Feuerbach, Wygotski & Co. Studien zur Grundlegung einer Psychologie des gesellschaftlichen Menschen 3050025352, 388619728X

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Feuerbach, Wygotski & Co. Studien zur Grundlegung einer Psychologie des gesellschaftlichen Menschen
 3050025352, 388619728X

Table of contents :
Vorwort IX
Anmerkungen zum Vorwort XXXVI
Ludwig Feuerbach: ein unbekannter Prominenter -
Methodologische Überlegungen zum Verhältnis von Marxismus und
»Feuerbachianismus« 1
1. Ein »toter Hund«? 1
2. Feuerbachs Verhältnis zur revolutionären Arbeiterbewegung -
die politische Dimension seiner »Heidelberger Vorlesungen«
von 1848/49 4
3. »Der Materialismus ist die einzige solide Grundlage der Moral« 8
4. »Keime einer materialistischen Auffassung der Geschichte«:
das Feuerbach-Bild G.W. Plechanows und W.I. Lenins 10
5. Kritische Anmerkungen zu F. Engels' »Ludwig Feuerbach« 12
6. ».. und. ein Leben e vernünftig « 1 e Einheit von Kopf und Herz, von Denken 6
7. Plechanows Entwurf einer »Psychologie des gesellschaftlichen
Menschen« 20
8. Plädoyer fur einen radikalen PerspektivWechsel 22
9. Das »Purgatorium der Gegenwart« 28
Anmerkungen zur 1. Studie 31
Gegenständlichkeit, Sozialität, Historizität - Versuch einer
Rekonstruktion der Feuerbach-Wygotski-Linie in der Psychologie 43
Vorbemerkung 43
1. Abriss der psychologischen Anschauungen Ludwig Feuerbachs -
die Problematik ihrer Rezeption in der offiziellen Psychologie 46
L1. Feuerbachs Haltung in der »Grundfrage« der Psychologie 46
7.2. Die Gegenständlichkeit (= Gegenstandsbezogenheit) der
menschlichen Psyche 48
1.3. Die soziale Bedingtheit der menschlichen Psyche 53
1.4. Die Verankerung der »Seelenkräfte« in der Geschichte oder
die Historizität der menschlichen Persönlichkeit 59
1.5. Zur Problematik der Rezeption der Anschauungen Feuerbachs
in der offiziellen Psychologie 62
2. Wygotskis Sicht auf Feuerbach als »Methodologen« der
materialistischen Psychologie - seine »kulturhistorische Theorie« 67
2.1. Kursorischer Überblick über die Entwicklung der Auffassungen
Wygotskis im Zeitraum von 1925 bis 1931/32 68
2.2. Die Ausgangsversion der »kulturhistorischen Theorie« 70
2.3. Die revidierte Fassung des »kulturhistorischen« Ansatzes 75
3. Die Kampagne gegen A.M. Deborin und die antifeuerbachianische
Wende in der sowjetischen Philosophie -
Wygotskis 'krypto-feuerbachianischer' Ansatz 87
3.1. Die Kampagne gegen A.M. Deborins »Idealismus
menschewistischer Prägung« und ihre Folgen 87
3.2. Wygotskis Piaget-Kritik 94
3.3. Die »Sozialpsychologie« des Säuglings 106
4. Gedanke und Wort 109
4.1. Die »Zusammenarbeit« als Ursprung der höheren
psychischen Funktionen 110
4.2. »... daßjedes Ding einen Namen habe« 114
4.3. Zur Funktion und Spezifik von »innerer« Sprache und
Schriftsprache 117
4.4. Bedeutung und Sinn als Schlüsselbegriffeßr das Verständnis
der inneren Beziehungen von Denken und Sprache 122
Anmerkungen zur 2. Studie 127
Die verborgenen Quellen des leontjewschen
»Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzepts - Eine
historisch-methodologische Studie 167
1. Einleitende Bemerkungen zu Gegenstand und
Aufgabenstellung der Studie 167
2. Wygotskis Auffassung von der Eigenart des menschlichen
Bewusstseins und den Mechanismen der sozial-historischen Erfahrung
als Referenzsystem des leontjewschen
»Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzepts 168
3. Kurzcharakteristik des leontjewschen
»Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzepts , 173
4. Die leontjewschen Auffassungen im Spiegel der Kritik
S.L. Rubinsteins . 176
5. Eine Konzeption, die man auf eigene Rechnung und
Gefahr vertreten muss? 180
6. Wygotski als Schiedsrichter zwischen Leontjew und Rubinstein 190
7. Philologischer Exkurs: Was bedeutet »Vergegenständlichung«
bei Marx? 196
8. Im Zweifelsfalle Hegel? 209
9. Di uned lazarus-steinthalsch das Konstrukt des »objektive e »Völkerpsychologie n Geistes« 21 « 6
10. Von Lazarus über Lilienfeld zu Leontjew?
Explikation einer Arbeitshypothese 230
11. Schlussbetrachtung 241
Anmerkungen zur 3. Studie 242
»Behinderung« als pädagogisch-psychologisches Problem
und als sozial-ethische Herausforderung -
Humanistischer Materialismus konkret 283
1. Apropos Bruckberg: Einleitende Überlegungen zur
Behindertenproblematik als Gegenstand einer »solidaristischen Ethik«
im
Sinne des humanistischen Materialismus L. Feuerbachs 283
2. Wygotskis Programm einer integrativen Behindertenpädagogik 286
3. Feuerbachische Elemente in Wygotskis Konzeption der Defektivität.... 292
4. Das Verhältnis von »Technischem« und »Sozialem«
in Wygotskis Ansatz einer integrativen Behindertenpädagogik 296
5. Die Verdrängung des von Wygotski initiierten Ansatzes aus dem
offiziellen Diskurs der sowjetischen Defektologie und ihre Folgen 302
6. Das »Sagorsker Experiment« - Mythos und Wirklichkeit 304
7. Biologie und »objektiver Geist« - die theoretischen Grundlagen
der Taubblinden-Pädagogik A. Meschtscheijakows 318
8. Der Verlust des i.e.S. »Sozialen« als wesentliches Defizit
der Konzeption Meschtscheijakows 327
9. Ansätze zu einer Neuinterpretation des »Sagorsker Experiments«
im Lichte der Auffassungen Wygotskis 331
Anmerkungen zur 4. Studie 347
Literaturverzeichnis 363
Personenregister 381

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Peter Keiler

Feuerbach, Wygotski & Co. Studien zur Grundlegung einer Psychologie des gesellschaftlichen Menschen

Reihe Psychologie 6 Argument

Peter Keiler

Feuerbach, Wygotski & Co. Studien zur Grundlegung einer Psychologie des gesellschaftlichen Menschen

Reihe Psychologie 6 Argument

Die Erstfassung der 1. Studie erschien unter dem Titel »... und z.B. Feuerbach« im Konsequent-Sonderband 7 (»Marxismus im Umbruch«), Januar 1989. Die Erstfassung der 2. Studie ist erschienen im Forum Kritische Psychologie (FKP) 27, 1991, ISSN 0720-0447. Die Erstfassung der 4. Studie erschien unter dem Titel »"Behinderung" als pädagogischpsychologisches Problem und als sozial-ethische Herausforderung - Feuerbachische Elemente in L.S. Wygotskis Konzeption kindlicher Defektivität« im Rahmen des von H.-J. Braun herausgegebenen Sammelbandes Solidarität oder Egoismus: Studien zu einer Ethik bei und nach Ludwig Feuerbach, Akademie-Verlag, Berlin 1994, ISBN 3-05-002535-2.

Die Reihe Psychologie erscheint mit separater Bandzählung im Rahmen der Reihe Edition Philosophie und Sozialwissenschaften

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Keiler, Peter: Feuerbach, Wygotski & Co.: Studien zur Grundlegung einer Psychologie des gesellschaftlichen Menschen / Peter Keiler. Berlin; Hamburg: Argument, 1997 (Edition Philosophie und Sozialwissenschaften: Reihe Psychologie; 6) ISBN 3-88619-728-X

NE: Edition Philosophie und Sozialwissenschaften / Reihe Psychologie Alle Rechte vorbehalten © Argument-Verlag Berlin, Hamburg 1997 Argument-Verlag, Eppendorfer Weg 95a, 20259 Hamburg PC-Texterfassung und Satz durch den Autor Umschlaggestaltung nach einem Entwurf von Johannes Nawrath, Hamburg Druck: Difo-Druck, Bamberg Erste Auflage 1997

»Von den Anfängen des Menschengeschlechtes an waren die Menschen aufs engste durch Gesellschaft und Lebensgemeinschaft miteinander verbunden. Das Tier ist als Einzelwesen Tier. Die Menschen hingegen sind nur als der Eine Mensch, als Menschengattung, als Ein Ganzes, als Eine Gesellschaft wirklich Menschen. Der Ursprung der Vernunft, soweit sie im Einzelmenschen vorhanden ist, ist aus dem Ganzen, das früher als seine Teile ist, wie wir mit Aristoteles festzustellen durch die Vernunft selbst gezwungen sind, ist aus dem Anderen und der Anschauung desselben, ohne die der Einzelne sich weder seiner selbst noch der Dinge, die ihm von außen entgegentreten, bewußt wäre, sie ist überhaupt aus seiner Verbindung mit dem Anderen herzuleiten. Der Mensch ist folglich mit dem Anderen derart verbunden und vereint, daß der einzelne Mensch nur etwas Angenommenes ist; und wenn wir einen Menschen suchen wollten, der noch nicht durch die Menschengesellschaft beeinflußt ist, an dem wir feststellen könnten, was der Mensch außerhalb der Gesellschaft wäre, so müßten wir solch einen Menschen suchen, der weder gezeugt noch geboren, sondern aus dem Nichts erschaffen wäre.« L. Feuerbach (aus der Habilitationsschrift von 1828) »Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« K. Marx (aus den sogenannten »Feuerbachthesen« von 1845) »Die heutige Psychologie nämlich ist individuelle Psychologie, d.h. ihr Gegenstand ist das seelische Individuum, wie es sich ganz allgemein in jedem beseelten Wesen, dem Menschen und auch, bis auf einen gewissen Punkt, dem Thiere offenbart. Nun ist es aber eine wesentliche Bestimmung der menschlichen Seele, nicht ein für sich allein stehendes Individuum zu sein, sondern einer Gemeinschaft anzugehören ... Das Individuum kann also gar nicht vollständig begriffen werden ohne Rücksicht auf die geistige Gesamtheit, in der es entstanden ist und lebt.« »Jede andere Auffassung ... kann eine nothwendige wissenschaftliche Fiction sein, wie die mathematische Linie, der mathematische Punkt, der Fall im luftleeren Räume; ergreift aber den Menschen keineswegs nach seinem wirklichen Dasein.« H. Steinthal (aus »Grammatik, Logik und Psychologie« von 1855)

INHALT Vorwort Anmerkungen zum Vorwort

IX XXXVI

Ludwig Feuerbach: ein unbekannter Prominenter Methodologische Überlegungen zum Verhältnis von Marxismus und »Feuerbachianismus«

1

1. Ein »toter Hund«?

1

2. Feuerbachs Verhältnis zur revolutionären Arbeiterbewegung die politische Dimension seiner »Heidelberger Vorlesungen« von 1848/49

4

3. »Der Materialismus ist die einzige solide Grundlage der Moral«

8

4. »Keime einer materialistischen Auffassung der Geschichte«: das Feuerbach-Bild G.W. Plechanows und W.I. Lenins

10

5. Kritische Anmerkungen zu F. Engels' »Ludwig Feuerbach«

12

6. »... vernünftige Einheit von Kopf und Herz, von Denken und eine Leben«

16

7. Plechanows Entwurf einer »Psychologie des gesellschaftlichen Menschen«

20

8. Plädoyer fur einen radikalen PerspektivWechsel

22

9. Das »Purgatorium der Gegenwart«

28

Anmerkungen zur 1. Studie

31

Gegenständlichkeit, Sozialität, Historizität - Versuch einer Rekonstruktion der Feuerbach-Wygotski-Linie in der Psychologie

43

Vorbemerkung

43

1. Abriss der psychologischen Anschauungen Ludwig Feuerbachs die Problematik ihrer Rezeption in der offiziellen Psychologie

46

L1. Feuerbachs Haltung in der »Grundfrage« der Psychologie 7.2. Die Gegenständlichkeit (= Gegenstandsbezogenheit) der menschlichen Psyche

46 48

VI 1.3. Die soziale Bedingtheit der menschlichen Psyche

53

1.4. Die Verankerung der »Seelenkräfte« in der Geschichte oder die Historizität der menschlichen Persönlichkeit

59

1.5. Zur Problematik der Rezeption der Anschauungen Feuerbachs in der offiziellen Psychologie 2. Wygotskis Sicht auf Feuerbach als »Methodologen« der materialistischen Psychologie - seine »kulturhistorische Theorie«

62 67

2.1. Kursorischer Überblick über die Entwicklung der Auffassungen Wygotskis im Zeitraum von 1925 bis 1931/32

68

2.2. Die Ausgangsversion der »kulturhistorischen Theorie«

70

2.3. Die revidierte Fassung des »kulturhistorischen« Ansatzes

75

3. Die Kampagne gegen A.M. Deborin und die antifeuerbachianische Wende in der sowjetischen Philosophie Wygotskis 'krypto-feuerbachianischer' Ansatz 3.1. Die Kampagne gegen A.M. Deborins »Idealismus menschewistischer Prägung« und ihre Folgen

87 87

3.2. Wygotskis Piaget-Kritik

94

3.3. Die »Sozialpsychologie« des Säuglings

106

4. Gedanke und Wort

109

4.1. Die »Zusammenarbeit« als Ursprung der höheren psychischen Funktionen

110

4.2. »... daß jedes Ding einen Namen habe«

114

4.3. Zur Funktion und Spezifik von »innerer« Sprache und Schriftsprache 4.4. Bedeutung und Sinn als Schlüsselbegriffe ßr das Verständnis der inneren Beziehungen von Denken und Sprache Anmerkungen zur 2. Studie Die verborgenen Quellen des leontjewschen »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzepts - Eine historisch-methodologische Studie 1. Einleitende Bemerkungen zu Gegenstand und Aufgabenstellung der Studie

117 122 127

167 167

VII 2. Wygotskis Auffassung von der Eigenart des menschlichen Bewusstseins und den Mechanismen der sozial-historischen Erfahrung als Referenzsystem des leontjewschen »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzepts

168

3. Kurzcharakteristik des leontjewschen »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzepts

173

,

4. Die leontjewschen Auffassungen im Spiegel der Kritik S.L. Rubinsteins

.

176

5. Eine Konzeption, die man auf eigene Rechnung und Gefahr vertreten muss? 6. Wygotski als Schiedsrichter zwischen Leontjew und Rubinstein

180 190

7. Philologischer Exkurs: Was bedeutet »Vergegenständlichung« bei Marx?

196

8. Im Zweifelsfalle Hegel?

209

9. Die »Völkerpsychologie« und lazarus-steinthalsche das Konstrukt des »objektiven Geistes« 10. Von Lazarus über Lilienfeld zu Leontjew?

216

Explikation einer Arbeitshypothese

230

11. Schlussbetrachtung

241

Anmerkungen zur 3. Studie

242

»Behinderung« als pädagogisch-psychologisches Problem und als sozial-ethische Herausforderung Humanistischer Materialismus konkret

283

1. Apropos Bruckberg: Einleitende Überlegungen zur Behindertenproblematik als Gegenstand einer »solidaristischen Ethik« im Sinne des humanistischen Materialismus L. Feuerbachs

283

2. Wygotskis Programm einer integrativen Behindertenpädagogik

286

3. Feuerbachische Elemente in Wygotskis Konzeption der Defektivität.... 292 4. Das Verhältnis von »Technischem« und »Sozialem« in Wygotskis Ansatz einer integrativen Behindertenpädagogik

296

5. Die Verdrängung des von Wygotski initiierten Ansatzes aus dem offiziellen Diskurs der sowjetischen Defektologie und ihre Folgen

302

6. Das »Sagorsker Experiment« - Mythos und Wirklichkeit

304

VIII 7. Biologie und »objektiver Geist« - die theoretischen Grundlagen der Taubblinden-Pädagogik A. Meschtscheijakows

318

8. Der Verlust des i.e.S. »Sozialen« als wesentliches Defizit der Konzeption Meschtscheijakows

327

9. Ansätze zu einer Neuinterpretation des »Sagorsker Experiments« im Lichte der Auffassungen Wygotskis

331

Anmerkungen zur 4. Studie

347

Literaturverzeichnis

363

Personenregister

381

VORWORT I. Ausgangspunkt für die in diesem Band unter dem Haupttitel »Feuerbach, Wygotski & Co.« zusammengefassten Studien zur Grundlegung einer Psychologie des gesellschaftlichen Menschen war mein Unbehagen an bestimmten Konzeptionen, die für die Kritische Psychologie vor allem in ihrer Entstehungsphase konstitutiv waren und die auch in meinen eigenen Arbeiten bis zum Ende der 70er Jahre eine wichtige Rolle spielten: in erster Linie das seinerzeit von uns von dem sowjetischen Psychologen A.N. Leontjew übernommene »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept - ein Konzept, das von K. Holzkamp in seinen größeren Arbeiten von der »Sinnlichen Erkenntnis« (1973) bis hin zur Erstfassung seines letzten, 1993 veröffentlichten Buches (»Lernen: Subjektwissenschaftliche Grundlegung«) mit nur minimalen Variationen reproduziert worden ist, dem ich selbst aber bereits 1979 zu misstrauen begann, als ich anfing, mich anhand des Buches von J. Budilowa »Philosophische Probleme in der sowjetischen Psychologie« etwas intensiver mit der Geschichte der sowjetischen Psychologie zu befassen, und dabei feststellen musste, dass das, was von uns gewissermaßen als »Generalschlüssel« zur psychologischen Dimension des historischen Materialismus aufgefasst worden war, bereits seit längerem innerhalb der sowjetischen Psychologie den Gegenstand einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Leontjew einerseits und S.L. Rubinstein und seinen Schülern andererseits gebildet hatte. Dabei stand dann meine eingehendere Beschäftigung mit der Leontjew-Rubinstein-Kontroverse zunächst unter der Perspektive, den Ansatz Leontjews (der ja auch einen Teil unserer eigenen Identität ausmachte) gegen die Kritik Rubinsteins und seiner Schüler zu verteidigen. Allerdings sah ich mich in der Konfrontation mit der Originalliteratur genötigt, Schritt für Schritt insbesondere die von Rubinstein selbst gegen die Auffassungen Leontjews erhobenen Einwände als weitgehend berechtigt anzuerkennen, ohne dass mich indes Rubinsteins eigener Ansatz so weit überzeugt hätte, dass ich ihn als tragfähige Alternative zu dem Leontjews hätte akzeptieren können. Vielmehr erschien es mir mehr und mehr notwendig, einen dritten Standpunkt zu gewinnen, von dem aus jene Vermittlung der gegensätzlichen Positionen möglich sein sollte, zu der man innerhalb der sowjetischen Psychologie bis dahin nicht gekommen war. Ein solcher Standpunkt konnte, wie ich damals glaubte, nur gewonnen werden, indem man sich konsequenter, als dies bisher geschehen war, auf die in den marxschen »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« von 1844 enthalte-

X ne psychologische Dimension einließ und dabei akribisch dem Sinngehalt der dort von Marx verwendeten Begrifflichkeit nachspürte. Dabei erschien mir die Durchführung eines solchen Projektes umso notwendiger, als ja einer der wesentlichen seinerzeit von Rubinstein gegenüber Leontjew erhobenen Vorwürfe darin bestand, dass Leontjew sich zur Begründung seiner Konzeption von der Entwicklung der psychischen Fähigkeiten des Menschen als permanentem Wechselspiel von »vergegenständlichender« Gattungstätigkeit und individueller »Aneignung« zu Unrecht auf die bei Marx mit den Termini »Vergegenständlichung« und »Aneignung« verknüpften Vorstellungen berufen habe, dass insbesondere der Ausdruck »Aneignung« bei Marx eine völlig andere Bedeutung habe als die, mit der Leontjew vor allem im Zusammenhang mit dem Interiorisationskonzept operiere (vgl. Rubinstein 1961, 11 ff. sowie Rubinstein 1979c, 178 ff.). Entsprechend ging es mir anfanglich nur darum, dieser Kritik auf den Grund zu gehen - einer Kritik, die insofern auch für die Kritische Psychologie erhebliche Relevanz besaß, als ja nach einer unserer ersten Grundsatzerklärungen das »Aneignungs«-Konzept »konstituierendes Merkmal des 'historischen Herangehens an die menschliche Psyche ' und deswegen ein Grundbegriff marxistisch fiindierter Psychologie überhaupt« war (Holzkamp & Schurig 1973, XXXVIII). Dabei war die sich für mich aus alledem ergebende Problemstellung zwangsläufig eine doppelte: Zum einen galt es, Klarheit darüber zu gewinnen, was es denn mit den Konzepten der »Vergegenständlichung« und »Aneignung« bei Marx recht eigentlich auf sich hat. Zum anderen mussten - sofern der Vorwurf einer Unverträglichkeit der bei Marx den Termini »Vergegenständlichung« und »Aneignung« zugrundeliegenden Vorstellungen mit dem leontjewschen »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept zu Recht bestand - nicht nur die tatsächlichen ideengeschichtlichen Quellen dieses Konzeptes aufgefunden und in ihrem theoretischen Gehalt analysiert werden, sondern es war auch zu klären, auf welchem Wege die betreffenden Vorstellungen Eingang in die Theoriebildung Leontjews finden konnten und auf welcher Grundlage sich ihre Metamorphose zu einem »marxistischen« Konzept vollzogen hatte. Um es vorwegzunehmen: Bereits aus dem zunächst recht bescheiden anmutenden Vorhaben einer authentischen Rekonstruktion dessen, was Marx unter »Vergegenständlichung« und »Aneignung« versteht, wurde sehr bald ein aufwendiges, sich über mehrere Jahre hinziehendes begriffsgeschichtliches Forschungsunternehmen, dessen erstes Zwischenergebnis ein Enzyklopädieartikel zum Stichwort »Aneignung« war (vgl. Keiler 1988c u. Keiler 1990a). Mehr noch: Bei meinen Bemühungen, die in der Leontjew-Rubinstein-Kontroverse behandelte Problematik einerseits ideengeschichtlich zu vertiefen und anderer-

XI seits in inhaltlicher Hinsicht über den Punkt hinaus zu entwickeln, der bereits in Budilowas kritischer Darstellung der Kontroverse erreicht worden war, stieß ich auf neue Fragestellungen, deren Weiterverfolgung in zwei weitere umfangreiche Forschungsprojekte mündete: zum einen die systematische Erschließung der Bedeutung des psychologisch-anthropologischen Ansatzes L. Feuerbachs (18041872) für die Begründung einer materialistischen Psychologie und zum anderen die Eruierung der Bedeutung, welche die ursprünglichen Auffassungen L.S. Wygotskis (1896-1934) für die Herausbildung des von uns so geschätzten leontjewschen Ansatzes gehabt hatten. II. Bei alledem war die »Entdeckung« Feuerbachs weit mehr dem Zufall als systematischen Recherchen geschuldet. Und zwar wollte ich einen auf die Dauer eines Jahres veranschlagten Kuba-Aufenthalt nutzen, um endlich einmal die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« von Marx gründlich durchzuarbeiten und dabei den Wahrheitsgehalt der seinerzeit von Rubinstein aufgestellten Behauptung zu überprüfen, in diesen Manuskripten sei »ein ganzes System von Äußerungen enthalten, die sich unmittelbar auf die Psychologie beziehen« (vgl. Rubinstein 1979a, 33). Dabei stellte mich der MEW-Ergänzungsband I, mit dem ich bis dahin gearbeitet hatte, insofern vor Probleme, als ihn mitzunehmen ein weiteres Kilogramm Übergewicht beim Fluggepäck und entsprechende Mehrkosten bedeutet hätte. Die Alternative bestand in einer erheblich leichteren und sehr preiswerten Reclam-Ausgabe der »Manuskripte«, die zudem noch den Vorzug einer 80-seitigen Einleitung sowie eines 66 Seiten umfassenden Anmerkungsteils aufwies. Insbesondere den Anmerkungsteil dieser (von J. Höppner betreuten) Ausgabe lernte ich dann in der Folge sehr schnell als eine wahre Fundgrube schätzen, da hier nicht nur die in den »Manuskripten« vorhandenen Hinweise Marxens auf andere Autoren im Detail aufgeschlüsselt, sondern häufig auch die betreffenden Textstellen in ihrem Kontext wiedergegeben werden. In Auswertung dieser inhaltlichen Querbezüge gewann ich das erste Mal den Eindruck, dass es sich bei dem von Rubinstein postulierten »System von Äußerungen, die sich unmittelbar auf die Psychologie beziehen« im wesentlichen um direkte (wiewohl bisweilen bereits kritisch gewendete) Anknüpfungen an jene psychologisch-anthropologische Konzeption handelt, die-L. Feuerbach in seinem »Wesen des Christentums« (11841, 21843), in den »Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie« (1842) sowie schließlich in den »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« (1843) entwickelt hatte. Zugleich begannen sich bei mir ernste Zweifel zu regen, ob es denn mit der in der marxistischen Literatur

XII wieder und wieder kolportierten Redeweise vom »abstrakten Naturmenschen Feuerbachs« so seine Richtigkeit habe. Auf jeden Fall schien es mir geboten, mich zumindest mit den drei erwähnten, für eine materialistische Psychologie offensichtlich grundsätzlich bedeutsamen Schriften Feuerbachs intensiver auseinanderzusetzen. Darüber hinaus wollte ich größere Klarheit über die Entwicklung des allgemeinen Verhältnisses von Marx zu Feuerbach gewinnen, als es auf der Grundlage von F. Engels' bekannter und vielgelesener Schrift »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie« möglich war. In diesem Zusammenhang interessierte mich dann allerdings nicht nur der häufig zitierte Umschwung in der Bewertung Feuerbachs durch Marx, wie er unmittelbar ins Auge fällt, wenn man die in den »Manuskripten« und auch noch in der »Heiligen Familie« gegebene äußerst positive Beurteilung Feuerbachs mit den kritischen Äußerungen in den sogenannten Feuerbachthesen sowie im »Feuerbach«-Kapitel der »Deutschen Ideologie« vergleicht, sondern es schien mir gleichermaßen notwendig, jenen Andeutungen Höppners nachzugehen, die sich auf einen positiven Einfluss verschiedener Detailkonzeptionen Feuerbachs auch noch auf den »reifen« Marx bezogen. Allerdings verfolgte ich die betreffenden Fragestellungen nach meiner Rückkehr aus Kuba zunächst nicht sehr intensiv, und zwar im wesentlichen aus zwei Gründen: Zum einen hatte ich von kubanischen Kolleginnen recht umfangreiches Quellenmaterial erhalten, dessen Auswertung für die Behandlung der Leontjew-Rubinstein-Kontroverse von unmittelbarer Bedeutung war (es handelte sich dabei um Leontjew-Texte, von denen noch keine deutsche Übersetzung vorlag); zum anderen stieß ich mit meiner neugewonnenen Überzeugung, bei einem konsequenten Ausbau des kritisch-psychologischen Grundansatzes komme man um eine systematische Auseinandersetzung mit den Auffassungen Feuerbachs nicht herum, im Kreise der kritisch-psychologischen Kolleginnen und Kollegen weitgehend auf Unverständnis. Mehr noch: Mir wurde sehr schnell klar, dass eine Beschäftigung mit den Auffassungen Feuerbachs auf absehbare Zeit sozusagen nur »außerhalb des offiziellen Programms« der Kritischen Psychologie (um nicht zu sagen: »gegen den Strom«) möglich sein würde. III. Ähnliches galt für die Frage nach dem Verhältnis der Kritischen Psychologie zu den Auffassungen Wygotskis. Dabei war für mein eigenes Interesse an Wygotski keineswegs von Anfang an der Gedanke maßgebend, dass möglicherweise im Rekurs auf seine Auffassungen die Kontroverse zwischen Leontjew und der Rubinstein-Schule positiv zu

XIII entscheiden wäre, sondern ich hatte zunächst die Vermutung, dass verschiedene der von Rubinstein aufgedeckten Schwächen der leontjewschen Konzeption ein unmittelbares 'Erbe' des ursprünglichen Ansatzes von Wygotski waren, dass also die Korrektur dort anzusetzen hätte, wo Leontjew zwar seiner eigenen Überzeugung nach die Fehler Wygotskis überwunden hatte, in Wirklichkeit aber in ihnen befangen geblieben war. Um diese These nachzuvollziehen, muss man sich die grundsätzliche Haltung vergegenwärtigen, welche die Kritische Psychologie weit über ihre Entstehungsphase hinaus gegenüber Wygotski eingenommen hat. Abgestempelt zum Wegbereiter der Auffassungen Leontjews als des eigentlichen Begründers einer Psychologie auf marxistischer Grundlage, fungierte Wygotski für uns im wesentlichen als jene Bezugsperson, deren Konzeption von der durch Sprache und andere Zeichensysteme vermittelten kulturellen Entwicklung des Kindes sowohl in wissenschaftshistorischer als auch in systematischer Hinsicht einen 'Einstieg' in jene Fragestellungen ermöglichte, die im Mittelpunkt der »kulturhistorischen Theorie« stehen, als deren herausragender Vertreter uns eben nicht Wygotski, sondern Leontjew galt - eine Sichtweise, für die es einen doppelten Grund gab: Zum einen war in der Phase der Herausbildung der Kritischen Psychologie, d.h. bis zur Mitte der 70er Jahre, die Wygotski betreffende Quellensituation höchst unbefriedigend. Bis zum Erscheinen seiner »Psychologie der Kunst« in deutscher Sprache im Jahre 1976 waren die einzigen für uns verwertbaren Quellen neben dem Buch »Denken und Sprechen« erstens drei Aufsätze Wygotskis (einer davon in englischer Sprache), zweitens die Mitschrift einer seiner Leningrader Vorlesungen sowie drittens der Vorabdruck des zweiten Kapitels der »Psychologie der Kunst«. Dabei bedeutete das Vorhandensein dieser Texte keineswegs, dass sie auch systematisch als Quellen genutzt wurden. So ist etwa die bereits 1973 in deutscher Sprache erschienene Vorlesung Wygotskis über das Spiel und seine Rolle in der psychischen Entwicklung des Kindes mehrere Jahre nur ein 'Geheimtip' gewesen und fand erst ein breiteres Interesse, als sie 1980 zusammen mit einem anderen Vorlesungstext Wygotskis im Anhang von D.B. Elkonins »Psychologie des Spiels« erneut publiziert wurde. Das schon 1966 in der DDR-Zeitschrift Sowjetwissenschaft im Vorabdruck veröffentlichte zweite Kapitel der »Psychologie der Kunst« ist, soweit ich sehe, seinerzeit zumindest von den in der Bundesrepublik und in Westberlin an sowjetischer Psychologie interessierten Kolleginnen und Kollegen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden. Das gleiche gilt für den 1975 in leicht gekürzter Fassung in einem anderen DDR-Periodikum, der Sonderschule, abgedruckten, aus dem Jahre 1924 stammenden Artikel Wygotskis über die Psychologie und Pädagogik der kindlichen Defektivität. Bei dieser Ausgangslage konnte dann auch weder das 1978

XIV von M. Cole und anderen unter dem Titel »Mind in Society« herausgegebene kleine Bändchen mit weiteren mehr oder weniger authentischen Wygotski-Texten1 noch der im selben Jahr wiederum in der Zeitschrift Die Sonderschule erschienene, im Original erstmals 1930 publizierte Aufsatz Wygotskis »Arbeitstätigkeit und geistige Entwicklung des Kindes« eine wesentliche Verbesserung der generellen Quellensituation bringen. Das Gleiche lässt sich von den bereits erwähnten 1980 im Anhang von Elkonins »Psychologie des Spiels« publizierten beiden Vorlesungstexten Wygotskis sagen, zumal ohnehin nur einer als wirkliche Neuerscheinung gelten konnte. Es bestand gewissermaßen ein Teufelskreis insofern, als die geringe Anzahl leicht zugänglicher Wygotski-Texte die Herausbildung jenes Interesses nicht zuließ, das zu einer Suche nach weiteren Texten motiviert hätte, so dass erst im Nachhinein, d.h. nachdem endlich ein starkes systematisches Interesse an Wygotski vorhanden war, realisiert werden konnte, dass das objektiv vorhandene über dem tatsächlich genutzten Quellenangebot lag. Wie schmal allerdings auch objektiv die Wygotski betreffende Orientierungsgrundlage war, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass bereits die von T.M. Schachlewitsch anlässlich des vierzigsten Todestages Wygotskis zusammengestellte und in der Zeitschrift Woprossy psichologii (1974, H. 3) veröffentlichte Bibliographie 186 Titel umfasst und die Bibliographie im sechsten Band der »Sobranije sotschineni« (der zwischen 1982 und 1984 erschienenen russischen Werkausgabe) sogar mehr als 190 Titel ausweist. Demgegenüber machen die dem breiten Publikum in der BRD und der DDR bis Mitte der 80er Jahre zugänglichen Arbeiten Wygotskis in der Tat nur einen geringen Bruchteil aus. Sie stellen zudem nicht einmal eine repräsentative Stichprobe aus dem Gesamtwerk dar, vermitteln vielmehr, wie J. Lompscher im Vorwort des ersten Bandes der von ihm herausgegebenen »Ausgewählten Schriften« Wygotskis kritisch feststellt, nur »ein sehr unzureichendes Bild von den theoretisch-methodologischen und empirisch-experimentellen Leistungen und der historischen und aktuellen Bedeutung Wygotskis für die Entwicklung der marxistischen Psychologie« (Lompscher 1985, 7). Der zweite Grund für unsere eingeschränkte Sicht auf Wygotski war, kurz gefasst, folgender: Anders als S.L. Rubinsteins »Sein und Bewußtsein«, dessen relativ frühe (d.h. von 1969/70 datierende) Rezeption uns für die Entwicklung unserer eigenen Auffassungen, abgesehen von einigen eher randständigen Details (vgl. etwa K. Holzkamps »Sinnliche Erkenntnis« von 1973), keine wesentlichen Impulse gab2, hatten die von uns systematisch nicht vor 1971/72 zur Kenntnis genommenen »Probleme der Entwicklung des Psychischen« von Leontjew auf uns einen weitreichenden Einfluss. Dies gilt insbesondere für die beiden den zweiten Teil

XV des Buches bildenden Arbeiten »Abriß der Entwicklung des Psychischen« und »Über das historische Herangehen an die Untersuchung der menschlichen Psyche«, die von uns nicht nur als zentral für den Ansatz Leontjews aufgefasst, sondern auch als Schlüssel für den Zugang zur »kulturhistorischen Theorie« begriffen wurden. Darüber hinaus hatten sie für uns insofern prototypischen Charakter, als sie exemplarisch die psychologische Dimension des historischen und dialektischen Materialismus zu verdeutlichen schienen. Ausgehend von der These, »daß Marx, wenn er auch nicht zur systematischen Ausführung psychologischer Fragestellungen kam, dennoch so häufig und an so wichtigen Stellen psychologisch relevante Erkenntnisse zum Ausdruck brachte, daß die Eigenart und Funktion einer zu schaffenden marxistisch fundierten Psychologie dadurch eindeutig vorgezeichnet ist«, waren wir unter dem Eindruck von Leontjews »Problemen der Entwicklung des Psychischen« der festen Überzeugung, dass seine Konzeption »in ihren wesentlichen Positionen weder eine Revision noch eine Erweiterung, sondern einen inneren Ausbau marxistisch begründeter Wissenschaft« darstellte (vgl. Holzkamp & Schurig 1973, XII). So wichtig nun das direkte Anknüpfen an den Auffassungen Leontjews für die Herausbildung des kritisch-psychologischen Ansatzes war, so wenig geeignet war es, einen Zugang zu den Anschauungen Wygotskis zu finden. Tatsächlich musste man ja aus der Art und Weise, wie Leontjew selbst sich zu den Auffassungen Wygotskis verhielt, notwendig den Eindruck gewinnen, es handele sich bei diesem um eine Forscherpersönlichkeit von lediglich historischem Interesse. Als bestimmend für unser eigenes Verhältnis zu Wygotski kann dabei die von Leontjew an zentraler Stelle formulierte Behauptung gelten, derzufolge »die von Wygotski entwickelten Ideen kein abgeschlossenes psychologisches System dar(stellen)«, dass Wygotski zwar »zeigte, wie man an das Problem heranzugehen habe, es aber nicht (löste)« (Leontjew 1973, 270 f.). Andererseits hatte Leontjew seine eigene Konzeption so zu präsentieren gewusst (und dies gilt nicht nur für die »Probleme der Entwicklung des Psychischen«, sondern auch für das einige Jahre später bei uns ebenfalls sehr populär gewordene Buch »Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit«), dass es allgemein nicht als Mangel empfunden wurde, so wenig von Wygotski zu wissen. In der Tat, was Leontjew und Lurija in ihrem umfangreichen Vorwort zu den »Ausgewählten psychologischen Forschungsarbeiten« Wygotskis mitgeteilt hatten (ein Vorwort, das bereits 1958 in der Zeitschrift ßr Psychologie abgedruckt worden war, bevor es 1964 in die DDR-Ausgabe von »Denken und Sprechen« aufgenommen wurde), erschien als völlig ausreichend, um die uns aus dem Gesamtwerk Wygotskis zugänglichen Bruchstücke zu einem in sich stimmigen Bild zusammenzufügen: ein Bild, in dem kein Platz für die Frage nach einer in die Gegenwart reichenden Bedeutung Wygotskis blieb, war doch

XVI vermeintlich alles Negative, was seine Anschauungen belastet hatte, von seinen Nachfolgern überwunden, alles Positive in ihren eigenen Konzeptionen »aufgehoben« worden, musste insbesondere die von Leontjew in seinen »Problemen der Entwicklung des Psychischen« propagierte Konzeption als die legitime und vollständige Verwirklichung jenes theoretisch-methodologischen Programms einer historischen Betrachtung der menschlichen Psyche erscheinen, das von Wygotski zwar inauguriert worden war, dessen Durchführung er selbst jedoch nicht zuwege gebracht hatte. Unter eben diesem Vorzeichen stand auch unsere Haltung gegenüber den sprachpsychologischen Auffassungen Wygotskis, wobei zwangsläufig sein Buch »Denken und Sprechen« den wesentlichen Bezugspunkt bildete. Die Begeisterung, die »Denken und Sprechen« in den 60er Jahren bei führenden angloamerikanischen Psychologen und später auch in der Bundesrepublik zunächst bei Linguisten und Germanisten, schließlich auch bei Psychologen ausgelöst hatte, blieb uns unverständlich, waren für unser Urteil über das Buch doch jene »Unebenheiten« und jener Mangel an innerer Stringenz maßgebend, auf die hinzuweisen, beginnend mit der Erstpublikation von 1934, zu den Standardfloskeln der verschiedenen Herausgeber- und Übersetzervorworte gehört (vgl. Hanfman & Vakar 1962, XI sowie Luckmann 1969, IX). IV. Vor diesem eher unspezifischen Hintergrund richteten sich dann meine persönlichen, mehr ins Detail gehenden Vorbehalte gegenüber Wygotski vor allem gegen das, was seine sprachpsychologische Konzeption offensichtlich für andere so attraktiv machte: die Subsumtion der Sprache unter den Werkzeugbegriff (vgl. etwa Keseling 1979). Dabei war mir zunächst nicht einmal das volle Ausmaß der Fragwürdigkeit jener theoretischen Konstruktionen Wygotskis bewusst, die auf der Vorstellung von der Sprache als einem »Werkzeug« basieren. Und dies vor allem deshalb nicht, weil ich mich gerade in diesem Punkt weitgehend an den von Leontjew und Lurija sowie Galperin vorgelegten zusammenfassenden Darstellungen der Anschauungen Wygotskis orientierte, an deren Authentizität zu zweifeln ich zu jener Zeit noch keinerlei Anlass hatte. Diesen Darstellungen zufolge waren für Wygotski die Sprache und andere Zeichensysteme »Hilfsmittel der geistigen Produktion« (Leontjew & Lurija 1958, 169) bzw. »'Werkzeuge' der psychischen Tätigkeit« (Galperin 1969, 367) - eine Charakterisierung, die zwar recht gut mit der sich bei Wygotski selbst findenden Formulierung zusammenstimmt, wonach das Wort »Werkzeug des Denkens« ist (Wygotski 1969, 187), die zugleich aber

XVII die eigentliche Pointe seines Konzepts der »psychischen Werkzeuge« verfehlt, die ja darin besteht, dass die Zeichensysteme nicht so sehr als Mittel der geistigen Aneignung der äußeren materiellen Wirklichkeit, sondern als Mittel zur Beherrschung der inneren Natur des Menschen, als Mittel zur Umgestaltung seines Verhaltens und seiner psychischen Prozesse aufgefasst werden. Möglicherweise hätte ich bei einer anderen Interessenlage bereits damals jenem Passus im fünften Kapitel von »Denken und Sprechen« mehr Aufmerksamkeit geschenkt, aus dem klar hervorgeht, dass der Ausdruck »Werkzeug« bei Wygotski, wenn er sich auf Sprache und andere Zeichensysteme bezieht, eine eigentümliche Doppelbedeutung hat (vgl. Wygotski 1969, 110 f.). Tatsächlich wurde mir erst, als ich mich in direkterer Weise für Wygotski zu interessieren begann, bewusst, dass bei ihm unter ein und demselben Etikett zwei völlig verschiedene Analogien firmieren. Dabei stand, wie bereits erwähnt, das bei mir aufkeimende direktere Interesse an Wygotski zunächst unter dem Vorzeichen der Vermutung, dass verschiedene der von Rubinstein bei Leontjew bemängelten Schwächen ein unmittelbares 'Erbe' des ursprünglichen Ansatzes von Wygotski waren. Tatsächlich war dann aber das erste überraschende Zwischenresultat meiner in diese Richtung gehenden Literaturstudien die Erkenntnis, dass Rubinstein etwa mit seiner Kritik am leontjew-galperinschen Interiorisationskonzept eine erstaunliche Nähe zu den ursprünglichen Auffasungen Wygotskis aufweist, so dass sich bei mir erstmals Zweifel an jener Doktrin zu regen begannen, derzufolge die Konzeptionen Leontjews in einer direkten Nachfolgebeziehung zu den Auffassungen Wygotskis stehen. Und so findet sich in einem von 1984/85 datierenden Manuskriptfragment, in dem ich verschiedene für das Verständnis des wygotskischen Interiorisationskonzepts einschlägige Quellen verarbeitet habe, folgender Passus, der sich auf den Unterschied zwischen dem Interiorisationskonzept Wygotskis und der leontjew-galperinschen Version dieses Konzepts bezieht: »1. Dort, wo Wygotski das 'Hineinwachsen' von ihrem Wesen und ihrer Funktion nach sozialen (wenngleich im weitesten Sinne 'instrumenteil' vermittelten) Verhaltensformen in das Individuum im Auge hat, spricht die Theorie der etappenweisen Ausbildung geistiger Handlungen von der 'Umwandlung' der materiell-gegenständlichen Tätigkeit des Individuums (die auf die eine oder andere Weise 'sozial' vermittelt ist) in eine ideelle Form; 2. war bei Wygotski der Interiorisationsbegriff eng mit dem Gedanken der Umwandlung der natürlichen Psychismen in 'höhere \ gesellschaftlich determinierte psychische Funktionen verknüpft, so ist seinen Nachfolgern 'Interiorisation' gleichbedeutend mit der Umwandlung materieller Handlungen in geistige Prozesse. Mit anderen Worten: Hatte Wygotski im Interiorisationsprozeß den Grundmechanismus der 'Vergesellschaftung' der psychischen Funktionen des Individuums gesehen (was

XVIII voraussetzt, daß sie in 'natürlicher' Form bereits im Individuum vorhanden sind), so ist für seine Nachfolger die 'Interiorisation' der materiellgegenständlichen Tätigkeit in letzter Konsequenz zugleich der Entstehungsprozeß der psychischen Tätigkeit des Menschen überhaupt.«3 Hier ist nun nicht so wichtig, dass mir damals noch nicht klar war, dass es bereits bei Wygotski mindestens zwei Varianten des Interiorisationskonzepts gibt und dass die leontjew-galperinsche Fassung dieses Konzepts wiederum eine dritte Version ist, die sowohl von der ersten als auch der zweiten wygotskischen Fassung abweicht - wesentlich ist vielmehr, dass ich mit der Formulierung der Frage, ob nicht zumindest in Hinblick auf bestimmte Detailproblematiken die Nähe von Rubinstein zu Wygotski viel größer ist als die durchgehend unterstellte Nähe Leontjews zu Wygotski, bereits einen entscheidenden Perspektivwechsel vollzogen hatte: Ausgehend vom neugewonnenen Standpunkt war nun nämlich nicht mehr zu untersuchen, wo Leontjew in den Fehlern Wygotskis befangen geblieben, sondern wo er von dessen perspektivisch richtigem Forschungsansatz abgewichen war. Um in dieser Frage voranzukommen, reichte indes das zuhandene Quellenmaterial nicht aus. Neue Impulse für eine weitergehende Beschäftigung mit Wygotski erhielt ich dann vom ersten Band der »Ausgewählten Schriften«, der zwar bereits 1985 erschien, den ich aber erst 1986 zur Kenntnis nahm, da ich mich zwischenzeitlich sehr intensiv in dem Projekt engagiert hatte, die Ideengeschichte des Aneignungskonzepts zu rekonstruieren, um von daher zu einer fundierteren Kritik des leontjewschen Ansatzes zu kommen. Zur Wiederaufnahme meiner Beschäftigung mit Wygotski kam es also erst wieder 1986. Dabei fanden dann von den in den ersten Band der »Ausgewählten Schriften« aufgenommenen Arbeiten drei mein besonderes Interesse: erstens das von 1926/27 stammende große Essay über die Krise der Psychologie, zweitens der Artikel von 1925 über das Bewusstsein als Problem der Psychologie des Verhaltens sowie drittens das Thesenpapier zu Wygotskis Vortrag über die instrumentelle Methode in der Psychologie, den er 1930 an der Akademie für kommunistische Erziehung in Moskau gehalten hatte. Angesichts dieser drei Arbeiten sowie des ebenfalls im ersten Band der »Ausgewählten Schriften« enthaltenen Vortrages über die Psychologie und die Lehre von der Lokalisation psychischer Funktionen (ein von Wygotski 1934 kurz vor seinem Tode verfasster Text) wurde mir zum ersten Mal klar, wie sehr sich die Auffassungen Wygotskis in seinen verschiedenen Schaffensperioden voneinander unterscheiden und zu welch falscher Beurteilung seiner Leistungen man kommt, wenn man diese Unterschiede nicht hinreichend berücksichtigt. Dabei gewann ich zugleich auch

XIX den Eindruck, dass gerade die Arbeiten, in denen wir - bedingt durch unsere Fixierung auf Leontjew - bis dahin immer Wygotskis entscheidenden Beitrag für den Aufbau der materialistischen Psychologie gesehen hatten, gar nicht den 'eigentlichen' Wygotski repräsentierten, sondern lediglich den Wygotski, dessen 'historische Mission' darin bestanden hatte, den Weg für die 'wahrhaft materialistischen' Konzeptionen seiner Nachfolger zu ebnen (vgl. hierzu insbes. Leontjew & Lurija a.a.O., 170 sowie das Nachwort »Der Autor« in der deutschen Ausgabe der »Psychologie der Kunst«). Tatsächlich stellen ja gerade die von Wygotski in den Jahren 1928-30 verfassten Arbeiten, mit denen die »kulturhistorische Theorie« begründet wurde, in theoretisch-methodologischer Hinsicht, gemessen an dem Niveau von Problembewusstsein, das er bereits in seinem Essay über die Krise der Psychologie erreicht hatte, einen erheblichen Rückschritt dar. Ohne dass es notwendig wäre, hier in die Details zu gehen, ist es sicherlich keine Übertreibung, wenn man Wygotskis »Krisen«-Essay als eines der wichtigsten theoretisch-methodologischen Dokumente der Psychologie des 20. Jahrhunderts charakterisiert, das in seinen weitreichenden Implikationen noch längst nicht ausgeschöpft ist. Für die Kritische Psychologie ist übrigens das »Krisen«Essay insofern von besonderer Bedeutung, als wir erkennen mussten, dass wir, ohne uns dessen bewusst zu sein, knapp ein halbes Jahrhundert nach Wygotski in wesentlichen Punkten die von ihm bereits 1926/27 entworfene Programmatik einer allgemeinen Psychologie auf marxistischer Grundlage reproduziert haben, so dass sich der paradoxe Sachverhalt ergibt, dass, seitdem nun die Überlegungen Wygotskis auch dem breiten Publikum vorliegen, die Kritische Psychologie »mit einem Standard konfrontiert ist, der ihr zwar 'an sich' in der Zeit vorausgeht, als realer Vergleichsmaßstab aber erst in Erscheinung tritt, nachdem sie sich schon konsolidiert hat« (Keiler 1987, 120)4. Was mich beim Vergleich des »Krisen«-Essays mit den nachfolgenden mir bekannten Arbeiten Wygotskis besonders befremdete, war, dass Wygotski die im »Krisen«-Essay mehrfach formulierte Option für ein Anknüpfen an den psychologischen Anschauungen L. Feuerbachs (vgl. ASch Bd. 1, 236 f., 239, 245), nicht eingelöst hatte, stattdessen die um das Konzept der »psychischen Werkzeuge« zentrierte »kulturhistorische Theorie« eine eigentümliche Synthese aus F. Bacons Konzept der »Instrumente des Intellekts« (vgl. hierzu Wygotski 1929, 431), Hegels Theorie der Entwicklung des Geistes und S. Freuds Auffassungen über die Binnenstruktur der menschlichen Persönlichkeit darstellte. Befremdlich erschien mir diese Wendung vor allem deswegen, weil, wie mir inzwischen deutlich geworden war, Feuerbach innerhalb der materialistischen Tradition als der eigentliche Stammvater des Gedankens der kulturhistorischen Bedingtheit der menschlichen Psyche gelten kann und von daher zu erwarten gewesen wäre,

XX dass Wygotski, der im »Krisen«-Essay explizit dafür plädiert hatte, an den materialistisch-psychologischen Auffassungen Feuerbachs anzuknüpfen, seine eigene »kulturhistorische Theorie« im direkten Bezug auf die einschlägigen Aussagen Feuerbachs begründet hätte. (So hatte ja Feuerbach bereits in seinem 1841 erschienenen »Wesen des Christentums« geschrieben, dass der Mensch zwar seine Existenz der Natur, sein Menschsein aber dem Menschen verdanke, und dann resümiert: »Witz, Scharfsinn, Phantasie, Gefühl, als unterschieden von der Empfindung, Vernunft als subjektives Vermögen, alle diese sogenannten Seelenkräfte sind Kräfte der Menschheit, nicht des Menschen als eines Einzelwesens, sind Kulturprodukte, Produkte der menschlichen Gesellschaft.« (GW 5, 166) Und in einem von 1843/44 datierenden Aphorismus heißt es mit Blick auf die These des Idealismus, dass der Mensch nicht aus der Natur abgeleitet werden könne: »Nein, aber der Mensch, der unmittelbar aus der Natur entsprang, war auch nur noch ein reines Naturwesen, kein Mensch. Der Mensch ist ein Produkt des Menschen, der Kultur, der Geschichte.« (GW 10, 178)) Aber nicht nur, dass Wygotski in seiner »kulturhistorischen Theorie«, anstatt sich dem materialistischen Ansatz Feuerbachs anzuschließen, die hegelsche Philosophie des Geistes zur allgemeinen Rahmentheorie seiner Konzeption von der kulturellen Entwicklung des Kindes gemacht hatte - mit dem Konzept der »psychischen Werkzeuge« wurde auch all das konterkariert, was er im »KrisenEssay in Hinblick auf eine saubere psychologische Terminologie gefordert hatte. Und so war denn meine Haltung gegenüber Wygotski durchaus ambivalent: Im »Krisen«-Essay hätte ich (mit Ausnahme des 12. Kapitels, das mir irgendwie aus dem Rahmen der Gesamtkonzeption zu fallen schien) jedes Wort unterschrieben. Andererseits war mir angesichts seines das Konzept der »psychischen Werkzeuge« betreffenden Thesen-Papiers von 1930 erstmals in vollem Umfang die Fragwürdigkeit der von Wygotski vorgenommenen Subsumtion der Sprache unter den Werkzeugbegriff zu Bewusstsein gekommen. Diese Ambivalenz spiegelte sich auch in dem wider, was ich in den Jahren 1986-88 öffentlich zum Thema »Wygotski« äußerte. Von besonderem Interesse dürfte in diesem Zusammenhang wohl mein im Oktober 1986 auf dem 1. Internationalen Kongress zur Tätigkeitstheorie gehaltenes »Plädoyer für eine Präzisierung des Werkzeugbegriffs« sein, in dem ich Wygotskis Konzept der »psychischen Werkzeuge« einer scharfen Kritik unterzog (vgl. Keiler 1988, 147 ff.). Die besondere Pointe dieser Kritik wurde mir allerdings erst knapp vier Jahre später bewusst, als ich bei der Lektüre des zweiten Kapitels von Wygotskis »Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen« feststellen musste, dass ich in meinem »Plädoyer für eine Präzisierung des Werkzeugbegriffs« im wesentlichen nur Argumente wiederholt hatte, die von Wygotski

XXI selbst bereits 55 Jahre vor mir gebraucht worden waren - Argumente, mit denen er sich nicht nur von seinem eigenen Konzept der »psychischen Werkzeuge« distanziert, sondern auch allen Versuchen eine Absage erteilt hatte, Zeichen im allgemeinen und die Sprache im besonderen dem Werkzeugbegriff zu subsumieren. In direkter Konsequenz meiner ambivalenten Haltung gegenüber Wygotski verzögerte sich dann auch wieder meine Rezeption des zweiten Bandes der »Ausgewählten Schriften«, der bereits 1987 herausgekommen war, mit dem ich mich aber erst Anfang 1989 anlässlich eines Krankenhausaufenthaltes zu beschäftigen begann - und zwar unter der Perspektive einer ganz spezifischen Fragestellung: Auf dem 1984 in Marburg durchgeführten 3. Internationalen Kongress Kritische Psychologie hatte ich am Ende eines meiner Referate, in dem es um die Bedeutung der marxschen Frühschriften für die Begründung einer materialistischen Psychologie ging, gegen die verbreitete Attitüde polemisiert, zur Begründung einer marxistisch-materialistischen Psychologie direkt an den marxschen »Thesen über Feuerbach« anzuknüpfen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was Marx hier tatsächlich an Feuerbach kritisiert und in welchem Ausmaß die Kritik, sofern sie sich überhaupt ad personam Feuerbach richtet, sachlich gerechtfertigt ist. Nicht nur sei es notwendig, »sich über die real-historischen Umstände zu informieren, unter denen Marx' kritische Wendung gegen Feuerbach erfolgte«, sondern es sei »auch und vor allem ratsam, Feuerbach erst einmal zu rezipieren und zu untersuchen, worauf Marx' ursprüngliche Wertschätzung Feuerbachs beruhte« (Keiler 1985, 335). Und da zumindest ich selbst mich in der Folge an diese Empfehlung hielt, war es kein Zufall, dass ich dann zwei Jahre später bei der Lektüre von Wygotskis »Krisen«-Essay gegenüber jenen Passagen besonders sensibel war, in denen sich Wygotski für ein direktes Anknüpfen an den Auffassungen Feuerbachs aussprach. Meine Kritik an ihm bestand dann, wie bereits angedeutet, darin, dass er anscheinend die bereits 1926/27 gewonnenen Erkenntnisse über die grundsätzliche Bedeutung Feuerbachs für die materialistische Psychologie bei der Ausarbeitung der »kulturhistorischen Theorie« wieder über Bord geworfen hatte. Allerdings ließen bestimmte Passagen im sechsten Kapitel von »Denken und Sprechen« die Vermutung zu, dass Wygotski sich in seinen letzten Lebensjahren wieder den Auffassungen Feuerbachs angenähert hatte. (Dass »Denken und Sprechen« mit einem deutlichen, ja geradezu programmatischen Hinweis auf Feuerbach ausklingt, nahm ich, wohl wegen meiner generellen Vorbehalte gegenüber dem Buch insgesamt, erst ganz zum Schluss zur Kenntnis.) So ging ich an den zweiten Band der »Ausgewählten Schriften«, der neben einigen Kapiteln aus dem 1931 erschie-

XXII nenen dritten Teil der »Pädologie des frühen Jugendalters« eine Reihe von Arbeiten Wygotskis aus den Jahren 1932-34 sowie einige Vorlesungsmitschriften aus derselben Zeit enthält, von vornherein unter dem Blickwinkel heran, in diesen Dokumenten aus den beiden letzten Lebensjahren Wygotskis Anzeichen eines Einflusses der psychologischen Auffassungen Feuerbachs zu finden. Dass in der Tat ein solcher Einfluss auf die Theoriebildung des 'späten' Wygotski besteht, davon war ich dann bereits nach der Lektüre der ersten zwei Kapitel überzeugt. Zugleich war mir aber auch deutlich geworden, dass man ein recht guter Feuerbach-Kenner sein musste, um diesen Einfluss identifizieren zu können. V. Dies war der Stand auch noch im Frühjahr 1990, als ich mich im Rahmen der Ausarbeitung eines Aufsatzes, der im von K. Holzkamp herausgegebenen Forum Kritische Psychologie erscheinen sollte, daranmachte, jener Legende auf den Grund zu gehen, derzufolge die für einen längeren Zeitabschnitt der sowjetischen Geschichte charakteristische Pädagogisierung der Psychologie eine direkte Konsequenz des sogenannten »Pädologiedekrets« vom Juli 1936 war (vgl. Leontjew 1958, 5 ff.). Meine These lautete, kurz gefasst, dass die Weichen für diese Entwicklung bereits viel früher gestellt worden waren und dass die Pädagogisierung der sowjetischen Psychologie in letzter Instanz aus den politischen Ereignissen der Jahre 1929-31 hervorging. Im Zusammenhang meiner diesbezüglichen Recherchen bestätigte sich dann allerdings nicht nur sehr schnell meine Vermutung, dass sich gerade am Schicksal Wygotskis und seiner Mitarbeiter in den Jahren 1930-36 exemplarisch demonstrieren ließ, auf welchen Wegen sich die Tendenz zur Pädagogisierung der sowjetischen Psychologie bereits 1934/35 durchgesetzt hatte und wie mit dem »Pädologiedekret« letztlich nur noch das offiziell kanonisiert wurde, was ohnehin schon Tatsache war, sondern ich kam auch dem Mechanismus jener Paradoxie auf die Spur, welche insbesondere für die Beziehungen des 'späten' Wygotski zu den Auffassungen Feuerbachs charakteristisch ist - eine Paradoxie, die darin besteht, dass es einerseits zahlreiche inhaltliche Übereinstimmungen gibt, sich andererseits aber in Wygotskis Schriften auffallend wenige explizite Bezüge auf Feuerbach finden. Dass diese Paradoxie eine erhebliche Brisanz besitzt, liegt auf der Hand. Allerdings brachte der Versuch, sie aufzulösen, nicht nur schmerzhafte Einblicke in den Wirkmechanismus stalinistischer Restriktionen im Wissenschaftsbereich, sondern führte auch zu neuen Einsichten in das Verhältnis zwischen Wygotski und seinen Nachfolgern, ist doch das weitere Schicksal des »kulturhistorischen« Ansatzes nach dem Tode Wygotskis, insbesondere seine Verkürzung zur »Tätig-

XXIII keitstheorie«, maßgeblich durch den Umstand mitbestimmt, dass selbst von den ehemals engsten Mitarbeitern die Affinität Wygotskis zu den Anschauungen Feuerbachs 'übersehen' wurde, mit dem Resultat, dass die Tätigkeitstheorie an wesentlichen Punkten der von Wygotski in seinen letzten Lebensjahren vorgenommenen selbstkritischen Revision und Weiterentwicklung früherer Positionen vorbeiging (vgl. hierzu etwa Leontjew 1973c, 269 ff.). Im Fazit meiner Untersuchungen konnte ich dann definitiv feststellen, dass zwar die Auffassungen Wygotskis weder auf die Psychologie Feuerbachs reduzierbar sind noch sich direkt aus ihnen ableiten lassen, dass es aber allemal zu einem tieferen Verständnis insbesondere der Auffassungen des 'späten' Wygotski beiträgt, wenn man die Psychologie Feuerbachs als durchgehenden »Untertext« zu seinen sprach-, entwicklungs- und persönlichkeitspsychologischen Konzeptionen begreift, so dass mit der aktuellen Notwendigkeit einer systematischen Erschließung des wygotskischen Spätwerkes und der Wiederaufnahme von in seiner letzten Schaffensperiode initiierten, aber nach seinem Tode nicht weiterverfolgten Forschungsansätzen zwangsläufig zugleich auch die Erschließung des Systems der psychologischen Anschauungen Feuerbachs zu einer vorrangigen Gegenwartsaufgabe geworden ist. (Siehe zu alledem ausführlicher die zweite Studie in diesem Band.) Parallel zur Auslotung der in der »Feuerbach-Wygotski-Linie« enthaltenen theoretisch-methodologischen Perspektiven machte auch das Projekt, von dem ich 1979 ursprünglich ausgegangen war (die kritische Auseinandersetzung mit dem leontjewschen »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept), nach einer Phase der Stagnation erhebliche Fortschritte. Je mehr dabei allerdings die tatsächliche Inkompatibilität der leontjewschen Konzeption mit den bei Marx den Termini »Vergegenständlichung« und »Aneignung« zugrundeliegenden Vorstellungen zutage trat (vgl. hierzu Keiler 1988a, 1990a), desto fragwürdiger wurde diese Konzeption auch in sich. Beispielsweise wurde Folgendes immer deutlicher: Die von Leontjew in das ursprüngliche wygotskische Modell der »sozial-historischen« Erfahrung eingeführte Zusatzkonstruktion einer »Verkörperung« von Gattungserfahrungen und Gattungsfähigkeiten in den von Menschenhand produzierten Gegenständen verkompliziert dieses Modell zwar erheblich und wirft eine Reihe neuer Fragen auf, die insbesondere den, wie man ihn nennen könnte, 'technischen' Aspekt der als Übergang der Fähigkeiten des Menschen in die Produkte seiner Tätigkeit konzipierten »Vergegenständlichung« betreffen - andererseits hat aber die Konzeption Leontjews hinsichtlich der empirischen Fakten offenbar keinen höheren Erklärungswert als das von Wygotski zwischen 1932 und 1934 ausgearbeitete Modell der psychischen Entwicklung des Kindes, dessen zentrale Kategorie die der »Zusammenar-

XXIV beit« zwischen dem Kind und seinen Mitmenschen ist - vielmehr muss Leontjew gerade dort, wo das von ihm entworfene Szenario des Wechselspiels von »Vergegenständlichung« und »Aneignung« vordergründig eine Alternative zum Modell Wygotskis zu bieten scheint, letztlich doch auf eben dieses Modell als eigentliche Erklärungsgrundlage zurückgreifen. Mit anderen Worten: Das leontjewsche »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept kann für sich nicht nur keine Verankerung in den bei Marx mit den Termini »Aneignung« und »Vergegenständlichung« verknüpften Vorstellungen reklamieren, sondern es ist zudem auch noch vom Standpunkt der Denkökonomie eine höchst überflüssige Konstruktion. (Siehe zu alledem ausführlicher das fünfte und sechste Kapitel der dritten Studie in diesem Band.) VI. Dass bei dieser Sachlage die Frage nach den tatsächlichen ideengeschichtlichen Quellen der Konzeption Leontjews eine erhebliche Brisanz besitzt, ist ohne weiteres einsichtig. Insofern ist es auch leicht nachvollziehbar, dass meine beharrliche Weiterverfolgung dieser Frage bei den Vertretern des kritisch-psychologischen »Mainstream« (wenn ich sie einmal respektlos so nennen darf) nicht gerade auf überschwängliche Sympathie stieß. Immerhin war ja zu befürchten, dass mit der Aufklärung von bestimmten grundlegenden Missverständnissen, die den Ansatz der Kritischen Psychologie womöglich von Anfang an belastet hatten, diesem Ansatz generell die Legitimation entzogen werden könnte. So letztlich auf mich selbst gestellt5, konnte ich denn auch für meine Suche nach den verborgenen ideengeschichtlichen Quellen des »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzepts über längere Zeit keinen rechten Ansatzpunkt finden, und es war eher zufällig, dass ich Anfang 1987 anlässlich eines Besuches bei P. Ruben und C. Warnke ein Heft der Zeitschrift Sowjetwissenschaft aus dem Jahr 1985 in die Hand bekam, das eine von dem sowjetischen Psychologie-Historiker M.G. Jaroschewski verfasste Rezension der zwei Jahre vorher erschienenen »Ausgewählten psychologischen Werke« Leontjews enthielt: eine Rezension, in der ich auf den bemerkenswerten Hinweis stieß, dass »die historische Betrachtungsweise der Psyche in der sowjetischen Wissenschaft« nicht zuletzt aus der »Überwindung des idealistischen Ansatzes« von W. Dilthey (18331911) hervorgegangen sei, der »seiner 'verstehenden Psychologie' einen eigenwillig interpretierten Hegeischen Historismus zugrunde gelegt« habe, »indem er das Erleben des Menschen mit dem in den Werken der Kultur verkörperten Leben des Geistes in Verbindung brachte« (Jaroschewski 1985, 550).

XXV Wenn mit diesem Hinweis auch die Frage nach den verborgenen Quellen des leontjewschen »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzepts noch keineswegs vollständig beantwortet war (wie ich irrtümlich zunächst annahm), so war mit ihm doch immerhin die generelle Richtung angegeben, in welche die Nachforschungen zu gehen hatten: in die Richtung jener Traditionslinie nämlich, in der das Konstrukt des »objektiven Geistes« eine zentrale Rolle spielt, wobei (in Verifizierung der Charakterisierung Jaroschewskis) sehr schnell klar wurde, dass das Verhältnis dieser Tradition zu dem, was ursprünglich Hegel unter »objektivem Geist« verstanden hatte, in der Tat weit mehr das einer terminologischen als das einer konzeptionellen Kontinuität ist. Im Verlaufe der nun sich auf eine bestimmte (in sich keineswegs homogene) Strömung der deutschen Geistesgeschichte konzentrierenden Recherchen konnten dann zunächst mit G. Simmel (1858-1918) und seiner »Philosophie des Geldes« (1900 ff.) sowie H. Freyer (1887-1969) und seiner erstmals 1923 erschienenen »Theorie des objektiven Geistes« noch zwei weitere (ihrem Selbstverständnis nach der Kulturphilosophie zuzurechnende) Autoren identifiziert werden, deren Konzeptionen entweder unmittelbar oder auf die unterschiedlichste Weise vermittelt Einfluss auf die Theoriebildung Leontjews gehabt haben könnten (vgl. Keiler 1988b, 116). Als ein »Fund« von noch erheblich größerer Tragweite erwies sich dann allerdings Fr. Jodls (1849-1914) »Lehrbuch der Psychologie«, auf das ich im Herbst 1989 von dem Jodl-Forscher G. Gimpl anlässlich einer Arbeitstagung der Feuerbach-Gesellschaft6 aufmerksam gemacht wurde, handelt es sich doch bei diesem Lehrbuch um ein psychologisches Standardwerk, das zwischen 1896 und 1924 immerhin fünf Auflagen erlebt hat und in welchem sich schon in der ersten Auflage auf sechs Seiten die »leontjewsche« Konzeption in allen Details ausgearbeitet vorfindet (freilich ohne Bezug auf Marx). Aber nicht nur, dass mit dieser Entdeckung endgültig die These hinfallig war, beim »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept handle es sich um einen »Grundbegriff marxistisch fiindierter Psychologie überhaupt« - Jodls Hinweis auf frühere Autoren und deren Arbeiten, darunter P. v. Lilienfeld (1829-1903) mit seinen fünf Bände umfassenden »Gedanken über die SocialWissenschaft der Zukunft« (1873 ff.) sowie A.E.Fr. Schäffle (1831-1905) mit seinem vierbändigen Werk »Bau und Leben des socialen Körpers« (1875 ff.), machte zudem deutlich, dass die eigentlichen Quellen dieses Konzepts offensichtlich noch viel weiter zurückzudatieren waren, als ich bis dahin mit meiner Festlegung auf Diltheys »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie« von 1894 anzunehmen gewagt hatte (vgl. Keiler 1988a, 124 f.). Dabei musste die den neuen Einsichten angepasste 'Ahnenreihe', wie sie in meinem 1990 erschienenen Enzyklopädie-Artikel zum Stichwort »Aneignung« aufgeführt ist (vgl. Keiler 1990a, 123, 126), insofern

XXVI von vornherein als eine vorläufige Konstruktion betrachtet werden, als mit der Entdeckung und Auswertung der v. lilienfeldschen »Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft« eine weitere Differenzierung der Fragestellung nahegelegt wurde: Einerseits drängte sich die These geradezu auf, dass eben hier womöglich die wesentliche (auch von Jaroschewski aus 'gutem Grund' verheimlichte) Quelle des leontjewschen »Vergegenständlichungs-Aneignungs«Konzepts zu suchen sei (immerhin war der für meine Fragestellung wesentliche I. Teil, »Die menschliche Gesellschaft als realer Organismus«, bereits 1872 in St. Petersburg in russischer Sprache erschienen) - andererseits sprach alles dagegen, in v. Lilienfeld den eigentlichen Stammvater dieses Konzepts zu sehen; vielmehr war zu vermuten, dass er seinerseits auf einem anderen von mir bis dato nicht identifizierten Autoren aufgebaut hatte. Einem (wiederum unter dem Zeichen des Zufalls stehenden) Hinweis des Philosophiehistorikers K.Ch. Köhnke auf ein bereits 1985 in den Reports on Philosophy erschienenes Übersichtsreferat seines Kollegen H.-U. Lessing schließlich habe ich es zu verdanken, dass ich im Dezember 1991 endlich in die letzte Phase meiner Recherchen eintreten konnte, erwiesen sich doch Lessings »Bemerkungen zum Begriff des 'objektiven Geistes' bei Hegel, Lazarus und Dilthey«, nicht zuletzt auch wegen der zu M. Lazarus (1824-1903) und H. Steinthal (1823-1899) mitgeteilten Sekundärliteratur, als ein regelrechter Schlüsseltext7. Wie nun als sicher gelten kann, ist das leontjewsche »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept ein, wenn auch keineswegs in direkter Linie ableitbarer, 'Spross' bestimmter Teilkonzepte des von Lazarus und Steinthal in den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts begründeten »völkerpsychologischen« Ansatzes. Mehr noch: Auch die Kritische Psychologie ist (freilich ohne sich dessen bewusst zu sein) in wesentlichen Momenten ihrer Theorie und Methodologie diesem Ansatz verpflichtet. Nun wäre zwar, nach allem, bereits die Tatsache, dass ein ideengeschichtlicher Zusammenhang zwischen dem innerhalb des lazarus-steinthalschen »völkerpsychologischen« Ansatzes entwickelten Konzept des »objektiven Geistes« und dem »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept Leontjews bzw. der Kritischen Psychologie besteht, Grund genug, sich eingehender mit dem lazarussteinthalschen Projekt einer »Völkerpsychologie« zu beschäftigen; es gibt aber auch noch einen anderen Grund: Neben dem besagten, in Entwurf und Durchführung höchst problematischen Konzept enthält nämlich der »völkerpsychologische« Ansatz eine Reihe von Gedankengängen, die man als Rahmenentwurf einer »alternativen« Psychologie {sensu Staeuble 1991) bezeichnen könnte - Gedankengänge, die in einigen Punkten, zumindest auf den ersten Blick, eine bemerkenswerte Parallelität zu den Auffassungen Feuerbachs über die gesellschaft-

XXVII lich-historische Determiniertheit der menschlichen Psyche zeigen und deren Ausgangsidee die Idee einer »Psychologie des gesellschaftlichen Menschen« ist Gedankengänge aber auch, die Lazarus und Steinthal, bedingt durch ihre programmatische Verpflichtung auf idealistische Grundpositionen, selbst nicht konsequent ausgeführt haben und die dann bereits in den sich in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelnden Kontroversen um die »Völkerpsychologie« von deren Gegnern systematisch aus dem wissenschaftlichen Diskurs gedrängt worden sind, während bezeichnenderweise das Konzept des »objektiven Geistes« im Verlauf nur weniger Jahrzehnte zu einem allgemein anerkannten Topos avancierte. Und ebenjene Momente des ursprünglichen »völkerpsychologischen« Ansatzes wieder zur Erinnerung zu bringen, die seinerzeit von den Vertretern der herrschenden Psychologie (allen voran übrigens W. Wundt) entweder explizit abgelehnt oder aber mit gezieltem Stillschweigen übergangen worden sind, scheint mir ein umso lohnenswerteres Unterfangen, als eine solche gezielte Rückerinnerung an schon einmal projektierte, dann aber letztlich doch nicht realisierte Alternativen zur »Mainstream«-Psychologie ein wesentlicher Beitrag zur qualifizierteren Bewältigung jener Grundprobleme sein könnte, mit deren 'Lösung' es sich die Kritische Psychologie seinerzeit wohl doch zu einfach gemacht hat, als sie sie durch den programmatischen Anschluss an die Konzeptionen Leontjews bereits als 'erledigt' betrachtete und die Perspektiven der eigenen Arbeit lediglich darin sah, gestützt auf die von Leontjew bereits erzielten Resultate, die Verwirklichung des Programms einer »marxistisch fundierten Psychologie« noch weiter voranzutreiben als Leontjew selbst dies bereits getan hatte. So blieb denn auch verborgen, dass das Selbstverständnis der Kritischen Psychologie in zentralen Momenten auf falschen Voraussetzungen beruht. Tatsächlich handelt es sich nämlich bei der für den kritisch-psychologischen Grundansatz charakteristischen Frontstellung gegen den »ahistorischen Ansatz der bürgerlichen Psychologie« und gegen die Verdrängung des »Problem(s) der menschlichen Gesellschaftlichkeit aus ihrem wissenschaftlichen Horizont« ebenso wenig um ein Spezifikum »marxistisch fundierter Psychologie« wie bei dem mit dieser Frontstellung verknüpften Anspruch, »die isoliert-unhistorische Betrachtung der individuellen menschlichen Entwicklung« und den »organismischen Reduktionismus« zu überwinden, »in welche(m) der Unterschied zwischen tierischen und menschlichen 'Organismen' als ein lediglich gradueller Unterschied erscheint« (vgl. Holzkamp & Schurig 1973, XXXII u. XXXVIII). Vielmehr wird damit zunächst einmal nur in wesentlichen Punkten dieselbe Programmatik reproduziert, mit der schon die »Völkerpsychologie« gegen das seinerzeit herrschende Gegenstands- und Methodenverständnis der Psychologie angetreten war und die von Steinthal bereits 1855 (!) im letzten Kapitel seiner Mo-

XXVIII nographie »Grammatik, Logik und Psychologie« in sehr prägnanter Weise ausformuliert worden ist. (Siehe auch hierzu ausführlicher die dritte Studie in diesem Band.) VII. Mit der Erkenntnis, dass bei ein und demselben Ausgangspunkt der Betonung der gesellschaftlich-historischen Determiniertheit der menschlichen Psyche offenbar mehrere Varianten einer kritischen Alternative zum psychologischen »Mainstream« möglich sind, war zugleich aber auch der Standpunkt gewonnen, von dem aus sich meine bis dahin akkumulierten und teilweise bereits publizierten Forschungsergebnisse zu einem in sich relativ geschlossenen Gesamtbild zusammenfügen ließen. Denn tatsächlich tritt ja die Spezifik jener Alternative, die mit den Namen Ludwig Feuerbach und Lew Wygotski verknüpft ist, erst mit hinreichender Deutlichkeit zutage, wenn man sie mit jener Traditionslinie kontrastiert, die von Moritz Lazarus über Paul von Lilienfeld, Friedrich Jodl, Wilhelm Dilthey, Georg Simmel und Hans Freyer bis zu Alexej Leontjew und Klaus Holzkamp führt. Von daher ergab sich dann auch gewissermaßen von selbst das bei der 'Komposition' des vorliegenden Bandes realisierte Prinzip der Abfolge der einzelnen Studien, die in ihrer aktuellen Fassung und der jetzigen Anordnung in der Tat so gelesen werden können, als seien sie von Anfang an als aufeinander aufbauende Kapitel eines Buches konzipiert worden: Die erste Studie (deren im Sommer und Herbst 1988 erarbeitete Originalversion im Januar 1989 unter dem Titel »... und z.B. Feuerbach« im Rahmen des Konsequent-Sonderbandes »Marxismus im Umbruch« veröffentlicht wurde) setzt sich kritisch mit den Klischees und Vorurteilen auseinander, die insbesondere innerhalb der deutschsprachigen marxistischen Tradition mit dem Namen »Feuerbach« assoziiert sind und die es bis in die jüngste Zeit verhindert haben, die Bedeutung der Auffassungen Feuerbachs für die Begründung und Durchführung einer um das Konzept des »gesellschaftlichen Menschen« zentrierten und dabei konsequent materialistischen Psychologie zu erkennen. Eine Schlüsselstellung bei der systematischen Demontage dieser Klischees und Vorurteile nimmt dabei die (weitgehend unverändert aus der Originalversion der Studie übernommene)8 'Dekonstruktion' jenes marxistischen Klassikertextes ein, der wohl wie kein anderer das 'offizielle' Feuerbach-Bild auf so nachhaltige Weise geprägt hat: F. Engels' Rezension des 1885 in deutscher Sprache erschienenen Feuerbach-Buches des jungen dänischen Philosophen C.N. Starcke, die unter dem Titel »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie« zuerst

XXIX 1886 in zwei Teilen in der Neuen Zeit (dem theoretischen Organ der deutschen Sozialdemokratie) und dann 1888 in revidierter Fassung (und mit Marx' »Feuerbachthesen« als Anhang) auch als separate Broschüre veröffentlicht wurde. Tatsächlich lässt sich nämlich zeigen, dass Engels, als er den »Ludwig Feuerbach« verfasste, nur über eine höchst unzureichende Kenntnis der Schriften des »deutschen Spinoza« verfügte und sich daher insbesondere bei der Beurteilung der Entwicklung der Ansichten Feuerbachs ab 1846 ausschließlich auf die diesbezüglichen Darlegungen Starckes sowie dessen Feuerbach-Textauszüge stützte. Infolgedessen ist denn auch seine Auseinandersetzung mit Feuerbach, die über viele Generationen auf so verhängnisvolle Weise meinungsbildend gewirkt hat, nicht eine Auseinandersetzung mit dem wirklichen Feuerbach, sondern mit einem Zerrbild von ihm. Feuerbach gegen die offensichtlich ungerechte und letztlich auch unqualifizierte Beurteilung durch Engels nachhaltig in Schutz zu nehmen, ist allerdings nur der erste Schritt, wenn man zu einer wirklich fruchtbaren Auseinandersetzung mit seinem Leben und Werk kommen will. Der zweite, ebenso notwendige Schritt muss in der generellen Problematisierung der innerhalb der marxistischen Tradition der Feuerbach-Rezeption prävalenten Attitüde bestehen, »Feuerbach ausschließlich von Marx her zu sehen« und sein Werk lediglich unter der Fragestellung zu betrachten, inwieweit es »dem unermeßlich Größeren ein Stück seines Weges bahnen half« (vgl. Harich 1954, 281). Hier ist in der Tat ein radikaler Perspektivwechsel gefordert, der es ermöglicht, gerade jene Momente im Werk Feuerbachs in den Blick zu bekommen und schätzen zu lernen, die weder eine direkte Auswirkung auf die Herausbildung des Marxismus hatten noch innerhalb der Auffassungen von Marx und Engels eine unmittelbare Entsprechung finden. Ist indes dieser Perspektivwechsel erst einmal vollzogen, so wird man nicht nur auf den »Problemreichtum« stoßen, »den Feuerbachs Erkenntnistheorie enthält« (Kosing 1972, 1109), sondern auch sehr schnell entdecken, dass insbesondere, wenn es um Fragen einer materialistischen Moral- und Persönlichkeitstheorie geht, sich die betreffenden Antworten bei Feuerbach häufig in aller Ausführlichkeit und dabei durchweg im Sinne humanistischer Grundpositionen entwickelt finden9, während bei Marx und Engels selbst bestenfalls Andeutungen auszumachen sind. So sucht man etwa bei Letzteren vergeblich nach einer so deutlichen Stellungnahme zur Geschlechterproblematik, wie sie uns in jenem Anfang Juni 1870 verfassten Brief Feuerbachs an W. Bolin vorliegt, mit dem er sich explizit als Sympathisanten der sich gerade formierenden Frauenbewegung ausweist10. Die im Schlussteil der ersten Studie eröffnete Perspektive wird in der zweiten Studie anhand der Bedeutung erläutert, die Feuerbachs Auffassungen für die

XXX systematische Begründung einer konsequent materialistischen Psychologie haben. Das Ausgangsmaterial hierfür lieferte ein Manuskriptteil, der aus Platzbzw. 'Überfrachtungs'gründen aus der Druckfassung von »... und z.B. Feuerbach« herausgenommen worden war und dann den Grundstock für mein Referat auf der Bielefelder Arbeitstagung der Feuerbach-Gesellschaft bildete (vgl. Keiler 1990b). Da sich in Auswirkung der politischen Ereignisse auch auf den Berliner Akademie Verlag die Herausgabe des die Arbeitstagung dokumentierenden Sammelbandes erheblich verzögerte, bot ich die bereits vorliegende Druckfassung meines Referats dem Forum Kritische Psychologie (FKP) zur Vorabpublikation an, und zwar gewissermaßen als 'Kompensation' für den eigentlich von mir vorgesehenen Beitrag, in dessen Mittelpunkt die Auswirkungen des Stalinismus auf die Entwicklung der sowjetischen Psychologie in den Jahren 1930-36 stehen sollten und von dem im Sommer 1990 bereits ein Manuskriptfragment von über 60 Seiten vorlag, ohne dass allerdings abzusehen war, dass ich das betreffende Projekt noch rechtzeitig bis zum Redaktionsschluss zu Ende bringen und dabei auch den mir für einen FKP-Artikel zugestandenen Textumfang einhalten können würde. K. Holzkamp akzeptierte mein 'Kompensations'-Angebot, machte zugleich aber auch einige Vorschläge, wie der seiner Einschätzung nach »sehr spannende Aufsatz« in einigen Punkten zwecks Erhöhung der Stringenz meiner Argumentation noch weiter ausgearbeitet werden könnte. Hierbei ging es zum einen um die Notwendigkeit einer differenzierteren Erörterung des Verhältnisses zwischen den Auffassungen S. Freuds einerseits und denen der Feuerbach-Wygotski-Linie andererseits und zum zweiten um das Problem einer stärker ins Detail gehenden »Ausführung der Feuerbach-Rezeption und -Weiterentwicklung durch Wygotski« anhand »exemplarischer Gegenüberstellungen zwischen dem, was Feuerbach gesagt, und was Wygotski - in Theoremen mittlerer Reichweite (was besser erklärt werden müßte) - daraus gemacht hat«. Diese Vorschläge zu akzeptieren, fiel mir umso leichter, als Holzkamp mit der Auflage einer Überarbeitung (die ja letztlich auf eine erhebliche Erweiterung des Referattextes hinauslief) zugleich einen Aufschub für die endgültige Fertigstellung des Aufsatzes eingeräumt hatte, der nun nicht wie mein ursprünglich geplanter Beitrag »Stalinismus und 'Pädagogisierung' der Psychologie« im FKP 26, sondern erst im nachfolgenden Heft erscheinen sollte. Am Ende war dann der nun auch mit einem neuen Titel versehene und Mitte Januar 1991 von mir bei der FKP-Redaktion zur Publikation eingereichte Text genau viermal so lang wie die Version, die ich zunächst angeboten hatte. Diese beträchtliche Umfangserweiterung war freilich nicht allein der Erfüllung der von K. Holzkamp geäußerten Ergänzungswünsche geschuldet, vielmehr hatte ich die Möglichkeit der Textüberarbeitung auch dafür genutzt, noch eine Reihe von Einsichten einzuarbeiten,

XXXI die ich im Rahmen des Projekts »Stalinismus und 'Pädagogisierung' der Psychologie« gewonnen hatte und die vor allem die politischen Hintergründe der sich 1930/31 in der sowjetischen Philosophie vollziehenden »antifeuerbachianischen Wende« betrafen. Angesichts der sich dann bereits ein Jahr später zwischen mir und K. Holzkamp umso schärfer abzeichnenden Differenzen10 muss hier nachdrücklich darauf hingewiesen werden, dass die Version, in der »Gegenständlichkeit, Sozialität, Historizität - Versuch einer Rekonstruktion der Feuerbach-Wygotski-Linie in der Psychologie« im April 1991 im Forum Kritische Psychologie erschien, abgesehen von einigen Übertragungsfehlern, die sich bei der Erstellung der PCFassung des Textes eingeschlichen haben, Wort für Wort der im Januar eingereichten maschinenschriftlichen Originalfassung entspricht, d.h. seitens der FKP-Redaktion keine weiteren Änderungswünsche geltend gemacht wurden. Insofern sind denn auch die erneuten, teilweise erheblichen Texterweiterungen, durch die sich die in diesem Band vorgelegte Fassung der Studie von der FKP-Version unterscheidet, zum einen das Resultat meines seitherigen Erkenntniszuwachses und gehen zum anderen darauf zurück, dass im Rahmen eines Buchprojekts (das dazu noch vollständig vom Autor selbst finanziert wird) all jene Platzbeschränkungen nicht gelten, denen man wohl oder übel unterworfen ist, wenn man einen Text in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift unterbringen möchte. So war es nicht nur möglich, in der aktuellen Fassung hinsichtlich der für die Begründung und Durchführung einer materialistischen Psychologie unmittelbar relevanten Momente im Werk Feuerbachs erheblich mehr ins Detail zu gehen, sondern es konnten auch zwei Schriften Wygotskis ausführlicher behandelt werden, die in der FKP-Version nur eine eher beiläufige Erwähnung gefunden hatten: die »Psychologie der Kunst« und das große Essay von 1926/27 über die Krise der Psychologie. Zudem mussten in das dritte Kapitel der Studie wichtige mir erst in jüngster Zeit zugegangene Informationen eingearbeitet werden, die die Rezeptionsmöglichkeiten der Schriften Feuerbachs in der Sowjetunion Mitte bis Ende der 20er Jahre sowie die diesbezüglichen Einschränkungen betreffen, die im Zuge der von mir bereits in der FKP-Fassung der Studie dokumentierten Ereignisse von 1930/31 erfolgten11. Und schließlich war auch der Tatsache Rechnung zu tragen, dass inzwischen mit dem von R. van der Veer und J. Valsiner etwa zeitgleich mit meinem FKP-Aufsatz veröffentlichten Buch »Understanding Vygotsky: A Quest for Synthesis« ein das Leben und Wirken Wygotskis behandelndes Standardwerk vorliegt, auf das ich bereits seinerzeit gern zurückgegriffen hätte, wenn es zum Zeitpunkt der Abfassung meines Aufsatzes bereits publiziert gewesen wäre.

XXXII Während es in »Gegenständlichkeit, Sozialität, Historizität« im wesentlichen darum geht, mit der Rekonstruktion der Feuerbach-Wygotski-Linie zugleich die allgemeine Tendenz des Projekts einer konsequent materialistisch begründeten Psychologie des gesellschaftlichen Menschen zu verdeutlichen (und zwar zunächst auf der 'rein theoretischen' Ebene), so wird in der anschließenden Studie versucht, die Konturen dieses Projekts dadurch noch schärfer herauszuarbeiten, dass jene psychologische Grundkonzeption einer radikalen Kritik unterzogen wird, die sowohl von ihrem eigenen Selbstverständnis her als auch in der Meinung des Fachpublikums bereits den Platz besetzt hält, den einzunehmen das Projekt »Psychologie des gesellschaftlichen Menschen« beansprucht, nämlich der häufig mit der »kulturhistorischen Theorie« überhaupt identifizierte psychologische Ansatz, der von A.N. Leontjew Ende der 50er Jahre in die Diskussion eingebracht worden ist und insbesondere bei den deutschsprachigen marxistisch orientierten Psychologen große Popularität erlangt hat. Das zentrale Konstrukt dieses Ansatzes ist bekanntlich das »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept, das in den Auseinandersetzungen um die Perspektiven eines »inneren Ausbaus des Marxismus«, unter gleichzeitigem Verweis auf seine Originalität, nicht selten als das Schlüsselkonzept für das marxistische Verständnis der gesellschaftlich-historischen Bedingtheit der menschlichen Psyche gehandelt wird. Dieses Konstrukt zu problematisieren, ist daher gleichbedeutend mit einer grundsätzlichen Infragestellung nicht nur des Leontjew'schen Ansatzes, sondern auch aller auf ihm basierenden Nachfolgekonzeptionen. In diesem Sinne geht es in der dritten Studie vorrangig darum, das »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept einer an die Wurzel gehenden Überprüfung zu unterziehen, und zwar auf drei, im konkreten Untersuchungs- und Darstellungszusammenhang nicht immer genau voneinander zu trennenden Ebenen: erstens auf der Ebene einer einzelwissenschaftlichen Konzeption, die den Anspruch erhebt, die Frage nach den Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen der sogenannten höheren, d.h. spezifisch menschlichen psychischen Funktionen und Fähigkeiten klarer und treffender zu beantworten als andere, mit ihr konkurrierende theoretische Ansätze; zweitens auf der Ebene einer Konzeption, die den Anspruch erhebt, einen Beitrag zum »inneren Ausbau marxistisch begründeter Wissenschaft« (vgl. Holzkamp & Schurig 1973, XII) zu leisten (in welchem Zusammenhang auch die Frage der »Originalität« der Auffassungen Leontjews zur Debatte steht); schließlich drittens auf der Ebene einer kritischen Würdigung der tatsächlichen ideengeschichtlichen Quellen des »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Paradigmas. Den systematischen Ausgangspunkt aller drei Untersuchungsebenen bilden dabei die bereits eingangs erwähnten von S.L. Rubinstein gegen die Auffassun-

XXXIII gen Leontjews vorgebrachten Einwände, deren Hinterfragung auf die Notwendigkeit fuhrt, zunächst näheren Aufschluss über die bei Marx mit den Termini »Aneignung« und »Vergegenständlichung« verknüpften Vorstellungen zu gewinnen, um diesen Vorstellungen dann jene Konzeptionen gegenüberzustellen, die dem leontjewschen »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept in Wahrheit zugrunde liegen. Bei alledem besteht dann neben dem auf den ersten Blick eher indirekten Bezug zur Thematik der Feuerbach-Wygotski-Linie zugleich auch eine direkte Querverbindung - und dies sogar in zweifacher Hinsicht: zum einen durch die detaillierte Explikation der Bedeutung, welche der von Feuerbach eingeführte und dann von Marx übernommene Terminus »Vergegenständlichung« recht eigentlich hat, und zum anderen durch den Nachweis, dass die LeontjewRubinstein-Kontroverse auf der rein sachlichen Ebene (d.h. unter gänzlicher Außerachtlassung des Problems der Verankerung der Konstruktionen Leontjews in den Auffassungen von Marx) in der Tat bereits im Vorhinein entschieden war, nämlich durch die von Wygotski in seinen letzten Lebensjahren entwickelte (in Auswirkung des »Pädologiedekrets« einerseits und der zunehmend »technizistischen« Ausrichtung der sowjetischen Psychologie andererseits aber systematisch aus dem allgemeinen Diskurs verdrängte) Konzeption der kindlichen Entwicklung, in deren Mittelpunkt das Theorem von der »Zusammenarbeit« als dem 'Urgrund' aller spezifisch menschlichen psychischen Fähigkeiten und Funktionen steht (vgl. hierzu ausfuhrlicher das Kapitel »Wygotski als Schiedsrichter zwischen Leontjew und Rubinstein«). Wenn andererseits die detaillierte Auseinandersetzung mit den sich um den Themenkomplex des leontjewschen »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzepts zentrierenden Problematiken im Rahmen der Gesamtkomposition des Buches so etwas wie ein 'retardierendes Moment' darstellt, das den eigentlichen Übergang von der zweiten zur vierten Studie gleichermaßen vorbereitet wie hinauszögert, so hängt dies damit zusammen, dass zwar die kritische Auseinandersetzung mit den Auffassungen Leontjews (und damit indirekt auch denen der 'orthodoxen' Kritischen Psychologie) für mich selbst in der Tat einen durchgehenden »Untertext« bei der Ausarbeitung der meisten meiner Publikationen seit Anfang der 80er Jahre gebildet hat und so auch bei der Erarbeitung sowohl der zweiten als auch der vierten Studie eine Rolle spielte (vgl. Keiler 1991, 101 u. 154, Anm. 28 sowie Keiler 1994, 307 u. 319 f.), dass auf der anderen Seite meine wissenschaftshistorischen Recherchen aber erst nach Abschluss und Erstpublikation der vierten Studie so weit gediehen waren, dass ich diesen »Untertext« in einer einzigen in sich zusammenhängenden Veröffentlichung explizit machen konnte. In ihren Anfangen bis in den Sommer 1983 zurückrei-

XXXIV chend und in der jetzt vorliegenden Form im wesentlichen im Frühjahr 1995 abgeschlossen13, ist daher die dritte Studie streng genommen ein 'kryptischer' Paralleltext sowohl zur zweiten als auch zur vierten Studie. Im Ergebnis trägt so ihre Lektüre zwar auf jeden Fall zu einem tieferen Verständnis meiner Argumentation in der vierten Studie bei (dies gilt insbesondere für die beiden Kapitel »Biologie und 'objektiver Geist'« sowie »Der Verlust des i.e.S. 'Sozialen' als wesentliches Defizit der Konzeption Meschtscheijakows«) und lässt dabei zugleich im Rückblick auf die zweite Studie einiges klarer werden, was dort nur angedeutet werden konnte; ebenso gut kann man sich aber auch die Lektüre der dritten Studie (die ja bereits für sich genommen genügend Brisanz besitzt, um auch 'außer der Reihe' Interesse zu wecken) bis zum Schluss aufsparen und, ohne in die Gefahr zu geraten, etwas misszuverstehen, die vierte Studie gleich unmittelbar anschließend an die zweite lesen. An dieser Stelle mehr über den Inhalt der vierten Studie zu sagen, als ohnehin bereits aus dem Inhaltverzeichnis hervorgeht, würde definitiv den Rahmen eines einführenden Vorwortes sprengen. Deshalb nachfolgend nur einige den Entstehungszusammenhang dieser Studie betreffende Informationen: Im Zuge der Endredaktion der FKP-Fassung von »Gegenständlichkeit, Sozialität, Historizität« war ich bei der nochmaligen Durchsicht der russischen Wygotski-Werkausgabe auf den bemerkenswerten Sachverhalt gestoßen, dass einer der beiden expliziten Verweise auf Feuerbach, die sich in Wygotskis Spätwerk (soweit bisher publiziert) finden, sich auf die Bedeutung der Auffassungen Feuerbachs für die Begründung einer fortschrittlichen Behindertenpädagogik bezieht (vgl. Sobr. sotsch., Tom 5, 230). Allerdings war es mir zum damaligen Zeitpunkt (nicht zuletzt auch wegen mangelnder Sprachkenntnisse) nicht möglich, diesen Sachverhalt anders als durch einen einfachen Literaturhinweis in besagtem FKP-Artikel zu würdigen. Tatsächlich ergab sich die Gelegenheit, systematisch der Frage nachzugehen, inwieweit Wygotskis eigene »defektologische« Konzeptionen, die ja einen wesentlichen Bestandteil seines Gesamtwerkes bilden14, ihrerseits in den Auffassungen Feuerbachs gründen oder doch zumindest »feuerbachische« Elemente enthalten, erst gut eineinhalb Jahre später, und zwar in Ausweitung und Nachbereitung einer Arbeitstagung der Feuerbach-Gesellschaft, die im September 1992 in Zürich stattfand und den Problemen einer »solidaristischen Ethik« im Sinne der Moralphilosophie Feuerbachs gewidmet war eine Tagung, für die ich selbst zwar keinen ausgearbeiteten Beitrag vorbereitet hatte, zu der ich aber als Diskussionsteilnehmer eingeladen worden war. Dabei ging der entscheidende Impuls für meine direkt im Anschluss an die Züricher Tagung in Angriff genommene und später unter dem Titel »'Behinderung' als pädagogisch-psychologisches Problem und als sozial-ethische Heraus-

XXXV forderung - Feuerbachische Elemente in L.S. Wygotskis Konzeption der kindlichen Defektivität« auch im Tagungsband publizierte Studie (vgl. Keiler 1994) nicht so sehr von dieser Tagung selbst aus als vielmehr von dem, was ich auf der Fahrt von Berlin nach Zürich bei einem Abstecher zu dem bei Ansbach gelegenen »Schloss« Bruckberg in Erfahrung gebracht hatte, d.h. ebenjenem »Schloss«, das für knapp ein Vierteljahrhundert Feuerbachs Wohn- und Arbeitsstätte gewesen war, bis 1860 der Konkurs der dem »Schloss« angegliederten Porzellanmanufaktur (deren Miteigentümerin Feuerbachs Frau Bertha war) den Umzug der Familie in einen Vorort Nürnbergs erzwang. Aus A. Kohuts Feuerbach-Biographie wusste ich bereits, dass das Anwesen unmittelbar nach dem Weggang der Feuerbachs von der bayrischen Regierung aufgekauft worden war, die darin »eine Anstalt für jugendliche Verbrecher und Taugenichtse« einrichtete und einen »pietistischen Geistlichen« zum »Inspektor dieser Anstalt« ernannte (vgl. Kohut 1909, 315). Neu war für mich, dass (wie ich einem in der Pförtnerloge des »Schlosses« ausliegenden und von 1990 datierenden Informationsblatt entnehmen konnte) Bruckberg zwischen 1872 und 1892 noch mehrmals seinen Besitzer und seine Bestimmung gewechselt hatte, um schließlich in das Eigentum der Diakonissenanstalt Neuendettelsau (einer Einrichtung der Evangelischen Landeskirche Bayerns) überzugehen, die daraus eine »Heimat für behinderte Menschen« gemacht hat, so dass (dies der Stand von 1990) »heute in den Bruckberger Heimen, wovon das Schloß ein Teilbereich ist, rund 580 geistig und mehrfach behinderte Schulkinder, Jugendliche und Erwachsene (leben)«. Alles in allem zweifellos ein ungewöhnliches Schicksal für ein ehemaliges Philosophen-Domizil - dabei aber auch ein Schicksal, über das nachzudenken zwangsläufig in eine Frage grundsätzlicher Natur mündet, die Frage nämlich, inwieweit eine sich auf die Prinzipien feuerbachischer Moralphilosophie berufende »solidaristische Ethik«, wenn sie erst einmal die Ebene der abstrakten »Einheit von Ich und Du« hinter sich lässt und gesellschaftliche Relevanz anmeldet, auch den »Verbrecher« und den »Idioten« einbegreift. Und ebendiese Frage war dann der Ausgangspunkt für meine Studie, in deren Kontext schließlich auch geklärt werden sollte, inwieweit das, was von Feuerbach womöglich nur eben 'angedacht' worden war, später durch Wygotski eine detaillierte Ausarbeitung erfahren hatte. Wie die beiden anderen bereits früher publizierten Studien ist auch »'Behinderung' als pädagogisch-psychologischcs Problem und als sozial-ethische Herausforderung« für die erneute Veröffentlichung im Rahmen dieses Bandes noch einmal überarbeitet und teilweise auch textlich erweitert worden14, wobei allerdings der neue Untertitel der Studie: »Humanistischer Materialismus konkret«, weniger durch diese Überarbeitungen gerechtfertigt ist als vielmehr durch die

XXXVI systematische Stellung, die sie in ihrem Verhältnis zu den anderen Studien einnimmt. Dabei sollte der Umstand, dass gerade in den ersten drei Studien eine starke Betonung auf wissenschaftshistorischen Fragen liegt, nicht dazu verleiten, sie so zu behandeln, als sollten sie lediglich ein 'historisches' Interesse befriedigen. Vielmehr geht es auch in ihnen im wesentlichen darum, in einem Verfahren 'progressiver Rückerinnerung' die theoretischen und praktischen Perspektiven des Projekts einer konsequent materialistisch begründeten Psychologie des gesellschaftlichen Menschen zu verdeutlichen. Berlin, im November 1996 Peter Keiler

Anmerkungen zum Vorwort 1 In der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen »Vygotsky Reader« charakterisieren R. van der Veer und J. Valsiner »Mind in Society« äußerst treffend als eine »dem Geschmack des amerikanischen Publikums angepasste cocktailartige Mixtur verschiedener Ideen Wygotskis« (vgl. van der Veer & Valsiner 1994, 4). 2 Bezeichnenderweise werden hier die Auffassungen Rubinsteins über die Gegenständlichkeit der visuellen Wahrnehmung in einem Atemzug mit den Auffassungen von M. Merleau-Ponty zitiert (vgl. Holzkamp 31976, 23-29) - ein Fauxpas, der Holzkamp wohl kaum unterlaufen wäre, wenn er bei der Lektüre von »Sein und Bewußtsein« weniger selektiv vorgegangen wäre. Tatsächlich distanziert sich ja Rubinstein an entscheidender Stelle in sehr scharfer Form von den betreffenden Auffassungen Merleau-Pontys, dem er vorwirft, dass er in seinem Buch »Phänomenologie der Wahrnehmung« (also gerade dem Buch, auf das Holzkamp sich positiv bezieht) »bestrebt« sei, »die idealistische Spitze der Husserlschen [phänomenologischen] Konzeption zu verbergen und damit verhüllt beizubehalten« (zit. nach Rubinstein 1973, 295, Fußn. 259 - Einfüg. in eckig. Klammern P.K.). 3 Diesen Passus 'meint' Holzkamp, wenn er in seinem Buch »Lernen: Subjektwissenschaftliche Grundlegung« schreibt: »Keiler (1984/85) ist dieser Problematik nachgegangen und wies dabei von Wygotski zu Galperin und Leontjew einen eigentümlichen Perspektivenwechsel auf: Während Wygotski einen Funktionswandel des Psychischen durch Hineinwachsen der sozialen Verhaltensformen in das Individuum im Auge gehabt habe, sei von Galperin und Leontjew der Richtungsaspekt von 'außen' nach 'innen', d.h. die Umwandlung der materiell-gegenständlichen Tätigkeit in 'höhere' geistige Prozesse, hervorgehoben worden.« (Holzkamp 1993, 276) 4 Wohl nicht zuletzt durch den von W. Maiers in seinem Aufsatz »Sechzig Jahre Krise der Psychologie« (1988) unternommenen Versuch, die sich aus

XXXVII diesem Sachverhalt ergebende Problemlage weitgehend zu entschärfen, ist Holzkamp in dem für die 'orthodoxe' Kritische Psychologie charakteristischen Vorurteil bestätigt worden, es sei nicht der Mühe wert, sich intensiver mit Wygotski zu beschäftigen. Eine Haltung, die dann in seinem bereits mehrfach erwähnten Buch über Lernen ihren deutlichen Niederschlag in einer nachgerade deprimierenden Verständnislosigkeit gegenüber den authentischen (und eben nicht bloß in der Sekundär- und Tertiärliteratur kolportierten) Auffassungen Wygotskis findet (vgl. a.a.O., 259, 276 f. u. 509). 5 Dies darf keineswegs dahingehend missverstanden werden, dass ich von einem bestimmten Zeitpunkt ab meine historisch-methodologischen Forschungen in völliger Isolation vom allgemeinen Wissenschaftsbetrieb fortgeführt hätte. Tatsächlich ging nämlich mit meiner sukzessiven Ausgrenzung aus der Konsensgemeinschaft der »Holzkamp-Gruppe« eine Entfaltung meiner Beziehungen zu anderen Kollegen, insbesondere Kollegen »jenseits der Mauer«, einher, die nicht zuletzt auf Grund ihrer eigenen gesellschaftlichen Stellung von Anfang an ein wohlwollendes Interesse für mein »Gegen-denStrom-Schwimmen« aufbrachten und mich vor allem in den für den Fortgang meiner Forschungen entscheidenden Jahren auf unterschiedlichste Weise unterstützt haben - sei es, dass sie mich freigebig mit einschlägiger Literatur (dabei nicht selten Rara aus dem eigenen Buchbestand) versorgten, sei es, dass sie auch zu den ungewöhnlichsten Zeiten für längere Beratungsgespräche zur Verfügung standen, die keineswegs immer in völliger Harmonie abliefen, für mich aber in allen Fällen einen Zugewinn an Einsicht und Problemverständnis brachten. Von der Seite der Kolleginnen und Kollegen meiner eigenen Zunft waren dies insbesondere Hans-Dieter Schmidt sowie Helga und Lothar Sprung, während ich unter den Philosophinnen und Philosophen vor allem Camilla Warnke, Peter Ruben, Peter Beurton sowie - last but not least - Werner Röhr zu Dank verpflichtet bin. Drei Jahre vor dem Ende der DDR kam noch Werner Schuffenhauer hinzu, der zwar zunächst einigen der von mir im Zuge der Erschließung der Bedeutung Feuerbachs für die Begründung einer materialistischen Psychologie gewonnenen Einsichten recht skeptisch gegenüberstand (dies betraf insbesondere meine These, dass Kaspar Hauser gewissermaßen eine Schlüsselfigur für das tiefere Verständnis bestimmter Theoreme der feuerbachschen Philosophie darstellt), der mich dafür später aber umso nachhaltiger unterstützte und mir durch die formelle Einführung in die Feuerbach-Gesellschaft (offizieller Name: Societas ad studia de hominis condicione colenda - Internationale Gesellschaft der Feuerbach-Forscher) weitere wichtige Kooperations- und Kontaktmöglichkeiten sowohl innerhalb dieser Organisation als auch über ihre Grenzen hinaus eröffnete. 6 Diese Arbeitstagung fand unter dem Motto »Ludwig Feuerbach und die Zukunft der Philosophie« vom 8.-14. Oktober 1989 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld statt (vgl. hierzu ausführlicher den von H.-J. Braun, H.-M. Sass, W. Schuffenhauer und F. Tomasoni herausgegebenen Sammelband »Ludwig Feuerbach und die Philosophie der Zukunft«). 7 Peinlich aber wahr: Erst nachdem ich unter dem Eindruck von Lessings »Bemerkungen« angefangen hatte, die Arbeiten von Lazarus im Original zu

XXXVIII lesen, habe ich in einem Buch nachgeschlagen, das, als Band 8 der Reihe »Texte zur Kritischen Psychologie« bereits 1978 erschienen, seit 1979 in meinem Bücherregal steht und dem ich daher seit langem schon die entscheidenden Hinweise hätte entnehmen können: S. Jaeger u. I. Staeubles »Die gesellschaftliche Genese der Psychologie«. Nicht nur, dass Jaeger & Staeuble den Ansatz von Lazarus relativ ausführlich erörtern - sie heben auch ein für meine eigenen Recherchen unmittelbar relevantes Moment dieses Ansatzes hervor, wenn sie mit Bezug auf die von Lazarus im dritten Band der Zeitschrift ßr Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft (1865) geleistete Explikation seiner Konzeption vom »objektiven Geist« schreiben: »Aus den Tätigkeiten der einzelnen geht der objektive Geist als Manifestation gesellschaftlichen Bewußtseins hervor. An seiner Gesamtcharakteristik ist nun interessant, daß Lazarus zwischen die im Volk verbreiteten Anschauungen und Denkformen einerseits und die Manifestationen in Kunstwerken, Schriften und Bauten andrerseits die 'Werkzeuge und Maschinen samt allen wissenschaftlichen Instrumenten, in denen der Geist dergestalt objektiviert ist, daß zum bloßen Beharren derselben auch die dauernde Wirksamkeit tritt' (ebd., 54) stellt. Maschinen und Werkzeuge werden als Verkörperung des Geistes besonders hervorgehoben und Lazarus macht den Unterschied zwischen Maschinen und Handarbeit scharf klar: in der Maschine ist ein objektiver Geist vorhanden, der fortschreitender Verbesserung fähig ist, während in der Handarbeit, die vom persönlichen Geist regiert wird, dieser persönliche Geist 'sich mit jeder Generation in jeder einzelnen Person von Neuem aus den ersten Anfangen hinaufarbeiten (muß), so daß von einer fortschreitenden Entwicklung nur schwer und selten die Rede sein kann' (ebd., 47).« (Jaeger & Staeuble 1978, 319) 8 Dies zu erwähnen, erscheint mir notwendig, um allfölligen Missverständnissen vorzubeugen, die sich bei einem direkten Textvergleich meiner Studie mit dem von W. Lefevre auf der bereits erwähnten Tagung der FeuerbachGesellschaft im Oktober 1989 gehaltenen (1990 im Rahmen des diese Tagung dokumentierenden Sammelbandes abgedruckten) Referat ergeben könnten. 9 Vgl. in diesem Sinne auch das von T.J. Oiserman auf der Bielefelder Arbeitstagung über »Probleme der menschlichen Emanzipation in der Philosophie Ludwig Feuerbachs« gehaltene Referat (Oiserman 1990). 10 Vgl. das diesbezügliche längere Zitat am Ende der ersten Studie, S. 29. 11 In Anbetracht der scheinbar vorbehaltlosen Akzeptanz, die mein Aufsatz bei Holzkamp gefunden hatte, war ich bis zur Kenntnisnahme der Erstfassung seines Buches über Lernen im Frühjahr 1992 der festen Überzeugung, dass es zwischenzeitlich zu einer weitgehenden Annäherung unserer seit Beginn der 80er Jahre kontinuierlich divergierenden Auffassungen gekommen war, musste in der Folge aber zu meinem Bedauern einsehen, dass ich offenbar den Fehler begangen hatte, konjunkturelle Zustimmung mit struktureller Übereinstimmung zu verwechseln. 12 In diesem Zusammenhang bin ich insbesondere Rolf Hecker, dem Chefredakteur der Beiträge zur Marx-Engels-Forschung - Neue Folge, zu Dank verpflichtet.

XXXIX 13 Die letzten, das Verhältnis des »völkerpsychologischen« Ansatzes zu den Auffassungen J.G. Herders betreffenden Ergänzungen wurden von mir im Oktober diesen Jahres vorgenommen, und zwar einerseits in unmittelbarer Verarbeitung von Anregungen, die ich noch im September auf der Genfer Piaget-Wygotski-Konferenz durch meinen Berner Kollegen Alfred Lang erhalten habe, andererseits in Rückerinnerung an Hans-Dieter Schmidts Bemühungen früherer Jahre, mir in den unterschiedlichsten Zusammenhängen »seinen« Herder interessant zu machen. 14 Vgl. hierzu den fünften Band der russischen Wygotski-Werkausgabe bzw. den 1993 erschienen zweiten Band der »Collected Works« sowie van der Veer & Valsiner 1991, 60-77. 15 Ich danke dem Berliner Akademie Verlag für die unbürokratische Freigabe der Studie für eine erneute Verwendung.

