgerinnen und Bürger demonstrieren, das Rathaus der Stadt besetzen, einen Fernsehsender stürmen, Straßenblockaden errichten, den Verkehr lahmlegen, Fackelzüge durch die Stadt sowie Mahnwachen abhalten. Es gab also kein Re-Enactment, sondern die Realisation von Bildern eines Ereignisses, das stattgefunden 

hat, 

als 

es 

fiktionalisiert 

wurde. 

 Kaiser: 2011 haben Sie in Köln ein »Archiv der zukünftigen Ereignisse« eröffnet, das man sich auch heute noch auf den Seiten von Deutschlandradio Kultur anschauen und anhören kann. Hofmann&Lindholm: Wie der Titel sagt, handelt es sich bei der Arbeit um eine Sammlung von Situationen, die sich noch nicht ereignet haben. Wir haben uns mit den Projektionen der Stadtbevölkerung beschäftigt 

 und 

 erwartbare, 

 kommende 

 Geschehnisse 

 zusammen mit den Protagonisten der zukünftigen Ereignisse akustisch inszeniert. Als Besucher des »Archivs der zukünftigen Ereignisse« (produziert von Schauspiel Köln und Deutschlandradio Kultur) bewegt man sich mit einem Smartphone durch den öffentlichen Raum der Stadt und wird an verschiedenen Orten – anfänglich 37 Orte –

206

Vom 

Nutzen 

flüchtiger 

Erscheinungen 

und 

zukünftiger 

Ereignisse

durch 

 ein 

 auf 

 GPS 

 gestütztes 

 Navigationssystem 

 lokalisiert. Sobald man bestimmte Standorte passiert, 

 findet 

 ein 

 Zeitsprung 

 statt: 

 Steht 

 man 

 beispielsweise 

vor 

der 

gegenwärtig 

im 

Bau 

befindlichen Zentralmoschee, wird man Ohrenzeuge der zukünftigen Eröffnungszeremonie: Der Architekt, der Bürgermeister und weitere Verantwortliche halten jene Reden, die sie beim kommenden Ereignis tatsächlich zu halten gedenken.

spielen nicht nur in der künstlerischen, sondern auch in der psychotherapeutischen Praxis eine Rolle – nicht zuletzt um Beziehungsmuster erkennbar werden zu lassen und die Selbst- und Fremdwahrnehmung in der szenischen Spiegelung zu verändern. Sehen Sie hier Parallelen oder würden Sie Interventionen im Bereich des Theaters von solchen im Feld der Psychotherapie strikt unterscheiden?

Im Stadtraum ist die Feier von Ruth Henckels 101. Geburtstag 

 zu 

 erleben, 

 die 

 Rückkehr 

 eines 

 Soldaten aus Afghanistan, der letzte Arbeitstag von Herrn Salwolke, eine Trauerfeier im Kölner Dom, das Champions League Finale 2015 ... Dabei ist die Vorwegnahme aufgrund der akustischen und visuellen 

Durchdringung 

von 

Gegenwart 

und 

Zukunftsaussicht 

an 

den 

jeweiligen 

Ort 

des 

Geschehens gebunden. Da ein Ereignis, sobald es eintritt, folgerichtig aus dem Archiv gelöscht wird, dezimiert sich das »Archiv« fortwährend.

Hofmann&Lindholm: Wir wissen zu wenig über psychotherapeutische Verfahren, um darauf angemessen zu antworten. – Unsere Arbeiten können möglicherweise Dinge sichtbar machen, vielleicht Unübersehenes oder auch Problematisches aufzeigen, Perspektivwechsel einleiten, sie zielen allerdings nicht auf Gesundung.

Kaiser: Was macht den Reiz der vorausgreifenden Performance aus? Hofmann&Lindholm: Wir haben für die Arbeit den Begriff des PreEnactments gefunden, um eine der Wirklichkeit vorauseilende Inszenierung zu beschreiben, die notwendigerweise weniger auf die Zukunft als vielmehr 

auf 

die 

Gegenwart 

verweist. 

 Kaiser: Kulturtechniken des Pre-, Re- und Enactments

Kaiser: Über Ihre aktuelle Arbeit im Frankfurter Mousonturm »Nebenschauplätze Nr.1: Das 20. Jahrhundert« hieß es in der Frankfurter Rundschau vom 08. 02. 2013: Fast ist ›Das 20. Jahrhundert‹ selbst eine Kur, eine Kur der Erinnerung. Unsere Erinnerung an diese Zeit verliert hier ihre Selbstverständlichkeit, das Jahrhundert entzieht und entfernt sich. War es doch nur eine Fiktion? Eine Projektion? Ein Blick durch ein Fenster? Treffen 

sich 

in 

dieser 

Arbeit 

Gedächtniskunst 

und 

 die Couch des Analytikers?

Hofmann&Lindholm im Gespräch mit Céline Kaiser

Hofmann&Lindholm: Bei dieser Arbeit haben uns die »Nebenschauplätze« im Kontext historischer Ereignisse interessiert – Adolf Eichmann in der Stallung seiner argentinischen Kaninchenfarm, John Lennon und Yoko Ono bei ihrem ersten Treffen in einer Londoner Galerie, 

Laika 

während 

der 

Vorbereitung 

auf 

den 

 Weltraumflug 

usw. 

Allerdings 

sind 

ausschließlich 

 Schatten und Silhouetten zu sehen, die in einen Raum auf der Bühne projiziert werden. Hierfür haben wir den Tageslicht- und Schattenverlauf des entsprechenden Nebenschauplatzes auf der Folie dokumentarischer Fotos rekonstruiert und mit Hilfe diverser Computerprogramme reanimiert. Entstanden ist eine szenische Installation, die dem Zuschauer erlaubt, das den Schatten Abwesende zu ergänzen und seiner Erinnerung oder seinem Wissen entsprechend zu vergegenwärtigen. 

 Ein 

 »Re-Enactment 

 flüchtiger 

 Erscheinungen« – so der Untertitel –, das den Zuschauer dazu einlädt, sich vor dem Hintergrund schemenhafter Vorgänge zu erinnern bzw. Erinnerung zu produzieren und zu konstruieren. Hier mag es Ähnlichkeiten zu den Anliegen eines Analytikers geben, Erinnerungen oder Verknüpfungen zu provozieren, also zu aktivieren. Kaiser: Welchen 

Nutzen 

haben 

flüchtige 

Erscheinungen 

 und zukünftige Ereignisse? Hofmann&Lindholm: Oder 

 anders 

 gefragt: 

 Haben 

 flüchtige 

 Erscheinungen und zukünftige Ereignisse einen Nutzen?

207

Diese Zukunft heißt Ü70-Party Zukunftsszenarien als performative Praxis im Theater mit Kindern Eva Plischke

Eva Plischke

209

Von Zukunftsszenarien ist in politischen, ökonomischen, wissenschaftlichen und alltäglichen Zusammenhängen die Rede. Nicht immer stellen sie das Ergebnis einer dezidierten Zukunftsanalyse dar, wie es bei Szenariotechniken (engl. Scenario Planning oder Scenario Forecasting) der Fall ist. Hiermit ist 

ein 

mehrstufiges 

Verfahren 

gemeint, 

das 

den 

Entwurf 

von 

hypothetischen 

Situationen 

oder 

Zukunftsbildern für ein konkretes Problem- oder Themenfeld zum Ziel hat, um Entscheidungen in der Gegenwart 

zu 

ermöglichen 

oder 

zu 

legitimieren. 

Szenariotechniken 

sollen 

im 

Unterschied 

zu 

Prognosen, die eine wahrscheinliche Zukunft errechnen, mehrere alternative Entwicklungen in den Blick nehmen – multiple Zukünfte. Es geht darum, Zukunft analytisch in ihre Bestandteile zu zerlegen, unterschiedliche 

Entwicklungsmöglichkeiten 

für 

die 

einzelnen 

Bestandteile 

und 

Einflussbereiche 

zu 

 projizieren und diese dann wieder zu wahrscheinlichen bis unwahrscheinlichen Zukunftsszenarien zusammenzusetzen.1 Im Unternehmensmanagement, in der Stadt- und Raumplanung oder in den (Natur-)Wissenschaften werden sie für einen konkreten Anwendungszusammenhang und bestimmte Adressaten produziert und als Produkte verschriftlicht oder visualisiert, um sie kommunizierbar zu machen. Was ein Zukunftsszenario ist und welche Darstellungsform, welche mediale Repräsentationsform es bekommt, variiert dabei je nach Anwendungszusammenhang. Die Darstellungsformen von Zukunftsszenarien im Kontext von Szenariotechniken möchte ich in diesem Text herausarbeiten und ihnen szenische Darstellungsverfahren von Zukunftsszenarien im Theater und in den performativen Künsten gegenüberstellen; denn der Begriff und das Phänomen des Szenarios weist ganz offensichtlich eine Analogie zum Theater und zu szenischen Prozessen auf. Das Prinzip, auf die Zukunft systematisch in Form von Szenarien zuzugreifen oder vorzugreifen, stammt aus dem Feld der Zukunftsforschung und geht auf Herman Kahn zurück, der in den 1950er und 1960er Jahren in den USA als militärstrategischer und politischer Berater Studien zu langfristigen weltpolitischen Entwicklungen verfasst hat. Es ist Kahn, der für die Ausarbeitung und Darstellung der Ergebnisse dieses Prozesses den Begriff Szenarium aus der Theater- und Filmterminologie verwendet. Im Theater stellt das Szenarium einen Übersichtsplan über die Szenenfolge eines Dramas für die Regie und das technische Personal dar und umfasst die Kategorien Handlung und Raum: Es ist sowohl eine Inhaltsangabe, die die Auftritte der Personen und die groben Handlungsverläufe der Szenen zusammenfasst, als auch ein technischer Ablaufplan, der die Szenenwechsel im Sinne von Kulissenwechseln festhält und so die wechselnden Szenerien und Schauplätze markiert, an denen sich die

1

Frank Hees/Christiane Michulitz/Anja Richert, »Szenarien in Aus- und Weiterbildung«, in: Falko E. P. Wilms, Szenariotechnik. Vom Umgang mit der Zukunft, Bern 2006, S. 292–306, S. 293. Szenarien stellen stets eine Kombination aus scheinbar gesichertem Zukunftswissen wie Basistrends und unsicheren bis überraschenden Faktoren und Veränderungen dar, die als Variationen systematisch durchgespielt werden.

Diese Zukunft heißt Ü70-Party

210

Handlungen abspielen.2 Bei Kahn liest sich ein Szenarium wie das Script von Handlungsfolgen auf politischen Bühnen, wie eine Übersicht über die Schauplätze der Krisen und Kriege des weltpolitischen Personals.3 

 Durch 

 ausgearbeitete 

 Szenarien 

 könne 

 der 

 Analytiker 

 ein 

 Gefühl 

 für 

 eine 

 hypothetische 

 Folge von Ereignissen, die wechselseitigen Beziehungen ungewisser Faktoren und die Entscheidungsmomente und Wegverzweigungen bekommen: »Sie beantworten zwei Arten von Fragen: 1. Wie mag eine hypothetische Situation Schritt für Schritt zustande kommen? Und 2. Welche Alternativen gibt es in jedem Stadium für jeden Teilnehmer, um den weiteren Prozess zu verhindern oder in eine andere Richtung zu lenken?«4 Trotz ihrer Nähe zum Theater werden Szenarien und Szenariotechniken selten als szenische Praxis aufgefasst. Es stellt sich daher die Frage, inwiefern im Theater und den performativen Künsten Zukunftsszenarien 

als 

szenische 

Form 

und 

Praxis 

vorzufinden 

sind 

und 

was 

ein 

Verständnis 

von 

Szenarien und Szenariotechniken als performativer Praxis im Unterschied zu medialen Repräsentationen von Zukunft zu leisten vermag. Anhand von zwei ausgewählten Szenen aus Theaterprojekten mit Kindern und Jugendlichen, bei denen Zukunftsszenarien des persönlichen Älterwerdens oder der gesellschaftlichen Überalterung im Mittelpunkt stehen, versuche ich zu beschreiben, wie Szenarien hier szenisch hervorgebracht werden. Nicht die inszenatorische Umsetzung fertiger Szenarien, sondern ihr szenischer Entstehungsprozess ist von Interesse. Sowohl in dem Stück Before Your Very Eyes (Performancegruppe Gob Squad, 2011) als auch in dem Projekt Junges Institut für Zukunftsforschung (Eva Plischke, 2013) stellen Kinder und Jugendliche eine Partyszene in der eigenen Zukunft szenisch dar, einmal 

 ist 

 eine 

 40. 

 Geburtstagsparty 

 und 

 einmal 

 eine 

 Party 

 von 

 über 

 70-Jährigen 

 – 

 eine 

 Ü70-Party. 

 Merkmal beider Szenen ist es, dass die Konstruktion der Szene und damit des Zukunftsszenarios als offener, schrittweiser Prozess auf der Bühne zu beobachten ist. Anhand dieser szenischen Prozesse möchte ich Darstellungsverfahren herausarbeiten, die man zugleich als Vorhersageverfahren begreifen kann. Denn es ist die Kongruenz von Darstellungsprozess und Vorhersageprozess, die die Performativität dieses Ansatzes ausmacht: Zukunftsszenarien lassen sich dann als performative Praxis verstehen, wenn sie im Akt des darstellerischen Vollzugs hervorgebracht werden. 2

3 

 4

Vgl. Duden, Fremdwörterbuch, Mannheim/Zürich 1997. Scaena (lat.) ist gleichbedeutend Bühne oder Schauplatz einer (Theater-)Handlung. Auch in der Filmsprache ist das Szenario die Vorstufe eines Drehbuchs oder Storyboards, das die Szenenfolge umfasst, wobei einzelne Szenen in der Regel einen Zeit- oder Ortswechsel markieren. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Filmszenario (Stand: 30. 09. 2013). Das 

 strategische 

 Denken 

 der 

 Szenariotechniken 

 geht 

 auf 

 den 

 preußischen 

 General 

 und 

 Militärtheoetiker 

 Carl 

 von Clausewitz zurück.Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/ Scenario_analysis (Stand 30.09.2013) Herman Kahn/Anthony J. Wiener, Ihr werdet es erleben. Voraussagen der Wissenschaft bis zum Jahr 2000, Hamburg 1971, S. 21.

Eva Plischke

211

Der Begriff der Performativität stammt ursprünglich aus der Sprachphilosophie, genauer Sprechakttheorie: Austin bezeichnet solche Sprechhandlungen als performativ, die in dem Moment, in dem sie als Sprechakt vollzogen werden, die soziale Wirklichkeit konstituieren, von der sie sprechen: Hiermit eröffne ich. – Hiermit taufe ich dich usw.5 In den Theaterwissenschaften wird die Ästhetik des Performativen maßgeblich als eine Ästhetik der Präsenz aufgefasst und bei Fischer-Lichte im Begriff der Aufführung fundiert.6 Theater wird als performative Kunst par excellence in den Blick genommen, indem 

 »Aufführung 

 nicht 

 als 

 Repräsentation 

 oder 

 Ausdruck 

 von 

 etwas 

 Vorgängigem, 

 Gegebenem 

 bestimmt [wird], sondern [man] sie als genuine Konstitutionsleistung begreift: Die Aufführung selbst sowie 

ihre 

spezifische 

Materialität 

werden 

im 

Prozess 

des 

Aufführens 

von 

den 

Handlungen 

aller 

Beteiligten überhaupt erst hervorgebracht.«7 Die Ästhetik des Performativen fokussiert mit den Begriffen 

Präsenz 

und 

Kopräsenz 

die 

Gegenwärtigkeit 

und 

Ereignishaftigkeit 

der 

Theaterhandlungen 

vor ihrer referentiellen oder repräsentativen Funktion und ihrer Fiktionalität. Performative Kunst wird oft 

 als 

 reine 

 Tätigkeit 

 im 

 Hier 

 und 

 Jetzt, 

 ohne 

 Bezug 

 zu 

 fiktiven 

 Räumen 

 und 

 Zeiten, 

 ohne 

 Begründung in einem Darzustellenden beschworen – als Anti-Repräsentation. Bei Zukunftsszenarien oder »Preenactments«8 

als 

performativer 

Praxis 

geht 

es 

aber 

ja 

gerade 

um 

fiktive 

Zeiten 

und 

Räume; 

hypothetische 

zukünftige 

Ereignisse 

sollen 

in 

und 

durch 

ein 

gegenwärtiges 

Geschehen 

verhandelt 

werden. 

 Gegenwärtigkeit 

und 

Zukünftigkeit, 

die 

Kategorien 

der 

Präsenz 

und 

Repräsentation 

von 

Zukünftigem, 

 treten bei performativer Zukunftsforschung in ein Spannungsverhältnis. Es bietet sich an, Theorien zum Reenactment als analytische Parallelfolie zu verwenden, da beim Reenactment ebenfalls ein 

Spannungsverhältnis 

vorliegt 

– 

jenes 

von 

Gegenwärtigkeit 

und 

Vergangenheitsbezug. 

