Szenografie digital: Die integrative Inszenierung raumbildender Prozesse [1. Aufl.] 9783658310738, 9783658310745

Im Buch wird im Kontext individueller Rezipientenpartizipation und Nutzerimmersion erläutert, welche Wahrnehmungsaspekte

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German Pages XII, 83 [91] Year 2020

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Szenografie digital: Die integrative Inszenierung raumbildender Prozesse [1. Aufl.]
 9783658310738, 9783658310745

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XII
Szenografie als Raumkunst (Thomas Moritz)....Pages 1-5
Szenotopie als Handlungsraum (Thomas Moritz)....Pages 7-28
Szenosphäre als Raumbildung (Thomas Moritz)....Pages 29-40
Dramaturgie als Raumnutzung (Thomas Moritz)....Pages 41-55
Internet als Nutzungsraum (Thomas Moritz)....Pages 57-69
Benutzeroberfläche als Bildraum (Thomas Moritz)....Pages 71-78
Back Matter ....Pages 79-83

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Thomas Moritz

Szenografie digital Die integrative Inszenierung raumbildender Prozesse

Szenografie digital

Thomas Moritz

Szenografie digital Die integrative Inszenierung raumbildender Prozesse

Thomas Moritz Potsdam, Deutschland

ISBN 978-3-658-31073-8 ISBN 978-3-658-31074-5  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31074-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Reinhard Dapper Springer Vieweg ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Motivation

Mit der Entwicklung von Film und Fernsehen vom analogen zu einem digitalen Medium und dem Internet als interaktiv nutzbares Informations- und Kommunikationssystem hat sich das Berufsbild des Szenografen verändert. Gestaltete dieser bislang Bühnenbilder für das Theater und die Oper oder die Schauplätze für die audio-visuellen Medien, gehören nun auch die interaktiv nutzbaren Anwendungen zu seinem Aufgabenbereich, für die er als ein kompetenter Bild- und Raumkünstler sowohl die Spiel- und Handlungsräume, als auch den immersiven Bildraum grafischer Benutzeroberflächen gestaltet. Die zielgerechte Anwendung der visuellen Gestaltungsmittel erlaubt ihm nicht nur die Manipulation computergenerierter Bilder und die Generierung virtueller Räume, sondern ermöglicht ihm auch das integrative Inszenieren von interaktiven Szenarien und raumbildenden Prozessen, die der Internetnutzung immanent sind. Da der Zugang zu den im Internet verfügbaren Daten und interaktiv nutzbaren Anwendungen ausschließlich über eine grafische Benutzeroberfläche erfolgt, gehört auch das Systemische Design zum Aufgabenbereich des Szenografen, indem er für deren immersiven Bildraum ein spezielles visuelles Ambiente aus Farben und Formen entwirft, das potenzielle Anwender zur interaktiven Nutzung und performativen Raumbildung animiert. Der immersive Bildraum der grafischen Benutzeroberfläche gewährt ihnen intuitiven Zugang zum mentalen Nutzungsraum des Internets, der zwar physikalisch nicht vorhanden, für seine Nutzer aber physisch erlebbar ist, da sie ihn auch performativ formen. Im Gegensatz zum klassischen Theater, wo der lokale Abstand zum Bühnenraum lediglich einen szenischen Raum impliziert, den Darsteller und Zuschauer im Kontextabgleich als Gemeinschaftsraum erleben, gestaltet der Internetnutzer seinen eigenen mentalen Nutzungsraum, indem er an vorbestimmten Orten mit dem Computer interagiert. Ein Vergleich der historischen Theaterarchitekturen verweist auf verschiedene Darsteller-Zuschauer-Konstellationen im Bühnenbereich und unterschiedliche Anteile bei der gemeinsamen Raumbildung. Während in einer Theatervorstellung Darsteller und Zuschauer auf ihren Kontextabgleich angewiesen sind, formt der Nutzer im Internet den mentalen Raum performativ, den auch nur er als solchen wahrnehmen und mitgestalten kann.

V

VI

Motivation

Das aktuelle Szenografieverständnis beinhaltet zum einen die Konzeption und Gestaltung von materiellen und immateriellen Räumen zum anderen aber auch die integrative Inszenierung raumbildender Prozesse am Theater und im Internet. Da es sich bei Internetanwendungen um digitale Datensysteme handelt, ist für deren systematische Entwicklung die Screenografie interaktiv nutzbarer Informations- und Kommunikationssysteme als didaktisch strukturiertes und wissenschaftlich fundiertes Regelwerk für die systematische Gestaltung von grafischen Benutzeroberflächen relevant, das der Szenograf zum Entwurf des immersiven Bildraumes benötigt. Die visuelle Struktur des Bildraumes basiert auf einem Gestaltungsraster, das die Bildschirmfläche systematisch in kleinere geometrische Einheiten unterteilt und im visuellen Ambiente zur interaktiven Nutzung motiviert. Das visuelle Gestaltungsraster strukturiert den immersiven Bildraum der grafischen Benutzeroberfläche und suggeriert dem Nutzer unter Anwendung perspektivischer Hilfsmittel einen dreidimensionalen Raumeindruck, der ihm die Navigation im mentalen Nutzungsraum des Internets erleichtert. Der szenografische Aufgabenbereich hat sich erweitert, da nun nicht mehr allein reale und imaginäre Schauplätze im Mittelpunkt des szenografischen Gestaltens stehen sondern auch die integrative Inszenierung interaktiver Internetnutzung, die eine performative Raumbildung impliziert. Szenografie wird nicht explizit als Gestaltungspraxis materieller und virtueller Spiel- und Handlungsräume verstanden, sondern erfährt auch als systematische Gestaltungs- und Entwicklungstheorie von raumbildenden Prozessen eine Neubewertung im intermedialen Raumdiskurs, sodass das szenografische Berufsbild neu definiert werden muss. Als im Jahre 1987 zwei Bühnenbildabsolventen und selbsternannte Autoperformationsartisten sich beim ostdeutschen Künstlerverband um Mitgliedschaft bewarben, wurden sie von der damaligen Aufnahmekommission mit dem Argument abgelehnt, solche Aktionen seien keine Bildkunst und entsprächen daher auch nicht den Aufnahmekriterien der Sektion Szenografie. Es war die Zeit, als Wolf Vostell sich längst voll im interationalen Kunstbetrieb etabliert hatte und als Initiator der Künstlerbewegung Fluxus eine weltweite Anerkennung genoss. Jedoch begriff sich dieser Aktionskünstler nicht als ein intermedial tätiger Bühnenbildner, sondern vielmehr als ein engagierter Performancekünstler im öffentlichen Raum und als einer, der mit seinen Kunstaktionen zum umweltverändernden Handeln provoziert. Ein ähnliches Anliegen hatten auch die beiden ostdeutschen Künstlerkollegen. Sie arbeiteten mit verschiedenen künstlerischen Medien und bereicherten mit ihren performativen Aktionen die Ausstellungsszenografien, was jedoch die von der ostdeutschen Kulturpolitik verordneten Grenzen sprengte. Das damalige Szenografieverständnis war traditionell sehr eng gefasst und akzeptierte lediglich das klassische Bühnenbild als Bildkunst. Abweichende künstlerische Äußerungen blieben oft unverstanden und waren nicht einzuordnen. Heute ist solche Ignoranz kaum noch vorstellbar. Der deutsche Verband der Berufsgruppen Szenenbild und Kostümbild (VSK) definiert das Berufsbild des Szenenbildners

Motivation

VII

als Tätigkeit und Betätigungsfeld, das sich auf die Herstellung und Gestaltung eines Filmwerkes bezieht, die gemeinsam mit den Regisseuren, Kameraleuten, Kostümbildnern und ihren jeweiligen berufsspezifischen Leistungen im Sinne einer kreativen Teamarbeit erfolgen. Als Filmwerk gelten alle Formen der szenischen Gestaltung für Film und Fernsehen und deren spezifische Arbeitsbereiche, wo der Szenenbildner als künstlerisch und konzeptionell verantwortlicher Gestalter das spezielle r­ äumlich-visuelle Erscheinungsbild erarbeitet, indem er dort die der inszenierten Geschichte innewohnenden Emotionen als von ihm in Szene gesetzte Landschaft, Architektur oder deren Räume verbildlicht. Laut Verbandssatzung des VSK aus dem Jahr 2012 gehören neben der Bühnenbildgestaltung am Theater und den Szenenbildern für die traditionellen Medien Film und Fernsehen auch die neuen Medien sowie die Filme für das Interent und die DVD-Produktionen zum erweiterten szenografischen Betätigungsfeld. Bühnen- und ­ Szenenbildner arbeiten demnach als Bild- und Raumgestalter auf einem ähnlichen Berufsfeld, das sich entweder der Gestaltung der Bühne widmet oder den Schauplätzen in Film und Fernsehen das adäquate Erscheinungsbild verleiht. Der Schwerpunkt der Berufsbilddefinition liegt explizit auf der architektonischen Gestaltung von Spiel- und Handlungsräumen, die der Handlung entsprechend mit Requisiten ausgestattet sind und den Darstellern genügend Freiraum bei der Interpretation ihrer Figuren belassen. Das szenografische Endprodukt ist demnach entweder das Bühnenbild auf der Theaterbühne oder das Szenenbild der Film- oder Fersehproduktion. Die Gestaltungsergebnisse sind unmittelbar vor Ort bespielbar und als Bilder auf der Kinoleinwand oder dem Fernsehbildschirm sichtbar. Das aktuelle Szenografieverständnis ist ein anderes und umfasst, neben den Bühnenoder Szenenbildern, auch die Gestaltung von virtuellen Räumen und interaktiven Szenarien sowie Ausstellungen und Produktpräsentationen im öffentlichen Raum. Szenografisches Gestalten gewinnt materiell und immateriell an Bedeutung und erfährt als aktueller Raumdiskurs eine Aufwertung, da nun die Szenarien interaktiver Nutzung und die damit verbundenen Prozesse der performativen Raumbildung zum Aufgabenbereich des Szenografen gehören. Im Kontext szenografischer Bild- und Raumgestaltung ist zu analysieren, welche raumbildenden Prozesse dem Theater und der Internetnutzung immanent sind und welche Faktoren diese begünstigen.

Inhaltsverzeichnis

1 Szenografie als Raumkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Szenotopie als Handlungsraum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 3 Szenosphäre als Raumbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 4 Dramaturgie als Raumnutzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 5 Internet als Nutzungsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 6 Benutzeroberfläche als Bildraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

IX

Einleitung

Mit einer zunehmenden Digitalisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen hat sich auch der Aufgabenbereich des Szenografen stark erweitert, sodass sein Berufsbild neu definiert wird. Seit Film und Fernsehen sich zu audiovisuellen Massenmedien entwickelt haben, arbeitet ein Szenograf als Bühnenbildner nicht nur für die Theater- und Opernbühnen, sondern gestaltet als Szenenbildner auch die Schauplätze für den klassischen Spielfilm und die bewegten Bilder auf dem Fernsehbildschirm, deren Vielfalt und Ausdruckstärke sich durch die Anwendung digitaler Gestaltungsmittel permanent erhöht. Computer und Internet als globales Informations- und Kommunikationssystem sind geeignet, szenografische Aufgabenbereiche zu erschließen, die sich nicht auf die Gestaltung virtueller Spiel- und Handlungsräume beschränken, sondern die interaktive Nutzung und performative Raumbildung einbeziehen. Im aktuellen Diskurs wird Szenografie nicht nur als eine Bild- und Raumkunst verortet, sondern auch als eine integrative Inszenierungsstrategie in Ausstellungen und Präsentationen auf Messen oder im Internet. Im szenografischen Kontext der mentalen Raumbildung kommt der integrativen Inszenierungsmethode besondere Bedeutung zu, da sie die Intentionen potenzieller Rezipienten in das dramaturgische Konzept einbezieht und ihnen eine Mitwirkung am Bühnengeschehen und im interaktiven Nutzungsszenario des Internets zuweist. Während mentale Raumbildung am Theater auf den Kontextabgleich von Darstellern und Zuschauern im gemeinsamen Erlebnisraum angewiesen ist, formt der Nutzer im Internet seinen eigenen Raum performativ, indem er dort gezielt mit dem Computersystem interagiert. Den intuitiven Zugang zu den Funktionen und Informationen im Internet erlangt er über den immersiven Bildraum einer grafischen Benutzeroberfläche, der ihn zur interaktiven Nutzung animiert und im mentalen Nutzungsraum des Internets zielgerecht orientiert. Der Verlauf der interaktiven Nutzung wird vom Computersystem vorgegeben, den Handlungsablauf bestimmt der Nutzer hingegen selbst, indem er an systemimmanenten Orten im mentalen Nutzungsraum Aktionen auslöst, der physikalisch nicht vorhanden, für den Nutzer aber physisch erlebbar ist. Um eine effektive und effiziente Nutzung des Internets zu gewährleisten, gilt es, die Aspekte dreidimensionaler Raumgestaltung und die Modalitäten performativer Raumbildung auf das Systemische Design grafischer Benutzeroberflächen zu übertragen. Erst dann XI

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Einleitung

ist Nutzern ein immersives Raumgefühl vermittelbar. Im Theater entstehen die raumbildenden Prozesse als Reflexionen auf das Bühnengeschehen und im Internet beim interaktiven Nutzungsprozesses. Demgemäß fällt dem Szenografen auch die Aufgabe zu, den immersiven Bildraum der grafischen Benutzeroberflächen zu gestalten und die integrativen Inszenierungskonzepte zu erarbeiten, die den Internetnutzern eine performative Raumbildung ermöglichen. Mit dieser Aussage wird ihm die leitende Mitarbeit in einem interdisziplinären Team zugeschrieben, das die Ausdrucksmöglichkeiten der digitalen Medien nutzt, um eine gestalterische Vielfalt von funktional-ästhetischen Konstellationen und Figurationen zu entwerfen, was wiederum die Rezipienten und Nutzer zu Protagonisten qualifiziert und ihnen Partizipation, Interaktion und Performation im Internet ermöglicht. Der Szenograf hat neben den gestalterischen Aufgaben auch die Funktion eines Initiators und Koordinators, der im Hintergrund agiert. Im Fokus stehen dabei die Involvierung des Zuschauers in das Bühnengeschehen am Theater und die Immersion bei der interaktiven Nutzung im Internet. Die dabei angewandten szenografischen Raumkonzepte orientieren sich an der Screenografie interaktiv nutzbarer Informations- und Kommunikationssysteme, als dem wissenschaftlich fundierten Regelwerk zur systematischen Gestaltung von grafischen Benutzeroberflächen. Die Kompetenz des Szenografen trägt zur systematischen Entwicklung grafischer Benutzeroberflächen bei, deren immersiver Bildraum die Bildung eines performativen Raumes fördert, der sich in die Köpfe der Nutzer einschreibt, während sich das interaktive Nutzungsszenario als Szenografie verortet und einer integrativen Inszenierung bedarf, die den Rezipienten und Nutzer als Mitgestalter und Handelnden begreift.

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Szenografie als Raumkunst

Teil 1. Szenografie als Raumkunst Wo Friedrich Schiller in seinem Gedicht „An die Freude“ von den Brettern spricht, die die Welt bedeuten, meinte er die Theaterbühne im Jahr 1803. Heute würde er wahrscheinlich den Fernsehbildschirm als Weltbühne oder die grafische Benutzeroberfläche des Internetbrowsers als Tor zur Welt bezeichnen. Die Theaterbühne bestand damals gänzlich aus Holz. Das war nicht immer so. Der älteste europäische Theaterspielort ist einer vom römischen Dichter Horaz überlieferten Sage nach der Thespiskarren, der als Wandertheater fungierte. Die ersten theatralischen Aufführungen auf festem Boden fanden in den Amphitheatern der Antike statt, deren architektonischer Aufbau den Zuschauerraum lokal von der Bühne trennt und daher auch im Wesentlichen den gegenwärtigen Theaterbauten gleicht. Damals waren das noch die Freilichttheater mit einer halbkreisförmigen Arena für die Zuschauer und einer kreisförmigen Spielfläche als Bühne, deren Hintergrund, die Szene, als bemalte Hausfront gestaltet war. Aus den Spielsälen der mittelalterlichen Hoftheater entstanden die Guckkastenbühnen mit den gestaffelten Kulissenbauten und dem Bühnenportal, welches die Handlung optisch einrahmt und lediglich einen Bühnenausschnitt zeigt, der wie ein großes Bild ausdekoriert war. Diese malerisch gestalteten Bühnen bildeten die Szenografien perspektivisch gebauter Bildräume, die von dem gegenüber angeordneten Zuschauerraum lokal getrennt waren und hauptsächlich aus illusionistischen Theaterkulissen bestanden, deren Gestaltung dem Bühnenbildner oblag, der damit der theatralischen Aufführung ein spezielles Aussehen und eine Aussage verlieh. Die szenografische Gestaltung, als künstlerische Bildformung verortet, entwickelte sich im 20. Jahrhundert zu einem Raumdiskurs, da die experimentellen Gestaltungsstrategien darauf abzielten, den in sich abgeschlossenen Guckkasten aufzubrechen und gegen die traditionell © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Moritz, Szenografie digital, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31074-5_1

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1  Szenografie als Raumkunst

gerahmten Bühnenbilder abzugrenzen. Im Kontext der Medienumbrüche, wie der medialen Vernetzung im Internet, digitaler Bildmanipulation und virtueller Realität, erlangt der mediale Raum neue szenografische Relevanz. Die Theaterwissenschaftlerin Birgit Wiens definiert diese unterschiedlichen Spielarten der intermedialen Szenografie in „Verkabelte Bühnen – Szenografie im Spannungsfeld zwischen dem Theater und anderen Medien“ als „Metaszenografie, die Bedingungen dafür entwirft, wie die Akteure im Spannungsfeld der unterschiedlichen Räume und Medien in den Spielvorgang eintreten können. Im ablaufenden Spiel wird die Bühne zu einem Feld ästhetischer Erfahrung und vor allem zu einem Diskursfeld, das nicht nur die Akteure, sondern auch die Zuschauer in einer neuen Weise einbezieht, indem sie deren kollaborative Kreativität, kognitive Fähigkeit und intellektuelle Reflexion dezisiv anspricht“.1

Dem heutigen Szenografen steht für die Gestaltung eine große Bandbreite unterschiedlicher Spiel- und Handlungsräume bereit. Dazu gehören, neben dem Theater und den Schauplätzen in Film- und Fernsehen, auch virtuelle Räume und mediale Raumgestaltungen für Museen und Ausstellungen sowie performative Raumbildungen im Internet. Gegenwärtig besteht auch ein Trend zur Nutzung temporärer Spielorte, an denen performative Raumbildung inszeniert wird. Die Theaterpädagogin Martina Leeker definiert die Performatierung des Raumes als eine „Auflösung seiner materiellen Bedingungen in Handlungen und Verhaltensweisen seiner Bewohner, durch die Raum erst entsteht.“2 Trotz der Versuche, die lokale Distanz zur Bühne aufzuheben haben in sich abgeschlossene Bühnenformen in den historischen Theaterbauten bis heute überlebt und erfreuen sich beim Publikum nach wie vor einer großen Beliebtheit. Im Gegensatz zur fortschreitenden Medialisierung in Politik und Gesellschaft bewahrt das Theater seine eigenständige Kunstform. Als eine wahrnehmbare Gesamtheit aus Materialien, Symbolen und Darstellern entführt es in eine inszenierte Parallelwelt, die informiert, bildet, unterhält und gegebenenfalls zum Handeln motiviert. Diese immanente Wertbeständigkeit des Theaters ist allein der Tatsache geschuldet, dass mit dem Spiel der Darsteller dramaturgisch konzipierte und arrangierte Geschichten unmittelbar vor den Augen der Zuschauer lebendig werden. Auf diese Weise wird aus dem Theater ein Handlungsraum, in dem sich Erzählkunst und darstellende Kunst zu einem kommunikativen Akt mit dem Publikum vereinen. Das ist bei den bewegten und bewegenden Bildern von Film- und Fernsehen kaum anders. Allerdings erleben die Zuschauer dort die dramaturgischen Inszenierungen nicht unmittelbar vor Ort, sondern vielmehr aus zweiter Hand mittels gestalteter Bilder. Dabei bestimmen nicht nur die Dramaturgie der inszenierten Handlungen und die Schauspielkunst der Darsteller das narrative Angebot, sondern auch die gestalterischen Mittel,

1Wiens

(2016). (2014).

2Leeker

Teil 1. Szenografie als Raumkunst

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wie Kameraführung, Bildschnitt und das Szenenbild, womit die Aufmerksamkeit der Zuschauer gelenkt und deren Emotionen geweckt werden. Ebenso wie im Theater dramatische Vorgänge dramaturgisch bearbeitet und bildhaft in Szene gesetzt werden und das Bühnenportal dafür den optischen Rahmen bildet, werden auch alle audiovisuellen Medien entsprechend dem Anliegen ihrer Produzenten und den Erwartungen der Rezipienten konzipiert sowie optisch und akustisch wahrnehmbar auf das gestaltete Bild reduziert. Jede Form der Inszenierung eines Werkes oder eines Sachverhalts orientiert sich an den Vorstellungen und Wünschen deren Nutzer, da sie diese zur eigenen Vervollständigung benötigt. Weil erst der Kommunikationsakt mit seinen Empfängern dem Medieninhalt einen Sinn ergibt, zielen die integrativen Inszenierungen auf einen aktionalen Dialog mit den Rezipienten und sind bestrebt, diese immersiv in die Darstellung einzubeziehen. Auch im Epischen Theater3 von Bertolt Brecht ist der Zuschauer kein passiver Betrachter, sondern beeinflusst durch seine Reaktionen unmittelbar die Handlung. Den Zuschauern wird mit den dramaturgischen Methoden der Verfremdung intellektuell ein Abstand zur Bühnenhandlung suggeriert, sodass diese eine zusätzliche Rahmung erfährt, die sie aufwertet und auf eine höhere Stufe hebt. Das inhaltliche Anliegen einer Inszenierung wird somit eindeutiger und verständlicher vermittelbar. Im Gegensatz zu analogen und digitalen Bildmedien bietet die Theaterbühne einen lebendigen Spielraum fiktiver Realität, worin die Fiktion Gestalt annimmt. Da die Trennung von Bühnen- und Zuschauerraum auch mental einen Zwischenraum indiziert, besteht die Notwendigkeit, diesen mit dramaturgischen Mitteln aufzuheben, sodass er nicht wahrgenommen wird. Ein durch das Bühnenportal eingerahmter, abgeschlossener und optisch begrenzter Bühnenraum wirkt diesem Anliegen entgegen, da er die Außenwelt ausschließt und das Bühnenbild wie eine zweidimensionale Projektion der dreidimensionalen Bühne erscheinen lässt. Moderne Inszenierungsstrategien zielen daher darauf ab, den lokalen Abstand zwischen Publikum und Darstellern mental auszugleichen, indem sie die Zuschauer mit dramaturgischen Mitteln und gezielten Dialogen zur Handlungsteilnahme motivieren. Ähnlich der von einem Bühnenportal eingerahmten Theaterbühne entspricht die grafische Benutzeroberfläche einem immersiven Bildraum, der einen intuitiven Zugang zum mentalen Nutzungsraum des Internets gewährt. Während ein Zuschauer im Theater und beim Rezipieren audiovisueller Medien einseitig kommuniziert, da ihm dort kein Rückkanal zur Verfügung steht, der es ihm ermöglicht, auch als Sender zu fungieren, hat er im Internet die Möglichkeit, den Handlungsablauf mittels Aktionen selbst zu steuern und dabei den mentalen Handlungsraum performativ zu formen. Szenarien beschreiben Handlungsabläufe, legen fest wann und wo Aktionen ausgelöst werden und regeln deren Reihenfolge. Bei der Film- und Fernsehproduktion entspricht das Szenarium der Vorstufe zum Drehbuch oder Storyboard (Bilddrehbuch),

3Brecht

(1963).

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1  Szenografie als Raumkunst

markiert Orts- oder Zeitwechsel im Produktionsablauf und bestimmt somit die Szenenfolge, die als Drehbuch oder Storyboard ausgearbeitet wurde. Am Theater entspricht es der Inszenierung dramatischer Vorgänge, die den dramaturgischen Handlungsablauf auf der Bühne regelt, während das interaktive Szenario beim systematischen Entwicklungsprozess von interaktiv nutzbaren Medien deren Aufgaben spezifiziert, spezielle Anwendungs- und Nutzungssituationen simuliert und Verhaltensweisen während der interaktiven Nutzung fixiert, um sie auf die Softwareentwicklung zu adaptieren. Der Szenario-Entwurf der interaktiven Nutzung modelliert unter Berücksichtigung relevanter Nutzer- und Nutzungssituationen den interaktiven Nutzungsverlauf, um die Nutzungsaspekte der Software bei deren Entwicklung berücksichtigen zu können. Jede Szenario-Entwicklung basiert generell auf speziellen Nutzer- und Nutzungsanalysen in Bezug auf Nutzungszweck, Nutzungsabsicht sowie individuelle Befindlichkeiten und beinhaltet auch die dramaturgische Bearbeitung einer literarischen Gattung, wie Dramatik, Epik und Poetik, die als integrative Inszenierung in Theater, Film- und Fernsehen oder im öffentlichen Raum zu ihrer Aufführung gelangt. Der dramaturgische Kern solcher Inszenierungen wird von der Story als Erzählung oder Handlung getragen, deren Anliegen darin besteht, den Rezipienten oder den Nutzer einer interaktiven Anwendung zu unterhalten, zu bilden und zum aktiven Handeln zu motivieren. Als essenzieller Bestandteil der Szenarien interaktiver Mediennutzung vermittelt Storytelling als spezielle Erzählmethode die Informationen in Form von Geschichten, was sie dahingehend vereinfacht oder verbildlicht, dass sie leichter wahrgenommen und besser verstanden werden. Eine gut erzählte Story weckt das Interesse potenzieller Nutzer und veranlasst sie dazu, sich intensiv mit der Thematik zu befassen, Entscheidungen zu treffen und zielgerecht mit dem System zu interagieren. Storytelling zielt darauf ab, komplexe Informationen verständlich und anschaulich darzustellen, sodass sie die Adressaten emotional berühren und veranlassen, sich über ein Produkt oder eine Thematik eine individuelle Meinung zu bilden. Ein Erzählthema, das begeistert, verbleibt länger im Gedächtnis, erleichtert Nutzern die Entscheidungsfindung und motiviert sie zum interaktiven Handeln. Storytelling eignet sich insbesondere auch zur Informationsvermittlung im Internet, da dort unterschiedliche Medien, wie Texte, Töne und Bilder, verwendet werden, die nicht nur die Aufmerksamkeit des Nutzers binden, sondern ihn auch dazu motivieren, sich intensiver mit dem Informationsgehalt auseinanderzusetzen. Besonders prädestiniert ist das Storytelling für die Internetpublikationen, die sich als Reportage interaktiv erkunden und in Form von Texten, Bildern und Tönen audiovisuell mit verwandten Themenbereichen verknüpfen lassen. Storytelling orientiert sich an der Realität und nutzt bereits verinnerlichte Konventionen zur zielgerechten Informationsvermittlung, um den individuellen Wissensstand zu erweitern, zur interaktiven Meinungsbildung beizutragen und ähnlich den dramatischen Vorgängen auf der Theaterbühne, die Nutzer zum aktiven Handeln zu motivieren. Als Methode zur gezielten Informationsvermittlung trägt Storytelling gezielt dazu bei, das Internet zu einem virtuellen Informations- und Handlungsraum zu

Literatur

5

formieren, der das dort gespeicherte Wissen aus der realen Welt um neue digitalisierte Informationen bereichert. Der Soziologe Andreas Boes vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung in München resümiert: „Wir tauchen nicht mehr aus der realen Welt in die virtuelle Welt ein, sondern nutzen einen gigantischen Informationsraum als neue Dimension für soziales Handeln!“4.

Literatur Boes, A. (2016). Cloudworking und die Zukunft der Erwerbsarbeit. München: Institut für sozialwissenschaftliche Forschung. Brecht, B. (1963). Das epische Theater. In: Schriften zum Theater, Bd. 3, Suhrkamp: Frankfurt a/M. Leeker, M. (2014). Performatierung des Raumes. https://mediarep.org/handle/doc/4745. Wiens, B. (2016). Verkabelte Bühnen. In W. Fink (Hrsg.), Raumbildende Prozesse im Theater (S. 186). Paderborn: Schriftenreihe der Universität Paderborn.

4Boes

(2016).