LUDWIG FEUERBACH: EIN UNBEKANNTER PROMINENTER Methodologische Überlegungen zum Verhältnis von Marxismus und »Feuerbachianismus« »Aber der wissenschaftliche Geist duldet nichts zwischen sich und seinem Gegenstande in der Mitte; Wissenschaft beginnt nur, wenn der Mensch die Dinge im Original, in der Ursprache zu lesen beginnt, wenn er das Wasser des Lebens nicht aus den Händen eines andern, als ein schon überschlagenes, empfangt, sondern frischweg von der Quelle sich selbst holt. Wissenschaftlicher Geist geht überall auf den Ursprung zurück...« L. Feuerbach: Pierre Bayle (1838) 1. Ein »toter Hund«? Um das Verhältnis der deutschsprachigen Marxisten zu Ludwig Feuerbach ist es merkwürdig bestellt: Jeder weiß, »daß Feuerbachs Philosophie unveräußerlich zur unmittelbaren Vorgeschichte des Marxismus gehört« (Schuffenhauer 1975, 168), aber kaum jemand zieht aus diesem Wissen die Konsequenz, sich näher mit Feuerbach zu befassen. Gewiss, es gehört seit langem sozusagen zum 'kleinen Einmaleins des Marxismus', sich mit den von F. Engels »in einem alten Heft von Marx« gefundenen »elf Thesen über Feuerbach« zu beschäftigen, also jenen im Frühjahr 1845 »für spätere Ausarbeitung rasch hingeschriebenen Notizen«, die zwar, wie es bei Engels heißt, »absolut nicht für den Druck bestimmt« waren, die er aber dennoch 43 Jahre nach ihrer Abfassung als Anhang in den Sonderabdruck seiner eigenen Feuerbach-Schrift aufnahm, mit der Begründung, sie seien »unschätzbar als das erste Dokument, worin der geniale Kern der neuen Weltanschauung niedergelegt ist« (vgl. MEW 21, 264). Und die Arbeit von Engels selbst, geschrieben unter der Prämisse, dass es sich bei der »volle(n) Anerkennung des Einflusses, den vor allen andern nachhegelschen Philosophen Feuerbach, während unserer Sturm- und Drangperiode, auf uns hatte«, um eine »unabgetragene Ehrenschuld« handele (ebd.) - sie ist mit Sicherheit einer der am häufigsten gelesenen marxistischen Klassikertexte. Gleichzeitig bedeuten aber offensichtlich die Lektüre des »Ludwig Feuerbach« sowie die Beschäftigung mit den »elf Thesen« für die meisten bereits einen 'Ausstieg' aus dem Thema »Feuerbach«. Und sofern dann doch einmal seine Konzeptionen zur Sprache kommen, dominiert die Attitüde, gestützt auf die Aussagen von Marx und Engels über Feuerbach dessen Auffassungen durch einfache Rückprojektion zu 'rekon-

2 struieren', anstatt sich direkt mit seinen Schriften auseinanderzusetzen. Eine Attitüde, die im Übrigen keineswegs nur bei den deutschsprachigen Marxisten anzutreffen ist - wovon man sich leicht überzeugen kann, wenn man etwa L. Seves »Marxismus und Theorie der Persönlichkeit« zur Hand nimmt. Nun sind aber die marxschen »elf Thesen« auch dort, wo sie sich direkt auf Feuerbach beziehen, bekanntlich keine komprimierte Darstellung von dessen Philosophie, sondern bereits deren aphoristisch verdichtete Kritik1; und das, was Engels in seinem »Ludwig Feuerbach« präsentiert, »ist eigentlich keine ausführliche Analyse der rationalen Elemente der Feuerbachschen Entfremdungsanalyse in ihrer Bedeutung für Marx und auch keine umfassendere Darstellung der Feuerbachschen Grundlegung materialistischer Philosophie (etwa der Materieauffassung, des materialistischen Ansatzes der Menschenkonzeption anhand des Problems der Vergegenständlichung und der Gegenständlichkeit des Menschen und seines Anschauungsvermögens), sondern primär eine außerordentlich scharfe Kritik an Feuerbachs Geschichtsidealismus« (Bialas, Richter & Thom 1980, 338). Das Ergebnis einer sich ausschließlich auf die »elf Thesen« und den Engels-Text stützenden 'Rekonstruktion' der Auffassungen Feuerbachs kann daher zwangsläufig nur eine Vorstellung von der Philosophie Feuerbachs sein, die eine generell kritisch-ablehnende Einstellung gegenüber dieser Philosophie rechtfertigt. So wird verständlich, wie im 'marxistischen Alltagsbewusstsein' stets dieselben (vorwiegend negativ getönten) Vorurteile über Feuerbach reproduziert werden2, ohne Aussicht, dass möglicherweise bei der n-ten Wiederholung der zirkuläre Begründungsmechanismus dieser Vorurteile einmal aufgebrochen werden und aus der Beschäftigung mit den »elf Thesen« oder der Lektüre des Engels-Textes ein wirklicher 'Einstieg' in das Thema »Feuerbach« resultieren könnte. Dabei mag das Verharren in einem sich permanent selbst bestätigenden Klischeedenken seine zusätzliche Rechtfertigung dadurch erfahren, dass weder den »elf Thesen« noch dem »Ludwig Feuerbach« zu entnehmen ist, worin denn eigentlich konzeptionell jener ominöse »Einfluss« bestand, den Feuerbach auf Marx und Engels (zumindest) während ihrer »Sturm- und Drangperiode« ausübte und dessen »volle Anerkennung« Engels als eine »Ehrenschuld« bezeichnet. Tatsächlich vermittelt Letzterer ja an der betreffenden Stelle seiner Schrift den Eindruck, als sei die seinerzeitige »allgemeine Begeisterung« für Feuerbach weit weniger durch die Inhalte seiner Philosophie als vielmehr durch die Manier ausgelöst worden, in welcher er, bildlich gesprochen, dem 'Zeitgeist' einen Tritt vors Schienbein versetzte. Engels schreibt nämlich: »Die Masse der entschiedensten Junghegelianer wurde durch die praktischen Notwendigkeiten ihres Kampfs gegen die positive Religion auf den

3 englisch-französischen Materialismus zurückgedrängt. Und hier kamen sie in Konflikt mit ihrem Schulsystem. Während der Materialismus die Natur als das einzig Wirkliche auffaßt, stellt diese im Hegeischen System nur die 'Entäußerung' der absoluten Idee vor, gleichsam eine Degradation der Idee (...) Da kam Feuerbachs 'Wesen des Christentums'. Mit einem Schlag zerstäubte es den Widerspruch, indem es den Materialismus ohne Umschweife wieder auf den Thron erhob. (...) Der Bann war gebrochen; das 'System' war gesprengt und beiseite geworfen, der Widerspruch war, als nur in der Einbildung vorhanden, aufgelöst. - Man muß die befreiende Wirkung dieses Buchs selbst erlebt haben, um sich eine Vorstellung davon zu machen. Die Begeisterung war allgemein: Wir waren alle momentan Feuerbachianer. (...) Selbst die Fehler des Buchs trugen zu seiner augenblicklichen Wirkung bei. Der belletristische, stellenweise sogar schwülstige Stil sicherte ein größeres Publikum und war immerhin eine Erquickung nach den langen Jahren abstrakter und abstruser Hegelei. Dasselbe gilt von der überschwenglichen Vergötterung der Liebe, die gegenüber der unerträglich gewordenen Souveränität des 'reinen Denkens' eine Entschuldigung, wenn auch keine Berechtigung fand.« (Engels a.a.O., 271 f.) Dass damit aber die Wirkung Feuerbachs auf Marx und Engels von vornherein als lediglich vordergründig und vorübergehend abqualifiziert ist, liegt klar auf der Hand. Fragen nach einem konzeptionellen, möglicherweise länger anhaltenden Einfluss oder gar einer bleibenden Bedeutung Feuerbachs scheinen sich daher zu erübrigen - um so mehr, als es ja ohnehin üblich ist, das wesentliche Verdienst des feuerbachschen Werkes darin zu sehen, »daß es«, wie der DDRPhilosoph W. Harich in einem 1954 anlässlich des 150. Geburtstages von Feuerbach publizierten Artikel schreibt, »dem unermeßlich Größeren ein Stück seines Weges bahnen half« (vgl. Harich 1954, 281). Kein Wunder dann, dass es Generationen junger Marxisten, wenn nicht bereits nach der Lektüre der »elf Thesen«, so doch gewöhnlich nach der Lektüre der Arbeit von Engels vorgezogen haben, das Thema »Feuerbach« auf sich beruhen zu lassen, ohne je danach zu fragen, was denn wohl der tiefere Grund dafür sein könnte, dass, wie es in einem ebenfalls von 1954 datierenden SED-offiziellen 'Jubiläumsartikel' heißt, »die deutsche Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Partei ... das Andenken des großen Materialisten und Atheisten (ehren) und sein Werk fortsetzen)« (Hager 1954, 672). Wenn daher wohl auch kaum jemand, der in der deutschen marxistischen Tradition steht, bestreiten würde, dass Feuerbachs »materialistische Lehre zu den wichtigsten Elementen unseres nationalen Kulturerbes (gehört)«3, so scheint dennoch die aktive Pflege gerade dieses Erbteils nach wie vor in der Verantwortung einiger weniger Spezialisten zu liegen, die vorzugsweise anlässlich 'runder' Gedenktage die Möglichkeit finden, einen Feuerbach überhaupt wieder

4 einmal ins allgemeine Gedächtnis zu rufen - während er von der überwiegenden Mehrheit des »marxistisch« gebildeten Publikums in Anlehnung an ein bekanntes marxsches Diktum so behandelt wird, wie seinerzeit (d.h. als Marx das »Kapital« ausarbeitete) Hegel von den Wortführern des deutschen Bildungsbürgertums behandelt worden ist, »nämlich als 'toter Hund'« (vgl. MEW 23, 27). Und dabei bedarf es nicht einmal eines großen Aufwandes, um sich 'in Sachen Feuerbach' von den tradierten Klischees zu emanzipieren; zumindest für den ersten Zugriff genügt es vielmehr durchaus, sich die bereits erwähnte 'Jubiläums'-Literatur einmal etwas genauer anzusehen, um (unter, wohlgemerkt, marxistischer Perspektive)4 zu einer differenzierteren und zugleich positiveren Sicht auf Feuerbachs Leben und Werk zu kommen. 2. Feuerbachs Verhältnis zur revolutionären Arbeiterbewegung - die politische Dimension seiner »Heidelberger Vorlesungen« von 1848/49 So enthält beispielsweise schon K. Hagers zum 150. Geburtstag Feuerbachs verfasster Aufsatz eine Erläuterung des ominösen Sachverhalts, dass Feuerbach, der ja, wie wir aus der zitierten Kurzcharakteristik bereits wissen, ein »Vertreter der radikalsten Schichten der deutschen Bourgeoisie vor 1848/49« war, der zudem »nicht die Rolle der revolutionären, praktisch-kritischen Tätigkeit erkannte« und sich daher, wie es in einer anderen, gleichgelagerten Kurzcharakteristik heißt, »passiv zum praktisch-revolutionären Kampf (verhielt)«5, dass dieser dergestalt 'durch und durch bürgerliche' Denker also »in seinen letzten Lebensjahren« ausgerechnet »von Arbeitervereinen materiell unterstützt« wurde: Hager greift den Schlussgedanken aus Engels' »Ludwig Feuerbach« auf, dass in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts »nur in der Arbeiterklasse ... der deutsche theoretische Sinn unverkümmert erhalten« blieb (vgl. Hager a.a.O., 667 f. sowie Engels a.a.O., 306 f.), und fahrt fort: »Dies kam auch darin zum Ausdruck, daß auf Initiative der Würzburger sozialdemokratischen Parteizeitung im Jahre 1870 eine Unterstützungsaktion für Feuerbach eingeleitet wurde.« Denn: »In seinen letzten Lebensjahren näherte sich Feuerbach der Arbeiterbewegung. Er war als zahlendes Mitglied bei der Nürnberger Sektion der sozialdemokratischen Arbeiterpartei eingetragen. Seinem Sarge folgten viele Tausende von Arbeitern aus Nürnberg, Fürth und anderen fränkischen Orten mit ihren roten Fahnen.« (Hager a.a.O., 668) Feuerbach war also keineswegs, wie das Klischee es suggeriert, zeitlebens ein 'freischwebender Intellektueller', sondern er gehörte, wenn auch nur in den letzten zwei bzw. zweieinhalb Lebensjahren, als organisiertes Mitglied der revolutionären Arbeiterbewegung an. Und dass es sich bei der Entscheidung des

5 immerhin bereits 66-Jährigen, der erst ein Jahr zuvor gegründeten, von A. Bebel und W. Liebknecht geführten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei beizutreten, nicht etwa um eine Altersschrulle handelte, vielmehr dieser Schritt nur den konsequenten Schlusspunkt der Entwicklung »vom philosophischen Vorkämpfer der wissenschaftlichen kommunistischen Weltanschauung zum Anhänger der von dieser Weltanschauung geleiteten Abteilung der deutschen Arbeiterbewegung« markierte, ist dann sehr überzeugend von F. Richter in seinem Beitrag zum dem 100. Todestag Feuerbachs gewidmeten Heft der Deutschen Zeitschrift fir Philosophie dargelegt worden (Richter 1972 - zum Zitat vgl. a.a.O., 1088)6. Richter liefert in diesem Zusammenhang auch eine äußerst differenzierte Analyse der Gründe, warum Feuerbach »kein aktiver politischer Kämpfer im Vordergrund des gesellschaftlichen Lebens« war (a.a.O., 1084). Da ist dann nicht nur von seinem »politischen Realitätssinn« die Rede (a.a.O., 1086 u. 1088), sondern es wird auch hervorgehoben, dass Feuerbachs philosophisches Wirken (ein Wirken, das notgedrungen vorwiegend literarisch war, da man ihm den Zugang zu einem akademischen Lehrstuhl schon sehr frühzeitig verwehrte) von seinen Zeitgenossen »stets als politisches verstanden worden« ist, und dies nicht zuletzt deshalb, weil Feuerbach bei allem, was er tat, konsequent »den Grundsätzen eines aufklärerischen Radikalismus und eines die Interessen des 'Volkes' reflektierenden Humanismus treu« blieb, (a.a.O., 1084 u. 1086). Dabei werfen dann nicht nur der Inhalt, sondern vor allem auch die Art und Weise der Durchführung seiner »Vorlesungen über das Wesen der Religion« von 1848/49 ein besonderes Schlaglicht sowohl auf das Bestreben Feuerbachs, »als 'Ideologe der Werktätigen' zu wirken« (Richter a.a.O., 1084 u. 1086), als auch auf die durchaus politische Wirkung seines Auftretens in der Öffentlichkeit, weshalb Richter diese Vorlesungen denn auch als »eine philosophisch-politische Tat« würdigt, die Feuerbach »einen Ehrenplatz in den Reihen der Kämpfer der 48er Revolution ein(räumt)« (a.a.O., 1086). Hierzu muss man Folgendes wissen: »Zum Entsetzen aller dortigen Stadtphilister« vom Ansbacher Volksausschuss als Kandidat für die Nationalversammlung nominiert (vgl. den Brief Feuerbachs an E.G. von Herder vom 21. 4. 1848, in: GW 19, 150 f.), im eigentlichen Wahlgang dann aber gemäßigt-liberalen Kräften unterlegen7, begab sich Feuerbach dennoch Mitte Mai 1848 nach Frankfurt und verfolgte bis zum Ende des Sommers »als kritischer Zuschauer«8 die Parteienkämpfe der verschiedenen im Parlament vertretenen politischen Richtungen mit großem Interesse direkt vor Ort9, wobei er seine Hoffnungen darauf setzte, dass sich die Nationalversammlung unter dem Druck der demokratischen Bewegung radikalisieren würde10. Noch im August wurde er dann von der Heidelberger Studentenschaft, deren

6 Vertreter ihn in Frankfurt aufsuchten, dazu bewogen, im folgenden Wintersemester in der Neckarstadt öffentliche Vorlesungen abzuhalten. Feuerbach stand zu seinem Wort, obwohl sehr bald klar war, dass er seine Vorlesungen über Religionsphilosophie nicht, wie ursprünglich vorgesehen, als Universitätsdozent, sondern »in der Rolle eines Privatmannes« würde durchführen müssen (vgl. hierzu die Briefe Feuerbachs an seine Frau vom 14. August und 26. Oktober 1848, in: GW 19, 175 f. u. 193). Auf der Grundlage seiner 1846 veröffentlichten Abhandlung »Das Wesen der Religion« (GW 10, 3 ff.) las er dann vom 1. Dezember 1848 bis zum 2. März 1849 wöchentlich an drei Abenden vor einem gemischten Zuhörerkreis, und zwar im von der Bürgerschaft zur Verfügung gestellten Heidelberger Rathaussaal, da ihm (wie vertraut klingt das alles) die Universität einen Hörsaal verweigert hatte11. Wie dann diese Vorlesungen von seinen Zuhörern aufgenommen wurden, geht auf eindrucksvolle Weise aus einem vom 28. Dezember 1848 datierenden Korrespondentenbericht des Nürnberger Courier hervor, in dem es heißt: »Dass das Auftreten Feuerbachs in mehr als einer Beziehung ein historisches Ereigniss sei, fühlen und fühlten seine Gegner und thaten daher, was zu thun in ihrer Macht steht, wovor aber jeder ehrenhafte Mann zurückbebt, sie verdächtigten und logen in die Welt hinein. Gegenüber diesen Unwahrheiten gibt nun den Freunden Feuerbachs ein Zuhörer desselben hiemit die Versicherung, dass von dem ersten Auftreten an bis jetzt die Theilnahme an den Vorlesungen nicht nur nicht nachgelassen hat, sondern mit jeder Stunde steigt. Als Feuerbach zum ersten Male den Rathaussaal - dort liest er, weil die engherzige Universität kein Auditorium hergibt - betrat, erhob sich die ganze Zuhörerschaft, und der Ernst, mit welchem sie den Spinoza Deutschlands empfing, die Ehrfurcht, mit welcher Aller Augen an der Person des Lehrers hafteten, waren der sprechendste Beweis, dass tief in die Herzen sein Wort gedrungen.« (zit. nach Grün I, 382 f.) Erwähnt werden muss auch, dass Feuerbach, der durchaus auf die Kolleggelder angewiesen war (vgl. die Briefe an seine Frau vom 14. August, 26. Oktober und 10. Dezember 1848, in: GW 19, 176, 193, 197), interessierten Handwerkern und Arbeitern unentgeltlichen Zutritt zu seinen Vorlesungen gewährte, so dass, wie er an seine Frau schreibt, seine Gedanken »in alle Stände und Winkel« dringen konnten (vgl. den Brief vom 12. Februar 1849, in: GW 19, 205). War einerseits »das Professorenvolk ... eben wegen dieser sozusagen kommunistischen, auf alle Stände sich erstreckenden Lehrweise sehr« über ihn »aufgebracht« (a.a.O., 206), so wussten diejenigen, denen diese »kommunistische« Lehrweise zugute kam, die Haltung Feuerbachs sehr wohl zu schätzen, wovon die in der Republik vom 18. März 1849 abgedruckte Dankadresse beredtes

7 Zeugnis ablegt, die ihm zwei Tage zuvor eine Abordnung des Heidelberger Arbeiter-Bildungs-Vereins überbracht hatte: »Hochverehrter Herr! Wir können nicht umhin, Ihnen, ehe Sie aus unserer Stadt scheiden, unseren wärmsten Dank auszusprechen für die freundliche Bereitwilligkeit, mit der Sie uns den Zutritt zu Ihren Vorlesungen erlaubten, und für den unendlichen Dienst, den Sie uns dadurch erwiesen haben. Ja wahrlich, dieser Dienst ist der grösste, der uns hätte geleistet werden können; wir Arbeiter waren bisher verdammt, abhängig zu sein in jeder Beziehung; man hat uns aufwachsen lassen ohne eigentliche Erziehung, ohne Kenntnisse, man hat uns ausgeschlossen vom Besitze und uns dadurch die Mittel genommen, uns zu geistig freien Menschen heranzubilden. Von unserer Zeit erwarteten wir die Verbesserung unserer kümmerlichen Existenz, die Erlösung aus jener geistigen Knechtschaft; und zwar erkannten wir das Letztere als das Hauptsächlichste; darum vereinigten wir uns zu einem Arbeiter-Bildungs-Verein. Damals ahnten und hofften wir nicht, einen Lehrer zu finden, der uns so gründlich zum Ziele führen würde, wie Sie es, hochverehrter Herr, durch Ihre Vorlesungen gethan haben. Wir sind keine Gelehrte und wissen daher den wissenschaftlichen Werth Ihrer Vorlesungen nicht zu würdigen; soviel aber fühlen und erkennen wir, dass der Trug der Pfaffen und des Glaubens, gegen den sie ankämpfen, die letzte Grundlage des jetzigen Systemes der Unterdrückung und der Nichtswürdigkeit ist, unter welchem wir leiden; und dass Ihre Lehre daher, die an die Stelle des Glaubens die Liebe, an die Stelle der Religion die Bildung, an die Stelle der Pfaffen die Lehrer setzt, einzig die sichere Grundlage derjenigen Zukunft sein kann, die wir anstreben ...« (zit. nach Grün I, 385 f.)12 Bei alledem war Feuerbachs 'Geste' gegenüber den Handwerkern und Arbeitern durchaus inhaltlich begründet, hatte er doch bereits in einem 1847 publizierten Aufsatz die These, dass »der Mensch überhaupt nichts andres sein und haben« wolle, »als er bereits ist und hat, aber in einem höheren Grade, vermehrt, gesteigert«, mit folgender Fußnote versehen: »Wie stimmt aber dieser Satz mit den Wünschen unsrer Proletarier, die nichts sind und haben? Ei, die Proletarier haben bereits sehr viel, denn sie haben menschliches Selbstgefühl, menschlichen Bildungstrieb, menschliche Arbeitslust. Sie wollen nicht, wie man ihnen böswilligerweise aufbürdet, vornehme Tagediebe, Müßiggänger und Schlemmer werden; sie wollen sich nicht im Burgunder und Champagner besaufen und an Austern und Gänseleberpasteten krank essen; sie wollen nur den Spottpreis der Arbeit steigern, den wahren Wert der Arbeit, folglich den Arbeiter als das, als was er sich bereits fühlt und weiß, nicht als Mittel, sondern als Selbstzweck, als selbstberechtigtes Wesen anerkannt wissen und geltend machen.« (GW 10, 279) Und so ist es denn auch nur konsequent, wenn Feuerbach in der 1851 veröffentlichten Druckfassung seiner Heidelberger Vorlesungen schreibt:

8 »Wo beginnt in der Geschichte eine neue Epoche? Überall nur da, wo gegen den exklusiven Egoismus einer Nation oder Kaste eine unterdrückte Masse oder Mehrheit ihren wohlberechtigten Egoismus geltend macht, wo Menschenklassen oder ganze Nationen aus dem verächtlichen Dunkel des Proletariats durch den Sieg über den anmaßenden Dünkel einer patrizischen Minorität ans Licht der geschichtlichen Zelebrität hervortreten. So soll und wird auch der Egoismus der jetzt unterdrückten Mehrheit der Menschheit zu seinem Recht kommen und eine neue Geschichtsepoche begründen. Nicht der Adel der Bildung, des Geistes soll aufgehoben werden; oh nein, nur nicht einige sollen Adel, alle andern Plebs sein, sondern alle sollen - sollen wenigstens - gebildet werden; nicht das Eigentum soll aufgehoben werden, oh nein, nur nicht einige sollen Eigentum, alle andern aber nichts, sondern alle sollen Eigentum haben.« (GW 6, 345) 3. »Der Materialismus ist die einzige solide Grundlage der Moral« So wenig all dies in die Klischeevorstellung von Feuerbach als einem 'freischwebenden Intellektuellen' passt, der, nachdem die Bourgeoisie keine Verwendung mehr für seinen »vorwiegend kontemplativen Materialismus« hatte, am Ende in ungebührlicher Weise der Arbeiterwohlfahrt zur Last fiel, so wenig zutreffend ist auch die Behauptung, Feuerbach sei »in seinen sozial-politischen Ansichten idealistisch« gewesen. Tatsächlich gelten für ihn ja »die Lebensliebe, das Interesse, der Egoismus« als die »natürlichen Beine ..., worauf Moral und Recht fußen« (vgl. GW 6, 340). Dabei versteht Feuerbach allerdings unter Egoismus »nicht den Egoismus des Menschen dem Menschen gegenüber, den moralischen Egoismus, ... nicht den Egoismus, der das charakteristische Merkmal des Philisters und Bourgeois« ist, sondern »das seiner Natur und folglich - denn die Vernunft des Menschen ist nichts als die bewußte Natur des Menschen - seiner Vernunft gemäße Sich-selbst-Geltendmachen, Sich-selbst-Behaupten des Menschen gegenüber allen unnatürlichen und unmenschlichen Forderungen, die die theologische Heuchelei, die religiöse und spekulative Phantastik, die politische Brutalität und Despotie an den Menschen stellen« (a.a.O., 60 f.). Das heißt, es geht ihm um »den notwendigen, den unerläßlichen Egoismus, den ... im Wesen des Menschen ohne Wissen und Willen begründeten Egoismus, den Egoismus, ohne welchen der Mensch gar nicht leben kann - denn um zu leben, muß ich [mir] fortwährend das mir Zuträgliche zu eigen machen, das mir Feindliche und Schädliche vom Leibe halten -, den Egoismus also, der selbst im Organismus, in der Aneignung der assimilierbaren, der Ausscheidung der nicht assimilierbaren Stoffe liegt« (a.a.O., 61 - Einfügung in eckigen Klammern P.K.).

9 In späteren Schriften ist Feuerbach dann ausführlicher und differenzierter auf den Gedanken eingegangen, dass die Menschen sich nur aus wohlverstandenem Eigeninteresse miteinander gemein machen. So vertritt er etwa in der 1857 erschienenen »Theogonie« die Auffassung, dass das Recht »nichts andres« sei »als der auf das Band der Blutsverwandtschaft, der physischen Gattungs- oder Geschlechtsgleichheit gegründete, nicht ein-, sondern zwei- oder gegenseitige Egoismus - die durch die Anerkennung der Selbstliebe anderer sich selbst Anerkennung, Geltung verschaffende und sichernde Selbstliebe des Menschen« (GW 7, 141). Und in dem 1866 publizierten großen Essay »Über Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit« schließlich werden ausführlich die Voraussetzungen und Konsequenzen der Einsicht entwickelt, dass der »Materialismus die einzige solide Grundlage der Moral« ist (vgl. GW 11, 53 ff.). Den krönenden Abschluss dieser Gedankenentwicklung freilich bildet die 1868/69 verfasste und erstmals 1874 von K. Grün als Nachlassschrift publizierte Arbeit zur Moralphilosophie13, in der sich an zentraler Stelle recht deutlich die Auseinandersetzung des 'späten' Feuerbach mit der marxschen Gesellschaftstheorie geltend macht. Nachdem er zunächst festgestellt hat, dass in letzter Konsequenz »die Moral ins Gebiet der Privatökonomie und Nationalökonomie« fallt, heißt es hier nämlich: »Wo nicht die Bedingungen zur Glückseligkeit gegeben sind, da fehlen auch die Bedingungen der Tugend. Die Tugend bedarf eben so gut als der Körper Nahrung, Kleidung, Licht, Luft, Raum. Wo die Menschen aufeinander gepresst sind, wie z.B. in den englischen Fabriken und Arbeiterwohnungen, wenn man anders Schweineställe Wohnungen nennen kann, wo ihnen selbst nicht der Sauerstoff der Luft in zureichender Menge zugetheilt wird - man vergleiche hierüber die wenigstens an unbestreitbaren Thatsachen interessantester, aber auch schauerlichster Art reiche Schrift von K. Marx: 'das Kapital' - da ist auch der Moral aller Spielraum genommen, da ist die Tugend höchstens nur ein Monopol der Herren Fabrikbesitzer, der Kapitalisten. Wo das zum Leben Nothwendige fehlt, da fehlt auch die sittliche Notwendigkeit. Die Grundlage des Lebens ist auch die Grundlage der Moral. Wo du vor Hunger, vor Elend keinen Stoff im Leibe hast, da hast du auch in deinem Kopfe, deinem Sinne und Herzen keinen Grund und Stoff zur Moral. (...) - nur die Glückseligkeit, aber nicht die luxuriöse, die aristokratische, sondern die gemeine, plebejische Glückseligkeit, die mit dem Genüsse des Notwendigen, was freilich auch relativ, je nach dem Standpunkt der Menschheit verschieden ist, nach gethaner Arbeit verbundene Glückseligkeit, nur diese ist es, welche im Grossen und Ganzen die Menschen vom Laster und Verbrechen abhält. Wollt ihr daher der Moral Eingang verschaffen, so schafft vor allem die ihr im Wege stehenden, materiellen Hindernisse hinweg! Alles aber, was mit der notwendigen, mit dem menschlichen Leben identischen Glückseligkeit im Widerspruche steht, das steht auch der Tugend im Wege und mit ihr im Widerspruch.« (Grün II, 285 f.)14

10 Nichts wäre, nach alledem, also weniger angebracht, als Feuerbach pauschal eine idealistische Gesellschafts- und Geschichtsauffassung zu attestieren. Es ist vielmehr durchaus gerechtfertigt, davon zu sprechen (wie dies bereits der »Vater« des russischen Marxismus, G.W. Plechanow, in den »Grundproblemen des Marxismus« und W.I. Lenin in seinem Konspekt zu Feuerbachs »Vorlesungen über das Wesen der Religion« getan haben), dass sich bei ihm »Keime einer materialistischen Auffassung der Geschichte« bzw. »Ansätze des historischen Materialismus« finden (vgl. Plechanow 1958, 36, Fußn. 3 sowie LW 38, 51 u. 55 f.)15. 4. »Keime einer materialistischen Auffassung der Geschichte«: das Feuerbach-Bild G.W. Plechanows und W.I. Lenins Freilich sind diese »Keime einer materialistischen Auffassung der Geschichte« bzw. »Ansätze des historische Materialismus« nicht der historische Materialismus selbst, und man muss sich davor hüten, hier in Feuerbach mehr hineinzulesen, als wirklich in ihm steckt. Er war weit davon entfernt, Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen aufzufassen, wie er überhaupt mehr von der »Waffe der Kritik« als der »Kritik der Waffen« hielt - eine Haltung, die insbesondere in seinen Kommentaren zu den aktuellen politischen Ereignissen im Revolutionsjahr 1848 zum Ausdruck kommt. So etwa verurteilt er in seinem vom 30. Juni 1848 datierten Brief an seine Frau zwar das von der Frankfurter Nationalversammlung beschlossene »Gesetz über die Einführung einer provisorischen Zentralgewalt«, da mit diesem »an die Spitze der neuen Zeit die alte Zeit, an die Stelle des Fortschrittes de(r) Rückschritt in die alte Kaiser und Fürstenwelt gesetzt« worden sei, und er legt seine Hoffnung darein, dass diejenigen, die parallel zu den eigentlichen Parlamentssitzungen einen außerparlamentarischen »demokratischen Kongresse abhalten, »das tun, was das Parlament zu tun versäumte«. Aber er erwartet eben auch, dass sie dies vorzugsweise mit friedlichen Mitteln tun, »keineswegs gleich mit Feuer und Schwert«; denn, wie er weiter schreibt, »an der Spitze der Demokraten stehen Intelligenzen, und diese greifen nicht sogleich zu den Mitteln roher Gewalt« (vgl. GW 19, 166). Feuerbach kann daher seine Frau durchaus beruhigen: Falls es dennoch »mit Unheil verbunden sein« sollte, wenn »an die Stelle der alten Bürokraten, der alten Minister und Beamten überhaupt, neue, entschieden demokratisch oder republikanisch gesinnte, aus dem Volke selbst entsprungene Männer treten«, so werde aber »dieses Unheil kein solches sein, wie viele sich vorstellen, weil die Demokraten keine Räuberhorden sind, weil sie selbst in ihren untersten Schichten, den Arbeitern, viel vernünftigere Ansichten und menschlichere Grundsätze haben, als ihre Geg-

11 ner ihnen aufbürden« (a.a.O., 168). Zwar, so seine auf die Pariser proletarische Erhebung vom 23. bis 26. Juni 1848 anspielende Prognose, »(werden) die neuesten schrecklichen Pariser Ereignisse allerdings auch in der Zukunft Deutschlands sich wiederholen, aber doch nicht in einer so schrecklichen, sondern einer dem deutschen Geiste entsprechenden Gestalt, obgleich der Deutsche, wenn er einmal losschlägt, keineswegs sanft zuschlägt« (ebd.). Aufs Ganze gesehen ist so für ihn die Durchsetzung der republikanischen Staatsform in erster Linie nicht eine Frage des politisch-militärischen Sieges des mit dem Proletariat zusammengehenden Bürgertums über den Adel, sondern der Vernunft über die Unvernunft, getreu der Überzeugung, dass »die Republik, versteht sich die demokratische, die Staatsform ist, welche unmittelbar der Vernunft als die dem Menschen gemäße und folglich wahre einleuchtet« (GW 6, 380)16. Alles in allem ist es daher durchaus berechtigt, zu sagen, dass sich bei Feuerbach neben Ansätzen zu einem materialistischen Geschichtsbild durchaus auch idealistische Auffassungen über die »inneren Gründe« der historischen Entwicklung finden, Auffassungen, die allerdings vor und nach ihm auch andere hochkarätige Materialisten vertreten haben. So stellt ihn denn auch Plechanow in dieser Hinsicht in eine Reihe mit D. Diderot, P.H.D. d'Holbach, Cl.A. Helvetius und N.G. Tschernyschewski: »Feuerbach, Tschernyschewski und die französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts glaubten alle, die tiefste, letzte Ursache der geschichtlichen Entwicklung seien die Ansichten der Menschen.« (Plechanow 1955, 504) Für Plechanow ist dies aber lediglich »eine Inkonsequenz, eine Dissonanz in der Weltanschauung« Tschernyschewskis und Feuerbachs, die nichts daran ändert, dass diese Weltanschauung »in ihrer Grundlage materialistisch« war (a.a.O., 511)17. Und wie tief die Einsicht Feuerbachs in das Phänomen des Widerspruchs zwischen »praktischem« und »theoretischem Materialismus« ist, stellt er unter Beweis, wenn er (mit Datum vom 26. Januar 1862) an J. Duboc schreibt: »Denn das ist der grosse Uebelstand bei uns, dass wir nur den Feinden der Freiheit und Menschheit das Recht und Geschick zur Organisation und Korporation überlassen, wir selbst aber unter uns, trotz unseres theoretischen Materialismus, im Leben ohne allen materiellen Zusammenhang und Bestand, uns in's Nichts der blossen Gedankenfreiheit verlieren.« (zit. nach Grün II, 146). Eine Einsicht, aus der er ja dann, wie bereits erwähnt, 1870 die Konsequenz zieht, sich der organisierten Arbeiterbewegung anzuschließen. Dabei zeigt nicht zuletzt gerade das zwiespältige Urteil Lenins, der die von ihm als »Ansätze des historischen Materialismus« qualifizierten Äußerungen

12 Feuerbachs in den »Vorlesungen über das Wesen der Religion« zugleich zum Anlass nimmt, um festzustellen, »wie sehr Feuerbach schon zu dieser Zeit (1848-1851) hinter Marx (Kommunistisches Manifest 1847, Neue Rheinische Zeitung etc.) und Engels (1845: Lage)18 zurückgebliebem sei (LW 38, 56), wie wenig hilfreich die Forderung nach einem klaren 'Entweder - oder' wäre, wenn es darum geht, der Person und dem Werk Feuerbachs wirklich gerecht zu werden. Tatsächlich lassen sich ja genügend 'Beweise' sowohl für seinen »Geschichtsidealismus« als auch dafür finden, dass er nicht nur in Hinblick auf die Naturgeschichte, sondern auch in Fragen der gesellschaftlich-historischen Entwicklung letztlich den Standpunkt des Materialismus verfocht. Und je nach Interessenlage kann man die verschiedenen 'Beweise' unterschiedlich gewichten: Während für Plechanow und Lenin bestimmte Äußerungen Feuerbachs gewissermaßen idealistische 'Rückfälle' bzw. Inkonsequenzen innerhalb einer ansonsten sowohl von der Grundlage als auch der Durchführung her materialistischen Konzeption sind19, sieht Engels die Inkonsequenz gerade in jenen Äußerungen Feuerbachs, in denen sein Materialismus zum Ausdruck kommt. Es sind dies für ihn »Sätze«, die »bei Feuerbach in weiten Zwischenräumen (vorkommen)«, mit denen er »absolut nichts anzufangen (weiß)« und die daher »pure Redensarten (bleiben)« (vgl. MEW 21, 286). 5. Kritische Anmerkungen zu F. Engels' »Ludwig Feuerbach« Bei diesem »Verriss« Feuerbachs ist allerdings nicht nur die spezifische, durch aktuelle zeitliche Umstände bedingte Interessenlage von Engels zu berücksichtigen (einerseits musste Bestrebungen entgegengewirkt werden, Feuerbachs Auffassungen direkt mit dem Marxismus zu identifizieren, andererseits war gegen den Versuch Front zu machen, Feuerbach zum Begründer eines im erklärten Gegensatz zum Marxismus stehenden »wahren Sozialismus« zu stilisieren)20, sondern es muss auch gesehen werden, dass er, als er den »Ludwig Feuerbach« schrieb, lediglich über eine (insbesondere im Verhältnis zu Plechanow und Lenin, die beide intime Kenner aller wesentlichen, vor allem auch der nach 1846 erschienenen Schriften des »Spinozas Deutschlands« waren) vergleichweise schmale Urteilsgrundlage verfügte. Tatsächlich war ja Engels, dessen eigene »Begeisterung« für den Verfasser des »Wesen des Christentums« sich ohnehin immer in engen Grenzen gehalten hatte21, schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt (d.h. 1845/46) 'mit Feuerbach fertig'22, und er überließ es, nachdem er sich im Oktober 1846 »endlich nach langem Widerstreben drangemacht« hatte, »den Dreck von Feuerb[ach] [gemeint ist »Das Wesen der Religion« - P.K.] durchzulesen« (wobei er zu dem Schluss

13 kam, »daß wir in unsrer Kritik darauf nicht eingehen können«), ausschließlich dem Interesse von Marx, sich noch weiter mit »dem Kerl« zu beschäftigen (vgl. MEW 27, 55 f.)23. So konnte er, als er 1885 von der Redaktion der Neuen Zeit dazu aufgefordert wurde, die im selben Jahr als Buch und in deutscher Sprache veröffentlichte Dissertation des jungen dänischen Philosophen C.N. Starcke über Feuerbach zu rezensieren24, letztlich nur dort anknüpfen, wo er knapp vierzig Jahre zuvor den Gegenstand hatte auf sich beruhen lassen (vgl. seine Vorbemerkung zum »Ludwig Feuerbach«, MEW 21, 263 f.). Und da er es anscheinend für zu aufwendig hielt, für die »kritische Besprechung des Starckeschen Buches« (a.a.O., 264) erst noch die im Zeitraum von 1846 bis 1866 erschienene zehnbändige Feuerbach-Werkausgabe sowie die zweibändige von K. Grün besorgte und im Jahre 1874 herausgekommene Ausgabe des feuerbachschen Nachlasses und Briefwechsels durchzuarbeiten, musste er sich hinsichtlich der Beurteilung der Entwicklung der Ansichten Feuerbachs nach 1846 ausschließlich auf die diesbezüglichen Darlegungen Starckes sowie dessen Feuerbach-Textauszüge stützen. Diese weitgehende Abhängigkeit von Starcke schlägt sich dann in frappanter Weise bis in die Details in Engels' eigener Darstellung der »philosophischen Charakterentwicklung« und der »Doktrin« Feuerbachs nieder. Selbst die wenigen von ihm als Beleg angeßhrten Feuerbach-Zitate sind sämtlich Starckes Buch entnommen, wo sie in der Tat nicht nur »in weiten Zwischenräumen vorkommen«, sondern häufig auch 'quer' zu ihrem ursprünglichen Kontext präsentiert werden. Von daher wird verständlich, warum Engels zwar den »Aphorismus« Feuerbachs zitiert: »Wo du vor Hunger, vor Elend keinen Stoff im Leibe hast, da hast du auch in deinem Kopfe, in deinem Sinne und Herzen keinen Stoff zur Moral« (Engels a.a.O., 286), aber unerwähnt lässt, dass Feuerbach die betreffende Einsicht im Zusammenhang einer ausfuhrlichen Bezugnahme auf das marxsche »Kapital« formuliert (vgl. oben, S. 9). Und da Engels den Originaltext nicht kennt, bemerkt er auch nicht, dass er mit dem Abtun des zitierten Diktums als »pure Redensart«, mit der Feuerbach »absolut nichts anzufangen« wisse, einer jener zahlreichen Textmanipulationen aufsitzt, durch die Starcke die feuerbachsche Philosophie dem 'Zeitgeist' zu akkomodieren sucht. Bei Starcke heißt es nämlich: »'Die Grundlage des Lebens ist auch die Grundlage der Moral. Wo du vor Hunger, vor Elend keinen Stoff im Leibe hast, da hast du auch in deinem Kopfe, deinem Sinne und Herzen keinen Grund und Stoff zur Moral ~ Wollt ihr daher der Moral Eingang verschaffen, so schafft vor Allem die ihr im Wege stehenden, materiellen Hindernisse hinweg. Sinnlich ist der Reiz zum Laster, aber sinnlich ist auch der Ekel vor den Folgen des Lasters; kurz, sinnlich ist das verweichlichende, entmannende,

14 knechtende, thatlose Laster der Wollust, aber sinnlich ist auch die kräftigende, befreiende, anstrengende, abhärtende, mühevolle Turnkunst der Tugend. - Die Moral vermag nichts ohne Gymnastik und Diätetik.'« (Starcke 1885, 254) So wenig diese 'Collage' den tatsächlichen Intentionen Feuerbachs gerecht wird (dieser fordert ja, wie deutlich geworden sein dürfte, nicht mehr und nicht weniger als eine radikale Veränderung der ökonomischen Verhältnisse zugunsten der arbeitenden Menschen), so gut stimmt sie allerdings mit Starckes Generalthese zusammen, Feuerbach sei »der originale Entwurf« zu einer »idealistischen Zeit unter dem Mantel des Realismus« (a.a.O., VI - vgl. Engels a.a.O., 286). Er habe »sich daher nicht begnügen« wollen, »ein neues wissenschaftliches Princip aufzustellen, sondern er wollte eine neue Religion einführen, welche nicht, wie die alte, die Menschen lehren sollte, vor einem schon fertigen, lebendigen, übermächtigen Gott zu knien, sondern so zu leben und zu wirken, dass wenn möglich, eine göttliche Existenz im Laufe der Zeit den kommenden Geschlechtern bereitet werden könnte« (a.a.O., XVI)25. Dabei sei das »Grundprincip« der feuerbachschen »humanen, naturwissenschaftlichen Ethik« der »von der Liebe bestimmte Glückseligkeitstrieb« (vgl. a.a.O., 277)26 Indem nun Engels einerseits die Auffassungen Feuerbachs unter dem Blickwinkel der bereits 1845/46 von ihm bzw. von Marx formulierten Kritik 'rekonstruiert' (was die bemerkenswerte, teilweise wörtliche Übereinstimmung mancher Äußerungen im »Ludwig Feuerbach« mit Äußerungen im »Feuerbach«-Kapitel der »Deutschen Ideologie« sowie den kritischen Notizen von Engels zu Feuerbachs »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« erklärt27), andererseits eine in mehrfacher Hinsicht problematische Schrift über Feuerbach so behandelt, als sei sie ein authentischer Feuerbach-Text, ist dann aber zwangsläufig seine Auseinandersetzung mit Feuerbach nicht eine Auseinandersetzung mit dem wirklichen Feuerbach, sondern mit einem Zerrbild von ihm. Infolgedessen ist denn auch vieles von dem, was er über Feuerbach sagt, 'schief, einiges sogar schlicht falsch. Wenn er etwa behauptet: »In der Religionsphilosophie hatten wir doch noch Mann und Weib, aber in der Ethik verschwindet auch dieser letzte Unterschied« (Engels a.a.O., 286), so steht dem bei Feuerbach in seiner Schrift zur Moralphilosophie (und zwar im direkten Anschluss an die lange Passage, in der er unter Berufung auf Marx den Gedanken entwickelt, dass »die Grundlage des Lebens auch die Grundlage der Moral« sei) Folgendes entgegen:

15 »Wo ausser dem Ich kein Du, kein anderer Mensch ist, ist auch von Moral keine Rede, nur der gesellschaftliche Mensch ist Mensch. Ich bin Ich nur durch Dich und mit Dir. Ich bin meiner selbst nur bewusst, weil Du meinem Bewusstsein als sichtbares und greifbares Ich, als anderer Mensch gegenüberstehst.28 Weiss ich, dass ich Mann bin und was der Mann ist, wenn mir kein Weib gegenübersteht? Ich bin meiner selbst bewusst, heisst: ich bin mir vor allem Anderen bewusst, dass ich ein Mann bin, wenn ich nämlich ein Mann bin. Das gleiche, unterschiedslose und geschlechtslose Ich ist nur eine idealistische Chimäre, ein leerer Gedanke.« (Grün II, 287 f.) Und wie »zur physischen Entstehung des Menschen, so gehören auch zur geistigen Entstehung, zur Erklärung der Moral, zum allerwenigsten zwei Menschen - Mann und Weib. Ja, das Geschlechtsverhältniss kann man geradezu als das moralische Grundverhältniss, als die Grundlage der Moral bezeichnen. In einem wahren Kulturstaat, wovon freilich unsre gleissenden Scheinkulturstaaten noch unendlich entfernt sind, ist daher eine Kirche, die ihren Priestern die Ehelosigkeit zum Gesetz macht, eine moralische Unmöglichkeit. Gesetzliche Ehelosigkeit ist so viel als ein gesetzliches Verbrechen. Wo aber ein Verbrechen und zwar ein solches gegen die Natur des Menschen anerkannt und sanktionirt ist, da ist an sich jedes Verbrechen gegen sie geheiligt.« (a.a.O., 288) Man sieht: All dies passt wenig mit der Behauptung von Engels zusammen, bei Feuerbach sei der Mensch »eben nicht aus dem Mutterleib geboren« und lebe »daher auch nicht in einer wirklichen, geschichtlich entstandenen und geschichtlich bestimmten Welt« (Engels a.a.O., 286). Und selbst bei jenen Aussagen Feuerbachs, in denen sein Geschichtsidealismus offen zutage zu treten scheint, ist es auf jeden Fall angebracht, den jeweiligen umfassenderen Kontext mit zu berücksichtigen. So auch bei folgenden, von Engels als Beleg für den »wirkliche^) Idealismus Feuerbachs« (a.a.O., 283) angeführten Äußerungen: »Die Perioden der Menschheit unterscheiden sich nur durch religiöse Veränderungen. Nur da geht eine geschichtliche Bewegung auf den Grund ein, wo sie auf das Herz des Menschen eingeht. Das Herz ist nicht eine Form der Religion, so daß sie auch im Herzen sein sollte; es ist das Wesen der Religion.« (zit. nach Engels ebd.) Zur Zitatverifizierung auf Starcke verwiesen29, findet man die betreffenden Sätze bei diesem als einleitende Äußerungen Feuerbachs zum Thema »Religionsphilosophie« präsentiert und folgendermaßen erläutert: »Es ist ein in unsern Tagen nicht mehr ungekanntes Bestreben, das Verständnis der historischen Formen der verschiedenen Religionen - und darunter verstehe ich den ganzen Apparat von dogmatischen und ritualen Bestimmungen und Lehren - durch eine Betrachtung ihrer historischen Stellung zu suchen. Als solche hat die Religionswissenschaft nicht das Geringste mit der Theologie im strengen Sinne zu thun, es steht Einem noch frei, in den Religionen oder in einer einzelnen bestimmten Religion

16 eine Offenbarung Gottes zu sehen oder auch nicht; man kann noch die Reihenfolge betrachten, in welcher die verschiedenen Religionen einander ablösen, als die Weise, auf welche Gott in seiner Weisheit es für dienlich angesehen hat, seine Offenbarung dem Menschen zufliessen zu lassen, oder man kann in dieser Reihenfolge eine schlichte historische Notwendigkeit mit natürlichen Ursachen sehen. Das historische Studium der Religionsformen ist vollständig neutral, die Resultate können als Waffen gebraucht werden sowohl von den Gläubigen als von den Atheisten, es kommt Alles darauf an, was für eine Hand diese Waffe ergreift. (...) Die Geschichte lehrt uns nur, dass alle Völker, die wir kennen, eine religiöse Entwicklung gleichzeitig mit ihrer Kulturentwicklung durchgemacht haben; grössere Kultur, reinere religiöse Vorstellungen; korrumpirte Kultur, korrumpirte religiöse Vorstellungen.« (Starcke a.a.O., 168 f.) Damit scheint alles klar: Feuerbach ist ein typischer Vertreter jener Art von Geschichtsbetrachtung, welche die kulturelle Entwicklung der Menschheit unmittelbar mit der Entwicklung ihres religiösen Bewusstseins (inklusive des »ganzen Apparats von dogmatischen und ritualen Bestimmungen und Lehren«) korreliert und sie in entsprechende »Perioden« einteilt (vgl. Engels a.a.O., 284 f.). 6. »... eine vernünftige Einheit von Kopf und Herz, von Denken und Leben« Allerdings: Geht man der Sache auf den Grund, so zeigt sich bald, dass bei Feuerbach selbst in Wirklichkeit von etwas ganz anderem die Rede ist, als man im Anschluss an Starckes Explikation seiner Auffassung von einer 'historisierenden' Religionswissenschaft anzunehmen genötigt ist. Tatsächlich stammen nämlich die von Engels als 'letztes Wort in dieser Angelegenheit' interpretierten Äußerungen weder aus einer religionsphilosophischen noch einer geschichtsphilosophischen Schrift, sondern aus einem zu Feuerbachs Lebzeiten nicht publizierten Manuskript, dessen Entstehung von K. Grün, der es unter dem Titel »Grundsätze der Philosophie. Notwendigkeit einer Veränderung« im Rahmen seiner Ausgabe des Feuerbach-Nachlasses erstmals veröffentlicht hat, auf 1842/43 datiert worden ist30. Wie bereits der von Grün gewählte Titel verrät, steht es thematisch in einem engen Zusammenhang mit den 1843 erschienenen »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft«, und einzelne Formulierungen lassen sogar den Schluss zu, dass es Feuerbach in diesem Manuskript direkt darum geht, die 'praktischen Konsequenzen' der in besagter Schrift entwickelten Theoreme zu erläutern.31 Insofern ist denn auch für ihn »Religion« eben nicht, wie für Starcke (und im gleichen Sinne wohl auch für Engels), identisch mit dem »ganzen Apparat von dogmatischen und ritualen Bestimmungen und Lehren« - vielmehr versteht er unter »Religion« die, wie man sagen könnte, 'kategorische' Haltung ei-

17 nes Menschen zu seinen, insbesondere den ihm wesentlichen Gegenständen. »Religion« bedeutet also bei Feuerbach, dass ein Mensch sich nicht allein in seinen Worten, sondern vor allem auch in seinen Taten an einem »höchsten Prinzip« (Grün I, 409)32 orientiert und dann eben nicht bloß 'mit Kopf und Hand', sondern auch 'mit dem Herzen, d.h. als ganzer Mensch' bei der Sache ist. So auch in der Philosophie. In den »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« ist deshalb eine wesentliche Kritik Feuerbachs an der »alten« Philosophie (die sich für ihn am reinsten im Rationalismus Hegels darstellt), dass sie »eine doppelte Wahrheit« hat: »die Wahrheit ßr sich selbst, die sich nicht um den Menschen bekümmerte - die Philosophie -, und die Wahrheit ßr den Menschen - die Religion«. Die »neue«, von ihm propagierte Philosophie dagegen ist »als die Philosophie des Menschen ... auch wesentlich die Philosophie ßr den Menschen - sie hat, unbeschadet der Würde und Selbständigkeit der Theorie, ja, im innigsten Einklang mit derselben, wesentlich eine praktische, und zwar im höchsten Sinne praktische, Tendenz« (GW 9, 340). Sie, »welche den wesentlichen und höchsten Gegenstand des Herzens, den Menschen, auch zum wesentlichen und höchsten Gegenstand des Verstandes macht, begründet daher eine vernünftige Einheit von Kopf und Herz, von Denken und Leben« (a.a.O., 338). Insofern tritt sie »an die Stelle der Religion, sie hat das Wesen der Religion in sich, sie ist in Wahrheit selbst Religion« (a.a.O., 340). Und so hat denn auch die These Feuerbachs, »die Perioden der Menschheit« unterschieden sich »nur durch religiöse Veränderungen«, kaum etwas mit den gängigen Vorstellungen von der Menschheitsgeschichte als einer Abfolge verschiedener Formen des religiösen Bewusstseins zu tun. Tatsächlich geht es ihm nämlich darum, die Notwendigkeit »eine(r) Veränderung, eine(r) Reformation, eine(r) Erneuerung der Philosophie« zu begründen (Grün I, 406) - Hervorh. P.K.), wobei für ihn klar ist, dass »nur die Veränderung der Philosophie die nothwendige, die wahre sein (kann), die dem Bedürfniss der Zeit, der Menschheit entspricht« (a.a.O., 407). Freilich: In »Zeiten des Untergangs einer welthistorischen Anschauung« existieren durchaus entgegengesetzte Bedürfhisse: »Den Einen ist oder scheint es Bedürfniss, das Alte zu erhalten, das Neue zu verbannen, den andern ist es Bedürfniss, das Neue zu verwirklichen«; aber »das wahre Bedürfniss«, so Feuerbach, »liegt auf der Seite, welche das Bedürfniss der Zukunft ist - die antizipirte Zukunft - auf welcher die vorwärts gehende Bewegung ist. Das Bedürfniss der Erhaltung ist nur ein gemachtes, hervorgerufenes - Reaktion. (...) Nur wer den Muth hat, absolut negativ zu sein, hat die Kraft, Neues zu schaffen. Die Perioden der Menschheit unterscheiden sich nur durch religiöse Veränderungen. Nur da geht eine geschichtliche Bewegung auf den tjrrund ein, wo sie auf das Herz des Menschen eingeht. Das Herz ist

18 nicht eine Form der Religion, so dass sie auch im Herzen sein sollte; es ist das Wesen der Religion.« (ebd.) Tatsächlich sei bereits eine in diesem Sinne verstandene »religiöse Revolution« vor sich gegangen: »Das Christenthum ist negirt - negirt selbst von denen, die es noch festhalten - negirt, aber man will es nicht laut werden lassen, dass es negirt ist. (...) Das Christenthum entspricht weder mehr dem theoretischen, noch dem praktischen Menschen; es befriedigt nicht mehr den Geist, aber auch nicht mehr das Herz (...) Das Christenthum ist negirt - negirt im Geist und im Herzen, in der Wissenschaft und im Leben, in der Kunst und in der Industrie.« (a.a.O., 407 f.) Allerdings: »Die bisherige Negation war eine unbewusste. Jetzt erst ist oder wird sie eine bewusste, eine gewollte, eine direkt angestrebte, um so mehr, als sich das Christenthum vermengt hat mit den Hemmnissen des wesentlichen Triebs der jetzigen Menschheit, der politischen Freiheit. Die bewusste Negation begründet eine neue Zeit - die Notwendigkeit einer neuen, offenherzigen, nicht mehr christlichen, entschieden unchristlichen Philosophie. Die Philosophie tritt an die Stelle der Religion, aber eben damit tritt auch eine toto genere unterschiedene Philosophie an die Stelle der frühern.33 Die bisherige Philosophie kann die Religion nicht ersetzen; sie war Philosophie, aber keine Religion, ohne Religion. (...) Soll die Philosophie die Religion ersetzen, so muss die Philosophie als Philosophie Religion werden, so muss sie das auf eine ihr konforme Weise in sich nehmen, was das Wesen der Religion konstituirt, was diese vor der Philosophie voraus hat.« (Grün I, 408 f.) Diese »wesentliche(n) Unterschiede der Philosophie« sind nun für Feuerbach in der Tat »wesentliche Unterschiede der Menschheit«: An die Stelle des Glaubens ist »der Unglaube« getreten, »an die Stelle der Bibel die Vernunft, an die Stelle der Religion und Kirche die Politik, an die Stelle des Himmels die Erde, des Gebetes die Arbeit, der Hölle die materielle Noth, an die Stelle des Christen der Mensch« (a.a.O., 409). Wenn aber »praktisch der Mensch an die Stelle des Christen« getreten sei, so müsse »auch theoretisch das menschliche Wesen an die Stelle des göttlichen« treten: »Kurz, wir müssen, was wir werden wollen, in ein höchstes Prinzip, in ein höchstes Wort zusammenfassen; nur so heiligen wir unser Leben, begründen unsere Tendenz. (...) Denn religiös müssen wir wieder werden die Politik muss unsere Religion werden - aber das kann sie nur, wenn wir ein Höchstes in unserer Anschauung haben, welches uns die Politik zur Religion macht.34 (...) Dieses Prinzip ist kein anderes - negativ ausgedrückt - als der Atheismus, d.i. das Aufgeben eines vom Menschen verschiedenen Gottes.« (Grün I, 409 f.)

19 Dabei hat, so Feuerbach weiter, »der praktische Mensch in seinem Triebe«, was »der Denker in der Erkenntniss vor dem Bewusstsein« hat. Und der »praktische Trieb in der Menschheit« ist »der politische, der Trieb nach aktiver Theilnahme an den Staatsangelegenheiten, der Trieb zur Aufhebung der politischen Hierarchie, der Unvernunft des Volkes, der Trieb zur Negation des politischen Katholizismus. Die Reformation zerstörte den religiösen Katholizismus, aber dafür setzte die neuere Zeit den politischen Katholizismus an seine Stelle. Was die Reformation im Gebiet der Religion wollte und bezweckte, das will man jetzt im Gebiete der Politik.« (a.a.O., 411) Feuerbach korreliert also tatsächlich »Religion« und Gesellschaftszustand miteinander, aber eben auf die für ihn spezifische Weise: »Katholizismus« und »Protestantismus« repräsentieren unterschiedliche, ja gegensätzliche Geisteshaltungen bzw. Grundformen des Denkens. Bereits in seinem 1838 veröffentlichten »Pierre Bayle« ist ihm »Katholizismus« gleichbedeutend mit »Traditions-, Antiquitäts-, überhaupt Autoritätsglauben«, mit dem »Geist der Abhängigkeit und Mittelbarkeit«, während »Protestantismus« für den »Geist der Unmittelbarkeit« und damit den »Geist der Wissenschaft« steht, der »nichts zwischen sich und seinem Gegenstande in der Mitte« duldet (vgl. GW 4, 283). »Protestantismus«, das bedeutet: grundsätzlich sich »seines eigenen Verstandes zu bedienen« (vgl. Kant 1913, 169), selbst sich ein Urteil über eine Sache zu bilden; denn: »Das Urteil ist der Souveränitätsakt des Geistes, ein Akt der Freiheit, der Selbständigkeit, der eigentlich geistige Akt, der Akt, wodurch der Geist Geist ist. Wo daher das Vorurteil herrscht, da hat der Geist seinen Anfang nicht in sich selbst, da bleibt ihm nur eine sekundäre, geistlose Tätigkeit übrig, keine andere als die, Folgerungen aus Sätzen, die er nicht aus sich geschöpft hat, sondern die bereits vor ihm entschieden sind, herauszuziehen.« (GW 4, 280)35 Das Praktischwerden der »neuen« Philosophie zielt daher darauf ab, die Reformation konsequent zu Ende zu führen; denn: »Die bisherige sog. neuere Zeit ist das protestantische Mittelalter, in dem wir nur mit halben Negationen und Behelfen die römische Kirche, das römische Recht, das peinliche Kriminalrecht, die Universitäten im alten Schnitt u.s.w. fortbehielten. Mit der Auflösung des Christenthums des Protestantismus als einer den Geist bestimmenden religiösen Macht und Wahrheit sind wir in die neue Zeit eingetreten. (...) Der Protestant ist ein religiöser Republikaner. Der Protestantismus führt daher in seiner Auflösung, wenn sein religiöser Gehalt verschwunden, d.h. enthüllt, entschleiert ist, zum politischen Republikanismus. Wenn wir den Zwiespalt des Protestantismus zwischen dem Himmel, wo wir Herren, und der Erde, wo wir Knechte sind, aufheben, wenn wir die Erde also als unsern Bestimmungsort erkennen, so führt der Protestantismus stante pede zur Re-

20 publik. (...) Nur wenn Du die christliche Religion aufgehoben hast, bekommst Du so zu sagen das Recht zur Republik; denn in der christlichen Religion hast Du Deine Republik im Himmel, Du brauchst also hier keine. Im Gegentheil, hier musst Du Knecht sein, sonst ist der Himmel überflüssig.« (Grün I, 411 f.) 7. Plechanows Konzept einer »Psychologie des gesellschaftlichen Menschen« Wie man sieht, erscheinen bestimmte Äußerungen Feuerbachs, die als Absolutum präsentiert vom Standpunkt des Geschichtsmaterialismus aus höchst anstößig wirken, in einem völlig anderen Licht, wenn man sie in ihren Originalkontext einordnet. Mehr noch: Es drängt sich sogar die Frage auf, ob nicht das von Marx und Engels auf den Weg gebrachte Projekt womöglich in seiner Ausführung weitaus tragfähiger gewesen wäre, wenn man dabei von vornherein in systematischer Weise auch Überlegungen der genannten Art über die für eine bestimmte historische Epoche charakteristische 'Mentalität' berücksichtigt hätte. Nicht, dass dies später, insbesondere nach dem Tode von Engels, nicht versucht worden wäre. Erinnert sei hier nur an die von Plechanow in den »Grundproblemen des Marxismus« (1908) entworfene »kurze Formel«, mit der er die innere Dynamik des »Verhältnis(ses) zwischen der nun schon berühmt gewordenen 'Basis' und dem nicht minder berühmt gewordenen 'Überbau '36« zu verdeutlichen versucht: »1. Stand der Produktivkräfte; 2. die durch diesen Stand bedingten ökonomischen Verhältnisse; 3. die sozialpolitische Ordnung, die sich auf der gegebenen ökonomischen 'Basis' erhebt; 4. die teils unmittelbar durch die Ökonomie, teils durch die ganze darauf sich erhebende sozialpolitische Ordnung bestimmte Psychologie des gesellschaftlichen Menschen37; 5. die verschiedenen Ideologien, welche die Eigenschaften dieser Psychologie in sich widerspiegeln.« (zit. nach Plechanow 1958, 84) Plechanow zufolge ist diese Formel einerseits »weit genug, um allen 'Formen' der geschichtlichen Entwicklung den gebührenden Raum zu geben«, andererseits stehe sie jedoch »jenem Eklektizismus (vollkommen fern), der über die Wechselwirkung zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften nicht hinauszukommen weiß und nicht einmal ahnt, daß das Faktum der Wechselwirkung dieser Kräfte untereinander noch keineswegs die Frage nach ihrer Entstehung beantwortet« (a.a.O., 84 f.). Mehr noch: Diese Formel sei dezidiert »monistischen Wesens«, so dass sie, wiewohl »ganz und gar vom Materialismus (durchdrungen)«, es zwangsläufig auch gestatte, »in der Geschichte die Wirkung des 'Geistes' anzuerkennen, als einer Kraft, deren Richtung in jedem gegebenen Zeitabschnitt und in letzter Instanz durch den Entwicklungsgang der Ökonomie

21 bestimmt wird«, in welchem gedanklichen Rahmen es auch »unschwer einzusehen« sei, »daß alle Ideologien in der Psychologie der betreffenden Epoche ihre gemeinsame Wurzel haben« (a.a.O., 85)38. Als geradezu symptomatisch für den schon früh erfolgten Rückfall des deutschsprachigen Marxismus in einen marxismus-spezifischen »Katholizismus« kann es dann angesehen werden, dass derartige, die »psychische Wesensart« des »gesellschaftlichen Menschen« als wichtigen Faktor einbeziehende Konzeptionen kaum Aufnahme in die offizielle Diskussion fanden. Eine Diagnose, die sofort sinnfällig wird, wenn man berücksichtigt, dass Plechanow nicht nur die ersten vier Kapitel der »Grundprobleme des Marxismus« einer sehr fundierten, von tiefer Sympathie getragenen Darstellung der Auffassungen Feuerbachs gewidmet hatte (vgl. a.a.O, 13-38), wobei er sich auch mehrfach auf dessen zwei psychologische Hauptschriften »Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist« (1846) und »Über Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit« (1866) bezog, sondern dass er in diesem Zusammenhang auch keinerlei Scheu gezeigt hatte, die mittlerweile - und zwar unter Berufung auf Engels' »Ludwig Feuerbach« und die dieser Schrift als Anhang beigegebenen »elf Thesen« von Marx - bereits 'kanonisierte' Kritik an Feuerbach erheblich zu relativieren: »Als Marx und Engels Feuerbachanhänger zu sein aufhörten«, so Plechanow, »hörten sie damit keineswegs auf, zu sehr bedeutendem Teil seine eigentlich philosophischen Anschauungen zu teilen. Das beweisen am besten jene Thesen, in denen Marx den Standpunkt Feuerbachs der Kritik unterzog. Diese Thesen heben die Grundsätze der Feuerbachschen Philosophie nicht auf, sie verbessern diese Grundsätze nur; ... sie fordern eine - im Vergleich zum Feuerbachschen Verfahren - konsequentere Anwendung dieser Grundsätze auf die Erklärung der den Menschen umgebenden Wirklichkeit, insbesondere aber auf des Menschen eigene Tätigkeit. Nicht das Sein wird durch das Denken bestimmt, sondern das Denken durch das Sein. Dieser Gedanke ist die unterste der Grundlagen, auf denen die ganze Philosophie Feuerbachs beruht. Und es ist derselbe Gedanke, den Marx und Engels zur Grundlage der materialistischen Geschichtserklärung machen. (...) Feuerbach sagt: 'Kunst, Religion, Philosophie oder Wissenschaft sind nur die Erscheinungen oder Offenbarungen des wahren menschlichen Wesens,'39 Daraus folgt, daß das 'menschliche Wesen' über alle Ideologien Aufschluß gibt, d.h., daß die Entwicklung dieser Ideologien durch die Entwicklung des 'menschlichen Wesens' bedingt wird. Was ist aber dieses 'menschliche Wesen'? Feuerbach antwortet: 'Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten ...' 40 Das ist sehr unbestimmt. Und hier haben wir die Grenzlinie vor uns, die Feuerbach nicht überschritt.41 Jenseits dieser Grenze beginnt aber eben das Gebiet der durch Marx und Engels entwickelten materialistischen Erklärung der Geschichte: sie gibt uns gerade die Ursachen an, die im Verlauf der

22 menschlichen Entwicklung die 'Gemeinschaft', die 'Einheit des Menschen mit dem Menschen' bestimmen, d.h. die wechselseitigen Beziehungen, die die Menschen untereinander eingehen. Diese Grenze scheidet nicht nur Marx von Feuerbach - sie bezeugt auch das nahe Verhältnis, in dem beide zu einander stehen. In der sechsten These über Feuerbach heißt es, daß das menschliche Wesen das Ensemble aller gesellschaftlichen Verhältnisse sei.42 Das ist viel bestimmter, als was Feuerbach selbst gesagt hatte; aber hier tritt auch weit klarer als wohl sonst irgendwo der enge genetische Zusammenhang der Marxschen Weltanschauung mit der Philosophie Feuerbachs in Erscheinung.« (Plechanow a.a.O., 34 u. 36 f.)43 Um diese von Plechanow im Namen des Marxismus gegen das von Engels über Feuerbach ausgesprochene Verdikt eingelegte »Revision« (vgl. Rawidowicz 1931, 484)44 richtig würdigen zu können, muss man sich vergegenwärtigen, dass ihm ja die marxschen »Pariser Manuskripte« von 1844, die nach allem zweifellos als der »Höhepunkt des Marxschen 'Feuerbach-Kults'« gelten können (vgl. Arndt 1994, 282), nicht bekannt waren. Hätten sie bereits zum Zeitpunkt der Abfassung der »Grundprobleme des Marxismus« vorgelegen, um wie viel mehr wäre Plechanow berechtigt gewesen, den »engen genetischen Zusammenhang der Marxschen Weltanschauung mit der Philosophie Feuerbachs« herauszustreichen! 8. Plädoyer für einen radikalen PerspektivWechsel Aber nicht nur, dass Feuerbach gegen die offensichtlich ungerechte und (sprechen wir es ruhig deutlich aus) weitgehend auch unqualifizierte Beurteilung durch Engels in Schutz genommen werden muss - zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit seinem Leben und Werk kann es wohl nur kommen, wenn man generell jene innerhalb der marxistischen Tradition verbreitete Attitüde hinterfragt, »Feuerbach ausschließlich von Marx her zu sehen«. Eine Attitüde der Borniertheit, die häufig dadurch noch eine Steigerung erfahrt, dass man sich, um das eingangs bereits zitierte Diktum von W. Harich aus seinem 1954er 'Jubiläumsartikel' noch einmal aufzugreifen, durch Feuerbachs »unmittelbares Vorläufertum zum Marxismus« dazu verleiten lässt, »sein gesamtes Werk schon dadurch« als »erledigt und abgetan« zu betrachten, »daß es dem unermeßlich Größeren ein Stück seines Weges bahnen half«. Eine Einstellung, der allerdings Harich selbst eine klare Absage erteilt, da sie »mit marxistischem Erbantritt bürgerlicher Errungenschaften ... nichts zu tun« habe. Dieser erschöpfe sich nämlich »nicht in der tautologischen Feststellung, daß die überwundenen Stufen des Wissens eben - überwunden sind«, sondern suche sich »des Reichtums bleiben-

23 der Erkenntnis ungeschmälert zu versichern, der allein sie zu Stufen des Wissens macht« (Harich 1954, 281)45. Dass freilich dieses Plädoyer für eine systematische und dabei im vollen Bewusstsein ihrer Notwendigkeit erfolgende »Rückversicherung« durchaus auch einen 'dialektischen Pferdefuß' hat, ist dann bereits von W. Jaeschke in seinem »Feuerbach redivivus« (1978) deutlich gemacht worden. Solange nämlich bei der Beschäftigung mit Feuerbach jener Blickwinkel beibehalten wird, wie er für die traditionelle marxistische Feuerbach-Rezeption charakteristisch ist, »deren Grundzüge durch Marx' Feuerbach-Thesen und die Deutsche Ideologie festgelegt« und »durch Engels' späte Schrift nochmals bekräftigt worden (sind)« und derzufolge Feuerbach »auf halbem Wege zu Marx stehengeblieben, - ja vielleicht noch ein Stückchen weiter, bis hin zur 'Schwelle' zu Marx (gekommen)« ist, kann Feuerbachs Bedeutung zwangsläufig immer nur »in seiner 'katalysatorischen' Stellung« gesehen werden, ist daher der Ansatz einer sich selbst als »marxistisch« verstehenden Feuerbach-Forschung grundsätzlich auf einen sehr engen Aufgabenbereich, nämlich den einer »fortschreitenden, differenzierenden Analyse seines Verhältnisses zu Marx und Engels«, eingeschränkt und so von vornherein die Möglichkeit verbaut, Feuerbachs Werk »in seiner Eigenständigkeit zu behandeln« (vgl. Jaeschke a.a.O., 205). Dieser doch sehr deutlichen Kritik an der Attitüde, dem »Feuerbachianismus« lediglich den Status einer 'Durchgangsstation' auf dem Wege sowohl von der hegelschen Philosophie als auch vom mechanischen Materialismus zum Marxismus zuzugestehen (vgl. ebd.), wäre dann insofern noch ein weiterer Kritikpunkt hinzuzufügen, als innerhalb dieser Attitüde eine zusätzliche und dabei wesentliche Restriktion darin besteht, den Einfluss von Feuerbach auf Marx nur insoweit zu berücksichtigen, als er - in Unterstellung eines »endgültigen Bruchs« - mit der Niederschrift der »elf Thesen« durch Marx als abgeschlossen gelten kann. Auf diese Weise bleiben dann zwangsläufig all jene mehr oder weniger deutlichen Hinweise in den späteren Arbeiten von Marx bis hin zu den »Grundrissen« und zum »Kapital« unbeachtet, aus denen Folgendes hervorgeht: Die von Marx im Vorwort von »Zur Kritik der Politischen Ökonomie« mit Blick auf das unveröffentlichte Manuskript der »Deutschen Ideologie« angesprochene »Abrechnung mit unserem ehemaligen philosophischen Gewissen« (vgl. MEW 13, 10) bestand - zumindest was Marx selbst betrifft - keineswegs in einer abstrakten Negation der Konzeptionen Feuerbachs, sondern vielmehr darin, sich zu diesen Konzeptionen in genau der Weise zu verhalten, wie Feuerbach selbst einmal, und zwar in Erläuterung der hegelschen Auffassung der Geschichte der Philosophie, das Verhältnis von in der Geschichte aufeinanderfolgenden philosophischen Systemen bestimmt hat. Mit Blick auf die Hegel-Kritik C.F. Bach-

24 manns macht nämlich Feuerbach bereits 1835 geltend, dass der Satz, demzufolge »'die der Zeit nach letzte Philosophie (...) als das Resultat der vorhergehenden die Prinzipien aller enthalten' müsse und 'darum die reichste, konkreteste, entfaltetste' sei«, nicht so verstanden werden dürfe, dass »die spätere Philosophie die Prinzipien der früheren so in sich enthalten (müsse), dass man sie mit den Fingern aus ihr herausklauben kann, in der Art und Bestimmtheit, in der sie die früheren Systeme aussprachen«. Vielmehr sei zu berücksichtigen, dass ein »wesentliches Moment der Entwicklung« die »Negation« sei: »Ohne Gegensatz keine Entwicklung. Der spätere Philosoph nimmt den frühern nicht mit Haut und Haaren in sich auf, sondern seine geistige Essenz, seine Seele, seine Idee. Die spätere Philosophie hat zu den frühern Systeme[n] ein ebenso negatives als positives Verhältnis, sie ist die Kritik derselben. Was dem frühem System als das Absolute selbst galt, wird von dem spätem nur zu einem Moment des Absoluten herabgesetzt.« (GW 8, 88 f.) Aber nicht nur, dass sowohl verschiedene inhaltliche Erkenntnisse Feuerbachs als auch die »Feuerbachsche Dialektik« (vgl. Marx 1988, 173) von Marx so »zu einem Moment« der eigenen (und zwar der 'reifen') Theorie und Methode »herabgesetzt« werden, dass sie (wie z.B. der Peter-und-Paul-Aphorismus Im »Kapital«46) als genuine Bestandteile des eigenen Ansatzes erscheinen - die »kritische« Verarbeitung der Konzeptionen Feuerbachs durch Marx beschränkt sich auch keineswegs auf die von Feuerbach bis 1843 erzielten Resultate. Vielmehr gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass Marx auch später formulierte Einsichten Feuerbachs rezipiert und in der beschriebenen Weise genutzt hat. Wenn er beispielsweise in seiner Rede auf dem Polenmeeting in London am 22. Januar 1867 in einer Anspielung auf die Zustände im zaristischen Russland an die »offiziellen Verfolgungen der Mäßigkeitsvereine« erinnert, »die den Moskowiter von dem zu erretten trachteten, was Feuerbach die materielle Substanz seiner [des Moskowiters - P.K.] Religion nennt, d.h. vom Branntwein« (MEW 16, 203), so zeigt diese Erwähnung Feuerbachs, dass Marx eben auch desssen 1851 erschienene »Vorlesungen über das Wesen der Religion« kennt, wo es heißt: »Der russische Staat hat sogar trotz seiner 'substantiellen Glaubenstreue' seine hauptsächliche finanzielle Lebensquelle in dem Gifte des Branntweins.« (GW 6, 341) Und da Marx die »Vorlesungen« kennt und zu Feuerbach nicht im Verhältnis der abstrakten Negation, sondern im Verhältnis der »Aufhebung« (im hegelschen Sinne des Wortes) steht, ist es dann auch gar nicht überraschend, wenn sich im ersten Band des »Kapitals« nahezu wörtlich folgende prägnante Formulierungen Feuerbachs aus den »Vorlesungen« wiederfinden:

25 »Der Mensch bringt Werke außer sich hervor, denen im Menschen der Gedanke derselben, der Entwurf, der Begriff vorausgegangen ist und eine Absicht, ein Zweck zum Grunde liegt. Wenn der Mensch ein Haus baut, so hat er eine Idee, ein Bild im Kopfe, wonach er baut... und ebenso hat er einen Zweck dabei; (...) Der Zweck ist aber im allgemeinen gar nichts andres als eine Willensvorstellung, eine Vorstellung, die nicht Vorstellung oder Gedanke bleiben soll und die ich daher vermittelst der Handwerkzeuge meines Körpers realisiere, d.h. verwirkliche.« (a.a.O., 141 f.)47 Allerdings: Auch die Aufzählung weiterer solcher Beispiele, und wären diese auch noch so eindrucksvoll, würde nichts daran ändern, dass hier Feuerbachs Werk nach wie vor ausschließlich unter der Perspektive erfasst wird, »daß es dem unermeßlich Größeren ein Stück seines Weges bahnen half« - eine Perspektive, die in letzter Konsequenz darauf hinausläuft, dem von Feuerbach Erreichten jeden eigenständigen Wert abzusprechen, analog dem bekannten Vorgang im Neuen Testament, demzufolge die 'historische Mission' von Johannes dem Täufer ausschließlich darin bestand, die Welt auf die baldige Ankunft des »Messias« vorzubereiten. Gemäß der 'inneren Logik' dieser Sichtweise ist es dann bereits gewissermaßen ein Verstoß gegen die Spielregeln, dass Feuerbach nach der Herausbildung der »neuen Weltanschauung« nicht nur ein weiteres Vierteljahrhundert als physische Person fortexistiert hat, sondern dass er zudem auch - in der festen Überzeugung, dass Differenzen zwischen verschiedenen Auffassungsmodi nicht notwendig Gegensätze sein müssen - unbeirrt an der für ihn spezifischen Weise festhielt, Probleme zu formulieren und - wo möglich zu lösen. Ein in dieser Hinsicht äußerst wichtiges Dokument (man kann geradezu von einem »Schlüsseldokument« sprechen) ist dann Feuerbachs in Form eines 'inneren Disputs' abgefasstes Vorwort zum 1846 erschienenen ersten Band seiner »Sämmtlichen Werke«, wo er auch auf den bereits zu diesem Zeitpunkt gegen ihn erhobenen Vorwurf eingeht, dass er, wie es in einem Brief von Engels an Marx heißt (vgl. MEW 27, 58), sich »nicht um wirkliche Interessen bekümmert«. Nachdem er auf die politischen und sozialen Intentionen seines Atheismus hingewiesen hat, gibt er gegen sich selbst zu bedenken: »Gut; aber dein Thema ist doch immer noch nur eine Sache des Kopfes und Herzens. Das Übel sitzt aber nicht im Kopf oder Herzen, sondern im Magen der Menschheit. Was hilft aber alle Klarheit und Gesundheit des Kopfes und Herzens, wenn der Magen krank, wenn die Grundlage der menschlichen Existenz verdorben ist? (...) Daher kommen alle Übel und Leiden, selbst die Kopf- und Herzkrankheiten der Menschheit. Was daher nicht unmittelbar auf die Erkenntnis und Hebung dieses Grundübels eingeht, ist nutzloser Kram. Und in diesen Kram gehören deine Schriften samt und sonders.« (zit. nach GW 10, 189 f.)

26 Hierauf die Antwort: »Leider, leider! Indes gibt es doch auch viele Übel, selbst Magenübel, die nur im Kopfe ihren Grund haben. Und ich habe mir nun einmal, bestimmt durch innere und äußere Veranlassungen, die Ergründung und Heilung der Kopf-, auch Herzkrankheiten der Menschheit zur Aufgabe gemacht. Was man aber sich vorgesetzt, das muß man auch tenax propositi [zäh am Vorsatz festhaltend] ausführen, was man begonnen, auch gründlich, sich selbst treu, vollenden.« (a.a.O., 190 - erklärende Einfüg. v. Bearb.) Dieses unbeirrte Festhalten an dem, was Feuerbach selbst einmal den »psychologischen Standpunkt« genannt hat (vgl. Grün I, 390), seine explizite Weigerung, diesen Standpunkt zugunsten einer 'rein ökonomischen' Sichtweise aufzugeben und sich mit wehenden Fahnen dem Projekt von Marx und Engels anzuschließen (ein Projekt mit dem er im Übrigen von Anfang an durchaus sympathisierte); dieses Bestehen Feuerbachs auf der Berechtigung des Seinigen also ist bekanntlich in der marxistischen Literatur vorwiegend negativ beurteilt worden, wobei auch hier wiederum die von Engels gegebene Einschätzung, dass Feuerbach eigentlich nie »über seinen Standpunkt von 1840 oder 1844 hinauskam)« (MEW 21, 281)48, die allgemeine Richtung gewiesen haben mag. So spricht selbst W. Harich in seinem sonst doch so überzeugenden Plädoyer ßr Feuerbach davon, dass dessen »Schaffen nach 1843 bereits Tendenzen geistiger Stagnation aufweist, die aufs Schärfste hervortreten, wenn man an die gleichzeitige Entwicklung von Marx und Engels denkt« (a.a.O., 283)49. Und wenn W. Schuffenhauer in seinem Vorwort zu den »Gesammelten Werken« Feuerbachs resümiert: »Es ist die Begrenztheit und vielleicht auch die Tragik des Feuerbachschen denkerischen Bemühens, daß er seine tragfähige Idee vom Menschen als Zentralpunkt aller Philosophie nicht wissenschafdich zu vertiefen vermochte, daß er die Philosophie zwar auf die Erde herabrief, sie aber nicht auf festem geschichtlichem, historisch-materialistischem Boden zu gründen vermochte, daß er an der revolutionären marxistischen Lösung dieser Grundfrage sowohl des philosophischen Denkens wie der praktisch-umgestaltenden Tätigkeit vorbeiging und in den Schranken des bürgerlichen Denkens befangen blieb« (GW 1, XXIII f.) so haben wir anscheinend sogar darin eine Anekdote ohne Pointe zu sehen, dass sich - wie Schuffenhauer kurz zuvor festgestellt hat - nicht nur in Feuerbachs Briefwechsel der späten 60er Jahre, sondern auch »in den letzten Zeugnissen seiner philosophisch-theoretischen Arbeit ... Spuren insbesondere der ökonomischen Theorie von Karl Marx finden« (a.a.O., XXII). Freilich ist nicht zu übersehen, dass Feuerbach »die grandiose Kritik der politischen Oekonomie von K.

27 Marx gelesen und studirt hat« (Brief an Fr. Kapp vom 11. April 1868)50, wenn er in seiner nachgelassenen Schrift zur Moralphilosophie schreibt: »Der Werth der Lebensgüter ist ja kein fixer, sondern wie der Barometer, bald im Steigen, bald im Fallen begriffen. Es ist eine triviale Wahrheit, dass wir nicht als Glück empfinden, nicht als solches schätzen, was wir immer, ohne Unterbrechung geniessen ... Ein solches Gut ist vor Allem die Gesundheit; auch sie ist für den Gesunden etwas Triviales, etwas sich von selbst Verstehendes, etwas Unbeachtetes und Werthloses; auch ist sie in der That nur die Voraussetzung für andere Güter, ohne Vermögen, es bestehe nun in der eigenen Arbeitskraft oder in Kapital, der aufgehäuften Arbeitskraft Anderer, nur das traurige Vermögen gesunden Hungers. Aber wenn der arme Teufel, der nichts weiter als seinen Arm oder Kopf sein nennt, krank oder auch nur unpässlich wird, o wie steigt da so gleich die so gering geachtete Gesundheit in der Rangordnung der menschlichen Lebensgüter empor zum Gut über allen andern Gütern, zum höchsten Gute.« (Grün II, 262) Aber ist nicht gerade dieses eigentümliche 'Querdenken' zur marxschen Explikation der Wertproblematik wiederum ein schlagender 'Beweis' dafür, dass er auch 1868, wie schon 1844, »Marx nicht verstanden« hat (vgl. Schuffenhauer 1965, 85)? - Andererseits: Es gibt in dem betreffenden Text auch einen Passus, der nur allzu deutlich zeigt, dass Feuerbach von der »geistigen Essenz« der Kritik der politischen Ökonomie wohl mehr begriffen hat als manch eine(r) von denen, die darin nicht so sehr eine tiefgehende Analyse der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus sehen als vielmehr eine kritische Auseinandersetzung mit jenen 'bürgerlichen' Denk- und Bewusstseinsformen, die G. Lukäcs in »Geschichte und Klassenbewußtsein« unter dem Schlagwort »Verdinglichung« zusammengefasst hat51. In einem Rückgriff auf die Sagenwelt der Antike schreibt nämlich Feuerbach: »Das delphische Orakel erklärte im Gegensatze zu dem dummen König Gyges oder Krösus, der sich wegen seines unermesslichen Reichthums für den glücklichsten Menschen hielt, den armen und tugendhaften Arkader Aglaus für den Glücklicheren. Aber der arme und tugendhafte Aglaus hatte doch einen eignen, zwar kleinen, aber zu seinem Lebensunterhalt vollkommen hinreichenden Acker. Sein Moralsystem war also auf guter materieller Grundlage auferbaut.« (Grün II, 286 f.) Das Fatale bei alledem ist freilich, dass bei allen Bemühungen, gerade für den in die Jahre gekommenen »Spinoza Deutschlands« nachzuweisen, wie sehr er sich doch den politisch-ökonomischen Auffassungen von Marx angenähert habe, er am Ende trotzdem immer wieder dasteht wie weiland der Hase bei seinem Wettlauf mit dem Igel. Aber nicht nur, dass Feuerbach, solange man ihn »ausschließlich von Marx her« sieht, zwangsläufig immer 'auf die Plätze ver-

28 wiesen' wird - es muss unter dieser Perspektive innerhalb seines Gesamtwerks notwendig auch all das unberücksichtigt bleiben, was weder eine direkte Auswirkung auf die Herausbildung der Aulfassungen von Marx und Engels hatte noch innerhalb dieser Auffassungen eine unmittelbare Entsprechung findet. Wenn daher A. Kosing seinen anlässlich von Feuerbachs 100. Todestag verfassten Aufsatz »Ludwig Feuerbachs materialistische Erkenntnistheorie« mit den Worten einleitet: »Die Philosophie Ludwig Feuerbachs nimmt in der Entwicklungsgeschichte der materialistischen Erkenntnistheorie eine besondere Stellung ein, die noch detaillierter zu erforschen ist« (1972, 1090), so zeigt das eben nicht nur, dass man zuguterletzt doch noch auf den »Problemreichtum« aufmerksam geworden ist, »den Feuerbachs Erkenntnistheorie enthält« (a.a.O., 1109), sondern auch, dass man es hundert Jahre lang versäumt hat, sich mit den Spezifika jener materialistischen Erkenntnistheorie auseinanderzusetzen, die, wie Kosing weiter schreibt, »weder mit der des mechanischen Materialismus - wie es oft geschieht - noch mit der des modernen Materialismus von Marx und Engels identifiziert werden« kann (a.a.O., 1090). Und dabei bestehen doch gerade in Fragen der Erkenntnistheorie so weitgehende Übereinstimmungen, dass, wenn etwa Lenin in seinem Konspekt zu den »Vorlesungen über das Wesen der Religion« mit Blick auf Feuerbachs Beantwortung der sogenannten »Grundfrage« der Philosophie (als der Grundfrage nach dem Verhältnis von Denken und Sein) anmerkt: »Feuerbach ist glänzend, aber nicht tief. Engels bestimmt den Unterschied zwischen Materialismus und Idealismus tiefer« (LW 38, 45), man sogleich hinzufügen muss, dass andererseits der von Engels in »Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen« hinsichtlich des Mensch-Natur-Verhältnisses zum Ausdruck gebrachte 'historische Optimismus' (vgl. MEW 20, 453) überhaupt nur unter der Voraussetzung jener Maximen gerechtfertigt ist, die Feuerbach bereits mehr als dreißig Jahre vorher im »Wesen des Christentums« sowie in den »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« formuliert hat, als er auch in der Frage der Erkennbarkeit der Natur den Standpunkt der Gattung gegen den Standpunkt des Individuums durchsetzte (vgl. GW 5, 37 f. sowie GW 9, 279 f.). 9. Das »Purgatorium der Gegenwart« Aber nicht nur in Fragen der materialistischen Erkenntnistheorie, sondern vor allem auch, wenn es um Probleme einer materialistischen Moral- und Persönlichkeitstheorie geht, findet man die betreffenden Antworten bei Feuerbach häufig in aller Ausführlichkeit und dabei durchweg im Sinne humanistischer Grundpositionen entwickelt, während bei Marx und Engels selbst bestenfalls Andeu-

29 tungen auszumachen sind. So dürfte man etwa bei Letzteren schwerlich eine so deutliche Stellungnahme zu Fragen der Geschlechterproblematik finden wie in jenem von Anfang Juni 1870 datierenden Brief Feuerbachs an W. Bolin, in welchem er sich explizit als Sympathisanten der sich gerade formierenden Frauenbewegung ausweist - übrigens ein bereits 1874 von K. Grün im Rahmen des zweiten Bandes seiner Ausgabe des feuerbachschen Nachlasses veröffentlichtes Dokument, das dann von Engels bei der Abfassung seines »Ludwig Feuerbach« ebenso 'übersehen' worden ist wie die im selben Band dokumentierte Bezugnahme Feuerbachs auf das marxsche »Kapital« (und das infolgedessen in der marxistischen Literatur bisher auch kaum Beachtung gefunden hat). In der Tat verträgt es sich ja auch schlecht mit den offiziellen Klischees, dass es ausgerechnet Feuerbach gewesen ist, der, mittlerweile im sechsundsechzigsten Lebensjahr stehend, geschrieben hat: »Wie jedes Gewächs, jedes Thier, hat auch der geistige Mensch seine Zeit, seine Gränze, die er nicht überschreiten kann. Ich kann und will daher keine neue Aufgabe, keine der Aufgaben, die jetzt die Menschheit bewegen, zum Objekt mitschaffender Thätigkeit machen; ich kann nichts weiter thun, als meinen Sinn offen und frei für sie erhalten, als durch teilnehmende Lektüre und Anerkennung sie mir aneignen, um so mich geistig jung und frisch zu erhalten. Eine solche Aufgabe ist, ausser der grossen Arbeiter- und Kapitalistenfrage, die Frauenemanzipation oder Gleichberechtigung der Weiber mit den Männern, die mir eine in NewYork in Amerika erscheinende und auch Ihnen zu empfehlende Zeitung, 'die neue Zeit', nahe gelegt, mir diesen Winter über und jetzt noch zu einer Geist und Gemüth bewegenden Angelegenheit gemacht hat. Ob ich gleich stets die Geschlechtsdifferenz für eine wesentliche, aber nicht nur leibliche, sondern auch geistige gehalten und anerkannt habe, so habe ich doch nie auf eine Inferiorität des weiblichen Geistes geschlossen. Mann und Weib sind nicht nur leiblich, sondern auch geistig unterschieden; aber folgt aus diesem Unterschied Unterordnung, Ausschliessung des Weibes von geistigen und allgemeinen, nicht nur häuslichen Beschäftigungen? - Lassen wir die Frauen nur auch politisiren! Sie werden gewiss eben so gut wie wir Männer Politiker sein, nur Politiker anderer Art, vielleicht selbst besserer Art wie wir. (...) Bei jeder glänzenden, sei es im Guten sei es im Bösen hervorragenden Eigenschaft abstrahiren wir von dem Unterschied des Geschlechts. Die Weiber werden eben so gut als die Männer geköpft; warum sollen sie nicht auch Bürgerkronen verdienen können, warum sollen ihnen nicht die Mittel gegeben, die Bahnen geöffnet werden, solche zu verdienen? Kurz, die Emanzipation des Weibes ist eine Sache und Frage der allgemeinen Gerechtigkeit und Gleichheit, die jetzt die Menschheit anstrebt, eine Bestrebung, deren sie sich rühmt, aber vergeblich, wenn sie davon das Weib ausschliesst.« (zit. nach Grün II, 201 f.)

30 Alles in allem, dies dürfte hinreichend klar geworden sein, ist also Feuerbach ein »unbekannter Prominenter«, mit dessen Person und Werk sich näher bekannt zu machen auch heute noch (oder vielleicht gerade heute) eine durchaus lohnende Beschäftigung ist. Man mag von der (ja nicht erst seit dem Herbst 1989 kursierenden) These vom »Scheitern des Marxismus« halten, was man will - es ist auf jeden Fall ein fataler Kurzschluss, aus dem Umstand, dass sich bei der Bestimmung der Rolle des »subjektiven Faktors« im Gesamt der gesellschaftlichen Prozesse das Raster der ökonomischen oder ausschließlich an der Klassenlage der jeweiligen Individuen orientierten Ideologieanalyse letztlich immer als zu grob erweist, zu folgern, man müsse das, was bei den »Klassikern« nicht zu finden sei, bei ihren direkten 'Antipoden', d.h. bei A. Schopenhauer, F. Nietzsche und S. Freud oder deren (sich selbst als »post-modern« missverstehenden) Deszendenten, suchen. Allerdings kommt dieser Kurzschluss keineswegs zufällig zustande, er ist vielmehr das notwendige Resultat der systematischen Unterschätzung der Bedeutung, die den Auffassungen Feuerbachs für die erfolgreiche Durchführung des Projekts »Marxismus«52 zukommt. Indem nämlich mit penetranter Hartnäckigkeit (und nicht selten unter Berufung auf Engels) »Feuerbach - gegenüber Hegel - an die Peripherie des Entstehungsprozesses« des Marxismus »gerückt« wurde, musste dieser in letzter Instanz lediglich »als modifizierter Hegelianismus erscheinen«, wobei dann zwangsläufig auch der Materialismus zum »nebengeordneten Moment« herunterkam. Und waren »die entscheidenden materialistischen Quellen des Marxschen Denkens erst einmal abgeschnitten und die idealistische Dialektik Hegels sowie das 'kritische' Denken der Junghegelianer zum bestimmenden Moment aufgebläht«, so war allen Arten einer »idealistischen Fehldeutung« des Projekts »Marxismus« der Weg geöffnet (vgl. Finger a.a.O., 1113)53. Wenn ein solches Marxismusverständnis in die Krise gerät (die in Wirklichkeit nur die Krise einer bestimmten Variante des Neuhegelianismus ist), dann scheint, bei gleichzeitigem Beharren in der Attitüde des »Antipositivismus«, in der Tat als einziger Ausweg nur noch eine Flucht in das 'ganz Andere' offenzustehen. Die adäquate Antwort auf das Scheitern der »abstrakten und abstrusen Hegelei« bzw. des »Überhegeln Hegels«, wie Lukäcs es selbstkritisch genannt hat (Lukäcs a.a.O., 25), kann aber heute ebenso wenig wie zur Vormärz-Zeit ein Salto mortale in den Irrationalismus sein. Vielmehr dürfte das von Feuerbach selbst bereits im Jahre 1842 geprägte Wortspiel, er sei das »Purgatorium der Gegenwart« (Vgl. MEW 1, 27)54, nichts an Aktualität eingebüßt haben. Und so mag denn auch als Schlusspunkt dieser Studie ein weiterer Aphorismus von ihm stehen, den ein wenig abzuändern ich mir die Freiheit genommen habe:

31 »'Was kann von Schloß Bruckberg Gutes kommen?' So denken immer die Hochweisen und Altklugen. Allein das Gute, das Neue kommt gerade immer daher, woher man es nicht erwartet, und ist immer anders, als man es erwartet.« (vgl. GW 10, 174)

Anmerkungen zur 1. Studie 1 Sie sollten daher eigentlich auch treffender »Aphorismen über Feuerbach« heißen. 2 Eine geradezu 'klassische' Zusammenstellung solcher Stereotypen ist folgende, im Personenregister von MEW 28, 782 gegebene Kurzcharakteristik: »Feuerbach, Ludwig (1804-1872) bedeutendster materialistischer Philosoph der vormarxistischen Periode, einer der unmittelbaren Vorläufer des Marxismus, kämpferischer Atheist; Vertreter der radikalsten Schichten der deutschen Bourgeoisie vor 1848/49; führte den Kampf gegen die Ideologie des Feudalismus, jedoch nur von aufklärerisch-theoretischer Position aus; übte grundlegende Kritik an der christlichen Religion, brach mit dem Hegelschen Idealismus, verwarf jedoch auch dessen Dialektik; sein Materialismus vorwiegend kontemplativ, erkannte nicht die Rolle der revolutionären, praktisch-kritischen Tätigkeit, deshalb in seinen sozial-politischen Ansichten idealistisch. Die Bourgeoisie schwieg ihn tot; litt in seinen letzten Lebensjahren bittere Not und wurde von Arbeitervereinen materiell unterstützt.« 3 Vgl. hierzu das Stichwort »Feuerbach« in den Personenregistern der MEWBände 18, 20, 21 und 27. Die ebenda von Feuerbach gegebene Kurzcharakteristik unterscheidet sich von der in Anmerkung 2 zitierten in einem solchen Maße, dass man meinen könnte, es handele sich dabei nicht etwa um ein und dieselbe, sondern um zwei verschiedene Gestalten der deutschen Kulturgeschichte, die zufälligerweise den gleichen Namen haben. Es passt allerdings durchaus ins Bild, wenn in den Registern der MEW-Bände über ein Vierteljahrhundert hinweg nicht weniger als drei, in wesentlichen Punkten voneinander abweichende Kurzcharakteristiken Feuerbachs miteinander konkurrieren konnten, ohne dass jemand an den im direkten Vergleich der verschiedenen Versionen zutagetretenden Ungereimtheiten ernsthaft Anstoß genommen hätte. 4 Den Gründen für die seit Ende der 50er Jahre außerhalb der marxistischen Tradition zu konstatierende, bezeichnenderweise nach der Säkular-Feier seines Todes (1972) doch merklich nachlassende »Feuerbach-Renaissance« nachzugehen, wäre Aufgabe einer eigenen Studie. Zur Gewinnung eines ersten Überblicks sei hier auf die von H.-M. Saß als Arbeitsmaterial für die Ludwig-Feuerbach-Tagung des Zentrums für interdisziplinäre Forschung, Bielefeld, vom 5. bis 8. September 1973 zusammengestellte Übersicht über die von 1960 bis 1973 erschienene Feuerbach-Literatur (vgl. Saß 1975) sowie auf W. Jaeschkes umfangreiches, im 13. Band der Hegel-Studien (1978) veröffentlichtes Sammelreferat »Feuerbach redivivus« verwiesen.