Es 

handelt 

 sich beim Reenactment um »verkörperte Vergegenwärtigungen von vergangenen Ereignissen«9, von denen es mediale Zeugnisse gibt, während performative Zukunftsszenarien verkörperte Vergegenwärtigungen von hypothetischen zukünftigen Ereignissen sind, die im Darstellungsprozess erzeugt werden. Über Zukunftszenarien als performative Praxis nachzudenken ist daher wie die performancetheoretische Beschäftigung mit Reenactments eine Herausforderung für den Performativitätsdiskurs in den Kultur- und Theaterwissenschaften: »Der sich in den letzten Jahren unter dem Stichwort der 5 6 7 8

9 



Erika Fischer-Lichte, Performativität, Bielefeld 2012, S.38. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004. Ebd. S. 56. Der Begriff des Preenactments taucht erst in jüngster Zeit in der künstlerischen Praxis im deutschsprachigen Raum auf. In Berlin ist es die Performancegruppe Interrobang, die an den Sophiensaelen mit dem Begriff des Preenactments seit 2012 ein Format benennt, das gegenwärtige Entwicklungen mit den Mitteln des Theaters in die Zukunft fortschreibt. Vergleichende performancetheoretische Ausführungen gibt es hierzu bisher nicht. Erika 

Fischer-Lichte, 

»Wiederholung 

als 

Ereignis. 

Reenactment 

als 

Aneignung 

von 

Geschichte«, in: Jens Roselt/ Ulf Otto (Hg.), Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactmens, Bielefeld 2012, S. 13–53, hier: S. 13.

Diese Zukunft heißt Ü70-Party

212

Performativität im Theoriediskurs durchsetzende Common Sense, der sich Ereignishaftigkeit, Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit auf die Fahnen geschrieben hat, wird durch die szenische Praxis des Reenactments in eigentümlicher Weise verschoben.«10 Performancetheoretische Arbeiten der letzten Jahre haben aber gezeigt, dass es sich bei vermeintlichen Dichotomien wie Liveness und Medialität, Unwiederholbarkeit/Einmaligkeit und Dokumentation, Authentizität und (Selbst-)Inszenierung stets um relationale Verhältnisse handelt. (Auslander, Matzke u. a.) Auch die Kategorien Präsenz und Kopräsenz können dann nicht als gegeben behandelt werden, 

 sondern 

 müssen 

 als 

 etwas 

 reflektiert 

 werden, 

 das 

 gerade 

 im 

 Verhältnis 

 zu 

 Repräsentation 

 oder Medialität provoziert wird. In dieser Richtung ist die hier angestrebte performancetheoretische Konzeption von Zukunftsszenarien als performativer Praxis anzusiedeln. 1. Script, Story, Skizze oder Simulation? Repräsentationen der Zukunft im Kontext von Szenariotechniken Mit 

einem 

Blick 

in 

die 

Geschichte 

und 

die 

Einsatzfelder 

der 

Szenariotechniken 

lassen 

sich 

zwei 

typische Darstellungsmittel von Zukunftsszenarien ausmachen: das Schreiben oder das Visualisieren von Szenarien. Die Text- oder die Bildproduktion kann dabei in Referenz an künstlerische oder wissenschaftliche Darstellungsverfahren geschehen. Szenariotechniken changieren zwischen Kunst und Wissenschaft. Das hat damit zu tun, dass sie sowohl analytische als auch kreative Anteile oder Phasen beinhalten, die jeweils unterschiedlich akzentuiert und durch Kombination mit anderen Verfahren verstärkt oder vernachlässigt werden.11 »Scenario planning is an art, not a science«, heißt es bei Peter Schwartz12, einem Szenariotechnikpionier im Bereich des strategischen Unternehmensmanagements des Unternehmens Royal Dutch/Shell in den 1970er und 1980er Jahren. Schwartz plädiert dafür, Szenarien als Story 

zu 

verfassen 

statt 

als 

Grafiken 

oder 

Zahlen 

darzustellen; 

denn 

Geschichten 

seien 

eine 

 alte Form, komplexes Wissen zu organisieren, und hätten einen direkten Impact auf die Denk- und Vorstellungswelten ihrer Adressaten – anders als die rationale Sprache anderer Wissensformen.13 10 11

12 13

Jens Roselt/Ulf Otto, Nicht hier, nicht jetzt, in: Jens Roselt/Ulf Otto (Hg.), Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactmens, Bielefeld 2012, S. 7–12, hier: S. 11. Die grundlegenden Phasen der Szenariotechniken, die in beinahe allen Zusammenhängen genannt werden, sind: 1. Definition, Problem- und Fragestellung, 2. Einflussbereiche und -faktoren benennen, 3. Erarbeitung von unterschiedlichen Zukunftsprojektionen für die Einflussfaktoren, 4. Kombination und Formulierung von Szenarien, 5. Szenariotransfer (Handlungsempfehlungen erarbeiten). Vor allem in Phase 3 können unterschiedliche Entwicklungslinien von Einflussfaktoren sowohl quantitativ gestützt und als Zahlenwert geschätzt oder in 

einem 

kreativen 

Gruppenprozess 

als 

storylines fiktiv fortgeschrieben werden. Peter Schwartz, The Art of the Long View. Planning for the Future in an Uncertain World, New York 1996, S. 27. Ebd., S. 37 f.

Eva Plischke

213

Mehr noch als beim Script, dem szenischen Übersichtsplan, liegt hier eine Narrativierung von Zukunft vor, die damit einhergeht, dass sich Szenariotechniken im Unternehmensbereich auch zu Kreativitätstechniken entwickeln, die Innovationsprozesse befördern sollen. Eine Szenario-Story ist dann oft auch eine normative statt einer explorativen Beschreibung der Zukunft. Szenarien übernehmen auch im 

Bereich 

der 

Stadt- 

und 

Regionalplanung 

häufig 

normative 

Funktionen, 

wenn 

sie 

beispielsweise 

 als Leitbilder für die Stadtentwicklung dienen. Szenarien tendieren in diesem Zusammenhang dazu, bildhafter – und leitbildhafter – zu werden: Es sind erzählerische Momentaufnahmen eines Ortes in der Zukunft oder tatsächliche Zukunfts-Bilder 

 in 

 Form 

 von 

 Skizzen, 

 Grafiken 

 oder 

 Karten. 

 Solche 

 Visualisierungsverfahren 

sind 

häufig 

in 

öffentlichen 

oder 

wissenschaftlichen 

Kontexten 

vorzufinden: 

 Karten, Pläne oder Entwürfe sind Formen, die aus professionellen Planungszusammenhängen wie Architektur 

 und 

 Stadtplanung 

 stammen; 

 Grafiken, 

 Modelle 

 oder 

 Simulationen 

 sind 

 Berechnungs- 

 und Visualisierungsverfahren aus wissenschaftlichen Zusammenhängen. Solche Darstellungsformen von Zukunft sind immer auch Objektivierungsformen: Ein wie auch immer gearteter Auseinandersetzungsprozess mit der Zukunft schlägt an einem bestimmten Punkt in eine bestimmte, der objektiven 

 Betrachtung 

 zugängliche 

 Form 

 um. 

 Es 

 findet 

 ein 

 Medienwechsel 

 statt, 

 der 

 die 

 Szenarien 

 vom 

 Prozess ihres Erstellens abkoppelt, ohne dass der Prozess tatsächlich abgeschlossen sein muss. Das Zukunftsszenario kann von seinen Machern abgelöst und in andere Zusammenhänge übertragen und 

 vervielfältigt 

 werden. 

 Insbesondere 

 der 

 Gebrauch 

 wissenschaftlicher 

 Visualisierungsverfahren 

 suggeriert den Konsumenten von Zukunftsprodukten dann ein objektives, gesichertes und neutrales (Zukunfts-)Wissen, 

das 

von 

subjektiven, 

geschätzten 

oder 

interpretativen 

Einflüssen 

befreit 

ist 

und 

 daher verbindlich zu sein scheint. Aktuell sind es insbesondere Fragen des Klimawandels, bei denen szenariobasierte Techniken im Verbund mit mathematisierten und computerbasierten Modellierungstechniken verwendet werden. Reale 

Einflussgrößen 

werden 

mathematisch 

quantifiziert 

in 

ein 

Modell 

aufgenommen, 

und 

zwar 

auch 

 solche 

 Variablen, 

 deren 

 Größe 

 nicht 

 gemessen, 

 sondern 

 nur 

 geschätzt 

 werden 

 kann.14 Der Vorteil solcher Modelle und Simulationsläufe ist es, dass sie raumzeitliche Entwicklungen eines deterministischen Systems darzustellen in der Lage sind: »Konkret bedeutet dies, dass deterministische Modelle, wie beispielsweise aktuelle Wetter- und Klimamodelle, auf Differentialgleichungen basieren, welche nichts anderes darstellen als Bewegungsbahnen von Fluiden, so genannten Trajektorien. In solchen Modellen ist alles in Bewegung und in seiner Veränderung voneinander abhängig […].«15 Dieses Be14 

 Vgl. 

 Gabriele 

 Gramelsberger, 

 »Die 

 kausale 

 Mechanik 

 der 

 Prognosen 

 aus 

 dem 

 Computer«, 

 in: 

 Heinrich 

 Hartmann/Jakob 

 Vogel 

 (Hg.), 

 Zukunftswissen. 

 Prognosen 

 in 

 Wirtschaft, 

 Politik 

 und 

 Gesellschaft 

 seit 

 1900, 

 Frankfurt am Main 2010, S.213–230, hier S. 227. 15 Ebd., S. 234.

Diese Zukunft heißt Ü70-Party

214

wegungsmodell entspricht jedoch oft nicht dem politischen und öffentlichen Bedarf nach relevanten Aussagen und handlungsleitenden Empfehlungen. Dafür müssten Wissenschaftler ihre mathematischen Modelle oft mit semantischen Kontexten verknüpfen, was nur interpretativ geschehen kann, weil »die Natur der Zahlen gerade in ihrer Referenzlosigkeit zu interpretativ-semantischen Kontexten besteht.«16 Szenarien kommen dann oft fälschlicherweise als Prognosen auf den Markt. Ein Repräsentations- und Interpretationsproblem macht auch die Sozialwissenschaftlerin Eva Barlösius in ihrer kritischen 

Analyse 

der 

grafischen 

Darstellungen 

von 

Bevölkerungsentwicklungen 

deutlich.17 Kaum ein anderes 

Phänomen 

wie 

die 

Bevölkerungsentwicklung 

werde 

so 

häufig 

bildlich 

veranschaulicht 

und 

 dadurch zugleich interpretiert und festgeschrieben. Barlösius bezeichnet diese Bilder als demografische 

Repräsentationen, 

weil 

sie 

grafische 

Aufarbeitungen 

von 

statistischen 

Daten 

sind. 

Auch 

diese 

 Darstellungsweise beinhalte immer eine bestimmte Interpretation der Daten, einen symbolischen Überschuss: So sei die standardisierte visuelle Repräsentation der Bevölkerungsstruktur die Bevölkerungspyramide 

– 

eine 

Bevölkerung, 

die 

in 

ihrer 

grafischen 

Gestalt 

nun 

von 

der 

Ausgangspyramide 

 abweicht, 

sehe 

zwangsläufig 

instabil 

aus 

und 

symbolisiere 

eine 

negative, 

bedrohliche 

Entwicklung.18 Schrumpfungs- und Überalterungsprozesse werden als Untergangsszenarien rezipiert. Die Macht und Wirkmächtigkeit 

 der 

 Repräsentationen 

 des 

 demografischen 

 Wandels 

 liegt 

 laut 

 Barlösius 

 zum 

 einen 

 darin, 

 dass 

 sie 

 den 

 Wunsch 

 nach 

 Erhalt 

 des 

 Status 

 quo 

 fördern, 

 und 

 zum 

 anderen, 

 dass 

 sie 

 Gesellschaft nur noch als wachsende oder schrumpfende Bevölkerung, aber nicht in ihren kulturellen oder sozialen 

 Potentialen 

 repräsentieren. 

 »Demografisierung 

 der 

 Gesellschaft«19 nennt Barlösius dieses Repräsentationsproblem, wodurch jeglicher gesellschaftliche Wandel als ähnlich schwer veränderbar wahrgenommen 

werde 

wie 

demografische 

Entwicklungen. 

Statt 

einer 

offenen 

Zukunft 

produzierten 

 solche 

Repräsentationen 

von 

Zukunft 

eine 

Verengung 

von 

Zukunft 

und 

Gegenwart. 

 Visuelle Repräsentationen treten an die Stelle des Entstehungsprozesses und täuschen einen zukünftigen Status quo vor, anstatt einen zeitlichen Verlauf oder Handlungsablauf als mögliche Bewegung zu verfolgen. Umgekehrt werden mathematische Modellierungen, die nur dazu diesen, Bewegungen in deterministischen Systemen zu beobachten, semantisch aufgeladen und als referentiell oder repräsentativ interpretiert und wie Prognosen verwendet. Nicht physikalische Aspekte lassen sich in mathematische Modelle kaum integrieren. Die Kategorie menschlichen Handelns fällt jeweils hintenüber: 

 Gegenwart 

 erscheint 

 nicht 

 länger 

 als 

 Handlungsspielraum. Repräsentation und Präsenz 16 17 18 19

Ebd., S. 214. Vgl. Eva Barlösius, »Bilder des demografischen Wandels«, in: Heinrich Hartmann/Jakob Vogel (Hg.), Zukunftswissen. Prognosen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft seit 1900. Frankfurt am Main 2010. S. 231–248. Ebd., S. 234. Ebd., S. 235.

Eva Plischke

215

verbergen ihr relationales, sich wechselseitig veränderndes Verhältnis, Zukunfts-Repräsentationen scheinen 

Präsenz 

im 

Sinne 

von 

gesteigerter 

pluralistischer 

Gegenwart 

tendenziell 

zum 

Verschwinden 

 zu bringen. Inwiefern wiederholen, verändern oder verschieben sich diese Repräsentationsproblematiken, wenn man das Szenario als szenischen Ablauf und performative Praxis ernst nimmt? 2. Before Your Very Eyes: Szenische Darstellungsverfahren als Vorhersageverfahren Die Bühne als ein Schauplatz von (Theater-)Handlungen ist per se ein Handlungs-Spielraum, in dem Szenarien vor den Augen der Zuschauer durchgespielt werden können. Beide Partyszenen und -szenarien, die im Folgenden Untersuchungsgegenstand sein sollen, stammen aus Theaterproduktionen mit Kindern und Jugendlichen, die hier zugleich Macher und Darsteller von Zukunftsszenarien sind. Im 

offiziellen 

Markt 

der 

Zukunftsprognosen 

spielen 

Kinder 

als 

Mitproduzenten 

eine 

geringe 

Rolle, 

obwohl sie diejenigen sind, die davon am meisten betroffen sind. Sie werden die Konsequenzen gegenwärtiger 

Entscheidungen, 

die 

auf 

der 

Grundlage 

von 

Zukunftsprognosen 

geschehen, 

im 

Gegensatz 

 zu den Entscheidern noch erleben und stehen unter dem Druck, für diese zukunftsfähig zu werden. Mit der Umkehrung dieser Verhältnisse und Rollen in Bezug auf die Zukunft spielt das Projekt Junges Institut für Zukunftsforschung, das ich als künstlerisches Forschungsprojekt im Rahmen des Hamburger 

Graduiertenkollegs 

Versammlung und Teilhabe – Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste zusammen mit etwa vierzig Schülerinnen des Europagymnasiums Hamm in den Jahren 2012/2013 realisiert habe. Im Jungen Institut für Zukunftsforschung sind Schülerinnen im Alter von 10–16 Jahren die 

Zukunftsweisen 

und 

beraten 

Erwachsene 

in 

Zukunftsfragen. 