2

Szenotopie als Handlungsraum

Teil 2. Szenotopie als Handlungsraum So wie der Zuschauer im Theater nicht nur mit den auf der Bühne agierenden Darstellern kommuniziert, sondern auch mit dem Ergebnis intentionaler Gestaltungsprozesse, interagiert er bei der Internetnutzung zwar über die grafische Benutzeroberfläche mit der Anwendung, indirekt aber auch mit deren Entwicklern, die mögliche Nutzungsvarianten vorprogrammiert haben. Beim interaktiven Nutzungsprozess im Internet formt der Nutzer mit seinen Aktionen den mentalen Nutzungsraum performativ zu einem Handlungsraum, den nur er erleben kann. Zugang zu den im Nutzungsraum bereit gestellten Funktionen und Informationen erlangt er über den Bildraum der grafischen Benutzeroberfläche. Dieser mentale Nutzungsraum ist zwar physikalisch nicht vorhanden, für seine Nutzer aber durchaus physisch erlebbar, da dort die Nutzung der eines realen Raumes ähnelt und im interaktiven Nutzungsprozess vergleichbare Verhaltensweisen impliziert. Versteht man die grafische Benutzeroberfläche als eine Basis für wechselseitige Kommunikation mit dem System und deren immersiven Bildraum als eine Inszenierungsplattform für interaktives Handeln, offenbart sich ein Bezug zur Theaterbühne, da beide bildhaft gestaltet sind und Rezipienten oder Nutzer zum Handeln motivieren. Anfangs wurde das Inszenieren ausschließlich als die Veranschaulichung dramatischer Werke verstanden, später in Abgrenzung zur Literatur auch als Entwicklungsstrategie dramatischer Vorgänge als Abfolge von Inszenierungsidee, Inszenierungskonzept und deren szenografische Umsetzung. Im theatralen Kontext bedeutet Inszenieren ein InSzene-setzen von dramatischen Vorgängen in den dafür konzipierten Spiel- und Handlungsräumen. Inszenierungen sind ein fester Bestandteil im gegenwärtigen sozialen und gesellschaftlichen Leben und unterliegen der diffizilen Ausarbeitung, da der Erfolg einer öffentlichen Veranstaltung oder szenischen Aufführung eine spezielle Strategie © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Moritz, Szenografie digital, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31074-5_2

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8

2  Szenotopie als Handlungsraum

voraussetzt, die der dramaturgischen Bearbeitung und ihrer szenografischen Umsetzung bedarf. Das trifft auch auf die Nutzung des Internets zu, als einem vorab inszenierten Nutzungsszenario, das den interaktiven Nutzungsverlauf festlegt und verschiedene Handlungsmöglichkeiten offeriert, so das der Nutzer selbst entscheiden kann, wann und wo er mit dem System interagiert und performative Raumbildung praktiziert. Systematisches Gestalten einer grafischen Benutzeroberfläche im Systemischen Design ist mit dem szenografischen Gestalten von realen oder virtuellen Spiel- und Handlungsräumen vergleichbar, da beide Anwendungsbereiche auf vergleichbaren Regeln beruhen, die Nutzer und Rezipient immersiv in die Raumbildung einbinden. Die interaktive Nutzung des Internets als interaktives Szenario basiert auf aktionalen Dialogen zwischen Nutzern und System. Die Bühne im Theater und der immersive Bildraum einer systematisch gestalteten grafischen Benutzeroberfläche im Systemischen Design offerieren Handlungs- bzw. Nutzungsräume, deren systematische Gestaltung den Prinzipien der visuellen Wahrnehmung und der visuellen Kommunikation unterliegt. Im Unterschied zum Zuschauer im Theater, der das Geschehen auf der Bühne in der Regel lediglich rezipiert, avanciert der Nutzer im interaktiven Szenario zum Protagonisten, der im Nutzungsraum des Internets zielgerichtete Handlungen ausübt. Ursprünglich als Bühnenbild verortet, erfährt das szenografische Gestalten gegenwärtig einen Raumdiskurs, da dafür unterschiedliche Definitions- und Beschreibungsstränge existieren, die alle einem gemeinsamen Genre verhaftet sind. Gestaltete ein Szenograf in der Vergangenheit ausschließlich die Bühnenbilder für Theater oder Oper, gehören nun auch die Schauplätze in Film- und Fernsehen sowie die integrative Inszenierung der interaktiven Mediennutzung zu seinen Aufgaben. Szenografie ist Prozess und Ergebnis zugleich, hat seinen Ursprung in den Arenen antiker Theater und wurde anfangs als Begriff für den bemalten Bühnenhintergrund verwendet. In Reflexion auf eine erweiterte und breitgefächerte Anwendungspraxis wird die szenografische Gestaltung aktuell divergent diskutiert und unterliegt einer neuen Bewertung. Außer am Theater und in zeitbasierten Medien findet Szenografie bei allen Inszenierungen in öffentlichen Räumen und im Internet statt. Neben einer gestalterischen Konzeption und der konstruktiven Realisierung von realen und imaginären Spiel- und Handlungsräumen befasst sich Szenografie als transdisziplinärer Gestaltungsprozess auch mit dem medientheoretischen Diskurs über Theatralität, Intermedialität und Performativität sowie deren Verortung als einen medialen Raum. Szenografie stellt die intermediale Schnittstelle von Kunst, Design und Wissenschaft dar, manifestiert sich am Theater, in Museen, Ausstellungen oder in Form von bewegten Bildern sowie im Internet und überall dort, wo Räume und raumbildende Prozesse unter Einbeziehung ihrer Rezipienten und Nutzer integrativ inszeniert werden. Der Philosoph Bernhard Wadenfels definiert Szenografie in „Sinnesschwellen – Studien zur Phänomenologie des Fremden“ als „temporär realisierte, künstlerische Raumentwürfe, die sich von dauerhaften und eher dem ­Nicht-Künstlerischen zugerechneten Raumgattungen, wie Architektur, Stadtplanung, und Design, in Gebrauch

Teil 2. Szenotopie als Handlungsraum

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und Rezeption ästhetisch abheben; in der Weise, wie sie für besondere Ereignisse, als Ausstellungen oder für Theatervorstellungen und Performances, gestaltet werden, werden Szenografien, im Rahmen dieser Ereignisse, zu Objekten eines anderen Erscheinens.“1

Die Theaterwissenschaftlerin Birgit Wiens bewertet Szenografien als „Raumgestaltungen, die mithilfe dafür geeigneten Materialien, Objekten und anderen technischen Einrichtungen realisiert werden, um anlässlich von Aufführungen, von Akteuren und Zuschauern bespielt und wahrgenommen zu werden.“2 Szenografieren entspricht keiner freien künstlerischen Äußerung, sondern dient einem bestimmten Zweck und ist am Theater oder beim Inszenieren von anderen Medien mit mehreren Berufsfeldern transdiszilinär verbunden. Szenografie steht in engem Bezug zur visuellen Gestaltung und Wahrnehmung und versteht sich nicht explizit als eine angewandte Kunst, sondern auch als ein ästhetischer Diskurs über Raumdenken und Raumwahrnehmen innerhalb von unterschiedlichen Kulturen in Bezug auf die Gestaltung von raumbildenden Medien und die Art ihres Erscheinens und Gebrauchs. Szenografieren beinhaltet das Ineinanderwirken von realen und imaginären Bildräumen mit den Inszenierungsstrategien der kommunikativen, informativen und den interaktiv nutzbaren Medien sowie deren Raumbildungstheorien bei der integrativen Inszenierung von szenischen Räumen. Eine Inszenierung stellt das Ergebnis eines produktiven Prozesses dar, während das Inszenieren dem Prozess entspricht, bei dem etwas in Szene gesetzt und besondere Bedeutung verliehen wird, die es öffentlichkeitstauglich und medienwirsam macht. Die deutsche Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte stellt in ihre Schrift „Semiotik des Theaters: Das System der theatralischen Zeichen“3 heraus, dass jeder Inszenierungsvorgang mit Theatralität verbunden ist. Unter theaterwissenschaftlichem Aspekt wird die Inszenierung als eigenständige Kunstform verstanden, bei der Zeichen, Symbole und Handlungsabläufe miteinander verschmelzen und neue Ausdrucksformen hervorbringen. Bei diesem Vorgang werden dramatische Vorgänge als Handlungen sichtbar, die auf dem Kompositionsprinzip des dramaturgischen Spannungsbogens basieren. Eine Inszenierung verläuft als Inszenierungsidee und Inszenierungskonzept auf Basis einer dramaturgisch fundierten Inszenierungsstrategie. Inszeniert wird an Theater und Oper, in Film und Fernsehen, für interaktiv nutzbare Medien einschließlich interaktiver Szenarien bei der Internetnutzung und performativen Raumbildung. Bei einer Theaterinszenierung werden das literarische und ästhetische Potenzial dramatischer Vorlagen zusammen mit den Intensionen der Produzenten auf die Materialität des Theaters transferiert, welche die Bühnengestaltung und die Körperlichkeit der Darsteller, einschließlich der Szenenfolge als eine dramaturgisch inszenierte Handlung

1Wadenfels

(1998). (2016). 3vgl.: Fischer-Lichte (1983). 2Wiens

10

2  Szenotopie als Handlungsraum

in sich vereint. Szenografisches Inszenieren umfasst eine konzeptionelle, experimentelle und kompositorische Ebene und wird als eine Aufführung verortet. Wurde die Inszenierung in der Vergangenheit ausschließlich als ein Begriff zur Veranschaulichung von dramaturgisch arrangierten Abläufen und Handlungen verwandt, so versteht sich Inszenieren im zeitgemäßen Diskurs auch als Erzeugungsstrategie, mit der ein Kunstwerk konzipiert, gestaltet und hervorgebracht wird. Die deutsche Medienkünstlerin Ruth Prangen bezeichnet in „Szenosphäre und Szenotopie“4 das immaterielle Beziehungsgeflecht zwischen Künstler, Kunstwerk und dessen Rezipient als Szenosphäre und alles als ein Raum Installierte und vom Rezipienten Wahrgenommene als Szenotopie. Beide Aspekte des szenografischen Gestaltens sind für den Inszenierungserfolg von essenzieller Bedeutung. Ein hoher Stellenwert ist im Kontext szenografischer Gestaltung und Zuschauerpartizipation dem integrativen Inszenieren beizumessen. Beim systematischen Gestalten interaktiv nutzbarer Anwendungen sind in Bezug auf integratives Inszenieren zwei Dinge von Relevanz. Zum einen der immersive Bildraum grafischer Benutzeroberflächen als Zugang zum mentalen Nutzungsraum des Internets und zum anderen die raumbildenden Prozesse bei der interaktiven Nutzung des Internets. Beim integrativen Inszenieren unterliegt der Raum, in dem Handlungen stattfinden oder dem eine interaktive Nutzung wiederfährt, einem permanenten Wandel, da er sich als szenischer Raum immer wieder neu konfiguriert und im Wahrnehmungsprozess, den Marcel Duchamp als „ästhetische Osmose“ bezeichnet, geprägt von Partizipation, Interaktion und Kommunikation, zum mentalen Erlebnisraumraum konstituiert. Integratives Inszenieren zielt weniger auf das einseitige Rezipieren dramatischer Vorgänge, sondern setzt vielmehr auf den wechselseitigen Dialog zwischen Raum und Nutzer und bewirkt unter der Anwendung von dramaturgischen Mitteln die Integration des Nutzers in den Prozess der immersiven Raumbildung sowie dessen Teilhabe an der Neukonfiguration und Interpretation des szenischen Raumes. Gegenwärtig erlangt das integrative Inszenieren eine inflationäre Bedeutung und findet nicht nur in der darstellenden Kunst Anwendung, sondern hat darüber hinaus auch eine soziale Funktion. Integrativ inszeniert wird in Politik, Kultur und Medien insbesondere immer dann, wenn Meinungsbildung gefragt ist und Aufmerksamkeit erregt werden soll. Der Philosoph Martin Seel5 definiert integratives Inszenieren als „auffälliges Herstellen und Herausstellen einer Gegenwart von etwas, das unmittelbar hier und jetzt geschieht“ und stellt darüber hinaus fest, dass eine Inszenierung nicht nur Präsenz produziert, sondern auch selbst Präsenz präsentiert und zuvor eingeleitete oder ausgeführte Prozesse sinnlich erfassbar darstellt. Integratives Inszenieren beinhaltet die Einbeziehung des Rezipienten und impliziert komplexe Ereignisfolgen, um mental einen erweiterten szenischen Raum zu konstituieren, den die Zuschauer und die Darsteller gemeinsam erleben. Dabei treten vielschichtige raumbildende Prozesse in Erscheinung,

4vgl.: 5vgl.:

Prangen (2016). Seel (2000).

Teil 2. Szenotopie als Handlungsraum

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die dem Handlungsgeschehen eine zusätzliche Rahmung verleihen, welche die Handlung aufwertet und ihr eine neue Bedeutung verleiht. Der Kulturwissenschaftler Paul Diviak untersucht den Vorgang des integrativen Inszenierens in „Integrative Inszenierungen – zur Szenografie von partizipativen Räumen“ und bewertet ihn als „szenografische Intervention im erweiterten szenischen Raum, welche die Umsetzung von Reflexion und Inversion durch den gezielten Einsatz dramaturgischer Mittel ermöglicht.“6 Erika Fischer-Lichte bezeichnet den Raum, in dem oder an dem es zur Aufführung kommt, als einen gemeinsamen Erlebnisraum, der das Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern optimiert, deren Bewegungen organisiert und Wahrnehmungsprozesse strukturiert. Dasselbe trifft auch auf den mentalen Nutzungsraum des Internets zu, der nur aufgrund der interaktiven Handlungen seiner Nutzer existiert, da ein performativ geformter Raum immer an eine Person gebunden ist, die dort eine Handlung ausübt. Integratives Inszenieren vollzieht sich transdisziplinär und zielt auf unmittelbare Ereignisse, die auf Partizipation und Interaktion im physischen und im symbolischen Raum beruhen. Nach Paul Diviak bewirkt integratives Inszenieren hybride Aktionsund Handlungsräume, die ihren Nutzern die Integration ermöglichen und selbstreflektierende Prozesse einleiten. Als eine transdisziplinäre Inszenierungsstrategie ist integratives Inszenieren an den Rezipienten adressiert und macht ihn zum Akteur des performativen und partizipatorischen Geschehens. Integratives Inszenieren ermöglicht unter Anwendung des kybernetischen Szenografierens die Steuerung von Wahrnehmung als performativen Akt, der neue Erfahrungswerte impliziert. Die Medienwissenschaftlerin Sandra Schramke erläutert in „Kybernetische Szenografie – Charles und Ray Eames Ausstellungsarchitektur 1959–1965“7 den Prozess des kybernetischen Szenografierens ausführlich am Beispiel des amerikanischen Architektenehepaares Charles und Ray Eames die mit ihren Ausstellungsarchitekturen bereits Anfang der 1960er Jahre den Grundstein für ein neues Szenografieverständnis legten, indem sie sich explizit der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse der Kybernetik bedienten, um den Wahrnehmungsprozess der Ausstellungsbesucher zu steuern. Kybernetik als physikalischer Informationsbegriff hat ihren technologischen Ursprung in der Erfindung des ersten gezielt steuerbaren automatischen Datenverarbeitungssystems Z3 durch den Ingenieur Konrad Zuse im Jahre 1941 und basiert auf der Gleichbehandlung von physiologischen, psychischen und mechanischen Abläufen. Den Begriff der Kybernetik prägte der amerikanische Mathematiker und Philosoph Norbert Wiener im Jahre 1948 in seiner Schrift „Kybernetik – Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und der Maschine“8 als eine Wissenschaft zur Steuerung von Maschinen analog den Handlungsweisen lebender Organismen.

6Diviak

(2012). Schramke (2010). 8vgl.: Wiener (1948). 7vgl.:

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2  Szenotopie als Handlungsraum

Diese Methode gezielter Kalkulierbarkeit auf Basis digitaler Kodierungsformen ist auf die Ingenieurs- und die Humanwissenschaften übertragbar. In den kybernetisch konzipierten und arrangierten Ausstellungsarchitekturen von Charles und Ray Eames wurde die Wahrnehmung der Ausstellungsbesucher so gesteuert, dass ihnen die dargebotenen Informationen zielgenau vermittelt werden konnten. Um das zu gewährleisten, wurden die Ausstellungsarchitektur, deren Besucher und ihre Bewegungsabläufe innerhalb der Ausstellungsräume zueinander in ein mathematisch berechenbares Verhältnis gesetzt. Charles Eames arbeitete mit seiner Ehefrau in unterschiedlichen Bereichen der Architektur und Ausstellungsgestaltung und setzte dort innovative Multimedia-Präsentationen ein. Beim kybernetischen Szenografieren ist die visuelle ­ Wahrnehmung im Raum zielgenau kalkulierbar und zielgerecht planbar. In den Ausstellungsarchitekturen von Charles und Ray Eames wurde das Rezeptionsverhaltens mit einer Präsentationsmethode gelenkt, die nach aktuellen wahrnehmungspsychologischen und kognitionswissenschaftlichen Erkenntnissen zur gezielten Informationsvermittlung beiträgt. So war es möglich, den Rezipienten in Orientierung auf deren Wahrnehmungspsychologie und den daraus resultierenden Denk- und Verhaltensweisen durch die Anwendung spezieller bildgebender Verfahren zielgerichtet Wissen zu vermitteln. Was bereits den Prinzipien und Zielen der heute üblichen, elektronisch gesteuerten, intelligenten Lernumgebungen entsprach. Da Rezipienten die ihnen als äußere Reize vermittelten Informationen zu Bildern verarbeiten, ist visuelles Wahrnehmen explizit an das Sehen und Erkennen figurativer Gestalten gebunden. Die Gestaltpsychologie systematisiert als Zweig der ihr übergeordneten Gestalttheorie die figurale Erkennung als essenziellen Bestandteil der visuellen Wahrnehmung. Sie differenziert zwischen der Figur als Form und deren Hintergrund als Restform und bildet die Grundlage der visuellen Gestaltgesetze zur Prägnanz, Nähe und Ähnlichkeit visueller Elemente in Bezug auf deren Form, Farbe und Größe als essenzielle Faktoren des visuellen Gestaltens. Diese Gestaltgesetze berufen sich auf die angeborenen Muster bei der Gestalterkennung und zielen auf die sogenannte „Gute Gestalt“, die neben den bereits benannten Aspekten der visuellen Wahrnehmung, auf Ordnungsstrukturen, wie Geschlossenheit, Symmetrie und Einfachheit basiert, da im visuellen Wahrnehmungsprozess stets ein Drang nach einer visueller Ordnung deutlich wird, der auf dem natürlichen Streben nach Harmonie und Ausgewogenheit beruht. Visuelle Darstellungen und Objekte werden beim Wahrnehmungsprozess vereinfacht und zu einer prägnanten und bekannten Gestalt geformt. Nach den Prämissen dieser Gestalttheorie erreicht eine visuelle Gestaltung erst durch einen hohen Ordnungsgrad visueller Elemente in niedriger Komplexität ihre ästhetische Aussage und wird erst dann als solche wahrgenommen. Zu den Hauptvertretern der Gestalttheorie zählen die Gestaltpsychologen der Berliner Schule Max Wertheimer, Kurt Koffka und Wolfgang Köhler, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts intensiv mit den Phänomenen der visuellen Wahrnehmung auseinandersetzten und visuelle Gestaltungen nach den folgenden Gestaltqualitäten unterschieden:

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Abb. 1   Anordnungsprinzip der Projektionsflächen in den Ausstellungsarchitekturen von Charles und Ray Eames

• Struktur: bezüglich Komposition • Beschaffenheit: bezüglich Oberfläche und Material • Art: bezüglich Charakter, Habitus und Gefühlswert Die Architektin Sandra Schramke verweist in ihrer Dissertation „Kybernetische Szenografie – Charles und Ray Eames Ausstellungsarchitektur 1959–1965“9 auf Gestaltungsmittel, die aus informationstheoretischer Sicht für die Aufteilung der Informationsträger in kleinere diskrete Einheiten und deren Neukombination prädestiniert sind. In den kybernetischen Szenografien der Eames wurden einzelne Bildelemente nach den Regeln der Gestalttheorie immer wieder neu und in anderen Konstellationen zu sogenannten Superbildern zusammengefügt, die neue Inhaltsbezüge implizierten. In Kenntnis der wahrnehmungspsychologischen Aspekte setzten die Eheleute Charles und Ray Eames bei ihren Bildprojektionen auch unterschiedlich große Bildformate ein, deren Anordnung im Raum nach den Gesetzen der guten Gestalt erfolgte. Sie entwickelten neue Methoden für eine Aufmerksamkeitsbindung, berechneten den optimalen Beobachtungsstandpunkt zur gezielten Informationsvermittlung und entwarfen auch die dafür geeigneten Bildobjekte. Analog der Physiologie der Rezipienten und in Bezug auf die lokale Raumtopologie schufen die Eames spezielle Bildformate und Projektionsflächen entsprechend den dargebotenen Informationsinhalten. Sie erkannten auch, dass sich die Informationen unter Anwendung kybernetischer Lehrsätze so aufbereiten lassen, dass sie die Aufmerksamkeit der Rezipienten binden. Ihre dafür zielgerecht eingesetzten Simultanprojektionen vermittelten Informationen nicht linear, sondern veranlassten die Betrachter dazu, assoziative Bezüge zu den projizierten Motiven herzustellen. Die Eames erkannten die Statik und die Dynamik als berechenbare Größen zur gezielten Informationsvermittlung und verwendeten dafür in ihren Ausstellungen projizierte Bildemotive und Bildsequenzen als Informationsträger. (siehe Abb. 1). 9vgl.:

Schramke (2010).

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2  Szenotopie als Handlungsraum

Abb. 2   Zur Präsentation großer Informationsmengen wurden einzelne Bildmotive als Gruppe zusammengefasst

Sandra Schramke beschreibt in ihrer Dissertation über die kybernetischen Szenografien von Charles und Ray Eames, wie diese auf dem Fundament der Natur- und Geisteswissenschaften und bei Anwendung digitaler Zeichenfindung eine neue Kulturtechnik zur Verräumlichung von Kommunikationsformen entwickelten (Abb. 2). Die Eames schufen in ihren Ausstellungsarchitekturen einen Wahrnehmungsraum, worin sieben Bildprojektionen in Form eines Panoramas halbkreisförmig im gleichen Abstand zu den Besuchern angeordnet waren. Sandra Schramke verweist darauf, dass diese Anzahl nicht zufällig gewählt war, sondern unmittelbar im Zusammenhang mit der Kognitionspsychologie des amerikanischen Psychologen George Miller10 steht, der die Theorie aufstellte, nach der ein Mensch dazu fähig ist, maximal sieben Phänomene gleichzeitig wahrzunehmen. Falls die Informationsmenge sieben verschiedene Bildmotive übersteigt, können sie unter Einhaltung von sieben Informationsträgern auch zu mehren Gruppen zusammengefasst werden. Sandra Schramke: „Ihre Simultanbildpräsentationen stellten Charles und Ray Eames in Analogie zu den Darstellungsformen der Informationsästhetik dar. Ganz im Sinne Norbert Wieners Hauptsatz von Berechenbarkeit als Ergebnis der Schreibbarkeit durch eine Maschine präsentierten die Eames ihre Bildprojektionen als Summe von Einzelbildern nach dem Gesetz der Binärkodierung. Dazu definierten sie die drei Informationscodes: Sprache, Bilder, Zahlen und Symbole. Diese brachten sie als syntaktische und semantische Bedeutungsformen in Binärkodierung als ein- und ausgeschaltete Lichtbildprojektionen auf die Leinwände. Das Wissen um Steuerungsvorgänge auf der Grundlage diskreter Daten bezogen Charles und Ray Eames aus der Informationstheorie. Sie formalisierten Daten in Leinwand- und Lichtbildform als Figuren, Farben, Formen und Größen.“ 11

Um optimale Betrachtungsperspektiven zu gewährleisten, wurden den Ausstellungsbesuchern vorbestimmte Positionen zugewiesen. Die Eames verzichteten auf jegliche 10vgl.:

Miller (1956). (2010), S. 86.

11Schramke

Teil 2. Szenotopie als Handlungsraum

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Raumhierarchien und schufen somit einen Wahrnehmungsraum, ohne sichtbare Grenzen oder Richtungen, in dem sich alle Raumidentifikationen zugunsten ungehinderter Wahrnehmungsfolgen auflösten. Sandra Schramke verweist darauf, dass Charles und Ray Eames die Betrachter nur durch den Einsatz spezieller Präsentationsverfahren in eine Vorführsituation mit einkalkulieren konnten und dass nicht nur die Bildpräsentationen deren Wahrnehmungsfolge beeinflussten, sondern dass diese zusammen mit der lokalen Raumtopologie die beabsichtigte Szenotopie formten. Mit ihren auf kybernetischer Basis konzipierten Szenografien motivierten Charles und Ray Eames die Ausstellungsbesucher zur mentalen Raumerfahrung und nahmen damit zukünftige Entwicklungen in der Computertechnologie, wie das Interface, vorweg. Durch eine sphärische Raumkonstruktion suggerierten sie ihnen einen unendlichen Informationsraum und gewährten optimale Positionierungen bei der Rezeption, welche ein spezielles Raumgefühl vermittelten, das mit Szenosphäre gleichzusetzen ist. Der mentale Nutzungsraum des Internets ist ebenfalls als sphärisch zu bewerten, da er in allen Richtungen optimale Bewegungsfreiheit garantiert. Das ideale Interface entspräche demnach einer Kugel. Kybernetisches Szenografieren ist auch zur interaktiven Informationsvermittlung im Internet prädestiniert. Dort sind auf Grundlage von Gestalttheorie und Gestaltpsychologie in Bezug auf kontextbezogene Zeichenerkennung vorbestimmte Nutzungspfade programmierbar sind, die ihren Nutzern Handlungsfreiheit und einen mehrdimensionalen Informationsfluss gewähren. Das gesteuerte Rezeptionsverhalten ist für die performative Raumbildung im Internet relevant, die als Handlung im Zusammenspiel von Reflexion und Intension an einem konkreten Ort erfolgt. Der griechische Philosoph Aristoteles definiert das menschliche Handeln als eine Suche nach dem Glück und betrachtet die Ruhe als den anzustrebenden Normalzustand. Dagegen ist für den englischen Naturforscher Isaac Newton Bewegung im Sinne von Veränderung die Regel. Newton bewertet einen Raum ohne störende Materie als absoluten Raum. Der Dualismus von Materie und Raum wird erst mit den relativistischen Raumtheorien überwunden, denn Raum entsteht explizit durch die Beziehungen zwischen den Raumfaktoren, die den Charakter des Raumes formen und ihn zu dem machen, was er ist und als was er wahrgenommen wird. Für Newtons Zeitgenosse, den deutschen Philosophen und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz, wird ein Raum erst durch die Relation konkreter Orte definiert, die den Dingen entsprechen, die sich momentan im Raum befinden. Mit dieser „Relation von Gegenständen“ prägt Leibniz ein mathematisches Raumverständnis, das der deutsche Mathematiker Johann B. Listing 1847 als Topologie bezeichnet, die auf dem altgriechischen Wortstamm topos (Ort) basiert und zur Lagebestimmung der Objekte dient, die den Raum markieren und Nutzern ein immersives Raumgefühl vermitteln, das auch der interaktiven Internetnutzung immanent ist. Während sich Geometrie als Gestaltlehre mit den metrischen Größen von Fläche und Raum auseinandersetzt, definiert Topologie das Beziehungsgeflecht zwischen den

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2  Szenotopie als Handlungsraum

Orten und macht den Raum berechenbar. Erfährt ein Raum topologische Deutung, wird er metrisch erfasst und bekommt dadurch eine Struktur, die messbar ist und sich über spezielle Parameter wie Nähe, Ferne oder Konvergenz definiert. Im Gegensatz zur Geometrie, welche arithmetische Größen, wie Strecken oder Winkel untersucht, bezieht sich Topologie als mathematische Kategorie auf räumliche Verhältnisse, die auf den Beziehungen von Objekten und deren Positionen im Raum basieren. Der topologische Raum definiert sich über Beziehungen zwischen Orten und wird, entsprechend dem räumlichen Vorstellungsvermögen, als eine strukturtragende Menge aufgefasst. Soll ein Ort definiert und als solcher visualisiert werden, bedarf er der Topografie als einer kartografischen Orts- oder Lagebeschreibung, die als visuelles Orientierungssystem auch bei der Navigation im Internet eine wichtige Rolle spielt. Versteht man „graphieren“ (griech. graphein: schreiben) auch als beschreiben, beschreibt Topografie örtliche Strukturen, die eine Räumlichkeit darstellen und Szenografie einen Ort oder Raum als Szene. Unter Szenotopie ist demnach eine szenografisch inszenierte, topologische Räumlichkeit zu verstehen, also das, was der Szenograf im Raum installiert und der Rezipient dort wahrnimmt. Szenotopie vereint Szenografie und Topologie und untersucht die Raumstruktur, die der Szenografie zugrunde liegt, gleichzeitig aber auch die Raumvorstellung, auf der diese beruht. Szenografie bewertet einen szenischen Raum in Bezug auf seine Zuschauerpartizipation, als mentalen Erlebnis- und Erfahrungsraum und als Beziehungsgeflecht zwischen allen im Raum vorhandenen und dort handelnden Personen und den architektonischen Gestaltungselementen, das dem Raum die Atmosphäre verleiht, die mit Ambiente gleichzusetzen ist. Die Medienwissenschaftlerin und Künstlerin Ruth Prangen definiert solche raumbildenden Faktoren als strukturbildende Menge und bewertet Szenografie als eine Raumsprache und als einen Wissensraum, dessen organisierende Grundstruktur die räumlichen Ortsbeziehungen definiert und für den Nutzer erkennbar macht. Für Ruth Prangen ist Szenografie nicht nur als wirklicher Raum und wirksamer Ort lesbar, sondern entspricht auch einem Diagramm oder Graphen im Sinne eines Geflechts oder Netzwerks, das sowohl bestimmte Orte markiert, als auch für ein Verfahren steht, das eine Räumlichkeit generiert. Auch bei der interaktiven Nutzung des Internets wird Raum „nicht als gegebene Entität oder Dimension gedacht, sondern als Bewegung (in der Zeit) und als eine Relation verstanden – d.h. als eine Räumlichkeit im Sinne einer Topologie, in der es um Interaktion, strukturelle Beziehungen und das Zusammenspiel von Elementen geht. Diese Räumlichkeit, die hervorgebracht wird und wiederum weitere Räumlichkeiten hervorbringen kann, ereignet sich durch Wahrnehmen, Handeln und Bewegung. Der Rezipient ist kein passiver Zuschauer, sondern ein aktiver Besucher der Szenografie. Dabei entsteht ein komplexes dynamisches System, das die Kommunikation ermöglicht, Beziehungsfelder erschließt und zeitigt und in dem mediale Bildräume und Raumbilder ineinanderwirken.“12

12Prangen

(2016), S. 13s.

