Szenen des Lesens: Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung 9783839458792

Viele beschwören das Lesen als unverzichtbare Kulturtechnik - aber was wissen wir eigentlich über diese soziale Praxis?

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Szenen des Lesens: Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung
 9783839458792

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Julika Griem Szenen des Lesens

Wie wir lesen – Zur Geschichte, Praxis und Zukunft einer Kulturtechnik Band 3

Julika Griem

Szenen des Lesens Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung

Wir danken der Hauslage-Stiftung für die freundliche Förderung der Reihe »Wie wir lesen«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Korrektorat: Leandra Thiele, Bremen Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5879-8 PDF-ISBN 978-3-8394-5879-2 https://doi.org/10.14361/9783839458792 Buchreihen-ISSN: 2702-0207 Buchreihen-eISSN: 2747-3678 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt I. Lesen lesen   � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 7 Betreutes Lesen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 7 Neue Beschreibungen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 10 Texte und Kontexte, Szenen und Rahmen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 15

II. Lesen beobachten   � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 21 Selbstversuch mit Maigret� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 22 Eine Uni – ein Buch  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 29

III. Lesen zeigen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 39 Besser leben/lesen� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 41 Schöner lesen/leben � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 48

IV. Lesen lassen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 59 »Not all readers are leaders – but all leaders are readers«� � � � � � � � � � � � � � 61 »Join Us as We Read the World« � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 69

V. Lesen erzählen  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 79 Geschichten vom lesenden Kind� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 81 Klassenziel Einzelwertung? � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 88

VI. Lesen (ver-)lernen   � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 103 Anmerkungen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 115

I. Lesen lesen Betreutes Lesen Ist die Verbreitung von Ratgeberliteratur ein Indikator gesellschaftlicher Verunsicherung oder gar des Verfalls? Wer auf traditionsbewusste Kulturkritik aus ist, wird diese Frage schnell mit »Ja« beantworten – je mehr Lebenshilfe, desto weniger Lebensart. Dies gälte dann auch für die vielen Leseanleitungen, die in den letzten Jahren publiziert wurden. Betreutes Lesen in Buchform scheint zu boomen: Allein in den letzten Jahren erschienen – und das ist nur eine kleine Auswahl – Felicitas von Lovenbergs »Gebrauchsanleitung«, Denis Schecks »Kanon«, Rainer Moritz’ »Überlebensbibliothek«, eine »Romantherapie« auf der Grundlage von 253 Büchern »für ein besseres Leben« und ein fast 800-seitiger »Lesebegleiter« von Tobias Blumenberg, laut Verlagsauskunft nicht nur der Sohn Hans Blumenbergs, sondern auch »der belesenste Zahnarzt Deutschlands«. Solche medizinisch beglaubigte Lesebegleitung komplementiert eine Produktgruppe, mit der schon seit Längerem in Form von Bildbänden, Kalendern und Notizbüchlein proklamiert wird, dass Frauen, die lesen, gefährlich sind.1 Vielleicht belegen solche Titel und Produkte einfach nur aufs Neue, wie wenig wir über das Lesen als soziale Praxis wissen – einer Praxis, die sich möglicherweise von jenen Wunschvorstellungen und Normen unterscheidet, mit denen sie thematisiert und problematisiert wird. Sucht man nach empirischen Daten zur Verbreitung von Leseratgebern, scheitert man bereits daran, dass die verfügbaren Statistiken die Warengruppe der Ratgeberliteratur so aufschlüsseln, dass Lesehilfen nicht einzuordnen sind. Und natür-

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lich geben diese Statistiken nur an, welche Ratgeber gekauft, aber nicht, welche gelesen wurden. Wir wissen auch nicht, ob und auf welchen anderen Wegen Leserinnen2 auf Bücher über das Lesen zugreifen; und noch weniger wissen wir über die Motive und Effekte der Lektüre solcher Leseanleitungen. Möglicherweise ist das Genre bibliotherapeutischer Literatur (das noch zu spezifizieren sein wird) einfach nur leicht zu schreiben, effizient zu variieren und wird von den Werbeabteilungen der Verlage gern verbreitet? Oder es wirkt ein ökonomisch sanktioniertes magisches Denken, weil bereits die Ankündigung einer »Gebrauchsanweisung für das Lesen« oder eines Bildbandes über besonders hübsche Buchläden dazu beitragen kann, ein befriedigendes Gefühl des ›Gelesenhabenwerdens‹ zu erzeugen? Kommerziell erfolgreiche Buchentwicklung lebt von der kontinuierlichen Rekombination von Gattungsmerkmalen. Im wachsenden Imperium der Bretagne-Bewirtschaftung des ehemaligen S. Fischer-Verlegers Jörg Bong ergeben sich aus Regionalkrimis, die auch als Reiseführer zu nutzen sind, Kochbücher und Sammlungen mit landestypischen Sagen und Märchen für Kinder. Auch im Leseratgebersegment ist Variabilität gefragt: Opulente cof fee table books können Leserinnen in aller Welt und die schönsten Bibliotheken Europas präsentieren oder mit Designideen dabei helfen, mit Büchern zu leben. Lektüre kann als Management-Unterweisung fungieren – Mit Platon zum Profit, Mit Goethe zum Gewinn;3 sie kann, für unterschiedliche Zielgruppen auf bereitet, Lebenshilfe, Lebenskunst und Lebenssinn versprechen. In gepf legteren Semantiken und bibliophileren Aufmachungen hat sich das Genre des betreuten Lesens auch in den Bastionen klassischer Lesekunst etabliert: So z.B. in einem Band der Edition Suhrkamp, in dem zum Gedenken an den verstorbenen Lektor Raimund Fellinger 24 Antworten auf die Frage »Warum lesen?« versammelt wurden.4 Dass in diesem Band Autorinnen und Autoren wie Esther Kinsky, Clemens J. Setz, Rachel Cusk, Marcel Beyer und Enis Maci das literarische Lesen loben, liegt nahe. Etwas überraschender sind zwei Beiträge von ebenfalls bei Suhrkamp publizierenden deutschen Soziologen, die die Ausgangsfrage auf sehr unterschiedliche Weise beantworten. Andreas Reckwitz gibt einen komprimierten

I. Lesen lesen

Überblick über den Strukturwandel, den das Lesen als »sozial-kulturelle Praktik« seit der frühen Neuzeit durchlaufen hat und skizziert damit auch Fragen für ein kultursoziologisches und kulturhistorisches Forschungsprogramm: Was und wie wird gelesen und in welchen gesellschaftlichen Milieus und Funktionen? Wie bestimmen veränderte Lesesozialisationen, -situationen und -hilfsmittel Weltzugänge und Subjektivierungsformen? Wie vermitteln sich durch spezifische Lesekonventionen Inneres und Äußeres; wie verändern sich Aufmerksamkeitsökonomien, Teilhabemöglichkeiten und Ref lexionsspielräume? Welche Rollen spielen spezifische Lesepraktiken in Konkurrenz zu anderen Kulturtechniken, und wie positionieren sie Individuen in gesellschaftlichen Zusammenhängen; wie stiften sie Identitäten und ermöglichen Gegenwelten und Gegenentwürfe? Hartmut Rosas deutlich längerer Beitrag blickt nicht zurück auf die Geschichte des Lesens, sondern auf seine eigene Lesepraxis. Er berichtet von packenden und berührenden Lektüren, nennt Titel und Autoren, bilanziert seine Gewohnheiten und konzentriert sich darauf, wie das Lesen sein »Selbstverhältnis« und sein »Selbstgefühl« prägt und verändert. Die Lektüre von literarischen Texten garantiert für Rosa ein Weltverhältnis, das Offenheit, Dialogizität, Reziprozität und Brücken zwischen Identität und Differenz ermöglicht und »Erstarrung, Verkrustung und Verarmung« erträglicher macht.5 Beide Soziologen nutzen einerseits das Thema des SuhrkampBandes, um das Lesen mit Schlüsselkonzepten der eigenen Forschung zu verknüpfen: Wo Rosa auf die »Resonanz« zurückgreift, schließt Reckwitz mit der »Gesellschaft der Singularitäten«. Beide haben andererseits noch nicht selbst zum Lesen gearbeitet und greifen daher auf existierende Forschungsliteratur zurück, um die jeweilige Perspektive zu untermauern. Die gegenwärtig viel zitierten Arbeiten von Maryanne Wolf6 zu neuro- und kognitionspsychologischen Implikationen analoger und digitaler Lesemodi erwähnen beide, allerdings auf unterschiedliche Weise: Reckwitz streift sie nur, weil er sich für eine gesellschaftstheoretische Modellierung der Veränderung von Lektüreweisen interessiert. Rosa paraphrasiert dagegen Studien zu den sogenannten Spiegelneuronen, um aus solchen Arbeiten Bewertungen der Rezeption von Lite-

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ratur abzuleiten. Die emphatische Auf ladung des Lesens in Rosas Beitrag wirkt damit naturwissenschaftlich legitimiert; wie auch in vielen aktuellen Leseratgebern dient die Referenz auf »Studien« dazu, weitreichende Spekulationen über die positive Kraft des Lesens szientistisch zu nobilitieren. Im f low seiner Begeisterung über das beim Lesen ausgelöste »Neuronenfeuer« vernachlässigt Rosa allerdings einige grundlegende Klärungen: Es wird bis zum Ende nicht klar, ob er vom Lesen ganz allgemein oder vom Lesen von literarischen Texten oder auch nur – es geht ihm schließlich um die »narrative Resonanz« – vom Lesen erzählender Texte spricht. Diese Verwischung von Unterschieden zum Zweck einer normativen Mobilisierung ist typisch für all jene Schriften, in denen das Lob des Lesens als Heilmittel für viele Probleme unserer Zeit gesungen wird. Andreas Reckwitz’ Beitrag wirkt dagegen kühl und distanziert: Anders als Hartmut Rosa bekennt er sich nicht zu Lieblingslektüren und öffnet keine Türen zum Inneren seiner Lesepersönlichkeit, sondern regt zu einer historisch-systematischen Analyse an. Gerade weil ich mich für eine soziologische Erweiterung der Erforschung vom Lesepraktiken interessiere, erscheinen mir die unterschiedlichen Zugänge von Rosa und Reckwitz bedenkenswert. Sie werfen grundsätzliche Fragen auf, die auch im Folgenden immer wieder gestellt werden müssen: Auf welche Daten, Materialien und Quellen stützen wir uns überhaupt, wenn wir Aussagen über das Lesen treffen? Auf welche Disziplinen verlassen wir uns dabei, welche Konzepte importieren und exportieren wir? Und wie setzen wir Beschreibung und Bewertung, Analyse und Kritik in ein Verhältnis, das im Idealfall mehr erkennen lässt als altbekannte Rituale der Beschwörung von Verfall oder Verheißung?

Neue Beschreibungen Ich möchte mit diesem Essay Formen der Beobachtung und Darstellung erproben, die nicht allein jene etablierten Diskurse fortschreiben, mit denen das Lesen auf häufig vorhersehbare Weise expliziert wird. Mit seinem Buch Lesen im digitalen Zeitalter (2020)

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ratur abzuleiten. Die emphatische Auf ladung des Lesens in Rosas Beitrag wirkt damit naturwissenschaftlich legitimiert; wie auch in vielen aktuellen Leseratgebern dient die Referenz auf »Studien« dazu, weitreichende Spekulationen über die positive Kraft des Lesens szientistisch zu nobilitieren. Im f low seiner Begeisterung über das beim Lesen ausgelöste »Neuronenfeuer« vernachlässigt Rosa allerdings einige grundlegende Klärungen: Es wird bis zum Ende nicht klar, ob er vom Lesen ganz allgemein oder vom Lesen von literarischen Texten oder auch nur – es geht ihm schließlich um die »narrative Resonanz« – vom Lesen erzählender Texte spricht. Diese Verwischung von Unterschieden zum Zweck einer normativen Mobilisierung ist typisch für all jene Schriften, in denen das Lob des Lesens als Heilmittel für viele Probleme unserer Zeit gesungen wird. Andreas Reckwitz’ Beitrag wirkt dagegen kühl und distanziert: Anders als Hartmut Rosa bekennt er sich nicht zu Lieblingslektüren und öffnet keine Türen zum Inneren seiner Lesepersönlichkeit, sondern regt zu einer historisch-systematischen Analyse an. Gerade weil ich mich für eine soziologische Erweiterung der Erforschung vom Lesepraktiken interessiere, erscheinen mir die unterschiedlichen Zugänge von Rosa und Reckwitz bedenkenswert. Sie werfen grundsätzliche Fragen auf, die auch im Folgenden immer wieder gestellt werden müssen: Auf welche Daten, Materialien und Quellen stützen wir uns überhaupt, wenn wir Aussagen über das Lesen treffen? Auf welche Disziplinen verlassen wir uns dabei, welche Konzepte importieren und exportieren wir? Und wie setzen wir Beschreibung und Bewertung, Analyse und Kritik in ein Verhältnis, das im Idealfall mehr erkennen lässt als altbekannte Rituale der Beschwörung von Verfall oder Verheißung?

Neue Beschreibungen Ich möchte mit diesem Essay Formen der Beobachtung und Darstellung erproben, die nicht allein jene etablierten Diskurse fortschreiben, mit denen das Lesen auf häufig vorhersehbare Weise expliziert wird. Mit seinem Buch Lesen im digitalen Zeitalter (2020)

I. Lesen lesen

hat Gerhard Lauer exemplarisch vorgeführt, wie das gut eingespielte kulturkritische Großnarrativ überzeugend vermieden werden kann. Er erzählt eine »hellere Geschichte« und plädiert dafür, Modernität als Widersprüchlichkeit und Gleichzeitigkeit auch angesichts der Entwicklung des Lesens auszuhalten: »Nichts scheint sich geändert zu haben, und doch fast alles.«7 Angesichts dieser herausfordernden Unübersichtlichkeit vermute ich, dass wir auch in Bereichen fündig werden können, in denen stummes Wissen nistet; ein Wissen über das Lesen also, das so routinisiert oder so unerwünscht ist, dass wir die betreffenden Praktiken gerade nicht hinterfragen. Gerade hier bewährt sich ja die Wirkmacht sozialer Praktiken, weil sie einfach vollzogen und nicht problematisiert werden. Solche Praktiken umfassen nicht nur Verlautbartes, sondern ganz verschiedene »ways of doing things« in komplexen Ensembles aus Akteuren, Dingen, Vorstellungen und Erfahrungen: Eben nicht nur die Texte selbst, sondern auch die Orte, an denen sie hergestellt und vertrieben, verliehen, kopiert und vermittelt werden. Ebenso die Bedingungen, unter denen wir Bücher, Texte und Lektüren finden und vorzeigen, auf bewahren und vergessen; Lesemöbel und Leseaccessoires; Leseumgebungen und Leseatmosphären, die wiederum als Leseökonomien und Leseökologien zusammen zu denken sind. Nimmt man all dies in den Blick, zeigen sich Praktiken und Diskurse in komplexer Weise verschränkt: Der Bücherschrank in meiner Nachbarschaft muss aufgestellt, aufgesucht und bestückt werden, aber er steht auch für veränderte Vorstellungen des Teilens und Weitergebens von gedruckten und gebundenen Texten. Der kleine, von einer Inhaberin geführte Buchladen ist ein Ort des Austauschs von Waren und Kulturgütern, aber längst auch ein in warmes Licht getauchter Topos bibliophil gesinnter romantic comedies; ein schnell identifizierbarer Schauplatz, auf dem sich der Buchhändler/die Buchhändlerin als eine Sozialfigur abzuzeichnen begonnen hat.8 Wie sich unser Blick auf diese in der Forschung noch gern übersehenen Aspekte schärfen könnte, hat mir u.a. Anna Wieners Memoir Uncanny Valley aus dem Jahr 2020 vor Augen geführt.9 Im Zentrum dieses Textes scheinen auf einen ersten Blick nicht das Lesen und schon gar nicht die Literatur, sondern der Aufstieg der

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Start-up-Unternehmen im Silicon Valley zu stehen. Wieners Feldforschung in San Francisco nimmt ihren Ausgangspunkt allerdings in der Verlagsbranche New Yorks an der anderen Küste der USA, wo die Erzählerin nach ihrem Soziologiestudium in einer kleinen Agentur tätig ist und wie viele Vertreterinnen ihrer Generation unterfordert und dafür schlecht bezahlt wird: »Among the assistant class, my friends and I wondered whether there would be a place for us as the industry continued to shrink. A person could live on thirty thousand dollars a year in New York; millions did more with less. But take-home pay of seventeen hundred dollars a month was difficult to square with the social, festive, affluent lifestyle the publishing industry encouraged: networking drinks, dinner parties, three-hundred dollar wrap dresses, built-in bookcases in Fort Greene of Brooklyn Heights. It was nice to get new hardcover books for free, but it would be nicer if we could afford to buy them. Every assistant I knew quietly relied on a secondary source of income: copyediting, bartending, waitressing, generous relatives. These cash flows were rarely disclosed to anyone but each other. It was an indignity to talk about money when our superiors, who ordered poached salmon and glasses of rosé at lunch, seemed to consider low pay a rite of passage, rather than systemic exploitation in which they might feel some solidarity. Solidarity, specifically, with us.« 10 Diese Beschreibung konzentriert sich nicht allein auf die Frage, welche Texte wie gelesen werden. Weil Anna Wiener als Leserin sozialisiert wurde, wollte sie ihre Liebe zum Lesen zum Beruf machen und stieß dabei auf eine Krise, die ihr ziemlich schonungsloser Rückblick zu erfassen versucht: Wie steht es um die Buchbranche als Ensemble von Akteurinnen, die alle auf vielschichtige Weise beitragen bzw. betroffen sind und deren Werte innerhalb eines sich verändernden Verwertungsgeschehens zur Disposition stehen? Als journalistisch geschulte Feldforschung ergänzt Wieners Buch Clayton Childress’ Studie Under the Cover (2017), mit der es dem kanadischen Soziologen gelungen ist, den Weg eines Romans von den ersten Ideen seiner Autorin über die Produktion, Distribution und

I. Lesen lesen

Rezeption in verschiedenen Lesegruppen detailliert und mit hartnäckig erarbeiten Zugängen zum jeweiligen Praxisfeld nachzuverfolgen.11 Anders als Childress’ Begleitung eines Romans verbleibt Wieners Selbstversuch aber nicht in der Verlagsbranche. Die Autorin fühlt sich von der Energie der neuen, häufig von sehr jungen Gründern angeführten Tech-Unternehmen angezogen und heuert beim Team von »Oyster« an, einem kommerziellen Streaming-Service für E-Books, der 2015 von Google aufgekauft wurde. Dieser Job gewährleistet den Einstieg in eine Unternehmens- und Arbeitswelt, die auch den Vertrieb von Lesestoffen, die ökonomische, soziale und kulturelle Bedeutung von Büchern und Lesetechniken sowie die Praxis von Lesenden weiter verändert: »Technology products were lifestyle products, the CEO said. As he continued his pitch, it became clear to me that the utility of the e-reading app was not so much about reading as it was about signaling that you were the type of person who would read, and who would use an app with a cutting-edge reading experience and innovative, intuitive design. The ideal user of the app, I deduced, was a person who thought of themselves as a reader, but wasn’t, not really: licensing cost money, and anyone reading more than a few books a month could generate a licensing expense exceeding the subscription fee. Books were an opportunity, I understood, but not the endgame. It was just one type of content, and only the first step. Expansion: that was the endgame.« 12 Wie bereits angedeutet, geht es sowohl in Diskursen über das Lesen als auch in der Entwicklung neuer Lesetechnologien und -produkte nicht allein um die Vermittlung von Inhalten, Kompetenzen und Wissensbeständen, sondern auch um die Erzeugung von Gefühlen und Erfahrungen, um die Kultivierung und Bewirtschaftung von Lebensstilen. Wenn wir mehr über die gegenwärtige soziale Praxis des Lesens erfahren wollen, muss daher die gesamte Bandbreite der mit Lesen verbundenen Affekte und Effekte ernst genommen werden. Und wir sollten nach Formen der Beobachtung und Beschreibung suchen, die sich nicht eilfertig auf die altbekannten

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Topoi bildungsbürgerlicher bzw. disruptiver Kulturkritik oder die Traditionsbestände literaturwissenschaftlich beglaubigter Vorstellungen angemessenen Lesens verlassen. Anna Wieners Memoir stellt auch Fragen nach der Methodik und Heuristik einer Diagnostik gegenwärtiger Leseverhältnisse. Als Soziologin mit Erfahrung in der Verlagsbranche erzählt sie eine Bildungsgeschichte, die sie in uramerikanischer Weise von der Ostan die Westküste, aber auch zu einer Ref lexion über Möglichkeiten der Identifikation und Bewertung von Gegenwartsproblemen geführt hat: »I was always looking for the emotional narrative, the psychological explanation, the personal history. Some exculpatory story on which to train my sympathy. It wasn’t so simple as wanting to believe that adulthood was a psychic untangling of adolescence, willful revisionist history. My obsession with the spiritual, sentimental, and political possibilities of the entrepreneurial class was an ineffectual attempt to alleviate my own guilt about participating in a globally extractive project, but more important, it was a projection: they would become the next power elite. I wanted to believe that as generations turned over, those coming into economic and political power would build a different, better, more expansive world, and not just for people like themselves. Later, I would mourn these conceits. Not only because this version of the future was constitutionally impossible – such arbitrary and unaccountable power was, after all, the problem – but also because I was repeating myself. I was looking for stories, I should have seen a system.« 13 »Stories« und Narrativität werden in den Selbstbeschreibungen der Silicon Valley-Akteure ebenso fetischisiert wie in vielen populären Leseratgebern: Eine Infrastruktur von Beratung, Coaching und Therapie steht bereit, um ökonomische Durchbrüche und belohnte Lebensentwürfe als eingängig erzählte Geschichten zu formatieren.14 Gegen diese Konjunktur eines instrumentalisierten Storytelling hilft aber nicht einfach Systemkritik. Wiener erarbeitet sich eine Perspektive und Schreibweise, aus der nicht vorschnell psychologisiert bzw. moralisch geurteilt wird, durch mikrosozio-

I. Lesen lesen

logische Beschreibungen scheinbar marginaler Situationen und Schauplätze. Sie beobachtet, wie die Praktiker und Profiteure der neuen Tech-Unternehmen gemeinsam essen und spielen, wie sie ihre Büros und Wohnungen einrichten, wie sie Sport treiben, Drogen konsumieren, Verkehrsmittel benutzen und ihren Tag strukturieren. Aus diesen lebensweltlichen Details ergeben sich immer wieder anschauliche Szenen, die vielleicht mehr über die Motive, Hoffnungen, Entscheidungen und Folgen verraten als Statistiken oder eine ref lexhafte Kritik neoliberaler Exzesse.

Texte und Kontexte, Szenen und Rahmen Dass eine Konzentration auf szenisch angeordnete und beschreibend verdichtete Situationen heuristisch produktiv sein könnte, hat der Literaturwissenschaftler Nico Pethes auch für die Leseforschung vorgeschlagen. Er setzt allerdings nicht ethnographisch oder soziologisch an, sondern erweitert das bereits eingeführte literaturwissenschaftliche Konzept der »Schreibszene« für die Dimension des Lesens: Auch in dieser lässt sich, der einschlägigen Definition einer Schreibszene folgend, ein »nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste« ausmachen.15 Will man Leseszenen näher untersuchen, sind auf ihrer Außenseite immer »Lesediskurse, Lesepraktiken, Lesetechnologien« beteiligt. Pethes verweist allerdings auch – und hier setzt er sich dezidiert von kognitionstheoretisch orientierten Forschenden ab – auf die »Unbeobachtbarkeit bzw. Spurlosigkeit« und »Unbeschreibbarkeit« des Lesens als »mentalem Akt«16. Ein wie von Hartmut Rosa im Prozess des Lesens vermutetes »Neuronenfeuer« kann eben nur spekulativ vermutet bzw. experimentell abgeleitet, aber nicht empirisch nachvollziehend wahrgenommen werden. Wie Michael Hagner in seinem Beitrag zum schon erwähnten Suhrkamp-Band schreibt: »Zu jeder einzelnen Leseszene lassen sich eine Hypothese, eine Metapher oder eine Erzählung finden, aber im Grunde bleiben uns die Leser und ihre Lektüren fast gänzlich verschlossen, solange sie uns nicht davon berichten. Und selbst dann. Doch je mehr wir selbst

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I. Lesen lesen

logische Beschreibungen scheinbar marginaler Situationen und Schauplätze. Sie beobachtet, wie die Praktiker und Profiteure der neuen Tech-Unternehmen gemeinsam essen und spielen, wie sie ihre Büros und Wohnungen einrichten, wie sie Sport treiben, Drogen konsumieren, Verkehrsmittel benutzen und ihren Tag strukturieren. Aus diesen lebensweltlichen Details ergeben sich immer wieder anschauliche Szenen, die vielleicht mehr über die Motive, Hoffnungen, Entscheidungen und Folgen verraten als Statistiken oder eine ref lexhafte Kritik neoliberaler Exzesse.

Texte und Kontexte, Szenen und Rahmen Dass eine Konzentration auf szenisch angeordnete und beschreibend verdichtete Situationen heuristisch produktiv sein könnte, hat der Literaturwissenschaftler Nico Pethes auch für die Leseforschung vorgeschlagen. Er setzt allerdings nicht ethnographisch oder soziologisch an, sondern erweitert das bereits eingeführte literaturwissenschaftliche Konzept der »Schreibszene« für die Dimension des Lesens: Auch in dieser lässt sich, der einschlägigen Definition einer Schreibszene folgend, ein »nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste« ausmachen.15 Will man Leseszenen näher untersuchen, sind auf ihrer Außenseite immer »Lesediskurse, Lesepraktiken, Lesetechnologien« beteiligt. Pethes verweist allerdings auch – und hier setzt er sich dezidiert von kognitionstheoretisch orientierten Forschenden ab – auf die »Unbeobachtbarkeit bzw. Spurlosigkeit« und »Unbeschreibbarkeit« des Lesens als »mentalem Akt«16. Ein wie von Hartmut Rosa im Prozess des Lesens vermutetes »Neuronenfeuer« kann eben nur spekulativ vermutet bzw. experimentell abgeleitet, aber nicht empirisch nachvollziehend wahrgenommen werden. Wie Michael Hagner in seinem Beitrag zum schon erwähnten Suhrkamp-Band schreibt: »Zu jeder einzelnen Leseszene lassen sich eine Hypothese, eine Metapher oder eine Erzählung finden, aber im Grunde bleiben uns die Leser und ihre Lektüren fast gänzlich verschlossen, solange sie uns nicht davon berichten. Und selbst dann. Doch je mehr wir selbst

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lesen, desto mehr fühlen wir uns zuständig und verallgemeinern unsere Erfahrungen.« 17 Akademisch ausgebildete Lesende, die sich zudem noch wissenschaftlich mit dem Lesen beschäftigen, neigen nicht nur zur Verallgemeinerung, sondern auch zur Singularisierung ihrer eigenen Prägungen und Routinen. Beide Tendenzen eignen sich dazu, spezifische Lesepraktiken in oft indirekter Manier normativ aufzuladen. So nährt die auch von Hagner konstatierte »Unzugänglichkeit« des Lesens einerseits eine Fiktion quasi-naturwissenschaftlicher ›Durchschaubarkeit‹, andererseits lädt sie zu auratisierender Mystifikation ein: In diesem Fall markiert das Lesen ein Geheimnis, einen wissenschaftlich gerade nicht auszuleuchtenden Arkanbereich, von unverfügbarer Intimität und Subjektivität.18 Auch Nico Pethes’ Entwurf einer Leseszene verteidigt einen »Eigenwert des Lesens« als »intransitive Seite« einer körperlich-materialen Praxis:19 Lesen zeige sich hier in einer »Selbstbezüglichkeit« und »Selbstgenügsamkeit«20, die nicht auf Informationsübermittlung und Sinnbildung zu reduzieren sei. Für Pethes bieten vor allem literarisch gestaltete Leseszenen die Möglichkeit, »das Lesen selbst zu lesen und in dieser Selbstbezüglichkeit die praktische Basis traditionsbildender Kulturtechniken zu erkennen«21. Pethes’ theoretisch aufwändige Konzeption einer Leseszene spitzt Annäherungen an das Lesen zu, die bei Michel de Certeau und Roland Barthes mit Formulierungen wie »Lesen heißt Wildern« oder einem »vielfältigen Feld aufgesplitterter Praktiken und irreduzibler Effekte« vorbereitet wurden.22 Diese Vorstellungen setzen eher bei künstlerischen und intellektuellen Lektürepraktiken an, die utilitaristischen Formen des Lesens entgegengesetzt werden. Auf der einen Seite gilt das Lesen somit als eine Black Box, aus deren Unzugänglichkeit sich undisziplinierbare Kreativität speist; auf der anderen Seite wird diese Box immer wieder mit Bestimmungen gefüllt. Das Lesen changiert nicht erst in gegenwärtigen Debatten als überdeterminierter Komplex zwischen Mittel und Selbstzweck; es zieht gleichermaßen Bedürfnisse nach Opazität und Transparenz, Unverfügbarkeit und Optimierbarkeit auf sich.

I. Lesen lesen

Was tun wir, wenn wir lesen? Viele Antworten auf diese Frage nach der Praxis schleppen Wertungen mit sich, die es offen zu legen gilt, um zu präziseren Annäherungen an Lesepraktiken zu kommen. Dabei können kontinuierliche Rückfragen helfen: Aufgrund welcher Prämissen gilt zum Beispiel das mind wandering in einem Lektüreprozess für den einen Leseforscher als Störung einer konzentriert gelingenden Informationsverarbeitung, für eine andere Forscherin als Ausweis einer in Versenkung freigelassenen Imagination? Entscheiden die Texte darüber, wie diese Fragen zu beantworten sind, oder eher die Kontexte? Kurzschlüsse sind nicht allein in der Bewertung, sondern schon in der Beschreibung von Leseweisen häufig im Spiel: Bei der Instrumentalisierung und Fetischisierung von Lektüreformen ebenso wie bei der Neigung, das Lesen auf Effizienz oder Entschleunigung, auf Ref lexion, Widerständigkeit und die Kultivierung von Irritationsbereitschaft und Ambiguitätstoleranz zu verpf lichten. Zu hinterfragen sind damit populäre Anrufungen ebenso wie intellektuelle und wissenschaftliche Evokationen des Lesens. Im Zentrum dieser Gemengelagen von Traditionsbeständen, Diagnosen und Wunschvorstellungen steht ein Motivkomplex, der sich wiederum kognitionspsychologisch, sozialhistorisch, fachgeschichtlich und ideologiekritisch bearbeiten lässt: Wie steht es mit dem Lesevergnügen, jener pleasure oder vielleicht auch Liebe zu Büchern und »Lust am Text«, die in manchen literaturtheoretischen Schriften zwar durchgearbeitet, in der Praxis akademischer Literaturvermittlung aber eher stiefmütterlich behandelt wird? Viele von uns innerhalb der Profession der Literatur- und Kulturwissenschaft geraten bereits auf glattes Eis, wenn wir nach Worten und Begriffen für Lesefreude suchen. Geht es um Unterhaltung und Eskapismus; um kognitive Befriedigung und soziale Belohnung; um eine Tradition erotisierter Lektürepraktiken und Lesevorstellungen im Namen der Philologie als Liebe zur Literatur? Michael Hagner hat auf diese Lage mit einer eigenen Arbeitsteilung reagiert: Mit einer Monographie zur Sache des Buches und einem Insel-Bändchen zur Lust am Buch; 23 der Suche nach der Lust an der Sache des Lesens gelten seine Publikationen also in verschiedenen publizistischen Formen. In einer Studie mit dem Titel Loving Literature (2015) geht

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Deirdre Shauna Lynch noch einen Schritt weiter: Sie zeigt, dass das Lesen als Liebe der schönen Literatur einen Komplex aus Praktiken und Normen darstellt, der sich im 18. und 19. Jahrhundert herausgebildet und damit auch die Verhältnisse zwischen alltäglichem und akademischem Lesen, zwischen intimen und professionellen Lektüren verändert hat.24 Lynchs Kulturgeschichte eines affektiv besetzten Lesens fordert ihre literaturwissenschaftlich ausgebildeten Leserinnen und Leser auf, unser disziplinäres Erbe als eine komplexe Mischung aus Analyse und Identifikation, Nähe- und Distanztechniken nicht zu verengen: »We produce a partial picture only when we narrate the story of the separation of a specialist caste of interpreters from a general reading public and the divvying up of meaning and feeling, knowledge and pleasure, between the two. For a start, that narrative leaves us unable to assess the entanglements of the institutional and the intimate within the informal, everyday practice of English studies, within that psycho-pedagogy of everyday life that defines the disciplines’ real effectivity just as much as our publications in literary criticism do.«25 Ich werde mich im Folgenden an diese vielen Dimensionen des Lesens in möglichst abgerüsteter Weise annähern und das Konzept einer Leseszene entsprechend offener verwenden: Anders als Nico Pethes werde ich nicht nur literarisch geformte Leseszenen aufsuchen, die die Selbstbezüglichkeit des Lesens ausstellen. Mich interessieren ganz unterschiedliche Schauplätze, Gelegenheiten und Inszenierungen des Lesens; und ich werde versuchen, sie als vielschichtige materielle und symbolische Assemblagen möglichst anschaulich und differenziert zu erörtern. Ein möglicher roter Faden zwischen den ganz bewusst aus unterschiedlichen Kontexten versammelten Leseszenen ließe sich mit dem Begriff und der Aktivität des Rahmens knüpfen. Rahmungen26 stellen einerseits rekonstruierbare symbolische und ästhetische Verfahren dar, mit denen Phänomene begrenzt, hervorgehoben, bewertet und überhaupt sinnhaft auf bereitet werden. Andererseits sind sie von Erving Goffman auch als soziale Grundoperationen beschrieben worden, die unser

I. Lesen lesen

Zusammenleben mit internalisierbaren Regeln und Konventionen versorgen – die natürlich auch gebrochen werden können.27 Die in diesem Essay skizzierten Leseszenen rahmen ihrerseits Praktiken, die mir symptomatisch für eine diskursive Bestandsaufnahme erscheinen, mit der ich auch unsere Bewertungsroutinen hinterfragen möchte. Meine Kapitelüberschriften vermeiden daher Phrasen wie »Lesen als Abenteuer«, »Lesen als Lebensmittel«, oder »Lesen als Aphrodisiakum«. Sie gehen mit Hilfe von Tätigkeitsworten eher operativ vor, um sich nicht von vorherein in den Werturteilen zu verstricken, die den Diskurs über das Lesen oft verstopfen. Im Abschnitt »Lesen beobachten« werde ich methodische Probleme mit Blick auf die individuelle und kollektive Dimension von Lesepraktiken vertiefen. Unter dem Titel »Lesen zeigen« wird es um Leseanweisungen und Leseberatung und ihre Gratifikationsversprechen gehen; im Kapitel »Lesen lassen« konzentriere ich mich auf Arbeitsteilungen, ihre Belohnungsstrukturen und Vergemeinschaftungseffekte zwischen Sozialität und Soziabilität. Die Überschrift »Lesen erzählen« verweist auf durch Leseerzählungen vermittelte Bildungs- und Sozialisationsziele. Im letzten Abschnitt »Lesen (ver-)lernen« kehre ich an die Universität zurück und entwerfe ein prototypisches Seminar, in dem sich die Lust am Lesen und an seiner Analyse und Ref lexion nicht im Wege stehen sollen. Wie dieser Essay wird sich auch das Seminar auf unterschiedliche Typen von Materialien und Quellen stützen, die es systematisch zu prüfen und zu problematisieren gilt. Und auf Lesefrüchte, die ich auch vielen Mit- und Gegenlesenden28 verdanke und als bisher weniger referenzierte Bezugstexte empfehlen möchte. Ohne die vielen guten Diskussionen in der »Schreibszene Frankfurt« und am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen hätte dieser Essay nicht entstehen können.