Ein 

gemeinsamer 

Gründungsakt 

des 

 Instituts gab den Startschuss für eine öffentliche Ausschreibung, durch die die jungen Zukunftsforscherinnen etwa zwanzig Zukunftsfragen und Forschungsaufträge von unterschiedlichen Akteuren des öffentlichen Lebens der Stadt Hamburg erhalten haben. Das Szenario Ü70-Party ist eines von drei alternativen Szenarien (Route 66, Suburban Farming und Migrationseintrittsalter), die eine szenische Antwort der Schülerinnen der 8. Klasse auf die Frage eines Mitglieds des Hamburger Rathauses sind: Wie 

wird 

sich 

der 

demografische 

Wandel 

mit 

mehr 

Älteren 

und 

weniger 

Jüngeren 

im 

Jahr 

2063 

in 

 Hamburg darstellen? Das Junge Institut für Zukunftsforschung stellt einen experimentellen Rahmen für performative Zukunftsforschung dar. Zukunftsvorhersagen mit den Mitteln des Theaters zu erarbeiten und Szenariotechniken in ein szenisches Verfahren umzuwandeln sollte die Konstruktion von Zukunftsszenarien für Kinder durchschaubar und beherrschbar machen: Szenarien und Szenen fallen hier in eins. Deswegen möchte ich im folgenden das Szenen-Script der Ü70-Party in leicht gekürzter Form abdrucken – als szenischen Übersichtsplan und Zukunftsvorhersage des Jungen Instituts für Zukunftsforschung zugleich:

Diese Zukunft heißt Ü70-Party

216

Alle bauen aus den Tischen eine Bar rund um die Lostrommel, die an der Decke hängt. Bis die Musik ausgeht, nehmen alle eine Position im gebauten Raum ein. Person 1 zieht ein Los aus der Lostrommel, tritt ans Mikro am Bühnenrand und liest ab, was auf dem Los steht, usw. (…) 2. Los: Ich reise in das Jahr 2073 und höre dort als Erstes… Danny macht die Beatbox an der Bar an 3. Los: Ich reise nach Hamburg im Jahr 2073 und dort gibt es eine neue Droge, die heißt Lotionmeth. Man trägt sie auf wie eine Bodylotion. Die Droge hat auch eine gute Nebenwirkung: »Haut wie vor 50 Jahren.« An der Bar wird Lotionmeth verteilt 4. Los: 

Ich 

befinde 

mich 

in 

Hamburg 

in 

einem 

Club. 

Um 

reinzukommen, 

habe 

ich 

dem 

Türsteher 

 meinen Ausweis gezeigt, um nachzuweisen, dass ich Ü70 bin – über 70 Jahre. Ich habe hier ein Date. Ich war auf Eliterentner.de. Jeremy tritt als Date zu Danny – trägt Altenmaske 5. Los: Im Club hängen viele Schilder und Banner. Darauf steht: Alle: Ein Leben lang geschuftet. Wo bleibt meine Rente? Ich will endlich ein bisschen Spaß! 6. Los (Jeremy mit Maske): Ich bin auf einer Ü70-Party und mache Lap Dance. Alle anderen über 70-Jährigen tanzen auch. Lichtwechsel, Musik an, alle tanzen 7. Eva am DJ-Pult: Diese Zukunft heißt Ü70-Party. Die Menschen werden in Zukunft immer länger leben und deswegen im Alter viel Zeit haben, Dinge zu tun, zu denen sie vorher nicht gekommen sind oder die verboten waren. Es wird ein ganz neuer Lebensabschnitt entstehen – Ü70. Die Alten werden die neue Jugend sein ... (Aus: Wir sind die Zukunft – Junges Institut für Zukunftsforschung, Textfassung Mai 2013) Über die Theaterproduktion Before Your Very Eyes der Theatergruppe Gob Squad, die in Zusammenarbeit mit der belgischen Organisation Campo als Teil einer Trilogie von Theaterstücken mit Kindern für Erwachsene entstand, schreibe ich nicht als beteiligte Künstlerin, sondern aus der Position der Zuschauerin. Mein Wissen und meine Beschreibungen beziehe ich aus der eigenen Seherfahrung und einer Videodokumentation.20 Bei Before Your Very Eyes 

befinden 

sich 

die 

sieben 

Spielerinnen 

im 

Alter 

von 

8–14 

 20

Premiere Theater Hebbel am Ufer, Berlin April 2011.

Eva Plischke

217

Jahren 

auf 

der 

Bühne 

in 

einem 

Kubus 

aus 

einseitig 

spiegelnden 

Glasflächen, 

in 

die 

die 

Zuschauer 

hineinsehen, aus denen die Kinder aber nicht hinaussehen können – sie sehen stattdessen stets sich selbst im Spiegel. Ansonsten sieht es in der Box aus wie in einem großen Wohnzimmer mit Sofa, Tisch und Stühlen und einem Fernseher. Dieser räumliche Aufbau wird wahlweise als Laborexperiment bezeichnet21 oder von Gob Squad wie eine Menschenausstellung angekündigt: Echte Kinder seien hier live im Hier und Jetzt und zugleich in ihrer potentiellen Zukunft in ihrem Leben im Schnelldurchlauf zu sehen. Die Box ist Schaubude und Zeitmaschine zugleich: ‹Ladies and Gentlemen! Gob Squad proudly presents a 

live 

show 

with 

real 

children. 

A 

rare 

and 

magnificent 

opportunity 

to 

witness 

seven 

lives 

lived 

in 

fast 

 forward … Before Your Very Eyes!‹22 Kein konkretes gesellschaftlichen Problem- oder Themenfeld wie sonst bei Szenariotechniken oder dem Jungen Institut für Zukunftsforschung ist hier der Anlass für die Produktion von Zukunftsszenarien: Es geht um Szenen und Szenarien des Subjekts, um das eigene Leben und den persönlichen Lebenslauf, aber auch den Verlauf des Lebens im Sinne von Vergänglichkeit. Von einer weiblichen »Erzähler-Erzieher-Experimentierleiterstimme aus dem Off«23 erhalten die Kinder in 

der 

Box 

von 

außen 

Regie- 

oder 

Handlungsanweisungen, 

deren 

Grundbefehl 

lautet: 

‹Grow 

up!‹ 

Es 

ist 

 diese Stimme, von der die Spielerinnen den jeweils nächsten (Darstellungs-)Auftrag erhalten, in welches Alter und in welche Situation sie als Nächstes springen sollen. Es sind eigentlich immer Partyszenen, in die sie hineinmanövriert werden: Es beginnt mit einer Kindergeburtstagsparty mit Blinde-Kuh-Spiel, die dem 

realen 

Alter 

der 

Kinder 

entsprechen 

könnte, 

führt 

über 

eine 

Gothic-Rock-Party 

im 

Alter 

von 

19 

über 

 eine 

40. 

Geburtstagsparty 

bis 

hin 

zur 

Sterbeszene, 

die 

in 

einer 

Mischung 

aus 

Feier 

und 

Altengymnastik 

 angesiedelt ist. Die Szene und das Zukunftsszenario Zoes 40. Geburtstag 

soll 

im 

folgenden 

der 

Gegenstand sein; das hier verschriftlichte verkürzte Script ist eine Mitschrift der Videodokumentation.24 Musik, Paartanz, Verkleidungsvorgang (Große Kleidung, Brillen, Perücken, Bärte zeichnen). Wenn die Musik aus ist, Standbild/Gruppenfoto ums Sofa. Stimme: Zoe, you are the hostess. It’s your 40th birthday. You never thought this day would come. You have had a haircut, but it is a desaster. Take the plate of homemade sushi. You prepared it earlier. Stand in the middle and look at it, embarrassed. 21

22 23 24

Vgl. Matthias Weigel, »Spieglein, Spieglein an der Wand«, in: www.nachtkritik.de/index.php?option=com_c ontent&view=article&id=5557%3Abefore-your-very-eyes-ua-gob-squad-spielt-am-hau-berlin-mit-erwachsenwerden-und-den-altersschablonen&catid=55&Itemid=100059 (Stand: 30. 09. 2013). Vgl. www.gobsquad.com/projects/before-your-very-eyes (Stand: 30. 09. 2013). Weigel,»Spieglein, Spieglein«. Aufgrund der Länge ist die Szene mit einigen Auslassungen transkribiert. Es fehlen alle szenischen Prozesse, die jeweils zwischen den Anweisungen der Stimme passieren.

218

Diese Zukunft heißt Ü70-Party

Stimme: Maurice and Ramses, stand at the back, next to the televsion. Rames take the wine. Talk to Maurice about the wine. Impress him with your knowledge. (…) Stimme: Fons, take a seat in the corner. Try not to show your discomfort. Smile at Zoe. Zoe, catch Fonses eye. Is there something in that look? Stimme: Zoe, have an idea. Offer him a piece of sushi. Fons, take one. Remember to smile. Eat it. Try not to go red. Zoe, ask yourself what are you doing here. Look around, is everybody having a good time? Stimme: 

Aiko, 

you 

are 

desperate 

for 

a 

dance. 

Go 

on, 

try 

to 

persuade 

somone. 

 Robbe, you give in. Dance quietly together in the corner, just the two of you. Stimme: Zoe, look jealous. You also wanted to have a dance. Now start eating your bad sushi. (…) Stimme: 

Go 

and 

sit 

on 

the 

sofa. 

Go 

and 

sit 

on 

the 

sofa. 

Go 

and 

sit 

on 

the 

sofa. 

 Stimme: Now say: What was an exciting and mysterious future is now starting to fade. You realise you are not special. As the world forgets you, as you learn there is no one watching and there never was. You know, the only part of you that will remain is that part, that has become someone else. Say it. Tasja: No. Why do you think you know it all? Who’s to say that i won’t do it all completley differently? Can I ask you something? Do you believe in fate? Stimme: I can’t tell you. I am just a voice. A recording. Tasja: So who is in charge here? And what is coming next? Stimme: Well, it’s obvious isn’t it? Robbe: We get older? Can we do the dying scene? Alle: Yeah, let’s do the dying.

Eva Plischke

219

2.1 Hinstellen – Vorstellen Am Beginn beider Szenen wird ein räumliches Setting oder Arrangement vor den Augen der Zuschauer erschaffen. Für die Ü70-Party werden mobile Tische, die auch für alle anderen Szenarien als modulares Material zu Verfügung stehen, von den Spielern gemeinsam umgestellt und so hingestellt, dass sie ihren Zukunftsvorstellungen eine räumliche Verfasstheit geben – oder andersherum: Durch das Stellen und Hinstellen von Material formen und konkretisieren sich die Vorstellungen einer Zukunftssituation. Wie bei Szenariotechniken wird Zukunft in einem räumlichen Vorgang aus einzelnen Bestandteilen allmählich zusammengesetzt. Die runde Bar der Ü70-Party ist zwar kein illusionistischer Raum, aber die Spieler können sich in die arrangierte Raumstruktur hineinstellen und damit in die erdachte Situation hineinversetzen, um sie weiter auszubauen. Sie stellen sich wiederum davor und blicken darauf zurück, wenn sie an das Mikrofon treten, um das nächste Los, den nächsten Schritt zur Entfaltung des Zukunftsszenarios zu ziehen und vorzulesen. Es ist keine Pointe, dass das griech. Wort skēnē 

 – 

 der 

 etymologische 

 Ursprung 

 des 

 Begriffs 

 Szenario 

 – 

 Hütte 

 oder 

 Zelt 

 bedeutet 

 und 

 im 

 griechischen Theatron der Teil der Bühne war, in dem Requisiten und Kulissen gelagert und angebracht wurden.25 Man kann die Spiegelbox in Before Your Very Eyes 

als 

skēnē 

betrachten 

– 

eine 

Hütte 

für 

 Kulissen 

und 

Szenerien, 

ein 

Garderoben- 

und 

Verkleidungsraum, 

ein 

Backstageraum, 

der 

zur 

Bühne 

 wird. Durch diesen Aufbau sind die Innen- und die Außenperspektive, die sich bei der Ü70-Party durch das Hinein- und Hinaustreten der Spieler abwechseln, von vornherein konzeptionell getrennt. Es gibt das Innenleben der Box und die Erzählerstimme von außen, deren Außenblick und Draufsicht der 

 Zuschauerperspektive 

 ähnelt. 

 Die 

 Stimme 

 eröffnet 

 die 

 Geburtstagsszene 

 dadurch, 

 dass 

 sie 

 den 

 Spielern Anweisungen gibt, sich im Raum aufzustellen: ›Zoe stand in the middle, Maurice and Ramses stand in the back, Fons take a seat in the corner.‹ Die Stimme repräsentiert in diesem Moment die Regieposition der klassischen Theaterprobe und inszeniert eine Art Stellprobe mit dem szenischen Personal – sie scheint das Szenarium, den Übersichtsplan in der Hand zu halten. Zukunftsszenarien als offener Probenprozess – durch das gemeinsame Um-, Hin- und Hineinstellen entstehen Vorstellungs- und Erfahrungsräume der Zukunft in einem kollektiven Prozess; dieser Verräumlichungsprozess wird zeitgleich von den Zuschauern nachvollzogen. Der Konstruktionsprozess von räumlichen Zukunftsszenarien ist ein synchroner Prozess des Produzierens und Rezipierens. Fischer-Lichte begreift performative Räume als sich ständig verändernde Räume, die das Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern jeweils neu konzipieren und bei denen »Räumlichkeit durch Bewegung und Wahrnehmung der Akteure und Zuschauer ständig neu hervorgebracht wird.«26 Bedingung dafür sei die 

leibliche 

Kopräsenz 

von 

Akteuren 

und 

Zuschauern 

in 

einem 

Raum 

und 

damit 

die 

Gleichzeitigkeit 

 von Produktion und Rezeption. Allerdings stellt das räumliche Setting von Before Your Very Eyes 25 26

Vgl. www.en.wikipedia.org/wiki/Skene_(theatre) (Stand: 30. 09. 2013). Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 199.

220

Diese Zukunft heißt Ü70-Party

nicht die Theater- und Versammlungssituation dar, die meist mit Kopräsenz gemeint ist; denn es liegt eine deutliche Trennung und Distanzierung vor. Eingeschlossen in eine Spiegelbox, agieren die Akteure scheinbar unbeobachtet. Sie können die Zuschauer nicht sehen, sondern nur sich selbst im Spiegelbild. Die Zuschauer blicken durch eine Trennwand in einen Kasten, der an Fernsehformate wie Big Brother erinnert – ein medialer Aufbau, wie es für die intermedialen Theaterformen Gob Squads typisch ist. Performative Prozesse passieren hier nicht jenseits von Medialität, sondern schließen mediale Bildwerdungsprozesse mit ein. 2.2 Ansehen – Vorhersehen Die 

 Feier 

 zum 

 40. 

 Geburtstag 

 ist 

 nicht 

 wirklich 

 ein 

 Fest 

 – 

 sie 

 gleicht 

 eher 

 dem 

 Horrorszenario 

 einer 

 steifen 

 Stehparty 

 voller 

 sozialer 

 Zwänge. 

 Getanzt 

 wird 

 kaum. 

 Die 

 Spielweise 

 ist 

 daher 

 nicht 

 von 

 Bewegung und lebendiger Körperlichkeit geprägt. Vielmehr verharren die Spieler in Positionen und Posen im Raum und warten wie ferngesteuert auf das nächste Kommando, also die nächste Handlungsanweisung von außen. Die anfängliche Aufstellung der Personen im Raum bringt die Vorstellung eines Beziehungsgefüges hervor, das sich als dramatisches Potential der Situation im weiteren Verlauf Schritt für Schritt entfalten lässt. Das Zukunftsszenario entsteht aus einem Wechselspiel von Handlungen und dem Warten auf die nächste Handlungsanweisung, von Bewegung und Stillstand im Standbild. Durch das derart gebremste Spiel werden kausale Zusammenhänge und Wechselwirkungen von Handlungen ausgelotet und Vorstellungen darüber ausgelöst, was als Nächstes passieren könnte, ganz im Sinne Kahns: Wie mag eine hypothetische Situation Schritt für Schritt zustande kommen? Oder: ›And what is coming next?‹ Stimme: ›Well, it’s obvious, isn’t it?‹ Man kann den Verlauf der Situation vorhersehen, weil man szenischen Darstellungen zusehen kann. Es sind aber nicht nur die erwachsenen Zuschauer und deren Repräsentantin, die Stimme, die Abläufen zusehen und sie potentiell vorhersehen können: Es sind auch die Spieler selbst, die sich im Spiegelbild bei ihren Darstellungen beobachten können. Sie lassen sich inszenieren und inszenieren sich zugleich im Spiegel selbst; auch sie agieren im Wechselspiel von Innen- und Außenperspektive. Before Your Very Eyes meint auch die Augen und die Selbstbeobachtung der Akteure. Die Stillstellung zum Spiegelbild oder zur Pose lässt sich mit den Objektivierungsformen und medialen Repräsentationen des Szenarioprozesses vergleichen. Sie werden hier zum objektivierenden Erkenntnisvehikel, weil sie ermöglichen, auf 

sich 

selbst 

und 

auf 

den 

Prozess 

zu 

schauen 

– 

auf 

das 

eben 

Gewesene 

und 

das 

noch 

Kommende. 

 Mediale Repräsentationen von Zukunft sind als Momente des Innehaltens in einem steten zeitlichen Verlauf des Vergehens und Werdens von Bildern zu verstehen. Sie repräsentieren Wegverzweigungen und Entscheidungsmomente des Verlaufs: Der Augenblick der Anschauung löst eine Vorhersage auf das Kommende aus, diese Vorhersage setzt wiederum einen szenischen Umsetzungsprozess in 

Gang, 

der 

auch 

ein 

medialer 

Bildwerdungsprozess 

ist. 