32 5 Vgl. hierzu das Stichwort »Feuerbach« in den Personenregistern der MEWBände 31, 32 und 33. 6 Nicht unerwähnt bleiben darf, dass genau dies bereits hundert Jahre früher von einem erklärten Gegner Feuerbachs, dem Neukantianer W. Windelband, ganz offen ausgesprochen worden ist, als er in seinem in der Zeitschrift Im neuen Reich veröffentlichten 'Nachruf auf Feuerbach, mit deutlich erkennbarem Ressentiment gegenüber der SPD, feststellte: »Die annexionslustigste unserer Parteien hat noch an seinem offenen Sarge ihr rothes Banner entfaltet und den abgeschiedenen Denker als den ihrigen reklamirt. Nun soll es nicht geleugnet werden, daß Feuerbach sich in seiner Entwicklung schließlich für die Grundsätze dieser Partei entschied und dieselben mit all der Energie und Consequenz vertrat, welche in seiner mächtig angelegten Natur gegeben war ... Nur muß man nicht glauben, das Wesen eines bedeutenden Mannes damit erschöpft und ihm durch das Attribut eines Parteimannes genug gethan zu haben. Die Bestrebungen und vor Allem der tief bedeutungsvolle Entwicklungsgang eines Mannes wie Feuerbach sind umfassender und gehaltvoller, als daß sie sich in das enge Programm einer politischen Partei mit ihren Tagesinteressen einzwängen ließen: und die Stellung, in welcher er sich zuletzt zu den socialen Fragen befand, kann nur dadurch Werth gewinnen, daß man begreift, auf welchem Wege er aus der Gedankenwelt der deutschen Philosophie dazu gelangt ist.« (Windelband 1872, 736) 7 Umstände und Verlauf der Kandidatur Feuerbachs für das Frankfurter Parlament sind ausführlich dokumentiert in W. Schuffenhauers Aufsatz »Ludwig Feuerbach im Revolutionsjahr 1848« (1982). 8 Nicht nur vom Ansbacher Volksausschuss war Feuerbach als Kandidat für die Nationalversammlung nominiert worden - auch der vor allem von der demokratisch orientierten Studentenschaft getragene Münchener »BauhofClub, Verein für Volkswohl« hatte sich auf Initiative seines alten Studiengenossen K. Riedel mit einem entsprechenden Vorschlag an ihn gewandt (jeder Bewerber hatte die Möglichkeit, in beliebig vielen Wahlkreisen zu kandidieren). Mit dieser Nominierung, die Feuerbach allerdings »hoffnungslos verspätet« erreichte (Schuffenhauer a.a.O., 195), war zugleich die Bitte an ihn ergangen, »im Interesse dieser Kandidatur sein politisches 'Glaubensbekenntnis' abzulegen« (ebd.). In seinem vom 26. April 1848 datierten, als offener Brief an Riedel und seine politischen Freunde konzipierten Antwortschreiben (veröffentlicht am 3. Mai in der Münchener Zeitung Neueste Nachrichten auf dem Gebiet der Politik) hatte Feuerbach dann zwar zu erkennen gegeben, dass er seiner Kandidatur ohnehin keine großen Chancen einräumte (»Die Macht der Vorurteile, die Macht des Pfaffengeistes ist noch nicht gebrochen (...) Die Wahlen sind nicht frei, sondern stehen unter dem Einflüsse der Gespensterfurcht, der Ignoranz und anderer finsterer Mächte.«), zugleich jedoch angekündigt, auf jeden Fall »als kritischer Zuschauer« nach Frankfurt zu gehen (zum vollen Wortlaut des Briefes vgl. Schuffenhauer a.a.O., 196, Anm. 15 sowie GW 19, 151 f.). 9 Dass Feuerbach den Verhandlungen in der Paulskirche zumindest bis zum 7. Juni sogar unmittelbar beigewohnt hat, und zwar als Inhaber eines provi-

33 sorischen Journalisten-Platzes, geht aus einer von Schuffenhauer referierten Mitteilung der Neuen Rheinischen Zeitung vom 9. Juni 1848 hervor, derzufolge mehrere mit Legitimationen ausgestattete Korrespondenten demokratischer Zeitungen (namentlich genannt werden außer Feuerbach noch J. Fröbel, O. Lüning und H. Bode) ihrer Journalisten-Plätze zugunsten von Korrespondenten liberaler und konservativer Blätter verlustig gingen. Schuffenhauer schreibt hierzu: »Welche Korrespondenten-Legitimation Feuerbach hatte, ist bisher nicht bekannt; es darf vermutet werden, daß diese Legitimation einen realen Hintergrund hatte, Feuerbach in der Tat über die Ereignisse in Frankfurt a.M. Berichte erstattet hat. Feuerbach weilte bis zu den Septemberereignissen am Ort der Nationalversammlung.« (Schuffenhauer 1990, 783) 10 Vgl. hierzu die Briefe Feuerbachs an seine Frau Bertha vom 30. Juni und 14. Juli 1848 (in: GW 19, 166 ff. u. 169 ff.) sowie Richter a.a.O., 1086, außerdem Schuffenhauer 1972, 1078 u. Schuffenhauer 1982, 197 ff. 11 Feuerbach selbst kommentierte das Stattfinden seiner Vorlesungen außerhalb der Universität in einem Anflug von Galgenhumor, wie folgt: »So ist schon durch den Ort, wo ich lese, mein Standpunkt sinnvoll richtig bezeichnet - mein ungewöhnlicher, in keiner Abhängigkeit von der Regierung, in keinem Zusammenhange mit dem gelehrten Zunft- und Kastenwesen stehender Standpunkt.« (Brief Feuerbachs an seine Frau vom 10. Dezember 1848, in: GW 19, 197) 12 In ähnlichem Sinne wie die »Vorlesungen über das Wesen der Religion« von den Heidelberger Arbeitern war schon 1844 Feuerbachs »Wesen des Christentums« (11841, 2 1843) von den im Pariser Exil lebenden kommunistisch gesinnten deutschen Handwerkern aufgenommen worden. So schreibt Marx in seinem berühmten vom 11. August 1844 datierten Brief an Feuerbach: »Die hiesigen deutschen Handwerker, d.h. der kommunistische Teil derselben, mehrere Hunderte, haben diesen Sommer durch zweimal die Woche Vorlesungen über Ihr 'Wesen des Christentums' von ihren geheimen Vorstehern gehört und sich merkwürdig empfanglich gezeigt.« (zit. nach MEW 27, 428) 13 Bereits in seiner am 11. November 1872 »auf Veranlassung des Freien Deutschen Hochstiftes für Wissenschaften, Künste und allgemeine Bildung« gehaltenen Gedenkrede für den zwei Monate zuvor (12. September) verstorbenen Feuerbach verweist Con. Beyer auf »das kürzlich in seinem« (d.h. Feuerbachs) »Nachlaß aufgejundene, höchst interessante Manuscript ..., dessen Inhalt dem Gebiete der Moralphilosophie angehört« und das »nach Versicherung einer nächsten Verwandten« (gemeint ist Feuerbachs Tochter Eleonore) »in den Jahren 1868-1869« geschrieben worden ist (zit. nach Beyer 1873, 40). 14 Wie die kürzlich von W. Schuffenhauer durchgeführte kritische Revision des Originalmanuskripts ergeben hat, sind an dem Text nachträglich Korrekturen vorgenommen worden, die eindeutig nicht von Feuerbach selbst stammen. Dabei gehen dem Befand Schuffenhauers zufolge »einzelne Fürst von Bismarck, K. Marx, K. Vogt betreffende Textkorrekturen und Streichungen im Manuskript wie auch Auslassungen im Druck vermutlich auf

34 Feuerbachs Tochter (im Prozeß der Abschrift) zurück, die Schwierigkeiten wie auch ihr und der Mutter unerwünschte Parallelisierungen des Denkens des Vaters bei einer Veröffentlichung des originalen Wortlautes befürchtet haben mag« (Schuffenhauer 1994, 361). Dies betrifft auch einige Stellen der hier zitierten längeren Passage aus dem »Noth meistert alle Gesetze und hebt sie auf« überschriebenen Kapitel. Tatsächlich heißt es dort im Original nämlich: »... - und damit fallt die Moral ins Gebiet der Volkswirtschaft, ins Gebiet überhaupt der sozialen und selbst politischen Wissenschaften ...« sowie »... - man vergleiche hierüber die lehrreiche, ebenso an reformatorischen Gedanken als an Tatsachen interessantester, aber auch schauerlichster Art reiche Schrift von K. Marx: 'Das Kapital' - ...«; und statt von »plebejischer« hatte Feuerbach von »demokratischer Glückseligkeit« gesprochen (vgl. Feuerbach 1994, 404, Fußn. 175; 405, Fußn. 176 u. 406, Fußn. 185). 15 Unter den neueren in der marxistischen Tradition stehenden Autoren ist in jüngster Zeit auch von W. Lefevre, mit Blick auf Feuerbachs »Über Spiritualismus und Materialismus« sowie seine Schrift zur Moralphilosophie, darauf hingewiesen worden, dass Feuerbachs »Verständnis der Ethik ethische Fragen in sozial- und geschichtswissenschaftliche Fragestellungen zu integrieren gestattet«, was es »erst einmal zu würdigen« gelte, »bevor man bemängelt, daß er nicht selbst an die entsprechenden gesellschafts- und geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen gegangen ist« (Lefevre 1994, 138). Besondere Beachtung verdient dabei Lefevres Hinweis, dass in Feuerbachs Darstellung der in der Ökonomie (Feuerbach spricht vom »menschlichen Verkehr überhaupt« sowie von der »Beziehung des Produzenten auf die Konsumenten, des Verkäufers auf die Käufer«) deutlich zutage tretenden wechselseitigen Verschränktheit der Interessen der verschiedenen Individuen (vgl. GW 11, 77 f.) Überlegungen durchscheinen, die sich schon in »Hegels 'System der Bedürfnisse'« (vgl. TWA 7, 346 ff.) finden (Lefevre a.a.O., 135); immerhin ist dies ein deutliches Anzeichen dafür, dass Feuerbach sich bereits vor seiner Lektüre des im September 1867 erschienenen marxschen »Kapitals« mit Grundfragen der Nationalökonomie zu beschäftigen begonnen hatte. 16 Der Vollständigkeit halber muss hier angemerkt werden, dass in späteren Jahren Feuerbach auch in dieser Frage entschieden radikalere Ansichten vertrat. So schreibt er etwa unter dem Datum des 11. April 1868 an F. Kapp mit Blick auf die deutschen Zustände nach dem preußischen Sieg über Österreich und die Gründung des Norddeutschen Bundes: »Was kann überhaupt nach allen Erfahrungen der neueren Geschichte aus einer dynastischen Regierung allgemein Gutes hervorgehen? (...) Hat Preussen den Willen, den Mut, die Macht gehabt, Deutschland zu einigen? Mit Nichtem. Es hat nur sich, nur seine Vergrößerung gewollt und erreicht. Mehr erreicht es auch nicht, so lange es ein fürstliches, ein königliches Preussen bleibt (...) Ich bleibe fest bei dem Satze der alten französischen Revolution stehen: es wird nicht eher besser als bis an dem letzten Pfaffendarm der letzte König hängt.« (zit. nach AgB II, 352 - Hervorhn. P.K.) 17 Übrigens sollte in diesem Zusammenhang die Frage erlaubt sein, wie denn wohl die häufig zitierte These von Marx zu klassifizieren sei, wonach »auch

35 die Theorie zur materiellen Gewalt (wird), sobald sie die Massen ergreift« eine Frage, die sich umso mehr aufdrängt, wenn man feststellt, dass ebendiese These letztlich nur die Paraphrase eines ursprünglich von Feuerbach formulierten Gedankens ist. Dieser hatte nämlich in einem vom Juni 1843 datierten Brief an A. Rüge geschrieben: »Was ist Theorie, was Praxis? Worin besteht ihr Unterschied? Theoretisch ist, was nur noch in meinem Kopfe steckt, praktisch, was in vielen Köpfen spukt.« (zit. nach GW 9, 342) 18 Gemeint ist F. Engels' Schrift »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« (vgl. MEW 2, 225 ff.). 19 Plechanow bezeichnet an späterer Stelle des zitierten (aus dem Jahre 1911 stammenden) Aufsatzes die Philosophie Feuerbachs als »materialistische Philosophie«, die »noch nicht Zeit gefunden hatte und nicht imstande gewesen war, sich von der idealistischen Ansicht über das gesellschaftliche Leben loszusagen«, ein »Mangel«, der »erst von Marx und Engels beseitigt« worden sei (vgl. a.a.O., 521). 20 Die mit diesen knappen Worten nur unzureichend charakterisierte Interessenlage von Engels (siehe hierzu auch die auf der Bielefelder Ludwig-Feuerbach-Tagung 1973 im Anschluss an den Beitrag von H. Arvon geführte Diskussion) in ihrer ganzen Komplexität darzustellen, muss einer besonderen Untersuchung vorbehalten bleiben, in der dann nicht nur detailliert auf die wissenschafts- und parteipolitischen Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts einzugehen wäre (vgl. die diesbezügliche Forderung W. Lefevres 1990, 716), sondern auch das spezifische Verhältnis von Engels zu Feuerbach und dessen Anschauungen genauer analysiert werden müsste. Einer solchen ins Detail gehenden Studie kann hier indes bereits Folgendes vorweggeschickt werden: Sieht man davon ab, dass sich Marx in einem anlässlich des Todes von P.-J. Proudhon verfassten, Anfang Februar 1865 in der Zeitschrift Der Social-Demokrat veröffentlichten Schreiben beiläufig auch zum Thema »Feuerbach« geäußert hatte, indem er eine Parallele zwischen dem Verhältnis Proudhons zu seinen unmittelbaren Vorläufern und dem Verhältnis von Feuerbach zu Hegel herstellte (vgl. MEW 16, 25), so waren bis zum Erscheinen von Engels' »Ludwig Feuerbach« im Jahre 1886 in der Neuen Zeit die einzigen einer breiteren Öffentlichkeit bekannten Stellungnahmen von Marx und Engels zu den Auffassungen Feuerbachs neben Marx' 1844 in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern publizierter »Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie« (vgl. MEW 1, 378 ff.) jene teilweise recht umfangreichen Textpassagen in der im Februar 1845 erschienenen »Heiligen Familie«, die sämtlich ein ungebrochen positives Verhältnis der beiden zu »Feuerbachs genialen Entwicklungen« (Engels) signalisieren (vgl. MEW 2, 41, 58, 97, 99, 132, 147, 149). Eine weitgehende Kongruenz von Marxismus und »Feuerbachianismus« zu unterstellen, hatte also immerhin die Wahrheit des Scheins für sich. In diesem Zusammenhang ist dann in Marx' Brief vom 24. April 1867, in welchem er Engels über seinen ersten Besuch bei L. Kugelmann berichtet, auch nicht so sehr die häufig zitierte Feststellung von Interesse, er sei, als er nach über 20 Jahren wieder

36 mit der »Heiligen Familie« konfrontiert wurde, »angenehm überrascht« gewesen, »zu finden, daß wir uns der Arbeit nicht zu schämen haben, obgleich der Feuerbachkultus jetzt sehr humoristisch auf einen wirkt« (MEW 31, 290) - weit größere Aufmerksamkeit verdient vielmehr die unmittelbar vorangehende Bemerkung von Marx, Kugelmann habe ihm ein Exemplar der Schrift geschenkt und werde auch Engels ein Exemplar schicken (vgl. ebd.). Entweder hatte also Kugelmann bereits in seiner Sammlung der Arbeiten von Marx und Engels mindestens zwei Exemplare der »Heiligen Familie«, oder aber es bereitete zu jenem Zeitpunkt keinerlei Schwierigkeiten, ein weiteres Exemplar zu besorgen. Dass diese Schrift auch Mitte der 80er Jahre noch allgemein zugänglich gewesen sein muss, dafür spricht dann der Hinweis von Engels im »Ludwig Feuerbach«, man könne in der »Heiligen Familie« lesen, wie enthusiastisch Marx die Auffassung von Feuerbach begrüßt habe und wie sehr er von ihr beeinflusst wurde (vgl. MEW 21, 272). 21 So kommt nicht nur in seiner von 1842 datierenden Streitschrift »Schelling und die Offenbarung« (vgl. MEW EB II, 171 ff.), sondern auch in dem im selben Jahr publizierten, gemeinsam mit E. Bauer, dem Bruder B. Bauers, verfassten parodistischen Heldengedicht »Der Triumph des Glaubens« (vgl. MEW EB II, 281 ff.) eine bemerkenswerte Distanziertheit gegenüber Feuerbach zum Ausdruck (vgl. in diesem Sinne bereits Arvon 1975, 114). Und auch dort, wo Engels sich dann später eindeutig positiv zu Feuerbach äußert, wie in den »Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie« und in der »Heiligen Familie«, sind es weit weniger die inhaltlichen als vielmehr die methodischen Aspekte des feuerbachschen Ansatzes, die er hervorhebt (vgl. MEW 1, 508 sowie MEW 2, 98). 22 Eine genaue Durchsicht der 'Frühschriften' von Engels ergibt, dass er bis zum Sommer 1844 von Feuerbach mit Sicherheit nur das »Wesen des Christentums« kennt. Seine Rezeption der von Marx so geschätzten »Grundsätze der Philosophie der Zukunft« von 1843 (vgl. MEW 27, 425) fällt dann anscheinend zeitlich mit der »Stirner-Debatte« (Frühjahr-Herbst 1845) zusammen. Zumindest wird, wenn man davon ausgeht, dass Engels zunächst M. Stirners »Der Einzige und sein Eigentum« gelesen hat, dessen »aufhehmenswerte« Momente er in seinem Brief an Marx vom 19. November 1844 ausdrücklich hervorhebt (vgl. MEW 27, 11 f.), und danach erst Feuerbachs »Philosophie der Zukunft«, unmittelbar der Zynismus verständlich, mit dem er diese Schrift in seinen als Vorarbeit zum »Feuerbach«-Kapitel der »Deutschen Ideologie« angefertigten kritischen Notizen behandelt (vgl. MEW 3, 541 ff.). Dass er spätestens im Sommer 1846 bereits jedes ernsthafte Interesse an Feuerbach verloren hat, zeigen dann seine Briefe an Marx vom 19. August, 18. September und 18. Oktober 1846, in denen er zu verstehen gibt, wie schwer er sich mit der Lektüre von Feuerbachs im gleichen Jahr erschienener Abhandlung »Das Wesen der Religion« tut, die noch im »Feuerbach«Kapitel der »Deutschen Ideologie« berücksichtigt werden soll (vgl. MEW 27, 33 f., 47 u. 55 ff.). 23 Ein möglicher Grund dafür, dass gerade das »Feuerbach«-Kapitel der »Deutschen Ideologie« unvollendet blieb, mag darin liegen, dass Marx dann wohl nicht nur den ihm von Engels zur Lektüre anempfohlenen ersten, son-

37 dem auch den zweiten, gleichfalls 1846 erschienenen Band der »Sämmtlichen Werke« Feuerbachs »in die Finger« bekam (vgl. MEW 27, 58) und feststellen musste, dass Feuerbach sich mitnichten »erschöpft« hatte, wie Engels behauptete (a.a.O., 57), und daher Verschiedenes von dem, »was wir schon gesagt haben« (a.a.O., 58), erheblich zu relativieren war. Tatsächlich ist nämlich Feuerbachs Abhandlung über das Wesen der Religion, die, leicht überarbeitet, in den ersten Band aufgenommen wurde, keineswegs »ganz in der Weise, wie er's bisher gemacht« (a.a.O., 57), und in den ihr im Rahmen dieses Bandes vorangestellten »Ergänzungen und Erläuterungen« entwickelt er bereits sehr deutlich seine Auffassungen über die Beziehungen zwischen Religion, Staat, Politik und Recht (vgl. GW 10, 98 f. u. 116 f.). Auch fmdet sich unter den im zweiten Band abgedruckten von 1843-44 datierenden Aphorismen einer, der inhaltlich voll mit der zweiten der marxschen »elf Thesen« übereinstimmt (vgl. GW 10, 178); und mit Rücksicht auf einen weiteren Aphorismus, in welchem es u.a. heißt: »Viele Pflanzen und Tiere sogar haben sich unter der Pflege der menschlichen Hand so verändert, daß wir ihre Originale gar nicht mehr in der Natur nachweisen können« (ebd.), hätte man die ganze zentrale Passage der Feuerbach-Kritik neu formulieren müssen; zumindest hätte man nicht mehr ohne weiteres behaupten können, dass Feuerbach »(nicht) sieht, wie die ihn umgebende sinnliche Welt nicht ein unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding ist, sondern das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes, und zwar in dem Sinne, daß sie ein geschichtliches Produkt ist, das Resultat der Tätigkeit einer ganzen Reihe von Generationen, deren Jede auf den Schultern der vorhergehenden stand« (MEW 3, 43). 24 Dabei war, wie mir scheint, wohl weniger Starckes Buch selbst als vielmehr W. Bolins in der Gegenwart (Nr. 23 des Jahrgangs 1885) erschienene Rezension dieses Buches der eigentliche Anlass für die Mitte Juni (!) 1885 an Engels ergangene Aufforderung, in einer programmatischen Schrift »Bestrebungen« entgegenzutreten, »die negativen Seiten der klassischen deutschen Philosophie neu zu beleben und dem Marxismus gegenüberzustellen«, insbesondere allen Versuchen einen Riegel vorzuschieben, »den Neukantianismus sowie reaktionäre Elemente der Hegeischen Philosophie und anderer philosophischer Schulen innerhalb bestimmter Kreise des Bürgertums und unter einem Teil der sozialdemokratischen Intelligenz zu verbreiten« (vgl. hierzu MEW 21, XII u. 645). Tatsächlich hatte nämlich Bolin seine Starcke-Rezension dazu verwendet, Feuerbach als den dreifachen Vollender des Kantianismus zu feiern: und zwar erstens in Hinblick auf die Erkenntnisproblematik, zweitens in Hinblick auf das Verhältnis zwischen Vernunftkritik und Religionsphilosophie und drittens in Hinblick auf die Grundprobleme der Ethik (vgl. Bolin 1885, 360 ff.). 25 An späterer Stelle hält Starcke es für wichtig, hervorzuheben, »dass Feuerbach trotz Allem doch nicht bewiesen hat, dass Gott nicht ist« (a.a.O., 226). 26 Dass Starcke, dem es bei alledem nicht zuletzt darum ging, die Vereinbarkeit der feuerbachschen Philosophie mit den Wertvorstellungen des 'aufgeklärten' Bürgertums zu demonstrieren, alles vermied, was Feuerbachs

38 Auffassungen über Moral auch nur andeutungsweise in die Nähe der revolutionären Theorie von Marx gerückt hätte, ist nur zu verständlich. Wenn aber auch Engels in dieser Hinsicht äußerst 'zurückhaltend' verfahrt (vgl. Engels a.a.O., 287 f.), so kann dies nur mit dem Hinweis darauf, dass er eben nicht die Bücher von Feuerbach, sondern nur Starckes Buch über Feuerbach gelesen hat, »eine Entschuldigung, wenn auch keine Berechtigung« finden. 27 Schon in der »Deutschen Ideologie« heißt es ja: »Wenn bei Feuerbach sich zuweilen derartige Anschauungen finden, so gehen sie doch nie über vereinzelte Ahnungen hinaus und haben auf seine allgemeine Anschauungsweise viel zu wenig Einfluß ...« (MEW 3, 42) 28 Vgl. hierzu den häufig zitierten Aphorismus aus dem »Kapital«, demzufolge es »dem Menschen (in gewisser Art) wie der Waare« geht: »Da er weder mit einem Spiegel auf die Welt kommt noch als Fichtescher Philosoph: Ich bin Ich, bespiegelt sich der Mensch zuerst nur in einem andern Menschen. Erst durch die Beziehung auf den Menschen Paul als seinesgleichen bezieht sich der Mensch Peter auf sich selbst als Mensch. Damit gilt ihm aber auch der Paul mit Haut und Haaren, in seiner paulinischen Leiblichkeit, als Erscheinungsform des genus Mensch.« (Marx 1867, 18, Fußn. 18a; zit. nach MEGA2 II/5, 30) - Welch bemerkenswerte Übereinstimmung. Indes wäre es verfehlt, mit Blick auf den Umstand, dass Feuerbach in seiner Schrift zur Moralphilosophie explizit auf das »Kapital« rekurriert, Marx als den Urheber des von Feuerbach thematisierten Gedankens anzusehen. Tatsächlich hatte dieser denselben Gedanken nämlich bereits im »Wesen des Christentums« entwickelt, wo es heißt: »Der andere ist mein Du - ob dies gleich wechselseitig ist -, mein alter ego, der mir gegenständliche Mensch, mein aufgeschlossenes Innere - das sich selbst sehende Auge. An dem andern habe ich erst das Bewußtsein der Menschheit. Durch ihn erst erfahre, fühle ich, daß ich Mensch bin« (GW 5, 277). Es verhält sich mit der Urheberschaft also genau umgekehrt! 29 Es ist dies übrigens das einzige Mal, dass Engels die wahre Quelle seiner Feuerbach-Zitate offenlegt. 30 Zur ausführlichen Diskussion der Problematik dieser sowie alternativer Datierungen vgl Jaeschke & Schuffenhauer 1996, XLVIII-LVIII. 31 N.B.: Für diese Charakterisierung sowie meine nachfolgende Erörterung ist es völlig gleichgültig, welcher der in der einschlägigen Literatur diskutierten Datierungs-Thesen man den Vorzug gibt; denn auch wenn man der von W. Bolin vorgenommenen (später von ihm selbst revidierten) Datierung auf 1848/49 folgt, d.h. das besagte Manuskript als jene von Feuerbach vor der Veröffentlichung zurückgehaltene Vorlesung aus dem Heidelberger Vorlesungszyklus identifiziert, von der er selbst im Vorwort zur Druckfassung dieser Vorlesungen spricht (vgl. GW 6, 3), ändert dies nichts daran, dass dieses Manuskript thematisch in einem engen Zusammenhang mit den »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« steht und in diesem Zusammenhang rezipiert und gewürdigt werden muss (vgl. Feuerbach ebd.). 32 Aus Gründen der inneren Stimmigkeit der Argumentation wird hier und im Nachfolgenden nicht nach der von W. Jaeschke und W. Schuffenhauer her-

39 ausgegebenen (kritisch revidierten) Fassung des Manuskripts (vgl. Feuerbach 1996), sondern nach der von Grün überlieferten Version zitiert, auf die sich ja Starcke in seiner Feuerbach-Monographie gestützt hat und die auch Engels zu einer qualifizierteren Begründung seines Urteils über Feuerbach hätte heranziehen können. 33 Der letzte Paragraph der »Grundsätze der Philosophie der Zukunft« lautet: »Die bisherigen Reformversuche in der Philosophie unterscheiden sich mehr oder weniger nur der Art, nicht der Gattung nach von der alten Philosophie. Die unerläßlichste Bedingung einer wirklich neuen, d.i. selbständigen, dem Bedürfnis der Menschheit und Zukunft entsprechenden, Philosophie ist aber, daß sie sich dem Wesen nach, daß sie sich toto genere [der ganzen Gattung nach] von der alten Philosophie unterscheide.« (GW 9, 340 f.) 34 Wenn Feuerbach hier von »Politik« spricht, dann ist damit nicht Politik im modernen bürgerlichen, sondern im klassischen Sinne gemeint: Verhalten im Interesse des Gemeinwesens (der Polis). Und da für ihn der »höchste Gegenstand« des Menschen das »menschliche Wesen« ist, dieses aber den »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« zufolge eben nicht als 'Abstraktem' dem einzelnen Individuum inne wohnt (der »einzelne Mensch flir sich hat das Wesen des Menschen nicht in sich«), sondern »nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten« ist (vgl. GW 9, 338 f.), ist folglich mit der Proklamation der Politik zur »Religion« in der Tat nur die praktische Konsequenz der feuerbachschen »neuen« Philosophie ausgesprochen. Wenn daher Engels auch in dieser Forderung lediglich einen jener »Sätze« sieht, die »bei Feuerbach in weiten Zwischenräumen« vorkommen, mit denen er »absolut nichts anzufangen« wisse, die »pure Redensarten« bleiben (vgl. Engels a.a.O., 286), so ist die Urteilsgrundlage hierfür wiederum ausschließlich das Buch Starckes. Dieser gibt nämlich die betreffende Äußerung Feuerbachs nicht nur völlig losgelöst von ihrem ursprünglichen Kontext wieder, sondern streut sie auch 'so ganz nebenbei' in die Explikation seines Verständnisses von Politik als der »Kunst des Machbaren« ein (vgl. Starcke a.a.O., 280 f.). 35 In diesem Sinne würdigt der Vertreter der Nürnberger Sektion der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der Reichstagsabgeordnete A. Memminger, in seiner Grabrede Feuerbach auch als »Apostel der freien Wissenschaft« (vgl. Schuffenhauer 1981, XXIV). Ganz anders W. Windelband, der in seinem bereits erwähnten 'Nachruf Feuerbach attestiert, er habe »die Schweine der Materialisten« gehütet und »sich von den Träbern des Communismus« genährt, so dass es für ihn, den »verlorene(n) Sohn des deutschen Idealismus«, »keine Rückkehr in das Vaterhaus des deutschen Gedankens« geben könne (a.a.O., 741). 36 Bereits im »18ten Brumaire des Louis Napoleon« (1852) hatte Marx geschrieben: »Auf den verschiedenen Formen des Eigenthums, der sozialen Existenzbedingungen, erhebt sich ein ganzer Ueberbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. Die ganze Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen

40 Grundlagen heraus und aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, die ihnen entsprechen. Das einzelne Individuum, dem sie durch Tradition und Erziehung zufließen, kann sich einbilden, daß sie die eigentlichen Bestimmungsgründe und den Ausgangspunkt seines Handelns bilden. (...) Und wie man im Privatleben unterscheidet zwischen dem, was ein Mensch von sich meint und sagt, und dem, was er wirklich ist und thut, so muß man noch mehr in geschichtlichen Kämpfen die Phrasen und Einbildungen der Parteien von ihrer wirklichen Organisation und ihren wirklichen Interessen, ihre Vorstellung von ihrer Realität unterscheiden.« (zit. nach MEGA2 1/11, 121 f.) Und im Vorwort zu seiner 1859 erschienenen Schrift »Zur Kritik der Politischen Ökonomie« heißt es dann: »In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.« (MEW 13, 8 f.) - Beide Passagen werden von Plechanow in den »Grundproblemen des Marxismus« zitiert (vgl. a.a.O., 55 u. 62 f.). 37 Das von Plechanow im Original verwendete Wort »psichika« bedeutet sowohl »Psyche« als auch »seelische und geistige Verfassung« (vgl. Bielfeldt 15 1988, 769); der in der deutschen Version der »Grundprobleme des Marxismus« gebrauchte Ausdruck »Psychologie« darf daher nicht im Sinne der »Wissenschaft von den psychischen Vorgängen« missverstanden werden, sondern ist als objektsprachliches Kürzel aufzufassen. Insofern trifft denn

41 auch die in der deutschen Übersetzung von Lenins Bemerkungen zu der Schrift Plechanows gebrauchte Wendung »psychische Wesensart des gesellschaftlichen Menschen« (vgl. LW 38, 492) das von Plechanow tatsächlich Gemeinte im Grunde genommen besser. 38 Plechanow erläutert diese These am Beispiel der sogenannten romantischen Dreieinigkeit, d.h. am Beispiel von Victor Hugo, Eugene Delacroix und Hector Berlioz, drei Künstlern, die nicht nur »auf drei ganz verschiedenen Kunstgebieten (wirkten)« (Hugo war Schriftsteller, Delacroix Maler und Berlioz Komponist), sondern auch als Personen »einander ziemlich fern (standen)« (ebd.). »In ihren Werken«, so Plechanow, offenbare sich »eine und dieselbe Psychologie«, nämlich »die Psychologie der französischen Romantik«, die als solche »erst dann begreiflich wird, wenn wir sie als die Psychologie einer bestimmten Klasse betrachten, die unter bestimmten gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingungen lebt« (a.a.O., 85 u. 86). 39 Vgl. GW 9, 337. 40 Vgl. a.a.O., 339. 41 Was Plechanow nicht wissen konnte, ist, dass Marx es in den »Ökonomischphilosophischen Manuskripten« von 1844 gerade als »Feuerbachs grosse That« gewürdigt hatte, »das gesellschaftliche Verhältniß«, nämlich »das 'des Menschen zum Menschen'«, auch »zum Grundprincip der Theorie« gemacht zu haben (vgl. Marx 1988, 173). 42 Vgl. MEW 3, 6. 43 Zur ausführlicheren Begründung der Auffassung, dass Marx in dieser vielzitierten (und häufig missverstandenen) »These« weit mehr im Sinne Feuerbachs argumentiert als gegen ihn, vgl. Keiler 1985. 44 Wenn Rawidowicz kurz darauf davon spricht, Engels habe »Feuerbach für alle Zeiten in marxistischen Kreisen vernichten wollen, als er sagte, seine Ethik sei für alle Zeiten abgefaßt, ignoriere die spezifischen gesellschaftlichen Verhältnisse usw.« (a.a.O., 487), so trifft er damit sicher die objektive Tendenz der Ausführungen von Engels, wiewohl dieser subjektiv durchaus davon überzeugt gewesen sein mag, dass er bei alledem lediglich eine »unabgetragene Ehrenschuld« begleiche. 45 Insofern ist es nur konsequent, daß Harich später bei der Herausgabe der »Gesammelten Werke« Feuerbachs durch W. Schuffenhauer (1967 ff.) als Bearbeiter der Textbände mitgewirkt hat. 46 Vgl. oben, Anm. 28 47 Marx: »Was aber von vorn herein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt, verwirklicht er im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Thuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß. Und diese Unterordnung ist kein vereinzelter Akt. Außer der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckgemäße Wille, der sich als Aufmerksamkeit äußert, für

42 die ganze Dauer des Arbeitsprozesses erheischt ...« (Marx 1867, 142; zit. nach MEGA2 II/5, 129 f.) 48 Ausgehend von dieser Einschätzung (die Engels übrigens zum ersten Mal bereits im Herbst 1846 formuliert hat), erübrigt es sich dann freilich, auch nur eine Zeile Feuerbachs, die nach 1844 verfasst ist, im Original zur Kenntnis zu nehmen. 49 Die hieraus resultierenden Konsequenzen werden von Harich allerdings im selben Atemzug, wie folgt, relativiert: »Das berechtigt jedoch nicht, einen großen Teil seiner Lebensleistung so zu behandeln, als hätte man es mit einer Art atheistischen Analogons zu jenen Altersproduktionen Fichtes und Schellings zu tun, die in der Tat aus dem großen Zug der fortschreitenden Gesamtbewegung der deutschen klassischen Philosophie herausfallen.« (ebd.) 50 zit. nach AgB, zweiter Band, 1904, 352 51 Ohne hier näher auf die (in ihrer Gesamtheit ja keineswegs homogenen, sondern nicht zuletzt durch diverse 'Selbstkritiken' in sich mehrfach 'gebrochenen') Konzeptionen von Lukäcs einzugehen, muss notiert werden, dass die Attitüde, den Impetus der marxschen Kritik der politischen Ökonomie weitgehend auf Ideologiekritik zu reduzieren, eine gewöhnlich nur allzu gern übersehene 'dialektische' Pointe hat: Einerseits liegt ihr nämlich die Auffassung zugrunde, dass »von Plechanow und anderen« die »Vermittlerrolle Feuerbachs zwischen Hegel und Marx ... sehr überschätzt« wurde und deshalb davon auszugehen sei, »daß Marx unmittelbar an Hegel anknüpfte« (vgl. Lukacs 1970, 22); andererseits erklärt sie aber gerade jenes Moment der marxschen Theorie zu ihrem Wesensmerkmal, in welchem die von Feuerbach gewonnenen Erkenntnisse und die »Feuerbachsche Dialektik« am längsten nachwirken. So weist etwa schon O. Finger in seinem (anlässlich des 100. Todestages Feuerbachs verfassten) Aufsatz »Von der anthropologisch-materialistischen Religionskritik zur historisch-materialistischen Ideologieanalyse« darauf hin, dass Marx die »weitergetriebene Religionskritik Feuerbachs noch in seinem Hauptwerk, dem 'Kapital', ein(setzt), um die realen Verkehrungsmechanismen, den Verdinglichungsprozeß sozialer Verhältnisse im Kapitalismus durchschaubar zu machen und deren ideologische Konsequenzen zu verdeutlichen« (Finger 1972, 1144). 52 Wie ich an anderen Stellen gezeigt habe, schließt die Fortführung dieses Projekts zwangsläufig auch eine Kritik problematischer Konstruktionen von Marx selbst ein (vgl. Keiler 1989c u. Keiler 1993). Insofern ist der Ausdruck »marxistische Marx-Kritik« keineswegs eine contradictio in adjecto. 53 Mein »konstruktiver« Umgang mit dem Originaltext Fingers findet seine Rechtfertigung darin, dass, was 1972 noch »im Werden« war, heute eine vollendete Tatsache ist. 54 Der mit »Kein Berliner« unterzeichnete kurze Aufsatz Feuerbachs »Luther als Schiedsrichter im Streit zwischen Strauß und Feuerbach« ist lange Zeit falschlich Marx (!) zugeschrieben worden; zur Klärung der tatsächlichen Autorschaft vgl. Sass (1967) sowie die betreffende Mitteilung von Taubert & Schuffenhauer (1975).

GEGENSTÄNDLICHKEIT, SOZIALITÄT, HISTORIZITÄT Versuch einer Rekonstruktion der Feuerbach-Wygotski-Linie in der Psychologie

Vorbemerkung Infolge der nicht nur unter Marxisten verbreiteten Attitüde, die Bedeutung der Auffassungen Feuerbachs im wesentlichen auf die einer 'Durchgangsstation' von der hegelschen Philosophie zum Marxismus zu reduzieren, bleiben in der Würdigung seines Gesamtwerks häufig wichtige Dimensionen unberücksichtigt. So steht denn auch bis heute eine systematische Aufarbeitung jener Resultate aus, zu denen er auf dem Gebiet der Psychologie gelangte. Dies muss allerdings umso mehr verwundern, als von seinen frühen (erstmals 1830 publizierten) »Gedanken über Tod und Unsterblichkeit« bis zu seiner Schrift »Zur Moralphilosophie« von 1868/69 die Beschäftigung mit psychologischen Fragestellungen, wenn auch nicht das dominierende Leitmotiv seiner wissenschaftlichen Arbeit überhaupt, so doch immerhin ein nahezu durchgehendes, dabei äußerst prägnantes Apropos zu den verschiedensten von Feuerbach behandelten Thematiken bildet, ja selbst seine Hegel-Kritik in wesentlichen Momenten vom Standpunkt der Psychologie formuliert ist1. Aber nicht nur, dass sich sein permanentes Geltendmachen »innerer Gründe« bei näherer Überprüfung immer als letztlich psychologische Argumentation erweist - mit dem 1846 im Rahmen des zweiten Bandes seiner »Sämmtlichen Werke« publizierten Aufsatz »Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist« und dem zwanzig Jahre später erschienenen großen Essay »Über Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit« liegen auch zwei Abhandlungen Feuerbachs vor, die bereits bei oberflächlicher Betrachtung als in ihrer Grundthematik psychologische Arbeiten erkennbar sind und nach eingehenderer Analyse gar als Untersuchungen von programmatischem Charakter eingestuft werden müssen, findet man doch hier, vermittelt über die tiefgreifende Kritik verschiedener idealistischer Ansätze, klar und unmissverständlich die theoretisch-methodologischen Grundsätze einer konsequent materialistischen Psychologie formuliert. Darüber hinaus bekennt sich Feuerbach an so vielen Stellen und mit so deutlichen Worten zur Psychologie, widerspiegeln zudem verschiedene seiner Schriften auf so eindrucksvolle Weise auch wesentliche inhaltlich-psychologische Einsichten, dass man ohne Übertreibung sagen kann, das Gesamtwerk enthalte ein regelrechtes System von für den Entwurf und die Durchfuhrung einer materialistischen Psychologie unmittelbar relevanten Richtlinien und Aussagen.

44 Das System der psychologischen Anschauungen Feuerbachs in seiner ganzen Tragweite zu erschließen, wäre Aufgabe einer eigens dieser Thematik gewidmeten Buchprojekts. In der vorliegenden Studie muss ich mich darauf beschränken, die feuerbachsche Psychologie in einigen ihrer wesentlichen Parameter zu charakterisieren und dabei zugleich den Rahmen für weitere, mehr in die Tiefe gehende Untersuchungen abzustecken. Vergleichsweise mehr Raum soll dafür der Darstellung und Erörterung verschiedener Aspekte des eng mit dem Namen des sowjetischen Psychologen L.S. Wygotski (1896-1934) verknüpften psychologischen Grundansatzes gegeben werden, da ebendieser Ansatz, insbesondere in der von Wygotski in seinen letzten Lebensjahren ausgearbeiteten Form, den wohl bisher eindrucksvollsten Beweis für die nachhaltige Bedeutung der Auffassungen Feuerbachs als theoretisch-methodologisches Bezugssystem einer materialistischen Psychologie liefert. Dabei ist der hier vorgelegte Versuch einer Rekonstruktion der »FeuerbachWygotski-Linie« in der Psychologie keineswegs ein Unternehmen, das sich auf die einfache Wiedergabe und anschließende Erörterung bereits hinreichend bekannter wissenschaftshistorischer Einzeltatsachen und Zusammenhänge eingrenzen ließe. Vielmehr wird die Untersuchung, insbesondere was die Frage der Aufnahme und Fortführung feuerbachscher Grundgedanken durch Wygotski betrifft, entsprechend der Komplexität der Bedingungen auf der Gegenstandsebene notwendig von vornherein etwas breiter und 'offener' angelegt werden müssen. Denn zwar kann - im Sinne der von L.A. Radsichowski in einer Anmerkung zur Werkausgaben-Version von »Denken und Sprechen« gegebenen Charakterisierung, wonach Wygotski mit dem Werk Feuerbachs nicht nur »gut vertraut« war und »es hoch schätzte«, sondern darüber hinaus auch in »Feuerbachs Ideen« einen wesentlichen »Ausgangspunkt für den Aufbau der marxistischen materialistischen Psychologie« sah (vgl. Sobranije sotschineni2, Tom 2, 489, Anm. 99) - grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass Wygotski zu den Auffassungen Feuerbachs eine durchgehend positive Einstellung hatte; die nähere Analyse zeigt jedoch, dass diese Einstellung in den verschiedenen Etappen seiner wissenschaftlichen Karriere in durchaus unterschiedlicher Weise zum Ausdruck kam: Ist anfanglich der »Feuerbachianismus« für ihn noch die quasi selbstverständliche (und deshalb auch nicht thematisierte) Grundvoraussetzung für die Durchführung einer Wissenschaft von der »Psyche des gesellschaftlichen Menschen« im Sinne G.W. Plechanows, und wird im 1926/27 verfassten großen Essay über die Krise der Psychologie der »psychologische Materialismus« Feuerbachs zum programmatischen und nun auch explizit benannten Ausgangspunkt für die systematische Rekonstruktion der Psychologie auf konsequent materialistischer Grundlage, so scheint bei der Ausarbeitung der sogenannten »kulturhistorischen

45 Theorie« in den Jahren 1928-1930 der Rekurs auf Feuerbach für Wygotski nur mehr die Funktion eines methodologischen Korrektivs gegen das Abgleiten der eigenen Konstruktionen in einen Idealismus hegelscher Prägung zu haben - während schließlich das Verhältnis des 'späten' Wygotski zu Feuerbach überschattet ist von den Auswirkungen der 1930/31 in der offiziellen sowjetischen Wissenschaftspolitik eingeleiteten antifeuerbachianischen Wende, so dass wir hinsichtlich des Wygotskischen Spätwerkes mit einer eigentümlichen Paradoxie konfrontiert sind: Einerseits gibt es gerade hier sowohl im Rahmen defektologischer und entwicklungspsychologischer Fragestellungen als auch auf dem Gebiet der Psycholinguistik weitgehende inhaltliche Übereinstimmungen mit den Positionen Feuerbachs, andererseits finden sich aber in den Arbeiten der Jahre 1932-34, soweit bisher publiziert, auffallend wenig explizite Bezüge auf ihn, erscheinen vielmehr die Beziehungen Wygotskis zu den Auffassungen Feuerbachs weitgehend verschleiert und sind bisweilen nur über aufwendige Recherchen zu belegen - Recherchen, für deren Durchführung außer der Kenntnis der betreffenden Arbeiten Wygotskis auch die hinreichende Vertrautheit mit den einschlägigen Schriften Feuerbachs eine unabdingbare Voraussetzung ist3. Entsprechend der bereits benannten Akzentsetzung in der Aufgabenstellung dieser Studie sollen im ersten Kapitel zunächst die Grundlinien der psychologischen Anschauungen Feuerbachs skizziert werden; danach wird anhand einiger Beispiele aus der einschlägigen Literatur die Problematik der Rezeption dieser Anschauungen in der offiziellen Psychologie erörtert. Das zweite Kapitel ist Wygotskis Sicht auf Feuerbach als »Methodologen« der materialistischen Psychologie sowie einer Darstellung der beiden Fassungen der »kulturhistorischen Theorie« gewidmet. Das dritte Kapitel hat, wie schon die beiden ersten, wiederum zwei inhaltliche Schwerpunkte. Den einen bildet die Dokumentation der Kampagne gegen A.M. Deborin und der damit einhergehenden antifeuerbachianischen Wende in der sowjetischen Philosophie. In diesem Zusammenhang kommen auch in gebotener Ausführlichkeit die wissenschaftspolitischen Restriktionen zur Sprache, denen Wygotski ab 1930/31 ausgesetzt war, und es wird deutlich gemacht, dass die weitgehende Verschleierung der Nähe der eigenen Auffassungen zu denen Feuerbachs, wie sie für Wygotskis Spätwerk charakteristisch ist, Moment einer Strategie war, die es ihm ermöglichte, den Restriktionen zum Trotz weiterhin produktiv tätig zu sein und darüber hinaus auch zumindest einem Teil seiner Arbeitsergebnisse jene Akzeptanz zu sichern, die eine Veröffentlichung ermöglichte. Der zweite Schwerpunkt dieses Kapitels ist dann der »kryptofeuerbachianische« Ansatz des 'späten' Wygotski, während im abschließenden vierten Kapitel die Auffassungen Wygotskis über das Verhältnis von

46 Denken und Sprache behandelt werden, wie sie für verschiedene Etappen der Entwicklung seines theoretischen Grundansatzes charakteristisch sind. Dass es bei alledem mitnichten darum geht, lediglich ein 'historisches' Interesse zu befriedigen, sollte sich eigentlich von selbst verstehen. Um indes ein solches Missverständnis auch explizit auszuschließen, sei hier noch einmal daran erinnert, dass es das eigentliche Anliegen dieser und der nachfolgenden Studien ist, in einem Verfahren 'progressiver Rückerinnerung' die theoretischen und praktischen Perspektiven des Projekts einer konsequent materialistisch begründeten Psychologie des gesellschaftlichen Menschen zu verdeutlichen. 1. Abriss der psychologischen Anschauungen Ludwig Feuerbachs - die Problematik ihrer Rezeption in der offiziellen Psychologie »Doch schon war mein Standpunkt nicht der rein logische oder metaphysische, sondern mehr psychologische.« »Ich sage keck weg: der psychologische, ob ich wohl weiss, dass die psychologischen Erklärungen in Verruf sind; aber ich sehe nicht ein, warum man mit einer seichten psychologischen Erklärung auch die psychologische Erklärung überhaupt verwerfen soll.« L. Feuerbach: Aus dem Nachlass (Grün I, 390, 395) Auf eine knappe Formel gebracht ließe sich Feuerbachs Grundhaltung gegenüber der Psycholgie am treffendsten als Einheit von prinzipieller Anerkennung ihrer Existenzberechtigung, ja Existenznotwendigkeit, bei gleichzeitiger vehementer Opposition gegen die herrschenden Formen ihrer Existenz charakterisieren.4 Ein und derselbe Feuerbach ist es daher, der einmal gegenüber den grundsätzlichen Vorbehalten seitens der Philosophie nachdrücklich auf dem Recht »psychologischer Erklärungen überhaupt« besteht (vgl. Grün I, 395), an anderer Stelle aber zu dem wenig schmeichelhaften Urteil kommt, »mit Ausnahme natürlich der Theologie« habe »keine Wissenschaft mehr den Menschen an der Nase herumgeführt und ihre Chimären zu Wesen gemacht als die Psychologie« (GW 10, 129 f., Fußn.). 1.1. Feuerbachs Haltung in der »Grundfrage« der Psychologie Dabei richten sich seine Einwände gegen die Psychologie, wie er sie vorfindet, nicht etwa nur gegen einzelne Details, sondern zielen direkt auf ihre Substanz. Als 'Lehre von der Seele' ist sie ihm nämlich »in der Tat nichts anderes als die

47 empirische Theologie« (GW 11, 130), wie andererseits »die Theologie die wahre, die objektive, die offenbare, die vollendete Psychologie« ist (a.a.O., 133). All das Spekulieren über die »Seele«: Für Feuerbach hat es »keinen anderen Grund oder Zweck, als den Wunsch der Unsterblichkeit zu befriedigen«, sei doch der langen Rede kurzer Sinn zuletzt immer der: »Also ist die Seele unsterblich. Der Beweis: ich bin Geist, ist der Beweis: ich bin unsterblich.« (Grün II, 314). Gegenüber dem traditionellen, dem »spiritualistischen« Ansatz, der letztlich »nur eine Mißgeburt der Theologie« ist, »entsprungen aus der unnatürlichen, sodomitischen Vermischung der göttlichen Seele mit dem gottlosen Materialismus des menschlichen Körpers« (GW 11, 133), vertritt nun Feuerbach das »Prinzip der organischen Einheit« (vgl. GW 10, 131). Ein Prinzip, das nichts weiß von einem »Zwiespalt zwischen Leib und Seele, nichts von einer von der Anatomie und Physiologie getrennten oder gar unabhängigen Psychologie« (GW 11, 117) und das daher an die Stelle der Psychologie im alten Sinne »die Zoologie und Anthropologie« setzt (a.a.O., 145). Dabei ist seinem Selbstverständnis nach für die richtige Auffassung des psycho-physischen Verhältnisses »Materialismus eine durchaus unpassende, falsche Vorstellungen mit sich führende Bezeichnung, nur insofern zu entschuldigen, als der Immaterialität des Denkens, der Seele, die Materialität des Denkens entgegensteht. Aber es gibt für uns nur ein organisches Leben, organisches Wirken, organisches Denken. Also Organismus ist der rechte Ausdruck, denn der konsequente Spiritualist leugnet, dass das Denken eines Organs bedürfe, während auf dem Standpunkt der Naturanschauung es keine Thätigkeit ohne Organ gibt.« (Grün II, 307 f.)5 Der hier ausgesprochene terminologische Vorbehalt Feuerbachs gegen den Ausdruck »Materialismus« (ein Vorbehalt, der im Übrigen nicht nur von F. Engels, sondern auch von vielen Vertretern der »Schulphilosophie« missverstanden worden ist) hat folgenden konzeptionellen Hintergrund: Feuerbach sieht genau, dass eine abstrakt-materialistische Auffassung des Körpers als ihren notwendigen Gegenpart eine spiritualistische Auffassung der psychischen Funktionen provoziert. Wenn man nämlich »den organischen Leib auf abstrakte materialistische Bestimmungen«, etwa »auf die Bestimmung eines zusammengesetzten, teilbaren Dings, reduziert, so ist es freilich notwendig, die dieser Bestimmung und Vorstellung widersprechenden Erscheinungen des organischen Leibes aus einem besondern fingierten Wesen von entgegengesetzten Eigenschaften zu erklären. Aber diese Eigenschaften hat schon der organische Leib als Leib in sich. Er ist trotz der Vielheit seiner Teile 'ein Ding', eine individuelle, organische Einheit. Diese organische Einheit ist das Prinzip der Vorstellung und Empfindung. Allerdings kann er zerlegt werden, aber mit dieser

48 Zerlegung hört er auf, organischer, lebendiger Leib zu sein, ist nicht mehr, was er war.« (GW 10, 131)6 Was für den organischen Leib als Ganzes, gilt auch für das Organ des Denkens, das Gehirn: »Die Kenntnis des menschlichen Gehirns und Körpers überhaupt hat der Mensch aus der Anatomie menschlicher Leichname geschöpft; indem er daher sein Hirn denkt, so denkt er das Leben unwillkürlich unter dem Bilde des Todes, das Hirn als ein anatomisches Objekt - als ein Objekt folglich, mit dem es ihm ebenso unmöglich ist, den Denkakt zu verbinden, als mit dem Leichnam das Leben. Von seiner Einbildungskraft hintergangen, sieht er nicht ein, daß das Hirn als Subjekt, als lebendiges ein ganz anderes Wesen ist denn als Objekt, daß das Hirn, wie überhaupt das Innere des Organismus, nur im Tode in die Kategorie des eigentlichen Materialismus verfällt, nur im Tode ein äußerliches, tastbares, sichtbares, riech- und schmeckbares Objekt wird, im Leben aber nur ein Objekt des innern Sinns, d.i. Selbstgefühls, ist.« (GW 10, 126) Dabei ist es strenggenommen nicht richtig, vom Gehirn als dem »Subjekt« des Empfindens und Denkens zu sprechen; denn, so Feuerbach an späterer Stelle: »Weder die Seele denkt und empfindet - denn die Seele ist nur die personifizierte und hypostasierte, in ein Wesen verwandelte Funktion oder Erscheinung des Denkens, Empfindens und Wollens -, noch das Hirn denkt und empfindet, denn das Hirn ist eine physiologische Abstraktion, ein aus der Totalität herausgerissenes, vom Schädel, vom Gesicht, vom Leibe überhaupt abgesondertes, für sich selbst fixiertes Organ. Das Hirn ist aber nur so lange Denkorgan, als es mit einem menschlichen Kopf und Leibe verbunden ist. Das Äußere setzt das Innere voraus, aber nur in seiner Äußerung verwirklicht sich das Innere. Das Wesen des Lebens ist die Lebensäußerung.« (a.a.O., 135 f.) Aufs Ganze gesehen ist Feuerbach also in der »Grundfrage« der Psychologie (als der Frage nach dem Verhältnis von Psychischem und Physischem) um eine konsequent materialistisch-monistische Lösung des Problems bemüht, und es sind wohl nicht zuletzt die von ihm in »Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist« entwickelten Gedanken gewesen, die ihm schon zu Lebzeiten den Ehrennamen eines »deutschen Spinoza« eingetragen haben.7 7.2. Die »Gegenständlichkeit« (= Gegenstandsbezogenheit) der menschlichen Psyche So wenig nach alledem eine wissenschaftliche Psychologie von der »Seele« als einer für sich seienden Quasi-Substanz bzw. als eines unabhängig von der Anatomie und Physiologie eines lebenden Organismus wirkenden Prinzips möglich ist, so wenig kann es für Feuerbach eine wissenschaftliche Psychologie vom für

49 sich seienden, ausschließlich auf sich selbst bezogenen Individuum geben. Sein »Thema« ist darum, wie es in den »Vorlesungen über das Wesen der Religion« heißt, »nicht die abstrakte, sondern die dramatische Psychologie, d.h. die Psychologie nur in Verbindung mit den Gegenständen, worin sich die Psyche des Menschen in ihrer Totalität offenbart, also nur in ihren gegenständlichen Äußerungen, ihren Taten« (GW 6, 391). Von daher ist auch die Vergegenständ//c/z«rtg.yproblematik ein zentraler Bereich der feuerbachschen Psychologie. Dabei hat der von ihm (und eben nicht, wie gewöhnlich unterstellt wird, von Hegel)8 eingeführte Terminus »Vergegenständlichung« zunächst im wesentlichen die Bedeutung des Sich-in-den-Produkten-der-eigenen-Tätigkeit-selbst-zum-Gegenstand-der-Anschauung-Machens. In diesem Sinne ist von »Vergegenständlichung« bereits in Feuerbachs ersten 1829/30 in Erlangen gehaltenen Vorlesungen zur Einleitung in die Logik und Metaphysik (Erlangen 1829/30) die Rede, und zwar im Rahmen einer Analogie des produktiven Selbstbewusstseins mit dem künstlerischen Schaffen. Danach sind dem Geist seine Gedanken »nichts als die Bilder seiner selbst, die Producte seines Selbstbewußtseins, die Werke, in denen er sich selbst betrachtet und denkt (...) Was sind die Werke des Künstlers? nichts andres als die Vergegenständlichung seines künstlerischen Selbstes! (...) So sind nun auch die Gedanken, Ideen die Vergegenständlichungen des Geistes als Geistes in seiner und allgemeinsten Form, in welchen er sich selbst nur verwirklicht und daher sich selbst denkt und anschaut.« (Feuerbach 1975, 38 f.) Und im nämlichen Sinne heißt es dann in Feuerbachs 1834 erschienener Aphorismen-Sammlung »Abälard und Heloise oder Der Schriftsteller und der Mensch« vom Buch, es sei »das wahre second sight, das reelle zweite Gesicht des Menschen, der Spiegel, in dem er die Anschauung seiner selbst hat«, sei doch »Dichten und Denken« nichts anderes, als »sein eigenes Leben zu einem Gemeingut, ... sich selbst, sein Wesen zum anschaubaren Gegenstande nicht nur seiner selbst, sondern auch anderer machen« (GW 1, 558 u. 575). Diese ursprüngliche Bedeutung des feuerbachschen (dann auch von K. Marx übernommenen) Terminus »Vergegenständlichung« erfahrt jedoch später (genauer: im »Wesen des Christentums« von 1841) eine nicht unwesentliche Modifikation insofern, als nach der Auffassung Feuerbachs ein Subjekt sich eben nicht nur in den Produkten der eigenen Tätigkeit »vergegenständlicht«, sondern in jedem beliebigen Objekt, sofern es ein für es spezifischer (d.h. es von anderen Subjekten unterscheidender) Gegenstand ist9, ein Medium der Anschauung seines Wesens hat. Denn: »Der Gegenstand, auf welchen sich ein Subjekt wesentlich, notwendig bezieht, ist nichts anderes als das eigne, aber gegenständliche Wesen dieses Subjekts«, der »Spiegel seines eignen Wesens« (GW 5, 33, 34).

50 Sollte es sich dabei um einen Gegenstand handeln, der gleichzeitig für »mehrere der Gattung nach gleiche, der Art nach aber unterschiedene Individuen« Gegenstand ist, »so ist er wenigstens so, wie er diesen Individuen je nach ihrer Verschiedenheit Objekt ist, ihr eignes, aber gegenständliches Wesen« (a.a.O., 33). Und in Wiederaufnahme eines hegelschen Gedankens (vgl. insbes. TWA 10, 200-207) heißt es weiter: »An dem Gegenstande wird daher der Mensch seiner selbst bewußt: Das Bewußtsein des Gegenstands ist das Selbstbewußtsein des Menschen. Aus dem Gegenstande erkennst du den Menschen; an ihm erscheint dir sein Wesen: Der Gegenstand ist sein offenbares Wesen, sein wahres objektives Ich. (...) Auch die dem Menschen fernsten Gegenstände sind, weil und wiefern sie ihm Gegenstände sind, Offenbarungen des menschlichen Wesens.« (a.a.O., 34). Was für das Subjekt als Ganzes, gilt auch für die seine Gegenstandsbeziehungen realisierenden Organe sowie die sich in diesen Beziehungen äußernden Kräfte und Fähigkeiten. »So ist der Gegenstand des Auges das Licht, nicht der Ton, nicht der Geruch. Im Gegenstand des Auges ist uns aber sein Wesen offenbar. Ob einer nicht sieht oder kein Auge hat, ist darum einerlei.« (GW 9, 270) Entsprechendes lässt sich sagen von »jeder andern Kraft, Fähigkeit, Potenz, Realität, Tätigkeit - der Name ist gleichgültig -, welche man als das wesentliche Organ eines Gegenstandes bestimmt. Was subjektiv die Bedeutung des Wesens, das hat ebendamit auch objektiv die Bedeutung des Wesens.« (GW 5, 43) - Ein Gedanke, den Marx dann in seinen »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten«, wie folgt, paraphrasiert: »Dem Auge wird ein Gegenstand anders als dem Ohr und der Gegenstand des Auges ist ein andrer als der des Ohrs. Die Eigentümlichkeit jeder Wesenskraft ist grade ihr eigenthümliches Wesen, also auch die eigentümliche Weise ihrer Vergegenständlichung, ihres gegenständlichen wirklichen lebendigen Seins«, wie andererseits »mein Gegenstand nur die Bestätigung einer meiner Wesenskräfte sein kann, also nur so für mich sein kann, wie meine Wesenskraft als subjektive Fähigkeit für sich ist, weil der Sinn eines Gegenstandes für mich grade so weit geht als mein Sinn geht (nur Sinn für einen ihm entsprechenden Sinn hat)« (zit. nach Marx 1988, 165 - Umstellung der Parenthese P.K.). Indem sich so Subjektives und Objektives reflexiv aufeinander beziehen, das Subjekt-Objekt-Verhältnis also von Feuerbach (und im direkten Anschluss an ihn auch von Marx10) als Verhältnis einer wechselseitigen Spiegelung begriffen wird, besteht ein fließender Übergang zwischen der Vergegenständlichungs- und der Widerspiegelungsproblematik. Dabei kommt Feuerbach für die Herausbildung der modernen (d.h. nicht-mechanistischen) Auffassung der sinnlichen Wi-

51 derspiegelung insofern eine Schlüsselrolle zu, als es sich bei »Widerspiegelung« um eine weitere auf ihn zurückgehende Wortneubildung handelt (vgl. GW 1, 199, 207, 209), die als terminologische Alternative zum traditionellen, in sich mehrdeutigen Ausdruck »Reflexion«11 zugleich neue konzeptionelle Perspektiven eröffnete. Zwar mag in diesem Zusammenhang das zentrale Theorem seiner Vergegenständlichungskonzeption, jedes Individuum habe im Universum seiner Gegenstände den umfassenden Spiegel seines Wesens, zunächst lediglich als eine einfache Umkehrung jenes Grundgedankens der leibnizschen Monadologie erscheinen, demzufolge »jede Monade das ganze Universum widerspiegelt« (GW 1, 575)12 - indes zeigt sich spätestens beim Versuch der 'Rückübersetzung', dass hier doch ein qualitativ neuer Gedanke vorliegt. Tatsächlich besteht ja für Feuerbach die Pointe der Widerspiegelungsbeziehung darin, dass ihr in letzter Instanz eine reale und direkte Abhängigkeit des Subjekts vom Objekt zugrunde liegt, das Subjekt also seinen Gegenständen nicht mit der Interesselosigkeit eines gewöhnlichen Spiegels gegenübersteht, sondern ihrer bedürftig ist, in ihnen die objektiven Bedingungen seiner Existenz hat. Dieser zunächst in den »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« von 1843 formulierte Gedanke, dass nämlich »ein sinnliches Wesen zu seiner Existenz andere^] Dinge außer ihm (bedarf)«, dass es »das, wodurch es ist, was es ist, außer sich« hat (GW 9, 269), ist dann auch der Dreh- und Angelpunkt der späteren, d.h. 1866 im Rahmen des großen Essays »Über Spiritualismus und Materialismus« formulierten Kritik Feuerbachs an der Auffassung der »modernen physiologischen Idealisten«, dass die Sinnesempfindungen »nur subjektiv, nur Nerven- oder Hirnaffektionen« sind (GW 11, 179 f.), die sinnliche Welt außer uns also letztlich »nur ein Produkt des Geistes« ist (a.a.O., 170). »Warum«, fragt Feuerbach, »streckt denn die Katze ihre Krallen, statt nach der Maus, nicht lieber nach ihren eigenen Augen aus, wenn die Maus, die sie sieht, nur in ihren Augen existiert, nur eine Affektion ihres Sehnerven ist? Weil sie nicht den Idealisten zuliebe, sich selbst aber zum Leide verhungern will, weil sie ohne die Existenz der Maus, des Objekts, die Leerheit und Nichtigkeit der eigenen Existenz fühlt, weil sie ebendeswegen außer den subjektiven, den empfindenden Organen nichtempfindende, objektive Organe, Bewegungsnerven, Knochen und Muskeln hat, um die unerträgliche Hohlheit der gegenständ- und inhaltslosen Ichheit überwinden, der Wahrheit der Objektivität inne und habhaft werden zu können.« (a.a.O., 174) Und im gleichen Zusammenhang heißt es an anderer Stelle: »Wie abgeschmackt, der Empfindung das Evangelium, die Verkündung eines objektiven Heilandes, abzusprechen - zu behaupten, daß sie nichts Gegenständliches beweise, nichts Gegenständliches enthalte! Ist denn die

52 Empfindung des Hungers, des Durstes eine leere, gegenstandslose? (...) Meine Empfindung ist subjektiv, aber ihr Grund ist ein objektiver. Ich empfinde Durst, weil das Wasser außer mir ein wesentlicher Bestandteil in und von mir, Grund selbst oder Bedingung meiner Existenz und Empfindung selber ist...« (a.a.O., 178) Gewiss: »Was wir trinken, was wir essen, das müssen wir auch sehen, hören, fühlen, riechen, schmecken«, aber »wir bleiben nicht bei diesem nur sentimentalen Verhältnisse stehen; wir zerkauen und zermalmen es mit unsern unästhetischen Zähnen, nicht um es nur zu schmecken - der Geschmack, wie die andern Sinnesempfindungen, ist hier nur Mittel -, sondern um es uns förmlich einzuverleiben, in Fleisch und Blut zu verwandeln, sein Wesen zu unserm Wesen zu machen.« (a.a.O., 177 f.) Der »Grundmangel des Idealismus« (und zwar sowohl in seiner »modernen«, d.h. physiologisch fundierten Fassung als auch in der »klassischen« Form Fichtes) besteht daher für Feuerbach darin, »daß er die Frage von der Objektivität oder Subjektivität, von der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Welt nur vom theoretischen Standpunkte aus sich stellt und löst, während doch die Welt ursprünglich, zuerst, nur weil sie ein Objekt des Wollens, des Sein- und HabenWollens, ist, Objekt des Verstandes ist« (a.a.O., 173 f.). - »Will das Kind nicht haben, was es sieht? Ist ihm der Gegenstand des idealistischen Auges nicht also zugleich auch ein Gegenstand der realistischen oder materialistischen Habsucht?« (a.a.O., 173) Dabei stimmt Feuerbach in einem anderen Punkt durchaus mit dem Idealismus überein, und es ist nicht zuletzt dieser Punkt, an dem der radikale Unterschied zwischen seiner Auffassung vom Gegenstandsbezug der Sinne und den mechanistischen Abbildtheorien deutlich wird. Auch für ihn ist es nämlich ein unabdingbares Desiderat, »daß man vom Subjekt, vom Ich ausgehen müsse, da ja ganz offenbar das Wesen der Welt, die und wie sie für mich ist, nur von meinem eigenen Wesen, meiner eigenen Fassungskraft und Beschaffenheit überhaupt abhängt, die Welt also, wie sie mir Gegenstand, unbeschadet ihrer Selbständigkeit, nur mein vergegenständlichtes Selbst ist« (a.a.O., 171). Zugleich macht er allerdings geltend, »daß das Ich, wovon der Idealist ausgeht, das Ich, welches die Existenz der sinnlichen Dinge aufhebt, selbst keine Existenz hat, nur ein gedachtes, nicht das wirkliche Ich ist« (ebd.). Denn: »Das wirkliche Ich ist nur das Ich, dem ein Du gegenübersteht und das selbst einem andern Ich gegenüber Du, Objekt ist; aber für das idealistische Ich existiert, wie kein Objekt überhaupt, so auch kein Du.« (ebd.) Der eigentliche Springpunkt der feuerbachschen Konzeption von der Objektivität der Empfindungen ist daher die Anerkennung eines Du als der notwendigen Bedingung des Ich, und zwar eines Du,

53 das, wiewohl der Gattung nach dem Ich gleich, der Art nach von ihm verschieden ist. In Bezug auf ein wirkliches Du ist daher auch das wirkliche Ich »nur weibliches oder männliches Ich, kein geschlechtsloses Das, denn der Geschlechtsunterschied ist nicht nur auf die Geschlechtsteile beschränkt nur in diesem Falle wäre ich berechtigt, von ihm zu abstrahieren -, er ist ein Mark und Bein durchdringender, allgegenwärtiger, unendlicher, nicht da anfangender, dort endender Unterschied. Ich denke, ich empfinde nur als Mann oder Weib, und ich bin daher vollkommen berechtigt, die Frage: Ist die Welt nur eine Vorstellung und Empfindung von mir oder auch eine Existenz außer mir? mit der Frage: Ist das Weib oder der Mann nur eine Empfindung von mir oder ein Wesen außer mir? auf gleichen Fuß zu stellen.« (a.a.O., 173)13 Das überzeugendste Argument gegen den »modernen physiologischen Idealismus«, insbesondere gegen die Konsequenzen, die er aus dem von Joh. Müller aufgestellten »Gesetz der spezifischen Sinnesenergien« zieht (vgl. Müller 1826)14, leitet Feuerbach daher auch aus der Geschlechtsbeziehung ab. »Der Unterschied zwischen Ich und Du«, schreibt er, »ist der Unterschied zwischen phantastischem und wirklichem Licht. Nervenlicht ohne Sonnenlicht ist soviel als ein Ich ohne Du, ein Weib ohne Mann, oder umgekehrt. Die subjektive Lichtempfindung der objektiven gleichsetzen heißt die Pollution mit der Zeugung identifizieren. Ich empfinde Geschlechtsreize auch ohne das andere Geschlecht auf Einwirkung der verschiedensten Ursachen, aber gleichwohl beziehen doch alle diese Reize auch ohne Anwesenheit und Berührung des andern Geschlechts sich nur auf dasselbe (...) Keine Empfindung ist subjektiver als die geschlechtliche, und doch verkündet keine lebhafter und energischer die Notwendigkeit und das Dasein des ihr entsprechenden Gegenstandes, denn jeder einseitige geschlechtliche Reiz ist ja eigentlich nur ein das andere Geschlecht vertretender, nur ein kryptogamischer Reiz. Warum soll es nicht dieselbe oder doch eine ähnliche Bewandtnis mit den einseitigen Lichtempfindungen haben? Wenn der geschlechtlich Erregte auch andere, neutrale, geschlechtslose Reize, selbst einen bloßen Händedruck, als einen Geschlechtsreiz empfindet, warum soll nicht auch der lichtbedürftige, lichtbegierige Sehnerv oder überhaupt Sehsinn einen mechanischen Druck oder sonstigen Eindruck als Licht empfinden, d.h. jedem abnormen Eingriff gegenüber seine normale Naturbestimmung, seine Lichtbestimmung zu augenfälliger Erscheinung bringen?« (a.a.O., 181 f.) 1.3. Die soziale Bedingtheit der menschlichen Psyche Seine spezifisch psychologische (um nicht zu sagen: persönlichkeitstheoretische) Ausprägung findet das feuerbachsche Theorem der Du-Bedingtheit des Ich in der These von der sozialen und historischen Determiniertheit der den Menschen als Menschen auszeichnenden psychischen Eigenschaften und Funktionen.

54 Dabei kann die besondere Berücksichtigung des (im strengsten Wortsinn) sozialen Faktors einerseits als radikale Weiterführung bestimmter »Jugendgedanken« F.WJ. Schellings aufgefasst werden15; andererseits scheint sich darin aber auch Feuerbachs intime Kenntnis der Einzelheiten im »Fall Kaspar Häuser« auszuwirken, über die er nicht nur durch die Berichte ihm nahestehender Dritter16, sondern auch durch eigene Anschauung verfügte17. Zwar war er dem 'Phänomen Hauser' gegenüber längere Zeit skeptisch eingestellt, wurde jedoch durch Hausers Ermordung, insbesondere deren nähere Umstände, zu der Auffassung gebracht, dass es sich bei ihm nicht um einen Betrüger gehandelt haben könne, wie bald nach Kaspars Auftauchen in Nürnberg im Mai 1828 von verschiedenen Seiten behauptet worden war (vgl. hierzu Feuerbachs Brief an Daumer vom 18. Dezember 1833, zit. in Daumer 1859, 104 f.). Als vermittelndes Glied zwischen der Ebene der das 'Phänomen Hauser' betreffenden »unleugbaren facta« (GW 3, 288) und der Ebene der theoretischen Verallgemeinerung mag dabei für Feuerbach vor allem die 1832 erschienene Schrift seines Vaters »Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen« (vgl. hierzu v. Feuerbach 1983) fungiert haben, wird hier doch, demonstriert an der Person Hausers, teils ex negativo, teils aber auch direkt positiv der überzeugende Beweis geführt, dass ein Mensch nur in der (auf dem realen, in der Geschlechtsdifferenz unmittelbar zutagetretenden, Unterschied von Ich und Du beruhenden) Gemeinschaft mit anderen Menschen18 wirklich Mensch werden kann. Wie ein Resümee der »Erkenntnisse über Kaspar Hauser« liest es sich daher, wenn Feuerbach im »Wesen des Christentums« schreibt: »Der andere Mensch ist das Band zwischen mir und der Welt. Ich bin und fühle mich abhängig von der Welt, weil ich zuerst von andern Menschen mich abhängig fühle. Bedürfte ich nicht des Menschen, so bedürfte ich auch nicht der Welt. (...) Ohne den andern wäre die Welt für mich nicht nur tot und leer, sondern auch sinn- und verstandlos. Nur an dem andern wird der Mensch sich klar und selbstbewußt ... Ein absolut für sich allein existierender Mensch würde sich selbsdos und unterschiedslos in dem Ozean der Natur verlieren; er würde weder sich als Menschen noch die Natur als Natur erfassen. Der erste Gegenstand des Menschen ist der Mensch. Der Sinn für die Natur, der uns erst das Bewußtsein der Welt als Welt erschließt, ist ein späteres Erzeugnis; denn er entsteht erst durch den Akt der Absonderung des Menschen von sich. (...) Das Bewußtsein der Welt ist also für das Ich vermittelt durch das Bewußtsein des Du19. So ist der Mensch der Gott des Menschen. Daß er ist, verdankt er der Natur; daß er Mensch ist, dem Menschen. Wie er nichts physisch vermag ohne den andern Menschen, so auch nichts geistig. Vier Hände vermögen mehr als zwei; aber auch vier Augen sehen mehr als zwei. Und diese vereinte Kraft unterscheidet sich nicht nur quantitativ, sondern

55 auch qualitativ von der vereinzelten. Einzeln ist die menschliche Kraft eine beschränkte, vereinigt eine unendliche Kraft. (...) Witz, Scharfsinn, Phantasie, Gefühl, als unterschieden von der Empfindung, Vernunft als subjektives Vermögen, alle diese sogenannten Seelenkräfte sind Kräfte der Menschheit, nicht des Menschen als eines Einzelwesens, sind Kulturprodukte, Produkte der menschlichen Gesellschaft.« (GW 5, 165 f.) Fragt man danach, wie man sich denn unter diesen Voraussetzungen die Herausbildung der »sogenannten Seelenkräfte« in den einzelnen Individuen vorzustellen habe, so erweisen sich bestimmte Überlegungen Feuerbachs als paradigmatisch, die wir in seinen späteren Schriften finden und die dem Problem der (individualgeschichtlichen) Genese des menschlichen Gewissens gewidmet sind. Denn, dass es sich gerade beim Gewissen um eine jener für den Menschen spezifischen psychischen Funktionen handelt, in denen sein Wesensunterschied zum Tier offen zutage tritt, kann ebenso wenig in Zweifel stehen, wie andererseits die Unterstellung dieser Funktion als »Kulturprodukt, Produkt der menschlichen Gesellschaft« (und damit einer geschichtlichen Entwicklung unterworfen), von erheblicher Brisanz ist. Insofern können denn Feuerbachs Auseinandersetzungen mit Fragen der Moral im allgemeinen und die Aufdeckung der Gesetzmäßigkeiten der Herausbildung des menschlichen Gewissens im besonderen in der Tat geradezu als Prototyp einer Analyse der Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen der spezifisch menschlichen psychischen Funktionen überhaupt aufgefasst werden. Ausgangspunkt ist auch hier die Einsicht, dass der Ursprung und das letzte Kriterium des 'Menschlichen im Menschen' nur »in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen« zu suchen ist. »In der Tat«, schreibt Feuerbach, »ist Moral eines für sich allein gedachten Individuums eine leere Fiktion«, und fahrt fort: »Wo außer dem Ich kein Du, kein anderer Mensch ist, ist auch von Moral keine Rede, nur der gesellschaftliche Mensch ist Mensch. Ich bin Ich nur durch dich und mit dir. Ich bin meiner selbst nur bewußt, weil du meinem Bewußtsein als sichtbares und greifbares Ich, als anderer Mensch gegenüberstehst. Weiß ich, daß ich Mann bin und was der Mann ist, wenn mir kein Weib gegenübersteht? (...) Das gleiche, unterschiedslose und geschlechtslose Ich ist nur eine idealistische Chimäre, ein leerer Gedanke. (...) Wie zur ... physischen Entstehung des Menschen, so gehören auch zur geistigen Entstehung, zur Erklärung der Moral, zum allerwenigsten zwei Menschen - Mann und Weib. Ja das Geschlechtsverhältnis kann man geradezu als das moralische Grundverhältnis, als die Grundlage der Moral bezeichnen. (...) Von Moral kann nur da die Rede sein, wo das Verhältnis des Menschen zum Menschen, des einen zum andern, des Ich zum Du zur Sprache kommt. Einen moralischen Sinn und Wert haben die Pflichten gegen sich nur, wenn sie als indirekte Pflichten gegen andere erkannt werden, wenn anerkannt wird, daß ich nur, weil ich Pflichten

56 gegen andere - meine Familie, meine Gemeinde, mein Volk, mein Vaterland - Pflichten gegen mich selbst habe.« (zit. nach Feuerbach 1994, 408 f.) Der so über das Verhältnis zu den Mitmenschen definierte Moralbegriff scheint auf den ersten Blick einen Widerspruch zwischen der Moralität des Menschen und dem zu implizieren, was Feuerbach zuvor (vgl. a.a.O., 365) als den »Urund Grundtrieb alles dessen, was lebt und liebt, was ist und sein will« bestimmt hatte: dem »Glückseligkeitstrieb« nämlich, der seinem Wesen nach selbstbezogen und eigensüchtig ist. Schon in seinen »Vorlesungen über das Wesen der Religion« war ja von Feuerbach klargestellt worden, dass nichts anderes als »die Lebensliebe, das Interesse, der Egoismus« die primäre Triebfeder menschlichen Handelns bilden (vgl. GW 6, 60 f., 340 f.)20, und in ebendiesem Sinne heißt es denn auch eingangs der Schrift zur Moralphilosophie: »Was lebt, liebt, wenn auch nur sich, sein Leben, will leben, weil es lebt, sein, weil es ist, aber, wohlgemerkt! nur wohl, gesund, glücklich sein; denn nur Glücklichsein ist Sein im Sinne eines lebenden, empfindenden, wollenden Wesens, ist gewolltes, geliebtes Sein. Was will, will nur ... was ihm nützlich, heilsam, gut ist, was ihm wohl-, nicht übeltut, was sein Leben fordert und erhält, nicht beeinträchtigt und zerstört, seinen Sinnen gemäß, nicht zuwider ist, kurz was es glücklich, nicht unglücklich, nicht elend macht. Ja, Wollen und glücklich machendes Wollen, folglich glücklich sein wollen ist, wenn man die ursprüngliche und unverfälschte Naturbestimmung und Naturerscheinung des Willens ins Auge faßt, unzertrennlich, ja wesentlich eins. Wille ist Glückseligkeitswille.« (Feuerbach 1994, 365) Dies vorausgesetzt, drängt sich dann in der Tat die Frage auf, wie denn »um's Himmels willen der Mensch von seinem egoistischen Glückseligkeitstrieb aus zur Anerkennung der Pflichten gegen andere Menschen« komme. Eine Frage, die allerdings für Feuerbach insofern von lediglich rhetorischem Wert ist, als sie de facto »schon längst die Natur selbst entschieden und gelöst hat«, und zwar dadurch, dass sie »nicht nur einen einseitigen und ausschließlichen, sondern auch zwei- und gegenseitigen Glückseligkeitstrieb hervorgebracht« hat, »einen Glückseligkeitstrieb, den man nicht an sich selbst befriedigen kann, ohne zugleich, selbst nolens volens den Glückseligkeitstrieb des andern Individuums zu befriedigen, kurz, einen männlichen und weiblichen Glückseligkeitstrieb«. (a.a.O., 410) Infolge dieses »dualistischen Glückseligkeitstriebes« sei daher zwangsläufig »das Dasein des egoistischen Menschen an das Dasein anderer Menschen, wenn auch nur seiner Eltern, seiner Brüder und Schwestern, seiner Familie gebunden«, so dass

57 »der egoistische Mensch ganz unabhängig von seinem guten Willen, schon von Mutterleibe an die Güter des Lebens mit seinem Nächsten teilen muß, schon mit der Muttermilch also, mit den Elementen des Lebens auch die Elemente der Moral einsaugt, als da sind Gefühl der Zusammengehörigkeit, Verträglichkeit, Gemeinschaftlichkeit, Beschränkung der unumschränkten Alleinherrschaft des eignen Glückseligkeitstriebes« (ebd.). Dabei liegt es auf der Hand, dass diese Herausbildung einer elementaren Moralität beim Kind keineswegs ein durchweg harmonisch verlaufender Prozess ist, sondern dass dabei durchaus auch Widerständigkeiten überwunden werden müssen. Und wenn die »unwillkürlichen, physisch-moralischen Einflüsse an dem unbeugsamen Starrsinn des Egoisten wirkungslos scheitern«? Dann, so die unmissverständliche Antwort Feuerbachs, »werden ihn die Püffe seiner Brüder und die Kniffe seiner Schwestern Mores lehren - lehren, daß auch der Glückseligkeitstrieb der andern ein berechtigter ist, so gut als der seinige, ja ihn vielleicht selbst sogar zu der Überzeugung bringen, daß mit der Glückseligkeit der Seinigen seine eigne aufs innigste verwachsen ist. Wer aber auch auf diesem familiären Wege nicht zur Anerkennung der Pflichten gegen andere kommt, der wird von Rechts wegen, um uns aus dem Kreise der Familie aufs Gebiet der menschlichen Gesellschaft zu versetzen, durch Anwendung von Gewaltmaßregeln dazu gezwungen.« (a.a.O., 410 f.) Von daher besteht also genau besehen überhaupt kein Widerspruch zwischen der Moral und dem Glückseligkeitstrieb, ist vielmehr, wie Feuerbach bereits in »Über Spiritualismus und Materialismus« deutlich gemacht hatte, gerade die Glückseligkeit das eigentliche und wesentliche »Prinzip der Moral« - freilich »nicht die in eine und dieselbe Person zusammengezogene, sondern die auf verschiedene Personen verteilte, Ich und Du umfassende, also nicht die einseitige, sondern die zwei- und allseitige« Glückseligkeit (GW 11, 75). Mit anderen Worten: »... die Moral kennt keine eigne Glückseligkeit ohne fremde Glückseligkeit, kennt und will kein isoliertes, von dem Glück der andern abgesondertes und unabhängiges oder gar mit Wissen und Willen auf ihr Unglück gegründetes Glück, kennt nur eine gesellige, gemeinschaftliche Glückseligkeit.« (Feuerbach 1994, 413) In jedem Falle gilt daher, dass »gut ist, was dem menschlichen Glückseligkeitstriebe gemäß ist« und »böse, was ihm mit Wissen und Willen widerspricht«. Und »der Unterschied liegt nur im Gegenstande, nur darin, daß es sich hier um das eigene, dort um das andere Ich handelt«, so dass »die Moral« in letzter Konsequenz »nur darin (besteht), daß ich dasselbe, was ich in der Beziehung auf mich selbst unbedenklich gelten lasse, auch in der Anwendung und der Beziehung auf andere gelten lasse, bekräftige und betätige«. (a.a.O., 415)

58 Insofern ist denn auch, wie von Feuerbach schon früher auseinandergesetzt worden war, »das Ich außer mir, das sinnliche Du, der Ursprung des übersinnlichen Gewissens in mir. Mein Gewissen ist nichts anderes als mein an die Stelle des verletzten Du sich setzendes Ich, nichts anderes als der Stellvertreter der Glückseligkeit des andern auf Grund und Geheiß des eigenen Glückseligkeitstriebes.« (GW 11, 80) Oder, wie es in der 1857 erschienenen »Theogonie« heißt: »Das Gewissen ist der alter ego, das andere Ich im Ich.« (GW 7, 137) Eine Bestimmung, die Feuerbach nun in seiner Schrift zur Moralphilosophie folgendermaßen erläutert: »Was heißt: das andere Ich im Ich? Doch wohl nicht, wie sich für den Verständigen von selbst versteht, das andere Ich mit Haut und Haaren, mit Fleisch und Bein, sondern das vorgestellte, in der Abwesenheit vergegenwärtigte, zu Gemüte gezogene, kurz das Bild des andern ..., das mich abhält, ihm Böses zuzufügen, oder mich peinigt und verfolgt, wenn ich ihm bereits Böses zugefügt habe.« (a.a.O., 419 f.) Als bleibendes Resultat der so verstandenen 'Verinnerlichung'21 »bedarf« ich dann am Ende zu meiner moralischen Orientierung »nicht mehr der Vorstellung bestimmter, das Gewissen vertretender und verkörpernder Persönlichkeiten«, sondern »genüge mir selbst« (vgl. GW 7, 139), ist doch »das Bild des andern (so sehr) in mein Selbstbewußtsein, mein Selbstbild eingewoben, daß selbst der Ausdruck des Allereigensten und Allerinnerlichsten, das Gewissen ein Ausdruck des Sozialismus, der Gemeinschaftlichkeit ist; daß ich selbst in den geheimsten, verborgensten Winkel meines Hauses, meines Ichs mich nicht zurückziehen und verstecken kann, ohne zugleich ein Zeugnis von dem Dasein des andern außer mir abzugeben« (Feuerbach 1994, 422). Das auch im Volksmund so häutig als »innere Stimme« apostrophierte menschliche Gewissen ist also weder das Ergebnis der Entfaltung einer, jedem einzelnen Individuum als Abstraktum innewohnenden, 'natürlichen Anlage zur Moralität', noch ist es eine »aus dem blauen Dunst des Himmels oder gar auf dem wunderbaren Wege der Selbsterzeugung (der generatio spontanea) aus sich selbst entsprungne Stimme« - vielmehr ist es seinem Ursprung und Wesen nach »nur das Echo von dem Wehegeschrei des von mir Verletzten und dem Strafurteil des in dieser Verletzung sich selbst verletzt fühlenden andern« (ebd.)22. Wenn daher das Gewissen - einmal als permanente »Seelenkraft« (vgl. oben) etabliert - auch antizipatorisch wirksam werden kann, d.h. mich 'in geistiger Vorwegnahme' der Folgen meiner Handlungen davon abhält, dem anderen (sei dies nun ein bestimmter anderer oder 'der andere überhaupt') Böses zu tun, so gilt für seine Genese doch: »Post factum poenit actum: erst nach der Tat erwacht und entsteht

59 das Gewissen«, so dass denn in letzter Konsequenz »auch nur das böse Gewissen der Ursprung des Gewissens oder das ursprüngliche, naturwüchsige, unverfälschte, wesenhafte und wahrhafte, dieses Namens würdige Gewissen« ist (a.a.O., 420). Nicht aus dem Ich-Du-Verhältnis überhaupt entspringt also das Gewissen, sondern nur aus dem »Bewußtsein, der Urheber des Leids« eines anderen zu sein, »den andern unglücklich gemacht zu haben« (ebd.). Und dieses Bewusstsein ist dann auch keineswegs ein unmittelbares, seine Kriterien in sich selbst tragendes Bewusstsein - vielmehr mache ich mir »als Angehöriger dieses Gemeinwesens, Mitglied dieses Stammes, dieses Volkes, dieses Zeitalters ... nur darüber Vorwürfe, worüber mir der andere, sei's mit Worten, sei's mit der Faust, Vorwürfe macht oder wenigstens machen würde, wenn er es wüßte oder selbst der Gegenstand einer vorwurfsvollen Handlung wäre« (a.a.O., 422)23. 1.4. Die Verankerung der »Seelenkräfte« in der Geschichte oder die Historizität der menschlichen Persönlichkeit Insofern also der Einzelne nicht nur stets Angehöriger eines bestimmten Gemeinwesens, Mitglied eines bestimmten Volkes ist, sondern notwendig auch immer einem bestimmten Zeitalter angehört, ist von der Sozialität des Menschen seine Historizität nicht zu trennen. Und nur im Rekurs auf Geschichte löst sich der Widerspruch, demzufolge er zwar seinen Ursprung in der Natur hat, dennoch aber in seinem Menschsein nicht aus der Natur abgeleitet werden kann, war doch »der Mensch, der unmittelbar aus der Natur entsprang«, nur erst »ein reines Naturwesen, kein Mensch. Der Mensch ist ein Produkt des Menschen, der Kultur, der Geschichte.« (GW 10, 178) Schon in »Abälard und Heloise« ist für Feuerbach daher Kaspar Hauser auch der Inbegriff des geschichtslosen Einzelnen, der sich selbst vorkommt »wie ein Pilz, der über Nacht aufgeschossen ist«, und dem sein Dasein »ein Rätsel« bleiben muss, weil er den »paradoxen Aphorismus« seines Lebens nicht »im Zusammenhang mit dem großen Texte der Vergangenheit« zu lesen vermag (GW 1, 559)24. Hierbei ist zu beachten, dass es sich bei Feuerbachs Auffassung von der historischen Bedingtheit der menschlichen Psyche keineswegs um eine invariante Konzeption handelt; vielmehr taucht der Gedanke von der Verankerung der menschlichen »Seelenkräfte« im sich als Geschichte konstituierenden und reproduzierenden realen Gattungszusammenhang der Menschheit innerhalb des feuerbachschen Gesamtwerks nacheinander in verschiedenen Versionen auf, und zwar mit zunehmend materialistischer Tendenz.

60 So heißt es zunächst in einem seiner frühen (von K. Grün den Erlanger Vorlesungen über Logik und Metaphysik (1831/32) zugeordneten) Aphorismen: »Ich denke nur als ein durch die Geschichte erzogenes, verallgemeinertes, mit dem Ganzen, der Gattung, dem Geist der Weltgeschichte vereinigtes Subjekt; meine Gedanken haben ihren Anfang und Grund nicht unmittelbar in meiner besonderen Subjektivität, sondern sind Resultate; ihr Anfang und Grund ist der Anfang der Weltgeschichte selbst.« (Grün I, 309) Bereits im »Wesen des Christentums« lesen wir dann: »Beschränkt ist das Wissen des einzelnen, aber unbeschränkt die Vernunft, unbeschränkt die Wissenschaft, denn sie ist ein gemeinschaftlicher Akt der Menschheit, und zwar nicht nur deswegen, weil unzählig viele an dem Bau der Wissenschaft mitarbeiten, sondern auch in dem innerlichen Sinne, daß das wissenschaftliche Genie einer bestimmten Zeit die Gedankenkräfte der vorangegangenen Genies in sich vereinigt, wenn auch selbst wieder auf eine bestimmte, individuelle Weise, seine Kraft also keine vereinzelte Kraft ist.« (GW 5, 166) Und in der »Unsterblichkeitsfrage vom Standpunkt der Anthropologie« (1847) ist schon die Vorstellung eines direkten Rapports der individuellen »Wesenskräfte« mit dem »Ganzen, der Gattung, dem Geist der Weltgeschichte« gänzlich aufgegeben: »Der Mensch auf einer höhern, wesentlich vollkommneren Stufe ist notwendig auch ein wesentlich andrer Mensch als der auf einer niedern Stufe. Wie töricht wäre es, wenn man einen Griechen aus dem Zeitalter der ersten rohen Hermen in das Zeitalter eines Phidias und Sophokles versetzte, um ihm ... den Genuß der Anschauung vollkommner Kunstschönheit zu verschaffen! Der alte Grieche, auf diesen Standpunkt versetzt, würde entweder sich nicht mehr als sich selbst oder die Kunstwerke eines Phidias nicht als das, was sie sind, erkennen; denn er hätte keinen Sinn für sie. Sein Kunstsinn und Kunsttrieb ging nicht weiter als die Kunstwerke seiner Zeit; ihre Roheit war der befriedigende Ausdruck seiner eignen Roheit. Ich kann ihm nicht seinen unvollkommnen, rohen Kunstsinn nehmen, ohne ihm sein Wesen und Selbstbewußtsein zu nehmen. Der diesseitige, unkultivierte und der jenseitige, verfeinerte, vergeistigte, vervollkommnete Grieche sind, obwohl beide Griechen, doch so total andre Wesen, daß man diesen Widerspruch nur vermittelst verschiedner Zeiten und Generationen erklären ... kann« (GW 10, 277)25. In den 1851 veröffentlichten »Vorlesungen über das Wesen der Religion« schließlich formuliert Feuerbach den Gedanken von der Geschichtlichkeit der menschlichen Individuen in einer Weise, die es in der Tat gerechtfertigt erscheinen lässt, ihm Ansätze zu einer konsequent materialistischen Geschichtsauffassung zu attestieren:

61 »Ich bin, was ich bin, nur als ein Sohn des 19. Jahrhunderts, nur ein Teil der Natur, wie sie in diesem Jahrhundert beschaffen ist; denn auch die Natur verändert sich26, darum hat jedes Jahrhundert seine eigene Krankheit, und ich bin nicht durch meinen Willen in dieses Jahrhundert versetzt worden. (...) Also: Soviel ich auch durch Selbsttätigkeit, durch meine Arbeit, durch Willensanstrengung bin, ich bin, was ich bin, geworden nur im Zusammenhang mit diesen Menschen, diesem Volke, diesem Orte, diesem Jahrhundert, dieser Natur, nur im Zusammenhang mit diesen Umgebungen, Verhältnissen, Umständen, Begebenheiten, welche den Inhalt meiner Biographie bilden. (...) Aber mit demselben Rechte als das Gute kommt auch nicht das Böse allein auf meine Rechnung; es ist nicht meine Schuld, wenigstens nicht allein meine, es ist auch die Schuld der Verhältnisse, die Schuld der Menschen, mit denen ich von Anfang an in Berührung stand, die Schuld der Zeit, in der ich geboren und gebildet wurde, daß ich diese Fehler, diese Schwächen habe. (...) Dadurch wird übrigens keineswegs die Freiheit des Menschen aufgehoben, wenigstens die vernünftige, die in der Natur begründete, die Freiheit, die sich als Selbsttätigkeit, Arbeitsamkeit, Übung, Bildung, Selbstbeherrschung, Anstrengung, Bemühung äußert und bewährt; denn das Jahrhundert, die Umstände und Verhältnisse, die natürlichen Bedingnisse, unter denen ich geworden, sind keine Götter, keine allmächtigen Wesen.« (GW 6 184 ff.) Gewiss, diese Vorstellungen von der Verankerung der menschlichen Persönlichkeit im historisch gewordenen Ensemble der »natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, Verhältnisse und Umstände« (a.a.O., 184) lassen einiges an Konkretheit zu wünschen übrig27. Andererseits ist dieser Mangel an Konkretheit jedoch kein Mangel, der nur zu beheben wäre um den Preis der Aufgabe des feuerbachschen Grundansatzes. Vielmehr muss gesehen werden, dass Feuerbach selbst hinreichend »tragfähige konzeptuelle Voraussetzungen geschaffen« hat, um die geforderten Konkretisierungen zu erarbeiten (vgl. Lefevre 1994, 135138). Und so handelt es sich bei dem, was Plechanow im ersten seiner »Briefe ohne Adresse« (1899) und später in den »Grundproblemen des Marxismus« (1908) über die »Psychologie [i.e. die »psychische Wesensart« - P.K.] des gesellschaftlichen Menschen« schreibt, (vgl. Plechanow 1955a, 52, 60 f., 63, 65 sowie Plechanow 1958, 55, 62, 73 f., 84 ff.), nicht etwa um eine Widerlegung Feuerbachs, vielmehr um eine Fortführung und Präzisierung seiner Ansichten. Dabei wird, ohne dass Plechanow dies offen ausspricht, zugleich auch deutlich, dass eine von den Grundpositionen Feuerbachs ausgehende Psychologie des gesellschaftlichen Menschen28 auf der einen Seite und Gesellschaftstheorie im marxschen Sinne auf der anderen Seite in einem eigentümlichen Verhältnis wechselseitigen Aufeinanderverweisens stehen, dergestalt, dass einerseits der historische Materialismus und die Kritik der politischen Ökonomie als die i.e.S. gesellschaftstheoretische Grundlage der Psychologie des gesellschaftlichen Menschen im Sinne Feuerbachs fungieren29, andererseits die im Sinne Feuerbachs

62 konsequent durchgeführte Psychologie des gesellschaftlichen Menschen den Schlüssel zur psychologischen Dimension des historischen Materialismus liefert30. 7.5. Zur Problematik der Rezeption der Anschauungen Feuerbachs in der offiziellen Psychologie Wenn eingangs davon gesprochen wurde, dass bis heute eine systematische Aufarbeitung der von Feuerbach auf dem Gebiet der Psychologie erzielten Resultate ausstehe, so sollte damit keineswegs gesagt werden, dass Feuerbach für die Psychologie überhaupt erst noch entdeckt werden müsse. Das eigentliche Ärgernis besteht vielmehr gerade darin, dass es bisher zu einer systematischen Würdigung seiner psychologischen Anschauungen nicht gekommen ist, obwohl in der einschlägigen Literatur wiederholt Hinweise auf den 'Psychologen' Feuerbach zu finden sind. Was die marxistische Tradition anbelangt, so ist zunächst durch die »Feuerbach«-Schrift von F. Engels (vgl. hierzu die erste Studie in diesem Band), dann durch den Einfluss des Neukantianismus (vgl. hierzu Plechanow 1982) und schließlich durch stalinistische Restriktionen die Haltung wesentlich gefördert worden, eine direkte Beschäftigung mit den Schriften Feuerbachs nach Möglichkeit zu umgehen, stattdessen im Rückgriff auf als unhinterfragbar gültig unterstellte Aussagen von Marx oder Engels über Feuerbach dessen Anschauungen durch einfache Rückprojektion zu 'rekonstruieren' und sie dann pauschal abzuqualifizieren (so etwa Rubinstein 1961 oder Seve 1972). Kommen in Ausnahmefallen seine Konzeptionen doch einmal im Originaltext zur Sprache, dann gewöhnlich mit der Tendenz einer deutlichen Relativierung ihrer Tragweite, wodurch sich auch hier die Frage eines weitergehenden Bezuges auf Feuerbach quasi 'von selbst' erledigt (vgl. A.N. Leontjew 1973b, 27 ff.)31. Um diese allgemeine 'Scheuklappen'-Attitüde besser zu verstehen, muss man sich freilich vergegenwärtigen, dass die auf 1930/31 anzusetzende »antifeuerbachianische Wende« in der sowjetischen Philosophie (auf die in Kapitel 3.1. ausführlich einzugehen sein wird) eingebettet war in einen umfassenderen ideologischen Umschwung. So wurde etwa in den zu diesem Zeitpunkt um die Philosophie und die Psychologie geführten Diskussionen nicht nur »die ungenügende Ausarbeitung des wissenschaftlichen Erbes Lenins auf dem Gebiet der Psychologie«, sondern auch eine »Überbewertung der Rolle Plechanows festgestellt« und dabei gegen die »unkritische Aufnahme einiger seiner theoretischen Thesen« polemisiert, »die sich in der Behandlung der methodologischen Fragen widerspiegelte, insbesondere in den Versuchen, den historischen Materialismus zu psychologi-

63 sieren und die Psychologie zu soziologisieren« (vgl. Budilowa 1975, 66)32. Das bedeutet, dass eine sich explizit als solche bezeichnende »Psychologie des gesellschaftlichen Menschen« spätestens seit Beginn der 30er Jahre innerhalb der Sowjetunion nicht die geringsten Entwicklungsmöglichkeiten mehr gehabt hätte, umso weniger, wenn sie sich dabei auf Feuerbach berufen hätte. Sofern innerhalb der außermarxistischen Tradition der Feuerbachrezeption Feuerbachs Qualitäten als Psychologe zur Sprache kommen, geht dies nicht selten mit einer eigentümlichen Neubestimmung des systematischen Verhältnisses verschiedener Wissenschaften zueinander einher. Gewiss, es gehört zu seinen bleibenden Verdiensten, in die Religionswissenschaft explizit die psychologische Dimension eingeführt zu haben - ausgerechnet hierin jedoch »Feuerbachs Bedeutung für die Geschichte der Psychologie« (und eben nicht der Religionswissenschaft) zu sehen (vgl. Dessoir 1911, 221), heißt aber letztlich nichts anderes, als der Psychologie zu unterstellen, es sei gewissermaßen ihre 'höhere Bestimmung', zu einem Moment der Religionswissenschaft oder gar der Theologie herabgesetzt zu werden. Ein Gedanke, der die tatsächlichen Intentionen Feuerbachs (Propagierung einer »Psychologisierung« der Religionsphilosophie33 bei gleichzeitiger Emanzipation der Psychologie aus ihrem Status einer 'verkappten Theologie') in ihr genaues Gegenteil verkehrt. Kaum weniger problematisch als die Attitüde, die Bedeutung Feuerbachs für die Psychologie auf die Einführung der psychologischen Dimension in die Religionswissenschaft reduzieren, ist es, wenn Fr. Jodl - nicht nur Verfasser einer Monographie über Feuerbach (vgl. Jodl 1904), sondern auch (gemeinsam mit W. Bolin) Mitherausgeber einer bearbeiteten Neuauflage von Feuerbachs »Sämtlichen Werken« (1903-1911) - in seinem zwischen 1896 und 1924 in sechs Auflagen erschienenen »Lehrbuch der Psychologie« Feuerbachs Theorem von der sozial-historischen Determiniertheit der menschlichen Psyche einer Traditionslinie zuordnet, in welcher das Konstrukt des »objektiven Geistes« eine zentrale Rolle spielt, wodurch dann nicht allein dem in diesem Zusammenhang zitierten Feuerbach-Wort eine Bedeutung unterschoben wird, die erheblich von der abweicht, die es in seinem ursprünglichen Kontext hat, sondern Feuerbachs Anschauungen dazu auch noch in die Nähe der abstrusen Spekulationen eines Paul von Lilienfeld gerückt werden (vgl. hierzu ausführlicher die nachfolgende Studie). Bei alledem scheint Jodl Feuerbachs generelle Kompetenz in Fragen der Psychologie überhaupt erst nach und nach entdeckt zu haben. Während er in der ersten, immerhin mehr als 730 Textseiten umfassenden Auflage seines Psychologielehrbuches außer in dem bereits erwähnten Zusammenhang nur noch an zwei anderen Stellen auf Feuerbach verweist, und zwar beide Male mit Bezug

64 auf »Über Spiritualismus und Materialismus«34, finden wir in der zweiten Auflage von 1903 über die schon in der ersten Auflage vorhandenen Verweise hinaus zwei weitere, die beide Äußerungen Feuerbachs in dessen Buch über Leibniz betreffen35. In der dritten, 1908 erschienenen Auflage36 sind es dann noch neun zusätzliche Verweise auf Feuerbach, wovon sich acht auf Arbeiten aus dem 2. Band der »Sämtlichen Werke« beziehen und einer auf die »Vorlesungen über das Wesen der Religion«37. Kann diese gewissermaßen 'schleichende' Eingemeindung in das »Lehrbuch der Psychologie« einerseits durchaus als Indiz dafür genommen werden, dass zumindest Jodl selbst in wachsendem Maße Feuerbachs Qualitäten als Psychologe schätzen lernte, so war sie andererseits mitnichten dazu angetan, bei den Lesern ein spezifisches Interesse gerade an den psychologischen Anschauungen Feuerbachs zu wecken. Tatsächlich werden nämlich die betreffenden Anschauungen nirgendwo im Zusammenhang dargestellt, sie werden auch nicht im Textteil der jeweiligen Lehrbuchabschnitte besprochen, sondern es wird lediglich auf sie im Rahmen genereller, gewöhnlich ein breites Spektrum unterschiedlichster Auffassungen abdeckender Anmerkungen und Quellenverzeichnisse verwiesen, wobei dann insgesamt die Hinweise auf Feuerbach im Verhältnis zu den Hinweisen auf andere Autoren nur einen verschwindend geringen Bruchteil ausmachen. (So liegt etwa A. Schopenhauer, auf den Jodl bereits in der ersten Auflage des Lehrbuchs vierzehnmal verweist, auch in der dritten Auflage in der Anzahl der Erwähnungen noch vor Feuerbach.) Aufs Ganze gesehen sind wir daher mit der paradoxen Situation konfrontiert, dass zwar in Jodls »Lehrbuch der Psychologie« ab der dritten Auflage Feuerbach so häufig erwähnt wird wie wohl sonst nirgendwo in der psychologischen Fachliteratur, dazu noch durchweg positiv, und dennoch Feuerbachs psychologischer Ansatz in seiner spezifischen Bedeutung recht eigentlich unerfasst bleibt. Dass wir andererseits aus dem knapp neun Druckseiten umfassenden Kapitel der Feuerbach-Monographie Jodls von 1904, das dem »Seelenproblem« gewidmet ist, sehr wohl etwas über die Substanz der feuerbachschen Psychologie erfahren, und zwar mehr als aus der dann auf über 900 Seiten angewachsenen 3. Auflage des »Lehrbuches der Psychologie«, ist allerdings keineswegs nur ein die besagte Paradoxie noch potenzierendes Kuriosum, sondern Ausdruck eines grundsätzlichen Dilemmas: Je tiefer man nämlich in die psychologischen Anschauungen Feuerbachs eindringt, desto deutlicher wird, dass sein Grundansatz schlecht mit dem vereinbar ist, was man mit einem modernen Ausdruck als »Mainstream«-Psychologie bezeichnet und was in systematischer Form darzustellen sich Jodl in seinem Lehrbuch zur Aufgabe gemacht hatte (vgl. hierzu die Vorrede zur 1. Aufl. von 1896, IV f. sowie W. Bolins Rezension von 1897,

65 28). Mit anderen Worten: Die Psychologie Feuerbachs ist in ihrer Eigenart letztlich nur 'außerhalb des offiziellen Programms' bzw. im expliziten Gegensatz zu den herrschenden Erscheinungsformen der Psychologie erfassbar und darstellbar. Jodl bringt dies auch zum Ausdruck, wenn er in seiner FeuerbachMonographie mit Blick auf das von Feuerbach bereits in »Wider den Dualismus von Leib und Seele« formulierte Prinzip der organischen Einheit oder Totalität (vgl. oben, Kap. 1.2.) schreibt: »Wer über diesen Standpunkt der Totalität hinausgeht, der macht aus einem vollkommenen Wesen ein unvollkommenes; der verstümmelt und zerstückelt die Wirklichkeit. Aber die Elemente der Wirklichkeit, mag sie nun der Materialist als Atome, oder der Idealist als Monaden, oder der empirische Psycholog als Leib und Seele bestimmen, sind noch nicht das Wesen selbst. Man ist ihm weit näher, wenn man ein Tier in seiner Totalität begreift, als wenn man ihm mittels der psychologischen Abstraktion die Seele aus dem Leibe reißt oder mittels der physiologischen Schinderei den Schädel öffnet und das Hirn raffinierten Experimenten unterwirft.38 Goldene Worte, nicht als eine Abwehr gegen die unerläßlichen spezialisierenden Tendenzen der Wissenschaft gerichtet, deren Fortschritte und Errungenschaften niemand mit größerer Freude begrüßt haben würde als Feuerbach; wohl aber gegen die auch in der Gegenwart wieder auftretende Täuschung, in solchen zum Zwecke des Experiments und der Analyse methodisch ausgebildeten Teilstücken, gleichviel ob sie ihren Ursprung dem physiologischen oder psychologischen Laboratorium verdanken, das Ganze zu besitzen. Und so hat Feuerbach, der verrufene Materialist, schon im Jahre 184339, also lange vor dem siegreichen Vordringen der modernen Psychologie und an der Schwelle seiner eigenen naturalistischen Periode, gegen den Wahn geeifert, alle Psychologie, ja überhaupt alles Verständnis des Lebens in Physiologie auflösen zu wollen.« (Jodl 1904, 56 f.) In der Tat ist Jodl in dieser Apologie Feuerbachs, die ja zugleich eine vehemente Kritik an bestimmten Tendenzen in der Psychologie darstellt, die seitdem eher stärker denn schwächer geworden sind, dem feuerbachschen Grundansatz in der Psychologie so nah wie wohl sonst nirgendwo. Und es ist nicht auszuschließen, dass er das, was er unter dem Datum des 11. 9. 1903 (d.h. in der Phase der Ausarbeitung der Feuerbach-Monographie) an Bolin geschrieben hatte, nämlich dass er »jetzt erst« sehe, dass Feuerbach »ein ganzes System im Kopf zusammengetragen« habe, »ein wahres Programm alles dessen, was sich heute wissenschaftliche Philosophie nennt«, am Ende auch auf die Psychologie bezog, die ihm (Jodl) ja als die »eigentliche Grundwissenschaft der Philosophie« galt (vgl. die Vorrede zur 1. Aufl. des »Lehrbuches der Psychologie«, a.a.O., III sowie Bolins Rezension, a.a.O., 28). Um freilich die Einsicht, dass das Gesamtwerk Feuerbachs in der Tat eben nicht nur vereinzelte 'psychologische

66 Aphorismen', sondern ein regelrechtes System von Richtlinien für die Durchführung einer materialistischen Psychologie enthält, ihrer tatsächlichen Bedeutung gemäß im Rahmen seines »Lehrbuches der Psychologie« umzusetzen, wäre Jodl allerdings genötigt gewesen, dieses Lehrbuch (das ja bereits ein breites Publikum gefunden hatte)40 völlig neu und »gegen den Strom« zu konzipieren. (Vgl. zu alledem ausführlicher Keiler 1992.) Dass im Übrigen auch eine intensive Beschäftigung mit Feuerbachs Schriften nicht notwendig dazu führen muss, dass man sich bei der Ausbildung der eigenen psychologischen Auffassungen an dessen Theoreme anschließt, dafür ist S. Freud, der Begründer der Psychoanalyse, der bisweilen in einem Atemzug mit Feuerbach genannt wird (vgl. A. Schmidt 1973, 8 u. 178, Fußn. 329 sowie Sass 1978, 117), ein gutes Beispiel. Zu Beginn seines Studiums ein begeisterter Anhänger Feuerbachs41, zeigt Freud in seinem eigenen psychologischen Ansatz am Ende doch wenig Übereinstimmung mit ihm. Selbst dort, wo er Feuerbach nahezustehen scheint, wie etwa in seinen Auffassungen vom Entstehungsmechanismus des »Über-Ich« und der Religion42, sind die grundlegenden Differenzen unübersehbar: Wo Feuerbach sich durchgehend auf der Ebene rational-psychologischer Erklärungen bewegt (siehe hierzu vor allem die »Theogonie« von 1857 sowie die Schrift »Zur Moralphilosophie« von 1868/69), sucht Freud (vgl. »Totem und Tabu« von 1912/13, Ges. W. Bd. IX) die Lösung der Probleme im Reich der Fabeln und Mythen. Kein Wunder, dass er es »später eher verleugnet (hat)« (Boehlich 1989, 242), Feuerbach überhaupt etwas zu verdanken (tatsächlich wird dessen Name in Freuds »Gesammelten Werken« nicht ein einziges Mal genannt, während A. Schopenhauer und F. Nietzsche durchaus Erwähnung finden)43. Genaugenommen ist Freud in den Kernbereichen seines eigenen psychologischen Ansatzes (Trieblehre, Persönlichkeitstheorie) sogar ein direkter Antipode Feuerbachs. Geht es diesem wesentlich um eine systematische Entmystifizierung der Vorstellungen vom Psychischen und sind ihm daher die für die verschiedenen idealistischen Ansätze charakteristischen Verselbständigungen und Personifikationen der psychischen Funktionen ein permanenter Gegenstand der Kritik, schlägt Freud genau den umgekehrten Weg ein, so dass letztlich Feuerbachs Anspruch an die Psychologie regelrecht 'auf den Kopf gestellt' ist. Während Feuerbach es der Psychologie als schwerwiegendes, sie in die Nähe der Theologie rückendes methodisches Vergehen anlastet, »ihre Chimären zu Wesen« zu machen, erhebt Freud ebendiese Vorgehensweise explizit zum Programm. »Die Trieblehre«, heißt es dementsprechend in der »Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« (1932), »ist sozusagen unsere Mythologie. Die Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit. Wir kön-

67 nen in unserer Arbeit keinen Augenblick von ihnen absehen und sind dabei nie sicher, sie scharf zu sehen.« (Ges. W. Bd. XV, 101) Am deutlichsten tritt die Differenz zwischen Freud und Feuerbach im Übrigen gerade in ihren Auffassungen von der Sexualität zutage, wobei der Ausgangspunkt für beide in wesentlichen Momenten identisch ist. Schon für Feuerbach steht (im »Wesen des Christentums«) die »Stärke der sinnlichen Triebe« außer Zweifel, schon für ihn ist »der stärkste, der der Intelligenz entgegengesetzteste Naturtrieb der Geschlechtstrieb« (GW 5, 176); anders als später für Freud, bei dem die »im Grunde selbstsüchtige Sexualstrebung« quasi zwangsweise, d.h. über die Durchsetzung gesellschaftlicher Normen 'sozialisiert' (und dabei zugleich schrittweise desexualisiert) wird (vgl. Ges. W. Bd. XI, 358), ist aber für Feuerbach die Sexualität per se ein soziales (auf unterschiedlichste Weise 'kultivierbares') Phänomen. So steht denn zwar auch bei ihm die Liebe unter dem Vorzeichen des »Glückseligkeitstriebes des Menschen«, jedoch gehört es für ihn zur »Natur der Sache«, dass dieser Trieb in der Form der geschlechtlichen Liebe als der »innigste(n) und vollkommenste(n) Form der Liebe« »nur in und mittelst der Befriedigung des Glückseligkeitstriebes des andern sich selbst befriedigt« (GW 11, 77). M.a.W.: Man »kann hier nicht sich selbst beglücken, ohne zugleich, selbst unwillkürlich, den andern Menschen zu beglücken, ja, je mehr wir den andern, desto mehr beglücken wir uns selbst« (ebd.).44 2. Wygotskis Sicht auf Feuerbach als »Methodologen« der materialistischen Psychologie - seine »kulturhistorische Theorie« »Der einzelne Mensch für sich hat das Wesen des Menschen nicht in sich, weder in sich als moralischem, noch in sich als denkendem Wesen. Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten ...« L. Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843) »Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« K. Marx: Ad Feuerbach (1845) So ist es aufs Ganze gesehen wohl der sowjetische Psychologe L.S. Wygotski, der sowohl in konzeptioneller als auch methodologischer Hinsicht Feuerbach am nächsten steht. Allerdings wäre es auch hier verfehlt, von einer geradlinigen und

68 bruchlosen Nachfolgebeziehung zu sprechen; vielmehr ist, wie bereits in der Vorbemerkung angedeutet, das Verhältnis Wygotskis zu den Auffassungen Feuerbachs nicht nur sehr komplex und facettenreich, sondern weist durchaus auch paradoxe Züge auf. Dies näher zu explizieren, ist die Aufgabe dieses und der nachfolgenden Kapitel. Dabei kann es, entsprechend der Zielsetzung der vorliegenden Studie, bei dem Versuch, einen genaueren Einblick in die Auffassungen Wygotskis zu gewinnen, nicht darum gehen, ein möglichst umfassendes Bild vom Leben und vom Werk dieses Wissenschaftlers zu zeichnen - dies ist ja bereits von R. van der Veer und J. Valsiner in ihrer 1991 erschienenen großen Arbeit »Understanding Vygotsky: A Quest for Synthesis« in einer Weise geleistet worden, die nur wenige Fragen offen lässt45. Vielmehr werden wir der Spezifik unserer Aufgabe nur dadurch gerecht werden können, dass wir die in der einschlägigen Literatur bereits hinreichend behandelten Thematiken (wie etwa das vieldiskutierte Verhältnis Wygotskis zur Philosophie B. Spinozas) weitgehend ausblenden und uns darauf beschränken, einen bisher wenig beachteten Aspekt im Gesamtwerk Wygotskis, nämlich sein Verhältnis zu den Auffassungen Feuerbachs, in das allgemeine wissenschaftliche Bewusstsein zu heben und die aus diesem Verhältnis resultierenden Spezifika seines eigenen theoretischen Ansatzes herauszuarbeiten und gegen die bisherige Vernachlässigung zur Geltung zu bringen. 2.1. Kursorischer Überblick über die Entwicklung der Auffassungen Wygotskis im Zeitraum von 1925 bis 1931/32 Wahrscheinlich durch die Beschäftigung mit Plechanows Theorie der Ästhetik sowie dessen Standardwerk zur Einführung in den Marxismus auf die Psychologie Feuerbachs aufmerksam geworden46, beruft sich zwar Wygotski bereits in seinem großen Essay von 1926/27 über die Krise der Psychologie mehrfach auf Feuerbachs »erkenntnistheoretische Formel des psychologischen Materialismus«, in der er den Schlüssel für die Lösung der theoretisch-methodologischen Grundprobleme einer wissenschaftlichen Psychologie sieht47, und die Bezeichnung »kulturhistorische Theorie« für die von ihm und seinen Mitarbeitern in den Jahren 1928-30 entwickelte Konzeption der Herausbildung der »höheren«, d.h. spezifisch menschlichen psychischen Funktionen scheint auch einen direkten Bezug dieser Konzeption auf Feuerbachs zentrales Theorem auszudrücken, das Menschliche im Menschen sei »Produkt der Kultur, der Geschichte«. Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass die um das Konzept der »psychischen Werkzeuge« zentrierte »kulturhistorische Theorie« keineswegs jenes (feuerbach-) plechanowsche Programm einer »Psychologie des gesellschaftlichen Menschen«

69 realisiert, wie es Wygotski schon in der »Psychologie der Kunst« als verbindlich zugrunde gelegt hatte48, sie vielmehr eine eigentümliche Synthese aus dem von F. Bacon und B. Spinoza begründeten Konzept der »Werkzeuge des Intellekts«49, G.W.F. Hegels Dreistufentheorie der Entwickung des Geistes50 und S. Freuds Auffassungen über die Binnenstruktur der menschlichen Persönlichkeit (genauer: sein »Es«-»Ich«-»Über-Ich«-Modell)51 darstellt. Als diese Synthese vermittelndes Glied fungiert jenes bekannte Wort von Marx, wonach der Mensch, indem er in der Arbeit auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, zugleich seine eigene Natur verändert (MEW 23, 192). Dabei gründet die Plausibilität der gesamten Konstruktion wesentlich in der Auffassung Wygotskis, Marx habe, als er in Fortführung des Grundgedankens von der naturverändernden Funktion der Arbeit schrieb: »Er (der Mensch - P.K.) entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit« (ebd.), eben nicht »die Natur außer ihm«, sondern »seine eigne Natur« gemeint (vgl. Wygotski ASch Bd. 1, 314). Nicht, dass bei alledem nun für Wygotski die Auffassungen Feuerbachs völlig an Bedeutung verloren hätten - insbesondere dessen in der Auseinandersetzung mit Hegel gewonnene Einsichten behalten auch weiterhin den Status einer wesentlichen Orientierungsgröße für die Verortung der eigenen Grundpositionen im Spannungsfeld von Materialismus und Idealismus52 ; aber der Rekurs auf ihn hat durchaus nicht mehr denselben programmatisch-emphatischen Charakter wie im »Krisen«-Essay, wo der systematische Anschluss an den »psychologischen Materialismus« Feuerbachs quasi zur Überlebensfrage für jede Psychologie mit marxistischem Anspruch erklärt worden war. Tatsächlich kam es zur Einlösung der Option für ein stärker inhaltlich als methodologisch orientiertes Anknüpfen an den Auffassungen Feuerbachs erst, nachdem einerseits die »kulturhistorische Theorie« ab 1930 zunehmend in das Kreuzfeuer öffentlicher Kritik geraten war53, andererseits in der theorieimmanenten Weiterentwicklung der Vorstellungen von der Herausbildung der »höheren« psychischen Funktionen deutlich die prinzipiellen Schwächen des Konzepts der »psychischen Werkzeuge« zutage getreten waren. Dass dabei die Neuorientierung keineswegs in Form eines gewaltsamen Bruchs, sondern in eher allmählicher Absetzung von der ursprünglichen Fassung des »kulturhistorischen« Ansatzes erfolgte, lässt sich recht gut an zwei »Übergangs«-Arbeiten Wygotskis zeigen. Die eine erschien 1931 als letzter Teil seines umfangreichen Lehrbuches »Pädologie des frühen Jugendalters«54; die zweite, eine Monographie mit dem Titel »Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen«, wurde 1931-32 verfasst, aber, wie andere Arbeiten Wygotskis auch, erst mehrere Jahrzehnte nach seinem Tod publiziert55.

70 Um diese hier zunächst nur grob skizzierte Entwicklung besser nachvollziehen zu können, ist es freilich notwendig, sich zunächst einmal etwas näher mit den wesentlichen Parametern jenes von Wygotski Ende der 20er Jahre in Zusammenarbeit vor allem mit A.R. Lurija und A.N. Leontjew begründeten psychologischen Grundansatzes bekannt zu machen, der in der einschlägigen Literatur unter der Chiffre »kulturhistorische Theorie« firmiert. 2.2. Die Ausgangsversion der »kulturhistorischen Theorie« Neben dem Leitgedanken, dass an einem bestimmten Punkt der Ontogenese die natürliche und die kulturelle Linie der Verhaltensentwicklung des Kindes zusammentreffen und so miteinander verschmelzen, dass es kaum möglich ist, sie voneinander zu unterscheiden und ihren Verlauf getrennt voneinander zu verfolgen56, kennt die Ausgangsversion der »kulturhistorischen Theorie« nur zwei Grundprinzipien für die erklärende Beschreibung der Entwicklung und des Aufbaus der »höheren« psychischen Funktionen. Das eine betrifft die Rolle, welche die »psychischen Werkzeuge«57 bei der Umbildung der natürlichen Psychismen in kulturell determinierte, »höhere« psychische Funktionen spielen; das zweite Prinzip bezieht sich auf die »Interiorisation« der Mittel und Methoden, mit denen das Kind sein Verhalten »beherrscht«. In groben Umrissen bereits im Aufsatz über das Problem der kulturellen Entwicklung des Kindes erkennbar58, findet das Konzept der »psychischen Werkzeuge« seine ausführlichste Erläuterung wohl in den Thesen zu dem von Wygotski 1930 an der Akademie für kommunistische Erziehung in Moskau gehaltenen Vortrag über die instrumentelle Methode in der Psychologie. Eine Erläuterung, in der im Übrigen (allerdings eher beiläufig) auch die innere Widersprüchlichkeit besagten Konzepts zum Ausdruck kommt. Wygotski schreibt: »1. Im Verhalten des Menschen gibt es eine ganze Menge künstlicher Mittel, die ihm dazu dienen, die eigenen psychischen Prozesse zu beherrschen.« Man kann sie, »in Anlehnung an die Technik, berechtigterweise als psychische Werkzeuge beziehungsweise Instrumente bezeichnen ... 2. (...) Die Rolle der Mittel im Verhalten ist deijenigen ähnlich, die das Werkzeug bei der Arbeit spielt ... 3. Die psychischen Werkzeuge ... haben die Beherrschung der psychischen Prozesse, fremder oder eigener, zum Zweck, wie die Technik die Beherrschung der Naturprozesse zum Zweck hat. 4. Als Beispiele psychischer Werkzeuge und aus ihnen gebildeter komplizierter Systeme sind zu nennen: die Sprache, verschiedene Formen der Numerierung und des Zählens, mnemotechnische Mittel, die algebraischen Symbole, Kunstwerke, die Schrift, Schemata, Diagramme, Karten, Zeichnungen, alle möglichen Zeichen und ähnliches mehr.« (zit. nach ASchBd. 1, 309 f.)