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II. Lesen beobachten 

Es war bereits die Rede davon, wie schwer sich das Innenleben von Leserinnen und Lesern, die kognitive und psychische Dimension des Lesens beobachten und objektivieren lassen. Auch die Außenseite des Lesens stellt keinen unkompliziert greif baren Forschungsgegenstand dar. Wir finden hier materielle Texturen und Infrastrukturen, die sich zählen, beschreiben und bewerten lassen – wie z.B. die Gestaltung von Buchumschlägen oder die Anzahl verkaufter Exemplare, von öffentlichen Bibliotheken oder Verlagen einer bestimmten Größe. Darüber hinaus geht es um Lebenswelten, in denen uns Bücher, Texte und das Lesen in vielen Situationen und Praxisvariationen, in Semantisierungen und Diskursen begegnen. Eine jeweils eigene Sozialität entfaltet das Lesen in all seinen Ausprägungen: Wenn ich allein und versunken lese oder mir vorlesen lasse und über das Gehörte mit anderen spreche und korrespondiere; wenn ich mich an Lesestandards ausrichte und nach solchen bewertet und mit anderen verglichen werde. Andere sind auch vom solitären Lesen immer schon mitbetroffen: Wenn ich mich im Urlaub mit meinem Buch möglichst weit von der Familie entferne; wenn ich auf einem Literaturfestival allein bleibe oder mich im Seminarraum dem Austausch entziehe. In diesem Sinne leuchtet es auch nicht ein, die während der Corona-Pandemie noch intensiver diskutierte Unterscheidung von physischer Präsenz und virtueller Distanz nur einseitig mit Sozialität zu verbinden. Denn natürlich verfügen digital gestützte Interaktionsformen über ihre eigene Sozialdimension, auch wenn diese sich anders artikuliert und entwickelt als in analog gestalteten Kommunikationssituationen. Wie so häufig hilft es auch hier nicht

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Szenen des Lesens

weiter, sich zu früh auf asymmetrische Oppositionen und ihre mitgelieferten Bewertungen zu verlassen, indem allein die vermisste analoge Präsenzsituation als ›sozial‹ verklärt wird. Es kann daher, in und hoffentlich bald nach der Pandemie, nicht einfach darum gehen, zu einer scheinbar verlorengegangenen sozialen Qualität z.B. des Lernens, Lehrens und Lesens zurückzukehren. Sondern darum, die jeweilige Sozialität unterschiedlicher Lesepraktiken, Lesetechnologien und Lesekonventionen noch besser zu verstehen.29 Und Sozialität und Soziabilität zu unterscheiden – als die anthropologisch begründete Angewiesenheit des Menschen auf andere, und unsere Fähigkeit, uns sinnhaft und erfüllend mit anderen zu verbinden.

Selbstversuch mit Maigret Krise und Gewohnheit scheinen sich auf einen ersten Blick als singuläres Ereignis und wiederholtes Tun gegenüberzustehen. Aber die Ausrufung einer Krise – wie z.B. jener der Geisteswissenschaften, oder des Lesens, oder des Buches – kann auch zur Gewohnheit werden. Manche Krisen – wie jene des Klimas – sind zwar längst als lebensbedrohlich anerkannt, doch trotzdem gelingt es uns noch zu selten, schädliche Gewohnheiten zu ändern. Auch Lesen ist längst nicht immer ein intentional gesteuerter und singulärer Akt, sondern muss innerhalb von Sozialisations- und Bildungsprozessen so erlernt werden, dass man ohne zu viel Aufwand auf Erlerntes zurückgreifen kann. Was aber leisten Gewohnheiten eigentlich? Stabilisieren sie soziales Leben, und damit auch das Lesen, oder hemmen sie Reformfähigkeit, und damit auch Neugier und Erkenntnisfähigkeit? Wiegen sie uns in denkfauler Sicherheit oder schaffen sie die Entlastung, die Kontingenzbewusstsein erst hervorbringt? Wie wäre auch beim Lesen zwischen sinnvollen und sinnwidrigen, zwischen produktiven und destruktiven Routinen zu unterscheiden? Und lassen sich neue Gewohnheiten über Nacht entwickeln, oder brauchen sie Zeit, um sich einzunisten, in Körper und Gruppen, Alltage und Lebenswelten? Wie viel Zeit – wenn die Zeit, krisenbedingt, knapp bemessen ist?30

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weiter, sich zu früh auf asymmetrische Oppositionen und ihre mitgelieferten Bewertungen zu verlassen, indem allein die vermisste analoge Präsenzsituation als ›sozial‹ verklärt wird. Es kann daher, in und hoffentlich bald nach der Pandemie, nicht einfach darum gehen, zu einer scheinbar verlorengegangenen sozialen Qualität z.B. des Lernens, Lehrens und Lesens zurückzukehren. Sondern darum, die jeweilige Sozialität unterschiedlicher Lesepraktiken, Lesetechnologien und Lesekonventionen noch besser zu verstehen.29 Und Sozialität und Soziabilität zu unterscheiden – als die anthropologisch begründete Angewiesenheit des Menschen auf andere, und unsere Fähigkeit, uns sinnhaft und erfüllend mit anderen zu verbinden.

Selbstversuch mit Maigret Krise und Gewohnheit scheinen sich auf einen ersten Blick als singuläres Ereignis und wiederholtes Tun gegenüberzustehen. Aber die Ausrufung einer Krise – wie z.B. jener der Geisteswissenschaften, oder des Lesens, oder des Buches – kann auch zur Gewohnheit werden. Manche Krisen – wie jene des Klimas – sind zwar längst als lebensbedrohlich anerkannt, doch trotzdem gelingt es uns noch zu selten, schädliche Gewohnheiten zu ändern. Auch Lesen ist längst nicht immer ein intentional gesteuerter und singulärer Akt, sondern muss innerhalb von Sozialisations- und Bildungsprozessen so erlernt werden, dass man ohne zu viel Aufwand auf Erlerntes zurückgreifen kann. Was aber leisten Gewohnheiten eigentlich? Stabilisieren sie soziales Leben, und damit auch das Lesen, oder hemmen sie Reformfähigkeit, und damit auch Neugier und Erkenntnisfähigkeit? Wiegen sie uns in denkfauler Sicherheit oder schaffen sie die Entlastung, die Kontingenzbewusstsein erst hervorbringt? Wie wäre auch beim Lesen zwischen sinnvollen und sinnwidrigen, zwischen produktiven und destruktiven Routinen zu unterscheiden? Und lassen sich neue Gewohnheiten über Nacht entwickeln, oder brauchen sie Zeit, um sich einzunisten, in Körper und Gruppen, Alltage und Lebenswelten? Wie viel Zeit – wenn die Zeit, krisenbedingt, knapp bemessen ist?30

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Mit der Pandemie veränderte sich über Nacht vieles, was man gerade so machte – nicht nur Arbeiten, Wirtschaften, Regieren, Forschen und Lehren, sondern auch Feiern, Spielen und Ausruhen, Rausgehen und Drinbleiben. Großes und Kleines, über das wir nicht nachdenken, weil es zu funktionieren scheint: Parteitage und Pressekonferenzen, der Radiosender am Morgen, Lektüre oder anderes zum Einschlafen. Auch beim Lesen interessieren sich viele von uns nicht nur für Herausforderungen durch Neues, sondern für die Wiederkehr des Bekannten – wir kennen die Spielregeln des Genres und genießen allenfalls die minimale Variation, oder auch nur das vorhersehbar Eintretende, selbst wenn solches Lesen gern als zu anspruchslos abgewertet wird. In ihrem Buch über das Wiederlesen hat Patricia Meyer Spacks diese unterschiedlichen Lesemotive weiter entfaltet: »Rereading: a treat, a form of escape, a device for getting to sleep or for distracting oneself, a way to evoke memories (not only of the text but of one’s life and of past selves), a reminder of half-forgotten truths, an inlet to new insight. It rouses or soothes, provokes or reassures. And […] it can provide security.« 31 Man könnte aus diesen Beobachtungen ableiten, dass angesichts einer krisenbedingt erzwungenen Suspendierung vieler eingespielter Routinen bewährte Lektüren und Lektüregewohnheiten Erfahrungen von Sicherheit, Selbstkontrolle und Trost vermitteln, die bereits im späten 18. Jahrhunderts als wünschenswerte Lektüreeffekte diskutiert wurden.32 Man könnte aber auch neue Gewohnheiten erfinden. Ich habe im März 2020, mit beginnender Einschränkung unserer öffentlichen und privaten Lebensvollzüge, intuitiv und plötzlich beschlossen, Georges Simenons 75 Maigret-Romane zu lesen.33 Ich interessiere mich zwar schon lange für Kriminalliteratur und bin daher eine Gewohnheitsleserin dieses Genres, hatte diesen Brocken aber bisher ausgespart. Die Entscheidung für Simenon fiel nicht als Einlösung eines lang gehegten Bildungsvorhabens: Endlich den gesamten Thackeray, alles von Stifter oder noch mal Proust und die Josephs-Romane; also jene Lektüreprojekte im zwangsentschleunigten Modus, von denen Buchhändlerinnen

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mit einer bildungsbürgerlich geprägten Stammkundschaft in den ersten Monaten der Pandemie berichteten. In dieses Schema passt der belgisch/französische Krimiklassiker nicht. Simenon wurde zwar nicht nur von André Gide und Federico Fellini als literarischer Gigant empfohlen, schrieb aber doch in vieler Hinsicht schnell zu konsumierende Unterhaltungsliteratur, die ihre Leserinnen nicht zwingt, sich mit dem ästhetischen Eigensinn von Sprache zu befassen. Die Maigret-Reihe (publiziert zwischen 1931 und 1972) verschaffte mir in der Pandemie-Situation gerade keine professionell legitimierte Herausforderung, sondern eine unterhaltsam-beruhigende Verbindung von »Arbeit und Struktur«34. In einer Situation, in der sich Zeitgefühle und Zeitregime aufzulösen begannen, lieferte das Maigret-Projekt eine neue kleine Ordnung. Da ich über mehr Lesezeit als viele andere von der Pandemie Betroffene verfügte, konnte ich versuchen, alle zwei bis drei Tage einen Roman zu beenden. Dieser Rhythmus korrespondierte mit der Anlage und Entstehung der Maigret-Krimis: Ihre Länge bemisst sich in allen 75 Fällen auf 175-195 Seiten (die 28 Maigret-Erzählungen sind kürzer), und Simenon, als Journalist und Verfasser von pulp fiction geschult, hat sie in nahezu industrieller Serienproduktion hergestellt – eine Woche pro Roman, und nicht mehr als drei Tage für die Überarbeitung.35 Um die gesuchte Gleichförmigkeit meiner Lektüre zu konterkarieren, hatte ich ein Element der Kontingenz in den Selbstversuch eingebaut: Ich habe die Maigret-Romane nicht in der Reihenfolge ihres Erscheinens gelesen, was am einfachsten durch den Erwerb einer Gesamtausgabe einzulösen gewesen wäre. Meine ›Maigrets‹ kamen als gebrauchte Exemplare per Post, zusammengesucht über Online-Anbieter. So ein ›Tauschhandel‹ findet derzeit auch vermehrt in Stadtteilschränken und Hauseingängen statt. Er ermöglicht Einblicke in unterschiedliche Lesegewohnheiten: Ich entledige mich der philologischen Routine, ein ›Werk‹ chronologisch und komplett zu erschließen, lerne etwas über meinen Sammeltrieb und finde Spuren einer Gebrauchsgeschichte von Simenon-Leserinnen, die bei meinen Zufallskäufen in Form von Geruch und Vergilbungsgrad, Anmerkungen und Auf klebern, Umschlaggestaltungen und Übersetzungen erkennbar werden. Offen blieb, wie lange

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ich brauchen würde, um alle 75 Romane beschafft und gelesen zu haben – und ob mein Selbstversuch überhaupt abgeschlossen werden wird. Nach einigen Monaten zeichnete sich ab, dass sich der anfänglich dicht getaktete Rhythmus meiner Simenon-Lektüre wieder geändert hatte: Anderes, und andere Bücher, hatten sich dazwischengeschoben. Und mein Mann war dazu gekommen, der dank seines Spürsinns den neuen Lesestoff anfänglich nur beschafft hatte. So war aus der zunächst einsam genossenen neuen Gewohnheit ein zweisamer Austausch, eine Doppelperspektive auf einen bisher nicht gelesenen Krimiklassiker geworden. Und im weiteren Verlauf der Pandemie hatte sich ein neues Vergnügen an den Romanen John Le Carrés dazugesellt. Mein unsystematisches Sammeln ließ mich auch die literarische Figur Jules Maigret auf besondere Weise kennen lernen – in einer erratischen Rekonstruktion der Entwicklung dieses ikonischen Kommissars, die z.B. die Frage aufwarf, ob ich mir Notizen machen sollte, um einen Überblick zu behalten und mögliche werkinterne Entwicklungslinien systematischer zu verfolgen. Aber vielleicht kam es darauf gar nicht an. Sondern eher auf ein regelmäßiges Wiedersehen unter minimal veränderten Bedingungen, um eine kleinteilige Synchronisation von Romanwelt und Leserinnenwelt, die wiederum Einsichten in die alltägliche Integration von Lektüreprozessen ermöglichen könnte. Auch hier spielt die allmähliche Anreicherung des Bekannten in Form einer neuen Routine eine wichtige Rolle. Weil ich mich in der pandemischen Ausnahmesituation leichter von professionellen Prägungen zu befreien können glaubte, überließ ich mich einem luxurierenden Verharren bei Details, das nicht unbedingt exegetisch nobilitierbar war; freute mich an rituell platzierten Alltagselementen wie den Bieren und belegten Broten aus der Brasserie Dauphine, dem anachronistischen Ofen in Maigrets Büro, den Beschreibungen seiner häufig eingenommenen Mahlzeiten,36 an Ticks und Marotten, den regelmäßigen Besuchen beim Ehepaar Pardon, den weit geöffneten Fenstern in der von Madame Maigret penibel gepf legten Wohnung am Boulevard Richard-Lenoir. Mit dieser repetitiv verstetigten Ausstattung erschafft Simenon eine durch Lesen »bewohnbare« Welt,37 die mich

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vor dem Hintergrund des Dauerrauschens der Corona-Kommunikation nicht langweilte. Unterhaltung, Entspannung und Ablenkung verschafften mir somit, untypisch für das Genre, weniger die Kriminalfälle und ihre Lösung, sondern Simenons Schauplätze und Atmosphären, Maigrets über Jahrzehnte angereicherter Kosmos, der Paris mit gelegentlichen Ausf lügen in die Provinz oder das europäische Ausland verbindet. Aus heutiger Perspektive stellt sich diese literarische Welt in vielen Zügen als kleinbürgerlich und reaktionär dar – vor allem den Frauenfiguren wird oft schon mit den ersten Worten der Beschreibung ihrer Kleidung und ihrer Küche auf den Leib geschrieben, wie sie moralisch einzuordnen sind. Je mehr ›Maigrets‹ man liest, desto mehr denkt man darüber nach, wie sich die historisch und politisch spezifischen Aspekte dieses Romankosmos zur Behauptung seiner Klassizität verhalten. Vielleicht liegt ein Kern der Sympathie, die dem wortkargen Pariser Kommissar immer noch entgegengebracht wird, in einer rebellischen Seite seiner Biederkeit: Er schätzt zwar das traditionelle Korsett ehelicher Arbeitsteilung über alles und ist nicht frei von Vorurteilen, wird aber zugleich von einem kämpferischen Mitgefühl für die sogenannten kleinen Leute angetrieben; für all diejenigen, deren existentielle Not sich nicht durch ererbten Wohlstand und beste Beziehungen lindern lässt. Maigrets Anteilnahme an diesen Milieus erschließt sich besonders in der Beschreibung wiederkehrender Schauplätze wie den kleinen Bars an den Kanälen, den Wohnküchen in engen Handwerkervierteln. Und der Mahlzeiten, die die »Arbeit und Struktur« der Maigret-Romane maßgeblich mitbestimmen. Vermutlich lässt sich die Lektüre dieser Bücher auch aufgrund ihrer kontinuierlichen kulinarischen Rhythmisierung gut als Leseszene synchronisieren, die ebenfalls auf die Wiederkehr von Gleichem setzt: Einen Kaffee im Bett, immer noch ein Kapitel vor dem Einschlafen. Die kurzen Maigret-Romane bieten sich auch in kleinsten Portionen an, anders als z.B. John Le Carrés labyrinthische Plots und mit subtilen Zwischentönen und Andeutungen gespickte Dialoge. Über die Kunst des kriminalistischen Spurenlesens und Spurenlegens kann man sich in Kriminal- und Agentenromanen unterhaltsam informieren. Auch die Leseforschung ist auf ein

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quasi detektivisches Interesse an Spuren angewiesen, die Lektüren in und an Büchern hinterlassen haben. In dem von Heinz Bude, Bettina Munk und Karin Wieland gemeinsam verfassten Roman Aufprall (2020) wird die Berliner Hausbesetzer-Szene der achtziger Jahre unter anderem in Form von Lesebiographien erzählt. So erinnert sich die männliche Hauptfigur z.B. an symbolisch besetzte Produkte aus dem Merve Verlag: »Ich besitze das Buch von Lyotard immer noch, und wenn ich jetzt darin lese, fällt es völlig auseinander. Es ist als Nr. 69 der ›Internationalen Marxistischen Diskussion‹ bei Merve 1977 erschienen, und ich habe den Fehler gemacht, nicht gleich zwei Exemplare dieser schlecht geleimten und arm gemachten Bände mit der Raute zu kaufen. Denn das wäre das Klügste gewesen, wie mir sehr viel später Peter Gente, der zusammen mit Heidi Paris hinter dem Merve Verlag stand, verriet: eins zum Aufbewahren im Regal mit den anderen Büchern, die einen begleitet haben, und eins, das man bei sich trägt, in dem man unterwegs liest, aus dem man Seiten rausreißt, das man jemandem dalässt und das man anderweitig in den Collagen des Alltags weiterverwenden kann. Das Buch sei ein Lebensmittel, um einer Spur zu folgen, um eine Spur zu hinterlassen. Heute bin ich verwundert, mit welcher Akribie ich das Buch mit Unterstreichungen, Ausrufezeichen und Kommentaren in klitzekleiner Bleistifthandschrift bearbeitet habe.«38 Wie Patricia Meyer Spacks in ihrem Buch über das Wiederlesen machen sich auch diese Romanfigur und die Simenon-Novizin in der Pandemie zum lesenden Versuchstier in einem Selbstexperiment, das natürlich schnell an Grenzen stößt. Um in solchen Autoethnographien über Impressionistisches hinaus zu kommen, braucht es wiederum mehr Arbeit und Struktur: Z.B. systematisierte Lesetagebücher, und ausreichend Zeit, um auch Prozesse und Veränderungen protokollieren und auswerten zu können. Die Vertreterinnen der Buchwissenschaften, Buchgeschichte oder book studies kennen sich aus mit methodologischen Problemen, die sich in der historisierenden Rekonstruktion noch multiplizieren:

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»One challenge of book history, therefore, is to glean from the clues stashed in library stacks some hint about the imaginative lives of people who never left a written – let alone printed – spoor. When scholars get lucky, we manage to unearth a diary or a letter in which someone names the book that touched or enraged her. But most of the time, we have to make do with a patchwork of contradictory dead ends. And even copious marginal notes don’t always reflect rapt reading. Until the advent of untaxed wood-pulp paper in the second half of the nineteenth century, printed books were valued in large part for the blank writing surfaces they offered. With no scrap paper lying around, books formed the most convenient place to scribble a shopping list or to practice one’s signature (particularly common in books owned by children). Printed books could also become repositories for handwritten information about their owners. Family Bibles were the obvious place to record births and deaths, but at the beginning of the nineteenth century American physician Benjamin Waterhouse used his, more daringly, to record the dates of children’s and servants’ smallpox vaccinations. Lacking words, scholars like me make do with negative evidence. Do ink stains, drink stains, or even traces of candle wax and smoke betray which pages lay open the longest? Which books have been handled to pieces, which gathered dust on a shelf?«39 Die Buch-Historikerin Leah Price empfiehlt in dem gerade zitierten Buch What We Talk About When We Talk About Books (2019), Bücher immer als semantische und materielle Strukturen zu betrachten, und zwischen den Modi des »looking through« und des »looking at« zu wechseln: Wenn wir mehr über historische Praktiken des Lesens erfahren wollen, reicht es nicht, die Inhalte von Texten und ihre Aussagen und Deutungsangebote zu studieren. Wir müssen uns mit der Widerständigkeit und Obszoleszenz der Schriftträger, mit der Geschichte und damit auch der Rekonstruierbarkeit von Textualität wie von Lesepraktiken befassen. Damit öffnet sich wiederum eine Zone des Indirekten und Abgeleiteten, die sich mit der Privatisierung und Intimisierung des Lesens noch weiter verdunkelt hat – wer allein las, konnte dabei weniger beobachtet und dazu aufgefordert werden, einen Kodex einzuhalten und Rechenschaft

II. Lesen beobachten 

abzulegen. Mit diesen methodologisch zu ref lektierenden Unzugänglichkeiten muss die Leseforschung leben.

Eine Uni – ein Buch Unter der Überschrift »Reading Together« notiert Patricia Meyer Spacks in ihrem bereits erwähnten Buch über das Wiederlesen: »No one ever reads alone. When we encounter a book for the first time, perhaps devouring it in solitude, we participate in silent exchange with the book’s author, whose efforts to shape our responses we encourage or resist or permit. Moreover, the obscure presences of those who have read the book before us – sometimes many generations of such readers – hover in the background. Perhaps we have heard of the book before we begin to read it. Perhaps we have been enticed by a current review, or by someone’s casual or enthusiastic reference, or by an allusion in something else we’ve read. In any of these instances, we must realize, even if we barely notice, that we read in the company of others.« 40 Folgt man diesen Überlegungen, umfasst die Sozialität unseres Lesens viele Unbekannte und Abwesende in unterschiedlichen historischen Kontexten: Lebende und Tote, Produzenten und Rezipienten, die gelesen, aber häufig keine Spuren hinterlassen haben. Ob man sich all diese Mitlesenden als Teilnehmerinnen einer imaginären Konversation oder gar als einen generationen- und epochenübergreifenden Buchclub vorstellen sollte, bleibt fraglich. Offenbar stützt es aber die Verteidigung buchgebundener Traditionen und Kulturtechniken, das Lesen nicht allein als private Versenkung, sondern auch als gemeinschaftlichen Prozess, als geteilte und teilbare Praxis zu modellieren. Daher mehren sich seit einigen Jahrzehnten Versuche, gemeinsames Lesen in verbindlicheren Konstellationen anzuregen. Lesezirkel bilden sich auch in Deutschland schon seit längerem als beliebte kleinteilige Formationen kontinuierlich geteilter Lektüre.41 Der vom Stifterverband der deutschen Wissenschaft und der Klaus Tschira Stiftung seit 2017 ausgerichte-

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abzulegen. Mit diesen methodologisch zu ref lektierenden Unzugänglichkeiten muss die Leseforschung leben.

Eine Uni – ein Buch Unter der Überschrift »Reading Together« notiert Patricia Meyer Spacks in ihrem bereits erwähnten Buch über das Wiederlesen: »No one ever reads alone. When we encounter a book for the first time, perhaps devouring it in solitude, we participate in silent exchange with the book’s author, whose efforts to shape our responses we encourage or resist or permit. Moreover, the obscure presences of those who have read the book before us – sometimes many generations of such readers – hover in the background. Perhaps we have heard of the book before we begin to read it. Perhaps we have been enticed by a current review, or by someone’s casual or enthusiastic reference, or by an allusion in something else we’ve read. In any of these instances, we must realize, even if we barely notice, that we read in the company of others.« 40 Folgt man diesen Überlegungen, umfasst die Sozialität unseres Lesens viele Unbekannte und Abwesende in unterschiedlichen historischen Kontexten: Lebende und Tote, Produzenten und Rezipienten, die gelesen, aber häufig keine Spuren hinterlassen haben. Ob man sich all diese Mitlesenden als Teilnehmerinnen einer imaginären Konversation oder gar als einen generationen- und epochenübergreifenden Buchclub vorstellen sollte, bleibt fraglich. Offenbar stützt es aber die Verteidigung buchgebundener Traditionen und Kulturtechniken, das Lesen nicht allein als private Versenkung, sondern auch als gemeinschaftlichen Prozess, als geteilte und teilbare Praxis zu modellieren. Daher mehren sich seit einigen Jahrzehnten Versuche, gemeinsames Lesen in verbindlicheren Konstellationen anzuregen. Lesezirkel bilden sich auch in Deutschland schon seit längerem als beliebte kleinteilige Formationen kontinuierlich geteilter Lektüre.41 Der vom Stifterverband der deutschen Wissenschaft und der Klaus Tschira Stiftung seit 2017 ausgerichte-

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te Wettbewerb »Eine Uni – ein Buch« geht noch einen Schritt weiter und bietet damit eine Gelegenheit, die soziale Dimension von kollektiven Lektürepraktiken weiter auszuleuchten.42 Auch hier wird eine Leseszene konstruiert, die sich allerdings in ihrer Offenheit, Pluralität und Heterogenität von der Situation der Simenon-Leserin in der Pandemie unterscheidet: Eine Hochschule soll sich für ein Semester um ein Buch versammeln, das möglichst viele ihrer Mitglieder zusammenführt. Ob lesend oder vorlesend, diskutierend, deklamierend oder interpretierend, bleibt den Teilnehmenden überlassen. Die Aufgabe des Wettbewerbs verlangt aber, sich darüber zu verständigen, wie die Beteiligten überhaupt als Leserinnen zusammenkommen, welche Formate ihnen dabei helfen können, und in welchen Prozessen ein kollektiver Lektüreprozess so organisiert und vollzogen werden kann, dass nicht nur viele das gleiche Buch lesen, sondern sich darüber auch tatsächlich austauschen. Räume und Orte, Zeiten und Abläufe des Lesens spielen also auch in der mit dem Wettbewerb aufgerufenen Vision eines gemeinsamen Lesens eine wichtige Rolle. Der Wettbewerb geht auf das amerikanische Vorbild »One City, One Book«43 zurück und prämiert pro Jahrgang zehn Vorschläge, mit denen Hochschulen eine Preissumme von jeweils 10.000 Euro für sich gewinnen können. Für die bisher ausgezeichneten 40 Bewerbungen wurden also bereits 400.000 Euro ausgeschüttet; beworben haben sich in den Jahren 2017 bis 2020 insgesamt ca. 70 Teams. Unter den von ihnen ausgewählten Büchern sind ca. 73 Prozent Sachbücher, ca. 26 Prozent stammen aus der Belletristik. Insgesamt wurden 14 Klassiker vorgeschlagen, was einem Anteil von ca. 19 Prozent entspricht. Unter den ausgezeichneten Bewerbungen verteilen sich die Gewichte der jeweiligen Buchgruppen etwas anders: Die Belletristik hat mit ca. 35 Prozent besser abgeschnitten und der Anteil kanonischer Texte unter den Gewinnern liegt auch höher als in der Gesamtsumme der Einreichungen. Zwei Sachbuch-Autoren wurden mehrfach vorgeschlagen: Hartmut Rosas Unverfügbarkeit einmal, und Resonanz dreimal (einmal unter den Prämierten); Stefan Brunnhubers Die of fene Gesellschaf t erhielt insgesamt zwei Nominierungen, die auch zu den Gewinnern gehörten. Blickt man auf die Hochschultypen, die sich am Wettbewerb

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beteiligt haben, so liegt der Anteil der Universitäten bei den Bewerbungen bei ca. 53 Prozent; bei den Ausgezeichneten schneiden die Hochschulen für angewandte Wissenschaften mit ca. 52 Prozent etwas besser ab als die Universitäten. Zwei Einrichtungen haben es bereits in zwei Ausschreibungen unter die besten zehn geschafft. Soweit die Zahlen, die es natürlich nicht erlauben, aussagekräftige Korrelationen oder gar Kausalitäten hinsichtlich des Leseverhaltens und der Einstellungen zum Lesen unter deutschen Hochschulangehörigen zu markieren. Weitere Einsichten kann man aber aus den Projektbeschreibungen und insbesondere aus den kurzen Bewerbungsvideos gewinnen, die für die Ausgezeichneten des jeweiligen Jahrgangs online abruf bar sind.44 Auch solche Bewerbungsfilme lassen einiges offen, was nur durch weiteres Nachforschen systematisch auszuwerten wäre: Welches Video wurde von einer Agentur geliefert, wo war die Kommunikationsabteilung zuständig, wo haben wir es mit Eigenproduktionen der Studierenden und Lehrenden zu tun, die dem Film vielleicht sogar ›ihren Stempel‹ aufdrücken sollten? Wie kam es überhaupt zur Bewerbung für »Eine Uni – ein Buch«, und wie gestaltete sich der Auswahlprozess? Längst nicht alle Filme geben darüber Auskunft, ob hochschulweit zu einer Abstimmung aufgerufen wurde, oder ob die Buchauswahl an ein Institut oder eine Person delegiert wurde, so dass wir es auch in dieser Leseszene mit Black Boxes zu tun haben. Gleichwohl lassen die Bewerbungsfilme einiges erkennen, weil sie in einer standardisierten Länge von drei Minuten verdichten, wie man den mit dem Wettbewerb ausgesprochenen Leseauftrag interpretieren kann. Wie unterschiedlich dieser umgesetzt wurde, zeigt sich an zwei Fällen, in denen das Thema Kreativität im Zentrum der Bewerbung stand: Eine Hochschule verpf lichtete sich darauf, nach der Kreativität im eigenen Arbeitsalltag zu suchen; eine andere wollte das gemeinsam zu lesende Buch zur Herstellung eines erst noch zu produzierenden neuen Buches führen. Hier ging es also nicht nur um lose gekoppelte Ko-Kreativität, sondern um zielgerichtete Ko-Kreation, und die angestrebte Interaktion umfasste Lesen und Schreiben. Um mehr über das Lesen als gegenwärtige soziale Praxis zu erfahren, lohnt es sich danach zu schauen, wie in den Bewerbungs-

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videos Bücher, und wie das Lesen selbst dargestellt werden. Nicht wenige Filme zeigen als bewegte Power-Point-Präsentationen Menschen, die das ausgewählte Buch in der Hand in die Kamera halten und dabei ihre Hochschule und geplante Veranstaltungen näher beschreiben. Unibibliotheken erscheinen häufig als Hintergrund, und in einigen ambitionierter gestalteten Videos wird auf die Bildidee des über die Schnitte in die nächste Einstellung geworfenen Buches zurückgegriffen, um die für den Wettbewerb leitende Idee geteilten Wissens zu vermitteln. In anderen Bewerbungsfilmen wird dem ausgewählten Buch ansatzweise ein Akteursstatus in einem Plot zugeschrieben: Als roter Reclam-Band reist z.B. Huxleys Schöne neue Welt durch eine schwarz-weiß fotografierte dystopische Hochschulwelt, und in einem angedeuteten Krimi müssen sich zwei Kommissare mit einer mysteriösen Buchsendung befassen. Die Autorinnen und Autoren der ausgewählten Titel kommen gelegentlich ins Spiel: Einige Male dominant, weil die Bewerbung auf das Kernformat einer Poetikdozentur ausgerichtet ist und verspricht, die Autorinnen und Autoren mit der Universität ins Gespräch zu bringen. Oder auch als Testimonial nur aus der Ferne: Hier wird als Schlusspointe die spezifizierte Widmung Martin Walkers in die Kamera gehalten, die dieser in ein Exemplar seines ausgewählten Buchs geschrieben hat. In einem weiteren Film wird Camus’ Die Pest (noch vor der Pandemie) in den Händen unterschiedlicher Lesender in gemütlichen Sesseln gezeigt und jeweils von kleinen Plüschratten als Leitmotiv begleitet. In vielen Filmen erscheinen weniger Bücher als digitalisierte Texte, und man ist bemüht, die jeweilige Bewerbung als innovationsfreudig und technikaffin zu gestalten. Dies zeigt sich auch auf der Ebene der versprochenen Formate: In zumeist additiver Weise werden sowohl traditionelle Lesungen und Vorlesungen angeboten, als auch Poetry-Slams, Blogs, shared readings, Discord-Server und Reddit-Foren. In zwei Filmen wird angekündigt, das ausgewählte Buch in einer digitalisierten Version zugänglich zu machen, so dass es nicht in gedruckter Form beschafft werden müsse. Die in den meisten Videos aufgefahrene Mischung von Lektüreformen und Lesetechnologien wird in den Bewerbungsfilmen so gut wie nie ref lektiert oder auf die Spezifik des jeweiligen Hochschulprofils be-

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zogen. Tatsächlich werden das Lesen selbst, oder auch der Status des gedruckten Buches, nur in zwei von insgesamt 40 Bewerbungsfilmen überhaupt thematisiert. An einem Ort wählte man eine australische Graphic Novel ohne Worte und machte sich Gedanken darüber, wie der Rezeptionsprozess mehrsprachig gestaltet werden könnte. An einem anderen Ort rücken zwei Personen das ausgewählte Buch in seiner Materialität in den Vordergrund. Dessen Verfasserin Judith Schalansky hat sich selbst mit dem historischen Eigensinn gedruckter Literatur beschäftigt und soll mit dieser Expertise einbezogen werden. Zudem wird ein Bezug zur Hochschule hergestellt, die diese Bewerbung eingereicht hat: Als anwendungsbezogene Einrichtung will man ein Interesse für das Gemachte und Gestaltbare, den Ding- und Werkcharakter von Büchern wecken. Vergleicht man die ausgezeichneten Videos, so dominieren inhaltsbezogene Inszenierungen der Buchauswahl und Lesepraxis: Die meisten Bücher wurden mit Blick auf Themen ausgesucht, die an gegenwärtige gesellschaftliche Debatten anschließbar sind. Besonders deutlich wird dies ein einem Video, in dem das ausgewählte Buch nicht weiter kommentiert wird, weil es vor allem einen Anlass liefert, um sich unterhaltsam mit dem Thema Künstliche Intelligenz zu beschäftigen. Der Auftrag, ein Buch auszuwählen, scheint somit in der Mehrzahl der Fälle so interpretiert worden zu sein, dass mit Hilfe eines Buches ein möglichst resonantes Thema bestimmt wurde. Diese Priorisierung korreliert mit der dominanten Fokussierung auf Sachbücher: Eine Mehrheit der Bewerbungen schlägt Gegenwartsdiagnosen vor, die sich besonders gut als buchförmige Anlässe zur Diskussion von aktuellen Herausforderungen eignen. Auch in Fällen, in denen auf Sachbuchklassiker wie Platons Der Staat oder Freiherr Knigges Über den Umgang mit Menschen zurückgegriffen wurde, legte man Wert darauf, dass die Klassizität des ausgewählten Textes seine Aktualisierbarkeit nicht ausschließt. Kein Bewerbungsteam kam auf die Idee, die Auswahl seines Buches mit seiner historischen Alterität zu begründen – dies hat sicherlich auch damit zu tun, dass eine verständliche Sprache für die meisten Bewerbungen ein zentrales Auswahlkriterium war. Einige wenige Vorschläge für literarische Klassiker wie z.B. Mary Shelleys Roman Frankenstein weichen vom aktualisierenden Selektionsmuster

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ab, und in diesem Fall bedient sich auch das Video einer bewusst anachronistischen Bildsprache und filmischen Inszenierung. Andere, ähnliche Entscheidungen, wie z.B. für E.M. Forsters Erzählung When the Machine Stops werden so gerahmt, dass sich über das Genre der Dystopie leicht Verbindungen zu aktuellen Diskussionen über Technikfolgenabschätzungen herstellen lassen. Die Bewerbung einer technischen Universität mit Aesops Fabeln spielt zwar überraschend ›händisch‹ und traditionell mit ausgeschnittenen Papierfiguren, fragt aber am Ende auch nach der Möglichkeit veganer Fabeln und berücksichtigt damit den aktuellen Zeitgeist. Ein Vergleich der Bewerbungsfilme lohnt sich noch in einer weiteren Hinsicht. Schon nach einer ersten Sichtung der Videos wird deutlich, dass die zentrale Herausforderung des Slogans »Eine Uni – ein Buch« von so gut wie allen ausgezeichneten Teams im ersten Teil lokalisiert wird: Expliziert oder gar problematisiert werden weniger das Buch als Objekt noch das Lesen als buchgestützte Kulturtechnik oder Bildungsvoraussetzung, sondern die Tatsache, dass sich eine große heterogene Gruppe um die Lektüre eines Textes versammeln soll. Diese Aufforderung zum gemeinsamen Lesen dient allen prämierten Gruppen als Gelegenheit, eine Bildsprache für das Ganze der jeweiligen Hochschule zu finden. Man erkennt hier schnell, dass in dieser Disziplin der institutionellen Selbstbeschreibung in den letzten Jahrzehnten hart trainiert wurde: Nicht wenige der Bewerbungsvideos greifen auf ihre strategischen Narrative, auf die generischen Aussichten und Formulierungen von Leitbildern und mission statements zurück, um ihre Einrichtung nun als eine lesende zu präsentieren. In mindestens einem Fall wird im Bewerbungsvideo explizit auf weitere Verfahren zurückgegriffen, in denen es gilt, die eigene Hochschule als Ganzes möglichst kompetitiv zu bewerben: Eine technische Universität trat mit dem Vorschlag an, mit Hilfe von Dürrenmatts Klassiker Die Physiker die für die Exzellenz-Wettbewerbe entwickelte »Vision« weiter zu entwickeln. Die meisten prämierten Hochschulen des Wettbewerbs des Stifterverbands und der Klaus Tschira Stiftung haben das ausgewählte Buch somit als Mittel für andere Zwecke definiert: Wie in vielen nicht literarisch, künstlerisch oder literaturwissenschaftlich