Aus 

performancetheoretischer 

Sicht 

wird 



Eva Plischke

221

künstlerischen 

 Reenactments 

 ein 

 kritischer 

 Umgang 

 mit 

 Bildern 

 und 

 Geschichtsbildern 

 attestiert: 

 Reenactments bringen »Bilder in Bewegung«27. Sie überführen historische Ereignisse, die in mythisch aufgeladenen Bildern konserviert sind, in sinnlich erfahrbare Nachahmungsprozesse, »die nicht dazu dienen, die historische Distanz zu kitten, sondern den Blick zu brechen und ein Vexierspiel zu generieren. Nicht für das Erleben, sondern für das Beobachten eines historischen Vorgangs und dessen mediales Zustandekommen erzeugen [Reenactmens] Aufmerksamkeit.«28 Da der Darstellungsakt beim Reenactment aber ein Akt der Wiederholung und Nachahmung ist, muss es immer auch einen Moment 

der 

Affirmation 

geben, 

bei 

aller 

Distanznahme 

und 

Beobachtung. 

Inke 

Arns 

beschreibt 

dies 

 als Paradox: »In this way the artistic re-enactment confronts the general feeling of insecurity about the meaning of images by using a paradoxical approach: through erasing distance to the images and at the same time distancing itself from the images.«29 Wie bisher deutlich wurde, sind auch die Darstellungsakte 

in 

den 

Szenen 

und 

Zukunftsszenarien 

von 

einer 

Mischung 

aus 

Affirmation 

und 

Distanznahme zu einer Situation geprägt – und mehr noch: Das Hervorbringen von Zukunftsvorstellungen und -vorhersagen im szenischen Prozess scheint auch etwas mit Wiederholung und Nachahmung zu tun zu haben. Die Akteure produzieren Zukunftsszenarien, indem sie selbsterzeugte Bilder rezipieren, vorgegebene Handlungsanweisungen ausführen oder vorgesagte Texte nachsprechen. 2.3 Vorsagen – Vorhersagen Am Ende der Szene Zoes 40. Geburtstagsparty outet sich die Erzähler-Stimme als ›recording‹, nachdem eine Spielerin das Nachsprechen eines Satzes verweigert und zurückfragt, ob die Stimme eigentlich alles wisse und an Schicksal glaube; denn die Stimme gibt vor, was die Spieler tun, worüber sie reden und was sie denken oder fühlen sollen: ›Do it!‹, ›Say it!‹ und ›Think this!‹ lauten ihre Befehle. Als 

soufflierende 

oder 

einflüsternde 

Macht 

trifft 

sie 

Vorhersagen, 

indem 

sie 

etwas 

vorher 

sagt: 

Alles 

 scheint unter Ankündigung zu passieren. Vorhersagen wird als doppelter Akt des Vorsagens und Nachsagens ausgestellt. Je nachdem wie die Spieler die Vorhersagen und Anweisungen umsetzen und 

 interpretieren 

 – 

 ob 

 affirmativ 

 oder 

 distanziert, 

 übertrieben 

 oder 

 nachlässig, 

 euphorisch 

 oder 

 unwillig 

– 

machen 

sie 

die 

Wirkung 

des 

Vorher-Gesagten 

in 

der 

szenischen 

Situation 

erfahrbar, 

fügen 

 den Vorhersagen eine Bedeutung hinzu. In diesem Zusammenspiel von Sagen und Zeigen bzw. Ma27

Annemarie Matzke, »Bilder in Bewegung bringen. Zum Reenactment als politischer und choreografischer Praxis«, in: Jens Roselt/Ulf Otto (Hg.), Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactmens, Bielefeld 2012, S. 125–138, hier: S. 125. 28 

 Jens 

 Roselt, 

 » Geschichte 

 wird 

 nachgemacht. 

 Serie 

 Deutschland 

 von 

 Hoffmann&Lindholm 

 und 

 Deutschland 

 2 

 von Rimini Protokoll als künstlerische Reenactments«, in: Jens Roselt/Ulf Otto (Hg.), Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactmens, Bielefeld 2012, S. 53–70, hier: S. 69. 29 Inke Arns, »History Will Repeat Itself: Strategies of Reenactment in Contemporary (Media) Art and Performance«, in: http://www.en.inkearns.de/files/2011/05/HWRI-Arns-Kat-2007-engl.pdf, S. 3 (Stand 30. 09. 2013).

Diese Zukunft heißt Ü70-Party

222

chen wird das Zukunftsszenario hervorgebracht. Das Vorsagen produziert Vorhersagen, die sich im Jetzt der Ausführung für alle sichtbar bewahrheiten oder verändern können – oder eben verweigert werden. Es steht oft nicht im Vordergrund des Performativitätsdiskurses, dass die performativen Sprechakte, die Austin beschreibt, feststehende, formelhafte und überlieferte Sätze sind. Den performativen Sprechakten, durch die sich eine neue soziale Wirklichkeit konstituiert, ist also per se ein 

Moment 

der 

Nachahmung 

und 

Reproduktion 

von 

etwas 

Gegebenem 

immanent. 

Ähnliches 

gilt 

 für die Aufführung, deren Ereignischarakter im Performativitätsdiskurs zwar als einmaliges Ereignis gefeiert wird, eine Aufführung sich aber genauso als stets neu zu realisierende Ausführung von Vorgeplantem, Vorgeprobtem oder Vorgesagten perspektivieren lässt. »Der Aspekt des Sich-BestimmenLassens, der sowohl im Sprechakt als auch im Ritual immer impliziert ist, bleibt meist unbeachtet. Wie sich […] herausgestellt hat, handelt es sich bei Sprechakten, körperlich vollzogenen performativen Akten und Aufführungen gerade um das Zusammenspiel von Bestimmen und Sich-BestimmenLassen, das ins Zentrum der Aufmerksamkeit tritt.«30 

In 

Zoes 

40. 

Geburtstagsparty 

führt 

das 

Prinzip 

 des Sich-bestimmen-Lassens durch die Befehle der Stimme einerseits dazu, dass sich die Spieler auf ein Szenario einlassen und dieses entstehen lassen können, andererseits wirft dieses Prinzip Fragen nach der Selbstbestimmheit der Kinder und Jugendlichen und der Vorbestimmtheit ihrer Zukunft auf. So 

bricht 

Tasja 

aus 

dem 

Zukunftsszenario 

des 

40. 

Geburtstags 

in 

dem 

Moment 

aus, 

als 

die 

Zukunft 

 als 

 eng 

 erfahren 

 und 

 definiert 

 wird: 

 ›What 

 was 

 an 

 exciting 

 and 

 mysterious 

 future 

 is 

 now 

 beginning 

 to fade.‹ Sie fordert mehr Spielraum und Selbstbestimmung ein: ›Who’s to say that I won’t do it all completely different?‹ Sie widersetzt sich hier zugleich als Jugendliche einer Erwachsenenperspektive. Es ist hörbar, dass die Erzählerinnenstimme einer Erwachsenen gehört, die um die 40 Jahr alt sein mag und die Kinder in ein Szenario hineindirigiert, das für sie Lebensrealität sein könnte. Es ist also auch eine Weigerung der Kinder, es so zu machen wie die Erwachsenen – »Ihr könnt uns nicht repräsentieren«, »So wollen wir nicht vorhergesagt werden.« 2.4 Improvisieren – Visionieren Für das Zusammenspiel von Vorbestimmtem und Unbestimmtem gibt es in der Sprache der Szenariotechiken die Terminologie von Predetermined Elements und Critical Uncertainties.31 Letztere sind die Unsicherheiten und Unvorhersehbarkeiten, die im Prozess intuitiv geschätzt oder mit Phantasie ausgemalt werden müssen. Den Umgang mit dem Unvorhergesehen nennt man auch Improvisieren (»improvisus« ist die Verneinungsform von »provisus« – vorhergesehen).32 Der Raum für Improvisationen 

entsteht 

in 

beiden 

Szenen 

im 

Zusammenspiel 

mit 

den 

fixierten 

Vorgaben: 

Wie 

beim 

Impro30 31 32

Fischer-Lichte, Performativität, S. 88. Vgl. Schwartz, The Art of the Long View, S. 47. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Improvisation) (Stand: 30. 09. 2013).

Eva Plischke

223

visationstheater geben die Lose und die Stimme in beiden Szenen Handlungsanweisungen vor, die jene Spielräume eröffnen, die durch die Spieler bestimmt und mitbestimmt werden: Seien es explizit inhaltliche Lücken, die von den Spielern gefüllt werden, wie die Frage, was auf den Bannern der Ü70Party steht und welche Parolen von den Alten gerufen werden. Aber auch Darstellungsfragen bleiben offen: Wie bewegen sich über 70-Jährige, wenn sie eine Party feiern? Wenn im Ü70-Szenario auf dem letzten Los steht, dass alle über 70-Jährigen tanzen, sind die Akteure aufgefordert, dies zu tun – wie sie 

es 

schließlich 

tun, 

nämlich 

ziemlich 

beweglich 

und 

jugendlich, 

definiert 

das 

Zukunftsszenario 

und 

 seine Bedeutung entscheidend mit. Das Alter »Ü70« kann als etwas anderes wahrgenommen werden, als was wir heute darunter verstehen: Die Alten werden die neue Jugend sein. Anders als in demografischen 

Diskursen, 

in 

denen 

Älterwerden 

und 

Überalterung 

vorrangig 

als 

Problem 

und 

Defizit 

wahrgenommen 

werden, 

kann 

hier 

die 

Interpretation 

einer 

Lebensspanne 

und 

des 

demografischen 

Wandels 

 tendenziell in Bewegung gebracht werden – im Vorgang des Tanzens. Der Akt der Improvisation ist damit 

 auch 

 ein 

 Akt 

 der 

 Interpretation, 

 der 

 hier, 

 anders 

 als 

 bei 

 grafischen 

 Repräsentationen 

 oder 

 wissenschaftlichen Expertisen, durch die szenische Trennung von Darstellungsauftrag und Darstellungsweise zur Schau gestellt wird. Im Akt des Interpretierens und Improvisierens wird Zukunft (mit) bestimmt. Sie wird visioniert, sprich zur Erscheinung gebracht – nicht als etwas, das schon existiert und sich materialisieren muss, sondern als etwas, das performativ hervorgebracht und dessen Bedeutung gesucht werden muss. Daher ist Improvisation mit dem Phänomen und Begriff der Emergenz in Verbindung zu bringen, den Fischer-Lichte in ihrer jüngsten Publikation zu Performativität ins Spiel bringt. Das Phänomen des Emergenten verweise auf eine neue Einstellung gegenüber der Zukunft: Zukünftiges tauche in einem performativen Prozess als emergentes Phänomen plötzlich auf.33 2.5 Verkörpern – Vergegenwärtigen Jedes Zukunftsszenario in Before Your Very Eyes beginnt damit, dass sich die Spielerinnen vor dem Spiegel verkleiden und schminken, um älter zu werden und zu wirken. Sie schlüpfen in das jeweils nächste 

Alter 

und 

damit 

in 

eine 

fiktive 

Figur, 

die 

in 

diesem 

Fall 

eine 

jeweils 

gealterte 

Version 

ihrer 

 selbst ist. Es geht um einen klaren Darstellungsauftrag: ‹Act your Age!‹ Es ist gerade dieses Moment der theatralen Repräsentation, das den Reiz des Spiels für die Kinder auszumachen scheint: groß sein dürfen. Der Vorgang, in eine andere Zeit und eine andere Rolle einzutauchen, sich körperlich in ein Geschehen 

zu 

involvieren, 

das 

nicht 

Hier 

und 

nicht 

Jetzt 

ist, 

wird 

grundsätzlich 

affirmiert. 

Zukunftsszenarien sind hier »Räume der Hyperreferentialität«34, die helfen, sich einen anderen Zustand zu vergegenwärtigen, ihn sich klar vor Augen zu führen. Wie beim Reenactment könnte man polemisch

33 Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, S. 76. 34 

 Roselt, 

» Geschichte 

wird 

nachgemacht«, 

S. 

68.

Diese Zukunft heißt Ü70-Party

224

sagen, »die Performance wird hier das, was sie nie sein wollte: Theater«35. Allerdings müsste man polemisch hinzufügen, dass es ziemlich schlechtes oder »armes Theater« ist: Die Verkleidungen und Verwandlungen bleiben bei Before Your Very Eyes 

grob 

und 

zeichenhaft, 

geradezu 

oberflächlich. 

Keine perfekte Illusion, keinerlei Veränderung der Stimmen oder der Körperlichkeiten, sondern Kinder in zu großer Kleidung mit angemalten Bärten oder einem Kissen unter dem Pulli kommen dabei heraus. Je älter die darzustellenden Versionen des eigenen Selbst sind, umso deutlicher treten die Zeichenhaftigkeit und die Distanz zwischen Spieler und Figur hervor. Man sieht dann vor allem die KinderKörper und ihr »Noch-Nicht-Altgewordensein«36. In dieser Perspektive lässt sich das ganze Stück als Kinderspiel oder große Verkleidungsparty im Hier und Jetzt begreifen: Kinder spielen Erwachsene und bleiben dabei dadurch umso mehr Kinder. Statt Zukünftigkeit bringen Verkörperungen dann Gegenwärtigkeit 

und 

Präsenz 

hervor. 

 Verkörperung ist die zentrale Kategorie der szenischen Darstellung – Verkörperung und Darstellung werden in der Theatersprache oft synonym verwendet. Dabei ist Verkörperung als Konzept kein einfaches: In den Theaterwissenschaften gilt, dass der Körper des Schauspielers immer zugleich ein phänomenaler 

 und 

 ein 

 semiotischer 

 Körper 

 ist 

 – 

 der 

 spezifische 

 Schauspielerkörper 

 ist 

 zugleich 

 Träger 

 von 

Zeichen. 

Wie 

Fischer-Lichte 

zeigt, 

hat 

das 

Konzept 

der 

Verkörperung 

auf 

Grund 

dieser 

Doppelung 

 historisch eine radikale Umdeutung erfahren.37 Im 18. Jh. entsteht der Begriff im Zusammenhang mit der Entwicklung einer Schauspielkunst, die den Schauspieler ganz in den Dienst der Repräsentation einer Figur und eines Textes stellt. Er hatte die Figur, die im Text angelegt war, unverfälscht zur Erscheinung zu bringen, und zwar so, dass dabei sein phänomenaler Leib nicht als solcher wahrgenommen wird.38 Später erfährt der phänomenale Leib eine Aufwertung gegenüber dem Text: Die Figur hat überhaupt nur durch den jeweiligen Schauspielerkörper Existenz, sie existiert nur in seinen körperlichen Vollzügen. Die steht in Zusammenhang mit Verkörperungstheorien in den Kulturwissenschaften: Embodiment als Konzept der gelebten Erfahrung und des Zugriffs aus die Welt über den Körper wird dem Konzept der Repräsentation gegenübergestellt.39 Auch im Theater des 20. Jh. wird Verkörperung zu einem radikalen Konzept der Anti-Repräsentation gemacht: Die individuelle Körperlichkeit des Performers wird in seiner Präsenz ausgestellt – dies geschieht auch, indem Darstellerkörper und Figur offenkundig auseinanderfallen: »Techniken und Praktiken zur Separierung von Darsteller und Figur lassen sich zugleich als Techniken und Praktiken zur Erzeugung von Präsenz 35 36 37 38 39

Roselt/Otto, »Nicht hier, nicht jetzt«, S. 11. Weigel, Matthias, »Spieglein, Spieglein an der Wand«, S. 1. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 139. Ebd., S. 130–132. Ebd., S. 153.

Eva Plischke

225

beschreiben«.40 Repräsentation und Präsenz treten in ein umgekehrtes Spannungsverhältnis: Es ist die Repräsentation, die Präsenz hervorbringt – UND umgekehrt. Ist Verkörpern also ein Vorhersageverfahren UND ein Vergegenwärtigungsverfahren im Sinne einer Präsenztechnik? In der Tanzszene der Ü70-Party des Jungen Instituts für Zukunftsforschung ist dies nicht 

mehr 

unterscheidbar: 

Ganz 

ohne 

Verkleidung 

arbeiten 

sich 

die 

Spieler 

hier 

an 

einer 

beinahe 

 unlösbaren Darstellungsaufgabe, einem Darstellungsproblem ab: Wie können sich Jugendliche wie 70-Jährige bewegen, die aber – so das Szenario – die neue Jugend sind? Wie stellen junge Menschen alte Menschen dar, die wie junge Menschen sein sollen? In der körperlichen Bewegung des Tanzens fallen 

verschiedene 

Zeiten 

in 

eins: 

das 

Zukunftsszenario, 

die 

Gegenwart 

wie 

auch 

die 

Vergangenheit 

 – denn das Szenario ist zusätzlich durch die Erzählung eines Rückblicks gerahmt und eingeleitet. Die Figur einer alten Frau erinnert sich aus der Perspektive des Jahres 2063 an das Junge Institut für Zukunftsforschung 

und 

die 

Szenarien, 

die 

dort 

entworfen 

wurden. 