71 Im Sinne dieser Bestimmungen gilt es, »6. von den natürlichen Verhaltensakten und -prozessen die künstlichen beziehungsweise instrumenteilen Funktionen und Formen des Verhaltens zu unterscheiden. Die ersten entstanden und bildeten sich im Evolutionsprozeß zu besonderen Mechanismen aus, die dem Menschen und höheren Tieren eigen sind. Die zweiten stellen eine späte Errungenschaft der Menschheit dar, sie sind ein Produkt der historischen Entwicklung und eine spezifisch menschliche Verhaltensform.« (a.a.O., 312) »Eine herausragende Eigenart des instrumentellen Aktes« besteht darin, dass in ihm »zwischen das Objekt und die darauf gerichtete psychische Operation ein neues Mittelglied (tritt) - das psychische Werkzeug. Es wird zum strukturellen Zentrum beziehungsweise zum Brennpunkt, das heißt zu einem Moment, das funktional alle Prozesse bestimmt, die den instrumenteilen Akt bilden.« (ebd.) Wenngleich für Wygotski aufs Ganze gesehen eine sehr weitgehende Analogie zwischen Werkzeugen im eigentlichen Sinne und »psychischen Werkzeugen« besteht, so hält er es doch für notwendig, auch auf die Unterschiede zwischen ihnen einzugehen: »13. Der allerwesentiichste Unterschied des psychischen Werkzeugs vom technischen besteht darin, daß seine Aktion sich auf die Psyche und das Verhalten richtet, während das technische Werkzeug ... darauf gerichtet ist, irgendwelche Veränderungen am Objekt herbeizuführen; das psychische Werkzeug verändert am Objekt nichts; es ist ein Mittel der Einwirkung auf sich selbst (oder auf einen anderen), auf die Psyche, auf das Verhalten, nicht aber ein Mittel der Einwirkung auf das Objekt.« (a.a.O., 313 f.) Nun ist damit zwar eigentlich klar, dass das »psychische Werkzeug« in dieselbe Kategorie gehört wie G.Ch. Lichtenbergs berühmtes »Messer ohne Klinge, dem der Grifffehlt« (d.h., es ist ein »Werkzeug« wohl dem Namen, aber nicht der Sache nach); dennoch sieht Wygotski keinen Grund, die Analogie aufzugeben: »14. In dem spezifischen Gerichtetsein des psychischen Werkzeugs gibt es nichts, das im Widerspruch zur eigentlichen Natur eines Werkzeugs stünde, denn im Prozeß der Tätigkeit und der Arbeit tritt der Mensch 'dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber' (Marx ...59); in diesem Prozeß wirkt er auf die Natur außer ihm, verändert sie und verändert damit zugleich seine eigene Natur, er unterwirft seine Naturkräfte der eigenen Botmäßigkeit.« Das heißt, »im instrumentellen Akt beherrscht der Mensch sich von außen - über die psychischen Werkzeuge.« (a.a.O., 314) Angewandt auf das Problem der psychischen Entwicklung des Kindes bedeutet dies, dass

72 »19. (...) sich beim Kind im Laufe des Erziehungsprozesses das vollzieht, was sich bei der Menschheit im Laufe der langen Geschichte der Arbeit vollzogen hat«, das heißt, dass »das Kind 'seine eigne Natur' verändert«, dass »es 'die in ihr schlummernden Potenzen' entwickelt und 'das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit' unterwirft (Marx ...60). (...) Im Entwicklungsprozeß stattet sich das Kind mit verschiedenen Werkzeugen aus und erneuert diese Ausstattung immer wieder. Das ältere Kind unterscheidet sich von dem jüngeren auch durch den Grad und den Charakter seiner Ausstattung, durch sein Instrumentarium, das heißt dadurch, in welchem Grade es das eigene Verhalten beherrscht. Hauptepochen der Entwicklung sind die sprachlose und die Sprachperiode. (...) 22. Indem sich das Kind psychisches Werkzeug aneignet und mit seiner Hilfe die eigenen natürlichen psychischen Funktionen beherrschen lernt, erreicht die jeweilige Funktion stets eine höhere Stufe, ihr Aktionsradius wird größer, ihre Struktur und ihr Mechanismus bilden sich um.« (a.a.O., 315 f. - Hervorhn. P.K.) Entsprechend dem zweiten Grundprinzip der Ausgangsversion des »kulturhistorischen« Ansatzes, dem der »Interiorisation«61, wird mit dem Übergang des »werkzeug«-vermittelten Verhaltens von der äußeren auf die innere Ebene aus dem ursprünglich äußeren ein inneres oder, wie es bei Wygotski auch heißt, »eingewachsenes« Hilfsmittel (vgl. Vygotski 1929, 426, 428). Als prototypisch für diesen Prozess des »Hineinwachsens« der »psychischen Werkzeuge« »tief nach innen in das Verhalten des Kindes« gilt dabei die Umwandlung der äußeren in die innere Sprache mit der »egozentrischen« Sprache als Zwischenform (vgl. Wygotski 1929, 613 bzw. 1969, 93). In dem 1931 publizierten Teil der »Pädologie des frühen Jugendalters« ist dann bereits von drei »grundlegenden Gesetzmäßigkeiten« die Rede, mit denen sich die »Entwicklungsgeschichte der menschlichen Persönlichkeit« erfassen lässt. Die erste kann als das »Gesetz des Übergangs von den unmittelbaren, angeborenen!, natürlichen Verhaltensweisen zu den vermittelten, kunstlichen, im Prozeß der kulturellen Entwicklung entstandenen psychischen Funktionen« bezeichnet werden. »Dieser Übergang in der Ontogenese entspricht dem Prozeß der historischen Entwicklung des menschlichen Verhaltens, einem Prozeß, der bekanntlich nicht im Erwerb neuer natürlicher psychophysiologischer Funktionen besteht, sondern in der komplizierten Kombination der elementaren Funktionen, in der Vervollkommnung der Denkformen und -verfahren, in der Ausbildung neuer Denkverfahren, die sich hauptsächlich auf die Sprache oder irgendein anderes Zeichensystem stützen.« Unter allgemeinen Gesichtspunkten »besteht der gesamte historische Entwicklungsweg des Verhaltens in der ständigen Vervollkommnung solcher Mittel, in der Erarbeitung neuer Verfahren und Formen, um die eigenen psychischen Funktionen zu meistern. Dabei ist auch der innere Aufbau der je-

73 weiligen Operation nicht unverändert geblieben, sondern hat ebenfalls tiefreichende Veränderungen erfahren.« (ASch Bd. 2, 625 f.) Das zweite Gesetz stellt die »kulturelle Entwicklung des Verhaltens« in einen engen »Zusammenhang mit der historischen beziehungsweise sozialen Entwicklung der Menschheit« und lässt sich folgendermaßen formulieren: »Wenn wir die Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen, des Hauptkerns der Persönlichkeitsstruktur, betrachten, stellen wir fest, daß die Beziehungen zwischen den höheren psychischen Funktionen einmal reale Beziehungen zwischen Menschen waren. Die kollektiven, sozialen Verhaltensweisen werden im Entwicklungsprozeß zu Verfahren für die individuelle Anpassung, zu Verhaltens- und Denkformen der Persönlichkeit. Jede komplizierte höhere Verhaltensweise durchläuft diesen Entwicklungsweg. Was nunmehr in einem Menschen vereint ist und eine einheitliche, ganzheitliche Struktur komplizierter innerer psychischer Funktionen darstellt, hat sich einstmals, in der Entwicklungsgeschichte aus einzelnen Prozessen zusammengefügt, die zwischen mehreren Menschen aufgeteilt waren.« (a.a.O., 626) Anders ausgedrückt: In der kulturellen Entwicklung des Kindes »erscheint (jede Funktion) zweimal, auf zwei Ebenen - zuerst auf der sozialen, dann auf der psychologischen Ebene, zuerst als Form der zwischenmenschlichen Zusammenarbeit, als kollektive, interpsychische Kategorie, dann als Mittel des individuellen Verhaltens, als intrapsychische Kategorie«, so dass die »Strukturen der höheren psychischen Funktionen« gewissermaßen ein »Abguß der kollektiven, der sozialen, zwischenmenschlichen Beziehungen« sind, »nichts anderes als eine in die Persönlichkeit übertragene innere Sozialbeziehung, die ihrerseits die Grundlage für die soziale Struktur der Persönlichkeit des Menschen bildet. Die Persönlichkeit ist ein soziales Wesen.« (a.a.O., 629) Daher hängt mit dem zweiten Gesetz direkt das dritte zusammen, das man als »Gesetz des Wanderns der Funktion von außen nach innen« bezeichnen könnte (a.a.O., 630). Ist in der ursprünglichen Fassung des »kulturhistorischen« Ansatzes die primär äußere Existenz der »künstlichen Mittel« und Verfahren zur »Beherrschung« der eigenen Psychismen ein unhinterfragtes Faktum (das Kind findet die für die betreffende Kultur spezifischen »psychischen Werkzeuge« sowie die »Methoden und Verfahren des kulturellen Verhaltens« einfach in seiner Umgebung vor und »eignet« sie sich an, sofern die innere Entwicklung seines Organismus das dafür notwendige Niveau erreicht hat), so liefert Wygotski jetzt eine Begründung für dieses Faktum: Da jede »höhere« Verhaltensform ihrem Ursprung nach eine soziale Verhaltensform ist, muss sie zwangsläufig »zunächst den Charakter einer äußeren Operation« tragen. So »(bilden sich) die Funktionen von Gedächtnis und Aufmerksamkeit zunächst als äußere Operationen« und unter dem Einsatz äußerer Zeichen aus,

74 weil sie »(ursprünglich) eine Form kollektiven Verhaltens, eine Form sozialer Beziehung« waren, und zwar eine Form, die »sich nicht ohne Zeichen, nicht als unvermittelte Kommunikation realisieren (ließ)«. Also ist das vom »soziale(n) Mittel zum Mittel des individuellen Verhaltens« gewordene »Zeichen immer zunächst Mittel zur Einwirkung auf andere, und erst dann wird es zum Mittel der Einwirkung auf sich selbst. Über andere werden wir wir selbst. (...) Im Entwicklungsprozeß wird jede äußere Funktion interiorisiert, sie wird zur inneren Funktion. Im Prozeß einer langwierigen Entwicklung verliert sie die Merkmale der äußeren Operation und verwandelt sich in eine innere.« (a.a.O., 630 f.) Wenngleich die Erklärung des Ursprungs der »höheren« psychischen Funktionen aus ihrem Wesen nach sozialen Verhaltensformen zu einer beträchtlichen Akzentverschiebung innerhalb des »kulturhistorischen« Ansatzes führt und dadurch insbesondere auch die Interiorisationsproblematik in einem neuen Licht erscheint, bewegt sich die von Wygotski im letzten Teil seiner »Pädologie des frühen Jugendalters« vorgestellte Konzeption im wesentlichen doch immer noch innerhalb der Grenzen der Ausgangsversion der »kulturhistorischen Theorie«, ist eher als eine präzisierende Binnendifferenzierung des ursprünglichen Ansatzes zu klassifizieren denn als ein explizites Gegenmodell zu ihm62. Bereits hier von einer deutlichen Orientierung Wygotskis an den psychologischen Einsichten Feuerbachs zu sprechen, wäre sicher problematisch, zumal die zwischen 1930 und 1931 vollzogene programmatische Hinwendung zu der i.e.S. sozialen Dimension der Entwicklungsgeschichte der »höheren« psychischen Funktionen eine weitaus weniger anspruchsvolle, aber dennoch hinreichende Erklärung darin finden könnte, dass Wygotski, angeregt durch die 1930 erschienene umfangreiche Monographie P. Janets über die psychologische Entwicklung der Persönlichkeit, auf bestimmte empirische Befunde in den Arbeiten J. Piagets aufmerksam wurde, denen er vorher keine Beachtung geschenkt hatte. War Piaget für ihn bis dahin vor allem in Hinblick auf die »egozentrische« Sprache als »Sprache auf dem Weg nach innen« von Interesse (vgl. Vygotski 1929 u. Wygotski 1929), so stellt er jetzt fest, dass sich bei ihm zahlreiche Beweise dafür finden, »daß sich das logische Denken beim Kind proportional dazu entwickelt, in welchem Maße es im Kinderkollektiv zu Diskussionen kommt« (ASch Bd. 2, 626 f.). Auf die betreffenden Befunde Piagets eingehend, schreibt Wygotski: »Der Autor hat in seinen Arbeiten Schritt für Schritt verfolgt, wie mit der sich entwickelnden Zusammenarbeit und vor allem durch echten Streit, echte Diskussion das Kind erstmals vor der Notwendigkeit steht, sein Denken und das Denken des Gesprächspartners zu begründen, zu beweisen, zu bestätigen, zu prüfen. Zudem konnte Piaget festeilen, daß der

75 Streit, die Auseinandersetzung im Kinderkollektiv nicht nur ein Stimulus ist, der zum logischen Denken anregt, sondern er ist selbst auch die erste Form dieses Denkens. Die auf früherer Entwicklungsstufe herrschenden Merkmale des Denkens - fehlende Systemhaftigkeit, fehlende Beziehungen - verschwinden, sobald es im Kinderkollektiv zu Streitgesprächen kommt. (...) Janet (1930) hat gezeigt, daß jedes Nachdenken das Ergebnis eines inneren Streits ist, als würde der Mensch gleichsam sich selbst gegenüber die Verhaltensweisen wiederholen, die er zuvor anderen gegenüber praktiziert hat.« (a.a.O., 627) Hätte Wygotski bei alledem auch auf die i.e.S. psychologischen Einsichten Feuerbachs reflektiert, so wäre von der Sache her an diesem Punkt durchaus der Hinweis zu erwarten gewesen, lange noch vor Piaget habe Feuerbach festgestellt, dass »sich Geist, Witz, Scharfsinn, Urteil nur am Gegensatz, im Konflikt entwickelt und erzeugt« (GW 10, 24). Es hat daher durchaus Symptomcharakter, dass Wygotski gerade in diesem Zusammenhang nicht auf Feuerbach verweist, lediglich ein paar Seiten später, in einem anderen Zusammenhang aber doch. »Warum«, fragt er hier, »werden die Verhaltensprozesse nicht als natürliche Prozesse betrachtet, die von selbst vor sich gehen, kraft ihrer Verbundenheit mit allen übrigen Prozessen? Warum darf man also vom Denken nicht unpersönlich sprechen, so wie wir auch sagen: Es dämmert, es tagt? Solch eine Ausdrucksweise halten viele Gelehrte für die einzig wissenschaftliche, und für ein bestimmes Entwicklungsstadium wäre sie auch wirklich angebracht. Ähnlich, wie wir sagen: Mir träumte, könnte das Kind sagen: Es denkt in mir. Aber es denkt, wie Feuerbach schrieb, nicht das Denken, sondern es denkt der Mensch.« (ASch Bd. 2, 634) Nach allem scheint also Feuerbach für Wygotski auch zu diesem Zeitpunkt noch im wesentlichen 'nur' der Methodologe des »psychologischen Materialismus« zu sein, nicht aber ein Autor wichtiger ZnÄßMcA-psychologischer Erkenntnisse. 2.3. Die revidierte Fassung des »kulturhistorischen« Ansatzes Wenn D.B. Elkonin63 von der »Pädologie des frühen Jugendalters« sagt, sie repräsentiere eine »gewisse Übergangsperiode im Schaffen Wygotskis«, einerseits ziehe er hier »das Fazit aus eigenen Untersuchungen sowie den Untersuchungen seiner Mitarbeiter zur Entwicklung der höheren psychischen Funktionen«, andererseits bilde dieses Lehrbuch bereits den »Übergang zu einer neuen Schaffensetappe, zu einer neuen Reihe von Untersuchungen« (Elkonin 1987, 30), so lässt sich Ähnliches von Wygotskis Monographie »Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen« sagen - allerdings mit dem Unterschied, dass hier stärker das zweite Moment, das Moment des Eintretens in eine neue Schaffensperiode betont werden muss. Tatsächlich zeichnet sich hier nämlich schon recht

76 deutlich jene »neue Richtung« ab, auf die Wygotski selbst im Vorwort zu »Denken und Sprechen« hinweist (vgl. Wygotski 1969, 4)64. Wenn im Folgenden zur Würdigung dieser »neuen Richtung« ein wenig mehr ins Detail gegangen wird, dann aus einem doppelten Grund: Zum einen soll damit ein Beitrag zur Korrektur gängiger, aber inadäquater Auffassungen über 'die' »kulturhistorische Theorie« geleistet werden. Zum anderen ist gerade für die Frage nach dem Einfluss der Anschauungen Feuerbachs auf den 'späten' Wygotski eine Beschäftigung mit den Details insofern unumgänglich, als Wygotski Feuerbach eben nicht in dem Maße zitiert, wie er Marx, Engels und Hegel zitiert65, vielmehr seine Orientierung an dessen Positionen sich einerseits in der Art und Weise der Auseinandersetzung mit den Auffassungen führender zeitgenössischer Fachkollegen manifestiert und andererseits darin, dass er, bei äußerst spärlicher direkter Bezugnahme auf Feuerbach, eigene Konzeptionen entwickelt, die als Theorien 'mittlerer Reichweite' den von Feuerbach geschaffenen allgemeinen Rahmen einer materialistischen Psychologie ausfüllen. Wenn etwa Wygotski in der »Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen« mit dem von dem amerikanischen Verhaltensforscher H.S. Jennings in die Psychologie eingeführten Konzept des »Aktionssystems« (vgl. Jennings 1910 bzw. 1962) operiert, so stellt dies keineswegs nur eine weitere Präzisierung des Leitgedankens von den zwei Linien in der Verhaltensentwicklung des Kindes und ihrer Verschmelzung dar, sondern ist zugleich auch als Versuch zu werten, zwei bei Feuerbach noch nicht miteinander vermittelte Grundsätze (erstens, dass es keine Tätigkeit ohne ein für sie spezifisches Organ gebe, und zweitens, dass die spezifisch menschlichen »Seelenkräfte« Kulturprodukte, Produkte der menschlichen Gesellschaft seien) mit Hilfe eines aus der neueren Wissenschaftsentwicklung stammenden Gedankens zu einer einheitlichen Konzeption zusammenzuführen. Mit dem Terminus »Aktionssystem«66, so Wygotski, habe Jennings den Sachverhalt bezeichnet, »dass die Weisen und Formen des Verhaltens (Aktivität), über die jedes Tier verfügt, ein System bilden, das durch die Organe und die Organisation des Tieres bedingt ist. Zum Beispiel kann die Amöbe nicht schwimmen wie eine Infusorie, während die Infusorie kein Organ hat, das es ihr erlaubt, sich fliegend fortzubewegen.« (zit. nach Vuigotskij 1987, 40 f. - Übers. P.K.)67 Auch der Mensch bilde, so Wygotski weiter, in Hinblick auf »das allgemeine Gesetz von Jennings« keine Ausnahme: »Auch er hat sein Aktionssystem, d.h. ein Feld möglicher und erreichbarer Verhaltensformen«, das aber im Unterschied zu den Aktionssystemen der verschiedenen Tierarten nicht in artspezifischer Weise eingeschränkt, sondern »unbegrenzt weit« ist (a.a.O., 41).

77 Dieser vermeintliche Widerspruch findet seine Auflösung vor dem Hintergrund des Theorems, dass die biologische und die kulturelle Entwicklungslinie des Verhaltens, die »sich in der Stammesgeschichte getrennt, als voneinander unabhängige Linien darstellen«, in der Entwicklung des Kindes »miteinander verschmelzen und so einen einzigen, wenngleich komplexen, einheitlichen Prozess bilden« (a.a.O., 33). Zugrunde gelegt ist hierbei die Vorstellung, dass es sich bei der biologisch-evolutiven Entwicklung und der kulturellen Entwicklung des Verhaltens um zwei qualitativ voneinander verschiedene Entwicklungsformen handelt. Während »in der biologischen Entwicklung des Verhaltens jeder entscheidende Schritt mit Veränderungen in der Struktur und den Funktionen des Nervensystems zusammenfällt«, wobei »im allgemeinen die Entwicklung des Gehirns dem Wege des Aufbaus neuer Schichten über den älteren folgt«, so dass »jede neue Stufe in der Höherentwicklung der psychischen Funktionen mit der Herausbildung einer neuen, auf den älteren aufgelagerten Schicht des Zentralnervensystems einhergeht« (a.a.O., 36), ist die kulturelle Entwicklung des Verhaltens dadurch gekennzeichnet, dass die biologische Grundausstattung (Wygotski spricht vom »biologischen Typus«) des Menschen sich nicht verändert, vielmehr bei ihm, »entsprechend den Eigentümlichkeiten seiner Umweltanpassung (Werkzeuggebrauch, Arbeitstätigkeit usw.) in der psychischen Entwicklung die Evolution künstlicher Organe an die Stelle der organischen Veränderungen des Nervensystems tritt« (a.a.O., 35 f.). Im Unterschied zur kulturellen Entwicklung der Menschheit, die sich vollzog, »ohne dass der biologische Typus des Menschen variierte (in einer Periode also der Unbeweglichkeit und des relativen Stillstands der evolutiven Prozesse, unter den Bedingungen einer bestimmten Konstanz der biologischen Art Homo sapiens)«, ist aber die kulturelle Entwicklung des Kindes »in erster Linie gerade dadurch charakterisiert, dass sie sich zugleich mit einem dynamischen Wandel der organischen Grundaustattung vollzieht. Sie stützt sich auf die Prozesse des Wachstums und der Reifung, das Fortschreiten der organischen Entwicklung des Kindes überhaupt, mit der sie ein einheitliches Ganzes bildet.« Nur mittels der Abstraktion ist es »möglich, das eine vom anderen zu trennen«, bildet doch »das Einwurzeln des normalen Kindes in die Zivilisation« gewöhnlich »eine Einheit und Verschmelzung mit den Prozessen seiner organischen Reifung«. Das heißt, »beide Entwicklungsebenen, die natürliche und die kulturelle, fallen zusammen und vermischen sich miteinander. Beide Veränderungsreihen durchdringen einander und bilden so, ihrem Wesen nach, eine einzige Linie der biologisch-gesellschaftlichen Ausformung der Persönlichkeit des Kindes. Da sich die organische Entwicklung in einer kulturellen Umwelt vollzieht, verwandelt sie sich in einen historisch bedingten biologischen Prozess. Auf der anderen Seite bekommt die kulturelle Ent-

78 wicklung dadurch einen eigentümlichen und unvergleichbaren Charakter, dass sie sich gleichzeitig mit der organischen Reifung und verschmolzen mit ihr vollzieht, d.h. dadurch, dass ihr Träger der Organismus des Kindes ist, der heranwächst, der heranreift, der sich verändert.« (a.a.O., 40)68

Dabei ist für Wygotski der »entscheidende Moment in der Entwicklung des Kindes - entscheidend in dem Sinne, dass dadurch der Kreis der ihm zukünftig möglichen Verhaltensformen festgelegt wird - der erste Schritt, den es auf dem Wege des selbständigen Entdeckens und Gebrauchens von Werkzeugen tut, ein Schritt, der gewöhnlich gegen Ende des ersten Lebensjahres vollzogen wird« (a.a.O., 41). Bis zu diesem Zeitpunkt seien nämlich die Verhaltensweisen des Kindes in ihrer Gesamtheit mit jenem (für die biologische Art Homo sapiens spezifischen) Aktionssystem identisch, das ihm sozusagen als »biologisches Inventar« mitgegeben ist (ebd.). Um die »Eigentümlichkeit des vom Kind vollzogenen Übergangs von einem Aktionssystem (dem tierischen) zum anderen (dem humanen)« richtig zu begreifen, müsse man sich klar machen, »dass nicht einfach das eine System das andere ersetzt, sondern dass sich beide Systeme gleichzeitig und in Verbindung miteinander entwickeln«. Ein Sachverhalt, der, wie Wygotski betont, »weder in der Entwicklungsgeschichte der Tiere noch in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit eine Analogie« habe (a.a.O., 42). »Das Kind«, heißt es weiter, »geht nicht zu einem neuen System über, nachdem die Entwicklung des alten, auf organische Weise bedingten Aktionssystems ein Ende gefunden hat«. Vielmehr »überschreitet« es »die Grenzen des Systems von Jennings, während ebendieses System sich noch im Anfangsstadium seiner Entwicklung befindet. Sein Gehirn und seine Hand, das ganze Feld der ihm möglichen natürlichen Bewegungen ist noch nicht ausgereift, wenn es bereits die Grenzen dieses Feldes überschreitet. Der Säugling von sechs Monaten ist ein machtloses Küken, mit zehn Monaten kann er weder alleine laufen noch sich ernähren, und doch durchläuft er in diesen Monaten das 'Schimpansenalter'69, indem er zum ersten Mal ein Werkzeug verwendet. In wie starkem Maße in der Ontogenese die Abfolge der stammesgeschichtlichen Entwicklung durcheinandergebracht wird, kann man auf höchst evidente Weise an diesem Beispiel demonstrieren. Ich kenne keine stärkere und machtvollere Widerlegung der Theorie des biogenetischen Parallelismus als die Geschichte des erstmaligen Gebrauchs von Werkzeugen.« (ebd). So kann es als »grundlegendes biologisch-kulturelles Paradoxon der kindlichen Entwicklung« bezeichnet werden, dass »die Formel von Jennings noch immer in Kraft« ist, aber dennoch »das Kind schon in jene Periode der Entwicklung eingetreten« ist, »in der völlig neue Gesetze herrschen«. Tatsächlich »entwickelt sich nicht nur der Werkzeuggebrauch, sondern auch das Bewegungs- und Wahrnehmungssystem, das Gehirn und die Hände, der gesamte Organismus des Kin-

79 des«. So wird zwar, nach allem, »das Aktionssystem des Kindes in jeder Entwicklungsetappe sowohl durch das Niveau seiner organischen Entwicklung als auch durch das von ihm erreichte Niveau des Werkzeuggebrauchs determiniert«, aber »diese beiden voneinander verschiedenen Systeme entwickeln sich gemeinsam und bilden in Wirklichkeit ein drittes System, ein neues System von besonderer Art« (a.a.O., 42 f.). Wenn so die Herausbildung und Entwicklung der »höheren« psychischen Funktionen unlösbar mit der »Evolution künstlicher Organe« verknüpft ist, stellt sich die Frage, ob für die systematische Erfassung sowie die Analyse der Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen ihrer verschiedenen Erscheinungsformen70 jene Sichtweise, welche die »künstlichen Organe« pauschal als »Werkzeuge« klassifiziert, nicht eine erhebliche Perspektivverkürzung beinhaltet, durch die das, was in der menschlichen Individualentwicklung nach dem »Schimpansenalter« kommt, in seiner Spezifik grundsätzlich verfehlt wird. Tatsächlich dokumentiert sich die von Wygotski in der »Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen« eingeschlagene »neue Richtung« auch in einer differenzierteren Bestimmung des Verhältnisses von Werkzeug und Zeichen. Während er noch in der »Pädologie des frühen Jugendalters« von »Werkzeuge(n) im buchstäblichen Sinne des Wortes« einerseits und »Werkzeuge(n) im übertragenen Wortsinn« andererseits gesprochen und dabei an die »Werkzeuge des Denkens«, die »Mittel, mit denen eine geistige Operation vollzogen wird« gedacht hatte (vgl. ASch Bd. 2, 539), so erfolgt jetzt eine eindeutige Distanzierung von allen Versuchen, Zeichen im allgemeinen und die Sprache im besonderen dem Werkzeugbegriff zu subsumieren, und sei es auch nur im metaphorischen Sinne. Zugleich fordert Wygotski eine präzise Unterscheidung der verschiedenen Formen der »vermittelten Tätigkeit« sowie der für die einzelnen Tätigkeitsformen jeweils spezifischen Mittel. Zwar mag er immer noch bei dem Gedanken bleiben, dass sich in der Verwendung von Zeichen »in einem gewissen Sinne« eine Analogie zum Gebrauch von Werkzeugen manifestiere, er lässt jedoch zugleich von vornherein keinen Zweifel daran, dass diese Analogie nicht sehr weit trägt, man daher auch nicht erwarten dürfe, in jenen »Adaptationen« des Menschen, »die wir Zeichen nennen, große Ähnlichkeit mit den Arbeitswerkzeugen zu finden«. Mehr noch: »Neben den allgemeinen analogen Charakteristika der beiden Tätigkeitsformen werden wir auch äußerst wichtige Merkmale feststellen müssen, in denen sie sich unterscheiden und, in gewisser Hinsicht, einander entgegengesetzt sind« (a.a.O., 99). Es sei zwar, so Wygotski, in der Psychologie gang und gäbe, in einem figürlichen Sinne von »Werkzeug« zu sprechen, »wenn wir uns auf die vermittelnde Funktion beziehen, die irgendeine Sache oder irgendein Mittel im

80 Rahmen einer beliebigen Tätigkeit hat«, und so seien Ausdrücke wie »die Sprache ist das Werkzeug des Denkens«, »die innere Technik«, »die geistige Technik«, »die intellektuellen Werkzeuge« und ähnliches mehr »bei den Psychologen in großem Überfluss anzutreffen, aber sie entbehren eines verbindlich festgelegten Inhalts, und sie bedeuten kaum mehr als eine einfache metaphorische Umschreibung der Tatsache, dass das eine oder andere Objekt, die eine oder andere Operation in der psychischen Tätigkeit des Menschen eine Hilfsfunktion erfüllen«. Andererseits fehle es nicht an »Versuchen, diesen Ausdrücken eine wörtliche Bedeutung zu attribuieren, indem das Zeichen mit dem Werkzeug identifiziert, der tiefgreifende Unterschied zwischen dem einen und dem anderen verwischt wird und sich in der allgemeinen psychologischen Definition die für jeden Tätigkeitstyp spezifischen Unterscheidungsmerkmale auflösen« (a.a.O., 100).

Wygotski, der mit dieser Bestandsaufnahme zugleich auch eine indirekte Selbstkritik formuliert71, betont, dass er sich »in gleichermaßen rigoroser Weise sowohl von der ersten als auch der zweiten Interpretation« abgrenze. »Jene unklare, unbestimmte Bedeutung, die sich gemeinhin mit dem figürlichen Gebrauch des Wortes Werkzeug verbindet«, schreibt er, »erleichtert in keiner Weise die Aufgaben des Forschers, der sich für die wirkliche und nicht bloß eingebildete Beziehung interessiert, die zwischen dem Verhalten und seinen Hilfsmitteln besteht. Vielmehr versperren solche Veranschaulichungen den Weg der Forschung. Nicht ein einziger Forscher hat bisher die wirkliche Bedeutung dieser Metaphern entschlüsselt.« Noch »nebulöser« seien allerdings »die Vorstellungen deijenigen, die diese Ausdrücke in ihrem wörtlichen Sinne verstehen. Auf eine völlig ungerechtfertigte Weise 'psychologisiert' man Phänomene, die zwar durchaus auch einen psychologischen Aspekt haben, die ihrem Wesen nach in ihrer Totalität aber nicht zur Psychologie gehören. Zum Beispiel die Technik. Auf der Grundlage einer solchen Identifikation findet sich dann die Ignoranz des Wesens der einen wie der anderen Form der Tätigkeit sowie des Unterschieds ihrer historischen Natur und Rolle. Die Werkzeuge - als Arbeitsmittel, als Mittel der Herrschaft über die Naturprozesse - und die Sprache - als Mittel der Kommunikation und des sozialen Umgangs - lösen sich im allgemeinen Begriff der Artefakte oder der künstlichen Adaptationen auf.« (a.a.O., 100 f.)72 Zwar können, so Wygotski weiter, Zeichen und Werkzeuge vom psychologischen Standpunkt aus insofern in dieselbe Kategorie eingeordnet werden, als beiden eine vermittelnde Funktion zukommt, so dass Zeichenverwendung und Werkzeuggebrauch als zwei Unterbegriffe zu dem allgemeinen Begriff der vermittelten Tätigkeit gehören73 - zugleich darf aber keinen Moment außer Acht gelassen werden,

81 »dass beide in Hinblick auf die Funktion, die sie erfüllen, auf keinen Fall als äquivalent oder identisch aufgefasst werden dürfen und dass sie, schließlich und endlich, auch nicht den gesamten Umfang des Begriffs der vermittelten Tätigkeit74 ausschöpfen, vielmehr neben ihnen auch noch andere, und zwar nicht wenige, vermittelte Tätigkeiten aufgeführt werden könnten, da sich vernünftige Tätigkeit nicht im Gebrauch von Werkzeugen und der Verwendung von Zeichen erschöpft« (1987, 102). Dabei liegt der »weitaus wesentlichste Unterschied« zwischen dem Zeichen und dem Werkzeug »in ihrer unterschiedlichen Ausrichtung«. Während das »Werkzeug dazu bestimmt« ist, »als Leiter der Einwirkung des Menschen auf den Gegenstand seiner Tätigkeit zu dienen«, es »nach außen gerichtet« ist und »die eine oder andere Änderung am Objekt bewirken (soll)«, es, mit einem Wort, »ein auf die Eroberung der Natur gerichtetes Mittel der äußeren Tätigkeit des Menschen« ist, »verändert« das Zeichen »nichts am Objekt der psychologischen Operation«, sondern es ist »ein Mittel der psychologischen Einwirkung auf das Verhalten, das eigene oder das fremde, ein auf die Beherrschung des Menschen selbst gerichtetes Mittel der inneren Tätigkeit«. Fazit: Die beiden Tätigkeitsformen »sind so verschieden voneinander, dass auch die Natur der verwendeten Mittel in beiden Fällen nicht dieselbe sein kann«. (a.a.O., 102 f.) Dass andererseits im historischen Prozess (und zwar sowohl in der Gattungsgeschichte der Menschheit als auch in der Individualgeschichte) zwischen Werkzeuggebrauch und Zeichenverwendung ein enger Zusammenhang besteht, ihre innere Einheit die Grundlage der Genese und Entwicklung der »höheren« psychischen Funktionen ist, daran hält Wygotski auch weiterhin fest. »Die Natur beherrschen und das Verhalten beherrschen«, schreibt er, »sind Angelegenheiten, die in einer wechselseitigen Beziehung zueinander stehen: Indem der Mensch die Natur verändert, verändert er seine eigene Natur. In der Stammesgeschichte können wir diese Beziehung aufgrund einiger dokumentarischer Spuren rekonstruieren, ... in der Ontogenese können wir dies experimentell tun. (...) Analog dazu, wie der Gebrauch von Werkzeugen die natürliche Tätigkeit der Organe modifiziert, strukturiert - im Übergang zur vermittelten Tätigkeit - die Verwendung von Hilfsmitteln die psychische Operation von der Wurzel her um und erweitert das Aktionssystem der psychischen Funktionen bis ins Unendliche. Beides bezeichnen wir mit dem Terminus höhere psychische Funktion oder höheres Verhalten.« (a.a.O., 103) Mit der Betonung der fundamentalen Bedeutung, die der Lautsprache für die Aufrechterhaltung der sozialen Beziehungen zwischen den Menschen zukommt, lenkt Wygotski zugleich die Aufmerksamkeit darauf, dass den durch Zeichen vermittelten sozialen Beziehungen sowohl in der Stammesgeschichte als auch in der Individualentwicklung wc/tf-vermittelte soziale Beziehungen vorausgehen,

82 Beziehungen, »die auf instinktiven Handlungsformen und Ausdrucksbewegungen basieren« (a.a.O., 159). Zur Erläuterung verweist er hier auf von W. Köhler in seinem Aufsatz »Zur Psychologie des Schimpansen« (1921) mitgeteilte Beobachtungen: »Wenn Köhler beschreibt, wie der Affe - der erreichen möchte, dass der andere Affe mit ihm geht - diesem in die Augen blickt, ihn in die betreffende Richtung drängt und im Ansatz eben jene Handlung vollführt, zu der er seinen Freund veranlassen möchte, so haben wir das klassische Beispiel einer unmittelbaren Beziehung sozialen Charakters vor uns. Überhaupt findet sich in der Beschreibung des Sozialverhaltens des Schimpansen eine ganze Menge solcher Beispiele. Ein Tier beeinflusst das andere durch Handlungen oder mittels instinktiver automatischer Ausdrucksbewegungen. Der Kontakt stellt sich über den Schrei, die Berührung, den Blick her.« Aber auch die Geschichte der Frühformen des Sozialkontakts beim Kind »ist voll von vergleichbaren Beispielen, auch hier sehen wir den Kontakt, der sich über den Schrei, das Ziehen am Ärmel, den Blick etc. herstellt«. Allerdings: »Auf einer höheren Entwicklungsstufe kommt es zu vermittelten Beziehungen zwischen den Menschen, deren wesentliches Merkmal das Zeichen ist, mit dessen Hilfe die Kommunikation vollzogen wird. Sicher, die höhere, durch Zeichen vermittelte Form des Umgangs entsteht aus den natürlichen Formen unmittelbarer sozialer Beziehungen* dennoch unterscheidet sie sich wesentlich von diesen.« (a.a.O., 159)'5 Wenn so das Kind in seiner Entwicklung das »Schimpansenalter« in doppelter Hinsicht durchläuft (einmal unter dem Aspekt des Werkzeuggebrauchs, das andere Mal unter dem Aspekt der Kommunikation), drängt sich die Frage auf, warum es ihm möglich ist, die Grenzen des »Aktionssystems« der Schimpansen zu überschreiten, dem Schimpansen selbst aber nicht. Die Antwort auf diese Frage sucht Wygotski im Zusammenhang eines dritten Phänomens, dem er in früheren Arbeiten keine Beachtung geschenkt hatte, dem Phänomen nämlich, dass zwar die Nachahmungsfahigkeit der Schimpansen größer ist als die anderer Tierarten, aber eben doch nicht von jener häufig unterstellten Quasi-Universalität. Wieder sind es die Schimpansenuntersuchungen Köhlers, auf die Wygotski sich bezieht und die er ausführlich erörtert. Als wesentlich erweist sich dabei die These, dass auch ein Schimpanse nur solche »Erfindungen« imitieren kann, die er im Prinzip aus sich heraus, d.h. ohne Vorbild machen könnte (vgl. Sobr. sotsch., Tom 3, 131 f. bzw. Vuigotskij 1987, 146 f.). Und während Wygotski in der »Pädologie des frühen Jugendalters« dem Konzept der Nachahmung in Hinblick auf die kindliche Persönlichkeitsentwicklung, insbesondere die »Ausbildung der klassenspezifischen Psychologie des Kindes«, noch jeden Erklärungswert abgesprochen hatte (vgl. ASch Bd. 2, 387 f.), sieht er sich nun auf der Grundlage seiner aktuellen Überlegungen genötigt, die Nachahmung »als

83 einen wesentlichen Faktor der Entwicklung der höheren Formen des menschlichen Verhaltens zu begreifen« (Vuigotskij 1987, 148 - zur ausführlicheren Behandlung dieser Problematik vgl. weiter unten). War in der Ausgangsversion des »kulturhistorischen« Ansatzes »Kultur« die Sammelbezeichnung für drei verschiedene ineinander verschränkte Herrschaftsverhältnisse, inklusive der für die Etablierung und Aufrechterhaltung dieser Verhältnisse benötigten »Werkzeuge« und Methoden76, und wurde dabei die »kulturelle« Entwicklung des Kindes mit seiner »Sozialisation« gleichgesetzt (ohne dass es indes auch nur ansatzweise zur Klärung der Frage kam, wie aus dem Wechselspiel der verschiedenen Herrschaftsbeziehungen am Ende »Sozialität« resultieren könne), so ist für Wygotski jetzt die Sozialität des Menschen das Grundlegende, seine Kultur das Abgeleitete. »Alles Kulturelle ist sozial«, schreibt er, »die Kultur ist ein Ergebnis des sozialen Lebens und der gemeinschaftlichen Tätigkeit des Menschen«,77 und deshalb ist auch »das Zeichen, das sich auf die gleiche Weise wie das Werkzeug außerhalb des Organismus befindet, seinem Wesen nach ein soziales Organ oder soziales Mittel« (1987, 162). Der eigentliche Mechanismus der Herausbildung der »höheren« psychischen Funktionen besteht daher in der »Interiorisation« sozialer Beziehungen: denn einmal »interiorisiert» bilden diese Beziehungen »die Grundlage der sozialen Struktur der Persönlichkeit«78. »Die Zusammensetzung« der »höheren« psychischen Funktionen, »ihre genetische Struktur, ihre Wirkungsweise, in einem Wort: ihre ganze Natur, ist sozial«, so dass sich der Mensch auch dann, wenn er »mit sich selbst allein« ist, quasi »weiterhin in Gesellschaft befindet« (ebd.)79. Wenn aber, in Konsequenz all dessen, die vorrangige Aufgabe darin besteht, zu untersuchen, »wie sich aus den Formen des kollektiven Lebens die individuelle Reaktion herausbildet«, dann sind die Gegenstandsperspektive und die Methode eines solchen psychologischen Ansatzes der Gegenstandsperspektive und der Methode der traditionellen Psychologie diametral entgegengesetzt. »Früher«, schreibt Wygotski, »versuchten die Psychologen, das Soziale ausgehend vom individuellen Verhalten zu deduzieren. Man untersuchte die bei einem Individuum auftretenden Reaktionen zuerst in der Laboratoriumssituation und danach im Kollektiv; man erforschte, wie sich die Reaktion der Persönlichkeit im Kollektiv verändert. Ein solches Herangehen an das Problem ist selbstverständlich völlig legitim, aber es erfasst, genetisch gesehen, nur eine sekundäre Schicht der Verhaltensentwicklung.« (ebd.) Und indem Wygotski die traditionelle Sichtweise radikal in Frage stellt, kommt es zugleich zu einer Neudefinition seines Verhältnisses zu J. Piaget und dessen entwicklungspsychologischen Grundansichten. Waren die zahlreichen Verweise auf ihn in der »Pädologie des frühen Jugendalters« durchgehend positiv, d.h.,

84 referierte Wygotski hier nicht nur in aller Ausführlichkeit Piagets »außerordentlich scharfsinnige und tiefgründige Studien« (ASch Bd. 2, 424), sondern übernahm auch direkt dessen Interpretation der Untersuchungsergebnisse (vgl. a.a.O., 424 ff., 434, 436 ff., 440, 442 ff., 446 ff., 460 ff., 501 ff., 516, 526, 538 f., 591 f., 626 f., 667 f.), so lässt er in der »Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen« erstmals eine theoretische Differenz zu Piaget erkennen. Zwar behalten für ihn auch hier Piagets Befunde immer noch ihre Gültigkeit als empirische Fakten, aber er deutet sie jetzt im Zusammenhang seiner eigenen Auffassung von der allgemeinen Richtung der kindlichen Entwicklung: »Im Unterschied zu Piaget glaube ich, dass die Entwicklung nicht in Richtung auf Sozialisation verläuft, sondern in Richtung der Umwandlung der sozialen Beziehungen in psychische Funktionen.« (Vuigotskij 1987, 162 f.) Deshalb erscheint ihm auch »die ganze Psychologie des Kollektivs, soweit sie sich auf die kindliche Entwicklung bezieht, in einem völlig neuen Licht«. Sei die Frage gewöhnlich, »wie sich dieses oder jenes Kind im Kollektiv verhält«, so frage er danach, »wie das Kollektiv in dem einen oder anderen Kind die höheren psychischen Funktionen erzeugt«. Während »man früher meinte, dass die jeweilige Funktion entweder in Keimform oder halb ausgebildet oder schon fertig im Individuum vorhanden ist, so dass sie sich im Kollektiv lediglich entfaltet, verkompliziert, angereichert, angehoben oder, im Gegenteil, gehemmt, unterdrückt wird etc.«, so habe er jetzt »gute Gründe« anzunehmen, dass hinsichtlich der »höheren« psychischen Funktionen »das Problem in diametral entgegengesetzter Weise aufgefasst« werden müsse: »Die Funktionen bauen sich zuerst im Kollektiv auf, in Form der Beziehungen zwischen den Kindern; danach verwandeln sie sich in psychische Funktionen der Persönlichkeit.« Früher habe man beispielsweise angenommen, »dass jedes Kind für sich fähig ist, vernünftig zu urteilen, Vermutungen anzustellen, Beweise zu führen, Begründungen für einen bestimmten Vorschlag zu suchen«. In Wirklichkeit verhalte es sich aber anders: »Die Untersuchungen zeigen, dass das Denken aus der Diskussion hervorgeht. Zu demselben Ergebnis führt uns das Studium aller übrigen psychischen Funktionen.« (a.a.O., 163) Lesen sich die Abgrenzungen Wygotskis gegenüber »früheren« Auffassungen nicht wie eine (mit dem Hinweis auf empirisch-psychologische Daten operierende) Paraphrase jenes Gedankens aus Feuerbachs »Philosophie der Zukunft«, demzufolge es ein methodischer Grundfehler des Idealismus ist, die Ideen »aus dem isolierten, als für sich seienden Menschen, aus dem Ich ohne ein sinnlich gegebenes Du ableiten« zu wollen? Hatte nicht schon Feuerbach geschrieben: »Nur durch Mitteilung, nur aus der Konversation des Menschen mit dem Menschen entspringen die Ideen. Nicht allein, nur selbander kommt man zu Begriffen, zur Vernunft überhaupt. Zwei Menschen80 gehören zur Erzeugung des

85 Menschen - des geistigen sogut wie des physischen: Die Gemeinschaft des Menschen mit dem Menschen ist das erste Prinzip und Kriterium der Wahrheit und Allgemeinheit«? Und weist, schließlich und endlich, nicht auch die von Wygotski verwendete Terminologie unverkennbar in die Richtung Feuerbachs? Umso bemerkenswerter ist es, dass Wygotski auch hier einen expliziten Bezug auf Feuerbach vermeidet und stattdessen, ähnlich wie schon in der »Pädologie des frühen Jugendalters« (vgl. ASch Bd. 2, 630), seinen neuen Ansatz als die 'psychologische Quintessenz' der wohl berühmtesten von jenen marxschen »Thesen« ausgibt, die gemeinhin als durchweg gegen Feuerbach gerichtet interpretiert werden: »In Abwandlung einer bekannten These von Marx könnten wir sagen, dass das psychologische Wesen des Menschen ein Ensemble von gesellschaftlichen Beziehungen darstellt, die ins Innere übertragen wurden und sich in Funktionen der Persönlichkeit und Formen ihrer Struktur verwandelt haben. Ich möchte nicht sagen, dass dies genau der Sinn der These von Marx ist, aber ich sehe darin den vollständigsten Ausdruck dessen, worauf uns die Geschichte der kulturellen Entwicklung hinführt.« (Vuigotskij 1987, 162) Dabei bedarf es wenig, um die Doppelbödigkeit dieser 'schöpferischen' »Abwandlung einer bekannten These von Marx« zu durchschauen: Immerhin braucht man sich nur daran zu erinnern, dass Plechanow in den "Grundproblemen des Marxismus" besonderen Nachdruck auf die Feststellung gelegt hatte, dass "in der sechsten These über Feuerbach" (um die es Wygotski hier ja geht) zwar einerseits der ursprüngliche Gedanke Feuerbachs, wonach »das Wesen des Menschen nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten« ist, von Marx »viel bestimmter« gefasst worden sei als von »Feuerbach selbst«, dass andererseits aber gerade »hier weit klarer als wohl sonst irgendwo der enge genetische Zusammenhang der Marxschen Weltanschauung mit der Philosophie Feuerbachs in Erscheinung« trete (vgl. Plechanow 1958, 36 f.). So gesehen, setzt Wygotski gewissermaßen 'noch eins drauf, indem er zu verstehen gibt, dass zur Entfaltung des i.e.S. psychologischen Gehalts besagter »These« notwendigerweise auf einen weiteren Grundgedanken Feuerbachs, nämlich sein Konzept der 'Verinnerlichung' zwischenmenschlicher Beziehungen, zurückgegriffen werden muss! Irritierend ist freilich, dass er bei alledem nicht offen vorgeht, sondern es seinen Lesern überlässt, 'von selbst' auf die in Frage stehenden gedanklichen Zusammenhänge zu kommen. Noch mehr zu denken geben sollte es allerdings, dass sogar in jenem thematischen Zusammenhang, in dem noch in der »Pädologie des frühen Jugendalters« Feuerbach gewissermaßen als 'Joker' füngiert hatte, nämlich in der Frage, ob man von den psychischen Prozessen nicht besser in impersonaler Form sprechen

86 sollte (vgl. oben, S. 75), er nun nicht mehr erwähnt wird. Stattdessen rekurriert Wygotski, wie bereits in seinem Essay über die Krise der Psychologie, jetzt direkt auf G.Ch. Lichtenberg als den Autor des Ausspruchs »Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt« (vgl. Vuigotskij 1987, 97)81, und fahrt fort: »'Nicht wir denken, es denkt in uns', so hat A. Bastian denselben Gedanken ausgedrückt« (Vuigotskij a.a.O. - das Zitat im Zitat wiederum auch im Originaltext deutsch). Die Pointe dabei ist aber, dass Wygotski durch niemand anderen als durch Feuerbach überhaupt erst auf die betreffende Thematik (inklusive des Ausspruchs von Lichtenberg) gebracht worden ist. Feuerbach (»Wider den Dualismus von Leib und Seele«) hatte geschrieben: »Der Unterschied zwischen Denken und Sein ist in der Psychologie nicht aufgehoben. Selbst in betreff des Denkens hast du wohl zu unterscheiden zwischen dem Denken des Denkens und dem Denken an sich. Du denkst das Denken als eine lediglich subjektive Tätigkeit; du sagst: Ich denke. Hat aber nicht auch Lichtenberg recht, wenn er behauptet: 'Man sollte eigentlich nicht sagen: Ich denke, sondern: Es denkt'? Wenn also auch gleich das 'Ich denke' sich vom Leibe unterscheidet, folgt daraus, daß auch das 'Es denkt', das Unwillkürliche in unserm Denken, die Wurzel und Basis des 'Ich denke', vom Leibe unterschieden ist?« (GW 10, 127) Und in Wygotskis »Krise der Psychologie« lesen wir, nachdem wir bereits vorher auf das Lichtenberg-Zitat gestoßen sind (vgl. ASch Bd. 1, 168): »Und hier nun die erkenntnistheoretische Formel des psychologischen Materialismus: 'Der Unterschied zwischen Denken und Sein ist in der Psychologie nicht aufgehoben. Selbst in betreff des Denkens hast du wohl zu unterscheiden zwischen dem Denken des Denkens und dem Denken an sich' (Feuerbach ...).« (a.a.O., 236) Wir sind also, nach allem, mit dem Tatbestand konfrontiert, dass einerseits Wygotski sich in der »Entwickungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen« deudich an den Auffassungen Feuerbachs zu orientieren scheint, er sich andererseits aber nirgendwo direkt auf ihn bezieht und stattdessen andere Autoren als 'Sprachrohr' für die Propagierung feuerbachscher bzw. an Feuerbach ausgerichteter Theoreme ins Feld führt. Den Gründen für dieses Vexierspiel wird im Folgenden nachzugehen sein, bevor wir uns der letzten Etappe im Schaffen Wygotskis zuwenden können, die eindeutiger noch als die »Übergangsperiode« den Einfluss Feuerbachs auf ihn erkennen lässt.

87 3. Die Kampagne gegen A.M. Deborin und die antifeuerbachianische Wende in der sowjetischen Philosophie - Wygotskis 'kryptofeuerbachianischer' Ansatz »Im Jahre 1888 versuchte Tschernyschewski im Vorwort zu der beabsichtigten dritten Auflage der 'Ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit', direkt auf Feuerbach zu verweisen, aber die Zensur erlaubte auch 1888 nicht einmal einen einfachen Hinweis auf Feuerbach!« W.I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus (1908) Wurden Wygotskis »erste Schritte in der neuen Richtung« (Wygotski 1969, 4) bisher nur unter dem Blickwinkel der theorieimmanenten Weiterentwicklung des »kulturhistorischen« Ansatzes betrachtet, so haben wir jetzt den Punkt erreicht, wo notwendig die Perspektive erweitert werden muss. Zu fragen ist dabei zuvörderst nach den wissenschaftspolitischen Rahmenbedingungen, unter denen sich Wygotskis theoretische Neuorientierung vollzog. Hier können wir zunächst feststellen, dass die 1930 gegen die »kulturhistorische Theorie« einsetzende Kampagne (vgl. hierzu ausführlicher van der Veer & Valsiner 1991, 373 ff.), die keineswegs nur auf das Feld 'akademischer' Auseinandersetzungen beschränkt blieb, sondern massive personalpolitische und institutionelle Konsequenzen hatte82, zeitlich mit einer anderen, umfassenderen Kampagne auf dem wissenschaftspolitischen Sektor zusammenfiel, einer Kampagne, die sich gegen jene Vertreter der Wissenschaft richtete, die der Durchsetzung des stalinschen Verständnisses des »Leninschen Erbes« und der von ihm lancierten Vorstellung vom »Marxismus-Leninismus« im Wege standen. Im Zusammenhang unserer Fragestellung von vorrangigem Interesse ist dabei dann die Kontroverse um den wohl bedeutendsten sowjetischen Philosophen der damaligen Zeit, A.M. Deborin, und die um ihn gruppierten »Dialektiker«. 3.1. Die Kampagne gegen A.M. Deborins »Idealismus menschewistischer Prägung« und ihre Folgen Mitglied der Akademie der Wissenschaften, Chefredakteur der führenden theoretischen Zeitschrift Pod snamenem marksisma (Unter dem Banner des Marxismus) und stellvertretender Direktor des 1921/22 von D.B. Rjasanow gegründeten und bis 1931 geleiteten Marx-Engels-Instituts83, war Deborin ein exponierter Repräsentant jener von Plechanow begründeten und von Lenin fortgeführten Traditionslinie russischer Marxisten, die im Namen des Marxismus »Revision

88 gegen das Marx-Engelsche Urteil über Feuerbach« eingelegt hatten (Rawidowicz 1931, 484) und dessen Werk trotz gewisser Vorbehalte insgesamt mit großer Wertschätzung behandelten84. Nicht nur, dass sich in Deborins Arbeiten an verschiedenen Stellen Hinweise auf Feuerbach finden, er hatte diesem auch anlässlich seines fünfzigsten Todestages (September 1922) eine umfangreiche Studie gewidmet und in den darauffolgenden Jahren (1923-26) gemeinsam mit L.A. Axelrod-Orthodox drei Bände mit Originaltexten des Philosophen herausgegeben und so, dem Feuerbach-Forscher S. Rawidowicz zufolge, »viel zur Verbreitung Feuerbachscher Gedankengänge in Sowjet-Rußland beigetragen« (Rawidowicz a.a.O., 496). Weiter heißt es bei Rawidowicz, dessen Situationsbeschreibung trotz seiner deutlich zur Schau getragenen Voreingenommenheit gegenüber der 'Plechanow-Lenin-Deborin-Linie' insofern ein besonderer Stellenwert zukommt, als ja in seinem Ende 1930 fertig gestellten Buch die uns interessierenden Ereignisse nicht durch die 'historische Brille' betrachtet, sondern 'hautnah' in der Aktualität ihres Geschehens erfasst werden: »Deborin fußt, wie gesagt, auf Plechanovs Feuerbach-Auffassung, er erweitert sie noch etwas mehr nach der Richtung der Materialisierung und Dialektisierung Feuerbachs, wenn der Ausdruck gestattet ist. Weder der naturwissenschaftliche Materialismus noch der Positivismus seien Geisteskinder Feuerbachs, nur der dialektische Materialismus sei die Fortsetzung und Vertiefung des Feuerbachianismus. Feuerbachs Materialismus ginge nicht aus dem abstrakten, sondern aus dem konkreten Subjekt hervor, das zugleich auch Objekt sei. Feuerbach hätte den Materialismus sogar auf das gesellschaftlich-historische Leben übertragen. Er hätte die Frage nach der Fruchtbarmachung der materialistischen Methode für die Erklärung der historischen Erscheinungen, der Geisteserzeugnisse des gesellschaftlich-historischen Lebens gestellt. Auch die theoretische Grundlage für das Verständnis der Religion als Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung sei von Feuerbach geschaffen. Die von Engels schwer bekämpfte Feuerbachsche Ethik85 steht auch für Deborin auf einer ausschließlich materialistischen Basis. Daß Feuerbachs Erkenntnistheorie die Erkenntnistheorie des Materialismus sei, versteht sich von selbst.« (a.a.O., 496 f.) Nachdem er auf verschiedene Inkonsequenzen in Deborins Feuerbach-Buch hingewiesen86 und insbesondere gegen dessen Bemühungen polemisiert hat, »Feuerbach zum dialektischen Materialisten zu stempeln« (a.a.O., 498)87, geht Rawidowicz direkt auf die im Jahr 1930 gegen die Deborin-Gruppe einsetzende Kampagne ein: »Um die Philosophie Deborins und seiner Freunde und um ihren Feuerbachianismus werden gerade im letzten Jahr in der Sowjet-Union heftige Kämpfe gekämpft. Der gegenwärtig herrschende Kurs in Sowjet-Rußland hat auch seine philosophischen Folgen. Mit der Änderung der politisch-

89 wirtschaftlichen Taktik des Systems soll eine neue Orientierung nach der philosophischen Seite Hand in Hand gehen. (...) Es wird jetzt eine Übereinstimmung zwischen der Theorie des dialektischen Materialismus und der revolutionären Praxis gefordert. Der Kampf gegen die DeborinGruppe ist ein Kampf gegen die theoretisch-philosophische Überschätzung Plechanovs im Gegensatz zu Lenin. (...) Es wird Deborin der Vorwurf gemacht, er sei Lenins Philosophie nicht gerecht geworden, er hätte Hegels Dialektik unkritisch für den dialektischen Materialismus übernommen, ohne Lenins philosophisches Testament zu berücksichtigen ... Einer der schweren Vorwürfe gegen Deborin und seinen Anhang ist u.a. auch der, daß er Feuerbach überschätzt, daß er Feuerbach eine Zukunft verheißt und den Marxismus als die Fortsetzung des Feuerbachianismus kennzeichnet. Deborins Stellung zu Feuerbach zeuge von seinem ungenügenden Verständnis der Bedeutung der revolutionären 'Praxis' im Sinne des Marxismus-Leninismus. Dieser in allerletzter Zeit ausgebrochene, in der Gegenwart noch andauernde Streit um die Stellung des MarxismusLeninismus zu Feuerbach bedeutet in jenen Kreisen der dialektischen Materialisten den Kampf um die endgültige Fundierung und Formulierung der revolutionär-kritischen 'Praxis' des Sowjet-Systems. Der Kampf um Feuerbach heißt hier mit anderen Worten der Kampf um die richtige Ausund Festlegung der Marx-Leninschen Dialektik.« (a.a.O., 498 f.)88 Mit seinem Zweifel daran, »daß Feuerbach der 'Staatsphilosoph' Sowjet-Rußlands werden« könnte, »wie einst sein Lehrer Hegel im Preußen des 19. Jahrhunderts«, sollte Rawidowicz recht behalten, nicht so mit der unmittelbar anschließend formulierten Prognose: »Es wird ihm aber auf alle Fälle noch lange eine äußerst intensive Aktualität in der Philosophie Sowjet-Rußlands beschieden sein. Die herrschende Philosophie in Sowjet-Rußland wird nicht nur den Marxismus-Leninismus weiter auszubauen haben. Sie wird auch vor allem den mit dem Verhältnis des Marxismus zu Hegel und zu Feuerbach, aber auch den mit dem Verhältnis Feuerbachs zu Hegel verbundenen Problemen größte Aufmerksamkeit schenken müssen.« (a.a.O., 500) Tatsächlich fiel nämlich die endgültige Entscheidung gegen Deborin (und damit auch gegen Feuerbach) noch in den letzten Tagen des Jahres 1930. Am 29. Dezember wurde auf einer Versammlung der Parteizelle des Instituts der Roten Professur für Philosophie und Naturwissenschaft an der Kommunistischen Akademie in Moskau eine 17 Punkte umfassende Resolution verabschiedet, in der es u.a. heißt: »6. In Erwägung der aus der Diskussion gewonnenen Erfahrungen und Lehren und im Hinblick auf die ganze Tiefe der politischen und philosophischen Differenzen mit der Deborinschen Gruppe - Differenzen, deren Sinn und Bedeutung in den von Stalin in seiner Unterredung mit dem Parteizellenbüro der Roten Professur für Philosophie und Naturwissenschaft gegebenen Hinweisen mit besonderer Klarheit und Bestimmtheit zum Ausdruck gebracht worden ist - äußert die Versammlung der Partei-

90 zelle die Überzeugung: die in der Resolution des Büros vom 14. Oktober 1930, abgedruckt im 'Bolschewik', Nr. 19/20, gegebene Charakterisierung der Auffassungen der sogenannten philosophischen Führung als einer formalistischen Abweichung ist akademisch und ungenügend präzis, sie bedarf der Zuspitzung und nachdrücklichen Verschärfung, da die formalistische Entstellung der materialistischen Dialektik ihrem Wesen nach eine idealistische Revision des Marxismus bedeutet89. Die Gesamtheit der theoretischen und politischen Anschauungen der Deborinschen Gruppe stellt faktisch ihrem Wesen nach einen Idealismus menschewistischer Prägung dar, der eine nichtmarxistische, nichtleninistische Methodologie zur Grundlage hat und der kleinbürgerlichen Ideologie und dem Druck der das Proletariat umringenden, ihm feindlichen Klassenkräfte Ausdrucksform und Erscheinung verleiht. (...) In ihrem Kampf gegen den Leninismus in der Philosophie und gegen den Umschwung an der philosophischen Front hat die Gruppe Deborin, Karew, Sten u.a. den Weg des direkten und offenen Kampfes mit dem dialektischen Materialismus betreten, den Weg des Annmarxismus.« (zit. nach UdBM 1931, H. 2, 162 f.) Unter Punkt 9. der Resolution wird dann der Deborin-Gruppe nicht nur eine »Verständnislosigkeit für den Leninismus in der Philosophie«, sondern auch eine »damit organisch verbundene Verständnislosigkeit für die wichtigsten Probleme des Leninismus überhaupt« vorgeworfen. Zu den verschiedenen daraus resultierenden »schweren Fehlern« gehöre u.a. die »Behandlung einer Reihe von Problemen der kommunistischen Gesellschaft im Geiste der alten, BogdanowBasarowschen 'Philosophie des Kollektivismus', mit einem starken Zusatz von Feuerbachianismus, 'Kollektivisierung der Sinne' usw. (Deborin, Artikel: 'Der Aufbau des Sozialismus und unsere Aufgaben an der theoretischen Front', Unter dem Banner des Marxismus [russ.], Nr. 5, Jahrgang 193090)« (a.a.O., 165). Nur drei Tage später (d.h. am 1. Januar 1931) hielt dann M.B. Mitin, einer der Favoriten Stalins in 'philosophischen' Fragen, in der Kommunistischen Akademie vor der Fraktion der »Gesellschaft der streitbaren dialektischen Materialisten« einen längeren Vortrag mit dem Titel »Über die Ergebnisse der philosophischen Diskussion«, in dem er sich auch detailliert mit Deborins Verhältnis zu Feuerbach auseinandersetzte. 'Aufhänger' ist dabei der Umstand, dass Deborin für sein Buch über Feuerbach dessen fünfzigsten Todestag zum Anlass genommen hatte. So stellt Mitin zunächst fest, dass »in den Schriften der Deborinschen Gruppe bei der Behandlung der wichtigsten Fragen der Philosophiegeschichte ein 'Jubiläumston', eine Jubiläumsmethode« herrsche, und fragt dann: »Seit wann ist es bei uns soweit gekommen, daß die 'Jubiläumsverherrlichung' dieses oder jenes Denkers an die Stelle der unerläßlichen marxistischen Regel getreten ist: daß die Begrenztheit oder die Mängel des betreffenden Denkers analysiert werden sollten?« (zit. nach

91 Mitin 1931, 203) Dabei liefere, so Mitin weiter, die Deborin-Gruppe »(sehr viele) Beispiele für solche Jubiläumshymnensingerei und für dieses gänzlich unkritische 'Auf-den-Marxismus-zurechtstutzen'«, er wolle jedoch nur kurz auf das »Problem der Feuerbachschen Philosophie« eingehen: »Nach der Feuerbach-Broschüre von Engels, nach den im ersten Bande des 'Marx-Engels-Archivs' veröffentlichten Feuerbach-Studien von Marx und Engels, schließlich nach den Marxschen 'Thesen über Feuerbach' sollte man meinen, daß es schwer sei, in diesem Punkte noch Verwirrung zu stiften.« Tatsächlich stelle aber »die Schrift von Deborin 'Ludwig Feuerbach' ein grelles Exempel des oben charakterisierten Umspringens mit philosophischen Problemen« dar. Unter Deborins »glücklicher Hand« verwandle sich Feuerbach in einen dialektischen Materialisten, werde der Marxismus »zu nichts anderem als zu einer Art von Feuerbachianismus« (ebd.). »Niemand«, so Mitin weiter, habe »schöner als Engels über die hervorragende Bedeutung gesprochen, die Feuerbach bei der Vorbereitung der dialektisch-materialistischen Anschauungen gehabt hat«, aber er habe »es nicht für notwendig befunden, die Mängel des Feuerbachschen Materialismus zu vertuschen, oder gar eine ganze Reihe von Beschränktheiten der Feuerbachschen Denkweise als Dialektik auszugeben«. An alledem sei Deborin vorbeigegangen, als er im Vorwort zu seinem Buch geschrieben habe: »F. Engels gibt in seiner hervorragenden Broschüre über Ludwig Feuerbach nicht so sehr eine Darstellung der Anschauungen Feuerbachs als vielmehr eine Darstellung der Marxschen Weltanschauung auf der Basis einer Kritik der Ideen Feuerbachs. Engels konnte entsprechend der Aufgabe, wie er sie sich gestellt hatte, nicht anders verfahren. Wir unsererseits hielten es im Zusammenhang mit der Fünfzigjahrfeier des Todes des Denkers für notwendig, eine historische Beurteilung des Werkes von Feuerbach zu geben und seine Weltanschauung in systematischer Darstellung vorzuführen.« (zit. nach Mitin a.a.O.) Bemerkenswerterweise macht Mitin nun Deborin an dieser Stelle nicht etwa den naheliegenden Vorwurf, dass dies eine kaschierte Kritik an Engels sei91, sondern setzt seinen Angriff auf ihn in einem erstaunlich moderaten Ton fort: »Die Aufgabe, die sich Deborin gestellt hat, ist sehr ehrenvoll, nur hat er uns nicht erklärt, warum die historische Beurteilung der Rolle Feuerbachs die kritische Beurteilung vom Standpunkt der höheren Entwicklungsstufe der Philosophie, vom Standpunkt des dialektischen Materialismus, ausschließt; warum die Aufgabe einer systematischen Darstellung nicht gleichzeitig auch Aufgabe der Kritik an der Begrenztheit und Mangelhaftigkeit der Feuerbachschen Ideen sein soll.« (a.a.O., 203 f.) Im Übrigen zeuge auch die Behandlung anderer Philosophen, »Bacon, Hobbes, Spinoza, Kant usw.«, von den »unmarxistischen Grundsätzen«, mit denen die

92 Deborin-Gruppe an die »wichtigsten Fragen der Geschichte der Philosophie und der Vorgeschichte des Marxismus« herangehe, so dass sich »auch auf diesem Gebiet« die »ernste Aufgabe« stelle, »die ganze literarische Leistung« der um Deborin gruppierten Philosophen »kritisch durchzupflügen, die Fehler zu überwinden und die Voraussetzungen für eine echte marxistische Geschichte der Philosophie zu schaffen« (a.a.O., 204). Nach alledem war Deborins Ablösung als stellvertretender Direktor des Marx-Engels-Instituts und Chefredakteur von Pod snamenem marksisma nur noch eine reine Formsache, am 25. Februar 1931 erging dann auch offiziell der ihn, N. Karew und J. Sten betreffende Beschluss des Zentralkomitees der KPdSU (B). Zwar wurde ihm, nachdem er im Dezember desselben Jahres in einem Brief an die Redaktion der Prawda öffentlich Selbstkritik geübt hatte, eine Fortführung seiner Arbeit im institutionellen Rahmen der Akademie der Wissenschaften gestattet, ohne dass er jedoch jemals seine frühere Bedeutung als führender philosophischer Kopf wiedererlangt hätte (er starb 1963 im Alter von 82 Jahren)92. Ob zwischen der Kampagne gegen die Deborin-Gruppe und den Angriffen auf die Vertreter der »kulturhistorischen Theorie« von Anfang an ein direkter Zusammenhang bestand, ist nach dem vorliegenden Quellenmaterial schwer zu beurteilen. Dass dieser Zusammenhang aber spätestens 1931, nach dem Erscheinen des letzten Teils von Wygotskis »Pädologie des frühen Jugendalters« hergestellt wurde, ist, nach allem, mehr als wahrscheinlich. Tatsächlich tritt nämlich hier nicht nur Wygotskis »unkritische« Affinität zum Hegelianismus deutlicher noch als in früheren Arbeiten zutage (vgl. ASch Bd. 2, 321, 468, 535 f., 591 ff., 613, 642), sondern es findet sich auch anlässlich der Erörterung des »Entwicklungsschema(s), das wir bereits in der Hegeischen Philosophie vorfinden« ein direkter positiver Bezug auf Deborin (vgl. a.a.O., 642). Dabei sprach es nach den mittlerweile geltenden 'Spielregeln' nicht etwa für Wygotski, sondern gegen ihn, dass er in der »Pädologie des frühen Jugendalters« 'auch' Marx, 'auch' Engels, 'auch' Lenin zitierte, handelte es sich doch besagter Resolution der Parteizelle des Instituts der Roten Professur zufolge bei dem von der Deborin-Gruppe vertretenen »Idealismus menschewistischer Prägung« insofern um »eine außerordentlich raffinierte Form für die idealistische Revision des Marxismus«, als er »mit höchster Sorgfalt unter einer materialistischen, marxistischen Phraseologie verdeckt und verhüllt« und »häufig in ein marxistischleninistisches Gewand gekleidet« auftrat (vgl. UdBM 1931, H. 2, 163)93. Wer immer wollte, konnte von Wygotski genau dasselbe sagen, was Mitin vom »allgemeine(n) Charakter der philosophischen Schriftstellerei« der DeborinGruppe gesagt hatte, nämlich dass ihre Arbeiten »eine höchst verwunderliche

93 Zusammenfassung von Elementen des Materialismus mit Hegelscher idealistischer Dialektik« darstellten und dass »die allgemeine Färbung, in die dieses verwunderliche Miteinander getaucht« sei, in einer »außerordentlich starken 'Verhegelung' des Materialismus, des Marxismus« bestehe (Mitin a.a.O., 195). Sprach es denn etwa nicht für Wygotskis »Raffinesse«, dass er Engels sagen ließ: »Hegel war der erste, der das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit richtig darstellte. Für ihn ist die Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit«? (vgl. ASch Bd. 2, 592 f. sowie MEW 20, 106) Und welch ein Meister der »Maskerade« war er, als er auf Lenin zurückgriff, um festzustellen, dass, wenn Hegel sich bemühe, »die zweckmäßige Tätigkeit des Menschen unter die Kategorien der Logik zu bringen«, dies »NICHT NUR AN DEN HAAREN HERBEIGEZOGEN, NICHT NUR SPIEL« sei, sondern es hier »EINEN SEHR TIEFEN, REIN MATERIALISTISCHEN INHALT« gebe! (vgl. ASch Bd. 2, 535 f. sowie LW 38, 180 f. - Versalien auch im leninschen Originaltext) Einmal dem Verdikt verfallen, auf der Linie des »menschewistisch geprägten Idealismus der Deborinschen Gruppe« zu liegen, war eine glaubwürdige 'Konversion' zum »aufrechten Marxisten-Leninisten« äußerst schwierig, hatte doch die Parteizelle des Instituts der Roten Professur unter Punkt 15. ihrer Resolution festgestellt: »Nach der Entlarvung der von der Deborinschen Gruppe vertretenen Anschauungen als eines dem Wesen der Sache nach menschewistisch gearteten Idealismus ist die offene Verteidigung ihrer Anschauungen oder auch das offen versöhnlerische Verhalten zu ihnen außerordentlich erschwert. Darum ist besondere Aufmerksamkeit erforderlich in Hinsicht auf die formale Anerkennung der angegebenen grundsätzlichen Richtlinien und ein entschiedener Kampf gegen jedes Bestreben, diese Richtlinien nicht in der ganzen, ebenso theoretischen wie praktischen Arbeit durchzuführen, da eine solche formale Anerkennung eine der schlimmsten Arten von Versöhnlertum darstellt.« (a.a.O., 169) Und da unter Punkt 4. bereits versichert worden war, die Parteiorganisation des Instituts der Roten Professur für Philosophie und Naturwissenschaft habe nicht nur »die von Stalin auf der Konferenz der marxistischen Agrarwissenschaftler94 gemachten Hinweise auf die Notwendigkeit schleunigster Beseitigung des unzulässigen Zurückbleibens der Theorie hinter den praktischen Erfolgen des sozialistischen Aufbaus« richtig verstanden, sondern »ebenso die aus diesen Hinweisen folgende, außerordentlich dringliche Notwendigkeit einer allseitigen, umfassenden und gründlichen Aufrollung dieser Probleme in einer der Lage an der philosophischen Front entsprechenden Weise« (a.a.O., 162), hätte sich Wygotski nicht bloß verbal zu den Direktiven des »Generalsekretärs« bekennen, vielmehr in seiner Forschungsarbeit selbst direkt erkennbar unter Beweis stellen

94 müssen, dass auch er »die von Stalin auf der Konferenz der marxistischen Agrarwissenschaftler gemachten Hinweise richtig verstanden« habe. Und Stalin hatte in seiner berühmten Rede eben nicht bloß auf die Notwendigkeit des »Vorangehens der theoretischen Arbeit vor der praktischen« abgehoben und gefordert, dass die theoretische Arbeit »unseren Praktikern in ihrem Kampfe für den Sieg des Sozialismus die Waffen« liefere, er hatte zugleich auch keinen Zweifel daran gelassen, welche Art von Theorie ihm dabei vorschwebte: »Bekanntlich gibt die Theorie, wenn sie wirklich eine Theorie ist, den Praktikern die Kraft der Orientierung, die Klarheit der Perspektive, die Sicherheit in der Arbeit und den Glauben an den Sieg unserer Sache.« (zit. nach Stalin 1947, 334 f.) Am Ende seiner Rede stand dann die Losung, »alle wie immer gearteten bürgerlichen Theorien, die - zu unserer Schande - mitunter von unseren Genossen, von Kommunisten, verbreitet werden und die Köpfe unserer Praktiker verkleistern, mit Stumpf und Stiel auszurotten« (vgl. a.a.O., 356). Bei diesen Vorgaben und in Anbetracht des Umstandes, dass die differentia specifica des »menschewistisch geprägten Idealismus der Deborinschen Gruppe« in der ominösen Tateinheit von gleichzeitiger »Verhegelung« und »Verfeuerbachung« des Marxismus bestand95, war zumindest eines klar: Wollte Wygotski sich bei der Revision und Fortentwicklung seiner eigenen psychologischen Konzeption in Zukunft auch weiterhin und womöglich in einem noch stärkeren Maße an den Auffassungen Feuerbachs orientieren, so konnte dies keineswegs in einer Weise geschehen, die ihn für jeden sofort erkennbar zum »Feuerbachianer« stempelte96. Welche Taktik er dann - gewissermaßen in die Fußstapfen N.G. Tschernyschewskis tretend97 - tatsächlich einschlug, haben wir bereits bei der Erörterung einiger Aspekte seiner »Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen« analysieren können. Dass diese Taktik noch ausgebaut werden konnte, zeigen dann seine Arbeiten aus den Jahren 1932-34. 3.2. Wygotskis Piaget-Kritik Das Jahr 1932 betreffend sind im Rahmen unserer Fragestellung vor allem zwei Arbeiten Wygotskis von Interesse. Bei der ersten handelt es sich um ein umfangreiches kritisches Begleitwort zur russischen Ausgabe von Piagets »Sprechen und Denken des Kindes«, das später als zweites Kapitel in Wygotskis »Denken und Sprechen« einging. Die andere Arbeit ist ein dem Säuglingsalter gewidmetes Kapitel zu einem geplanten Buch Wygotskis über Kinderpsychologie. Erstmals 1984 im Band 4 der Wygotski-Werkausgabe veröffentlicht, ist sie dann auch in den zweiten Band der »Ausgewählten Schriften« aufgenommen worden.

95 Die erstgenannte Arbeit - eine der wenigen aus den Jahren 1932-34, die noch zu Wygotskis Lebzeiten publiziert wurden (bei einem Fundus von 50 Artikelund Buchmanuskripten bzw. druckreifen Vorlesungsmitschriften)98 - verdient unser Interesse aus einem doppelten Grund: Einerseits gibt sie Aufschluss darüber, in welcher Weise Wygotski das schwierige Problem löste, trotz äußerst restriktiver Arbeitsbedingungen nicht nur weiterhin produktiv tätig zu sein, sondern darüber hinaus auch zumindest einem Teil seiner Arbeitsergebnisse noch jene Akzeptanz zu sichern, die eine Veröffentlichung ermöglichte. Andererseits zeigt sie, wie durch die erzwungene Anpassung an den 'Zeitgeist' die kritische Auseinandersetzung mit Piaget, die zugleich auch eine Abrechnung mit bestimmten eigenen früher über die »Sozialisierung« des Kindes vertretenen Anschauungen ist, in ihrer Stringenz deutlich hinter den Möglichkeiten zurückbleibt, die ein offener Anschluss an die Positionen Feuerbachs geboten hätte. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht dabei die kritische Analyse von Piagets Auffassung über den »Egozentrismus« des Kindes", insbesondere seiner Qualifizierung als Zwischenstufe zwischen dem ursprünglichen »Autismus« des Säuglings und der »Sozialität« des älteren Kindes. Wygotski schreibt: »Die Entwicklung des kindlichen Denkens verläuft nach der Theorie Piagets im allgemeinen in der Richtung: vom Autismus zur sozialisierten Sprache, von der 'quasi-halluzinatorischen' Phantasie zur Logik der Beziehungen. (...) Die Geschichte des kindlichen Denkens ist für Piaget die Geschichte einer allmählichen Sozialisierung intimer, persönlicher, autistischer Momente der kindlichen Psyche. Das Soziale liege am Ende der Entwicklung, sogar die soziale Sprache gehe der egozentrischen in der Entwicklungsgeschichte nicht voraus, sondern folge ihr. Nach unserer Hypothese verläuft die Entwicklung des kindlichen Denkens in anderer Richtung, und der Standpunkt Piagets stellt die wichtigsten genetischen Beziehungen in diesem Entwicklungsprozeß in verzerrter Form dar.« (zit. nach Wygotski 1969, 42) So sei es bereits grundverkehrt die psychische (vor allem die geistige) Entwicklung des Kindes mit dem »Autismus« als originärer oder Grundstufe des Psychischen beginnen zu lassen. »Das autistische Denken«, argumentiert Wygotski, »ist, vom Standpunkt der phylo- und ontogenetischen Entwicklung betrachtet, keine primäre Stufe in der geistigen Entwicklung des Kindes und der Menschheit. Sogar vom Standpunkt der biologischen Entwicklung und Verhaltensanalyse des Säuglings aus rechtfertigt das autistische Denken nicht die von Freud aufgestellte und von Piaget übernommene These, daß sich auf dem Autismus als primärer Grundstufe alle weiteren Entwicklungsstufen des Denkens aufbauen« (a.a.O., 26).

96 Und während es 1928/29 noch völlig unproblematisch gewesen wäre, an diesem Punkt direkt auf die von Feuerbach insbesondere in »Über Spiritualismus und Materialismus« formulierten Erkenntnisse zu verweisen (vgl. oben. Kap. 1.2.), so muss Wygotski im Jahre 1932 an Stelle von Feuerbach einen anderen, uns im Übrigen schon bekannten Autor zu Wort kommen lassen. »Bemerkenswert ist«, notiert er, »daß gerade die biologisch orientierten Psychologen zu diesem Schluß kommen, besonders der Autor der Lehre vom autistischen Denken, E. Bleuler.« (ebd.) In der Folge zitiert Wygotski dann wörtlich aus der Kritik Bleulers an Freud. Dieser, so Bleuler, sage es »direkt heraus, daß in der Entwicklungsreihe seine Lustmechanismen das Primäre seien. Er kann sich den Fall denken, daß der Säugling, dessen reale Bedürfnisse ohne sein Zutun ganz von der Mutter befriedigt werden, und das sich entwickelnde Hühnchen im Ei, das durch die Schale von der Außenwelt abgeschlossen ist, noch autistisch leben. Der Säugling 'halluziniert' wahrscheinlich die Erfüllung seiner inneren Bedürfnisse, verrät seine Unlust bei steigendem Reiz und ausbleibender Befriedigung durch die motorische Abfuhr des Schreiens und Zappeins und erlebt darauf die halluzinierte Befriedigung.« (vgl. Bleuler 1912, 26 sowie Wygotski a.a.O., 27) Dem könne er nicht folgen, fahrt Bleuler fort und entwickelt unmittelbar anschließend eine Argumentation, die sich wie eine Paraphrase des feuerbachschen Beispiels von der Katze (vgl. oben, Kap. 1.2.) liest: »Ich sehe keine halluzinierte Befriedigung des Säuglings, sondern nur eine nach wirklicher Nahrungsaufnahme, und ich muß konstatieren, daß das Hühnchen im Ei nicht mit Vorstellungen von Essen, sondern mit physikalisch und chemisch greifbarer Nahrung sich emporbringt. Ich sehe auch beim etwas älteren Kinde nicht, daß es einen eingebildeten Apfel über einen wirklichen stellen würde.« (Bleuler ebd., Wygotski ebd.,)1"0 Was für das Neugeborene, den Säugling und das ältere Kind gilt, gelte für das gesamte Tierreich: »Ich kann nirgends ein lebensfähiges Geschöpf finden oder nur mir denken, das nicht in erster Linie auf die Wirklichkeit reagierte, das nicht handelte, ganz gleichgültig, wie tief es stehe; und ich kann mir auch nicht vorstellen, daß von einer gewissen Einfachheit der Organisation an nach unten autistische Funktionen vorhanden sein können. Dazu gehören komplizierte Erinnerungsmöglichkeiten. So kennt die Tierpsychologie (außer einigen wenigen Beobachtungen an höchststehenden Tieren) nur die Realfunktion.« Auf jeden Fall, gebe es »kein Wesen, das ausschließlich autistisch denkt. Von einer gewissen Entwicklungsstufe an tritt die autistische Funktion zu der realistischen und entwickelt sich von nun an mit ihr.« (Bleuler a.a.O., 27, Wygotski a.a.O., 28)

97 Zwar bringe, so Wygotski einschränkend, »die genetische Grundformel Bleulers keine restlose Lösung der Frage nach den zwischen dem autistischen und dem realistischen Denken bestehenden Zusammenhängen«, aber sie erscheine ihm »in zwei Momenten unbestreitbar, erstens in dem Hinweis auf die relativ späte Entstehung der autistischen Funktion und zweitens in dem Hinweis auf die biologische Unhaltbarkeit der Vorstellung vom primären Charakter des Autismus« (Wygotski a.a.O., 28 f.). Wenn aber, so Wygotski weiter, »das autistische Denken in genetischer, struktureller und funktioneller Hinsicht nicht die primäre Stufe darstellt, auf der alle weiteren Denkformen fußen«, dann bedürfe auch die Auffassung einer Revision, dass »der Egozentrismus des kindlichen Denkens eine Übergangsstufe zwischen dieser primären Grundform und den höheren Formen des Denkens« darstelle (a.a.O., 32). Der Grundgedanke Piagets bestehe, vereinfacht gesagt, in der Annahme, »daß der Erwachsene sozialisiert denkt, auch wenn er allein ist, das Kind unter sieben Jahren dagegen sogar dann egozentrisch denkt und spricht, wenn es in Gesellschaft ist« (Wygotski a.a.O., 33). Dabei diene die für die frühe Kindheit charakteristische »egozentrische« Sprache »nicht den Zwecken des Verkehrs«, erfülle »keine kommunikativen Funktionen«, sondern »skandiere«, »rhythmisiere« und »begleite« lediglich die Tätigkeit und die Erlebnisse des Kindes »wie die musikalische Begleitung die Hauptmelodie«. Durch sie ändere sich im wesentlichen »weder etwas an der Tätigkeit des Kindes noch an seinen Erlebnissen, wie die Begleitung im Grunde genommen nicht in den Verlauf und den Aufbau der Hauptmelodie eingreift. Zwischen beiden besteht eher eine Art Koordination als eine innere Verbindung.« (a.a.O., 35 f.) Anders ausgedrückt heißt dies, »daß die egozentrische Sprache keine objektiv nützliche, notwendige Funktion im Verhalten des Kindes ausübe. Es ist ein Sprechen für sich selbst, zur eigenen Befriedigung ... Man kann sagen, daß dieses Sprechen des Kindes der Logik des Wach- und Schlaftraumes näherkommt als der Logik des realistischen Denkens.« (a.a.O., 36) Daraus lässt sich dann die These hinsichtlich des »Schicksals« der »egozentrischen« Sprache des Kindes ableiten: Wenn sie im Verhalten des Kindes quasi funktionslos ist, müsste man darin »ein Symptom für die Unreife des kindlichen Denkens« sehen und erwarten, »daß im Verlauf der Entwicklung dieses Symptom verschwinden wird« (ebd.). Und indem so einerseits Piaget meine, »daß es« - ein Wesensmerkmal der »Sozialisierung« des Kindes - »das Schicksal der egozentrischen Sprache sei abzusterben«, bleibe andererseits die »Frage der Entwicklung der inneren Sprache des Kindes« völlig im Dunkeln, entstehe die »Vorstellung, daß die innere Sprache - d.h. ein Sprechen, das innere Funktionen ausübt, die der egozentrischen äußeren Sprache analog sind - der äußeren oder sozialisierten Sprache vorausgeht« (a.a.O., 39 f.).

98 Diesen Auffassungen Piagets stellt nun Wygotski seine eigene Konzeption von der Entwicklung des kindlichen Denkens und Sprechens entgegen, wobei er sich auf eine Reihe bereits ein paar Jahre zurückliegender experimenteller Untersuchungen stützt, die er »in enger Zusammenarbeit mit A.R. Lurija, A.N. Leontjew, R.J. Lewina u.a. durchgeführt« hatte (vgl. Wygotski a.a.O., 37). »Die ursprüngliche Funktion der Sprache«, so Wygotski, »ist die der Mitteilung, der Einwirkung auf die Menschen der Umgebung, sowohl von Seiten der Erwachsenen als auch des Kindes. Demzufolge ist die ursprüngliche Sprache des Kindes eine rein soziale; es wäre falsch, sie sozialisiert zu nennen, da ja mit diesem Wort die Vorstellung von etwas ursprünglich Nicht-Sozialem verbunden ist, das erst im Verlaufe seiner Entwicklung sozial sein wird.« (a.a.O., 42 f.) Aus dem ursprünglichen Funktionszusammenhang heraus entwickle sich dann später »eine mehrere Funktionen ausübende soziale Sprache des Kindes nach dem Prinzip der Differenzierung der einzelnen Funktionen«, wobei es auf einer bestimmten Altersstufe zu einer ziemlich scharfen Unterteilung in zwei Hauptstränge komme: den Strang der »egozentrischen« und den Strang der »kommunikativen« Sprache (a.a.O., 43)101. Dabei bilde sich die »egozentrische« Sprache, der nach Wygotskis Auffassung eine wichtige Funktion bei der Organisation des eigenen Verhaltens zukommt (vgl. a.a.O., 37 ff.)102, auf der Grundlage der sozialen Sprache dadurch aus, »daß das Kind soziale Verhaltensformen und Formen der kollektiven Zusammenarbeit in den persönlichen Bereich überträgt«, etwa dadurch, daß es beginne, »ebenso mit sich selbst zu reden, wie es vorher mit anderen gesprochen hat, oder wenn es beginnt, in seinem Selbstgespräch laut zu denken, wo die Situation es dazu zwingt« (a.a.O., 43)103. Auf der Basis der »egozentrischen« Sprache, »die sich von der sozialen gelöst hat«, entstehe dann »die innere Sprache des Kindes, die die Grundlage sowohl seines autistischen als auch seines logischen Denkens« bilde, so dass also »die von Piaget beschriebene Egozentrizität der Sprache des Kindes genetisch den Übergang von der äußeren zur inneren Sprache« darstelle (ebd.). Aber nicht nur, dass Piaget die Hauptrichtung der Entwicklung des kindlichen Denkens und der kindlichen Sprache falsch bestimme - ein weiterer wesentlicher Fehler bestehe in dem für seine Konzeption charakteristischen »Bruch zwischen dem Biologischen und dem Sozialen«. Bei ihm trete das Biologische als das »Ursprüngliche, im Kind selbst Enthaltene und seine psychologische Substanz Bildende« auf, während das Soziale »durch den Zwang als äußere, dem Kind fremde Kraft« wirke, »welche die dem inneren Wesen des Kindes entsprechenden Denkweisen verdränge und sie durch wesensfremde Denkschemata ersetzt«. Es sei daher »nicht verwunderlich, daß Piaget in seinem Schema die zwei extremen Punkte - den Egozentrismus und die Zusammenarbeit - durch ein drit-

99 tes Glied, den Zwang, verbinde«. Im Zwang sehe er den »Mechanismus, mit dessen Hilfe das soziale Milieu die Enwicklung des kindlichen Denkens lenkt« (a.a.O., 53). Das heißt: »Das Kind wird nicht als Teil des sozialen Ganzen, nicht als Subjekt der gesellschaftlichen Beziehungen betrachtet, das von den ersten Tagen seines Lebens an am gesellschaftlichen Leben teilnimmt, dem es angehört. Das Soziale wird als außerhalb des Kindes stehend, als eine fremde Kraft betrachtet, die einen Druck auf das Kind ausübt und die ihm eigenen Denkweisen aufdrängt.« (a.a.O., 54) Indem so das Biologische und Soziale in der Entwicklung des Kindes als »zwei äußere mechanisch aufeinander einwirkendende Kräfte« aufgefasst würden, ergebe sich zwangsläufig, dass das Kind gleichzeitig in zwei Welten, »in einer doppelten Wirklichkeit« lebe. »Die eine Welt«, erläutert Wygotski seine Kritik, »bildet sich für das Kind auf der Grundlage seines eigenen, für seine Natur kennzeichnenden Denkens, die andere auf Grund des ihm von den Menschen seiner Umgebung aufgezwungenen logischen Denkens. Zwei verschiedene Webstühle - zwei verschiedene Gewebe: zwei Denkweisen - zwei Wirklichkeiten104. Diese Zwiespältigkeit muß um so schärfer und stärker in Erscheinung treten, als jede der zwei Ebenen, in denen das Denken des Kindes webt, ihre eigene Logik besitzt.« (a.a.O., 54 f.) Aus alledem resultiere dann »eine eigenartige Auffassung über den Sozialisationsprozeß selbst, der bei Piaget eine wichtige Rolle spielt«. Einerseits stelle dieser Prozess »etwas Äußeres, dem Kind Wesensfremdes« dar, andererseits sei für Piaget »die Sozialisierung die einzige Quelle der Entwicklung des logischen Denkens«. Frage man nun danach, worin eigentlich der »Sozialisierungsprozeß selbst« bestehe, dann zeige sich, dass er als »Prozeß der Überwindung des kindlichen Egozentrismus« charakterisiert ist und sich darin äußert, »daß das Kind anfangt, nicht nur für sich selbst zu denken, sondern sein Denken dem anderer anzupassen. Sich selbst überlassen, käme das Kind nie dazu, logisch zu denken.« (a.a.O., 56) Oder in Piagets eigenen Worten: »Ohne die anderen würden uns Enttäuschungen der Erfahrung zu einer Überkompensation der Phantasie und in den Wahnsinn führen. In uns entstehen beständig eine enorme Zahl falscher Gedanken, Bizarrerien, mystische Erklärungen, Verdachtsgründe und Megalomanien, die beim Kontakt mit anderen in sich zusammenfallen. Es ist das soziale Bedürfnis, am Denken der anderen teilzuhaben, ihnen das unsere mitzuteilen und sie zu überzeugen, das unserem Bedürfnis nach Verifikation zugrunde liegt.« (Piaget 1972, zit. nach Wygotski a.a.O., 56 f.) Nachdem Wygotski seine Auseinandersetzung mit den Auffassungen Piagets bis zu diesem Punkt vorangetrieben hat, wobei die von ihm zu lösende Aufgabe nach seinen eigenen Worten darin bestand, »dem Leser die kritische Aneignung

100 der Ergebnisse und der ersten Verallgemeinerung des Buchs von Piaget zu erleichtern« (a.a.O., 50), tritt im Duktus seiner Argumentation ein eigentümlicher Sprung auf. Ein Sprung, der noch mehr ins Auge fällt, wenn man sich in knapper Form die bis dahin akkumulierte Kritik vergegenwärtigt. Nach allem hat Wygotski 1. die Unhaltbarkeit der »von Piaget der Psychoanalyse entlehnte(n) Annahme« bewiesen, »nach der die Anfangsstufe in der Denkentwicklung das autistische Denken sei« (a.a.O., 44); er hat 2. demonstriert, dass die von Piaget vorgenommene disjunktive Gegenüberstellung zweier Typen des Denkens, von denen der eine »die Funktion einer Befriedigung ausübt«, während der andere »die Funktionen der Anpassung an die Wirklichkeit« erfüllt, »ohne jeden Sinn« ist (a.a.O., 46)105; Wygotski ist 3. in der Untersuchung der Auffassungen Piagets vom kindlichen »Egozentrismus« zu dem »Ergebnis ihrer theoretischen und faktischen Unhaltbarkeit« gekommen und hat feststellen müssen, dass »der Entwicklungsweg des Kindes in dieser Theorie verzerrt dargestellt« ist (a.a.O., 50); er hat 4. gezeigt, dass Piaget die Objektivität des Kausalitätsprinzips leugnet, für ihn dieses Prinzip »durch das höhere Prinzip der Entwicklung abgelöst und in ihm aufgehoben« ist (a.a.O., 51)106; und er hat 5. nachgewiesen, dass die vermeintliche »deutliche Anerkennung des sozialen Faktors als maßgebliche Kraft in der Entwicklung des kindlichen Denkens« in der Theorie Piagets in Wirklichkeit keine konzeptionelle Grundlage hat, sondern ausschließlich terminologischer Natur ist, dass zwar Piaget »für die Zwecke der Beschreibung die soziologische Sprache gewählt hat, die gleichen Fakten aber mit dem gleichen Erfolg auch biologisch erklärt werden könnten« (a.a.O., 53). Diese Detailkritiken hätten auf direktem Wege in jener Einschätzung zusammengefasst werden können, die Wygotski zu Beginn des letzten Kapitels seines Begleitwortes formuliert: »Wenn wir zum Abschluß die wesentlichsten Punkte der Auffassung von Piaget verallgemeinern, können wir sagen, daß erstens das Fehlen der Wirklichkeit und zweitens das Verhältnis des Kindes zu dieser Wirklichkeit, d.h. das Fehlen einer praktischen Tätigkeit des Kindes grundlegend sind. Die Sozialisierung des kindlichen Denkens wird von Piaget außerhalb der Praxis, losgelöst von der Wirklichkeit betrachtet. Das Erkennen der Wahrheit und die logischen Formen, mit deren Hilfe diese Erkenntnis möglich wird, entstehen bei ihm nicht im Prozeß der praktischen Aneignung der Wirklichkeit107, sondern im Prozeß der Anpassung eines Denkens an ein anderes.« (a.a.O., 59 f.) Tatsächlich kommt Wygotski zu dieser Einschätzung aber erst auf einem Umweg über den »Leninismus in der Philosophie«. Nachdem er nämlich festgestellt hat, dass Piaget keinen Zweifel daran lasse, »daß das Bedürfnis nach logischem

101 Denken und das Bewußtsein der Wahrheit selbst aus der Kommunikation des Bewußtseins des Kindes mit dem anderer entstehen« (a.a.O., 57), fahrt er fort: »Dies steht seinem philosophischen Wesen nach der soziologischen Lehre Dürkheims und anderer Soziologen nahe, die sowohl Raum und Zeit als auch die gesamte objektive Wirklichkeit aus dem gesellschaftlichen Leben des Menschen ableiten! Wie nahe kommt dies der Theorie Bogdanows, nach der 'die Objektivität der physikalischen Kategorien in der Allgemeinbedeutung besteht. Die Objektivität eines physikalischen Körpers, mit dem wir in unserer Erfahrung zusammentreffen, wird in letzter Instanz auf Grund einer wechselseitigen Verifikation und Koordinierung der Äußerungen verschiedener Menschen festgestellt. Überhaupt ist die physische Welt die sozial koordinierte, sozial harmonisierte, sozial organisierte Erfahrung'. Was Piaget hier auch in die Nähe von Mach rückt, dürfte kaum einem Zweifel unterliegen, wenn wir uns an seine Auffassung von der Kausalität erinnern.« (ebd.) Darüber hinaus dehne Piaget »die Leugnung der Objektivität auch auf alle übrigen Kategorien« aus und stelle sich damit auf den »idealistischen Standpunkt des Psychologismus« (a.a.O., 58). So bleibe er »ganz bewußt auf der Grenze zwischen Idealismus und Materialismus«, möchte »den Standpunkt des Agnostikers beibehalten«, teile aber »in Wirklichkeit Machs Ansichten« (a.a.O., 59). Erst jetzt, nachdem er Piagets kaschierten »Machismus« entlarvt und zugleich unter Beweis gestellt hat, dass er mit seinen eigenen Auffassungen fest auf dem Boden von Lenins »Materialismus und Empiriokritizismus« steht, formuliert Wygotski die uns bereits bekannte Verallgemeinerung. Er belässt es aber nicht dabei, sondern schreibt unmittelbar anschließend: »Die Wahrheit sei die sozial organisierte Erfahrung - so wiederholt Piaget gewissermaßen Bogdanows These -, denn die Wirklichkeit gäbe dem Verstand des Kindes in seiner Entwicklung keine Impulse. Sie werde selbst durch den Verstand geformt. Sich selbst überlassen würde das Kind im Wahnsinn enden. Aus der Wirklichkeit würde es niemals die Logik lernen.« (a.a.O., 60) Damit ist dann die Überleitung zu jenen beiden Lenin-Zitaten hergestellt, mit denen Wygotski bereits in der »Pädologie des frühen Jugendalters« operiert hat allerdings lässt die Art und Weise, in der sie jetzt von Wygotski präsentiert werden, deutlich erkennen, dass er selbst jenen von ihm in der Theorie bekämpften »Prozeß der Anpassung eines Denkens an ein anderes« durchlaufen hat. Hieß es in der »Pädologie des frühen Jugendalters« noch: »Lenin sagt in seinem 'Konspekt' zu Hegels Wissenschaft der Logik über die Logik und die menschliche Praxis: 'Wenn Hegel sich bemüht ...« (ASch Bd. 2, 535), so führt er dasselbe Lenin-Zitat jetzt mit den Worten ein: »In seiner Kritik zur Wissenschaft der Logik von Hegel sagt W.I. Lenin zu einer analogen, in der idealistischen Philosophie und Psychologie weitverbreiteten Anschauung folgendes: 'Wenn Hegel sich

102 bemüht ...« (Wygotski 1969, 60). Hatte das zweite Lenin-Zitat in der »Pädologie des frühen Jugendalters« mit den Worten begonnen: »'Schluß des Handelns' ... Für Hegel ist das Handeln, die Praxis, ein logischer 'Schluß', eine Figur der Logik. Und das ist wahr!108 Natürlich nicht in dem Sinne, daß die Figur der Logik ihr Anderssein in der Praxis des Menschen hätte (= absoluter Idealismus), sondern vice versa: die Praxis des Menschen, milliardenmal wiederholt, prägt sich dem Bewußtsein des Menschen als Figuren der Logik ein ...« (ASch Bd. 2, 536), so lässt Wygotski jetzt den sich auf Hegel beziehenden Teil fort und beginnt das Zitat: »... Die Praxis des Menschen ...« (vgl. Wygotski 1969, 60). Das Problem der hier vorexerzierten »Anpassung des eigenen Denkens an ein anderes« besteht nun nicht nur darin, dass der Rückgriff auf Lenin den über die Theorie Piagets bereits gewonnenen Einsichten nichts Neues hinzufügt, sondern auch darin, dass Wygotski hier einen gravierenden methodischen Fehler begeht und dadurch auch das desavouiert, was an der Konzeption Piagets zweifellos richtig ist. Genau besehen sind es sogar zwei Fehler auf einmal. Der erste liegt darin, dass Wygotski (wie vor ihm Lenin) Logik mit Pragmatik (im Sinne der »technisch-praktischen Vernunft« Kants) gleichsetzt109, der zweite in der Missachtung der von ihm selbst schon mehrfach formulierten Einsicht, dass menschliche Arbeit, menschliche Praxis überhaupt, nie Sache eines Einzelnen ist. In der Tat haben Hegels Vorstellungen von der menschlichen Arbeit »einen tiefen materialistischen Inhalt« (wovon man sich allerdings mehr anhand der »Jenaer Realphilosophie« als mit Blick auf die »Logik« oder die »Phänomenologie des Geistes« überzeugen kann) - ihr Grundmangel besteht aber darin, dass es bei Hegel immer nur Einer ist, der arbeitet; den Begriff der Kooperation (bzw., in der Terminologie Wygotskis, der kollektiven Zusammenarbeit) wird man vergeblich bei ihm suchen. Daher kann im Rahmen seines Arbeitsbegriffs das Problem des möglichen Dissenses zwischen den am Produktionsprozess Beteiligten und seiner Überwindung nicht einmal thematisiert, geschweige denn gelöst werden. Im Übrigen hat, wie der Blick in die Wissenschaftsgeschichte zeigt, realhistorisch die Logik ihren Ursprung überhaupt nicht in der Produktionssphäre, sie entstand vielmehr im Zusammenhang politischer bzw. juristischer Kontroversen und ist in ihrer klassischen (d.h. aristotelischen) Form ein Gegenentwurf zur Sophistik110. Aber nicht nur, dass Lenin in den von Wygotski zitierten Anmerkungen zu Hegels »Wissenschaft der Logik« mit einer in mehrfacher Hinsicht problematischen Vorstellung vom Ursprung der Logik operiert (man beachte: er spricht nicht von »den«, sondern von »dem« Menschen) - auch seine Kritik an A.A. Bogdanow, auf die Wygotski anspielt, hält einer näheren Überprüfimg nicht

103 stand, beruht sie doch auf einem interessierten Quidproquo: Da, wo Bogdanow unmissverständlich von der »Feststellung« der Objektivität der physischen Körper spricht, tut Lenin so, als sei von der »/Erstellung« ihrer objektiven Existenz die Rede (vgl. hierzu ausführlich LW 14, 118). Das heißt, Lenin, der ja in »Materialismus und Empiriokritizismus« selbst weitestgehend an Feuerbach anknüpft, liest in Bogdanow Mach hinein, wo er eigentlich Feuerbach herauslesen sollte111. Wäre Wygotski in dieser Frage nicht dem Feuerbach-Schüler Lenin, sondern Feuerbach selbst gefolgt, hätte er nicht nur einen peinlichen Missgriff vermieden, sondern darüber hinaus noch seine Kritik an Piaget um einen weiteren Aspekt bereichern können. Tatsächlich liest sich nämlich jenes Kapitel in Feuerbachs »Wesen des Christentums«, das dem christlichen Wunderglauben gewidmet ist, über weite Strecken wie ein um viele Jahrzehnte vorweggenommener Beitrag zur Diskussion um das »Autismus/Egozentrismus«-Problem - ein Beitrag zudem, der im Sinne der Forderung Wygotskis (vgl. oben, S. 95 ff.) von vornherein auf die Zusammenhänge zwischen »Autismus« und Realismus eingeht. So schreibt Feuerbach u.a.: »Das Wunder ist ein Ding der Einbildung - ebendeswegen auch so gemütlich, denn die Phantasie ist die dem subjektiven Gemüte allein entsprechende Tätigkeit, weil sie alle Schranken, alle Gesetze, welche dem Gemüte wehetun, beseitigt und so dem Menschen die unmittelbare, schlechthin unbeschränkte Befriedigung seiner subjektivsten Wünsche vergegenständlicht.« (GW 5, 235) Und nur eine Seite später heißt es : »Gemütlich ist aber eben das Wunder, weil es, wie gesagt, ohne Arbeit, ohne Anstrengung die Wünsche des Menschen befriedigt. Arbeit ist gemütlos, ungläubig, rationalistisch; denn der Mensch macht hier sein Dasein abhängig von der Zwecktätigkeit, die selbst wieder lediglich durch den Begriff der gegenständlichen Welt vermittelt ist. Aber das Gemüt kümmert sich nichts um die objektive Welt; es geht nicht außer und über sich hinaus; es ist selig in sich.« (a.a.O., 236) Bereits im vorausgegangenen Kapitel, das die »Allmacht des Gemüts« bzw. das »Geheimnis des Gebets« behandelt, hatte er geschrieben: »Der Mensch, der sich nicht die Vorstellung der Welt aus dem Kopf schlägt, die Vorstellung, daß alles hier nur vermittelt ist, jede Wirkung ihre natürliche Ursache hat, jeder Wunsch nur erreicht wird, wenn er zum Zweck gemacht und die entsprechenden Mittel ergriffen werden, ein solcher Mensch betet nicht; er arbeitet nur; er verwandelt die erreichbaren Wünsche in Zwecke reeller Tätigkeit; die übrigen Wünsche, die er als subjektive erkennt, negiert er oder betrachtet sie eben nur als subjektive, fromme Wünsche.« (a.a.O., 222)

104 Gewiss, auch hier ist von »dem« Menschen, also einem Einzelnen die Rede aber es geht hier auch nicht um »Logik« und »Wahrheit«, sondern um das die menschliche Praxis leitende Realitätsprinzip. Wo es um Wahrheit im Sinne der Gültigkeit des Denkens geht, schreibt Feuerbach: »Übereinstimmung ist das erste Kriterium der Wahrheit, aber nur deswegen, weil die Gattung das letzte Maß der Wahrheit ist. Was ich nur denke nach dem Maße meiner Individualität, daran ist der andere nicht gebunden, das kann anders gedacht werden, das ist eine zufällige, nur subjektive Ansicht. Was ich aber denke im Maße der Gattung, das denke ich, wie es der Mensch überhaupt nur immer denken kann und folglich der einzelne denken muß, wenn er normal, gesetzmäßig und folglich wahr denken will.« (a.a.O., 277) Dass hier von etwas völlig anderem die Rede ist als von der »Anpassung eines Denkens an ein anderes« ist klar ersichtlich112. Ebenso klar ersichtlich ist aber auch, dass es - zurück zur Kritik Wygotskis an Piaget - völlig im Sinne Feuerbachs ist, die beiden von ihm getrennt voneinander explizierten Gedanken zu einem umfassenderen Gedanken zu synthetisieren113. Nun wäre aber ein offener Rückgriff auf Feuerbach nicht bloß der Sachproblematik weitaus angemessener gewesen als der Pflicht-Exkurs in den »Leninismus«; er hätte zudem einen bruchlosen Übergang zu jener Kritik ermöglicht, mit der Wygotski (jetzt wieder auf der Ebene rein innerpsychologischer Auseinandersetzung) sein Begleitwort zu Piagets Buch ausklingen lässt. Hier am Ende kommt nämlich in aller Ausführlichkeit mit W. Stern ein anderer namhafter Sprach- und Entwicklungspsychologe zu Wort, bei dem wiederum das Problem der »sozialen Situation« im Mittelpunkt der Argumentation steht, diesmal unter methodologischen Gesichtspunkten. Nach der Auffassung Sterns geht Piaget »viel zu weit, wenn er behauptet, daß in der ganzen frühen Kindheit bis zum siebenten Jahre mehr egozentrisch als sozial geredet werde und daß erst jenseits dieser Altersgrenze die soziale Funktion des Redens das Übergewicht gewinne«. Der Grund für diesen Irrtum liege darin, »daß Piaget die Bedeutung der sozialen Situation nicht genügend würdigt«. Ob ein Kind »mehr 'egozentrisch' oder 'sozial'« rede, hänge »nicht nur von seinem Alter, sondern auch von den Umweltsbedingungen« ab, in denen es sich jeweils befinde. So seien die von Piaget ermittelten »Egozentrismus«Koeffizienten offensichtlich nur für jenes spezielle Kindermilieu gültig, in dem er seine Untersuchungen durchgeführt habe. Es sei nur »natürlich«, dass dort, »wo Kinder fast ausschließlich mit Spieltätigkeit beschäftigt sind«, die »monologischen Begleitreden ihres Spiels einen sehr breiten Raum einnehmen«. Darüber hinaus habe eine Paralleluntersuchung sogar gezeigt, »daß die besondere Struktur des Kinderheims von Bedeutung ist«. In Genf, »wo die Kinder - ähnlich wie

105 in Montessoriheimen - in losem Beieinander meist individuell für sich spielen«, sei der »Egozentrismus«-Quotient höher als in deutschen Kindergärten, »wo eine engere soziale Gemeinschaft der spielenden Kinder in Gruppen gepflegt wird«. Noch mehr gelte dies für »die kindliche Redesituation im häuslichen Milieu«. Hier sei ja »schon das Sprechenlernen des Kindes eine durch und durch soziale Angelegenheit«114; zudem habe hier das Kind »um seiner praktischen und geistigen Bedürfnisse willen so viel zu wünschen und zu erbitten, so viel zu fragen und zu hören, daß das Verlangen nach Verstehen und Verstandenwerden, also nach sozialisierter Rede, schon in sehr frühen Jahren eine große Rolle spielen muß« (W. Stern in: Stern & Stern 1928, zit. nach Wygotski a.a.O., 63). Für Wygotski ist nun an der Argumentation Sterns besonders wichtig, dass in ihr nicht bloß die Bedeutung der sozialen Situation überhaupt hervorgehoben wird, sondern zugleich auch zum Ausdruck kommt, dass das die kindliche Entwicklung bestimmende »soziale Milieu« ein dem gesellschaftlich-historischen Wandel unterworfener Faktor ist. Und so gilt denn auch sein eigener Schlussgedanke dem Problem der Historizität der menschlichen Psyche: Entgegen der »Grundtendenz der ganzen modernen Kinderpsychologie«, die auf der Suche nach dem »Ewig-Kindlichen« sei, bestehe die wirkliche Aufgabe der Psychologie darin, das »Historisch-Kindliche« aufzudecken (Wygotski a.a.O., 64). Was die Wirkungsgeschichte dieser kritischen Auseinandersetzung Wygotskis mit der Konzeption Piagets115 anbelangt, so ist sie in direkter Weise mit der Wirkungsgeschichte der Auffassungen Wygotskis überhaupt verbunden. Tatsächlich war die durch Zugeständnisse an den 'Zeitgeist' erzielte Akzeptanz nur von relativ kurzer Dauer. Zwar konnte die Arbeit auch noch in das Buch »Denken und Sprechen« Eingang finden, das 1934, wenige Monate nach dem Tod Wygotskis (er starb, siebenunddreißigjährig, in der Nacht zum 11. Juni) herauskam, aber in Auswirkung des am 4. Juli 1936 vom ZK der KPdSU (B) verabschiedeten und einen Tag später in der Prawda veröffentlichten »Pädologiedekrets«116 verschwand nicht nur »Denken und Sprechen« aus der Öffentlichkeit, sondern es wurde auch Wygotskis Begleitwort zu dem Buch Piagets »aus allen Exemplaren der staatlichen Bibliotheken Moskaus herausgetrennt« (Friedrich 1993, 134, Anm. 7), und dies mit einer solchen Sorgfalt, dass sein Fehlen nur von denen bemerkt werden konnte, die um seine Existenz wussten.117 Für Wygotski selbst erfüllte die detaillierte Kritik an Piaget indes keineswegs nur die Funktion, in aller Öffentlichkeit zu einer jener »bürgerlichen Theorien« auf Distanz zu gehen, die in der Zeit vor 1931richtungweisendfür die Herausbildung der eigenen Anschauungen von der kindlichen Entwicklung gewesen waren. Vielmehr bildet die intensive Auseinandersetzung mit den Auffassungen Piagets, die zugleich auch eine Auseinandersetzung mit den Auffassungen

106 Freuds über die Eigentümlichkeiten der Frühphase der kindlichen Entwicklung ist, einen integralen Bestandteil der Erarbeitung eines neuen eigenen Ansatzes, eines Ansatzes, dessen Grundlinien zwar auch schon in dem kritischen Begleitwort zu dem Buch von Piaget durchscheinen, der aber noch deutlicher in Wygotskis umfangreichem Manuskript über das Säuglingsalter zum Tragen kommt. Hier nämlich entwickelt Wygotski zum ersten Mal in aller Ausführlichkeit den Gedanken, dass die Sozialität von Anfang an zu den Wesensmerkmalen menschlicher Existenz gehört und deshalb auch die (im strengen Sinne) soziale Umwelt die wesentliche Bedingung für die psychische Entwicklung des Kindes, für die Genese und Differenzierung seiner spezifisch menschlichen Eigenschaften und Funktionen ist. Grundlegend ist dabei die Einsicht, dass es sich bei der Sozialität des Menschen keineswegs um ein invariantes Merkmal handelt, vielmehr jedes Entwicklungsstadium durch eine ihm eigentümliche Form der Sozialität charakterisiert werden kann. 3.3. Die »Sozialpsychologie« des Säuglings Die für das Säuglingsalter spezifische Form etwa »resultiert aus der einmaligen, unwiederholbaren sozialen Entwicklungsituation«, dass das Kind »nicht in der Lage« ist, »auch nur ein einziges seiner Lebensbedürfnisse selbständig zu befriedigen« (ASch Bd. 2, 107). Die Ernährung, die Ortsbewegung, sogar das Umdrehen von einer Seite auf die andere »ist nicht anders möglich als in Zusammenarbeit mit Erwachsenen«. In welcher Form auch immer das Kind tätig ist, der Hauptweg »(führt) in diesem Alter über andere, führt über die Erwachsenen. Absolut alles im Verhalten des Säuglings ist eingesponnen und eingewoben in Soziales.« Selbst »die Beseitigung von störenden Reizen ... erfolgt immer auf demselben Wege, nämlich über andere«. Und durch all dies »entsteht diese einzigartige, unvergleichliche Abhängigkeit des Kindes von den Erwachsenen, die ... auch die scheinbar intimsten individuellen biologischen Bedürfnisse des Säuglings prägt und durchdringt. Als Folge der Abhängigkeit des Säuglings von den Erwachsenen gewinnt sein Verhältnis zur Realität (und zu sich selbst) einen ganz spezifischen Charakter: es werden diese Beziehungen nämlich immer durch andere vermittelt, sie werden immer durch das Prisma der Beziehungen zu einem anderen Menschen gebrochen.« (a.a.O., 108) Gewiss, bei alledem ist der Säugling »in weitaus größerem Maße Objekt der sozialen Beziehungen als ihr Subjekt, ihr aktiver Teilnehmer« (a.a.O., 107), nichtsdestoweniger ist sein Verhältnis zur Wirklichkeit »von Anfang an ein soziales Verhältnis«, so dass man daher auch »den Säugling als ein höchst soziales Wesen bezeichnen« kann:

107 »Jede, selbst die elementarste Beziehung des Kindes zur Umwelt ist stets eine Beziehung, die gebrochen ist durch die Beziehung zu einem anderen Menschen. Das gesamte Leben des Säuglings ist so organisiert, daß in jeder Situation, sichtbar oder unsichtbar, ein anderer Mensch anwesend ist. Man kann das auch so ausdrücken: Jede Beziehung des Kindes zu den Dingen ist eine Beziehung, die mit Hilfe eines anderen Menschen beziehungsweise über ihn realisiert wird.« (a.a.O., 108 f.) Wird durch diese Ausführungen Wygotskis schlagartig der tiefe Sinn von Feuerbachs provokanter Feststellung deutlich, der Mensch sei »der Gott des Menschern (vgl. oben, Kap. 1.3.), so ergibt sich ein ähnliches »Aha-Erlebnis« angesichts einer späteren Passage, in der Wygotski den i.e.S. psychologischen Gehalt des feuerbachschen Gedankens expliziert, demzufolge »der erste Gegenstand des Menschen« der andere Mensch ist. »Der erwachsene Mensch«, schreibt er, »ist das Zentrum jeder Situation im Säuglingsalter. Deshalb ist es nur natürlich, daß sich für den Säugling die Situation einfach in Abhängigkeit davon extrem und grundlegend verändert, ob ein Erwachsener in seiner Nähe ist oder nicht. Bildlich gesprochen kann man sagen: Das bloße Näherkommen oder Weggehen des Erwachsenen mobilisiert oder schwächt die Aktivität des Kindes. Ist kein Erwachsener in der Nähe, so ist der Säugling hilflos. Seine Aktivität gegenüber der Außenwelt ist irgendwie gelähmt oder zumindest in höchstem Grade eingeschränkt. (...) Ist der Erwachsene anwesend, so ist es für die Aktivität des Kindes die normalste und natürlichste Sache, sie über den anderen Menschen zu realisieren. Aus diesem Grunde ist der andere Mensch für den Säugling stets das psychologische Zentrum jeder Situation. Deshalb wird auch der Sinn jeder Situation für den Säugling in erster Linie durch dieses Zentrum, das heißt durch dessen sozialen Inhalt bestimmt. Im weiteren Sinne kann man sagen: Die Beziehung des Kindes zur Umwelt ist abhängig und abgeleitet von seinen konkreten, unmittelbaren Beziehungen zum erwachsenen Menschen.« (Wygotski a.a.O., 138 f.) Auch mit seiner Konzeption von der Genese des »Ur-Wir-Bewußtseins« als der ersten, der sozialen Entwicklungssituation im Säuglingsalter direkt entsprechenden psychischen Neubildung scheint Wygotski an Vorstellungen Feuerbachs anzuknüpfen. Immerhin besteht eine deutliche Parallele zwischen dessen Annahme, dass »ein absolut für sich allein existierender Mensch sich selbstlos und unterschiedslos in dem Ozean der Natur verlieren« und »weder sich als Menschen noch die Natur als Natur erfassen« würde, und jenem Bild, das Wygotski von der Psyche des Neugeborenen entwirft. Danach »kann beim Neugeborenen nur von einem rudimentären Zustand psychischen Lebens die Rede sein, wo alle eigentlich intellektuellen und volitiven Bewußtseinserscheinungen auszuschließen sind«. Weder gebe es »angeborene Vorstellungen noch ein wirkliches Wahr-