Teil 2. Szenotopie als Handlungsraum

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Ruth Prangen definiert Szenotopie als eine szenografisch inszenierte Räumlichkeit und als ein Relationenensemble mit speziellen topologischen und raumzeitlichen Merkmalen sowie als Raumaneignung, der ein relationales und topologisches Raumverständnis zugrunde liegt. Die Raumphilosophie des deutschen Philosophen und Aufklärers Immanuel Kant deutet bereits im 18. Jahrhundert den Raum als Spektrum aus unterschiedlichen Ordnungsrichtungen, da jede Räumlichkeit auf einem Ordnungsverhältnis beruht. Räumliche Verhältnisse lassen sich nur durch aktives Handeln erschließen. Jede Art der Raumnutzung basiert auf Handlungen, die sich planen lassen. Das gilt auch für das Internet, dessen interaktive Nutzung performative Raumbildung impliziert, die den Nutzer motiviert und im mentalen Nutzungsraum orientiert. Der Sozialphilosoph Johannes Heinrichs definiert Handeln im Sinne von Veränderung der Wirklichkeit als einen natürlichen Drang des Menschen und unterscheidet Handlungsfelder, denen er die folgenden Handlungsarten zuordnet:13 • • • •

Objektbezogenes Handeln als objektveränderndes Handeln Innersubjektives Handeln als körperbezogenes Handeln Soziales Handeln als kommunikatives Handeln Ausdruckshandeln in Form von Mimik und Gestik

In seinem Buch „Integrative Inszenierungen“ definiert Paul Divjak Handlungen als kausalen Zusammenhang von Ursache und Wirkung, der erst bei Interaktion mit den Raumfaktoren eine konkrete Form annimmt. Zu diesen Faktoren zählen alle geometrischen Größen, die das Raumvolumen kennzeichnen und die Dinge, einschließlich der Nutzer, die sich derzeit im Raum befinden. In ihrer Gesamtheit bestimmen sie die Raumatmosphäre und erzeugen beim Nutzer ein Raumgefühl, das dem Raum eine spezielle Identität verleiht. Wie bei der systematischen Gestaltung von visuellen und interaktiv nutzbaren Medien, ist auch bei der atmosphärischen Raumbestimmung das Ganze stets mehr als die Summe seiner Teile. Integratives Inszenieren impliziert bei der interaktiven Nutzung eines Raumes einen Prozess, der dem Raum einen Neuwert verleiht, da in allen Phasen der Raumnutzung auch die individuellen Verhaltensweisen des Nutzers zur Raumbildung beitragen. Gleichsam erfahren alle Objekte im Raum einen Mehrwert, da auch sie das Raumgefühl des Nutzers beeinflussen, welches darüber entscheidet, wie er sich den Raum anzueignen und zu nutzen vermag. Dabei entsteht eine spezielle Raumatmosphäre, die im Raum präsent und wahrnehmungsimmanent ist und beim Nutzer eine Stimmung auslöst. Für den deutschen Philosophen Gernot Böhme lässt sich die Raumatmosphäre als Träger von Stimmungen nur mittels Erfahrung ergründen. Im Kontext interaktiver Raumnutzung definiert Böhme in „Synästhesien im Rahmen einer Phänomenologie

13vgl.:

Heinrichs 2014

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2  Szenotopie als Handlungsraum

der Wahrnehmung“14 Determinanten, die er als Charaktere eines Raumes bezeichnet, die den Raum prägen und die Raumatmosphäre maßgebend mitbestimmen. Dazu gehören der gesellschaftliche Status eines Raumes, der den Raum als öffentlich, privat oder repräsentativ einstuft und sinnlich erfassbare Raumparameter als Ausdruck der Beziehungen im Raum, die als Ingressionserfahrung der performativen Raumbildung immanent sind. Gernot Böhme: „Es seien einige alltägliche und nachvollziehbare Ingressionserfahrungen genannt, um daran zu erinnern, dass es Wahrnehmungen gibt, in denen man zunächst nur einen atmosphärischen Totaleindruck gewinnt, um erst von daher allmählich Einzelheiten zu entdecken: Dinge, Farben, Formen, Geräusche, Beziehungen aller Art. Es geht also um solche Wahrnehmungssituationen, in denen man möglichst übergangslos mit einer neuen Totale konfrontiert wird. Wir sind solche Situationen durch künstliche Wahrnehmungs-Settings, nämlich den Szenenwechsel im Theater bzw. durch Schnitte ­ im Film gewöhnt. Dabei ist allerdings der Film als Beispiel nicht so geeignet, weil er den Zuschauer in der Regel mit Bildern eben derselben Schärfe und Detailgenauigkeit konfrontiert wie vorher. Die charakteristische Unbestimmtheit und vorübergehende Orientierungslosigkeit, die für die ingressive Erfahrung von Atmosphären charakteristisch ist, könnte natürlich auch im Film nachgeahmt werden. Beim Szenenwechsel auf dem Theater geschieht das in der Regel durch das allmähliche Zuschalten der Lichtes.“

Böhme verweist darauf, dass es durchaus sinnvoll ist, solche speziellen Charaktere auch für die Raumgestaltung in der Werbung und im Design anzuwenden, da sie den Betrachter zum Hinsehen und den Nutzer zur Raumnutzung motivieren und ihn darauf einstimmen, was er von einem Raum zu erwarten hat. Böhme betont, dass Atmosphären nichts Transzendentes und Überhistorisches sind, oder etwas, das speziell dem Bereich der Natur angehört, weshalb derjenige, welcher mit Bühnenbildern zu tun hat, sich dessen sehr bewusst sein sollte, da er stets darum bemüht ist, Räume zu gestalten, die eine bestimmte Atmosphäre ausstrahlen. Im Kontext interaktiver Raumnutzung unterscheidet Böhme fünf Gruppen atmosphärischer Raumcharaktere: • Gesellschaftliche Charaktere • Synästhesien • Stimmungen • Kommunikative Charaktere • Bewegungsanmutungen Die Raumatmosphäre ist mit Ambiente gleichzusetzen, das einen Raum charakterisiert, seine Wahrnehmbarkeit prägt und seine Interpretation bestimmt. Das Ambiente eines Raumes wird, neben dem visuellen Raumeindruck, auch von allen lokalen

14vgl.:

Böhme, G.:https://cloud-cuckoo.net/fileadmin/hefte_de/heft_31/artikel_boehme.pdf.

Die architektonischen Bauformen des Theaters

19

physikalischen Gegebenheiten des Raumes bestimmt, die bei der Raumnutzung auf den Nutzer übertragen werden. Der französische Soziologe Michel De Certeau stellt in seiner Raumtheorie fest, der Raum sei nicht nur ein Ort, mit dem man etwas macht, sondern auch ein Ort, der etwas mit uns macht, denn er wirkt auf uns ein und eröffnet uns dadurch neue Handlungsmöglichkeiten. Michel Certeau: „Ein Ort ist eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität. Ein Raum hingegen entsteht dann, wenn man dessen Richtungsvektoren, die Geschwindigkeitsgrößen und die Verhältnisse der Zeit in Verbindung bringt.“15 Für Certeau erschließt sich ein Raum erst durch einen Prozess als Raumerkundung. Integrative Inszenierungsstrategien beziehen sich auf das Nutzerverhalten und orientieren sich daran, dass die interaktive Nutzung Realitätskonstruktionen impliziert, die einem Nutzer bei der Rauminterpretation Freiräume lassen und ihm alternative Verhaltensweisen offerieren. Eine integrative Inszenierung im Theater fußt darauf, dass nicht nur der gesprochene Text und die Darsteller das Theatererlebnis der Zuschauer bestimmen, sondern, dass sich unmittelbar in deren Köpfen ein Erlebnisraum konstituiert, der alle momentanen Eindrücke und Emotionen vereint. Der Wahrnehmungsprozess erzeugt somit einen Kunstraum und lässt diesen den Zuschauer auch bewusst erleben. Auch im Epischen Theater von Bertolt Brecht erleben die Zuschauer die Welt auf der Bühne nicht so wie sie ist, sondern so wie sie sein sollte. Mit den Mitteln der Verfremdung, die dem Vorgang das Selbstverständliche und das bereits Bekannte nehmen, wird dort gezielt eine Distanz zum Bühnengeschehen erzeugt und in den Köpfen der Zuschauer ein Kunstraum generiert, der sich ganz bewusst von ihrer bereits erfahrenen Welt abgrenzt, der sie emotional berührt, positioniert und ihnen Entscheidungen abverlangt. Der französische Philosoph Merleau-Ponty differenziert zwischen dem realen geometrischen Raum und einem anthropologischen erfahrbaren Raum, der im Wahrnehmungsumfeld des Rezipienten entsteht und als erlebter Raum eine Form annimmt.16 Während der Zuschauer im Theater die bei der Wahrnehmung entstandenen Raumeindrücke zum mentalen Kunstraum formt, erzeugt er mit seiner interaktiven Nutzung des Internets einen performativen Raum.

Die architektonischen Bauformen des Theaters Die ersten theatralischen Aufführungen fanden in den Arenen der griechischen Antike statt, gefolgt von denen der römischen Antike. Deren aus Stein gemauerte und als Amphitheater bezeichnete offene Architektur bestand aus halbkreisförmig ansteigenden Sitzreihen, die um die Bühne herum angeordnet waren. Der Ort um die Vorstellung

15De

Certeau (1988). Merleau-Ponty (1966).

16vgl.:

20

2  Szenotopie als Handlungsraum

herum (griechisch: amphi) mit gemauerten Rängen für die Zuschauer (griechisch: theatron) entsprach einem einseitig geöffneten Rundtheater, in dessen Mitte sich die Bühne befand. Im antiken Griechenland diente das als Forum für öffentliche Veranstaltungen und Vorführungen, später im Römischen Reich auch als Veranstaltungsort für sportliche Wettkämpfe und Gladiatorenspiele. Ähnliche Architekturen sind heute noch als Sportstadien und als Zirkus oder Freilichttheater zu finden. Dank gleichmäßig ansteigender Sitzreihen hatten alle Zuschauer in den antiken Arenen eine optimale Sicht auf das Bühnengeschehen, entsprechend dem demokratischen Prinzip der Gleichberechtigung und Gleichheit. Die Architektur antiker Theaterbauten gliederte sich in die mittig angeordnete Spielfläche für den Chor (griechisch: Orchestra), deren hinteren Teil (griechisch: Skene), mit einer dekorativen Haus- oder Tempelfront und in die Arena mit den halbkreis- oder kreisförmig ansteigenden Sitzreihen. Im Mittelalter existierten keine gebauten Bühnen, da die religiösen Spiele und Prozessionen nicht auf feste Spielstätten angewiesen waren. Erst als den Städten die Trägerschaft für die Theatervorführungen oblag, wurden auf Marktplätzen und an anderen öffentlichen Orten auch feste Bühnen bespielt, die einem größeren Publikum zugänglich waren. Im Zeitalter der Renaissance fanden die Theatervorstellungen ausschließlich in den Festsälen der fürstlichen Residenzen statt, später während der Barockzeit, auch in den höfischen Theatern der großen Adelshäuser, wo Theaterspielen als gesellschaftliches Privileg galt, repräsentativen Zwecken diente und nur ausgewählten Besuchern vorbehalten war. Erst viel später erfuhr das Theater als Repräsentationsbau eine Aufwertung und weckte das Interesse der Architekten und bildenden Künstler für einen Ort, an dem sie künstlerischen Intensionen nachgehen und Projekte verwirklichen konnten. Bühnenbilder existieren seit dem 14. Jahrhundert, als das Theater als humanistisches Erbe galt. Damals wurde der klassische Bühnenaufbau aus der Antike reaktiviert und die Bühne als Spielort architektonisch gestaltet. Zu diesem Zweck wurde der aus der Antike bekannte Hintergrund als gebaute Hausfassade wiederbelebt und mit Öffnungen versehen, die zu Beginn einer Vorstellung mit Vorhängen verschlossen waren, im deren Verlauf aber den Blick auf andere Schauplätze im Inneren des Gebäudes freigaben. In den massiv gebauten und fest installierten Theatersälen entstanden zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Italien und Frankreich sogenannte Winkelrahmenbühnen mit einer schmalen Spielfläche und einer ansteigenden Dekorationsfläche mit gebauten Versatzstücken vor einem gemalten Hintergrund. Dieses illusionistische, zentralperspektivische Gestaltungsprinzip der Bühnen gilt als Vorläufer der barocken Kulissenbühnen. Es basierte erstmalig auf einem systematisch gestalteten Bühnenbild, das den Bühnenraum des Theaters in Vorder-, Mittel- und Hintergrund unterteilte. Das gebaute Bühnenöffnung (Proszenium) orientierte sich an antiken Vorbildern, ebenso wie die fassadenartige Hausfront an der Bühnenrückseite und die ansteigenden, im Halbkreis angeordneten Sitzreihen für die Zuschauer. Zur Zeit des Barock wurde daraus der in sich abgeschlossene und eingerahmte Bühnenraum mit Vorbühne und Bühnenportal, das von einem Vorhang verschlossen wurde. Die lokale Grenze zum Publikum bildete die Bühnenrampe, auf der

Die architektonischen Bauformen des Theaters

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Lichter aufgestellt wurden, um die Darsteller zu beleuchten. Der hölzerne Bühnenboden war mit Luken und Versenkungen versehen, die den Darstellern spektakuläre Auftritte und Abgänge ermöglichten. Die Bühne wurde als Gassenbühne aus thematisch bemalten Wänden gestaltet, die zusammen mit dem gemalten Hintergrund ein zentralperspektivisches Bühnenbild von großer Bildtiefe ergaben. Der illusionistische Eindruck wurde zusätzlich durch eine aufwendige maschinelle Verwandlungsmechanik verstärkt, die nicht nur dem Kulissenwechsel diente, sondern auch dramaturgische Effekte hervorzaubern konnte. Im 19. Jahrhundert erhielt der Zuschauerraum dann die Hufeisenform. Die ansteigenden Sitzreihen wurden durch das ebenerdige Parkett ersetzt, auf dem vorerst noch Stühle standen. Zusätzlich entstanden noch Balkone als Ränge und in sich abgeschlossene Logen, die dem höher gestellten Publikum vorbehalten waren. Der Zuschauerraum war hierarchisch gegliedert und diente den kunstinteressierten Eliten zur gesellschaftlichen Repräsentation. Der Bühnenraum entsprach einem geschlossenen Kasten, dem die vierte Wand fehlte. Statt unendlicher Tiefe wurde dem Publikum nun die Welt als ein in sich geschossener Raum präsentiert, der sehr detailliert aus plastischen Kulissen gestaltet war, was beim Szenenwechsel aufwendige Umbauten nach sich zog. Mit Erfindung der Drehbühne wurde der Dekorationswechsel unkomplizierter und es waren spektakuläre Verwandlungen möglich, die bis dato als nicht realisierbar galten. Die Bühne wurde aufwendig dekoriert und mit Requisiten gefüllt, da man stets darum bemüht war, sie entweder als gutbürgerliches Haus auszustatten oder dem Publikum überraschende Ausblicke auf illusionistische Landschaften zu gewähren. Die Entwicklung der modernen Theaterarchitektur wurde bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch den Komponisten Richard Wagner und den Architekten Max Lippmann eingeleitet, die das antike Amphitheater mit seinen halbkreisförmigen Arenen aus gestaffelten Sitzreihen wiederbeleben wollten. Richard Wagner realisierte dieses Vorhaben dann später im Jahre 1876 mit dem Theaterarchitekten Otto Brückwald am Bayreuther Festspielhaus. Der Bauhaus-Architekt Walter Gropius und der Theaterregisseur Erwin Piscator entwickelten Anfang der 1920er Jahre einen avantgardistisch anmutenden Theaterraum, dessen Bühne von gegenüberliegenden Zuschauerblöcken umgeben war. Mit ihren variablen Bühnenkonzepten ermöglichten sie auch unterschiedliche ­Darsteller-Zuschauer-Konstellationen und entsprachen damit bereits dem späteren Totaltheater, das die Guckkastenbühne zugunsten eines offenen Bühnenraumes ablösen und die Zuschauer in das Bühnengeschehen integrieren wollte. Da die illusionistische, in sich abgeschlossene Bühnenform damals als überholt galt, verzichtete man auf das Bühnenportal, um den Zuschauerraum zur Bühne hin zu öffnen und das Publikum gezielt in das szenische Konzept einzubeziehen. Nach dem Vorbild antiker Arenabühnen entwickelte Erwin Piscator Konzepte für eine totale „Raumbühne“, bei der es keine absolute Trennung zwischen Bühnen- und Zuschauerraum gab und die, je nach Inszenierung, auch spezielle Raumlösungen ermöglichte. Die Raumbühne war insbesondere für Inszenierungen geeignet, die ein offenes

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2  Szenotopie als Handlungsraum

Abb. 3   Bühnen- und Zuschauerbereich im Theater der Antike

Amphitheater der Antike

Abb. 4   Zuschauer- und Bühnenbereich im Theater des Mittelalters

Mysterienspiel des Mittelalters

Abb. 5   Zuschauer- und Bühnenbereich im Theater der Renaissance

Shakespearebühne der Renaissance

Raumkonzept bevorzugen, bei dem die Zuschauer und die Darsteller gemeinsam agieren. Erwin Piscator benutzte für solche integrativen Inszenierungen technisch aufwendige und raumfüllende Bühnenkonstruktionen. Die „Piscator-Bühne“ wurde zum Inbegriff für das damalige Avantgardetheater, das einer Installation aus bespielbaren Etagen, Drehscheiben, Laufbändern und Brücken glich und auch mehrere Simultanhandlungen zugleich ermöglichte. Das Totaltheater bot einen Mechanismus, mit dem man den gesamten Bühnenraum komplett verwandeln konnte. Zusätzlich wurde das Bühnengeschehen, gemäß dem Leitsatz von Bertolt Brecht: „die gesamte Bühne erzählt“, durch den Einsatz von Textprojektionen und Filmeinspielen zu einem erzählenden Theater erweitert. Erwin Piscator plante ein Theater ohne Parkett, Ränge, Logen und Galerie, wo

Die architektonischen Bauformen des Theaters

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Abb. 6   Zuschauer- und Bühnenbereich im Theater des Barock

Hoftheater des Barock

Abb. 7   Zuschauer- und Bühnenbereich im Theater des 19. Jahrhunderts

Guckkastenbühne des 19. Jahrhunderts

Abb. 8   Zuschauer- und Bühnenbereich im Theater des 20. Jahrhunderts

Raumbühne des 20. Jahrhunderts

„an einem einzigen Ort mehrere Räume zusammengelegt werden können und auf dessen Bühne eine ganze Reihe von Orten aufeinander folgt“17. Die Bauform des Theaters bestimmt die räumlichen Beziehungen zwischen dem Bühnen- und Zuschauerraum als Abbild der dramatischen Texte, die dort zur Aufführung gelangen. Die Theaterarchitektur reflektiert nicht nur das Verhältnis zwischen Zuschauern und Darstellern, sondern auch die Art der Darbietung und des Schauspiels. Die räumlichen Distanzen und die Bühnenform entscheiden darüber, wie Texte

17vgl.:

Sciri (2015).

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2  Szenotopie als Handlungsraum

Happening und Performances an temporären Spielorten der Gegenwart

Abb. 9   Zuschauer- und Bühnenbereich an temporären Spielorten in der Gegenwart

Abb. 10   Übereinstimmung bei der mentalen Raumerfahrung von Darstellern und Zuschauern im Amphitheater

Amphitheater: ca. 30%

Abb. 11   Übereinstimmung bei der mentalen Raumerfahrung von Darstellern und Zuschauern beim Mysterienspiel

Mysterienspiel: ca. 50%

Die architektonischen Bauformen des Theaters

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Abb. 12   Übereinstimmung bei der mentalen Raumerfahrung von Darstellern und Zuschauern im Shakespeare-Theater

Shakespeare-Theater: ca. 30%

Abb. 13   Übereinstimmung bei der mentalen Raumerfahrung von Darstellern und Zuschauern im Hoftheater

Hoftheater: ca. 30%

Abb. 14   Übereinstimmung bei der mentalen Raumerfahrung von Darstellern und Zuschauern im Guckkasten-Theater

Guckkasten-Theater: ca. 20%

Abb. 15   Übereinstimmung bei der mentalen Raumerfahrung von Darstellern und Zuschauern im Raumtheater

Raumtheater: ca. 40%

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2  Szenotopie als Handlungsraum

Happening: mind. 80%

Abb. 16   Übereinstimmung bei der mentalen Raumerfahrung von Darstellern und Zuschauern bei Performances und Happenings im öffentlichen Raum

wahrgenommen werden, welche Dialogformen möglich sind und ob Beziehungen zwischen Darstellern und Zuschauern aufgebaut werden, die gemeinsame Raumerlebnisse implizieren. In den historischen Bauformen sind Bühne und Zuschauer lokal voneinander getrennt, sodass nur ein geringer Kontextabgleich erfolgt, der gemeinsame Raumerfahrungen ermöglicht. Hingegen denken aktuelle Inszenierungen Raum genuin und zielen darauf ab, diese lokale Trennung aufzuheben und mentale Erlebnisräume mit gemeinsamen Raumerlebnissen zu initiieren. Die folgende Chronologie unterschiedlicher Theaterformen verweist auf Distanzen zwischen Bühnen- und Zuschauerraum (Abb. 3, 4, 5,6, 7, 8 und 9) und auf die mentale Raumbildung, die Rückschlüsse auf gemeinsame Raumerfahrungen erlaubt (Abb. 10, 11, 12, 13, 14, 15 und 16). • • • • • • •

Massiv gebaute Amphitheater und Arenen in der griechischen und römischen Antike Mittelalterliche Mysterienspiele auf den Simultanbühnen an einem öffentlichen Platz Shakespearebühne in der Renaissance mit offener Spielfläche und Zuschauergalerien Hoftheater im Barock mit dekorativen Kulissen und künstlicher Bühnenausleuchtung Guckkastenbühne als abgeschlossener Bühnenraum mit illusionistischem Bühnenbild Avantgarde-Theater mit bespielbarer Bühnenmaschinerie und offenem Raumkonzept Performative Raumerkundungen an temporären Orten ohne Gestaltung des Umfeldes

Literatur

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Das Verhältnis zwischen Bühnen- und Zuschauerraum veränderte sich permanent. Wurde anfangs in den offenen Arenen der antiken Freilichttheater gespielt, später dann auf Simultan-und Sukzessionsbühnen in den Theaterbauten, so versuchen die heutigen Inszenierungen den Bühnenrahmen zu öffnen, um Aktionsraum und Rezeptionsraum zum szenischen Raum zu vereinen, dessen Dimension darüber entscheidet, inwieweit mentale Raumbildungen möglich sind. Szenografie umfasst, neben den Raumbildern realer, virtueller und mentaler Räume, auch den performativ erlebten Raum. Mit Beginn der 1960er Jahre eröffnen Happenings und Performances neue Interaktionsmöglichkeiten, bei denen Darstellungs- und Rezeptionsraum als szenischer Raum miteinander verschmelzen. Einer der Initiatoren ist der amerikanische Aktionskünstler Allan Kaprow, der seine rhythmischen und musikalisch inszenierten Auftritte durch wechselnde Bildprojektionen mit visuellem Material bereicherte. Allerdings avancierte in seinen Aktionen das Publikum nicht zu Mitspielern, sondern wurde als lebendiges Requisit vereinnahmt. Während Kaprow seine Happenings ohne festes Abwicklungskonzept plante und auf die Inspiration des Zufalls setzte, organisierte der deutsche Aktionskünstler Wolf Vostell seine Aktionen nach einem präzisen Ablaufplan bei Einbeziehung der Zuschauer als performatives Erlebnis. Vostell verwendete dafür den Begriff Decollage als Synonym für Freimachen und Neubeginn, da er ganz im Sinne von Befreiung und Neuorientierung das Umfeld gezielt durch seine Akteure manipulierten lies. Er verstand deren Auftritt als einen zerstörerischen und kreativen Akt, in dessen Mittelpunkt stets der Mensch als Medium, in Reflexion auf das Private und die Gesellschaft steht und betrachtete die Aktionen seiner Darsteller als ein veränderndes und stimulierendes Moment. Mit Wolf Vostells Aktionen etablierte sich im internationalen Kunstbetrieb das Phänomen „Fluxus“, dessen künstlerische Ausdrucksformen sich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen ließen, da sie zu verschieden waren. Fluxus war eine äußerst vielschichtige Erscheinung und gilt als erste intermediale Kunstform nach Dada, die Künstler aus unterschiedlichen Genres in sich vereint.

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2  Szenotopie als Handlungsraum

Prangen, R. (2016). Szenosphäre und Szenotopie (S. 13). Bielefeld: transcript. Schramke, S. (2010). Kybernetische Szenografie – Charles und Ray Eames Ausstellungsarchitektur 1959–1965. Bielefeld: transcript. Sciri, L. (2015). Das Totaltheater von Walter Gropius und Erwin Piscator. Saarbrücken: Akademikerverlag. Seel, M. (2000). Ästhetik des Erscheinens (S. 172). München: Hansa Verlag. Wadenfels, B. (1998). Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, darin: Raumnutzung als Überfluss (S. 212–215). Suhrkamp: Frankfurt a. M. Wiener, N. (1948). Cybernetics or control and communication in the animal and the machine. New York: The Technology Press. Wiens, B. (2016). Verkabelte Bühnen. Szenographie im Spannungsfeld zwischen Theater und anderen Medien. In Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater. Schriftenreihe Automatismen der Universität Paderborn (S. 182). Verlag Wilhem Fink: Paderborn.

3

Szenosphäre als Raumbildung

Teil 3. Szenosphäre als Raumbildung Der Publizist und Kommunikationswissenschaftler Helmut Ploebst definiert Happening als räumliches, bildnerisches, choreografisches und akustisches Produkt, das sein Publikum mehr oder weniger mitorganisiert. Erika Fischer-Lichte bewertet Happenings in ihrer Publikation „Grenzgänge der Neo-Avantgarde“1 als eine besondere Körperempfindung bei faktischem Gebrauch von Material und Gegenständen sowie in Bezug auf die Raumwahrnehmung und die Zuschauerpartizipation als ein spezifisches Raumerlebnis. Solche transdisziplinären und performativen Inszenierungen gelten auch heute noch als eine wichtige Form künstlerischer Äußerung und Selbstdarstellung. Zugleich wächst das Bestreben, eigene Aktionen als mediale Selbsterfahrung einem großen Publikumskreis im Internet zugänglich zu machen. Im Kontext interaktiver Nutzung gewinnt integratives Inszenieren an Bedeutung, bei dem der Nutzer den mentalen Nutzungsraum des Internets mit seinen eigenen Aktionen zu einem performativ erlebten Informations- und Handlungsraum formt, der ein Raumgefühl suggeriert, das ihm weitreichende Möglichkeiten zur Information und wechselseitigen Kommunikation offeriert. Der Szenograf entwirft nicht nur Bühnenbilder für die Inszenierungen am Theater, sondern verleiht als Szenenbildner auch allen zeitbasierten Medien ein Aussehen. Mit Anwendung der sogenannten neuen Medien hat sich sein Aufgabenfeld stark erweitert, sodass das Berufsbild neu definiert werden muss. Ein Bühnen- bzw. Szenenbildner ist nicht nur ein Raumkünstler, sondern auch ein Bildkünstler, da er entweder auf die Gestaltung des Bühnenbildes oder eines Szenenbildes abzielt, was zunächst widersprüchlich erscheint, da es sich um dreidimensionale Gestaltungen handelt. Bei näherer Analyse der Gestaltungsergebnisse wird aber deutlich, dass sich die Berufs-

1vgl.:

Fischer-Lichte (1998).