II. Lesen beobachten 

geprägten Leseumgebungen dient auch hier ein Text als Anlass, um sich – in doppeltem Sinn – zu unterhalten, um Themen zu bearbeiten oder an der Organisationsentwicklung zu feilen. Ein solches »strategic reading«, das mich später auch noch in anderen Zusammenhängen beschäftigen wird, hat es im Fall der Hochschulentwicklung mit spezifischen Herausforderungen zu tun. Hier gilt es, auch ein Buch und die kollektiv organisierte Lektüre dazu zu nutzen, um einen Haufen individualistisch gesinnter Einzeltäterinnen auf eine Vorstellung von zumindest teilbaren Werten und Zielen einzustimmen. Im Wettbewerb »Eine Uni – ein Buch« verdichten sich daher noch einmal im Kleinen jene Fragen, um die es auch in den Exzellenzwettbewerben geht: Wie werden Hochschulen als kollektive Akteure handlungs- und wettbewerbsfähiger; und hilft es ihnen dabei, sich Maßnahmen aus der Unternehmenswelt anzueignen? Liest eine Uni besonders dann bereitwillig gemeinsam ein Buch, wenn sie schon eine Corporate Identity ausgebildet hat? Ist das gemeinsame Lesen bereits zu einem Werkzeug der Organisationsentwicklung geworden? Die Videos der ausgezeichneten Hochschulen bieten zu diesen Fragen aufschlussreiches Anschauungsmaterial. Man hat den Eindruck, dass die Inszenierungs- und Gestaltungsenergie vor allem für die Frage mobilisiert wurde, wie die Individuen und das Kollektiv der Hochschule möglichst überzeugend als verbunden dargestellt werden können. Die zur Bewältigung dieser Aufgabe eingesetzten Stilmittel ähneln sich: Das Leitmotiv nicht nur der Organisationsentwicklung, sondern auch der gemeinsamen Lektüre scheint »unity in diversity« zu sein. Fast allen Filmen gelingt es auf zeitgemäße Weise, Akteure und Akteurinnen aus verschiedenen Bereichen und vor allem mit unterschiedlichen Positionen und kulturellen Hintergründen so zu versammeln, dass der Eindruck eines lebendigen und möglichst vielstimmigen Ganzen entsteht, in dem an einer gemeinsamen Sache gearbeitet wird. Gleichstellungsstandards haben sich offensichtlich in der Gestaltung solcher Wettbewerbsbeiträge insofern durchgesetzt, als viele Filme mit jungen Frauen einsetzen und sie auch kommentierend eine Rolle spielen lassen. Wo immer die Hochschulleitung ins Bild kommt, werden weibliche Führungskräfte mobilisiert. Studierende spielen in den

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meisten Fällen eine sichtbare und hörbare Rolle und strahlen Mitgestaltungsmacht aus – allein in der Bewerbung einer technischen Hochschule zu den bereits erwähnten Fabeln Aesops sprechen zwar zwei Frauen in Führungspositionen, während Studierende lediglich als Träger hübscher Tiermasken auftauchen und die Bewerbung nicht aktiv kommentieren. Insgesamt entsteht beim Blick auf die Darstellung des Ganzen im Brennglas eines einzigen Buches der Eindruck, dass es weniger um die Integration spezifischer Lesehaltungen und -erfahrungen geht als um die Demonstration gelingender Diversität mit Hilfe eines thematisch passförmigen Textes.45 Was sich in den vierzig Videos also zeigt, sind institutionelle Stile der Repräsentativität – hier wird vorgezeigt, wie man sich an der jeweiligen Hochschule vorstellt, aus Einzelnen ein Ganzes zu formen, in dem sich möglichst viele Mitglieder berücksichtigt, vertreten und anerkannt fühlen. Ob dieses Ganze im jeweiligen Fall bereits existiert oder noch entstehen muss, ist aus den Bewerbungsfilmen nicht eindeutig abzuleiten. Aufschlussreich sind aber die unterschiedlichen Umgänge mit Hierarchien und Status-Unterschieden: In den meisten Fällen wurde nicht darauf verzichtet, die auftretenden Personen zu identifizieren. Es ließe sich noch weiterverfolgen, wer in welcher Gewichtung die Möglichkeit bekommt, das ausgewählte Buch und die Bewerbung zu vertreten. Und es wäre zu klären, wie diese jeweils gewählten Strategien der institutionellen Selbstdarstellung mit Hilfe eines Buches zu deuten sind: Hat die technische Universität, die sich mit Asterix beschäftigen möchte, einfach nur ungeschickt oder vielmehr ehrlich-realistisch agiert, indem sie erst einmal sechs Männer aus technischen Disziplinen auf den Laufsteg ihres Videos schickte? Besonders deutlich unterscheidet sich von dieser Bewerbung der Film der Universität, die Knigges Vom Umgang mit den Menschen bestimmt hat. Sie wählte eine riskantere ironische Option: Die auftretenden Personen sind nicht namentlich und funktional identifiziert. Die wiederkehrende Figur eines mittelalten Mannes agiert dezidiert unbeholfen und verlegen und unterminiert den Habitus männlichen Expertentums, während mehrere Frauen sich durch Gewandtheit und Eloquenz auszeichnen. Diese Inszenierung der Universität liefert somit einen indirekten Kommentar zum Thema ihres ausgewählten Buches, in

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dem die Macht von Formen zur Bewältigung sozialer Interaktion im Mittelpunkt steht. Durch die Vorgaben des Wettbewerbs »Eine Uni – ein Buch« wird die kompetitiv hervorgerufene Leseszene ganz anders formatiert als im privaten Selbstversuch von Simenon-Leserinnen, Buchwissenschaftlerinnen oder auf ihre studentischen Annotationen zurückblickenden Intellektuellen. Im Material der Bewerbungsvideos formalisieren und objektivieren sich Praktiken und Einstellungen so, dass sich systematischer vergleichen lässt. Hier zeigt sich in mancher Hinsicht mehr als in historischen Dokumenten oder Leseumgebungen, die erst aufwändig rekontextualisiert werden müssen. Aber es zeigt sich längst nicht alles, denn wie tatsächlich gemeinsam gelesen wurde, wird in den Bewerbungsvideos allenfalls angekündigt. Auch mit Blick auf die hier gewählte Quelle der Bewerbungsfilme müssen für das Lesen relevante Konventionen, Normen und Diskurse rekonstruiert werden. Diese artikulieren sich in anderer Weise in Genres und Quellentypen, die im nächsten Kapitel aufgesucht werden: Unter der Überschrift »Lesen zeigen« wird es weniger um Spuren des Impliziten, Latenten und Verborgenen gehen, sondern um Modi der Ostentation, der Anleitung und Ausstellung, aus denen sich noch mehr über das Lesen als soziale Praxis unserer Gegenwart lernen lässt. In all diesen Fällen sozialer Lesepraktiken stoßen wir indessen an grundlegende methodische Probleme, die in diesem Essay nur angesprochen, aber nicht gelöst werden können. Sowohl einsames als auch gemeinsames Lesen entziehen sich in vielfacher Hinsicht einer systematischen empirischen Beobachtung und Erschließung. Umfragen werden erstellt; die jüngsten Erhebungen des Börsenvereins zum Lese- und Konsumverhalten wurden viel zitiert. Schon allein diese Erhebungen zeigen aber, dass die Datenbasis lückenhaft ist und große Survey-Studien fehlen. Eine spezielle Herausforderung stellt das Arkanwissen in der Praxis von Institutionen dar. Dieses wird häufig nicht preisgegeben und kann allenfalls in aufwändigen und langfristig angelegten Ethnographien ermittelt werden, wie z.B. Clayton Childress am Beispiel eines einzigen Romans in Under the Cover vorgeführt hat. Wie in Zukunft Leseforschung auf eine stabilere methodischere Grundlage gestellt werden kann,

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wird wesentlich davon abhängen, dass sich Forschende in unterschiedlichen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie z.B. den Buchwissenschaften, der Kultursoziologie und Kulturökonomie, und auch den Kognitionswissenschaften intensiver über Methoden- und Konzept-Transfer verständigen und effektivere Verbünde bilden.46

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Freiherr von Knigges Über den Umgang mit Menschen zählt zu den originellsten Vorschlägen im Wettbewerb »Eine Uni – ein Buch« und erwies sich bereits bei seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1788 als Publikumserfolg. Heute verbindet sich mit diesem Text häufig die Vorstellung eines Ratgebers, dem sich auf die Schnelle Rezepte für gesellschaftlichen Erfolg entnehmen lassen. Innerhalb der Geschichte der Auseinandersetzung mit Formen und Normen des Zusammenlebens stellt Über den Umgang mit Menschen aber nicht einfach einen Vorläufer aktueller Benimm- und Karrierefibeln dar. Knigge dachte vielmehr in auf klärerischer Manier darüber nach, welche »Umgangsregeln« es überhaupt erlauben, die Interaktionen in einer heterogenen Gesellschaft verträglich zu organisieren.47 Dass auch das Lesen eine Rolle in einem sozialpsychologisch ref lektierten System gesellschaftlichen Zusammenlebens spielen könnte, wurde ebenfalls schon im 18. Jahrhundert diskutiert, und kommt in Knigges Werk unter der Überschrift »Über Lektüre« zur Sprache: »Bei der Menge unnützer Schriften tut man übrigens wohl, ebenso vorsichtig im Umgange mit Büchern als mit Menschen zu sein. Um nicht zu viel Zeit mit Lesung unnützen Papiers zu verschwenden, das heißt: um nicht von Schwätzern mir die Zeit verderben zu lassen, suche ich auch von dieser Seite nicht neue Bekanntschaften zu machen, bis der allgemeine Ruf mich auf ein gutes oder besonders originelles Buch aufmerksam macht. Ich bin mit einem kleinen Zirkel alter guter Freunde zufrieden, die ich oft und immer mit neuem Vergnügen schriftlich mit mir reden lasse.« 48

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Hier begegnet uns aufs Neue die Tradition, die Lektüre als gesellige Konversation zu modellieren. Und Knigge geht noch weiter, indem er das Objekt des Buches als »Freund« anthropomorphisiert. Für die Strategie eines »choosing an author as you choose a friend« hat Deirdre Shauna Lynch weitere Belege bereits im 18. Jahrhundert gefunden, die von einer affektiven Auf ladung insbesondere des literarischen Lesens zeugen. Diese Tendenz umfasste die Fragen, was gelesen werden soll und wie die ausgewählte Lektüre zu praktizieren sei, und schon damals diskutierte man Leserhythmen und Lesegewohnheiten.49 Bereits vor 250 Jahren befassten sich also Moralisten und Ärzte mit zwischen Lebenshilfe und Lesehilfe angesiedelten Empfehlungen, die heutige Ratgeberliteratur antizipieren. Diese operiert in einem veränderten Mediensystem, changiert jedoch ebenfalls zwischen unterschiedlichen normativen Referenzsystemen und gibt Auskunft darüber, was für die anvisierten Käuferinnen als erfüllendes Lesen und Leben gelten soll. Innerhalb des Segments von Lesehilfe und Lesebegleitung gilt es, unterschiedliche ›Nistplätze‹ von Normativität im Auge zu behalten. In Mortimer J. Adlers und Charles Van Dorens How To Read a Book. The Classic Guide to Intelligent Reading, zuerst 1940 erschienen,50 werden z.B. Hinweise dazu gegeben, wie Lesegewohnheiten für unterschiedliche Gattungen ausgebildet werden sollten, und abschließend mit einer Leseliste und Testfragen verbunden. Anders als die in manchen Bestsellern mitgelieferten Fragen für Buchclubs sind Adlers und Van Dorens Übungs-Appendizes einem klassischen Kanon verpf lichtet, und seine Leseziele Idealen von Rationalität und Objektivierbarkeit. Während dieser ›Klassiker‹ der Leseunterweisung zwar ein größeres Publikum anspricht, aber erkennbar aus einem akademischen Kontext stammt, präsentieren sich aktuelle Leseratgeber eher als unterhaltsame Begleitung: Hier werden Kanones geöffnet und Schwellen gesenkt, denn Mortimers und Van Dorens Standards für »intelligente« Lektüren sind nicht mehr verallgemeinernd vermittelbar. Nichtsdestotrotz gibt es auch in aktueller Leseratgeberliteratur vielfältige normative Überschüsse. Diese werden aber weniger an die Qualität einzelner Texte und Lektürestrategien geknüpft, sondern an eine verallgemeinerte und überdeterminierte Vorstellung des Lesens an sich.

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Besser leben/lesen Das Konzept der »Bibliotherapie« wurde im frühen 19. Jahrhundert von dem amerikanischen Arzt Benjamin Rush auf den Weg gebracht und mit Versuchen verbunden, buchbegleitete Behandlungen für physisch und psychisch erkrankte Patienten zu begründen.51 Bis heute gibt es allerdings keine zertifizierte Form dieser Therapie, so dass sich unter als bibliotherapeutisch ausgewiesenen Hilfsangeboten unterschiedliche Phänomene beobachten lassen: Sowohl Ansätze der sogenannten medical humanities, in denen systematisch versucht wird, Literatur und Literaturwissenschaft in therapeutische Prozesse zu integrieren, als auch unterschiedlich professionalisierte Coaching- und Beratungsangebote sowie populäre Produkte im Ratgebersegment.52 In unterhaltsamer Form kombinieren auch Ella Berthoud und Susan Elderkin Lesehilfe und Lebenshilfe. Die frühere Programmredakteurin des Literaturfestivals lit.Cologne, Traudl Bünger, hat die 2013 erschienene Novel Cure. An A to Z of Literary Remedies in eine deutsche Fassung gebracht. Unter dem Titel Die Romantherapie. 253 Bücher für ein besseres Leben53 wird ein buntes Hilfspaket geschnürt: Das Buch präsentiert alphabetisch geordnet Bestenlisten mit jeweils zehn Romanen für unterschiedliche Zielgruppen in unterschiedlichen »Lebenslagen.« Diese umfassen unter dem Buchstaben S »Schmerzen«, »Schuldgefühle«, »Schnarchen« und »Schreibblockaden«, aber auch die »Schwangerschaft« und die »Schwiegermutter«. Insgesamt werden 28 »Leseleiden« aufgeführt: So z.B. zwanghafte Buchkäufe, übermäßige Ehrfurcht vor Büchern, Konzentrationsschwierigkeiten, nichtlesende Partner oder das Überspringen von Seiten. Berthoud und Elderkin vermischen ernsthafte Krankheitsbilder und harmlose Alltagsnöte, und behandeln das Lesen sowohl als Problem als auch als Lösung: Therapiert wird hier mit Hilfe von Romanlektüre, aber auch das ›kränkelnde‹ Lesen von Romanen selbst. Die Verfasserinnen der Romantherapie versuchen, Leserinnen nicht durch Präzisierungen auszuschließen. So wird immer wieder eine Balance hergestellt – zwischen der Angst, ein Buch zu beenden, und der Angst, eines zu beginnen; der Neigung, nach der Hälfte

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aufzugeben, aber auch dem Zwang, jedes Buch zu Ende lesen zu müssen; zwischen dem Hang, mehr zu leben als zu lesen, und dem Hang, mehr zu lesen als zu leben. Heraus kommt ein Leitfaden, dessen Maxime eine offenbar gesund wirkende Mitte anpeilt; eine Homöostase des nicht zu viel und nicht zu wenig, deren Vermeidung von Exzessen durch Ausgleich von Extremen sich innerhalb einer protestantischen Kultur des Maßhaltens zurückverfolgen ließe. Nicht jedes »Leseleiden« wird jedoch in der Romantherapie in zwei Varianten abgehandelt – so sind z.B. nichtlesende Partner als Problem markiert, nicht aber solche, die zu viel lesen. Der implizit vermittelte Normalitätsstandard dieses Leseratgebers liegt damit nicht immer in einer ausgleichend zentrierten Mitte mit möglichst großem Resonanzradius. Zwar erscheinen nichtlesende Partner und Partnerinnen gleichermaßen als Problem, und es folgen zehn Romane, um »Ihren Mann« und »Ihre Frau« »auf Romane heiß zu machen.« Innerhalb dieser symmetrischen Anordnung wird aber ein Unterschied markiert: »Aus unerfindlichen Gründen lesen Männer nicht so viel erzählende Literatur wie Frauen,« »aus ähnlich unerfindlichen Gründen lesen auch manche (H.d.V.) Frauen keine Romane.« Aus dieser Verteilung von Lese-Vorlieben leiten Berthoud und Elderkin den Rat ab, den männlichen Nichtleser mit einer List zu verführen: »Sagen Sie Ihm, es sei ein verkapptes Sachbuch.« Solche Formulierungen erinnern an den Ton von Kolumnen in Frauenzeitschriften, und so überrascht es auch nicht, dass es zwar einen Eintrag zum Stichwort »Papas Mädchen sein« gibt,54 aber keinen zu »Mamas Junge«. Während Berthouds und Elderkins Romantherapie augenzwinkernd ein weibliches Publikum adressiert, sprechen andere Leseratgeber ihre Zielgruppen ebenfalls in geschlechterspezifischer Manier an. Als Beispiele lassen sich Felicitas von Lovenbergs Gebrauchsanweisung fürs Lesen und Denis Schecks Schecks Kanon. Die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur von »Krieg und Frieden« bis »Tim und Struppi« gegenüberstellen – beide sind im von Lovenberg geleiteten Piper Verlag erschienen und knüpfen an die frühere Zusammenarbeit in einer Literatursendung an. Jeweils eigene Akzente werden schon mit dem jeweiligen Cover gesetzt: Auf Schecks

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Kanon lehnt sich der Autor, erkennbar als mit bunter Krawatte und Einstecktuch ausgestattete TV-Persona, auf seine gestapelte Belesenheit und lädt grinsend dazu ein, seiner Auswahl zu folgen. Lovenbergs Gebrauchsanweisung präsentiert eine liegende Leserin ohne Oberkörper, die Beine an eine meerblau gestreifte Tapete gelehnt, die Nägel an Händen und Füßen rot lackiert, im Schoß ein Buch mit leeren Seiten. Vergleicht man diese beiden Leseszenen, zeigt sich eine eindeutig traditionell codierte Geschlechterökonomie: Der als aktiv porträtierte Autor Scheck steht personalisiert für seinen Kanon ein; die Verfasserin von Lovenberg rahmt ihre Einladung zum Lesen mit einer ruhenden anonymisierten Frau ohne Kopf mit einem Buch ohne Schrift. Am Ende der Gebrauchsanweisung heißt es, anders als bei Scheck, dass Kanones nur einen begrenzten Sinn hätten: »Der Geist, in dem Leser und Buch zusammenkommen, muss ein freiwilliger sein, das hat das Lesen mit dem Lieben gemein.«55 Damit bestätigt sich der Eindruck, dass im Leseratgebersegment zwischen stereotyp weiblich und männlich codierten Haltungen unterschieden wird: Einerseits geht es eher um eine normative Aufrüstung des Lesens an sich, andererseits um die Auszeichnung von spezifischen Texten, um ihren Gehalt, Wert und Status. Während Scheck anspricht, dass im ›Kanonspiel‹ der Selektion von relevanten Texten gute Bekannte neuen Freunden, und damit auch verehrte Herren bewunderten Damen weichen müssen, begnügt von Lovenberg sich mit breit gestreuten Empfehlungen und thematisiert Geschlechterbeziehungen in einem Modus des Allgemein-Menschlichen, in dem Leben, Lieben und Lesen harmonisch verbunden scheinen. Wie in Berthouds und Elderkins Romantherapie besteht damit die Möglichkeit, Lektüren so als Medium von Beziehungsproblemen einzusetzen, dass sich Unterschiede zwischen Männern und Frauen sentenzhaft bestätigen: »Frauen lieben Männer, die lesen, aber Männer lieben in der Regel keine lesenden Frauen.«56 Der in Leseratgebern häufig eingesetzte Gleichklang von Lesen und Lieben hat weitere Implikationen. Einerseits neigt die Literaturwissenschaft immer noch dazu, die emotionale Dimension des Lesens im Namen einer objektivierenden Distanz auszuschließen – dabei wird nicht selten vieles, was akademischen Lesern als

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zu affektbesetzt erscheint, als ›weiblich‹ diffamiert. Durch diesen normativen Zugriff sind kontinuierlich Formen des gefühlsintensiven Lesens wie auch dessen Sujets und Gattungen abqualifiziert worden. Forscherinnen wie Rita Felski, Deirdre Shauna Lynch, Eve Sedgwick, Lauren Berlant oder vor Jahrzehnten bereits Janice Radway (mit ihrer Analyse weiblicher Lesepraktiken in Reading the Romance aus dem Jahr 1984) haben daher gefordert, unterschiedliche Lektüremotive und -gewohnheiten nicht zugunsten spezifischer Ideale und impliziter Standards auszuschließen.57 Ein Ertrag dieser Forschung zur Geschichte des Lesens und seiner mitlaufenden Regulationen ist die Einsicht, dass wir Bewertungen von Leseerfahrungen nicht vorschnell an zu grobe soziale Unterscheidungen knüpfen sollten – Frauen mögen nun mal Romane, Männer lieber Sachbücher. Selbst wenn es gute Belege für solche Thesen geben sollte, gilt es, differenzierter vorzugehen: Vielleicht bieten auch Formen der Sachbuchlektüre Möglichkeiten emotionaler Befriedigung? Vielleicht lassen sich auch aus Familienromanen ref lektierte Schlussfolgerungen ziehen? Und auf welcher Grundlage beurteilen wir überhaupt, wie unterschiedliche Textsorten rezipiert werden? Die in jüngerer Forschung geforderte Aufwertung von Affekten berührt mit Blick auf den in der Ratgeberliteratur so beliebten Gleichklang vom Lesen und Lieben noch ein weiteres Problem. Die Erotisierung von Lektüren und ihren Gegenständen lässt sich nämlich keineswegs nur in als populär charakterisierten bzw. abgewerteten Praktiken und Gattungen finden. Sie stellt in der Geschichte der Professionalisierung hermeneutischer und exegetischer Fertigkeiten auch eine Exklusionsstrategie dar, mit der Frauen oder auch Bildungsaufsteiger noch auf andere Weise ausgegrenzt werden konnten: So wie der Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch die männliche Beziehung zur universitären alma mater libidinös verklärt hat,58 so findet sich z.B. auch im mit großer Publikumsbegeisterung wiederentdeckten Roman Stoner von John Williams die Vorstellung, dass angemessene Formen der Lektüre sich vor allem in überschaubaren und über lange Zeit männlich geprägten Zirkeln praktizieren ließen, in denen die Ausgewählten sich durch spezifische Bildungsgänge dazu ermächtigten, ein Eros der Philologie zu kultivieren. Bezeichnenderweise hatte Williams’ Roman bei seiner

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Wiederentdeckung eine Fangemeinde, in der sich deutlich mehr männliche Leser zu Wort gemeldet haben – und ihrer Rührung in einer Weise Ausdruck verliehen haben, die aus akademischer Sicht gern den Leserinnen ›niederer‹ Genres zugeschrieben wird.59 Die Akzentuierung der im weitesten Sinne affektiven Seite des Lesens kann sich somit auf ganz unterschiedliche Artikulationen von Gefühlen beziehen; und es bleibt gerade für die Vermittlung von Lesefertigkeiten eine zentrale Aufgabe, die Liebe zum Lesen, die Lust am Text und den Eros der Philologie in ihren sozialen, institutionellen und professionellen Kontexten zu präzisieren. Dies betrifft maßgeblich das Verhältnis von Berufsleserinnen und Amateuren: Auch hier gilt es ja zu demonstrieren, wer dazu gehört und wer nicht; wem Anerkennung, Legitimität und Autorität als Leserin zugesprochen wird. Nun ist es vermutlich gerade nicht die Aufgabe bibliotherapeutischer Literatur, Differenzierung vorzuführen. Wie andere populäre Genres folgen Leseratgeber einem Protokoll, das von kommerziell motivierten Effizienzkriterien bestimmt ist: Man muss große Zielgruppen zufriedenstellen und schnell auf Trends reagieren können. Zu diesem Protokoll gehört es im Segment der Bibliotherapie, durch die programmatische Überhöhung des Lesens eine normative Fallhöhe zu erzeugen, aus der das Nichtlesen zum Ausweis eines sinnentleerten Lebens wird. Damit geht es nicht mehr nur um Unterhaltung, ästhetischen Genuss oder Bildung, sondern um Grundbedingungen eines guten und gelingenden Lebens. Das Lesen gerade von schöner Literatur scheint dann zu gewährleisten, was auch in anderen Ratgebern thematisiert wird: Es schult »Hartnäckigkeit, Neugier, Geduld, Ausdauer, Mut, Stolz, Mäßigung und Gerechtigkeit«60; bannt Todesangst, stärkt Empathie, schützt vor Narzissmus, fokussiert unsere Persönlichkeit, stabilisiert unser Ich, entschleunigt unser Leben, übt aufs Scheitern ein.61 Und es wird nach wie vor, so auch bei Scheck und von Lovenberg, mit Fantasien einer sozialhygienischen Volkserziehung durch Literaturgenuss verbunden: »Dass Menschen, die Bücher lesen eine halbe Stunde am Tag, jeden Tag, das ist im Grunde genommen wie Zähneputzen für den Geist.

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Und insofern, da wir in einer Zeit leben der Selbstoptimierer, wo viele Menschen viele Dinge tun, nicht, weil sie sie gern tun, sondern weil sie denken, dass sie ihnen gut tun, muss man vielleicht auch das heute mal sagen dürfen: Lesen tut unserem Geist einfach sehr, sehr gut.«62 »Nun in einer Gesellschaft mit schrumpfender Leserschaft zu leben, ist mir peinlich, ja offen gestanden reagiere ich auf diesen statistischen Befund mit Ekel und Widerwillen. Es geht mir damit nicht viel anders, als müsste ich zur Kenntnis nehmen, dass größere Teile meiner Mitmenschen von einem Tag auf den anderen beschlossen hätten, sich nicht mehr zu waschen.« 63 Nicht viel anders als in Traktaten des späten 18. und 19. Jahrhunderts wird hier jeweils von der Körperpf lege auf Charakterstärke und Sozialverträglichkeit geschlossen, und die richtige Art zu lesen soll als Indikator und Vehikel für beides taugen. Zum aktuellen Repertoire bibliotherapeutischen Ratgebens gehört es zudem, die überdeterminierten Projektionen positiver Lesewirkungen durch Verweise auf wissenschaftliche Studien zu untermauern – auch von Lovenberg und Scheck beziehen sich auf Maryanne Wolf und ihre Plädoyers für das sogenannte »deep reading«64. In der Gebrauchsanweisung werden weitere Quellen zitiert, die auch in anderen aktuellen Plädoyers für das buchgestützte Lesen auftauchen: Naomi Barons Studie über studentisches Lesen auf Papier und am Bildschirm,65 und populärwissenschaftliche Titel von Stanislas Dehaene und Damon Young. Gerade von Lovenberg folgt einer Verweis-Routine, die für den populären Sachbuchmarkt charakteristisch ist. Man suggeriert, dass die Empfehlungen der Ratgeberliteratur durch ein wissenschaftliches Fundament legitimiert sind, und ruft ›die Wissenschaft‹ als Kollektiv-Singular an, ohne ihre unterschiedlichen Fachgebiete, Geltungsansprüche und Vermittlungsformen zu spezifizieren. Scheck weicht an einem Punkt von dieser Strategie ab. Er bedient sich zwar der Autorität der Neuropsychologin, weidet aber deutlich weniger auf anderen Forschungsfeldern und markiert stattdessen einen Bereich der Geisteswissenschaften, der seinen

III. Lesen zeigen

Kanon gerade nicht legitimieren soll. Dazu zitiert er den Schweizer Philologen Peter von Matt: Die »literarisch unbelesenen Theoriemolche« »sind nicht mehr überall an der Macht, aber die Eier, die sie gelegt haben, stinken immer noch. Mindestens zwei Generationen junger Leser wurden von ihnen betrogen.«66 Scheck zieht also eine klare Grenze zwischen guter und schlechter Wissenschaft, die auch den Gleichklang von Lesen und Leben noch einmal bestärkt: Forschung im Sinne und Dienst der Literatur muss die Lebenswirklichkeit von Lesenden berücksichtigen. Ob »Theorie« in diesem Sinne allerdings immer schon als schädlich angesehen werden muss, bleibt zu hinterfragen – auch wenn vitalistische Klischees dies nahelegen. In von Lovenbergs Gebrauchsanweisung werden referenzierte Titel additiv, inklusiv und egalisierend herangezogen; eine Unterscheidung zwischen literarischen Klassikern und populären Sachbüchern, zwischen Elke Heidenreich und Virginia Woolf ist nicht gefragt. Alle, die das Lesen lieben, sind willkommene Zeugen. Die entscheidende Trennlinie verläuft zwischen Lesenden und NichtLesenden, mit Hilfe einer asymmetrischen Opposition, in der die Nicht-Lesenden eindeutig die Schurken darstellen: Denn auch die Wissenschaft sage ja, dass wir nur durch regelmäßiges Lesen glücklichere, gesündere, bessere und erfolgreichere Menschen werden. Schon mit Blick auf von Lovenbergs Gebrauchsanweisung und Schecks Kanon wird deutlich, dass das Genre der Leseratgeber für einen Bedarf produziert wird, der mit immer wieder neuen Produkten befriedigt werden kann. Wiederkehrende Referenzen auf wiederholt erwähnte Texte erzeugen dabei in einer szientistisch geprägten Gegenwart einen möglicherweise beruhigenden Effekt: Wenn immer wieder die gleichen »Studien« und jene Autoritäten angeführt werden, die gerade auf dem populären Sachbuchmarkt erfolgreich sind, ergibt sich ein geschlossenes Verweissystem, das ›die Wissenschaft‹ in einer Zeit homogenisiert, in der ihre konstitutive Pluralität nicht selten als Problem wahrgenommen wird.67 Auch Leseratgeber repräsentieren damit einerseits ein Prinzip einer kommerziell effektiven Variierbarkeit des Vertrauten: So schreiben Scheck und von Lovenberg den Topos des gesunden Lesens fort und versehen ihre Empfehlungen jeweils mit persön-

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lichen Akzenten. Durch ihre ähnliche normative Begründung der Notwendigkeit literarischen Lesens schließen sie andererseits den Horizont dessen, was es gerade über das Lesen zu wissen zu geben scheint: Sie verallgemeinern und vereinheitlichen, wo Forschung zergliedert, modifiziert, hinterfragt und revidiert. Neben der wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Kommunikation über das Lesen finden sich insbesondere im Netz zahlreiche Formate, in denen Lesepraktiken weniger analysiert und standardisiert als singularisiert werden. Am Beispiel dieser Schauplätze und Leseszenen kann gefragt werden, wie sich die Schecks und von Lovenbergs Ratgebern noch zugrundeliegende Vorstellung eines beratungsbedürftigen bürgerlichen Publikums gegenwärtig verändert.

Schöner lesen/leben Personalisierung kann sich in Lesediskursen unterschiedlich artikulieren. Ich kann das Buch wie einen Freund, und das solitäre Lesen wie ein geselliges Gespräch behandeln – in beiden Fällen werden Mensch-Ding-Interaktionen anthropomorphisiert und Prozesse der Informationsverarbeitung humanisiert. In vielen Leseratgebern sind zudem Strategien zu erkennen, die soziale Akteure und ihre Praktiken individualisieren: Hier werden verallgemeinernde Beschwörungen des Lesens mit Hilfe von Ich-Erzählungen authentisiert. Wie vielfältig Individualisierung und Universalisierung im Feld der Leseliteratur zusammenhängen, zeigt ein Band, der ein weiteres Genre ins Spiel bringt: Die opulent ausgestatteten cof fee table books, für die Steve McCurrys Bildband Lesen. Eine Leidenschaf t ohne Grenzen ein gutes Beispiel darstellt.68 Der Band verbindet Einzelne und Kollektive in einem noch größeren Maßstab: Wir können uns durch insgesamt 64 Porträts von Lesenden blättern, deren Leseszenen zusammengenommen ein Gesamtbild des Lesens als global verbreiteter Kulturpraxis anbieten. McCurrys Fotobuch ist 2016 erschienen und knüpft an André Kertész’ Bildband On Reading aus dem Jahr 1970 an. Der Sammlung fotografierter Leseszenen ist ein Vorwort des Reiseschriftstellers

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lichen Akzenten. Durch ihre ähnliche normative Begründung der Notwendigkeit literarischen Lesens schließen sie andererseits den Horizont dessen, was es gerade über das Lesen zu wissen zu geben scheint: Sie verallgemeinern und vereinheitlichen, wo Forschung zergliedert, modifiziert, hinterfragt und revidiert. Neben der wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Kommunikation über das Lesen finden sich insbesondere im Netz zahlreiche Formate, in denen Lesepraktiken weniger analysiert und standardisiert als singularisiert werden. Am Beispiel dieser Schauplätze und Leseszenen kann gefragt werden, wie sich die Schecks und von Lovenbergs Ratgebern noch zugrundeliegende Vorstellung eines beratungsbedürftigen bürgerlichen Publikums gegenwärtig verändert.