Durch 

den 

fiktiven 

Rückblick 

geraten 

 die Szenarien selbst in den Verdacht der Vergänglichkeit und Vergeblichkeit: Aus der Perspektive einer 

zukünftigen 

Gegenwart 

werden 

die 

Zukunftsvorstellungen 

gleichsam 

historisch 

und 

haben 

möglicherweise nichts mit dem zu tun, was einmal der Fall sein wird. Mit einer solchen Parallelität oder Überlagerung der Zeitebenen spielt auch Gob Squad: Zwischen den jeweiligen Zukunfts-Party-Situtationen werden zwei Jahre als Aufzeichnungen der mitwirkenden Kinder eingespielt, die Fragen an ihr zukünftiges Ich richten. Die real um zwei Jahre gealterten Spieler begegnen ihrem früheren Selbst auf Video und treten mit ihm (sich selbst) in Dialog. Die Altgewordenen, die Noch-nicht-Altgewordenen, die, die älter werden wollen, und die, die nochmal jung sein wollen, das frühere und das zukünftige Selbst, 

 die 

 überalterte 

 Gesellschaft 

 der 

 jung 

 gebliebenen 

 Alten, 

 die 

 aktuellen 

 und 

 die 

 veralteten 

 Zukunftsszenarien – dieses un-zeitliche Personal und Material tritt in beiden Szenen gemeinsam auf und interagiert pausenlos. 3. Hiermit eröffne ich das Junge Institut für Zukunftsforschung – Zukunftsbezüge performativer Handlungsvollzüge und Präsenzformen performativer Zukunftsforschung In den Ausführungen zu Zukunftsszenarien als szenischer Praxis lag die Aufmerksamkeit darauf, wie Zukünftiges im Darstellungsvorgang hervorgebracht wird. Hier konnten szenische Verfahren wie Hinstellen und Aufstellen, Posen einnehmen und ansehen, Sagen und Zeigen, Improvisieren und Verkörpern als Vorhersageverfahren herausgearbeitet werden. Es sind Verfahren, mit denen Zukunftsszenarien im performativen Handeln hervorgebracht werden – die Kategorie der Handlung steht nicht als Handlungsempfehlung wie sonst bei Szenariotechniken am Ende des Prozesses, sondern konstituiert den Prozess selbst. Fischer-Lichte hebt in ihrer jüngsten Publikation zu Performativität – anders als in 40

Ebd. S. 170.

Diese Zukunft heißt Ü70-Party

226

der Ästhetik der Präsenz – erstmals hervor, dass performative Akte per se auf die Zukunft bezogen seien. 

Auf 

Grund 

ihrer 

transformativen 

Eigenschaft, 

Wirklichkeiten 

zu 

konstituieren, 

markieren 

sie 

immer 

 den Übergang von einem Zustand in einen anderen, den Anfang von etwas Neuem. Es bestünde daher eine Nähe zur Zukunftsforschung: »Performativitätsforschung als Zukunftsforschung zu betreiben, kann daher nicht heißen, normative Zukunftsbilder zu entwerfen, sondern den Verlauf performativer Prozesse zu erforschen, welche Zukünftiges hervorbringen.«41 Anhand der oben genannten Verfahren konnte aber darüber hinaus deutlich gemacht werden, dass das Hervorbringen von Zukünftigem immer 

 im 

 Zusammenspiel 

 mit 

 materiellen 

 Gegebenheiten, 

 mit 

 medialen 

 Aufbauten 

 und 

 Bedingungen, 

 mit 

Vorgesagtem 

und 

Vorproduziertem, 

mit 

Repräsentationen 

von 

Figuren, 

fiktiven 

Zeiten 

und 

Räumen 

 passiert. Das Verfahren der Verkörperung – aber auch die anderen Verfahren – kann daher auch den umgekehrten Effekt der Vergegenwärtigung haben und damit zugleich als Präsenztechnik gelten. Zukunftsszenarien 

 performativ 

 zu 

 nehmen 

 macht 

 sichtbar, 

 wie 

 Gegenwart 

 und 

 Zukünftigkeit, 

 wie 

 Präsenz 

und 

Repräsentation 

einander 

bedingen, 

beeinflussen 

und 

sich 

wechselseitig 

hervorbringen. 

 Dieses relationale Verhältnis ist immer gegeben – in der Ästhetik des Performativen, bei performativen 

Sprechakten 

oder 

der 

Wirkung 

von 

medialen 

Repräsentationen 

von 

Zukunft 

auf 

die 

Gegenwart 

 im Kontext von Szenariotechniken. Im szenischen Prozessen, wie sie hier beschrieben wurden, wird diese permanente Wechselwirkung aber offengelegt und beobachtbar gemacht: Das eine bringt das andere hervor und umgekehrt. Es handelt sich um einen permanenten Prozess der Transformation eines Zustands in einen anderen, um eine permanente Bewegung. Wie bei Simulationsläufen im Computermodell ist alles in Bewegung und in seiner Veränderung voneinander abhängig. Zukunft wird körperlich ver- und behandelt und ist nicht ablösbar vom Prozess des Erstellens. Objektivierungsformen, Bilder und mediale Repräsentationen sind ein Innehalten innerhalb dieser Bewegungen, ihre Produktion und Rezeption passiert gleichzeitig. So bleiben auch Bedeutungen und Interpretationen ständig in Bewegung. In performativen Prozessen werden neue Bedeutungen intendiert und unintendiert hervorgebracht. Im Zusammenspiel von Bestimmen und Sich-bestimmen-Lassen passieren solche Bedeutungsveränderungen und Veränderungen des Verlaufs generell als sichtbare Suche nach Bedeutung 

und 

in 

der 

Differenz 

zu 

Gegebenem 

oder 

Überliefertem. 

Interpretationsvorgänge, 

die 

bei 

 medialen Repräsentationen von Zukünften nicht expliziert und mitkommuniziert werden, können bei performativen Vorhersageverfahren wie dem Vorsagen ausgestellt und vorgeführt werden. »Each of the suggestions about the future, they move around a bit, they shimmer. And maybe that in itself is also hopeful – that things are constantly shifting and constantly moving.«42

41 42

Fischer-Lichte, Performativität, S. 85. Terry O’Connor (Forced Entertainment) im Videointerview über die Performance Tomorrow’s Parties, in: www.youtube.com/watch?v=H2R089WovDw (Stand: 30 .09. 2013).

Eva Plischke

227

Das performative Verständnis von Zukunftsprognosen oder Zukunftsszenarien kann auch außerhalb des 

 Theaters 

 die 

 Wirkung 

 von 

 Zukunftsrepräsentationen 

 auf 

 die 

 Gegenwart 

 deutlich 

 machen 

 und 

 invertieren: 

Bei 

szenischen 

und 

situativen 

Zukünften 

wird 

Gegenwart 

nicht 

verdrängt 

und 

verengt, 

 sondern als gesteigerte oder erweiterte Präsenz hervorgebracht. In den hier beschriebenen szenischen Prozessen eröffnen Repräsentationen ferner Zukünfte Handlungsspielräume für Kinder und Jugendliche 

in 

der 

Gegenwart. 

Die 

Zukunft 

wird 

zu 

einem 

begehbaren 

Raum, 

in 

dem 

aktuelle 

Wünsche 

 und Sehnsüchte probeweise durchgespielt werden können. Zukunft wird nicht geprobt, wie bei einem Training für die Zukunft, sondern erprobt. Before Your Very Eyes scheint vom kindlichen Wunsch getriggert zu sein, endlich erwachsen zu werden, und stellt einen Spiel-Raum zur Verfügung, in dem Kinder in die Rollen von Erwachsenen schlüpfen können. Das Junge Institut für Zukunftsforschung ermächtigt Kinder und Jugendliche, in die Rolle von Zukunftsforschern zu schlüpfen und Erwachsene in Zukunftsfragen zu beraten. Initiert wurde dieser Prozess mit einem szenischen Eröffnungsfestakt im Theater und einem performativen Sprechakt par excellence: »Hiermit eröffne ich das Junge Institut für Zukunftsforschung!« Obwohl – oder gerade weil – dies im Theater geschah, führten die Schülerinnen im 

Anschluss 

Befragungen 

auf 

der 

Straße 

durch, 

trafen 

Akteure 

der 

Stadt 

Hamburg 

zum 

Gespräch 

 und konnten durch die Aufführung im Theater ihre Zukunftsprognosen und -szenarien an Auftraggeberinnen 

und 

eine 

neue 

Öffentlichkeit 

richten. 

Eine 

hypothetische 

wie 

fiktive 

Zukunftssituation, 

in 

 der Schülerinnen als Zukunftsberater auftreten und gehört werden, konnte durch performative Akte als Wirklichkeit konstituiert und praktiziert werden. (Zukunfts-)Fiktionen erweisen sich als Werkzeug dafür, 

 Handlungspotentiale 

 in 

 der 

 Gegenwart 

 auszuloten. 

 Gerade 

 für 

 Kinder 

 und 

 Jugendliche 

 könnten Zukunftsszenarien in performativer und interventionistischer Form eine politische Handlungsermächtigung 

in 

der 

Gegenwart 

bedeuten. 



Bloomsday beim Begehen der Orte privater Odysseen wieder aufblühen Andreas Spohn

Andreas Spohn

229

Dem 

klassischen 

therapeutischen 

Setting 

stehen 

viele 

Varianten 

und 

Modifikationen 

zur 

Seite. 

 Im 

 Falle des »Bloomsdays« verlässt der Patient bei gegebenem Wunsch und bei Machbarkeit Couch und Praxis und läuft, begleitet vom Therapeuten, Stationen eines exemplarischen Tages oder eines kompilierten Wegabschnitts seines Lebens ab. Nicht als Schauspieler auf der Realbühne des eigenen Lebens, 

sondern 

als 

Guide 

und 

Kommentator. 

Denn 

die 

Präsenz 

der 

Orte 

spielt 

eine 

wichtige 

Rolle 

bei 

 der 

Neuformulierung 

der 

an 

sie 

gebundenen 

Geschichten, 

denen 

der 

Therapeut 

nun 

in 

einer 

Funktion 

 zwischen Zeuge und Schutzgeist beiwohnt.

Der Korrekturwunsch Eine eigene Psychoanalyse gab mir den Impuls, das traditionelle Setting, immobil in einer fremden Praxis zu Erlebnissen und Einfällen zu berichten, aufzubrechen: Dort fand ich bisweilen Worte allgemein zu schwach, um einer Situation Authentizität zu verleihen. Aber auch im Speziellen fand ich bisweilen Zeit und Ort unpassend, um strittig-erhitzte Situationen gegenüber einem neutralen Spiegler, 

einem 

stets 

verspäteten, 

reinen 

Spielberichts-Schiedsrichter, 

aufleben 

zu 

lassen. 

Örtliche 

 und zeitliche Nähe fehlten mir, um mehr Affekte einzubringen, schienen dem Analytiker zu fehlen, um besser zu verstehen.

Geeignet 

für 

ortsgebundene 

innere 

Konflikte »Könnte 

doch 

ein 

neutraler 

Richter 

sehen, 

was 

ich 

jetzt 

sehe 

und 

empfinde!« Viele erinnern sich noch an 

 den 

 Ausdruck 

 des 

 Unglaubens 

 im 

 Gesicht 

 Frank 

 Lampards, 

 als 

 sein 

 Schuss 

 im 

 Achtelfinalspiel 

 2010 gegen Deutschland schon im deutschen Tor war, der Ball aber wieder ins Spielfeld gelangte. Lampard und Millionen andere haben die ganze Szene gesehen, der Schiedsrichter aber nur den zweiten Teil: als der Ball wieder im Spielfeld war. Was seine Nichtwertung des Tores bei dem Engländer auslöste, können die meisten nachvollziehen. Vielleicht könnte man noch eine Rote Karte gegen Lampard hinzudenken, die den Unglauben gegenüber dem sein Tor nicht anerkennenden Referee als Provokation auch noch bestraft (schon der Ökonom Adam Smith hob stark den grundlegenden menschlichen Aufruhr gegenüber dem unberechtigt tadelnden Blick der anderen hervor). Auch ohne das psychoanalytisch klassische Dreieck »VaterMutter-Kind« 

als 

Nadelöhr 

von 

Geschlechts- 

und 

Generationskonflikten 

wäre 

hier 

leicht 

die 

Entscheidung der Autorität Auslöser von Komplexen, Ängsten und Ritualen bei einer ähnlichen Situation in der Zukunft. Weltweit universell, so die Interkultur-Forschung, sind v. a. die Einstellungen gegenüber Autoritäten und die Routinen zum im Umgang mit Unwägbarkeiten entscheidend.

230

Bloomsday

Wo hier eine Torkamera Abhilfe geleistet hätte, müsste man, übertragen auf das in der Analyse verhandelte (subjektiv) reale Leben, das alles sehende Auge bzw. ubiquitäre Überwachungskameras zu Rate ziehen. Oder wie sehr kann die Zeugenschaft ausgeweitet werden? Zunächst sollen zwei geistesgeschichtlich prominente und therapeutisch relevante Antworten zu dieser Zeugen- oder »Kamerafrage« verglichen werden, die beide einen »Fortschritt« reklamieren. Die sodann vorgestellte »Bloomsday-Begleitung« vereint Aspekte beider. Nehmen wir an, dass das Paradigma sowohl Lampard als auch der Schiedsrichter sein könnten, die beide keine Kamerabilder haben und mit dem Resultat ihres subjektiven Eindrucks leben müssen. Wie kann nun aus den Qualen dieser Einsamkeit ein therapeutischer Eingriff, evtl. ein Bezeugen weiterhelfen?

1. Die Antwort von Qadeš, ca. 1300 v. Chr.: … dass man genauso gut auch falsch gelegen haben könnte, erzeugt nach all dem Ärger über die vorwurfsvoll bis unbeirrt vorgetragene Fremdperspektive eine nachträgliche Disziplin (einen »Geistigkeitsfortschritt«). Freud 

meint 

in 

seinen 

Überlegungen 

zur 

Definition 

des 

Jüdischseins, 

dass 

ausnahmslos 

alle 

Menschen 

speziell 

unter 

disziplinarischen 

Forderungen 

im 

Generationenkonflikt 

(Jüngere 

gegen 

Ältere) 

 leiden. Die Juden zu Zeiten des Aufbruchs ins Heilige Land etwa hätten gar ihren ägyptischen Leader Moses umgebracht, weil ihnen seine Strenge – er folgte seinem universalen Sonnengott – zu viel wurde. Genau 

dieser 

Mördertrupp 

sei 

dann 

aber 

nach 

einer 

Latenzzeit 

nomadischer 

Wanderungen 

bei 

einem 

 Stamm 

mit 

Vulkangott-Glauben 

im 

Sinai 

(bei 

Qadeš) 

gelandet, 

wo 

er 

das 

zuvor 

abgelehnte 

Prinzip 

 des Monotheismus wiedererkannte und akzeptierten konnte. Mehr noch: In Erinnerung an die Untat am 

 ermordeten 

 Moses 

 habe 

 man 

 gleich 

 noch 

 einige 

 Gebote 

 zusätzlich 

 in 

 den 

 vulkanisch-eruptiven 

 Jähzorns-Gott 

der 

A sylgeber 

projiziert. Mit 

dem 

Gott, 

den 

der 

ermordete 

Moses 

im 

Sinn 

hatte, 

identifizieren 

sich 

die 

von 

ihm 

einst 

als 

Begleiter 

erwählten 

Gastarbeiter 

also 

ideell: 

Der 

Glaube 

wird 

nicht 

eigentlich 

erinnert, 

sondern 

(ganz 

ohne 

 Schauspielerei) in der neuen, irgendwo ähnliche Züge tragenden Umgebung wiederaufgeführt bzw. »reenacted«. 

Diesen 

Glauben 

aus 

Schuldbewusstsein 

heraus, 

diese 

unbewusste 

Reue 

nennt 

Freud 

 einen 

»Fortschritt 

in 

der 

Geistigkeit«. Freuds Zutat zu seiner nicht unumstrittenen Beschreibung einer (jüdisch) transgenerativen, gruppeninhärenten 

Suche 

nach 

einer 

Reinigung 

des 

Gewissens 

– 

wie 

sie 

dann 

an 

einem 

ausgesuchten 

Ort 



Andreas Spohn

231

(Qadeš) 

gefunden 

wird 

– 

zielt 

hingegen 

eher 

auf 

»moderne 

Leiden«. 

Seine 

Psychoanalyse 

sucht 

nach 

 Fortschritt für individuelle Läuterungswünsche: Ein Lampard käme ja, geplagt von der Frage nach dem Umgang mit der Autorität bzw. den sozialen Spielregeln. Der Fortschritt der Reue ist hier erst der Nullstand der Kur. Sie kann nur noch in Bezug auf die bewusste Einsicht »nachbessern«, um noch weiter 

fortzuschreiten. 