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Moritz, Szenografie digital, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31074-5_3

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3  Szenosphäre als Raumbildung

bezeichnungen auf das reduzierte und sichtbare Endprodukt eines weitaus komplexeren Gestaltungsprozesses beziehen. Denn so, wie das Geschehen auf den tradierten Theaterbühnen als Ergebnis aufwendiger Denk- und Produktionsprozesse zum Bühnenbild gerahmt ist, werden die Schauplätze der analogen und digitalen Bewegtbildmedien für ihre Rezipienten als Bilder auf der Kinoleinwand oder auf dem Bildschirm sichtbar gemacht. Der eigentliche Prozess szenografischen Gestaltens vollzieht sich auf einer ganz anderen Ebene. Auch wenn gestaltete Bilder bei einer Inszenierung von großer Relevanz sind, da sie ihren Betrachtern als sichtbar erscheinen, sind sie doch Resultat einer langen Produktionskette und als sichtbares Ergebnis aus umfangreichen Gestaltungsprozessen der Wahrnehmung und dem Wohlwollen ihrer Rezipienten ausgesetzt, die daraufhin über den Erfolg oder Misserfolg der gesamten Inszenierung entscheiden. Dem Begriff nach schreibt ein Szenograf die Szenenbilder auch in die Köpfe der Zuschauer ein. Womit geklärt wäre, warum der Begriff Szenografie neben dem griechischen Wortstamm Skene (Szene) auch das griechische Wort graphein (schreiben) beinhaltet, das zeitliche Abläufe impliziert und somit explizit auf einen Prozess verweist. Das griechische Wort Skene bedeutet Hütte oder Zelt und steht für einen Raum, der Bedürftigen Schutz bietet. Beim Szenografieren wird etwas inszeniert oder beschrieben. Einerseits wird die besagte Szene als Vorgang, der auf der Bühne oder an einem anderen Ort stattfindet, beschrieben und gestaltet, andererseits auch als Akt eigener Wahrnehmung in die Köpfe der Akteure eingeschrieben. Die gestaltete Szene verdinglicht sich vor Ort als ein Szenenbild, während der szenografische Gestaltungsprozess, der auf ein Ereignis als Ergebnis abzielt, einer Szenografie entspricht. Ein Szenenbild basiert auf inhaltlichen Vorlagen, wird dementsprechend entworfen, gestaltet und realisiert, während Szenografie auch die Wahrnehmungsvorgänge und Performationen als Raumerlebnisse impliziert. Die Medienkünstlerin Ruth Prangen weist in ihrer Dissertation „Szenosphäre und Szenotopie“ explizit darauf hin, dass die eigentliche Kernaufgabe eines Szenografen darin besteht, medialen Räumen ein atmosphärisches Potenzial zu verleihen. Was bedeutet, dass beim zielgerechten Einsatz künstlerischer, visueller und architektonischer Gestaltungsmittel beim Betrachter oder beim Nutzer Gefühlsqualitäten erzeugt werden. Die Begriffsanalyse verweist explizit darauf, dass das Berufsfeld eines Szenografen äußerst vielseitig ist. Dem deutschen Architekten Johannes Milla zufolge hat ein Szenograf die Aufgabe, Bilder und Räume zu zeigen, aber auch Bilder in den Köpfen der Rezipienten auszulösen, welche die Fantasie anregen. Milla betont, dass der wahre Medienraum erst in den Köpfen der Betrachter entsteht und die besten Bilder immer diejenigen sind, die sich in den Köpfen der Zuschauer festsetzen. Im Kontext interaktiver Mediennutzung ist Szenografie als schöpferischer Akt zu verstehen, der Wahrnehmungsfolgen, raumbildende Prozesse und interaktive Handlungen zu einem interaktiven Szenario vereint. Das szenografische Endprodukt ist zum einen ein real vorhandener oder virtueller Raum als Ergebnis dramaturgischen Inszenierens und szenografischen Gestaltens, zum

Teil 3. Szenosphäre als Raumbildung

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anderen aber auch der integrativ inszenierte, immaterielle oder performativ erfahrbare Raum als Resultat des Handelns. Szenografisches Gestalten zielt auf atmosphärische Räume, die bei Zuschauern und Nutzern spezielle Raumgefühle implizieren. Performativ konstituiert sich lediglich ein instabiler Raum, da er sich aufgrund von Handlungen permanent verändert. Theatergeschichtlich ist Szenografie der Inbegriff für die Gestaltung des Bühnenraumes und damit verbundener Konzepte der Raumdefinition. Den ursprünglichen Begriff Skenographia (Szene) verwendete man in der griechischen Antike für den fest gebauten Bühnenhintergrund, der sich später auf ein gemaltes Hintergrundbild reduzierte, das den Bühnenraum zusammen mit gebauten Kulissen dekorierte. Das Szenografieverständnis hat sich theatergeschichtlich permanent verändert. Bezog sich Szenografie anfangs ausschließlich auf den lokal begrenzten Bühnenraum, favorisieren aktuelle Szenografiekonzepte den unbegrenzten dreidimensionalen Raum als Ereignisort und vereinnahmen dafür auch die vierte Dimension als ein Resultat von Bewegung und Veränderung. Im Unterschied zum Szenenbild versteht sich Szenografie zwar auch als Ergebnis systematischen Gestaltens, aber weniger als materialisiertes Endprodukt, sondern vielmehr als Prozess des Szenografierens materieller oder immaterieller Räume, die entweder konkrete Handlungsorte lokalisieren oder als mentaler Raum in den Köpfen der Rezipienten oder Nutzer entstehen. Dieses neue Szenografieverständnis impliziert, in Bezug auf performative Raumbildung, Diskurse zum Raumbegriff und zum integrativen Inszenieren. Historisch betrachtet, löst sich die Szenografie bereits Ende der 1960er Jahren sukzessiv von den im Dramatext fest fixierten lokalen Schauplätzen und verortet sich in der Inszenierung atmosphärischer Gefühlsräume aus Klängen, Farben und Formen, die den Zuschauer gezielt in das Handlungsgeschehen integrieren. Der Theaterraum wird aktuell als Dichotomie Bild und Zeit unter dem Diktat der zweidimensionalen Bildwirkung dreidimensionaler Räume diskutiert, die einerseits auf Diderots „Szene als Tableau“ beruht, sich andererseits aber auch an der Entdeckung des szenischen Raumes durch die Avantgarden des Bauhauses orientiert, die einen Raum als ausgedehnte Fläche oder Kubus deuteten, der sich erst mit den Aktionen der Darsteller konfiguriert. Als ein markantes Beispiel dafür gilt das Triadische Ballett des Bauhauspädagogen Oskar Schlemmer, der korrespondierende Beziehungen zwischen Figur und Raum untersuchte. Gegenwärtig stehen im Zentrum zeitgenössischer Theaterkunst nicht nur tradierte Theaterräume mit ihrer Unterteilung in Bühnen- und Zuschauerraum, sondern auch integrative Inszenierungen an Orten, die bislang anderen Nutzungen vorbehalten waren. Aktionskunst vereinnahmt das Publikum und motiviert es zum Mitspielen. Dabei avancieren die Zuschauer zu Handlungsträgern, die das Geschehen mit eigenen Aktionen bereichern. Die tradierte Raumstruktur löst sich auf und Bühnen- und Zuschauerraum verschmelzen zu einem Aktionsraum, der sich permanent verändert. Diesen Erlebnisraum erleben Zuschauer anders als im traditionellen Theater wo sie das Geschehen auf der Bühne mit distanziertem Blick verfolgen, sich wie in einem Museum verhalten und die statisch eingerahmte Bühne wie ein gemaltes Bild betrachten. Dem stehen die Raumkonzepte der gemeinsamen Raumerkundung gegenüber, welche Zuschauer zu aktiven

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3  Szenosphäre als Raumbildung

Mitspielern qualifizieren und ihnen ein Mittendrin gewährleisten, dass sie dazu verleitet, sich den Raum mental anzueignen. Als Kontrast zum distanzierten Rezeptionsverhalten entsteht ein neues Wahrnehmungsmilieu szenischer Räume auf Grundlage menschlicher Existenz, das neben den raumbestimmenden Merkmalen auch von Handlungen gekennzeichnet ist, die es zu dem machen, was es ist. Dabei erfährt das anwesende Publikum aktualisierende Präsenz und wird zu Akteuren und Co-Produzenten. Für die Medientheoretikerin Pamela C. Scorcin beruht die Hybridisierung szenischer Räume auf der „strategischen Positionierung und rationalen Organisation der unterschiedlichen Realitätsebenen beim Durchdringen der verschiedenen Wirklichkeitssphären des Realen, des Medialen, des Fiktiven und des Imaginären.“2 Pamela C. Scorcin bewertet den Rezipient im hybriden Raum des szenografischen Inszenierens als den Mittelpunkt in einer systemischen Gesamtszenografie, der sich gleichberechtigt als integrales Element des enthierarchisierten und entautonomisierten Systems emanzipiert. Im Kontext partizipierender Teilnahme stellen gemeinsame Raumerkundungen sogar die bildnerische Funktion des Szenografen infrage, indem essenziell hinterfragt werden muss, ob dieser dabei seiner Verantwortung als Initiator und Gestalter überhaupt noch gerecht werden kann oder ob er den Kommunikationsakt mehr oder weniger dem Zufall überlassen muss. Pamela C. Scorcin definiert das neue Berufsfeld des Szenografen als Metaszenografie und konstatiert: „Der Szenograf von morgen wird sich mehr denn je auf temporäre Projektarbeit verstehen, die auf einer miteinander eng kommunizierenden Netzwerkgemeinschaft aus Künstlern, Gestaltern, Wissenschaftlern und Konsumenten basiert, die als dynamische, von Projekt zu Projekt jeweils fluktuierende Schar wirkungsvoll operiert, dabei eine bewusst systemische und selbstorganisierende Konstellation anstrebt, die den sozialen und wissenschaftlichen Kontakt sowie die gemeinsamen fachlichen Interessen und die akademischen Ausbildungshorizonte sowie die unterschiedlich gelagerten Kompetenzen und individuellen Fähigkeiten der Einzelnen immer wieder für gewisse Zeit nutzt, um wiederum mit anderen dynamischen Systemen der Gesellschaft, etwa dem adressierten Publikum, wirkungsvoll für ein jeweiliges temporäres Projekt zu kooperieren.“3

Mit dieser Aussage weist die Autorin dem Szenografen eine inspirierende und führende Rolle in einem interdisziplinär arbeitenden Team zu, das die speziellen Ausdrucksweisen der alten und neuen Medien effizient nutzt, um räumlich-visuelle Konstellationen und Figurationen zu entwickeln, die Rezipienten und Nutzer zu selbstständig handelnden Protagonisten qualifizieren und ihnen Partizipation, Performation und Interaktion ermöglichen. Der renommierte Architekt Johannes Milla misst Szenografen die Aufgabe zu „Bilder und Räume zu zeigen, aber auch Bilder in den Köpfen auszulösen, so dass Menschen

2Scorcin 3Ebd.:

(2009), S. 309. S. 310.

Teil 3. Szenosphäre als Raumbildung

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sich dem Ereignis oder der Inszenierung hingeben und deren Fantasie angeregt wird, so dass der wahre Media Space erst in den Köpfen der Betrachter stattfindet.“4. Der Medientheoretikerin Pamela C. Scorcin zufolge übernimmt der Szenograf neben seiner produktiven gestalterischen Aufgabe auch die Funktion eines inspirierenden Initiators, der als Autor und Arrangeur im Hintergrund agiert. Im Vordergrund stehen aber stets die Inklusion und Involvierung des Rezipienten, der vom passiven Betrachter zu einem aktiven Mitgestalter avanciert. Der neue Rollenstatus des Rezipienten basiert auf einer Rezipientenkultur, die ihn im szenografischen Immersionsraum auch als Nutzer und kritisch reflektierenden Mitgestalter versteht. Die Kompetenzen und Kreativität des Szenografen verlagern sich demnach auch auf die Strukturierung und Organisation effektiver und effizienter Interaktion und damit auf die Konfiguration einer universellen Plattform für eine kollektive Wissensaneignung und deren interaktive Nutzung, wofür das Internet besonders prädestiniert scheint.5 Die neue Definition des Aufgabenbereichs des Szenografen zielt auf ein transdisziplinäres Berufsfeld und weist ihm darin die Funktion eines Initiators zu, der ein interdisziplinäres Entwicklerteam leitet und über gestalterische und rhetorische Kompetenzen verfügt, um das Wissen zu vermitteln, das andere inspiriert und motiviert. Das Szenografie interaktiv nutzbarer Medien beinhaltet außer den visuellen und räumlichen Gestaltungskonzepten auch das integrative Inszenieren performativer Handlungen, welche die Raumaneignung im mentalen Nutzungsraum des Internets fördern, der physikalisch nicht vorhanden, bei der interaktiven Nutzung aber physisch erlebbar und performativ formbar ist. Da das Internet vorerst nur über den immersiven Bildraum der grafischen Benutzeroberfläche zugänglich ist, umfasst das erweiterte Aufgabengebiet des Szenografen auch das Systemische Design, das als immersiver Bildraum Zugang zum mentalen Nutzungsraum des Internets gewährt. Laut Pamela C. Scorcin besteht die elementare Aufgabe einer solchen funktional-ästhetischen Szenografie darin, verbindliche Regeln für die Entwicklung von effektiven und effizienten Informationsund Kommunikationsbedingungen aufzustellen und dafür didaktisch nachvollziehbare und gestalterisch fundierte Handlungsanweisungen zu erteilen, mit denen innovative Gestaltungslösungen zu erzielen sind.6 In Bezug auf den kommunikativen und interdisziplinären Aspekt szenografischen Gestaltens erlangt auch die Screenografie als medientheoretisch fundiertes Werkzeug zur systematischen Gestaltung von grafischen Benutzeroberflächen im Systemischen Design neue Bedeutung. Deren immersiver Bildraum gewährt Nutzern intuitiven Zugang zum mentalen Informations- und Kommunikationsraum des Internets, der als szenischer Raum eine performative Formung erfährt, da der Nutzer ihn selbst gestaltet, indem er

4Milla

(2004). Scorcin (2009), S. 312. 6vgl.: Ebd.: S. 314. 5vgl.:

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3  Szenosphäre als Raumbildung

gezielt mit dem System interagiert und an systemimmanenten Orten interaktive Handlungen ausübt. Der renommierte tschechische Medienphilosoph und Kommunikationswissenschaftler Vilém Flusser spricht bereits in den 1980er Jahren von dem bevorstehenden medialen Umbruch, den der Übergang von analogen zu digitalen Medien und die globale Nutzung der elektronischen Telekommunikation, als zukünftiges Internet, mit sich bringen werden. Gegenwärtig spricht man von einer digitalen Revolution innerhalb aller sozialen und gesellschaftlichen Bereiche, da sich die Privatsphäre des Nutzers zunehmend im global zugänglichen Kommunikations- und Datenraum des Internets verliert und Platz für ein Raumdenken schafft, das ein neues Raumverständnis impliziert, welches auch die Raumwahrnehmung verändert. Räumlichkeit verliert dabei ihren lokalen Bezug und wird, von ihren topologischen Zwängen befreit, neu interpretiert. Die Kultur- und Medienwissenschaft hat bereits auf diese Raumwende reagiert und einen Raumdiskurs am Theater und im Bereich der interaktiv nutzbaren Medien initiiert. Gegenwärtig gibt es auch am Theater künstlerische Bestrebungen, um im Zusammenspiel mit anderen Medien neue räumliche Konstellationen zu schaffen, die sich intermedial digitaler Ausdrucksmöglichkeiten bedienen, um das lokale Bühnengeschehen mit Bildern und Filmen aus dem Internet zu bereichern und somit die lokalen Informations- und Rezeptionsräume des Theaters mit dem digitalen Datenraum des Internets zu verbinden. Solche intermedialen Inszenierungen öffnen den begrenzten Interpretationsraum der Theaterbühne zugunsten eines transmedialen Erlebnisraumes, der nicht nur den gespielten wahrnehmungsbedingten Raum umfasst, sondern auch den mentalen Nutzungs- und Kommunikationsraum des Internets mit einschließt. Aufgrund dieser medialen Raumerweiterung erfährt der Raumdiskurs in Bezug auf die ­funktional-ästhetische Dimension von Raumbildung und der -wahrnehmung eine neue Deutung. Die aktuelle Theaterwissenschaft verortet die szenische Aufführung als Bildraum und die ihr innewohnende, gestaltende Szenografie als Bildkunst, deren Endprodukt am Theater das Bühnenbild und in Film und Fernsehen das Szenenbild darstellt. Der praktische Teil der Szenografie installiert den bespielbaren Raum, während der theoretische Teil das immaterielle Beziehungsgeflecht als Raumkunst wertet, die eine Raumatmosphäre evoziert, welche die Zuschauer und die Akteure mit ihren eigenen Imaginationen vernetzen. Die Theaterwissenschaftlerin Birgit Wiens verweist in „Szenographie im Spannungsfeld zwischen Theater und anderen Medien“7 darauf, dass ästhetische Räume im Spannungsfeld zwischen den Aktionen der Darsteller und dem Wahrnehmungsprozessen der Zuschauer hervortreten und dass diese Raumvorstellung einem immateriellen Beziehungsgeflecht aus der Wahrnehmungs- und der Erlebnisdimension entspricht, welches aus der Raumbildung hervorgeht, die den ästhetischen Raum formt.

7Wiens

(2016).

Teil 3. Szenosphäre als Raumbildung

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Dagegen entspricht die Bühne des Theaters mit allen auf ihr agierenden Darstellern einem funktionalen Raum, der unterschiedliche Bezüge aufweist: • in Bezug auf den Ort der Aufführung und dessen spezifische Bühnenform, als architektonischer Raum, • in Bezug auf den handlungsbezogenen Raumentwurf im topologischen Kontext, als szenischer Raum, • in Bezug auf den Status des Spielortes und dessen urbane Situation, als ortsspezifischer Raum, • als dramatischer Raum, der erst beim Spiel der Darsteller realisiert wird. Der aktuelle Raumdiskurs am Theater umfasst unterschiedliche Raumkategorien, welche die Medienwissenschaftler Norbert Otto Eke, Ulrike Haß und Irina Kaldrack in „Bühne - Raumbildende Prozesse im Theater“8 in Bezug auf die Bedeutungsebene wie folgt definieren: • • • • •

auf ästhetischer Ebene: Theater als Kunstraum, auf erkenntnistheoretischer Ebene: Theater als Wahrnehmungsraum, auf medientheoretischer Ebene: Theater als medialer Raum, auf gesellschaftswissenschaftlicher Ebene: Theater als sozialer Raum, auf institutioneller Ebene: Theater als öffentlicher Raum.

Im gegenwärtigen Raumdiskurs gewinnt der ästhetische Raum als Kunstraum an Bedeutung, der im Zusammenspiel von unterschiedlichen Medien und unter Beteiligung aller im Raum Anwesenden eine Atmosphäre erzeugt, die nach Birgit Wiens aus der kommunikativen „Hier und Jetzt – Konstellation hervorgeht.“9 Der Kunstraum ist auch dem Theater immanent und vermittelt alle Botschaften, Informationen und Inhalte in Form dramatischer Vorgänge und evoziert, unter Verwendung von unterschiedlichen Medien wie Texten, Bildern und Tönen, ästhetisch komplexe und räumlich vielschichtige Szenarien, die nicht nur unterhalten sondern auch bilden und informieren. Insofern entspricht das Theater auch einem sozialen Raum, der die Menschen zusammenführt und gemeinsame Raumerlebnisse initiiert. Da sich menschliches Zusammenleben generell als aufeinander bezogenes Handeln vollzieht, ist das Internet ein mentaler Informations- und Handlungsraum, der interaktive Handlungen ermöglicht, an denen möglichst viele Personen beteiligt sind, die auch gemeinsam davon profitieren. An sozialen Handlungen ist nicht eine einzelne Person, sondern sind stets mehrere Personen beteiligt, deren Beweggründe zu handeln nahezu identisch sind. Somit existiert auch ein gegenseitiger Bezug von Handlungsgründen, der

8Eke

et al. (2016). Wiens (2016).

9vgl.:

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3  Szenosphäre als Raumbildung

dazu veranlasst, gemeinsam zu handeln. Dazu bedarf es vorab der Verständigung über Handlungsabsicht und Handlungsablauf auf Basis einer Sprache, die allen Beteiligten verständlich ist, zum Kontextabgleich führt und dadurch gemeinsames Handeln ermöglicht. Kommunikationsfähigkeit ist die Grundlage sozialen Handelns. Selbstbestimmtes Handeln lässt sich planen und verläuft als organisierte und objektive Handlung, ist also ein Handeln mit Verstand. Im Gegensatz zum spontanen Handeln, beruhen geplante Handlungen auf gedanklichen Vorleistungen, sind ein Zeichen von Kompetenz und Intelligenz, aber auch Ausdruck von Gefühlen und Motiven, was wiederum bedeutet, dass eine Handlung stets aus einer Motivation heraus erfolgt, die sich beeinflussen lässt. Geplante Handlungen zeugen auch von kognitiven Fähigkeiten, da es sich um die gedankliche Vorwegnahme von Folgen und Konsequenzen handelt, die aus der Handlung entstehen können. Die Gedankenprozesse bei der Handlungsplanung sind vorerst nur virtuell, da sie in den Köpfen der Handelnden entstehen, denn virtuell ist das, was der Möglichkeit nach vorhanden sein könnte. Soll etwas erprobt werden, wird es vorerst virtuell simuliert. Insofern sind auch Computersimulationen als Probehandlungen zu bewerten. Der amerikanische Sozialwissenschaftler Howard Rheingold10 analysiert neue Technologien in Bezug auf daraus erwachsene Kommunikationsformen und verwendet den Begriff virtuell, um damit soziales Handeln auf den digitalen Plattformen, wie dem Internet, zu beschreiben. Soziales Handeln hat insbesondere im Internet große Bedeutung, da es dort einen großen Teilnehmerkreis erschließt und eine hohe Anzahl von Interessenten binden und motivieren kann, die nicht an eine gemeinsame Umgebung gebunden sind und lediglich über eine Datenleitung miteinander kommunizieren. Handeln im Internet ist nicht, wie oft behauptet, als virtuell zu bezeichnen, da auch dort Nutzer in einem real existierenden Beziehungsgeflecht zueinander stehen, das ihnen die Kommunikation ermöglicht. Insofern ist die Bezeichnung „virtuell“ für Handlungen im Internet unzutreffend, weil die Handlungen zwar im mentalen Raum erfolgen, aber durchaus real sind und zu realen Ergebnissen führen, mit denen Erfolge zu erzielen sind, die sich einerseits im realen Leben niederschlagen, andererseits aber auch das Internet mit neuem Wissen bereichern. Jede Information bedarf eines adäquaten Mediums, um vermittelbar zu sein. Medien wie Bild und Ton sind gleichzeitig auch Kommunikationsmittel und verbreiten als Bestandteil digitaler Informations- oder Wissensräume visuelle und auditive Inhalte als Botschaft. Das Internet ist als globaler Informations- und Kommunikationsraum zu bewerten, da es das Wissen seiner Nutzer speichert und ihnen zugleich dessen Austausch ermöglicht. Wie es möglich ist, den haptisch erfahrbaren physikalischen Raum des Theaters mit dem digitalen Informationsraum des Internets zu verbinden, demonstriert ein Multi-

10vgl.:

Rheingold (1993).

Teil 3. Szenosphäre als Raumbildung

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mediaprojekt des Frauenhofer-Instituts für Medienkommunikation MARS (Media Arts & Research Studies) in Sankt Augustin bei Bonn. Mit „Space Of Knowledge“ entsteht ein Raumkontinuum aus vermischten Wirklichkeiten (mixed realities) in Form eines intermedialen Handlungs- und Informationsraumes, der seinen Nutzern als begehbare Datenlandschaft Zugriff auf das global nutzbare Informations- und Kommunikationsangebot des Internets gewährt. „Unter space of knowledge verstehen wir einen Datenbank gestützten, architektonischen Raum, in dem objektives und subjektives Wissen gleichermaßen präsent sein kann. Daten, Raum und Benutzer werden telematisch verbunden und der Raum selbst erscheint als eine begehbare Datenlandschaft. Damit entsteht architektonischer Raum, der anklickbar ist, Architektur, die mit Daten aufgeladen einen erweiterten Handlungsraum bildet. Ziel unserer Forschungen ist eine interaktive Architektur, die Prozesse der sich verändernden Perspektiven, Bedeutungen und Interessen aufnimmt, und sowohl physikalischen Raum als auch digitalen Datenraum umgreift.“11„Space of Knowledge“ vereint als hybrider Raum, den physikalischen, haptisch erfahrbaren Raum mit dem digitalen Datenraum des Internets und fungiert somit auch als ein Immersionsraum und begehbares Interface, das seinen Nutzern den Zugang zur digitalen Infrastruktur des Internets gewährt und ihnen die kollaborative Zusammenarbeit in einem Gemeinschaftsraum ermöglicht, der von mehreren Besuchern zugleich genutzt werden kann.

Der englische Kybernetiker Roy Ascott12 gilt als Pionier der Netzkunst und entwickelte 1996 seine Vision vom zukünftigen Internet, dem Museum der Zukunft, ein autonomes Netzwerk aus weltweit miteinander mit einander verbundenen Informationsräumen, dessen Nutzer das dort gespeicherte Wissen, ähnlich Wikipedia, durch eigene konstruktive Beiträge bereichern, die emotional und instrumental geordnet sind. Als „Museum der dritten Art“ entsprach es einem global nutzbaren Informations- und Kommunikationssystem mit Datenbankanbindung, das die kollektive Wissensbildung und den weltweiten Informationsaustausch fördert. Eine vergleichbare Funktion hat das Theater, das zwar über keinen Datenspeicher verfügt, Wissen aber mittels inszenierter Szenarien vermittelt. Obwohl am Theater meistens einseitig kommuniziert wird, da dort den Zuschauern kein Rückkanal zur Verfügung steht, vermittelt es Botschaften als Informationen, die das Publikum vor Ort gemeinschaftlich als inszeniertes Theaterstück miterlebt. Bernhard Wadenfels13 bezeichnet das Theater als einen Innenraum, der mehr oder weniger durchlässige Außengrenzen aufweist, sodass auch etwas nach außen dringen kann. Das gilt auch für die Raumkonstellationen, bei denen sich die Bühne lokal vom Zuschauerraum absetzt und die Rampe beides voneinander trennt, aber beim Kontextabgleich zwischen Darstellern und Zuschauern mehr oder weniger auch ein gemeinsamer Erlebnisraum entsteht,

11vgl.:

Strauss und Fleischmann (2008). R. 1996, https://www.heise.de/tp/features/Der-Geist-des-Museums-3445885.html. 13vgl.: Wadenfels (2016a). 12vgl.: Ascott,

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3  Szenosphäre als Raumbildung

der gegebenenfalls zur Übereinstimmung führt und beide Parteien zum gemeinsamen Handeln motiviert. In der Rahmenanalyse des kanadischen Soziologen Erving Goffman erfährt das Geschehen auf der Theaterbühne eine Rahmung und bedarf dafür spezifischer Transkriptionsmethoden, um einen realen Vorgang des Bühnengeschehens außerhalb der Bühne in Erfahrungswerte zu transformieren. Dieser Rahmungsprozess entspricht einem wechselnden Organisationsprinzip, das die Ereignisse auf der Bühne koordiniert und als mentales Erfahrungsfeld zusammenfügt. Demnach erfährt das Bühnengeschehen im Theater seine Rahmung:14 • primär als Erfahrung in den Köpfen der Zuschauer, • sekundär als Handlungsort. In den historischen Theaterbauten trennte die Bühnenrampe als markante Schwelle die Bühne vom Zuschauerraum. Diese Grenze des tradierten Repräsentationstheaters gilt es aufzuheben, um das Theater nicht als eine Zusammenkunft gegensätzlicher Instanzen zu begreifen, die sich nach Aktion und Passion unterscheiden, sondern als einen Raum für Kommunikation und Information, der die Intensionen der Darsteller und Zuschauer als gemeinsamen Erlebnisraum in sich vereint. Bernhard Wadenfels betont in seiner Schrift „Bühne als Spiel- und Schauplatz“: „Wenn etwas im Zwischenfeld von Bühne und Auditorium zustande kommt, so geht es nicht aus einer Absprache hervor, die zu einem Konsens führt, sondern aus der vorsprachlichen Koaffektion, einer gemeinsamen Aktion, die in verschiedene Richtungen ausstrahlt und unterschiedliche Antworten zulässt. Dieses übergreifende Zwischengeschehen erfordert ein aktives Hören, das sich nicht auf den abschließenden Applaus beschränkt, sondern mehr oder weniger in das Geschehen eingreift.“15.

Wadenfels bezeichnet die Bühne als einen exemplarischen Ort, der erst zu dem wird, was er ist, wenn jemand dort auftritt. Ferner konstatiert er, die Bühne sei ein Darstellungsort an dem etwas passiert und zugleich auch ein dargestellter Ort, der etwas repräsentiert. Die Funktion der Bühne hängt davon ab, ob der Theaterraum als geschlossener Behälter oder als offene Raumbühne konzipiert ist, die eine Zuschauerpartizipation im szenischen Raum zulässt, der als Zwischenraum von Bühnen- und Zuschauerraum einem gemeinsamen Erlebnisraum von Darstellern und Zuschauern entspricht. In dieser Hinsicht hat Theater mehrfache Bedeutung: • als architektonisches Gerüst für Theaterspielen und Verortung der Handlung,

14vgl.:

Goffman (1980). (2016b).

15Wadenfels

Teil 3. Szenosphäre als Raumbildung

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• als raumbildender Prozess auf der Bühne und im Zuschauerraum, der zum Kontextabgleich führt und Zuschauer und Darsteller im szenischen Raum zu einem gemeinsamen Raumerlebnis miteinander vereint. Nach Bernhard Wadenfels verkümmert dieser Bedeutungsgehalt, wenn ein Raum als ein in sich abgeschlossener Behälter im Sinne eines Gehäuses aufgefasst wird, da es dort zwar einen Abstand zum Publikum, aber keinerlei Ferne oder Nähe gibt und sich auch nichts am rechten oder falschen Ort befinden kann. So ein von den Zuschauern isolierter Raum bietet aufgrund seiner Abgeschlossenheit nur ein sehr begrenztes gemeinsames Erlebnisspektrum. Bernhard Wadenfels bezeichnet den mentalen Nutzungsraum des Internets als einen digitalen Raum, der etwas repräsentiert, das bereits woanders real existiert und dessen Dimensionen unberechenbar sind, da er topologisch nicht fassbar ist. Allerdings spielt für Wadenfels in einem digitalen Raum die Raumerfahrung keine tragende Rolle und es bleiben lediglich physikalische Daten und Algorithmen zurück, die sich genauso wenig selbst verorten wie eine mathematische Gleichung. Dem ist entgegen zu halten, dass der digitale Datenraum des Internets zwar physikalisch nicht existiert, bei der Nutzung aber durchaus erlebbar ist, da er sich im Nutzungsprozess performativ als mentaler Informations- und Handlungsraum formt, der seinen Nutzern die Interaktion an vorherbestimmten Orten ermöglicht. Somit entspricht die Internetnutzung einem performativen Akt, der vom Nutzer bestimmt und gesteuert wird. Wadenfeld definiert einen Ort als das, wo man sich gegenwärtig befindet, im Gegensatz zu dem, wo man bereits war oder sein möchte. Bernhard Wadenfels: „Unter Ort, griechisch topo, lateinisch locus, verstehe ich das Hier und Jetzt, wo sich jemand befindet, der ausdrücklich oder unausdrücklich hier sagt und das im Gegensatz zum dort, wo man war, wo man möglicherweise sein wird oder wo man sein möchte. Im Gegensatz dazu verstehe ich unter Raum (lateinisch spatium) den Bereich, in den man sich, andere und alle Dinge einordnet.“16

Der Terminus „einordnen“ ist im Kontext performativer Raumbildung auch als „einorten“ zu verstehen. Für Wadenfels ist ein Raum dann objektiv, wenn er real existiert und subjektiv, wenn er sich als Ergebnis performativer Raumerfahrung konstituiert. Aber nur dann, wenn Handlungen ausgeübt werden, da nur so ein performativer Handlungsraum entstehen kann, der sich mittels Interaktionen individuell formen lässt. Da sich ein Raum aus dem Beziehungsgeflecht verschiedener Orte konfiguriert, liegt seinem Ordnungssystem auch eine Topologie zugrunde. In Bezug auf performative Raumbildung und Raumerfahrung charakterisiert Topologie alle Ortsbeziehungen und das Prozessuale, das aus der Wahrnehmung und Kognition der Objekte, Materialien und Raummaße resultiert.