108 nehmen, das heißt ein Erfassen äußerer Gegenstände und Vorgänge als solcher«. Das einzige, was man »mit einiger Berechtigung annehmen« dürfe, seien »dumpfe, unklare Bewußtseinszustände, in denen sinnliche und emotionale Bestandteile noch unlöslich miteinander verschmolzen sind und die wir als sinnliche Gefühlszustände oder als emotional gefärbte Empfindungszustände bezeichnen können« (ASch Bd. 2, 102). Aufs Ganze gesehen sind es zwei wesentliche Momente, die für Wygotski das psychische Leben des Neugeborenen charakterisieren: »Das erste ist das starke Überwiegen undifferenzierten, ungegliederten Erlebens, das gleichsam eine Legierung aus Trieb, Affekt und Empfindung darstellt. Das zweite besteht darin, daß das Psychische des Neugeborenen sich selbst und sein Erleben nicht von der Wahrnehmung der objektiven Dinge trennt und noch nicht zwischen sozialen und physischen Objekten unterschieden wird.« (a.a.O., 103) Mit anderen Worten: Das neugeborene Kind hebt »weder sich selbst noch andere Menschen aus der Gesamtsituation heraus, die sich aus seinen instinktiven Bedürfnissen ergeben hat. Zweitens existiert für das Kind in dieser Zeit noch nichts und niemand, es erlebt eher Zustände als bestimmte objektive Inhalte.« (a.a.O., 142) Wenn nun diese beiden Besonderheiten in der für das Säuglingsalter charakteristischen psychischen Neubildung verschwinden, so ist diese Neubildung selbst durch die Hauptrichtung bestimmt, in der die gesamte Entwicklung des Säuglings verläuft. Tatsächlich ist ja die Situation dadurch gekennzeichnet, »daß für die Aktivität des Kindes nur ein Weg zur Außenwelt offensteht, und dieser Weg führt über einen anderen Menschen. Daher ist völlig natürlicherweise zu erwarten, daß sich im Erleben des Säuglings vor allem sein gemeinsames Tun mit anderen Menschen in einer konkreten Situation differenzieren, abheben, Gestalt annehmen muß. Natürlich ist auch zu erwarten, daß der Säugling sich selbst noch nicht von seiner Mutter abgrenzt.« (ebd.) Von daher »(kann) das erste, was im Bewußtsein des Säuglings entsteht, am treffendsten und präzisesten als UrWir bezeichnet werden«. Allerdings, und dies festzuhalten ist wichtig, darf dieses »erste Bewußtsein von der psychischen Gemeinschaft, das der Entstehung des Bewußtseins von der eigenen Persönlichkeit vorausgeht (d.h. dem Bewußtwerden eines differenzierten, abgehobenen Ich)« nicht verwechselt werden mit »jene(m) flexible(n), komplizierte(n) spätere(n) Bewußtsein des Wir, das bereits das Ich einschließt und erst in höherem Alter auftritt« (a.a.O., 143). Vom undifferenzierten, ungegliederten Erleben über das »Ur-Wir-Bewußtsein« zum Bewusstwerden eines differenzierten, von den Dingen und von andern Menschen abgehobenen »Ich« - so verläuft also nach Wygotski der Prozess der Herausbildung der kindlichen Persönlichkeit, ein Prozess, dessen objektive Di-

109 mension das schrittweise Heraustreten des Kindes aus der primären Abhängigkeit von der Mutter ist: »Während sich das Kind beim Geburtsvorgang physisch von der Mutter löst, ist es biologisch noch bis zum Ende des Säuglingsalters mit ihr verbunden, bis es selbständig zu laufen gelernt hat. Psychisch emanzipiert sich das Kind von der Mutter, löst es sich aus der ursprünglichen Gemeinschaft mit ihr erst nach dem Säuglingsalter, erst im Kleinkindalter.« (a.a.O., 142) Oder in den Worten Feuerbachs: »... indem er [der Mensch - P.K.] im eigentlichen Sinne auf seinen eigenen Beinen stehen lernt, wird er auch im uneigentlichen Sinne erst selbständig.« (GW 11, 155) 4. Gedanke und Wort »Das Wort ist im Bewußtsein - wie Feuerbach sagt - für einen einzelnen Menschen unmöglich und nur für zwei möglich. Es ist der unmittelbare Ausdruck der historischen Natur des menschlichen Bewußtseins.« L.S. Wygotski: Gedanke und Wort (1934) Wenn im Vorwort zu Wygotskis »Denken und Sprechen« mit Blick auf das »Ergebnis einer fast zehnjährigen ununterbrochenen Arbeit des Verfassers und seiner Mitarbeiter an der Untersuchung von Denken und Sprache« davon die Rede ist, einerseits habe man »früher aufgestellte Thesen im Laufe der Arbeit mehrmals überprüfen, vieles, was sich als falsch erwiesen hatte, fallenlassen und aussondern, anderes umformen und vertiefen und drittes schließlich bearbeiten und vollkommen neu schreiben« müssen, andererseits habe sich die »Grundtendenz« der Forschungen »die ganze Zeit über unentwegt in einer einzigen, von Anfang an eingeschlagenen Richtung« entwickelt (Wygotski 1969, 3), so ist damit in treffender Weise das Verhältnis der 1932-34 entstandenen Arbeiten Wygotskis zur ursprünglichen »kulturhistorischen Theorie« charakterisiert. In der Tat finden sich beim 'späten' Wygotski bestimmte Teilkonzeptionen nicht mehr, die für seine Auffassungen in den Jahren 1928 bis 1930/31 konstitutiv waren, zugleich hat verschiedenes von dem, was »in voraufgegangenen Arbeiten implicite enthalten« war (ebd.), jetzt deutliche Konturen gewonnen, während andere Momente neu hinzugekommen sind - und dennoch handelt es sich bei alledem nach wie vor um einen »kulturhistorischen« Ansatz. Freilich ist es notwendig, »Denken und Sprechen« buchstäblich 'von hinten nach vorn' zu lesen, d.h. den Argumentationsgang des Buches vom Schlusswort her nachzuvollziehen118, um zu bemerken, dass sich die Anschauungen des 'späten' Wygotski direkt auf jene Vorstellungen projizieren lassen, die bei Feuerbach, sei es unmittelbar, sei es

110 mittelbar, mit dem Gedanken verknüpft sind, dass der Mensch zwar der Natur seine Existenz, sein Menschsein aber den anderen Menschen, der Kultur, der Geschichte verdankt (vgl. oben, Kap. 1.3.). 4.1. Die »Zusammenarbeit« als Ursprung der höheren psychischen Funktionen Dabei ist, worauf bereits J.A. Budilowa aufmerksam macht (vgl. Budilowa 1975, 136), der Unterschied der späten gegenüber den frühen Auffassungen Wygotskis, ja, sogar gegenüber den noch in der »Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen« gehaltenen Positionen in mehr als einem Punkt höchst augenfällig. So hat etwa der 'späte' Wygotski endgültig die Auffassung überwunden, dass die »höheren« bzw. »spezifisch menschlichen« psychischen Funktionen aus der instrumenteil vermittelten »Herrschaft« des Kindes über seine natürlichen Psychismen resultieren, stattdessen geht es ihm nun im wesentlichen darum, zu zeigen, wie die für jede Altersstufe spezifische und unwiederholbare »soziale Entwicklungssituation« die Art und Weise bestimmt, in der »das Kind immer neue Persönlichkeitseigenschaften erwirbt« (ASch Bd. 2, 75). Gewiss, auch jetzt ist mit Blick auf das Verhältnis des Kindes zu sich selbst bisweilen noch von »Beherrschung« die Rede, aber eher in einem uneigentlichen Sinne. Gemeint ist nicht mehr die »Herrschaft« des Intellekts über die Natur (in freudscher Terminologie: die »Herrschaft« des »Ich« über das »Es«), sondern die Fähigkeit des Kindes, Körperbewegungen und Körperhaltung 'in eigener Regie', d.h. unabhängig von der Hilfe anderer zu organisieren. So spricht Wygotski etwa davon, dass »Kinder im Sitzen, wenn sie diese Körperhaltung noch nicht beherrschen, weniger aktiv« sind, während die »Fortschritte«, die ein fünf bis sechs Monate altes Kind »in der Beherrschung des eigenen Körpers, seiner Lage und seiner Bewegungen« macht, dazu führen, »daß es nun schon den Kontakt mit Gleichaltrigen sucht« (ASch Bd. 2, 136 f.). Andererseits verwendet er anstelle des früher bei ihm üblichen Ausdrucks »Beherrschung des eigenen Verhaltens« jetzt den Ausdruck »geistige Steuerung der Bewegungen« (vgl. a.a.O., 121 f.).119 Da mit dem alten »Herrschafts«-Konzept zugleich auch der diesem Konzept korrespondierende Trialismus von (eigener) Natur (»Es«), subjektivem Intellekt (»Ich«) und objektiver Vernunft (»Über-Ich«) aufgegeben ist, hat auch der für die Ausgangsversion der »kulturhistorischen Theorie« konstitutive Leitgedanke von den zwei Entwicklungslinien im Verhalten des Kindes (der »natürlichen« und der »kulturellen«), die an einem bestimmten Punkt »konvergieren« und miteinander »verschmelzen«, keine Grundlage mehr. In diesem Sinne ist die an den Konzeptionen Piagets und Sterns geübte Kritik120 eine zwar indirekte, gleich-

Ill wohl aber äußerst radikale Selbstkritik Wygotskis. An die Stelle der alten Rahmentheorie ist jetzt die einer progressiven Verwandlung des Kindes aus einem Naturwesen in ein Kulturwesen (ein »Produkt des Menschen, der Kultur, der Geschichte«) getreten; ein Prozess, in dem das Kind das mit seiner bloßen Existenz erst nur gesetzte Menschsein in der »Zusammenarbeit« mit seinen Mitmenschen verwirklicht121; ein Prozess auch, in dem es anfangs weit mehr Objekt als Subjekt ist, in dessen Verlauf es sich aber, korrespondierend der Entwicklung der »Zusammenarbeit«, mehr und mehr zum Subjekt seiner eigenen Geschichte machen kann. So paradox es auf den ersten Blick erscheinen mag - der Leitgedanke von den zwei Entwicklungslinien des Verhaltens war der systematischen Untersuchung der i.e.S. biologischen Entwicklung des Kindes eher hinderlich als förderlich. Nun aber - unter der Prämisse, dass bereits beim Säugling »absolut alles in Soziales eingesponnen und eingewoben« ist, dass nicht erst beginnend mit dem »Schimpansenalter« eine Konversion der organischen Entwicklung des Kindes in einen »historisch bedingten biologischen Prozeß« erfolgt, sondern dass in der (wie man sie nennen könnte) 'Einlösung der Option für das Menschsein' die »beiden Entwicklungslinien, die natürliche und die kulturelle« von Anfang an »zusammenfallen« und so »eine einzige Linie der biologisch-gesellschaftlichen Ausformung der Persönlichkeit des Kindes bilden« - nimmt, wie dies bereits an Wygotskis Arbeit von 1932 über das Säuglingsalter deutlich wird, in seinen Überlegungen die Frage nach der anatomischen und physiologischen Entwicklung des Kindes einen breiten Raum ein (vgl. ASch Bd. 2, 94 ff., 100 f., 113122). Im weiteren Zusammenhang dieser Frage wird von ihm auch die Reflexologie einer kritischen Analyse unterzogen, wobei er sich insbesondere gegen deren Anspruch wendet, als allgemeine und umfassende Theorie der psychischen Entwicklung des Kindes zu fungieren. Unter Berufung darauf, dass »die Instinkte und nicht die Reflexe die Urform der Aktivität des Kindes« sind »und die Entwicklung der Motorik des Säuglings vor allen Dingen dadurch gekennzeichnet« ist, »daß bei ihm einzelne, gesonderte, spezialisierte Bewegungen eines bestimmten Organs noch nicht vorhanden sind und statt dessen globale, den ganzen Körper erfassende massive Bewegungen vorherrschen« (a.a.O., 126)122, räumt Wygotski zwar ein, dass »die Entwicklung der höheren Nerventätigkeit und insbesondere die Bildung bedingter Reflexe zweifellos zu den wichtigsten Seiten der Entwicklung im Säuglingsalter (gehören), wo die ersten Grundlagen der persönlichen Erfahrung des Kindes gelegt werden«, aber er bestimmt dies alles zugleich als einen »Prozeß, der in der Mitte liegt«. Denn zum einen werde »er selbst durch andere, kompliziertere Entwicklungsprozesse determiniert, die

112 als Voraussetzung für die Entwicklung der bedingtreflektorischen Tätigkeit dienen«, und zum anderen bilde er »seinerseits die Voraussetzung für kompliziertere und höhere Formen der psychischen und sozialen Entwicklung des Kindes«. Erhebe man daher die reflexologische Theorie »in den Rang eines Universalprinzips«, so führe dies »zwangsläufig zur unzulässigen Vereinfachung der gesamten Entwicklung«, werde »die Eigengesetzlichkeit dieser höheren Prozesse ignoriert«, wobei sich dann der prinzipielle Mangel einer solchen »mechanistischen Interpretation der Entwicklung« am deutlichsten darin äußere, dass die Reflexologie »nicht in der Lage« sei, »den grundsätzlichen Unterschied zwischen der sozialen Entwicklung des Kindes und der Entwicklung der Tiere zu erfassen« (a.a.O., 151 f.). Konnte es im Rahmen der ursprünglichen »kulturhistorischen Theorie« letztlich nur zwei Hauptepochen der psychischen Entwicklung des Kindes geben: die 'präinstrumentelle' (sprachlose) und die 'instrumenteile' Periode (Sprachperiode), so lässt der neue Ansatz Raum für ein sehr differenziertes System der Periodisierung der Altersstufen - ein Thema, das Wygotski detailliert in einem weiteren, 1934 verfassten Kapitel zu seinem unvollendet gebliebenen Buch über Kinderpsychologie123 abhandelt. Ausgehend von dem Grundgedanken, dass als Hauptkriterium für die Unterteilung der Entwicklung des Kindes in Altersstufen die psychischen Neubildungen gelten müssen (vgl. ASch Bd. 2, 69), entwirft er hier ein Schema, in welchem die Stufenfolge der psychischen Entwicklung »durch den Wechsel von stabilen und kritischen Perioden (bestimmt)« wird (ebd.), und das, den Zeitraum von der »Krise des Neugeborenen« bis zur »Krise des Siebzehnjährigen« abdeckend, insgesamt 11 Etappen umfasst (vgl. a.a.O., 70 f.). Gemäß diesem Schema »muß bei der Analyse a) die kritische Phase, die eine Altersstufe und deren hauptsächliche Neubildung einleitete, bestimmt werden; b) muß sodann die Entstehung und Ausbildung der neuen sozialen Situation verfolgt, müssen ihre inneren Widersprüche aufgedeckt werden124; c) muß die Genese der wichtigsten Neubildungen untersucht und d) muß schließlich die Neubildung selbst untersucht werden, die in sich die Bedingungen für den Zerfall der für dieses Alter charakteristischen sozialen Situation trägt« (Elkonin 1987, 42; vgl. hierzu ausführlicher ASch Bd. 2, 7277). Ist der Dreh- und Angelpunkt der Auffassungen des 'späten' Wygotski die Einsicht, dass die (im strengen Sinne) soziale Umwelt nicht lediglich eine äußere Bedingung der psychischen Entwicklung des Kindes, sondern deren wesentliche innere Bedingung ist (vgl. ASch Bd. 2, 75 ff., 85), so ist die zentrale Kategorie seiner auf dieser Einsicht gründenden Entwicklungstheorie die Kategorie der Zusammenarbeit des Kindes mit anderen Menschen, eine Kategorie, die Wygotski

113 bereits 1930/31 aus der Konzeption Piagets übernommen hatte und an der er trotz seiner späteren kritischen Einstellung zu Piaget auch nach 1932 noch festhielt. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass bei Piaget im Original (vgl. »Le langage et la pensee chez l'enfant«) von »collaboration« und »cooperation« die Rede ist, worunter dann u.a. auch die rein verbale Unterstützung der Tätigkeit des Kindes durch Kommentare und Ratschläge fällt. Wygotski seinerseits belässt es nicht bei diesem schon sehr weiten Verständnis von »Zusammenarbeit«, sondern nimmt auch noch die Nachahmung mit in den Begriff auf125. Zentral ist in der Entwicklungskonzeption des 'späten' Wygotski die Kategorie der »Zusammenarbeit« deshalb, weil das tätige Zusammenwirken des Kindes mit anderen Menschen eben nicht nur die »allererste Quelle für die Entwicklung der inneren individuellen Eigenschaften der Persönlichkeit des Kindes« ist (ASch Bd. 2, 85), sondern die permanente »Quelle« seiner - im Prinzip 'nach oben offenen' - Höherentwicklung überhaupt. Dies zu betonen, ist notwendig. Da in der nach dem Tode Stalins eingeleiteten und mit dem 20. Parteitag der KPdSU stabilisierten »Tauwetter«-Periode zunächst nur einige bereits früher schon publizierte Arbeiten Wygotskis wiederaufgelegt wurden und die Herausgeber dabei zugleich nach sehr restriktiven Auswahlkriterien verfuhren126, konnte sich nämlich das Vorurteil herausbilden, Wygotski sei vor allem der Autor von »Denken und Sprechen«, der darüber hinaus Bemerkenswertes auf dem Gebiet der Psychopathologie, (genauer: auf dem Gebiet der Schizophrenie- und Aphasie-Forschung) zustandegebracht und zudem einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet habe, »die Unterrichtstheorie wissenschaftlich zu fundamentieren« (vgl. Leontjew & Lurija 1958, 204). So ist denn auch bis in die jüngste Zeit sein Theorem von der »Zusammenarbeit« als der »Quelle« der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes als im wesentlichen »pädagogisches« Prinzip aufgefasst und die mit diesem Theorem eng zusammenhängende Konzeption der »Zone der nächsten Entwicklung« (vgl. Wygotski 1969, 236 ff. sowie ASch Bd. 2, 80 ff., 243, 298 ff.) in erster Linie »unterrichtstheoretisch« interpretiert worden (vgl. Leontjew & Lurija a.a.O.)127. So wichtig solche Überlegungen zu den praktisch-pädagogischen Konsequenzen der Auffassungen Wygotskis auch sind (siehe hierzu u.a. Engeström 1986) werden sie zu sehr in den Vordergrund gestellt, geht leicht die eigentliche Pointe des Theorems von der »Zusammenarbeit« als dem Ursprung der »höheren« psychischen Funktionen verloren, die darin besteht, dass die »Zusammenarbeit« eben nicht notwendig nur zu einer Reproduktion bestimmter im jeweiligen »Kulturkreis« bereits vorhandener (möglicherweise geschlechts-, klassenoder schicht-»spezifischer«) Fähigkeiten führen muss, sondern (korrespondierend der Entwicklung der Formen des menschlichen Zusammenlebens und -wirkens)

114 ebenso auch die Chance zur Herausbildung neuer, bisher noch nicht vorhandener Fähigkeiten bietet.128 Nicht zufällig spricht Wygotski gerade im sechsten Kapitel von »Denken und Sprechen« (in dem ja tatsächlich die Frage nach dem Verhältnis von Entwicklung und Unterricht zentral ist), unmissverständlich davon, dass »die Möglichkeit, in der Zusammenarbeit eine höhere Stufe der intellektuellen Möglichkeiten zu erreichen«, ein »flir die gesamte Psychologie wichtige(s) Moment« sei (Wygotski 1969, 240 - Hervorhn. P.K.). Wenn er daher in einer anderen Arbeit (1934 verfasst, 1935 erstmals publiziert) mit Blick auf das »Grundgesetz der Entwicklung der höheren psychischen Funktionen« sagt, in der Entwicklung des Kindes trete jede »höhere« psychische Funktion zweimal in Szene, »einmal als kollektive, soziale Tätigkeit, das heißt als interpsychische Funktion, das zweite Mal als individuelle Tätigkeit, als innere Denkweise des Kindes, als intrapsychische Funktion« (ASch Bd. 2, 302), so ist bei der »kollektiven, sozialen Tätigkeit« eben nicht nur an die 'Unterweisung' des Kindes durch Erwachsene gedacht (diese ist nur ein Sonderfall der »Wechselbeziehungen des Kindes mit den Menschen seiner Umgebung« [a.a.O., 303]), sondern Wygotski hat dabei alle Arten sozialen Verhaltens im Auge, von der Kooperation im strengen Sinne über die Nachahmung bis hin zum verbal angefochtenen Streit innerhalb einer Kindergruppe129. 4.2. »... daß jedes Ding einen Namen habe« Sicher, Wygotski hat die Nähe seiner auf der Kategorie der »Zusammenarbeit« fußenden Konzeption zum feuerbachschen Grundgedanken vom (mit bleibendem Resultat für den Einzelnen)130 'synergetischen' Effekt des Zusammenwir-kens der Menschen nicht verleugnet - aber der diesbezügliche Hinweis in seinem Vorwort zum 1932 erschienenen Buch J.K. Gratschewas über Probleme der Behindertenpädagogik (vgl. Sobr. sotsch., Tom 5, 230 bzw. Coli. Works, Vol. 2, 218 f.) war offenbar weder für seine Gegner noch seine Anhänger deutlich genug, um darin ein programmatisches Bekenntnis zu den Auffassungen Feuerbachs zu sehen. Entsprechendes gilt für den Hinweis auf Feuerbach am Ende von »Denken und Sprechen«, mit dem Wygotski die Darstellung jenes sprachpsychologischen Ansatzes abschließt, von dem es im Vorwort des Buches heißt, er münde unmittelbar in eine »neue psychologische Bewußtseinstheorie«, und in dem einmal mehr Wygotskis doch erhebliche Distanz zur Ausgangsversion der »kulturhistorischen Theorie« zutage tritt. Deren auffallendster Mangel bestand wohl darin, dass, wenngleich die Sprachproblematik von Anfang an zu ihren zentralen Themen gehörte, dennoch unklar blieb, wie Sprache eigentlich 'funktioniert'. Tatsächlich stützte sich ja

115 Wygotski in seinen frühen Arbeiten weitestgehend auf die sprachpsychologischen Auffassungen von K. Bühler, W. Stern und K. Koffka, die zwar in verschiedenen Punkten voneinander abwichen, aber doch in einem wesentlichen Punkt übereinstimmten, der Annahme nämlich, dass an das Problem der Sprache von der Beziehung Zeichen-Bezeichnetes her heranzugehen sei. Die vordergründig am wenigsten problematische Auffassung in dieser Frage kam in der These Sterns zum Ausdruck, dass das Kind im Alter von eineinhalb bis zwei Jahren die für sein ganzes weiteres Leben bedeutsame »Entdeckung« mache, dass »zu jedem Gegenstand« ein ihn symbolisierender, »der Benennung und Mitteilung dienende(r) (Lautkomplex)« gehöre, d.h. »daß jedes Ding einen Namen habe« (Stern 1914, 108). Bühler und im Anschluss an ihn auch Koffka (ein namhafter Repräsentant der Gestaltpsychologie) vertraten die weitergehende Annahme, dass diese »Entdeckung« des Kindes direkt mit den von Köhler beschriebenen »Werkzeug«-Erfindungen der Schimpansen vergleichbar sei, wobei der Unterschied ihrer Auffassungen darin bestand, dass Bühler die Sprache unmittelbar dem Werkzeugbegriff subsumierte, sie (wie vor ihm schon W. Wundt) als das »nützlichste Werkzeug des Denkens« bezeichnete (vgl. Bühler 1924, 360), während Koffka es bei einer Analogie beließ: Wie der Stock für den Schimpansen dadurch den »Charakter 'Ding zum Holen der Frucht'« bekomme, dass er auf eine bestimmte Weise optisch in die Problemsituation eingegliedert wird (vgl. Koffka 1925, 144), sei auch die Benennung eine Strukturleistung: Das Wort »springt in die Dingstruktur hinein, so wie der Stock in die Situation des 'Frucht-haben-wollens'« und gliedere sich der Dingstruktur in ähnlicher Weise ein »wie ihre übrigen Glieder«, d.h., das Wort werde »als Name zu einer Eigenschaft des Dinges« (a.a.O., 243 f.). Indem Wygotski sich an allen drei Auffassungen gleichzeitig orientierte (mit einer gewissen Präferenz für die Konzeptionen Bühlers und Koffkas - vgl. Vygotski 1929 u. Wygotski 1929), sah er sich vor unüberwindlichen Schwierigkeiten, als er erklären sollte, warum es den Schimpansen, obwohl sie über »Werkzeugdenken« im Sinne Bühlers (a.a.O., 85 f.) verfügen und obwohl sich in ihrer Phonetik »eine so große Anzahl der menschlichen Phonetik ähnlicher Tonelemente« findet, prinzipiell unmöglich ist, »sich tatsächlich das Sprechen im funktionellen Sinne an(zu)eignen« (vgl. Wygotski 1929, 457, 461). Die in der »Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen« vorgenommene Entkoppelung von Werkzeug- und Zeichenproblematik (vgl. oben, Kap. 2.3., S. 79 ff.) ermöglichte es zwar, Bühlers Drei-Stufen-Modell der Entwicklung (vom Instinkt über die Dressur zum Intellekt) um eine vierte Stufe zu erweitern, die nur vom Menschen erreicht wird: die Stufe der »Schöpfung und Verwendung von Zeichen, d.h. von künstlichen Signalen« (vgl. Vui-

116 gotskij 1987, 91 ff.)131 - aber diese Erweiterung des bühlerschen Schemas (das übrigens einem Großteil der damaligen Psychologen bereits zu weit ging)132 hatte lediglich Feststellungsfuvktion, und so blieben auch weiterhin wichtige Fragen unbeantwortet. Insbesondere bereitete der Umstand Schwierigkeiten, dass für den Werkzeug- bzw. Hilfsmittel-»Charakter« eines Dinges objektiv-funktionale Kriterien angegeben werden können, während die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem anscheinend der Willkür unterliegt und so die Etablierung einer festen, allgemein verbindlichen Verknüpfung zwischen Name und Ding unter den gegebenen Voraussetzungen rational nicht begründbar ist. Indes deutete sich eine Lösung dieses Problems bereits dadurch an, dass Wygotski es neu formulierte. Die wesentliche Frage war für ihn nun nicht mehr, 'wie das Ding zu seinem Namen kommt', sondern wie aus einer unmittelbaren sozialen Situation eine durch Zeichen vermittelte soziale Situation wird. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass er bereits im dritten Teil der »Pädologie des frühen Jugendalters« nicht mit einem, sondern mit zwei Kommunikationsmodellen operiert hatte, die nicht ohne weiteres miteinander kompatibel sind. Das eine Modell geht von der ursprünglichen »Kommandofunktion des Wortes« aus (vgl. Anm. 76), das andere knüpft an der Konzeption der Geste als einer vorsprachlichen Form der Kommunikation an. Verdeutlicht hatte Wygotski das zweite Modell am Beispiel des kleinen Kindes, das seine Hand vergeblich nach einem für es nicht erreichbaren Gegenstand ausstreckt und, vom Gegenstand quasi »hypnotisiert«, in dieser Haltung verharrt, was von der Mutter als Hinweisgeste aufgefasst wird, mit dem Resultat, dass sie dem Kind den erwünschten Gegenstand gibt. Das heißt, für die Mutter »gewinnt die mißglückte Greifbewegung früher Hinweischarakter als für das Kind. Weil sie das Kind, seine Bewegung in dieser Weise versteht133, verwandelt sich die Bewegung auch objektiv immer mehr in eine Hinweisgeste im eigentlichen Sinne des Wortes. In diesem Stadium kann man von einer Hinweisgeste für andere sprechen. Erst bedeutend später wird diese Handlung zu einer Hinweisgeste für sich, das heißt zu einer Handlung, die dem Kind selbst bewußt geworden ist und die es als solche wirklich begreift.« (ASch Bd. 2, 633) Dasselbe Beispiel findet sich dann in der »Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen« nicht nur in sich weiter ausdifferenziert (vgl. Vuigotskij 1987, 159 f.), sondern zugleich auch systematisch eingeordnet in das umfassendere Problem des qualitativen Umschlags einer nicht-vermittelten sozialen Situation in eine durch Zeichen vermittelte Situation. Ein Problem, das neben der ontogenetischen auch eine stammesgeschichtliche Dimension hat, weshalb Wygotski auch zunächst auf Köhlers Beschreibung der »nicht-vermittelten Beziehungen sozialen Charakters« zwischen den Schimpansen rekurriert (vgl.

117 oben, S. 82), um auf dieser Grundlage noch plastischer herausarbeiten zu können, dass »die Entwicklungsgeschichte der Hinweisgeste«134 nicht bloß »eine außerordentlich wichtige Rolle in der Entwicklung der Sprache des Kindes« spielt, vielmehr ganz allgemein »der ursprüngliche Ausgangspunkt aller höheren Formen des Verhaltens« ist (a.a.O., 159); denn: »Hier findet ein Funktionswandel der Bewegung selbst statt, aus einer auf den Gegenstand gerichteten Bewegung wird sie zu einer an eine andere Person gerichtete Bewegung, zu einem Kommunikationsmittel. (...) Dabei kann sich diese Bewegung nur deshalb in eine Geste für sich verwandeln, weil sie zuerst ein Hinweis an sich ist, d.h. objektiv alle fur einen Hinweis und eine an andere gerichtete Geste notwendigen Merkmale aufweist und so von den Personen im Umkreis als ein Hinweis interpretiert und verstanden wird. Tatsächlich wird sich daher das Kind als Letzter seiner Gesten bewusst.« (a.a.O., 160) M.a.W.: »Die Bedeutung und die Funktionen der Geste werden zuerst durch die objektive Situation geschaffen und danach durch die Personen fixiert, die das Kind umgeben ... und erst später wird das, was von den anderen verstanden wird, zu einem Hinweis für das Kind selbst.« (ebd.) Wenn so nach allem das VerstandenwwJe/* dem Verstandenwerdemvö/Ze/i vorausgeht135, bekommt auch die These von der ursprünglichen Kommandofunktion des Wortes, an der Wygotski in der »Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen« weiterhin festhält (vgl. a.a.O, 158), einen anderen systematischen Stellenwert, handelt es sich doch offenbar bei dem, was in ihr thematisiert wird, nicht um ein primäres, sondern um ein abgeleitetes Phänomen, das nur richtig interpretiert werden kann, wenn man auf den ursprünglichen Entstehungszusammenhang der zeichen-vermittelten Kommunikation zurückgeht und dann den Prozess ihrer Differenzierung nachvollzieht. 4.3. Zur Funktion und Spezifik von »innerer« Sprache und Schriftsprache Im Sinne dieser Perspektive war es nur konsequent, dass Wygotski seine Auffassung von den Zeichen präzisierte und Ende 1932 erstmals die Einsicht formulierte, es gebe zwischen den verschiedenen Zeichenarten prinzipielle Unterschiede, und der Sprache komme im Verhältnis zu den übrigen Zeichensystemen insofern eine Sonderstellung zu, als sich die Bedeutung eines Wortes im Prozess seiner Verwendung entwickelt, während die Bedeutung anderer Zeichen, einmal etabliert, konstant bleibt (vgl. hierzu Sobr. sotsch., Tom 1, 156-167 sowie Friedrich 1990, 113 ff., 172). Der aus dieser Einsicht resultierende Thesenkomplex, 1. »daß bei der Aneignung eines neuen Wortes der Entwicklungsprozeß des entsprechenden Begriffes nicht zu Ende ist, sondern erst beginnt«, 2. dass »die allmähliche innere Entwicklung seiner Bedeutung auch zur Reifung des ei-

118 gentlichen Wortes selbst (führt)«, 3. dass »die Entwicklung des Sinngehalts der Sprache ... der entscheidende Prozeß in der Entwicklung des Denkens und der Sprache des Kindes« ist (Wygotski 1969, 290), bildete dann die Richtschnur nicht nur für alle nachfolgenden Untersuchungen Wygotskis zum Problem der Begriffsbildung beim Kind, sondern auch für die weitere Vertiefung seines Verständnisses der inneren Beziehungen zwischen Denken und Sprache überhaupt. Eine gewisse Schlüsselstellung nehmen in diesem Zusammenhang seine detaillierten Überlegungen zur »inneren« Sprache und zur geschriebenen Sprache als den beiden Extremformen der Sprache ein. Die »innere« Sprache, als »Sprache für den Sprechenden selbst« (Wygotski 1969, 313), darf Wygotski zufolge »nicht als Sprache minus Zeichen betrachtet«, sondern muss als »eine in Aufbau und Ablauf besondere sprachliche Funktion« begriffen werden, »die wegen ihrer besonderen Qualität mit der äußeren Sprache in einer unlösbaren dynamischen Einheit des Übergangs von einer Ebene in die andere steht« (a.a.O., 328). Sie ist eine maximal zusammengedrängte, verkürzte »stenographische«, d.h. in ihrem syntaktischen Bau fast ausschließlich prädikative Sprache: »Ähnlich wie unsere Syntax in der gesprochenen Sprache dann prädikativ wird, wenn das Subjekt und die dazugehörigen Satzglieder in gewisser Weise zu Gesprächspartnern werden, besteht die innere Sprache, bei der das Subjekt, die Sprechsituation dem denkenden Menschen selbst immer bekannt ist, fast nur aus Prädikaten. Uns selbst brauchen wir niemals mitzuteilen, wovon die Rede ist. Das wird stets stillschweigend vorausgesetzt und bildet den Hintergrund des Bewußtseins.« (Wygotski 1969, 227) Infolgedessen »würde die innere Sprache, selbst wenn sie dem Außenstehenden hörbar gemacht würde, allen außer dem Sprechenden unverständlich bleiben, da niemand das psychische Feld kennt, auf dem sie verläuft« (ebd.). Die Vorstufe zur »inneren« bildet die »egozentrische« Sprache, die »ihrer psychologischen Funktion nach eine innere und ihrer Struktur nach äußere Sprache« ist und »durch die Differenzierung der ursprünglich sozialen Funktion der Sprache für andere« entsteht (vgl. Wygotski 1969, 317). In dem Maße, wie sich die Funktion der »egozentrischen« Sprache als Sprache für den Sprechenden selbst aus der allgemeinen ungegliederten sprachlichen Funktion aussondert, »wird auch ihre Vokalisierung funktionell überflüssig und sinnlos (wir wissen den von uns gedachten Satz früher, als wir ihn ausgesprochen haben), und genau in dem Maße, wie die strukturellen Besonderheiten der egozentrischen Sprache zunehmen, wird ihre Vokalisierung unmöglich«; denn: »Eine in ihrem Aufbau völlig unterschiedliche Sprache für den Sprechenden selbst kann nicht in einer ihrer Struktur nach völlig andersartigen äußeren Sprache ihren Ausdruck finden.« So

119 führt die »allmähliche Herausbildung ihrer inneren Natur« zwangsläufig dazu, »daß sie ihrer äußeren Erscheinung nach immer ärmer wird, also immer mehr die Vokalisierung verliert. In dem Augenblick, wenn sich die Sprache für den Sprechenden selbst von der Sprache für andere getrennt hat, muß sie notwendig aufhören, eine Lautsprache zu sein, und folglich den Anschein erwecken, daß sie verschwunden sei.« (a.a.O., 320) Tatsächlich »verbirgt sich« so »hinter diesem Rückgang, einem involutiven Symptom, ein durchaus positiver Inhalt«, handelt es sich doch beim Fallen des Koeffizienten der »egozentrischen« Sprache und dem Abnehmen ihrer Vokalisierung um Kennzeichen einer voranschreitenden Entwicklung: »Hinter ihnen verbirgt sich nicht das Absterben, sondern die Geburt einer neuen Sprachform.« (ebd.) Das zweite Extrem der Möglichkeiten von Sprache überhaupt bildet die geschriebene Sprache, die einerseits die entwickelteste Form der »kommunikativen« Sprache, zugleich aber auch eine Sprache ohne direkten Gesprächspartner ist. »In dieser Sprache«, schreibt Wygotski, »wird auf Grund der Trennung der Gesprächspartner eine Verständigung durch Andeutungen und prädikative Aussagen selten möglich. Die Gesprächspartner befinden sich bei der geschriebenen Sprache in verschiedenen Situationen, was die Möglichkeiten eines gemeinsamen Subjekts in ihren Gedanken ausschließt. Daher ist die geschriebene Sprache im Vergleich zur mündlichen eine maximal entwickelte und syntaktisch komplizierte Sprachform, in der wir zum Ausdruck jedes einzelnen Gedankens weitaus mehr Wörter benötigen als in der mündlichen.« (a.a.O., 334) Denn man muss darin »mit Worten wiedergeben, was in der mündlichen Sprache mit Hilfe der Intonation und der unmittelbaren Wahrnehmung der Situation wiedergegeben wird« (a.a.O., 337). Während der Dialog, der »die sofortige und unmittelbar gemachte Äußerung voraus(setzt)«, sozusagen »eine aus Stichwörtern bestehende Sprache, eine Reaktionskette« ist, ist die geschriebene Sprache »von Anfang an mit Bewußtheit und Absichtlichkeit verbunden«. Ein Dialog enthält immer die Möglichkeit, »etwas unausgesprochen oder offenzulassen, und erfordert nicht, alle Wörter zu aktivieren, die eingesetzt werden müßten, um den gleichen Gedanken unter den Bedingungen der monologischen Sprache auszudrücken« (ebd.). So ist »die geschriebene Sprache der mündlichen« in gewisser Weise »entgegengesetzt«, es fehlt »die für beide Gesprächspartner klare Situation und jede Möglichkeit einer ausdrucksvollen Intonation, Mimik und Gebärde«. Daher ist in der geschriebenen Sprache »von vornherein die Möglichkeit aller Verkürzungen ausgeschlossen«, erfolgt das Verstehen allein »auf Kosten der Wörter und ihrer Verbindungen«. Verglichen mit der mündlichen ist die geschriebene Sprache eine in jeder

120 Hinsicht kompliziertere Tätigkeit. »Darauf beruht auch die Anfertigung eines Konzepts. Der Weg vom 'Unreinen' zur Reinschrift ist eben der Weg einer komplizierten Tätigkeit; aber selbst ohne Konzept wird stärker überlegt; wir sprechen anfangs sehr oft vor uns hin und schreiben erst dann; das ist ein gedankliches Konzept.« (a.a.O., 337 f.) So ist die gesprochene Sprache nicht nur genetisch die Ausgangsform von Sprache überhaupt, sondern sie bildet auch in systematischer Hinsicht die permanente Mitte, über die der innere Zusammenhang der Extreme aufrechterhalten wird (vgl. a.a.O., 339). Die Möglichkeit rein prädikativer Aussagen etwa gibt es auch in der gesprochenen Sprache; sie wird immer dann realisiert, »wenn das Subjekt der Aussage den Gesprächspartnern von vornherein bekannt ist, und zweitens, wenn eine bestimmte Gemeinsamkeit der Apperzeption bei den Sprechenden vorhanden ist«. Dabei ist es die »psychische Nähe des Gesprächspartners«, die »bei den Sprechenden eine Gemeinsamkeit der Auffassung (schafft)«, die dann »eine Verständigung durch Andeutungen, den elliptischen Charakter der Sprache ermöglicht« (a.a.O., 340). Wie weit diese Tendenz zur Verkürzung in der gesprochenen Sprache gehen kann, illustriert Wygotski an einem Beispiel aus den Aufzeichnungen F.M. Dostojewskis. Dieser war anlässlich eines Sonntagsspaziergangs auf eine Gruppe von sechs betrunkenen Handwerksburschen aufmerksam geworden, die »ein ganzes Gespräch« mit nur »einem einzigen nicht im Wörterbuch verzeichneten Substantiv« bestritten, indem sie es reihum mit unterschiedlicher Intonation und von verschiedener Mimik und Gestik begleitet verwendeten (vgl. Wygotski a.a.O., 335 f.). »Sie hatten also«, schließt Dostojewski seine Beschreibung, »nacheinander, ohne ein einziges anderes Wort zu sprechen, nur dieses, ihr Lieblingswörtchen sechsmal gesagt und sich richtig verstanden. Das ist eine Tatsache, deren Zeuge ich war.« (zit. nach Wygotski a.a.O., 336) Dieses Beispiel dafür, dass man »alle Gedanken, Empfindungen und sogar ganze Überlegungen durch ein einziges Wort zum Ausdruck bringen« kann (Wygotski ebd.), macht aber nicht nur einmal mehr den genetischen Zusammenhang zwischen »äußerer« und »innerer« Sprache deutlich136, es führt auch unmittelbar die Inadäquatheit der traditionellen (ursprünglich auch von Wygotski geteilten) Auffassung von der »Konstanz und Unveränderlichkeit der Wortbedeutungen« vor Augen. »Nach der älteren Psychologie«, so Wygotski, »ist der Zusammenhang zwischen Wort und Bedeutung eine assoziative Verbindung, die dadurch zustande kommt, daß die Eindrücke von dem Wort und die Eindrücke von dem durch das Wort bezeichneten Ding wiederholt zusammenfallen. Das Wort erinnert an seine Bedeutung so, wie der Mantel eines bekannten Menschen an diesen selbst oder der äußere Anblick eines Hauses an

121 die in ihm wohnenden Menschen erinnert. Danach kann sich die Bedeutung eines Wortes weder entwickeln noch verändern. Die das Wort und seine Bedeutung verbindende Assoziation ... kann eine Reihe von quantitativen und äußeren Veränderungen durchmachen, aber sie kann nicht ihre innere psychologische Natur ändern, weil sie dazu aufhören müßte, eine Assoziation zu sein.« (a.a.O., 294) Zwar sei, so Wygotski weiter, »die Unhaltbarkeit der Assoziationstheorie verhältnismäßig früh klar erkannt, experimentell und theoretisch nachgewiesen« worden, aber dies habe »in keiner Weise in der assoziativen Auffassung von der Natur des Wortes und seiner Bedeutung seinen Niederschlag gefunden« (a.a.O., 295). So stelle denn auch die Konzeption Koffkas, in deren Rahmen »die Verbindung zwischen Wort und Bedeutung nicht mehr als assoziativer, sondern als struktureller Zusammenhang vorgestellt« wird (vgl. oben), nur scheinbar einen theoretischen Fortschritt dar (Wygotski a.a.O., 297), da in ihr die beiden wesentlichen Grundzüge der alten Theorie beibehalten werden: »erstens die Annahme, daß die Verbindung zwischen Wort und Bedeutung prinzipiell der Verbindung zwischen zwei x-beliebigen anderen Dingen identisch sei, und zweitens die Annahme, daß die Bedeutung eines Wortes nicht entwickelt werden kann. Genau wie für die Assoziationspsychologie bleibt für die Gestalttheorie gültig, daß die Entwicklung der Wortbedeutung im Augenblick ihrer Entstehung beendet ist.« (a.a.O., 299) Demgegenüber vertritt nun Wygotski die Auffassung, dass »die Bedeutung eines Wortes« sich nicht nur »in der Entwicklung des Kindes (verändert)«, sondern dass sie sich auch »bei den verschiedenen Funktionsarten des Denkens (wandelt)« und »eher ein dynamisches als ein statisches Gebilde dar(stellt)« (a.a.O., 300). Insofern ist auch der »sprachliche Aufbau keine einfache Widerspiegelung des Gedankenaufbaus«, die Sprache daher »nicht Ausdruck eines fertigen Gedankens« (a.a.O., 303); denn: »Das Denken wird im Wort nicht ausgedrückt, sondern erfolgt im Wort« (ebd.) bzw. es »(vollendet) sich in ihm« (a.a.O., 354). Durch all dies wird dann die von Feuerbach im »Wesen des Christentums« formulierte Erkenntnis, dass »das Wort dem Gedanken nicht gleichgültig« ist, »der bestimmte Gedanke nur durch ein bestimmtes Wort gegeben werden« kann (GW 5, 356 f.), nicht etwa außer Kraft gesetzt, sondern lediglich dahingehend präzisiert, dass »diese inneren Beziehungen zwischen dem Wort und dem Gedanken keine von Anfang an gegebene Größe« sind, sondern »selbst erst während der historischen Entwicklung des menschlichen Bewußtsein (entstehen)« und somit gattungsgeschichtlich (gesellschaftlich-historisch) wie individualgeschichtlich »selbst das Produkt der Menschwerdung« sind (Wygotski a.a.O., 291).

122 4.4. Bedeutung und Sinn als Schlüsselbegriffe für das Verständnis der inneren Beziehungen von Denken und Sprache Aber nicht nur, dass der traditionellen Auffassung über den Zusammenhang von Sprache und Denken »der Gedanke fremd (bleibt), daß sich die semantische Struktur der Wortbedeutungen im Laufe der historischen Entwicklung der Sprache und die psychologische Natur dieser Bedeutung verändern, daß der spachliche Gedanke von niederen und primitiven Formen der Verallgemeinerung zu höheren und komplizierteren übergeht, die ihren Ausdruck in abstrakten Begriffen finden« (a.a.O., 295) - sie ist auch blind gegenüber dem Unterschied zwischen Wortbedeutung und Wortw/w. Dabei versteht Wygotski, der sich in dieser Frage auf den französischen Sprachpsychologen F. Paulhan stützt, unter dem »Sinn eines Wortes« die »Gesamtheit aller psychologischen Fakten, die das Wort in unserem Bewußtsein erzeugt« - eine Bestimmung, die impliziert, dass der Wortsinn »ein dynamisches, fließendes und kompliziertes Gebilde mit mehreren Bereichen verschiedener Stabilität« ist (a.a.O., 343), wohingegen die »Bedeutung« eines Wortes »nur ein Bereich des Sinnes« ist, »den das Wort im Kontext einer sprachlichen Äußerung annimmt, und zwar der stabilste und einheitlichste Bereich«. Während daher »ein Wort in einem anderen Zusammenhang leicht einen anderen Sinn an(nimmt)«, erweist sich dagegen die »Bedeutung« als »unbeweglich und unveränderlich und bleibt bei allen Veränderungen des Wortsinns in verschiedenen Kontexten stabil«137. So »(hat) das einzelne, dem Wörterbuch entnommene Wort nur eine einzige Bedeutung«, die aber zugleich »nur eine sich in der lebendigen Sprache realisierende Potenz« ist, also »in der lebendigen Sprache nur ein(en) Stein im Sinngebäude« bildet (ebd.). Da, nach allem, der Sinn eines Wortes »eine komplizierte, bewegliche Erscheinung« ist, »die sich in gewissem Maße dem jeweiligen Bewußtsein entsprechend und für dasselbe Bewußtsein je nach Umständen verändert«, ist er in letzter Konsequenz »unerschöpflich«; denn: »Das Wort erlangt seinen Sinn nur in einem Satz, aber der Satz selbst erlangt seinen Sinn nur im Kontext eines Absatzes, der Absatz im Kontext eines Buches, das Buch im Kontext des gesamten Schaffens eines Autors. Der wirkliche Sinn jedes Wortes wird letzten Endes durch den ganzen Reichtum der im Bewußtsein existierenden Momente bestimmt, die sich auf das beziehen, was durch das betreffende Wort ausgedrückt wird.« (ebd.) M.a.W.: »Der Sinn besteht - ebenso wie die Sprache - nicht aus einzelnen Wörtern. (...) Der Sinn stellt immer etwas Ganzes, etwas in seiner Ausdehnung und seinem Umfang Größeres dar als ein einzelnes Wort. Ein Redner entwickelt häufig im Verlauf mehrerer Minuten denselben Gedanken. Er ist als Ganzes vorhanden und entsteht durchaus nicht allmählich, in einzelnen Einheiten, wie seine Rede. Was im Denken simul-

123 tan enthalten ist, entfaltet sich in der Sprache sukzessiv.« (a.a.O., 353) Infolgedessen »ist der Übergang vom Gedanken zur Sprache ein recht verwickelter Vorgang der Zergliederung des Gedankens und seiner Neuschaffung in Wörtern. Weil der Gedanke weder mit dem Wort noch mit den Bedeutungen, in denen er ausgedrückt ist, zusammenfallt, geht der Weg vom Gedanken zum Wort über die Bedeutung.« (ebd.) Wenn es, nach allem, zutrifft, »daß der Gedanke sich nicht im Wort ausdrückt, aber sich in ihm vollendet« (a.a.O., 354), so ist dabei Folgendes zu berücksichtigen: »Der Gedanke wird nicht nur äußerlich durch Zeichen vermittelt, sondern auch innerlich durch Bedeutungen. Die unmittelbare Kommunikation zwischen einem Bewußtsein und einem anderen ist nicht nur physisch, sondern auch psychisch unmöglich. Sie kann nur auf einem indirekten, vermittelten Weg, in der inneren Vermittlung des Gedankens erst durch Bedeutungen und dann durch Wörter erfolgen. Daher ist der Gedanke niemals gleich der direkten Bedeutung der Wörter. Die Bedeutung vermittelt den Gedanken auf seinem Weg zum verbalen Ausdruck, d.h., der Weg vom Gedanken zum Wort ist ein indirekter, innerlich vermittelter.« (ebd.) Andersherum (d.h. von der Seite des Verstehender! her) gehen wir in der mündlichen Sprache »in der Regel von der Bedeutung des Wortes zu seinem Sinn im ganzen« (a.a.O., 345), wodurch es auch gewöhnlich gelingt, den im »lebendigen Satz« enthaltenen »Untertext« zu erschließen und so den »dahinter verborgenen Gedanken« zu verstehen (a.a.O., 352), ist doch das Verstehen nicht auf die Wortbedeutungen, sondern auf die »Gedanken des Gesprächspartners« gerichtet (a.a.O., 355). So ist denn in der Tat ein Wort, gleichgültig ob geschrieben oder gesprochen, nur dann »lebendig«, wenn es als »Verkörperung des Gedankens« (a.a.O., 356) im Bewusstsein von mindestens zwei Menschen existiert. Eine Einsicht, die, wie wir am Ende von »Denken und Sprechen« erfahren, sich schon bei Feuerbach findet. Allerdings: So elementar dieser in die Form eines Quasi-Zitats gekleidete Rekurs auf Feuerbach auf den ersten Blick auch erscheinen mag, als so vielschichtig erweist er sich, wenn man ihm auf den Grund geht. Tatsächlich gibt ja Wygotski keinerlei Hinweis, wo »Feuerbach sagt«, dass »das Wort im Bewußtsein für einen einzelnen Menschen unmöglich und nur für zwei möglich« ist, und so bedarf es bereits erheblicher 'philologischer' Anstrengungen, um überhaupt nur erst die Quelle besagten Quasi-Zitats herauszufinden.138 Ist dies gelungen, fühlt man sich zunächst düpiert, geht es doch im ursprünglichen Kontext der von Wygotski bezogenen Aussage Feuerbachs (dem § 12 der »Grundsätze der Philosophie der Zukunft«) augenscheinlich um etwas völlig anderes als um das Verhältnis von Sprache und Bewusstsein, nämlich um

124 die anhand des »sinnfallige(n) Beispiel(s)« der Naturwissenschaften demonstrierte grundlegende »Wahrheit, daß die Vorstellung des Menschen von Gott nichts andres ist als eine Vorstellung des menschlichen Individuums von seiner Gattung, daß Gott als der Inbegriff aller Realitäten oder Vollkommenheiten nichts andres ist als der zum Nutzen des beschränkten Individuums kompendiarisch zusammengefaßte Inbegriff der unter die Menschen verteilten, im Laufe der Weltgeschichte sich realisierenden Eigenschaften der Gattung« (zit. nach GW 9, 279). »Das Gebiet der Naturwissenschaften«, erläutert Feuerbach seine These, »ist seinem quantitativen Umfang nach für den einzelnen Menschen ein völlig unübersehbares, unermeßliches. Wer kann zugleich die Sterne am Himmel und die Muskeln und Nerven am Leibe der Raupe zählen? (...) Wer kann zugleich die Unterschiede der Höhen und Vertiefungen im Monde und zugleich die Unterschiede der zahllosen Ammoniten und Terebrateln beobachten? Aber was nicht der einzelne Mensch weiß und kann, das wissen und können die Menschen zusammen. (...) Während der eine Mensch bemerkt, was auf dem Monde oder Uranus vorgeht, ist ein andrer auf der Venus oder in den Eingeweiden der Raupe oder sonst an einem Orte ... Ja, während der Mensch diesen Stern vom Standpunkte Europas aus beobachtet, beobachtet er zugleich denselben Stern vom Standpunkte Amerikas aus. Was einem Menschen allein absolut unmöglich, ist zweien möglich.« (GW 9, 279 f.) Wenn nun Wygotski sich diesen letzten Satz herausgreift, um zu unterstreichen, dass der Grundgedanke seiner eigenen Konzeption über das Verhältnis von Sprache und Bewusstsein eigentlich schon in den Auffassungen Feuerbachs angelegt ist, man gewissermaßen nur zu Feuerbach 'zurückzugehen' braucht, um »unmittelbar zu einer neuen psychologischen Bewußtseinstheorie« zu gelangen, so muss dies auf den ersten Blick in der Tat als eine grobe Irreführung erscheinen. Ganz anders verhält es sich freilich, wenn man ebendiesen Satz als Chiffre auch für andere Passagen im Werk Feuerbachs begreift, die dem, worum es Wygotski eigentlich geht, viel eher entsprechen als die fragliche Passage der »Grundsätze der Philosophie der Zukunft«. Und tatsächlich ergibt ein erneuter Durchgang durch die einschlägigen Schriften Feuerbachs, dass Wygotski im Schlussteil von »Denken und Sprechen« offenbar bestimmte Überlegungen Feuerbachs in seiner Hegel-Kritik von 1839, die das Verhältnis von Denken und Sprache betreffen, mit einem anderen Theorem zusammenzufassen versucht, das sich zwar auch in den »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« findet, aber eben nicht in jenem Paragraphen, aus dem das Quasi-Zitat stammt. - So heißt es ja, wie erinnerlich, im § 42: »Nicht allein, nur selbander kommt man zu Begriffen, zur Vernunft überhaupt. Zwei Menschen gehören zur Erzeugung des Menschen - des

125 geistigen sogut wie des physischen: Die Gemeinschaft des Menschen mit dem Menschen ist das erste Prinzip und Kriterium der Wahrheit und Allgemeinheit.« (GW 9, 324) Und in der »Kritik der Hegeischen Philosophie« gibt es in der Tat eine längere Passage, in der »das Problem des Denkens und der Sprache« in einer Weise abgehandelt wird, die einen direkten Übergang zu einer »psychologischen Bewußtseinstheorie« gestattet. »Das Denken«, leitet Feuerbach besagte Passage ein, »ist eine unmittelbare Tätigkeit, inwiefern es Selbsttätigkeit ist. Kein anderer kann für mich denken; ich überzeuge mich von der Wahrheit eines Gedankens nur durch mich selbst. Plato ist sinnlos, ist gar nicht da für den, der nicht Verstand hat, eine tabula rasa [unbeschriebene Tafel] dem, der nicht dieselben Gedanken mit seinen Worten verbinden kann. Der geschriebene Plato ist nur Mittel für mich.« (GW 9, 27) Überhaupt stehe es nicht in der Macht der Philosophie, Verstand zu geben, vielmehr müsse sie den Verstand immer schon voraussetzen, könne ihn nur bestimmen. Daher sei auch die »Erzeugung der Begriffe vermittelst einer bestimmten Philosophie keine reale, sondern nur formale, keine Schöpfung aus nichts, sondern nur Entwicklung gleichsam einer noch unbestimmten, aber aller Bestimmungen fähigen, in mir liegenden geistigen Materie«. Anders ausgedrückt: »Der Philosoph bringt mir nur zum Bewußtsein, was ich wissen kann, er knüpft an mein geistiges Vermögen an.« Insofern sei denn auch jede Erläuterung oder Beweisführung, die ihren Zweck erreicht, letztlich »nichts anderes als die Rücknahme der Entäußerung des Gedankens in die Urquelle des Gedankens« (ebd.), habe doch »alle Darstellung, alle Demonstration ... ihrer ursprünglichen Bestimmung zufolge ... zu ihrem Endzweck den Erkenntnisakt des andern« (a.a.O., 32). Und so gilt das, was für die philosophische Darstellung (geschriebene wie mündliche) gilt139, auch für den Unterricht: »Belehren ist nicht Eintrichtern, sondern der Lehrer nimmt Bezug auf eine aktive Fähigkeit, auf ein Wissensvermögen.« (a.a.O., 28) Bei alledem kann das Wesen der Demonstration (jede Darstellung eines Gedankens ist für Feuerbach »Demonstration«) »nicht gefaßt werden ohne Bezugnahme auf die Bedeutung der Sprache«. Diese aber, so Feuerbach weiter, ist »nichts anderes als die Realisation der Gattung, die Vermittlung des Ich mit dem Du, um durch die Aufhebung ihrer individuellen Getrenntheit die Einheit der Gattung darzustellen« (a.a.O., 27). Jedwede Demonstration sei darum »nicht eine Vermittlung des Gedankens in und für den Gedanken selbst, sondern eine Vermittlung mittelst der Sprache zwischen dem Denken, inwiefern es meines ist, und dem Denken des andern, inwiefern es seines ist ... eine Vermittlung, durch die ich bewähre, daß mein Gedanke nicht meiner, sondern Gedanke an und für

126 sich ist, welcher daher ebensogut wie der meinige der Gedanke des andern sein kann« (a.a.O., 28 f.). M.a.W.: Die Demonstration ist »das Mittel, wodurch ich meinen Gedanken die Form der Meinheit nehme, auf daß sie der andere als seine eigenen erkenne« (a.a.O., 31). Gewiss, der Sinn der Demonstration ist, dass etwas »mitgeteilt« wird - aber die »Mitteilung von Gedanken ist keine materielle, keine wirkliche Mitteilung - der Stoß, der Ton, der meine Ohren erschüttert, das Licht ist eine reale Mitteilung -, Materielles nehme ich passiv auf: Ich leide; aber Geistiges nur durch mich, durch Selbsttätigkeit«. Und eben deswegen »ist auch das, was der Demonstrator mitteilt, nicht die Sache selbst, sondern das Mittel nur; denn er flößt mir nicht seine Gedanken ein wie Arzneitropfen; ... er wendet sich an denkende Wesen; die Hauptsache, den Verstand der Sache, gibt er mir nicht; er gibt überhaupt nicht... er setzt den Verstand vielmehr voraus; er zeigt mir - d.h. dem andern überhaupt - meinen Verstand nur im Spiegel; ... er versinnlicht, er stellt mir nur vor, was ich selbst ihm in mir nachmachen soll ... er will mich zwar zu seinen Gedanken bringen, aber nicht als den seinigen, sondern als den allgemein vernünftigen, also auch den meinigen; er spricht nur meinen eignen Verstand aus« (ebd.)140. Wenngleich Feuerbachs Hauptaugenmerk auf das Verhältnis zwischen Denken und »kommunikativer Sprache« gerichtet ist, so finden sich bei ihm aber doch auch einige Überlegungen zur »Egozentrismus«-Problematik. »Der Mensch«, schreibt er, »kann sich selbst genügen, weil er sich selbst als einen weiß, sich von sich unterscheidet, sich selbst der andere sein kann - der Mensch spricht, unterhält sich mit sich selbst - und weil er weiß, daß sein Gedanke nicht der seinige wäre, wenn er nicht auch, wenigstens der Möglichkeit nach, der Gedanke anderer wäre.« (a.a.O., 29) Allerdings ist für Feuerbach »diese Selbstgenügsamkeit und Beschränkung auf sich« nur eine »partikuläre Erscheinung«; denn: »Der Trieb der Mitteilung ist ein Urtrieb, der Trieb der Wahrheit. Wir werden nur durch den andern - freilich nicht diesen oder jenen zufälligen andern - der Wahrheit unsrer eignen Sache bewußt und gewiß. Was wahr, ist weder mein noch dein ausschließlich, sondern allgemein.« (ebd.) Sieht man davon ab, dass Feuerbach noch nicht systematisch zwischen »Sinn« und »Bedeutung« unterscheidet, überhaupt die innere Beziehung zwischen Gedanke und Wort für ihn eine viel direktere zu sein scheint als für Wygotski (was indes auch damit zusammenhängt, dass ihn im Rahmen seiner Fragestellung die Sprache wesentlich unter dem Aspekt eines Mediums der Allgemeinheit je meines Denkens interessiert), so ist die Kontinuität der Gedankenführung von seinen Auffassungen zur Sprachtheorie des 'späten' Wygotski offensichtlich. Ebenso offensichtlich ist aber auch, dass Wygotskis Konzeption des Verhältnisses von Denken und Sprache nicht einfach nur eine dem aktuellen »State of the

127 art« angepasste Erweiterung dessen ist, was man schon bei Feuerbach nachlesen kann; vielmehr lässt sich das Verhältnis der beiden Konzeptionen zueinander wohl am sinnfälligsten mit Hilfe jenes 'Schlüsselwortes' von Wygotski erfassen, demzufolge es »in unserer Sprache immer einen Hintergedanken, einen verborgenen Untertext (gibt)« (vgl. Wygotski 1969, 353). In diesem Sinne wären dann Feuerbachs Reflexionen als »verborgener Untertext« zu der offen ausgebreiteten Konzeption Wygotskis zu charakterisieren. Eine Charakterisierung, die sich in der rückblickenden Zusammenschau unseres Rekonstruktionsversuchs auch als 'Generalnenner' für die Bestimmung des Verhältnisses der Auffassungen des 'späten' Wygotski zu den psychologischen Anschauungen Feuerbachs überhaupt anbietet: Weder sind die Auffassungen Wygotskis auf die Psychologie Feuerbachs reduzierbar, noch lassen sie sich direkt aus ihr ableiten - aber die Psychologie Feuerbachs als durchgehenden »Untertext« zu den sprach-, entwicklungs- und persönlichkeitspsychologischen Konzeptionen des 'späten' Wygotski zu begreifen, trägt, wie insbesondere anlässlich der Erörterung seines Theorems von der »Zusammenarbeit« als dem Ursprung der »höheren« psychischen Funktionen deutlich geworden sein dürfte, allemal zu einem tieferen Verständnis dieser Konzeptionen bei.

Anmerkungen zur 2. Studie 1 Ein Sachverhalt, auf den übrigens G.W. Plechanow bereits 1897 im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit der ästhetischen Theorie Tschernyschewskis hingewiesen hat (vgl. Plechanow 1955b, 463 f.). - Siehe Feuerbach selbst zu dieser Frage in Grün I, 390. 2 Im Nachfolgenden abgekürzt zum Sigel »Sobr. sotsch.« 3 Dies mag erklären, warum bis in die jüngste Zeit Wygotskis Affinität zu den Anschauungen Feuerbachs nicht nur von den westlichen Wygotski-Experten systematisch übersehen worden ist, sondern eben auch für die meisten sowjetischen Fachkollegen, bis hin zu Wygotskis ehemals engsten Mitarbeitern, nicht zum Thema werden konnte. Andererseits hätte bereits Radsichowskis von 1982 datierende öffentliche Deklaration Wygotskis zum 'eingefleischten Feuerbachianer', an strategisch wichtiger Stelle platziert und auch den anglophonen Wygotski-Lesern immerhin seit 1987 bekannt (vgl. Coli. Works, Vol. 1, 348, Anm. 99), als Initialzündung für diesbezügliche Spezialforschungen wirken müssen. 4 Er ist damit, wenn man so will, der eigentliche Stammvater der kritischen Psychologie. 5 Entsprechend heißt es in Feuerbachs »Vorlesungen über das Wesen der Religion«: »... aber auch der Geist, auch die geistige Tätigkeit - denn was ist der Geist anders als die von der menschlichen Phantasie und Sprache verselbständigte, als ein Wesen personifizierte geistige Tätigkeit? -, auch die

128 geistige Tätigkeit ist eine körperliche, eine Kopfarbeit; sie unterscheidet sich von den anderen Tätigkeiten nur dadurch, daß sie die Tätigkeit eines anderen Organs, die Tätigkeit eben des Kopfes ist.« (GW 6, 174) 6 Zur ausführlichen Würdigung und Verteidigung der Position Feuerbachs in dieser Frage vgl. auch Plechanow 1955b, 464 ff. 7 Nach dem Tode Feuerbachs ist es wiederum Plechanow gewesen, der im Kampf gegen neukantianische und machistische Revisionen des Marxismus wieder und wieder diesen Ehrenamen Feuerbachs verteidigt und auf die große Nähe seiner materialistischen Philosophie zu den Auffassungen B. Spinozas hingewiesen hat (vgl. hierzu insbes. Plechanow 1982a, 16 ff., 1982b, 90 u. 1982c, 295, Fußn. 84). Feuerbach selbst bringt seine Haltung zu Spinoza in Hinblick auf die uns im Rahmen der vorliegenden Studie interessierenden Fragen wohl am klarsten in einer Fußnote zum § 96 seiner 1833 in erster Auflage erschienenen »Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza« zum Ausdruck: »Was Sp. über die Leidenschaft, die Begierde, den Trieb, namentlich aber über die Vernunft und Erkenntnis sagt, gehört unstreitig zu dem Tiefsten und Erhabensten, dem Geist- und Gedankenreichsten, was nur je hierüber noch gesagt wurde. - Überhaupt findet man bei ihm, besonders in seiner 'Ethik', sowohl über Gegenstände der philosophischen als empirischen Psychologie die fruchtbarsten, trefflichsten Gedanken.« (GW 2, 432, Fußn.) Dass uns dann in Feuerbachs eigenen Auseinandersetzungen mit den verschiedenartigsten Problemen sowohl der »philosophischen« als auch der »empirischen Psychologie« an mehr als einer Stelle Gedanken entgegentreten, die ihren Ursprung zweifellos bei Spinoza haben (vgl. den diesbezüglichen, auf ein Zitat aus »Wider den Dualismus von Leib und Seele« gestützten Hinweis bei Plechanow 1958, 21), kann angesichts einer solchen Eloge nicht verwundern. 8 Vgl. hierzu ausführlicher Keiler 1996, 111 f. 9 »So ist der Gegenstand der pflanzenfressenden Tiere die Pflanze; aber durch diesen Gegenstand unterscheiden sich wesentlich dieselben von den andern, den fleischfressenden Tieren.« (GW 9, 270) 10 Zu weiteren Beispielen einer direkten, obschon durchaus kritischen Anknüpfung an der feuerbachschen Vergegenständlichungskonzeption durch Marx siehe in der nachfolgenden Studie den philologischen Exkurs »Was bedeutet 'Vergegenständlichung' bei Marx?«. 11 So heißt es etwa bei G.W.F. Hegel im 1. Teil seiner »Enzyklopädie«: »Der Ausdruck Reflexion wird zunächst vom Lichte gebraucht, insofern dasselbe in seinem geradlinigen Fortgange auf eine spiegelnde Fläche trifft und von dieser zurückgeworfen wird. Wir haben somit hier ein Gedoppeltes: einmal ein Unmittelbares, ein Seiendes, und dann zweitens dasselbe als ein Vermitteltes oder Gesetztes. Dies ist nun aber eben der Fall, wenn wir über einen Gegenstand reflektieren oder (wie man auch zu sagen pflegt) nachdenken, insofern es hier nämlich den Gegenstand nicht gilt in seiner

129 Unmittelbarkeit, sondern wir denselben als vermittelt wissen wollen.« (zit. nach TWA 8, 232) 12 Zur kritischen Würdigung der leibnizschen Monadologie durch Feuerbach siehe vor allem das betreffende Kapitel in seiner »Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosophie« von 1837 (GW 3, 160-186). 13 Man muss schon sehr genau lesen, um den feinen, dabei jedoch wesentlichen, Unterschied zwischen der Auffassung Feuerbachs und der Auffassung J.F. Herbarts zu bemerken, der (gleichfalls in kritischer Wendung gegen den Idealismus, insbesondere den Idealismus fichtescher Prägung) in der 1834 erschienenen 2. Auflage seines »Lehrbuches zur Psychologie« schreibt: »Es war ein gewaltsam erzeugter, und eben so gewaltsam festgehaltener Irrthum des Idealismus, das Ich setze sich ein Nicht-Ich entgegen, - als ob die Dinge ursprünglich mit der Negation des Ich behaftet wären. Auf diese Weise würde nimmer ein Du und ein Er entstehn, - nimmer eine andre Persönlichkeit, ausser der eignen, anerkannt werden. Vielmehr, was innerlich empfunden war, das wird, wo irgend möglich, auf das Aeussere übertragen. Daher bildet sich mit dem Ich zugleich das Du; und fast gleichzeitig mit beiden das Wir, welches der Idealismus vergass, und vergessen musste, wenn er nicht aus seinen Träumen geweckt sein wollte. Denn die Vorstellung des Wir ist ganz offenbar abhängig von den Umständen; sie erzeugt sich bald in grösseren, bald in kleineren Kreisen; und zwar immer so, dass sie zugleich das Ich in sich aufnimmt. Dieser Gegenstand liegt einer analytischen Betrachtung weit offener vor Augen, als das geheimnissvolle Ich. Wie Piaton den Staat als eine Schrift mit grossen Buchstaben, lesbar für schwache Augen, zuerst betrachtete, um kleinere Schrift bequemer aufzufassen, so hätte man auch früher das Wir als das Ich untersuchen sollen, um für das schwerere Problem eine nützliche Vorbereitung zu gewinnen.« (zit. nach HSW Bd. 5, 21886, 137 f.) 14 Nach Müller ist es »ganz gleichgültig, von welcher Art die Reize auf den Sinn wirken; ihre Wirkung ist immer in den Energien des Sinnes. Druck, Erschütterung, Friktion, Kälte und Wärme, der galvanische und elektrische Gegensatz, chemische Reagentien, die Pulse des eigenen Körpers, die Entzündung der Netzhaut, die Sympathien endlich des Auges mit andern Teilen des Körpers, kurz, alle nur denkbaren Reize, welche in was immer für einer Form auf die Sehsinnsubstanz zu wirken vermögen, wirken auf diese nur so, daß ihre dynamis, die Empfindung des Dunkeln, welche sie auch ohne Reiz hat, zu ihren Energien, zur Empfindung des Lichten und Farbigen treiben.« (zit. nach Feuerbach a.a.O., 180) Die wesentlichste vom »physiologischen Idealismus« aus alledem gezogene Schlussfolgerung besteht darin, dass unsere Empfindungen, da sie nur der Qualität des jeweiligen Sinnesorgans (bzw. seiner spezifischen Energie) entsprechen, uns keinerlei Kenntnis von den Eigenschaften der einwirkenden Dinge vermitteln. 15 Hinzuweisen wäre etwa auf die von Schelling bereits im »System des transcendentalen Idealismus« (1800) formulierte These von der Bedeutung, welche den »Intelligenzen außer mir« bei der Konstituierung je meines gnosti-

130 sehen Verhältnisses zur Außenwelt zukommt (vgl. hierzu Schelling SW 1.3, 554 ff.). 16 Außer seinem »von Amts wegen« mit dem Fall befassten Vater P.J.A. v. Feuerbach waren dies vor allem sein Freund G.Fr. Daumer, bei dem Hauser für eineinviertel Jahr zur Pflege und Erziehung untergebracht war, sowie der Bruder seiner Schwägerin Henriette, der Arzt F.W. Heidenreich, der nach dem Tode Hausers an diesem die Obduktion vornahm und seinen Befund in Form einer Abhandlung publizierte. Vgl. zu alledem ausführlicher: P.J.A. Ritter v. Feuerbachs »Erkenntnisse über Kaspar Hauser« (1983), Daumers »Mittheilungen über Kaspar Hauser«, Heft 1 u. 2 (1832), sowie seine »Enthüllungen über Kaspar Hauser ...« (1859) und schließlich Heidenreichs Abhandlung über Hausers Verwundung, Krankheit und Leichenöffnung, die 1834 sowohl im XXI. Band von Gräfe's und Walther's Journal ßr Chirurgie und Augenheilkunde wie auch als Separatdruck bei Reimer in Berlin erschien. Dabei verdient im vorliegenden Zusammenhang der Sachverhalt hervorgehoben zu werden, dass das mit eigenhändigen Korrekturen des Autors versehene Exemplar des Separatdrucks der Abhandlung Heidenreichs, mit dem Daumer arbeitete und aus dem er in seinen »Enthüllungen über Kaspar Hauser« ausgiebig zitiert, »zunächst an L. Feuerbach« und dann an ihn gekommen war (vgl. Daumer 1859, 309 sowie den Brief von Daumer an Feuerbach vom April 1834, in: GW 17, 191). 17 So zitiert Daumer in den »Enthüllungen« aus in seinem Besitze befindlichen Aufzeichnungen L. Feuerbachs über Hauser (vgl. Daumer 1859, 300 f. und 306 f.). Feuerbach hatte also offensichtlich ein weit größeres Interesse an dem »unglücklichen Findling«, als die sich in verschiedenen Schriften findenden eher beiläufigen Bemerkungen vermuten lassen (vgl. GW 1, 559; GW 3, 288; GW 5, 243; GW 8, 48; GW 10, 123). 18 »Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten - eine Einheit, die sich aber nur auf die Realität des Unterschieds von Ich und Du stützt.« (GW 9, 339) »Wo kein Du, ist kein Ich; aber der Unterschied von Ich und Du, die Grundbedingung aller Persönlichkeit, alles Bewußtseins, ist nur ein realer, lebendiger, feuriger als der Unterschied von Mann und Weib. Das Du zwischen Mann und Weib hat einen ganz andern Klang als das monotone Du zwischen Freunden.« (GW 5, 178) 19 Die gnoseologischen Konsequenzen dieses Gedankengangs entwickelt Feuerbach dann in den »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft«, wo es heißt: »Alle unsere Ideen entspringen darum aus den Sinnen; darin hat der Empirismus vollkommen recht; nur vergißt er, daß das wichtigste, wesentlichste Sinnenobjekt des Menschen der Mensch selbst ist, daß nur im Blicke des Menschen in den Menschen das Licht des Bewußtseins und Verstandes sich entzündet. Der Idealismus hat daher recht, wenn er im Menschen den Ursprung der Ideen sucht, aber unrecht, wenn er sie aus dem isolierten, als für sich seienden Wesen, als Seele fixierten Menschen, mit einem Worte: aus dem Ich ohne ein sinnlich gegebenes Du, ableiten will. Nur durch Mitteilung, nur aus der Konversation des Menschen mit dem Menschen

131 entspringen die Ideen. Nicht allein, nur selbander kommt man zu Begriffen, zur Vernunft überhaupt. Zwei Menschen gehören zur Erzeugung des Menschen - des geistigen sogut wie des physischen: Die Gemeinschaft des Menschen mit dem Menschen ist das erste Prinzip und Kriterium der Wahrheit und Allgemeinheit. Die Gewißheit selbst von dem Dasein anderer Dinge außer mir ist für mich vermittelt durch die Gewißheit von dem Dasein eines andern Menschen außer mir. Was ich allein sehe, daran zweifle ich; was der andere auch sieht, das erst ist gewiß.« (GW 9, 324) Ähnlich hatte bereits Schelling im »System des transcendentalen Idealismus« argumentiert, wo die These »Nur dadurch, daß Intelligenzen außer mir sind, wird mir die Welt überhaupt objektiv« nachfolgende Erläuterung findet: »... daß die Vorstellung von einem Außer mir überhaupt nur durch Einwirkung von Intelligenzen, sey es auf mich oder auf Objekte der Sinnenwelt, denen sie ihr Gepräge aufdrücken, entstehen könne, erhellt schon daraus, daß die Objekte an und für sich nicht außer mir sind, denn wo Objekte sind, bin auch ich, und selbst der Raum, in welchem ich sie anschaue, ist ursprünglich nur in mir. Das einzige ursprüngliche Außer mir ist eine Anschauung außer mir, und hier ist der Punkt, wo zuerst der ursprüngliche Idealismus sich in Realismus verwandelt. (...) Daß Objekte wirklich außer mir, d.h. unabhängig von mir, existieren, davon kann ich nur dadurch überzeugt werden, daß sie auch dann existieren, wenn ich sie nicht anschaue. (...) Die einzige Objektivität, welche die Welt für das Individuum haben kann, ist die, daß sie von Intelligenzen außer ihm angeschaut worden ist. (...) Für das Individuum sind die andern Intelligenzen gleichsam die ewigen Träger des Universums, und so viel Intelligenzen, so viel unzerstörbare Spiegel der objektiven Welt. Die Welt ist unabhängig von mir, ... denn sie ruht für mich in der Anschauung anderer Intelligenzen, deren gemeinschaftliche Welt das Urbild ist, dessen Uebereinstimmung mit meinen Vorstellungen allein Wahrheit ist. (...) Es folgt also aus dem Bisherigen auch von selbst, daß ein isolirtes Vernunftwesen nicht nur nicht zum Bewußtseyn der Freiheit, sondern auch nicht zu dem Bewußtseyn der objektiven Welt als solcher gelangen könnte, daß also nur Intelligenzen außer dem Individuum und eine nie aufhörende Wechselwirkung mit solchen das ganze Bewußtseyn mit allen seinen Bestimmungen vollendet.« (Schelling a.a.O., 555 ff.) 20 Um Missverständnisse zu vermeiden, sei hier daran erinnert, dass es sich bei dem Egoismus, dem Feuerbach in den »Vorlesungen über das Wesen der Religion« so vehement das Wort redet, nicht um »den Egoismus des Menschen dem Menschen gegenüber, den moralischen Egoismus«, handelt, also »nicht den Egoismus, der bei allem, was er tut, selbst scheinbar für andere, nur seinen Vorteil im Auge hat« und »der das charakteristische Merkmal des Philisters und Bourgeois« ist; vielmehr geht es Feuerbach ja bei alledem ausschließlich um »den notwendigen, den unerläßlichen Egoismus, den ... im Wesen des Menschen ohne Wissen und Willen begründeten Egoismus«, d.h. »den Egoismus, ohne welchen der Mensch gar nicht leben kann - denn um zu leben, muß ich fortwährend das mir Zuträgliche zu eigen machen, das mir Feindliche und Schädliche vom Leibe halten den Egoismus also, der selbst im Organismus, in der Aneignung der assimi-

132 lierbaren, der Ausscheidung der nicht assimilierbaren Stoffe liegt« (a.a.O., 60 f.). 21 Der diesen Überlegungen zugrundeliegende Leitgedanke, dass der Mensch im Unterschied zum Tier »ein zweifaches Leben« hat, nämlich zusätzlich zu seinem »äußeren« auch noch ein »inneres Leben«, findet sich übrigens schon in der Einleitung zum »Wesen des Christentums«. Hier heißt es unter der Überschrift »Das Wesen des Menschen im allgemeinen«: »Das Tier hat daher nur ein einfaches, der Mensch ein zweifaches Leben: Bei dem Tiere ist das innere Leben eins mit dem äußern - der Mensch hat ein inneres und äußeres Leben. Das innere Leben des Menschen ist das Leben im Verhältnis zu seiner Gattung, seinem allgemeinen Wesen. Der Mensch denkt, d.h., er konversiert, er spricht mit sich selbst. Das Tier kann keine Gattungsfünktion verrichten ohne ein anderes Individuum außer ihm; der Mensch aber kann die Gattungsftmktion des Denkens, des Sprechens - denn Denken, Sprechen sind wahre Gattungsfiinktionen - ohne einen andern verrichten. Der Mensch ist sich selbst zugleich Ich und Du; er kann sich selbst die Stelle des andern vertreten, ebendeswegen, weil ihm seine Gattung, sein Wesen, nicht nur seine Individualität Gegenstand ist.« (GW 5, 29) 22 In diesem Sinne belehrt uns Feuerbach schon in der »Theogonie«: »Das Gewissen ist keine besondere 'Anlage', überhaupt nichts Angebornes, sondern etwas Angebildetes, oft selbst mit vieler Mühe Eingebläutes. Wer nie eine Strafe gesehen oder gefühlt, nie einen Vorwurf von andern gehört ..., würde auch nun und nimmermehr sich selbst worüber Vorwürfe machen können.« (GW 7, 139) 23 Dass das Gewissen seiner ursprünglichen Bestimmung nach alles andere als 'kosmopolitisch' ist, war von Feuerbach bereits in der »Theogonie« scharf herausgestellt worden: »So ist der Vater das Gewissen des Sohnes - was würde mein guter Vater dazu sagen, wenn ich das täte? -, der Freund das Gewissen des Freundes, der Lehrer das Gewissen des Schülers, der Jude, nicht der Mensch überhaupt, nicht die Gojim, die Nichtjuden, das Gewissen des Juden, der Grieche, nicht der Barbar, das Gewissen des Griechen.« (GW 7, 137) 24 Zur ausführlichen Erörterung dieser Problematik vgl.: U. Reitemeyer, Philosophie der Leiblichkeit. Ludwig Feuerbachs Entwurf einer Philosophie der Zukunft (1988, 54 f.). 25 Eine, wie mir scheint, bemerkenswerte Parallelität der Gedankenführung zu der Gedankenführung von Marx in jener häufig zitierten Passage der »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte«, in welcher das Thema der gesellschaftlich-historischen Determiniertheit der menschlichen Sinnlichkeit behandelt wird (vgl. Marx 1988, 165 f. bzw. MEW EB I, 541 f.). 26 Dass diese Veränderung der Natur eine mit der Menschheitsgeschichte direkt korrespondierende Veränderung ist, daran hatte Feuerbach bereits in der »Unsterblichkeitsfrage vom Standpunkt der Anthropologie« keinen Zweifel gelassen. »Wer«, fragt er hier, »(kann) den Menschen aus seinem Zusammenhang mit der Pflanzen- und Tierwelt herausreißen? Wer die Kulturgeschichte der Menschheit von der Kulturgeschichte der Pflanzen und Tiere absondern?

133 Wer verkennen, daß die Pflanzen und Tiere sich mit dem Menschen verändern und perfektionieren wie umgekehrt der Mensch mit ihnen?« (GW 10, 251) Dabei wird innerhalb dieses Verhältnisses der 'Koevolution' der Mensch durchaus als die den Entwicklungsverlauf bestimmende Seite aufgefasst. Die Natur ist für Feuerbach »blind und verstandlos; sie ist, was sie ist, und tut, was sie tut, nicht absichtlich, nicht mit Wissen und Willen, sondern notwendig ... Nur der Mensch ist es ja, der durch seine Anordnungen und Bildungen den Stempel des Bewußtseins und Verstandes der Natur aufdrückt, nur er ist es, der nach und nach im Laufe der Zeiten die Erde zu einem vernünftigen, dem Menschen entsprechenden Wohnorte umgeschaffen [hat] und einst zu einem noch menschlicheren, noch vernünftigeren Wohnort, als sie jetzt ist, umschaffen wird. Selbst das Klima verändert ja die menschliche Kultur.« (GW 6, 193 f.) Schon in dem von 1843/44 datierenden Aphorismus, in dem Feuerbach den Menschen als »Produkt der Kultur, der Geschichte« charakterisiert hatte, heißt es: »Viele Pflanzen und Tiere sogar haben sich unter der Pflege der menschlichen Hand so verändert, daß wir ihre Originale gar nicht mehr in der Natur nachweisen können.« (GW 10, 178) Knapp zwanzig Jahre später wird Marx notieren: »Die grosse Mehrzahl selbst von dem, was als Naturprodukt betrachtet wird, z.B. die Pflanzen und Thiere, sind in der Form, wie sie jetzt von Menschen benutzt und wieder erzeugt werden, das Resultat einer durch viele Generationen unter menschlicher Controlle, vermittelst menschlicher Arbeit vorgegangnen Umwandlung, in der sich ihre Form und Substanz verändert hat.« (MEGA2 II/3.1, 50) Alles in allem ist also die von Marx und Engels im »Feuerbach«-Kapitel der »Deutschen Ideologie« aufgestellte (und seit dessen Erstveröffentlichung in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts von »marxistischen« Autoren unzählige Male gegen Feuerbach ins Feld geführte) Behauptung schlicht falsch, dass Feuerbach nicht sehe, »wie die ihn umgebende sinnliche Welt nicht ein unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding ist, sondern das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes, und zwar in dem Sinne, daß sie ein geschichtliches Produkt ist, das Resultat der Tätigkeit einer ganzen Reihe von Generationen, deren Jede auf den Schultern der vorhergehenden stand ...« (zit. nach MEW 3, 43). 27 Zwar hatte Feuerbach schon in seinem »Pierre Bayle« (1838) darauf hingewiesen, dass »mehr als der Mensch sich selbst bewußt ist, der Stand, der Beruf Einfluß auf seine Denkart, sein Inneres, seinen Glauben (hat)«, dass »nicht die Gesinnung den Stand, sondern der Stand die Gesinnung (erhält)« (GW 4, 27); dieser Gedanke ist aber von ihm nirgendwo im Detail ausgearbeitet worden. 28 Wie aus dem Argumentationszusammenhang deutlich geworden sein dürfte, ist hier mit »Psychologie des gesellschaftlichen Menschen« die wissenschaftliche Disziplin gemeint, welche die »Psyche«, die »psychische Wesensart« bzw. die »Gesamtheit der psychischen Vorgänge und Eigenschaften« der in Gesellschaft lebenden Menschen zu ihrem Gegenstand hat, während in den deutschen Übersetzungen der Schriften Plechanows der Ausdruck »Psychologie« gewöhnlich objektsprachlich verwendet wird, d.h. als Kürzel für die »Gesamtheit der psychischen Vorgänge und Eigenschaften«

134 bzw. die »psychische Wesensart« (vgl. LW 38, 492) steht. Bei genauer Kontextbeachtung sollte freilich eine (formal durchaus mögliche) Verwechslung der beiden Bedeutungsvarianten von »Psychologie« bzw. »Psychologie des gesellschaftlichen Menschen« so gut wie ausgeschlossen sein (im Übrigen vgl. zur originären Verwendung des Terminus »Psychologie des gesellschaftlichen Menschen« Lazarus & Steinthal 1860, 5). 29 Man beachte in diesem Zusammenhang insbesondere die von Feuerbach in seiner Schrift zur Moralphilosophie unter Berufung auf das marxsche »Kapital« angestellten Überlegungen (a.a.O., 404 ff.). 30 Zum besseren Verständnis dieser Zusammenhänge ist es hilfreich, sich noch einmal die »kurze Formel« zu vergegenwärtigen, die Plechanow für das »Verhältnis zwischen der nun schon berühmt gewordenen 'Basis9 und dem nicht minder berühmt gewordenen 'Überbau'« vorgeschlagen hat: »1. Stand der Produktivkräfte; 2. die durch diesen Stand bedingten ökonomischen Verhältnisse; 3. die sozialpolitische Ordnung, die sich auf der gegebenen ökonomischen 'Basis' erhebt; 4. die teils unmittelbar durch die Ökonomie, teils durch die ganze darauf sich erhebende sozialpolitische Ordnung bestimmte Psychologie [i.e. die »psychische Wesensart« bzw. die »Gesamtheit der psychischen Vorgänge und Eigenschaften«] des gesellschaftlichen Menschen; 5. die verschiedenen Ideologien, welche die Eigenschaften dieser Psychologie in sich widerspiegeln.« (Plechanow 1958, 84 - Einfüg. in eckig. Klammern P.K.). 31 Nicht zuletzt das direkte Anknüpfen an den Auffassungen Leontjews hat dazu geführt, dass innerhalb der Kritischen Psychologie die grundsätzliche Bedeutung Feuerbachs erst relativ spät erkannt wurde. So ist auch die partielle (in einigen Details verblüffende) Übereinstimmung der Argumentation K. Holzkamps in seinem Artikel »Die 'Weltlosigkeit' der traditionellen Psychologie ...« mit bestimmten Gedankengängen Feuerbachs (vgl. etwa dessen Fisch-Beispiel in GW 1, 275 f.) durchaus 'naturwüchsig' und keineswegs das Ergebnis einer systematischen Auseinandersetzung mit dessen Schriften. Freilich: Um die Auffassungen Feuerbachs organisch in das holzkampsche Projekt einer »Subjektwissenschaft« integrieren zu können, wären mehr als nur ein paar 'kosmetische' Korrekturen an diesem Projekt notwendig gewesen, hätte vor allem der ihm inhärente 'Krypto-Fichteanismus' (in der Diktion Holzkamps: »Standpunkt der ersten Person«) aufgegeben werden müssen. Tatsächlich sind aber bei Holzkamp selbst noch in seinem letzten Buch (»Lernen - subjektwissenschaftliche Grundlegung«) die »Anderen« stets entweder »Dritte« oder »Ich noch einmal«, aber niemals »Du«, d.h. zweite Person bzw. »Sozius« oder »Sozia« (vgl. 1993, 21-27). Von daher ist denn auch seine an zentraler Stelle dieses Buches aufgestellte Behauptung, »personale Situiertheit«, wie er sie bestimme, sei ein »genuin soziales Konzept« (vgl. a.a.O., 264), bestenfalls eine fromme Selbsttäuschung. 32 Hierbei ist natürlich in erster Linie an Plechanows These zu denken, dass mit der fortschreitenden Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse der Abstand zwischen diesen und bestimmten ideologischen Formen immer größer wird und beispielsweise die Kunst nicht mehr unmittelbar aus den

135 ökonomischen Verhältnissen, sondern nur durch einen Rekurs auf den »psychologischen Faktor« erklärt werden kann - eine These, die er anhand einer vergleichenden Gegenüberstellung zweier Formen des Tanzes erläutert hatte: »In der Urgesellschaft, die keine Klassenscheidung kennt, wirkt die produktive Tätigkeit des Menschen unmittelbar auf seine Weltanschauung und auf seine Ästhetik ein. (...) In einer in Klassen geschiedenen Gesellschaft tritt jedoch die unmittelbare Einwirkung dieser Tätigkeit auf die Ideologie viel weniger hervor. Und dies begreift sich leicht. Wenn z.B. bei den australischen Eingeborenenfrauen einer ihrer Tänze ihre Arbeit beim Wurzelsammeln reproduziert, so konnte selbstverständlich kein einziger von den eleganten Tänzen, mit welchen sich z.B. die weltlichen Schönen des 18. Jahrhunderts in Frankreich zu amüsieren pflegten, Darstellung einer produktiven Arbeit dieser Damen sein, da sie ja, vorwiegend der 'Wissenschaft der zärtlichen Passion' hingegeben, sich mit keiner produktiven Arbeit beschäftigten. Um den Tanz der Australierin zu begreifen, braucht man nur zu wissen, welche Rolle das von den Weibern betriebene Sammeln der Wurzeln von Wildgewächsen im Leben eines australischen Stammes spielt. Will man aber, sagen wir, das Menuett begreifen, so ist dafür die Kenntnis der Ökonomie Frankreichs im 18. Jahrhundert vollständig ungenügend. Hier hat man es mit einem Tanz zu tun, der die Psychologie einer nichtproduktiven Klasse zum Ausdruck bringt. Aus einer Psychologie dieser Art erklären sich in ihrer großen Mehrzahl die 'Sitten und Gebräuche' der sogenannten anständigen Gesellschaft. Der ökonomische 'Faktor' tritt hier also dem psychologischen seinen Platz und Rang ab. Man vergesse aber nicht, daß das Erscheinen von nichtproduktiven Klassen in der Gesellschaft selbst wieder ein Produkt der ökonomischen Entwicklung dieser Gesellschaft ist.« (a.a.O., 73 f.; vgl. auch Wygotski 1976, 13 f.) 33 So schreibt Feuerbach in einer Sammelreplik auf verschiedene Rezensionen seines »Wesens des Christentums«: »... bei mir ist die Basis der Religionsphilosophie in ihren niedern Teilen die esoterische Anthropologie, in ihren hohem Teilen die esoterische Psychologie. Die Religionsphilosophie im Sinne der esoterischen Psychologie ist eine neue und fruchtbare Wissenschaft. Jeder Philosoph, der eine Religionsphilosophie in einem andern Sinne geben will, kann sich von nun an nur blamieren.« (GW 9, 240) 34 Das eine Mal verweist er nach der Erörterung bestimmter methodischer Probleme, die darin wurzeln, dass »die physisch-materielle Grundlage eines Bewusstseinsvorganges niemals zugleich mit diesem Vorgange selbst und unmittelbar Gegenstand des Bewusstseins (ist)«, auf die »class. Darleg. von Feuerbach, Spiritualismus u. Materialismus, Cap. 9 u. 10« (Jodl, a.a.O., 59). Das andere Mal heißt es im direkten Anschluss an einen kurzen Abschnitt, in dem sich Jodl mit der »bekannte(n) Illusion von der Wahlfreiheit des Willens« auseinandersetzt: »Vgl. über dies vielverhandelte Problem die ausgezeichneten Darlegungen von Beneke, Syst. d. prakt. Philos. I. Bd.; Herbart, V. d. Freiheit des menschl. Willens; Schopenhauer, Grundprobl. d. Ethik (Nr. 1); Feuerbach, Spiritualismus u. Materialismus. Mit ihnen im Wesentlichen übereinkommend aus neuerer Zeit: Hebler, Philos. Freih.Lehre, u. Riehl, Kriticismus, II. Bd. 2. Thl.« (Jodl, a.a.O., 731 f.)

136 35 (vgl. Jodl 1903, 1. Bd., 163; 2. Bd., 302) 36 Die vierte Auflage erschien 1915 (ein Jahr nach Jodls Tod) als unveränderter Abdruck der dritten Auflage. 37 (vgl. Jodl 1908, 1. Bd., 37, 38, 70, 81, 97, 110 125, 238 u. 2. Bd., 396) 38 Vgl. GW 10, 139 u. 137 f. 39 Korrekt müsste es heißen: »schon im Jahre 1846«. 40 »... höre mit Freude, dass sich das Buch auch in Deutschland vielfach als Lehrbuch eingebürgert und selbst in Leipzig Wundt Konkurrenz macht«, hatte Jodl mit sichtlichem Stolz aus Anlass des Erscheinens der zweiten Auflage der »Psychologie« an W. Bolin geschrieben (Brief vom 23. 4. 1903). 41 Zu Freuds ursprünglicher Begeisterung für Feuerbach vgl. die diesbezüglichen Äußerungen in den Briefen an seinen Jugendfreund E. Silberstein vom 8. November 1874 sowie 7. März 1875 (Freud 1989, 82 u. 111) - Äußerungen, aus denen freilich nicht hervorgeht, welchen Umfang seine Kenntnis der Schriften Feuerbachs hatte. Folgt man W. Boehlich, dem Herausgeber der betreffenden Briefesammlung, dann hat Freud »fraglos das Wesen des Christentums, mit ziemlicher Sicherheit auch die Theogonie (gelesen)« (Boehlich in: Freud 1989, 242). Durch Freuds Selbstzeugnis eindeutig belegt ist allerdings nur die Lektüre der von K. Grün herausgegebenen beiden Nachlassbände, deren zweiter auch Feuerbachs Schrift »Zur Moralphilosophie« enthält (vgl. den Brief vom 7. März 1875). 42 Die Abhängigkeit Freuds von Feuerbach in dieser Frage findet eine ausführliche Erörterung bei S. Rawidowicz (1931, 348 ff.) sowie in Boehlichs Nachwort zu der von ihm herausgegebenen Briefesammlung (vgl. Boehlich a.a.O.). Indes ist es nach genauerer Lektüre der einschlägigen Briefe und in Berücksichtigung einer von Boehlich zitierten, von 1925 datierenden Äußerung Freuds gegenüber L. Binswanger (»David Friedrich Strauß und Feuerbach habe ich in jungen Jahren allerdings mit Genuß und Eifer gelesen. Es scheint mir aber, daß die Wirkung keine nachhaltige geblieben ist.«) durchaus ratsam, dem Einfluss Feuerbachs auf Freud ein weit geringeres Gewicht beizumessen, als dies bisher geschehen ist. Vor allem sollte man bei der Bewertung des Sachverhalts, dass Freud in seinem Brief an E. Silberstein vom 7. März 1875 Feuerbach als denjenigen bezeichnet, »den ich unter allen Philosophen am höchsten verehre und bewundere« (a.a.O., 111), nicht außer Acht lassen, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht einmal neunzehn Jahre alt ist, seine Kenntnis der philosophischen Literatur also nicht sehr umfassend sein kann. Bezeichnenderweise muss er denn auch bereits eine Woche nach besagter Äußerung, inzwischen unter den Einfluss F. Brentanos geraten, feststellen, dass er »nicht im Stande« ist, »ein einfaches theistisches Argument zu widerlegen« (Brief vom 15. März 1875, a.a.O., 118). Am 11. April 1875 schreibt er dann: »Vorläufig muß ich bekennen, daß ich die Natur der Fragen, um die es sich mir handelt, gröblich mißkannt und völligen Mangel an philosophischer Einsicht besessen habe. Das reumütige Geständnis eines ehemaligen feschen, trotzigen Materialisten! Aber auch im neuen Rock fühl' ich mich gar nicht behaglich und habe darum für das Bes-

137 te gehalten, die Entscheidung für lange Zeit auszusetzen, bis ich in Philosophie gewandter und in Naturwissenschaft gereifter bin.« (a.a.O., 124) 43 Nicht, dass Freud in »Die Zukunft einer Illusion« (1927) ganz bewusst die Namen jener »andere(n), bessere(n) Männer« nicht nennt, die das, was er in Hinblick auf die Religionsproblematik zu sagen hat, schon vor ihm und dazu noch »viel vollständiger, kraftvoller und eindrucksvoller« gesagt haben, ist in der Frage der Nähe Freuds zu Feuerbach das eigentlich Brisante, sondern dass er mit dem Hinweis auf seine »großen Vorgänger« zugleich den Anspruch verbindet, deren Religionskritik »etwas psychologische Begründung hinzugeßgt« zu haben (vgl. Ges. W. Bd. XIV, 358, Hervorh. P.K.). Feuerbachs (nicht nur von Theologen angefochtene) Pionierleistung auf dem Gebiet der Religionswissenschaft war es doch gerade, die Entstehung der Religion ausschließlich psychologisch zu erklären! 44 Durchaus im Sinne Feuerbachs (wenngleich wohl kaum in bewusster Anlehnung an ihn) kritisiert E. Bleuler, gemeinsam mit Freud Herausgeber des Jahrbuchesflirpsychoanalytische und psychopathologische Forschungen, in seinem 1912 erschienenen Artikel »Das autistische Denken« die fireudsche Sexualtheorie: »Nach Freud ist die Sexualität beim Menschen zunächst eine ganz autoerotische, und es bedarf einer besonderen Entwicklung, daß die Libido sich nach außen, auf Objekte wirft. Ich muß dies nicht nur deshalb ablehnen, weil eine derartige Entwicklung in der Phylogenese unmöglich wäre, sondern namentlich deshalb, weil mir die Beobachtung der kleinen Kinder das Gegenteil zu zeigen scheint.« (Bleuler 1912, 18, Fußn. 1) 45 Zu diesen Fragen gehört außer der in der vorliegenden Studie behandelten Problematik der Beziehungen Wygotskis zu den Auffassungen Feuerbachs etwa auch die Frage nach dem Verhältnis der »kulturhistorischen Theorie« zu der von M. Lazarus und H. Steinthal in den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts begründeten »Völkerpsychologie«. Nichtsdestoweniger bleibt freilich »Understanding Vygotsky« das bis dato am breitesten angelegte und dabei am sorgfältigsten recherchierte Buch über Leben und Werk Wygotskis, das u.a. auch zur längst überfalligen Korrektur des gängigen Klischees von der produktiven Weiterführung der ursprünglichen Anschauungen Wygotskis durch A.N. Leontjew beitragen dürfte. 46 Im ersten Kapitel seiner bereits 1925 fertig gestellten, aber erst vierzig Jahre später publizierten »Psychologie der Kunst« bezieht sich Wygotski wiederholt sowohl auf den ersten von Plechanows »Briefen ohne Adresse« als auch dessen »Grundprobleme des Marxismus« (vgl. Wygotski 1976, 12 ff., 16). Während der erste der »Briefe ohne Adresse« lediglich den globalen Hinweis enthält, N.G. Tschernyschewskis Dissertation sei »ein äußerst interessantes und einzigartiges Beispiel der Anwendung der allgemeinen Prinzipien des Feuerbachschen Materialismus auf die Fragen der Ästhetik« (Plechanow 1955a, 64 f.), finden sich im zweiten und dritten Kapitel der »Grundprobleme des Marxismus« zahlreiche Feuerbach-Zitate (vgl. Plechanow 1958, 17-33). Dabei erfolgte der Anschluss Wygotskis an die Auffassungen Plechanows im wesentlichen unter der Perspektive, zwei in der zeitgenössischen Ästhetik einander feindlich gegenüberstehende Forschungsansätze: die psy-

138 chologische und die antipsychologische Richtung, miteinander zu vermitteln. Von besonderer Wichtigkeit war für ihn in diesem Zusammenhang, dass Plechanow zufolge »die Psyche des gesellschaftlichen Menschen ... als der gemeinsame Untergrund aller Ideologien der jeweiligen Epoche, darunter auch der Kunst angesehen« werden muss (Wygotski a.a.O., 13), konnte dieser Gedanke doch als systematischer Ausgangspunkt für die Begründung des Theorems dienen, dass eine wissenschaftliche Betrachtung der Kunst notwendig auch die psychologische Analyse enthalten müsse, womit denn jene verkürzte marxistische Perspektive konterkariert wäre, für welche die Kunst lediglich »eine Form der Ideologie« ist, »die wie alle übrigen Formen als Überbau auf der Basis der ökonomischen Beziehungen und Produktionsverhältnisse entsteht« (a.a.O., 11). Mehr noch: Indem man, gestützt auf die von Plechanow für das Verhältnis von Basis und Überbau vorgeschlagene Formel (vgl oben, Anmn. 30 u. 32), davon ausging, »daß die Kunst durch die Psyche des gesellschaftlichen Menschen zuvörderst mitbestimmt und bedingt wird«, zeichnete sich »auf der Grundlage der marxistischen Soziologie« regelrecht eine »Versöhnung und Übereinstimmung zwischen der psychologischen und der antipsychologischen Richtung der Ästhetik« ab. (vgl. a.a.O., 13) Bei alledem, so Wygotski, neige das besagte »soziologische System - die Philosophie des historischen Materialismus - natürlich nicht im geringsten dazu, irgend etwas aus der Psyche des Menschen als der Endursache zu erklären«. Sie sei aber »genausowenig« dazu »geneigt, die Psyche und die Wichtigkeit ihres Studiums als Vermittlungsmechanismus, mit dessen Hilfe die ökonomischen Verhältnisse und die politisch-soziale Ordnung diese oder jene Ideologie schaffen, abzulehnen oder zu ignorieren«. Vielmehr beharre »diese Theorie (bei der Untersuchung komplizierter Formen der Kunst) eindeutig auf der Notwendigkeit, die Psyche zu studieren, weil der Abstand zwischen den ökonomischen Verhältnissen und der ideologischen Form immer größer wird und die Kunst nicht mehr unmittelbar aus den ökonomischen Verhältnissen erklärt werden kann«, (ebd.) Tatsächlich habe nämlich eine rein soziologische Analyse der Kunst zwangsläufig ihre Grenzen: »Gegenstand des soziologischen Studiums kann entweder die Ideologie an und für sich oder ihre Abhängigkeit von diesen oder jenen Formen der gesellschaftlichen Entwicklung sein, niemals aber wird die soziologische Untersuchung als solche, ohne Ergänzung durch die psychologische Untersuchung, imstande sein, die nächste Ursache der Ideologie - die Psyche des gesellschaftlichen Menschen - aufzudecken.« (a.a.O., 14) Andererseits ergebe sich bei der Berücksichtigung der »besondere(n) Rolle, die der Kunst als ganz besonderer ideologischer Form (zufallt)«, einer Rolle, die ihr daraus erwächst, dass sie »eine ganz besondere psychische Sphäre des gesellschaftlichen Menschen, die Sphäre seines Gefühls nämlich, systematisiert« (ebd.), eine Reihe von »Schwierigkeiten und Fragen, die die frühere« (d.h. von idealistischen Prämissen ausgehende) »Methodologie der psychologischen Ästhetik überhaupt nicht gekannt« habe (a.a.O., 15). Die »wesentlichste dieser neuen Schwierigkeiten« betreffe »die Abgrenzung zwischen der Sozial- und der Individualpsychologie beim Studium der Fragen der Kunst«. Hier sei zweifellos eine »grundlegende Revision« von-

139 nöten, lasse sich doch zeigen, dass »die geläufige Auffassung vom Gegenstand und vom Material der Sozialpsychologie ... von Grund auf falsch« sei. So habe etwa »die Sozialpsychologie oder Völkerpsychologie, wie sie Wundt verstand, zum Gegenstand ihres Studiums die Sprache, die Mythen, das Brauchtum, die Kunst, die Religionssysteme, die Rechts- und Moralnormen gewählt«. Tatsächlich sei dies alles aber »keine Psychologie mehr«; vielmehr handle es sich dabei um »Ausfällungen oder Kristalle von Ideologie«, während »die Aufgabe der Psychologie« gerade darin bestehe, »die Lösung selbst, die soziale Psyche selbst zu untersuchen, und nicht die Ideologie«. Anders ausgedrückt: »Die Sprache, das Brauchtum, die Mythen sind Resultat des Wirkens der sozialen Psyche, nicht ihr Prozeß. Darum ersetzt die Sozialpsychologie, wenn sie sich mit diesen Gegenständen befaßt, die Psychologie durch Ideologie.« (ebd.) Dabei liege der entscheidende Grundfehler, der nicht nur von der »bisherigen Sozialpsychologie« (zu deren Vertretern Wygotski übrigens auch G. Le Bon und S. Freud rechnet), sondern ebenso auch von der sich neu formierenden »kollektiven Reflexologie« (Bechterew) begangen werde, darin, dass man »die soziale Psyche als sekundär«, d.h. »als etwas betrachtet, was aus der individuellen Psyche entsteht«, wobei man von der Voraussetzung ausgehe, »daß es eine besondere individuelle Psyche gebe und aus der Wechselwirkung dieser individuellen Psychologien dann die kollektive, für die jeweiligen Individuen gemeinsame Psychologie (entstehe)«, (ebd.) Nach dieser Auffassung sei also »die Sozialpsychologie« gewissermaßen die »Psychologie einer Sammelpersönlichkeit, und zwar in der Weise, wie eine Menschenmenge, die sich aus einzelnen Leuten ansammelt, doch auch ihre überpersönliche Psychologie« besitze (a.a.O., 15 f.). Somit fasse »die nichtmarxistische Sozialpsychologie das Soziale grob empirisch auf, unbedingt als Menge, als Kollektiv, als Beziehung zu anderen Menschen«. Und »als Vereinigung von Menschen« werde »die Gesellschaft als Zusatzbedingung für die Tätigkeit« des Individuums aufgefasst, wobei man sich »gegen den Gedanken« sträube, »daß in der intimsten, persönlichsten Bewegung des Denkens, des Gefühls usw. die Psyche der Einzelperson dennoch sozial bedingt ist«. (a.a.O., 16) Insofern es nun aber »keinerlei Schwierigkeiten« bereite, »zu zeigen, daß die Psyche des Einzelmenschen gerade den Gegenstand der Sozialpsychologie bildet«, erweise sich die häufig geäußerte Ansicht als falsch, wonach »die eigentlich marxistische Psychologie die Sozialpsychologie (sei), die die Genesis der ideologischen Formen mit der speziellen marxistischen Methode untersuche, welche darin bestehe, die Herkunft der besagten Formen in Abhängigkeit vom Studium der Volkswirtschaft zu studieren«, während »die empirische und experimentelle Psychologie« ebenso wenig »marxistisch werden (könne), wie die Mineralogie, die Physik, die Chemie usw.« Tatsächlich sei »gerade der umgekehrte Gedanke zutreffend, daß nämlich allein die Individualpsychologie resp. die empirische und experimenmtelle Psychologie marxistisch werden kann«; denn: »wenn wir die Existenz der Volksseele, des Volksgeistes usw. negieren«, wie sollte es dann möglich sein, »die gesellschaftliche von der persönlichen Psychologie (zu) unterscheiden«? (ebd. - letzte Einfüg. P.K.) Positiv ausgedrückt: »Eben die Psychologie des Einzelmenschen, das, was er im Kopf hat, ist die Psyche, die die Sozialpsy-

140 chologie studiert. Eine andere Psyche gibt es nicht. Alles andere ist entweder Metaphysik oder Ideologie.« Zu behaupten, »die Psychologie des Einzelmenschen könne sowenig wie die Mineralogie, die Chemie usw. marxistisch, also eine soziale werden«, heiße daher »den grundlegenden Gedanken von Marx nicht verstehen, der da lautet: 'Der Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein zoon politicon, nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann.'« (ebd. - zum Zitat im Zitat vgl. MEW 13, 616). Dabei erhelle »die Falschheit der bisherigen Auffassung« vom Gegenstand und den Aufgaben der Sozialpsychologie »nicht nur aus theoretischen Erwägungen«, sondern ergebe sich »(weit klarer noch) aus den praktischen Erfahrungen der Sozialpsychologie selbst«. Wenn beispielsweise Wundt im Teil II seiner »Völkerpsychologie« (1905, 593) »die Herkunft der Produkte des sozialen Schöpfertums« behandele, sei er »gezwungen, sich letzten Endes dem Schaffen eines einzelnen Individuums zuzuwenden« und dann zu sagen, dass »das Schaffen eines Individuums von Seiten eines anderen als adäquater Ausdruck seiner eigenen Vorstellungen und Affekte akzeptiert zu werden (vermag)« und »darum viele verschiedene Personen gleichermaßen die Schöpfer ein und derselben Vorstellung sein (können)«. Eine Deutung, die, so Wygotski, von Bechterew in seinem Buch über kollektive Reflexologie zu Recht kritisiert worden sei, und zwar mit dem Argument, dass »es dann eine Sozialpsychologie offensichtlich nicht geben« könne, weil ihr unter diesen Voraussetzungen »keine neuen Aufgaben zugewiesen werden über die hinaus, die auch die Psychologie der Einzelpersonen zu bearbeiten hat« (Bechterew 1921, 15; zit. nach Wygotski 1976, 17). In der Tat, so Wygotski weiter, sei die ehemals allgemein akzeptierte Doktrin, »es bestünde ein prinzipieller Unterschied zwischen den Prozessen und Produkten des Volksschaffens« einerseits »und der Einzelschöpfung« andererseits, anscheinend inzwischen »einmütig von allen aufgegeben«, denn tatsächlich erweise ja das »genaue Studium, daß der Unterschied hier rein quantitativ« sei (vgl. Wygotski ebd.). Daher müsse man sich bei der Untersuchung beispielsweise der »Volkspoesie« von der »ganz falsche(n) Vorstellung« frei machen, dass sie »kunstlos« entstehe und »vom ganzen Volk« geschaffen werde. In Wahrheit werde sie nämlich »von professionellen Erzählern, Rhapsoden, Sängern und anderen berufsmäßigen Kunstschöpfern hervorgebracht, die über die traditionelle reiche und hochspezialisierte Technik ihres Handwerks verfügen und sich ihrer ebenso bedienen wie die Schriftsteller späterer Zeit«. (a.a.O., 17 f.). Andererseits ist aber »auch der Schriftsteller, der sein Geistesprodukt schriftlich niederlegt, keineswegs der individuelle Schöpfer seines Werkes«; schließlich »hat er das Verfahren, Verse zu schreiben, rhythmisch zu gestalten, das Sujet in bestimmter Weise aufzubauen usw., nicht selber erfunden, sondern ist ... nur der Ordner des gewaltigen Erbes der literarischen Tradition« und schon deshalb »in ungeheurem Maße von der Entwicklung der Sprache, des Versbaus, der traditionellen Sujets, Themen, Bilder und Methoden, der Komposition usw. abhängig«. (a.a.O., 18) Würde man daher den Versuch unternehmen, zu »berechnen, was an jedem literarischen Werk recht eigentlich vom Autor stammt und was er in fertiger Form von der literarischen Tradition über-

141 nommen hat«, dann würde man »sehr oft, fast immer herausfinden, daß dem persönlichen Schöpfertum des Verfassers nur die Wahl dieser oder jener Elemente, ihre Kombination, die begrenzte Variation allgemein anerkannter Schablonen, die Übertragung der einen traditionellen Elemente in andere Bereiche usw. gehört« (ebd.). Wenn so, nach allem, die Hinfälligkeit der traditionellen Unterscheidung zwischen Individual- und Sozialpsychologie deutlich wird, dann muss offensichtlich eine andere Unterscheidung getroffen werden - nämlich die zwischen Sozial- und Kollektivpsychologie. Grundlage dieser Unterscheidung ist dabei die Einsicht, dass, wenn der »Gegenstand der Sozialpsychologie ... eben die Psyche des Einzelmenschem ist, zwangsläufig »der Gegenstand der bisherigen Individualpsychologie mit der Differentialpsychologie zusammenfällt, deren Aufgabe es ist, die individuellen Unterschiede bei den einzelnen Personen zu studieren« (a.a.O., 19). Denn: Mit der Feststellung, dass »alles in uns sozial« ist, ist ja keineswegs ausgesagt, »daß ausnahmslos alle psychischen Eigenschaften eines einzelnen Menschen auch allen anderen Mitgliedern der jeweiligen Gruppe eigen sind«. Vielmehr müsse davon ausgegangen werden, dass immer nur »ein bestimmter Teil der persönlichen Psychologie als Eigentum des entsprechenden Kollektivs gelten (darf)«. Und eben »diesen Teil der persönlichen Psychologie, wie er sich kollektiv äußert« studiere »jeweils die Kollektivpsychologie, wenn sie die Psychologie des Militärs, der Kirche usw. untersucht«, so dass »also«, dies das Fazit Wygotskis, »statt der Sozial- und der Individualpsychologie die Sozial- und die Kollektivpsychologie zu unterscheiden (sind)« (ebd.). 47 Wie die »Psychologie der Kunst« ist auch das »Krisen«-Essay zu Lebzeiten Wygotskis nicht veröffentlicht worden; es erschien, mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Abfassung, erstmals 1982 im Rahmen der sechsbändigen Wygotski-Werkausgabe (Moskau 1982-84). Angesichts der in der einschlägigen Sekundärliteratur vorherrschenden systematischen Vernachlässigung des Verhältnisses Wygotskis zu den Auffassungen Feuerbachs kann der Sachverhalt nicht scharf genug betont werden, dass Wygotski in diesem Essay (bei dem es sich unbestritten um eine der wichtigsten theoretisch-methodologischen Arbeiten in der Psychologie des 20. Jahrhunderts handelt) die Autorität Feuerbachs genau dort bemüht, wo es um die 'letzten Fragen' der Psychologie: ihr generelles Gegenstandsverständnis, ihre Stellung im System der Wissenschaften, ihre grundlegenden Methodenprobleme geht. Von zentraler Bedeutung ist dabei für ihn die Frage, welche Haltung eine unter den Prämissen des Marxismus antretende Psychologie gegenüber jenem methodologischen Grundproblem einzunehmen hat, das in der auf den ersten Blick paradoxen Feststellung liegt, dass zwar »in der Psychologie das Subjekt und Objekt identisch« sind, gleichwohl aber auch »in der Psychologie der Unterschied zwischen Denken und Sein nicht aufgehoben« ist (vgl. Feuerbach »Wider den Dualismus ...« in: GW 10, 122 ff.) - was bedeutet, dass die Psychologie unbeschadet ihrer vermeintlichen Sonderstellung in letzter Konsequenz mit genau denselben erkenntnistheoretischen Problemen konfrontiert ist wie die übrigen Wissenschaften.