Schöner lesen/leben Personalisierung kann sich in Lesediskursen unterschiedlich artikulieren. Ich kann das Buch wie einen Freund, und das solitäre Lesen wie ein geselliges Gespräch behandeln – in beiden Fällen werden Mensch-Ding-Interaktionen anthropomorphisiert und Prozesse der Informationsverarbeitung humanisiert. In vielen Leseratgebern sind zudem Strategien zu erkennen, die soziale Akteure und ihre Praktiken individualisieren: Hier werden verallgemeinernde Beschwörungen des Lesens mit Hilfe von Ich-Erzählungen authentisiert. Wie vielfältig Individualisierung und Universalisierung im Feld der Leseliteratur zusammenhängen, zeigt ein Band, der ein weiteres Genre ins Spiel bringt: Die opulent ausgestatteten cof fee table books, für die Steve McCurrys Bildband Lesen. Eine Leidenschaf t ohne Grenzen ein gutes Beispiel darstellt.68 Der Band verbindet Einzelne und Kollektive in einem noch größeren Maßstab: Wir können uns durch insgesamt 64 Porträts von Lesenden blättern, deren Leseszenen zusammengenommen ein Gesamtbild des Lesens als global verbreiteter Kulturpraxis anbieten. McCurrys Fotobuch ist 2016 erschienen und knüpft an André Kertész’ Bildband On Reading aus dem Jahr 1970 an. Der Sammlung fotografierter Leseszenen ist ein Vorwort des Reiseschriftstellers

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Paul Theroux vorangestellt, in dem dieser seine persönliche Lesegeschichte in Begleitung von Büchern als »imaginären Freunden« erzählt.69 Im Anschluss arrangiert McCurry jeweils auf der rechten Seite das Bild einer lesenden Person auf weißem Grund, auf der linken Seite werden Ort und Nation angegeben. Das Tableau von Leseszenen ist damit topographisch angeordnet. Es folgt allerdings keiner nachvollziehbaren Reiseroute z.B. von West nach Ost, sondern wechselt zwischen Weltregionen und einem augenfällig diversifizierten Lesepersonal: Wir betrachten junge und alte Leserinnen aus verschiedenen Kulturen, in verschiedenen Lebenslagen, Stadt und Land, Wohlstand und Armut, Krieg und Frieden, deren Lesesituationen im Zeichen größtmöglicher regionaler und sozialer Vielfalt inszeniert wurden. Gleichwohl erzeugt McCurrys Anordnung Gemeinsamkeiten und Vergleichbarkeit. Die große Mehrzahl der Porträtierten liest allein und versunken, oder in zweisamer Intimität; selten werden kleine Gruppen z.B. in einer Schule oder einem Kloster gezeigt, und nur wenige der Fotografien widmen sich einer mündlichen Vorlesesituation. Die Stilisierung der Bildausschnitte, die Wahl der Lesehaltungen und Leseposen orientiert sich an der ikonographischen Tradition, in der seit langer Zeit Lesende in der bildenden Kunst gezeigt werden.70 Anders als Theroux’ Vorwort erzählen die einzelnen Bilder keine Geschichte – zumal man solche cof fee table books nicht in linearer Weise durchblättern muss. McCurrys Komposition erhebt jedoch einen programmatischen Anspruch, in dem sich das auch im Wettbewerb »Eine Uni – ein Buch« verhandelte Prinzip einer »unity in diversity« noch einmal anders skaliert: Hier geht es nicht nur darum, die lesenden Mitglieder einer Hochschule zu versammeln, sondern die Praxis des Lesens als Integrationsmodus für eine zerrissene Welt zu empfehlen. Dieses humanistisch-universalisierende Bildprogramm hat berühmte Vorbilder innerhalb der Tradition des Fotobuchs, wie z.B. Edward Steichens Family of Man. In McCurrys Variante fügen sich lesende Individuen und eine lesende Welt zu einer grenzüberschreitenden Verbindung von Teilen und Ganzem. Das Lesen wird in einer Weise gezeigt, die Instruktion und Illustration mindestens so wirkungsvoll kombiniert wie die Leseszenen geschriebener Leseratgeber: Das Fotobuch in-

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szeniert die Hoffnung, dass wir im Akt des Lesens unendlich unterschiedlich und doch vereint sind. Eindringlicher als viele Ratgeber erheben McCurrys Porträts das Lesen zu einem Instrument kosmopolitischer Empathie und globaler Verbundenheit. Aus einer ideologiekritischen Perspektive könnte man fragen, ob nicht-lesende Mitmenschen aus der in diesem Bildband behaupteten Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Betrachtet man McCurrys Buch mit einer optimistischeren Haltung, mag man ein Bild- und Bildungsprogramm erkennen, das radikaler ist als die Leseanleitungen auf dem westlichen Buchmarkt: Wir sehen hier zwar keine Nicht-Leserinnen, aber der repräsentative Anspruch des Fotobuchs schließt sie zumindest symbolisch deutlicher ein als die bisher angesprochenen ›Lesetherapien‹. Wo diese sich auf den Wert von Belletristik für eine westlich geprägte Lebenskunst als Beziehungsarbeit konzentrieren, vertiefen sich McCurrys Lesende in sehr unterschiedliche Arten von Texten. Und ihr Lesen könnte als Appell verstanden werden, überhaupt erst einmal allen Menschen dieser Welt Zugang zum Lesen und damit Bildungschancen zu ermöglichen. Diese werden, vermutlich mit Blick auf die pittoreske Vielfalt historischer Traditionen, von McCurry vor allem als analog und kaum als digital symbolisiert. Leseszenen werden in der bildenden Kunst und Fotografie ebenso gezielt gerahmt wie in Ratgeberliteratur. Sie können auf digitalen Kanälen so schnell zirkuliert, variiert und multimodal kombiniert werden, dass hier der gegenwärtige Wandel von Lesepraktiken und ihren sozialen Kontexten besonders deutlich zu erkennen ist. Versucht man, die unübersichtliche Bandbreite solcher Leseszenen im Blick zu behalten, scheint sich eine Tendenz abzuzeichnen, die Leah Price folgendermaßen zugespitzt hat: »The less we read texts, the more we look at books. And nowhere is that truer than on ›Bookstagram,‹ the corner of Instagram that spread-eagles books in the hands of a reader – always female, rarely clad in much more than a hand-crocheted scarf. Don’t be fooled by their oops-you-caught-me postures: these young women are often on the payroll of a publishing house. Since 2014, Bookstagram has outstripped more purely verbal social media as a promotional

III. Lesen zeigen

tool. Bookstagram celebrity Anabel Jimenez@inthebookcorner reported that her most popular posts were ›unboxing‹ videos. Each showed her unpacking the hauls that publishers send her, sometimes with comments on the looks of the covers involved: ›I’m seeing a trend of blue going on.‹ The savviest bookstagrammers light the scene with the help of Lisa Smith, a lifelong booklover whose vision began to fade after the onset of rheumatoid arthritis. Smith’s way to ›keep alive … my love for literature‹: a small business selling scented candles. Some of her wares book themed (choose between leather-tinged Lost in the Stacks of coffee-and-chai Bookstore), others text themed (amber-scented Heathcliff candle or floral Jane Eyre). Books sell. That is, they sell things other than books.« 71 Diese Beschreibung macht deutlich, wie die Buchwissenschaftlerin sich von den Akteurinnen im Netz abzugrenzen sucht. Gerade jene Formen des rahmenden Zeigens, in denen sich Illustration, Instruktion und Marketing vermischen, verdienen aber eine genauere Betrachtung, und vor allem im Netz werden Lesepraktiken im Wandel ausgestellt, die unterschiedliche Zielgruppen in aufschlussreicher Weise adressieren. Als Übergangskonstellation kann die Versandplattform »ZEIT-SHOP« betrachtet werden. Der Service der Wochenzeitung greift noch auf bildungsbürgerliche Routinen zurück: Die Kundinnen werden aufgefordert, sich eine »literarische Rarität für die eigene Bibliothek zu sichern«, denn »wenn wir die großen Werke unserer Literatur nicht mehr kennen, verlieren wir unser kulturelles Gedächtnis.«72 Um die Selektion zu legitimieren, erweiterte man die Auswahlinstanzen – die Edition »Bücher für das ganze Leben« wurde z.B. von einer Jury verantwortet, der Schülerinnen, Lehrerinnen, Schriftstellerinnen und Redakteurinnen angehörten. Zudem sollen »prägnante Porträts« den Leseeinstieg erleichtern, und man bot an, die Bücher der Reihe »an zwei Stellen mit einer persönlichen Widmung zu versehen und es so für den Beschenkten einzigartig zu machen.«73 Die Nachworte zur Edition »Weltliteratur« beginnen mit Sätzen wie den folgenden: »Ich wohne an der Elbe und sehe viele Schiffe hin und her fahren« (Robinson Crusoe); »Zu mir kam der große Gatsby erst spät.« Solche individualisierenden Gesten lassen sich auch

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in der gegenwärtigen Literaturkritik finden, in der eine Tendenz zur home story und zum Interview zu verzeichnen ist. Weitere Möglichkeiten, um traditionelle Formen von Kennerschaft durch differenzierenden Kulturkonsum zu ersetzen, ergeben sich mit dem Sortiment, das die literarischen Produkte des ZEIT-SHOP neben anderen Waren anordnet. Innerhalb dieser Produktpalette wird das Lesen einerseits durch eine klassische Werkästhetik in kanonischen Resonanzräumen beworben. Andererseits platziert man die literarischen Produkte in einem größeren Zusammenhang, in dem wiederum ›verfeinernd‹ differenziert wird: »Wir verstehen uns als Boutique, Feinkostladen und Ort für besondere Dinge. […] Hierzu arbeiten wir mit ausgewählten Manufakturen zusammen, mit denen uns die Liebe zum Detail und der Wille Besonderes zu schaffen verbindet. Wir wollen ausgewählte Bücher, exklusive Musik- und Weineditionen, limitierte Kunstwerke, Schreibkultur, handgefertigte Accessoires und Spiele für Groß und Klein zu einem großen Ganzen verbinden.« »Books sell things other than books«, hieß es bei Leah Price. Folgt man den konsumsoziologischen Arbeiten Igor Kopytoffs, so können in entwickelten Marktwirtschaften sowohl Menschen als auch Dinge einzigartige und austauschbare Positionen besetzen.74 Selbst wenn man mit Kopytoff annimmt, dass die Kultur eher für »discrimination« sorgt, der Markt dagegen für »commoditization«,75 lassen sich tradierte Oppositionen von Kunst vs. Konsum, Autonomie vs. Verwertung relativieren und dynamischere Beschreibungen des literarischen Warenverkehrs gewinnen. Auf vielen aktuellen Schauplätzen zeigen sich das Lesen und die Lesenden in einem Modus der Besonderung, der auch in Innenarchitektur, Design und Mode, Tourismus, Kulinarik und Wellness zu beobachten ist und von Lucien Karpik und Andreas Reckwitz in Form von »Ökonomien des Einzigartigen« bzw. Märkten singularisierender Kulturalisierung analysiert worden ist.76 Gerade in einer demokratisch und marktwirtschaftlich organisierten Kommunikation über Lesepraktiken kommt es nicht nur auf Anschließbarkeit, sondern ebenso auf

III. Lesen zeigen

Unterscheidung an, um Selbstkultivierung auch über das Lesen identitätsstiftend zu gestalten. Es lohnt sich daher, einzelne Leseprodukte ebenso anzuschauen wie Leseszenen, die sich als Waren- und Erlebniswelten darbieten. Die Ästhetik solcher Zusammenhänge bewährt sich als alltagstaugliches Wissen um den sinnstiftenden Gebrauch von Dingen wie z.B. auch Büchern. In diesen Assemblagen stellen das Einzelne und das Ensemble, das Spezielle und das Verbindende keine unversöhnlichen Gegenpole dar.77 Sie markieren vielmehr Subjektivierungsund Sozialisierungseffekte einer umfassend kulturalisierten Gesellschaft. Als Bestandteil von Warenwelten mit Weltbildpotential versprechen Bücher individualisierte Lebenshilfe und Lebenskunst, was sich beispielsweise in Bildbänden besichtigen lässt, die ihre Leserinnen in bibliophilen Interieurs schwelgen lassen. In vielen neueren Leseszenen zeigen sich veränderte Formen der Selbstkultivierung: Hier emanzipiert man sich von bürgerlichen Vorgaben der Gründlichkeit und des Geschmacks, der Werkorientierung und Bildung. Andreas Reckwitz hat darauf hingewiesen, dass Waren und Praktiken nicht nur »kulturelle Legitimation,« sondern auch »affektive Motivationsquellen« liefern,78 die Stimmungen und Atmosphären zu Erlebniswelten verdichten. Gerade im Netz artikulieren sich solche Welten als volatile Stil- und Geschmacksgemeinschaften. In diesen af fective communities geht es um subjektivierendes Lesen, aber auch um kollektive Identitätsstiftung; um die Singularisierung innerhalb von und mit Hilfe von Gruppen von Leserinnen. Die kollektive Verständigung über das Lesen hat ihre eigene Geschichte z.B. in Lektürezirkeln und Buchclubs. In der digitalen Kommunikation über das Lesen eröffnen sich weitere Möglichkeiten, um über große Distanzen hinweg ins Gespräch zu kommen: Blogs mit Namen wie »Die Liebe zu den Büchern«79 oder kollektive Initiativen wie »The Slow Burn«80 knüpfen an gesellige Traditionen an und bieten Gelegenheiten für teilbare Lektüreerfahrungen. Sie erweitern und verändern aber auch das Spektrum der Möglichkeiten, sich mit Hilfe des Themas Lesen über anderes auszutauschen und einer Öffentlichkeit zu präsentieren. Digitale Artikulationen aktueller Bibliophilie verlassen sich nicht mehr auf die große Bücherwand, die raffinierten Einbauregale, die opulenten Lesesessel

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und traditionellen Beistell-Möbel. Häufiger bekommen wir stattdessen Einblicke in eine Do-it-yourself-Kultur, die weniger voraussetzungsreich im Kleinen ansetzt und anders gerahmte Leseszenen ausstellt: In alltäglichen Mikroräumen und Mikroformaten, in denen sich zum Buch der Kaffeebecher und die Suppen-Bowl, die Wolldecke, das Haustier, viele Zimmerpf lanzen und andere Lifestyle-Objekte zur individualisierten Leseumgebung formieren, die nun eher einem Stillleben als einem Interieur entspricht. Aufgrund der beschleunigten Verbreitungsdynamik im Netz verfestigen sich diese Leseszenen nicht selten zu ikonischen Standardsituationen, die affirmativ reproduziert werden. So entstehen gerade innerhalb der so unüberschaubar wirkenden Netzkultur aus Singularisierungs-Gesten wiederum neue Typen und Habitus, Posen und Klischees. Ein anschauliches Beispiel für die gerade skizzierten Tendenzen liefert der 2016 erschienene Erfolgsroman A Little Life von Hanya Yanagihara.81 In dieser Leidensgeschichte eines als Kind schwer missbrauchten homosexuellen New Yorker Anwalts werden von Architekten, Designern und Künstlern sorgfältig kuratierte Lebenswelten beschrieben, in die sowohl die Figuren als auch die Leserinnen vor den Leid- und Gewalterfahrungen f lüchten können, die Yanagihara in einer gnadenlosen Spannungsdramaturgie verdichtet. Begleitet wurde dieser page turner von einer aufwändigen Marketingkampagne. Das Coverfoto des ekstatisch schmerzverzerrten Gesichts eines attraktiven jungen Mannes erschien auf Leinenbeuteln, Bechern, T-Shirts und anderen Objekten, die für Leserinnen schnell als ikonische Kurzformel geteilter Begeisterung fungierten. Die Verfasserin von A Little Life, im Hauptberuf Chefredakteurin des T Magazine der New York Times, demonstrierte ihre Lebensstilkompetenz zudem in home stories, in denen sie auch ihre eigene Wohnung und Bibliothek ausstellte.82 Diese zahlreichen Verbindungen von erzählten und dokumentierten Waren- und Wohnwelten wurden schließlich noch vom deutschen Verlag Yanagiharas in eine weitere Vermarktungsschleife verlängert: Hanser Berlin stellte 25 ausgewählten Buchhändlerinnen und Bloggerinnen Wochenendhäuschen im Brandenburgischen zur Verfügung, um diesen Testleserinnen ein gut ausgestattetes Mikro-Gehäuse zur

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fesselnden Vertiefung zu bieten. Das vom Verlag betreute Lesen zwischen Teak-Möbeln und f lauschigen Wolldecken wurde wiederum im Netz mit Berichten publiziert,83 in denen eine stilsicher arrangierte Kultivierungsumgebung eine ähnlich wichtige Rolle spielte wie bereits in A Little Life selbst. ›Nur vorgezeigt‹ wird unter Umständen bereits die bürgerliche Bücherwand im Heim des Managers, der lächelnd angibt, dass »bei uns meine Frau liest«. In den bibliophilen Lebenswelten der digitalisierten Lesekultur verändern sich indessen die Verwandtschaftsverhältnisse und Designregimes, die auch die Ausstellung von Büchern und Lesefreude betreffen. Dies zeigt sich nicht nur in Hashtags wie »#reating«, wo sorgfältig dekorierte Ensembles aus Büchern und Nahrungsmitteln eingestellt werden;84 oder in einem schon wieder fast vergessenen Trend wie den »backwards books« – der Idee, die häusliche Leseumgebung nicht mehr als farbig-lesbare Ordnung zu gestalten, sondern als monochrome Fläche umgedrehter Bücher. Ich deute die »backwards books« weniger als »Gnadenhof des Gutenberg-Zeitalters«85, sondern als Beispiel für die Verwandlung von bürgerlicher Lesekultur in quasi-bürgerliche Lebensstillandschaften, denn die farblich homogenisierten Regale lassen sich gut mit aktuellen Instruktionen zu »clean eating« und »clean living« verbinden. Mit solchen ›umgekehrten‹ Bibliotheken geht es zudem um eine Inversion, die auf puristisch-indirekte Weise Rechenschaft ablegt über das, was man als gelesen ausf laggen möchte. Diese Haltung lässt sich weniger mit »binge reading« und »Häppchen-Kultur« in Verbindung bringen, sondern eher mit dem gegenwärtigen Gebot einer Lebensgestaltung, in der auch das Lesen bzw. die Präsentation von Büchern an Idealen von Entschlackung, Entschleunigung und Achtsamkeit ausgerichtet wird. In anderen Kontexten verwandeln sich Lektüren und Literatur noch deutlicher in Accessoires – und auch dies ist natürlich schon seit Jahrhunderten zu beobachten, indem z.B. Persönlichkeiten mit Texten für Porträts posieren.86 Aktuelle Beispiele für diese Dimension des Sich Zeigens mit Büchern sind die Handtasche »Book Tote« von Christian Dior, die ebenso für eine Konjunktur von lesenden Celebrities steht wie die gegenwärtig angesagten Lesezirkel bekannter Models und Stars. So hieß es jüngst im Nouvel Observateur:

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»Le livre c’est chic.«87 Als literarisch motivierte Fashionista hat sich bei der Inaugurationsfeier des neuen amerikanischen Präsidenten im Januar 2021 auch die junge afroamerikanische Lyrikerin Amanda Gorman präsentiert, die ihr Gedicht »The Hill We Climb« zur Vereidigung Joe Bidens rezitierte. Gorman leuchtete mit einem sonnengelben Mantel von Prada und einem roten Haarreifen, und sie trug Schmuck, der in der überbordenden Kommentierung ihres Auftritts schnell als ein Geschenk Oprah Winfreys identifiziert wurde, der kommerziell erfolgreichen und politisch einf lussreichen Repräsentantin einer Leseberatung als Lebenshilfe.88 Mit Gormans Rezitation vor einem Millionen-Publikum kam es zu einer Aufführung von Literarizität, die den Akt des Lesens in verschiedener Hinsicht rekonfigurierte: Von ihrem Gedicht waren in den Wochen nach der Inauguration nur schnell angefertigte Transkripte verfügbar – und eine schriftliche ›Originalfassung‹ wurde vermutlich nur von traditionell gesinnten Kritikern gewünscht, die sich fragten, welches ›Werk‹ hier eigentlich vorliege. Für die meisten begeisterten Zuschauerinnen trat der lyrische Text in den Hintergrund, weil Gorman ihr Publikum durch Rhythmus und Gesten, Mimik und Ausstrahlung faszinierte. In dieser aktuellen Variante des Zeigens von Literatur und Belesenheit stand somit eine mündlich geprägte Performanz im Vordergrund, in der der Gehalt und die Form des geschriebenen Textes hinter der Anmutung und Ausstattung der Vortragenden zurücktraten. Und ein begeistertes Publikum ließ sich weniger vorlesen als vorsprechen, was Gebrauchslyrik als politische Rhetorik im aktuellen amerikanischen Kontext leisten kann. Amanda Gormans wirkmächtiger Vortrag lebte vom Einsatz von Accessoires wie auch von Stimmungs-Management. Und von der über Bildschirme geschickten Suggestion, dass in ihrem Gebrauch der zweiten Person Plural viele Auf bruchswillige so eingeschlossen wurden, dass sie sich persönlich angesprochen fühlten. Solche Formen der Ansprache zeichnen auch andere Genres aus, in denen das Lesen normativ und appellativ gezeigt wird – wie beispielsweise auf der Plattform Wattpad, einem Forum, auf dem sich Autorinnen und Leserinnen in einen möglichst direkt rückgekoppelten Austausch begeben können.89 Hier zeigt sich ebenfalls, wie

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sich in der digitalen Kommunikation über das Lesen nicht nur veränderte Routinen und Rollen, Protokolle und Standards herausbilden, sondern auch das Verhältnis zwischen schreibenden und lesenden Individuen und Kollektiven neu formiert: »Ihr seid auf der Suche nach neuem Lesestoff? Eure Leserschaft wächst partout nicht an und ihr verzweifelt daran? Ihr möchtet mit anderen über Wattpad-Bücher diskutieren und auf neue Schätze stoßen? Falls ihr euch mit diesen Fragen des Öfteren beschäftigt, seid ihr hier vollkommen richtig. In »P.C.‹s Leseratgeber« werde ich auf Anfrage persönliche Buchempfehlungen aussprechen, wodurch auch ihr die Chance erhaltet, dass eurem Werk eine Ausgabe gewidmet wird. Auf diese Weise erhaltet ihr nicht nur eine ehrliche Rückmeldung, sondern auch – wenn euer Geschriebenes mich überzeugen konnte – ein eigenes Kapitel in diesem Buch. Zusätzlich möchte dieser Leseratgeber sowohl stillen Lesern als auch Schreibern eine Plattform bieten, um sich über Projekte auszutauschen und einander wertvolle Ratschläge zur Verbesserung ihrer Bücher geben. Frohes Lesen!«90

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Als soziale Praxis muss das Lesen als individuelles und kollektives Phänomen betrachtet werden. Im Spannungsfeld von einsamen und gemeinsamen Lektüren ergeben sich weitere Fragen nach Sozialität und Soziabilität, aber auch nach den Arbeitsteilungen, die Leseprozesse strukturieren. Auch hier stehen Relationen zwischen Einzelnen und Vielen zur Diskussion: Wie kommen wir zusammen, um gemeinsam zu lesen – an einem physischen Ort oder auch in digitalen Räumen? Und worin liegen in solchen Leseszenen die Beiträge von Einzelnen, worin deren Motivation und Gratifikation? Wie bedienen wir uns des Lesens anderer, um selbst anders lesen zu können – oder auch nicht mehr lesen zu müssen? Als die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker angesichts des Ausfalls der »tollen Tage« in der Saison 2020/21 anregte, man könne »doch auch ein Buch über Karneval lesen«,91 erhob sich Protest. Und tatsächlich wirkte Rekers Einlassung wenig durchdacht. Denn hier prallten inkompatible soziale Praktiken aufeinander: Was die närrische Saison verheißt, unterscheidet sich zu kategorial von den Freuden, die das Lesen zu schenken vermag. Rekers Ratschlag lädt daher dazu ein, aus der Unvereinbarkeit von Karneval und Lektüre weitere Einsichten zu den sozialen Implikationen des Lesens zu gewinnen. Warum beliest man sich überhaupt zu Themen wie dem Karneval? Wie kann das Lesen, von Veranstaltungsmanagern gern versprochen, als Fest gefeiert werden? Wie inszenieren und verändern solche Events das Lesen? Wer lesen lässt, delegiert die Lektüre auf unterschiedliche Weisen. Intentional, gezielt und strategisch, wenn man auf zutragende Leserinnen zurückgreift, die sammeln und zusammenfassen, ein-

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ordnen und synthetisieren. Raffend-kompilierende Lektüreformen können über eine lange Zeit zurückverfolgt werden, denn schon vor Einführung des Buchdrucks haben Lesende Texte so komprimiert, dass andere davon profitieren; und Angebote wie »Reader’s Digest« oder das Kindler-Literaturlexikon haben ebenfalls für unterschiedliche Zielgruppen Lesestoff mit Hilfe von Kurzfassungen auf bereitet. Franco Morettis Rede vom »distant reading« umfasst weitere Aspekte delegierten Lesens, denn zur Zusammenstellung und Erschließung größerer Corpora können sowohl menschliche als auch maschinelle Ausleseprozesse beitragen.92 Delegiertes Lesen folgt häufig einer utilitaristischen Motivation – es gilt, mit Hilfe von Arbeitsteilung Wissensbestände zeitsparend zu erschließen. Verkürzende und verdichtende Strategien können aber auch zu ästhetischen Zwecken eingesetzt werden, indem z.B. durch Kondensierung produktive Irritation erzeugt wird. Solche ästhetischen Effekte entfalten sich in einem noch weiteren Sinn, wenn ich nicht nur auf die Ergebnisse von Informationsverarbeitungsprozessen zurückgreife, sondern mir von anderen vorlesen lasse – im Radio oder als Podcast, bei Lesungen oder auf Festivals. Auf vielen dieser Leseschauplätze verbinden sich Bedürfnisse nach Effizienz mit einem Vergnügen an Performanz. So auch in einer Praxis, die sich bis in die 1860er Jahre zurückverfolgen lässt. In kubanischen Zigarrenfabriken begleiteten sogenannte »lectores« die Beschäftigten mit Lektüre-Darbietungen. Die Arbeit des Zigarrenrollens eignet sich für dieses Beiprogramm, weil sie fast geräuschlos verläuft. Die Vorleserinnen wurden angeheuert, um die Arbeitenden mit Vorträgen aus Zeitungen und Sachbüchern, aber auch mit unterhaltender und klassischer Literatur zu begleiten. Häufig entwickelte sich das Vorlesen zu einer betrieblichen Weiterbildung. Diese war in Kuba einem politischen Kurs verpf lichtet, aber im Fall von literarischen Texten wie z.B. Romeo und Julia kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Arbeitenden, angeregt von Fiktionen und den rhetorischen Mitteln der »lectores«, ihre Fantasie in eigene Richtungen schweifen ließen.93 Die Vorleser in den Zigarren-Fabriken waren an ihren Lesepulten gut sicht- und hörbar und wurden entlohnt – wenn auch nicht so üppig wie die populären Schauspielerinnen und Schauspielern,

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die auf Literaturfestivals Texten ihre Stimmen leihen. Nicht nur in diesen Situationen lohnt es sich zu fragen, ob auf Vorder- oder Hinterbühnen gelesen wird, ob wir einer Lese-Inszenierung beiwohnen oder uns Lektüreergebnisse zuliefern lassen. Wo haben wir es mit schlecht bezahlten Lesesklaven zu tun, wo mit gefeierten Lesehelden; für wen ist das Lesen Arbeit, für wen Spiel? Auch zwischen diesen Praxisfeldern gibt es f ließende Übergänge, in denen sich Effizienz und Performanz verbinden – als Spektakel und Wettbewerb, Challenge und Game in konkurrierenden und konvergierenden Ökologien und Ökonomien des Lesens.

»Not all readers are leaders – but all leaders are readers« Im Netz vermehren sich die Hilfestellungen für effizientes Lesen – schon allein, weil einem immer größeren Angebot keine proportional wachsende Lesezeit gegenübersteht. So verspricht z.B. der digitale Service getAbstract, ein Sortiment von mittlerweile ca. 3.000 Werken in jeweils zehn Minuten Lesezeit zu vermitteln. Gegründet wurde die Plattform 1999 von drei Schweizern, die es als »Kernkompetenz« ihres Unternehmens beschreiben, »Wissen knapp und verständlich auf den Punkt zu bringen«94. Die so vermarktete Zulieferung von Kompaktwissen basiert auf standardisierten Kurzversionen: »Jedes Abstract enthält: 1 eine Bewertung, 2 eine Rezension, 3 wichtige Take-aways, 4 eine komplette Inhaltswiedergabe, 5 wichtige Zitate, 6 Informationen zum Autor und 7 einen Link zum Originalinhalt. Das gesamte Abstract kann in 10 Minuten gelesen werden.«95 Eine ebenso wichtige Rolle wie der Auf bau der Einzeleinträge spielt bei Diensten wie getAbstract das Gesamtpaket. Dieses umfasst Verknüpfungen von Themen und Autorinnen und Autoren, Bestsellerlisten, personalisierte Empfehlungen und die Möglichkeit, einzelne Titel sofort online zu bestellen. In der Selbstbeschreibung des Unternehmens wird die Erfolgsgeschichte im Bulletpoint-Format verdichtet, um auf Kooperationen mit Medienpartnern, Hochschulen und Wirtschaftseinrichtungen, die Expansions-Dynamik

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die auf Literaturfestivals Texten ihre Stimmen leihen. Nicht nur in diesen Situationen lohnt es sich zu fragen, ob auf Vorder- oder Hinterbühnen gelesen wird, ob wir einer Lese-Inszenierung beiwohnen oder uns Lektüreergebnisse zuliefern lassen. Wo haben wir es mit schlecht bezahlten Lesesklaven zu tun, wo mit gefeierten Lesehelden; für wen ist das Lesen Arbeit, für wen Spiel? Auch zwischen diesen Praxisfeldern gibt es f ließende Übergänge, in denen sich Effizienz und Performanz verbinden – als Spektakel und Wettbewerb, Challenge und Game in konkurrierenden und konvergierenden Ökologien und Ökonomien des Lesens.

»Not all readers are leaders – but all leaders are readers« Im Netz vermehren sich die Hilfestellungen für effizientes Lesen – schon allein, weil einem immer größeren Angebot keine proportional wachsende Lesezeit gegenübersteht. So verspricht z.B. der digitale Service getAbstract, ein Sortiment von mittlerweile ca. 3.000 Werken in jeweils zehn Minuten Lesezeit zu vermitteln. Gegründet wurde die Plattform 1999 von drei Schweizern, die es als »Kernkompetenz« ihres Unternehmens beschreiben, »Wissen knapp und verständlich auf den Punkt zu bringen«94. Die so vermarktete Zulieferung von Kompaktwissen basiert auf standardisierten Kurzversionen: »Jedes Abstract enthält: 1 eine Bewertung, 2 eine Rezension, 3 wichtige Take-aways, 4 eine komplette Inhaltswiedergabe, 5 wichtige Zitate, 6 Informationen zum Autor und 7 einen Link zum Originalinhalt. Das gesamte Abstract kann in 10 Minuten gelesen werden.«95 Eine ebenso wichtige Rolle wie der Auf bau der Einzeleinträge spielt bei Diensten wie getAbstract das Gesamtpaket. Dieses umfasst Verknüpfungen von Themen und Autorinnen und Autoren, Bestsellerlisten, personalisierte Empfehlungen und die Möglichkeit, einzelne Titel sofort online zu bestellen. In der Selbstbeschreibung des Unternehmens wird die Erfolgsgeschichte im Bulletpoint-Format verdichtet, um auf Kooperationen mit Medienpartnern, Hochschulen und Wirtschaftseinrichtungen, die Expansions-Dynamik

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sowie Auszeichnungen und den eigenen Buchpreis hinzuweisen.96 Dieser Stationenweg zählt eine Reihe von Meilensteinen auf, die in unterschiedlichem Maß expliziert und normativ hinterlegt werden. Auf der Ebene der »Mission« scheint es um universelle Werte zu gehen: »Wir finden, bewerten und sichten relevantes Wissen und helfen Menschen so, beruf lich und private bessere Entscheidungen zu treffen. Wir glauben an kritisches Denken, die Kraft des besseren Arguments und Fortschritt durch Wissen.« Liest man weiter, werden spezifischere Ziele erkennbar: getAbstract verpf lichtet sich, »der nächsten Generation von Führungskräften zu Erfolg zu verhelfen«, indem man kompaktes Wissen über »Führung, Finanzen, Innovation, Wissenschaft und Gesundheit« bereitstellt. Der Dienst berücksichtigt also nicht den gesamten Publikationsmarkt und zielt auch nicht auf Allgemeinbildung und breite Wissensvermittlung, sondern auf die Versorgung einer Wirtschaftselite. Bis zu 70 Prozent der insgesamt über 20.000 Inhaltsangaben stammen daher aus Segmenten wie »Führung«, »Unternehmensführung«, »Technologien«, »Innovation«, »Marketing«, »Verkauf«, »Personalwesen«, »Unternehmensfinanzen«, »Unternehmenskommunikation«, »IT in Unternehmen« oder »Frauen im Wirtschaftsleben«. Noch deutlicher zeigt sich die fokussierte Kundenansprache in einer EMail, die ich kurz nach Abschluss eines kostenlosen ProbeAbonnements erhielt: »Guten Tag Julika Griem, Resilienz, Integrität und Entschiedenheit – dies sind nur einige der Merkmale guter Führungskräfte. Wissen Sie, was die erfolgreichsten Leader der Welt noch gemeinsam haben? Sie sind alle leidenschaftliche Leser. »Not all readers are leaders, but all leaders are readers.«—Harry S. Truman. getAbstract hilft vielbeschäftigten Managern in Firmen wie MasterCard, Adobe, Microsoft und Daimler, von den Erkenntnissen der wichtigsten Bücher zu profitieren, ohne mehr als ein paar Minuten täglich zu investieren. Investieren Sie in Ihre Zukunft und beginnen Sie zu lesen wie ein Top-CEO.« Rolf Dobelli, einer der drei Gründer, hat das Unternehmen 2011 verlassen. Sein Werdegang illustriert, wie wichtig die crossmediale

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Vernetzung für digitale Lesedienste ist. getAbstract arbeitet mittlerweile mit mehr als 650 Verlagshäusern zusammen und beschäftigt Journalistinnen und Journalisten, die auch für andere Medien lesen und schreiben. Dobelli selbst moderierte eine Sendung für Bloomberg Television, hatte eine Büchersendung auf NZZ Online und bespielte die Kolumne »Klarer Denken« in der FAZ. Diese baute er zu Bestsellern mit Titeln wie Die Kunst des klaren Denkens und Die Kunst des klaren Handelns aus. Neben diesen Büchern hat Dobelli Romane über die Lebenskrisen von Managern verfasst.97 Die sogenannte schöne Literatur tauchte bei getAbstract zunächst in einem Segment mit dem Titel »Shakespeare & Co« auf; mittlerweile ist sie in der Rubrik »Klassiker« einsortiert, in der auch Klassiker der Philosophie, der Gesellschafts- und Naturwissenschaften, der Philosophie und der Erotik präsentiert werden. Die intensive Verlinkung innerhalb der anderen Rubriken, zu der ständig erneuerte persönliche Empfehlungen beitragen, ist im Klassiker-Segment weniger ausgeprägt. Die Einträge sind auch etwas anders aufgebaut: Nach der »Take-away-Liste« folgt ein Hauptteil, in dem Auf bau und Stil, Interpretationsansätze und der historische Hintergrund, Entstehung und Wirkungsgeschichte abgehandelt werden. Insgesamt gesehen setzt sich das literarische Angebot bei getAbstract aus kanonischen Titeln der Weltliteratur zusammen. Damit ergibt sich ein Unterschied zu den anderen Themengebieten: Wo im Fall der Klassiker konservativ ausgewählt wird und Lücken, auch durch Empfehlungen von Nutzern, mit Blick auf einen traditionellen Kanon geschlossen werden, ergänzen sich die anderen Gebiete schneller und weniger selektiv. getAbstract unterscheidet in der Anordnung seiner Produktpalette somit auch zwischen den Lesemotiven und Leseidealen unterschiedlicher Zielgruppen. Im wirtschaftsnahen Hauptangebot herrscht eine Semantik vor, wie sie im Lob des Nutzers Bob Eccles, Senior Fellow bei Price Waterhouse Cooper und Professor in Harvard, zum Ausdruck kommt: »Meine knappste Ressource ist Zeit. Mein größtes Kapital ist Wissen. Dank getAbstract kann ich mehr Wissen in weniger Zeit aufnehmen. Eine Investition, die sich lohnt!«98 Während hier kein Widerspruch zwischen den Buchthemen und der Leitlinie einer

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möglichst ökonomischen Lektüre auszumachen ist, huldigt die Auswahl im Klassiker-Sektor einem Wertekanon, der noch am möglicherweise Zeit kostenden Respekt für etablierte Autorinnen und Autoren und ihre Werke ausgerichtet ist. Die deutsche App Blinkist wurde als Gründung von vier Berliner Studenten 2012, also dreizehn Jahre nach der Einführung von getAbstract an den Markt gebracht. In der Grundanlage gleichen sich die beiden Services: »Blinkist ist eine App, die die großen Ideen der besten Sachbücher in einprägsame Kurztexte verpackt und erklärt. Die Inhalte unserer über 4.500 Titel starken Bibliothek reichen von Sachbuch-Klassikern, über populäre Ratgeber bis hin zu diskutierten Neuerscheinungen. Basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen wird jeder Titel von unseren speziell geschulten Autoren aufbereitet und dem Nutzer als Kurztext und Audiotitel zur Verfügung gestellt.«99 Angesichts von vergleichbaren Geschäftsmodellen und Produktpaletten muss getAbstract und Blinkist daran gelegen sein, ihre Zielgruppen zu differenzieren. Der ältere Dienst spricht eine bereits etablierte Führungselite mit teureren Abonnements an, während die neuere App im Stil einer jüngeren Gründer- und Kreativszene auf künftige Führungskräfte zielt. Auf der Webseite des jüngeren Unternehmens werden Signale von Soziabilität ausgesendet, die zugleich personalisieren und vergemeinschaften: Die Mitarbeitenden werden namentlich und mit Bild aufgeführt, und Kundinnen und Kunden als mögliche zukünftige Mitarbeiterinnen und Teil der Blinkist Community angesprochen. Trotz dieser unterschiedlichen Adressierungen bieten die beiden Lesedienste ihre kondensierenden Produkte in grundsätzlich ähnlicher Weise an. So spielt die Qualitätskontrolle der verkauften Lektüreleistung jeweils eine wichtige Rolle: »Scheint uns ein Buch, ein Video oder ein Paper auf den ersten Blick interessant, nehmen wir es genauer unter die Lupe. Nach strengster Prüfung erhält es ein Rating auf einer Skala von 1 bis 10. Die Kriterien sind Umsetzbarkeit, Innovationsgrad und Stil. Nur Ver-

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öffentlichungen mit einer Gesamtnote von mindestens 4 werden zusammengefasst.« 100 »Unser Team aus Redakteuren und Experten kuratiert, liest und verfasst jeden einzelnen Titel, den du bei Blinkist findest. Jeder Audiotitel wird ausschließlich von professionellen Sprechern aufgenommen. Keine Überraschung also, dass etwa 7 Mitarbeiter durchschnittlich an der Produktion eines Blinks beteiligt sind.« 101 Beide Lesedienste setzen die Verdichtung von Information in ein Verhältnis zu den expandierenden globalisierten Netzwerken ihrer Kundinnen und Kunden. Die Zielgruppen von getAbstract und Blinkist verfügen einerseits offenbar über immer weniger Zeit für die vertiefte oder gar versunkene Lektüre ganzer Texte und Werke, andererseits verbringen sie immer mehr Zeit mit der Kommunikation in verteilten und mobilen Konstellationen: »Zu unserer weltweiten Community gehören Millionen von Lesern sowie ein Drittel der Fortune-100-Unternehmen.«102 Mit Diversitäts-Motiven werden die Lesedienste sowohl visuell als auch verbal beworben, indem man die Vielsprachigkeit der Dienstleistung und die Multikulturalität der Belegschaften hervorhebt. Die ausgestellten Werte einer divers aufgestellten Serviceleistung werden allerdings von beiden Diensten auch erkennbar unterlaufen. Unter den 80 Preisträgern des getAbstract-Buchpreises finden sich bisher 16 Frauen, darunter viele Ko-Autorinnen. Einer der Gründer von Blinkist illustriert die Frage nach der Zusammensetzung seines Kundenstamms mit einer traditionellen Familienaufstellung: »Blinkist spricht die unterschiedlichsten Menschen an: Das kann ein CEO sein, der unsere Kurzversionen auf dem Weg ins Büro hört, der Student, der im Fitness-Studio nebenher etwas lernen will oder die Mutter, die beim Stillen die App nutzt. Was wir herausgefunden haben ist, dass vor allem Akademiker Blinkist mögen.« 103 Schon dieses Zitat illustriert, dass Blinkist und getAbstract trotz ihrer Diversitäts-Rhetorik auf eine sozial homogene Zielgruppe ausgerichtet sind, für die traditionelle Geschlechterrollen noch