16Wadenfels

(2016c).

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3  Szenosphäre als Raumbildung

Die Theaterwissenschaftlerin Ruth Prangen definiert Szenosphäre als durch die Szenografie hervorgebrachte Atmosphäre und die auf der Theaterbühne installierte und vom Rezipienten wahrgenommene Szenografie als Szenotopie. Beides wird als Resultat des szenografischen Gestaltens von einem Szenografen verantwortet, der es miteinander kombiniert und räumlich in Erscheinung bringt. Die Szenografie unterscheidet sich von der Bildenden Kunst und der Architektur explizit darin, dass es sich dabei nicht nur um die räumliche Darstellung von etwas handelt, sondern um dessen Verräumlichung. Szenografische Raumbildung ist nicht mit Raumeinrichtung gleichzusetzen, sondern initiiert raumbildende Prozesse, welche räumliche Erfahrung und Raumentfaltung prozessual erlebbar machen, unabhängig davon, ob der Raum eine wahrnehmbare Topologie aufweist oder nicht. Daraus lässt sich ableiten, dass es sich beim Internet um die Szenografie eines topologisch nicht fassbaren Raumes handelt, dessen interaktive Nutzung als ein Akt der performativen Raumbildung zu verstehen ist, der auch alle Erfahrungswerte bei der Nutzung realer und imaginärer Räume mit einschließt.

Literatur Eke, N. O., Haß, U., & Kaldrack, I. (2016). Bühne – Raumbildende Prozesse im Theater (S. 9)., Automatismen der Universität Paderborn Paderborn: Verlag Wilhem Fink. Fischer-Lichte, E. (1998). Theater seit den 60er Jahren: Grenzgänge der Neo-Avantgarde., ­Uni-Taschenbücher Bern u München: Francke. Goffman, E. (1980). Rahmen-Analyse, Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt a/M: Suhrkamp. Milla, J. (2004). Media-Spaces. In Szenografie in Ausstellungen und Museen (S. 152). Essen: G. Kilger/DASA. Rheingold, H. (1993). Virtual community – Homestanding oft the electronic frontier. Verlag Addison Wesley. Scorcin, P. (2009). Metaszenografie. In R. Bohn & H. Wilharm (Hrsg.), Inszenierung als Ereignis (S. 309). Bielefeld: transcript. Strauss, W., & Fleischmann, M. (2008). Space of Knowledge, Architektur vernetzter Wissensräume. https://www.researchgate.net/publication/238735906_Aesthetics_of_Knowledge_ Space. Wadenfels, B. (2016a). Die Bühne als Brennpunkt des Geschehens: Theaterschwelle und Theaterrahmen. In Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater. Schriftenreihe Automatismen der Universität Paderborn (S. 17). München: Verlag Wilhem Fink. Wadenfels, B. (2016b). Die Bühne als Brennpunkt des Geschehens: Diesseits und jenseits der Rampe. In Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater. Schriftenreihe Automatismen der Universität Paderborn (S. 24). München: Verlag Wilhem Fink. Wadenfels, B. (2016c). Die Bühne als Brennpunkt des Geschehens: Ort und Raum. In Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater. Schriftenreihe Automatismen der Universität Paderborn (S. 18). München: Verlag Wilhem Fink. Wiens, B. (2016). Verkabelte Bühnen. Szenographie im Spannungsfeld zwischen Theater und anderen Medien. In: Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater. Schriftenreihe Automatismen: an der Universität Paderborn (S. 173). Paderborn: Verlag Wilhem Fink.

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Dramaturgie als Raumnutzung

Teil 4. Dramaturgie als Raumnutzung Eine dramaturgische Inszenierung, ob am Theater oder für ein anderes Medium, bedarf zuvor der konzeptionellen Planung und Erarbeitung einer speziellen Dramaturgie, die der Handlung eine Aussage verleiht, damit die Botschaft zum Tragen kommt und die Adressaten erreicht, um Emotionen zu wecken und Entscheidungen zu initiieren. Dramaturgie leitet sich vom griechischen Wort dramaturgia (dramatische Darstellung) ab und bezeichnet die Lehre vom äußerem Aufbau des Dramas und den Gesetzmäßigkeiten der inneren Struktur als Bestandteil der literarischen Gattung Dramatik. Der Theaterwissenschaftler Gottfried Fischborn1 wertet die Dramaturgie als eine prozessuale und strukturierte Tätigkeit, die als Vorgang und Folge von Geschehnissen auf Basis raumzeitlicher Struktur und Kommunikation im sozialen und gesellschaftlichen Bereich des öffentlichen Lebens stattfindet. Der klassischen Aufbau eines Dramas entspricht dem Kompositionsprinzip des Spannungsbogens, der von der Exposition, über den Konflikt zur Peripetie, als ein Wendepunkt der Handlung, zum Ergebnis führt. Im Theater bestimmt der dramaturgische Spannungsbogen den Ablauf der Bühnenhandlung und somit nicht nur was die Darsteller tun, sondern auch wie sie es tun. Das dramaturgische Bühnenarrangement ordnet dramatische Vorgänge als Szene, die sich in einer Handlung vergegenständlicht und einer Abfolge aus zusammengehörenden Vorgängen und Ereignissen entspricht, die das dramatische Gefüge einer Aufführung bilden. Dramatische Vorgänge werden nicht nur am Theater bearbeitet, sondern auch für alle Medien, denen eine spezielle Erzählweise zugrunde liegt, die den Geschehnissen eine verständliche Form verleiht. Eine dramaturgisch geplante Handlung wird von ihrem Anliegen und von ihrer inhaltlichen Aussage bestimmt und ver-

1vgl.:

Fischborn (1973).

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Moritz, Szenografie digital, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31074-5_4

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4  Dramaturgie als Raumnutzung

mittelt Zuschauern die beabsichtigte Botschaft. Die Dramaturgie der Handlung macht die chronologisch geordneten dramatischen Vorgänge und Ereignisse entsprechend einem zuvor erarbeiteten Inszenierungskonzept sichtbar und initiiert örtliche und zeitliche Entwicklungen als kausale Zusammenhänge. Ein auf dramaturgischer Grundlage inszenierter dramatischer Vorgang verleiht der literarischen Handlung eine Aussage und ihre beabsichtigte Bedeutung. Der Literaturwissenschaftler Jürgen Link2 definiert eine literarische Handlung als ein System aus Textmerkmalen oder Zeichen, das auf Basis einer Erzähltheorie konfiguriert und zeitlich determiniert erscheint. Am Theater erfolgt der Handlungsablauf entsprechend dem Szenarium, in dessen Mittelpunkt der Protagonist steht, der einen Konflikt auslöst und einer Lösung zuführt. Jede Handlung verläuft im kausalen Zusammenhang von Ort und Zeit. Was bedeutet, dass sie an einen bestimmten Ort gebunden ist und dort nach einem zeitlich determinierten Ablauf erfolgt, der planbar und berechenbar ist. Die klassische Handlungslehre des griechischen Philosophen Aristoteles gliedert den Prozess des dramatischen Handelns nach Anfang, Mitte und Ende Unter Anfang versteht er das, was nicht notwendigerweise auf etwas folgt, jedoch etwas Neues nach sich zieht und unter Mitte das, was etwas folgt und gleichzeitig auch etwas nach sich zieht, während das Ende auf etwas folgt, dem nichts mehr folgt. Demnach entspricht die dramaturgisch geplante Handlung einem linearen Prozess, der zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort beginnt und als Erfolg oder Misserfolg endet. Jede Handlung hat einen Anfang und ein Ende, wobei ihr Verlauf nicht nur an einen Ort gebunden ist, sondern auch an einem anderen Ort fortgeführt werden kann. Eine dramatische Handlung hat eine erzählende Funktion und wird von Personen getragen, die miteinander in einem Dialog stehen. Das Drama, altgriechisch dráma (Handlung), entspricht einem literarischen Text, der im Spiel der Darsteller oder als performativer Akt des eigenen Handelns zur Aufführung gelangt. Handlungen werden nach Handlungsart und Handlungsaufbau unterschieden. Handlungsarten: • Die äußere Handlung ist das, was wahrgenommen wird und entspricht den sichtbaren dramatischen Vorgängen im Theater und in den audiovisuellen Medien. • Die innere Handlung ist dadurch gekennzeichnet, wie etwas wahrgenommen wird und charakterisiert, wie eine Person in einer bestimmten Situation sieht, fühlt, denkt und etwas verbal oder nonverbal zum Ausdruck bringt. Bei der interaktiven Nutzung des Internets sind beide Handlungsarten miteinander verbunden, da der Nutzer im performativen Prozess der Raumbildung unmittelbar darauf reagiert, wie er den Raum wahrnimmt und daraufhin entscheidet, wann und wo er eine

2vgl.:

Link (1990).

Teil 4. Dramaturgie als Raumnutzung

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Interaktion auslöst. Er fungiert somit als Handlungsträger, da er den Raum performativ formt und ihn als Ergebnis seines eigenen Handelns wahrnimmt. Handlungsaufbau Geschlossene Handlung mit linearer Handlungsstruktur: Die geschlossene Handlung entspricht dem klassischen Drama nach Aristoteles und verläuft linear als dramaturgischer Spannungsbogen in mehreren Handlungsstufen als eine Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Handlungsstufen der geschlossenen Handlung: 1. Exposition: Beginn als Problem. Führt den Zuschauer in das Thema ein und stellt die handelnden Figuren des Dramas vor. 2. Konflikt: Dramatik spitzt sich zu. Der Handlungsverlauf gewinnt an Spannung. 3. Höhepunkt: Es scheint, als ob der Held des Dramas den Konflikt überstanden hätte. 4. Peripetie: Abkehr oder Umschwung der Handlung durch ein unerwartetes Ereignis. Der Ausgang der Handlung erscheint offen. 5. Schluss: Katastrophe tritt ein oder das Problem wird gelöst. Es siegt oder unterliegt die Hauptfigur. Eine geschlossene Handlung verfügt über einen linearen und zielgerichteten Handlungsablauf vom Beginn der Handlung bis zum Höhepunkt, an dem sich entscheidet, ob weiteres Handeln zur Katastrophe oder zur Lösung des Konflikts führt und wird als Haupthandlung in der Regel ohne Ortswechsel und Nebenhandlung vollzogen. Offene Handlung mit unstrukturiertem Handlungsaufbau: Die Form der offenen Handlung ist freier, die einzelnen Handlungsstufen sind nicht logisch verknüpft und führen zu keinem Höhepunkt und zur Peripetie, die eine Katastrophe auslöst oder die Lösung des bestehenden Problems einleitet. Es finden auch Nebenhandlungen und Ortswechsel statt. Die Handlungsabläufe verlaufen differenzierter, folgen keiner erkennbaren Struktur und lassen auch keine dramaturgische Absicht erkennen, es sei denn, die angewandte Dramaturgie zielt auf eine Narration, die unterschiedliche Handlungsebenen ohne Höhepunkt und dramatischen Umschwung impliziert. Die klassische Handlungslehre des griechischen Philosophen Aristoteles gliedert den Prozess des Handelns als Ganzheit und Einheit analog der Handlungssequenzen Anfang, Mitte und Ende und verweist darauf, dass aus der bloßen Addition einzelner Handlungsabschnitte noch keine Einheit hervorgeht. Sie sollten nach Aristoteles viel-

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4  Dramaturgie als Raumnutzung

mehr „so zusammengefügt sein, dass sich das Ganze verändert und durcheinander gerät, wenn irgendein Teil umgestellt oder weggenommen wird.“3 Dieser Prozess verläuft als geschlossene Handlung linear, ist aufgrund der erzählenden Funktion narrativ und außer den Inszenierungen an Theater oder Oper und den Film- oder Fernsehinszenierungen auch den Handlungsabläufen im Internet immanent. In seiner „Film- und Fernsehanalyse“ misst der Hochschullehrer und Medienwissenschaftler Lothar Mikos der Dramaturgie die Aufgabe zu, „die Kette von Ereignissen, in denen Personen handeln, so zu gestalten, dass bestimmte kognitive und emotionale Aktivitäten bei den Zuschauern angeregt werden.“4 Um dieses Ziel zu erreichen werden bei den Inszenierungen am Theater und den audio-visuellen Medien spezielle dramaturgische Mittel eingesetzt, mit denen Emotionen der Zuschauer geweckt werden, die sie zum Handeln zu motivieren. Dramatik und Dramaturgie sind auch bei der interaktiven Nutzung des Internets relevant, da die Nutzungsdramaturgie den Nutzungsverlauf vorgibt und regelt, wann und wo Interaktionen mit dem System möglich sind. Der Wert der Nutzungsdramaturgie ist demnach auch daran zu bemessen, ob sie dem Nutzer alle Möglichkeiten zur Interaktion aufzeigt, zielsicher durch die Anwendung geleitet, bei der Auswahl von Funktionen und Informationen Freiräume belässt, die Persönlichkeit nicht einschränkt und es ihm ermöglicht, im interaktiven Nutzungsprozess bisherige Grenzen zu überschreiten. Eine Situation oder eine Handlung sind immer dann als dramatisch anzusehen, wenn ihnen eine zwingende Auseinandersetzung innewohnt, die auf einer bestimmten Absicht beruht, der unterschiedlich wirkende Kräfte und ungewöhnliche Zufälle zugrunde liegen. Dramatik charakterisiert als literarische Gattung außergewöhnliche Geschehnisse als Aktivität oder Handlung, die erst dramatisch sind, wenn sie auf scheinbar unüberbrückbaren Gegensätzen oder Widersprüchen beruhen, die einer Lösung bedürfen. Im klassischen Drama ist der Handlungsverlauf dramaturgisch begründet, verläuft mehrstufig als Rede und Gegenrede, entspricht als aktionaler Dialog dem Wechselgespräch zwischen zwei oder mehreren Personen und bedingt situationsbedingtes und situationsveränderndes Handeln. Auch das interaktive Nutzungsszenario im Internet basiert auf aktionalen Dialogen zwischen System und Nutzer, dem die Entscheidung abverlangt wird, wann er die Funktionen zu nutzen gedenkt, die an bestimmten Interaktionspunkten vom Computersystem vorgegeben sind. Der Nutzungsverlauf ist systemimmanent, während der interaktive Handlungsablauf vom Nutzer bestimmt wird, der entscheidet, wie er interagiert. Nutzungsverlauf und Handlungsablauf sind ein Bestandteil des interaktiven Szenarios und basieren auf der Nutzungsdramaturgie, welche die performative Raumbildung lenkt, die aus den Interaktionen mit dem System resultiert.

3vgl.: Aristoteles: 4Mikos

Poetik, Kap. 9. (2008a), S. 49.

Teil 4. Dramaturgie als Raumnutzung

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Vergleicht man die Nutzungsdramaturgie des Internets mit der Dramaturgie eines szenischen Theaterspiels, erweist sich auch die Auseinandersetzung mit den Inszenierungsstrategien des Epischen Theaters nach Bertolt Brecht als sinnvoll, denn dort bietet ein Drama wesentlich mehr als die Darstellung handelnder Personen. Nach Brecht ist eine Handlung vielschichtig, wenn sie auf mehreren Handlungsebenen verläuft. Deshalb wird sie im Epischen Theater von einem Erzähler kommentiert, während im Hintergrund eine Parallelhandlung zu sehen ist, die partiell mit projizierten Bilddokumenten und erklärenden Texttafeln bereichert wird. Die Zuschauer erleben die Theaterbühne ganzheitlich und gewinnen Distanz zu den dargestellten Figuren. Die Vorgänge auf der Bühne sind dabei einem Entfremdungsprozess ausgesetzt, der die Bühnenhandlung auf eine höhere Ebene hebt und die Botschaft eindeutiger vermittelt. Das gestaltete Bühnenbild verliert seine dekorierende Funktion und emanzipiert sich zu einem komplexen Lebens- und Erlebnisraum. Diese theatralisierende Darstellungsform entspricht einem erzählenden Theater, das die dramatischen Vorgänge zusätzlich illustriert und somit im Theater noch ein weiteres Theater inszeniert. Durch diese bewusst gespielte Realität bewahrt das Bühnengeschehen seinen Abstand zur eigentlichen Realität und vermittelt dem Zuschauer eine bereits interpretierte Welt, die dessen Meinungsbildung besonders herausfordert. Für Brecht „bleibt das Theater ein Theater, auch wenn es Lehrtheater ist, denn soweit es gutes Theater ist, ist es auch amüsant.“5 Mit dieser Aussage betont Brecht seine Absicht, die Zuschauer zu unterhalten, zu bilden, zum Nachdenken anzuregen und ihnen Entscheidungen abzuverlangen, die sie zum Handeln veranlassen. Das epische Theater nach Bertolt Brecht setzt bewusst auf eine Rahmung der Vorgänge und unterbreitet dem Publikum ein inszeniertes Bühnengeschehen als Abstand zur gewohnten Realität. Der gestaltete Bühnenraum öffnet sich und zeigt eine illustrierte und interpretierte Realität, die den Zuschauern Raum für Fantasie und eigene Meinungsbildung belässt. Exemplarisch für diese Art des Theaterspielens sind die Inszenierungen des amerikanischen Architekten und Lichtdesigners Robert Wilson, der die Theaterbühne zu einem immateriellen Licht-Bildraum umfunktioniert, der den Darstellern Freiraum für eigene Aktionen belässt. Die Bühnenarrangements beschreiben einen Raum, der sich erst beim spielen konstituiert. Wilsons Lichtarrangements dienen nicht nur einem atmosphärischen Zweck, sondern haben auch eine architektonische und raumbildende Funktion, da sie die Theaterbühne nicht nur ausleuchten, sondern auch als Spielraum strukturieren. Wilsons Licht-Bild-Räume sind partiell beleuchtet, haben keinerlei Tiefenbegrenzung und wirken damit unendlich. Symptomatisch für Wilsons Raumbildinszenierungen ist eine spezielle Bühnen-Rahmung, die im Sinne des epischen Theaters nach Bertolt Brecht das Bühnengeschehen zitiert, um es dadurch auf eine höhere Stufe zu heben. So entsteht ein Lehrstück, welches das Publikum nicht nur unterhält, sondern auch bildet. Brecht war davon überzeugt, dass Theaterspielen im wissenschaftlichen

5Brecht

(1963), S. 58.

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4  Dramaturgie als Raumnutzung

Zeitalter auch der Wissenschaften bedarf, um wahrgenommen und verstanden zu werden. Nach Bertolt Brecht sollte das Ziel einer integrativen Inszenierung stets darin bestehen, die bekannte Realität mittels dramaturgischer Verfremdung auf eine neue Ebene zu heben, um sie somit aktueller und verständlicher zu machen. Robert Wilson über das epische Theater das epische Theater von Bertolt Brecht „Brecht wollte ein Episches Theater und im Epischen Theater sind alle Elemente gleich wichtig. Ich fühle mich der Idee sehr nahe, dass eine Landschaft keine Bühnendekoration ist, sondern ein wesentlicher Teil des Ganzen. Das Aussehen eines solchen Brecht-Theater-Raumes und sein Klang sind etwas sehr Spezielles. Er hat damit eine eigene Welt erschaffen und eine Theatersprache entwickelt, die wirklichkeitsnah und universell ist.“6

Brecht vollzog mit seiner „Theatersprache“ in den 1920er Jahren einen radikalen Bruch mit dem Illusionstheater. Die Tradition des klassischen Dramas, das die dramatischen Vorgänge in Form einer Handlung erzählt, wurde zwar beibehalten, erfuhr aber eine Verfremdung, da sein episches Theater bewusst als „Theater“ wahrgenommen werden sollte, das dramaturgisch zwar einen Abstand zur Realität aufweist, inhaltlich aber dem realen Leben entspricht und verändernd wirkt. Mit diesem inszenierten Abstand ist eine Dramaturgie dramatischer Stoffe verbunden, die mehr Kreativität bei deren Inszenierung ermöglicht und durch Anwendung dramaturgischer Mittel, wie Verfremdung und Parabel zum Tragen kommt. Den Charakter einer Figur oder einen szenischen Vorgang zu verfremden, bedeutet nach Bertolt Brecht: „Dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen.“7 Der eigentliche Neuwert besteht darin, dass die Zuschauer die Akteure nicht als ihrem Schicksal ausgelieferte Individuen erleben, sondern als selbstbestimmte Persönlichkeiten, die in Lage sind, ihre individuelle Situation zu verändern. Nach Brecht lernt der Zuschauer im Epischen Theater: „Dieser Mensch ist so und so, weil die Verhältnisse so und so sind. Und die Verhältnisse sind so und so, weil der Mensch so und so ist. Er ist aber nicht nur vorstellbar, wie er ist, sondern auch anders, so wie er sein könnte, und auch die Verhältnisse sind anders vorstellbar, als sie sind.“8 Bei der Parabel handelt es sich um ein lehrhaftes Gleichnis oder einen Vergleich, der Fragen über ethische Grundsätze oder die menschliche Moral aufwirft und in direktem Bezug zur dramatisch bedingten Handlung oder Entscheidung steht. Als dramaturgisches Mittel dient die Parabel dazu, die Zuschauer oder Zuhörer einer Inszenierung zum Nachdenken anzuregen und Erkenntnisse zu initiieren. Der Begriff Parabel entstammt der antiken Rhetorik und heißt wörtlich übersetzt: „nebeneinanderwerfen“. Im dramaturgischen Sprachgebrauch bedeutet er, einen komplizierten Sachverhalt oder schwer

6Wilson

(2017/18). (1963), S. 53. 8Brecht (1963), S. 54. 7Brecht

Teil 4. Dramaturgie als Raumnutzung

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durchschaubaren Vorgang durch verständliche Beispiele, aufschlussreiche Bilder oder erfundene Beispiele zu veranschaulichen und dadurch verständlicher zu machen. In der Definition der Parabel wird zwischen der Bildebene als dem Bildbereich und der Sachebene als dem Sachbereich einer Geschichte unterschieden. Die im Vordergrund stehende Handlung hat als sichtbare Bildebene übertragende Bedeutung. Die Parabel leitet daraus das Allgemeine als Sachebene ab, die den Zuschauer zum Nachdenken anregt und ihm eine Entscheidung abverlangt. Eine Parabel offenbart ihre eigentliche Bedeutung nicht in der Geschichte selbst, sondern in deren Inhalt. Aus der Bildebene einer Geschichte entsteht dabei eine Sachebene mit konkreter Aussage. Das epische Theater verfolgt demnach das Ziel, die Zuschauer zu motivieren, sich aktiv am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen und versucht, ihnen begreiflich zu machen, dass die politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Situation, in der sie sich befinden, durch sie selbst veränderbar ist. Nach Brecht soll das Theater zum Handeln anregen und dazu beitragen, dass die Zuschauer aktiv werden und ihre Verhältnisse verändern. Episches Theater ist demnach auch veränderndes Theater, wo der Zuschauer kein passiver Rezipient mehr ist und durch seine Reaktionen das Geschehen auf der Bühne unmittelbar beeinflusst. Das Szenario der Internetnutzung ist mit der Inszenierung eines dramatischen Vorgangs am Theater vergleichbar, da sich im Internet Handlungsabläufe dramaturgisch inszenieren lassen. Im diesem Kontext gilt es, die These des Epischen Theaters über die „Notwendigkeit zu handeln“ aufzugreifen, und auf das systematische Gestalten grafischer Benutzeroberflächen zu adaptieren, da deren Systemisches Design die Nutzer zum Handeln motiviert und ihnen im Handlungsablauf notwendige Entscheidungen zur Interaktion mit dem System abverlangt. Die Lehre von den Formgesetzen des Dramas verleiht einem Inhalt oder einer Handlung die entsprechende Aussagekraft, die Zuschauer emotional berührt und zum Handeln motiviert. Die dramaturgischen Kompositionsmerkmale einer Inszenierung, die dem Handlungsaufbau und dem Handlungsverlauf immanent sind, entsprechen nicht immer den Handlungsstufen der geschlossenen Handlung und wurden in den kulturhistorischen Epochen sehr unterschiedlich gehandhabt. In der gegenwärtigen Inszenierungspraxis ist der klassische Formenkanon des Dramas, der die Handlung über fünf Akte von der Exposition zur Peripetie bis zur Lösung des Konfliktes führt, explizit nicht zwingend und der Konflikt, der als dramatisches Element bereits im literarischen Text angelegt ist, wird nicht immer als stücktragend angesehen. Allerdings wird auch heute noch die Dramaturgie als Mittel zur theatralischen Umsetzung von literarischen Texten angewandt. Sie stellt für jede Art von Inszenierung ein unverzichtbares Werkzeug dar, das der Aufführung oder einem Ereignis die adäquate Form verleiht, die Zuschauer emotional anspricht und bei ihnen die gewünschten Reaktionen auslöst. Die Dramaturgie analysiert die literarische Vorlage und entwickelt daraus für deren szenische Umsetzung ein Konzept, das die Widersprüche und Charaktere der Handelnden heraus stellt, die daraus erwachsenen Situationen eindeutig interpretiert und die dramatischen Drehpunkte markiert, die innerhalb der Handlung zu Entscheidungen führen. Der

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4  Dramaturgie als Raumnutzung

eigentliche Charakter der handelnden Figuren offenbart sich erst in deren situationsbedingtem Verhalten, das die Handlung vorantreibt und das Geschehen auf der Theaterbühne dramatisiert. Alle dabei angewandten dramaturgischen Prinzipien zielen auf die inszenatorische und schauspielerische Umsetzung des Vorlagetextes, die auf der Bühne zum Tragen kommt. Sie formen daraus den Inhalt, der vom Zuschauer als authentisch wahrgenommen, aber individuell interpretiert wird. Die zunehmende Bedeutung der Dramaturgie beruht nicht allein darauf, dass epische Texte in neuen theatralen Konstellationen zur Aufführung gelangen. Sie basiert auch auf einem neuen Themenverständnis derjenigen Zuschauer, die eine Theatervorstellung nicht nur als simple Unterhaltungskunst begreifen. Außer in den Genres der darstellenden Kunst, wird Theatralität auch überall dort praktiziert, wo Personen öffentlich in Erscheinung treten. Jede öffentliche Präsentation bedarf einer Inszenierung, der eine spezielle Dramaturgie zugrunde liegt, welche ihr die angestrebte Wirkung und Aussagekraft verleiht. Das gilt auch für Veranstaltungen oder Produktpräsentationen, bei denen keine Darsteller oder Moderatoren anwesend sind. Das Epische Theater von Brecht verfolgt das Ziel, dem dramatischen Vorgang oder dem Charakter einer Darstellung das Selbstverständliche, Bekannte und Einleuchtende zu nehmen, um dadurch das Publikum in Staunen zu versetzen und dessen Neugier zu wecken. Mit den dramaturgischen Mitteln der Verfremdung produziert das epische Theater Lehrstücke, deren Anliegen darin besteht, das Theaterpublikum betroffen zu machen und zum Nachdenken zu motivieren, das Veränderungen auslöst. Dieser theaterpädagogische Ansatz kommt aber nur zum Tragen, wenn sich Zuschauer durch das Spiel der Darsteller provoziert fühlen und dazu eine eigene Alternative erwägen. Dieses Prinzip des Mitdenkens und Mitgestaltens ist als essenzieller Teil der Zuschauerpartizipation auch Gegenstand performativer Raumerkundung. Allerdings werden dabei die Reaktionen der Zuschauer nicht nach außen getragen, sondern tragen unmittelbar vor Ort zur performativen Raumbildung durch den Akteur bei. Im Kontext performativer Raumerfahrung bei der Internetnutzung gilt es zu analysieren, mit welchen dramaturgischen Mitteln sich dort die performative Raumbildung initiieren lässt und welche Raumerlebnisse dabei transferiert werden. Im Theater vollzieht sich Raumbildung als eine hybride Raumkonstellation aus dem bespielten physikalischen Raum als Aufführungsort und dem gespielten dramatischen Raum, als Teil der Narration, die auf der Bühne stattfindet. Der Theaterwissenschaftler Daniel Fulda definiert in seiner Publikation „Bretter, die die Welt bedeuten – bespielter und gespielter Raum“9 reale und fiktionale Räume im Theater als

9Fulda

(2009).

Teil 4. Dramaturgie als Raumnutzung

• • • • •

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Bühnenraum (bespielter Raum der Theaterbühne, auf der die Darsteller agieren), dramatischer Raum (gespielter, imaginärer Raum, der beim Theaterspiel entsteht), Zwischenraum (lokales Verhältnis zwischen dem Zuschauer- und dem Bühnenraum), Erfahrungsraum (Beziehungsgeflecht zwischen gespieltem und bespieltem Raum), architektonischer Raum (Theaterarchitektur und deren spezifische Bühnenformen).