142 Entsprechend steht für Wygotski fest, dass sich hinter der auch bei den 'marxistischen' Psychologen vorherrschenden »Anerkennung eines grundlegenden Unterschieds zwischen Psychischem und physischer Natur« eine »Identifikation von Erscheinung und Sein, von Geist und Materie innerhalb der Psychologie, die Auflösung der Antinomie durch Beseitigung eines Gliedes in der psychologischen Erkenntnis, nämlich der Materie« verbirgt. Und ebendies, so Wygotski unter Verweis auf eine von E. Husserl in seiner »Philosophie als strenge Wissenschaft« getroffene Bestimmung (vgl. Husserl 1965, 35), sei »Husserlscher Idealismus reinsten Wassers«, während »in der Unterscheidung zwischen Erscheinung und Sein in der Psychologie und in der Anerkennung des Seins als reales Forschungsobjekt der ganze Materialismus Feuerbachs zum Ausdruck« komme. (ASch Bd. 1, 236) Und da genau hier, nämlich in der Bestimmung des »Wesen(s) der Kluft zwischen Idealismus und Materialismus in der Psychologie«, der eigentliche neuralgische Punkt der Krise der Psychologie liege, nehme er es auf sich, »der ganzen Prominenz der Philosophen, den Idealisten wie den Materialisten, zu beweisen, ... daß nur die Formel von Husserl und die von Feuerbach eine konsequente Lösung des Problems in den zwei möglichen Varianten bieten«. Mehr noch: Er nehme es auf sich, »ausgehend von dieser Gegenüberstellung, der Psychologie ins lebendige Fleisch zu schneiden, sie in zwei nicht zusammengehörende, jedoch fälschlicherweise zusammengewachsene Körper zu teilen«; dies sei »das einzige, was der objektiven Sachlage gerecht« werde. (a.a.O., 236 f.) Überhaupt sei »Trennung, Trennung bis zum letzten« die »Aufgabe der Psychologie heute« - und dies umso mehr, als »viele 'Marxisten' ... nicht in der Lage« seien, »den Unterschied zwischen ihrer und der idealistischen Theorie der psychologischen Erkenntnis zu zeigen«, und zwar einfach deswegen, »weil es ihn nicht gibt« (a.a.O., 238 f.). Bildlich gesprochen, vermöge daher jetzt nur noch »das Messer des Chirurgen« die Situation zu retten, wobei »der Schnitt, den das Messer der Zukunft ziehen« werde, »zwischen der Formel von Husserl und der von Feuerbach verlaufen« müsse; denn: »Die Sache ist die, daß im Marxismus das Problem der Erkenntnistheorie im Hinblick auf die Psychologie überhaupt nicht aufgeworfen wurde ... Dafür haben die Idealisten diese Idee kristallklar herausgearbeitet. Und wir behaupten: Der Standpunkt unserer 'Marxisten' ist Machismus in der Psychologie, ist die Identifikation von Sein und Bewußtsein. Eins von beidem ist doch nur möglich: Entweder ist uns das Psychische unmittelbar durch Introspektion zugänglich, dann schließen wir uns Husserl an, oder man muß beim Psychischen zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Sein und Denken unterscheiden, dann stehen wir hinter Feuerbach. Was aber bedeutet das? Das bedeutet, meine Freude und mein introspektives Erfassen dieser Freude sind zwei unterschiedliche Dinge.« (239) In diesem Sinne müsse man denn auch jenes »bei uns in Mode gekommene« Feuerbach-Zitat interpretieren, wonach das, »was flir mich oder subjektiv ein rein geistiger, immaterieller, unsinnlicher Akt« sei, »an sich oder objektiv ein materieller, sinnlicher Akt (ist)« (ebd. - vgl. GW 10, 125). Gewöhnlich werde diese Aussage angeführt, »um die subjektive Psy-

143 chologie zu erhärten« - in Wirklichkeit spreche sie aber »gerade gegen sie«. Tatsächlich komme doch alles darauf an, was der eigentliche Gegenstand der Untersuchung sei, »diese(r) Akt an sich, so wie er ist, oder so, wie er mir erscheint? Der Materialist überlegt nicht lange, wie bei der ähnlichen Frage nach der Objektivität der Welt, und sagt: de(r) objektive Akt an sich. Der Idealist sagt: meine Wahrnehmung.« (Wygotski a.a.O., 239 f.) Eine entsprechende Bedeutung komme daher auch der Feststellung Feuerbachs zu, derzufolge »(uns) in der Psychologie die Tauben gebraten ins Maul (fliegen)«, dass »in unser Bewußtsein und Gefühl nur die Schlußsätze (fallen), aber nicht die Prämissen, nur die Resultate, aber nicht die Prozesse des Organismus« (vgl. GW 10, 124); denn wie könne es, so das Fazit Wygotskis, »eine Wissenschaft über die Ergebnisse ohne Prämissen« geben (ASch Bd. 1,245)? Vgl. in diesem Sinne auch Wygotskis programmatischen Hinweis auf Feuerbach in der erstmals 1930 publizierten Abhandlung »Psychisches, Bewusstsein, Unbewusstes« (Sobr. sotsch. Tom 1, 141). 48 Vgl. oben, Anm. 46. 49 Vgl. hierzu insbesondere den zweiten Aphorismus im Ersten Buch des »Neuen Organon« von 1620: »Weder die bloße Hand noch der sich selbst überlassene Verstand vermögen Nennenswertes; durch unterstützende Werkzeuge wird die Sache vollendet; man bedarf ihrer nicht weniger für den Verstand als für die Hand. Und so, wie die Werkzeuge die Bewegung der Hand wecken oder lenken, so stützen und schützen in gleicher Weise die Werkzeuge des Geistes die Einsicht.« (zit. nach Bacon 1982, 41) Spinoza hat dann in seiner »Abhandlung über die Läuterung des Verstandes« (1677) diese Analogie zwischen den »geistigen Werkzeugen« und den Mitteln der materiellen Produktion dahingehend weiter ausgebaut, dass es auf beiden Seiten einen kontinuierlichen Fortschritt gebe. So hätten die Menschen »in den ersten Zeiten« versucht, »mit ihren angeborenen Werkzeugen nur das Leichteste, wenn auch mühevoll und unvollkommen, zustande zu bringen«. Und nachdem sie »das vollbracht« hatten, »konnten sie schon mit weniger Mühe Schweres und Besseres verfertigen«, so dass »sie nach und nach von den einfachsten Arbeiten zu Werkzeugen und von diesen zu anderen Arbeiten und Werkzeugen fortgeschritten« seien, »bis sie es schließlich dahin brachten, daß sie so viele und so schwierige Dinge mit leichter Mühe verfertigten«. Und auf die gleiche Weise mache sich »auch der Verstand mittels seiner angeborenen Kraft geistige Werkzeuge, durch welche er neue Kräfte zu neuen geistigen Taten« erlange, was »ihn in den Stand« setze, »wieder andere Werkzeuge zu schaffen oder mit vermehrter Kraft weiter zu forschen«, so dass er »allmählich vorwärts« schreite, bis er schließlich den »Gipfel der Weisheit« erreiche (vgl. Spinoza 1960, 17 f.). Ein Argumentationsgang, der von Wygotski bereits in seinem »Krisen«-Essay in aller Ausführlichkeit zitiert wird (vgl. ASch Bd. 1, 98). 50 Wie es scheint, wurde Wygotski, nachdem er schon als Gymnasiast Bekanntschaft mit Hegels Philosophie der Geschichte gemacht hatte (vgl. Dobkin 1982, 26), zur intensiveren Befassung mit Hegels Konzeption der Entwicklung des Geistes durch eine (auf 1927/28 zu datierende) gründli-

144 chere Rezeption von K. Bühlers »Die geistige Entwicklung des Kindes« angeregt (vgl. Bühler 1924, 429 ff.). 51 Für Freud kommt die »funktionelle Wichtigkeit des Ichs« darin zum Ausdruck, »daß ihm normaler Weise die Herrschaft über die Zugänge zur Motilität eingeräumt ist«, es »so im Verhältnis zum Es dem Reiter (gleicht), der die überlegene Kraft des Pferdes zügeln soll, mit dem Unterschied, daß der Reiter dies mit eigenen Kräften versucht, das Ich mit geborgten« (Ges. W. Bd. XIII, 253). Wie eine präzisierende Fortführung des freudschen Gedankens mutet es dann an, wenn Wygotski, der den betreffenden Passus bereits in seinem Aufsatz über das Bewusstsein als Problem der Psychologie des Verhaltens (1925) zitiert hatte (vgl. ASch Bd. 1, 305), in den Thesen zu seinem 1930er Vortrag über die instrumenteile Methode in der Psychologie davon spricht, dass »sich das Kind psychisches Werkzeug aneignet und mit seiner Hilfe die eigenen natürlichen psychischen Funktionen beherrschen lernt« (ASch Bd. 1, 316). 52 So findet sich etwa in einem (wahrscheinlich von 1929 datierenden) »Eine konkrete Psychologie des Menschen« betitelten Manuskriptentwurf Wygotskis folgender Passus: »Es denkt nicht das Denken, es denkt der Mensch. Dies ist der Ausgangsstandpunkt. [Am Rand] Feuerbach: Deborin - Hegel, XXVI. Was ist der Mensch? Für Hegel ein logisches Subjekt. Für Pavlov ist er Soma, Organismus. Für uns - eine gesellschaftliche Person = eine Gesamtheit von gesellschaftlichen Beziehungen, in einem Individuum verkörpert (psychologische Funktionen, gemäß einer sozialen Struktur). [Am Rand] Der Mensch ist für Hegel immer Bewußtsein oder Selbstbewußtsein XXXVII.« (zit. nach Vygotskij 1989, 299 f. - die römischen Zahlen im Text sind Seitenangaben, die sich auf das Vorwort A.M. Deborins zum 1929 erschienenen 1. Band der Gesammelten Werke Hegels in russischer Sprache beziehen) Die ursprüngliche Quelle des Quasi-Feuerbach-Zitats dürften dabei wohl die §§ 51 und 52 der »Grundsätze der Philosophie der Zukunft« sein, wo es heißt: »Die neue Philosophie hat daher zu ihrem Erkenntnisprinzip, zu ihrem Subjekt nicht das Ich, nicht den absoluten, d.i. abstrakten, Geist, kurz, nicht die Vernunft in abstracto, sondern das wirkliche und ganze Wesen des Menschen. Die Realität, das Subjekt der Vernunft ist nur der Mensch. Der Mensch denkt, nicht das Ich, nicht die Vernunft. (...) Nur ein reales Wesen erkennt reale Dinge; nur wo das Denken nicht Subjekt Jür sich selbst, sondern Prädikat eines wirklichen Wesens ist, nur da ist auch der Gedanke nicht vom Sein getrennt. (...) Nur wenn man das Denken vom Menschen absondert, für sich selbst fixiert, entstehen die peinlichen, unfruchtbaren und für diesen Standpunkt unauflöslichen Fragen, wie das Denken zum Sein, zum Objekt komme. Denn fiir sich selbst fixiert, d.h. außer den Menschen gesetzt, ist das Denken außer allem Verbände und Zusammenhang mit der Welt.« (GW 9, p. 333 f.) 53 Den Anlass hierzu bildeten die 1930 erschienenen, von Wygotski gemeinsam mit A.R. Lurija verfassten, »Studien zur Geschichte des Verhaltens« (vgl. Luria & Vygotsky 1992) sowie A.N. Leontjews Buch »Die Entwicklung des Gedächtnisses«, das, schon 1930 fertig gestellt und in Druck gege-

145 ben, erst 1931 erscheinen konnte, nachdem es von Wygotski und Leontjew mit einem umfangreichen selbstkritischen Vorwort versehen worden war. Im Zusammenhang dieser Auseinandersetzungen wurde dann wohl auch erst die Bezeichnung »kulturhistorische Theorie« für den von Wygotski, Lurija und Leontjew vertretenen Ansatz geprägt. 54 Zur ausführlichen Würdigung der in den Jahren 1929-31 in Einzellieferungen erschienenen »Pädologie des frühen Jugendalters« sowie ihrer Zuordnung zu einer »Übergangsperiode im Schaffen Wygotskis« vgl. die Einleitung von D.B. Elkonin im zweiten Band der »Ausgewählten Schriften« Wygotskis (ASch Bd. 2, 25-31). 55 Die ersten fünf dieser insgesamt fünfzehn Kapitel umfassenden Monographie wurden 1960 im Rahmen des umfangreichen Wygotski-Sammelbandes »Die Entwicklung der höheren psychischen Funktionen« veröffentlicht, für dessen Herausgabe neben Leontjew und Lurija auch B.M. Teplow verantwortlich zeichnete. Fälschlicherweise behaupteten die Herausgeber seinerzeit in ihrem die »Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen« betreffenden Kommentar, die Arbeit sei »nicht zu Ende geschrieben« worden (zit. nach Vuigotskij 1987, 213 - Übers. P.K.). Die vollständige Fassung erschien dann erstmals 1983 im dritten Band der WygotskiWerkausgabe. (Vgl. hierzu auch »Kommentarii« in: Sobr. sotsch., Tom 3, 354 sowie Friedrich 1993, 134). 56 »Wir müssen«, schreibt Wygotski in seiner 1929 im Journal of Genetic Psychology publizierten Studie über das Problem der kulturellen Entwicklung des Kindes, »die Hauptlinien in der Entwicklung des kindlichen Verhaltens untersuchen. Da ist erstens die eng mit den Prozessen des allgemeinen organischen Wachstums und dem Heranreifen des Kindes verknüpfte Linie der natürlichen Entwicklung des Verhaltens. Zweitens ist da die Linie der kulturellen Vervollkommnung der psychischen Funktionen, die Erarbeitung neuer Denkverfahren, die Beherrschung der kulturellen Methoden des Verhaltens.« (Vygotski 1929, 415 - Übers. P.K.) »Normalerweise«, so Wygotski weiter, »verschmelzen die beiden Linien der psychischen Entwicklung (die natürliche und die kulturelle) derart miteinander, dass es schwierig ist, sie voneinander zu unterscheiden und ihren Verlauf jeweils für sich zu verfolgen« (a.a.O., 417). Dabei sei »das Gesetz der Konvergenz der inneren und äußeren Faktoren«, wie der Entwicklungspsychologe W. Stern es genannt habe, »vollständig auf die kulturelle Entwicklung des Kindes anwendbar«. Auch hier gelte, dass es einerseits »nur auf einem bestimmten Niveau der inneren Entwicklung des Organismus möglich wird, irgendwelche kulturellen Verfahren zu beherrschen«, während andererseits »ein innerlich vorbereiteter Organismus unbedingt des bestimmenden Einflusses der Umwelt« bedürfe, »um diese Entwicklung vollziehen zu können«. So beherrsche denn das Kind »auf einer bestimmten Stufe seiner organischen Entwicklung die Lautsprache«, auf einer späteren die Schriftsprache und auf einer noch späteren dann »das Dezimalsystem«. (a.a.O., 423) Wenngleich dabei »der Organismus, der die von der Umwelt bereitgestellten Mittel des kulturellen Verhaltens beherrscht, der aktive Teil« sei, spiele »dennoch im Prozess der kulturellen Entwicklung die organische Reifung eher die Rolle einer Bedingung als die einer treibenden Kraft, da die Struktur dieses Pro-

146 zesses durch äußere Einflüsse bestimmt« werde. »Alle Mittel des gesellschaftlichen Verhaltens«, so Wygotski, »sind in ihrem Wesen gesellschaftlich. Ein Kind, das Russisch oder Englisch beherrscht, und ein Kind, das die Sprache irgendeines primitiven Stammes beherrscht, beherrschen, mit Bezug auf die Umgebung, in der sie sich entwickeln, zwei vollständig verschiedene Denksysteme« (a.a.O., 423 f.). 57 Auch in der neueren Sekundärliteratur (vgl. etwa Kozulin 1990 sowie van der Veer & Valsiner 1991) wird gewöhnlich dem Umstand zu wenig Beachtung geschenkt, dass dieses Konzept bei Wygotski eine eigentümliche Doppelbedeutung hat: Einerseits bezieht sich nämlich der Ausdruck »psychische Werkzeuge« auf die Mittel, die im Zusammenhang der »geistigen Arbeit«, insbesondere bei der Begriffsbildung, eingesetzt werden - ein fest in der Tradition der europäischen Geistesgeschichte der Neuzeit verwurzelter Topos (vgl. oben, Anm. 49), den wir in recht entwickelter Form bereits bei den Begründern der »Völkerpsychologie« M. Lazarus und H. Steinthal antreffen (siehe hierzu die nachfolgende Studie, Kap. 9) und der dann seine besondere Zuspitzung in der Kennzeichnung der Sprache als »nützlichstes Werkzeug des Denkens« erfährt (so bei W. Wundt und K. Bühler). In diesem Sinne verwendet, fungiert der Ausdruck »psychisches Werkzeug« bei Wygotski eindeutig als ein direktes Analogon zum technischen Werkzeug als Mittel der materiellen Produktion (vgl. ASch Bd. 2, 539 sowie Leontjew & Lurija 1958, 169). Andererseits werden aber von ihm die »psychischen Werkzeuge« auch als Mittel zur Lenkung und Beherrschung der sogenannten inneren Natur des Menschen, d.h. seines Verhaltens, einschließlich der psychischen Funktionen aufgefasst. Wenngleich das erste Konzept in der »kulturhistorischen Theorie« gewissermaßen 'mitläuft' (vgl. Vygotski 1929, 417, 428, 429), ist es gerade die zweite Bedeutungsvariante bzw. ihre Kontamination mit der ersten (vgl. Wygotski 1969, 111), die das eigentliche Spezifikum der »kulturhistorischen Theorie« ausmacht. 58 Hier heißt es: »Indem Das Kind sich selbst (sein Verhalten) beherrscht, verfährt es auf dieselbe Weise wie bei der Beherrschung der äußeren Natur, d.i. durch Zuhilfenahme technischer Mittel. Der Mensch beherrscht sich selbst als eine Naturkraft, und zwar von außen, mit Hilfe einer besonderen kulturellen 'Technik der Zeichen'. Bacons, die Hand gleichermaßen wie den Intellekt betreffendes, Prinzip könnte als Leitgedanke für alle gleichgelagerten Untersuchungen dienen: Nec manus nuda, nec intellectus sibi permissus multum valet: instrumentis et auxiliis res perficitur.« (Vygotski 1929, 431 - Übers. P.K.) 59 Quellenverweis auf den betreffenden Passus im »Kapital« (vgl. MEW 23, 192). 60 Quellenverweis auf den betreffenden Passus im »Kapital« (vgl. MEW 23, 192). 61 Wenn das Kind erst einmal »die Struktur einer äußeren Methode« beherrsche, so Wygotski, konstruiere es »den inneren Prozess entsprechend diesem Muster«. Es beginne, »innere Schemata« zu verwenden, benutze »seine

147 Erinnerungen sowie seine erworbenen Kenntnisse als Zeichen usw.« (Vygotski 1929, 427). 62 Um Missverständnisse zu vermeiden: Auch im 1931 publizierten Teil der »Pädologie des frühen Jugendalters« fungiert der Gedanke von den »zwei Linien im Entwicklungsprozeß des Kindes ... - der Linie der natürlichen, biologischen, organischen Entwicklung und der Linie der sozial-kulturellen Formung -, deren komplizierte Synthese den realen Prozeß ergibt«, weiterhin als umfassende Rahmentheorie (vgl. hierzu ASch Bd. 2, 358 sowie ausführlicher a.a.O., 369 f.). 63 Mitarbeiter Wygotskis während seiner Lehr- und Forschungstätigkeit am Leningrader Pädagogischen Institut »A.I. Herzen« (1932-34) 64 Aus L.A. Radsichowskis einleitendem Kommentar zur Werkausgaben-Version von »Denken und Sprechen« erfahren wir Folgendes über die Entstehungsbedingungen besagter Monographie: »Die ehemals einheitliche 'Wygotski-Schule' hatte sich aufgespalten. Leontjew, Saporoshez, Boshowitsch und einige andere waren zur Ukrainischen Psychoneurologischen Akademie in Charkow umgezogen, wo sie ihr eigenes theoretisches Programm zu entwickeln begonnen hatten. Deshalb und wegen der scharfen gegen die Grundpositionen der kulturhistorischen Theorie gerichteten Kritik fühlte Wygotski die Notwendigkeit, seine eigenen Perspektiven zu explizieren. Das war die Zielsetzung seines 1931-32er Manuskripts Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen ...« (zit. nach Coll. Works., Vol. 1, 375 - Übers. P.K.; zum Wortlaut des russ. Originals siehe Sobr. sotsch., Tom 2, 480) Zur Erläuterung der näheren Umstände der (zunächst nur 'organisatorischen') Spaltung der »Wygotski-Schule« und der sich daraus ergebenden Konsequenzen vgl. unten, Anm. 82 sowie ausführlicher van der Veer & Valsiner 1991, 289 ff. u. 373 ff. 65 Die Tatsache, dass sich auch noch in den späten Arbeiten Wygotskis Hinweise auf Hegel finden, sollte weder Anlass sein, an seiner materialistischen Grundhaltung zu zweifeln, noch zu dem Kurzschluss verleiten, Hinweise auf Hegel vertrügen sich schlecht mit einer Psychologie im Sinne Feuerbachs. Was den ersten Punkt anbelangt, so wären die einschlägigen Argumente W.I. Lenins anzuführen (vgl. etwa LW 38, 79-229) - und in Hinblick auf den zweiten Punkt können wir direkt auf Feuerbach rekurrieren, der in »Über Spiritualismus und Materialismus«, nachdem er Hegel in Grund und Boden kritisiert hat, schreibt: »Übrigens müssen wir noch schließlich der Gerechtigkeit gemäß nicht verschweigen, daß in Hegels Anmerkungen zu seiner Psychologie, da, wo er seinen Geist nicht in die Unnatur seiner Systematik und Dialektik einzwängt, aus der Tiefe gesunder Anschauung und Beobachtung hervorgeholte Perlen sich finden.« (GW 11, 163) Es ist daher keineswegs verwunderlich, wenn wir bei Feuerbach selbst die eine oder andere der »bei Hegel gefundenen Perlen« wiederentdecken. 66 Der von Wygotski verwendete russische Ausdruck lautet »sistema aktivnosti« (vgl. Sobr. sotsch., Tom 3, 32 ff.), was wörtlich übersetzt »Aktivitätssystem« heißen würde und daher dem tatsächlich von Jennings eingeführten

148 Terminus »action system« nicht ganz genau entspricht (vgl. hierzu ausführlicher Jennings 1962, 107 f., 110, 189, 300). 67 Bei dem meiner Darstellung zugrundeliegenden Text handelt es sich um die spanische Version der ersten fünf Kapitel der »Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen«. Sie ist erschienen im Rahmen eines 1987 von den beiden kubanischen Psychologen L. Oliva Ruiz und C. Trujillo Matienzo publizierten Auswahlbandes, der sich seinerseits auf die 1960 von Leontjew, Lurija und Teplow herausgegebene Sammelpublikation stützt (vgl. oben, Anm. 55). Die (alle fünfzehn Kapitel umfassende) Originalversion liegt mir zwar auch vor, kann aber von mir wegen mangelnder Sprachkenntnisse nur in sehr begrenztem Maße ausgewertet werden. Eine umfassende Würdigung der »Istorija raswitija wysschich psichitscheskich funkzi« ist mir daher bis auf weiteres nicht möglich (es bleibt zu hoffen, dass recht bald eine vollständige und vor allem qualifiziert übersetzte deutsche Ausgabe dieser Wygotski-Monographie vorgelegt wird, bei der es sich nach allem in mehrfacher Hinsicht um einen Schlüsseltext handelt). Auf den Hinweis, dass es sich bei den Zitaten um Übersetzungen von mir handelt, wird in der Folge verzichtet. 68 In »Über Spiritualismus und Materialismus« schreibt Feuerbach: »Aber auch das Organ hängt von seiner Verrichtung ab; es erschlafft, es magert ab, stirbt endlich gänzlich ab, wenn es nicht gehörig gebraucht und verbraucht wird (...) Übung macht den Meister. Erst durch das Denken wird das Hirn zum Denkorgan ausgebildet, ans Denken gewöhnt und durch die Gewohnheit, dies oder jenes, so oder so zu denken, auch so oder so modifiziert, bleibend bestimmt, gleichwie durch die Gewohnheit, in die Nähe oder Ferne zu sehen, die Gestalt des Sehorgans bleibend bestimmt wird. (...) Leibesbildung ist Selbstbildung, ... Leibesübung Geistesübung, die nur dadurch eine himmelweit verschiedene wird, je nachdem dieses oder jenes Organ oder ein und dasselbe Organ in dieser oder jener Richtung und Beziehung eingeübt und ausgebildet wird. Erst durch das Denken wird das Hirn zum wirklichen Denkorgan gebildet, aber durch das ausgebildete Denkorgan wird auch erst das Denken selbst gebildetes, geläufiges, gesichertes. Was ist hier ausschließliche Ursache oder ausschließliche Wirkung? Was Wirkung [ist], wird zur Ursache, und umgekehrt.« (GW 11, 154, 155) Dabei hat sich Feuerbach seinerseits bei der Ausformulierung dieser These sehr wahrscheinlich auf bestimmte Überlegungen F.W. Heidenreichs gestützt, die dieser anlässlich der Obduktion Kaspar Hausers angestellt hatte (vgl. oben, Anm. 16). Tatsächlich kann man nämlich bereits in dessen Hausers Verwundung, Krankheit und Leichenöfiiung dokumentierender Abhandlung Folgendes lesen: »Ich konnte während der Untersuchung des Gehirnes das Gefühl und kann während ich dieses schreibe, den Ausdruck: thierähnliche Bildung nicht unterdrücken. In diesem Falle war nicht die geistige Entwicklung durch mangelhafte Bildung des Hirnorganes gehemmt, sondern das Organ blieb in seiner Entwicklung zurück durch Mangel aller geistigen Thätigkeit und Erregung. Denn es ist ein Naturgesetz, daß jedes Organ und Gebilde, das ungeübt und unbenutzt bleibt, den vollständigen Grad seiner möglichen Vollkommenheit nicht erreicht, oder von demselben zurücksinkt und ver-

149 kümmert wird. Bis zum siebenten Jahre ist die materielle Entwicklung des Menschenhirns so ziemlich beendigt; haben aber vor dieser Zeit und um dieselbe Einflüsse Statt gefunden, die dessen naturgemäße Bildung hemmen und aufhalten konnten, so muß das Hirn auch in physischer und materieller Hinsicht auf der niederen Bildungsstufe stehen bleiben. Nach dem angegebenen Naturgesetze, daß Uebung und Thätigkeit zur vollständigen Entwicklung eines Organes nöthig sei, und ohne dieselben auch die physische Organisation in ihrer Ausbildung zurückbleibe, mußte die Hirnbildung auch im vorliegenden Falle geschehen. Hat Hauser geraume Zeit vor dem siebenten Jahre seine Zeit in einem finsteren Loche, in dumpfem Hinbrüten, ohne alle intellektuelle Thätigkeit und geistige Lebensreize, die zur Entwicklung des menschlichen Hirnes nöthig sind, zubringen müssen, so mußte auch seine Hirnbildung auf der thierähnlichen Stufe stehen bleiben, wie er selbst nur in thierischem Zustande gelebt hatte. (...) Waren darüber die Jugendjahre verstrichen, und hatte das Hirn seine physische Bildung auf dieser niederen Stufe vollendet, so konnte das Versäumte nicht mehr ersetzt werden.« (zit. nach Daumer 1859, 323 f.) 69 Unter Berufung auf die Schimpansenexperimente W. Köhlers hatte K. Bühler in seiner »Geistigen Entwicklung des Kindes« vorgeschlagen, jene Phase im Leben eines Kindes, in der es »Leistungen ganz von der Art der Schimpansen« zeigt, d.h. zur Bewältigung von Problemsituationen materielle Hilfsmittel in derselben Weise einsetzt, wie dies die von Köhler untersuchten Menschenaffen taten, als »Schimpansenalter« zu bezeichnen (vgl. Bühler 1924, 81 f.). Dieser Terminus fand schnell allgemeine Verbreitung. 70 Man muss wissen, dass Wygotskis Konzeption der Genese und Entwicklung der »höheren« psychischen Funktionen »zwei Gruppen von Phänomenen umfasst, die auf den ersten Blick vollständig heterogen erscheinen, aber in Wirklichkeit zwei grundlegende Verzweigungen, zwei Entwicklungsverläufe der höheren Formen des Verhaltens repräsentieren, die auf untrennbare Weise miteinander verknüpft sind, jedoch niemals zu einer einzigen Einheit verschmelzen«. Und zwar sind dies in erster Linie die »Prozesse der Beherrschung der äußeren Mittel der kulturellen Entwicklung und des Denkens: die Sprache, die Schrift, das Rechnen, die Zeichnung«; in zweiter Linie sind es die »Prozesse der Entwicklung besonderer, weder begrenzter noch in irgendeiner präzisen Weise determinierter höherer psychischer Funktionen, die von der traditionellen Psychologie mit Namen wie willkürliche Aufmerksamkeit, logisches Gedächtnis, Begriffsbildung usw. belegt worden sind«. Beides zusammen »bildet genau das, was wir in willkürlicher Weise als den Prozess der Entwicklung der höheren Formen des Verhaltens des Kindes bezeichnet haben« (a.a.O., 32). 71 Wäre mir Wygotskis »Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen« schon zum damaligen Zeitpunkt bekannt gewesen, so hätte ich in meinem auf dem 1. Internationalen Kongress zur Tätigkeitstheorie (Oktober 1986) gehaltenen »Plädoyer für eine Präzisierung des Werkzeugbegriffs« (vgl. Keiler 1988b) mit Wygotski argumentieren können, anstatt ihn, mit Blick auf die »Instrumentelle Methode in der Psychologie« und einen bestimmten Passus in »Denken und Sprechen«, kritisieren zu müssen.

150 72 Man vergleiche hierzu meine 1984 auf dem 3. Internationalen Kongress Kritische Psychologie in Marburg geäußerte Kritik an dem diffusen Tätigkeitskonzept Leontjews (Keiler 1985, 134 f.), die seinerzeit gerade bei denjenigen zu erheblicher Irritation geführt hat, die sich selber »in der Tradition der Kulturhistorischen Schule« sehen (so das Bekenntnis von Jantzen 1985, 348). Allerdings war damals weder mir noch den übrigen an der Kontroverse Beteiligten klar, dass ich mich mit meiner Kritik an Leontjew in völligem Einklang mit den Auffassungen des 'späten' Wygotski befand. 73 Das genaue Verständnis der hier von Wygotski entwickelten Argumentation wird ein wenig dadurch erschwert, dass er abweichend von seiner sonst üblichen Terminologie in der betreffenden Passage (und nur hier) unter Berufung auf Hegel mehrfach den Ausdruck »vermittelnde« (anstatt »vermittelte«) Tätigkeit zur Kennzeichnung des, bei aller Unterschiedenheit, gemeinsamen Merkmals von Werkzeug- und Zeichengebrauch verwendet (vgl. Sobr. sotsch., Tom 3, 89 f.). Eine terminologische Variation, die (siehe den entsprechenden Hinweis Wygotskis a.a.O., 89) darauf zurückgeht, dass Marx im »Kapital« anlässlich der Erläuterung von Wesen und Funktion des Arbeitsmittels in irrefiihrender Weise die ersten beiden (und bezeichnenderweise nicht auch die nachfolgenden) Sätze aus dem mündlichen Zusatz zum § 209 des ersten Teils der hegelschen »Enzyklopädie« zitiert. Irreführend deswegen, weil es bei Marx eindeutig um die einseitig gerichtete, durch das Werkzeug vermittelte, Einwirkung des Arbeiters auf den Arbeitsgegenstand geht, während bei Hegel vom, durch die Tätigkeit des Subjekts vermittelten, Wechselseitig-aufeinander-Einwirken der Objekte die Rede ist (vgl. MEW 23, 194). Tatsächlich ist es notwendig, den hegelschen Text im Zusammenhang zu lesen (vgl. a.a.O., §§ 207 ff.), um zu verstehen, was es recht eigentlich mit der »vermittelnden« Tätigkeit auf sich hat. Wygotski hat dies offenbar verabsäumt und statt dessen kurzschlüssig angenommen, Hegel bezeichne das, was bei Marx die werkzeug-vermittelte Tätigkeit ist, als »vermittelnde« Tätigkeit. Dass es sich bei alledem in der Tat lediglich um eine terminologische Variante und keineswegs, wie etwa von J. Friedrich (1993, 110 ff.) unterstellt, um ein neues tiefgründiges Konzept handelt, geht indes bereits daraus hervor, dass Wygotski den Ausdruck »vermittelnde« Tätigkeit eben nur an dieser einen Stelle verwendet und später wieder (wie früher schon) von »vermittelter« Tätigkeit spricht, etwa wenn es heißt: »Die Basis der Struktur der kulturellen Formen des Verhaltens bildet die vermittelte Tätigkeit, der Gebrauch äußerer Zeichen als Mittel für die Höherentwicklung des Verhaltens.« (Sobr. sotsch., Tom 3, 148) 74 Siehe die vorangehende Anmerkung. 75 Wie sich aus alledem ergibt, ist meine andernorts aufgestellte Behauptung, Wygotski habe in seiner »Fixierung auf das 'Werkzeug'-Verhalten einzelner Schimpansen« den »von Köhler nicht nur in den 'Intelligenzprüfungen an Menschenaffen', sondern auch in seiner Arbeit 'Zur Psychologie des Schimpansen' (1921) sehr klar formulierten Einsichten über die Bedeutung bestimmter sozialer Faktoren« nicht genügend Beachtung geschenkt (Keiler 1989a, 97), sachlich falsch. Der Vollständigkeit halber sei hier hinzugefügt,

151 dass in der »Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen« Köhler der meisterwähnte Autor ist (vgl. Sobr. sotsch., Tom 3, 361). 76 Dass es keineswegs im bloß metaphorischen, sondern im wörtlichen Sinne zu verstehen ist, wenn von den Zeichen als den »Mitteln zur Beherrschung des Verhaltens« gesprochen wird, daran hatte Wygotski in der »Pädologie des frühen Jugendalters« keinen Zweifel gelassen: »Das Wort war im historischen Prozeß, wie Janet (1930) nachgewiesen hat, zunächst Kommando für die anderen, erst später kam es mit der Veränderung der Funktion zur Abhebung des Wortes von der Handlung. Dadurch konnte sich das Wort unabhängig als Mittel des Kommandos entwickeln (...) Diese alte Funktion des Wortes, man könnte sie als Willensfunktion bezeichnen, hat sich bis heute erhalten. Das Wort ist ein Kommando. Es ist in allen seinen Formen ein Kommando, und man muß im verbalisierten Verhalten stets zwischen der Kommandofunktion des Wortes und seiner Unterordnungsfunktion unterscheiden. (...) Weil nämlich das Wort Kommandofunktion gegenüber anderen erfüllt, beginnt es dieselbe Funktion auch in bezug auf sich selbst zu erfüllen, es wird so zum Hauptmittel für die Beherrschung des eigenen Verhaltens. So kommt es also zur volitiven Funktion des Wortes, dazu, daß das Wort sich die motorische Reaktion unterordnet, daß das Wort das Verhalten beherrscht. Hinter alledem steht eine wirkliche Führungsfunktion. Hinter der psychologischen Macht des Wortes über die anderen psychischen Funktionen steht die frühere Macht des Kommandierenden über den Untergebenen.« (ASch Bd.2, 628 f.) 77 Hier sei daran erinnert, dass Feuerbach von der Wissenschaft als einem »gemeinschaftlichen Akt der Menschheit« spricht (vgl. GW 5, 166 sowie im nämlichen Sinne GW 9, 279 ff.). 78 Wenn Wygotski weiterhin am Konzept der »Interiorisation« festhält, dann nicht, ohne sich gleichzeitig von bestimmten gängigen Auffassungen abzugrenzen. »Jedwede höhere psychische Funktion«, schreibt er, »durchläuft notwendigerweise in ihrer Entwicklung ein äußeres Stadium, da sie zu Anfang eine soziale Funktion ist. Dies ist der Kern des ganzen Problems des äußeren und inneren Verhaltens. Übrigens haben schon viele Autoren seit längerem auf das Problem der Interiorisation, des Übergangs des Verhaltens in das Innere, hingewiesen. Kretschmer sieht darin ein Gesetz der Nerventätigkeit. Bühler reduziert die gesamte Evolution des Verhaltens auf den Sachverhalt, dass der Schauplatz der zweckmäßigen Handlungen sich von außen nach innen verlagert.« (Zur Erläuterung: Im Rahmen seines explizit in der Nähe der hegelschen Theorie der Entwicklung des Geistes angesiedelten Drei-Stufen-Modells der Entwicklung: vom Instinkt über die Dressur zum Intellekt, macht Bühler in Hinblick auf den »Schritt zur dritten Stufe, den Intellekt« folgende Bemerkung: »Damit ... das äußere Probieren durch irgend etwas im Innern des Individuums ersetzt werden kann, muß das Individuum wieder um eine Einrichtung reicher, mit einem neuen Schauplatz psychophysischen Geschehens, auf dem sich das 'innere Probieren' oder was sonst als Äquivalent dafür eintreten mag, abspielen kann, versehen sein. (...) Womit dann die Entwicklungsrichtung ins Innere zum mindesten symbolisch von neuem angedeutet ist. Ich meine folgendes: Das Außen und Innen, von dem eben noch die Rede war, ist zunächst

152 natürlich räumlich zu verstehen, das Innere als das Zentralnervensystem. Aber es springt innerhalb des sauber und streng zu Ende gedachten biologischen Gedankenganges ein Punkt heraus, wo der Begriff des Inneren sozusagen von sich aus eine Änderung, einen Umschlag, einen Sprung ins Bewußtsein fordert oder doch nahe legt.« [1924, 433]) »Aber genau dies ist es nicht, was ich im Sinn habe, wenn ich über das äußere Stadium der kulturellen Entwicklungsgeschichte des Kindes spreche«, fahrt Wygotski fort, »für mich heißt etwas über den äußeren Prozess sagen etwas über das Soziale sagen.« (Vuigotskij 1987, 161) Insofern erweist sich auch in diesem Falle ein Rekurs auf Feuerbach als äußerst hilfreich für das Verständnis dessen, was Wygotski tatsächlich »im Sinn« hat, lässt sich doch das, was Feuerbach über das Wesen und die Genese des menschlichen Gewissens ausführt (vgl. oben, Kap. 1.3.), ohne weiteres auf das Problem der Herausbildung der »höheren« psychischen Funktionen überhaupt anwenden. 79 Zur Erinnerung: Folgt man Feuerbach, so ist das 'verinnerlichte' »Bild des andern« am Ende »(so sehr) in mein Selbstbewußtsein, mein Selbstbild eingewoben, daß selbst der Ausdruck des Allereigensten und Allerinnerlichsten, das Gewissen ein Ausdruck des Sozialismus, der Gemeinschaftlichkeit ist; daß ich selbst in den geheimsten, verborgensten Winkel meines Hauses, meines Ichs mich nicht zurückziehen und verstecken kann, ohne zugleich ein Zeugnis von dem Dasein des andern außer mir abzugeben« (Feuerbach 1994, 422). 80 Im Zusammenhang der Erörterung seines Interiorisationskonzepts spricht Wygotski davon, dass jede »höhere« psychische Funktion, bevor sie zu einer psychischen Funktion im eigentlichen Sinne wird, in einer »sozialen Beziehung zwischen zwei Menschen« besteht (a.a.O., 161 - Hervorh. P.K.). 81 Das Lichtenberg-Zitat ist im Wygotski-Originaltext in deutscher Sprache wiedergegeben, allerdings in sinnentstellender Weise unvollständig: »'Es denkt sollte man sagen, so wie man sagt', schrieb Lichtenberg.« (Sobr. sotsch., Tom 3, 85 bzw. Vuigotskij 1987, 97) Die den Sinn wiederherstellende Ergänzung wurde von mir im Einklang mit der Parallelstelle in Wygotskis »Krisen«-Essay vorgenommen. 82 Wie A.A. Leontjew in der Kurzbiographie seines Vaters schreibt, war A.N. Leontjew bereits »1930 durch die Umstände gezwungen worden, sowohl die Akademie für kommunistische Erziehung als auch das staatliche Allunionsinstitut für Kommunismus zu verlassen« (A.A. Leont'ev 1984, 14 - Übers. P.K.). Ende 1931 erfolgte dann die Schließung des Psychologischen Instituts der Akademie für kommunistische Erziehung, das bis dahin die Hauptwirkungsstätte der unter der Leitung Wygotskis arbeitenden Gruppe junger Psychologinnen und Psychologen gewesen war. Dies führte faktisch nicht nur zum Zerfall der Gruppe, zu der außer Wygotski, Lurija und Leontjew (der »Troika«) auch L.I. Boshowitsch, R.J. Lewina, N.G. Morosowa, A.W. Saporoshez und L.S. Slawina (die »Pjatjorka« = Gruppe der Fünf) gehörten, sondern bedeutete auch die Liquidation des um die Konzeption der »kulturhistorischen« Entwicklung der psychischen Funktionen zentrier-

153 ten Forschungsprogramms (vgl. »Anm. der russ. Red.« in: ASch Bd. 2, 202, Fußn.). Ein plastisches Bild der vergeblichen Bemühungen, allen widrigen Umständen zum Trotz den institutionellen und forschungsthematischen Zusammenhang der »Kulturhistorischen Schule« aufrechtzuerhalten, zeichnet M. Cole in seinem Nachwort zur Autobiographie Lurijas: »Als es ihnen nicht gelang, in Moskau ein Institut zu finden, das sie als ganze Gruppe aufgenommen und ihnen die Durchführung eines eigenen Curriculums und Forschungsprogramms gestattet hätte, nahmen sie eine Einladung des Psychoneurologischen Instituts der Charkower Universität an, dort eine neue Abteilung für Psychologie zu gründen. Lurija, Leontjew, Saporoshez und Boshowitsch siedelten nach Charkow über. Aber die Gruppe blieb nicht lange zusammen. Alexander Romanowitsch (Lurija P.K.) kehrte sehr bald nach Moskau zurück, wo er verschiedene entwicklungspsychologische Untersuchungen durchführte. Wygotski reiste regelmäßig zwischen Charkow, Moskau und Leningrad hin und her, bis er 1934 an Tuberkulose starb. Nur Leontjew, Saporoshez und Boshowitsch blieben und formierten eine neue psychologische Schule.« (Cole 1979, 212 - Übers, u. Hervorhn. P.K.) Die spezielle Situation Wygotskis betreffend muss hinzugefügt werden, dass sich in Hinblick auf die institutionelle Verankerung seiner Arbeit für die Zeit nach 1931 aus dem vorliegenden Material kein klares Bild ergibt. Bis 1930/31 war er gleichzeitig am Psychologischen Institut der Moskauer Universität, an der Akademie für kommunistische Erziehung sowie an dem von ihm mitgegründeten Institut für experimentelle Defektologie tätig gewesen (vgl. Cole a.a.O., 206 sowie A.N. Leontjew 1985, 23); darüber hinaus hatte er Kontakte zur Nervenklinik der I. Medizinischen Hochschule Moskau, an der er offiziell 1929 zu arbeiten begann (Leontjew a.a.O.). Schon 1932 scheint dann das Institut für experimentelle Defektologie der einzige 'feste Stützpunkt' Wygotskis in Moskau gewesen zu sein. Auffallig ist immerhin, dass er die Vorlesungen, die dem 1935 erschienenen Buch »Grundlagen der Pädologie« zugrunde liegen, nicht an der I., sondern der II. Medizinischen Hochschule Moskau gehalten hat (vgl. Elkonin 1987, 38). Eine Wahrnehmung von Lehraufgaben am Psychologischen Institut der Moskauer Universität ist für die Zeit nach 1931 nicht belegt, dafür aber ab 1932 eine rege Gastdozententätigkeit am von S.L. Rubinstein geleiteten Lehrstuhl für Psychologie des Leningrader Pädagogischen Instituts »A.I. Herzen«, die auch eine Anleitung der Forschungsarbeiten von Aspiranten umfasste (vgl. Elkonin 1980, 12 f.). Einer biographischen Notiz Lurijas zufolge standen Wygotskis Reisen nach Charkow nicht lediglich im Zeichen des Informationsaustausches mit seinen ehemaligen Mitarbeitern, sondern dienten zugleich auch seiner eigenen Weiterbildung auf dem Gebiet der Medizin sowie der Wahrnehmung von Lehraufgaben (vgl. Lurija 1978, 15 f.). 83 Ursprünglich als Marx-Engels-Afwsew/w konzipiert, wurde die Einrichtung, die in der Folge u.a. als Träger des Projekts der ersten Marx-Engels-Gesamt-Ausgabe (= MEGA1) fungierte, bereits 1922 in »Marx-Engels-/«^/tut« umbenannt.

154 84 Zur Haltung Lenins gegenüber Feuerbach vgl. »Materialismus und Empiriokritizismus« (LW 14) sowie die »Philosophischen Hefte« (LW 38). Einen guten Überblick in dieser Frage vermittelt auch die knappe, aber umfassende Darstellung bei Rawidowicz (a.a.O., 489-496, 499). 85 Zum detaillierten Nachweis, dass Engels bei der Abfassung seines »Ludwig Feuerbach« über eine viel zu schmale Urteilsgrundlage verfügte, um - selbst wenn er die Absicht gehabt hätte - etwas anderes als ein Zerrbild von Feuerbach entwerfen zu können, vgl. die erste Studie in diesem Band. 86 So schreibt er etwa: »Es ist bemerkenswert, daß, während Deborin im allgemein darstellenden Teil seiner Feuerbach-Arbeit auf einem erweiterten Boden der Plechanovschen, ja Plechanov-Leninschen Feuerbach-Auffassung steht, er zum Schluß sich der entgegengesetzten Marx-Engelsschen Feuerbach-Auffassung nähert. Die beiden Auffassungen sind aber ihren Grundmotiven nach nicht in Einklang zu bringen.« (a.a.O., 497). 87 Möglicherweise wäre Rawidowicz in seiner Polemik gegen die Versuche, Feuerbach direkt in die Tradition des Marxismus 'einzugemeinden', etwas zurückhaltender gewesen, wenn zum Zeitpunkt der Abfassung seines Buches bereits Marx' »Pariser Manuskripte« von 1844 sowie seine »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie« von 1857/58 veröffentlicht gewesen wären. Überhaupt ist er zu sehr dem von Engels lancierten Vorurteil verhaftet, dass, wie Engels bis zum Herbst 1844 uneingeschränkt die Begeisterung von Marx für Feuerbach geteilt habe, Marx seinerseits ab Frühjahr 1845 Engels hinsichtlich der Ablehnung Feuerbachs in nichts nachstand (vgl. Rawidowicz a.a.O., 422 ff.). Tatsächlich ergibt aber eine sorgfältige Analyse der einschlägigen Quellen, dass weder der erste noch der zweite Teil dieses Vorurteils zutrifft. Insofern ist auch der »Bruch mit Feuerbach« weder im Falle von Marx noch im Falle von Engels so dramatisch, wie gewöhnlich unterstellt wird. M.a.W.: Engels war in der Tat nur »momentan (d.h. kurzfristig und oberflächlich - P.K.) Feuerbachianer« (vgl. MEW 21, 272), während Marx bis hin zum »Kapital«, je nach Bedarf, nicht nur auf die »Feuerbachsche Dialektik« (Marx 1988, 173), sondern auch auf Feuerbachs inhaltliche Erkenntnisse zurückgegriffen hat (ohne dies freilich immer so deutlich zu erkennen zu geben wie in seiner Rede auf dem Polenmeeting in London am 27. Januar 1867). (Zur ausführlicheren Erörterung dieser Problematik vgl. die erste Studie in diesem Band.) 88 Beachtet werden sollten auch die von Rawidowicz in den Fußnoten gegebenen sehr präzisen Literaturhinweise, insbesondere die Verweise auf die verschiedenen Zeitschriftenaufsätze von 1930. 89 Zur Erläuterung: Die am 31. Oktober 1930 im »Bolschewik« publizierte Resolution der Leitung der Parteizelle war die Antwort auf eine von Deborin et al. im Mai desselben Jahres in Pod snamenem marksisma veröffentlichte Erklärung gewesen. Diese offene Kampfansage an die Deborin-Gruppe ging aber Stalin offensichtlich nicht weit genug, deshalb kam es zu der besagten »Unterredung«, in welcher er dem Parteizellenbüro jene »Hinweise« gab, die dann die Grundlage für die Resolution der Parteizelle vom 29. Dezember bildeten. Dass Stalin persönlich an der betreffenden Versammlung der Parteizelle teilnahm und aktiv den Verlauf der Diskussion bestimmte, lässt

155 sich aus dem Bericht seines Biographen D.A. Wolkogonow schließen, der Folgendes schreibt: »Im Dezember desselben Jahres hielt der Generalsekretär eine Rede über die Lage an der 'philosophischen Front'. Stalins Rede war hart und kategorisch. Sie zeugt vom Niveau seines philosophischen Denkens. Das Stenogramm der Rede liegt im Stalin-Archiv. Stalin sagte: 'Man muß den ganzen Mist, der sich in der Philosophie und der Naturwissenschaft angesammelt hat, durchstöbern und neu umgraben. Alles, was die Gruppe Deborins geschrieben hat, muß zerschlagen werden. Sten und Karew wird man herausbrechen können. Sten markiert den Mutigen, aber er ist ein Schüler Karews. (...) Karew macht sich wichtig und geht wie ein aufgeblasener Sack. Deborin ist meiner Meinung nach ein unzuverlässiger Mensch, doch man sollte ihn in der Redaktion lassen (gemeint ist die Zeitschrift 'Unter dem Banner des Marxismus'; D.W.), um jemanden zu haben, den man schlagen kann. Sie werden in der Redaktion zwei Fronten haben, aber Sie werden in der Mehrheit sein.' Nach der Rede wurde Stalin mit Fragen überhäuft: 'Kann man den Kampf in der Theorie mit politischen Abweichungen in Zusammenhang bringen?' Stalin: 'Das ist nicht nur möglich, sondern auch unbedingt notwendig.' 'Und was ist mit den «Linken»? Mit den «Rechten» haben wir uns schon beschäftigt.' Stalin: 'Der Formalismus tritt unter dem Deckmantel des Linksradikalismus auf. Er verkauft sein Material mit linker Soße. Und die Jugend ist erpicht auf die Linke. Und diese Herren sind gute Köche.' 'Auf was sollte man seine Aufmerksamkeit konzentrieren (...)?' Stalin: 'Schlagen - das ist das Hauptproblem. In alle Richtungen schlagen und dorthin, wo noch nicht geschlagen worden ist. Hegel ist für die Deborin-Leute eine Ikone. Plechanow muß entlarvt werden. Er hatte schon immer ein herablassendes Verhältnis zu Lenin gehabt. Auch bei Engels ist nicht alles richtig. In seinen Bemerkungen zum Erfurter Programm gibt es eine kleine Passage über das Hineinwachsen in den Sozialismus. Das versuchte Bucharin auszunutzen. Es wird nicht schaden, wenn wir irgendwo in unserer Arbeit auch Engels anhaken würden.'« (Wolkogonow 1989, 338) 90 Dieses Heft war von der Redaktion der Zeitschrift Pod snamenem marksisma als »philosophisches Geschenk an den 16. Parteitag« (26. 6. bis 13. 7. 1930) konzipiert worden. Zur ausführlicheren Beurteilung des betreffenden Artikels von Deborin durch seine Gegner vgl. Mitin 1931, 206 f. 91 Wahrscheinlich hat Mitin, dessen Stärke ganz offensichtlich die Polemik und nicht die Analytik war, die Doppelbödigkeit der Argumentation Deborins überhaupt nicht bemerkt. Andererseits könnte ihn aber auch der, eher beiläufige, Hinweis Stalins, dass »auch bei Engels nicht alles richtig« sei, verunsichert haben. 92 Ein wesentlich schlimmeres Schicksal hatte Rjasanow, der verdienstvolle Direktor des Marx-Engels-Instituts und auch im Ausland gefeierte Chefherausgeber der MEGA1. Er verlor nicht nur seinen Posten, sondern wurde unter der Beschuldigung des offenen politischen Menschewismus am 15. Februar 1931 verhaftet, ohne regulären Prozeß verbannt und schließlich »während der Säuberung der dreißiger Jahre ermordet« (Wolkogonow a.a.O., 816).

156 93 Mitins Vortrag vor der »Gesellschaft der streitbaren dialektischen Materialisten« enthält bereits einen 'Ausbau' der Formulierungen des Resolutionstextes: »Wenn wir von dem menschewistisch geprägten Idealismus der Deborinschen Gruppe gesprochen haben, so muß man sich klar machen, daß es sich nicht um einen einfachen, gewöhnlichen Typ des Idealismus handelt. (...) Wir haben es mit einer außerordentlich raffinierten, außerordentlich stark verschleierten Form der idealistischen Revision der materialistischen Dialektik zu tun, die unter jeder erdenklichen Maskierung, unter der Flagge des Marxismus-Leninismus auftritt. Es handelt sich um einen feigherzigen Idealismus. Es handelt sich um eine Revision der marxistischen Philosophie, die durch eine marxistisch-leninistische Terminologie verdeckt ist, die unter der Flagge der streitbaren marxistischen Orthodoxie auftritt« (Mitin a.a.O., 193). 94 In der deutschen Version des Resolutionstextes heißt es hier falschlich »Agrarpolitiker«; gemeint ist Stalins berühmte Rede vom 27. Dezember 1929 »Zu den Fragen der Agrarpolitik in der UdSSR«, mit der die 'Stalinisierung' der sowjetischen Wissenschaft eingeleitet wurde. 95 Dass es gerade die gleichzeitige Orientierung an Hegel und Feuerbach war, die es Deborin et al. ermöglichte, »in sehr scharfer Weise nicht nur gegen den offenen, pfäffischen konterrevolutionären Idealismus von der Art eines Lossew« aufzutreten, »sondern auch gegen hegelianische Idealisten vom Schlage eines Lukacs« (vgl. die Resolution a.a.O., 163 sowie Mitin a.a.O., 193), wurde zwar eingeräumt, galt aber nicht als 'mildernder Umstand'. 96 Um sich ein einigermaßen adäquates Bild von der Komplexität der Gesamtsituation machen zu können, muss man Folgendes wissen: Nach dem ursprünglichen Arbeitsplan des Marx-Engels-Instituts war für das international unter dem Zeichen des 100. Todestages Hegels stehende Jahr 1931 nicht nur die Herausgabe weiterer acht Bände der Hegel-Werkausgabe vorgesehen (vgl. oben, Anm. 52), sondern es sollte auch »eine neue Feuerbach-Ausgabe« erscheinen (vgl. Rjasanow 1930/1996). Beides blieb auf Grund der geschilderten Ereignisse an der »philosophischen Front« unrealisiert. Bereits 1932 war dann aber entschieden, dass die »Pionieraufgabe« der Herausgabe der Werke Hegels weiterverfolgt werden sollte (zwischen 1932 und 1940 erschienen insgesamt 10 Bände), während das Projekt einer »neuen Feuerbach-Ausgabe« auf unabsehbare Zeit 'storniert' wurde (tatsächlich kamen erst im Jahr 1955, d.h. zwei Jahre nach Stalins Tod und im 'Dunstkreis' von Feuerbachs 150. Geburtstag, zwei Bände »ausgewählter Schriften« heraus). Aus alledem wird erklärlich, warum in der Folgezeit eben nicht nur im »westlichen Ausland« der »Hegelmarxismus« ä la Lukäcs zur Blüte kommen konnte (vgl. hierzu ausführlicher Arndt 1994, 261 ff.), sondern auch in der Sowjetunion selbst neukantianisch und neuhegelianisch inspirierte (im einen wie im anderen Fall antifeuerbachianisch getönte) Marx-Interpretationen nach und nach die Oberhand gewannen, was sich dann vor allem in der Rezeption der »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« bemerkbar machte, die in vollständiger Fassung (und in deutscher Sprache) erstmals 1932 publiziert wurden, nachdem Rjasanow bereits 1927 einen wesentlichen Teil

157 der 1923 von ihm selbst im Parteiarchiv der SPD in Berlin entdeckten marxschen Handschrift (präziser: das komplette dritte Manuskript) in russischer Übersetzung und unter dem Titel »Vorbereitende Arbeiten zur 'Heiligen Familie'« in der vom Marx-Engels-Institut herausgegebenen Zeitschrift Marx-Engels-Archiv veröffentlicht hatte (vgl. Archiv K. Marksa i F. Engelsa, Kn. 3, 247-286). Wie stark der sich 1930/31 an der »philosophischen Front« vollziehende Umschwung tatsächlich war und worauf er letztlich hinauslief, wird im Übrigen unmittelbar deutlich, wenn man Wygotskis von 1930 datierende, sehr zurückhaltende Interpretation jener häufig zitierten Passage der »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte«, in der Marx vom »gegenständlichen Dasein der Industrie« als dem »aufgeschlagnen Buch der menschlichen Wesenskräfte, der sinnlich vorliegenden menschlichen Psychologie« spricht, den sich auf dieselbe Passage beziehenden Konstruktionen gegenüberstellt, die Rubinstein 1934 im Rahmen seines Aufsatzes »Psychologische Probleme in den Arbeiten von Karl Marx« präsentiert (vgl. Vygotsky 1994b, 180 u. Rubinstein 1979a, 15 f.). 97 In seinem 1897 erschienenen Aufsatz über die ästhetische Theorie Tschernyschewskis schreibt Plechanow: »Tschernyschewski spricht in keinem seiner Werke offen aus, wen er in der Philosophie als seinen Lehrer betrachtet. Nirgends geht er über Anspielungen hinaus; aber seine Anspielungen sind sehr deutlich. So sagt er zum Beispiel in seinen 'Polemischen Prachtstückendas System seines Lehrers sei das allerletzte Glied in der Reihe der philosophischen Systeme und aus dem Hegeischen System ebenso hervorgegangen wie das System Hegels aus dem Schellingschen. '... Sie wollen vermutlich gern erfahren', fragt er, sich seinem Gegner, Dudyschkin, zuwendend, 'wer denn eigentlich dieser Lehrer ist, von dem ich rede? Um Ihnen das Suchen zu erleichtern, werde ich Ihnen doch wohl sagen müssen, daß er weder Russe ist noch Franzose oder Engländer, daß es weder Büchner ist noch Max Stirner, noch Bruno Bauer, Moleschott oder Vogt - wer ist es denn nun?' Man muß schon recht begriffsstutzig sein, wenn man nicht sogleich antwortet: Ludwig Feuerbach. Und wirklich, in der Philosophie war Tschernyschewski ein Anhänger Feuerbachs.« (zit. nach Plechanow 1955b, 459 f.) Zwölf Jahre später greift Lenin dieses Thema wieder auf und notiert in einem Zusatz zu Abschnitt 1 des Kapitels IV von »Materialismus und Empiriokritizismus« (»Von welcher Seite kritisierte N.G. Tschernyschewski den Kantianismus?«): »Es dürfte nicht überflüssig sein, hier wenn auch kurz auf die erkenntnistheoretische Position des großen russischen Hegelianers und Materialisten N.G. Tschernyschewski hinzuweisen. Kurze Zeit nachdem Kant von dem deutschen Schüler Feuerbachs Albrecht Rau einer Kritik unterzogen worden war, versuchte der große russische Schriftsteller N.G. Tschernyschewski, ebenfalls ein Schüler Feuerbachs, zum erstenmal, seine Stellung sowohl zu Feuerbach als auch zu Kant direkt darzulegen. N.G. Tschernyschewski trat schon in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der russischen Literatur als Anhänger Feuerbachs hervor, doch unsere Zensur erlaubte ihm nicht einmal, Feuerbachs Namen zu erwähnen. Im Jahre 1888 versuchte Tschernyschewski im Vorwort zu der beabsichtigten dritten Auflage der 'Ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit',

158 direkt auf Feuerbach zu verweisen, aber die Zensur erlaubte auch 1888 nicht einmal einen einfachen Hinweis auf Feuerbach! Das Vorwort erschien erst im Jahre 1906.« (LW 14, 364) (N.B.: Tscherayschewski war bereits 1889 gestorben.) Dass im Übrigen mit der sich auf Feuerbach beziehenden (immerhin ein halbes Jahrhundert andauernden!) scharfen Zensur insbesondere bei der jungen russischen Intelligentsia von Anfang an das genaue Gegenteil des Beabsichtigten erreicht wurde, wird in eindrucksvoller Weise durch niemand Geringeren als L.N. Tolstoi dokumentiert, der bereits 1862 in seinem Aufsatz »Erziehung und Bildung« darüber klagt, dass das von den Studentenzirkeln aufgestellte Programm »recht einförmig« sei, bestehe doch »die Hauptbeschäftigung« der Beteiligten »in der Lektüre und im Abschreiben verbotener Bücher, wie: Feuerbach, Moleschott, Büchner und besonders Herzen und Ogarew« (zit. nach »Sämtliche Werke«, Bd. 8, 182 - Hervorhn. P.K.). 98 Vgl. hierzu die Bibliographie im 6. Band der Wygotski-Werkausgabe (Sobr. sotsch., Tom 6, 373-376). 99 »Die Konzeption des kindlichen Egozentrismus ist in Piagets Theorie gewissermaßen ein Brennpunkt, in dem alle Fäden zusammenlaufen. Er führt alle Züge der Logik des Kindes auf eine Ursache zurück und macht so aus ihrer zusammenhanglosen Vielzahl einen strukturierten Komplex von Erscheinungen. Sobald daher diese Grundkonzeption ins Wanken gerät, wird auch das ganze auf dem Begriff des kindlichen Egozentrismus beruhende theoretische Gebäude in Frage gestellt.« (Wygotski 1969, 32) 100 An Feuerbachs Widerlegung der idealistischen Interpretation des »Gesetzes von den spezifischen Sinnesenergien« (vgl. oben, Kap. 1.2.) erinnert es, wenn Bleuler in einer Fußnote anmerkt: »Das Neugeborene reagiert in allen seinen Bestrebungen auf die Realität und im Sinn derselben; wenn der Saugreflex beim Kontakt des Mundes mit einem andern Gegenstand als der Mamilla auch in Funktion tritt, so ist das gewiß nur einem geringen Unterscheidungsvermögen (ob bewußt oder unbewußt, lasse ich dahingestellt) zuzuschreiben, wie es in analoger Weise allen Reflexen zukommt und für deren Aufgaben praktisch genügt.« (a.a.O., Fußn. 2) 101 Wygotski betont nachdrücklich, dass er den Ausdruck »kommunikative Sprache« dem von Piaget verwendeten Ausdruck »sozialisierte Sprache« vorziehe, »da beide Sprachformen nach unserer Hypothese in gleicher Weise soziale, aber verschieden gerichtete Funktionen der Sprache sind« (ebd.). 102 An späterer Stelle resümiert Wygotski: »Wir haben gesehen, daß die egozentrische Sprache des Kindes nicht von der praktischen Tätigkeit und der realen Anpassung des Kindes losgelöst ist. Diese Sprache stellt einen notwendigen Bestandteil des kindlichen Denkens dar und beginnt so, ein Mittel zur Bildung einer Absicht und eines Plans bei einer komplizierten Tätigkeit des Kindes zu werden.« (a.a.O., 48) 103 Schon in Feuerbachs »Wesen des Christentums« (3. Aufl. von 1849) heißt es kurz und prägnant: »... und nur wo der Mensch mit dem Menschen spricht, nur in der Rede, einem gemeinsamen Akte, entsteht die Vernunft. Fragen und Antworten

159 sind die ersten Denkakte. Zum Denken gehören ursprünglich zwei. Erst auf dem Standpunkt einer höhern Kultur verdoppelt sich der Mensch, so daß er jetzt in und für sich selbst die Rolle des andern spielen kann. Denken und Sprechen ist darum bei allen alten und sinnlichen Völkern ein und dasselbe; sie denken nur im Sprechen, ihr Denken ist nur Konversation.« (GW 5, 166 f.) 104 Wygotski bezieht sich hier auf eine Metapher, die E. Claparfcde im Vorwort zur Originalausgabe von Piagets Buch verwendet hatte (vgl. hierzu ausführlicher Wygotski a.a.O., 54). 105 Das Beispiel Bleulers aufgreifend, schreibt Wygotski: »Genauso zieht ein älteres Kind einen wirklichen Apfel einem eingebildeten nicht deshalb vor, weil es seine Bedürfnisse um der Anpassung an die Wirklichkeit willen vergessen hat, sondern eben darum, weil Denken und Tätigkeit durch seine Bedürfnisse veranlaßt werden. Es gibt also keine Anpassung an die objektive Wirklichkeit um der Anpassung selbst willen, unabhängig von den Bedürfnissen des Organismus oder des Individuums. Die ganze Anpassung an die Wirklichkeit wird von den Bedürfnissen veranlaßt. Das ist ziemlich banal, ein Truismus, der aus irgendeinem unerfindlichen Grunde in der von uns betrachteten Theorie außer acht gelassen wird. Das Bedürfnis nach Nahrung, Wärme und Bewegung, alle diese elementaren Bedürfnisse sind die lenkenden Triebkräfte, die den gesamten Prozeß der Anpassung an die Wirklichkeit bestimmen. Daher ist die Gegenüberstellung eines Denkens, das die Funktion einer Befriedigung ausübt, und einer anderen Denkform, die die Funktionen der Anpassung an die Wirklichkeit ausübt, ohne jeden Sinn. Bedürfnis und Anpassung müssen in ihrer Einheit betrachtet werden. Die gleiche Wirklichkeitsfremdheit des entwickelten autistischen Denkens, das in der Phantasie eine Befriedigung der im Leben unbefriedigten Wünsche zu erlangen sucht, ist ein Produkt der späteren Entwicklungsphasen.« (ebd.) Dies alles noch »feuerbachianischer« zu formulieren, hätte, wie weiter unten zu sehen, nicht einmal Feuerbach selbst gekonnt. 106 »Für Piaget treten die Beziehungen der Entwicklung und der funktionellen Abhängigkeit an die Stelle der Kausalitätsbeziehungen. Er läßt hier das von Goethe formulierte Prinzip außer acht, daß der Aufstieg von der Tat zur Ursache eine einfache historische Erkenntnis ist. Er vergißt Bacons bekannte These, daß das wahre Wissen immer zu den Gründen aufsteigt; er versucht, die kausale Auffassung der Entwicklung durch die funktionelle Auffassung zu ersetzen und entkleidet damit den Begriff der Entwicklung jeglichen Inhalts.« (ebd.) 107 Piaget selbst hatte mit Blick auf die von ihm durchgeführten Untersuchungen notiert: »Das Kind kommt niemals wirklich mit den Dingen in Berührung, da es ja nicht arbeitet. Es spielt mit den Dingen, oder es glaubt, ohne sie zu untersuchen.« (zit. nach Wygotski a.a.O., 62) 108 Interpunktion (Ausrufungs- statt Fragezeichen) korrigiert nach LW 38, 208. 109 An späterer Stelle spricht Wygotski direkt von der »Logik der Handlung« (vgl. a.a.O., 61). In wörtlicher Übersetzung ist das griechische »pragmatike« (Synonym: »techne«) die »Kunst, richtig zu handeln« (vgl. Wahrig 1970, 2770; Duden 1980, Bd. 5, 2031).

160 110 Hier sei daran erinnert, dass Wygotski in der »Pädologie des frühen Jugendalters« ausführlich auf die Feststellung Piagets eingegangen war, »daß der Streit, die Auseinandersetzung im Kinderkollektiv nicht nur ein Stimulus ist, der zum logischen Denken anregt«, sondern »selbst auch die erste Form dieses Denkens« ist (vgl. oben Kap. 2.1.). In diesem Sinne findet denn auch im letzten Kapitel von »Denken und Sprechen« der Gedanke Piagets wieder Anerkennung, »daß das Bedürfnis nach Beweisen und Begründungen erst entsteht, wenn unsere Gedanken mit denen anderer zusammentreffen« (Wygotski 1969, 339). 111 Lenin selbst sagt von Bogdanow, dass er am Anfang seiner wissenschaftlichen Entwicklung »'naturhistorischer' (d.h. halb unbewußter und spontaner dem Geist der Naturwissenschaft getreuer) Materialist« war und dass »sein Werk 'Die Grundelemente der historischen Naturauffassung' deutliche Spuren dieses Stadiums« trage (LW 14, 229). Dass Bogdanow auch mit den Anschauungen Feuerbachs vertraut war, darf man als sicher unterstellen. Jedenfalls sollte es zu denken geben, dass sich der von Lenin inkriminierte Passus ohne Schwierigkeiten in jenen Passus aus den feuerbachschen »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« 'rückübersetzen' lässt, in dem es heißt: »Die Gemeinschaft des Menschen mit dem Menschen ist das erste Prinzip und Kriterium der Wahrheit und Allgemeinheit. Die Gewißheit selbst vom Dasein anderer Dinge außer mir ist für mich vermittelt durch die Gewißheit von dem Dasein eines andern Menschen außer mir. Was ich allein sehe, daran zweifle ich; was der andere auch sieht, das erst ist gewiß.« (GW 9, 324) 112 Da für Feuerbach die Gattungsvernunft und nicht (wie für Piaget) der Konsens innerhalb einer Gruppe von Menschen das Maß der Gültigkeit des eigenen Denkens bildet, genügt nach seiner Auffassung unter bestimmten Voraussetzungen ein einzelner anderer, um mich 'zur Vernunft zu bringen'; denn der vernünftige andere »ist mir gegenüber der Repräsentant der Gattung, der Stellvertreter der andern im Plural, ja, sein Urteil kann mir mehr gelten als das Urteil der zahllosen Menge« (a.a.O., 276 ff.). Wahr denken impliziert demnach also immer eine doppelte Abstraktionsleistung: zum einen Abstraktion vom Maß der eigenen Individualität, zum anderen Abstraktion von der 'öffentlichen Meinung'. »Das Denken«, heißt es bei Feuerbach an anderer Stelle, »ist die Thätigkeit des Allgemeinen, des sich als Allgemeines betätigenden, sich Gegenstand seienden, sich wissenden Allgemeinen. Als Denkender bin ich daher nicht Einzelner, sondern allgemeines Wesen, nicht Dieser, nicht Einer, sondern Keiner, nicht unterschieden von den Andern, sondern Eins mit ihnen. (...) Die Vernunft ist daher nicht eine Eigenschaft oder Vermögen oder Kraft von mir, diesem einzelnen, sinnlichen Menschen; sie ist ein von mir, dem von Andern Getrennten, Getrenntes. (...) Die Erscheinungen, welche die Abhängigkeit der Vernunft vom Physischen beweisen, betreffen daher nur das Individuum, nicht die Vernunft selbst.« (Grün I, 390) 113 Bereits in einem von 1843/44 datierenden Aphorismus notiert Feuerbach: »Die Zweifel, die die Theorie nicht löst, löst dir die Praxis.« (GW 10, 178)

161 114 Diese Feststellung ist für Wygotski so wichtig, dass er ihr eigens eine Fußnote mit folgendem Wortlaut widmet: »Wir möchten übrigens darauf hinweisen, daß Stern hier ebenfalls das Primat der sozialen Funktion der Sprache feststellt, welches bereits im Augenblick des Sprechenlernens in Erscheinung tritt.« (Wygotski a.a.O., 63) 115 Der Vollständigkeit halber muss hier erwähnt werden, dass es sich um die Konzeption des 'frühen' Piaget handelt und dass das 'aktuellste' seiner von Wygotski in die Kritik einbezogenen Bücher im Jahre 1927 erschienen war (vgl. hierzu die Bibliographie in »Denken und Sprechen«). Diesen Umstand wird dann Piaget in seiner in den frühen 60er Jahren abgefassten Replik auf Wygotski besonders betonen. Für unsere Fragestellung ist er allerdings nicht von Belang. 116 Zum genauen Wortlaut der ZK-Resolution »Über die pädologischen Verirrungen in den Volkskommissariaten für Bildungswesen« vgl. den zweiten Anhangstext in Wortis 1950 bzw. Wortis 1953. 117 Zum generellen Tenor der posthumen Attacken auf Wygotski vgl. etwa den unter dem Titel »Über Zustand und Aufgaben der psychologischen Wissenschaft in der UdSSR« in Heft 9/1936 von Pod snamenem marksisma veröffentlichten Bericht über eine im Frühjahr 1936 bei der Redaktion dieser Zeitschrift unter dem Vorsitz von M.B. Mitin durchgeführten 'Beratung' namhafter Vertreter der sowjetischen Psychologie (darunter P. Blonski, D. Elkonin, P.J. Galperin, W.N. Kolbanowski, A.N. Leontjew, A.R. Lurija u. B.M. Teplow) sowie ausführlicher van der Veer & Valsiner 1991, 385 ff. 118 Viele gängige, nicht nur »Denken und Sprechen«, sondern die Auffassungen Wygotskis generell betreffende Fehlinterpretationen scheinen mir ihren Grund darin zu haben, dass der deutliche Hinweis am Ende des Vorworts nicht die ihm gebührende Beachtung gefunden hat. Das »Problem des Denkens und der Sprache«, heißt es hier, stelle »ein Kernproblem der ganzen Psychologie des Menschen« dar, das »unmittelbar zu einer neuen psychologischen Bewußtseinstheorie führt« (a.a.O., 4). Und auf die »kurzen Schlußworte« des Buches verwiesen, in denen »diese Frage berührt« wird (ebd.), lesen wir: »Das Wort ist im Bewußtsein - wie Feuerbach sagt - für einen einzelnen Menschen unmöglich und nur für zwei möglich. Es ist der unmittelbare Ausdruck der historischen Natur des menschlichen Bewußtseins.« (a.a.O., 359) 119 Bereits in der »Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen« deutet sich ein konzeptioneller Umschwung in Richtung auf das »Selbstorganisations«-Paradigma an, wenn Wygotski mit Blick auf den Unterschied zwischen Werkzeug und Zeichen schreibt: »Das Zeichen verändert nichts am Gegenstand selbst, es führt lediglich zu einer neuen Ausrichtung oder Reorganisation der psychischen Operation.« (Vuigotskij 1987, 137) 120 Dass er mit Stern gegen Piaget argumentiert, hindert Wygotski nicht daran, im dritten Kapitel von »Denken und Sprechen« (vgl. Wygotski 1969, 65-73) die für das »System von Stern« charakteristische »rein intellektualistische Betrachtungsweise der Kindersprache und ihrer Entwicklung« (a.a.O., 65)

ebenso vehement zu kritisieren, wie er im Kapitel davor die Hauptthesen der Konzeption Piagets kritisiert hat. 121 Wygotski selbst sagt ganz offen (wohl in Anlehnung an einen häufig zitierten Satz aus der »Deutschen Ideologie«), dass das Säuglingsalter »ein tierähnliches Entwicklungsstadium« ist, »in dem die eigene Tätigkeit und die eigene Persönlichkeit nicht bewußt werden« (ASch Bd. 2, 144 - Hervorh. P.K.). 122 »Das instinktive Handeln«, hatte er bereits vorher erläutert, »ist ein komplizierter, objektiv zielgerichteter, auf die Befriedigung eines biologischen Bedürfnisses gerichteter und demzufolge objektiv sinnvoller ganzheitlicher Prozeß, von dem jeder Teil, einschließlich der zu ihm gehörenden reflektorischen Bewegungen, durch die Struktur des Ganzen bedingt ist. Die Nahrungsaufnahme ist kein stereotyper, mechanischer Prozeß, bei dem die Folge der einzelnen Bewegungen sich ständig wiederholt. Das einzelne Element kann sich verändern, der Prozeß insgesamt jedoch behält seine sinnerfüllte Struktur bei.« (a.a.O., 125 f.) 123 Vgl. hierzu die Bibliographie im 6. Band der Wygotski-Werkausgabe (Sobr. sotsch., Tom 6, 375) sowie den betreffenden Kommentar im zweiten Band der »Ausgewählten Schriften« (ASch Bd. 2, 659). 124 Im Säuglingsalter etwa besteht ein auffallender »Widerspruch zwischen dem maximalen Sozialbezug des Säuglings (die Situation, in der er sich befindet) und seinen minimalen Kommunikationsmöglichkeiten« - ein Widerspruch, der »die Grundlage für die gesamte Entwicklung des Kindes im Säuglingsalter« bildet (ASch Bd. 2, 109). 125 In diesem Zusammenhang formuliert er auch »das allgemeine Gesetz, daß das Kind im Unterschied zum Tier in der Nachahmung geistiger Handlungen mehr oder minder weit über die Grenzen dessen hinausgehen kann, wozu es in selbständigen sinnvollen und zweckmäßigen Handlungen beziehungsweise geistigen Operationen fähig ist« (ASch Bd. 2, 82). Während »ein Tier nichts Neues durch Nachahmung erlernen« kann, entsteht dagegen beim Kind »durch Nachahmung neues Verhalten, etwas, das es in seiner bisherigen Erfahrung nicht gegeben hat« (ASch Bd. 2, 150). Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass »das Kind viel früher dazu in der Lage (ist), wirklich nachzuahmen, als Bewegungen zu wiederholen, die vorher rein assoziativ zustande gekommen sind«, wobei »die Gemeinschaft als psychisches Faktum« eine wesentliche »innere Motivation« der Nachahmungshandlungen des Kindes ist: »Das Kind verschmilzt in seinem Tun unmittelbar mit dem, den es nachahmt. Das Kind ahmt niemals Bewegungen unbelebter Dinge nach, zum Beispiel das Schwingen eines Pendels. Zu Nachahmungshandlungen kommt es beim Säugling unverkennbar nur dann, wenn eine persönliche Gemeinschaft zwischen ihm und dem, den er nachahmt, besteht.« (a.a.O., 149 f. - Hervorhbn. P.K.) - Wiederum ein Theorem, wie es »feuerbachianischer« von Feuerbach selbst nicht hätte formuliert werden können! 126 Als Erstes erschienen 1956, von Leontjew und Lurija herausgegeben und mit einem umfangreichen Vorwort eingeleitet (vgl. Leontjew & Lurija 1958), die »Ausgewählten Forschungsarbeiten L.S. Wygotskis«. Ihr Textteil

163 hatte folgenden Aufbau (in Klammern das Jahr der Erstpublikation des betreffenden Beitrages): 1. »Denken und Sprechen« (1934); 2. »Die Entwicklung höherer Formen der Aufmerksamkeit im Kindesalter« (1929 - ursprünglicher Titel: »Die Entwicklung der aktiven Aufmerksamkeit im Kindesalter«); 3. »Unterricht und Entwicklung im Vorschulalter« (1935); 4. »Unterricht und geistige Entwicklung im Schulalter« (1935); 5. »Das Problem des geistigen Zurückbleibens« (1935); 6. »Störungen der Begriffsbildung bei Schizophrenie« (1932 - ursprünglicher Titel: »Über das Problem der Psychologie der Schizophrenie«). 127 Symptomatisch für diese verkürzte Sichtweise ist es, wenn sich zu Wygotskis Arbeit über das Problem der Altersstufen, in der auch Fragen der Entwicklungsdiagnostik vor dem Hintergrund einer allgemeinen, umfassenden Theorie der psychischen Entwicklung des Kindes erörtert werden, in den »Ausgewählten Schriften« folgende Anmerkung der russischen Redaktion findet: »Der von Wygotski geprägte Begriff der Zone der nächsten Entwicklung ist von grundsätzlicher Bedeutung. Er hängt eng mit seiner Auffassung von den Wechselbeziehungen zwischen Unterricht und Entwicklung zusammen.« (ASch Bd. 2, 80, Fußn.) 128 In diesem Sinne darf dann auch die »Theorie der Wechselwirkung zwischen Idealformen und rudimentären Formen«, wie sie von Wygotski in der vierten Lektion seiner 1935 publizierten »Grundlagen der Pädologie« expliziert worden ist (vgl. Vygotsky 1994c, 347-352), keineswegs so gedeutet werden, als markierten die dem Kind von seiner sozialen Umwelt als »Idealform« vorgegebenen Verhaltensstandards die absolute obere Grenze seiner individuellen Entwicklungsmöglichkeiten. Vielmehr macht ja Wygotskis Hinweis auf den Entstehungsmodus dieser »Idealformen« deutlich, dass jede neue Generation prinzipiell über die von der jeweiligen Elternund Großelterngeneration vorgelebten Verhaltensmodelle hinausgelangen, freilich aber auch hinter ihnen zurückbleiben oder der Entwicklung der Verhaltensstandards eine neue Richtung geben kann. 129 Hier muss angemerkt werden, dass Wygotski, der sehr wohl die Bedeutung erkannte, die die »Zusammenarbeit« der Kinder untereinander für die Entwicklung ihrer Fähigkeiten hat (vgl. ASch Bd. 2, 83 sowie Vgotsky 1993b u. 1993c), am Ende doch wieder auf die einschlägigen Untersuchungen Piagets zurückkam (vgl. ASch Bd. 2, 302 f. sowie 1969, 339). 130 Wygotski schreibt: »Was das Kind heute in Zusammenarbeit und unter Anleitung vollbringt, wird es morgen selbständig ausführen können.« (ASch Bd. 2, 83) 131 Wygotski zufolge umfassen die drei von Bühler postulierten Stufen der Entwicklung des Verhaltens (deren höchste das »Werkzeugdenken« impliziert) »schematisch gesehen, die gesamte Vielfalt der Formen, die man in der Tierwelt beobachten kann«, erklären also hinsichtlich des menschlichen Verhaltens »das, was in ihm mit dem Verhalten der Tiere identisch ist«. Damit fehle aber in diesem Schema gerade das Wesentliche, nämlich »jene besonderen Formen der psychischen Entwicklung, durch die sich der Mensch auszeichnet«. Wolle man daher »in der Entwicklung des Kindes das Menschliche und nur das Menschliche herausheben«, so müsse man »die

164 Grenzen dieses Schemas überschreiten«, denn es berücksichtige nicht, »dass der Mensch neue Handlungsformen zuerst in Gedanken und auf dem Papier durchspielt, dass er Gefechte mit Hilfe von Karten lenkt und mit ideellen Modellen arbeitet«, kurzum, es unterschlage all das, »was im Verhalten des Menschen mit dem Gebrauch künstlicher Mittel des Denkens, mit der sozialen Entwicklung des Verhaltens und insbesondere der Verwendung von Zeichen verknüpft ist« (a.a.O., 139). 132 Wygotski, der das bühlersche Stufen-Modell grundsätzlich für »sehr fruchtbar« hielt, befasste sich auch mit jenen Einwänden, die von dritter Seite gegen Bühlers Auffassungen vorgebracht wurden - Einwände, die sich im wesentlichen zwei Hauptargumentationsschemata zuordnen ließen: Die eine Gruppe von Opponenten hielt die Einführung der Stufe des »Intellekts« für überflüssig und versuchte zu beweisen, »dass die intellektuellen Reaktionen im Vergleich zu den Gewohnheiten im Prinzip nichts Neues enthalten, dass sie in ihrer Totalität auf angemessene Weise in der Terminologie der Bildung bedingter Reaktionen beschrieben werden können und so das gesamte Verhalten ohne Rest mit Hilfe jenes zweigliedrigen Schemas erfasst werden könne, das lediglich einen Unterschied zwischen angeborenen und erworbenen Reaktionen macht« (a.a.O., 139). Auf der anderen Seite, d.h. seitens der »subjektiven Psychologie« wurde die Befürchtung geäußert, »dass mit der Einführung des neuen Konzepts die Rechte der menschlichen Vernunft eingeschränkt würden, dass die göttliche Natur des Menschen aufs Neue in einen genetischen Zusammenhang mit dem Affen gebracht würde, wie es bereits Darwin getan hatte« (a.a.O. 140). 133 Entscheidend ist also nicht, dass die Mutter »begreift«, was das Kind tut, sondern dass sie »versteht«, was es will. 134 Sowohl in der Originalversion seines Aufsatzes über die genetischen Wurzeln des Denkens und der Sprache als auch in der Fassung von »Denken und Sprechen« wollte Wygotski, gestützt auf die einschlägigen Beobachtungen Köhlers, den Schimpansen bestenfalls Ausdrucksbewegungen »im Uebergangsstadium zwischen Greif- und Zeigebewegungen« zugestehen (vgl. Wygotski 1929, 457 sowie Wygotski 1969, 77). Allerdings gibt es zwischen den beiden Versionen eine Akzentverschiebung insofern, als Wygotski 1929 die betreffenden Gebärden der Schimpansen als 'Fast-schon'Hinweisgesten interpretierte (vgl. 1929, 456 f.), wohingegen in »Denken und Sprechen« durch Hereinnahme eines weiteren Köhler-Zitats verbindlich festgestellt wird, dass die Ausdrucksbewegungen und expressiven Lautäußerungen der Affen »nie irgendetwas Objektives (bezeichnen und beschreiben)« (Wygotski 1969, 77). 135 Anstelle des Beispiels der missglückten Greifbewegung könnten beliebig viele andere Beispiele dafür stehen, dass von einem Kind begonnene Handlungen, deren Misslingen oder deren negatives Resultat abzusehen ist, für die Menschen in seiner Umgebung anscheinend einen »Aufforderungscharakter« haben, d.h. gewöhnlich deren helfendes oder (im Falle eines zu erwartenden negativen Resultats) verhinderndes Eingreifen 'provozieren'. 136 »Die gleichen Umstände, die in der mündlichen Sprache manchmal die Möglichkeit rein prädikativer Aussagen schaffen und die in der geschriebe-

165 nen Sprache völlig fehlen, sind die ständigen Wegbegleiter der inneren Sprache.« (a.a.O., 339) Bei alledem kann es aber »keinen Zweifel darüber« geben, »daß der Ubergang von der inneren Sprache zur äußeren keine direkte Übersetzung aus einer Sprache in eine andere, keine einfache Vokalisierung der inneren Sprache darstellt, sondern eine Umstrukturierung der Sprache, die Umwandlung einer völlig eigenständigen Syntax, der semantischen und lautlichen Struktur der inneren Sprache in andere Strukturformen, die der äußeren Sprache zu eigen sind. Genauso wie die innere Sprache nicht Sprache minus Laut ist, ist auch die äußere Sprache nicht innere Sprache plus Laut. Der Übergang von der inneren zur äußeren Sprache stellt eine komplizierte dynamische Transformation dar - die Umwandlung einer prädikativen und idiomatischen Sprache in eine syntaktisch gegliederte und anderen verständliche Sprache.« (a.a.O., 349 f.) 137 Diese »Stabilität« der Wortbedeutung gegenüber einem Kontextwechsel gilt, wie unmittelbar einleuchten dürfte (und weshalb Wygotski es auch nicht gesondert hervorhebt), nur für den Wechsel zwischen simultan oder quasi-simultan gegebenen Kontexten. Insofern liegt hier auch kein Widerspruch zu der vorher getroffenen Feststellung vor, »daß sich die Wortbedeutungen entwickeln«(a.a.O., 293). 138 Mir selbst war dies erst nach einem Kontrollvergleich der offiziellen deutschen Übersetzung von »Denken und Sprechen« mit der Textversion der russischen Werkausgabe möglich. Korrekt müsste der deutsche Text nämlich lauten: »Das Wort ist im Bewußtsein [das, was], wie Feuerbach sagt, für einen einzelnen Menschen [absolut] unmöglich und nur für zwei möglich [ist].« (Einfügn. in eckigen Klammern in Orientierung an Sobr. sotsch., Tom 2, 358 - vgl. auch Coli. Works, Vol. 1, 285) 139 »Jede Darstellung der Philosophie, sie sei nun mündliche oder schriftliche, hat nur und kann nur haben die Bedeutung eines Mittels. Jedes System ist nur Ausdruck, nur Bild der Vernunft, daher nur ein Objekt für die Vernunft, welches sie, als eine lebendige, in neuen denkenden Wesen sich forterzeugende Macht, von sich unterscheidet und als einen Gegenstand der Kritik sich gegenübersetzt. Jedes System, welches nicht als ein bloßes Mittel erkannt und angeeignet wird, beschränkt und verdirbt den Geist, denn es setzt das mittelbare, formale Denken an die Stelle des unmittelbaren, ursprünglichen, materialen Denkens; es tötet den Erfindungsgeist.« (a.a.O., 32) N.B.: In nämlichem Sinne hatte bereits I. Kant ein gutes Halbjahrhundert früher in seiner berühmten »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« von »Satzungen und Formeln« als den »mechanischen Werkzeuge(n) eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs« der menschlichen »Naturgaben« (dabei in erster Linie des Verstandes) gesprochen, die sich als »Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit« auswirken könnten (vgl. Kant 1913, 170); und J.G. Herder gibt im dritten, 1787 erschienen Teil der »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« mit Blick auf Traditionen im allgemeinen zu bedenken: »Die Tradition ist eine an sich vortreffliche, unserm Geschlecht unentbehrliche Naturordnung; sobald sie aber sowohl in praktischen Staatsanstalten als im Unterricht alle Denkkraft fesselt, allen Fortgang der Menschenvernunft und Verbesserung nach neuen

166 Umständen und Zeiten hindert, so ist sie das wahre Opium des Geistes sowohl für Staaten als Sekten und einzelne Menschen.« (zit. nach Herder 1965b, 93 f.). 140 Insofern ist die Fähigkeit, sich überhaupt einem anderen »mitteilen« zu können, direkt geknüpft an die Fähigkeit, »sich selbst an die Stelle des andern setzen« zu können (vgl. GW 5, 29, Fußn. 2).

DIE VERBORGENEN QUELLEN DES LEONTJEWSCHEN »VERGEGENSTÄNDLICHUNGS-ANEIGNUNGS«-KONZEPTS Eine historisch-methodologische Studie4')

1. Einleitende Bemerkungen zu Gegenstand und Aufgabenstellung der Studie Ging es in der voraufgegangenen Studie im wesentlichen darum, mit der Rekonstruktion der Feuerbach-Wygotski-Linie zugleich die allgemeine Tendenz des Projekts einer konsequent materialistisch begründeten Psychologie des gesellschaftlichen Menschen zu verdeutlichen, so soll im Folgenden versucht werden, die Konturen dieses Projekts noch schärfer herauszuarbeiten, indem wir uns kritisch mit jener psychologischen Grundkonzeption auseinandersetzen, die von ihrem eigenen Selbstverständnis her wie in der Meinung des Fachpublikums bereits den Platz besetzt hält, den einzunehmen das Projekt »Psychologie des gesellschaftlichen Menschen« beansprucht. Die Rede ist von dem, häufig mit 'der' »kulturhistorischen Theorie« konfundierten, psychologischen Ansatz, der von A.N. Leontjew (1903-1979) Ende der 50er Jahre in die Diskussion eingebracht worden ist und der insbesondere bei den deutschsprachigen marxistisch orientierten Psychologen große Popularität erlangt hat. Das zentrale Konstrukt dieses Ansatzes und gewissermaßen seine 'tragende Säule' ist dabei das »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept, das in den Auseinandersetzungen um die Perspektiven eines »inneren Ausbaus des Marxismus« - bei gleichzeitigem Verweis auf seine Originalität - nicht selten als das Schlüsselkonzept für das marxistische Verständnis der gesellschaftlich-historischen Bedingtheit der menschlichen Psyche gehandelt wird1. Den Mythos zu 'entzaubern', der dieses Konstrukt umgibt, ist daher gleichbedeutend mit einer grundsätzlichen Infragestellung nicht nur des Leontjew'sehen Ansatzes, sondern auch seiner mehr oder weniger 'orthodoxen' Deszendenten. In diesem Sinne wird es die vorrangige Aufgabe dieser Studie sein, das »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept einer radikalen, d.h. an die Wurzel gehenden Überprüfung zu unterziehen, und zwar auf drei, im konkreten Untersuchungs- und Darstellungszusammenhang nicht immer präzise voneinander zu trennenden Ebenen: 1. auf der Ebene einer einzelwissenschaftlichen Konzeption, die den Anspruch erhebt, die Frage nach den Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen der sogenannten höheren, d.h. spezifisch menschlichen psychischen Funktionen und Fähigkeiten klarer und treffender zu beantworten als andere, mit ihr konkurrierende theoretische Ansätze;

168 2. auf der Ebene einer Konzeption, die den Anspruch erhebt, einen Beitrag zum »inneren Ausbau marxistisch begründeter Wissenschaft« (vgl. Holzkamp & Schurig 1973, XII) zu leisten (in welchem Zusammenhang auch die Frage der »Originalität« der Auffassungen Leontjews zur Debatte steht); 3. auf der Ebene einer kritischen Würdigung der tatsächlichen ideengeschichtlichen Quellen des »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Paradigmas. Den systematischen Ausgangspunkt aller drei Untersuchungsebenen bilden dabei die bereits 1959/60 von S.L. Rubinstein (1889-1960) gegen die Auffassungen Leontjews vorgebrachten Einwände, deren Hinterfragung auf die Notwendigkeit führt, zunächst näheren Aufschluss über die bei Marx mit den Termini »Aneignung« und »Vergegenständlichung« verknüpften Vorstellungen zu gewinnen, um diesen Vorstellungen dann jene Konzeptionen gegenüberzustellen, die dem leontjewschen »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept in Wahrheit zugrunde liegen. Zu zeigen sein wird, dass nicht nur konzeptionell, sondern auch terminologisch eine bemerkenswerte Affinität der Theoreme Leontjews zu jener Traditionslinie der deutschen Geistesgeschichte besteht, in welcher das Konstrukt des »objektiven Geistes« eine zentrale Rolle spielt und die durch solche prominenten Namen wie M. Lazarus, A. Schäffle, F. Jodl, W. Dilthey, G. Simmel, H. Freyer, N. Hartmann, um nur die bekanntesten zu nennen, repräsentiert wird. Bevor jedoch die Auffassungen Leontjews überhaupt problematisiert werden können, wird es notwendig sein, sich noch einmal das Konzept selbst zu vergegenwärtigen, um dessen genetisch-kritische Demontage es geht. 2. Wygotskis Auffassung von der Eigenart des menschlichen Bewusstseins und den Mechanismen der sozial-historischen Erfahrung als Referenzsystem des leontjewschen »Vergegenständlichungs-Aneignungs«Konzepts Das allgemeine, anthropologisch-psychologische Referenzsystem des leontjewschen »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzepts bilden bestimmte Theoreme, die von Wygotski bereits Mitte der 20er Jahre in kritischer Auseinandersetzung mit jenen zeitgenössischen Strömungen der Psychologie entwickelt worden sind, die sich am Ideal der Psychologie als einer biologischen Wissenschaft orientieren, in welcher der Bewusstseinsbegriff keinen Platz hat, da sie als einzig legitimen Gegenstand der Untersuchung nur das menschliche und tierische Verhalten zulässt (vgl. insbes. Wygotski 1925 u. Vygotsky 1926). Ausgangspunkt für Wygotskis Plädoyer, den Bewusstseinsbegriff als zentrale Kategorie

169 auch einer Psychologie des Verhaltens beizubehalten, ist dabei der Gedanke, dass der Mensch sich vom Tier wesentlich dadurch unterscheidet, dass bei ihm über die für das Tier charakteristischen Formen der Erfahrungsbildung und Erfahrungsreproduktion hinaus noch weitere Formen der Erfahrungsbildung und -reproduktion existieren. Wygotski zufolge besteht nämlich das gesamte Verhalten der Tiere im wesentlichen aus nur zwei Gruppen von Reaktionen: 1. den angeborenen oder unbedingten Reflexen sowie 2. den erworbenen oder bedingten Reflexen. »Hierbei«, schreibt er, »bilden die angeborenen Reflexe gleichsam den biologischen Extrakt aus der ererbten kollektiven Erfahrung der gesamten Art, und die erworbenen entstehen auf der Grundlage dieser ererbten Erfahrung durch das Schließen neuer Verbindungen, die in der persönlichen Erfahrung des Individuums zustande kommen.« (zit. nach ASch Bd. 1, 287 f.) Auf eine einfache Formel gebracht, bilde so das tierische Verhalten die Summe aus ererbter Erfahrung und ererbter Erfahrung, multipliziert mit persönlicher Erfahrung. Während Darwin den Ursprung der Erberfahrung erklärt habe, sei Pawlow der Entdecker des Mechanismus, »durch den diese Erfahrung mit der persönlichen multipliziert wird« (a.a.O., 288). Um dagegen das Verhalten des Menschen einigermaßen vollständig zu erfassen, müsse man in die für das Tier gültige Formel neue Glieder einfügen. Vor allem, so Wygotski, sei hier »die sehr viel reichere ererbte Erfahrung des Menschen, verglichen mit der des Tieres, in Betracht zu ziehen«, basiere doch »unser gesamtes Leben, unsere Arbeit, unser Verhalten auf weitestgehender Nutzung der Erfahrung früherer Generationen, einer Erfahrung, die nicht vom Vater auf den Sohn vererbt wird«. Ein Typ von Erfahrung, den Wygotski »bedingt als historische (Erfahrung) bezeichnen« möchte und neben den er noch einen anderen Typ setzt: die »soziale Erfahrung«, d.h. die Erfahrung der Mitmenschen, die als eine sehr bedeutende Komponente in das eigene Verhalten einfließt - ein Erfahrungstyp, den Wygotski folgendermaßen erläutert: »Wenn ich die Wüste Sahara und den Mars kenne, obwohl ich mein Land nicht ein einziges Mal verlassen und niemals durch ein Teleskop geblickt habe, dann verdanke ich diese Erfahrung ganz offensichtlich der Erfahrung anderer Menschen, die in die Wüste gefahren sind oder durch ein Teleskop geschaut haben. (...) Bezeichnen wir das als soziale Komponente unseres Verhaltens.« (ebd.) Bei genauerer Analyse zeigt sich dann allerdings, dass »die historische und die soziale Erfahrung, psychologisch gesehen, offenbar nichts Unterschiedliches (sind), weil sie in der Realität nicht voneinander zu trennen sind und immer ge-

170 meinsam in Erscheinung treten« (a.a.O., 306 f.). Präziser: Was man »bedingt als historische (Erfahrung) bezeichnen« kann, ist nicht nur keine eigenständige Kategorie außerhalb und unabhängig von der »sozialen Erfahrung«, es handelt sich dabei vielmehr um eine ihrer spezifischen Erscheinungsformen, ist doch »ihr Mechanismus«, wie Wygotski erläuternd feststellt, »genau derselbe wie der Mechanismus des Bewußtseins, weil das Bewußtsein als spezieller Fall der sozialen Erfahrung zu betrachten ist« (a.a.O., 307). Diese gewissermaßen noch im 'Vorfeld' der »kulturhistorischen Theorie« formulierten Vorstellungen bildeten mehr als zwei Jahrzehnte über Wygotskis frühen Tod hinaus (er starb, wie erinnerlich, in der Nacht zum 11. Juni 1934) für alle seine ehemaligen Mitarbeiter den allgemeinen Orientierungsrahmen für die Behandlung des Problems der Spezifik der Entwicklung der menschlichen Psyche im Unterschied zur Entwicklung der Psyche der Tiere - mit der wesentlichen Einschränkung freilich, dass bestimmte Überlegungen Wygotskis nicht mitreproduziert wurden, die sich auf die »Duplizität des Bewußtseins« (a.a.O., 305) beziehen und eine starke Affinität zu jenen klassischen Grundgedanken über den Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier aufweisen, wie sie sich bei L. Feuerbach in der Einleitung zu seinem »Wesen des Christentums« finden2. In diesem Sinne haben wir es denn auch bei dem, was Leontjew auf dem 4. Symposium der »Association de Psychologie scientifique de Langue frangaise«, das im Oktober 1956 in Straßburg stattfand, zum Thema »Bedingte Reflexe, Lernen und Bewusstsein« vortrug (vgl. L£ontiev, 1958 bzw. Leontjew, 1972)3, einerseits durchaus mit einer Binnendifferenzierung, andererseits aber auch bereits mit einer Verkürzung der ursprünglichen Auffassungen Wygotskis von den Mechanismen der »sozial-historischen« Erfahrung zu tun. Danach hängt das Verhalten der Tiere grundsätzlich von zwei Klassen der Erfahrung ab: erstens von der durch den Erbgang in den unbedingten Reflexen fixierten Erfahrung, die ihrem Inhalt nach Gattungserfahrung ist, und zweitens von der individuellen Erfahrung, die im Verlauf der Ontogenese durch die Bildung bedingter Reflexe erworben wird (vgl. 1958, 178 sowie 1972, 20 f.). Natürlich, so Leontjew, gebe es auch beim Menschen erblichfixierteErfahrungen, die aber in seinem Leben einen völlig anderen Platz als beim Tier einnehmen und in seinem Verhalten eine ganz andere Rolle spielen, hänge doch das menschliche Verhalten überwiegend von der Erfahrung ab, die in der Ontogenese erworben wurde. Dabei handele es sich jedoch »nicht um individuelle Erfahrung schlechthin«, sondern die tierische Form der individuellen Erfahrung werde beim Menschen »durch eine andere Erfahrung, die es beim Tier nicht gibt, wesentiich ergänzt, und zwar durch die Arterfahrung (genauer: durch die

171 gesellschaftlich-historische Erfahrung), die jedoch in Form individueller Erfahrungen erworben wird« (1972, 21 und im nämlichen Sinne 1958, 178). Denn: »Mit Hilfe der sprachlichen Kommunikation eignet [russ.: owladewajet] sich der Mensch die von der Gesellschaft in ihrer jahrhundertelangen Praxis gesammelten Kenntnisse an. Die Widerspiegelung der Wirklichkeit in seinem Gehirn ist daher erheblich vollständiger, als es die Daten seiner unmittelbaren persönlichen Erfahrung allein zuließen.« (Leontjew 1957, 9 bzw. 1972, 20) Fasst man die unterschiedlichsten Formen der individuellen Erfahrungsbildung unter der Sammelbezeichnung »Lernen« zusammen (vgl. 1972, 12 u. 1958, 170), dann fällt - wie bereits bei Wygotski so auch bei Leontjew - Lernen ursprünglich mit dem Prozess der Bildung der bedingten Reflexe, der Signalverbindungen zusammen. Mit der Entwicklung und Differenzierung der Anpassung des tierischen Verhaltens an komplexere Lebensbedingungen entwickeln und differenzieren sich dann auch die Lernformen; die ihnen »zugrunde liegenden Mechanismen werden komplizierter und spezialisierter«. Das heißt, die einzelnen bedingten Reflexe verbinden sich zu dynamischen Systemen, die aus relativ selbständigen Verhaltensgliedern bestehen, zwischen denen sich innere Wechselbeziehungen etablieren. Beim Menschen erlangen dann die Lernprozesse die qualitativ neue Form der »Übermittlung und Aneignung [russ.: uswojenije; franz.: assimilation]4 von Erfahrungen der gesellschaftlichen Praxis« - eine Tatsache, die in entscheidender Weise den gesamten Lernprozess verändert und seine Funktion auf ein höheres Niveau »hebt«. Diese »Anhebung« der Funktion findet ihren Ausdruck darin, dass sich das Lernen nicht mehr nur darauf beschränkt, das Verhalten zu modifizieren, zu entfalten und zu perfektionieren. Vielmehr schafft es neue, spezifisch menschliche Verhaltensformen wie z.B. die Herstellung von Werkzeugen, die sprachliche Kommunikation und die inneren, geistigen Handlungen, (vgl. 1972, 29 u. 21 sowie im nämlichen Sinne 1958, 186 u. 178) Da aber beim Menschen das Lernen die besondere Form der Erfahrungsübermittlung von einem Menschen zum anderen annimmt, »erfordern selbst die einfachsten Formen des Lernens einer Handlung die aktive Intervention des Erziehers. Um beispielsweise ein kleines Kind zu lehren, sich eines Löffels zu bedienen, gibt der Erwachsene ihm diesen in die Hand, korrigiert die Position, hilft ihm, ihn horizontal zu halten, etc.« (Löontiev 1958, 178 f. - Übers. P.K.). Genau besehen handle es sich dabei, so Leontjew weiter, um eine bestimmte Form der »Zusammenarbeit« zwischen dem Erzieher und dem zu Erziehenden5. Zwar können das Ausmaß und die Formen der Teilnahme des Erziehers an den

172 Handlungen des zu Erziehenden sehr verschieden sein, und häufig finde diese Teilnahme nur auf der sprachlichen Ebene statt, dennoch gebe es unter den Bedingungen des Lernens im eigentlichen Sinne des Wortes immer ein Stadium, das die Teilnahme der Erziehers erfordert. Und dieses Stadium sei insofern von entscheidender Bedeutung, als in ihm der Inhalt der »anzueignenden« Handlung aufgebaut wird. Bei alledem impliziere das Lernen im engeren Sinne immer »die Widerspiegelung der Realität in Form des Bewusstseins, anders ausgedrückt, die Mitwirkung kognitiver Mechanismen, die aus dem Erwerb der Sprache resultieren«. (vgl. L€ontiev, 1958, 179)6 Dabei stellen, so die Erläuterung Leontjews, die Erscheinungsformen der Sprache für jedes Individuum jenes besondere System von Reizen dar, das Pawlow das zweite Signalsystem der Wirklichkeit genannt hatte: In ihm »wirken nicht die Eigenschaften, Verbindungen und Beziehungen der realen Objekte als Reize, sondern die in den Sprachlauten oder Buchstaben fixierten Eigenschaften, Verbindungen und Beziehungen«. Daher bildet die Sprache für den Menschen ein besonderes System der Wirklichkeit, die »Wirklichkeit der von der Gesellschaft gewonnenen Kenntnisse und Vorstellungen, die in Wortbedeutungen ausgedrückt werden«, die »Wirklichkeit des gesellschaftlichen Bewußtseins« (1972, 20 und im nämlichen Sinne 1958, 177). Zu beachten sei bei alledem, dass der Einzelne »der ihn umgebenden gegenständlichen Welt niemals allein gegenüber(steht)«, sondern dass »seine Verbindungen mit der Realität durch seine Beziehungen zu den Menschen vermittelt (werden), mit denen er in sprachlichen Kontakt tritt« (ebd.). Für ein »Kleinkind, das erst sprechen lernt« signalisiert dabei ein Wort »zunächst nur den konkreten Gegenstand, mit dem die Erwachsenen gewöhnlich das betreffende Wort verbinden. Auf dieser Etappe ändert das Wort kaum die Prozesse des Erfahrungserwerbs. Seine spezifische Rolle tritt erst zutage, wenn es vom Kinde auch auf andere konkrete Gegenstände bezogen wird, die mit diesem Wort bezeichnet werden. Das Kind benennt jetzt mit einem Wort eine Gruppe verschiedener Objekte, die es in bestimmter Hinsicht als gleichartig betrachtet, und grenzt sie damit von anderen Objekten ab, auch von solchen (das ist besonders wichtig), die den Gegenständen dieser Gruppe äußerst ähnlich sind. Damit ist ein wichtiger Schritt getan: Mit Hilfe des Wortes werden Beziehungen hergestellt, die das Kind in Anbetracht seiner sehr geringen individuellen Erfahrung selbst nicht bilden könnte. Um solche Verbindungen herzustellen, müßte eine erhebliche Arbeit in der Analyse und Synthese der Erfahrungselemente geleistet werden. Das geschieht natürlich auch, aber nicht das Kind, sondern viele Generationen lösen diese Aufgabe. Ihr Produkt wird historisch in den sprachlichen Verallgemeinerungen, in den Bedeutungen, fixiert.« (1972, 22 f. sowie im nämlichen Sinne 1958, 179)

173 Von daher müssen am Prozess des kindlichen Spracherwerbs notwendig zwei Momente unterschieden werden: Zum einen durchläuft auch »die Aneignung [russ.: owladenije]7 des Wortes« jenes »wichtige Stadium, das für jegliches Lernen in engerem Sinne charakteristisch ist, das Stadium der gemeinsamen Handlung, der 'Zusammenarbeit'« (worunter Leontjew mit Wygotski »alle Formen des unmittelbar sozial gesteuerten Handelns« versteht8). Im Falle des Spracherwerbs »ist dieses Stadium jedoch maskiert«, weil »bei der Aneignung [russ.: owladenije] des Wortes ... die Handlung ... nicht entfaltet ist und nicht nach außen zutage tritt«. Das zweite Moment »betrifft das Zusammenwirken von Objekt und Wort, das Zusammenwirken zwischen den Signalen des ersten und denen des zweiten Signalsystems«. Hier gilt, dass »das Wort nur über seine Verbindung mit den einwirkenden Objekten Bedeutung (gewinnt)«, so dass die »Quelle des Inhalts, der in der Wortbedeutung widergespiegelt wird, also nicht im Wort selbst (liegt), sondern in der von ihm bezeichneten Wirklichkeit«, (vgl. Leontjew 1957, 11 bzw. 1972, 23 sowie 1958, 179 f., wo allerdings der das Moment der »Zusammenarbeit« betreffende Passus fehlt) Wie deutlich geworden sein dürfte, ist dies ganz offensichtlich eine Konzeption, die ohne Rekurs auf die Klassiker des Marxismus auskommt9 - eine Konzeption, die sich, wenn man von ihrem programmatischen Bezug auf Pawlows »Theorie der höheren Nerventätigkeit« absieht10, zudem ohne weiteres in die Tradition des westeuropäischen Funktionalismus einordnen lässt, der vor allem in Wygotskis 'mittlerer' Schaffensperiode (d.h. in der Zeit von 1927/28 bis 1930) den umfassenden Rahmen des i.e.S. »kulturhistorischen« Ansatzes abgab und der in der deutschsprachigen Psychologie durch Forscherpersönlichkeiten wie K. Groos, Ch. und K. Bühler, W. Köhler, K. Koffka, um nur einige zu nennen, repräsentiert wurde (vgl. hierzu ausführlicher Keiler 1989a, 85 ff. sowie van der Veer & Valsiner 1991, 189 ff.). 11 3. Kurzcharakteristik des leontjewschen »VergegenständlichungsAneignungs«-Konzepts Demgegenüber stellt dann jene Konzeption, mit der Leontjew erstmals 1959 an die Öffentlichkeit tritt, dem eigenen Selbstverständnis nach nicht bloß eine weitere Präzisierung, sondern bereits einen alternativen Ansatz zu den von Wygotski entwickelten Vorstellungen dar, denen nun, bei aller Anerkennung für ihre 'Pionierfunktion', insgesamt nur noch der Status eines 'historisch überholten Modells' zugebilligt wird (vgl. Leontjew 1973c, 269 ff.)12. Sicher, Leontjew hält zwar an dem Grundgedanken der beiden für das Tier charakteristischen Erfahrungstypen ebenso fest (vgl. a.a.O., 288 ff.) wie an Wygotskis Theorem,