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eine Rolle spielen – wäre dies nicht so, brauchte es keine Rubrik mit dem Titel »Frauen in der Wirtschaft«. Weitere HomogenisierungsEffekte lassen sich auch im Angebot der Zusammenfassungen erkennen, und zwar in inhaltlicher und formaler Hinsicht. Sowohl mit Blick auf Themen als auch auf Gattungen und Schreibweisen bewährt und vermehrt sich, was eine Test-Nutzerin auf der Webseite lesen.de wie folgt umschrieb: »Blinkist hat viele sinnvolle Anwendungsbereiche. So lässt sich auf dem Weg zur Arbeit problemlos ein Blink lesen oder in der ›Premium‹-Variante auch hören. Wer das zur Routine werden lässt, hat für zukünftige Partybesuche an Gesprächsstoff vorgesorgt. Außerdem fasst Blinkist endlos lange Ratgeber zusammen, die ohnehin meist auf ein paar wenige Kernaussagen heruntergebrochen werden können. Wer auf der Suche nach einem Hausarbeitsthema ist und sich der Durchblick durch ein Thema noch als schwierig gestaltet, kann sich in sehr viel kürzerer Zeit mehr Wissen draufschaffen. Wer ein Buch wirklich lesen  oder hören – möchte, ist bei Blinkist aber naturgemäß nicht richtig. Keine ausgefallenen Formulierungen, keine persönliche Note des Autors, darauf muss verzichtet werden. Deshalb hält sich das Start-up aus Berlin auch fern von Romanen, denn die reine Handlung macht einen Roman meist nicht lesenswert.« 104 Der Trend zur Priorisierung von komprimierungsaffiner Literatur im Zeichen möglichst effizienter Inhaltsvermittlung verstärkt sich durch algorithmisch basierte Serviceleistungen für die Nutzerinnen. Wie auf vielen digitalen Portalen erhält man auch bei getAbstract und Blinkist kontinuierlich personalisierte Empfehlungen auf der Basis dessen, was man bereits ausgewählt hat. »More of the same« also – und in diesem Fall immer weitere Beispiele für die populären Sachbücher und Ratgeber, für die sich die hier angesprochene Zielgruppe ohnehin interessieren. Diversität ist auf der Ebene der Stoffe und Gattungen gerade nicht gefragt; und ähnlich wie bei bibliotherapeutischen Ratgebern schließen sich Horizonte durch die Reproduktion von Anschließbarkeit. Damit erhöht sich auch die Soziabilität der durch die Apps angesprochenen Commu-

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nitys, die sich als globalisierte Elite auch in einem Lektüreverhalten wiedererkennen, das thematische und formale Vielfalt zu Gunsten von Aktualität und Verarbeitungsgeschwindigkeit hintanstellt. Und Sprache als ein Instrument ansieht, das sich einer effizienten Vermittlung möglichst nicht in den Weg stellen darf. Aus philologischer bzw. literaturwissenschaftlicher Perspektive erscheinen viele der impliziten Präferenzen und Standards von getAbstract und Blinkist zunächst befremdlich, denn in diesen Fächern wird ja gerade der Eigensinn von Sprache so ins Zentrum gestellt, dass sie nicht allein als möglichst transparentes Medium der Informationsübermittlung zu begreifen ist. Aufgrund der Rhetorik der Lesedienste drängt sich die Vermutung auf, dass diese Anleitungen zum binge reading nur Masse gegen Klasse ausspielen können. Auf der einen Seite stünden dann raffiniert und gelehrsam rekonstruierte Verfahren der Komplexitätsgestaltung, auf der anderen Seite die Verheißung von zügiger Weiterbildung durch Komplexitätsreduktion; hier philologische und theoretisch versierte Tiefenbohrungen, die langsame und intensive Lektüren voraussetzen, dort Mitreden durch speed reading, Fastfood-Lesen und Bildung-light. Es ist aber auch hier wieder zu einfach, sich auf vereinfachende Bewertungsmuster zurückzuziehen und das digital optimierte Übersichtslesen ebenso abzuwehren wie z.B. die Vorliebe für schnell zu konsumierende Belletristik-Genres. Denn auch die Fächer, die eine vertiefende Kultivierung historischer Sprachvielfalt betreiben (sollten), haben schon immer Techniken effizienzgesteuerten Lesens eingesetzt. Und nicht wenige von uns greifen, ohne es immer einzugestehen, unter Zeitdruck und z.B. auch in der Lehre auf zahlreiche Dienstleistungen einer komprimierenden Zulieferung zurück. Gerade mit Blick auf Studierende stellen Apps wie getAbstract und Blinkist nicht nur »Nachhilfe für Leserättchen« dar,105 sondern ein Werkzeug, das Orientierung liefert, um lesenswertes Material besser auswählen zu können. Diese Möglichkeit wird von den digitalen Lesediensten bewirtschaftet, indem sie nicht allein Abonnements für Studierende anbieten, sondern auch ihre Gründungserzählungen an studentische Bedürfnisse anknüpfen lassen. In ihren Selbstbeschreibungen betonen beide Unternehmen, dass die

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Gründer sich bereits seit Studienzeiten kennen und daher schon im Studium wertvolle Dienste leisten können. Die Test-Nutzerin auf lesen.de bestätigt diese imaginierte Leseszene: »Textzusammenfassungen waren in der Schule immer eine unangenehme Aufgabe und haben vor allem bei komplexen Themen Zeit gekostet. Blinkist wäre damals unser Retter in der Not gewesen. […] Um sich zu einem bestimmten Thema quer ein paar Titel durchzulesen, ist Blinkist gut geeignet. Für eine Hausarbeit oder Bachelorarbeit sind die Zusammenfassungen ideal und machen dem Leser ganz direkt und ohne Umwege klar, ob sich das Buch eignet oder ein Kauf sich erst gar nicht lohnt. Grundkenntnisse zu bestimmten Themen lassen sich mit Blinkist auch schnell aneignen und der Nutzer kann sich in nur ein paar Stunden durch zehn oder mehr Fachbücher klicken.« 106 Auch für die Zielgruppe der Studierenden legitimieren Angebote wie getAbstract und Blinkist ihre Lesedienstleistung als wissenschaftsgestützt. Ähnlich wie Verfasserinnen der bereits besprochenen Leseratgeber verweist einer der Gründer von Blinkist auf nicht weiter identifizierte Forschungsergebnisse, um eine Methode des »Microlearning« zu empfehlen: »Was viele nicht wissen: Das Konzept von Blinkist baut auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Hirnforschung und Psychologie, es ist also kein Zufall, wenn man aus unseren Kurzversionen viel behält. […] Das heißt – sehr vereinfacht –, dass wir unsere Texte so schreiben, dass das Gehirn die Informationen gut aufnehmen kann. Außerdem gibt es Studien, die zeigen, dass Microlearning die Konzentrationsphasen eines Menschen optimal ausnutzt. Das erhöht die Chancen, das Gelesene oder Gehörte zu behalten nochmal. […] Im Deutschen nennen manche diese Lernmethode auch HäppchenLernmethode. Das klingt zwar ein bisschen albern, meint aber, dass man Informationen in kleinen Dosen präsentiert bekommt.« 107 »Studien«, insbesondere aus der »Hirnforschung«, sollen untermauern, dass die Lesedienste wirkungsvolle Optimierung gewähr-

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leisten. Da auch die universitäre Bildung unter steigendem Zeit- und Effizienzdruck operiert, greifen Studierende zu pharmazeutischen Hilfsmitteln zur Konzentrationsförderung und interessieren sich für Ratgeber, die Techniken des zügigen Übersichtslesens vermitteln. Solche Lesehilfen und Lesetrainings sind insbesondere in Fächern beliebt, in denen es darauf ankommt, große Wissensbereiche für Klausuren aufzubereiten und Faktenwissen auf standardisierte Weisen abruf bar zu machen. Neben Massenfächern wie den Wirtschafts- und Ingenieurwissenschaften verlangen auch viele andere Disziplinen Studierenden die Kompetenz ab, auf Strategien und Produkte delegierten Lesens zurückzugreifen. Mein Schlusskapitel wird auf die Frage zurückkommen, wie diese Traditionen und aktuellen Tendenzen gerade in Lehrveranstaltungen nicht ignoriert bzw. abgewehrt, sondern integriert und ref lektiert werden können.

»Join Us as We Read the World« Das Unternehmen Reader’s Digest versorgt seit 1922 Leserinnen mit Kurzfassungen, Empfehlungen, Produkten, Gewinnspielen und einem Weltbild, das zunächst eindeutig konservativ, nationalistisch, christlich und anti-kommunistisch geprägt war. Mittlerweile hat sich das Angebot globalisiert und ausdifferenziert und auf regionale Nutzerinnen-Communities eingestellt. In ironischer Anspielung auf diesen Service nennt sich eine Kolumne der linken britischen Tageszeitung Guardian »the digested read«108, die als Text und Podcast angeboten wird. Hier haben die in ca. 15 Minuten zu hörenden pastiches von Romanen eine satirische Funktion, die auf Seiten der Rezipienten literarische Kennerschaft voraussetzt: John Craces Beiträge versprühen vor allem dann Funken, wenn man mit den Ursprungstexten und ihrer Rezeption vertraut ist. Sie erreichen damit eine eigene exklusive Zielgruppe und bieten dieser eine implizite Kritik jener komprimierenden Lektürehilfen, für die auch getAbstract und Blinkist stehen. Formulierungen wie »digested read« erinnern an jene kulinarische Semantik in der Geschichte des Lesens, die uns immer noch von Verschlingen und Genießen, von Bücherfressern und Häpp-

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leisten. Da auch die universitäre Bildung unter steigendem Zeit- und Effizienzdruck operiert, greifen Studierende zu pharmazeutischen Hilfsmitteln zur Konzentrationsförderung und interessieren sich für Ratgeber, die Techniken des zügigen Übersichtslesens vermitteln. Solche Lesehilfen und Lesetrainings sind insbesondere in Fächern beliebt, in denen es darauf ankommt, große Wissensbereiche für Klausuren aufzubereiten und Faktenwissen auf standardisierte Weisen abruf bar zu machen. Neben Massenfächern wie den Wirtschafts- und Ingenieurwissenschaften verlangen auch viele andere Disziplinen Studierenden die Kompetenz ab, auf Strategien und Produkte delegierten Lesens zurückzugreifen. Mein Schlusskapitel wird auf die Frage zurückkommen, wie diese Traditionen und aktuellen Tendenzen gerade in Lehrveranstaltungen nicht ignoriert bzw. abgewehrt, sondern integriert und ref lektiert werden können.

»Join Us as We Read the World« Das Unternehmen Reader’s Digest versorgt seit 1922 Leserinnen mit Kurzfassungen, Empfehlungen, Produkten, Gewinnspielen und einem Weltbild, das zunächst eindeutig konservativ, nationalistisch, christlich und anti-kommunistisch geprägt war. Mittlerweile hat sich das Angebot globalisiert und ausdifferenziert und auf regionale Nutzerinnen-Communities eingestellt. In ironischer Anspielung auf diesen Service nennt sich eine Kolumne der linken britischen Tageszeitung Guardian »the digested read«108, die als Text und Podcast angeboten wird. Hier haben die in ca. 15 Minuten zu hörenden pastiches von Romanen eine satirische Funktion, die auf Seiten der Rezipienten literarische Kennerschaft voraussetzt: John Craces Beiträge versprühen vor allem dann Funken, wenn man mit den Ursprungstexten und ihrer Rezeption vertraut ist. Sie erreichen damit eine eigene exklusive Zielgruppe und bieten dieser eine implizite Kritik jener komprimierenden Lektürehilfen, für die auch getAbstract und Blinkist stehen. Formulierungen wie »digested read« erinnern an jene kulinarische Semantik in der Geschichte des Lesens, die uns immer noch von Verschlingen und Genießen, von Bücherfressern und Häpp-

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chenlesern sprechen lässt. In solchen Semantiken nisten implizite Bewertungen, die nicht erst ihre Wirkung entfalten, wenn das Lesen explizit mit Zähneputzen oder Körperpf lege verglichen wird. Und das Problem einer Verdauung und Vorverdauung von Informationen und Stoffen wirft weitere Fragen auf, die Arbeitsteilungen und Rollendifferenzierungen betreffen. So wurde einer der Gründer von Blinkist damit konfrontiert, dass seine Dienstleistung im Erfolgsfall dazu führen könne, dass Originaltexte und -werke gar nicht mehr gelesen würden: »Unser Anliegen ist es, die Menschen, die sich in ihrer Freizeit gerne weiterbilden möchten, dabei zu unterstützen. Deswegen machen wir Sachbuch-Inhalte kurz und knackig zugänglich. Aber: Natürlich können und wollen wir Sachbücher nicht ersetzen. Blinkist ist aber ideal, um herauszufinden, ob ein Buch für einen persönlich relevant ist und man es komplett lesen und tiefer einsteigen möchte. Oder auch, um das Gelernte aus einem Buch, das man bereits gelesen hat, nochmal zu festigen.« 109 Die Frage danach, ob spezifische Angebote zum Lesen anregen oder dieses eher ersetzen, lässt sich auch an Lesungen und Festivals richten. Auch hier wird gegenwärtig vermutet, dass selbst die durchaus literaturaffinen Besucherinnen nicht unbedingt bereits gelesen haben oder lesen werden, sondern dass schon der Vortrag aus einem Text bzw. eine Darbietung mit Bezug zu einem Buch als befriedigend empfunden wird. Wie diese Tendenz zu bewerten ist – und ob die oben formulierte Alternative überhaupt sinnvoll ist –, hängt sehr davon ab, mit welchen theoretischen und politischen Prämissen man sich Veranstaltungsformen nähert, die Lesen und Lesungen öffentlich zugänglich und zu einer Gelegenheit sozialer Begegnung und kollektiver Verständigung machen. Dies gilt besonders innerhalb des deutschen Literaturbetriebs für Lesungen, wie sie z.B. in Buchhandlungen und Theatern, und seit den 1980er Jahren auch in öffentlich geförderten Literaturhäusern stattfinden. Die klassische, immer noch gut nachgefragte Variante findet im »Wasserglas-Format« statt: Vor Publikum liest eine Autorin oder ein Autor aus einem aktuellen Werk und wird dazu befragt. Im Fall

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nicht-deutscher Texte wird von Schauspielerinnen oder Schauspielern vorgelesen und diese Praxis scheint sich auch für nicht zu übersetzende Texte zu bewähren, weil so mit weiteren prominenten Namen geworben werden kann. Aus internationaler Perspektive ruft diese öffentliche Lesekultur immer wieder Bewunderung hervor, denn nur in wenigen anderen Ländern kommt ein Publikum für 90 Minuten konzentriert zusammen, um vorgetragenen Passagen und dem Gespräch über ein Buch zu lauschen – ohne dass im Anschluss immer Gelegenheit zu Fragen gegeben wird. Eine Abwandlung dieses Veranstaltungstyps stellen Runden dar, die sich in der Regel mit Belletristik, mittlerweile aber auch mit Sachbüchern beschäftigen: Nach dem Vorbild des von Marcel Reich-Ranicki moderierten »Literarischen Quartetts« im ZDF gibt es gegenwärtig nicht allein im deutschsprachigen Fernsehen, sondern auch als Live-Veranstaltungen zahlreiche Gesprächsformate, in denen das Publikum den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dabei zusieht und zuhört, wie gelesene Bücher vorgestellt und beurteilt werden. Solche Quartette sind wiederum mit Lesezirkeln verwandt, wenngleich das Gespräch über Bücher einerseits vor einem Publikum aufgeführt und an professionelle Akteure delegiert wird, während andererseits Laien unter sich bleiben, um in geselliger Runde über ihre Lektüren zu diskutieren. Zwischen diesen Sozialformationen des gemeinsamen Lesens sind verschiedene Beziehungen möglich: Lesezirkel können sich von ihren professionalisierten Verwandten inspirieren lassen, sie können aber ebenso ihre eigenen Regeln aufstellen.110 Und sie können, wie im Fall von Oprah Winfreys »Book Club«, TV-Angebote und digitale Services mit eigenen Buchrunden verbinden, die wiederum Verlage z.B. durch eigens für Lesezirkel entworfene Fragebögen in Bestsellern mit Material versorgen. Die Formate öffentlicher Lesungen haben sich längst weiter ausdifferenziert; es werden neue Orte und performative Alternativen genutzt, um sich von etablierten Veranstaltungen abzugrenzen und, z.B. mit Poetry-Slams, andere Zielgruppen zu erreichen.111 Ähnliches gilt für den jüngeren Veranstaltungstyp des Literaturfestivals, mit dem einzelne Lesungen in einem größeren Rahmen so skaliert und kombiniert werden können, dass sich eine andere

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kollektive Leseszene ergibt: Während im Literaturhaus, aber auch in einer Kneipe oder Hinterhauswerkstatt Zuhörende in der Regel für eine kurze Zeit zusammenkommen und wenigen Personen zuhören, bietet ein mehrwöchiges Festival die Gelegenheit, deutlich mehr Interessierte so zu versammeln, dass es gegebenenfalls auch möglich ist, zwischen verschiedenen Lesungen hin- und her zu wechseln, ein Ticket für mehrere Tage zu erwerben und auf diese Weise ein größere Anzahl von Autorinnen und Autoren und Texten zu erleben. Vergleicht man innerhalb der Kategorie der Festivals, betritt die Literatur als Spätzünder die Bühne, weil sich die lange als privat und intim gepf legte Praxis des Lesens schwerer als öffentliches Fest organisieren lässt als Musik, bildende Kunst oder Filme. In ihrem Sammelband zum Phänomen des Festivals bieten Liana Giorgi und Monica Sassatelli einen Überblick und Fallstudien zu dieser kontinuierlich an Attraktivität gewinnenden Form der Kulturvermittlung.112 Giorgi erläutert für die Literaturfestivals, wie diese sich über Cheltenham (seit 1949) und Hay-on-Wye (seit 1988) in der Regel von unter prekären Bedingungen initiierten Zusammenkünften zu professionalisierten Veranstaltungen entwickelt haben, deren Finanzierung abhängig vom nationalen kulturellen System unterschiedliche Formen annehmen kann – in Deutschland steht das Internationale Literaturfestival in Berlin für die Option einer fragilen öffentlichen Subvention, während die lit.COLOGNE sich für ein privatwirtschaftliches Modell entschieden hat. Die gegenwärtige Bandbreite von Literaturfestivals umfasst Veranstaltungsorte zwischen Stadt und Land, und mit diesen unterschiedliche Varianten des Standortmarketings und der touristischen Mitbewirtschaftung: Zunehmender Beliebtheit erfreuen sich Angebote, die das gesamte Setting unter dem Aspekt einer Literarisierbarkeit von Schauplätzen in die kollektive Vorlese-Szene eines Festivals integrieren können. Über diese Tendenz hinaus lässt sich erkennen, dass die Festivals sich ausdifferenzieren, indem sie neue Gegenstandsbereiche, Diskurse und Künste integrieren; und dass sie regional expandieren, indem Dependancen und Satelliten gebildet werden. So hat das Mutterunternehmen lit.COLOGNE z.B.

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mittlerweile die phil.COLOGNE, die lit.RUHR und die lit.kid.RUHR hervorgebracht.113 Als historische Vorläufer von Kulturfestivals können einerseits die literarischen Salons des 18. Jahrhunderts, anderseits Jahrmärkte, Weltausstellungen und Messen gelten. Diese Vorformen strukturieren Sozialität und Soziabilität auf unterschiedliche Weise, und reagieren auf ebenso unterschiedliche Motive. In den von Giorgi und Sassatelli versammelten Einzelstudien dominiert das Motiv der Geselligkeit als eine auf Georg Simmel zurückgeführte »Spielform der Vergesellschaftung«,114 die auch für die kollektive Leseszene des Literaturfestivals Unterhaltung – ähnlich wie in den Bewerbungsfilmen für den Wettbewerb »Eine Uni – ein Buch« – ins Zentrum stellt: Es geht zunächst einmal um das Zusammenkommen an sich; um Bücher und Lesungen als vergnügliche und interessante Anlässe für Begegnung, Konversation und Debatte. Ebenfalls vergleichbar mit Blick auf die Akzentsetzungen der von deutschen Hochschulen vorgeschlagenen Leseprogramme verschieben sich auch bei Festivals die Schwerpunkte von Produktpräsentationen auf ein Kuratieren sozialer Leseprozesse: »over time a shift can be observed in the contents of discussions and presentations, away from the mere presentation of the ›works‹ to a discussion about the insertion of the ›creative process‹ into the more general social context.«115 Weil in dem angesprochenen Sammelband der Fokus auf generalisierbaren sozialen Anlässen und Motiven einer öffentlichen Darbietung von Literatur als Festival liegt, ist vom Lesen selbst so gut wie nicht die Rede. Stattdessen wird rekonstruiert, aus welchen theoretischen Perspektiven sich die Bewertung dieser Veranstaltungen herleiten lässt. Zwei Zugriffe lassen sich herauspräparieren: Man schaut auf Akteure oder auf Strukturen, auf symbolische Bedeutungen oder materielle Bedingungen, auf Wünsche, Erfahrungen, Normen oder auf Investitionen, Ressourcen und Infrastrukturen. Aus diesen jeweiligen Betrachtungsweisen folgen häufig Urteile, mit denen das Phänomen auch der Literaturfestivals einsortiert wurde: Solche Ereignisse lassen sich als Anlässe zur Mobilisierung der Meinungsbildung und Diskursfreude einer aktiven und diversen Zivilgesellschaft begrüßen, oder sie werden als Symptome

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und Exempel der Eventisierung, der Kommerzialisierung gutgemeinter Intentionen unter neoliberalen Systemzwängen kritisiert. Holzschnittartig zugespitzt geht es dann um Alternativen zwischen optimistischen und pessimistischen Prämissen, zwischen Ermöglichung und Ideologiekritik; und wie die deutschen Beispiele ILB Berlin und lit.COLOGNE zeigen, lassen sich auch die verschiedenen Organisationsformen und Selbstbeschreibungen von Literaturfestivals in dieses binäre Szenario einordnen: Dann stehen sich Subversion und Service, die idealistischen und politisch auftretenden Berlinerinnen und die geschäftstüchtigen Popularisierungskünstlerinnen in Köln gegenüber. Bei näherem Hinsehen sind die Verhältnisse allerdings sowohl mit Blick auf die Autorinnen und Autoren als auch die Formate weniger übersichtlich. Und so lohnt es sich, wie James English angeregt hat, Machtverhältnisse und Ermächtigungspotentiale, und damit auch ökonomische und symbolische Formen der Wertsetzung nicht vorschnell gegeneinander auszuspielen. English sieht Festivals als Schauplätze, auf denen verschiedene Formen der Wertschöpfung und Wertschätzung z.B. auch der Literatur und des Lesens immer wieder neu ausgehandelt werden: »Festivals help to constitute publics by organizing the struggles over cultural value and canons of taste by means of which publics come to know themselves. Festivals contribute importantly to the structuring of public reception and debate, producing consensus regarding the ›masters‹ and ›masterpieces‹ of a given cultural field, as well as the equally vital forms of dissent – scandal, outrage, controversy – over new, heterodox works or styles. […] For this reason, when we set out to articulate theoretically the relations between festivals, publics, and the struggle for democratized culture, we do well to cross-fertilize our Habermas with some Bourdieu, at least to the point of recognizing that festivals are instruments of economic as well as of communicative action. The festival is as much a field for the competitive accumulation and more-or-less exploitative deployment of symbolic capital as it is a forum for the exchange of ideas and the construction of reasoned consensus about art and society.« 116

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Literaturfestivals verbinden somit verschiedene Aspekte eines Marktes.117 Sie empfehlen sich als physischer Ort der Begegnung und des Austauschs, und erlauben gleichzeitig, mit Hilfe digitaler Kommunikationstechniken, Zusammenkünfte in virtuellen Räumen und damit auch Interaktionen über große Distanzen und kulturelle Grenzen hinweg. Die Bedeutungsvielfalt des Konzepts des Marktes erfordert es zudem, das Literaturfestival als vielfältig kontextualisierbaren Ort in verschiedenen Resonanzräumen und Subsystemen innerhalb einer kulturellen Ökologie zu betrachten: Mit der lit.COLOGNE bleibt Köln auf bewährte Weise (in) Köln, und das vermutlich auch mit der Dependance im Ruhrgebiet, aber Peter Florence, der Gründer des Festivals in Hay-on-Wye, hat bereits Ableger in Mantua, Segovia, in der Alhambra, in Cartagena, Nairobi, Zacatecas (Mexico), Thiruvanantharpuram (Kerala), Dhaka (Bangladesh), Xalapa (Mexico), Belfast und Paraty (Brasilien) initiiert. An solchen Orten fügt sich das aus der walisischen Grenzregion exportierte Lesefest jeweils sehr unterschiedlich in die lokale Umgebung ein, während gleichzeitig Verbindungen zwischen den Austragungsorten gesucht werden, um Netzwerke und Expertisen effizient einsetzen zu können. In jedem einzelnen Fall wäre weiter nachzufragen, wie sich die Satelliten jeweils zu ihrer sozialen, politischen und kulturellen Umwelt verhalten, wer das Festival besucht und von ihm profitiert, ob ein circuit international erfolgreicher Akteurinnen und Akteure auf Tour geht oder auch lokal verankerte Kulturschaffende mit dem Publikum in Beziehung treten. Mit dem südafrikanischen Literaturfestival »Time of the Writer«, das im Jahr 1997 gegründet wurde, wurde ein Lesefest geschaffen, das sich bewusst vom Modell des Kulturexports durch Satelliten und internationale Marktführer abgrenzt und stattdessen auf ein Forum setzt, in dem die Bedingungen afrikanischer Literaturproduktion und -rezeption in ihren politischen und ökonomischen Kontexten diskutiert werden. Trotz internationaler Vernetzungstendenzen und digitaler Expansionsmöglichkeiten leben Literaturfestivals von live-Begegnungen mit Autorinnen und Autoren. Ihre Handlungs- und Geschäftsgrundlage bildet ein Authentizitätsversprechen, das mit den Kompensationsprogrammen der Corona-Pandemie einerseits

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auf eine harte Probe gestellt wurde, andererseits Alternativen hervorgebracht hat, die nicht in jedem Fall einen schlechten Ersatz darstellen, sondern auch neue Möglichkeiten der Interaktion mit einem heterogenen Publikum aufgezeigt haben.118 Die typische Leseszene eines Literaturfestivals ist aber immer noch an die Aufführung von physischer Präsenz, die Inszenierung von leiblicher Gegenwärtigkeit gebunden. Dass diese Darbietungen Regeln folgen, dass Autoren und Autorinnen z.B. ihre Spontanität und Zuwendung nach einem Skript und in sich wiederholender Weise unter Beweis stellen, muss das Vergnügen an Unmittelbarkeit, wie in vielen anderen performativen Situationen, nicht stören. Viele dieser Regeln müssen, da sie bei ähnlichen Veranstaltungsformen wie z.B. Theaterbesuchen erlernt und verinnerlicht wurden, nicht mehr bewusst beachtet werden. Gleichzeitig grenzen sich Literaturfestivals mehr als traditionelle Lesungen gezielter von hochkulturellen Kulturinstitutionen und Aufführungspraxen ab und ermöglichen ihren Teilnehmern und Teilnehmerinnen einen ungezwungeneren Umgang und Möglichkeiten einer dialogischeren Interaktion, die z.B. bei klassischen Konzerten oder Vorträgen nicht vorgesehen sind. Wie sich die Affordanzen einer Vorlesung mit denen anderer Formen öffentlichen Vorlesens widersprechen, überkreuzen oder auch verbinden lassen, lässt sich an der Entwicklung der Institution der Poetikvorlesung exemplarisch studieren.119 Dieses Beispiel der Performanz von Lesekultur legt nahe, Gelegenheiten kollektiv delegierten Lesens nicht nur als Märkte, sondern auch als Spiele zu untersuchen. Dafür sprechen gleich mehrere Gründe, denn schon Simmel bezieht sich bei seinen »Spielformen der Vergesellschaftung« auf eine ludische Seite der Soziabilität. Roger Caillois hat 1958 eine differenzierende Typologie solcher Elemente vorgelegt, und mit einigen seiner Kategorien lassen sich auch Literaturfestivals noch besser beschreiben: Auch hier kommen die Teilnehmerinnen für ein räumlich und zeitlich begrenztes Ereignis freiwillig zusammen und müssen sich an Regeln und Abläufe halten. Und selbst wenn das Protokoll eines Festivals keinen offenen Verlauf ohne ein festgesetztes Ende erlaubt, kann ein länger andauerndes Lesefest doch auch den Effekt einer temporär eigenen Welt erzeugen, in der sich spezifische Formen von Vergemeinschaftung

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erleben lassen. Oft ist dann vom Spirit dieser Veranstaltung die Rede, dem aus ökonomischer Perspektive ein Markenkern entsprechen muss, um sich im Konkurrenzgeschehen behaupten zu können. Damit sind noch weitere von Caillois’ Kategorien angesprochen: Auch Literaturfestivals können agonale, wettbewerbliche Elemente nutzen, wenn z.B. Preise vergeben oder Lesemarathons und andere Challenges integriert werden; und natürlich geht mit jeder Darbietung eines vorgelesenen und diskutierten Textes eine Inszenierung einher, in der Rollen, Masken, Stimmen und weitere performative Mittel des Deklamierens und Verkörperns auf einer Lesebühne eingesetzt werden.120 Auch in der Ausgestaltung dieser verschiedenen Dimensionen des Spiels verändern sich Literaturfestivals, indem sie sich beobachten, vergleichen und im Festivalfeld positionieren. Das erweiterte Angebot der Lesefeste, auf denen sich ein gemischtes Publikum öffentlich vorlesen lässt und in ein Gespräch über das Vorgetragene eintritt, unterscheidet sich von etablierten Formaten wie der Radio-Lesung, oder auch den an Beliebtheit gewinnenden Podcasts. Einer seriellen Proust-Lesung lauschen vermutlich die meisten Hörerinnen eher allein und versunken, in einem Modus, der der privaten und intensiven Lektüre verwandt ist. Audiobooks werden im Auto von Familien gehört und kommentiert; es kann unterbrochen und mitgesungen werden. An den aktuellen Programmen von Literaturfestivals ist zu erkennen, dass auch hier längst Möglichkeiten aktiver Beteiligung und dialogischer Kommunikation praktiziert werden und man sich um eine inklusive und diverse Programmgestaltung bemüht. Für diese normative Vorgabe eignet sich der hybride Organisationstypus des Festivals besonders gut, weil in Namen eines gastfreundlichen Lesefests zumindest in alle Richtungen eingeladen werden kann. Im Vergleich mit den zu Beginn dieses Kapitels behandelten Leseservices ist also einerseits eine vergleichbare Rhetorik zu beobachten, an der sich wiederum die Praxis messen lassen muss. Auf Festivals geht es aber andererseits nicht um effiziente Zulieferung, sondern um performatives Miterleben. Wer allerdings tatsächlich (ein überlebendes Bildungsbürgertum, eine zunehmend gemischte Mittelschicht, oder ein noch heterogeneres Publikum?) welche

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Festivals besucht, und wie im Zusammenhang damit vorher und nachher gelesen wird, müsste noch gründlicher ermittelt werden. Für beide Fälle des Lesen Lassens, die hier behandelt wurden, muss also wiederum konstatiert werden, dass die zentrale Forschungsaufgabe darin liegt, Methoden so abzustimmen, dass wir mehr Daten aus dem Feld und eine bessere Empirie als Grundlage für dichtere Beschreibungen und präzisere Analysen von Vorder- und Hinterbühnen, von Programmen und Praktiken erhalten.

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Ein Festival als Lesefest steht auch am Ende von Martin Puchners Buch The Written World (2017), in dem er die Geschichte der Literatur nachvollzieht. Im letzten Kapitel besucht Puchner das Festival von Jaipur im indischen Rajasthan und rekapituliert die Probleme der historischen Rekonstruktion seines Gegenstands: »Writing was invented both on the Eurasian continent and in the Americas. Individual stories moved back and forth on the network of story collections stretching from Asia to Europe. The rise of writing brought forth opposition by charismatic teachers in different parts of the world. New technologies led to format wars such as the one between the papyrus scroll and the parchment book, while sacred texts often became early adopters of new methods of reproduction. […] The greatest difficulty in writing a history of literature wasn’t these surprises and complex story lines. It was the recognition that we are still in the middle of this, an ongoing story.« 121 Puchner erkennt in Jaipur die Probleme kosmopolitischer Kulturveranstaltungen – auf diesem Festival präsentiert sich nicht nur Diversität, sondern auch die Dominanz eines anglo-amerikanischen Literaturbetriebs. Gleichwohl bildet die Veranstaltung ein emphatisch platziertes telos einer historischen Erzählung; hier erscheinen alle Traditionslinien und Lesepraktiken noch einmal als buntes soziales Gewimmel verdichtet. Die Leseszene in Jaipur ist das Ziel einer Wanderung durch und um die Welt des Lesens, denn Puchner bedient sich des Schemas der erzählten Entdeckungsreise. Die so vermittelte Geschichte präsentiert Wendungen und

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Überraschungen, und gewährt den Leserinnen den Eindruck einer ebenso instruktiven wie unterhaltsamen Abenteuerreise. Die Helden dieser Odyssee im populären Sachbuchformat sind,122 wie oben zitiert, z.B. »charismatic teachers in different parts of the world«, eine epochenübergreifende Gemeinschaft von Lehrern, deren Licht vermutlich auch auf den Harvard-Professor fallen soll, der als gelehrter Cicerone auf ihren Spuren wandelt. Wie wirkmächtig das Kompositionsprinzip einer erzählten Entdeckungsreise in Publikationen über das Lesen ist, zeigte sich schon in McCurrys Bildband Lesen. Eine Leidenschaf t ohne Grenzen. Die Kombinierbarkeit von Lesen und Reisen wird zudem von Veranstaltungs-Managerinnen genutzt, wenn sie Festivals zur touristischen Erkundung literarischer Schauplätze oder auch filmischer Drehorte nutzen. Reisen und Lesen ergänzen einander aber nicht nur, wie sich z.B. am Segment der generischen Verschmelzung von Reiseführern und Regionalkrimis beobachten lässt. Das »armchair travelling«, das Reisen im Kopf mit Hilfe von Lektüre, vermag die tatsächliche Bewegung durch die Welt zu simulieren. Eine andere Variation dieses Motivkomplexes von narrativ funktionalisierten Leseszenen findet sich in Jeanine Cummins’ Roman American Dirt (2020). Die umstrittene Geschichte123 einer mexikanischen Buchhändlerin, die mit ihrem kleinen Sohn, von Killern der Drogenkartelle getrieben, in die Flüchtlingsströme in Richtung der amerikanischen Grenze gerät, verlässt sich ebenfalls auf das Schema der erzählten Reise. Das Lesen begleitet die Heldin auf ihrer verzweifelten Irrfahrt, zu Beginn noch in Form ihrer Buchhandlung, dem persönlichen und professionellen Paradies, aus dem ein gnadenloses Plot sie verjagt: »Lydia had owned this store for almost ten years, and she’d stocked it with books she loved and books she wasn’t crazy about but knew would sell. She also kept a healthy inventory of notecards, pens, calendars, toys, games, reading glasses, magnets, and key chansons, and it was that kind of merchandise, along with the splashy best sellers, that made her shop profitable. So it had long been a secret pleasure of Lydia’s that, hidden among all the more popular goods, she was able to make a home for some of her best-loved se-

V. Lesen erzählen

cret treasures, gems that had blown open her mind and changed her life, books that in some cases had never even been translated into Spanish but that she stocked anyway, not because she expected she’d ever sell them, but simply because it made her happy to know they were there. There were perhaps a dozen of these books, stashed away on their ever-changing shelves, enduring among a cast of evolving neighbors. Now and again when a book moved her, when a book opened a previously undiscovered window in her mind and forever altered her perception of the world, she would add it to those secret ranks. Once in a great while, she’d even tried to recommend one of those books to a customer. She did this only when the customer was someone she knew and liked, someone she trusted to appreciate the value of the treasure being offered; she was almost always disappointed. In the ten years she’d been doing this, only twice had Lydia experienced the pleasure of a customer approaching her counter with one of those books in hand, unsolicited. Twice in ten years there’d been a wild spark of wonder in the shop, when the bell above the door was like mistletoe – a possibility of something magical.« 124 In dieser Leseszene schießen viele Aspekte zusammen, die mich schon in anderen Kapiteln beschäftigt haben: Bücher als Freunde, als Elemente von Produktpaletten und Lebenswelten, aber auch die ebenso affektiv wie normativ aufgeladene Verbindung von Lektüre, Persönlichkeitsentwicklung und Daseins-Optimierung. Puchners Sachbuch und Cummins’ Roman illustrieren zudem, wie erstens die Geschichte des Lesens selbst immer wieder neu erzählt wird, und wie zweitens innerhalb von Narrationen gezielt platzierte Leseszenen unterschiedliche Funktionen erfüllen können. Von erzähltem Lesen in letzterem Sinn wird im Folgenden die Rede sein.