Fulda betont, dass alle Impulse zur Ausbildung fiktionaler Räumlichkeit beim Zuschauer das Resultat der neurologischen Wahrnehmung sind und jeweils von der individuellen kognitiven, emotionalen und intellektuellen Analyse des bespielten Raumes ausgehen. „Als fiktiv wird das bezeichnet, was erdichtet und erfunden ist. In Literatur und Dichtung wird von einer Fiktion, einer fiktiven Handlung oder einer Geschichte gesprochen, die von fiktiven Charakteren getragen wird. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich das Fiktive so oder so zugetragen haben könnte und einer nicht verwirklichten Möglichkeit der Wirklichkeit entspricht.“10

Als Synonyme für Fiktion gelten Illusion, Imagination und Vision. Imaginär ist das, was nur in der Vorstellung existiert, also erfunden ist. Am Theater entstehen imaginäre Räume mit dem Spiel der Darsteller und werden weniger von der lokalen Umgebung getragen als von der Aktion selbst. Fiktive Raumbildung ist Ausdruck des aktionalen Handelns und resultiert aus der Syntheseleistung von Zuschauern, Darstellern und dem bespielten Raum. Im Kontext kollektiver Raumbildung im Theater bezeichnet der Theaterwissenschaftler Jens Roselt Theater „als Ort, an dem durch die Platzierung von Zuschauern und Akteuren bzw. deren Syntheseleistungen Räume konstituiert werden. Der Raum des Theaters ist also keine statische Hülle, in der Schauspieler agieren und in die Zuschauer hineinblicken, sondern Raum entsteht als Koproduktion von Schauspielern und Zuschauern an einem Ort.“11

Der Literaturwissenschaftler Wolfram Nitsch bezeichnet das Theaterspiel als ein konzertiertes Zusammenspiel von Darstellern und Zuschauern bei der Transformation des Bühnenraumes in eine fiktive Räumlichkeit. „Am Theater wird der bespielte Raum der Bühne in den gespielten Raum einer fiktiven Realität verwandelt. Entscheidenden Anteil an dieser Transformation hat der Schauspieler, dessen schöpferisches Rollenspiel jedoch der Unterstützung durch den Zuschauer, den Regisseur und den Dramatiker bedarf. Der Theaterzuschauer vollzieht die Verwandlung mit, weil er sich, anders als der Kinobesucher, im gleichen Raum wie der Schauspieler befindet.“12

10Moritz

(2019), S. 146. (2005). 12Nitsch (2009). 11Roselt

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4  Dramaturgie als Raumnutzung

Als Zusammenspiel von Darstellerleistung und Zuschauerreaktion auf das Bühnengeschehen stehen Raumwahrnehmung und Raumdeutung in Bezug zur kinästhetischen, akustischen und visuellen Raumerfahrung, die von den äußeren Sinnesreizen des Raumes, wie Geruch, Licht, Wärme und Kälte getragen wird. Die interaktive Nutzung des Internets und die Erzählform des epischen Theaters weisen im Handlungsablauf Gemeinsamkeiten auf, da auch die Informationsvermittlung im mentalen Informations- und Handlungsraum des Internets auf einer Nutzungsdramaturgie basiert, die mit den dramaturgischen Techniken der Verfremdung Inhalte narrativ vermittelt, um eine effiziente Erschließung des Informationsangebotes zu ermöglichen. Ein Vergleich mit dem epischen Theaters offenbart dort eine ähnliche Herangehensweise bei der Inszenierung von dramatischen Vorgängen, die entsprechend dem dramaturgischen Spannungsbogen verlaufen. Das Internet ist mit der Theaterbühne vergleichbar, da auch dort Handlungen dramaturgisch inszeniert und die Informationen als szenischer Vorgang vermittelt werden. Die Interaktive Nutzung verläuft dabei wechselseitig zwischen System und Nutzer. Dem Nutzer werden an systemrelevanten Orten Entscheidungen abverlangt, ohne dass verbindliche Nutzungswege vorgegeben sind. Systemimmanent ist nur die Nutzungsform. Die Handlungsabfolge obliegt dem Nutzer, der selbst entscheiden kann, wann und wo er Aktionen auslöst. Alle individuell abrufbaren Inhalte und die interaktiv nutzbaren Funktionen sind als immersiver Bildraum gestaltet und in Form grafischer Benutzeroberflächen systematisch und logisch strukturiert, sodass auch der Handlungsablauf vom Nutzer individuell geplant und gesteuert werden kann. Gegenüberstellung: Erzählform episches Theater/interaktive Informationsnutzung • • • • • • • • •

Bühne erzählt einen Vorgang/Bildschirm dokumentiert Handlungsablauf. Zuschauer werden emotional berührt/Nutzer wird zum Handeln motiviert. Aktivität des Zuschauers wird geweckt/Emotionen bewirken Aktionen des Nutzers. Vermittelt Kenntnisse/vermittelt Information und ermöglicht Kommunikation. Zuschauer wird mit Handlung konfrontiert/Nutzer steuert Handlungsablauf. Mensch ist Gegenstand der Untersuchung/Inhalt ist Gegenstand der Nutzung. Spannung auf den Handlungsverlauf/Spannung auf das Nutzungsangebot. Handlung verläuft zielgerecht und linear/Nutzung erfolgt zielgerichtet und nonlinear. Welt erscheint im neuen Kontext/neuer Informations- und Wissenskontext entsteht.

Das interaktive Szenario der Internetnutzung basiert auf einer Nutzungsdramaturgie, die einen mehrdimensionalen Informationsfluss initiiert und sich an dem funktionalen und inhaltlichen Aufbau eines interaktiv nutzbaren Informations- und Kommunikationssystems orientiert. Da es sich dabei um eine audio-visuelle Anwendung handelt, entspricht deren Nutzungsszenario der Erzählform des epischen Theaters und des klassischen Spielfilms unter der Anwendung spezieller Darstellungs- und Gestaltungsweisen, deren Funktion der Medienwissenschaftler Lothar Mikos wie folgt definiert:

Teil 4. Dramaturgie als Raumnutzung

51

„Über die Darstellungs- und Gestaltungsweisen des Films werden die Zuschauer vor allem emotional durch die Erzählung geführt, sie werden in bestimmte Stimmungen versetzt, ihre Aufmerksamkeit wird auf einzelne Aspekte im Bild gelenkt, ohne dass dies immer bewusst wird. Auf diese Weise werden sie in die Perspektiven der Erzählung und der Repräsentation eingebunden.“13.

Dramaturgische Mittel des klassischen Spielfilms: • äußere dramaturgische Mittel • innere dramaturgische Mittel Äußere dramaturgische Mittel des Spielfilms: • Schauspielregie • Szenografie • Kostümgestaltung • Bildgestaltung • Lichtgestaltung • Tongestaltung Äußere dramaturgische Mittel des Spielfilms entsprechen audio-visuellen Gestaltungsmitteln, beinhalten spezifische Darstellungs- und Gestaltungsweisen auf Grundlage von Dramatik und Ästhetik, positionieren den Zuschauer zum Handlungsgeschehen und bestimmen das Erleben der dargebotenen Handlung. Die auf diese Weise entstandenen Bilder und Töne stellen nicht nur etwas dar oder bilden etwas ab, sondern sind auch entsprechend dem Inhalt gestaltet. Alle filmischen Gestaltungsmittel stehen miteinander in einer Wechselbeziehung, beruhen auf den Konventionen audio-visueller Darstellung, wecken die Emotionen der Zuschauer und regen sie dazu an, die verschiedenen Aspekte visueller und auditiver Gestaltungsweise zueinander in Beziehung zu setzen, was zum Verständnis und intensivem Erlebnis des Films beiträgt.14 Innere dramaturgische Mittel des Spielfilms: • • • • • •

Reizerneuerung durch Wende in der Handlung (Peripetie) Antrieb der Handlung durch Konflikte Orientierung durch Exposition Stimmungsübertragung durch Identifikation Wiedererkennung durch ein Leitmotiv Erörterung der Vorgänge durch Monologe und Dialoge

13Mikos 14vgl.

(2008a), S. 54. Mikos (2008b).

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4  Dramaturgie als Raumnutzung

Die inneren dramaturgischen Mittel des Spielfilms transportieren die Handlung, verdeutlichen die dramatischen Vorgänge, treiben das Handlungsgeschehen voran, verleihen der Handlung die beabsichtigte oder erforderliche Aufmerksamkeit und tragen damit wesentlich zu einer eindeutigen und verständlichen Botschaftsvermittlung bei. Alle dramaturgischen Mittel sind in ihrer Gesamtheit auf den Entwicklungsprozess interaktiv nutzbarer Medien adaptierbar, da sie die Funktionen und Inhalte verständlich machen, den interaktiven Dialog zwischen Nutzer und System befördern und zum Handeln motivieren. Außerdem forcieren sie die performative Raumbildung und ermöglichen, dass sich der Nutzer im mentalen Nutzungsraum des Internets orientieren kann und die Funktionen und Informationen zielgerecht zu nutzen vermag. Die performative Raumbildung basiert auf der Interaktion mit dem Computersystem und vollzieht sich auch nur dann, wenn der Nutzungsprozess raumbestimmende Parameter und spezielle Verhaltensweisen impliziert, die dem Nutzer bereits aus der Realität bekannt sind. Da der mentale Nutzungsraum des Internets ausschließlich über den immersiven Bildraum der grafischen Benutzeroberfläche zugänglich ist, ist diese adäquat den Prinzipien der visuellen Wahrnehmung und visuellen Kommunikation als Systemisches Design zu gestalten, das den Nutzer motiviert, im interaktiven Nutzungsprozess orientiert und ihm die Wege aufzeigt, auf denen er möglichst schnell zum Ziel seiner Wünsche gelangt. Die interaktiven Informations- und Kommunikationsprozesse bei der Internetnutzung sind als Ausdruck kollektiver Wissensaneignung und kollaborativen Informationsaustauschs auch mit globaler Informatisierung gleichzusetzen. Das Internet ermöglicht, individuelles Wissen als Informationen in digitale Äquivalente zu transferieren, die das kollektive Wissen bereichern. Dieser wechselseitige Prozess der Partizipation vollzieht sich als Interaktion und basiert auf interaktiven Handlungsabläufen, die performative Raumbildungen implizieren, kollaborative Zusammenarbeit fördern und damit wesentlich zur kollektiven Wissensbildung beitragen. Der Medienwissenschaftler Alexander Klier bewertet im Internetblog „Informatisierung und Handlung“ den digitalen Handlungsraum des Internets als real und nicht nur vermeintlich oder bloß virtuell, da dieser sehr konkret ist, auf dem Einsatz von Computern beruht und eine wirkungsvolle neue Handlungsebene repräsentiert. „Bereits der Einsatz von dazu notwendigen Computern ist immer konkret, die Folgen der Handlungen immer kontextabhängig, aber eben auch digital gegeben. Dass es sich dabei meistens um medialisierte Formen von Handlungen handelt, macht dabei keinen Unterschied. Die Handlungen bleiben aufgrund der sozialen Beziehungen der agierenden Menschen auch im virtuellen Rahmen voneinander abhängig.“15

15vgl. Klier, A.: Der digitale Handlungsraum, https://www.alexander-klier.net/der-digitale-handlungsraum-1/.

Teil 4. Dramaturgie als Raumnutzung

53

Insofern handelt es sich auch beim digitalen Handlungsraum des Internets, um einen mentalen Raum, der zwar physikalisch nicht vorhanden, vom Nutzer aber durchaus physisch erlebbar ist, da er mit ihm interagiert und alles, was dort passiert, real nachvollziehbar ist und als das Ergebnis der eigenen Handelns den anderen Internetnutzern in digitaler Form erhalten bleibt. Aufgrund von Interaktionen wird der mentale Nutzungsraum des Internets zum performativen Immersionsraum, der den Nutzer immersiv integriert und ohne ihn auch nicht existieren kann, da er sich erst aufgrund dessen Handlungen als Raum konstituiert. Auf diese Weise entsteht ein virtueller Erfahrungsraum, der kollektives Wissen transferiert und zugleich auch als ein interaktiv nutzbarer Daten- und Informationsraum fungiert. Intuitiven Zugang zu den dort bereit gestellten Anwendungen und Informationen erlangt der Nutzer über den immersiven Bildraum der grafischen Benutzeroberfläche, die ihm die Funktionen zur Verfügung stellt, die er für eine effiziente Nutzung benötigt. Der Nutzer ist der Protagonist im Nutzungsprozess und führt im Internet Handlungen aus, die performative Raumbildungen evozieren. In diesem Kontext entspricht der immersive Bildraum der grafischen Benutzeroberfläche einer Schleuse, die den Nutzer gezielt in den mentalen Nutzungsraum des Internets geleitet, wo er mit dem Computersystem interagiert. Dort sind Immersive Raumerlebnisse nur dann gegeben, wenn seitens des Nutzers ein hoher Grad von kognitiver und emotionaler Aktivität vorliegt, der es ihm ermöglicht, unter Anwendung der systemimmanenten Funktionslogik mit dem System zu interagieren und damit aktiv zur eigenen performativen Raumbildung beizutragen. Visualität und Funktionalität der grafischen Benutzeroberfläche reflektieren den strukturellen Aufbau des Internets als ein interaktiv nutzbares Informations- und Kommunikationssystem, der wie folgt gegliedert ist: • • • • •

Präsentationsebene als visuelle Struktur, inhaltliche Ebene als Informationsstruktur, organisatorische Ebene als Datenstruktur, funktionale Ebene als Funktionsstruktur, Nutzungsebene als Navigationsstruktur.

Das Internet entspricht einem globalen Informations- und Kommunikationssystem, dessen struktureller Aufbau sich in unterschiedliche Funktionsbereiche gliedert, denen jeweils ein spezieller Teil des mentalen Nutzungsraumes zuordnet ist. Der strukturelle Aufbau gliedert sich wie folgt: • Visuelle Struktur: Bildraum Formt auf Basis visueller Gestaltungsraster das visuelle Erscheinungsbild der grafischen Benutzeroberfläche, gliedert sie nach funktional-ästhetischen Gesichtspunkten, motiviert den Nutzer im visuellen Ambiente aus Formen und Farben zur interaktiven Nutzung und orientiert ihn im mentalen Nutzungsraum.

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4  Dramaturgie als Raumnutzung

• Informationsstruktur: Informationsraum Gliedert Inhalte und Informationen im Kontext didaktischer Botschaftsvermittlung nach inhaltlicher Logik auf Basis informativer Relevanz. • Datenstruktur: Datenraum Ordnet die Daten entsprechend inhaltlicher und funktionaler Relevanz und bestimmt das gesamte Leistungsspektrum der Anwendung. • Funktionsstruktur: Funktionsraum Bestimmt die Funktionsweise des Systems auf Grundlage des konsistenten Funktionsschemas. • Nutzungsstruktur: Navigationsraum Verknüpft Daten inhaltlich und funktionell auf Basis einer effizienten Nutzungsdramaturgie, offeriert alternative Nutzungswege und koordiniert den Verlauf der interaktiven Nutzung. Im interaktiven Nutzungsprozess formt der Nutzer den mentalen Nutzungsraum des Internets performativ zu einem Handlungsraum indem er gezielt mit dem System interagiert und an systemrelevanten Orten Aktionen auslöst, die den Nutzungsraum modifizieren. Während die vorgegebene Navigationsstruktur systemimmanent ist, unterliegt der Handlungsablauf im mentalen Nutzungsraum dem Nutzer, da dieser selbst entscheidet wann und wo er dort eine interaktive Handlung ausübt. „Der interaktive Dialog mit dem System ist von Handlungsabläufen geprägt, die wie jeder andere dramatische Vorgang auch, vorerst dramaturgisch geplant sowie zeitlich und örtlich organisiert werden müssen. Im dramaturgischen Kontext bedingt Interaktion als aktionaler Dialog mit dem System situationsverändertes Handeln, bei dem der Nutzer zum Protagonisten avanciert, der als Akteur eine Handlung zielgerichtet vorantreibt, deren Verlauf von dessen Nutzerkompetenz und Nutzungsabsicht bestimmt wird.“16

Literatur Brecht, B. (1963). Das epische Theater. In ders.:Schriften zum Theater, Bd. 3. Frankfurt/M. Fischborn, G. (1973). Dramaturgie und Geschichtlichkeit. Berlin: Henschelverlag. Fulda, D. (2009). Bretter, die die Welt bedeuten – Bespielter und gespielter Raum, dessen Verhältnis zur sozialen Um-Welt sowie Geltungsräume des populären Theaters im 17. Und 18. 16Moritz

(2019), S. 32.

Literatur

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Jahrhundert. In D. Jörg, F. Sabine, & K. Kramer (Hrsg.), Theatralität & Räumlichkeit – Raumordnungen und Raumpraktiken im theatralen Medienpositiv. Würzburg, S. 71–86. S. 75. Link, J. (1990). Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. München: Verlag Wilhelm Fink. Mikos, L. (2008a). Film- und Fernsehanalyse. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. Mikos, L. (2008b). zu Ästhetik und Gestaltung. In Film und Fernsehanalyse (S. 49–53). Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. Moritz, T. (2019). Screenogafie kompakt – der immersive Bildraum grafischer Benutzeroberflächen. Wiesbaden: Springer Vieweg. Nitsch, W. (2009). Nachbemerkungen – Raumwechsel mit dem Zuschauer. In J. Dünne, S. Friedrich, & K. Kirsten (Hrsg.), Theatralität & Räumlichkeit – Raumordnungen und Raumpraktiken im theatralen Medienpositiv. Würzburg, S. 251–254, S. 251. Roselt, J. (2005). Die fünfte Wand – Medialität im Theater am Beispiel von Frank Castorfs ­Dostojewski-Inszenierungen. In D. Rosner, G. Wartemann, & V. Wortmann (Hrsg.), Szenische Orte – Mediale Räume, Hildesheim, S. 109–128, S. 116. Wilson, R. (2017/18). Programmheft: Die Dreigroschenoper, Berliner Ensemble.

5

Internet als Nutzungsraum

Teil 5. Internet als Nutzungsraum Das Internet dient als digitales Medium nicht nur der Informationsvermittlung, sondern auch der zwischenmenschlichen Kommunikation und fungiert demnach als Kommunikations- und Informationsmittel, das seinen Nutzern den Zugang zu einer Vielzahl von interaktiv nutzbaren Anwendungen gewährt, die informieren, bilden und unterhalten. Gleichzeitig ist das Internet auch ein virtueller Ort, an dem man sich verabredet, um Erfahrungen auszutauschen und diese auszudiskutieren, was individuelle Meinungsbildung fördert und das eigene Wissen erweitert. Auf diese Weise wird das Internet permanent mit individuellem Wissen bereichert und wächst aufgrund vielseitiger Nutzeraktivitäten zu einem Informations- und Kommunikationsraum, der seinen Nutzern als Informationsquelle und sozialer Treffpunkt dient. Dass es sich beim Internet auch um eine räumliche Struktur handelt, welche physikalisch zwar nicht existiert, von ihren Nutzern aber physisch wahrgenommen wird, erklärt sich allein schon mit den Begriffen, die der Internetnutzung immanent sind. Beispielsweise trifft man sich im Chatroom oder surft ziellos von einem Ort zum anderen, ist im Internet unterwegs oder stellt dort etwas ein damit es wahrgenommen und interaktiv genutzt werden kann. Als soziale Plattform mit weltweiter Akzeptanz entwickelt sich das Internet zunehmend von einer einseitig genutzten Informationsquelle zum Raum für wechselseitige Kommunikation. Das Vokabular der Internetnutzung deutet bereits darauf hin, dass sich die Raumerfahrung aus der realen Welt auf die performative Raumbildung im Internet adaptieren lässt. Der mentale Nutzungsraum des Internets existiert nicht ohne seine Nutzer und wird durch interaktives Handeln zu einem performativen Erlebnisraum geformt, dessen Konstellation sich aus den Raumerfahrungen seiner Nutzer ableitet, deren Nutzungskompetenz den mentalen Raum zu dem macht, was er ist. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Moritz, Szenografie digital, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31074-5_5

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58

5  Internet als Nutzungsraum

Die Wahrnehmungsfähigkeit mentaler Räume hängt von der räumlichen Vorstellungskraft des Nutzers ab, die auf dessen Erfahrung in realen Räumen und verinnerlichten Raumparametern beruht, die den Raum verbildlichen und ihm die Orientierung ermöglichen. Das trifft auch auf die Erschließung eines virtuellen Raumes zu, dessen Dimensionen dem Nutzer fremd sind und die er mit seinen bisherigen Raumerfahrungen abgleicht, um sich ein Raumbild machen zu können. Die Tatsache, dass ein Nutzer im Internet unterwegs sein kann, ohne an sichtbare Grenzen zu stoßen, belegt, dass er das Internet als einen Raum wahrnimmt, der nicht seinem gewohnten Raumverständnis entspricht. Er navigiert gezwungenermaßen auf unbekanntem Terrain und ist daher auf topografische Orientierungsmerkmale angewiesen. Die Orientierung im Internet wird auch deshalb erschwert, weil der mentale Nutzungsraum nicht über Bezugsgrößen verfügt, die Rückschlüsse auf Raummaße und Distanzen zulassen. Der Nutzer navigiert im unendlichen Immersionsraum des Internets ausschließlich über die grafische Benutzeroberfläche und orientiert sich an der Anzahl der Screens und daran, was auf ihnen dargestellt ist. Ihm ist nicht bekannt, wo er sich befindet und was ihn noch erwartet. Gerade deshalb benötigt er visuelle Orientierungshilfen, die ihm aus der Realität bekannt sind und ihn dazu befähigen, sich zielgerecht zu orientieren und zielgerichtet zu navigieren. Der immersive Bildraum grafischer Benutzeroberflächen im Systemischen Design geleitet den Nutzer in den mentalen Nutzungsraum des Internets, den er selbst konfiguriert, indem er dort navigiert. Das Internet ist mit einem Gebäude vergleichbar, das über unendlich viele Räume verfügt, die spezielle Dinge beinhalten und die es aufzufinden gilt. Die Wege dorthin sind vorgegeben, die Auswahl obliegt dem Nutzer, der selbst entscheiden muss, welchen Weg er wählt, um schnell und unkompliziert ans Ziel zu gelangen. Der Szenograf erleichtert ihm die Entscheidung, indem er das visuelle Ambiente des immersiven Bildraumes gestaltet, das den Nutzer zur performativen Raumbildung motiviert und beim Nutzungsprozess orientiert. Um im mentalen Raum des Internets die Dimensionen und Distanzen richtig abschätzen zu können, werden Orientierungsmerkmale benötigt, die dem Nutzer aus der Realität bekannt sind und ihn darüber aufklären, wo er sich montan befindet, was ihn noch erwartet und wie er an sein Ziel gelangt. Das Systemische Design der grafischen Benutzeroberfläche lenkt den Prozess performativer Raumbildung und entscheidet darüber, ob der Nutzer den Raum nutzen kann. Ausschlaggebend für eine effiziente Nutzung ist das Raumgefühl, das der Nutzer bei seinen Aktionen entwickelt und das ihn dazu befähigt, den performativen Raum zu erkunden und interaktiv zu nutzen. Daher besteht eine Aufgabe des Szenografen bei der systematischen Entwicklung interaktiv nutzbarer Informations- und Kommunikationssystemen darin, deren grafische Benutzeroberflächen so zu gestalten, dass das Systemische Design beim Nutzer ein Raumverständnis initiiert, das ihm suggeriert, sich auszukennen und ihn dazu veranlasst, mit dem System zu interagieren. Die Motivation zur interaktiven Nutzung und die Orientierung im mentalen Nutzungsraum des Internets obliegt dem immersiven Bildraum der grafischen Benutzeroberfläche, dessen visuelles Ambiente aus Farben und Formen den

Teil 5. Internet als Nutzungsraum

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Nutzer in eine positive Stimmungslage versetzt, die ihn zur performativen Raumbildung motiviert. „Die Wahrnehmungsfähigkeit des mentalen Nutzungsraumes wird sowohl vom Design der grafischen Benutzeroberfläche als auch von der Vorstellungskraft des Nutzers bestimmt, die sehr unterschiedlich ausgeprägt ist, da sie auf individuellen Erfahrungswerten mit der natürlichen Umwelt beruht. Generell bemisst sich die Nutzungsqualität eines mentalen Raumes an seiner Immersionskraft, die letztendlich darüber entscheidet, inwieweit sich der Nutzer darin wohlfühlt und zurechtfindet. Wie der Nutzer einen mentalen Raum empfindet, hängt ebenso wie bei der Nutzung eines realen Raumes, neben den objektiven Eigenschaften des Ambiente, auch von der momentanen Stimmungslage des Nutzers ab.“1

Performativ erlebte Räume sind mentale Räume, die im Bewusstsein des Nutzers entstehen wenn dieser mit dem Computersystem interagiert und dabei einen Vorgang auslöst der die Raumbildung beschleunigt. Es bildet sich ein individuell geformter Erlebnisraum, der nur vom Nutzer wahrgenommen werden kann und dessen Konstellation darüber entscheidet, ob dieser das System effizient zu nutzen vermag. Damit ein immersives Raumgefühl entsteht, das eine effektive Nutzung gewährleistet, sollte der immersive Bildraum einer grafischen Benutzeroberfläche auch über alle aus der Realität bekannten architektonischen Merkmale realer Räume verfügen. Im Kontext performativer Raumbildung im Internet, ist daher die Auseinandersetzung mit den Parametern realer Räume zwingend. Da ein interaktiv nutzbares Informations- und Kommunikationssystem wie das Internet räumlich konzipiert ist, sollte sich auch das Systemische Design seiner grafischen Benutzeroberfläche an der Topografie realer Räume orientieren, die dem Nutzer Wege offeriert, auf denen er bei der interaktiven Nutzung des Internets möglichst schnell und unkompliziert zu den dort bereitgestellten Funktionen und Informationen gelangt. Daher sind die Entwickler und Gestalter von interaktiv nutzbaren Anwendungen gleichzeitig auch „Informationsarchitekten, die Orientierungshilfen anbieten, Navigationswege aufzeigen, die einzelnen Bereiche ins rechte Licht rücken und es dadurch dem Nutzer ermöglichen, unterschiedliche Informationstiefen zu erschließen“.2 Um diesen essenziellen Voraussetzungen und den damit verbundenen Aufgaben entsprechen zu können, ist die Leistung eines heterogen zusammengesetzten Entwicklerteams gefragt, das spezielle Anwendungsszenarien erarbeitet und Nutzungsmodelle konzipiert, auf deren Basis sich ein interaktiv nutzbares Informations- und Kommunikationssystem entwickelt lässt, das den Anforderungen potenzieller Nutzer entspricht. Der Prozess visuellen Wahrnehmens ist unmittelbar an den Raum gebunden, da der Mensch seine Umwelt räumlich wahrnimmt und sie auch dreidimensional interpretiert.

1Moritz

(2019). (2001).

2Thissen

60

5  Internet als Nutzungsraum

Dabei werden visuelle Eindrücke nach bekannten räumlichen Mustern geordnet und mit denen abgeglichen, die den bisherigen Erfahrungen im Raum entsprechen und bereits als visuelle Konventionen verinnerlicht sind. Räumliche Interpretation und performative Raumbildung sind essentielle Bestandteile visueller Wahrnehmung und somit genuin, was bedeutet, dass visuelle Eindrücke stets räumlich interpretiert werden und beim Nutzer bestimmte Verhaltensweisen implizieren, die ihm aus der bisherigen Raumerfahrung bekannt sind und die er deshalb versucht wiederholt anzuwenden. Erfahrungswerte im realen Raum fördern die visuelle Kompetenz und sind eine Voraussetzung für performative Raumbildung. Da immersive Raumerlebnisse ein Resultat der interaktiven Raumaneignung sind, die auf den Aktionen im mentalen Nutzungsraum basiert, findet immersion immer dann statt, wenn der Nutzer aktiv auf den Bildraum einwirkt, um ihn seinen Bedürfnissen anzupassen, denn nur so wird der immersive Bildraum einer grafischen Benutzeroberfläche zum mentalen Nutzungsraum. Dieser immersive Bildraum entspricht dem Systemischen Design der grafischen Benutzeroberfläche, bewirkt als Resultat systematischen Gestaltens den Einstieg in den mentalen Informationsund Handlungsraum des Internets und motiviert als visuelles Gestaltungsraster zur interaktiven Nutzung, dessen visuelles System das Verhältnis bestimmt, in dem alle formalen und funktionalen Elemente der grafischen Benutzeroberfläche geordnet sind. Die visuelle Ordnung des Gestaltungsrasters entscheidet darüber, ob sich der Nutzer im mentalen Nutzungsraum orientieren kann und in wie weit er das funktionale und informative Angebot des Systems zu nutzen vermag. Das Systemische Design einer grafischen Benutzeroberfläche fördert als immersiver Bildraum den intuitiven Zugang zum Nutzungsraum des Internets, der als mentaler Informations- und Handlungsraum zwar physikalisch nicht vorhanden, aber für den Nutzer durchaus physisch erlebbar ist. Da der Bildraum der grafischen Benutzeroberfläche formal eine zweidimensionale Fläche darstellt, wird er oft auch als solche interpretiert und im tradierten Informationsdesign nach den Regeln des visuellen Gestaltens konzipert, was dazu führt, ihn als ein zweidimensionales Bild zu begreifen. Um dem entgegenzuwirken, gilt es, die zweidimensionale Bildschirmfläche so zu gestalten, dass sie einen räumlichen Bildeindruck vermittelt, der ein immersives Raumgefühl ermöglicht, ohne auf die Vorteile des zweidimensionalen Gestaltens, wie visuelle Ordnung, hierarchische Gliederung und Übersichtlichkeit verzichten zu müssen. Die Gestaltungsregeln zweidimensionaler Flächen und dreidimensionaler architektonischer Gestaltungen orientieren sich an den Beziehungen der Gestaltungselemente auf dem Bildformat und der Objekte, die sich im dreidimensionalen Raum befinden und deren Anordnung darüber entscheidet, ob sich beim Nutzer ein positives Raumgefühl einstellt, das ihn dazu veranlasst, den Raum zu nutzen. Bei der Raumnutzung gesammelte Erfahrungswerte bestimmen das Nutzerverhalten und den interaktiven Handlungsablauf, der analog den Orten erfolgt, die bereits vorbestimmt sind und an denen Interaktionen mit dem System möglich sind. Räumliche Erfahrungswerte resultieren aus der Wahrnehmung objektiver Bezugsgrößen, wie:

Teil 5. Internet als Nutzungsraum

• • • •

61

Topologie (vorn und hinten), Perspektive (nah und fern), Gravitation (oben und unten), Geometrie (symetrisch und asymetrisch),

die Auskunft über die Beschaffenheit eines Raumes geben, die Stimmung prägen, die von ihm ausgeht und das Nutzerverhalten im Raum beeinflussen. Die klassische Architektur gilt als Maßstab performativer Raumbildung Da sich die klassisches Architektur am menschlichen Maß orientiert, bezieht sich auch das räumliche Gestalten auf die Wechselbeziehungen zwischen Nutzer und Raum, was bedeutet, dass die Dimensionen des zu gestaltenden Raumes nach dem menschlichen Maß zu bemessen sind. Im Zentrum architektonischer Planung steht daher stets der zukünftige Nutzer, der sich seine Umwelt aufgrund von individuellen Erfahrungen und Sinneseindrücken aneignet. Der Prozess des räumlichen Wahrnehmens verläuft als Sinneswahrnehmung mehrdimensional und umfasst die physische, psychische und mentale Dimension menschlicher Wahrnehmung. • Die physische Dimension der räumlichen Wahrnehmung erzeugt mittels menschlicher Sinnesorgane Empfindungen, die auf dem Abgleich der natürlichen Außenwelt mit der durch individuelle Erfahrungen geformten Innenwelt des Nutzer basieren. • Die psychische Dimension räumlicher Wahrnehmung bezieht sich auf Emotionen und Befindlichkeiten als Ausdruck einer momentanen Gefühlslage und kennzeichnet die Hoffnungen und Sehnsüchte bei der individuellen Raumnutzung. Diese Kategorie der menschlichen Empfindung basiert auf der Fähigkeit zum Erkennen und Verstehen von räumlichen Situationen sowie auf der sozialen Kompetenz für zwischenmenschliches Kommunizieren und Handeln. • Die mentale Dimension räumlicher Wahrnehmung stellt die humane Komponente des räumlichen Wahrnehmens dar und entspricht der Bereitschaft, einen Raum individuell zu nutzen. Als Resultat menschlichen Wahrnehmens und Erkennens, bestimmt sie die Fähigkeit zur individuellen Stellungnahme und Entscheidung bei der Raumnutzung. Die räumliche Sinneswahrnehmung vollzieht sich als ganzheitlicher Prozess mit allen Sinnen, wobei der Sehsinn primär ist, da er einer umfassenden Wahrnehmung entspricht und andere Sinne um visuelle Eindrücke bereichert. Der Sehsinn zählt zu den gefühlsbetonten Sinnen und bezieht sich auf die Anmutungsqualität der architektonischen Gestaltung, liefert die visuellen Sinneseindrücke und leitet den Erkenntnisprozess von Sehen, Erkennen und Verarbeiten ein. Dem folgt die Reaktion auf das Wahrgenommene. In der architektonischen Gestaltung gilt das menschliche Maß als Maßstab für das gute Gestalten, da gewährleistet sein muss, dass der Mensch als Individuum den Raum auch nach eigenem Ermessen nutzen und verändern kann.