Der 

Glaube 

an 

einen 

»Sündenbock« 

à 

la 

Jesus 

wäre 

kontraproduktiv, 

vielmehr 

 solle 

man 

sich 

als 

selbst 

als 

Begründer 

(»Grundlieferant«) 

des 

Schuldgefühls 

kennen 

lernen. Um 

 dies 

 zu 

 erreichen, 

 schlägt 

 Freud 

 die 

 Neutralisierung 

 des 

 Ortes 

 vor. 

 Ort 

 der 

 Kur 

 und 

 Ort 

 des 

 Geschehens sollen nichts miteinander zu tun haben. Klar: In der Kur erkennt nicht die »tabubrechende« Gruppe 

 ihren 

 Verstrickungsgrund 

 an 

 einem 

 ähnlichen 

 Ort 

 wieder, 

 sondern 

 ein 

 Zeuge 

 der 

 Berichterstattung 

eines 

einzelnen 

Gruppenmitgliedes 

findet, 

dass 

ihm 

selbst 

auch 

etwas 

angelastet 

wird. 

Von 

 da aus kann er so etwas wie »Anlastungsmuster« erkennen, Orte und Personen erraten, an denen sich der Ärger ursprünglich entzündete. So kann er zuletzt den Berichterstatter zu mehr Distanz gegenüber diesen Mustern leiten, ihm deutlich machen, dass ihn an diesem neutralen Ort der therapeutischen Praxis und allen dort thematisierten Orten der Aufregung ein realer, aber innerer Ort beeinflusste. Freuds Mitgift: In 

jeder 

gegenwärtigen 

Intention 

ist 

mit 

einem 

Einfluss 

seitens 

eines 

»anderen 

 Schauplatzes« zu rechnen: Gerade bewusste Ideale und besonders hartnäckige Rationalität verweisen auf das Unbewusste, Ursprung und Resultat eines gewollten/realisierten Impulsauslebens. Die Psychoanalyse setzt hier erst an, lässt alles zum Leben, Ausleben und Auslebenwollen berichten, um unkontrollierbare Tendenzen zu erkennen. Man könnte sagen: ein Verfahren zur Beschleunigung des Prozesses, rückschreitend mit dem »Fortschritt in der Geistigkeit« besser klarzukommen. Worte (nichts als den Ort des Urvorfalls repräsentierende Worte) zur eigenen Verstrickung können vom Schuldgefühl und vom fortgesetzten Handeln in vergangenen Schauplätzen befreien – speziell wenn sie möglichst ungeschönt, wenn auch in aktuellem Konstruktgewand einem Analytiker anvertraut werden, raum- und zeitenthoben. Fazit bzgl. der Kamerafrage nach verkanntem Torschuss: Es liegt im Wesen des Unbewussten, seine Geschichte erzählen zu wollen, es liefert also immer ausreichend Bilder. Vielleicht war das eingeforderte Tor ein »Versehen«, eine optische Täuschung. Es wird im Leben viele anerkannte und unerkannte Leistungen, aber auch Fehlleistungen geben. Entscheidend ist, welche Muster sich daraus entwickeln und wie man sie in Balance mit sich und anderen bringt. Eventuell vorhandenes Filmmaterial zu nutzen wäre tabu (was es zeigen kann, ist nichts, was das Subjekt beschwichtigt, denn auch von den weniger

232

Bloomsday

belastenden erwartungskonformen Situationen wird es viele geben). Lampard würde im Verlauf der Kur z. B. weitere ähnliche »Beschwerden« vorbringen (Reenactments bestimmen das Leben in Verdrängung), letztlich auch gegen den Analytiker. Dieser würde ihn auf eine Kraft hinweisen, die ihn drängt, mit diesen »geistigkeitsfortschrittlichen« Darstellungen seine Identität stark gestaltende Wünsche zum Ausdruck zu bringen. Ex negativo bekommt das in vielen konkreten Orten/Situationen genannte Thema ursprünglicher Vorfälle als Denk- und Handlungsdisposition Kontur und kann einsichtig integriert werden (ein rein gedanklicher Ortswechsel von privater Realität zu bezeugter symbolischer Kontur).

2. Athen, ca. 500 v. Chr.: … dass man genauso gut auch falsch gelegen haben könnte, erzeugt nach all dem Ärger über die vorwurfsvoll bis unbeirrt vorgetragene Fremdperspektive ein nachträgliches spielerisches Impulsausleben (einen »Wahrnehmungsfortschritt«). Nietzsche 

definiert 

in 

einem 

frühen, 

wiederum 

Götter 

als 

Sinnbild 

eines 

Zeitgeistes 

heranziehenden 

 Essay 

 einen 

 anderen 

 Fortschritt, 

 nicht 

 den 

 einer 

 auch 

 Leid 

 bringenden 

 »Geistigkeit«, 

 sondern 

 den 

 einer 

gerade 

sie 

kreativ 

(künstlerisch-tätig) 

abmildernden 

Neu-»Wahrnehmung«. 

Er 

findet 

sein 

Paradigma 

bei 

den 

Griechen, 

denen 

auch 

Freud 

die 

höhere 

Harmonie 

von 

geistiger 

und 

körperlicher 

 Tätigkeit zuerkannte. Bei 

 Nietzsche 

 geht 

 es 

 also 

 nicht 

 um 

 nachträglichen 

 Gehorsam, 

 sondern 

 um 

 das 

 aktive 

 Zulassen 

 undisziplinierter Impulse, sofern es gelingt, sie nicht plump auszuagieren, sondern sie sogleich mit ausreichend künstlerischer Schöpfungshöhe darzustellen (die heutigen Kriterien zum Anspruch auf Urheberrechtsschutz: Ideen für andere wahrnehmbar und willentlich individuell auszudrücken, passen hier recht gut, im Sinne Nietzsches müsste man noch das Kriterium eines »tragischen« Inhalts hinzufügen). Eine Synergie gleich zweier »Kunstgötter« komme hier zum Tragen: Zunächst inspiriert Dionysos, der 

stets 

Impuls-Taten 

wie 

einen 

Moses-Mord 

im 

Schilde 

führt, 

zu 

einem 

tabulosen 

Gedanken 

an 

 tragisch »Allerschlimmstes«. Nicht verspätet gehorsam, sondern diesen Impuls in eine nicht-mörderische, nicht-auslebende Ausdrucksform einkleidend, tritt ihm Apollo zur Seite, der den unbewussten Grenzüberschreiter-Willen 

als 

schön 

erscheinen 

lässt 

(Nietzsche 

nennt 

etwa 

den 

auch 

bei 

Freud 

bedeutsamen Vatermord durch Ödipus als Ergebnis eines solchen Impulses). Nietzsche hat also als Commemorations-Paradigma nicht die jüdische re-ligio und ihre bündischen Feiern wie etwa die Jom Kippur-Rückbindung im Sinn: Sein Beispiel sind vielmehr die Dionysosfeste Athens bzw. auch der heutige Karneval. Der Chor bzw. die Teilnehmenden tanzen sich vergnügt (und

Andreas Spohn

233

nicht unbehagt sprechend) das Trauma der Existenz aus dem Leib, befeuern Schauspieler zur distinktiven 

Darstellung 

ihres 

Lebens-GAUs 

in 

tragischen 

Ton- 

und 

Stimmungsfolgen 

(in 

unseren 

Tagen 

veranschaulicht Sven Königs »Scrambled Hackz«-Software diese Rückübersetzung von der Satzmelodie allgemein verständlicher Messages in die tragischen Klänge seines Soundarchivs). So also Nietzsches Entlastungsidee: Rücküberträgt man, spontan komponierend, den Verbalisierungsduktus einer befreiten Phantasie (möglichst alternativ zu einer nur rational anerkannten Demütigung) 

in 

den 

»Geist 

der 

Musik«, 

so 

gelingt 

ein 

»Fortschritt 

in 

der 

Wahrnehmung«. 

Der 

Unfall, 

die 

 Demütigung kann nun zur Feier der höchsten Lebensgeister werden. Sokrates, vor allem aber das Christentum hätten dafür gesorgt, dass aus einem eigentlich bejahbaren »Eustress«- ein »Distress«Schuldgefühl wurde. Das spielerische Aufführen der Wünsche verstand Nietzsche daher als passende Antwort 

auf 

eine 

allseits 

praktizierte 

»projektive 

Identifikation«, 

nur 

noch 

pervertiert 

Spaß 

zu 

erleben, 

 dass 

immerhin 

jeder 

jeden 

wie 

mit 

Voodoo-Stichen 

auf 

Rationalität 

verpflichtet 

und 

Triebimpulse 

wie 

 Unfälle vermeidet. Der dionysische Kreative lässt sich nicht weiter manipulieren, sondern wertet die zuvor belastenden, »altklug«-kritisch behandelten Themen mit einer gesunden erwachsenen »Kindklugheit« um. Nietzsches Mitgift: In 

jeder 

gegenwärtigen 

Intention 

ist 

mit 

einem 

Einfluss 

seitens 

eines 

»anderen 

 Schauplatzes« zu rechnen: Den vor allem dionysischen Willen, Triebe einfach auszuleben, sollte man nicht ganz ins Aggregat der Disziplin einfrieren, sondern ihn so weit zulassen, wie man ihn schön/ spielerisch inszenieren kann. Fortschritt der Wahrnehmung durch spielerisches In-Bewegung-Setzen dessen, was bedrückt – sofern man die Bühne bzw. den jeweiligen Repräsentations-Ort der Kunst (auch Nietzsches Schreiben selbst) oder des Feiertags zu nutzen weiß. Fazit bzgl. der Kamerafrage nach verkanntem Torschuss: Anstelle eines Sokratismus, der sich nach Nietzsche zu sehr mit Kausal-Referenzen schadlos hält und für alles Kamera-Wiederholungen zur Herleitung liefern möchte, sollte man dem Denken mehr kausalbefreite, aber tabuaufgeladene Träume, dionysische musiknahe Stimmungen und apollinische Bilder, Tänze und Inszenierungen zumuten. Zwar kann man sich hierbei auch wie bei Reenactments an historische Orte begeben, aber zentral ist das eilfertige Eingestehen aller potentiellen Rationalitäts- und Tabubrüche, das schöne Aufführen lebensbefeuernder Tragik. Warum noch Kamerabeweise, wenn man lieber das Gewähnte glauben möchte? Lampard könnte in der Folge einen Unparteiischen-Mord inszenieren oder zum Jahrestag des persönlichen GAUs sich im Rausch einer möglichen Welt gehen lassen. Die eigenen Dämonen halten sich nicht unbedingt an Muster, Orte des Scheiterns verdichten sich nicht zum Schaltplan des Subjekts. Vielmehr wechselt die Realität/Rationalität von Problemen den Ort, wird zu berauschter Kunst. Auch das sta-

234

Bloomsday

tische Grübeln wird zu dynamischer körperlicher Bewegung, die jeden Mitmenschen als potentiellen »Feuerfänger« mitanstecken würde.

3. Dublin, ab 1954: … dass man genauso gut auch falsch gelegen haben könnte (z. B. mit der Interpretation des Romans Ulysses von Joyce), erzeugt nach etwaigem Ärger über fremde Leitinterpretationen den »Bloomsday«: das Ablaufen der wichtigsten Stationen von Leopold Blooms Leben (bzw. eines verdichteten Tages daraus). »Bloomsday« – in seinem Werk Ulysses (1921) begleitet Joyce am 16. Juni 1904 seine Figur des Anzeigenakquisiteurs Leopold Bloom über einen ganzen Tag hinweg durch Dublin (ein »Service«, der Erwachsenen, selbst Romancharakteren, eher selten widerfährt). Joyce kompiliert hier wichtige Stationen seines eigenen Lebens bis dahin (er war in seinen Dreißigern), v. a. das Odyssee-artige Herumirren, während seine Frau mutmaßlich fremdging. Er 

 selbst 

 soll 

 dann 

 auch 

 begonnen 

 haben, 

 jährlich 

 auf 

 den 

 Pfaden 

 seiner 

 fiktiven 

 Romanhelden 

 Reenactment-Spaziergänge zu praktizieren (eine Tagebuch-Notiz von 1924 lässt dies annehmen). Ab 1954 

 führen 

 aber 

 andere 

 das 

 fiktionale 

 Leben 

 des 

 Romans 

 wieder 

 auf: 

 Brian 

 O’Nolan 

 von 

 der 

 Irish 

 Times, der Dichter Patrick Kavanagh, der Literaturkritiker Anthony Cronin, der Zahnarzt und JoyceCousin 

Tom 

Joyce 

sowie 

der 

Maler/Geschäftsmann 

John 

Ryan 

laufen 

wichtige 

Stationen 

ab, 

späterhin 

 geschieht 

dies 

mehr 

und 

mehr 

auch 

im 

Geiste 

der 

HIPs 

(historically 

informed 

performances), 

also 

 Aufführungen im Stil der Entstehungszeit des Referenzwerks. Die Theorie des Reenactments hebt hieran generell die Funktion einer »Zeitmaschine« heraus. Eine Form des Reenactments, der Wiederaufführung, 

zielt 

auf 

das 

kollektive 

Nachspielen 

und 

besonders 

auch 

das 

Nachempfinden 

historischer 

 Ereignisse 

– 

im 

Falle 

des 

Bloomsdays 

eben 

auch 

eines 

fiktionalen 

Ereignisses. Da in Bezug auf sein eigenes Leben ein jeder als »historisch informiert« gelten darf, kann die Privatisierung eines solchen Reenactments durchaus den gleichen Sinn verfolgen: ein Verstehen erreichen, das 

 sich 

 nicht 

 nur 

 auf 

 die 

 Lektüre 

 reduziert, 

 sondern 

 am 

 Ort 

 des 

 Geschehens 

 das 

 Geschehen 

 nochmals erinnert (wenn nicht gar wiederholend durchspielt). Hier 

 sind 

 die 

 zwei 

 Gedächtnisfunktionen 

 aus 

 Kierkegaards 

 Experiment 

 der 

 exakten 

 Wiederholung 

 einer Berlin-Reise genannt: die (retrograde) Erinnerung und die (anterograde) Wiederholung. Allein im Kämmerlein und auch zu zweit in der therapeutischen Praxis gibt es die rückwärtsgewandte Erinnerung 

 mit 

 all 

 ihren 

 oft 

 schon 

 für 

 sich 

 und 

 andere 

 kompromisshaft 

 fixierten 

 narrativen 

 Bearbeitungen. 

 Freuds 

 ganzes 

 Projekt 

 der 

 Kur 

 zielt 

 auf 

 eine 

 Verflüssigung 

 dieses 

 narrativen 

 »Fortschritts«. 

 Die 



Andreas Spohn

235

Präsenz 

des 

Ortes, 

wie 

bei 

Prousts 

Suche 

nach 

verlorener 

Zeit 

die 

Präsenz 

eines 

spezifischen 

Geruchs, 

 animieren 

den 

Zugriff 

auf 

das 

episodische 

Gedächtnis: 

das 

nicht 

recht 

für 

andere 

aufbereitbare 

Wiedererleben des einen speziellen Ereignisses. Zugleich stellt man wie Kierkegaard fest, dass es nun nicht 

ganz 

das 

Gleiche 

ist 

– 

selbst 

der 

Kaffee 

schmeckt 

anders 

beim 

zweiten 

Berlin-Besuch, 

mag 

er 

 auch 

in 

einem 

Labor 

als 

stoffidentisch 

erwiesen 

werden. 