Geschichten vom lesenden Kind Bücher bilden im Erzählbogen von American Dirt den Anfang und das Ende, das Mittel und den Zweck von fast allem, und daher stellt die Autorin ihrer Protagonistin ein lesendes Wunderkind an die

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V. Lesen erzählen

cret treasures, gems that had blown open her mind and changed her life, books that in some cases had never even been translated into Spanish but that she stocked anyway, not because she expected she’d ever sell them, but simply because it made her happy to know they were there. There were perhaps a dozen of these books, stashed away on their ever-changing shelves, enduring among a cast of evolving neighbors. Now and again when a book moved her, when a book opened a previously undiscovered window in her mind and forever altered her perception of the world, she would add it to those secret ranks. Once in a great while, she’d even tried to recommend one of those books to a customer. She did this only when the customer was someone she knew and liked, someone she trusted to appreciate the value of the treasure being offered; she was almost always disappointed. In the ten years she’d been doing this, only twice had Lydia experienced the pleasure of a customer approaching her counter with one of those books in hand, unsolicited. Twice in ten years there’d been a wild spark of wonder in the shop, when the bell above the door was like mistletoe – a possibility of something magical.« 124 In dieser Leseszene schießen viele Aspekte zusammen, die mich schon in anderen Kapiteln beschäftigt haben: Bücher als Freunde, als Elemente von Produktpaletten und Lebenswelten, aber auch die ebenso affektiv wie normativ aufgeladene Verbindung von Lektüre, Persönlichkeitsentwicklung und Daseins-Optimierung. Puchners Sachbuch und Cummins’ Roman illustrieren zudem, wie erstens die Geschichte des Lesens selbst immer wieder neu erzählt wird, und wie zweitens innerhalb von Narrationen gezielt platzierte Leseszenen unterschiedliche Funktionen erfüllen können. Von erzähltem Lesen in letzterem Sinn wird im Folgenden die Rede sein.

Geschichten vom lesenden Kind Bücher bilden im Erzählbogen von American Dirt den Anfang und das Ende, das Mittel und den Zweck von fast allem, und daher stellt die Autorin ihrer Protagonistin ein lesendes Wunderkind an die

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Seite. Der kleine Junge überlebt die Flucht entlang einer Verkettung stetig gesteigerter Gewalterfahrungen nur, weil er sich selbst dann in Bücher vertiefen kann, wenn größte Gefahr für Leib und Seele droht. Dank dieser Fähigkeit wird er zum frühreifen Begleiter einer Gruppe verfolgter Frauen und überrascht mit einer märchenhaften Resilienz, die der Roman durch eine nicht unbedingt kindgerechte Leseerziehung begründet. Hier zeigt sich, dass Cummins’ Mutter ihren Sohn bereits durch Vorlesen retten wollte, bevor die Literatur beide aufs Neue am Leben erhalten sollte: »She began the practice of reading to him well before she suspected any problem, only because she was a book lover who enjoyed reading aloud to her baby. She liked the idea that, even before he understood them, he might begin with the most beautiful words, that he’d build language from a foundation of literature and poetry. So as a result of her growing alarm, she read to him not in the typical way that parents read fairy tales and bedtime stories to their children, but in a frenetic and urgent manner intended to save him.« 125 Auch in Puchners History of the Written World tauchen Kinder und Jugendliche als eine wichtige Zielgruppe auf. So endet dieses Sachbuch zwar auf einem indischen Literaturfestival, aber der philologische Reiseführer betritt diese Leseszene über eine britische Brücke: Er beschreibt zuvor sein first encounter mit den Harry Potter-Romanen und dem Erlebnis- und Merchandise-Kosmos namens »Potterworld«, jenem expandierenden Segment der Literatur, in dem lesende Kinder in mehrfacher Weise im Zentrum stehen. Wie etwa in Mary Pope Osbornes in mindestens 32 Sprachen übersetzter Reihe Magic Tree House, die unter dem deutschen Titel Das magische Baumhaus zwischen 1992 und 2020 bisher 57 Bände umfasst und von zwei Kindern erzählt, die im besagten Baumhaus nur auf eine Stelle in einem Buch zeigen müssen, um an den gelesenen Ort reisen zu können. Diese Variante des »armchair travelling«126 katapultiert die lesenden Protagonisten in eine Fantasie- und Abenteuerwelt, die zahlreiche Motive, Plotstrukturen, Gattungsmerkmale und Erfolgsrezepte von alter und neuer Kinderliteratur kombiniert.

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Es hat sich in Geschichten von lesenden Kindern bewährt, diese nicht nur in einer häuslichen Umgebung lesen zu lassen. Das Baumhaus, eine natur-nähere und abenteuer-affinere Lesezene, bildet einen idealen Schwellen-Topos, um die Protagonisten immer wieder aufs Neue in imaginierte Welten zu katapultieren. Im Baumhaus befinden sie sich zwar noch in der Nähe ihrer Familien, aber gleichzeitig in einem »room of their own«, der Auf bruch und Eigenständigkeit als Probehandeln durch Lektüre ermöglicht. Aus einer pragmatischeren Perspektive zeigt das Konzept der Baumhaus-Reihe, wie genau und kleinteilig insbesondere in der Kinderliteratur Zielgruppen adressiert werden. Bis 2015 waren in Deutschland schon mehr als zehn Millionen Baumhaus-Bücher für Kinder ab acht Jahren verkauft worden, und seitdem gibt es auch eine gekürzte ›Junior‹-Reihe für Kinder ab fünf Jahren, die sich besser zum Vorlesen und Lesen in dieser Altersgruppe eignet. Ein Grund für die formalisierte Adressierung von Kinderliteratur liegt in der Tatsache, dass insbesondere im frühen Alter Kinder ihre Bücher nicht selbst auswählen und kaufen. Die Erwachsenen, die Bücher für Kinder erwerben, suchen häufig nach ›pädagogisch wertvoller‹ Lektüre und lassen sich dabei von Altersangaben und autorisierten Empfehlungen, Gütesiegeln und Auszeichnungen leiten. Im Segment der Jugendliteratur werden die Dinge unübersichtlicher, denn diese Leserinnen beschaffen sich ihre Texte nach eigenen Kriterien. Besonders dynamisch hat sich der Bereich der »Crossover«bzw. »All-Age«-Literatur entwickelt, die sich an Jugendliche und Erwachsene richtet und dabei, ähnlich wie familientaugliche Animationsfilme, mit Verfahren einer Mehrfachadressierung arbeitet. Wissenschaftlich wurde diese Tendenz in den späten 1990er Jahren zuerst von Sandra Beckett erschlossen,127 aber schon früher ließen sich Versuche beobachten, mit unterschiedlichen erzählerischen Mitteln Stoffe für unterschiedliche Publika aufzubereiten. Mit der Einführung eines Labels für »Crossover« oder »All-Age« wird indessen eine wesentlich effizientere Bewerbung und Vermarktung ermöglicht. Die identifizierten Strategien der Hybridisierung umfassen unterschiedliche Schreibweisen, Gattungsvariationen und Kontextualisierungen: Von Harry Potter-Romanen existieren z.B. unterschiedliche Ausgaben für Kinder und Erwachsene, die zum

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Teil auch unterschiedlich illustriert sind.128 Wie J.K. Rowlings Serie belegen die Erfolge von Stephenie Meyers Twilight-Tetralogie (20052008) und Suzanne Collins’ The Hunger Games (2008-2010), dass es längst salonfähig geworden ist, als Erwachsener Kinder- und Jugendliteratur zu lesen. Man verbirgt solche Lektüren nicht mehr schamhaft unter Schutzumschlägen, sondern setzt auch hier auf Vergemeinschaftungseffekte: Kinder und Eltern teilen vielleicht auch deswegen ihre Lesestoffe, weil sie sich wie Freunde in geteilten Konsum- und Freizeitwelten bewegen – und weil sich Eltern nicht nur in den Turnschuhen, sondern auch mit den Büchern ihrer Kinder jung fühlen.129 Cornelia Funkes sehr erfolgreiche Tintenwelt-Romane (20032007) führen eine Mehrfachadressierung vor, die an postmoderne Strategien anschließt. Diese nutzen intertextuelle und intermediale Referenzen, ironische Subtexte und metaleptische Rahmenwechsel, mit denen anregende Rezeptionserlebnisse für unterschiedliche Zielgruppen ermöglicht werden. Wie schon Michael Endes moderner Klassiker Die unendliche Geschichte (1979) widmen sich Funkes Romane zudem philosophischen Fragen: Wie sind imaginäre Welten beschaffen? Wie fühlt es sich an, in einer Fiktion zu leben; wie reist man von einer erlesenen Welt in die nächste? Und wie kehrt man wieder zurück und berichtet von einem Reich, dessen Status nicht einfach zu erklären ist – und an das so einige Eltern, Lehrerinnen und Mitschülerinnen nicht glauben? Einen verwandten Ansatz haben Oliver Jeffers und Sam Winston mit ihrem Bilderbuch A Child of Books (2016) gewählt, in dem schon die inneren Umschlagseiten mit kleingedruckten Titeln und Autornamen aus der Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur, und insbesondere ihren Klassikern geschmückt sind. Innerhalb der in Bildern und Text erzählten Geschichte lädt ein Mädchen einen Jungen (eine empirisch immer noch relevante Lesearbeitsteilung) zu einer Reise ein: »I am a child of books. I come from a world of stories, and upon my imagination I f loat. I have sailed across a sea of words to ask if you will come away with me.«130 Solche auf die Seiten gekritzelten Sätze schweben durch Bilder, in denen Textsegmente aus der Weltliteratur typographisch zu symbolischen Figurationen wie Wellen und Wolken angeordnet werden. Das Bilderbuch feiert somit einen

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Kanon, indem es Sprache nicht nur als unsichtbares Vehikel für Fantasiereisen einsetzt, sondern Schriftzeichen in ihrer Materialität künstlerisch ausstellt und verfremdet. Es erscheint wahrscheinlich, dass diese Ästhetik wie auch die exponierten Sentenzen über das Lesen weniger Kinder als vielmehr ihre Eltern ansprechen – und vermutlich vor allem Eltern, die sich an dieser Illustration ihrer eigenen Auffassungen von literarischer Sprache und Lesen erfreuen können. Nicht wenige Geschichten von lesenden Kindern scheinen auf einen ersten Blick zwischen magischem Denken und Kitsch zu oszillieren: Man spürt die Hoffnung, dass möglichst viele dieser Bücher mehr Kinder zum Lesen bringen könnten, und gewinnt den Eindruck, als unterhielten sich Eltern, Lehrerinnen, Autorinnen und Produzentinnen mit Sinnbildern generationenübergreifender Bücherbegeisterung. Der Kitschverdacht ist aber eine Keule, deren argumentative Schlagkraft es immer wieder zu überprüfen gilt – gerade weil sie dazu taugt, all das abzuwehren, was über eine längere Tradition als zu gefühlsbetont, konsumierbar, massentauglich und daher als epistemologisch, ästhetisch und politisch unbefriedigend markiert worden ist. Kinder- und Jugendliteratur ist auch deswegen ein so interessantes Forschungsfeld, weil sich hier traditionelle Distinktionsmechanismen weniger fest etabliert haben. Natürlich ist dieser Bereich ebenfalls durchzogen von Klischees und Projektionen, von alten und neuen Normen. Aber gerade in der »Crossover«-Literatur gibt es größere Spielräume, um im generationenübergreifenden Lesen und Vorlesen einem Vergnügen an Identifikation und Spannung, Wiederholung und Rührung nachzugeben. Hier zeigt auch das wie in anderen Bereichen der Populärkultur seit langem verbreitete und akzeptierte Prinzip der Serialisierung, dass anregende Lektüren nicht immer einem Ideal von Innovation und Originalität verpf lichtet sein müssen. Schon beim frühen Vorlesen lehren Kinder ihre Eltern, wie das Bekannte und sogar auswendig Gekonnte, das Erwartbare und geringfügig Variierte Vergnügen bereiten und gleichzeitig gemeinsame Versenkung schaffen kann. Eine Benchmark innerhalb der Crossover-Literatur markierte im Jahr 2012 John Greens Roman The Fault in Our Stars, auf deutsch

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Das Schicksal ist ein mieser Verräter.131 Die Geschichte um zwei todkranke Teenager kann in vieler Hinsicht als Blaupause für die Wirkmacht von Geschichten lesender Jugendlicher gelten. Besonders augenfällig ist dies auf der Ebene der Produktion und des Vertriebs, denn John Green betreibt mit seinem Bruder den YouTube-Kanal »Vlogbrothers«, mit dem der Roman in ein Netz von crossmedialen Interaktionsformen eingebettet werden konnte. Vor neun Jahren galt es noch als innovativ, dass John Green vor Erscheinen des Romans seinen Leserinnen versprochen hatte, die ersten 150.000 Exemplare der Erstausgabe zu signieren und diese Aktion auf YouTube begleiten ließ.132 Dadurch ergaben sich Gelegenheiten für eine partizipative Kommunikation mit Fan-Communities, die durch ihre Kombination von Live-Formaten und digital vervielfachten Authentisierungsgesten richtungsweisend war. Mittlerweile haben sich solche möglichst direkten Rückkoppelungen mit Leserinnen in vielen Bereichen des digitalisierten Buchmarktes durchgesetzt, auf dem bereits sehr junge Bloggerinnen und Inf luencerinnen mit Verlagen und Medienkonzernen zusammenarbeiten. In den überwiegend begeisterten Rezensionen von The Fault in Our Stars wurde seltener angesprochen, dass Greens Roman nicht nur von tödlichen Krankheiten, sondern auch von der heilenden Wirkung der Literatur handelt. So pilgern die Protagonisten nach Amsterdam, um dort, als letzten Wunsch, den Verfasser eines Lieblingsbuches aufzusuchen. Dieser entzieht sich zunächst, aber im Verlauf mehrerer Begegnungen erfährt die junge Heldin, dass die Tochter des Autors ebenso krank wie sie war und nicht überlebt hat. Diese Spiegelung zwischen verschiedenen fiktiven Leserinnen wird noch gesteigert, indem die beiden jugendlichen Liebenden einander Nachrufe zu Lebzeiten schreiben, und der fiktive Autor angesichts ihres Schicksals dazu gebracht wird, eine Fortsetzung jenes Romans im Roman zu schreiben, der wiederum die todkranke Protagonistin am Leben gehalten hatte. John Greens schnell verfilmter Bestseller entfaltet somit eine potenzierte Leseszene im Angesicht des Todes, in der Bücher, in den Amsterdam-Kapiteln um ein weiteres Mal gespiegelt in der Figur Anne Franks, als Überlebensmittel gefeiert werden.

V. Lesen erzählen

Leserinnen haben Greens Roman gegen den Kitsch-Verdacht verteidigt, weil das Buch seine existentiellen Themen realistisch, unsentimental und überraschend heiter behandele. Am Beispiel von The Fault in Our Stars ließe sich somit erörtern, warum es im Bereich der Jugendliteratur schwieriger ist, als künstlerisch anspruchsvoll ausgezeichnete Formen der Lektüre und Literatur von banaler ›Massenware‹ abzugrenzen – oder auch leichter, mit den eigenen, erwachsenen Prägungen und Leseidealen entspannter umzugehen. Etwas anders stellt sich die Lage im Fall des bereits erwähnten Romans American Dirt von Jeanine Cummins dar, der sich schon aufgrund seiner Gewaltdarstellung nicht an ein junges Publikum richtet. Während Green in The Fault in Our Stars ein Buch im Buch erfindet, definiert Cummins ihre Protagonistin über deren kanonisierendes Abgrenzungsbedürfnis im Referenzsystem der existierenden Weltliteratur: So wird schon in der bereits zitierten Beschreibung der Buchhandlung darauf geachtet, dass in dieser bibliophilen Anordnung die schwer verkäuf lichen Lieblinge geschmackshygienisch von den profitablen Bestsellern und Mitnahme-Produkten getrennt werden. Die erzählten Leseszenen in American Dirt befördern somit eine Fiktion der Trennbarkeit von guten und schlechten Lektüren, die Cummins’ Roman selbst unterläuft – er wurde als gewichtige moralische und ökonomische Investition mit Hilfe von blurbs bekannter Bestsellerautorinnen auf Spitzenpositionen katapultiert. Die zunächst erfolgreiche Strategie des Verlags Flatiron Books ging allerdings nicht auf. Nachdem zynisch anmutende Bilder von einer Stacheldraht-Dekoration (die auch das Cover des Romans schmückt) auf einer Verlagsparty und den Fingernägeln der Autorin aufgetaucht waren und Latino-Autorinnen und Leserinnen kritisierten, dass Cummins sich die Erfahrungen und Erzählungen von Migrantinnen auf missglückte Weise angeeignet habe,133 revidierte Oprah Winfrey ihre zunächst begeisterte Empfehlung​  – »American Dirt just gutted me, and I didn’t just read this book – I inhabited it.«134 Die multiple »boundary work«135 von Cummins’ Roman erwies sich also als zwiespältig. Die idyllischen Leseszenen vermochten innerhalb der Erzählung zwar Mutter und Kind auf der Flucht vor den Narcos zu retten, nicht aber einen Roman, mit dem

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das Thriller-Schema eines Don Winslow auf dem verminten Setting von Trumps Grenzzaun durch eine literarische Herzenserziehung konsekriert werden sollte.136

Klassenziel Einzelwertung? Im Mittelpunkt des Streits um American Dirt stand die Frage, wer zum Thema der Flüchtlingsproblematik an der mexikanische-amerikanischen Grenze für und über wen spricht; wer sich mit welchem Recht einer symbolischen Repräsentation bedient. Diese in vielen aktuellen identitätspolitischen Konf likten gärenden Fragen werden auch längst an Kinder- und Jugendliteratur gestellt, denn aufgrund der formativen Wirkung solcher Lektüre müssen nicht nur Lesepraktiken und -routinen ref lektiert, sondern auch die literarisch verhandelten Lebenswelten und -perspektiven mit veränderten Ansprüchen und Sensibilitäten vermittelt werden. In ihrem Buch Generation haram. Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben (2020) beschreibt Melisa Erkurt beispielsweise, wie Schülerinnen mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen an einer gemeinsamen (Lese-)Praxis teilhaben können.137 Pädagogische Konzepte in Zeiten von allseits geforderter, aber schwer zu realisierender Diversität und Inklusion machen deutlich, dass das Lesen als Sprungbrett für sozialen Aufstieg bedacht und erforscht werden muss. Dies geschieht in didaktischen und erziehungswissenschaftlichen Kontexten, aber seit einer Weile auch in einem Segment erzählender Literatur, in dem erinnerte Lektüren und Lesepraktiken Lebensläufe und Bildungsgeschichten mitbestimmen. Die erfolgreich nachgefragten Titel umfassen autofiktionale Romane, Memoirs und Autosoziobiographien.138 Am Anfang dieser Konjunktur standen die Bücher von Didier Eribon, Annie Ernaux und J.D. Vances Hillbilly-Elegy (2016); mittlerweile sind auch Texte von Eduard Louis und der jenseits von Dänemark wieder entdeckten Tove Ditlevsen, in Deutschland z.B. von Deniz Ohde und Bjov Berg diesem Trend zuzurechnen. Schaut man sich die ›Spielmacherinnen‹ Ernaux und Eribon auf dem Feld autobiographisch grundierten Schreibens genauer an,139

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das Thriller-Schema eines Don Winslow auf dem verminten Setting von Trumps Grenzzaun durch eine literarische Herzenserziehung konsekriert werden sollte.136

Klassenziel Einzelwertung? Im Mittelpunkt des Streits um American Dirt stand die Frage, wer zum Thema der Flüchtlingsproblematik an der mexikanische-amerikanischen Grenze für und über wen spricht; wer sich mit welchem Recht einer symbolischen Repräsentation bedient. Diese in vielen aktuellen identitätspolitischen Konf likten gärenden Fragen werden auch längst an Kinder- und Jugendliteratur gestellt, denn aufgrund der formativen Wirkung solcher Lektüre müssen nicht nur Lesepraktiken und -routinen ref lektiert, sondern auch die literarisch verhandelten Lebenswelten und -perspektiven mit veränderten Ansprüchen und Sensibilitäten vermittelt werden. In ihrem Buch Generation haram. Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben (2020) beschreibt Melisa Erkurt beispielsweise, wie Schülerinnen mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen an einer gemeinsamen (Lese-)Praxis teilhaben können.137 Pädagogische Konzepte in Zeiten von allseits geforderter, aber schwer zu realisierender Diversität und Inklusion machen deutlich, dass das Lesen als Sprungbrett für sozialen Aufstieg bedacht und erforscht werden muss. Dies geschieht in didaktischen und erziehungswissenschaftlichen Kontexten, aber seit einer Weile auch in einem Segment erzählender Literatur, in dem erinnerte Lektüren und Lesepraktiken Lebensläufe und Bildungsgeschichten mitbestimmen. Die erfolgreich nachgefragten Titel umfassen autofiktionale Romane, Memoirs und Autosoziobiographien.138 Am Anfang dieser Konjunktur standen die Bücher von Didier Eribon, Annie Ernaux und J.D. Vances Hillbilly-Elegy (2016); mittlerweile sind auch Texte von Eduard Louis und der jenseits von Dänemark wieder entdeckten Tove Ditlevsen, in Deutschland z.B. von Deniz Ohde und Bjov Berg diesem Trend zuzurechnen. Schaut man sich die ›Spielmacherinnen‹ Ernaux und Eribon auf dem Feld autobiographisch grundierten Schreibens genauer an,139

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zeigen sich vergleichbare Strategien der Positionierung von Leseszenen in diesen Bildungserzählungen. Grundsätzlich geht es für beide um den Auf bruch aus ›kleinen‹ Verhältnissen, aber auch um einen von Scham und Trauer geprägten Ablösungsprozess. In diesem kommt es zu Erfahrungen einer gespaltenen Subjektivität, die Züge von Er- und Entmächtigung trägt. Für das Arbeiterkind, so Eribon, entsteht zwischen heimischem Dialekt und Hochsprache eine quälende »Zweisprachigkeit«140. Auch Annie Ernaux erinnert sich an entfremdende Brüche: »Wenn ich als Kind versuchte, mich besser auszudrücken, hatte ich immer das Gefühl, mich in einen Abgrund zu stürzen.«141 »In meiner Erinnerung führte alles, was mit Sprache zu tun hatte, zu Ärger und Streit, viel mehr als Geld.«142 »Alles, was mit Sprache zu tun hat« umfasst bei Eribon und Ernaux konkrete Lektüreerfahrungen sowie die umfassendere Fähigkeit, gesellschaftliche und kulturelle Zeichen und Codes zu lesen. Neben vielen Parallelen treten jedoch auch deutliche Unterschiede zutage. Eribons Erzählverfahren trägt heroische Züge: Seine Auseinandersetzung mit Machtlosigkeit und Lähmung beginnt mit der Trennung von einer Herkunft, die er als »Exil« bezeichnet; und sie mündet in den Triumph einer Ankunft, der sich als »Maxime einer Askese, einer Arbeit« erfüllt.143 Der Bruch mit dem Vater wird durch intellektuelle Vorbilder verarbeitet, mit denen sich produktive Konkurrenzen ergeben. Prominent figuriert Pierre Bourdieu, an dessen Selbstversuch sich der junge Soziologe Eribon orientiert.144 Er setzt auf ein Prinzip der lernenden Mimikry, das ihm trotz homophober Diskriminierung die Nachahmung akademischer Größen erlaubt. Ein wichtiges Element dieses mimetischen Lernens ist die agonale Überbietung, die sich in zahlreichen kritischen TheorieReferaten manifestiert und unter Beweis stellt, dass man diskursiv angekommen ist. Dabei bewahrt sich Eribon ein Pathos, das von der Grenzüberschreitung zehrt. Diese heroische Reserve wird in Annie Ernauxs Der Platz nicht mobilisiert, das Angebot transgressiver Selbststilisierung zurückgewiesen: »Ich erinnere mich an ein Buch, L’experience des limites (Die Erfahrung von Grenzen). Schon die ersten Seiten entmutigten mich, es ging darin nur um Metaphysik und Literatur.«145 Ernaux gestaltet ihre Aufstiegserzählungen zudem mit Hilfe einer anderen Zitiertechnik: Während Eribon

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Begriffe der akademischen Autoritäten kursivierend aneignet, hebt sie Worte hervor, die die Welt der Eltern erfassbar machen sollen. Ihre erzählerische Mimikry gilt somit gerade nicht der angesteuerten akademischen Umgebung, sondern der verlassenen proletarischen Provinz; und anders als Eribon ›exiliert‹ sie aus dieser Welt nicht mit einer Haltung des Triumphes, sondern widmet sich einem »Erbe«, das sie voller »Trauer« antritt.146 Annie Ernauxs Stil erklärt sich auch aus der Tatsache, dass sie als Tochter zurückblickt und sich keine Professur in Paris, sondern eine Stelle als Lehrerin erkämpft hat. Anders als bei Eribon gestaltet sich auch ihre Lesesozialisation, und entsprechend unterschiedlich werden Leseszenen situiert. Eribon richtet in Retour à Reims frühe Erfahrungen auf das wissenschaftliche Studium aus und zieht im Verlauf der Erzählung immer wieder literarische und theoretische Referenzen heran. Ernauxs deutlich früher publizierte, kürzere und seriell angeordnete Autofiktionen spielen mit komplexeren Entwicklungs- und Erzähllinien und präsentieren in Büchern wie Die Jahre, Die Scham und Der Platz Leseszenen, aber auch Erinnerungen an Schlager, Schallplatten und Filme, Fernseh- und Radiosendungen und Konsumartikel. Gewinnt man bei Eribon den Eindruck, er wolle sich möglichst zügig von der Kultur seiner Herkunft trennen, widmet sich Ernaux frühen Prägungen als geduldige Ethnologin ihrer selbst.147 In der folgenden Leseszene akzentuieren Kursivierungen die Einstellungen ihrer Mutter, nicht des nur Zeitung lesenden Vaters: »Die Zeitschriften und Romane, die sie mir neben den Bänden der Bibliothèque verte zu lesen gibt, verstoßen nicht gegen die Prinzipien der Privatschule. Alle erfüllen die Bedingungen für erlaubte, ungefährliche Lektüren, die Zeitschriften Les Viellées des Chaumières und Le Petit Echo de La Mode, die Romane von Delly und Max du Vezuit. Auf dem Einband mancher Bücher prangt das Siegel Ausgezeichnet von der Académie francaise, ebenso ein Hinweis auf den moralisch einwandfreien Charakter des Werks wie auf dessen literarische Qualität, wenn nicht sogar hauptsächlich. Mit zwölf besitze ich bereits die ersten Bände der Brigitte-Serie von Berthe Bernage, die ein gutes Dutzend Bücher umfasst. Sie erzählen Brigittes Leben in

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Tagebuchform, als Verlobte, Ehefrau, Mutter und Großmutter. Am Ende meiner Jugend werde ich die vollständige Serie haben. […] (Diese Art von Geschichten fand ich damals realistischer als die Romane von Dickens, weil sie den Weg eines wahrscheinlichen Schicksals nachzeichneten, Liebe-Hochzeit-Kinderkriegen. Ist die Realität also das Mögliche? Während ich Das Mädchen Brigitte las und Sklavin oder Königin von Delly, während ich in die Komödie Pas si bête mit Bourvil im Kino sah, kamen Saint Genet von Sartre und Requiem für die Schuldlosen von Louis Calaferte heraus, und im Theater wurde Ionescos Die Stühle aufgeführt. Für mich werden diese beiden Welten für immer voneinander getrennt sein.« 148 Als Ernaux in Die Jahre auf 1968 zurückblickt, entwirft sie eine kollektive Leseszene, in der sie sich aus größerer Distanz beobachtet: »Überall tauchten neue Gruppen, Bücher und Zeitschriften auf, Philosophen, Kulturkritiker, Soziologen: Bourdieu, Foucault, Barthes, Lacan, Chomsky, Baudrillard, Wilhelm Reich, Ivan Illich, Literaturzeitschriften wie Tel Quel, Strukturalismus, Narratologie, Ökologie. Bei allem, ob man Bourdieus Erben las oder das schwedische Büchlein mit den Sexstellungen, ging es darum, sich neues Wissen anzueignen, um die Welt zu verbessern. Man lernte neue Wörter, eine neue Art zu sprechen, und wusste nicht mehr, wo einem der Kopf stand, man wunderte sich, dass man früher nichts von alldem gehört hatte. In einem Monat holte man Jahre auf.«149 Hier fügen sich erinnerte Lektüren nicht zu einem linearen Bildungsgang. Die Szene vermittelt ein ›Wimmelbild‹, in dem es um individuelle Ambition, aber auch um Mitlesen im Strom der Ideale einer anonymisierten Gruppe geht. Ernaux ist nicht darauf aus, aus gelesenen Texten einen Pfad abzuleiten, auf dem sie sich von den anderen absetzen kann – sie beschreibt weniger eine singularisierende als eine standardisierte, und auch keine mußevoll versunkene, sondern eine nach- und auf holende Lesepraxis. Das Mittel der Wahl zur Darstellung solcher von äußeren Anforderungen mitbestimmten Rezeptionssituationen ist bei Ernaux die Aufzählung. In eingefügten Listen von Buchtiteln und Autoren zeigt sich einerseits

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der Kanonisierungsdrang bestimmter politischer Szenen, andererseits Ernauxs Versuch, Lesen als Subjektivierungsfaktor und kollektiven Vollzug zu beschreiben. Entscheidend ist für ihre Texte, dass diese beiden Dimensionen nicht zu einem Bildungsroman, sondern zu einer Collage von Fundstücken arrangiert werden. So gibt es in ihren Büchern durchaus Leseszenen, die von einem Begehren für bestimmte Texte geprägt sind. Gerade die ›BourdieuStellen‹ unterscheiden sich aber von Eribons Auseinandersetzung mit dem Soziologen. Auch für Ernaux markierte die Bourdieu-Lektüre eine existenzielle Zäsur,150 doch »man« las Bourdieu (und die schwedischen Sex-Fibeln) eben auch, um dabei und drin zu bleiben. Hier wählt also, anders als in vielen Erinnerungsbüchern von Männern, nicht ein sich heroisch herausschälendes Subjekt aus. Eher schwemmt die soziale Situation Lese-Strandgut heran, das die Erzählerin aufsammelt und den Leserinnen zur Einordnung überlässt. Diese begeben sich mit Ernaux nicht auf eine Entdeckungsreise, sondern wandern eher durch Szenen einer Ausstellung. Ernauxs Umgang mit Formen des Aufzählens erinnert nur auf einen ersten Blick an die langen Listen in Karl Ove Knausgårds fünf bändigem Lebensroman. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die z.T. seitenlangen Listen des Norwegers einem ganz anders skalierten Projekt der Selbst-Erschreibung verpf lichtet sind: Er bewegt sich in einem fast rein männlichen Kanon. Zudem dienen Knausgårds Anhäufungen von Lektüren und Wissensbeständen einem ständigen Abgleich von Kleinem und Großem – dieser Chronist auch einer Lesesozialisation verknüpft kontinuierlich Fischstäbchen und Barockästhetik, Mikro – und Makrokosmos, Banalität und Transzendenz.151 Häufiger als mit Ernaux ist Knausgård wiederum mit Elena Ferrante verglichen worden, denn auch ihr mehrbändiges Romanprojekt der Neapolitanischen Tetralogie kann der gegenwärtigen Konjunktur autobiographisch aufgeladenen Erzählens zugeordnet werden. Wie in vielen der genannten Texte spielen formative Lektüreerfahrungen eine wichtige Rolle für die jeweilige Aufstiegserzählung. Unter dem sozialen Druck, unter den Ferrante ihre Protagonistinnen setzt, gewinnen Leseszenen eine kathartisch aufgeladene Potenz: Lenú und ihre beste Freundin Lila wetteifern schon als Grundschülerinnen darum, wer schneller

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lesen lernt und mehr Stoff bewältigen kann. Den Lebenskonf likt der Freundinnen schürt Ferrante, indem sie Lenú zwar mit Disziplin und Ambition zur Autorin aufsteigen lässt, die in Neapel zurückbleibende Lila aber als Hochbegabte zeichnet, deren Brillianz ihre Freundin bis zum Ende nicht verarbeiten kann. Eine intertextuelle Initialzündung zu den enggeführten weiblichen Lebens- und Lesewegen der Neapolitanischen Tetralogie bildet Louisa May Alcotts klassischer Mädchen-Roman Little Women (1868/69). In diesem Referenztext feministischer Kanonrevisionen geht es um vier Schwestern, die sich über Literatur und Lesen Freiräume ertasten. Ferrante knüpft an Alcotts populäre Geschichte von lesenden Kindern und Jugendlichen an, um das Repertoire dieses Genres in das Drama eines lebenslangen Konkurrenzkampfes zweier Aufsteigerinnen zu überführen. Ob die ›Klassenziele‹ autosoziobiografisch grundierter Literatur nur einsam oder auch gemeinsam angestrebt werden können, entscheidet sich auch in der Form dieser Bildungserzählungen. Es lohnt sich daher, einzelne Leseszenen auf jene formalen Strukturen zu beziehen, die das Erzählen vom Lesen überhaupt ermöglichen. Zwei jüngere Bücher bieten sich besonders an, um die Narrativisierung von Leseszenen zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen subjektivierenden und sozialisierenden Lektürepraktiken noch genauer zu betrachten, denn beide Texte experimentieren mit kollaborativen Konstellationen. Mit dem 2020 publizierten Roman Aufprall treten Heinz Bude, Bettina Munk und Karin Wieland an, um eine Geschichte der Berliner Hausbesetzerszene der 1980er Jahre von einem vielstimmigen Chor aufführen zu lassen. Der Roman liest sich wie eine Fundgrube für viele der Themen dieses Essays: Er porträtiert repräsentative Leseorte, widmet sich dem Einf luss legendärer Vorlesungen und vergleicht Initiationsinstanzen und Lesesozialisationen, die in ihrer Geschlechterspezifik konfrontiert werden. Ein kurzes Vorwort benennt eine Autorschaft »zu dritt« sowie »drei Stimmen« eines weiblichen Chors und einer männlichen und weiblichen Einzelfigur. Zu Beginn werden, an die Konvention der »dramatis personae« angelehnt, 33 Figuren mit Vornamen und wenigen Eigenschaften kurz charakterisiert.

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Im Kapitel »Wir als Wir« heißt es: »Einige von uns lasen, andere gingen ab und an ins Kino, aber für Museen, Galerien oder Theater hatte keiner bis dahin etwas übrig.«152 Die Figur des Romans, die fast ausschließlich über Bücher und Lektüren definiert wird, nennt sich Thomas und wird als »Philosophiestudent, Arbeiterkind aus Wuppertal, ehrgeizig und schwer durchschaubar« eingeführt. Thomas steht im Zeichen eines »Klassenschicksals«, das dem autosoziobiographischen Erfolgsschema schon fast holzschnittartig folgt: »Ich hatte einen Stand von Einsamkeit erreicht, so sinnierte ich, der notwendig, aber überhaupt nicht angenehm war: zwischen einer Herkunft, die ich verloren hatte, und einer Ankunft, die mir wie ein Nichts erschien.«153 Für ihn steht früh fest, dass er bei Suhrkamp veröffentlichen und Professor werden will, auch wenn er am Ende Berlin verlässt und es bisher nur in ein DFG-Projekt geschafft hat. Seinen buchgestützten Bildungsaufstieg nimmt Thomas zielstrebig in Angriff. Er sucht sich zwischen der Hausbesetzer-Szene und dem Orbit der Freien Universität substitutive Familien-Verhältnisse, die alle vom Lesen zusammengehalten werden. Mit seinem Freund Robert bildet er ein homosoziales Paar, das »zurückgezogen inmitten von Büchern« lebt: »Weil sie keine Regale hatten oder wollten, stapelten sie die Bücher entlang der Wände und die Wände hoch. In der Kommune im Haus an den Gleisen hatten Romane, Traktate, Flugschriften, Philosophisches und Politisches kreuz und quer in den Regalen gestanden oder waren über den Raum verteilt gewesen. Das war jetzt anders. Die Ordnung des Alphabets hatte Einzug gehalten. Die Bücher waren fein säuberlich nach den Namen der Verfasser sortiert. Das üppig wuchernde Sperrmüllmobiliar, angereichert mit Bierkisten und Polit-Postern, war verschwunden. Die Zimmer waren bewusst karg eingerichtet. Nichts, was überladen oder dekorativ hätte wirken können. Mit ihren leeren Räumen schirmten sich die beiden gegen die Außenwelt ab.« 154 Robert lebt von Raubdrucken, orientiert sich aber um, weil er die Kunden verachtet, die ihm mit dem Erwerb von »Kitsch« wie Michael Endes Unendlicher Geschichte gute Gewinne verschaffen.