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5  Internet als Nutzungsraum

Abb. 1   Das Modulor-Prinzip von Le Corbusier

Der Schweizer Architekt und Maler Le Corbusier betrachtete den Menschen als Zentrum der humanen Gestaltung und entwarf den sogenannten „Modulor“ als konstruktives Sinnbild der essenziellen Bedeutung menschlicher Proportionen für die architektonische Gestaltungspraxis. Der Modulor dient Architekten und Designern auch heute noch als Gestaltungsmaßstab bzw. Orientierungssystem und demonstriert, auf welche Weise der Mensch als potenzieller Nutzer architektonischer Räume deren Dimensionen und Maße bestimmt. Für Le Corbusier stellt der Mensch das humane Maß der Architektur dar, an dem sich die Architekten bei der Planung orientieren sollten. Im Kontext einer humanen Architektur ist auch die Nutzung mentaler Räume als eine physische und psychische Gesamtheit zu verstehen, die in engem Bezug zur natürlichen Umwelt steht und auch für die performative Raumbildung im Internet relevant ist. Für alle architektonischen Größen, wie Proportion und Dimension, gelten die menschlichen Maße als ein Idealmaßstab. Der französische Architekturtheoretiker Pierre von Meiss weist in seinem Buch „Vom Objekt zum Raum zum Ort: Dimensionen in der Architektur“3 darauf hin, dass in unserer Vorstellungswelt über die Ordnung des Universums der eigene Körper das wichtigste Bezugselement darstellt. Im Vergleich mit

3vgl.:

v. Meiss (1994).

Teil 5. Internet als Nutzungsraum

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ihm bestimmen wir, was groß oder klein, geometrisch oder amorph, hart oder weich, eng oder weit und stark oder schwach ist. In diesem Kontext ist dem Modulor von Le Corbusier eine besondere Bedeutung beizumessen, da dieser das Verhältnis der menschlichen Proportionen zu den Raummaßen verbildlicht. Anhand der Gestalt seines Modulor idealisiert Le Corbusier den Goldenen Schnitt als das Idealmaß für die Architektur. Anfangs datierte er die Körpergröße des Menschen mit 175 cm, später mit 183 cm als den Ausgangswert für eine Körpergeometrie nach den Proportionen des Goldenen Schnitts. (s. Abb. 1)4 Der Schweizer Architekt Le Corbusier (1887–1965) gilt als ein Pionier der modernen Bauweise und Begründer einer Architekturlehre, bei der Funktionalität im Entwurf und Rationalität in der Ausführung im Vordergrund stehen. Genauso wie die Praxis des visuellen Gestaltens basiert auch das räumliche Gestalten auf den Wechselbeziehungen zwischen Form und Restform, die einer visuellen Darstellung oder dem Raum seine spezielle Gestalt und Funktion verleihen. In Bezug auf das Raumvolumen, wird unter absoluten und relativen Maßen des Raumes unterschieden. Während die absoluten Maße eines Raumes in direktem Bezug zu seinen geeichten Maßeinheiten stehen, beziehen sich die relativen Maße auf Verhältnisse im Raum, die sich aus den Beziehungen unterschiedlicher Größen im Raum ergeben. Die relativen Maße setzen Länge, Breite und Höhe des Raumes ins Verhältnis zu den Raumelementen wie beispielsweise den Abstand zwischen der Augenhöhe und der Gesamthöhe des Raumes oder das Verhältnis der Augenhöhe zu den Teilhöhen. In der Gesamtheit sind die relativen Raummaße für eine effiziente Raumnutzung relevant, da sie architektonische Merkmale spezifizieren. Diese Differenzierung der Raummaße verdeutlicht den essenziellen Unterschied zwischen dem unbenutzten Raum und einem benutzten Raum, dessen Charakter sich durch die Anwesenheit des Nutzers relativiert und permanent ändert. In Bezug auf eine effektive und effiziente Raumnutzung wird zwischen den physiologischen und den psychologischen Anforderungen unterschieden, die beide dazu beitragen, einen Raum nutzer- und nutzungskonform zu gestalten. Die physiologischen Anforderungen an eine nutzerkonforme Raumgestaltung beziehen sich hauptsächlich auf den Einsatz von gesundheitsverträglichem Baumaterial, wobei nicht nur die materielle Beschaffenheit eine Rolle spielt, sondern auch das Aussehen der Oberflächen. Im Vordergrund des Interesses steht dabei die visuelle Ergonomie mit dem Ziel, den Organismus des Nutzers zu schonen und Sehstörungen vorzubeugen sowie Konzentrationsschwierigkeiten oder Ermüdungserscheinungen zu vermeiden. In diesem Kontext ist der Farbgestaltung eine besondere Bedeutung beizumessen, da sie auch zur visuellen Reizüberflutung beitragen und zur visuellen Überanstrengung des Nutzers führen kann. Die physiologische Raumbeschaffenheit steht im Zusammenhang mit der psychologischen Raumwirkung, die unmittelbar das Benutzerverhalten beeinflusst und

4Corbusier

(1985).

64

5  Internet als Nutzungsraum

mit darüber entscheidet, wie der Nutzer den Raum empfindet und ob er gewillt ist, ihn auch weiterhin zu nutzen. Die psychologischen Anforderungen an einen Raum beziehen sich u. a. auch auf das im Raum vorherrschende Farbmilieu und die damit verbundene symbolische Botschaft, die der Raum ausstrahlt. Generell spielen dabei alle Assoziationen eine Rolle, die von der Atmosphäre des Raumes getragen werden, die auch von der Anmutungsqualität visueller Oberflächen ausgeht. In ihrer Gesamtheit prägen alle Determinanten das Ambiente des Raumes. Daher ist es notwendig, im Kontext nutzungs- und nutzerkonformer Raumbildung im Internet, beim systematischen Gestalten von grafischen Benutzeroberflächen im Systemischen Design, ein visuelles Ambiente zu generieren, das den Nutzer zur interaktiven Nutzung motiviert, die eine performativen Raumbildung impliziert. Das Ziel des architektonischen Gestaltens besteht stets darin, die objektiven Anforderungen hinsichtlich der Nutzungsabsicht mit den emotionalen und atmosphärischen Wirkungen, die ein Raum auf den Nutzer ausübt, in Einklang zu bringen. Im Kontext von User Experience, die Freiräume bei der Nutzung einräumt und ein positives Raumerlebnis garantiert, steht auch das visuelle Ambiente des immersiven Bildraumes grafischer Benutzeroberflächen in engem Bezug zu den Gestaltungsaspekten der klassischen Architektur. In beiden eng miteinander verwandten Anwendungsbereichen gilt nicht allein die effiziente Nutzung hinsichtlich einer organisierten Handlung, kurzer Weglängen und zeitlich optimierter Handlungsabläufe als Maßstab für optimale Raumgestaltung, sondern auch die Identifikationsfähigkeit des Nutzers mit dem Raum als essenzielle Voraussetzung für Erlebnisfähigkeit mit positivem Raumgefühl. Der Mensch ist bei seinem Handeln, Denken und Fühlen allgegenwärtig und ganzheitlich mit allen Sinnen der eigenen Wahrnehmung auf die ihn umgebende Umwelt bezogen und befindet sich mit ihr in ständiger Auseinandersetzung. Dabei ist er bestrebt, sich Räume anzueignen, um sie entsprechend seinen Bedürfnissen nutzen zu können. Der Mensch als Nutzer ist somit ein Mitgestalter seiner selbst, da er sich und seine Umgebung durch aktives Handeln formt. „Als ein Individuum und soziales Wesen befindet er sich ständig in Interaktion mit ihr, erlebt, erfährt und beurteilt er sie, vermag er, sich seine Umwelt anzueignen, mitzugestalten und aufzubauen sowie gegebenenfalls auch zu verändern. Mit der eigenen Wahrnehmung und Handlung verbinden sich Innenwelt und Außenwelt des Menschen.“5

Nach der Sinnesphysiologie und Sinnesphänomenologie des Neuropsychologen ­Hans-Jürgen Scheurle6 und dem Mediziner Wulf Schneider7 beruhen alle Beziehungen zwischen Mensch und Raum auf der ganzheitlichen Sinneswahrnehmung folgender Raumkategorien:

5Mahnke

et al. (1998), S. 11. Scheurle (1984). 7vgl.: Schneider (1995). 6vgl.:

Teil 5. Internet als Nutzungsraum

65

• Handlungsraum, in Bezug auf die Funktion eines Raumes, • Anmutungsraum, in Bezug auf seine Wirkung, • Bedeutungsraum, in Bezug auf seinen Wert, denen beim Nutzungsprozess die folgenden Aspekte der ganzheitlichen Sinneswahrnehmung zugeordnet sind:8 • sehen, • hören, • fühlen, • denken, • bewegen, die in ihrer Gesamtheit auch das menschliche Raumempfinden bei der interaktiven Nutzung des Internets bestimmen. Der Anwender mutiert im Internet vom Nutzer zum Protagonisten. Er erlebt den mentalen Nutzungsraum mit allen Sinnen und stellt dabei auch das bestimmende Raummaß dar, da er ihn nach eigenem Ermessen performativ formt. „Die gestalterische Aussage, symbolische Wirkung und die Anmut eines architektonischen Raumes sind mitbestimmend dafür, wie sich der Mensch darin befindet, inwieweit er sich davon angesprochen fühlt, sich damit identifiziert, sich diesen Raum anzueignen vermag, wie er sich in diesem Raum verhält, individuell und sozial handelt.“9

Im architektonischen Gestaltungsprozess entsteht systematisch eine dreidimensionale Gestalt, deren positives und negatives Volumen einen Außen- und einen Innenraum beschreibt. Dabei erfolgt die Umsetzung des Raumkonzeptes nach speziellen Vorgaben und Richtlinien, dessen Ergebnis der äußeren Form dieser räumlich organisierten Gestalt entspricht, die auch physisch wahrnehmbar ist und den potenziellen Nutzer dazu motiviert, den Raum entsprechend seinen eigenen Bedürfnissen umzugestalten und zu nutzen. „Ziel des Gestaltungsprozesses muss es sein, die gestalterischen Mittel und deren Repertoire zur Verbesserung menschlicher Lebensprozesse einzusetzen, deren gesellschaftliche Relevanz im Wert der Gestaltung als Beziehung zwischen Nutzer und Raum begründet ist, die der Interaktion und Raumwahrnehmung entspricht und Raumerlebnisse initiiert.“10

Demnach entspricht räumliches Gestalten dem Entwurf einer Wechselbeziehung zwischen Nutzer und Raum, die unterschiedliche Merkmale aufweist:

8Mahnke

et al. (1998), S. 56. et al. (1998), S. 50. 10Moholy-Nagy (1929). 9Mahnke

66

5  Internet als Nutzungsraum

• Formale Merkmale des Raumes in Bezug auf dessen Gestaltung • Funktionale Merkmale des Raumes in Bezug auf dessen Nutzung Die formalen Merkmale des Raumes definieren seinen strukturellen Aufbau sowie die äußere und innere Form. Die funktionalen Merkmale entsprechen dem Zweck des Raumes in Bezug auf seine Aufgabe und bestimmen somit seine Leistung und Wirkung, die unter den Aspekten Nutzungswert und Raumerlebnis zu bewerten sind. Die Leistung eines Raumes resultiert aus seiner Beschaffenheit und der Art seiner Nutzung. Die Raumleistung bezieht sich auf • Aktionen und Handlungen, die im Raum stattfinden, einschließlich deren Planung und Organisation. • Strecken und Wege, die im Raum zurückgelegt werden, um die Aufgaben zu erfüllen oder an bestimmte Orte im Raum zu gelangen • Raumeigenschaften, wie Raumgröße, klimatische Bedingungen, Lichtverhältnisse im Raum u. a.. Die Wirkung eines Raumes umfasst seine räumliche Wahrnehmung und die Emotionen, die dabei ausgelöst werden sowie das Raummilieu. Die Raumwirkung entspricht • • • •

dem Raumbild als Image, der Originalität des Raumes, dem Symbolwert des Raumes, der Raumatmosphäre, gleichzusetzen mit Ambiente, wie z. B. repräsentativ, wohnlich, festlich, behaglich u. a..

Die visuellen Gestaltungselemente bilden auch die Grundlage architektonischer Gestaltungen. Im Gestaltungskonzept der klassischen Architektur entsprechen sie als essenzielle Bausteine zeichnerischer Entwürfe und konstruktiver Darstellungen, den architektonischen Elementen sowie deren Oberflächenstrukturen und kennzeichnen somit die materielle Beschaffenheit des Raumes und prägen dessen visuelles Erscheinungsbild. Visuelle Gestaltungsmittel, wie Form, Farbe, Kontrast und Rhythmus, sind auch bei der dreidimensionalen Raumgestaltung relevant und bestimmen das visuelle und räumliche Ambiente, das dem realisierten Raum die Spezifik verleiht. Es entsteht ein spezielles Raumbild, das den Raum charakterisiert und potenziellen Nutzern den Raumeindruck vermittelt, der sie dazu veranlasst, den Raum zu nutzen und den eigenen Bedürfnissen anzupassen. Beim systematischen Gestalten von grafischen Benutzeroberflächen im Systemischen Design bilden die Grundelemente des visuellen Gestaltens, Punkt, Linie und Fläche die Grundlage für Schriften, Bilder und Symbole und dienen der Visualisierung von

Teil 5. Internet als Nutzungsraum

67

Funktion und Information. Bei der architektonischen Gestaltung wird die äußere Form der Gestaltungselemente von der materiellen Beschaffenheit und ihrem Aussehen bestimmt, während die innere Form aus der Funktion resultiert, die sich erst im Zusammenspiel mit den anderen Gestaltungselementen und den Nutzern des Raumes als ein sichtbares und erlebbares Verhältnis verdeutlicht. Die Leistungsfähigkeit und der Nutzen eines Raumes offenbaren sich bei seiner Nutzung als eine Wechselwirkung zwischen Gestaltungselementen und Nutzer. Die bereits am Bauhaus propagierte Materialstruktur ist als visuelles Gestaltungsmittel auf die dreidimensionale Raumgestaltung adaptierbar. Der Ungar Laszlo ­Moholy-Nagy unterrichtete am Bauhaus Materialkunde, in deren Mittelpunkt die bildnerische Ordnung stand, die er mit seinen eigenen Erfahrungen bei der Anwendung und Umsetzung visueller Gestaltungsgesetze verband. Moholy-Nagy lehrte die kreative Auseinandersetzung mit Form, Farbe und Material, um die haptische Sensibilität zu schulen und seine Schüler dazu zu befähigen, sich bild- und raumkünstlerisch zu artikulieren. Der Bauhauspädagoge entwickelt in seiner Schrift „Von Material zur Architektur“ technisch und künstlerisch fundierte Richtlinien für eine funktionsgerechte Architektur. „Moholy-Nagy: Schaffen braucht Intuition einerseits, bewusste Analyse, Umsichtigkeit und Berücksichtigung vielartiger Beziehungen andererseits. Das Kriterium darf nie sein: Kunst oder nicht Kunst, sondern Gestaltung der notwendigen Funktionsabläufe“.11

Mit dieser Äußerung bekennt sich Moholy-Nagy explizit zur funktionalen Gestaltung, in deren Mittelpunkt stets der Mensch als potenzieller Nutzer steht, der einen Raum individuell nutzt, ihn nach eigenen Vorstellungen umgestaltet und dabei seinen speziellen Bedürfnissen anpasst. Nach der klassischen Architekturlehre basiert die Raumstruktur, die einen Raum spezifiziert, auf den folgenden Merkmalen: • • • • •

Konstruktive Merkmale (architektonisches Gerüst) Statische Merkmale (mechanische Kräfte) Bauphysikalische Merkmale (Temperatur und Schall) Stilistische Merkmale (historische Bezüge) Ästhetische Merkmale (visuelles und räumliches Ambiente)

Der Charakter eines Raumes wird von Wechselbeziehungen bestimmt, die einem ungenutzten oder genutzten Raum immanent sind. Das sind zum einen Beziehungen zwischen einzelnen Raumelementen und zum anderen Beziehungen zwischen Raumelementen und deren Nutzern. Beide Raumkategorien beziehen sich auf die Positionen

11Moholy-Nagy

(1929).

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5  Internet als Nutzungsraum

von Raumelementen und Nutzern, die mit- und untereinander spezielle Nachbarschaftsbeziehungen, wie Zuordnung, Durchdringung oder Umschließung eingehen und deren Stellungen im Raum in Form geometrischer Größen, als Strecken, Winkel und Radien konstruktiv nachweisbar und rechnerisch bestimmbar sind. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Raumelementen und ihren Nutzern bestimmen die Nutzungsqualität eines Raumes und resultieren aus der menschlichen Raumerfahrung und der räumlichen Auffassungsgabe, die sich aus der Änderung der Blickrichtung oder aus einem Standortwechsel ergibt. Damit wird deutlich, dass es sich bei der Raumerfahrung um einen Prozess handelt, der einer Reportage ähnelt, da er mit wechselnden Betrachterstandpunkten verbunden ist, die neue Blickrichtungen und damit auch neue Beziehungen implizieren. Der architektonische Raum entspricht somit auch einem Verhaltensraum, dessen Topografie von unterschiedlichen Orten, Wegen, Feldern, Gebieten und Grenzen gekennzeichnet ist. Im Kontext einer solchen Raumerkundung ist die Raumerfahrung auch als eine Handlung zu bewerten, die dem kompositorischen Prinzip einer architektonischen Partitur entspricht. Bei der interaktiven Nutzung des Internets ist die individuelle Raumerkundung des Nutzers mit User-Experience gleichzusetzen, deren Kriterien das unmittelbare und messbare Gefühl des Nutzers bewerten, das bei der Interaktion entsteht. Daher ist positive User-Experience, als Ausdruck von Rezeptions- und Nutzungsqualität, auch stets an erfüllte Nutzerbedürfnisse gekoppelt. Erreicht ein Nutzer seine Ziele, ist er zufriedengestellt und wird auch weiterhin mit dem Computersystem interagieren wollen. User-Experience impliziert neue Erfahrungswerte bei der Nutzung und bewertet die individuellen Nutzererlebnisse unter emotionalen Aspekten, während Visibility den Kriterien visueller Eindeutigkeit entspricht, die sich formal am Grad visueller Wahrnehmung bemessen und auf eine optimale Visualisierung der funktionalen und informativen Elementen abzielen. Usability, als ein Kriterium interaktiver Nutzung, evaluiert die Gebrauchstauglichkeit und die Nutzerfreundlichkeit eines Computersystems oder eines Raumes und misst sich am Grad der Zufriedenstellung seiner Nutzer. Usability bewertet nicht nur die Benutzerfreundlichkeit von interaktiv nutzbaren Anwendungen, sondern auch den Nutzungswert eines architektonischen Raumes, während Visibilty die visuelle Eindeutigkeit und die Erkennbarkeit aller visuellen oder architektonischen Elemente evaluiert, die sich auf der Fläche oder im Raum befinden, eine visuelle Gestaltung oder architektonische Darstellung formen und ihnen eine spezielle Funktion zuschreiben bzw. einen Raum zu dem machen, wie er sich seinen Nutzern darstellt. Im Kontext interaktiver Internetnutzung ist feststellbar: „Usability bewertet die Benutzerfreundlichkeit interaktiv nutzbarer Anwendungen, während Visability, als deren essentieller Bestandteil, die Erkennbarkeit und Darstellung visueller Elemente evaluiert. Eine einheitlich und übersichtlich gestaltete grafische Benutzeroberfläche im Systemischen Design mit konsistentem visuellen Erscheinungsbild, offenbart Nutzern ihre Funktionalität und macht das informative und funktionale Angebot der interaktiv nutzbaren Anwendung anschaulich und verständlich.“2

Literatur

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Literatur Corbusier, L. (1985). Der Modulor. Darstellung eines in der Architektur und Technik allgemein anwendbaren Maßes im menschlichen Maßstab (S. 66–67). Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt. Mahnke, F. H., Meerwein, G., & Rodeck, M. (1998). Mensch-Farbe-Raum. Leinfelden Echterdingen: Verlagsanstalt Alexander Koch. Meiss, P. (1994). Vom Objekt zum Raum zum Ort: Dimensionen der Architektur. Basel, Berlin, Boston: Birkhäuser Verlag. Moholy-Nagy, L. (1929). Von Material zur Architektur (Bd. 14, S. 71). München: Bauhausbücher. Moritz, T. (2019). Screenogafie kompakt – der immersive Bildraum grafischer Benutzeroberflächen. Wiesbaden: Springer Vieweg. Scheurle, H. J. (1984). Die Gesamtsinnesorganisation: Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung in Sinneslehre. Stuttgart: Georg Thieme Verlag. Schneider, W. (1995). Sinn und Un-Sinn – Architektur und Design sinnlich erlebbar gestalten. Leinefelden Echterdingen: Konradin Verlag. Thissen, F. (2001). Screen Design Handbuch (S. 21). Berlin/Heidelberg: Springer.

6

Benutzeroberfläche als Bildraum

Teil 6. Benutzeroberfläche Bildraum Der Nutzer erlangt über den immersiven Bildraum der grafischen Benutzeroberfläche Zugang zum mentalen Nutzungsraum des Internets der einem performativ erlebbaren Informations- und Handlungsraum entspricht. In Bezug auf interaktive Nutzung beschreibt Immersion das Eintauchen in eine imaginäre Bildwelt oder in einen fiktiven Bildraum, der lediglich in der Vorstellung seines Nutzers existiert. Ein solcher immersiver Raum ist an Erfahrungswerte aus der realen Welt gebunden, was allerdings nicht voraussetzt, dass dieser einem realistischen Raumbild entsprechen muss. Vielmehr geht es beim systematischen Gestaltungsprozess von grafischen Benutzeroberflächen darum, alle Nutzungsaspekte und Gestaltungscharakteristika realer Räume aufzugreifen und auf das Systemische Design grafischer Benutzeroberflächen zu übertragen, das als funktionale und visuelle Schnittstelle zwischen Nutzer und System fungiert. Die Schwierigkeit besteht dabei darin, die Gestaltungs- und Nutzungsaspekte eines dreidimensionalen Raumes auf die begrenzten Maße der zweidimensionalen Bildschirmfläche zu adaptieren. Um den Anforderungen an ein effektiv nutzbares Systems zu entsprechen, sind die Gestaltungsmerkmale der zweidimensionalen Fläche so zu modifizieren, dass sie bei ihren Nutzern ein immersives Raumgefühl implizieren, das sie dazu befähigt, alle Funktionen des Systems effizient zu nutzen und zielsicher durch den mentalen Nutzungsraum des Internets zu navigieren, der zwar physikalisch nicht vorhanden, von seinen Nutzern aber physisch erlebbar und sinnlich erfahrbar ist, da sie ihn mit ihren Handlungen zu dem machen, was er ist. Der mentale Nutzungsraum des Internets entspricht keinem virtuellen Szenario das ein reales Raumgefüge simuliert, sondern entsteht erst performativ mit den Nutzeraktionen und ist daher auch nicht visuell nachweisbar. Performative Räume sind imaginär, also nicht real vorhanden, werden durch die Aktionen und Handlungen des © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Moritz, Szenografie digital, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31074-5_6

71

72

6  Benutzeroberfläche als Bildraum

Nutzers geformt und sind im Gegensatz zum virtuellen, computergenerierten Raum für die anderen Nutzer nicht nachweisbar, da sie nur mit oder während der eigenen Handlung existieren. Der Nutzer formt diesen Raum individuell und ist der einzige, der ihn auch als solchen wahrnimmt. Performativität verortet sich als ein Handlungsprozess, veranschaulicht sich an medialen Produkten als ein Ergebnis des kreativen Schaffens und ist explizit an Werke, Personen oder Situationen gebunden. Ein immersives Raumgefühl setzt nicht ein realistisches Abbild realer Räume voraus, sondern entsteht, wenn sich der Nutzer mit dem Raum identifiziert und ihn als authentisch anerkennt. „Die immersive Wirkung misst sich nicht allein daran, wie real oder authentisch die virtuelle Umgebung auf dem Bildschirm dargestellt ist, sondern auch daran, inwieweit sich der Nutzer als deren Bestandteil begreift. Ausschlaggebend für die Immersion ist die gefühlte Realität und nicht die auf dem Bildschirm dargestellte Realität, da sie auf emotionaler Ebene und nicht auf sensorischer Ebene erzeugt wird.“1

Für den dreidimensionalen Raumeindruck ist nicht explizit ein realistisches Erscheinungsbild relevant, sondern ein als visuelles System gestalteter Bildraum, der dem Nutzer die dritte Dimension suggeriert, obwohl es sich lediglich um eine zweidimensionale Fläche handelt, die dreidimensionale Gestaltungsmerkmale aufweist. In diesem Kontext ist darauf zu verweisen, dass nicht allein eine dreidimensional gestaltete grafische Benutzeroberfläche den immersiven Raumeindruck erzeugt, sondern auch die Transparenz der systeminternen Nutzungsstrukturen, die dem Nutzer die performative Raumbildung ermöglichen, das funktionale und informative Angebot der interaktiv nutzbaren Anwendung veranschaulichen und die Auswahl erleichtern. Eine zweidimensionale grafische Benutzeroberfläche entfaltet ihre immersive Wirkung erst dann, wenn der Anwender im interaktiven Nutzungsprozess zum Protagonisten avanciert. Mit der fortschreitenden Digitalisierung aller gesellschaftlichen und sozialen Bereiche gewinnt das Internet, als Ausdruck gegenwärtiger Wissens- und Lebenskultur, global an Bedeutung und entwickelt sich zu einem universell nutzbaren Informations- und Kommunikationsmittel, dessen effiziente Nutzung intelligenter Systeme bedarf, die intuitiven Zugang zum mentalen Nutzungsraum gewähren und die effektive Nutzung aller dort bereitgestellten Funktionen und Informationen gewährleisten. Da dieser in der Regel über eine grafische Benutzeroberfläche erfolgt, sollt diese anwenderfreundlich und nutzungsgerecht im Systemischen Design gestaltet sein, was bedeutet, dass alle funktionalen und informativen Elemente systematisch geordnet und visualisiert sind, um potenziellen Nutzern einen Überblick darüber zu gewähren, welche Nutzungsmöglichkeiten das System bietet und was sie bei der interaktiven Nutzung erwartet. Das Systemische Design einer grafischen Benutzeroberfläche ist das Ergebnis systematischen Gestaltens, das nach den Prinzipien der visuellen Wahrnehmung und Kommunikation erfolgt und als Screenografie auf visuellen Gestaltungsregeln basiert.

1Moritz

(2019).