174 dass es beim Menschen darüber hinaus noch andere Arten der Erfahrung gebe er fasst nun aber den Unterschied zwischen Mensch und Tier so, dass für sein Verständnis der Bezug auf die von K. Marx in seinen ökonomischen und philosophischen Studien verwendeten Termini »Aneignung« und »Vergegenständlichung« von konstitutiver Bedeutung ist. Mehr noch: »Vergegenständlichung« (russisch: »opredmetschiwanije«) avanciert geradezu zum Schlüsselwort für die konzeptionelle Begründung jenes Typs der Erfahrungsbildung und -reproduktion, den es beim Tier nicht gibt und den Wygotski »bedingt« als »historische Erfahrung« bezeichnet wissen wollte. Wie Leontjew in seiner programmatischen Arbeit »Über das historische Herangehen an die Untersuchung der menschlichen Psyche«13 schreibt, wurde die neue Form, an der Gattungserfahrung teilzuhaben, »beim Menschen möglich, weil seine Tätigkeit im Gegensatz zu der der Tiere produktiven Charakter hat« und die Arbeit als die Hauptform menschlicher Tätigkeit »sich in ihrem Produkt (fixiert)« (zit. nach Leontjew 1973c, 279). Als formelle Ableitungsgrundlage dieser Bestimmung gibt Leontjew jenen Passus aus dem ersten Band des »Kapital« an, in welchem Marx das Resultat des Arbeitsprozesses mit den Worten charakterisiert: »Die Arbeit hat sich mit ihrem Gegenstand verbunden. Sie ist vergegenständlicht, und der Gegenstand ist verarbeitet. Was auf Seiten des Arbeiters in der Form der Unruhe erschien, erscheint nun als ruhende Eigenschaft, in der Form des Seins, auf Seiten des Produkts.« (MEW 23, 195; vgl. Leontjew, a.a.O.) Diese »Umwandlung der Arbeit aus einer Tätigkeitsform in eine Form des Seins« (»eine gegenständliche Form«, wie Leontjew in Parenthese hinzufügt) lasse sich »von verschiedenen Seiten her und in verschiedener Hinsicht betrachten«. Unter psychologischer Perspektive »offenbare« sie sich als »Verkörperung und Vergegenständlichung geistiger Kräfte und Fähigkeiten in den Arbeitsprodukten«, so dass sich aufs Ganze gesehen »die Geschichte der geistigen und materiellen Kultur« als ein Prozess erschließe, »der in äußerer, materialisierter Form die Entwicklungsgeschichte menschlicher Fähigkeiten ausdrückt«, wobei wir »selbst in den einfachsten produzierten Dingen ... vergegenständlichte menschliche Fähigkeiten, ... die 'Wesenskräfte des Menschen'« vor uns hätten (vgl. Leontjew a.a.O., 279 f.). Oder, wie es in einem anderen, ebenfalls 1959 erschienenen Aufsatz Leontjews14 heißt: »In jedem von Menschen geschaffenen Gegenstand, sei es ein einfaches Werkzeug oder eine moderne elektronische Rechenmaschine, ist die historische Erfahrung der Menschheit enthalten. Zugleich sind in ihm die im Laufe dieser Erfahrung erworbenen geistigen Fähigkeiten verkörpert. Das

175 gleiche gilt, vielleicht noch offensichtlicher, für die Sprache, für die Wissenschaft und für die Kunst.« (Leontjew 1973d, 451) Dass es bei alledem in der Tat um »psychische Fähigkeiten des Menschen« geht, wird von Leontjew noch besonders hervorgehoben; denn zwar müsse, wie er schreibt, »der Komplex von Fähigkeiten, die das Individuum bei der Arbeit einsetzt und die im Arbeitsprodukt fixiert werden, natürlich auch körperliche Kräfte und Fähigkeiten umfassen«, aber diese würden »lediglich« die »spezifische Seite menschlicher Arbeit, die ihren psychologischen Inhalt ausdrückt, praktisch realisieren«, weshalb, so sein Resümee, Marx »das gegenständliche Sein der Produktion als Psychologie, die sich unseren Sinnen darbietet« bezeichne (Leontjew 1973c, 280). So ist der Auffassung Leontjews zufolge die Welt, in die jedes menschliche Individuum im Laufe seiner Entwicklung hineinwächst, nicht einfach nur eine von Menschen zu menschlichen Zwecken umgestaltete Welt, sondern es ist eine »Welt, welche die Errungenschaften der historischen Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten in sich aufgenommen hat« (Leontjew 1961, 27) 1 5 . Das heißt, die menschlichen Gattungserfahrungen und Gattungsfahigkeiten »stecken nicht im Erbgut des Menschen, sie liegen nicht im Menschen, sondern sind in den Gegenständen und Erscheinungen vergegenständlicht, die den Menschen umgeben« (a.a.O., 28). Mit anderen Worten: »Die Welt der Industrie, der Wissenschaft und Künste drückt die wahre menschliche Natur aus, sie ist das Ergebnis ihrer historischen Veränderungen; sie ist es, die dem Menschen das Menschliche bringt.« (ebd.) Allerdings sei, wie es weiter heißt, diese von den früheren Generationen geschaffene Welt in ihrer Spezifik als Welt von Gegenständen, »die die im Laufe der gesellschaftlich-historischen Praxis gebildeten menschlichen Fähigkeiten verkörpern«, den Individuen »nicht unmittelbar gegeben«, vielmehr »offenbare« sie sich in dieser Eigenschaft »jedem einzelnen Menschen als Aufgabe«. Das heißt: »Selbst die einfachsten Werkzeuge und Gegenstände des täglichen Bedarfs, denen das Kind begegnet, müssen von ihm in ihrer spezifischen Qualität erschlossen werden«. Es muss an ihnen »eine praktische oder kognitive Tätigkeit vollziehen, die der in ihnen verkörperten menschlichen Tätigkeit adäquat (obwohl natürlich nicht mit ihr identisch) ist«. Wie weit sich ihm dabei tatsächlich »die Bedeutung des gegebenen Gegenstandes oder der gegebenen Erscheinung erschließt, ist ein anderes Problem; es muß jedoch stets diese Tätigkeit vollziehen« (Leontjew 1973c, 281). Somit ist »die geistige, die psychische Entwicklung« des einzelnen Menschen »das Produkt eines besonderen Prozesses - der Aneignung [russ.: priswojenije]16 -, den es beim Tier nicht gibt, ebenso wie bei

176 diesem auch der entgegengesetzte Vorgang - die Vergegenständlichung von Fähigkeiten in den Produkten der Tätigkeit - nicht existiert« (a.a.O., 282). Wenn sich so »die adäquate Beziehung des Individuums zum Werkzeug« darin äußert, »daß es sich (praktisch oder theoretisch) die in ihm fixierten Operationen aneignet fruss.: priswaiwajet] und seine menschlichen Fähigkeiten daran entwickelt«, wobei - einem von Leontjew in diesem Zusammenhang zitierten Satz aus der »Deutschen Ideologie« zufolge - die »Aneignung [russ.: priswojenije] einer bestimmten Totalität von Produktionsinstrumenten ... die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst« ist (vgl. MEW 3, 67 f. sowie Leontjew a.a.O., 283 bzw. Leontjew 1981, 375), so muss allerdings Folgendes berücksichtigt werden: »Obwohl diese Fähigkeiten objektiv in dem Werkzeug vergegenständlicht sind, sind sie subjektiv fur das Kind nur darin veranlagt. Sie erschließen sich dem Kinde nur deshalb, weil seine Beziehungen zur gegenständlichen Welt über seine Beziehungen zu den Menschen vermittelt werden. Die Erwachsenen zeigen dem Kinde, wie man mit dem Werkzeug umgehen kann, und sie helfen ihm, es zweckentsprechend zu gebrauchen. Dadurch ermöglichen sie dem Kinde überhaupt, Werkzeuge zu handhaben.« (Leontjew 1961, 29) Insofern nun »die gegenständliche Welt« sich dem Kind »schon in den ersten Etappen seiner Entwicklung über die Beziehungen zu seinen Mitmenschen (erschließt)«, »kommt« zwar aufs Ganze gesehen »der Sprache eine außerordentlich große, ja die entscheidende Rolle zu«, gleichwohl »ist sie nicht der Demiurg des Menschlichen im Menschen«. Sicher: »Mit Hilfe der Sprache werden die Erfahrungen der gesellschaftlich-historischen Praxis den Individuen überliefert«, sie »ist ferner eine Bedingung für den Erwerb dieser Erfahrungen« und »schließlich die Form, in der diese Erfahrungen im Bewußtsein existieren« aber: »Die psychische Entwicklung des Kindes geht nicht auf den Einfluß sprachlicher Reize an sich zurück, sondern ist das Ergebnis des oben geschilderten spezifischen Aneignungsprozesses [russ.: spezifitscheskogo prozessa priswojenija], der durch alle Entwicklungsumstände des Individuums in der Gesellschaft bestimmt wird.« (Leontjew 1973c, 85 f. bzw. Leontjew 1981, 378)17 4. Die leontjewschen Auffassungen im Spiegel der Kritik S.L. Rubinsteins Wie eingangs erwähnt, hat diese Konzeption hierzulande vor allem bei den marxistisch orientierten Psychologen große Popularität erlangt. Wohl nicht zuletzt

177 unter dem Einfluss der Kritischen Psychologie, die in ihrer Entstehungsphase den Ansatz Leontjews nicht nur sehr offensiv propagiert, sondern ihn auch der eigenen Theoriebildung zugrunde gelegt hat (vgl. insbes. Holzkamp 1973 sowie Holzkamp-Osterkamp 1975, 1976), wobei dann das »VergegenständlichungsAneignungs«-Konzept nicht bloß als paradigmatisch für das »historische Herangehen an die menschliche Psyche« aufgefasst, sondern sogar zu einem »Grundbegriffmarxistisch fimdierter Psychologie überhaupt« hochstilisiert wurde (vgl. Holzkamp & Schurig 1973, XXXVIII ff.). Und so ist denn auch in meinen eigenen Arbeiten der späten 70er Jahre, soweit sie das Problem der Historizität der menschlichen Psyche behandeln, dieses Konzept von zentraler Bedeutung (vgl. Keiler 1976, 1977 sowie Keiler & Schurig 1978). Dabei gab es für die weitgehend unkritische Übernahme des leontjewschen Ansatzes und die Überhöhung des »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Paradigmas zum Schlüsselkonzept eines marxistischen Verständnisses der gesellschaftlich-historischen Bedingtheit der menschlichen Psyche im wesentlichen zwei Gründe: Zum einen hat die Vorstellung, dass die Individuen vermittelt über die mit den gegenständlichen Resultaten menschlicher Tätigkeit vorgegebenen Handlungsmöglichkeiten direkt an den Entwicklungsfortschritten der Gattung teilhaben, bereits für sich genommen zweifellos etwas Bestechendes - umso mehr, als bei alledem ja stillschweigend oder explizit ein sich selbst optimierender Mechanismus der Rückkoppelung zwischen gesellschaftlich-historischer Höherentwicklung der Gattung und Höherentwicklung der Individuen unterstellt ist. Zum anderen vertraten wir gegen die seinerzeit weit verbreitete Attitüde einer antipsychologischen MarxInterpretation die Auffassung, dass der historische und dialektische Materialismus sehr wohl auch eine psychologische Dimension hat, so dass uns, die wir selbst in der »Aneignung« (sie!) des Marxismus erst noch am Anfang standen, der Ansatz Leontjews zwangsläufig als Prototyp einer direkten Anknüpfung an den für die Psychologie unmittelbar relevanten Aussagen von Marx erscheinen musste (vgl. hierzu ausführlicher Holzkamp & Schurig a.a.O., XII; Keiler 1985, 333 sowie Keiler 1988a, 116 u. 133). Infolgedessen erwies sich denn auch der leontjewsche Ansatz innerhalb des Diskurses über die Bedingungen und Perspektiven einer sich auf Marx berufenden Psychologie über längere Zeit als hochgradig kritikresistent. Und dies umso mehr, als entweder bei den Kritikern die Attitüde einer antipsychologischen Marx-Interpretation mit einem erschreckenden Mangel an Sachkenntnis verquickt war (vgl. etwa Laufenberg, Seidel & Steinfeld 1974), so dass es nicht schwerfiel, die von ihnen vorgetragenen Einwände von vornherein als irrelevant abzuqualifizieren (vgl. Keiler 1976), oder aber die Kritik sich durch einen so hohen Grad an Differenziertheit auszeichnete, dass sie (vor allem, wenn man sie

178 nur oberflächlich zur Kenntnis nahm) als grundsätzliche Zustimmung 'missverstanden' werden konnte. So wurde etwa die weitreichende Bedeutung des von A. Wacker bereits 1977 detailliert geführten Nachweises, dass der Zusammenhang zwischen dem, was Marx unter »Aneignung« versteht, und dem leontjewschen Aneignungskonzept keineswegs systematischer, sondern »wesentlich terminologischer Natur« sei (Wacker 1977, 66), erst erkannt, als im Zuge der ab 1979 verstärkt einsetzenden Beschäftigung mit der Geschichte der sowjetischen Psychologie18 zwangsläufig auch der Sachverhalt zur Sprache kam, dass Leontjew mit seiner Konzeption noch im selben Jahr, in dem er mit ihr an die Öffentlichkeit trat, innerhalb der sowjetischen Psychologie selbst auf grundsätzliche Kritik gestoßen war. Und da es sich beim Wortführer dieser Kritik um niemand Geringeren als S.L. Rubinstein handelte, der das leontjewsche »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept nicht nur unter i.e.S. psychologischen Gesichtspunkten problematisiert, sondern vor allem die Legitimität seines Bezuges auf die von Marx mit dem Terminus »Aneignung« verknüpften Vorstellungen bestritten hatte (vgl. Rubinstein 1961 sowie Rubinstein 1979c)19, stand von nun an jede neuerliche Auseinandersetzung mit den Auffassungen Leontjews zwangsläufig unter dem Präjudiz, über den Punkt hinauszugehen, bis zu dem sich der führende Entwicklungspsychologe der DDR, H.-D. Schmidt, bereits vorgewagt hatte, als er im Februar 1979 auf dem 5. Kongress der Gesellschaft für Psychologie der DDR die »Frage« aufwarf, inwieweit sich für die Konzeption Leontjews »Notwendigkeiten der Differenzierung und Präzisierung - und zuvor Problematisierung« abzeichneten (vgl. Schmidt 1979, 262). Denn während Schmidt bei aller Einsicht in die Notwendigkeit einer gründlichen Revision dieser Konzeption weiterhin an der These ihrer »Originalität« und »längst bewiesenen Fruchtbarkeit« festhalten wollte und in diesem Zusammenhang Leontjew einmal mehr bescheinigte, seine »eigentlich originelle Leistung« liege in dem »Versuch, die historisch-materialistischen Analysen Marx\ speziell seine politisch-ökonomischen Untersuchungen, die um die dialektischen Relationen Vergegenständlichung, Eigentum, Entfremdung, Aneignung kreisen, konsequent für die entwicklungspsychologische Modellbildung nutzbar zu machen« (vgl. a.a.O., 261 f.), war genau diese »Leistung« ja bereits zwanzig Jahre früher von Rubinstein prinzipiell in Frage gestellt worden. Was die Ebene der immanent-psychologischen Argumentation anbelangt, so richteten sich die Einwände Rubinsteins (der sich dabei sowohl an Leontjews Kongressreferats-Thesen als auch an dessen programmatischer Arbeit über die historische Methode in der Psychologie orientierte) in erster Linie gegen das Interiorisations-Konzept als den eigentlichen Leitgedanken des leontjewschen Ansatzes20. »Die Theorie der Interiorisation«, so sein Vorwurf, »ist zweifellos die

179 detaillierteste Variante der Auffassungen, die Entwicklung des Menschen sei von außen determiniert.« (Rubinstein 1961, 9 bzw. 1979c, 176) Sie behaupte »zwar richtig, das menschliche Denken und die menschlichen Fähigkeiten seien gesellschaftlich bedingt«, aber sie fasse »die soziale Determiniertheit mechanistisch« auf, wodurch sie »jeden Zusammenhang und jede gegenseitige Bedingtheit des Äußeren und Inneren« zerreiße und somit »jede Dialektik des Äußeren und Inneren, des Gesellschaftlichen und Natürlichen im Menschen« ausschalte (vgl. 1961, 13 bzw. 1979c, 180). Obschon sie zugestandenermaßen einen »materialistischen Charakter« habe und »fortschrittliche Gedanken« enthalte, da sie prinzipiell die Möglichkeit einräume, »Fähigkeiten durch Veränderung der äußeren Bedingungen zu entwickeln«, sei diese Konzeption daher aufs Ganze gesehen »theoretisch und praktisch unhaltbar« (vgl. 1961, 8 bzw. 1979c, 176). Wohl müsse man davon ausgehen, dass die »Bedingtheit der menschlichen Tätigkeit durch die historisch entstandenen Produkte ein spezifischer Zug der menschlichen Entwicklung« sei, dass »die Fähigkeiten des Menschen (sich) entwickeln, indem er sich historisch entstandene Produkte der menschlichen Tätigkeit aneignet [russ.: oswojenije] und selbst welche schafft« - zugleich müsse man aber auch erkennen, dass »die Entwicklung von Fähigkeiten nicht deren Aneignung [russ.: uswojenije], nicht die Aneignung [russ: uswojenije] fertiger Produkte (ist)« (Rubinstein 1960, 8; 1961, 14 bzw. 1979c, 180). Pointierter formuliert: »Fähigkeiten werden nicht aus den Dingen in die Menschen projiziert, sondern entwickeln sich durch die Wechselwirkung des Menschen mit den Gegenständen, mit den Produkten der historischen Entwicklung.« (ebd. - Hervorh. P.K.) Bei alledem erhöhe sich die Tragfähigkeit der Auffassungen Leontjews mitnichten dadurch, dass er »seinen Standpunkt über die Bildung der Fähigkeiten (und den gesamten Entwicklungsprozeß des Menschen) als marxistische Konzeption zu begründen« versuche und sich zu diesem Zweck auf den »Begriff der 'Aneignung' [russ: 'priswojenije'] bei Marx« berufe. Und dies umso weniger, als er sich in seiner Auslegung des Marxschen Aneignungsbegriffs im wesentlichen auf die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte des Jahres 1844« stütze, in denen dieser Begriff noch stark von den »Vorstellungen Feuerbachs von der Wechselbeziehung zwischen Mensch und Natur« geprägt sei, so dass Marx »'jedes ... der menschlichen Verhältnisse zur Welt - Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben'« als »'Aneignung' [russ: 'priswojenije'] des Gegenstands« auffasse (Rubinstein 1960, 6; 1961, 11 f. bzw. 1979c, 178 f. - zum Zitat im Zitat vgl. Marx 1988, 163 sowie Leontjew 1973c, 282). Denn »in dem Maße, wie Marx den abstrakten Naturmenschen Feuerbachs« überwinde und »den Menschen als 'Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse' zu betrachten« beginne (eine

180 »Auffassung«, die »in den Thesen über Feuerbach (These 6) formuliert« sei), verknüpfe er den Terminus »Aneignung« [russ: 'priswojenije'] thematisch mit der »Beseitigung des Privateigentums, mit der Errichtung des Kommunismus und des gesellschaftlichen Eigentums« (Rubinstein 1960, 6; 1961, 12 bzw. 1979c, 179). Bereits in der »Deutschen Ideologie« gewinne so der Aneignungsbegriff einen eindeutig ökonomischen sowie politischen Inhalt. Daher habe auch der von Leontjew im Rahmen der Erläuterung seines Aneignungskonzepts zitierte Satz, wonach die Aneignung einer Totalität von Produktionsinstrumenten die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst sei (vgl. oben, S. 176), in seinem ursprünglichen Zusammenhang einen ganz anderen Sinn als den, welchen Leontjew ihm beilege: »Nur durch die proletarische Revolution, durch die Beseitigung des Privateigentums und die Schaffimg des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsinstrumenten kann jene 'Aneignung* [russ.: 'priswojenije'] der Produktionsinstrumente vor sich gehen, die gleichbedeutend ist mit der Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst\« (1960, 7; 1961, 12 bzw. 1979c, 179) Deshalb, so Rubinstein abschließend, könne man sich auch »nicht auf den von Marx gebrauchten Begriff der 'Aneignung' [russ: 'priswojenije'] berufen, um zu begründen, die Bildung von Fähigkeiten bestehe in der Aneignung [russ.: uswojenije] von Operationen«, die in den Werkzeugen »vergegenständlicht« sind; vielmehr müsse man die letztgenannte Konzeption »auf eigene Rechnung und Gefahr vertreten und nach eigenem Ermessen erproben« (vgl. 1960, 7; 1961, 12 f. bzw. 1979c, 179). 5. Eine Konzeption, die man auf eigene Rechnung und Gefahr vertreten muss? Es ist müßig, darüber zu spekulieren, wie sich die Auseinandersetzung über die von Rubinstein gegen Leontjew erhobenen Vorwürfe wohl entwickelt hätte, wenn Rubinstein nicht schon im Januar 1960 verstorben wäre. Tatsache ist, dass die eigentliche Kontroverse de facto bereits ein Ende gefunden hatte, noch ehe sie recht in Gang gekommen war. Zwar blieben einige der von Rubinstein thematisierten Streitpunkte auch in der Folgezeit noch im Gespräch, insgesamt lässt sich jedoch feststellen, dass die Diskussion, die nach Rubinsteins Tod von seinen Schülern weitergeführt wurde, merkwürdig verflachte. Und dies wohl nicht zuletzt deswegen, weil Leontjew von Anfang an um eine Entpersonalisierung und weitgehende Entschärfung der Kontroverse bemüht war und sich seine Reaktionen auf die gegen seine Auffassungen gerichteten Angriffe häufig nur »zwischen den Zeilen« ausmachen lassen. Tatsächlich sucht man vergebens nach

181 einen Artikel von ihm, in dem er sich direkt mit den von Rubinstein gegen ihn erhobenen Vorwürfen auseinandersetzt und expressis verbis die Charakterisierung seiner Konzeption als 'jenseits des Marxismus' befindlich zurückweist. Dabei wäre es durchaus angebracht gewesen, die Auffassungen Rubinsteins ihrerseits daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie jenen Kriterien genügten, die er an die Konzeption Leontjews angelegt zu haben wünschte. Eine solche Überprüfung hätte nämlich nicht nur die Qualität seiner eigenen Marx-Rezeption massiv in Frage gestellt21, sondern auch die interessante Erkenntnis zutage gefördert, dass Rubinstein selbst es gewesen war, der mit einigen seiner bereits ein Vierteljahrhundert zuvor formulierten Thesen über die im marxschen Gesamtwerk angelegten psychologischen Problematiken das leontjewsche »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept überhaupt erst möglich gemacht hatte. Mehr noch: Eine in die Details gehende Analyse hätte gezeigt, dass von Leontjew im Grunde genommen nur in sehr konsequenter Weise jene Prinzipien einer »psychologischen« Marx-Interpretation realisiert worden waren, deren Parameter Rubinstein in seinem 1934 in der Zeitschrift Sowjetskaja psichotechnika veröffentlichten Aufsatz »Probleme der Psychologie in den Arbeiten von Karl Marx«22 abgesteckt hatte - ein Aufsatz, dessen Hauptzweck darin bestand, die grundlegende Bedeutung der zwei Jahre zuvor erstmals vollständig publizierten (in der Sowjetunion aber nur einem kleinen Leserkreis direkt zugänglichen) »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte des Jahres 1844«23 für den »Aufbau einer marxistisch-leninistischen Psychologie als einer 'wirklichen inhaltvollen und reellen Wissenschaft'« zu demonstrieren (zit. nach Rubinstein 1979a, 15). »In den Werken von K. Marx«, hatte Rubinstein seinerzeit geschrieben, »finden wir bekanntlich keine Abhandlungen, die sich speziell mit der Psychologie befassen. In verschiedenen seiner Arbeiten aber hat dieser geniale Geist, sozusagen nebenbei, eine Reihe von Bemerkungen zu verschiedenen Fragen der Psychologie eingestreut. Vertieft man sich in diese vereinzelten Bemerkungen, wird klar, daß sie - äußerlich nicht systematisiert - doch ein innerlich einheitliches System von Ideen darstellen. In dem Maße, wie ihr Inhalt erschlossen wird, fügen sich diese Bemerkungen zusammen und erweisen sich als ein geschlossenes Ganzes, das von der Einheit der Marxschen Weltanschauung durchdrungen ist und von ihren Grundlagen ausgeht.« (a.a.O., 11) Deshalb, so Rubinstein weiter, dürfe man Marx »auch auf dem Gebiet der Psychologie heute nicht als einen großen Repräsentanten der Vergangenheit ansehen, der historisch zu untersuchen und philosophisch zu kommentieren wäre«. Vielmehr müsse man ihn »als den gegenwärtigsten unserer Zeitgenossen betrachten« und

182 »vor ihm die aktuellsten Probleme aufwerfen, mit denen sich das zeitgenössische psychologische Denken beschäftigt, um vor allem zu klären, welche Antworten - vom Standpunkt der allgemeinen Grundlagen der marxistisch-leninistischen Methodologie - auf die Kernfragen der Psychologie in den Aussagen von Marx enthalten sind und welche Wege er für den Aufbau der Psychologie vorzeichnet« (ebd.). So werde etwa von ihm eine »Auffassung des Bewußtseins und der Tätigkeit des Menschen« vertreten, welche es ermögliche, die für die zeitgenössische Psychologie charakteristische Krise, die ihren Ursprung in der programmatischen Trennung von Tätigkeit und Bewusstsein habe, »vom Grunde her« zu überwinden (vgl. a.a.O., 11-15). Den Ausgangspunkt hierfür bilde »die Mansche Konzeption der menschlichen Tätigkeit«, welch letztere er »in den 'Ökonomischphilosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844' ... unter Verwendung der Terminologie Hegels ... als Vergegenständlichung [russ.: opredmetschiwanije] des Subjekts« bestimme, die »zugleich auch Entgegenständlichung [russ.: raspredmetschiwanije] des Objekts« sei (a.a.O., 15; Rubinstein 1983, II). 24 »Für K. Marx«, so Rubinstein weiter, »ist die gesamte Tätigkeit des Menschen die Vergegenständlichung selbst oder, anders gesagt, der Prozeß der objektiven Äußerung seiner 'Wesenskräfte'. Bei der Analyse der Arbeit im 'Kapital' sagte Marx einfach, daß in der Arbeit 'das Subjekt in das Objekt übergeht' [russ.: 'subjekt perechodit w Objekt']25. Die Tätigkeit des Menschen ist also keine Reaktion auf einen äußeren Reiz, sie ist nicht das Tun, wie es die äußere Operation des Subjekts an einem Objekt ist, - sie ist 'der Übergang des Subjekts in das Objekt' [russ.: 'perechod subjekta w Objekt']. Damit aber schließt sich die Verbindung nicht nur zwischen dem Subjekt und seiner Tätigkeit, sondern auch die Verbindung zwischen der Tätigkeit und ihren Produkten. Die Auffassung der Tätigkeit als Vergegenständlichung beinhaltet bereits diesen Gedanken: Marx spitzt ihn zu und hebt ihn hervor, wenn er bei der Analyse der Arbeit im 'Kapital' sagt, daß 'Tätigkeit und Gegenstand einander gegenseitig durchdringen'. Sofern die Tätigkeit des Menschen seine Vergegenständlichung, Objektivierung [russ.: objektiwirowanije] oder der Übergang des Subjekts in das Objekt, die Offenbarung seiner Tätigkeit, seiner Wesenskräfte, darunter seiner Sinne, seines Bewußtseins in den Objekten ist, ist das gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende Psychologie (K. Marx ...26). Daher kann 'eine Psychologie, für welche dies Buch, also grade der sinnlich gegenwärtigste, zugänglichste Teil der Geschichte zugeschlagen ist, ... nicht zur wirklichen inhaltvollen und reellen Wissenschaft werden' (...27).« (Rubinstein a.a.O., 15 f.; 1983, 11 f.) Lesen sich Leontjews Bestimmungen der »Vergegenständlichung« als »Verkörperung geistiger Kräfte und Fähigkeiten« in den Arbeitsprodukten etwa nicht wie eine radikale Fortführung jener Vorstellungen, die Rubinstein mit dem

183 Begriff der Vergegenständlichung als »Übergang des Subjekts in das Objekt« verbindet?28 Und gesetzt den Fall, diese Deutung träfe in der Tat genau das, was Marx unter »Vergegenständlichung« verstanden hat, so dürfte es auch nicht grundsätzlich verkehrt sein, wenn Leontjew mit Bezug auf das bereits von Rubinstein angeführte marxsche Diktum, demzufolge das gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende Psychologie ist, weshalb eine Psychologie, für welche dieses Buch zugeschlagen bleibe, auch nicht zur wirklichen inhaltvollen und reellen Wissenschaft werden könne, feststellt: »Dieser Gedanke von Karl Marx ist in der psychologischen Literatur wiederholt zitiert worden. Er wurde jedoch gewöhnlich nur in engerem, vor allem historischem, genetischem Sinne aufgefaßt.29 In Wirklichkeit ist er für die wissenschaftliche Psychologie von allgemeinerer, ja entscheidender Bedeutung; um sie völlig zu erschließen, muß man allerdings nicht nur die Vergegenständlichung, sondern auch die Aneignung menschlicher Fähigkeiten durch das Individuum betrachten.« (Leontjew 1973c, 280) Tatsächlich wäre ja in dem fortlaufenden »Übergehen« der »menschlichen Wesenskräfte« in die Produkte der menschlichen Tätigkeit, d.h. dem sich perspektivisch ins Unendliche fortsetzenden 'Aufladen' der Gegenstände mit Subjektivität kein rechter Sinn zu sehen, wenn man nicht einen zu diesem Vorgang reziproken Prozess annehmen würde. Und so besteht denn auch letztlich nur ein terminologischer Unterschied zwischen Leontjews Auffassung von der »Aneignung« als dem »der Vergegenständlichung von Fähigkeiten in den Produkten der Tätigkeit entgegengesetzten Vorgang« und jener Interpretation der Wechselbeziehung des Menschen mit der äußeren Wirklichkeit, die Rubinstein in seiner 1958/59 (d.h. noch vor der Publikation von Leontjews programmatischem Aufsatz) verfassten Arbeit »Zu den philosophischen Grundlagen der Psychologie« (Untertitel: »Die Frühschriften von Karl Marx und die Probleme der Psychologie«)30 gegeben hatte. In dieser Studie, in der erneut Themen seines Aufsatzes von 1934 zur Sprache kommen, ist nämlich nicht nur die Rede davon, dass »die vom Menschen umgestaltete Natur«, die durch Arbeit »geschaffene gegenständliche Welt als nach außen verlagerte 'Wesenskräfte' des Menschen in Erscheinung (tritt)«, bzw. dass »die vom Menschen bearbeitete Natur die nach außen verlagerte, in Form des Objekts auftretende eigene Natur des Menschen, des Subjekts (ist)«, sondern es wird hier auch ganz offen behauptet, dass »der sich vollziehende Übergang des 'gegenständlich entfalteten Reichtums' aus dem Subjekt in das Objekt und aus dem Objekt in das Subjekt eben die 'Vergegenständlichung' und 'Entgegenständlichung'« sei, »von der Marx in der Sprache Hegels spricht« (zit. nach Rubinstein 1979b, 43)31. Und wenn Rubinstein im

184 gleichen Zusammenhang keinen Zweifel daran lässt, dass »bereits einige Formen der Sinnlichkeit, der elementarsten Art psychischer Tätigkeit«, wie z.B. das Sprachgehör und das musikalische Gehör durch »Produkte der Kultur, der sozialhistorischen Entwicklung - durch Sprache und Musik« bedingt seien (a.a.O., 47), dann könnte, nach alledem, der Streitpunkt zwischen ihm und Leontjew eigentlich nicht in der Frage liegen, inwieweit es überhaupt legitim sei, die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten auf die »Aneignung« bzw. »Entgegenständlichung« der in den Arbeitsprodukten »vergegenständlichten« menschlichen »Wesenskräfte« zurückzuführen, sondern es dürfte im Grunde genommen nur darum gehen, ob durch diese Konzeption die Entwicklung der spezifisch menschlichen Fähigkeiten vollständig erfasst ist. Und so scheint denn auch der an die Adresse Leontjews gerichtete Hauptvorwurf in der Tat lediglich darin zu bestehen, dass sein »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept zwar einen wichtigen Teilaspekt der Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten berücksichtigt, einen anderen, ebenso wichtigen Aspekt des Gesamtprozesses aber völlig unbeachtet lässt. Schließlich stellt doch Rubinstein überhaupt nicht in Abrede, dass es einen »Zusammenhang« zwischen »der inneren Entwicklung des Menschen - seines Wesens, seiner Fähigkeiten und den äußeren vergegenständlichten Produkten seiner Tätigkeit« gibt, er wendet sich nur dagegen, ausschließlich von jenen Fähigkeiten zu sprechen, »die sich aus der Aneignung von Produkten bestimmter Tätigkeiten ergeben«, und dabei gänzlich von jenen Fähigkeiten abzusehen, die sich im Prozess der Produktion selbst herausbilden; denn, so sein Argument: »Die Fähigkeiten bilden sich nicht nur, indem sich der Mensch die Produkte aneignet, die im Laufe der historischen Entwicklung geschaffen wurden, sondern auch, indem er sie selbst schafft. Der Mensch, der die vergegenständlichte Welt schafft, entwickelt seine Wesenskräfte.« (vgl. Rubinstein 1961, 10 bzw. 1979c, 177 f.) Oder in den Worten seines 1934er Aufsatzes: »Die Vergegenständlichung oder Objektivierung ist nicht der 'Übergang in das Objekt' eines bereits fertigen, unabhängig von der Tätigkeit gegebenen Subjekts, dessen Bewußtsein lediglich nach außen projiziert wird. In der Objektivierung, im Prozeß des Übergangs in das Objekt bildet sich das Subjekt selbst heraus. (...) Somit bildet der Mensch, indem er sich in den Produkten seiner eigenen Tätigkeit objektiviert und diese formt, seine eigenen Sinne, sein Bewußtsein ... entsprechend der durch die bekannte Formulierung im 'Kapital' gekennzeichneten Weise heraus: Indem der Mensch die äußere Natur verändert, 'verändert er zugleich seine eigne Natur' (...32).« (Rubinstein 1979a, 16)

185 Aufs Ganze gesehen scheint Rubinstein so, indem er gegen die Auffassung polemisiert, »die Entwicklung des Menschen und seiner Fähigkeiten hänge einseitig von den äußeren Produkten seiner Tätigkeit ab« (Rubinstein 1961, 10 bzw. 1979c, 177), und vehement für eine Berücksichtigung auch des Einflusses der Produktion selbst auf die Entwicklung der Fähigkeiten plädiert, letztlich genau dasselbe im Sinn zu haben, was bereits A. Kurella (1895-1975) in seiner 1937 im Moskauer Exil entstandenen Arbeit »Die kapitalistische Entfremdung und ihre sozialistische Aufhebung« gemeint hatte, als er schrieb, in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« stelle Marx der »abstrakten Auffassung Feuerbachs vom Wesen des Menschen« den »Gedanken vom Menschen als einem Produkt seiner eigenen geschichtlichen Betätigung« gegenüber und erkläre »Hegel folgend, ... den Menschen als etwas Werdendes, als etwas, was durch seine eigene Arbeit erzeugt und entwickelt wird« (vgl. Kurella 1958b, 38 f. bzw. Kurella 1981a, 82)33. Immerhin findet sich auch bei Kurella das von Rubinstein geforderte Prinzip der zweifachen Determination der Entwicklung der menschlichen Kräfte und Fähigkeiten. »Das Werden und die Entwicklung des Menschen und seines Wesens«, schreibt er, »vollziehen sich in der konkreten produktiven Arbeit, in der der Mensch seine jeweiligen Fähigkeiten, sein Gattungswesen auf konkrete Gegenstände, auf die Produkte seiner Arbeit überträgt, die aus der menschlichen Verarbeitung der Naturgegenstände entstehen und ihn dann als seine entäußerten, konkret, sinnlich, greifbar gewordenen Wesenskräfte umgeben: 'In der gewöhnlichen, materiellen Industrie ... haben wir unter der Form sinnlicher, fremder, nützlicher Gegenstände, unter der Form der Entfremdung, die vergegenständlichten Wesenskräfte des Menschen vor uns.' Einmal so vergegenständlicht, wird das in die Produkte der Arbeit verlegte Gattungswesen in Gestalt der künstlichen, vom Menschen geschaffenen menschlichen Umwelt zum Ausgangspunkt für die Höherentwicklung des Individuums, das sich durch Aneignung und Benutzung dieser gegenständlich gewordenen Wesenskräfte der Gattung überindividuelle Werte aneignet und dadurch seine individuellen Kräfte und Fähigkeiten bereichert. So wird auch in der konkreten Betätigung des Menschen, in der produktiven Arbeit, die 'Entfremdung' der menschlichen Wesenskräfte, das heißt ihre Hineinverlegung in produzierte Gegenstände34, die dem Individuum als etwas Fremdes gegenüberstehen, zur notwendigen Bedingung der Höherentwicklung des Individuums.« (Kurella 1958b, 39 f. bzw. Kurella 1981a, 82 f.; zum Zitat im Zitat vgl. Marx 1988, 167 - Auslass. A. Kurella) Bestünde so am Ende das wesentliche Verdienst der Kritik Rubinsteins an Leontjew etwa darin, zwar mit erheblicher zeitlicher Verzögerung, dafür aber umso nachhaltiger, die allgemeine Akzeptanz einer Konzeption durchgesetzt zu haben35, der zum Zeitpunkt ihrer Entstehung die ihr gebührende Anerkennung

186 versagt geblieben war? Festzuhalten wäre auf jeden Fall, dass selbst bei Außerachtlassung der bereits besprochenen Einwände Rubinsteins die Auffassungen Leontjews aufs Ganze gesehen offenbar weit weniger Prestige verdienen, als ihnen gewöhnlich zugesprochen wird. Denn das unter seinem Namen firmierende »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept kann, nach allem, weder das Prädikat einer »originellen Leistung« beanspruchen, noch reicht es im Hinblick auf das Reflexionsniveau der ihm zugrunde liegenden Vorstellungen auch nur annähernd an jenen Standard heran, den Kurella in »Die kapitalistische Entfremdung und ihre sozialistische Aufhebung« 'vorgegeben' hatte (wovon man sich bei der Lektüre besagter Schrift leicht überzeugen kann). Wenn daher der Gedanke, Rubinstein habe in seiner Kritik letzlich nur Kurella gegen Leontjew ausgespielt, auf den ersten Blick auch manches für sich zu haben scheint, so erweist er sich doch bei näherer Überprüfung als wenig stichhaltig. Zum einen gibt es nämlich keinerlei Hinweise, dass Rubinstein die zwar bereits von 1937 datierende, aber, wie erwähnt, erst 1958 an die Öffentlichkeit gebrachte Arbeit Kurellas überhaupt kannte (während er über das ab Ende der 40er Jahre in Frankreich erschienene Schrifttum, in dem die Bedeutung der »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« für eine marxistische Interpretation der Entfremdungsproblematik untersucht wird, nachweislich recht gut informiert war); zum anderen gewinnt man bei einem sorgfältigeren Eingehen auf den Wortlaut seiner Kritik den Eindruck, dass er wohl auch gegen die Konzeption Kurellas, wenn sie ihm bekannt gewesen wäre, Einwände geltend gemacht hätte. In der Tat wird die eigentliche Sinngehalt seiner Kritik an Leontjew erst klar erkennbar, wenn man realisiert, dass er sich mit dieser Kritik unter der Hand zugleich von jenem Begriffsverständnis distanziert, das er selbst noch in seinem Aufsatz über die philosophischen Grundlagen der Psychologie der Behandlung der Vergegenständlichungsproblematik zugrunde gelegt hatte. Entsprechend dieser stillschweigenden Revision ist nämlich unter »Vergegenständlichung« nicht mehr der »Übergang des Subjekts in das Objekt« bzw. der »Übergang der menschlichen 'Wesenskräfte' aus dem Subjekt in das Objekt« zu verstehen, als dessen Resultat die in das Produkt der Tätigkeit »hineinprojizierten« (Rubinstein) bzw. »hineinverlegten« (Kurella) »wesentlichen Eigenschaften und Fähigkeiten« des Menschen in dem betreffenden Produkt solange im Status einer »ruhenden Eigenschaft« überdauern (vgl. Leontjew 1961, 27), bis sie durch einen Prozess, der dem Prozess der »Vergegenständlichung« genau entgegengesetzt ist (nenne man ihn nun »Aneignung« oder »Entgegenständlichung«), gewissermaßen »wiedererweckt« werden36 - unter »Vergenständlichung« versteht Rubinstein vielmehr nun das »Gerinnen« der (materiellen oder geistigen) Tätigkeit zu einem den Produktionsprozess selbst überdauernden Produkt37, das, einmal geschaffen,

187 eine vom Produzenten unabhängige Existenz hat und daher von anderen Menschen »angeeignet« werden kann. Unter diesen Prämissen besteht dann sein Gegenmodell zum leontjewschen »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept in folgenden Annahmen: »Die Ergebnisse der menschlichen Tätigkeit, die sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung verdichten, werden in ihren Produkten vergegenständlicht. Für die Entwicklung der Fähigkeiten des Menschen ist es unerlässlich, daß er sich diese Ergebnisse aneignet [russ.: oswojenije]. Diese Bedingtheit der menschlichen Tätigkeit durch die historisch entstandenen Produkte ist ein spezifischer Zug der menschlichen Entwicklung.« (Rubinstein 1960, 8; 1961, 14 bzw. 1979c, 180) - Wenn sich daher »die Entwicklung des Menschen und seiner Fähigkeiten ... grundsätzlich von der Entwicklung der Tiere (unterscheidet)«, so »(ist) dieser prinzipielle Unterschied gerade darauf zurückzuführen, daß die Ergebnisse der menschlichen Tätigkeit als vergegenständlichte Produkte aufbewahrt und weitergegeben werden. Sie fördern damit auch die individuelle Entwicklung des Kindes.« (1961, 11 bzw. 1979c, 178) - Aber, so Rubinstein weiter, die Fähigkeiten des Menschen entwickeln sich nicht nur, »indem er sich historisch entstandene Produkte der menschlichen Tätigkeit aneignet« [russ.: oswojenije], sondern auch, indem er »selbst welche schafft«. Aus alledem folgt, dass »die Entwicklung von Fähigkeiten nicht deren Aneignung [russ.: uswojenije], nicht die Aneignung [russ.: uswojenije] fertiger Produkte (ist)«, dass sie »nicht aus den Dingen in den Menschen projiziert (werden), sondern sich durch die Wechselwirkung des Menschen mit den Gegenständen, mit den Produkten der historischen Entwicklung (entwickeln)« (1960, 8; 1961, 14 bzw. 1979c, 180). Dabei kann sich der Mensch »bestimmte Kenntnisse und Arbeitsverfahren nur dann aneignen [russ.: oswojenije], wenn seine geistige Entwicklung und die Entwicklung seiner Fähigkeiten das entsprechende Niveau erreicht haben. Diese Aneignung [russ.: uswojenije] schafft wiederum innere Bedingungen für den Erwerb von Kenntnissen und Arbeitsverfahren einer höheren Ordnung. Die Entwicklung von Fähigkeiten vollzieht sich spiralförmig: die Verwirklichung der Möglichkeit, die die Fähigkeit auf einem bestimmten Niveau darstellt, eröffnet neue Möglichkeiten für die weitere Entwicklung von Fähigkeiten auf einer höheren Stufe.« (1960, ebd.; 1961, ebd. bzw. 1979c, 181) Die Pointe der Kritik Rubinsteins an Leontjew besteht also darin, dass einerseits die traditionelle pädagogisch-psychologische Auffassung vom Lern- und Entwicklungsprozess als »Aneignung« mit all ihren Implikationen reproduziert wird, dabei zugleich jedoch ihre Präsentation so angelegt ist, dass bei jedem auch nur halbwegs mit dem 'kleinen Einmaleins des Marxismus' vertrauten Leser quasi automatisch Reminiszenzen an bekannte Passagen oder 'Kernsätze' aus dem einschlägigen Schrifttum wachgerufen werden. So ist es ja kaum möglich, angesichts der Ausführungen über die sich im Produktionsprozess herausbildenden

188 Fähigkeiten nicht an die bekannten Sätze aus der Einleitung der »Grundrisse« und aus dem »Kapital« zu denken, wonach »das Individuum im Produzieren seine Fähigkeiten entwickelt« (MEW 42, 25) bzw. wonach der Mensch, »indem er auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, zugleich seine eigne Natur verändert« (MEW 23, 192). Und genauso schwer fallt es, das, was Rubinstein über die Bedingtheit der Entwicklung der Fähigkeiten durch die »Aneignung« der die Generationen überdauernden Ergebnisse der menschlichen Tätigkeit schreibt, nicht als Paraphrase jener Passage aus dem »Feuerbach«-Kapitel der »Deutschen Ideologie« zu lesen, in der als einer der Grundgedanken der materialistischen Geschichtsauffassung der Sachverhalt hervorgehoben wird, dass auf jeder Stufe der historischen Entwicklung »ein materielles Resultat, eine Summe von Produktionskräften, ein historisch geschaffnes Verhältnis zur Natur und der Individuen zueinander sich vorfindet, die jeder Generation von ihrer Vorgängerin überliefert wird, eine Masse von Produktivkräften, Kapitalien und Umständen, die zwar einerseits von der neuen Generation modifiziert wird, ihr aber auch andrerseits ihre eignen Lebensbedingungen vorschreibt und ihr eine bestimmte Entwicklung, einen speziellen Charakter gibt« (MEW 3, 38). Rubinstein wendet also einen Taschenspielertrick an, indem er zwar darauf verzichtet, »seinen Standpunkt über die Bildung der Fähigkeiten (und den gesamten Entwicklungsprozess des Menschen)« expressis verbis »als marxistische Konzeption zu begründen«, zugleich aber darauf spekuliert, dass die meisten Leser 'von selbst' eine prinzipielle Übereinstimmung zwischen seinen Auffassungen und bestimmten Grundthesen des Marxismus feststellen werden. Dabei ist er, da er, anders als Leontjew, eine solche Übereinstimmung eben nicht direkt geltend macht, auch nicht in der Pflicht, selbst den entsprechenden Nachweis führen zu müssen, d.h. zu belegen, dass Marx, wenn er etwa im »Kapital« davon spricht, dass »die Reproduktion der Arbeiterklasse zugleich die Überlieferung und Häufung des Geschicks von einer Generation zur andren« einschließe (vgl. MEW 23, 599), genau die Vorstellungen damit verbindet, die im traditionellen pädagogisch-psychologischen Diskurs unter der Chiffre »Aneignung« firmieren38. Entsprechendes gilt für Rubinsteins eigentümliche Konstruktion, wonach »die sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung verdichtenden Ergebnisse der menschlichen Tätigkeit in ihren Produkten vergegenständlicht« bzw. »die Ergebnisse der menschlichen Tätigkeit als vergegenständlichte Produkte aufbewahrt und weitergegeben« werden. Auch hier wird unterschwellig eine Übereinstimmung der eigenen Auffassungen mit denen von Marx suggeriert, indem auf eine explizite Definition von »Vergegenständlichung« verzichtet und an jene Reminiszenzen appelliert wird, die sich 'bei jedem marxistisch gebildeten Leser' an

189 diesen Terminus knüpfen. Die Aufgabe, den Sinn besagter Konstruktion zu erschließen, ist also an den Leser delegiert, der im Falle eines Misslingens dazu tendieren wird, den Mangel an Verständnis sich selbst und seinen ungenügenden Marx-Kenntnissen zuzuschreiben, anstatt die Konstruktion selbst in Frage zu stellen. Gerade dies wäre aber angebracht. Sofern nämlich von den objektivmateriellen Resultaten menschlicher Tätigkeit die Rede ist, die per se gegenständlich sind, ist offenbar die Vorstellung einer »Vergegenständlichung der Ergebnisse der Tätigkeit in ihren Produkten« entweder ein Pleonasmus oder eine Absurdität. Sinnvoll wäre es nur, die Produkte (= Ergebnisse) der menschlichen Tätigkeit, sofern sie einen objektiv-materiellen, gegenständlichen Charakter haben, als »gegenständliche Resultate der Tätigkeit« zu bezeichnen und sie so von den subjektiven, wc/zf-gegenständlichen Produkten der Tätigkeit, d.h. jenen »physischen und geistigen Fähigkeiten« (vgl. MEW 23, 181) zu unterscheiden, die sich im Verlauf der Tätigkeit auf Seiten der tätigen Individuen entwickeln oder neu herausbilden und von mehr oder weniger dauerhaftem Charakter sind. Tatsächlich geht es Rubinstein in seiner Konstruktion aber gar nicht um die objektiv-materiellen, per se gegenständlichen Resultate der materiellen Produktion, die »in der Konsumtion ... Gegenstände des Genusses, der individuellen Aneignung« werden (vgl. MEW 42, 24), sondern um die primär nicht gegenständlichen »historisch entstandenen Produkte der menschlichen Tätigkeit«, wie »Kenntnisse und Arbeitsverfahren«, die, zu Quasi-Dingen »vergegenständlicht«, den nachfolgenden Generationen zur »Aneignung« aufgegeben sind. So hatte er ja bereits in »Sein und Bewußtsein« (1957) geschrieben: »Auf Grund der Aneignung dieser gesellschaftlich erarbeiteten Operationen - der Technik sowohl der körperlichen als auch der geistigen Tätigkeit - wird die Ausführung aller Formen der menschlichen Tätigkeit praktisch allen Menschen zugänglich, die nicht an irgendwelchen organischen Defekten leiden.« (zit. nach Rubinstein 1973, 328) Eine Bestimmung, die zwei Absätze später folgende Spezifizierung erfährt: »Gleichgültig, wie vollkommen die Operationen sind, wie vollendet die Technik, nicht nur der physischen, sondern auch der geistigen Arbeit ist, die die Menschheit entwickelt hat, jeder Mensch muß sie sich dennoch selber aneignen. Von seinen persönlichen Gegebenheiten hängt es ab, wie er sie sich zu eigen macht, das heißt in welchem Tempo und in welchem Grade.« (ebd.)3* Im Endeffekt hat so bei Rubinstein die Vorstellung von der »Vergegenständlichung« der Kenntnisse und Operationen bezogen auf das »Aneignungs«-Konzept die gleiche komplementäre Funktion, die sie bei Leontjew hat. Der Unterschied zwischen beiden besteht lediglich darin, dass für Leontjew besagte Kenntnisse

190 und Operationen infolge ihrer »Vergegenständlichung« in den Dingen »ruhen«, während sie nach der Auffassung Rubinsteins im Resultat ihrer »Vergegenständlichung« selbst Dinge (wenn auch »unkörperliche« Dinge) sind. Aber nicht nur unter diesem grundsätzlichen methodischen Gesichtspunkt erweisen sich die beiden Kontrahenten letztlich als »feindliche Brüder« - auch inhaltlich reduziert sich die von Rubinstein so stark betonte Differenz zwischen seinen eigenen Auffassungen und denen Leontjews auf ein Minimum. Tatsächlich vertritt dieser ja keineswegs eine gegensätzliche Position, sondern setzt lediglich die Akzente anders als Rubinstein, wenn er zunächst den obligatorischen Charakter der »Aneignung« betont und dann einschränkend feststellt, dass dieses Unternehmen durchaus nicht immer vollständig zum erwünschten Erfolg führt: »Selbst die einfachsten Werkzeuge und Gegenstände des täglichen Bedarfs, denen das Kind begegnet, müssen von ihm in ihrer spezifischen Qualität erschlossen werden. (...) In welchem Maße das gelingt und wie weit sich dem Kinde dabei die Bedeutung des gegebenen Gegenstandes oder der gegebenen Erscheinung erschließt, ist ein anderes Problem ...« (Leontjew 1973c, 281) So radikal daher Rubinsteins Kritik auf den ersten Blick auch erscheinen mag, als so wenig substantiell erweist sie sich bei gründlicher Überprüfung. Und dies beileibe nicht nur in Hinblick auf ihr Ergebnis, sondern bereits von ihrem Ansatz her. Eine wirklich an die Wurzel gehende Kritik der Konzeption Leontjews hätte nämlich nicht an seiner ungerechtfertigten Berufung auf eine bestimmte Passage der »Deutschen Ideologie« anzusetzen, sondern an seinem affirmativen Verhältnis zur pädagogisch-psychologischen Aneignungsmetapher überhaupt (deren konsequenteste Variante eben das Interiorisationsmodell ist). Indem Rubinstein ein besonders auffälliges, aber unwesentliches Detail bekrittelt, bleibt der eigentlich problematische Kern der von Leontjew propagierten Konzeption völlig unangetastet. 6. Wygotski als Schiedsrichter zwischen Leontjew und Rubinstein So hätte beispielsweise unbedingt der Sachverhalt zur Sprache kommen müssen, dass diese Konzeption hinsichtlich der empirischen Fakten offenbar keinen höheren Erklärungswert hat als das von Wygotski zwischen 1932 und 1934 ausgearbeitete Modell der psychischen Entwicklung des Kindes, dessen zentrale Kategorie die der »Zusammenarbeit« zwischen dem Kind und seinen Mitmenschen ist (vgl. oben, S. 171), Leontjew vielmehr gerade dort, wo das von ihm entworfene Szenario des Wechselspiels von »Vergegenständlichung« und »Aneignung« vordergründig eine Alternative zum Modell Wygotskis zu bieten scheint, letztlich doch auf eben dieses Modell als eigentliche Erklärungsgrundlage zurückgreifen

191 muss. Ein Sachverhalt, der bereits deutlich zutage tritt, wenn Leontjew in seinem Aufsatz über die Prinzipien der psychischen Entwicklung des Kindes und das Problem des geistigen Zurückbleibens auf den springenden Punkt zu sprechen kommt, ob sich die Fertigkeit, Gegenstände des alltäglichen Bedarfs (wie etwa einen Löffel) zu gebrauchen, »nicht vielleicht auch außerhalb des Umgangs und ohne die gemeinsame Handlung mit dem Erwachsenen erwerben« ließe eine Frage, die sich angesichts der kurz zuvor getroffenen Feststellung, »die gesellschaftlich erarbeitete Art und Weise des Gebrauchs« eines Löffels sei »in der Eigenart seiner Form verkörpert« zwangsläufig aufdrängt, da diese Feststellung ja den Gedanken nahelegt, die »objektive Logik des Umgangs mit diesem Gerät« (vgl. Leontjew 1973c, 292) müsse sich im Verhalten des Kindes auch gewissermaßen 'im Selbstlauf durchsetzen können. »Theoretisch«, so Leontjew, »läßt sich das natürlich annehmen. Man kann das Kind sogar praktisch in Bedingungen versetzen, unter denen dieser Weg der einzig mögliche ist. Das ist jedoch eine völlig abstrakte Annahme, eine Robinsonade. In Wirklichkeit kann ein Kind ohne praktischen und sprachlichen Umgang mit den Erwachsenen weder leben noch sich entwickeln. Nehmen wir trotzdem an, ein Kind sei gezwungen, irgendeine Fertigkeit selbständig zu erwerben, weil sich die Methoden, mit denen ihm die Erwachsenen helfen wollen, als unzulänglich erweisen. Es kann dabei durchaus einen Erfolg erzielen. Wieviel Zeit braucht es jedoch dazu und wie unterlegen ist es in dieser Fertigkeit einem glücklicheren Altersgefahrten, dessen Hand man richtig gesteuert hat?« (Leontjew 1973d, 453) Noch entschiedener äußert sich Leontjew zu dieser Frage freilich in seinem Kongressreferat über das Problem der Bildung der Fähigkeiten, wo es ganz eindeutig heißt, dass die in einem Werkzeug »vergegenständlichten« Fähigkeiten »sich dem Kinde nur deshalb (erschließen), weil seine Beziehungen zur gegenständlichen Welt über seine Beziehungen zu den Menschen vermittelt werden«. Genauer: »Die Erwachsenen zeigen dem Kinde, wie man mit dem Werkzeug umgehen kann, und sie helfen ihm, es zweckentsprechend zu gebrauchen. Dadurch ermöglichen sie dem Kinde überhaupt, Werkzeuge zu handhaben.« (Leontjew 1961, 29) - Womit sich dann in letzter Instanz, die Behauptung, die von Menschenhand produzierten Gegenstände selbst seien die Träger der menschlichen Gattungserfahrungen und -fähigkeiten, abgesehen von der ungeklärten Frage, wie dies 'technisch' überhaupt möglich sei, als eine vom Standpunkt der Denkökonomie gänzlich überflüssige Zusatzkonstruktion erweist. Mit der Kritik an diesem Punkt anzusetzen und zugleich die von Leontjew 'zwischen den Zeilen' signalisierte Alternativkonzeption offenzulegen, hätte freilich für Rubinstein bedeutet, auch die eigene Position grundsätzlich in Frage

192 stellen zu müssen und am Ende womöglich selbst auf die Auffassungen des 'späten' Wygotski als verbindlichen Standard zu rekurrieren. Von besonderem Interesse wäre dabei Wygotskis Konzeption der »Final-« oder »Idealformen« gewesen, wie er sie im vierten Kapitel seiner 1935 (bereits posthum) erschienen »Grundlagen der Pädologie« in allen Details expliziert hat und deren Kerngedanke darin besteht, dass sich die spezifisch menschlichen Verhaltensformen (Werkzeugverwendung, Sprache und Zeichengebrauch, logisches und mathematisches Denken etc.) beim Kind dadurch herausbilden, dass es seine auf natürlicher Grundlage entstehenden und sich 'naturwüchsig' entwickelnden Verhaltensweisen (Wygotski nennt sie die »Primär-« oder »Rudimentärformen«) in der Wechselwirkung mit seiner i.e.S. sozialen Umwelt Schritt für Schritt an die in dieser Umwelt prävalenten »idealen« Tätigkeits- und Bewusstseinsformen (»die von der Menschheit während des Prozesses der historischen Entwicklung perfektioniert worden sind«) angleicht. Dabei ist Wygotski zufolge »das, was in der ländlichen Entwicklung am Ende und als Ergebnis des Entwicklungsprozesses erreicht werden kann« nicht einfach nur »schon von Anfang an in der Umwelt vorhanden«, sondern »es macht auch bereits auf den allerersten Stufen der kindlichen Entwicklung seinen Einfluss geltend« (zit. nach Vygotsky 1994c, 347 - Übers. P.K.)40. Eine Konstellation, die sich sehr gut anhand des Beispiels eines Kindes erläutern lässt, das gerade erst zu sprechen angefangen hat und zunächst nur einzelne Wörter auszusprechen vermag: Während dieses Kind sich noch mit Ein-Wort-Sätzen abmüht, »redet die Mutter mit ihm in einer Sprache, die bereits grammatikalisch und syntaktisch ausgeformt ist und ein großes Vokabular aufweist«. Mag sie dabei auch einige Abstriche machen, um vom Kind besser verstanden zu werden, so gilt gleichwohl, dass »sie mit ihm spricht, indem sie die vollendete Form der Sprache verwendet«, also eben jene Form, die erst am Ende der kindlichen Entwicklung in Erscheinung treten wird, und die man daher »die Final- oder Idealform nennen« kann, und zwar »ideal in dem Sinne, dass sie als ein Modell für das fungiert, was am Ende der Entwicklungsperiode erreicht sein sollte, und final in dem Sinne, dass sie das repräsentiert, was vom Kind als Endresultat seiner Entwicklung erwartet wird«. Insofern besteht nach Wygotski »das wohl am meisten charakteristische Merkmal der kindlichen Sprachentwicklung darin, dass diese Entwicklung unter speziellen Bedingungen der Wechselwirkung mit der Umwelt abläuft, indem nämlich die Idealund Finalform (eben jene Form, die erst am Ende des Entwicklungsprozesses in Erscheinung treten wird) nicht nur einfach schon in der Umwelt vorhanden ist und von Anfang an mit dem Kind in Kontakt steht, sondern tatsächlich bereits auf der ersten Stufe der Entwicklung einen realen Einfluss auf die primäre Form ausübt. Etwas, das erst ganz am Ende der

193 Entwicklung Form angenommen haben soll, beeinflusst irgendwie die ersten Schritte dieser Entwicklung.« (a.a.O., 348) Das Gleiche gilt praktisch für alle anderen Bereiche, so etwa auch für die Art und Weise, wie sich bei Kindern der Zahlbegriff, ihr arithmetisches Denken entwickelt: »Bekanntlich«, so Wygotski, »hat ein Kind am Anfang, d.h. im Vorschulalter, noch eine sehr begrenzte und vage Mengenvorstellung. Nichtsdestoweniger werden diese primären Formen des kindlichen arithmetischen Denkens in die Wechselwirkung mit dem bereits etablierten arithmetischen Denken der Erwachsenen einbezogen; das heißt, wiederum ist die Finalform, die sich als Resultat des gesamten Verlaufs der kindlichen Entwicklung ergeben soll, nicht nur schon vorhanden, sondern determiniert und leitet die ersten Schritte, die das Kind auf der Entwicklungsstraße dieser Form tut.« (ebd.) Stellt man sich in einem hypothetischen Gegenbeispiel ein Kind vor, »das seinen Zahlbegriff, sein arithmetisches Denken nur mitten unter anderen Kindern entwickelt, auf sich selbst gestellt in einer Umwelt, in der keine entwickelte Form des arithmetischen Denkens existiert, d.h. ohne irgendeine Wechselwirkung mit der Idealform der Erwachsenen«, so wird man nach allem wohl kaum annehmen dürfen, »dass solche Kinder in der Entwicklung ihres arithmetischen Denkens sehr weit kommen«, und zwar »keines von ihnen, nicht einmal die mathematisch begabten unter ihnen«; ihre Entwicklung wird vielmehr »äußerst begrenzt« bleiben, »mit einem sehr engen Gesichtskreis«. (a.a.O., 351) Oder man versuche, sich ein Kind mit normalem Hörvermögen vorzustellen, »das zwischen tauben (gehörlosen) Menschen aufwächst und von taubstummen Eltern und taubstummen Kindern seines eigenen Alters umgeben ist«. Ein solches Kind wird nicht in der Lage sein, Sprache zu entwickeln; vielmehr wird es nur »ein unartikuliertes Stammeln entwickeln, wozu sogar taubstumme Kinder in der Lage sind«, weil »das Stammeln zu jenen Funktionen gehört, die mehr oder weniger Bestandteil der grundlegendsten vererbten Instinkte sind«. Für die Herausbildung von Sprache, »ist es notwendig, dass die besagte Idealform in der Umwelt vorhanden ist und mit der rudimentären Sprachform des Kindes in Wechselwirkung tritt; nur unter dieser Voraussetzung kann es zu einer Sprachentwicklung kommen«. (a.a.O., 349) Nimmt man andererseits den Fall eines taubstummen Kindes, das »zusammen mit anderen taubstummen Kindern aufwächst«, so haben, wie Wygotski hervorhebt, »einschlägige Forschungen gezeigt, dass taubstumme Kinder unter sich ihre eigene besondere Sprache schaffen, ein System nachahmender Gebärden und eine sehr reich entwickelte Zeichensprache«. Anders ausgedrückt:

194 »Ein solches Kind entwickelt seine eigene (von der gewöhnlichen) verschiedene, persönliche Sprache. Und die Kinder bilden diese Sprache auf dem Wege der Kooperation, in Gesellschaft aus. Aber kann man die Entwicklung dieser Zeichensprache mit der Sprachentwicklung von Kindern vergleichen, welche die Möglichkeit haben, mit der Idealform in Wechselwirkung zu treten? Natürlich nicht.« (a.a.O., 350) Allgemein gefasst bedeutet dies, dass, wenn wir es mit einer Situation zu tun haben, wo die betreffende »Idealform in der Umwelt nicht vorhanden ist und nur eine Wechselwirkung zwischen verschiedenen rudimentären Formen vorliegt, die daraus resultierende Entwicklung von äußerst begrenztem, reduziertem und ärmlichem Charakter ist« (ebd.), bzw. dass in solchen Fällen, »wo aus den unterschiedlichsten äußeren und inneren Gründen die Wechselwirkung zwischen der in der Umwelt vorhandenen Endform und der rudimentären Form des Kindes unterbrochen wird, die Entwicklung des Kindes nur in engen Bahnen verlaufen kann«, so dass auch unter diesen Bedingungen »das Resultat zwangsläufig in einem mehr oder weniger unterentwickelten Zustand der dem Kind eigenen Tätigkeitsformen und Merkmale bestehen wird« (351). Insofern stellt denn auch der Fall, wo ein (körperlich gesundes) Kind kaum Kontakt mit Erwachsenen hat, sondern seine soziale Umwelt im wesentlichen »aus Kindern seines eigenen Alters besteht, die sich alle im Entwicklungsstadium der niederen, rudimentären Form befinden«, lediglich eine spezielle Variante des allgemeinen Prinzips dar. Zwar werden sich, so Wygotski, »in einer solchen Situation bei diesem Kind durchaus angemessene Tätigkeitsformen und angemessene Persönlichkeitsmerkmale herausbilden«, aber eben, wie er hinzufügt, »in einer sehr eigentümlichen Manier«; sie werden sich nämlich »stets sehr langsam und in einer unüblichen Weise entwickeln, und sie werden niemals das Niveau erreichen, das sie erreichen, wenn die geeignete Idealform in der Umwelt vorhanden ist«. (350)41 Bei alledem ist dann »die Theorie der Wechselwirkung zwischen Idealformen und rudimentären Formen« (351) nicht lediglich nur eine entfaltete Variante der einfachen Grundwahrheit, »dass der Mensch ein soziales Wesen ist, dass er ohne soziale Wechselwirkung aus sich selbst heraus niemals auch nur irgendeines der Attribute und Charakteristika entwickeln kann, die sich als ein Ergebnis der historischen Evolution der Menschheit herausgebildet haben« (352); auch haben wir darin nicht bloß eine etwas anspruchsvollere Version der gängigen Milieutheorien zu sehen, wonach »die Umwelt ein wichtiger Faktor für die Entwicklung der Persönlichkeit und ihre spezifisch menschlichen Züge« ist (349) bzw. den »Hintergrund« oder die »Kulisse« (vgl. ebd.) für die Persönlichkeitsentwicklung abgibt - vielmehr besteht die eigentliche Pointe dieser Theorie in dem Gedanken, dass die i.e.S. soziale Umwelt die »Quelle aller spezifisch menschli-

195 chen Züge des Kindes ist und dass, wenn die geeignete Idealform in der Umwelt nicht existiert, sich beim Kind auch die entsprechende Tätigkeit, das entsprechende Charakteristikum, das entsprechende Persönlichkeitsmerkmal nicht herausbilden kann« (350 - Hervorh. P.K.), weil »die ererbten Instinkte des Kindes keine hinreichende Grundlage für ihre Ausbildung« sind (351). Im Fazit ist also die soziale Umwelt »die Quelle der Entwicklung der spezifisch menschlichen Züge und Attribute des Kindes«, und zwar im wesentlichen deshalb, »weil diese historisch entstandenen Merkmale der menschlichen Persönlichkeit, die jedes menschliche Wesen auf der Grundlage seiner ererbten organischen Ausstattung auszubilden in der Lage ist, in dieser Umwelt vorhanden sind. Aber zu Merkmalen jedes einzelnen menschlichen Individuums können sie allein kraft der Tatsache werden, dass dieses Individuum Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe ist und dass es eine bestimmte historische Einheit repräsentiert, also in einer bestimmten historischen Periode und unter bestimmten historischen Verhältnisen lebt. Infolgedessen manifestieren sich diese spezifisch menschlichen Charakteristika und Attribute in der kindlichen Entwicklung auch in einer anderen Art und Weise, als dies bei jenen Merkmalen und Attributen der Fall ist, die mehr oder weniger direkt durch den Verlauf der der Menschheitsgeschichte voraufgehenden (stammesgeschichtlichen) Entwicklung bedingt sind. Diese Idealformen, die durch die Menschheit verfeinert und perfektioniert worden sind und die am Ende des Prozesses der kindlichen Entwicklung in Erscheinung treten sollten, sind in der Umwelt vorhanden. Diese Idealformen beeinflussen die Kinder von ihrem frühesten Lebensalter an, als Teilmoment des Prozesses ihrer Meisterung der rudimentären Form.« (352) Abschließend bliebe dann nur noch anzumerken, dass, obwohl es sich bei Wygotskis »Theorie der Wechselwirkung zwischen Idealformen und rudimentären Formen« zweifellos um eine Konzeption handelt, die man getrost »auf eigene Rechnung und Gefahr vertreten« kann, und Wygotski auch an keiner Stelle Anstalten macht, »seinen Standpunkt über die Bildung der Fähigkeiten (und den gesamten Entwicklungsprozeß des Menschen) als marxistische Konzeption zu begründen«, sich seine Argumentation dennoch problemlos als eine Spezifikation dessen auffassen lässt, was von Marx und Engels im »Feuerbach«-Kapitel der »Deutschen Ideologie« zum Thema des Verhältnisses zwischen den aufeinanderfolgenden Menschengenerationen (vgl. MEW. 3, 38 f.) und von Marx im »Kapital« (im Unterkapitel »Der Teilarbeiter und sein Werkzeug«) zum selben Thema auseinandergesetzt worden ist (vgl. MEW 23, 359) - und zwar den Verzicht auf die Aneignungsmetapher eingeschlossen42. In der Tat hätte also eine offene Thematisierung jener theoretischen Auffassung von der »Entwicklung der höheren, spezifisch menschlichen Merkmale« des Kindes, die sich in der Argu-

196 mentation Leontjews sozusagen in 'stiller Dialektik' gegen das vordergründig von ihm intendierte Modell durchsetzt, nicht nur sein eigenes Konzept der »Aneignung« grundsätzlich in Frage gestellt, sondern eben auch jene Vorstellungen, die Rubinstein mit dieser Metapher verknüpft. Ähnliche Konsequenzen hätte es gehabt, wenn Rubinstein sich explizit mit den Missverständnissen auseinandergesetzt hätte, die Leontjews Auffassung von der »Vergegenständlichung« zugrunde liegen. Klärt man nämlich diese Missverständnisse auf, indem man erläutert, was es denn mit der »Vergegenständlichung« bei Marx tatsächlich auf sich hat, so wird man sehr schnell feststellen, dass eben nicht nur die Konzeptionen Leontjews und Kurellas in gleicher Weise hochgradig problematisch sind, sondern dass dies genauso für die Konzeption Rubinsteins gilt, und zwar gleichgültig, ob man die ursprüngliche Version von 1934 betrachtet oder jene, die er 1959 als Gegenmodell zu den Auffassungen Leontjews präsentiert. 7. Philologischer Exkurs: Was bedeutet »Vergegenstandlichung« bei Marx? Genau besehen beginnt Rubinsteins folgenreiche Fehlinterpretation bereits dort, wo er (in der Studie von 1958/59 ebenso wie in seinem Aufsatz von 1934) die beiden von Marx in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« verwendeten Ausdrücke »Vergegenständlichung« und »Entgegenständlichung« einfach der Terminologie Hegels zuschlägt. Tatsächlich finden sich diese Ausdrücke nämlich noch nicht bei Hegel, vielmehr handelt es sich bei »£>ifgegenständlichung« um einen von Marx selbst kreierten Neologismus, während »Vergegenständlichung« ein von Feuerbach geprägter und für dessen philosophischen Ansatz charakteristischer Terminus ist, der schon recht früh von Marx übernommen wurde. Dabei bildet die Vergegenständlichungsproblematik keineswegs nur den Kern der feuerbachschen Religionskritik, deren zentrale These darin besteht, dass in der Religion »der Mensch sich sein Wesen (vergegenständlicht) und dann wieder sich zum Objekt dieses vergegenständlichten, in ein Subjekt verwandelten Wesens (macht)« (zit. nach GW 5, 71), sondern sie ist konstitutiv für seine Philosophie überhaupt. So verwendet er den Ausdruck »Vergegenständlichung« denn auch schon in seinen frühen, noch ganz »im Geiste Hegels, jedoch nicht in und mit seinen Worten« (vgl. GW 10, 158) gehaltenen Vorlesungen zur Einleitung in die Logik und Metaphysik (Erlangen 1829/30), und zwar im Rahmen einer Analogie des produktiven Selbstbewusstseins mit dem künstlerischen Schaffen. Danach sind dem Geist seine Gedanken

197 »nichts als die Bilder seiner selbst, die Producte seines Selbstbewußtseins, die Werke, in denen er sich selbst betrachtet und denkt (...) Was sind die Werke des Künstlers? nichts andres als die Vergegenständlichung seines künstlerischen Selbstes! (...) So sind nun auch die Gedanken, Ideen die Vergegenständlichungen des Geistes als Geistes in seiner und allgemeinsten Form, in welchen er sich selbst nur verwirklicht und daher sich selbst denkt und anschaut.« (zit. nach Feuerbach 1975, 38 f.) In eben diesem Sinne heißt es dann in »Der Schriftsteller und der Mensch« (1834) vom Buch, es sei »das wahre second sight, das reelle zweite Gesicht des Menschen, der Spiegel, in dem er die Anschauung seiner selbst hat«, sei doch »Dichten und Denken« nichts anderes, als »sein eigenes Leben zu einem Gemeingut, ... sich selbst, sein Wesen zum anschaubaren Gegenstande nicht nur seiner selbst, sondern auch anderer machen« (zit. nach GW 1, 558 u. 575). Die hier zugrunde gelegte Bedeutung von »Vergegenständlichung« (= in den Produkten der eigenen Tätigkeit sich selbst zum Gegenstand der Anschauung machen) erfährt dann im »Wesen des Christentums« von 1841 insofern eine nicht unwesentliche Modifikation, als nach Auffassung Feuerbachs ein Subjekt sich eben nicht nur in den Produkten seiner eigenen Tätigkeit »vergegenständlicht«, sondern in jedem beliebigen Objekt, sofern es ein flir es spezifischer (d.h. es von anderen Subjekten unterscheidender) Gegenstand ist, ein Medium der Anschauung seines Wesens hat. Denn: »Der Gegenstand, auf welchen sich ein Subjekt wesentlich, notwendig bezieht, ist nichts andres als das eigne, aber gegenständliche Wesen dieses Subjekts« (GW 5, 33), der »Spiegel seines eignen Wesens« (a.a.O., 34). Aus seinem Gegenstande erkennen wir daher einen Menschen; an ihm erscheint uns sein Wesen: »Der Gegenstand ist sein offenbares Wesen, sein wahres objektives Ich.« (ebd.) Und was für das Subjekt als Ganzes, gilt auch für die seine Gegenstandsbeziehungen realisierenden Organe sowie die sich in diesen Beziehungen äußernden Kräfte und Fähigkeiten. »So ist der Gegenstand des Auges das Licht, nicht der Ton, nicht der Geruch. Im Gegenstand des Auges ist uns aber sein Wesen offenbar. Ob einer nicht sieht oder kein Auge hat, ist darum einerlei.« (GW 9, 270) Entsprechendes lässt sich sagen von »jeder andern Kraft, Fähigkeit, Potenz, Realität, Tätigkeit - der Name ist gleichgültig -, welche man als das wesentliche Organ eines Gegenstandes bestimmt. Was subjektiv die Bedeutung des Wesens, das hat ebendamit auch objektiv die Bedeutung des Wesens.« (GW 5, 43) - Ein Gedanke, den Marx dann in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten«, wie folgt, paraphrasieren wird: »Dem Auge wird ein Gegenstand anders als dem Ohr und der Gegenstand des Auges ist ein andrer als der des Ohrs. Die Eigentümlichkeit jeder Wesenskraft ist grade ihr eigenthümliches Wesen, also auch die eigenthümliche Weise ihrer Vergegenständlichung, ihres gegenständlichen

198 wirklichen lebendigen Seins«, wie andererseits »mein Gegenstand nur die Bestätigung einer meiner Wesenskräfte sein kann, also nur so für mich sein kann, wie meine Wesenskraft als subjektive Fähigkeit für sich ist, weil der Sinn eines Gegenstandes für mich grade so weit geht als mein Sinn geht (nur Sinn für einen ihm entsprechenden Sinn hat)« (zit. nach Marx 1988, 165 - Umstellung der Parenthese P.K.). Außer in diesem ursprünglichen Sinnzusammenhang, der ein reflexives Verhältnis zwischen einem Subjekt und einem von diesem unterschiedenen Objekt impliziert, kann aber der Ausdruck »Vergegenständlichung« auch in anderen Sinnzusammenhängen verwendet werden. Und so tritt er uns bereits in den »Gedanken über Tod und Unsterblichkeit« (1830) in vierfacher Bedeutung entgegen, indem er a) das in der unmittelbaren Reflexion des Subjekts auf sich selbst, d.h. in einem »inneren Tun« Sich-selbst-zum-Gegenstand-Werden bezeichnet (vgl. GW 1, 319-324), b) als Synonym für die Verwirklichung und damit das AnschaulichWerden eines Prinzips gebraucht wird, c) für das Umschlagen des subjektiven Für- und Insichseins in ein Objektiv- (im Sinne von Intersubjektiv-), d.h. FtirAndere-und-Anderes-Gegenstandsein steht sowie schließlich d) (sich) in etwas selbständig Existierendes verwandeln meint (vgl. hierzu a.a.O., 350 f., wo die zweite bis vierte Bedeutung miteinander kombiniert auftreten). Sind durch diese Bedeutungsvielfalt die Grenzen der Anwendbarkeit des Terminus »Vergegenständlichung« von vornherein sehr weit gesteckt, ist es umso bemerkenswerter, dass Feuerbach ihn anfangs nur sehr zurückhaltend gebraucht und gerade für jene Vorstellungen, die den konzeptionellen Kern seiner Theologie- und Religionskritik bilden und ihn schon sehr früh in einen offenen Gegensatz zur herrschenden spekulativen Philosophie und Theologie bringen, zunächst entweder allgemein gebräuchliche Ausdrücke oder Termini verwendet, deren Tradition über Hegel bis zu J.G. Fichte zurückreicht. Als terminologische 'Brücke' zwischen dieser Tradition - zu der u.a. auch die Termini »Entäußerung«, »Objektivierung«, »Projektion« und »Entfremdung« gehören, die sämtlich bereits bei Fichte nachweisbar sind - und eben jener Bedeutung von »Vergegenständlichung«, die zugrunde gelegt ist, wenn etwa in den »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« (1843) davon die Rede ist, dass das »Objekt der Theologie« (nämlich Gott) »nichts andres« sei »als das vergegenständlichte Wesen des Subjekts, des Menschen« (GW 9, 312), fungiert dann der Ausdruck »Verobjektivierung«^. So wird etwa im »Leibniz« (11837) die Vorstellung von der Allmacht und Willkür Gottes charakterisiert als »weiter nichts als die verobjektivierte und als erstes Prinzip verselbständigte eigene Gedankenlosigkeit und Einbildung des Menschen« (GW 3, 178)44, was dann in einer 1838 unter dem Titel »Zur Kritik der 'positiven Philosophie'« publizierten Rezension folgende Präzisierung findet: »Das spekulierende Subjekt verobjektiviert sich selbst ... und

199 gibt dann seinem eigenen, als ein anderes Wesen vorgestellten Wesen Prädikate, die ihm, als einem anderen, zukommen und so dem Phänomen des eigenen Wesens den Schein eines objektiven Wesens geben« (GW 8, 193), so dass, mit anderen Worten, das göttliche Denken »nichts weiter als das verobjektivierte Ich« ist (a.a.O., 202). Wenngleich innerhalb dieses Sinnzusammenhangs »Verobjektivierung« und »Vergegenständlichung« thematisch eine Einheit bilden (wird doch, wie es a.a.O., 194 heißt, »der Gedanke auf dem dunklen Grunde des Phantasmas zu einem Spiegel, in dem das Subjekt sich erblickt, aber unendlich vergrößert, so daß es dieses Ab- und Ebenbild seiner selbst für ein anderes Wesen, aber zugleich für sein Urbild hält«) und es naheliegt, sie als bedeutungsäquivalente Termini aufzufassen, so handelt es sich dabei jedoch keineswegs um Synonyme: »Verobjektivieren« impliziert nämlich einen Gegenstand im ontologischen, »vergegenständlichen« hingegen einen im logischen Sinne45. Wird dieser Unterschied nicht beachtet, so führt dies notwendig nicht allein zu terminologischen, sondern auch zu konzeptionellen Konfusionen46. Von daher wird verständlich, dass Feuerbach die beiden Termini über längere Zeit nebeneinander bestehen lässt, um dann schließlich doch »verobjektivieren« durch »vergegenständlichen« zu ersetzen (vgl. die diesbezüglichen Unterschiede zwischen der 1. und 3. Aufl. des »Wesens des Christentums«), nachdem sich die Zwischenlösung einer Substitution von »verobjektivieren« durch »vergegenständigen« (vgl. GW 8, 328 sowie GW 9, 260) anscheinend als wenig praktikabel erwies. Streng zu unterscheiden von dieser 'Vereinfachung' auf der terminologischen Ebene ist der von Feuerbach 1838/39 vollzogene konzeptionelle Perspektivwechsel, der die Frage betrifft, wessen Eigenschaften denn als »Gott« zu selbständiger Existenz »verobjektiviert« bzw. »vergegenständlicht« werden. Gilt Gott zunächst als das überdimensionierte und dabei zu einem aparten Wesen, zur »absoluten Person«, verselbständigte Spiegelbild der Eigenschaften und Fähigkeiten des individuellen Menschen, so ist er nach der späteren Auffassung eine Personifikation menschlicher Gatfu/zgseigenschaften und -fähigkeiten. Der 'Zwischenschritt' besteht hier darin, dass zwar einerseits im Begriff des persönlichen Gottes jene Bestimmungen als enthalten gedacht sind, »welche allein die menschliche Persönlichkeit sich selbst verobjektivieren« (GW 4, 121), dass aber andererseits Gott zugleich auch als das alter ego des Menschen aufgefasst werden kann, das zu ihm im Verhältnis des polaren Gegensatzes steht, so dass z.B. der »Zorn Gottes nichts andres (ist) als die Vergegenständlichung der Furcht und Angst des religiösen Gemüts, durch eine mißfallige Handlung ... seinen Gegenstand zu beleidigen« (a.a.O., 81) - was indes impliziert, dass das ursprüngliche SubjektObjekt-Verhältnis sich in sein Gegenteil verkehrt hat, zwar Gott immer noch Gegenstand des religiösen Gemüts, aber der ganze Mensch, die Person, bereits

200 Gegenstand Gottes ist (mit anderen Worten: indem der Mensch das Spiegelbild, in welchem er sich seine Persönlichkeit vergegenständlicht, zu einem selbständigen Subjekt verobjektiviert, macht er sich selbst zum Objekt dieses Subjekts). In »Über Philosophie und Christentum in Beziehung auf den der Hegelschen Philosophie gemachten Vorwurf der Unchristlichkeit« (1839) entfaltet Feuerbach dann den Gedanken, dass »Gott ... nur ein Gattungsbegriff\ und zwar der Gattungsbegriff der Menschheit« sei (GW 8, 254). Somit ist das Verhältnis des Individuums zu Gott nicht das reflexive Verhältnis des Individuums zu sich selbst, sondern zu seiner Gattung - wobei wiederum die Fähigkeit, sich zu seiner Gattung als einem Gegenstand (im oben angesprochenen logischen Sinne) zu verhalten, für Feuerbach jene Fähigkeit ist, die den »positive(n) Unterschied des Menschen von dem Tiere« begründet. Dadurch nämlich, »daß seine Gattung dem Menschen Gegenstand« ist, »hat er ein inneres, zu seinem Wesen sich verhaltendes Leben, welches dem Tiere mangelt« (a.a.O., 255). All dies findet sich dann im »Wesen des Christentums« eingeordnet in eine umfassende Konzeption der »Vergegenständlichung«. Danach ist das Verhalten des Menschen zu seiner Gattung nur ein Spezialfall seines Verhaltens zu Gegenständen überhaupt; denn: »Was im allgemeinen, selbst in Beziehung auf die sinnlichen Gegenstände, von dem Verhältnis des Subjekts zum Objekt« gesagt werden kann (vgl. hierzu oben, S. 197 f.), »das gilt insbesondere von dem Verhältnis des Subjekts zum religiösen Gegenstande« (GW 5, 45). So ist die »Religion nichts andres als das vergegenständlichte Selbstbewußtsein des Menschen« (a.a.O., 126), »die Reflexion, die Spiegelung des menschlichen Wesens in sich selbst«, Gott daher »der Spiegel des Menschern (127). Das Spezifikum dieser »Vergegenständlichung« liegt allerdings darin, dass der »Gegenstand«, auf den der Mensch sich in der Religion bezieht, keine reale Existenz außer ihm hat, sondern ein »verobjektiviertes« Produkt der menschlichen Phantasie, der Einbildungskraft ist, das »Innere des Menschen, gesetzt als gegenständliches Wesen« (133), so, als hätte es eine reale, vom Menschen unabhängige, substantielle Existenz. Wenngleich eine solche »Verobjektivierung« vom wissenschaftlichen Standpunkt aus illegitim ist, so erfüllt sie nach der Auffassung Feuerbachs dennoch eine wichtige Funktion in der Entwicklung der menschlichen Selbsterkenntnis: »Die Religion ist die erste, und zwar indirekte, Selbsterkenntnis des Menschen.« Sie »geht daher überall der Philosophie voran, wie in der Geschichte der Menschheit, so auch in der Geschichte der einzelnen. Der Mensch verlegt sein Wesen zuerst außer sich, ehe er es in sich findet.« (47) Damit enthält zwar die Religion das negative Moment der »Entzweiung des Menschen mit sich« (75), zugleich ist sie aber auch die ursprüngliche Form, die Einheit des menschlichen

201 Individuums mit seinem höchsten Gegenstand, der menschlichen Gattung, herzustellen. So kann denn auch der Entwicklungsfortschritt nicht darin bestehen, das »innere Leben« des Menschen, sein Verhältnis zur Gattung als seinem höchsten Gegenstande aufzuheben, sondern nur darin, innerhalb dieses Verhältnisses das Moment der »Verobjektivierung« und damit der »Entzweiung des Menschen mit sich« immer mehr zurückzudrängen, und zwar dadurch, »daß der Mensch immer mehr Gott ab-, immer mehr sich zuspricht« (73, Fußn. 7), bis der »notwendige Wendepunkt der Geschichte« erreicht wird, der markiert ist durch das »offne Bekenntnis und Eingeständnis, daß das Bewußtsein Gottes nichts andres ist als das Bewußtsein der Gattung, daß der Mensch sich nur über die Schranken seiner Individualität erheben kann und soll, aber nicht über die Gesetze, die positiven Wesensbestimmungen seiner Gattung, daß der Mensch kein andres Wesen als absolutes Wesen denken, ahnden, vorstellen, fühlen, glauben, wollen, lieben und verehren kann als das Wesen der menschlichen Natur* (443 f.). Nach allem steht und fallt die Pointe dieser »Wendepunkt«-Vision mit der Klarheit des Unterschiedes zwischen »Vergegenständlichung« und »Verobjektivierung«. Mehr noch: Nur solange man diesen Unterschied festhält, wird auch deutlich, dass Feuerbach mit zwei Konzepten von »Vergegenständlichung« operiert: einem allgemeinen, die reflexive Beziehung eines Subjekts zu seinen Gegenständen überhaupt betreffend, seien diese nun sinnlich-konkrete Gegenstände oder Abstrakta (»Gedankendinge«), und einem besonderen, betreffend die reflexive Beziehung des Menschen zu einem spezifischen Abstraktum, das »vermittelst der Magie der Phantasie« zu einem Quasi-Ding (einer Quasi-Person) verselbständigt worden ist. Feuerbach hat also der reduktiven Interpretation, die seine Vergegenständlichungskonzeption später erfahren hat (vgl. etwa Irrlitz 1972, Höppner 1974, Kurella 1981a, 78 ff., Lorenz & Schröder 1984, 1057 ff. - eine Aufzählung, die sich beliebig erweitern ließe), indirekt dadurch selbst Vorschub geleistet, dass er bereits in der ersten Auflage vom »Wesen des Christentums« schrittweise »verobjektivieren« durch »vergegenständlichen« ersetzte. Zwar ist, rückblickend, diese Substitution als Maßnahme zur Nomenklaturbereinigung durchaus nachvollziehbar, erscheint im Einzelfall (wiewohl mehr unter stilistischen als unter konzeptionellen Gesichtspunkten) sogar als notwendig - ihre negative Konsequenz besteht allerdings darin, dass in der Feuerbach-Rezeption die dem Ausdruck »Vergegenständlichung« ursprünglich zugrunde gelegten, eine Widerspiegelungsbeziehung zwischen einem Subjekt und seinen Gegenständen implizierenden Vorstellungen keine Rolle mehr spielen, stattdessen »Vergegenständlichung« schlicht mit »Objektivierung« und/oder »Entäußerung« (beides Vorzugs-

202 weise im fichteschen Sinne verstanden)47 identifiziert wird. Insofern ist es denn keineswegs verwunderlich, dass auch im »marxistischen« Alltagsbewusstsein vor allem im Zusammenhang der Arbeitsproblematik unter der Chiffre »Vergegenständlichung« irrtümlich eben jene Vorstellungen firmieren, die bereits in Krugs »Allgemeinem Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften« (21833) zur Erklärung des Ausdrucks »Objektivierung« herangezogen werden, sofern er »in praktischer Hinsicht gebraucht« wird: »Dann bedeutet er soviel als dasjenige wirklich machen oder außer sich hervorbringen, was man vorher gedacht oder entworfen hat. Diese Objectivirung findet also überall statt, wo der Mensch nach gewissen Zwecken handelt.« (3. Bd., 88)48 Dabei wird dann eine Re-Identifikation der ursprünglichen Bedeutung durch folgenden Umstand zusätzlich erschwert: Gegenüber dem eher zurückhaltenden Gebrauch in früheren Schriften fallt im »Wesen des Christentums« eine geradezu exzessive Anwendung der Termini »Vergegenständlichung« bzw. »vergegenständlichen« auf. In der Zusammenschau der von Feuerbach selbst besorgten ersten drei Auflagen (1841, 1843, 1849) ergibt sich so, dass »Vergegenständlichung« außer »Verobjektivierung« noch bedeuten kann: a) Personifikation (GW 5, 137 f.), b) Bejahung (a.a.O., 137 f. u. 159), c) Entäußerung (a.a.O., 377), d) Erscheinung (a.a.O., 461), e) Offenbarung (ebd.); »vergegenständlicht« auch noch stehen kann für: a) als ein vom Menschen unterschiedenes (außer ihm existierendes) Wesen angeschaut (a.a.O., 48 f. u. 116), b) objektiv (a.a.O., 76), c) entäußert (a.a.O., 377), d) versinnlicht (a.a.O., 463); schließlich »vergegenständlichen« (entweder direkt oder als Substitut für »verobjektivieren«) bedeutungsäquivalent ist mit: a) aussprechen (a.a.O., 80 u. 223), b) offenbaren (a.a.O., 80), c) bejahen (a.a.O., 80, 82, 97, 113 u. 165), d) definieren (a.a.O., 19, 42 u. 90), e) ausdrücken (a.a.O., 119), f) personifizieren (a.a.O., 117 f., 153 f.), g) hypostasieren (a.a.O., 325), h) realisieren (a.a.O., 365 u. 387), i) sich betätigen. Infolge dieser beträchtlichen Varianz wird aber nicht nur der Zugang zum Verständnis der ursprünglichen Bedeutung von »Vergegenständlichung« (bzw. »vergegenständlichen«) erschwert, sondern der Ausdruck wird zwangsläufig auch insgesamt in seiner Funktion als Terminus entwertet, so dass, beginnend mit dem »Wesen des Christentums«, seine für den jeweiligen Kontext relevante Bedeutung häufig eine Frage der Interpretation wird (vgl. a.a.O., 75, 76, 131, 163, 170, 218, 227 f., 235, 335, 517), sofern er nicht überhaupt lediglich als terminologischer Schnörkel erscheint. Allerdings: Eine Bedeutungsvariante von »Vergegenständlichung« sucht man nicht nur im »Wesen des Christentums«, sondern auch in anderen Schriften Feuerbachs vergeblich: die des

203 »Übergangs des Subjekts in das Objekt« bzw. des »Übergangs aus dem Subjekt in das Objekt«! Zwar können einige der von Feuerbach im Zusammenhang mit der Vergegenständlichungsproblematik entwickelte Vorstellungen durchaus als direkte Derivate der hegelschen Philosophie charakterisiert werden (vgl. insbes. die §§ 413-418 der »Enzyklopädie« samt ihren mündlichen Zusätzen), und sicher auch hat Marx bereits in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« sowie den kurz darauf abgefassten »Bemerkungen zu James Mill« in mancher Hinsicht die Vergegenständlichungskonzeption Feuerbachs konsequenter realisiert als dieser selbst49 - dennoch wäre es verfehlt, die Bedeutung der Auffassungen Feuerbachs für die Entwicklung der Vergegenständlichungsproblematik auf die einer bloßen 'Durchgangsstation' von Hegel zum 'frühen' Marx zu reduzieren. Dies hieße nämlich, einerseits die mannigfachen, in einigen Punkten bis zu G.W. Leibniz zurückgehenden Bezüge Feuerbachs zur Tradition der deutschen Klassik überhaupt auszuklammern50 und andererseits zu ignorieren, dass der allgemeine Grundgedanke des feuerbachschen Vergegenständlichungskonzepts (die reflexive Beziehung eines Subjektes auf seine Gegenstände) auch für den 'reifen' Marx bis hin zum »Kapital« als Leitvorstellung verbindlich geblieben ist - ein Sachverhalt, der beispielsweise in jenem Passus der »Grundrisse« schlagend zum Ausdruck kommt, wo vom »natürlichen Reichtum« gesagt wird, er unterstelle »eine wesentliche Beziehung des Individuums zum Gegenstand, so daß es sich nach einer seiner Seiten hin selbst in der Sache vergegenständlicht und sein Besitzen der Sache zugleich als eine bestimmte Entwicklung seiner Individualität erscheint« (zit. nach MEW 42, 148)51. Dabei lässt sich ein Einfluss Feuerbachs auf Marx in der Tat schon sehr früh nachweisen, nämlich bereits in der Doktordissertation von 1841, in deren zweitem Teil wir wiederholt auf die Ausdrücke »verobjektivieren« und »vergegenständlichen« stoßen (vgl. MEW EB I, 286, 289 u. 294). Und ganz im Sinne Feuerbachs (allerdings in der ursprünglich dem Terminus »Verobjektivierung« vorbehaltenen Bedeutung) verwendet Marx den Ausdruck »Vergegenständlichung« auch in dem von 1843 datierenden Manuskript zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts, wo er es Hegel u.a. als generellen Methodenfehler anlastet, dass er die Prädikate gegenüber ihrem Subjekt verselbständigt und sie ihrerseits zu einer Substanz, zu einem Subjekt mystifiziert, so dass am Ende das reelle Subjekt »als ein andres, als ein Moment der mystischen Substanz« erscheint: »So wird hier die Souveränität, das Wesen des Staats, zuerst als ein selbständiges Wesen betrachtet, vergegenständlicht. Dann, versteht sich, muß dies Objektive wieder Subjekt werden. Dies Subjekt erscheint aber dann als eine Selbstverkörperung der Souveränität, während die Souveränität

204 nichts anders ist als der vergegenständlichte Geist der Staatssubjekte.« (zit. nach MEW 1, 224 f.) Verwendet Marx hier nicht nur die Terminologie Feuerbachs, sondern reproduziert auch unmittelbar dessen im Rahmen der Theologie- und Religionskritik entwickelte Argumentationsmuster (die »Feuerbachsche Dialektik«, wie er sie an anderer Stelle nennt - vgl. Marx 1988, 173 sowie Schuffenhauer 1965, 50-56), so knüpft er in seinem gegen B. Bauer gerichteten Artikel »Zur Judenfrage« (1844) direkt an der von Feuerbach im »Wesen des Christentums« gegebenen Analyse der jüdischen Religion an, geht dabei aber zugleich über Feuerbach hinaus, indem er nicht die jüdische Religion, sondern die ökonomischen Verhältnisse der modernen bürgerlichen Gesellschaft als die wirkliche Praxis des Egoismus (d.h. jener Lebenshaltung, in der Feuerbach das Grundprinzip des Judentums gesehen hatte) charakterisiert: »Die Veräußerung ist die Praxis der Entäußerung. Wie der Mensch, solange er religiös befangen ist, sein Wesen nur zu vergegenständlichen weiß, indem er es zu einem fremden phantastischen Wesen macht, so kann er sich unter der Herrschaft des egoistischen Bedürfnisses nur praktisch betätigen, nur praktisch Gegenstände erzeugen, indem er seine Produkte, wie seine Tätigkeit, unter die Herrschaft eines fremden Wesens stellt und ihnen die Bedeutung eines fremden Wesens - des Geldes - verleiht.« (zit. nach MEW 1, 376) Aber nicht nur, dass Marx mit dieser Analogie zwischen ökonomischer und religiöser »Entfremdung« (vgl. auch Marx 1988, 132 f.) demonstriert, wie er, indem er sich konsequent innerhalb der feuerbachschen Vergegenständlichungskonzeption bewegt, in Wirklichkeit bereits 'über Feuerbach hinaus' ist - er lässt auch keinen Zweifel daran, dass die Verknüpfung von »Vergegenständlichung« und »Entfremdung«, mag sie nun das »innere« oder das »äußere Leben« des Menschen betreffen, etwas historisch Bedingtes ist: Wie der Mensch, sobald er nicht mehr »religiös befangen« ist, sein Wesen »vergegenständlichen« kann, ohne dass er es zugleich »zu einem fremden phantastischen Wesen macht«, so kann er, sobald er nicht mehr »unter der Herrschaft des egoistischen Bedürfnisses« steht, sich sehr wohl »praktisch betätigen«, »praktisch Gegenstände erzeugen«, ohne dass er dabei zugleich »seine Produkte, wie seine Tätigkeit, unter die Herrschaft eines fremden Wesens stellt und ihnen die Bedeutung eines fremden Wesens - des Geldes - verleiht«. Ein Gedanke, der dann in den »Bemerkungen zu James Mill« im Detail entwickelt52 und schließlich in den »Grundrissen« auf folgende Kurzformel gebracht wird: »Jede Produktion ist eine Vergegenständlichung des Individuums. Aber im Geld (Tauschwert) ist die Vergegenständlichung des Individuums

205 nicht die seiner in seiner natürlichen Bestimmtheit, sondern seiner als in einer gesellschaftlichen Bestimmung (Verhältnis) gesetzt, die ihm zugleich äußerlich ist.« (MEW 42, 152) Ist so die »Entfremdung« ein Phänomen, das jeder Art von Arbeit gesetzmäßig innewohnt, deren Primärbestimmung nicht die Produktion von Gebrauchswerten, sondern die von Tauschwerten ist (vgl. Marx 1988, 233), so tritt sie in besonders krasser Form bei jener Art von »Erwerbsarbeit« in Erscheinung, die für die kapitalistische Warenproduktion typisch ist - ein »nationalökonomisches Faktum«, das Marx in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« bekanntlich folgendermaßen beschreibt: »Der Arbeiter wird um so ärmer, je mehr Reichthum er producirt, je mehr seine Production an Macht und Umfang zunimmt. Der Arbeiter wird eine um so wohlfeilere Waare, je mehr Waaren er schafft. Mit der Verwerthung der Sachenwelt, nimmt die Entwerthung der Menschenwelt in direktem Verhältniß zu. Die Arbeit producirt nicht nur Waaren; sie producirt sich selbst und d[en] Arbeiter als eine Waare und zwar in dem Verhältniß, in welchem sie überhaupt Waaren producirt. Dieß Factum drückt weiter nichts aus, als: Der Gegenstand, den die Arbeit producirt, ihr Product, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine, von d[em] Producenten unabhängige Macht gegenüber. Das Product der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixirt, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. Diese Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust des Gegenstandes und Knechtschaft unter dem Gegenstand, die Aneignung als Entfremdung, als Entäusserung.« (Marx 1988, 132) Verschiedene sowohl die marxsche Vergegenständlichungskonzeption überhaupt als auch deren Spezifik gegenüber den Auffassungen Feuerbachs betreffende Fehlinterpretationen gehen auf die Nichtbeachtung des Umstandes zurück, dass Marx in der zitierten Passage nicht von der »Vergegenständlichung« des Arbeiters, auch nicht von einer »Vergegenständlichung« menschlicher Wesenskräfte, Fähigkeiten etc. spricht, sondern von einer »Vergegenständlichung« der Arbeit. Ein Unterschied, der insofern wesentlich ist, als die Vorstellung einer »Vergegenständlichung des Arbeiters« bzw. einer »Vergegenständlichung menschlicher Wesenskräfte, Fähigkeiten etc.« in einer Ware diese zwar unter dem Aspekt eines Diagnostikums für die spezifischen (produktiven) Fähigkeiten des betreffenden Arbeiters oder unter dem Gesichtspunkt ihres spezifischen Gebrauchswerts (als Gegenstand von bestimmten Bedürfnissen bzw. 'konsumtiven' Fähigkeiten) erfasst53, nicht aber unter dem Aspekt ihres Tauschwerts, während mit der (von der Spezifik der jeweiligen Arbeit abstrahierenden) Vorstellung der in der Ware

206 »vergegenständlichten Arbeit« gerade der Tauschwertaspekt des Arbeitsprodukts sowie die Phänomene der Wertsteigerung und der Wertakkumulation erfasst werden sollen. Und auf eben dieser Unterscheidung beruht denn auch die eigentliche Differenz zwischen der marxschen und der feuerbachschen Vergegenständlichungskonzeption. Dass Marx in diesem Zusammenhang die leicht misszuverstehende Wendung »Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixirt hat« gebraucht, geht wohl darauf zurück, dass er die einschlägigen Werke der englischen Nationalökonomen zunächst nur in französischer Übersetzung lesen konnte. In der französischen Ausgabe von D. Ricardos »Principles of Political Economy« heißt es aber an entscheidender Stelle: »... c'est la quantity de travail fixee dans une chose qui rfegle sa valeur ^changeable ...« (Ricardo 1835, Bd. 1, 9; zit. nach Marx 1847, 22; vgl. auch MEGA2 IV/2, 392), was Marx offenbar einfach ins Deutsche überträgt (wofür auch spricht, dass er in der französischen Originalversion seiner gegen Proudhon gerichteten Schrift »Das Elend der Philosophie« die betreffende Formulierung noch wiederholt verwendet54). Wie allerdings ein Vergleich mit dem englischen Original zeigt, ist die französische Übersetzung besagter 'Schlüsselstelle' alles andere als korrekt. Ricardo schreibt nämlich: »Ifthe quantity of labour realized in commodities, regulate their exchangeable value, every increase of the quantity of labour must augment the value of that commodity on which it is exercised, as every diminution must lower it« und verweist direkt anschließend auf A. Smith, »who was bound in consistency to maintain, that all things became more or less valuable in proportion as more or less labour was bestowed on their production« (zit. nach Ricardo 1951, 13 f. - Hervorhn. P.K.). Es ist also gar nicht, wie in der von Marx benutzten französischen Ausgabe, von der »in einer Sache (einem Gegenstand) fixierten Arbeitsmenge« die Rede, auch nicht von der »in einen Gegenstand hineingelegten Arbeitsmenge«, wie es dann in der von E. Bernstein, K. Kautsky und F. Engels besorgten deutschen Ausgabe des »Elends der Philosophie« heißt (vgl. MEW 4, 79), vielmehr von dem »Arbeitsquantum« (korrekter: Quantum an Mühe bzw. Anstrengung), das zur Herstellung einer Ware aufgewendet wurde und - weil es sich tatsächlich in einer Ware verwirklicht hat - eben nicht »lost labour« (verlorene Mühe), sondern »labour well bestowed« (gut angewandte Mühe)55 ist. Dass der junge Marx seine ökonomischen Studien unter den Prämissen einer zweifelhaften Ricardo-Übersetzung beginnt, hat nun allerdings nicht nur die missliche Konsequenz, dass es ihn eine Reihe von Jahren kosten wird, bis er endgültig das »Geheimnis« des Fetischcharakters der Ware durchschaut (vgl. hierzu MEW 23, 85-98), sondern dieser Umstand bildet auch die Grundlage für eine Anzahl weiterer Missver-

207 ständnisse, wie sie bei der Rezeption der »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« zwangsläufig auftreten, wenn man zudem noch den Unterschied zwischen abstrakt-allgemeiner (Tauschwerte erzeugender) und konkret-nützlicher {Gebrauchswerte schaffender) Arbeit vernachlässigt56. Während die auf Feuerbach zurückgehende, ein reflexives Verhältnis zwischen einem Subjekt und den für dieses Subjekt spezifischen Gegenständen implizierende, Bedeutungsvariante von »Vergegenständlichung« innerhalb des marxschen Werks konstant reproduziert wird (wobei Marx von vornherein zwischen der reflexiven Beziehung zu einem Gegenstand als Produkt der eigenen Tätigkeit und der reflexiven Beziehung zu einem Gegenstand als Gegenstand eines Bedürfnisses, einer konsumtiven' Fähigkeit bzw. eines Sinnes unterscheidet, so dass die gegenständlichen Resultate menschlicher Arbeit für Marx immer in einem doppelten Sinne »Spiegel des menschlichen Wesens« sind57), erfahrt die Vorstellung von der »Vergegenständlichung der Arbeit« im Zusammenhang der Vorarbeiten zum »Kapital« eine Binnendifferenzierung. Unterschieden wird nun zwischen a) »Vergegenständlichung«, insoweit sie die Wmkonstituierung betrifft, wobei dann der Wert als »vergegenständlichte« Arbeitsmenge resp. Arbeitszeit erscheint (vgl. MEW 13, 49, 55 u. 59 sowie die zahlreichen in den Sachregistern von MEW 42 sowie MEGA2 II/3 unter dem Stichwort »Wertsubstanz« nachgewiesenen Textstellen), und b) »Vergegenständlichung« als »Fixierung«, »Materialisierung« der Arbeit aus der Form der Tätigkeit in die des Gegenstandes, der Ruhe (vgl. MEW 42, 222) bzw. Übergang der Arbeit aus der Form der Tätigkeit in die Form des Seins (vgl. MEGA2 II/3.1, 52). (N.B.: Dass beides nicht »Übergang des Subjekts in das Objekt« bzw. »Übergang aus dem Subjekt in das Objekt« bedeutet, ist offensichtlich.) Dass bei alledem die Redeweise vom »Fixieren«, »Materialisieren« bzw. »Sachlichmachen der Arbeit im Gegenstand« letztlich nur eine Metapher ist, daran lässt Marx spätestens in den »Grundrissen« nicht mehr den geringsten Zweifel, moniert er es hier doch als eine »Unbeholfenheit des Ausdrucks« bei A. Smith, dass »er die Vergegenständlichung der Arbeit etwas zu grob auffaßt als Arbeit, die sich in einem handgreiflichen Gegenstand fixiert« (MEW 42, 735). Noch deutlicher äußert er sich zu dieser Frage allerdings in seinem Manuskript von 1861-63, wo es heißt: »Der Begriff der Waare schließt aber ein, daß sich die Arbeit verkörpert, materialisirt, realisirt in ihrem Product. (...) Das Materialisiren etc der Arbeit ist jedoch nicht so schottisch zu nehmen, wie A. Smith es faßt. Sprechen wir von der Waare als Materiatur der Arbeit - in dem Sinne ihres Tauschwerths - so ist dies selbst nur eine eingebildete, d.h. blos sociale Existenzweise der Waare, die mit ihrer körperlichen Realität nichts zu schaffen hat; (...) Also in der Art wäre das Materialisiren der Arbeit

208 in der Waare nicht zu verstehn. (Hier kommt die Täuschung daher, daß sich ein gesellschaftliches Verhältniß in der Form eines Dings darstellt.) Wohl aber bleibt richtig, daß die Waare als vergangne, vergegenständlichte Arbeit erscheint...« (MEGA2 II/3.2, 457) Dabei ist das der Frage nach dem richtigen Verständnis des Ausdrucks »Vergegenständlichung der Arbeit« zugrunde liegende Problem weitaus komplizierter, als man zunächst meinen sollte. Es muss nämlich 1. berücksichtigt werden, dass der Wert einer Ware eben nicht der gegenständliche Ausdruck der zu ihrer Herstellung tatsächlich aufgewendeten »Arbeitsmenge«, sondern der zur Produktion dieser Warenart gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit ist (wobei der dieser Einsicht entsprechende Perspektivwechsel durchaus der Wende in der Konzeption Feuerbachs gleichkommt, Gott nicht mehr als eine »Vergegenständlichung« der individuellen Persönlichkeit, sondern des Wesens der menschlichen Gattung aufzufassen). Es ist 2. dem Umstand gerecht zu werden, dass mit Arbeit und Ware zwei inkommensurable Größen (nämlich Bewegung und Ding) gegeneinander aufzurechnen sind; und es soll 3. das Verhältnis der beiden Größen so bestimmt werden, dass in einem konkreten Prozess die zweite aus der ersten (als deren »Anderes«) hervorgeht. Auch nur erst die Hälfte der Lösung ist es daher, wenn Marx am Ende, die We/tproblematik betreffend, die »Vergegenständlichung« der Arbeit in der Ware explizit im Sinne einer Widerspiegelungsbeziehung bestimmt und feststellt: »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt« (MEW 23, 86), und Engels in seinem »Konspekt zum 'Kapital'« (1868) in eben diesem Sinne notiert: »Der Tauschwert setzt ein tertium comparationis voraus, woran er gemessen wird: die Arbeit, die gemeinsame gesellschaftliche Substanz der Tauschwerte, und zwar die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die in ihm vergegenständlicht ist« (MEW 16, 245). Die andere Hälfte der Lösung hätte nämlich darin zu bestehen, den Ausdruck »Vergegenständlichung«, soweit er die am Gegenstand durch die Arbeit bewirkte sinnlich erfahrbare, chemisch oder physikalisch messbare Veränderung betrifft, ebenfalls zu entmystifizieren. Tatsächlich ist Marx selbst aber in dieser Frage niemals über ('hegelianisierende') metaphorische Umschreibungen hinausgekommen. Allerdings lassen die schließlich im »Kapital« gewählten, gegenüber denen der »Grundrisse« und des Manuskripts von 1861-63 in entscheidenden Punkten erheblich veränderten Formulierungen (vgl. MEW 42, 221 f. sowie

209 MEGA2 n/3.1, 51 f.)58 durchaus die Deutung zu, dass er auch in diesem Kontext »Vergegenständlichung« letztlich im Sinne einer Reflexionsbeziehung (und zwar zwischen der Spezifik der Tätigkeit einerseits und der Spezifik ihres gegenständlichen Resultats andererseits) verstanden wissen wollte: »Der Arbeitsprozeß ist also ein Prozeß, worin die Thätigkeit des Menschen durch das Arbeitsmittel eine von vorn herein bezweckte Veränderung im Arbeitsgegenstand bewirkt. Dieser Prozeß erlischt im Produkt. Sein Produkt ist ein Gebrauchswerth, ein durch Formveränderung menschlichen Bedürfnissen assimilirter Naturstoff. Durch den Prozeß hat sich die Arbeit mit ihrem Gegenstand verbunden. Die Arbeit ist vergegenständlicht und der Gegenstand ist verarbeitet. Was auf Seiten des Arbeiters in der Form der Unruhe erschien, erscheint nun als ruhende Eigenschaft, in der Form des Seins, auf Seiten des Produkts. Er hat gesponnen und das Produkt ist ein Gespinnst.« (MEGA2 II/5, 132 durchgehende Hervorhn. P.K.) 8. Im Zweifelsfalle Hegel? Nach alledem wäre also nichts verfehlter, als an der Auffassung festhalten zu wollen, bei dem von Leontjew propagierten »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept handle es sich um eine Grundkonzeption »marxistisch fundierter Psychologie überhaupt« (Holzkamp & Schurig) bzw. es repräsentiere den »Versuch, die historisch-materialistischen Analysen Marx\ speziell seine politischökonomischen Untersuchungen, die um die dialektischen Relationen Vergegenständlichung, Eigentum, Entfremdung, Aneignung kreisen, konsequent für die entwicklungspsychologische Modellbildung nutzbar zu machen« (H.-D. Schmidt). Denn tatsächlich hat ja das, was Marx unter den fraglichen Termini versteht, rein gar nichts mit jenen Vorstellungen zu tun, die bei Leontjew den Ausdrücken »Vergegenständlichung« und »Aneignung« zugrunde liegen. Wenn aber die ideengeschichtlichen Quellen des »VergegenständlichungsAneignungs«-Konzepts nicht in den Schriften von Marx zu suchen sind, wo dann? Orientieren wir uns an den sich auf die Vergegenständlichungsproblematik beziehenden Ausführungen Rubinsteins von 1934 und 1958/59 sowie an den dazu 'parallelen' Äußerungen Kurellas, so scheint alles auf Hegel hinzudeuten. Auch spätere, aus den 70er Jahren datierende Anspielungen Leontjews auf »theoretische Überlegungen, hinter denen sich die Analyse einiger nicht direkt genannter Kategorien der vormarxistischen klassischen Philosophie verbirgt« (vgl. Leontjew 1979, 17), weisen durchaus in dieselbe Richtung. Und E. Iljenkow, ein über viele Jahre eng mit Leontjew befreundeter Philosoph, bringt Hegel sogar ganz offen ins Spiel, wenn er den zweiten Teil seines 1979 (posthum)

210 in der Zeitschrift Woprossy filosofii veröffentlichten Aufsatzes »Probleme des Ideellen«, wie folgt, einleitet: »Hegel geht von der unbestrittenen Tatsache aus, dass die grandiose, materiell fixierte geistige Kultur des Menschengeschlechts, in der und mittels Hinwendung zu welcher das Individuum zum ' Selbstbewusstsein' erwacht, sich fur das Bewusstsein des einzelnen Individuums durchaus nicht als 'ideell', sondern als 'real' und sogar 'vulgär materialistisch' offenbart. Diese geistige Kultur tritt dem Individuum als Denken vorausgegangener Generationen gegenüber, realisiert ('materialisiert', 'vergegenständlicht', 'entfremdet') in sinnlich wahrgenommener 'Materie', in der Sprache und visuell wahrgenommenen Bildern, in Büchern und Statuen, in Holz und Bronze, in Tempeln und Arbeitswerkzeugen, Maschinenkonstruktionen und staatlichen Einrichtungen, in Schemata wissenschaftlicher und sittlicher Systeme u.a.m. All diese Dinge sind in ihrer Existenz, in ihrem Wesen, ihrer Entstehung nach jedoch 'ideell', da sich in ihnen das kollektive Denken von Menschen, der 'allgemeine Geist' der Menschheit verkörpert.« (Iljenkow 1979, 145 - Übers. R. Broda) Versucht man allerdings, mit der These von Hegel als dem Urheber derartiger Vorstellungen Ernst zu machen und die von Iljenkow vorgenommenen Zuschreibungen hieb- und stichfest zu belegen, so wird man freilich auch hier eine Enttäuschung erleben. Tatsächlich ist es nämlich keineswegs eine bloße Nachlässigkeit, dass Iljenkow, der sonst seine Quellen durchaus exakt anzugeben weiß, gerade in diesem Zusammenhang auf einen Quellennachweis verzichtet: Ebenso wenig wie sich bei Marx im »Kapital« (oder auch in einer anderen Schrift) irgendwo eine Konstruktion findet, wonach »in der Arbeit 'das Subjekt in das Objekt übergeht'«, wie Rubinstein behauptet, findet sich bei Hegel irgendwo ein Passus, der auch nur annähernd das abdeckt, was Iljenkow ihm unterzuschieben trachtet. Zu völlig anderen Ergebnissen führt es, wenn man die These einer direkten Verankerung des »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzepts in den Auffassungen Hegels durch die weniger spezifische Annahme ersetzt, die tatsächlichen ideengeschichtlichen Quellen dieses Konzepts seien in den Schriften des einen oder anderen Hegel-Interpreten zu suchen. Unter dieser Perspektive erweist dann nämlich die bereits mehrfach erwähnte Leontjew-Rezension Jaroschewskis ein weiteres Mal ihre Schlüsselfunktion, da sie eben nicht nur die Abhängigkeit der Theoriebildung Leontjews von den frühen Auffassungen Rubinsteins belegt, sondern auch den bemerkenswerten Hinweis enthält, dass »die historische Betrachtungsweise der Psyche in der sowjetischen Wissenschaft« nicht zuletzt aus der »Überwindung des idealistischen Ansatzes« von W. Dilthey (1833-1911) hervorgegangen sei, der »seiner 'verstehenden Psychologie' einen eigenwillig interpretierten Hegelschen Historismus zugrunde gelegt« habe, »indem er das

211 Erleben des Menschen mit dem in den Werken der Kultur verkörperten Leben des Geistes in Verbindung brachte« (Jaroschewski 1985, 550). Dass nämlich Leontjew in der Tat zumindest mit den in der sowjetischen Literatur gängigen Darstellungen der betreffenden Auffassungen Diltheys vertraut war, steht außer Zweifel.59 Und geht man davon aus, dass diese Vertrautheit keineswegs erst jüngeren Datums war, vielmehr Leontjew den Worten Jaroschewskis zufolge bei der aus der »Überwindung« der Auffassungen Diltheys resultierenden Etablierung des Prinzips der »Untrennbarkeit von Historismus und Soziodeterminismus« zur »Vorhut einer ganzen Generation« gehörte (vgl. Jaroschewski, ebd.), so kann es nach allem kaum noch überraschen, wenn man zwischen seinem »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept und den einschlägigen Ausführungen Diltheys eine beträchtliche konzeptionelle Übereinstimmung feststellt. Bereits in seinem 1894 publizierten programmatischen Aufsatz »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie« etwa schreibt Dilthey: »Die Psychologie ist aber darauf angewiesen, die Mängel der einzelnen Hilfsmittel gegeneinander zu kompensieren. So verbindet sie Wahrnehmung und Beobachtung unserer selbst, Auffassung anderer Personen, vergleichendes Verfahren, Experiment, Studium der anomalen Erscheinungen. Durch viele Tore sucht sie den Eingang in das Seelenleben. Eine sehr wichtige Ergänzung aller dieser Methoden, sofern sie mit Vorgängen sich beschäftigen, ist die Benutzung der gegenständlichen Produkte des psychischen Lebens. In der Sprache, in dem Mythos, der Literatur und Kunst, überhaupt in allen geschichtlichen Leistungen haben wir gleichsam gegenständlich gewordenes psychisches Leben vor uns: Produkte der wirkenden Kräfte, welche psychischer Natur sind: feste Gestalten, welche sich aus psychischen Bestandteilen und nach deren Gesetzen aufbauten.« (zit. nach Dilthey 1924, 199 f.) In einer Arbeit von 1895/96 (»Über vergleichende Psychologie«) heißt es dann von der spezifischen Methode der Geisteswissenschaften, sie bestehe »allererst und hauptsächlich« darin, »die sich unermeßlich ausbreitende geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit, wie sie nur in ihrem äußeren Erscheinen oder in Wirkungen oder als bloßes Produkt, als objektivierter Niederschlag von Leben uns gegeben ist« zurückzuübersetzen »in die geistige Lebendigkeit, aus der sie hervorgegangen ist« (zit. nach Dilthey 1924, 265). Im »Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« (1910) schließlich ist die Rede von den »beständigen Objektivierungen des Geistes in gesellschaftlichen Gebilden«, wird davon gesprochen, dass »die Werke, in welche Leben und Geist sich hineinverlegt haben, das äußere Reich des Geistes (bilden)«. Dieser »hat sich in ihnen objektiviert, Zwecke haben sich in ihnen gebildet, Werte sind in ihnen verwirklicht«.