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Neben diesem Bücherfreund schließt sich Thomas Theorie-Lesegruppen und charismatischen akademischen Lehrern an. Aus den Vorlesungen Klaus Heinrichs und Jakob Taubes’ bilden sich Zirkel heraus, in denen sich vorwiegend männliche Studierende in eine intellektuelle Lebensform initiieren lassen, die sich mit dem politischen Kampf nicht bruchlos verbinden lässt: »Ich wollte mich auf keinen Fall derart zum Hausbesetzer machen, dass – [die akademische Karriere] – nicht mehr möglich sein würde.«155 Entscheidende Kenntnisse eignet sich Thomas in der Heinrich Heine Buchhandlung am Bahnhof Zoo an. Der unausgesprochene Kodex in dieser »Höhle voller Bücher« lehrt ihn ein Ritual des »In-die-Hand-Nehmens«, »Aufschlagens«, »Anlesens«, und »Zurückstellens«, das über den Erwerb einer gewichtigen Gesamtausgabe schließlich zu einer möglichst effizienten bibliophilen Lebenskunst führt: »Ich lernte bei meinen Besuchen […], wie man sich mit Büchern umgibt, ohne sie gelesen zu haben.«156 Die Buchhandlung in Aufprall versorgt zwar ein anderes Publikum als der fiktive Buchladen in American Dirt. Als erzählte Leseszene erfüllt sie aber eine ähnliche Aufgabe: Sorgsam ausgewählte Bücher werden jeweils zu einer Lebenswelt hypostasiert, in der soziale Beziehungen über Lektüren und das Lesen gestiftet und bewertet werden. Ein verwandtes Biotop in Thomas’ intellektueller Ökologie stellt der Merve Verlag dar. Auch hier figurieren passionierte Büchermenschen wie der Buchhändler am Bahnhof Zoo als Händler von Kulturgütern und Hüter der Schwelle zum ersehnten Arkanwissen.157 In komplementärer Symbiose kultiviert das Verleger-Paar Peter Gente und Heidi Paris jenen Theorie-Kosmos, der schon zum Gegenstand kulturgeschichtlicher Forschung geworden ist:158 »Ich habe später Leute getroffen, die mich davon überzeugen wollten, dass die Merve-Welt im Grund nur die Lizenz fürs SchnellerLesen, Fixer-Denken und Schlauer-Machen nach dem Motto ›Frech kommt weiter!‹ verliehen habe. Aber dann unterschlägt man das Strenge in diesem Dilettantismus und das Existentielle in diesem Versuch, einen Diskurs zu begründen, indem man einen Diskurs abschafft. Peter hat sich immer als einen emphatischen Leser bezeichnet. Schreiben konnte er in der Tat nicht. Heidi hat das inter-

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essanterweise nie von sich behauptet. Sie war für mich mehr eine Empfinderin als eine Leserin oder besser noch: Lesen war für sie empfinden und empfinden lesen. ›Was tun?‹ hieß für sie beide jedoch zunächst und zumeist ›Wie lesen?‹.« 159 Die utopische Dimension des Merve-Projekts besteht laut Thomas darin, den zentralen Widerspruch von Lesen und Tun aufzuheben. Gleichzeitig werden aber Lektüre- wie Kampfpraktiken in einer ernüchternd eindeutigen Arbeitsteilung rekonstruiert: »Peter kam immer wieder auf Adornos ›Minima Moralia‹ zurück, Heidi war dieses Stundenbuch aus der noblen Bibliothek Suhrkamp im Grunde herzlich egal.«160 Der Thomas zugeordnete Erzählstrang reproduziert diese Geschlechterökonomie kontinuierlich – hier arbeitet ein junger Mann hart daran, sein Reich einer lesenden Welterschließung selbstbestimmt zu bespielen. Aber Aufprall rekonstruiert auch weniger individualisierte und weiblicher bestimmte Leseszenen: »Die feministischen Erfolgsromane der Siebziger wie ›Häutungen‹ oder ›Die Scham ist vorbei‹ wurden von uns nur angelesen und zur Seite gelegt. Über diesen Körperkitsch, Brüste wie Kürbisse, Vulvas wie Blütenkelche und die Klitoris als Löwenmäulchen, konnten wir nur lachen. Mit der Theorie sah es nicht viel besser aus. Betty Friedans ›Weiblichkeitswahn‹ sagte uns nichts, und Simone de Beauvoir hatte diesen verbiesterten Gouvernantenblick. Bestimmt wäre sie lieber als Mann zur Welt gekommen. Ihre Ausfälle gegen den weiblichen Körper entlarvten sie, über Diskriminierung zu lamentieren überließen wir den Magenkranken, die im Reformhaus zuckerfreien Kuchen einkaufen gingen und den Verzicht auf alles, was Spaß macht, predigten. Im Unterschied zu ihnen wollten wir nicht dazugehören. Legal abgesicherte, staatlich beglaubigte Benachteiligung ist ein großes Spießerprojekt.« 161 Hier spricht jener weibliche Chor, den Bude, Munk und Wieland kritische Blicke auf Mitbesetzer, Freunde und Liebhaber werfen lassen. Ein anderer personalisierter Erzählstrang gilt der Künstlerin Louise, die eine intellektuelle und politische Existenz nicht

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allein auf milieuspezifisch kanonisierte Lektüren, sondern auch andere Künste und Lebensbereiche gründet. Insgesamt suggeriert die mehrstimmige Erzählarchitektur von Aufprall zumindest hinsichtlich der Praxis des Lesens eine ernüchternd eindeutige Gegenüberstellung von männlichem Singularisierungsdrang und weiblicher Solidarisierungsbereitschaft. Dies mag als zeitgeschichtliche Diagnose treffen und wird im Roman perspektivierend bewertet: Thomas’ eremitisches Hinarbeiten auf den Suhrkamp-Ritterschlag wird immer wieder kontrastiert mit weiblichen Lebensentwürfen, die in ihrer realistischen Einschätzung einer männlich dominierten Kritik- und Debattenkultur f lexibler und freier wirken. Die oben zitierte weibliche Leseszene erinnert an Annie Ernauxs Rekonstruktionen gemeinsamen Lesens, aber sie setzt ein emphatischeres »Wir« ein. Dies taucht die erinnerte Lektürepraxis in ein wärmeres Licht, während Ernaux auf ein »man« oder auch die 3. Person Singular zurückgreift, um Distanzen zwischen ihrer Person und den jeweiligen Milieus wie auch der Gegenwart der Erzählerin und ihrer Vergangenheit zu markieren. Angesichts der oszillierenden Erzählperspektiven und des Versuchs, Generationenerfahrungen zu verdichten, lassen sich Parallelen zwischen Aufprall und Ernauxs autofiktionalen Texten ziehen und weitere Fragen nach Lesesozialisationen stellen. Bude, Munk und Wieland erzählen, was und wie in der Berliner Hausbesetzerszene der 1980er Jahre gelesen wurde, aber sie belassen im Dunkeln, welche Lektüren die Autorinnen in der Zwischenzeit bewegt haben. Betrachtet man Aufprall im Kontext der gegenwärtig f lorierenden Produktion autobiographisch unterlegten Erzählens, so wirkt der Roman wie eine pastiche, die Strategien Eribons und Ernauxs verbindet: Mit Thomas wird ein männliches autosoziobiographisches Schema an den Rand der Karikatur getrieben, während die weiblichen Perspektiven und Stimmen sich zu einem Kollektiv formieren, das Ernauxs skeptisches Stellungsspiel in eine positivere Gruppenerfahrung übersetzt. Als Roman, der mit Mitteln der Fiktion eine zeithistorische Wahrheit verspricht, fragt Aufprall danach, wer hier »wir« ist. Der Soziologe Bude, die Künstlerin Munk und die Publizistin Wieland maskieren ihre Biographien anders als Eribon und Ernaux, und damit auch die Lektüren, die in die Produktion dieses Buches ein-

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gegangen sind. In den ebenfalls 2020 veröffentlichten Ferrante Letters, einem Experiment in Collective Criticism, treten Sarah Chihaya, Merve Emre, Katherine Hill und Jill Richards dagegen unter ihren realen Klarnamen auf. Kein Trio also, sondern ein Quartett, mit dem sich Literatur-Professorinnen (von denen eine auch Romane schreibt) zusammengefunden haben, um ein gemeinsames Leseprojekt zu Elena Ferrante in einen Austausch von Briefen und Essays in Buchform zu überführen. Alle vier Autorinnen hatten sich 2015 der Aktion »The Slow Burn« angeschlossen,162 mit der ein digital verbundenes Lesekollektiv sich vorgenommen hatte, Texte wie die Neapolitanische Tetralogie in Form eines social reading zu rezipieren. In den Ferrante Letters wird dieser zunächst im Netz vollzogene Austausch in Briefen und Essays weniger dokumentiert als transformiert. Mit ihrer Einleitung denken die Autorinnen darüber nach, wie die jeweiligen privaten Leseinteressen zu einem Buch werden konnten, das auch akademischen Kontexten gerecht wird. Die literaturwissenschaftlich ausgebildeten Leserinnen, die sich die Ferrante Letters schreiben, fragen mit ihrem Experiment auch nach dem Verhältnis zwischen der Produkt- und der Prozessseite des Lesens. Das Projekt »The Slow Burn« sollte, durchaus im Einklang mit aktuellen Ratgeberregeln, Lektüreprozesse entschleunigen, indem weniger die analytische Erschließung als eine ganzheitlichere Erfahrung im Mittelpunkt stand. Eine Scharnierposition zwischen der Begegnung mit Ferrantes Büchern und der Herstellung eines neuen Buches nimmt in den Letters das Wiederlesen ein. Alle vier Autorinnen hatten Ferrante bereits gelesen und beobachteten sich nun in einer quasi auto-ethnographischen Weise beim »rereading«: »I am a fast reader and have traditionally been a very fast reader of Ferrante in particular. Even in the midst of ›The Slow Burn,‹ a self-declared experiment in slow-form criticism, I couldn’t help but speed through each volume of the quartet the first time, even if it was in the ultimate service of processing slowly. Those initial readings were rowdy and impassioned and even a little brutish, as first readings usually are, and the letters I wrote in response to them are  – I think – animated by at least some of that breathless ener-

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gy. The effect of this long rereading process, however, has been the opposite: rather than panting hotly through the books, I’ve found myself turning the pages slowly, sighing achy sighs.« 163 Schnell lesen steht in den Ferrante Letters nicht für Lesen lassen – ob mit Hilfe von digitalen Diensten oder gelehrten Andeutungen –, sondern für einen Komplex von nicht eindeutig konsekrierten Lektürepraktiken, die die Korrespondentinnen mit gemischten Gefühlen betrachten: »I don’t want this to be a soul-searching, publicly tearful final revelation about myself as a depressed person or reader or a site of female erasure, or, you know, whatever.«164 In Sarah Chihayas prophylaktischer Abgrenzung von der Oprah-Welt manifestiert sich eine zentrale philologische wie politische Herausforderung des gesamten Unternehmens. Deutlicher als in Aufprall rücken hier die Frauen ins Zentrum und bleiben unter sich. Alle vier Beteiligten ref lektieren gleichzeitig darüber, wie ihr feministisches Projekt in einem kompetitiven Zusammenhang zu situieren ist, in dem sie einerseits nicht nur mit Frauen und Freundinnen lesend und schreibend konkurrieren, und sich andererseits gerade nicht von immer noch ›weiblich‹ codierten Praktiken wie »couch-surfing« und »care« (85) abgrenzen wollen. Damit stellt sich in den Letters ein anderes Kernproblem als in Aufprall: Während hier das Verhältnis von Lesen und Tun, von Begreifen und Verändern diskutiert wird, umkreisen die Ferrante Letters auf der Basis einer kompatibleren Verbindung von Theorie und Praxis danach, wie sich im gegenwärtigen Forschungs- und Lehrsystem Wettbewerb und Solidarität verbinden lassen. Wir haben es also mit einem Experiment zu tun, das die schon etwas ältere Frage nach dem Politischen des Privaten in veränderter Weise stellt. Mit der Form ihrer Publikation setzen die vier Autorinnen auf Korrespondenz und Konversation, weniger auf Diskussion und Debatte; und sie positionieren ihr Buch klar jenseits des »heroic individualism of the single-authored monograph«165. Gleichzeitig ist ihnen daran gelegen – daher sind ihre Beiträge namentlich identifiziert, – im Quartett der Stimmen und Perspektiven Schreibweisen, Personalstile und Singularisierungspotentiale kenntlich zu machen. Die freundschaftlich verbundene Frauen-Viererbande be-

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kennt sich zu einer agonalen Dimension ihrer Solidarität, die von ihrem Lesestoff vorgebeben wird: Schon in Ferrantes Tetralogie geht es ja um das »competitive to-and-fro«166 zweier Freundinnen, die erbittert miteinander konkurrieren. Die materielle Dimension dieses lebenslangen Kampfes wird in den Ferrante Letters deutlich angesprochen: »They are perpetually in competition. It is an economy of two«167; »the girls channel their obsession with books into an obsession with wealth«168. Damit liegt ein Ball auf dem Feld, der in Aufprall auch schon rollt: Während hier vor allem Thomas das Treiben bei Merve und an der Freien Universität als Spiel charakterisiert, bedienen sich die Briefschreiberinnen einer ludischen Konzept-Metapher, die sie weniger von Bourdieu als von Ferrante übernehmen. Letztere inszeniert ihrerseits ein Spiel zwischen den beiden Protagonistinnen, das die amerikanischen Professorinnen als »gamble«169 und »challenge«170 (17) in eine nächste Runde führen.171 Die Spiel- und Wettbewerbssemantik eignet sich besonders gut, um Spannungsverhältnisse von Konkurrenz und Solidarität auszuloten. Sie umfasst »work and play«, »labor and leisure«172, und liefert den Korrespondentinnen ein Wortfeld, auf dem sie sich zwischen Privatem und Professionellen immer wieder neu positionieren können: So entfaltet Katherine Hill z.B. eine kleine Tennis-Allegorie,173 um das Hin und Her zu versinnbildlichen, das Ferrante mit ihrem ebenso polarisierten wie verschränkten Porträt zweier Freundinnen perpetuiert hat. Wie viele Leserinnen folgen auch Chihaya, Emre, Hill und Richards Ferrantes Romanen als Mitglieder von »team Lenú« und/ oder »team Lila«, um mit Hilfe von kompetitiven Analogien ihre Haken schlagenden Identifikationen und die Möglichkeit solidarischer Gruppenbildung im akademischen Geschäft auszuloten.174 Das Bedürfnis, auch als Professorin als Fan lesen zu dürfen, wird im Experiment der Ferrante Letters ebenso berücksichtigt wie die Notwendigkeit, sich von männlich geprägten Prämissen und Habitus und untereinander abzugrenzen. Die Tetralogie hilft den vier Amerikanerinnen offensichtlich dabei, auf feministisch aufgeklärte und institutionenkritische Weise im akademischen Spiel zu bleiben – als »assistant professors« an prestige-trächtigen Institutionen sind sie nicht gerade dem akademischen Prekariat zuzu-

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rechnen. In diesem Spiel bleiben wir auch nach meinem Durchgang durch Leseszenen im autobiographisch grundierten Erzählen von Bildungswegen und Sozialaufstieg. Carlos Spoerhase hat in seiner Analyse autosoziobiographischer Texte darauf hingewiesen, dass diese auf jenes Milieu zielen, in dem auch die vermutlich meisten realen Leserinnen des viel beachteten Genres bereits zu Hause oder angekommen sind: Man bleibt unter Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen, die ihr Klassenziel dann erreicht haben, wenn sie sich als selbst viel Lesende und Schreibende über Lektüren im Spiegel betrachten und dabei hoffen, Eindrücke aus ganz anderen sozialen Welten zu bekommen.175 Damit sind wir, am Ende dieses fünften Kapitels, wieder in der Universität angekommen; in einer Welt, in der Lesen und Schreiben aufs Engste verbunden und einer komplexen Transformation unterworfen sind. Höchste Zeit also, sich mit den Studierenden und ihren Lesewünschen, Leseerfahrungen und Leseproblemen zu beschäftigen.

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Weil auch in diesem Buch die Forschung vor der Lehre steht, muss gleich zu Beginn festgehalten werden: Dieses Kapitel ist kein Appendix; und es bietet keine standardisierte Anleitung zur Anwendung des Gelesenen. Denkbar wäre es allerdings, die im Folgenden gemachten Vorschläge z.B. mit dem Anhang in Adlers und Van Dorens How to Read a Book oder den Buchclub-Fragen in amerikanischen Bestsellern mit Blick auf ihre jeweiligen Affordanzen und Funktionen zu vergleichen. Zu solchen Übertragungen soll zum Abschluss dieses Essays angeregt werden – denn auch in der Lehre erscheint es mir wichtig, unterschiedliche Quellen und Ansätze so zu kombinieren, dass überraschende Perspektiven und neue Einsichten entstehen. Wenn das Lesen im Zentrum einer Lehrveranstaltung steht, müssen nicht nur kognitive Anforderungen, sondern auch klassen-, generationen- und disziplinenspezifische Lesepraktiken thematisiert werden. Um die gemeinsame Ref lexion mit Forschungsliteratur zu unterlegen, empfehlen sich zum gerade in den philologischen Lese- und Buchdisziplinen kontrovers diskutierten Komplex des digitalisierten Lesens Abhandlungen wie Andrew Pipers Book Was There. Reading in Electronic Times (2012), Naomi Barons Words Onscreen: The Fate of Reading in a Digital World (2015) und How We Read Now (2021) sowie Gerhard Lauers Lesen im digitalen Zeitalter (2020). Alle genannten Autorinnen verzichten darauf, kulturkritischen Alarm zu schlagen, nähern sich aber den aktuellen Veränderungen keineswegs nur mit naiver Begeisterung. Sie bieten damit eine gute Grundlage, um nicht digital sozialisierte Lehrende und die Digital Natives in ihren Seminaren im Gespräch zu halten.176

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Weil der vorliegende Essay weniger historisch als soziologisch grundiert ist, ziehe ich für meinen Seminarvorschlag noch eine jüngere Dissertation heran, in der Björn Krey den Versuch unternommen hat, die »Praxis des wissenschaftlichen Lesens« als »Textarbeit« für die Disziplin der Soziologie zu erforschen. Krey interessiert sich dafür, was die qualitativ arbeitende Soziologie »zu einer analytisch instruktiven Lese- und literarischen Disziplin macht […] einer Disziplin, in der unterschiedliche literarische Gattungen existieren und in der – in Teilen – unklar und umstritten ist, was einen ›adäquaten‹ Text ausmacht und wie er u.a. gestaltet und formuliert sein und werden muss. Forschende, Lehrende und Studierende bekommen es hier mit unterschiedlichsten Texten zu tun und müssen – im Lesen und Schreiben – aushandeln und ausprobieren, wie sie welche Texte lesen und schreiben. Die Soziologie ist eine Disziplin, die stark über das Lesen und Schreiben von Texten unterschiedlichster Sorten funktioniert und zugleich kaum eine Didaktik des Lesens und Schreibens und eine eindeutige Haltung ihren literarischen Gattungen gegenüber ausbildet.« 177 »Literatur« steht bei Krey für jene Wissensbestände, die in Disziplinen auf jeweils eigene Weise lesend und schreibend erschlossen und verarbeitet werden müssen. Wie dies geschehen soll, und wie sich die Standards dieser »Praxis und Kultur«178 verändert haben, wird im Studium unter Zeitdruck nicht ausreichend expliziert – Studierende werden stattdessen mit standardisierten Erwartungen konfrontiert und müssen diese in normativ gerahmten Situationen erfüllen. Das Lesen definiert Krey als »ein ebenso körperliches wie kommunikatives Verhalten, das durch (1) soziale Strukturen und Situationen, (2) materiale und mediale Gestaltungen und Formulierungen der Texte und (3) die Sozial- und Solidarbeziehungen literarischer Gemeinschaften orientiert wird.«179 Mit Hilfe ethnomethodologischer Methoden rückt das Praxiswissen von Studierenden in den Vordergrund. Er hat eine ausgewählte Gruppe über einen längeren Zeitraum zu ihren Lesesituationen, Leseräumen, Lesezeiten und Lesebewegungen befragt und ihre Leseaktivitäten in Videoaufzeichnungen dokumentiert. Ergänzt

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um eine wissenschaftssoziologische Rekonstruktion der Rolle von Texten, Aufschreibesystemen, Lektürepraktiken und Publikationsformen gibt Kreys Arbeit einen aufschlussreichen Einblick in das »körperliche Vollzugsgeschehen« und die »Situationspragmatik« des Lesens in der Soziologie.180 Dieser Einblick verdankt sich nicht nur seiner teilnehmenden Beobachtung, sondern auch der Selbstbeobachtung der Studierenden, die Auskunft gegeben haben über den Einsatz von Laptops und Textmarkern, von Annotationstechniken und Abschirmgewohnheiten, von erfolgreichen und erfolglosen Ablenkungen und Prokrastinationsroutinen, von Unterschieden zwischen projektbezogenem und curricular-bezogenem Lesen. Eine besonders interessante Aufgabe stellte sich Krey immer dort, wo es galt, aus der Forschung übernommene Einsichten über das Lesen mit der Selbstbeschreibung der Studierenden zu verbinden: So charakterisiert z.B. eine Studentin eine Lektüre, die im Wesentlichen auf das Auffüllen von »Wissenscontainern« ausgerichtet ist, als »Rausschreibliteratur«181. Einen ähnlich praxeologisch inspirierten Blick hatten, ebenfalls ausgehend von den laboratory studies der Wissenschaftsforschung, bereits Steffen Martus und Carlos Spoerhase auf die Germanistik geworfen.182 Angeregt durch die Arbeiten Gaston Bachelards, Georges Cangouilhems, Ludwik Flecks, Stephen Shapins, Karin Knorr-Cetinas, Bruno Latours, Hans Jörg Rheinbergers und anderer wurde sichtbarer, was auch geisteswissenschaftliche Wissensund Wissenschaftskulturen ausmacht: Nicht allein Ideen, Begriffe, Methoden und Theorien, sondern unser stummes Wissen; nicht nur, mit Gilbert Ryle gesprochen, »knowing that«, sondern auch »knowing how«183. Zu diesen Voraussetzungen wissenschaftlichen Wissens gehören auch Formen inkorporierter und internalisierter Könnerschaft, Gewohnheiten und Geschick, routinierte Abläufe, die so nachhaltig erlernt wurden, dass sie im Vollzug nicht mehr bewusst gehalten werden müssen. Dieses oft nur schwach explizierte, aber durchaus spezifische Wissen spielt auch beim Lesen eine zentrale Rolle; auch hier nistet es in alltäglichen Gesten und Verrichtungen, im Umgang mit Objekten und Materialien, Routinen und Standardsituationen, wie sie auch die Geistes- und Kulturwissenschaften entwickelt haben und benötigen. Und wie sie, gerade zu Beginn

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des Studiums, zu häufig einfach vorausgesetzt und daher nicht thematisiert werden. Steffen Martus hat 2015 ein Programm philologischer Selbstbefragung entworfen,184 das sich auf Subjekte und Objekte, auf Sachen und Habitus, auf Gebrauchsgeschichten und Beziehungsgeschichten literaturwissenschaftlicher Forschungspraxis konzentriert. Auch die epistemischen Dinge dieser Disziplinen sind für Martus »polynormativ«185, d.h. sie erlauben und erfordern es, philologische Routinen mit unterschiedlichen Formen der Bewertung z.B. von Textstellen und -kontexten, Werkzusammenhängen und Kanones, von Lektüregewohnheiten, Schreibkonventionen und Darstellungsnormen zu verbinden. Martus interessiert sich besonders für die historische Rekonstruktion polynormativer Praxisformen. Praxeologisch ›aufgeklärte‹ Fachgeschichte bietet aus seiner Sicht die Gelegenheit, nicht einfach teleologische Erfolgsgeschichten oder Abfolgen disruptiver Paradigmenwechsel – und damit z.B. auch eine Krise des Lesens – zu reproduzieren, sondern Konjunkturen einer impliziten Bewertung von tradierten Verfahrensweisen genauer nachzuzeichnen. Dies eröffnet auch diagnostische und evaluative Perspektiven, und das insbesondere mit Blick auf »drei Probleme, die konventionelle Beschreibungen der Literaturwissenschaft nicht oder nicht besonders erfolgreich in den Griff bekommen: zum einen auf krisenhafte Erfahrungen im Bereich der Lehre, zum zweiten auf die eigentümliche Folgenlosigkeit von Theoriedebatten und zum dritten auf die bemerkenswerte Diskrepanz zwischen programmatischen Äußerungen und konkreter Textarbeit.«186 Will man die Veränderungen von Lektürepraktiken und Leseidealen nicht nur als krisenhafte Entwicklung oder gar als ›Verfall‹ begreifen, müssen sie gerade in der Lehre thematisiert werden. Um möglichst viele Aspekte universitären Lesens nicht allein aus der Perspektive der Lehrenden zu berücksichtigen, orientiert sich auch mein Vorschlag für ein kultur- und literaturwissenschaftlich ausgerichtetes Seminar an Dimensionen, die Björn Krey in Anlehnung an Stefan Hirschauer wie folgt umrissen hat:

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»(1) Das Lesen ›interferiert‹ mit den in einem Text als kulturellem Artefakt eingelassenen Gebrauchsanweisungen. So werden Leseerwartungen aufgebaut, erfüllt oder enttäuscht; die formale Gestaltung, die Rhetorik, das Datenmaterial und die Wissensbehauptungen eines Textes werden hinterfragt und dessen methodischen und theoretische Prämissen kritisiert […] (2) Das Lesen ist ›im Körper verankert‹. Es ist anregend oder anstrengend, eine Freude oder eine Qual. Solche Körperreaktionen und andere ›Spontanbekundungen‹ äußern sich sowohl in den handschriftlichen Annotationen am Text als auch in deren Niederschrift […] (3) Das Lesen ist auf und durch praktische Zwecke orientiert«.187 Da es mir eher um einen Prototyp als um ein direkt umsetzbares Seminarprogramm geht, begnüge ich mich mit modular angeordneten Einheiten, die je nach Fach- und Studiengangskontext zu variieren sind – die hier aufgeführten Vorschläge eignen sich sicherlich besser für Studierende, die bereits Einführungsveranstaltungen absolviert haben. Im Sinne der oben ausgeführten praxeologischen Perspektive auf das universitäre Lesen sind zudem Seminarvarianten denkbar, die eher gegenwartsbezogen-wissenschaftssoziologisch oder eher historisierend-fachgeschichtlich angelegt sind. Möglich wären auch zwei Veranstaltungen als Block, die diese beiden Ausrichtungen verbinden könnten. Für die im Folgenden genannten »Einheiten« sind jeweils zwei Seminarsitzungen einzuplanen, so dass mit ihnen ein Programm für insgesamt vierzehn Semesterwochen entsteht. Konzeptionell sind die Seminarelemente so angelegt, dass viele der in diesem Essay behandelten Themen und Texte herangezogen werden können. Damit es für die Leserinnen dieses Buches nicht zu langweilig wird, schlage ich auch neue Lektüren vor. Damit es für die Studierenden interessant bleibt, sind unterschiedliche Arbeitsformen vorgesehen, die individuelle und Gruppenleistungen umfassen und, je nach Seminargröße, ebenfalls variabel kombiniert werden können.

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Einleitende Einheiten zu Verfahren und Anforderungen Wie lese ich? Von Gewohnheiten zur Selbstbeobachtung Lesetypen, Leseprotokolle, Lesetagebücher Textgrundlage: B. Krey, Textarbeit, Kapitel »Universitäres Lesen« Arbeitsform: Diskussion auf der Grundlage der zur Anmeldung vorgelegten Lesefragebögen Woher wissen wir überhaupt etwas über das Lesen? Kritik vs. Analyse Hirn-/Kognitionsforschung, Marktanalysen, Buchwissenschaften, Kultursoziologie, literaturwissenschaftliche Theorien des Lesens Textgrundlage: Lauer, Lesen im digitalen Zeitalter, Kapitel 3; Gutachten des Börsenvereins, Beiträge aus Handbüchern von Rautenberg/Schneider, Parr/Honold Arbeitsform: Diskussion zum Vergleich der Quellen und Materialien

Vertiefende Einheiten, mit Blick auf die jeweilige Fachkultur und ihre Anforderungen Schnell/Langsam: Zeitmanagement; Effizienz, Gründlichkeit, Vergnügen, Wiederlesen Textgrundlage: D. Peace, Nineteen Seventy Seven; Don Winslow, The Fugitive; T. Todorov, »The Typology of Detective Fiction« Arbeitsform: Vergleichende Diskussion der Leseprozesse auf der Grundlage von Lektüreprotokollen zu einem der Kriminalromane von Peace und Winslow und dem Forschungsaufsatz Einsam/Gemeinsam: Individuelles und geselliges Lesen in verschiedenen Formaten und Institutionen Fallstudie: »Time of the Writer«-Festival vs. Lit.COLOGNE; oder zwei möglichst unterschiedliche Literaturblogs, die von den Studierenden selbst auszuwählen sind Arbeitsform: Gruppenrecherche, Gruppenpräsentationen

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Frauen/Männer: Geschlechterökonomien in Texten, Strukturen und Kontexten Textgrundlage: K. Köhlers Roman Miroloi und ausgewählte Besprechungen; Kapitel aus J. Radway, Reading the Romance; und D. Birke, Writing the Reader Arbeitsform: Pro & Contra-Diskussion Oberflächen/Tiefen: Semantiken, Metaphern, Modelle Textgrundlage: H. James, »The Figure in the Carpet«; S. Best, S. Marcus, »Surface Reading: An Introduction«; Kapitel aus M. Wolf, Reader, Come Home Arbeitsform: Übung und Diskussion eines ›Close Reading‹

Um die kognitive, soziale und historische Vielschichtigkeit des Lesens in einer Lehrveranstaltung abzubilden, empfehlen sich möglichst vielfältige Arbeitsformen, mit denen sich wiederum verschiedene Praxisformen des Lesens üben und ref lektieren lassen. Zudem können produktive Materiallagen erzeugt werden, indem auf Strategien der Vermischung und Heuristiken des Vergleichs zurückgegriffen wird. Bereits in der Anlage dieses Essays sollten Verbindungen z.B. zwischen Salons und Festivals, Theorie-Lesegruppen und Oprah’s Book Club, zwischen unterschiedlichen Lizenzen zum nicht Lesen, zwischen magischem Denken in bibliotherapeutischen Ratgebern und Kinderliteratur gestiftet werden. Durch überraschende Konstellationen lassen sich auch Studierende dazu anregen, ihr Material mit einem durch Be- und Verfremdung Erkenntnis stiftenden Blick zu bearbeiten.188 In der vorgeschlagenen Lehrveranstaltung gehört es zum didaktischen Konzept einer kontrollierten Verfremdung, die naheliegende Unterscheidung von analogem und digitalen Lesen nicht als eine eigene Leitdifferenz auszuf laggen, sondern in allen Einheiten mit zu bedenken. Insgesamt müssen Lesetechniken und -technologien, aber auch Frustrationen angesichts von Lesestoffen und Lesepensen jederzeit thematisiert werden können. Eine Lehrveranstaltung, die sich dem Lesen im universitären Kontext auf angemessene Weise widmet, sollte sich indessen nicht damit begnügen, die Teilneh-

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menden einfach nur »abzuholen«. Diese beliebte Transport-Metapher der Didaktik und popularisierenden Vermittlung führt häufig dazu, Erwartungen an Studierende zu weit herunterzuschrauben: Dann geht es nur noch darum, jene an die Hand zu nehmen, die sich als junge Erwachsene entschlossen haben, ein Studium aufzunehmen. Die Hochschule sollte sich jedoch weiterhin kategorial von der Schule unterscheiden, und ihre wichtigste Zielgruppe daher nicht im Namen von infantilisierenden Konzepten unterschätzen. Angebracht erscheint mir stattdessen ein wohlüberlegtes Programm ›zärtlicher Überforderung‹, mit dem überkommene Vorstellungen eines pädagogischen Eros so transformiert werden können, dass Studierende sich mit ihren vielfältigen Wünschen, Bedürfnissen, Problemen und Fähigkeiten ernst genommen fühlen. Diese Haltung kann bereits Erstsemestern gegenüber verkörpert werden, auch wenn man dafür Zeit, Engagement und Sorgfalt investieren muss. Natürlich ist eine solche Strategie gezielt, aber behutsam eingesetzter Überforderung als Einladung zur Selbstbeobachtung nicht frei von Risiken – aber wann war gelingende Lehre das schon. Gleichwohl gilt es, das oben skizzierte Programm einer grundlegenden Auf klärung über universitäre Lesepraktiken immer wieder neu auf unterschiedliche soziale Voraussetzungen und divergierende Sensibilitäten abzustimmen – jüngere Diskussionen über sogenannte »trigger warnings« und »micro aggressions« zeigen, dass gerade die Lektüre literarischer Texte veränderten normativen Erwartungen ausgesetzt ist und zu Konf likten führen kann, auf die Lehrende nicht in jedem Fall gut vorbereitet sind. Dies beträfe vermutlich auch ein Material, das sich aus meiner Sicht hervorragend als Fallstudie für ein literatur- und kulturwissenschaftliches Seminar über das Lesen eignete: Den britischen Podcast mit dem Titel My Dad Wrote a Porno,189 der seit 2016 laut Wikipedia 250 Millionen Mal heruntergeladen wurde.190 Schon allein die kurze Geschichte dieses Phänomens illustriert die Komplexität und Volatilität gegenwärtiger Lesepraktiken, -formate und -technologien und ihre crossmediale Dynamik. Hinter dem Titel My Dad Wrote a Porno stehen drei Studienfreunde, die sich angesichts der überraschenden Publikationstätigkeit des Vaters einer der Beteiligten zu

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einer sehr speziellen Form öffentlicher Kommentierung entschlossen: Nachdem »Dad« unter dem Pseudonym »Rocky Flinstone« eine Serie erotischer Romane im Selbstverlag herausgebracht hatte, begannen sein Sohn und seine Freunde, sich die Kapitel der Abenteuer der Protagonistin namens »Belinda Blinked« als Downloads im Netz und in Live-Shows z.B. auf dem Edinburgh-Festival vorzulesen und zu diskutieren. Die Show lebte, neben ihrem diskussionswürdigen Humor, von der sorgfältig inszenierten Spontaneität der Auftritte, und sie erzeugte bald Anschlussformate wie eine eigene HBO-Comedy-Episode; eine weitere Verfilmung ist geplant. Die ersten Gespräche über die väterliche Erotik-Produktion wurde 2016 als satirisch verfremdeter »study guide« publiziert und lieferten damit besonders originelle Quellen für ein Seminar: Hier vermischen sich die bekannten Genres standardisierter Leseanweisung, wie sie von vielen Studierenden genutzt werden – Kommentare, Inhaltsangaben, Charakterisierungen, Motivanalysen und Musterdeutungen – mit einer Form von Komik, die Konventionen verletzt, Tabus über den Haufen wirft und Grenzen überschreitet. Das Schreiben und vor allem das Lesen steht im Zentrum der Entwicklung von My Dad Wrote a Porno: Man fragt sich, was der im Ruhestand erwachte Autor einer pornographischen Romanserie gelesen haben mag, warum sich sein Sohn entschlossen hat, aus diesem Werk Wort für Wort öffentlich vorzulesen und worin der Reiz besteht, der Dreierrunde von Quasi-Philologen zuzuhören, auch ohne sie auf der Bühne zu sehen. Zudem schießen in der crossmedialen Verwertung von »Belinda Blinked« viele Aspekte zusammen, die im vorliegenden Essay eine Rolle gespielt haben: Während pornographische Literatur ihre eigene Lesepraxis hervorgebracht hat, die sowohl das heimlich-hektische Blättern von ›Stelle‹ zu ›Stelle‹, aber auch gemeinsamen Konsum umfasst, transformiert das Comedyprojekt diese Traditionen in ein subversiv-geselliges Format, das implizite Normen drastisch sichtbar und hörbar macht. Mit diesen Transformationen und Transgressionen verbinden sich Fragen nach der Privatheit und Intimität des Lesens ebenso wie nach seiner Kontrollierbarkeit und Zensur. Und nach der Legitimität von Verwertungslogiken, der Funktionalität von Aufmerksamkeitsökonomien und der Bindungskraft von Stilgemeinschaften und Fan