Das 

erlebende 

Subjekt 

ist 

indessen 

nicht 

 mehr 

ganz 

das 

Gleiche 

(Funktion 

der 

Analyse: 

den 

Fortschritt 

durch 

Erinnernsfixierung 

an 

dem 

nun 

 anders rezipierenden Subjekt als Eigenleistung deutlich machen). Als 

 Gedächtnisreizung 

 durch 

 »Tatortbegehung« 

 (wie 

 beim 

 Dubliner 

 Bloomsday) 

 kann 

 die 

 hier 

 vorgeschlagene therapeutische Bloomsday-Begleitung eine Variante des therapeutischen Settings einer Psychoanalyse oder Psychotherapie werden. Ideeller Ausgangspunkt bleibt Freuds Konzept, sich zu viel disziplinarischen »Fortschritt« durch erinnerndes Rückschreiten und wiederholendes Korrigieren von der Seele zu reden, also kein Wiederaufführen wie bei Reenactments und auch kein Neu-Durchspielen mit wunschgemäßem Ausgang, etwa nach Nietzsches Idee. Tatsächlich ist dieser therapeutisch nutzbar gemachte Bloomsday nur eingebettet in eine bereits begonnene Analyse, in ein Vertrautsein mit stark erfunden-konstruierten Referenztagen. Die Lebensgeschichte 

im 

subjektiv 

verfestigten 

Narrativ 

ist 

vom 

Therapeuten 

erfasst, 

ein 

Gefühl 

für 

das 

Erleben 

 und das szenische Darstellen haben sich ihm übertragen. Der Patient spricht evtl. vom Wunsch, etwas 

 zu 

 zeigen, 

 bei 

 dem 

 ein 

 anderer 

 die 

 Erinnerungsfixierung 

 bezeugen 

 könnte 

 – 

 und 

 der 

 Therapeut 

 hat 

den 

Eindruck, 

dass 

dies 

einen 

Gewinn 

darstellen 

kann. Aber es gibt auch Respekt vor einer Perspektive jenseits des Darstellens und Verstehens, eine Wertschätzung des Kamerabeweises bzw. der Realität, soweit sie greifbar ist: die typischen Denkfallen der »hindsight bias« (rückblickend vom auch schlechten Ausgang frühere Hoffnungen entstellen) und der »story bias« (mit »Sinn-Bindemitteln« disparate Ereignisse verknüpfen) werden beim Außentermin eher »umgangen«, zu viel Platz nimmt die aktuelle Begegnung mit dem Ort ein, zu sehr sollte klar sein, dass der Begleiter auch nur die Aktualität des Ortes teilt. Bei einer Verabredung zur Bloomsday-Begleitung bespricht man noch in der Praxis Erlebnisse, die noch besonders 

der 

Authentifizierung 

bedürfen, 

und 

erstellt 

dann 

eine 

Route, 

sei 

es 

eine 

spezielle 

Kompilation 

lebensgeschichtlich 

bedeutsamer 

Orte 

(wie 

in 

Biografien) 

oder 

einfach 

nur 

ein 

Ausschnitt 

des 

ansonsten unbegleitet täglich absolvierten Alltags (eben wie bei Joyce’ Bloomsday). Der Patient bekommt einen Bogen mit nach Hause, auf dem er in Ruhe eine Route erstellen kann. Am verabredeten Tag einer Bloomsday-Begleitung begeben sich dann Patient und Therapeut gemeinsam auf diese Route.

236

Bloomsday

Die Orte sollten zwar die Kulisse lebensgeschichtlich bedeutsamer Szenen bilden, aber nicht primär Angst-Orte sein wie bei einer verhaltenstherapeutischen Konfrontation, wo es die Aufgabe des Begleiters 

ist, 

das 

erwartete 

Überflutetwerden 

(»flooding«) 

auszuhalten. 

 In Ausnahmefällen lässt sich gar das Erscheinen persönlich bedeutsamer Menschen oder Handlungen integrieren. Es geht aber nicht darum, aktuell Lebensgeschichte zu schreiben, in private Begegnungen oder am Arbeitsplatz den Therapeuten eingreifen zu lassen – hier zieht er sich diskret zurück (wie zumeist bei therapeutischen In-vivo-Formen). Auch dauert diese Begleitung keine 24 Stunden, sondern erstreckt sich maximal über die Dauer von ein bis drei regulären Sitzungen. Das eigentliche Plus der »Tatortbegehungen« des Bloomsdays ist die Präsenz der Orte. Dem Therapeuten geben sie einen Zipfel Realität an die Hand, den Patienten animieren sie dazu, sein privates Erleben 

 (wie 

 es 

 im 

 sogenannten 

 »episodischen 

 Gedächtnis« 

 persönlicher 

 Lebensgeschichte 

 repräsentiert ist) eventuell auch gegen die nun räumlich entfaltete Beweiskraft zu erläutern – oder doch den »Weltinnenraum« (Rilke) gegen den Weltaußenraum aufzugeben. Der zuvor nur gefühlte, auch in den Erzählungen von der Couch aus kaum bedeutsame Bühnen-Hintergrund wird im Tageslicht der Inaugenscheinnahme zum Vordergrund, die Szene wird neu bewertet. Nicht dass der Kanal einer geteilten räumlichen Präsenz auf der Couch gefehlt hätte (bei den heute möglichen »Skype-Therapien« dann schon), – aber nun ist der Therapeut gewissermaßen nicht mehr klassisch wie mit einem Interviewgast im Radiostudio, er ist mit ihm draußen an genau den Brennpunkten seines Berichts und wird dort auch gesehen. Kann hier die rein private Auslegung der Szene aufrechterhalten werden? Sicherlich wird aber nun das, was etwa als falsche Hörigkeit nach »unentdeckten 

Morden« 

oder 

vermeintlich 

unanerkannten 

Treffern 

in 

Charakter 

und 

Verhalten 

einfloss, 

 bewusst 

reflektiert 

und 

aus 

dem 

prozeduralen 

Archiv 

in 

das 

diskursive 

Archiv 

verhandelbarer 

Dinge 

 verlegt. Bei der Klärung von eigenen Anteilen am Leiden kann die gemeinsame Ortsbegehung auch helfen, doch etwas vor dem Begleiter zu rechtfertigen (»Don›t judge a man, unless you’ve walked a thousand miles in his shoes!«). Auch von anderen wurde dieses neue Einsichten einleitende Potential von Orten bemerkt. Je schon mit öffentlichen Orten befasst ist etwa die »Spaziergangsforschung« Bertram Weisshaars, der an die Wahrnehmungsinterpretation des Basler Kulturtheoretikers Lucius Burckhardt anknüpft und eben die kindliche, weniger die bürgerliche, prinzipiell teilende Perspektive stärken möchte: »Kehrt ein Kind von einem Spaziergang zurück, so erzählt es, dass es eine bunte Blechdose gefunden habe, die es dann schließlich donnernd in einen Schacht zurückwarf; kehrt ein Erwachsener nach Hause

Andreas Spohn

237

zurück, 

so 

beschreibt 

er 

Dinge, 

die 

er 

pflichtgemäß 

in 

dieser 

Gegend 

hätte 

sehen 

sollen, 

die 

aber 

zum 

 Teil für ihn unsichtbar oder nicht analysierbar sind.« Bei der Bloomsday-Begleitung berichtet man natürlich weder zu Hause noch in der Praxis, sondern man 

verweilt 

gerade 

vor 

Ort 

am 

Thema. 

Möchte 

man 

nicht 

gerade 

die 

»normale« 

Geschwindigkeit 

 demonstrieren, 

 dann 

 kann 

 das 

 Berichten 

 vor 

 Ort, 

 das 

 gerade 

 nicht 

 über 

 ihn 

 hinweggeht, 

 im 

 Geiste 

 von Walter Benjamins »Flaneur« geschehen, wo man auch mal mittels angeleinter Schildkröte entschleunigt werden durfte. Ein wichtiger therapeutischer Nebeneffekt des mobilisierten Settings: Die Dynamik des Unterwegsseins, die »talking head« von den »moving feet« in Bewegung versetzt, kann die Zensur ablenken oder entmachten – darin etwa lagen die Motive der »therapeutischen Spaziergänge« des Jugendtherapeuten Hans Zulliger, der hoffte, dass sich zum natürlichen Bewegungs- auch ein natürlicher Rededrang geselle. Dies ist auch Nietzsches Idee des körperlichen In-Bewegung-Setzens, nur dass die Bloomsday-Begleitung 

auf 

dem 

Boden 

der 

psychoanalytischen 

Grundidee 

nicht 

fordert, 

das 

spielerische Enactment als Endziel im Kopf zu haben. Wie 

begründet 

sich 

theoretisch 

der 

Gewinn 

einer 

Bloomsday-Teilnahme 

gegenüber 

der 

privaten 

Lektüre 

der 

Ulysses 

bzw. 

der 

abgeschotteten 

analytischen 

Situation? 

Pawlows 

Hund 

hörte 

die 

Glocke 

 nach mehrfacher Ko-Präsentation mit Futter bald nicht mehr neutral, sondern assoziierte sie auch ohne Futterbereitstellung als ein für ihn relevantes Signal. Ähnlich hört der Patient auch in einer Psychoanalyse das eigene Wortgeklingel bisweilen schon als Signal für den dann nächsten Satz – und bisweilen scheinen seine Verknüpfungen für Außenstehende von rein privaten, unbewussten Zeichen Futter zu bekommen. Freud zentralisierte für die Kur das Aufspüren von allem, was seltsam privat klingt. Abgeschottetes Symbolisieren per Assoziieren will genau das. Aber die Worte verklingen, ohne dass 

es 

ein 

Ende 

des 

Verweisens 

zur 

Urreaktion 

(bei 

Pawlows 

Hund 

natürlichen 

Speichelfluss) 

gäbe. Orte 

 des 

 Geschehens 

 sind 

 hingegen 

 ein 

 solches 

 Ende. 

 Sie 

 gingen 

 ursprünglich 

 als 

 Index 

 mit 

 ins 

 private 

 Gedächtnis 

 ein 

 und 

 bleiben 

 im 

 Unterschied 

 zu 

 Worten 

 und 

 Szenen/Episoden 

 dennoch 

 auch 

 für 

 andere da, eben »am Ort«. Der Hang zur Virtualisierung der Orte, zu ihrer Marginalisierung via Unabhängigkeitserklärung der Subjekte mag eine abendländische Marotte sein – und dies trotz der bedeutsamen Lebensstrukturierung in Heim/Heimat/Urlaubsorte sowie öffentliche Plätze, Arbeitsplätze und Natur.

238

Bloomsday

Die japanische Philosophie ist gegenüber der faktischen Relevanz von Orten achtsamer, betreibt sogar eine Priorisierung des Ortes und versteht sich und zumindest die japanische Mentalität als topologisch (basho-ron) – so v. a. Kitaro Nishida. Leitend ist in seinem Denken über das japanische Denken nicht die ortlose Vereigenschaftung (»S ist P«. Beispiel: »Ein Hammer ist aus Metall«), die, psychoanalytisch beleuchtet, allenfalls etwas hinzufügt (»... und S assoziiere ich mit jenem anderen S«. Beispiel: »... aber ich denke auch an Zuhandenes, an die positive Psychologie Watzlawicks, an eine Musikrichtung, an Nägel usw.«). Die Betonung verlagert sich vielmehr von allgemeinem, allenfalls eher akzessorischem Dingwissen zum privaten Wissen um die Verortung (»S ist in O«. Beispiel: »Der Hammer ist im Werkraum«). Orte sprechen, ko-repräsentieren, assoziieren anders als Musik. Auch sie beleben Vergangenheit, wirken 

darin 

ganz 

wie 

die 

Pawlow-Glocke. 

Sie 

kommen 

zwar 

dem 

Subjekt 

nicht 

ganz 

so 

fusionierend 

 nah wie das sonore Cogito, umschließen es aber schon auch wie Platons Höhle mit je eigenen Abschattungsvalenzen – all dies sphärisch anwesend und »unverklingbar«. Sie tun dies, bis dass das Subjekt 

sich 

aus 

ihnen 

fortbewegt. 

Sie 

bleiben 

im 

Gedächtnis, 

können 

aufgerufen 

werden, 

jedoch 

 zwecks Präsenzerfahrung muss man sich schon aktiv zu ihnen zurückbewegen. Und dies nimmt man meist 

nur 

pflichtgemäß 

oder 

zufluchtsartig 

auf 

sich. Nicht nur der Städtebauer und der Architekt sollten über bewusstseinbestimmendes »Design« nachdenken, auch jeder für sich kann bei punktueller Rückkehr an persönlich bedeutsame Orte Erinnerungen auffrischen. So passt auch psychoanalytisch, wenn die Washingtoner Landschaftsarchitektin Lynne C. Maso, Vertreterin der »environmental psychology«, sagt, dass der »Bezug der Leute zu Orten in permanentem Wandel steht, es ist ein dynamisches Phänomen, und als solches können Orte bewusst für Prozesse genutzt 

werden, 

in 

denen 

man 

aktiver 

auf 

sein 

Leben 

Einfluss 

nimmt.« Ist die Therapie schon eine Beschleunigung des gewünschten Veränderungsprozesses, so wäre der Bloomsday als prüfende Rückkehr zu einem vielleicht zuvor unscheinbaren »Szenenhintergrund« ein Zwischensprint mit weniger selbstreferentieller Verzettelung, eine Vergangenheitsaufrufung, die nicht allzu sehr der Phantasie das Feld überlässt. Warum also nicht im Andenken an etwas nicht gerade als feierlich Wahrgenommenes ein »Jubiläum« begehen, erduldete Unfälle des Schicksals integrieren? Überhaupt »begehen«: Die typischen Objekte der verschiedenen Bedeutungsnuancen des Verbs passen gut zu den Konnotationen, die Orte im

Andreas Spohn

239

Rahmen der Bloomsday-Begleitung annehmen können: 

 • 

»betreten« 

(eines 

ausreichend 

dimensionierten 

Ortes) 

 

 • 

»feiern/symbolisch-gemeinschaftlich 

markieren« 

(eines 

bedeutsamen 

Ereignisses) 

und 

 

 • 

»verüben« 

(eines 

Attentats 

o. 

ä.) Man schreitet Orte ab. Und da man dies symbolisch und gemeinsam tut, bekommen sie einen zeitlichen 

Index. 

Evtl. 

fügt 

man 

damit 

der 

Erinnerung 

auch 

Gewalt 

zu 

– 

was 

ja 

durchaus 

beabsichtigt 

 wäre... Mitgift des Bloomsdays: In 

jeder 

gegenwärtigen 

Intention 

ist 

mit 

einem 

Einfluss 

seitens 

eines 

»anderen Schauplatzes« zu rechnen: dem privaten, episodischen Ortsgedächtnis. Das Sich-Aufmachen in die Präsenz eines vorigen »Szenenhintergrunds« kann die Veränderung mehr dynamisieren als das Verharren bei Worten, welche mit der Re-Präsentation der Szene befasst sind: Fortschritt durch wortwörtliches Fortschreiten. Tatortbegehungen an nach Bedeutsamkeit ausgewählten Orten aus dem Jetzt und/oder dem Damals nutzen den begleitenden Therapeuten als Anlass, das Sprechen an Orten über 

diese 

Orte 

zu 

verifizieren. 

Die 

Kulissen 

bringen 

alte 

Erinnerungen 

hervor, 

welche 

die 

selbstreferentielle Erinnerungsmaschinerie schon verdrängt hatte. Zugleich spricht der Ort ganz aktuell eine Sprache, die auch der Begleiter versteht: Das öffentlich Reale des Ortes korrigiert Dramatisierungen, die auf das Konto individueller »Anlastungsmuster« gehen. Die Bloomsday-Begleitung nimmt also von Freud die Grundmethode des freien Sprechens vor einem Zeugen (und das Ziel der Einsicht in die »Maschinerie«), von Nietzsche die Bewegung und die Aufforderung, alles noch einmal richtig tragisch (bzw. wunschgemäß) zu inszenieren/komponieren und vom Bloomsday-Reenactment das Stationenablaufen (aber nicht das Reenactment). Begangen wird idealerweise zeitnah, wenn etwas noch heiß gekocht ist. Das aktuelle Konstruktgewand zumindest des Ortes wird so vor seiner Erstarrung aus dem Weltinnenraum gezwungen. Fazit bzgl. der Kamerafrage nach verkanntem Torschuss: Die Bloomsday-Begleitung liefert endlich die Bilder des Original-Ortes, nicht aber des Ereignisses. Die therapeutische Bedeutung der Einbindung der »neutralen« Realitätskulisse auch für den stets alles »subjektiv« zurechtmachenden Klienten wird anerkannt. Ob das Filmmaterial aber die Erinnerung etwa Lampards bestätigt oder widerlegt, gilt weiterhin als nicht genuin therapeutisch. Zudem gibt es für das Leben keine totale Überwachung, die solche Videobeweise liefern könnte. Behandelt werden entsprechend auch eher chronisch belastende Muster der Zurechtmachung. Um einen weiteren Sportler zu erwähnen: Etwa John McEnroes legendäre Streitereien mit Tennis-Schiedsrichtern, ob der Ball auf, vor oder hinter der Linie war, könnten eine

240

Bloomsday

erste Indikation darstellen. Ein begleiteter Bloomsday mag ihn dann zum Center-Court, aber auch zu privateren Orten seines Lebens führen. Statt aktueller Abdrücke wird ihn eher die Stimmung wieder einfangen, dabei würde evtl. der Ehrgeiz als tragendes Element berichtet. Eine Chance, Distanz zu gewinnen, fortzuschreiten ...

Übersicht der Konzepte

Freud

Nietzsche

therapeutische Bloomsdaybegleitung

Indikation

selbstgemachtes Leid

kulturauferlegtes Leid

kulissengebundenes Leid, Orte leicht ablaufbar

wo (physisch)?

wo (mental)?

wie?