Teil 6. Benutzeroberfläche Bildraum

73

Die Screenografie entspricht als essenzieller Bestandteil der systematischen Entwicklung interaktiv nutzbarer Informations- und Kommunikationssystemen einem logisch strukturierten Denk- und Handlungssystem, das auf didaktisch nachvollziehbaren Regeln basiert und richtet sich nicht nur an Screendesigner, sondern dient auch allen anderen Entwicklern von interaktiv nutzbaren Informations- und Kommunikationssystemen als Richtlinie für eine systematische Gestaltung und Entwicklung. Screenografie hebt die einengende Zweidimensionalität des Bildschirms auf, erweitert die grafische Benutzeroberfläche zum immersiven Bildraum, unterteilt den Bildschirm analog des visuellen Gestaltungsrasters in kleinere geometrische Einheiten und regelt das Wechselspiel von visuellen Gestaltungsmitteln und Gestaltungselementen, das dem Systemischen Design immanent ist und nach den Regeln des visuellen Gestaltens erfolgt. Das Systemische Design basiert, neben den Nutzerbedürfnissen im Internet und in der Anwendung interaktiv nutzbarer Informations- und Kommunikationssysteme (User Experience), auf softwareökonomischen Entwicklungsmethoden für einen funktionalen Gebrauch (Usability), nach den Prinzipien der visuellen Wahrnehmung und Kommunikation für intuitiven Zugang zu den Funktionen und Informationen (Accessibility). Das systematische Gestalten grafischer Benutzeroberflächen im Systemischen Design erfolgt nach den Vorgaben visueller Kompetenz und Intelligenz und zielt auf die funktional-ästhetische Visualisierung aller visuellen Elemente (Visibility) als immersiver Bildraum mit intuitivem Zugang zum mentalen Nutzungsraum des Internets, der als ein performativ geformter Informations- und Handlungsraum nur aufgrund der Aktionen seiner Nutzer existiert. Die Immersion ist an Erfahrungswerte und an bereits verinnerlichte Raumeindrücke bei der Nutzung realer Räume gebunden und steht daher in direktem Bezug zur Nutzungskompetenz des Nutzers, die er sich erst erarbeiten muss. Da potenzielle Nutzer diesbezüglich mehr oder weniger vorbelastet sind, sollte der immersive Bildraum einer grafischen Benutzeroberfläche die räumlichen Merkmale aufweisen, die ihnen aus der Nutzung realer Räume bekannt sind, Orientierungshilfen bieten und konkrete Nutzungswege aufzeigen, die nachvollziehbar sind. Dieser funktionelle Pfad ist ein essenzieller Bestandteil der Navigationsstruktur und gibt den Weg vor den ein potenzieller Nutzer zurücklegen muss, um zu den bereitgestellten Funktonen und Informationen zu gelangen. Da die Überbrückung örtlicher Distanz stets einen konkreten und messbaren Zeitaufwand erfordert, sollte auch die systemimmanente Navigationsstruktur eine zeitliche Komponente aufweisen, die dem Nutzer bei seinen Aktionen im mentalen Nutzungsraum ein Zeitgefühl vermittelt, das seiner performativen Raumbildung immanent ist. „Die Gestaltungselemente des architektonischen Raumes sind mit denen visueller Gestaltung identisch. Die menschliche Dimensionswahrnehmung erkennt Punkt, Linie, Fläche und Körper als Grundelemente der Gestaltung, aus denen sich alle anderen Elemente visueller und somit auch räumlicher Gestaltung zusammensetzen. Der Gestaltungsprozess vollzieht sich im Wechselspiel von Gestaltungselementen und Gestaltungsmitteln und erzeugt beim Betrachter bzw. Nutzer Wirkungen als Ausdruck der Eigenschaften der

74

6  Benutzeroberfläche als Bildraum Elemente, der Beziehungen der Elemente zueinander und zum umgebenden Raum sowie der Beziehungen zwischen den Elementen und dem wahrnehmenden Menschen.“2

Die Beziehungen zwischen den architektonischen Gestaltungselementen resultieren aus deren Positionen im Raum, während sich die Verhältnisse der visuellen Gestaltungselemente auf der Bildfläche über deren Stellung zueinander und die Anordnung auf dem Bildformat definieren. Deren Beziehungen zum wahrnehmenden Menschen ergeben sich aus der Blickfolge bei der visuellen Wahrnehmung und hängen von der jeweiligen Betrachterposition ab. Die Begriffe, die bei der Definition von realen Räumen angewandt werden, sind auch für den immersiven Bildraum einer grafischen Benutzeroberfläche relevant. Dabei handelt es sich um räumliche Sinnbilder, die dazu dienen, abstrakte Vorgänge zu beschreiben oder räumliche Situationen zu verallgemeinern. Raumbildende Begriffe, wie Basis, Ebene, Vorder- und Hintergrund sind der dreidimensionalen Darstellung entlehnt und beschreiben konkrete Raumsituationen, die auch zur Orientierung im Raum beitragen. Solche Metaphern aus der Umgangssprache gelten als Synonym menschlicher Befindlichkeit und beschreiben konkrete Zustände oder Situationen. Aufgrund ihrer weitreichenden Bedeutung dienen sie auch der Beschreibung virtueller oder imaginärer Raumsituationen und sind auch für die performative Raumbildung relevant. Um die Navigation im mentalen Nutzungsraum des Internets zu erleichtern, entspricht die grafische Benutzeroberfläche einem interaktiv nutzbaren System, das visuell und funktionell in unterschiedliche Informationsebenen gegliedert ist. Allerdings wird die logische Integration der einzelnen Hierarchieebenen dadurch erschwert, da beim Navigieren von dem räumlich strukturierten Bildraum der grafischen Benutzeroberfläche häufig auf eine zweidimensionale Informationsebene gewechselt werden muss, weil Informationen im Internet in der Regel als Texte oder Bilder dargestellt sind. Da diese als zweidimensionale Datensätze visualisiert werden, gilt es, diese Darstellungsweise durch die gezielte Anwendung von perspektivischen Hilfsmitteln aufzuheben, dass eine dreidimensionale Wirkung mit einem mehrdimensionalen Informationsfluss gewährleistet ist, die dem hierarchischen Aufbau der Informationsebenen entspricht. Räumliche Darstellungen auf einem zweidimensional begrenzten Bildformat orientieren sich idealerweise an den bereits bekannten räumlichen Situationen aus der Realität und bedienen sich dabei sogenannter perspektivischer Hilfsmittel, deren gezielte Anwendung dazu beiträgt, auch auf der zweidimensionalen Fläche Tiefenwirkungen zu erzeugen. Diese perspektivischen Hilfsmittel werden dort angewandt, wo zum besseren Verständnis vom visuell Dargestellten ein dreidimensionaler Bildeindruck vermittelt werden soll. Dagegen ist für die Visualisierung von architektonischen Gegebenheiten die Zentralperspektive prädestiniert, die insbesondere zur technischen Darstellung geeignet ist und Räumlichkeit auf geometrischer Basis erzeugt. Zu den visuellen Hilfsmitteln zählen

2Moritz

(2007), S. 22.

Teil 6. Benutzeroberfläche Bildraum

• • • • •

75

Kontraste, die als übergeordnete visuelle Gestaltungsmittel die Bildtiefe erhöhen, Farbperspektive auf der Basis von unterschiedlicher Farbwirkung, Tiefenunschärfe zur Manipulation von optischer Distanz, Motivstaffelung nach den Prinzipien visueller Wahrnehmung, Verstärkung der Bildtiefe durch Anpassung der Horizonthöhe.

Der Kontrast entspricht einem übergeordneten Gestaltungsmittel, da Kontraste sowohl bei der Farbgebung visueller Gestaltungen, als auch für deren Strukturierung und Rhythmisierung angewandt werden. Außerdem bezieht sich der Kontrast nicht nur auf die Formen und Farben visueller Gestaltungselemente, sondern auch auf deren Anzahl und Größe, sowie auf ihre Anordnung im Bildformat, die der Komposition einer visuellen Darstellung entspricht. Der Kontrast steigert die optische Bildtiefe und erhöht die dreidimensionale Wirkung. Für die Darstellung von räumlichen Situationen auf einer zweidimensionalen Fläche ist besonders der Hell-Dunkel-Kontrast geeignet, da er die Bildelemente optisch voneinander trennt. Aus der Praxis lehrt die Seherfahrung, dass helle Elemente vordergründiger erscheinen als dunklere. Wie alle Aspekte visueller Wahrnehmung beruht auch diese Feststellung auf Erfahrungen und Sehgewohnheiten, bei denen bestimmte Beziehungen und Verhältnisse aus der realen Umwelt als Konventionen verinnerlicht wurden. Aufgrund solcher Erfahrungswerte werden die hellen Elemente immer dem Licht zugeordnet und die dunklen mit dem Schatten verbunden. Ein starker Kontrast von Licht und Schatten verstärkt nicht nur die Plastizität visueller Elemente, sondern erhöht innerhalb einer visuellen Darstellung auch die Tiefenschärfe. Dunkle und weniger strukturierte Elemente suggerieren dem Betrachter mehr Distanz, da sie schlechter wahrnehmbar sind, als Elemente mit heller Oberfläche und einer differenzierten Struktur, die dem Vordergrund zuordnet werden. Ein dunkler Hintergrund weist im Vergleich zu einem hellen Untergrund mehr Tiefe und Weite auf, da er den Betrachter in Ungewissheit belässt, was sich dort noch befindet und nur aufgrund der großen Distanz nicht wahrnehmbar ist. Der dunkle Hintergrund erschwert die Wahrnehmung des gesamten Motivs. Zusätzlich wird dabei der dreidimensionale Eindruck noch durch den hohen Kontrast zum helleren Vordergrund verstärkt. Das Phänomen der Farbperspektive beruht unter anderem darauf, dass die Farben, die einen hohen Rotanteil aufweisen, dem Vordergrund zugerechnet werden, während die Farben mit hohem Blauanteil dem Betrachter einen größeren Abstand zum Vordergrund suggerieren. Bei den Extremen Rot und Blau ist der Farbkontrast am größten, weil dieser zusätzlich noch einen Temperaturkontrast darstellt, da die Farbtemperatur von Rot am höchsten und die von Blau am niedrigsten ist. Im natürlichen Umfeld verringert sich der Farbkontrast mit zunehmenden Abstand zum Vordergrund und der Blauanteil der Farben nimmt aufgrund der Filterwirkung der Atmosphäre zu, was dazu führt, dass dem Betrachter der Hintergrund blauer erscheint, als er tatsächlich ist. Um die Tiefenwirkung der visuellen Darstellung zu verstärken, ist es daher sinnvoll, den Blauanteil der Hintergrundfarben zu erhöhen. Werden kontrastreiche Farben unmittelbar nebeneinander oder direkt aufeinander angeordnet, verstärkt sich die räumliche Wirkung. Dabei ist

76

6  Benutzeroberfläche als Bildraum

zu beachten, dass sich dann bei den Farben, die im Komplementärkontrast zueinander stehen und im Farbkreis diametral angeordnet sind deren Konturen auflösen und daher keine Farbtrennung mehr auszumachen ist. Das trifft insbesondere auf Rot und Grün zu, deren Helligkeitskontrast gering ist. Die Tiefenwirkung der Farben ist auch vom jeweiligen Untergrund abhängig, der gegebenenfalls noch den ­ Hell-Dunkel-Kontrast verstärkt, da helle und gesättigte Farben vordergründiger wirken als dunkle und ungesättigte. Aus der Realität ist bekannt, dass sich die Seestärke mit zunehmender Distanz verringert, sich die Konturen der Formen auflösen und die Oberflächenstrukturen miteinander verschmelzen. Außerdem lehrt die Seherfahrung, dass Objekte im Vordergrund besser wahrnehmbar sind als die, deren Oberflächenstruktur sich mangels Seeschärfe im Hintergrund aufzulösen scheint. Um die Bildtiefe und die Räumlichkeit in einer visuellen Darstellung zu verstärken, sollte sie in einzelne Bildebenen gegliedert sein, denen unterschiedliche Schärfebereiche zugeordnet sind, was impliziert, dass Elemente im Vordergrund, im Gegensatz zu denen im Hintergrund, klar und deutlich dargestellt werden, während Elemente, die sich im größeren Abstand zum Betrachter befinden weniger deutlich darzustellen sind, da mit zunehmender Raumtiefe die Eindeutigkeit der Farben und Formen abnimmt. Mit einer größeren Entfernung verlieren die Farben ihre Leuchtkraft, der Sättigungsgrad verringert sich und die Konturen der Formen lösen sich auf und verschmelzen im Hintergrund. Um die dreidimensionale Wirkung einer visuellen Darstellung zu verstärken, ist sie in unterschiedliche Schärfebereiche zu unterteilen. Die Seherfahrung lehrt auch, dass die natürliche Umgebung des Menschen von Horizonten begrenzt ist, die das Raumgefühl beeinflussen, da sie Informationen über Raumgrößen und Distanzen vermitteln. Der Bild- und Blickhorizont hat einen entscheidenden Einfluss auf die Raumwahrnehmung und befindet über das Raumempfinden, das je nach Raumvolumen und Raumgröße unterschiedlich ausgeprägt ist. Aus der täglichen Umgangssprache sind zahlreiche Redewendungen bekannt, die dem Horizont eine besondere Bedeutung zuschreiben, indem sie sich ihm als Metapher bedienen. So verweisen bekannte Formulierungen, wie Bildungs- und Erfahrungshorizont, niedriger und hoher Horizont oder über den eigenen Horizont blicken, auf dessen Bedeutung im gesellschaftlichen und sozialen Alltag und deuten bereits darauf hin, dass Horizonte als visuelle Erfahrung verinnerlicht wurden und sich zu einem Begriff mit hohem Symbolwert entwickelt haben. Die Höhe des Horizontes bestimmt nicht nur die Tiefe eines Raumes, sondern verdeutlicht auch Entfernungen und begrenzt den Aktionsbereich. Je niedriger ein Horizont, umso weiter kann man sehen. Alles was sich hinter dem Horizont befindet ist ungewiss und muss noch erkundet werden. Eine Bildkomposition ist aufgrund der ungleichen Aufteilung des Bildformates durch einen Horizont spannungsreicher, es sei denn, die Horizontlinie verläuft unmittelbar in der Mitte, teilt das Bild in zwei gleiche Hälften und vermittelt dadurch Symmetrie und Ausgewogenheit. Die Horizontale unterteilt den Bildraum in Vorder- und Hintergrund, verweist auf Distanzen und verdeutlicht die Weglängen, die noch zurückgelegt werden müssen, um den Horizont

Teil 6. Benutzeroberfläche Bildraum

77

zu erreichen. Da sich ein Mensch in der Regel horizontal bewegt, wird auch sein gesamter Lebensbereich von Horizonten bestimmt, die sein Raumgefühl prägen, das er zum Raumverständnis und zur räumlichen Orientierung benötigt. Eine weitere Gestaltungsmethode, mit der sich auch in einer zweidimensionalen Darstellung Tiefenwirkung und Räumlichkeit erzeugen lässt, ist die Unterteilung in unterschiedlich große Bildelemente, die sich teilweise überschneiden. Durch diese visuelle Überlagerung entstehen unterschiedliche Bildebenen mit optischer Distanz, die nicht nur Räumlichkeit suggerieren, sondern auch auf eine hierarchische Ordnung innerhalb des visuellen Systems verweisen. Da in der Realität gleich große Elemente, die hintereinander angeordnet sind, mit zunehmendem Betrachtungsabstand kleiner erscheinen, wirken auch in der visuellen Darstellung die nach Größe gestaffelte Anordnungen raumvertiefend und vermitteln dem Betrachter ein besonders starkes Raumgefühl. Bereits aus der Realität bekannte Sehgewohnheiten und als Konvention verinnerlichte Erfahrungen bilden auch bei der Internetnutzung den Maßstab für immersives Raumempfinden und tragen dort zur Orientierung und zur performativen Raumbildung bei. Das systematische Gestaltungsprinzip von grafischen Benutzeroberflächen bezieht sich nicht ausschließlich auf die visuellen Darstellungsmöglichkeiten dreidimensionaler Räume, sondern geht auch der Frage nach, mit welchen gestalterischen Mitteln und Methoden sich auch auf einer zweidimensional begrenzten Bildschirmfläche eine dritte Dimension simulieren lässt. Neben den perspektivischen Hilfsmitteln vermitteln auch die visuellen Gestaltungsraster dem Nutzer dreidimensionale Bildeindrücke, da sie die Bildschirmfläche in kleinere geometrische Einheiten unterteilen, deren visuelle Ordnung einem mehrdimensionalen Informationsfluss entspricht, der ein dreidimensionales Raumgefühl evoziert. Daraus ist zu schlussfolgern, dass die Gliederung der Bildfläche in einzelne Informationsebenen eine essenzielle Voraussetzung der räumlichen Wahrnehmung darstellt. Die visuelle Einheit von Formen und Farben erleichtert dem Nutzer nicht nur die Orientierung im mentalen Nutzungsraum des Internets, sondern spezifiziert auch ein visuelles Ambiente, das ihn zur performativen Raumbildung animiert. Immersive Raumerlebnisse resultieren aus psychologischen Beziehungen zwischen Nutzer und Raum und werden, neben dem Charakter des Raumes, auch von der momentanen Stimmung des Nutzers geprägt, die dem Raum eine spezielle Bedeutung zuweist. Neben solchen subjektiven Empfindungen, werden Nutzen und Leistung eines Raumes von objektiven Raumgrößen bestimmt, die ihn erst zu dem machen, was er ist und wie er von seinen Nutzern wahrgenommen wird. „Ein Raum kann aufgrund seiner subjektiven und objektiven Gestaltungsparameter einladend und heiter oder abweisend und unterkühlt wirken. Solche Stimmungscharaktere vermitteln dem Nutzer Botschaften, die auf seine Befindlichkeit wirken. Die unmittelbare Beeinflussung durch das Ambiente bedingt allerdings keine einfache Stimmungsüber-

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6  Benutzeroberfläche als Bildraum tragung. Der Nutzer wird immer subjektiv auf die Umgebung reagieren und unterschiedlich für Raumstimmungen empfänglich sein. Auch wenn das Ambiente eines Raumes objektiv durch Farben, Formen, Material und Licht bestimmt wird, unterliegt die visuelle Wahrnehmung des Nutzers immer einer individuellen Stimmungslage, die von der Situation abhängt, in der er sich momentan befindet.“3

Die grafischen Benutzeroberflächen werden unter der gezielten Anwendung perspektivischer Hilfsmittel räumlich konzipiert und vermitteln einen dreidimensionalen Bildeindruck, der ein Raumgefühl impliziert, das Nutzer orientiert und zur Interaktion mit dem System animiert. Der immersive Bildraum grafischer Benutzeroberflächen verfügt über ein visuelles Ambiente aus Formen und Farben, das der visuellen Struktur des Gestaltungsrasters entspricht und als ein essenzieller Bestandteil des visuellen Gestaltungsrahmens den Bildraum strukturiert und den interaktiven Nutzungsprozess lenkt, der die performative Raumbildung initiiert. Dabei entspricht das Systemische Design der grafischen Benutzeroberfläche dem vorgegebenen Nutzungsszenario, das den visuellen Gestaltungsrahmen und damit auch das Gestaltungsraster bestimmt, dessen visuelles Ambiente zur Nutzung motiviert und im mentalen Nutzungsraum orientiert. Während der Nutzungsverlauf systemimmanent ist, erfolgt der Handlungsablauf individuell, da der Nutzer selbst entscheidet, wo er eine Interaktion ausübt. Die funktional-ästhetischen Struktur des visuellen Gestaltungsrasters offeriert dem Nutzer die verschiedenen Möglichkeiten zur Interaktion, orientiert ihn im mentalen Nutzungsraum des Internets und animiert ihn dort zur performativen Raumbildung.

Literatur Moritz, T. (2019). Screenogafie kompakt – der immersive Bildraum grafischer Benutzeroberflächen (S. 160). Wiesbaden: Springer Vieweg. Moritz, T. (2007). Visuelle Gestaltungsraster interaktiver Informationssysteme als integrativer Bestandteil des immersiven Bildraumes. Dissertation, Hochschule für Film und Fernsehen, Potsdam-Babelsberg.

3Moritz

(2007), S. 88.

Fazit

Raumbildende Prozesse entwickeln sich dann, wenn der Zuschauer im Theater oder an einem anderen Ort das Bühnengeschehen verfolgt oder der Anwender im mentalen Nutzungsraum des Internets eine Handlung ausübt, indem er mittels der grafischen Benutzeroberfläche mit dem Computersystem interagiert. Die Historie mentaler Raumbildungen reicht weit zurück bis zu den Arenen der Amphitheater in der griechischen und römischen Antike, wo die Bühne kreisförmig von ansteigenden Rängen für die Zuschauer umgeben war, die im gebührendem Abstand das Geschehen auf der Bühne verfolgten. Das ist in den historischen Theaterbauten auch heute noch so, wo der Zuschauerraum lokal vom Bühnenraum getrennt ist und einem in sich abgeschlossenen Kubus gleicht, der lediglich einseitig zu den Zuschauern hin geöffnet ist. Dieser Abstand zwischen Zuschauern und Darstellern hat sich als Guckkastenprinzip bis in die Gegenwart verewigt und gilt auch heute noch als Synonym für das Theater schlechthin. Im Laufe der Zeit entstanden neue Theaterformen, die mit ihren integrativen Inszenierungen die Zuschauer gezielt vereinnehmen und bestrebt sind, diese nicht nur mental, sondern auch lokal in das Geschehen auf der Bühne zu integrieren. Bei solchen integrativen Inszenierungen entsteht beim Kontextabgleich von Darstellern und Zuschauern ein szenischer Raum, der als mentaler Gemeinschaftsraum deren Intentionen in sich vereint und Raumerfahrungen initiiert. Auch Bertolt Brecht erklärte im epischen Theater das Theaterpublikum zu Mitgestaltern und animierte es, Position zu beziehen und verändernd auf die Umwelt einzuwirken. Brecht nutzte dazu die dramaturgischen Mittel der Verfremdung und inszenierte die dramatischen Vorgänge im bewussten Abstand zum realen Leben als ein Theater im Theater, um ihnen dadurch eine besondere Bedeutung zu verleihen und die Handlung auf eine höhere Stufe zu heben. Seiner Meinung nach ist die wahre Botschaft immer die, welche direkt in den Köpfen der Zuschauer entsteht, indem sie sich ein eigenes Bild von der Aufführung machen, die Bühnenhandlung mit allen Sinnen nachvollziehen und aktiv am Geschehen teilnehmen, was Veränderungen der eigenen Situation nach sich zieht. Das Theaterspiel wird somit zu einem Lehrstück, das sein Publikum nicht nur unterhält, sondern auch bildet. Zeitgenössische Inszenierungen sind bestrebt, den lokalen Abstand zwischen der Bühne und den Zuschauern gänzlich aufzuheben und verlegen daher die © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Moritz, Szenografie digital, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31074-5

79

80

Fazit

Aufführungen oft an neutrale Orte außerhalb der Theaterarchitektur. Damit wird bewusst auf eine Trennung von Zuschauer- und Bühnenraum verzichtet und ein offener Spielraum konstituiert, der die Zuschauer in die Handlung integriert. Parallel dazu existieren Inszenierungen, die als individuelle Aktionen im öffentlichen Raum stattfinden, ohne dass dieser der Handlung angepasst oder dekoriert wird. Solche Performances initiieren eine Raumbildung, die sich performativ in den Köpfen der Darsteller vollzieht, aber auch aus einer gemeinsamen Raumerfahrung mit den Zuschauern resultiert. Ähnliche performative Raumbildungen ereignen sich auch bei der Internetnutzung, wo der Nutzer zu einem Protagonisten avanciert und über die grafische Benutzeroberfläche mit dem System interagiert, um sich im mentalen Nutzugsraum des Internets zu informieren und mit anderen Nutzern zu kommunizieren. Den Zugang zum mentalen Nutzungsraum erlangt er über den immersiven Bildraum der grafischen Benutzeroberfläche, der im visuellen Ambiente aus Formen und Farben zur Nutzung motiviert und im Nutzungsprozess orientiert, da er auf einem visuellen Gestaltungsraster basiert, das den interaktiven Nutzungsverlauf vorgibt. Das Gestaltungsraster unterteilt die Bildschirmfläche systematisch auf Basis von mathematischen Reihen in kleinere geometrische Einheiten, deren visuelles Ordnungssystem den Zugang zum Internet erleichtert und ein Raumgefühl evoziert, das zur performativen Raumbildung anregt.1

Abb. 1. Darstellungs- und Rezeptionsraum im Kontextabgleich als Gemeinschaftsraum

1Vgl.:

Moritz (2007).

Fazit

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Abb. 2. Performative Raumbildung bei der Internetnutzung als individueller Erlebnisraum

Auch der mentale Nutzungsraum des Internets entspricht einem performativen Informations- und Handlungsraum, der entsteht, wenn der Nutzer mittels der grafischen Benutzeroberfläche gezielt mit dem Computersystem interagiert. Performative Raumbildung impliziert aktives Handeln und ist stets an die Aktionen gebunden, die den mentalen Raum formen, der im Kopf des Nutzers entsteht. Im Theater oder an jedem anderen Spielort entsteht ein gemeinsamer Erlebnisraum wenn sich Darstellungs- und Rezeptionsraum im Kontextabgleich als mentaler Gemeinschaftsraum vereinen. Der Internetnutzer formt seinen mentalen Raum performativ, der auch nur von ihm selbst als solcher wahrgenommen und erlebt werden kann. Seit der Erfindung des World Wide Web im Jahre 1989 durch den britischen Physiker und Informatiker Sir Timothy Bernes-Lee, als den Teil des Internets, der heute genutzt wird, hat sich das Berufsfeld des Szenografen permanent verändert. Gestaltete er bislang ausschließlich Bühnenbilder an Theater oder Oper, die Szenenbilder für Film- und Fernsehen oder virtuelle Räume mit dem Computer, so gehört gegenwärtig auch die Screenografie der interaktiv nutzbaren Anwendungen zu seinen Aufgabenbereich, wo er dem immersiven Bildraum der grafischen Benutzeroberflächen ein adäquates Aussehen verleiht, um Nutzern einen intuitiven Zugang zum Internet zu gewähren. Screenografie entspricht einem didaktisch strukturierten Regelwerk zur Gestaltung grafischer Benutzeroberflächen und zur integrativen Inszenierung interaktiver Handlungen im Nutzungsraum des Internets, ist als Denk- und Handlungssystem für die systematische Entwicklung von interaktiv nutzbaren Anwendungen relevant und trägt auf dem Gebiet der

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Fazit

angewandten Informatik zur wissenschaftlichen Lehre und Forschung bei. Endprodukte screenografischen Gestaltens sind die grafischen Benutzeroberflächen mobiler und stationärer Endgeräte, die nicht nur der Information und Unterhaltung dienen, sondern auch die Funktionen zur Verfügung stellen, die Nutzer benötigen, um im Internet mit anderen Nutzern zu kommunizieren. In gezielter Anwendung screenografischer Mittel ist es möglich, die begrenzte und begrenzende Zweidimensionalität der Bildschirmfläche aufzuheben und zu einem immersiven Bildraum zu erweitern, der potenziellen Nutzern den barrierefreien Zugang zum Internet gewährt und sie zur performativen Raumbildung motiviert. Während die Zuschauer und Darsteller trotz integrativer Inszenierung im Theater mehr oder weniger einseitig miteinander kommunizieren und bemüht sind, mittels Kontextabgleich eine Übereinstimmung zu erzielen, kommunizieren sie bei der Internetnutzung wechselseitig mit dem Computersystem und üben im mentalen Nutzungsraum des Internets an systemrelevanten Orten interaktive Handlungen aus. Genauso wie die Zuschauer in einer Theatervorstellung nicht unmittelbar mit den Darstellern kommunizieren, die auf der Bühne agieren, sondern mit dem Ergebnis inszenatorischer Gestaltungsprozesse, interagiert der Nutzer im Internet zwar mit dem Computersystem, indirekt aber mit den Entwicklern und Gestaltern, welche ihm die Werkzeuge zur Verfügung stellen, die er zur interaktiven Nutzung des Internetangebotes benötigt. Neben den funktionalen Aspekten sind für eine effiziente Nutzung dieses globalen Informations- und Kommunikationssystems auch die emotionalen Aspekte der performativen Raumbildung relevant, die einen Nutzer dazu motivieren, den mentalen Informations- und Handlungsraum des Internets explorativ zu ergründen und die Funktionen der grafischen Benutzeroberfläche zur Informationssuche und Kommunikation zu nutzen. Im szenografischen Kontext entspricht der gestaltete Screen des Computerbildschirms einer Theaterbühne, auf der dramatische Vorgänge mit dramaturgischen Mitteln als Handlungen inszeniert werden, während das visuelle Gestaltungsraster grafischer Benutzeroberflächen als immersiver Bildraum fungiert, der den potenziellen Nutzer in den mentalen Nutzungsraum des Internets geleitet, wo er zielgerecht mit dem System interagiert. Der interaktive Dialog mit dem System wurde, wie jeder andere dramatische Vorgang auch, dramaturgisch geplant sowie zeitlich und örtlich als interaktives Szenario inszeniert, das den Bildschirm, den Nutzer und die Interaktionen als szenografisches Gesamtbild vereint, dessen Konzeption und Gestaltung dem Szenografen obliegt, der visuelle Orientierungshilfen entwickelt, welche die Interaktion mit dem System verbessern und die performative Raumbildung erleichtern. Im Internet ist die Bildung performativer Räume immer an die Aktionen gebunden, die der Nutzer im mentalen Informations- und Handlungsraum ausübt. Während die raumbildenden Prozesse am Theater auf dem Kontextabgleich von Darstellern und Zuschauern basieren, der einen gemeinsamen Erlebnisraum voraussetzt, formt der Nutzer im Internet seinen eigenen Raum, den auch nur er mental erleben kann, bei der Interaktion mit dem Computersystem performativ im Alleingang.

Literatur

Moritz, T. (2007). Visuelle Gestaltungsraster interaktiver Informationssysteme als integrativer Bestandteil des immersiven Bildraumes. Dissertation, Hochschule für Film und Fernsehen, Potsdam-Babelsberg.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Moritz, Szenografie digital, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31074-5

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