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Communities. Wie britisch ist My Dad Wrote a Porno, und wie übersetzbar auf einem nur teilweise globalisierten Markt für Comedyformate? In einer Lehrveranstaltung, in der man My Dad Wrote a Porno zur Fallstudie machte, müsste natürlich danach gefragt werden, wer überhaupt über die Show lachen kann und mag; und es müsste abgeklärt werden, ob alle dazu bereit sind, sich mit den pornographischen Fantasien der vorgelesenen Texte im öffentlichen Raum des Seminars zu beschäftigen. Gelänge dies, ergäbe sich eine interessante Gelegenheit, um nicht allein historische Veränderungen von Lesegewohnheiten und Lektürestandards zu thematisieren, sondern auch den Lehr- und Lernraum des Seminars als institutionelle Rahmung und Rekonfiguration individueller Lesepraxis zu untersuchen. Eine solche grundlegende Erkundung von Praktiken und Formen universitären Lesens wäre idealerweise in jedem Fach als Bestandteil des Studienprogramms zu realisieren. Hier gälte es dann, die exemplarisch ausgewählten Materialien auf die jeweiligen disziplinären Gepf logenheiten und Anforderungen, Wissensbestände und Publikationsformen abzustimmen. Grundsätzlich wird in allen Fächern weiterhin gelesen werden, wenn auch in sehr unterschiedlicher Form: In einem weiteren Sinn geht es um die Kompetenz, z.B. Datensätze, Formeln und Visualisierungen zu decodieren; in einem engeren Sinn um die Lektüre von Vorlesungs-Skripten, Handbüchern, Zusammenfassungen, Protokollen, Abstracts, Studien, Gutachten, Bedienungsanleitungen und vielen anderen Textsorten in analoger und digitaler Form. Vor allem in den Ingenieur-, Technik-, Wirtschafts- und einigen Naturwissenschaften ist die Tendenz zu beobachten, Sprache vor allem als intentional steuerbares Werkzeug zur ›Verpackung‹ von Botschaften und zum ›Transport‹ von Inhalten zu behandeln; als möglichst wenig störendes Medium, mit dem sich Problemlösungskompetenzen möglichst effizient vermitteln lassen. Gleichzeitig bräuchte es angesichts drängender gesellschaftlicher Herausforderungen gerade in diesen Fächern auch eine Ausbildung zu ref lektierter Diskursivität; zu einem Umgang mit Sprache, ihren Technologien und Traditionen, der auch das

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Wissen um die Störanfälligkeit und Kontingenz von Kommunikation in modernen Gesellschaften umfasst. Aktuell wird die Vermittlung solcher kommunikativen Kompetenzen immer energischer unter dem Stichwort eines »Kulturwandels« der Wissenschaftskommunikation eingefordert. Letztere bezeichnet, in einem weitgefassten Sinn, nicht allein die Institutionen-Kommunikation, die PR und Vermarktung von Wissenschaft und ihren Einrichtungen, sondern auch die möglichst gleichberechtigte und partizipative Interaktion von Expertinnen und Laien, von Funktionseliten und Zivilgesellschaft. Und die interne Kommunikation innerhalb und zwischen Fachdisziplinen, und damit auch die Vermittlung von Wissensbeständen in der Lehre. Angesichts der Vehemenz, mit der politische Akteurinnen den f lächendeckenden Ausbau von Wissenschaftskommunikation angesichts von Fake News, multipler Faktizitätsansprüche und einer Kritik an Expertenkulturen anmahnen, wird nicht selten vorgeschlagen, das Thema Wissenschaftskommunikation bereits in der Bachelorphase in den Curricula zu verankern. Aus meiner Perspektive der wissenschaftspolitisch interessierten Kulturwissenschaftlerin regt sich angesichts solcher Forderungen Skepsis: Grundsätzlich wäre nachzufragen, ob sich im Wissenschafts- und Bildungssystem Vorstellungen eines intentional und instrumentell zu steuernden »Kulturwandels« realisieren lassen, die aus der Welt des Managements übernommen werden. Weitet man den Blick historisch, hat sich längst gezeigt, dass sich kulturelle Wandlungs- und Transformationsprozesse zwar rückblickend rekonstruieren lassen, aber nur selten jenen Steuerungsfantasien folgen, wie sie für die Führung von Unternehmen handlungsleitend sind. Darüber hinaus kursieren auch Vorstellungen von Wissenschaftskommunikation, die ähnlich instrumentalistischen Vorstellungen von kontrollierbarer Übermittlung und effizienter Zielgruppenversorgung verpf lichtet sind wie die Rede vom punktgenau auszulösenden Kulturwandel. Integrierte man diese in die Curricula z.B. der Ingenieurwissenschaften, so verstärkten sich hier just jene Tendenzen, die ohnehin dafür sorgen, die Diskursfähigkeit und -freude dieser Fachkulturen nicht gerade zu bef lügeln. Eine gut verankerte Lehrveranstaltung über die Lesepraktiken

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und -anforderungen im jeweiligen disziplinären Kontext könnte dagegen dafür sorgen, jene Ref lexivität schon früh einzuüben, die aus meiner Sicht auch ein unverzichtbares Element guter Wissenschaftskommunikation ist: Die Fähigkeit nämlich, das eigene Tun mit einem möglichst neugierig-verfremdenden Blick zu betrachten und dabei die Freude am Machen und am Können gerade nicht zu verlieren. Diese praxisbewusste Ref lexivität muss nicht elitär daherkommen; sie sollte nicht den Bewohnern imaginärer Elfenbeintürme überlassen werden. Sie hat ihren Ort und ihre Berechtigung inmitten des Studiums an einer Massenuniversität, in dem es gar nicht so viel Aufwand braucht, um das Lesen so zum Thema zu machen, dass es zum Schauplatz einer akademischen und gesellschaftlichen Selbstverständigung werden kann.

Anmerkungen

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Ralf Bollmann, Frauen, die lesen, sind gefährlich. Lesende Frauen in Malerei und Fotografie (München: Kunstmann, 2012). 2 Aus Gründen der Lesbarkeit ist mit Nennung der weiblichen Funktionsbezeichnung in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die männliche Form mitgemeint. 3 So hießen zwei Bände in der Bibliothek der Fazit-Stif tung, verfasst von Alois Weimer und Wolfram Weimer. 4 Katharina Raabe, Frank Wegner (Hg.), Warum Lesen. Mindestens 24 Gründe (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2020). 5 Ebd., S. 196, S. 216. 6 Maryanne Wolf, Reader, Come Home. The Reading Brain in a Digital World (New York: Harper, 2018). 7 Gerhard Lauer, Lesen im digitalen Zeitalter (Darmstadt: WBG, 2020), S. 227, S. 222. 8 Zum Konzept der Sozialfigur vgl. Tobias Schlechtriemen, Sebastian J. Moser, »Sozialfiguren – zwischen gesellschaftlicher Erfahrung und soziologischer Diagnose«, Zeitschrift für Soziologie 47/3 (2018), S. 164180. 9 Dank an Anne Brüggemann, die mich auf Wieners Buch aufmerksam gemacht hat. 10 Anna Wiener, Uncanny Valley (London: 4th Estate, 2020), S. 10. 11 Clayton Childress, Under the Cover. The Creation, Production and Reception of a Novel (Princeton: Princeton University Press, 2017). Zum Projekt einer Ethnographie des Lesens vgl. auch Jonathan Boyarin (Hg.), The Ethnography of Reading (Berkeley: University of California Press, 2003). 12 Wiener, Uncanny Valley, S. 29. 13 Ebd., S. 262.

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Szenen des Lesens 14 Exemplarisch dazu Hans Hansen, Narrative Change. How Stories

Transform Society, Business and Ourselves (New York: Columbia University Press, 2020). 15 Nico Pethes, »Leseszenen. Zur Praxeologie intransitiver Lektüren in der Literatur der Epoche des Buchs«, in: Irina Hron, Jadwiga KitaHuber, Sanna Schulte (Hg.), Leseszenen. Poetologie – Geschichte – Medialität (Heidelberg: Winter, 2020), S. 101-132, hier S. 110. 16 Ebd., S. 112. 17 Michael Hagner, »Lionel, der Leser«, in Raabe und Wegner, Warum lesen, S. 261. 18 Dazu auch Ulrich Johannes Schneider, Der Finger im Buch: Die unterbrochene Lektüre im Bild (Zürich: Piet Meyer Verlag, 2020), S. 20, und Hagner, »Lionel, der Leser«, S. 270. 19 Pethes, Leseszenen, S. 110. 20 Ebd., S. 130. 21 Ebd., S. 132. 22 Ebd., S. 107. 23 Michael Hagner, Zur Sache des Buches (Göttingen: Wallstein, 2015), und ders., Die Lust am Buch (Frankfurt a.M.: Insel, 2019). 24 Deirdre Shauna Lynch, Loving Literature. A Cultural History (Chicago, London: University of Chicago Press, 2015). 25 Ebd., S. 12. 26 Ich verwende hier bewusst nicht den englischen Begrif f des framing, weil dieser in jüngerer Zeit vor allem dann verwendet wird, wenn es um die unterkomplexe Rechtfertigung von instrumentalistischen kognitiven und diskursiven Strategien geht. 27 Erving Gof fman, Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1974). Gof fmans Analysen empfehlen sich Literaturwissenschaf tlerinnen auch, weil er selbst immer wieder auf literarische Texte zurückgreif t und somit in verschiedener Hinsicht als lesender Soziologe agiert. 28 Besonderer Dank gebührt Ricarda Menn für ihre genaue und zuverlässige Unterstützung in vieler Hinsicht, und Henrike Lambrecht und Julia Quast für ihre Formatierungshilfe. 29 In besonders anregender Weise diskutiert Andrew Piper die Grenzen zu einfacher Gegenüberstellungen von Analogen und Digitalem in Book Was There: Reading in Electronic Times (Chicago: Chicago UP, 2012). 30 Diese Überlegungen habe ich bereits in einem Blog-Beitrag unter https://blog.kulturwissenschaf ten.de/auf-ein-bier-mit-kommiss​ ar-maigret/ form​uliert und für das vorliegende Kapitel weiter ausgearbeitet.

Anmerkungen 31 Patricia Meyer Spacks, On Rereading (Cambridge, London: The

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Belknap Press of Harvard University Press, 2011), S.  2. Wladimir Nabokovs Essay »Good Readers and Good Writers« aus dem Jahr 1948 (in Fredson Bowers [Hg.], Vladimir Nabokov. Essays on Literature [San Diego, New York, London: Harcourt, 1980], S. 1-6) definiert das Wiederlesen in normativerer Weise: »Ein guter Leser, ein mündiger Leser, ein aktiver und schöpferischer Leser, ist immer ein WiederLeser.« Vgl. auch Merve Emres Befragung von Nabokovs Standards: http://bostonreview.net/literature-culture-arts-society/merve-em​ re-good-reader-bad-reader. Vgl. Lynch, Loving Literature, Kap. 4. Auf eine ähnliche Idee kam offenbar der britische Romancier John Lanchester, der sich vor kurzem im London Review of Books ebenfalls intensiv mit den Maigret-Romanen befasst hat: https://www.lrb. co.uk/the-paper/v42/n11/john-lanchester/maigret-s-room. So der Titel des vielgelesenen Blogs des 2013 verstorbenen Schriftstellers Wolfang Herrndorf. Vgl. das Interview, das Carvel Collins 1955 für Paris Match mit Georges Simenon geführt hat: https://www.theparisreview.org/ interviews/5020/the-art-of-fiction-no-9-georges-simenon. Vgl. auch Robert C. Courtine, Simenon und Maigret bitten zu Tisch: Die klassischen französischen Bistrorezepte der Madame Maigret (Zürich: Diogenes, 2009). Vgl. Moritz Baßler, »Bewohnbare Strukturen und der Bedeutungsverlust des Narrativs. Überlegungen zur Serialität am GegenwartsTatort«, in: Christian Hißnauer,  Stefan Scherer,  Claudia Stockinger (Hg.), Zwischen Serie und Werk. Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im »Tatort« (Bielefeld: transcript, 2015), S. 151-168. Heinz Bude, Bettina Munk, Karin Wieland, Aufprall (München: Hanser, 2020), S. 155. Leah Price, What We Talk About When We Talk About Books (New York: Hachette, 2019) S. 42f. Meyer Spacks, On Rereading, S. 242. Auch in Deutschland verbreitet sich das gesellige Lesen ›im Rudel‹ so stetig, dass schon Anleitungen wie Kerstin Hämkes Handbuch für Lesezirkel Ein Buch kommt selten allein (2018) zur Verfügung stehen. Die Literaturwissenschaftlerin Claudia Dürr hat als eine der ersten Forscherinnen im deutschsprachigen Raum Ethnographien ausgewählter Lesezirkel über einen längeren Zeitraum hinweg erstellt. Ich danke Volker Meyer-Guckel vom Stifterverband für hilfreiche Hinweise und die Perspektive, gemeinsam einen Fragebogen für die Teilnehmenden zu entwerfen, mit dem der Wettbewerb noch besser empirisch ausgewertet werden könnte. Auch das Thema »Eine

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Szenen des Lesens Uni – ein Buch« habe ich bereits auf dem KWI-Blog in einer kürzeren Version zur Diskussion gestellt: https://blog.kulturwissenschaften. de/gemeinsam-lesen/. 43 Danielle Fuller und DeNel Rehberg Sedo haben in Reading Beyond the Book. The Social Practices of Contemporary Literary Culture (London: Routledge, 2013) sogenannte »mass reading events« und insbesondere »One Book, One Community«-Formate als Beispiele für geteilte soziale Lektürepraktiken empirisch untersucht. Diese Formate entstanden in den USA, Kanada und UK seit 1998 und erlebten in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts auch in Europa und Australien eine Blütezeit. Sie variieren in ihrer Skalierung und existieren als unterschiedliche Kombinationen von öffentlichen und privatwirtschaftlichen Organisations- und Finanzierungsformen. Im akademischen Bereich wurden sie z.B. an Universitäten eingesetzt, um Erstsemester in ihre Hochschule zu integrieren. 44 Siehe https://www.stifterverband.org/eine-uni-ein-buch. 45 Dieser Eindruck verstärkt sich noch beim Blick auf die Ausgezeichneten des Jahrgangs 2021, die für die hier vorgenommene Analyse noch nicht berücksichtigt werden konnten. Vgl. https://www.stifter​ verband.org/eine-uni-ein-buch. 46 Dies strebt auch das 2019 gegründete »Netzwerk Leseforschung« an: https://www.netzwerk-leseforschung.fau.de. 47 Freiherr von Knigge, Über den Umgang mit Menschen, hg. von KarlHeinz Göttert (Stuttgart: Reclam, 1991), S. 9: »Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschrif ten einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.« 48 Ebd. (»Über Lektüre«), S. 414. Für den Hinweis auf diese Passage danke ich Simon Godart. 49 Lynch, Loving Literature, Kap. 2. 50 Mortimer J. Adler, Charles Van Doren, How to Read a Book. The Classic Guide to Intelligent Reading (New York: Touchstone, 1972). 51 Jonathan Bate, Andrew Schuman, »Books do furnish a mind: the art and science of bibliotherapy« Lancet 387 (2016), S. 742f. 52 Zu letzteren zählen Titel wie Bücher auf Rezept, Lesen macht gesund, Poesie und Therapie, Lesen als Medizin sowie wie Karin Schneuwlys Buch Glück besteht aus Buchstaben (2017), das eine Geschichte der Lebensbewältigung durch Lesen erzählt. Schneuwly tritt zudem als »Lesetherapeutin« auf, die Ratschläge zur Bewältigung von psychischen Krisen mit Hilfe von Lektüren gibt.

Anmerkungen 53

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Ella Berthoud, Susan Elderkin, The Novel Cure: An A to Z of Literary Remedies (New York: Canongate, 2015); Traudl Bünger, Ella Berthoud, Susan Elderkin, Die Romantherapie. 253 Bücher für ein besseres Leben (Frankfurt a.M.: Insel, 2014). Berthoud, Elderkin, Romantherapie, S. 264f. Felicitas von Lovenberg, Gebrauchsanweisung (München: Piper, 2017), S. 114. Ebd., S. 33. Vgl. u.a. Rita Felski, Uses of Literature (London: Blackwell, 2008) und Hooked. Art and Attachment (Chicago: Chicago University Press, 2020); Lauren Berlant, Cruel Optimism (Durham: Duke University Press, 2011); Eve Kossowsky Sedgwick, Touching Feeling – Affect, Pedagogy, Performativity (Durham: Duke University Press, 2003); Janice Radway, Reading the Romance (Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1984). Jochen Hörisch, Die ungeliebte Universität: Rettet die alma mater! (München: Hanser, 2006). Vgl. dazu auch Julika Griem, »Lichtgestalt im Modernisierungsdunkel. William Stoner als Projektionsfläche für nostalgische Bildungskritik«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2 (2015), S. 111-122. Von Lovenberg, Gebrauchsanweisung, S. 39. Denis Scheck, Schecks Kanon. Die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur (München: Piper, 2019), S. 8f. Ein aktuelles Beispiel für diesen Diskurs findet sich in einer Ankündigung des neuen Buchs Wonderworks des Erzählforschers Angus Fletcher: »The evidence will be taken from my book Wonderworks (New York: Simon & Schuster, 2021), which draws on neuroscience, experimental psychology, and narrative theory to identify twenty-five global literary inventions […] that can plug into our brain to alleviate trauma (both acute and chronic), increase problem-solving prowess, enhance creativity, mimic the anti-depressant ef fects of LSD, boost mental energy, spark love, encourage empathy, and nurture mental health and wellbeing in dozens more ways. We’ll see how reading Jane Austen can make us better friends. How watching Tina Fey’s 30 Rock can increase our odds (impossible as it sounds) that our dreams will come true. How reading Homer can boost our courage. How watching Hamlet can facilitate grieving. How reading Maya Angelou can foster personal growth. How reading the Epic of Sundiata can turn us into more active learners. How watching Disney Plus can, well, not damage us exactly, but, like corn syrup, be unhealthy in more than modest quantities.«

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https://www.deutschlandfunkkultur.de/felicitas-von-lovenbergim-inter​v iew-lesen-ist-zaehneputzen.1270.de.html?dram:articl​ e_id=415993. 63 Scheck, Schecks Kanon, S. 16. 64 Vgl. Wolf, Reader, Come Home. 65 Naomi S. Baron, On Screen. The Fate of Reading in a Digital World (Oxford: Oxford University Press, 2015). 66 Scheck, Schecks Kanon, S. 11f. 67 Dazu Peter Strohschneider, Zumutungen. Wissenschaft in Zeiten von Populismus (München: Edition Kursbuch, 2020) und Alexander Bogner, Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet (Leipzig: Reclam, 2021). 68 Steve McCurry, Lesen. Eine Leidenschaft ohne Grenzen (München: Prestel, 2016). 69 Ebd., S. 9. 70 Dazu auch Sollors, Schrift in bildender Kunst, und Schneider, Der Finger im Buch. 71 Price, What we talk about, S. 23. 72 Siehe https://shop.zeit.de/sortiment/buecher/ausgewaehltes/2520/ buecher-fuer-das-ganze-leben-personalisiert#350ed7bdd22​352ad​ 18578b5447145009. 73 Siehe https://shop.zeit.de/sortiment/buecher/ausgewaehltes/2521/ kontinent-der-buecher-personalisiert#10f69178062c7528b1497cb31 39b8236. 74 Igor Kopytof f, »The cultural biography of things: commoditization as process«, in: Arjun Appadurai (Hg.), The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective (Pennsylvania: Cambridge University Press), S. 64-91. 75 Ebd., S. 70. 76 Lucien Karpik, Mehr Wert: Die Ökonomie des Einzigartigen (Frankfurt a.M.: Campus, 2011); Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2017) sowie Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie (Bielefeld: transcript, 2016), S. 271-286. 77 Will man die Konsumsphären verstehen, die Wolfgang Ullrich als »Lebenswelten« beschrieben hat, gilt es zu verbinden, was Rita Felski als »specialness« und »connectedness«, als »singularity« und »worldliness« auch für Leseprozesse benannt hat. Vgl. Felski, »Context Stinks!«, in: New Literary History 42/4 (2011), S. 573-591, hier S. 584, S. 576. 78 Reckwitz, Kreativität und soziale Praxis, S. 231. 79 Siehe https://dieliebezudenbuechern.de/ich/.

Anmerkungen 80 Vgl. https://post45.org/sections/contemporaries-essays/slowburn/;

siehe auch Kapitel V. Hanya Yanagihara, A Little Life (London: Picador, 2015). 82 https://www.theguardian.com/books/2017/aug/12/homes-authorhan​ya-yanagihara-new-york-12000-books. 83 https://klappentexterin.wordpress.com/2017/01/27/ein-wenigauszeit-mit-ha​nya-yanagihara-das-lesetagebuch-teil-2/. 84 Siehe https://www.instagram.com/explore/tags/reating/?hl=de. 85 Vgl. Peter Kümmel, »Die ›umgekehrten‹ Bibliotheken«, DIE ZEIT, 11.1.2018, S. 43. 86 Vgl. Werner Sollors, Schrift in bildender Kunst, und Schneider, Der Finger im Buch. 87 Siehe https://www.nouvelobs.com/bibliobs/20210204.OBS39790/ca​ milla-parker-bowles-charlotte-de-monaco-la-lecture-est-elle-reser​ vee-aux-prin​cesses.html. Merci an Klaus Benesch! 88 Das beste Buch zur Praxis und Bedeutung Oprah Winfreys stammt von Eva Illouz: Oprah Winfrey and the Glamour of Misery (New York: Columbia University Press, 2003). 89 Vgl. auch https://www.wattpad.com/?locale=de_DE. 90 https://www.wattpad.com/story/146102422-p-c-%27s-leseratgeber. 91 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=0uBlCeLPTXE. 92 Franco Moretti, Distant Reading (Konstanz: Konstanz University Press, 2016). 93 Vgl. George E. Pozzetta, Gary R. Mormino, »The Reader and the Worker: ›Los Lectores‹ and the Culture of Cigarmaking in Cuba and Florida«, in: International Labor and Working Class History 54 (1998), S. 1-18; Keith Ludden, »El Lector: A History of the Cigar Factory Reader (review)«, Oral History Review 38/2 (2011), S. 405-440. Den Hinweis auf diese Tradition kollektiven Lesens verdanke ich Stefan Höhne. 94 https://www.getabstract.com/de/. 95 Ebd. 96 Siehe https://www.getabstract.com/de/pages/jsp/Story.jsp. 97 2013 wurde Dobelli vorgeworfen, aus einem Bestseller des Börsenhändlers Nicholas Taleb – einem für getAbstract typischen Titel – abgeschrieben zu haben. Diese Episode wirf t die Frage nach dem Umgang mit Urheberrechten bei Lesedienstleistern auf: Sie müssen zwischen der eigenständig formulierenden Zusammenfassung und der Widergabe von Originalpassagen unterscheiden, aber es ist vorstellbar, dass in dynamischen multiplen Verwertungsprozessen nicht immer klar überschaut wird, wer für welche Texte verantwortlich ist. Solche Zuschreibungsprobleme potenzieren sich möglicherweise, sobald hinter der Fassade eines 81

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Dienstleisters viele unsichtbare Autorinnen und Autoren zusammenfassen, damit sich auf der Kundenseite Leistungsträger über den schnelllebigen Sachbuch- und Ratgebermarkt orientieren können. Siehe https://www.getabstract.com/de/subscribe/products. Siehe https://www.blinkist.com/de/about. Siehe https://www.getabstract.com/de/how-it-works/overview. Siehe https://www.blinkist.com/de/about. Siehe https://roi-online.ch/unternehmen/informiert_mit_getabstr​ act/. Siehe https://www.blinkist.com/magazine/posts/wie-verschaf f tman-ei​ner-app-millionen-downloads-herr-seim. So eine Testerin auf lesen.net: https://www.lesen.net/artikel/ blinkist-im-test-das-taugen-die-fachbuch-zusammenfassung​en104287/. Vgl. Thorsten Schröder in der ZEIT: https://www.zeit.de/digital/mo​ bil/2014-02/app-blinkist-buecher-zusammenfassung?utm_refer​ rer=https %3A %2F %2Fwww.google.com. Siehe https://www.lesen.net/artikel/blinkist-im-test-das-taugendie-fachb​uch-zusammenfassungen-104287/. Siehe https://www.blinkist.com/magazine/posts/wie-verschafftma​n-einer-app-millionen-downloads-herr- seim?utm_source=cpp. Siehe https://www.theguardian.com/books/series/digestedread. Siehe https://www.blinkist.com/magazine/posts/wie-verschafftman-eine​r-app-millionen-downloads-herr-seim. Vgl. auch Claudia Dürr, die in einer noch unpublizierten ethnographischen Studie drei Lesegruppen über einen längeren Zeitraum hinweg begleitet hat: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ keiner-liest-allein. Viele Hinweise zu Lesungen als Forschungsgegenstand verdanke ich im Rahmen der »Schreibszene Frankfurt« Lena Vöcklinghaus mit ihrem Dissertationsprojekt »Zeitgenössische Autor*innenlesungen. Rahmen, Phänomene, Performanz«. Liana Giorgi, Monica Sassatelli, George Delanty (Hg.), Festivals and the Cultural Public Sphere (London: Routledge, 2011). Wikipedia listete im März 2021 für die Schweiz 8, für Österreich 13 und für Deutschland 45 Festivals, darunter zahlreiche, die nach dem Modell »Eine Stadt liest ein Buch« organisiert sind. Vgl. Georg Simmel, »Soziologie der Geselligkeit«, in: Verhandlungen des 1. Deutschen Soziologentags (Tübingen 1911), S. 1-16. Giorgi, Sassatelli, Delanty, Festivals, S. 37.

Anmerkungen 116 James English, »Festivals and the geography of culture: African cine-

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ma in the ›world space‹ of its public«, in Giorgi, Sassatelli, Delanty, Festivals, S. 63-78, hier S. 63 und 64; grundsätzlicher in The Economy of Prestige. Prizes, Awards and the Production of Cultural Value (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2005). Vgl. auch Julika Griem, »From Product Placement to Boundary Work: Further Steps towards an Integrated Sociology of Literary Communication«, in: ZAA 69/1 (2021), S. 57-76. Vgl. dazu beispielhaft die Pressearbeit des Festivals in Cheltenham: https://www.cheltenhamfestivals.com/news/2020/08/the-timesand-the-sunday-times-cheltenham-literature-festival-revealsspectacular-line-up-for-pioneering-digital-instalment-of-the-wo​ rlds-oldest-literature-festival-. Vgl. dazu Kevin Kempke, Vorlesungsszenen der Gegenwartsliteratur. Die Frankfurter Poetikvorlesungen als Gattung und Institution (Göttingen: Wallstein, 2021). Vgl. Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch (Berlin: Matthes & Seitz, 2017). Martin Puchner, The Written World (Cambridge: Harvard University Press, 2017), S. 335. Auf eine ebenfalls heroische Dramaturgie setzt Angus Fletcher in seinem gerade erschienenen Buch Wonderworks. The 25 Most Powerful Inventions in the History of Literature (New York: Simon & Schuster, 2021). Vgl. auch Griem, »From Product Placement to Boundary Work«, S. 70f. Jeanine Cummins, American Dirt (New York: Flatiron Books, 2019) Ebd., S. 77. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Das_magische_Baumhaus. Sandra Beckett, Transcending Boundaries. Writing for a Dual Audience of Children and Adults (New York: Taylor & Francis, 1999). Siehe https://kinderundjugendmedien.de/index.php/begriffe-undtermini​/494-crossoverall-age-literatur. Auf diese Entwicklung reagierte der Kinder- und Jugendbuchkritiker Tilman Spreckelsen mit seinem Artikel »Feindliche Übernahme. Warum die Kinder- und Jugendliteratur sich endlich von ihrer erwachsenen Leserschaft emanzipieren muss: Plädoyer für einen Befreiungsschlag« in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (07.08.2009), S. 29. Oliver Jef fers, Sam Winston, A Child of Books (Somerville: Candlewick Press, 2016). Ich danke Sabine Voßkamp für dieses Beispiel. John Green, The Fault in our Stars (New York: Penguin, 2013). Siehe https://www.youtube.com/watch?v=_f9Rkdg7BR8.

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Szenen des Lesens 133 Vgl. https://lithub.com/dear-oprah-winfrey-82-writers-ask-you-to-re​

consid​er-american-dirt/; und https://tropicsofmeta.com/2019/12/12/ pendeja-you-aint-steinbeck-my-bronca-with-fake-ass-social-justice-literature/. 134 https://www.oprah.com/app/books.html. 135 Der Begrif f stammt von Thomas J. Gieryn, »Using the Boundaries of Science to do Boundary-Work among Scientists: Pollution and Purity Claims«, in: Science and Public Policy 34/9 (2007), S. 633-643. 136 Vgl. auch Griem, »From Product Placement to Boundary Work« (im Druck). 137 Melisa Erkurt, Generation haram. Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben (Wien: Zsolnay, 2020). 138 Vgl. Carlos Spoerhase, »Politik der Form. Autosoziobiographie als Gesellschaf tsanalyse«, in: Merkur 71/818 (2017), S. 27-37. 139 Mit diesen Beobachtungen fasse ich einige Aspekte zusammen, die ich bereits in »Arbeit am Auf tritt. Vom Nutzen und Nachteil akademischer Beratungsangebote«, in: Thomas Etzemüller (Hg.), Der Auftritt. Performanz in der Wissenschaft (Bielefeld: transcript, 2019), S. 59-57, behandelt habe. 140 Didier Eribon, Rückkehr nach Reims (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2016), S. 155. 141 Annie Ernaux, Der Platz (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2020), S. 53. 142 Ebd., S. 54. 143 Eribon, Rückkehr nach Reims, S. 218. 144 Ebd., S. 152f. 145 Ernaux, Der Platz, S. 94. 146 Ebd., S. 93. 147 So z.B. die Selbstbeschreibung der Autorin bei ihrem deutschen Verlag: https://www.suhrkamp.de/person/annie-ernaux-p-14816. 148 Annie Ernaux, Die Scham (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2020) 149 Annie Ernaux, Die Jahre (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2017), S. 110f. 150 Vgl. dazu Die Jahre, S. 225: »Pierre Bourdieu, der kritische Intellektuelle, den kaum jemand kannte, starb, wir hatten nicht einmal gewusst, dass er krank gewesen war. Er ließ uns keine Zeit, seine Abwesenheit vorwegzunehmen, uns daran zu gewöhnen. Unter denjenigen von uns, die sich nach der Lektüre seiner Werke befreit gefühlt hatten, verbreitete sich ein seltsamer Schmerz. Wir fürchteten, dass mit seinem Tod auch sein Denken in uns erlöschen würde, wie zuvor das von Sartre. Dass wir uns von der Welt der Meinungen vereinnahmen lassen würden.« 151 Vgl. auch Julika Griem, »Großes und Kleines bei Karl Ove Knausgård und Elena Ferrante«, in: Frieder von Ammon, Michael Waltenberger

Anmerkungen (Hg.), Mikrokosmen. Spannungskonstellationen zwischen Partikularem und Universalem (Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2021) (im Druck). 152 Bude, Munk, Wieland, Aufprall, S. 41. 153 Ebd., S. 151. 154 Ebd., S. 256. 155 Ebd., S. 86. 156 Ebd., S. 271-273. Dazu auch schon Pierre Bayard, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat (München: Kunstmann, 2007). 157 Dank an Tobias Schlechtriemen! 158 Vgl. Ulrich Raulff, Wiedersehen mit den Siebzigern: Die wilden Jahre des Lesens (Stuttgart: Klett-Cotta, 2015), und Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990 (Frankfurt a.M.: Fischer, 2016). 159 Bude, Munk, Wieland, Aufprall, S. 303. 160 Ebd., S. 301. 161 Ebd., S. 313f. 162 Das kollektive Leseexperiment ist auf dem folgenden Blog nachzulesen: https://post45.org/sections/contemporaries/slowburn/. 163 Sarah Chihaya, Merve Emre, Katherine Hill, and Jill Richards, The Ferrante Letters. An Experiment in Collective Criticism (New York: Columbia University Press, 2020), S. 123-150, S. 123. 164 Ebd., S. 92. 165 Chihaya, Emre, Hill, Richards, »Introduction: Collective Criticism«, Ferrante Letters, S. 8. 166 Ebd., S. 30. 167 Ebd., S. 19 168 Ebd., S. 19. 169 Ebd., S. 11. 170 Ebd., S. 17. 171 Vgl. auch Julika Griem, »Wissenschaft als Spiel? Alternative Wertsetzungen zwischen Ökonomisierung und Kulturkritik«, in: Heinz Drügh, Vinzenz Hediger, Johannes Völz (Hg.), Kunst als Wertschöpfung. Zum Verhältnis von Ökonomie und Ästhetik (Berlin: August Verlag, 2021) (im Druck). 172 Chihaya, Emre, Hill, Richards, Ferrante Letters, S. 6. 173 Ebd., S. 125. 174 Zur Geschichte akademischer Gruppenbildung vgl. Hanna Engelmeier, David Kuchenbuch, Timo Luks (Hg.), Die Gruppe. Zur Geschichte und Theorie eines folgenreichen Konzepts. Mittelweg 36, Heft 6-1 (2019/2020). 175 Spoerhase, Nachwort, S. 250-251.

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Szenen des Lesens 176 Als neue Übersichtsdarstellungen zur Leseforschung empfehlen sich nicht nur für die Lehre die folgenden Handbücher: Ursula Rautenberg, Ute Schneider (Hg.), Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch (Berlin: De Gruyter Oldenburg, 2016); Rolf Parr, Alexander Honold (Hg.), Grundthemen der Literaturwissenschaft: Lesen (Berlin: De Gruyter, 2018). 177 Björn Krey, Textarbeit. Die Praxis des wissenschaftlichen Lesens (Berlin/ Boston: de Gruyter, 2020), S. IX. 178 Ebd., S. 21. 179 Ebd., S. VIII 180 Ebd., S. 30. 181 Ebd., S. 127. 182 Vgl. auch Steffen Martus, Carlos Spoerhase, »Praxeologie der Literaturwissenschaft«, in: Geschichte der Germanistik 35/36 (2009), S. 89–96. 183 Gilbert Ryle, The Concept of Mind (Chicago: Chicago University Press, 1949), Kapitel II. 184 Andrea Albrecht, Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle (Hg.), Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens (Berlin: de Gruyter, 2015). 185 Steffen Martus, »Epistemische Dinge«, in: Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens, S. 32-51, hier S. 33. 186 Ebd., S. 31-32. 187 Krey, Textarbeit, S. 13. 188 Vgl. zum Prinzip einer Erkenntnis stiftenden »Befremdung der eigenen Lesekultur« auch Krey, Textarbeit, S. 34. 189 Vgl. https://www.mydadwroteaporno.com. 190 Auch diesen Hinweis verdanke ich Stefan Höhne.

Literaturwissenschaft Klaus Benesch

Mythos Lesen Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter März 2021, 96 S., Klappbroschur, Dispersionsbindung 15,00 € (DE), 978-3-8376-5655-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5655-2

Werner Sollors

Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen 2020, 150 S., kart., Dispersionsbindung, 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1

Achim Geisenhanslüke

Der feste Buchstabe Studien zur Hermeneutik, Psychoanalyse und Literatur Januar 2021, 238 S., kart. 38,00 € (DE), 978-3-8376-5506-3 E-Book: PDF: 37,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5506-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literaturwissenschaft Ulfried Reichardt, Regina Schober (eds.)

Laboring Bodies and the Quantified Self 2020, 246 p., pb. 40,00 € (DE), 978-3-8376-4921-5 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4921-9

Renata Cornejo, Gesine Lenore Schiewer, Manfred Weinberg (Hg.)

Konzepte der Interkulturalität in der Germanistik weltweit 2020, 432 S., kart., Dispersionsbindung, 6 SW-Abbildungen 50,00 € (DE), 978-3-8376-5041-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5041-3

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 11. Jahrgang, 2020, Heft 2: Das Meer als Raum transkultureller Erinnerungen Januar 2021, 258 S., kart., Dispersionsbindung, 25 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4945-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4945-5

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