»Anti«-Szene der Praxis auf einer Couch

Bühne, Festorte

immer wieder bei zurechtge-

bei der Wunscherfüllung den am Ort der Erinnerung,

machten Erinnerungen, das

Impuls zum tragischen Zulas- oszillierend mit dem

Verschleierungs- und Anlas-

sen des »Unfalls« an andere wahrgenommenen Ort der

tungsmuster preisgebend

weitergeben wollen

Originaler Ort der Begebenheit

Wiederholung

szenische Worte zu den privat- per künstlerischer Umwertung, ortsbewusst für einen Behistorischen Auswirkungen inti- Zuschauer-Zuhörer »geht mit«

gleiter kommentierend

mer Zuhörer deuten

wozu?

persönliche Leidensminderung

(zunächst persönliche) Kul- persönliche Leidensmindeturänderung, 

Elitenfilter

wann?

nachträglich

nicht nur nachträglich

rung nachträglich, aber möglichst kurz darauf

Andreas Spohn

[2012] Céline Kaiser

Kurzdokumentarfilm. 

Grundlage 

ist 

ein 

Therapieangebot 

von 

Andreas 

Spohn, 

der 

sog. 

Bloomsday. 

Die 

Steadycam 

folgt 

Andreas 

Spohn 

während 

des 

Interviews. (Deutschland, 12:29 Min.)

Andreas Spohn Céline Kaiser Im eigentlichen Sinne ist ein ›Bloomsday‹ ein Tag, der Jahr für Jahr am 16. Juni in Dublin gefeiert wird. Name und Inhalt des Gedenktages verdanken sich einer Romanfigur: 

 Leopold 

 Bloom, 

 dem 

 Protagonisten 

 aus James Joyce’ Roman Ulysses von 1922. Auf gut 700 Seiten wird in diesem Roman ein Tag im Leben des Protagonisten beschrieben, der als Anzeigenakquisiteur für eine Dubliner Zeitung arbeitet und – angelehnt an Homers Odyssee – durch die Straßen von Dublin läuft. Im Rahmen eines Bloomsdays werden einige der Stationen, die für die Geschichte Leopold Blooms wegweisend waren, wieder aufgesucht. Andreas Spohn, Jahrgang 1972, hat nach dem Studium der Germanistik, Psychologie und Japanologie, das er mit einer Magisterarbeit zu Jacques Lacan abschloss, den Bloomsday für die Psychotherapie

neu entdeckt. Spohn, der bis heute auch als Deutschlehrer vor allem für Japaner und Chinesen arbeitet, machte parallel zu diesen Tätigkeitsfeldern eine Ausbildung zum Psychotherapeuten in eigener Analyse, arbeitete mit Studiengruppen sowie den Arbeitsgruppen und Veranstaltungen der Freud-Lacan-Gruppen ›AFP‹ und der ›NLS‹. Seit 2006 ist Spohn als Heilpraktiker für Psychotherapie mit Patienten tätig, zunächst in Düsseldorf, wo auch der Dokumentarfilm 

 der 

 Ausstellung 

 gedreht 

 wurde, seit 2010 in Lottstetten zwischen Zürich und Schaffhausen im Jestetter Zipfel. Dort ist er aktuell tätig als Lehrer und Therapeut. Am Psychoanalytischen Seminar Zürich bildet er sich weiter zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Auf seiner Homepage skizziert er neben anderen Angeboten den ›Bloomsday‹: Wie im »Ulysses« bietet er Interessenten an,

»sie physisch oder über Kommunikationsmedien einen Tagesabschnitt lang zu begleiten und so das ansonsten nur Erzählte der Worte mit direkter Zeugenschaft zu verknüpfen, an die Stelle zu kommen, die Joyce vortäuscht in Bezug auf Bloom zu haben«. Im 

 dokumentarische 

 Kurzfilm 

 ›Bloomsday‹ begleitet die Kamera Andreas Spohn bei einem Gang durch den Düsseldorfer Volkspark und zeichnet seine Vorstellung von einer therapeutischen und im wortwörtlichen Sinne begleitenden Zeugenschaft auf.

Ein Film von Céline Kaiser mit Andreas Spohn, Kamera: Alexander Pauckner, Ton: Christopher Kotzan Schnitt: K-Film/Stefan Prehn, Assistenz: Stefanie Husel

Biobibliographische Angaben

Biobibliographische Angaben

247

Ralf Bohn Prof. Dr., Dipl.-Des.; Studium in Design, Philosophie, Literatur. Diplomarbeit über Allegorien und urbane 

 Signifikationen. 

 Promotion 

 bei 

 Rudolf 

 Heinz (Transversale Inversion. Symptomatologie und 

 Genealogie 

 des 

 Denkens 

 bei 

 Robert 

 Musil, 

 Würzburg 1988); Habilitation bei Bazon Brock (Technikträume und Traumtechniken, Die Kultur der Übertragung und die Konjunktur des elektrischen Mediums. Würzburg 2004). Seit 2007 Professor für Medienwissenschaften am FB Design 

der 

FH 

Dortmund. 

Zahlreiche 

Monografien, 

 u. a.: Verführungskunst. Politische Fiktion und ästhetische Legitimation, Wien 1994. Sendungsbewusstsein. Walter Benjamin und sein Medium, Würzburg 2005; Inszenierung als Widerstand. Bildkörper und Körperbild bei Paul Klee, Bielefeld 2009, 

Szenografie 

& 

Szenologie 

Bd. 

2. 

Zusammen 

 mit Heiner Wilharm Herausgeber der Reihe Szenografie 

& 

Szenologie 

im 

Transcript 

Verlag, 

Bielefeld (Bislang 8 Bände). Forschungsschwerpunkte: Theoriediskurse 

der 

Szenografie. 

Philosophie 

und 

 Psychoanalyse der Medien, Medienekstasen und ihre therapeutische Einholung.

Stefanie Husel lehrt Theaterwissenschaft und ist als wissenschaftliche Koordinatorin des Forschungszentrums für Sozial- und Kulturwissenschaften (SoCuM) an der Universität Mainz tätig. In ihrer Dissertation beschäftigte sie sich mit den Aufführungssituationen der britischen Kompanie Forced Entertainment, die sie über Jahre ethnographisch begleitete. Stefanie Husel arbeitete in unterschiedlichen Theaterberufen, z. B. als Dramaturgin, Festival-Produzentin und Licht-Technikerin.

248

Biobibliographische Angaben

Céline Kaiser forscht als Dilthey-Fellow der VolkswagenStiftung und lehrt Medienkulturwissenschaft und Szenische Forschung an der Hochschule für Künste im Sozialen, Ottersberg. Promotion über Rhetorik der Entartung. Max Nordau und die Sprache der Verletzung (transcript 2007). Daneben: Ausbildung zur Theaterpädagogin 

 am 

 TPZ 

 Köln 

 sowie 

 freiberufliche 

 Tätigkeit 

 in 

 den Feldern Theaterpädagogik und Dramaturgie. Seit Ende 2007 Förderung des Forschungsprojekts Szenen des Subjekts. Kulturmediengeschichte der Theatrotherapie um 1800-1900-1970/2000 an den Universitäten in Bonn und Bochum durch die VolkswagenStiftung (www.celine-kaiser.de). Leitung 

 des 

 DFG-Nachwuchswissenschaftlernetzwerks Szenographien des Subjekts (http:// szenographien-des-subjekts.de/) Zuletzt erschienen: Szenen des Erstkontaktes zwischen Arzt & Patient, V&R 2012 (zus. mit Walter Bruchhausen).

Sven Lindholm studierte Angewandte Theaterwissenschaft an der 

Justus-Liebig-Universität 

Gießen 

und 

promovierte an der Freien Universität Berlin mit einer interdisziplinären Studie über das aktionistische Schaffen von Joseph Beuys. Er ist Teil des Regie- und Autorenduos Hofmann&Lindholm, das multidisziplinäre Projekte an der Schnittstelle zwischen szenischer, bildender und akustischer Kunst realisiert. Hofmann&Lindholms Arbeiten werden auf Bühnen der professionellen freien Szene 

 und 

 des 

 Stadttheaters, 

 in 

 Galerien 

 und 

 Ausstellungshallen, dem öffentlichen Raum sowie im Rundfunk präsentiert (www.hofmannundlindholm.de). Neben der künstlerischen Beschäftigung ist Sven Lindholm Juniorprofessor am Institut für Theaterwissenschaft an der RuhrUniversität Bochum und Leiter des Studiengangs Szenische Forschung. Der Schwerpunkt seiner Lehre liegt gegenwärtig auf der Befragung moderner und zeitgenössischer Formen und Formate der szenischen Kunst in ihrem Verhältnis zur bildenden Kunst und zur Wissenschaftstheorie.

Biobibliographische Angaben

249

Sven Lütticken unterrichtet Kunstgeschichte an der VU University Amsterdam. Er veröffentlichte die Bücher Secret Publicity (2006), Idols of the Market (2009) und History in Motion (2013) und schreibt regelmäßig für internationale Kunstzeitschriften und Kataloge. Im Jahr 2005 war er Kurator der Ausstellung Life, Once More: forms of reenactment in contemporary art (Witte de With, Rotterdam).

Nicolas Pethes unterrichtet Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorien des kulturellen 

 Gedächtnisses, 

 die 

 Mediengeschichte 

 der 

 Literatur, populäre Kultur sowie die Beziehungen zwischen Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, insbesondere die Kulturgeschichte des Menschenversuchs und die Theorie der Fallgeschichte. Ausgewählte Publikationen: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. 

Jahrhunderts, 

Göttingen 

2007; 

Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von 

 Kleist, 

 Göttingen 

 2011 

 (Hg.); 

 Literatur 

 und 

 Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013 (Mithg.). Fall - Fallgeschichte - Fallstudie. 

Theorie 

und 

Geschichte 

einer 

Wissensform, 

 Frankfurt/New York 2014 (Mithg.)

250

Biobibliographische Angaben

Eva Plischke ist Kulturwissenschaftlerin und Performerin. Sie studierte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis mit dem Schwerpunkt Theater in Hildesheim. Während des Studiums gründete sie das Theaterkollektiv Turbo Pascal, dessen Arbeiten an Theatern und Festivals im deutschsprachigen Raum zu sehen waren (sophiensaele Berlin, HAU Berlin, FFT Düsseldorf, Theater Freiburg, Festival Politik im Freien Theater u. a.) Als Performerin arbeitet sie regelmäßig mit anderen Künstlern und 

 Gruppen 

 wie 

 der 

 geheimagentur 

 oder 

 der 

 Fräulein 

 Wunder 

 AG. 

 Seit 

 2009 

 ist 

 Eva 

 Plischke 

 als Künstlerin in Projekten kultureller Bildung und Forschung mit Kindern und Jugendlichen tätig, u. a. am Forschungstheater Hamburg oder dem Theater an der Parkaue (Berlin). Seit 2012 erhält sie ein Promotionsstipendium im künstlerisch-wissenschaftlichen 

Graduiertenkolleg 

»Versammlung und Teilhabe – Urbane Öffentlichkeiten und Performative Künste« (Hamburg). www.turbopascal.info www.versammlung-und-teilhabe.de

Katja Rothe ist Juniorprofessorin für Theaterwissenschaft mit Schwerpunkt 

Frauen- 

und 

Geschlechterforschung 

 an der Fakultät Darstellende Kunst der Universität der Künste Berlin. Initiatorin des Labor Theaterforschung an der UdK. Studium der Psychologie, Literatur-, 

Geschichts- 

und 

Kulturwissenschaft 

an 

 der Humboldt-Universität Berlin; Promotion im DFG-Graduiertenkolleg 

 »Codierung 

 von 

 Gewalt« 

 – zur Epistemologie des frühen Radios; Mitglied des 

 DFG-Forschungsnetzwerkes 

 »Szenographien 

 des Subjekts«; Habilitationsprojekt zu den »Dramatologien praktischen Wissens im 20. Jahrhundert«. Publikationen u. a. zur Medientheorie und -geschichte, zur Wissenschaftsgeschichte (Psychologie, 

 Soziologie, 

 Pädagogik, 

 Gender 

 Studies) 

 und Theatergeschichte, zum Wissen der Künste.

Biobibliographische Angaben

251

Andreas Spohn geb. 1972, lebt mit seiner Familie in der Zürich am nächsten 

 gelegenen 

 Gemeinde 

 Deutschlands. 

 Arbeit als Sprachtrainer und Psychoanalytiker. Seit Studienabschluss in Düsseldorf betreibt er eine psychoanalytisch-philosophische Praxis (www.vonderseelereden.de). Diverse Veröffentlichungen.

Ulrich Streeck Prof. Dr. med., M.A., Studium der Medizin, Soziologie und Sozialpsychologie. Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und psychosomatische Medizin, Psychoanalytiker. Ehem. ärztlicher Direktor der Klinik Tiefenbrunn. Apl. Professor für Psychotherapie und psychosomatische Medizin an 

der 

Universität 

Göttingen. Buchpublikationen (u. a.): »Erinnern, Agieren und Inszenieren«, 

 Göttingen, 

 Vandenhoeck 

 & 

 Ruprecht 2000; »Auf den ersten Blick. Psychotherapeutische Beziehungen unter dem Mikroskop«, Stuttgart, Klett-Cotta 2004; »Psychotherapie komplexer Persönlichkeitsstörungen«, Stuttgart, Klett-Cotta 

2007; 

»Gestik 

und 

die 

therapeutische 

 Beziehung«, Stuttgart, Kohlhammer 2009.

252

Biobibliographische Angaben

Ingo Uhlig studierte Soziologie und Philosophie in Bayreuth und Dresden und promovierte 2005 an der Bauhaus-Universität Weimar mit einer Arbeit über Gilles 

 Deleuze. 

 Seit 

 2006 

 arbeitet 

 er 

 am 

 Landesforschungsschwerpunkt Aufklärung-ReligionWissen der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 

 und 

 ist 

 seit 

 2011 

 zudem 

 Gastprofessor 

 für Philosophie und Ästhetik an der Kunstakademie Münster. Sein 2013 abgeschlossenes Habilitationsprojekt widmet sich inspirierten Schlafzuständen in der Philosophie und Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Der Titel der Arbeit lautet »Traum und Poiesis. Produktive Schlafzustände 1641–1810«, sie erscheint 2014.

Heiner Wilharm Dr. 

rer. 

pol., 

M.A., 

ist 

Professor 

für 

Gestaltungswissenschaften, Medien und Kommunikation an der Designfakultät der Fachhochschule, University of Applied Sciences and Arts, Dortmund. Studium der Philosophie, der Allgemeinen Sprachwissenschaften, 

der 

Pädagogik 

und 

Germanistik 

 an den Universitäten Bonn und Köln, Studium der Sozial- und Politikwissenschaften am OttoSuhr Institut der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen zu Themen der Philosophie, der Wissenschafts-, Sozialgeschichte und Politik, zur Handlungstheorie, zur Medienproduktion, Mediengeschichte und Medientheorie; Schriften über Repräsentation, Zeichen, Kunst und Design, 

 Szenografie 

 und 

 Szenologie. 

 Verschiedene 

 Ausstellungen, Projekte und Interventionen im Öffentlichen Raum; kuratorische Tätigkeit. Derzeitiger Forschungsschwerpunkt: »Praktiken und Logik der Szene«. [www.designradio.net und www.scenology.eu].

Biobibliographische Angaben

Produktionsteam der Ausstellung Szenotest, Eine szenische Ausstellung zur Geschichte der Theatrotherapie 24.11. – 01.12.2012, Dortmund Leitung: Produktionsassistenz: Hospitanz:

Céline Kaiser Stefanie Husel Elisabeth Hensgen

Szenen-Gestaltung: 

 



Team 

aus 

StudentInnen 

der 

FH 

Dortmund, 

FB 

Design 

 



Reil [1803] Pinel [1800/01]

Sandra Cvitkovac, Céline Kaiser Lioba von Hardenberg, Victoria Waldhausen David Figura (Kamera) Kai Czerwonka (Ton) Nadine Isabell Kipka, Céline Kaiser Linda Appelhans Magda Semrau, Friederike Sommer, Céline Kaiser Isabelle Marohn, Ninja Schmaling Céline Kaiser Alexander Pauckner (Kamera), Christopher Kotzan (Ton) Stefanie Husel (Assistenz)

Breuer [1895] Moreno [1924/1970] Perls [1969] Hellinger [2005] Spohn [2012]

Ton:

Fabian Kollakowski

Sprecher: 







Gabriel 

Rodriguez Clarissa Stein Victoria Waldhausen

Fotografie: 







Sandra 

Cvitkovac

szenisch-künstlerische Milo Rau Beratung: Jens Dietrich

253

Impressum

Impressum

Herausgeber Céline Kaiser www.celine-kaiser.de

Fotografie Sandra Cvitkovac, Linda Appelhans, Seiten 99 li., 103

Lektorat Reiner Raffelt

Druck Gorenjski 

tisk 

storitve Kranj, Slowenien

Auflage 500

Dank gilt der VolkswagenStiftung, Hannover, für die Finanzierung des Bandes.

© Céline Kaiser, Autoren, Fotografen 2014 transcript Verlag, Bielefeld

255

ISBN 978-3-8376-3016-9 transcript Verlag, Bielefeld www.transcript-verlag.de Bibliografische 

Information 

der 

Deutschen 

 Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliothek; 

detaillierte 

bibliografische 

Daten 

sind 

im 

 Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de