212 So »(ist) von der Verteilung der Bäume in einem Park, der Anordnung der Häuser in einer Straße, dem zweckmäßigen Werkzeug des Handwerkers bis zu dem Strafurteil im Gerichtsgebäude um uns stündlich geschichtlich Gewordenes. Was der Geist heute hineinverlegt von seinem Charakter in seine Lebensäußerung, ist morgen, wenn es dasteht, Geschichte.« (zit. nach Dilthey 1927a, 86, 146, 118, 147) Daher ist denn auch, wie es in dem erstmals 1927 aus dem Nachlass Diltheys publizierten »Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« heißt, »in diesem objektiven Geist die Vergangenheit dauernde beständige Gegenwart für uns«, und es ist »diese Welt des objektiven Geistes«, aus welcher »von der ersten Kindheit ab unser Selbst seine Nahrung (empfängt)« (zit. nach Dilthey 1927b, 208)60. Wiewohl nun der direkte Textvergleich auf eindrucksvolle Weise die These zu bestätigen scheint, Dilthey sei der eigentliche Stammvater des von Leontjew unter Berufung auf Marx präsentierten »Vergegenständlichungs-Aneignungs«Konzepts61, so zeigt sich doch bei eingehenderer Überprüfung, dass das, was in der Darstellung Diltheys als ein im Verlauf von anderthalb Jahrzehnten schrittweise und dabei im wesentlichen selbständig erarbeitetes Resultat erscheint, in Wirklichkeit ein schon zu Beginn der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts im allgemeinen Bewusstsein etabliertes Paradigma ist, das von Dilthey lediglich nach und nach in seine eigenen Konzeptionen eingearbeitet wurde. So beruft sich etwa F. Jodl (1849-1914) bereits 1893 (d.h. ein Jahr vor der Veröffentlichung von Diltheys erstem einschlägigen Aufsatz) in seiner Rezension von J. Dubocs »Grundriss einer einheitlichen Trieblehre vom Standpunkte des Determinismus« nicht nur wie selbstverständlich auf den »Fundamentalsatz aller Psychologie und Sociologie, die unauflösliche Abhängigkeit des subjectiven Geistes vom objectiven, des Individuums von der Gesellschaft« (vgl. Jodl 1893, 335), sondern kontert auch Dubocs These vom Gewissen als einem »Elementartrieb« mit folgender differenzierter Gegenthese: »Man ist ja ziemlich übereingekommen, den Begriff des Gewissens als eine ehrwürdige Antiquität den Theologen zu überlassen, um in der Philosophie den verhängnisvollen Sprachgebrauch zu vermeiden, welcher immer wieder den Schein erweckt, als handle es sich um ein eigenes selbständiges Vermögen, wo nichts weiter als eine Function, nämlich die sittliche Selbstbeurtheilung vorhanden ist. Diese bedarf aber einer Norm, eines Maasstabes; und diesen empfangt das Individuum aus dem objectiven Geiste. Das Individuum erzeugt die Maasstäbe, nach denen sein 'Gewissen' urtheilt, ebensowenig spontan, als es seine Religion oder seine Sprache oder sein Denken spontan erzeugt; es bekommt sie fertig überliefert und hat sie sich nur anzueignen. Diese Aneignung kann ihm natürlich nicht erspart bleiben: sie verwandelt das Objective in ein Sub-

213 jectives; das Aeussere in ein Innerliches62; den fremden Willen in den eigenen; das Heteronome in ein Autonomes.« (a.a.O., 332) Und derselbe Jodl ist es, der drei Jahre darauf in seinem »Lehrbuch der Psychologie« eine bereits vollständig durchsystematisierte Konzeption der »Aneignung« des »objektiven Geistes« durch die Individuen präsentiert, die sich vom späteren »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept Leontjews lediglich darin unterscheidet, dass Jodl eben nicht mit Marx-Zitaten operiert und dass er (bei ansonsten gleicher Terminologie) auch den Ausdruck »Vergegenständlichung« nicht verwendet. Dabei versteht Jodl unter »objectivem oder allgemeinem (intersubjectivem) Geiste« die »Gedanken, welche in anderen bewussten Individuen vorhanden sind, sofern dieselben durch Mittheilung übertragbar und namentlich soweit sie in Symbolen (Sprache, Kunstwerke, Maschinen, Gesetze, Einrichtungen) objectiv fixirt sind« (Jodl 1896, 161). Der so bestimmte »objective Geist bildet eine Welt für sich, eine aus der geistigen Activität stammende zweite Natur über der Natur, welche zwar nur von hervorragenden Individuen geschaffen wird, aber bis zu einem gewissen Grade wenigstens von Allen angeeignet werden kann und insofern das allgemeine geistige Erbe der Menschheit darstellt. Denn kein Individuum erschafft sich die Geisteswelt, in welcher es lebt..., allein und selbständig; es empfängt sie zum weitaus grössten Theile als eine fertige überliefert aus der Wechselwirkung des individuellen mit dem allgemeinen oder menschheitlichen Geiste.« (ebd.)63 Es ist »der Aufbau dieser objectiven Geisteswelt«, der »den unermesslichen Unterschied des thierischen und menschlichen Bewusstseins im heutigen Dasein« begründet, könne doch in der Tierwelt »nur dasjenige innerhalb einer Gattung überliefert werden, was der physischen Organisation so eingeprägt ist, dass es sich als automatischer Reflex oder in der Form des Instinctes vererbt«, während beim Menschen »die Summe dessen, was im Laufe der Entwicklung des Geschlechts geistig erarbeitet und aufbewahrt worden ist, die Cultur, einen ganz selbständigen Bestandteil dessen« bilde, »was man im 18. Jahrhundert 'die menschliche Natur' genannt« habe (a.a.O., 161 f.). »Beim Thiere«, so Jodl, »verschwindet dasjenige, was es sich im Laufe seines Lebens aneignet, gegen dasjenige, was es als ererbte Anlage in fester genereller Gestaltung mitbringt ... Beim Menschen verschwindet dasjenige, was er als ererbten Besitz mitbringt, gegen dasjenige, was er sich im Laufe des Lebens aus den überlieferten Schätzen der Gattung aneignet ... Das Leben jedes in der socialen Gemeinschaft lebenden Indivi-

214 duums ist darum ein beständiger Ausgleich zwischen seinen ursprünglichen Fähigkeiten und dem geistigen Gattungsbesitz.« (a.a.O., 162)64 Dieser »Ausgleich zwischen der individuellen Anlage und dem geistigen Gattungsbesitz« werde »vor Allem durch die Sprache bewirkt«, sei doch »der Mensch ohne Sprache, d.h. ohne Berührung mit der Gattungsvernunft, ... nur ein thierisches, kein denkendes Wesen« (a.a.O., 162 f.). Während in der Tierwelt »erworbene Eigenschaften nur innerhalb einer Species und durch die natürliche Geschlechtsfolge auf die Nachkommen überliefert werden« können, der »Fortschritt also an den organischen Zusammenhang der Individuen gebunden« bleibe, erhebe sich in der Menschenwelt »mittels des objectiven Geistes über diesen organischen Zusammenhang ein höherer, ideeller, in welchen jedes Individuum unabhängig von seiner Abstammung eintreten kann und dessen es sich als Mittel zu eigener Vervollkommnung zu bedienen vermag. Was ein Mensch gedacht, erfunden, geschaffen und in Symbolen des objectiven Geistes ausgeprägt hat, das bleibt, solange diese Symbole bestehen und verständlich sind, zugänglich für alle Menschen - alle haben eine Art geistiges Miteigentum daran oder können es wenigstens erwerben.« ( a.a.O., 164) Aber nicht nur, dass der »objective Geist« den »ideellen Zusammenhang« zwischen den Generationen vermittele, auf ihm beruhe auch »die Möglichkeit und die Schnelligkeit des Fortschritts in der Geschichte der Menschheit«, gewinne doch mit seiner Hilfe der Mensch »ein abgekürztes Verfahren, welches ihm gestattet, Denkthätigkeit und Wahrnehmungsthätigkeit zu verschmelzen und in seinen Wahrnehmungen einfach die von Anderen mühsam aus ihrer Erfahrung entwickelten Gedanken wiederzufinden, statt sie selbst in langer Arbeit entwickeln zu müssen«. (a.a.O., 164 u. 165) Darüber hinaus bilde die »Thatsache des objectiven Geistes« die »wissenschaftliche Realität dessen, was in volkstümlichen, mythologischen Glaubenslehren als Idee der persönlichen Unsterblichkeit des individuellen Geistes« auftrete: »Indem das Schaffen und Wirken der Individuen sich im objectiven Geiste verkörpert, gewinnt deijenige, dem diese Verkörperung gelungen ist, die Möglichkeit, durch das, was er war, und mit dem Besten seines Könnens, für eine kürzere oder längere Reihe von Generationen lebendig zu bleiben und fortzuwirken. In zahllosen, unausdenklichen Abstufungen zieht sich diese Continuität des Individuellen, als That, als Gedanke, durch das Leben der Menschheit. Der objective Geist, die lebendige Ueberlieferung, die geschichtliche Erinnerung, die Aufbewahrung der Werke der Kunst, Wissenschaft und Technik - das ist der Ahnensaal unseres Geschlechts.« (a.a.O., 164 u. 165)

215 Für die vorliegende Studie ist dieser Jodl-Text nun nicht nur deshalb von besonderem Interesse, weil er mit größerer Wahrscheinlichkeit noch als die (ja über mehrere Schriften verteilten) Ausführungen Diltheys als direkte Quelle für das »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept Leontjews in Frage kommt65, sondern auch deshalb, weil Jodl zusammen mit der von ihm präsentierten Konzeption der »Wechselwirkung des individuellen mit dem allgemeinen oder menschheitlichen Geiste« zugleich auch noch eine ideengeschichtliche Genealogie des zentralen Konstrukts dieser Konzeption mitliefert: »Der Begriff des objectiven Geistes, ein kostbares Erbstück der HegeV sehen Philosophie, ist durch Feuerbach und Comte, ganz besonders aber durch die Arbeiten von Lewes, Schaffte, Lilienfeld, weiter ausgebildet und wissenschaftlich begründet worden.« (a.a.O., 161) Auch Jodl beruft sich also auf die Autorität Hegels, lässt im selben Atemzug jedoch durchblicken, dass zwischen dem, was er unter »objektivem Geist« verstanden wissen will, und dem, was ursprünglich Hegel darunter verstanden hatte66, wohl eher das Verhältnis einer terminologischen als das einer konzeptionellen Kontinuität besteht67. Dabei fällt auf, dass er einerseits den Beginn der »weiteren Ausbildung und wissenschaftlichen Begründung« dieses »kostbaren Erbstückes der Hegeischen Philosophie« schon sehr früh ansetzt und dass andererseits seine Aufzählung derjenigen, die an diesem Unternehmen beteiligt gewesen sein sollen, eine entscheidende Lücke aufweist. Während man nämlich durchaus darüber streiten kann, inwieweit A. Comte oder gar Feuerbach mit Recht in die von Jodl aufgestellte Genealogie gehören68, darf ein Name mit Sicherheit nicht fehlen: Moritz Lazarus (1824-1903). Lazarus nämlich war es, der im Zuge des Ausbaus der von ihm und Hey mann Steinthal (1823-1899) begründeten »Völkerpsychologie« den entscheidenden Schritt tat, indem er in seinem im Frühsommer 186369 in der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft veröffentlichten umfangreichen Essay »Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie« bestimmte, aus so unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen wie Geschichtsphilosophie, Anthropologie, Nationalökonomie, Sprachwissenschaft und Psychologie stammende, Teilkonzeptionen unter einem der hegelschen Philosophie entlehnten Ausdruck zusammenführte und so das Konstrukt des »objektiven Geistes« als zentrale Kategorie einer Psychologie etablierte, die sich einerseits als Komplement zur herrschenden »individuellen Psychologie« verstand, andererseits ihre wesentliche Aufgabe darin sah, »die Geschichte aus allgemeinen psychologischen Gesetzen zu begreifen«70.

216 9. Die lazarus-steinthalsche »Völkerpsychologie« und das Konstrukt des »objektiven Geistes« Systematischer Ausgangspunkt für die Explikation des mit einer derartigen Zielsetzung konzipierten Projekts »Völkerpsychologie« ist dabei die bereits bei Herder, Fichte und Feuerbach nachzulesende Erkenntnis, »daß der Mensch durchaus und seinem Wesen nach gesellschaftlich ist; d.h. daß er zum gesellschaftlichen Leben bestimmt ist, weil er nur im Zusammenhange mit seines Gleichen das werden und das leisten kann, was er soll; so sein und wirken kann, wie er zu sein und zu wirken durch sein eigenstes Wesen bestimmt ist« (Lazarus & Steinthal 1860, 3). Tatsächlich sei nämlich »kein Mensch das, was er ist, rein aus sich geworden, sondern nur unter dem bestimmenden Einflüsse der Gesellschaft, in der er lebt«. So hätten etwa »jene unglücklichen Beispiele von Menschen, welche in der Einsamkeit des Waldes wild aufgewachsen waren« gezeigt, dass der von seinesgleichen isolierte Mensch letztlich auf der Stufe des Tieres verharre. Aus der »Erfahrung selbst« folge daher, »daß wahrhaft menschliches Leben der Menschen, geistige Thätigkeit nur möglich ist durch das Zusammen- und IneinanderWirken derselben«. Mit einem Wort: »der Einzelne ist Mensch nur in der Gemeinsamkeit, durch die Theilnahme am Leben der Gattung« (ebd.)71. Wenn nun zwar »die Gemeinsamkeit mit gleichzeitigen Nebenmenschen« die allererste »Grundlage für das, über das thierische Dasein sich erhebende, Sein und Wirken des Menschen« sei, so gebe sie allerdings »nur erst den ungebildeten Menschen, den Wilden, durch welchen der Geist nur erst hindurchschimmert«, während »das Bewußtsein des gebildeten Menschen auch noch auf einer durch viele Geschlechter hindurch fortgepflanzten und angewachsenen Ueberlieferung« beruhe (a.a.O., 3 f.). Daher sei der Einzelne, »welcher an der gemeinsamen Geistesbildung Theil nimmt, nicht nur durch seine Zeitgenossen, sondern noch mehr durch verflossene Jahrhunderte und Jahrtausende bestimmt und von ihnen abhängig im Denken und Fühlen und Wollen«.72 Da er allerdings »nicht mit allen seinen Zeitgenossen und allen Zeiten seiner Vergangenheit in gleich innigem Zusammenhange« lebe, sich vielmehr »innerhalb des großen Kreises der Gesellschaft kleinere Kreise und immer engere bis hinab zur Familie« bilden, sei »die Theilnahme des Einzelnen am Gesammtgeiste eine höchst verschiedene nach Richtung und Innigkeit« und gestatte eine »unermeßbare Mannigfaltigkeit persönlicher Individualitäten«. Bei aller möglichen Individualität gelte jedoch, dass die Persönlichkeit »in ihrer Entwickelung (immer) durch die räumlichen Verhältnisse eines bestimmten Ortes, durch die zeitlichen eines bestimmten Zeitpunktes, durch einen besonderen Volks-, Familien- und Standes-Geist, sowohl

217 nach dem Grade ihrer möglichen Bildung, wie auch nach Inhalt und Form des Geistes bedingt« und deshalb nicht nur das Wissen des Einzelnen, »sondern auch sein Gewissen, sein Fühlen und sein Wollen, sein Thun und sein Genießen, sein Empfangen und darum auch sein Schaffen, mit seiner Geburt an diesem Punkte der geistigen Gesammtentwickelung im Voraus bestimmt« sei (4). Wenn daher, wie es schon J.F. Herbart »anerkannt und ausgesprochen« habe, »'die Psychologie immer einseitig'« bleibe, »'so lange sie den Menschen als allein stehend betrachtet'73«, so könne allerdings dieser Einseitigkeit nicht dadurch begegnet werden, dass man den Menschen zunächst »als seelisches Individuum« zum Gegenstand der Psychologie macht und dann das so gewonnene Bild »hinterher durch gewisse Zusätze, durch eine gewisse Rücksicht auf die Verhältnisse des Menschen in der Gesellschaft, zu ergänzen sucht«. Vielmehr sei eine solche Ergänzung »überhaupt erst dann möglich, wenn zuvor der Mensch als gesellschaftliches Wesen ... zum Gegenstande einer besonderen Untersuchung gemacht ist«; denn: »Innerhalb des Menschen-Vereines treten ganz eigentümliche psychologische Verhältnisse, Ereignisse und Schöpfungen hervor, welche gar nicht den Menschen als Einzelnen betreffen, nicht von ihm als solchem ausgehen. Es sind nicht mehr sowohl Verhältnisse im Menschen, als zwischen Menschen; es sind Schicksale, denen er nicht unmittelbar unterliegt, sondern nur mittelbar, weil er zu einem Ganzen gehört, welches dieselben erfährt. Kurz es handelt sich um den Geist einer Gesammtheit, der noch verschieden ist von allen zu derselben gehörenden einzelnen Geistern, und der sie alle beherrscht.« (4 f. - Hervorhn. P. K.) Auf diese Weise ist dann aber nicht nur die Notwendigkeit begründet, der »individuellen Psychologie, wie eine solche die bisherige Psychologie war« eine »Psychologie des gesellschaftlichen Menschen oder der menschlichen Gesellschaft« an die Seite zu stellen (5)74, sondern es ist damit auch zugleich der zentrale Gegenstand dieser 'alternativen' Psychologie bestimmt: der »Gesammt-« oder auch »Volksgeist«. Soll indes dieser Begriff »nicht eine bloße Phrase, ein sachleerer Name« bleiben, soll er »nicht ein bloß unbestimmtes, willkürliches Zusammenfassen oder ein phantastisches Bild der inneren Eigentümlichkeit eines Volkes« sein, »sondern (wie der 'Geist' des Individuums) den Quell, das Subject aller inneren und höheren Thätigkeit ausdrücken«, dann »muß die Auffassung desselben nicht diese und jene einzelnen und zufälligen Richtungen und Thatsachen seiner Erscheinung, sondern die Totalität derselben umfassen und die Gesetze seiner Bewegung und Fortbildung offenbaren« (28).75 Dabei ist in einem ersten Schritt der Begriffsklärung zunächst festzuhalten, dass, »ebenso wie der Begriff eines Organismus (einer organischen Einheit) bei weitem nicht durch die Summe der zu ihm gehörenden Theile erschöpft wird«,

218 vielmehr »dieser Summe gerade noch das (fehlt), was sie zum Organismus macht«, nämlich »das innere Band, das Princip, oder wie man es sonst nennen mag«, auch der »Volksgeist« »etwas Anderes und bei weitem mehr« ist als die »bloße Summe aller individuellen Geister in einem Volke«. Mit einem Wort: Der »Volksgeist« ist »gerade das, was die bloße Vielheit der Individuen erst zu einem Volke macht, er ist das Band, das Princip, die Idee des Volkes und bildet seine Einheit«; denn »in dem geistigen Thun aller Individuen eines Volkes herrscht eine Uebereinstimmung und Harmonie, welche sie zusammenschließt und zu einer organisch verbundenen Einheit macht« (vgl. 28 f.). In der Form einer vorläufigen Definition bezeichnet daher »Volksgeist« das, »was an innerer Thätigkeit, nach Inhalt sowohl wie nach Form, allen Einzelnen des Volkes gemeinsam ist; oder: das allen Einzelnen Gemeinsame der inneren Thätigkeit« (29). Geht man nach alledem zur Untersuchung der »verschiedenen objectiven Elemente oder Mächte des Volksgeistes« über, die »die verschiedenen Formen und Stufen des Selbstbewußtseins eines Volkes« sind (38) so »steht obenan die Sprache: sie ist das erste geistige Erzeugniß, das Erwachen des Volksgeistes« (40). Insofern nun aber »alles was der Geist einmal geschaffen hat, ihn für die folgenden Schöpfungen bestimmt, anregt und beschränkt«, so »übt die Sprache einen constitutiven Einfluß auf die innerste Eigentümlichkeit des Volksgeistes aus, wie er sich in seinen folgenden Schöpfungen weiter entwickelt«. Mehr noch: Einerseits »nur ein Geschöpf des Volksgeistes«, ist sie andererseits »von mächtiger Rückwirkung auf den Geist, welche um so bedeutsamer wird, als sich für die Bildung der Sprache auch etwas äußerliche Einflüsse neben den rein innerlichen geltend machen. Ueberdies ist sie der vollkommenste Ausdruck des Volksgeistes, da sie ihn nicht nur nach allen Richtungen, in denen er wirkt, darstellt, sondern auch eine durch alle Geschlechter gehende ununterbrochene Arbeit ist, welche jeden neuen Zuwachs an innerem Gehalt in sich aufnimmt.« (ebd.)76 Ein weiteres »objektives Element« des »Volksgeistes« und »mit der Sprache eng verknüpft« ist die Mythologie; denn »Mythologie ist, wie das Wort der Sprache, eine Apperceptionsform der Natur und des Menschen, eine Anschauungsweise auf einer gewissen Stufe der Entwickelung des Volksgeistes; sie schließt keinen Inhalt aus, welcher Gegenstand des Volks-Bewußtseins werden kann, also auch nicht die Idee Gottes und der Sittlichkeit« (44). Als dritter wesentlicher Teilgegenstand der »Völkerpsychologie« ist die Religion anzusehen:

219 »Wenn Sprache und Mythologie uns die tiefsten Aufschlüsse über die intellectuelle Seite des Volksgeistes zu geben haben: so lernen wir ein Volk aus seinem Verhältnisse zur Religion zugleich von der theoretischen, praktischen und gemüthlichen Seite kennen. In der Religion zeigt sich der ganze Mensch. Hier enthüllen sich seine Ideale, was er als das Letzte und Erste erkennt, als das Höchste verehrt, als den eigentlichen Zweck erstrebt.« (47) Ebenfalls ein wesentliches »Erzeugniß des Volksgeistes« und damit »ein rein völkerpsychologisches Object« ist die Schrift (a.a.O., 51 f.). Ihre Entstehung und Verbreitung bildet »in der Entwickelung des Bewußtseins eines Volkes den wichtigsten Abschnitt«, mit ihr »tritt dasselbe in die Geschichte, erhält es ein staatliches, geschichtliches Bewußtsein, und hiermit beginnt das wirkliche Bewußtsein des Volkes« (52). Diese Epoche, mit der »die Civilisation (beginnt)«, markiert also im Leben eines Volkes einen Knotenpunkt, der genau demjenigen im Leben des Einzelnen entspricht, »wo er zum ersten Male sich mit Ich bezeichnete« (ebd.). Indes sollte, nach allem, keineswegs nur die »intellectuelle Seite des Volkslebens« Gegenstand der »Völkerpsychologie« sein, biete doch auch »das praktische Leben des Volksgeistes« der Psychologie »eine große Fülle der anziehendsten Aufgaben« (55). So etwa liege »in jedem Zwecke, der gewollt wird, wie in der Gesammtheit der uns zur Erreichung desselben zu Gebote stehenden inneren und äußeren Mittel77 die Weise schon vorbereitet, wie irgend eine Handlung, in der die Mittel zum Zwecke angewandt werden, ausgeübt wird«78. Und indem »bei der Wiederholung dieser Handlung theils dieselbe Prädisposition, theils die Reproduction der bei der früheren Ausübung erregten und associirten Vorstellungen« wirke, bilde sich »Gewohnheit und Sitte in der Handlungsweise« (Lazarus & Steinthal, ebd.). »Unbewußt, unbeabsichtigt« entstanden, werde die Sitte »vererbt von Geschlecht zu Geschlecht« und gehöre »wie die Sprache, wie der Leib zur Nationalität selbst« (55 f.). Dabei erscheine sie »als eine Macht über den Einzelnen um so mehr, als er auch alle anderen Einzelnen von derselben Macht beherrscht sieht« (56). Bei alledem gilt aber nicht nur, »daß die Geister der Völker sowohl in jedem Elemente, als auch vorzüglich in ihrer innersten und allgemeinen Richtung weit von einander verschieden sein können« (62), sondern es ist auch unmittelbar einsichtig, dass die »Volksgeister« jeder für sich genommen »nichts Starres, ewig sich gleich Bleibendes« sind, sie sich vielmehr »in der Geschichte (verändern)« (63), wobei, so die Überzeugung von Lazarus und Steinthal, »in dieser Veränderung der Volksgeister« aufs Ganze gesehen zwar »ein Fortschritt und ein Verfall, aber niemals eigentlich ein Rückschritt erkennbar« sei (ebd.). Abgesehen davon nämlich, dass »beim Verfall, der einen Volksgeist im Allgemeinen trifft«

220 zugleich »auch positive Fortschritte in einzelnen Richtungen sehr wohl möglich« seien, offenbare sich »dem tieferen Blick« im Verfall selbst »die Vorbereitung zu einer neuen Erhebung, die Entstehung neuer Keime zu einer neuen Entwickelungsbahn« (ebd.). Dabei zeige sich »sowohl bei der Betrachtung der Geschichte nur eines Volkes, als auch bei der Vergleichung der neuen Völker mit den alten«, dass der »Fortschritt in der Weltgeschichte« in Wirklichkeit »noch in tieferer Weise vorhanden« sei, als man gewöhnlich meine, da er sich nämlich »auf den eigentlichen Denkproceß selbst und auf die Weise und die Macht des Gefühls« erstrecke, wobei »die Verschiedenheit des Letzteren sich am entschiedensten in der Religion und dem Cultus und in der mit ihnen zusammenhängenden Kunst, vorzüglich in der Baukunst und der Musik« beweise (ebd.). »Noch bemerkenswerther« als der Unterschied des Gefühls und ohne Zweifel »ein klarer Fortschritt« sei allerdings »der Unterschied im Denken«, wie ihn uns »die Sprache, und nur sie, durch den verschiedenen Styl der Literaturen« zeige. Gehe man nämlich davon aus, dass der Stil nicht nur eine »eigentümliche, dem Denken aber gleichgültige Anwendung der Sprachform« sei, sondern »wesentlich auf der Gedankenbewegung selbst« beruhe, so sei der »Unterschied zwischen der antiken und der modernen Prosa« ein Beleg dafür, »daß wir schneller denken, als die Alten, daß wir vieles verschweigen, was wir darum doch nicht ungedacht lassen« - was dadurch ermöglicht werde, »daß die Vorstellungen, wie sie uns unsere Sprache in Wörtern und Formen bietet, dichter sind, d.h. daß mehr Inhalt in ihnen zusammengewickelt liegt« (64 f.). Dieser »Fortschritt im Denken selbst« ist Lazarus und Steinthal zufolge »ähnlich dem, und beruht auf denselben Grundsätzen wie der, welcher sich kund giebt beim Vergleich zwischen dem geübten Mathematiker oder dem Anfanger«. Was dieser sich »mühselig auseinander legen muß, um es klar und sicher zu denken, faßt jener massenhaft verdichtet zusammen und denkt es doch sicherer, schärfer, bestimmter« (65). Dabei sei es keineswegs so, dass die »geistige Kraft des Menschen« an sich wachse, vielmehr habe »der Schöpfer« deren Maß »ein für alle Mal festgestellt«. Aber »der Geist schafft sich unaufhörlich neue materielle und geistige Organe, und mittelst ihrer wirkt er immer schneller und immer mehr« (ebd.)79. In zwei nachfolgenden (von 1860 bzw. 1861 datierenden) Vorträgen sowie einem in seiner Entstehung nicht näher datierten »Fragment«, die alle drei ebenfalls in der ZeitschriftftXrVölkerpsychologie und Sprachwissenschaft abgedruckt wurden (vgl. Lazarus 1860, 1862a, 1862b), hat Lazarus dann verschiedene der in den »Einleitenden Gedanken« andiskutierten Teilproblematiken intensiver behandelt, um schließlich 1863 im ersten Heft des (unter der Jahrgangsangabe 1865 firmierenden) 3. Bandes der Zeitschrift mit seinem umfangreichen Essay

221 »Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie« eine relativ geschlossene Darstellung des völkerpsychologischen Grundansatzes zu präsentieren - ein Essay, in dem dann auch das Konzept des »objektiven Geistes« eingeführt und ausgiebig erörtert wird. Dabei ist der erste, »Ueber den Ursprung der Sitten« betitelte Vortrag (gehalten als Antrittsvorlesung am 23. März 1860 in der Aula der Berner Universität)80 für uns nicht nur unter dem Gesichtspunkt von Interesse, dass hier die in den »Einleitenden Gedanken« noch recht vage gebliebenen Ausführungen zum Thema »Gewohnheit und Sitte« präzisiert werden, sondern er verdient unsere Aufmerksamkeit vor allem auch deshalb, weil sich in ihm einige Überlegungen zum Wesensunterschied zwischen menschlichem und tierischem Verhalten finden, die dann in den einschlägigen Grundsatzdiskussionen unseres Jahrhunderts bis in die jüngste Zeit als genuin marxistisches Gedankengut gefeiert worden sind - und dies beileibe nicht nur von Psychologen. Nicht durch den abstrakten Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit, so Lazarus, werde »der große Unterschied zwischen Instinkt und menschlicher Schöpfung« begründet, sondern dadurch, »daß der Inhalt der instinktiven Thätigkeit vollständig begrenzt ist« (Lazarus 1860, 448). Und sofern dieser Inhalt »nicht mit der Geburt des Thieres geradezu fertig gegeben« sei (was, wie Lazarus hinzufügt, »man sich schwer vorstellen« könne), so seien »doch alle Bedingungen derselben in Leib und Leben des Thieres vorhanden«, so dass wir »kein Thier über die Grenze seines Instinkts hinausgehen, aber auch keines hinter derselben zurückbleiben« sehen; denn »wohl sind die Gewebe der Spinne und die Zellen der Biene kunstreiche Gebilde, aber keine zeichnet sich vor der andern aus; in der Gattung alle Individuen und, so weit wir es überschauen können, auch zu allen Zeiten vollenden das Gleiche, in ewiger Gleichmäßigkeit wirken sie von Geschlecht zu Geschlecht« (a.a.O., 448 f.). Demgegenüber sei »alles Menschliche ein Product der allmählichen und aufsteigenden Entwicklung sowohl innerhalb eines jeden Individuums als in der Folgenreihe der Geschlechter« (449). Dabei werde der in Frage stehende Unterschied »völlig anschaulich zumeist durch den Begriff des Werkzeugs«; denn: »Der Instinkt schließt das Werkzeug aus; in seinen Grenzen wird mit vorhandenen, fertigen Kräften operirt, und nur mit diesen. Der Mensch aber schafft sich nicht blos Werke, sondern Kräfte im Werkzeug; das Werkzeug ist Vermittelung, ein Erfolg des Bewußtseins, der über die unmittelbar vorhandenen Kräfte hinausgreift.« (ebd.)81

222 Sicher: »Auch der Mensch besaß und besitzt ursprünglich Instinkte; Essen, Trinken; Flucht vor der Gefahr mag man dahin zählen.« Allerdings »beharren diese Thätigkeiten (nicht lange) in der Form des Instinkts, vielmehr werden sie bald mit freien, moralischen und intellectuellen Elementen legirt«. So ist beispielsweise »schon typisches Essen zu bestimmten, frei gewählten Zeiten nicht mehr Instinkt«, und »auch mit Instrumenten essen ist nicht mehr instinktiv«, wiewohl »der dem Verhungern Ausgesetzte in die Art des Instinkts zurückfallen (mag), wenn er sich plötzlich der Speise nähert« (ebd.). Wenn aber für den Instinkt gelte, dass er »absolut nothwendig, unbedingt« sei, »weil alle seine Bedingungen gegeben sind«, so folge daraus, dass »alles Vermittelte«, »alles Bedingte, alles was, wie die menschliche Thätigkeit, von Bedingung zu Bedingung fortschreiten und aufsteigen muß, nicht mehr instinktiv« sein könne, weshalb denn auch »vollends alle Tradition außerhalb des Instinkts« liege, so dass »alles was in den Epigonen nicht wäre ohne Ueberlieferung der Vorfahren, nicht instinktiv« sei. Mit einem Wort: »Des Menschen Sitte fangt da an, wo sein Instinkt aufhört.« (449 f.)82 Während in »Ueber den Ursprung der Sitten« der Gedanke im Mittelpunkt steht, das »Menschliche« sei der Inbegriff des »gleichmäßig Wiederkehrenden«, des »Geordneten«, des »Festen«, weshalb »die größte Bedeutung der Sitte« darin liege, »daß sie überhaupt etwas Festes, Gewohntes, Geregeltes, eine Norm und Form des Handelns ist« (vgl. a.a.O., 440), wird im »Fragment« über die »Verdichtung des Denkens in der Geschichte« das ebenfalls schon in den »Einleitenden Gedanken« exponierte Thema des allgemeinen Fortschritts des menschlichen Geistes weiter ausgebaut. An dem bereits dort exemplarisch angeführten Vergleich zwischen dem geübten Mathematiker und dem Anfänger anknüpfend (vgl. oben, S. 220), entfaltet Lazarus in der Folge den Gedanken, dass »dieselbe Verdichtung des Denkens - und Handelns sogar - sich in der Geschichte für einzelne Völker und selbst für die gesammte Menschheit (vollzieht); sie geschieht, indem Begriffe und Begriffsreihen, welche in früheren Zeiten von den begabtesten Geistern entdeckt, von wenigen kaum erfaßt und verstanden, doch allmählich zum ganz gewöhnlichen Gemeingut ganzer Classen, ja der gesamten Masse des Volkes werden können« (Lazarus 1862a, 54). Um dieses Phänomen zu begreifen, müsse man sich klar machen, dass »alle Bildung des Einzelnen - also auch der Gesammtheit - sich auf Aneignung und Verarbeitung beziehungsweise einfacher Begriffe« gründe, die »Entwicklung des Geistes« also an die »elementaren Denkformen und Anschauungsweisen, in denen die Welt und das Leben erfaßt wird« anknüpfe, wobei das »Maß der Klarheit eines Gedankens mit dem Maße der Anstrengung, ihn zu erfassen, im

223 umgekehrten Verhältniß« stehe. Je mehr daher »eine Begriffsreihe«, die »jetzt noch das Product einer kaum geahnten Entdeckung und Gegenstand einer mühevollen Erkenntnißarbeit« sei, »bei der einen Generation an Klarheit und Durchsichtigkeit und Geläufigkeit« gewinne, desto mehr erhalte sie von jener »elementaren Natur« und könne »für eine folgende Generation Gegenstand der ersten und einfachsten Belehrung sein« (a.a.O., 55). Was daher »ein letztes Ziel der Geistesthätigkeit in einer vergangenen Epoche« gewesen sei, werde zum »Ausgangspunkt in einer späteren«, wobei »in diesen nunmehr elementaren Begriffen die ganze Reihe der Begriffsvermittelungen, durch welche hindurch sie einst langsam und mühevoll erzeugt wurden, verdichtet« vorliege. Das heißt, »eine langgedehnte Vergangenheit« werde in ihnen zur »geschlossenen Gegenwart«, so dass also »in jeder Geistesthat eine ganze Geschichte von Geistesarbeit aufgehoben und unverloren und darin gerade so enthalten und erhalten« sei, »wie die Eichel in der Eiche, die aus ihr erwachsen« (55 f.). Außer der Sprache als dem hauptsächlichen »objective(n) Mittel«, »welches der menschliche Geist anwendet, um diese Verdichtung der Begriffe zu erreichen« (vgl. a.a.O., 57), seien es »die Sitten und sittlichen Institutionen aller Art«, die dem einzelnen Menschen »den sittlichen Gehalt seiner Zeit, das Product langer geistiger Entwicklung und historischer Arbeit« in der gleichen Weise »fertig entgegenbringen«, wie ihm »die vorhandenen Kunstwerke, die Monumente des Genies und des Fleißes« die »allmählich gereifte ästhetische Anschauung göttlicher und menschlicher Dinge vor die Seele führen, um sein Gemüth, wenn es empfänglich ist, auf die gleiche Höhe zu erheben« und es »mit der gleichen Idealität zu erfüllen« (57 f.). Darüber hinaus würden »Organe der Gedankenverdichtung« auch dort geschaffen, »wo die Wissenschaft und die ethische und ästhetische Gestaltungskraft sich mit dem täglichen Leben verbindet«, so dass schließlich das »Gewebe auch der einfachsten Verhältnisse mit idealen Gestalten« durchflochten sei. Eine These, die Lazarus am Beispiel der Taschenuhr, des Wochenmarktes und des Brieflcastens erläutert - Beispiele, aus denen man »deutlich ersehen« könne, »wie der Mensch sich nachgerade willkürlich und unwillkürlich, absichtlich und zufallig Organe der Verdichtung seines Denkens schafft, sowohl materielle als geistige Organe, nur daß jene, in ihrer psychischen Wirkung betrachtet, in Wahrheit selbst nicht minder geistige Organe und Objecte sind«, (vgl. 58 ff.) In diesem »Prozeß der Verdichtung des Gedachten, als der Kunst der Zusammenfassung des Mannichfaltigen und der steigenden Erleichterung des Schwierigen« liegt denn auch für Lazarus die Gewähr, »daß der Culturmensch nicht allmählich durch den von allen Seiten massenhaft anwachsenden Stoff der Erkenntniß völlig erdrückt werde«. Keineswegs den »verbesserten Schulmetho-

224 den für Aneignung der Wissenschaft«, sondern eben »diese(r) psychische(n) Qualität des denkenden Wesens« (sich die verschiedenartigsten »Organe der Verdichtung des Denkens« zu schaffen) sei es daher geschuldet, »daß ein mäßiger Kopf sich heute so gut wie vor dreihundert Jahren auf der Höhe des gegenwärtigen Bildungszustandes erhalten kann, obgleich nicht bloß dieselben Gebiete, welche den Inhalt damaliger Wissenschaft ausgemacht haben, durch eine unermüdliche Thätigkeit stetig bereichert, sondern ganze und weite neue Felder geistiger Thätigkeit urbar gemacht worden sind«. (60) Die Bestimmungen über das Verhältnis von Tradition und Fortschritt einmal soweit vorangetrieben, ist es dann in der Tat nur noch ein kleiner Schritt bis zur expliziten Ausformulierung des Konzepts vom »objektiven Geist«. Freilich wird sich Lazarus, als er ihn schließlich in seinem großen Essay »Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie« vollzieht, genötigt sehen, noch vor der Erläuterung der dieses Konzept konstituierenden Vorstellungen zweierlei anzumerken: nämlich erstens, dass es sich dabei keineswegs um eine /U-/zöc-Konstruktion handele, sondern »die Thatsache des objectiven Geistes« bereits in den voraufgegangenen Arbeiten »immer schon beachtet« worden sei und er jetzt lediglich versuche, »sie begrifflich zu scheiden«, und zweitens dass »der Begriff des 'objectiven Geistes 9 nicht im Sinne der Hegeischen Eintheilung« zu nehmen sei, »in welcher er nur den praktischen Geist bedeutet«, vielmehr davon ausgegangen werden müsse, dass »objektiver Geist« sich »eben so sehr im theoretischen und künstlerischen Gebiete« darstelle (vgl. Lazarus 1865, 41, Fußnn. - Hervorhn. P.K.). So terminologisch zwar durchaus in der Tradition Hegels stehend, meint also der Ausdruck »objektiver Geist« bei Lazarus zugestandenermaßen konzeptionell von vornherein etwas anderes als das, was ursprünglich von Hegel darunter verstanden wird83. Wesentlich unter der Perspektive konzipiert, jenen grundsätzlichen inneren Widerspruch des völkerpsychologischen Ansatzes aufzulösen, der darin besteht, dass der »Volks-«, »öffentliche« oder »Gesammtgeist« einerseits »doch nur in den Einzelnen lebt und kein vom Einzelgeist abgesondertes Dasein hat« (vgl. Lazarus & Steinthal 1860, 10), er andererseits aber den Subjekten, welche seine Träger sind, zugleich als das ihnen in der Zeit sowohl vorausgehende als auch sie überdauernde Allgemeine objektiv gegenüberstehen soll (vgl. a.a.O., 56; Lazarus 1860, 440 sowie Lazarus 1862b, 418 f. u. 447 f.), ist für Lazarus der »objektive Geist« etwas, das zwangsläufig aus dem »geistigen Zusammenleben« der Menschen resultiert: »Wo immer mehrere Menschen zusammenleben, ist dies das nothwendige Ergebniß ihres Zusammenlebens, daß aus der subjectiven geistigen Thä-

225 tigkeit Derselben sich ein objectiver, geistiger Gehalt entwickelt, welcher dann zum Inhalt, zur Norm und zum Organ ihrer ferneren subjectiven Thätigkeit wird.« (Lazarus 1865, 41) So etwa entspringe »aus der subjectiven Thätigkeit des Sprechens, indem sie von mehreren Individuen unter gleichen Antrieben und Bedingungen vollzogen wird und dadurch auch das Verstehen einschließt, eine objective Sprache«, die dann »den Individuen als ein objectiver Inhalt für die folgenden Sprechakte gegenübersteht)« und dabei »aber auch zugleich zur Norm, zur gegebenen, gesetzmäßigen Form der Gedanken, und weiterhin selbst zum Organ der weiteren Entwicklung der Sprechthätigkeit in Allen« wird (ebd.). Genau besehen ist damit die Hervorbringung des »objektiven Geistes« zugleich ein Geschehen, in dem das Hervorgebrachte sich gegenüber seinen Erzeugern in unmittelbarer Weise zu einer sie beherrschenden Macht verselbständigt; denn: »Aus der Thätigkeit aller Einzelnen ursprünglich geboren, erhebt sich der geistige Inhalt, als fertige That, sofort über die Einzelnen, welche ihm nun unterworfen sind, sich ihm fügen müssen.« (ebd.)84 Diese Bestimmungen gelten indes nicht allein für die Sprache, vielmehr »(ist) auf allen Gebieten des geistigen Daseins die Entstehung des objectiven Geistes das nothwendige Resultat des Zusammenlebens, seine bestimmte Art und Natur aber die Bedingung für alles weitere Leben und Wirken der Geister« (a.a.O., 43). Ein weiteres Wesensmerkmal des »in einem Volke gegebenen objectiven Geistes« ist, dass er verschiedene »Weisen der Existenz« (bzw. Weisen der »Verkörperung«) hat: »Zum Theil nämlich existirt der geistige Inhalt nur als Gedanke oder sonstiges geistiges Element (Gefühl, Wille etc.) in den lebenden Trägern des Volksgeistes als wirklich vollzogene oder vollziehbare Acte des psychischen Lebens ...; zum anderen Theil aber erscheint er gestaltet und befestigt durch Hineinbildung in irgend einen materiellen Träger des Gedankens.« (a.a.O., 44 - Hervorhn. P.K.) Im Klartext heißt dies, dass praktisch alles, was je von Menschen in bewusster Tätigkeit und zu bestimmten Zwecken hervorgebracht worden ist, Träger von »objektivem Geist« sein kann: »In Büchern und Schriften aller Art, in Bau- und anderen Denkmälern, in Kunstwerken und den Erzeugnissen des Gewerbefleißes, in den Werkzeugen (und den Werkzeugen zur Erzeugung der Werkzeuge), in den Verkehrsmitteln zu Lande und zu Wasser, auch in den Vorkehrungen des Handels sammt der Erstellung allgemeiner Tauschmittel, in den Waffen und Kriegsgeräthen, in Spiel- und Kunstwerkzeugen, kurz in der Herstellung von allen körperlichen Dingen zum realen oder symbolischen

226 Gebrauch findet der objective Geist eines Volkes seinen bleibenden Ausdruck.« (45)85 Unter die verschiedenen »Weisen der Existenz des objectiven Geistes« ist aber Lazarus zufolge auch diejenige zu zählen, »welche mitten in der persönlichen Bewegung des Geistes und seiner Wechselwirkung mit dem Körper ihren Sitz hat«. Genauer gesagt, handele es sich dabei »im Unterschiede einerseits von den objectiv vorhandenen Gedanken und Denkformen im Geiste und andererseits von den Verkörperungen des Gedankens in objectiven Dingen« um »all jene psycho-physischen Leistungen, welche man unter dem Namen der Uebungen und Geschicklichkeiten zusammenfassen kann« (51). Auch die Sprache enthalte »in ihrer phonetischen Seite Momente dieser Art des objectiven Geistes«: Die »Art der Beherrschung der Sprachorgane, die Bevorzugung des einen vor dem anderen, die Ausbildung des Lautsystems unter Anwendung von verschiedenen Vocalen und Consonanten, von Zisch- und Schnalzlauten, auch die Weise des schnelleren oder langsameren, klaren oder dumpfen Sprechens, der heftigen oder gelinden Gesticulation« - all dies biete »charakteristische Merkmale des objectivirten Nationalgeistes« dar (51 f.). Schließlich sei, zur Abrundung der Aufzählung, noch »jene Form des geistigen Daseins« zu erwähnen, »welche, von überwiegend innerlichem Gehalt und innerer Bedeutung, doch zugleich an materiellen Dingen eine Anknüpfung oder eine Symbolik« habe: »Schulen z.B und alle Kunst- und Lehranstalten, auch Verwaltungseinrichtungen, Gemeindebildungen bürgerlicher und kirchlicher Art und freie Vereine mit äußerlichen Normen, Bedingungen und Erfolgen, ja alles das, was man als öffentliche Institutionen bezeichnet, bildet eine zugleich in Aeußerem ausgeprägte, objective Gestaltung des Geistes.« (52 f.) Alle diese im vorangegangenen aufgeführten Details lassen sich dann, wie folgt, zu einem »Totalbild des objectiven Geistes« zusammenfassen: 1. Seinem Wesen nach ist der »objective Geist« zu bestimmen als »der aus der persönlichen (subjectiven) Thätigkeit der Einzelnen hervorgegangene, erzeugte und vorhandene, als solcher den Personen thatsächlich gegenüberstehende geistige Gehalt, welcher als Inhalt und Form des geistigen Lebens sich kund gibt« (53). 2. Es können zwei »extreme Erscheinungen« voneinander unterschieden werden, »in denen dieser objective Geist sich manifestirt«. Auf der einen Seite stehen »rein geistige Elemente: Anschauungen, Ueberzeugungen, Gesinnungen, Denkformen, Gefühlsweisen u.s.w.«; sie sind »Elemente des objectiven Geistes, in so fern sie im Volk verbreitet, dauernd und charakteristisch sind, als das Vorhandene dem einzelnen Geiste gegenüberstehen und auf ihn wirken«; ihre »Existenz« aber, d.h. »den Ort

227 und die Art ihres Daseins«, haben »diese Elemente dennoch nur in den persönlichen Subjecten, in den einzelnen Geistern, in deren subjectiver Thätigkeit sie eben als das Allgemeine in dem Individuellen auf concrete Weise enthalten sind« (53 f.). Auf der anderen Seite stehen »reale oder symbolische Verkörperungen des Gedankens: Kunstwerke, Documente, Schriften, Bauten aller Art, zum Verbrauch bestimmte Erzeugnisse der Industrie«; sie »enthalten im engsten Sinne den objectivirten, in ein Object gelegten Geist, dessen Beziehung zur subjectiven Thätigkeit der Personen nur diese ist, daß überhaupt subjective Thätigkeit, welche die Objecte auffaßt, hinzukommen muß, damit diese als objectivirte Gedanken ein Leben gewinnen; in den Objecten selbst liegt es, diese subjective Thätigkeit zu erregen und zu ihrer Erkenntniß zu leiten je nach dem Maße der Bestimmtheit des in ihnen niedergelegten Gedankens« (54)86. 3. Zwischen diesen beiden Extremen existieren dann wiederum zwei Zwischenformen. Und zwar sind dies einerseits »die Werkzeuge und Maschinen sammt allen wissenschaftlichen Instrumenten, in denen der Geist dergestalt objectivirt ist, daß zum bloßen Beharren desselben auch die dauernde Wirksamkeit tritt, welche nur von der dauernden Kenntniß des Gebrauchs bedingt wird«; auf der anderen Seite bilden die »erwähnten Institutionen ein durchaus lebendiges Bestehen und Wirken des Gedankens, welcher in der Anknüpfung an materielle Dinge und Verhältnisse nur einen festeren, objectiveren Bestand gewinnt« (ebd.). 4. Bei alledem erscheint dann zwar »die persönliche Thätigkeit des ganzen psycho-physischen Organismus« einerseits als »das nothwendige Vehikel der Erhaltung dieser Manifestation des objectiven Geistes«, andererseits jedoch - »indem sie einen bestimmten und allgemeinen Typus zur Erscheinung bringt, dessen Ursache, Inhalt und Weise der Ueberlieferung wesentlich geistiger Art ist« - stellt sie sich zugleich als »ein Element des objectiv gewordenen Geistes« dar (55). Versucht man nun, sich »dies Verhältniß des subjectiven Geistes, der subjectiven Thätigkeit des einzelnen Geistes zum gegebenen, objectiven Geist noch klarer« zu machen, dann ist zunächst festzuhalten, dass zwar die »höchste, nämlich rein geistige Form des objectiven Geistes ihre Existenz in der Gesammtheit der einzelnen Geister« hat, »in deren Leben und geistigem Thun der objective Geist lebt und sich vollzieht«, dass aber dennoch »die einzelnen Geister nicht die Schöpfer, sondern nur die Träger des objectiven Geistes« sind; das heißt, »sie erzeugen ihn nicht, sie erhalten ihn nur; ihr geistiges Thun ist nicht so sehr Ursache als vielmehr Erfolg desselben« (56). Anders ausgedrückt: »Die Einzelnen ... lernen ihre Thätigkeit aus dem Bestehenden und vollziehen es eben deshalb, weil es das Bestehende ist, dem sie sich nicht entziehen können; nicht aus der Kraft ihrer individuellen Subjectivität wirken sie, sondern aus der Macht der Objectivität, in welcher sie entstanden sind und stehen.« (ebd.)

228 Aufs Ganze gesehen besteht somit »die Bedeutung des objectiven Geistes für die subjective Thätigkeit des Individuums« zunächst einmal darin, dass »der Mensch, der in irgend welcher historischen Zeit und Stellung in das Leben eintritt, neben der objectiv gegebenen Welt der Natur zugleich in dem objectiven Geist eine zweite, eine Welt des Gedankens (findet)« (ebd.). Dabei lasse sich dann am Beispiel der Auffassung eines Kunstgegenstandes exemplarisch demonstrieren, wie »der Inhalt und der Werth einer objecterfassenden geistigen Thätigkeit« direkt »abhängig (ist) von der Stärke, Bestimmtheit, dem Reichthum und der Dignität überhaupt des gedankenerregenden Objects« (56 f.). Sicher, »wenn ich einen künstlerischen Gegenstand auffasse«, so ist »meine subjective Thätigkeit des Anschauens wesentliche Bedingung dafür, daß das Bild desselben zum Inhalt meiner Seele wird«; mehr noch: die »Existenz des Bildgedankens in meinem Geiste« ist »durchaus von meiner Thätigkeit (abhängig); das Bild kommt nicht durch seine active Erregung in meine (passiv gedachte) Seele hinein, sondern meine, des Geistes active Thätigkeit faßt es auf«. Aber dennoch »(ist mir) der specifische Werth und Inhalt in dem Kunstwerk gegeben; ich habe den Gedanken desselben, den Gedanken des Künstlers nicht erzeugt, sondern nur für mich wiedererzeugt; nicht gebildet, sondern nur nachgebildet; an der Hand der vom objectiven Gedanken ausgehenden und mich treffenden Erregung habe ich mir denselben subjectiv - nicht geschaffen, sondern - angeeignet« (ebd. - Hervorh. P.K.). Berücksichtige man dies, dann könne man »den durchaus überwältigenden Einfluß des geistigen Zusammenlebens« ermessen, bilde doch »diese Art nachahmender Gedanken in unserer geistigen Thätigkeit ein so großes numerisches Uebergewicht, daß als ein verschwindend kleiner Bruchtheil die Gedanken erscheinen, welche wirklich schöpferische sind«, als solche »aus unserer subjectiven Thätigkeit hervorgehen und dann eine Bereicherung des objectiven Geistes ausmachen«, wobei allerdings nicht vergessen werden dürfe, »daß auch unsere schöpferischen Gedanken vielfach aus Elementen des Nachahmenden zusammengesetzt sind und also immer wieder auf die Macht und den Einfluß des objectiven Geistes zurückweisen« (ebd.). Um in diesem Zusammenhang die spezifische Bedeutung der Erziehung zu erfassen, sei es notwendig, auf einen »wesentlichen Unterschied« zwischen der »zweiten objectiven Welt nämlich des Geistes, und der ersten, der Natur« hinzuweisen. Während diese, »als das natürliche Object des Geistes«, sich »so zu sagen mit einer übertriebenen Discretion, fast gänzlich passiv« verhalte oder »den einfachen Menschengeist so sehr mit den Zaubern ihrer Erscheinung« um-

229 webe, dass sie, »anstatt ihn zur Erkenntniß aufzustacheln, ihn vielmehr sehr bald sättigt und von einer energisch activen Auffassung ablenkt«, dringen »(hingegen) das Reich des Geistes, die Menschen und ihre Schöpfungen auf jeden Neugebornen in einem Culturlande mit einer beglückenden Zudringlichkeit so gewaltig ein, weil sie nicht bloß gewissermaßen die ganze Oberfläche der Natur wie mit einem Netz übersponnen haben, sondern auch mit tausend Zungen laut und vernehmlich in den neuen Menschen hineinreden« (57 f.). So komme denn, »in einem unsäglich viel weiteren Sinne als das Wort sonst genommen wird«, die »Erziehung, als Repräsentantin der Geschichte und des objectiven Geistes, der auffassenden Thätigkeit des Epigonen von der ersten Stunde seines Daseins entgegen«, indem sie nicht bloß »jeder freien Aeußerung derselben« ein »notwendiges Object« darbiete, sondern auch »alle Reizmittel spielen« lasse, »um die junge Seele zu dieser Thätigkeit zu erregen« (58). Was für die determinierende Wirkung des »objectiven Geistes« hinsichtlich der »Thätigkeit des individuellen Geistes« gilt, lässt sich ohne Einschränkung auch auf das Problem der Generationennachfolge anwenden: »Sowohl der eigentliche Inhalt, der Schatz von Anschauungen, Vorstellungen und Ideen, als die Denkformen - im engeren Sinne -, welche im objectiven Geiste enthalten sind, wirken bestimmend ... auf die Gesammtheit der Individuen eines folgenden Geschlechts, indem sie die Organe der Thätigkeit und die Richtung derselben ihr überliefern.« (60) Am »deutlichsten« sei dabei »die Einwirkung des gegebenen, objectiven Geistes auf alles, was zur praktischen Thätigkeit des Individuums gehört«: die »Schätzung der Dinge und Verhältnisse«, die »Bestimmung der Werthe«, die »Wahl der Zwecke«, die »Bildung von Motiven und Gesinnungen, welche das Handeln leiten« - all dies wurzele »fast gänzlich in dem überlieferten Geist der Gesellschaft« (61)87. Insofern nun »die einzelnen Geister nicht die Schöpfer, sondern nur die Träger des objectiven Geistes« sind (vgl. oben), kann zwangsläufig der »Bestand des objectiven Geistes in der Gesammtheit« nur »dadurch erhalten« werden, »daß die Einzelnen sich zum Inhalt und zur Höhe desselben, beziehungsweise zu derjenigen Stelle entwickeln, welche sie in ihm einzunehmen geeignet und geneigt sind« (a.a.O., 68 - Hervorh. P.K.). Andererseits ist aber die »weitere Fortentwicklung des objectiven Geistes selbst abhängig von der beziehungsweisen Erhebung des einzelnen Geistes (in seiner subjectiven Thätigkeit) über denselben« (70 - Hervorh. P.K.). Und zwar »vollzieht sich« der »Fortschritt des objectiven Geistes« dadurch,

230 »daß Einzelne oder eine Vielheit von Individuen durch ihr geistiges Thun eine Erhebung, Klärung, Vertiefung, überhaupt Bereicherung des objectiven Geistes vollbringen, welcher dann, so bereichert, in die Gesammtheit sich wiederum ergießt und in ihr erhält«. Und wie »die glänzende Erhebung eines einzelnen, neuen, schöpferischen Gedankens über das Ganze des persönlichen Geistes ihre volle Bedeutung erst dann (gewinnt), wenn er auf das ganze Bewußtsein klärend, ordnend und gestaltend sich zurückbezieht«, so »finden große, bedeutende Männer für ihre geistige That ebenfalls die Bedeutung erst in der Rückwirkung auf die Gesammtheit« (71). Aber »nicht bloß jene hervorragenden, Allen erkennbaren Geister, welche mit einem Wurf Großes anbahnen oder vollbringen«, sind die Urheber einer »Fortbildung des objectiven Geistes« - vielmehr gilt für alle, die in irgend einer der verschiedenen »Formen des geistigen Zusammenlebens«88 dergestalt tätig sind, »daß sie nicht bloß nachahmend, das Gegebene wiederholend und erhaltend, sondern selbständig schaffend, frei ergänzend und gestaltend zu Werke gehen«, dass sie »mit an der Bereicherung des objectiven Geistes (arbeiten)« (72 f.). Das heißt, »die fortschreitende Thätigkeit jedes Einzelnen, der entweder durch persönliche Erhebung oder vorbildliche Schöpfung seine Genossenschaft weiter führt, mündet nothwendig in den objectiven Geist ein«, ist doch »die einzige Bedingung dafür« nur die, »daß jeder irgend wie und irgend worin schöpferisch Tüchtige wirklich mit den Anderen zusammenlebt, sich mittheilt, schafft, wirkt, und nicht als Einsiedler lebt« (73). 10. Von Lazarus über Lilienfeld zu Leontjew? Explikation einer Arbeitshypothese Wenn nach alledem festgehalten werden kann, dass der wahre Ursprung jener Vorstellungen, die dem leontjewschen »Vergegenständlichungs-Aneignungs«Konzept letztendlich zugrunde liegen, offenbar nirgendwo anders als in der lazarus-steinthalschen »Völkerpsychologie« zu suchen ist, wobei im Blick auf diesen Ursprung auch jene Punkte noch deutlicher hervortreten, an denen eine wirklich an die Wurzeln gehende Kritik der Auffassungen Leontjews anzusetzen hat, so können wir damit zwar auch die letzte der drei in der Einleitung zu dieser Studie formulierten Teilaufgaben als im Wesentlichen erledigt betrachten, müssen uns zugleich aber auch eingestehen, dass es noch eine Reihe offener Fragen gibt, die zu beantworten einer weitere detaillierte Studie erfordern würde. Eine Studie, in der dann nicht nur ausführlicher auf das komplexe Problem der ideengeschichtlichen Vermittlung zwischen dem genuin »völkerpsychologischen« Konzept des »objektiven Geistes« und den Auffassungen Leontjews einzugehen wäre89, sondern in deren Zusammenhang auch geklärt werden müsste,

231 warum, obwohl doch eigentlich mit Rubinsteins 1934er Aufsatz »Psychologische Probleme in den Arbeiten von Karl Marx« hierfür bereits die Weichen gestellt waren, das »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Paradigma erst ein volles Vierteljahrhundert später zum allgemein akzeptierten Schlüsselkonzept für ein »marxistisches« Verständnis der gesellschaftlich-historischen Bedingtheit der menschlichen Psyche avancieren konnte. Nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand hat es nämlich den Anschein, als wäre hierzu erst noch jener eigentümliche 'Umweg' einer exzessiven Ausschöpfung des »nationalen Erbes« notwendig gewesen, wie er für die sowjetische Wissenschaftsentwicklung vor allem in den 40er, zum Teil aber auch noch zu Beginn der 50er Jahre charakteristisch war. Jedenfalls dürfte es kein Zufall sein, dass Leontjews Theoriebildung so überaus deutliche Parallelen zu den Gedankengängen eines Pawel Fjodorowitsch Lilienfeld (1829-1903)90 aufweist, der im Jahre 1872 in halb anonymer Autorschaft den ersten Band seiner »Mysli o socialnoi nauke buduschtschego« (»Gedanken über die Sozialwissenschaft der Zukunft«) herausbrachte91 - ein Buch, in dem der Versuch unternommen wird, die zwischen dem Physiologen I.M. Setschenow und dem Philosophen K.D. Kawelin kontrovers diskutierten Positionen (einerseits die Position einer »reflexologischen« Psychologie, andererseits die einer Psychologie, »die von dem Studium der objektivierten Produkte der (geistigen) Tätigkeit ausgeht«)92 auf der Basis einer eigenwilligen Interpretation ökonomischer Grundbegriffe zu einer eigenständigen Konzeption zu 'synthetisieren'. In verballhornender Anlehnung an einen Passus in der ersten Auflage des marxschen »Kapitals«93 geht v. Lilienfeld nämlich davon aus, dass »jede Aeusserung menschlicher physischer sowohl, als geistiger Thätigkeit eine Arbeit« sei und »Arbeit wiederum kein anderes Resultat haben« könne, »als Umsetzung physischer oder geistiger Anstrengung des Menschen in irgend einen Theil der Materie«, so dass »die Thätigkeit des Menschen, die sich nicht in Materie umsetzt, nicht in Verbindung tritt mit irgend welcher Naturkraft, nicht auf irgend ein Ziel gerichtet ist, für die Aussenwelt nicht (existirt)« (zit. nach v. Lilienfeld 1873, 30 f.). Und diese Feststellung, so v. Lilienfeld weiter, sei »nicht nur richtig in Bezug auf physische Arbeit, sondern auch in Bezug auf geistige«, denn auch »der Schriftsteller, der Künstler der Redner, der Beamte« können »ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihre Bewegungen, kurz jede ihrer Thätigkeiten nicht anders kundgeben, als indem sie dieselbe vermittelst der Materie in irgend eine Form umsetzen«, wobei »ersparte, aufgehäufte Arbeit... als Kapital« erscheine, »Arbeit, die nicht aufgehäuft, sondern nach Massgabe der Leistung verbraucht wird, ... dagegen als Dienstleistung« (a.a.O., 31). Bei alledem sei »jede Offenbarung menschlicher Thätigkeit nach aussen« eine »Frucht gemeinschaftlicher

232 Thätigkeit des physischen und geistigen Elementes im Menschen«, und »der ganze Unterschied« liege »nur in dem Verhältniss, in welchem diese Elemente sich zur Hervorbringung dieser oder jener Wirkung verbinden«, so dass beispielsweise »die Arbeiten des Landbauers, des Handwerkers, eine namhaftere Quantität physischer Anstrengungen in Verbindung mit verhältnismässig geringer geistiger Mühe dar(stellen)«, während »die Arbeit des Gelehrten, des Künstlers, des Beamten uns die Verbindung derselben Elemente ... in umgekehrter gegenseitiger Beziehung (zeigen)« (ebd.). Und da nun »jede Production von Gütern, jede Erweisung einer Dienstleistung, gleichviel ob sie die Befriedigung geistiger oder körperlicher Bedürfnisse bezwecken, von Seiten des Menschen gleichzeitig geistige und körperliche Anstrengung« erfordern, d.h. »jede äussere Handlung des Menschen das Resultat der gemeinsamen und gleichzeitigen Wirkung des physischen und geistigen Elementes in ihm« sei, besitze »jede Anhäufung von Kapital, jede Dienstleistung wiederum die Fähigkeit, gleichzeitig in höherem oder niederem Grade die physischen und geistigen Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen«. Dabei hänge dann zwar »der Charakter und Effect der Production oder Comsumtion« direkt von dem »Vorherrschen dieses oder jenes Elementes bei der Erzeugung oder Verwendung« ab, jedoch habe dies »nur relative Richtigkeit« insofern, als »überall das geistige Element als das Streben zum Zweck, als Kraft, das physische Element aber als der Weg zur Erreichung dieses Zwecks, als äusserer Ausdruck der Kraft« erscheine. (32)94 Und wenn entsprechend der Lehrmeinung, die sich »in allen politisch-ökonomischen Lehrbüchern« vorfinde, also »das Kapital nichts anderes sei, als aufgehäufte Arbeit«, wobei »wiederum jeder Arbeit eine Anhäufung des Kapitals vorausgehen müsse, - letzteres möge nun in Werkzeugen, Maschinen, Rohstoffen etc. bestehen, oder in der Gestalt gewisser Fertigkeiten, Geschicklichkeiten, Kenntnisse, physischer oder geistiger Fähigkeiten und Anlagen erscheinen«, und man andererseits daran festhalte, dass »jedes Kapital seinem Wesen nach Eigenthum«, d.h. »ein Kapital ohne Eigenthümer unmöglich« sei, so müsse »in dem weiteren Sinne unter Eigenthum jede Concentration der Arbeit überhaupt« verstanden werden, »gleichviel in welchen Formen sie erscheine, sei es als persönliche Güter, d.i. als verschiedene physische und geistige Eigenthümlichkeiten einzelner Persönlichkeiten, Stämme oder Nationen in Sprache, Glauben, Tradition; oder als übertragbare Güter, d.i. als Werthgegenstände« (vgl. v. Lilienfeld 1873, 117 - Hervorhn. P.K.). Nachdem so über den terminus medius »Eigentümlichkeit« der Unterschied zwischen »Eigen/um« und »Eigenschaft« nivelliert ist, kann im nächsten Schritt zur Vermittlung der reflexologischen Position mit der Konzeption des »objek-

233 tivierten Geistes« übergegangen werden. Und die beiden zentralen Konzepte hierbei sind das der »Kapitalisation der geistigen Fähigkeiten« sowie das der »indirekten Nervenreflexe«. Dabei versteht v. Lilienfeld unter einem »Nervenreflex« ganz allgemein »die Uebertragung der Bewegung, Schwingung, Spannung oder Reizung von einem jeden Nervenknoten auf einen andern, gleichviel, ob die Erregung aus der empfindenden auf die bewegende Sphäre übertragen wird, oder innerhalb der empfindenden oder bewegenden oder der Sphäre des Vorstellens und Denkens verläuft«, so dass schließlich und endlich »unter den Ausdruck Nervenreflex auch alle Erscheinungen und Vorgänge« subsumiert sind, »die von den Physiologen mit den Benennungen: sympathische, consensuelle Erregung, Synergie, Irradiation u.s.w. bezeichnet werden« (a.a.O., 183). Konstitutiv für die Übertragung des so umschriebenen Reflexbegriffs auf gesellschaftliche Erscheinungen ist die Festlegung, dass, »damit ein Reflex zu Stande komme, eine unmittelbare mechanische gegenseitige Berührung und Verbindung der Theile nicht erforderlich« ist, sondern »nur die Möglichkeit der Fortpflanzung und Uebertragung der Bewegung und Schwingung durch ein geeignetes Medium« bestehen müsse (vgl. a.a.O., 184). Ein Axiom, auf das gestützt dann folgende Analogie hergestellt wird: »Wie innerhalb eines jeden einzelnen Nervensystems die Uebertragung der Bewegung und der Vibrationen zwischen den einzelnen Nervenfäden und Nervenknoten stattfindet, so kommen ähnliche Reflexe auch in der Gesellschaft und zwischen einzelnen Personen zu Stande, von denen eine jede ein selbständiges Nervencentrum repräsentirt. (...) Die Association der Gedanken wird von der Harmonie der Schwingungen bedingt, die zwischen verschiedenen Gruppen von Nervenzellen im menschlichen Gehirn vorgehen. - Die Association zwischen Menschen beruht auf der harmonischen Vibration der Nervensysteme deijenigen Personen, die zum Complex der Gesellschaft gehören. In einem wie im anderen Fall ist kein wesentlicher Unterschied in der Wechselwirkung vorhanden ...« (ebd.) Überhaupt zeige sich bei konsequenter Durchführung der Analogie, »dass zwischen den Nervenreflexen in der Gesellschaft und in jedem anderen Organismus der ganze Unterschied nur in den verschiedenen Fähigkeitsgraden der Nervencentren besteht, die Nervenreflexe aufzunehmen, festzuhalten, umzuändern und weiter zu übertragen«, wobei allerdings im Vergleich zwischen dem Menschen und seinen Nachbarn im Tierreich in dieser Hinsicht neben einer rein quantitativen Differenz (die zwischen höheren Wirbeltieren stattfindenden Reflexe »zeigen einen weniger complicirten Charakter, als die, von welchen die gegenseitige Thätigkeit der in der Gesellschaft lebenden Menschen abhängt«) durchaus

234 auch ein qualitativer, den Rahmen des Kontinuums der Quantitäten sprengender Unterschied besteht: »Der Affe wiederholt die vor seinen Augen ausgeführten Bewegungen und lernt sie ab. Er besitzt nicht die Fähigkeit, sich das Gesehene mit Bewusstsein anzueignen, die Eindrücke in sich festzuhalten und sie selbständig in einem solchen Grade zu verarbeiten, wie der Mensch es thut.« (a.a.O., 188)95 Was nun allerdings das Schlüsselproblem der »Uebertragung von Gedanken und Gefühlen von einem Menschen auf den anderen« betrifft, so muss v. Lilienfeld zwar zugeben, dass es sich dabei um ein Phänomen handelt, das für ihn »eben so wenig begreiflich« ist »wie der Uebergang der rein mechanischen Bewegungskraft von einem Körper auf einen anderen bei ihrem gegenseitigen Zusammenstoß« (a.a.O., 196); aber dies hindert ihn nicht - in Anwendung seiner Maxime, dass sich auch diffizilste Problemlagen gewissermaßen von selbst in ein Anwendungsbeispiel einfachster Gesetzmäßigkeiten verwandeln, wenn man sich »nicht scheut«, »die letzten Errungenschaften der Naturwissenschaft auch auf die Socialwissenschaft anzuwenden und bis in ihre äussersten Consequenzen zu verfolgen« (vgl. a.a.O., VI) -, das in Frage stehende Phänomen als solches als tatsächlich gegeben zu hypostasieren und außerdem noch zu behaupten, dass die Natur, angefangen bei der »einfachsten Form der Kraftübertragung« bis zur »Uebertragung von Gedanken und Gefühlen vermittelst der Sprache zwischen Menschen«, eine »unendliche Reihe von Wechselwirkungen« darbiete, »in der jede höhere Wechselwirkung der niederen so nahe steht, dass es unmöglich ist, irgendwo eine feste strenge Grenze aufzufinden« (a.a.O., 196). Unterschiede bestünden lediglich dahingehend, dass »bei Wechselwirkungen niederen Grades das Princip der Ursächlichkeit, der Notwendigkeit, der Unfreiheit vorherrscht)«, während »(sich) bei höheren unter merklichen Uebergängen, nach Maasgabe ihres Aufsteigens, immer mehr und mehr das Princip der Zweckmässigkeit, Vernunftgemässheit und Freiheit geltend (macht)« (196 f.). Dementsprechend »(vervollkommneten sich daher) mit der fortschreitenden Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft auch die Mittel zur Uebertragung des Denkens und Wollens. (...) Die Erfindung der Schrift und des Druckes machte die gleichzeitige Anwesenheit der Sprechenden an demselben Orte überflüssig. Gedanken und Empfindungen konnten, gleich des in inerten Körpern sich ansammelnden Uchtes, vermittelst der Schrift und des Druckes in realen Formen für unbestimmbar lange Zeiträume aujbewahrt werden, um zu gelegener Zeit wieder aus dem Verschluss als imponderable geistige Kraft hervorzutreten.« (197 - Hervorhn. P.K.)

235 Diesen sozusagen 'objektiven Geistesbatterien'96 korrespondieren auf Seiten der Individuen »die höheren Nervenorgane«, wobei »die Beschaffenheit, Empfänglichkeit und innere Spannung, welche das Nervensystem eines jeden Menschen zum Behälter des Bewusstseins, des Gedächtnisses, des Gefühls, des Gewissens, der Wahrnehmung des Rechten und Guten machen«, auf die gleiche Weise »Resultate des socialen Lebens« sind, »wie das Auge ein Product des Lichtes, das Gehör ein Product des Schalles, der Geruch ein Product riechbarer Stoffe ist«. (a.a.O., 207) Verfolge man dementsprechend den umgekehrten Weg, d.h. die »Uebertragung« der »in irgend welcher äusseren Form verborgene(n) geistige(n) Kraft ... auf irgend eine neue Persönlichkeit« (ebd.), dann zeige sich, dass »zwischen der Fortpflanzung des mechanischen Stosses vermittelst eines unorganischen Körpers und der Erregung der Nervenzellen des Gehirns« beispielsweise »durch ein gelesenes Buch nur ein relativer, durch die verhältnissmässig grössere Mannigfaltigkeit der Bewegung und die Freiheit der Entgegennahme bedingter Unterschied« bestehe; denn: »Die mechanische Bewegung wird, entsprechend der Masse des Körpers, in gerader Linie fortgepflanzt, und zwar augenblicklich, ohne dass die Bewegung aufgehalten wird; die Erregung der Nervenzellen des Gehirns durch ein Buch ist die Folge einer complicirteren und vielseitigeren Uebertragung einer Kraft, und die Uebertragung selbst hängt mehr oder weniger von dem ab, der die Bewegung empfangt; wobei der Grad der Erregung sowohl von der Empfänglichkeit der Person, als von der Spannung der im Buche vorhandenen latenten Kraft bedingt wird.« Und alles in allem »(erscheint) die geistige Kraft eines Buches, verglichen mit der mechanischen Kraft eines unorganischen Körpers, nur als eine verhältnissmässig grössere und höhere Quantität potentieller Energie«. (222) Nun sei zwar, so v. Lilienfeld weiter, in Hinblick auf die »Frage von der indirekten Uebertragung der Reflexe in der Gesellschaft« das Buch insofern eine »Prärogative Instanz«, als es »am treffendsten alle zur Erläuterung des zu untersuchenden Faktums erforderlichen Eigenschaften in sich vereinigt«, sei in ihm doch »in der That der ideale Faktor - die geistige Kraft - von überwiegender Bedeutung und am wenigsten vom rein physischen Faktor abhängig« - indes: »Auch in anderen Formen können sich die geistigen Kräfte des Menschen verkörpern. Die Erzeugnisse der Bau- und Bildhauerkunst, ein Gemälde, ein musikalisches Instrument sind faktisch eben solche Verkörperungen der Geisteskräfte des Menschen, wie ein Buch, und unterscheiden sich von diesem bei gleichem geistigen Inhalte nur durch die Verschiedenheit der Bedeutung des physischen Faktors.« (223)

236 Dies alles mit dem bereits entwickelten Konstrukt des »geistigen Kapitals« zu einer umfassenderen Konzeption zusammenzuführen und so etwas wie eine politische Ökonomie des »objektiven Geistes« zu etablieren, ist dann nur noch 'reine Formsache'; denn: »Die Erzeugnisse des Geistes und die künstlerische Verkörperung der ästhetischen Strebungen des Menschen bilden (unter Beihilfe eines gewissen Quantums physischer Anstrengung) eine Arbeit der höheren menschlichen Nervenorgane, völlig in derselben Weise, wie die Produkte des Landbaues, der Industrie, des Handels Resultate der Anspannung der physischen Kräfte des Menschen (mit einem gewissen Antheil geistiger Anstrengung) sind. Sowohl in einem wie im anderen Fall offenbart sich nach aussen eine in verschiedenen Formen sich kundgebende, in verschiedene Bewegungen übergehende Kraft. Daher hat auch in beiden Fällen die Verkörperung der Arbeit die gleiche Bedeutung, die Bedeutung eines Kapitals, sei es eines Produktions- oder Consumtionskapitals. (...) In beiden Fällen ..., je nach dem Ueberwiegen des physischen oder geistigen Faktors, gewinnt das Kapital eine vorwaltend geistige oder physische Bedeutung. (...) Hat es die Entwicklung unserer höheren Nervenorgane zum Zweck, so schreiben wir dem Kapital, auch wenn die Produktion desselben verhältnissmässig bedeutender physischer Anstrengungen bedurfte, eine geistige Bedeutung zu. (...) Aber wie in unserem Organismus geistige und physische Kräfte immer gemeinschaftlich thätig sind und einen stufenweisen Uebergang vom Niederen zum Höheren darstellen, so bildet auch ihre Verkörperung in der Gestalt von Kapitalien eine unendliche Reihe von Verbindungen, in denen das ideelle und materielle Element sich in verschiedenen Proportionen vereinigen.« (223 f.) Dabei verläuft die Produktion der betreffenden »Kapitalien«, 'technisch gesehen', wie folgt: »Indem wir Nahrung aufnehmen oder athmen, eignen wir uns an und verwenden zu unserem Nutzen diese oder jene Bewegung, die sich in uns als latente Kraft und Leistungsfähigkeit anhäuft. Dasselbe geschieht faktisch auch, wenn wir ein Buch lesen, ein Kunstwerk betrachten, eine edle sittliche Handlung bewundern. Unsere höheren Nervenorgane gerathen dabei in eine bestimmte Bewegung und Erregung, und wenn diese Erregung in uns Spuren hinterlässt, so eignen wir uns dieselbe an, verwenden die im Buche, in einem Gemälde, einer Statue, einer sittlichen Handlung enthaltene latente Kraft zu unserem Nutzen. Diese Kraft ging auf uns über und setzte sich als geistige und sittliche Entwicklung und Vervollkommnung thatsächlich ganz eben so in uns ab, wie die im Stickstoff oder Wasserstoff der Nahrung oder dem Sauerstoff der Luft enthaltene Kraft, die Verstärkung und das Anwachsen unseres persönlichen physischen Kapitals, unserer inneren materiellen Leistungsfähigkeit zur Folge hat.« (225)

237 Wendet man diese Vorstellungen nun auf das Konzept der »indirekten Reflexe« an, dann zeigt sich, dass »die Materie, die die Bewegung oder den Reflex fortpflanzt« letztlich nur ein »Fixationsapparat«, eine »meistenteils von uns selbst zu diesem Zweck reproducirte Maschine« ist, »gleichwie die Natur selbst ähnliche Maschinen innerhalb der Organismen in der Gestalt von nervösen Fixationsapparaten erzeugt«. Das heißt: »Ein von Menschenhänden errichtetes Denkmal ist eine, ausserhalb des Menschen künstlich vollbrachte Reproduktion Dessen, was die Natur im Menschen selbst in der Form von solchen Nervenorganen hervorbringt, welche die Spuren stattgehabter Vorgänge im Gedächtnis aufbewahren. Es ist, so zu sagen, die äussere Polarisation der menschlichen Erinnerung. Dasselbe läßt sich auch von der Offenbarung aller übrigen geistigen Kräfte und Bestrebungen nach aussen sagen, seien sie nun religiöser, wissenschaftlicher, ästhetischer oder sittlicher Art. Jede Kundgebung und Verkörperung derselben muss als ein Abdruck, eine äussere Polarisation der im Menschen enthaltenen geistigen Kräfte angesehen werden.« (ebd.)97 Bei alledem ist dann festzuhalten, dass im Unterschied vom Menschen »die Pflanze und das Thier ... nicht im Stande (sind), Gedanken, die sie beseelen, auf die sie umgebende Materie zu tibertragen. Sie kapitalisiren nicht geistig ausserhalb ihres eigenen Seins.« (226 - Hervorhn. P.K.)98 Zwar zeigen »die höheren Thiere, besonders die zu socialen Gruppen sich vereinigenden, wie die Bienen, Ameisen, Vögel, Affen, Biber usw. schon in hinlänglich starkem Grade das Bestreben und die Fähigkeit zur Kapitalisation von Gegenständen, deren sie zu ihrer physischen Existenz bedürfen«, die »Kapitalisation höherer psychischer Bestrebungen in der Gestalt von äusseren Zeichen und Formen« jedoch »ist nur dem Menschen eigen, obgleich auch hier sich solche stufenweise Uebergänge vom Niedrigen zum Höheren erkennen lassen, dass man nicht nachzuweisen im Stande ist, auf welcher Stufe der Entwickelung die Kapitalisation der physischen Kräfte in die der geistigen übergeht«. So »zeigen« etwa »die Laute, die einzelne niedere Tiere von sich geben, der Gesang der Vögel, die Art und Weise, wie die höheren Wirbelthiere sich miteinander verständigen, schon Anfange einer äusseren Kapitalisation von Gedanken, die im socialen Leben des Menschen als gegliederte Sprache, als Schrift und Druck, durch Vermittelung der complicirtesten musikalischen Instrumente in musikalischen Produktionen, vermittelst Farben in der Malerei u.s.w. sich kund thut«. (ebd.) Dabei erscheine dann »diese Kapitalisation und Specialisation« umso »vollkommener« und von umso »höherer Bedeutung«, »je höher der Mensch und die menschliche Gesellschaft sich entwickeln«. Beispielsweise bilde

238 »die bewegliche Schrift eines gedruckten Buches ein besseres Werkzeug für den Ausdruck von Gedanken, als eine Felswand, ein Tempel, ein Denkmal, denen Hieroglyphen und allegorische Figuren eingehauen sind. Und der Druck ist nicht nur desshalb als ein vollkommneres Werkzeug anzusehen, weil mittelst seiner die äussere Verkörperung von Gedanken mit geringerem physischem Kraftaufwande zu Stande gebracht wird, sondern hauptsächlich desshalb, weil die Generalisation, Concentration und Darstellung des Gedankens auf diese Weise durch einfachste Mittel erreicht wird und am raschesten circuliren kann«, so dass auch »die höheren Nervenorgane auf diesem Wege vollständiger, vielseitiger und schneller ausgebildet« werden. (226 f.) Nach alledem kann dann kein Zweifel daran bestehen, wie »ausserordentlich gross« die »Bedeutung der indirekten Reflexe in der Geschichte der Entwickelung der Menschheit« ist: »Gedanken, Gefühle, Begriffe, durch Schriftzeichen ausgedrückt oder durch Denkmäler der Kunst verkörpert, können unbestimmbare Zeiten hindurch der spätesten Nachwelt erhalten bleiben, sie können sich bis in's Unendliche vertheilen und vermehren, immer neue Gedanken, Gefühle, Begriffe erweckend, und so die Entwicklung der höheren Nervenorgane zahlloser Generationen befördern. - Dank den indirekten Reflexen scheinen Zeit und Raum bei der Entwicklung des Geistes fast nicht mehr von Einfluss zu sein. Religiöse Ideen, wissenschaftliche Wahrheiten, Schöpfungen der Kunst, die schon vor Jahrtausenden von der Menschheit errungen worden sind, dienen den noch jetzt lebenden Geschlechtern als Grundlage der weiteren ethischen Ausbildung. Jeder von uns kann durch Schrift und Druck, durch Wissenschaft und Kunst sich nicht nur mit den gegenwärtigen Bewohnern der entferntesten Gegenden des Erdballs, sondern mit allen zukünftigen Generationen in Verbindung setzen.« (231 f.) Aber nicht nur das. Durch die »indirekten Reflexe« wird auch »der menschlichen Gesellschaft und jedem ihrer Glieder eine erweiterte Freiheit und Selbständigkeit der Entwicklung« ermöglicht, »ohne dass der Zusammenhang mit dem gemeinschaftlichen, als Familie, Geschlecht, Nationalität, Staat und Menschheit erscheinenden Organismus dabei gelöst wird«. Das heißt, »die Vervollkommnungsfahigkeit, die Specialisation der Kräfte« ist »nicht mehr, wie in thierischen und pflanzlichen Individuen, beschränkt durch die Grenzen des vom Individuum eingenommenen Raumes oder durch die Kürze der Zeit seiner individuellen Existenz«, sondern sie ist »in der menschlichen Gesellschaft fast unabhängig von Zeit und Raum, die Frucht der Leistungen aller zu ihr gehörenden Glieder«. (232) Fast von selbst versteht sich dann auch die besondere Bedeutung, die in der Gesamtkonzeption v. Lilienfelds der Sprache als dem »Werkzeug höchster geistiger Reflexwirkung« zukommt. Sie ist, wie wir erfahren, »das ursprüngliche,

239 das wichtigste und allgemeinste Mittel geistiger Wechselwirkung zwischen den Menschen«. Durch die Sprache »pflanzten sich von Menschen zu Menschen, von Generation zu Generation, von Volk zu Volk vom ersten Tage der historischen Existenz der Menschheit Gedanken, Begriffe, Gefühle fort«, und »mit der fortschreitenden Entwicklung der Menschheit vervollkommnete sich auch dieses Werkzeug geistiger Mittheilung«; denn: »Ursprünglich nur aus einzelnen Lauten bestehend, verkörperte sich die menschliche Sprache mittelst der Schrift allmählig in immer festeren materiellen Formen, anfangs in Gestalt verschiedener hieroglyphischer Zeichen, darauf als geschriebenes und endlich als gedrucktes Wort erscheinend.« (234) Dabei »(nimmt) der in Hieroglyphen oder in der Schrift ausgedrückte, oder in einem Buche verkörperte menschliche Gedanke eine feste, sinnlich wahrnehmbare und zur Aufbewahrung geeignete Form an, in der er, so lange die für seine Weiterverbreitung vorhandenen Umstände sich ungünstig gestalten, unbeweglich Jahrhunderte hindurch aufbewahrt werden kann. Zeigt sich aber die umgebende sociale Sphäre wieder fähig, den Gedanken in sich aufzunehmen und weiter zu befördern, zeigt sie sich fähig, die in irgend einem Denkmal der Kunst, Wissenschaft oder Geschichte enthaltenen geistigen Kräfte an's Licht zu ziehen und sich anzueignen, dann geht der Gedanke von Neuem aus seiner inerten Unbeweglichkeit in den Zustand thätiger und bewegender Kraft über.« (236) Zugleich aber »(bildet) von allen Formen, in denen sich der menschliche Gedanke verkörpert, die Sprache diejenige, in welcher das ideelle Princip am allerwenigsten von der Materie abhängig ist, in der das physische Element, wenngleich mit dem geistigen vereinigt, doch auf das geringste Maass reducirt ist. (...) Die zur Kundgebung des menschlichen Gedankens vermittelst der Sprache verwandte Materie ist eine auf die höchste Stufe der Vergeistigung gebrachte Substanz. (...) Das Wort, als Laut, als Schrift oder Druck, diente alle Zeit, dem Menschen seine geistigen Kräfte nach aussen auf die zweckmässigste, freieste und idealste Weise zu äussern, und ihre Wirkung fast end- und schrankenlos in Zeit und Raum an den Tag zu legen.« (239, 240) Bei alledem »(liegt) zwischen dieser höchsten Verkörperung der Vernunft und Freiheit und der rein physischen Entwickelung des Menschen in der Gesellschaft, wie in der Natur zwischen der Kundgebung des unendlich beweglichen Lichtprinzips und der Inertie der festen, dunkeln und kalten Körper, eine endlose Menge der mannigfachsten, durch die verschiedenen Verbindungen der beiden zu Grunde liegenden Ursachen bedingten Erscheinungen«;

240 denn: »In den Erzeugnissen der Kunst verstärkt sich schon das unbewegliche, inerte physische Element. Noch mehr tritt es in der Industrie, der Landwirtschaft, im Handel und Gewerbe hervor. (...) Eine Maschine, ein Schiff\ eine Fabrik stellen eben so ideelle Strebungen des Menschen dar, wie die Sprache, nur mit dem Unterschiede, dass in ihnen das physische Element verhältnissmässig noch mehr das idealetiberwiegt,als in den Erzeugnissen der Kunst.« (240 - Hervorhbn. P.K.) Alles in allem, so das Resümee, »ist die Sprache das wichtigste Mittel für die Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft, das höchste Werkzeug der Kultur und Civilisation, die höchste Offenbarung der Vernunft und Freiheit« (ebd.); denn sie gibt nicht nur »das mächtigste Werkzeug des geistigen Zusammenhangs und der Verständigung zwischen den Menschen« ab, sondern ist auch »gleichzeitig der deutlichste Maassstab ihrer geistigen Entwicklung« (241). Und nicht allein, dass das »Wort« das »hauptsächlichste Werkzeug der geistigen Entwicklung des Menschen in der Gesellschaft« ist (244) - es ist zudem »das geistige Werkzeug, das der Mensch beständig mit sich trägt, das er im Verkehr mit seines Gleichen in keinem Fall entbehren kann«; mehr noch: »Die Sprache bildet die geistige Atmosphäre, in welcher der Mensch von der Wiege bis zum Grabe sich ständig bewegt.« (243) Bei alledem »(schreitet) die progressive Entwicklung der höheren Nervenorgane auch gegenwärtig noch immer fort«; denn: »Unter dem Einflüsse der neueren Civilisation entwickelt sich die jetzt lebende Generation geistig, sittlich und ästhetisch weiter, als die vorhergegangenen; zu dem von diesen überkommenen Kapital fügt sie die Arbeit ihres eigenen Lebens und übergiebt wiederum diese kapitalisirte Arbeit als Summe und zugleich damit als Fähigkeit zu weiterer Entwickelung der höheren Nervenorgane den nachfolgenden Geschlechtern.« (256) Und indem »das früher aufgehäufte Kapital sich immer mehr concentrirt, von den neu gesammelten Kräften immer weiter zurückgedrängt wird und zur Entfaltung seiner Kräfte eines stets geringeren Zeitraumes bedarf«, wird »tausendjährige« von der Menschheit auf die Ausbildung dieser Kräfte verwandte Arbeit »in dem Menschen der Gegenwart nur durch Jahre, Monate, bisweilen vielleicht einzelne Augenblicke repräsentirt. Und diese Periode durchlaufen wir schon in der Kindheit und Jugend ohne Mühe, zum Theil selbst unbewusst, vermöge der Jahrhunderte hindurch aufgesammelten Kraftverdichtungen, vermöge des geistigen Kapitals, das unsere Vorfahren durch ihre Arbeit zusammengetragen und uns hinterlassen haben.« (257)

241 11. Schlussbetrachtung In der Tat: Man braucht, so scheint es, aus dem Ansatz v. Lilienfelds nur die offensichtlichsten Absurditäten herauszustreichen, ihn dann 'auf das Wesentliche' zu komprimieren und schließlich noch ein paar geschickt gewählte MarxZitate einzuarbeiten, und man hat im Prinzip schon das leontjewsche »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept. Sicher, um dieses Konzept vollständig von seinen »verborgenen Quellen« her zu rekonstruieren, ist es notwendig, auch noch bestimmte Arbeiten anderer Autoren, wie etwa A. Schäffle (1831-1904)", G. Simmel (1858-1918)100, E. Cassirer (1874-1945)101 oder H. Freyer (18871969)102, mit einzubeziehen. Ein präzisierender Hinweis, durch den freilich das Ergebnis der vorliegenden Studie nicht etwa in seiner Aussagekraft beeinträchtigt wird, sondern durch den, im Gegenteil, nur noch deutlicher wird, dass wir es bei dem von Leontjew propagierten Paradigma keineswegs mit einem »inneren Ausbau marxistisch begründeter Wissenschaft« (Holzkamp & Schurig, 1973, XII) zu tun haben, es sich dabei vielmehr um ein seinem Ursprung und Wesen nach eindeutig der außer- bzw. antimarxistischen Tradition zuzurechnendes Denkmodell handelt, das darüber hinaus 'rein wissenschaftlich gesehen' unhaltbar ist. Gewiss eine bittere Erkenntnis, die indes nicht nur das Selbstverständnis der Kritischen Psychologie, sondern das Selbstverständnis aller berührt, die, durch einige 'passende' Marx-Zitate getäuscht, die leontjewschen Konstruktionen als den Prototypen einer direkt an Marx anknüpfenden Psychologie missverstanden haben. Dabei wäre es allerdings wohl kaum die angemessenste Weise einer Verarbeitung dieser Erkenntnis, die ganze Angelegenheit als eine »persönliche Verirrung« Leontjews abzutun und so ihre Bedeutung herunterzuspielen - umso weniger, als ja im Rekurs auf einschlägige Texte Rubinsteins, Kurellas und Iljenkows sowie das von Batischtschew für die Große Sowjetenzyklopädie verfasste Stichwort »Vergegenständlichung und Entgegenständlichung« gezeigt werden konnte, dass es sich beim »Fall Leontjew« in Wahrheit nur um die sprichwörtliche »Spitze des Eisbergs« handelt. Wenn andererseits in diesem Zusammenhang das so gern und dabei gewöhnlich auch noch leichtfertig gebrauchte Schlagwort vom »Stalinismus« in der Wissenschaft umso weniger angebracht erscheint, als ja gerade Kurella, Leontjew und Iljenkow von ihren Anhängern als Protagonisten eines dezidiert antistalinistischen Wissenschaftsverständnisses gefeiert werden, so muss freilich mit Nachdruck daran erinnert werden (vgl. Kap. 3.1. der vorangegangenen Studie), dass es der gewaltsamen Etablierung des unter dem Etikett des »Marxismus-Leninismus« firmierenden stalinistischen Wissenschaftsverständnisses und der damit einhergehenden systematischen Verketzerung des humanistischen Materialismus

242 eines Ludwig Feuerbach bedurft hatte, damit überhaupt erst neukantianisch und neuhegelianisch inspirierte Marx-Interpretationen ä la Lukäcs103, Cornu104, Rubinstein, Kurella (eine Aufzählung, die sich leicht durch ein halbes Dutzend anderer Namen erweitern ließe) ihre am Ende so durchschlagende und lang anhaltende Wirkung entfalten konnten. Genau besehen ist der von Leontjew propagierte, um das »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept zentrierte Ansatz also in der Tat so etwas wie eine 'Nachgeburt' des Stalinismus. Und insofern sollte es denn auch nicht verwundern, wenn eine tiefer gehende Untersuchung zu dem Ergebnis führt, dass der von ihm, Iljenkow und anderen so vehement bekämpfte »Biologismus« einerseits und die Theorie des »objektiven Geistes« andererseits in Wahrheit eben nur zwei Seiten ein und derelben Medaille sind, sie daher auch nicht notwendig immer als sich einander ausschließende Alternativkonzeptionen auftreten müssen, vielmehr, wie bereits am 'historischen' Beispiel v. Lilienfelds verdeutlicht, sich im Rahmen ein und derselben Konzeption durchaus auch wechselseitig ergänzen können105.

Anmerkungen zur 3. Studie *) Mein Dank gilt Rene Ahlberg, Andreas Arndt, Peter Beurton, Sebastian Gerhardt, Georg Gimpl, Siegfried Jaeger, Walter Jaeschke, Klaus Christian Köhnke, Alfred Lang, Werner Röhr, Peter Ruben, Hans-Dieter Schmidt, Werner Schuffenhauer, Lothar Sprung, Gisela Ulmann und Marco Winkler, die auf unterschiedlichste Weise das Zustandekommen dieser Studie unterstützt haben. 1 Bezeichnenderweise konnte sich selbst ein L. Sfeve, der in »Marxismus und Theorie der Persönlichkeit« noch gewisse (freilich eher 'instinktiv' begründete als auf einer systematischen Kategorialanalyse beruhende) Bedenken gegen diese Konstruktion angemeldet hatte (vgl. Seve, 1972, 61 f.), am Ende nicht mehr den Einflüsterungen des 'Zeitgeistes' verschließen (vgl. etwa Sfeve 1987, 209). 2 Tatsächlich heißt es nämlich bei Wygotski in seiner 'reflextheoretischen' Begründung der »Soziologisierung des gesamten Bewußtseins«: »Beim Menschen läßt sich leicht eine Gruppe von Reflexen feststellen, die man berechtigterweise als umkehrbar bezeichnen könnte« (ASch Bd. 1, 304), wobei als der herausragende Repräsentant dieser Art von Reflexen die Sprache anzusehen sei; denn: »Das gehörte Wort ist ein Reiz, das gesprochene ein Reflex, der ebenjenen Reiz schafft. Hier ist der Reflex umkehrbar, weil der Reiz zur Reaktion werden kann und umgekehrt. Diese umkehrbaren Reflexe, die die Grundlage für das Sozialverhalten bilden, dienen der kollektiven Koordination des Verhaltens.« (ebd.) Das bedeutet, dass »(sich) aus der ganzen Masse von Reizen«, die ständig auf mich einwirken, »deutlich eine Gruppe heraus(hebt) - die Gruppe der sozialen, von den Menschen ausgehenden Reize«, wobei »das Besondere« daran ist, »daß ich selbst diese Reize

243 reproduzieren kann, daß sie für mich sehr bald zu umkehrbaren Reizen werden und folglich mein Verhalten in anderer Weise bestimmen als alle übrigen. Sie gleichen mich anderen an, machen meine Akte sich selbst identisch.« (ebd.) Man könne daher sagen, dass »im weiten Sinne des Wortes gerade in der Sprache die Quelle des Sozialverhaltens und des Bewußtseins (liegt)«. Wenn dies aber der Fall ist, »dann heißt das, der Mechanismus des Sozialverhaltens und der Mechanismus des Bewußtseins sind ein und dasselbe« eine Einsicht, in der dann auch der Schlüssel zur Lösung des »Problems des fremden Ich, des Problems, [die] fremde Psyche zu erkennen« zu suchen ist. Denn, so Wygotski: »Der Mechanismus der Selbsterkenntnis und der Fremderkenntnis ist ein und derselbe.« (ebd. - Einfüg. in eckigen Klammern P.K.) Eine These, die erheblich von den »üblichen Lehren vom Erkennen der fremden Psyche« abweicht, da diese Lehren entweder eine prinzipielle Nichterkennbarkeit von Fremdpsychischem behaupten oder aber versuchen, das Problem über die Konstruktion eines Analogie-Mechanismus zu lösen, in welchem die Erkenntnis des eigenen Ich, d.h. das Bewusstsein der eigenen psychischen Vorgänge, den Ausgangs- und Referenzpunkt bildet, nach dem Motto: »Wir erkennen andere so weit, wie wir uns selbst erkennen; indem ich des anderen Wut erkenne, reproduziere ich meine eigene Wut.« (a.a.O., 304 f.) Folgt man Wygotski, dann wäre es »in Wirklichkeit richtiger, es umgekehrt zu sagen«. Nämlich: »Wir erkennen uns selbst, weil wir andere erkennen, und auch in derselben Art und Weise, wie wir andere erkennen, weil wir in Beziehung zu uns selbst eben das darstellen, was die anderen in Beziehung zu uns sind. Ich erkenne mich nur so weit, wie ich für mich ein anderer bin, das heißt, soweit ich eigene Reflexe als neue Reize erneut wahrzunehmen vermag. Zwischen dem Vorgang, daß ich ein lautlos gesprochenes Wort laut wiederholen, und dem, daß ich das von einem anderen gesprochene Wort wiederholen kann, besteht im Prinzip keinerlei Unterschied, wie es auch keinen prinzipiellen Unterschied in dem Mechanismus gibt: Sowohl das eine als auch das andere ist ein umkehrbarer Reflex/Reiz.« (305) Akzeptiert man diese Hypothese, dann folgt nach Wygotski daraus »unmittelbar die Soziologisierung des gesamten Bewußtseins, die Anerkennung dessen, daß dem sozialen Moment im Bewußtsein die zeitliche und die faktische Priorität zukommt. Das individuelle Moment entsteht als abgeleitetes, sekundäres, auf der Basis des sozialen und exakt nach seinem Muster. Darauf ist die Duplizität des Bewußtseins zurückzuführen.« (ebd.) Was, knapper formuliert, auf den Gedanken hinausläuft, »daß der Mechanismus des Bewußtseins und der des sozialen Kontakts identisch sind und das Bewußtsein gleichsam ein sozialer Kontakt mit sich selbst ist« (306). Feuerbach, dies zum Vergleich, hatte sich im »Wesen des Christentums« zum selben Thema folgendermaßen geäußert: »Was ist aber dieser wesentliche Unterschied des Menschen vom Tiere? Die einfachste und allgemeinste, auch populärste Antwort auf diese Frage ist: das Bewußtsein - aber Bewußtsein im strengen Sinne; denn Bewußtsein im Sinne des Selbstgefühls, der sinnlichen Unterscheidungskraft, der Wahrnehmung der äußern Dinge nach bestimmten sinnfälligen Merkmalen, solches Bewußtsein kann den Tieren

244 nicht abgesprochen werden. Bewußtsein im strengsten Sinne ist nur da, wo einem Wesen seine Gattung, seine Wesenheit Gegenstand ist. (...) Das Tier hat daher nur ein einfaches, der Mensch ein zweifaches Leben: Bei dem Tiere ist das innere Leben eins mit dem äußern - der Mensch hat ein inneres und äußeres Leben. Das innere Leben des Menschen ist das Leben im Verhältnis zu seiner Gattung, seinem allgemeinen Wesen. Der Mensch denkt, d.h., er konversiert, er spricht mit sich selbst. Das Tier kann keine Gattungsfunktion verrichten ohne ein anderes Individuum außer ihm; der Mensch aber kann die Gattungsfunktion des Denkens, des Sprechens - denn Denken, Sprechen sind wahre Gattungsfunktionen - ohne einen andern verrichten. Der Mensch ist sich selbst zugleich Ich und Du; er kann sich selbst die Stelle des andern vertreten, ebendeswegen, weil ihm seine Gattung, sein Wesen, nicht nur seine Individualität, Gegenstand ist.« (zit. nach GW 5, 28 u. 29) 3 Noch vor der Veröffentlichung des französischen Originaltextes im Rahmen der Symposiums-Dokumentation, die 1958 unter dem Titel »Le conditionnement et l'apprentissage« erschien, wurde bereits im ersten Heft des Jahrganges 1957 der sowjetischen Fachzeitschrift Woprossy psichologii eine leicht überarbeitete und »Das Lernen als Problem der Psychologie« betitelte russischsprachige Version des Vortrages publiziert. Diese Version bildete dann auch die Vorlage für die deutsche Fassung, die in den von J. Lompscher betreuten Sammelband »Probleme der Lerntheorie« (31972) aufgenommen wurde. 4 Vgl. Leontjew 1957, 16 sowie Löontiev 1958, 186. 5 Wie im Vergleich mit der in den Woprossy psychologii publizierten Textversion deutlich wird (siehe die nächste Anmerkung), bezieht Leontjew sich hierbei auf eine von Wygotski in seinen letzten beiden Lebensjahren entwickelte Konzeption (zu deren ausführlicher Darstellung vgl.: ASch Bd. 2, 82-85 u. 300 sowie die zweite Studie in diesem Band, Kap. 4.1.). 6 Der Paralleltext im Woprossy-Artikel lautet: »Nur beim Menschen wird das Lernen zu einem Prozeß, in dessen Verlauf die historisch gesammelte Erfahrung dem Individuum übermittelt wird. Selbst bei den einfachsten Formen des Lernens, zum Beispiel während das Kleinkind unterwiesen wird, den Löffel zu gebrauchen, schaltet sich der Erwachsene aktiv in die Handlung ein, die das Kind vollzieht. In unserem Falle legt er dem Kind den Löffel in die Hand, korrigiert die Handstellung und hilft dem Kind, den Löffel richtig zu gebrauchen. Die Handlung wird gleichsam zwischen den Lehrenden und den Lernenden aufgeteilt. Diese Etappe des Erlernens einer Handlung bezeichnet Wygotski als Stadium der 'Zusammenarbeit'. Der Grad und die Formen der Beteiligung des Lehrenden an den Handlungen des Lernenden können natürlich recht unterschiedlich sein. Oft vollzieht sich diese Beteiligung nur auf sprachlicher Ebene. Beim Lernen im engeren Sinne des Wortes gibt es jedoch immer ein Stadium, in dem die Mitarbeit des Lehrenden notwendig ist. Es ist für den Lernprozeß sehr wichtig, denn hier wird der Inhalt des anzueignenden Prozesses aufgebaut. Wygotski hat die Bedeutung des genannten Stadiums experimentell nachgewiesen. Er untersuchte die Fähigkeit der Kinder, mannig-

245 fache intellektuelle Aufgaben mit Hilfe des Erwachsenen zu lösen. Parallel dazu verfolgte er, wie die Jungen und Mädchen analoge Aufgaben selbständig bewältigten. (...) Wie er feststellte, ist das erste Verfahren erheblich wirksamer. 'Was das Kind heute mit Hilfe eines anderen Menschen zu bewältigen vermag, kann es morgen selbständig vollbringen' (1956; S. 448). (...) Das Lernen in engerem Sinne setzt stets eine Widerspiegelung der Wirklichkeit in Form des Bewußtseins voraus. Mit anderen Worten: Zum Lernen sind sprachliche Widerspiegelungsmechanismen erforderlich. Diese Mechanismen formen sich zugleich während des Lernens, und zwar durch das Erlernen der Sprache.« (1972, 21 f.; zum Zitat im Zitat vgl. ASch Bd. 2, 300) 7 Vgl. Leontjew 1957, 11. 8 Vgl. die diesbezügliche Fußnote in Leontjew 1972, 23. 9 Sicher, Leontjew verweist im Zusammenhang der Feststellung, dass »der Lernprozeß (beim Menschen) nicht nur komplizierter« wird, sondern »auch zu anderen qualitativen Formen (gelangt)«, wobei »diese Vorgänge durch die grundlegenden Veränderungen des Verhaltens und der psychischen Widerspiegelung (bestimmt werden), die mit der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft entstehen«, auf die »Dialektik der Natur« von Engels (vgl. 1972, 19 sowie 1958, 176 u. 187) - aber dieser Hinweis ist, was die Quellenangabe anbelangt, zu unspezifisch und die durch ihn 'fundierte' theoretische Aussage zu trivial, als dass man ernsthaft davon sprechen könnte, der Rekurs auf Marx und/oder Engels sei für die von Leontjew zu diesem Zeitpunkt vertretene Auffassung der Spezifik menschlicher Erfahrungsbildung von konstitutiver Bedeutung. 10 Während der (einmalige) Verweis auf Engels letztlich nur eine Leerformel ist, kommt dem wiederholten Rekurs Leontjews auf Pawlow in der Tat konstitutive Bedeutung zu. So heißt es eingangs des Wöprassy-Artikels: »In seinen klassischen Versuchen stellte sich Pawlow die Aufgabe, die Bewegungsgesetze der Nervenprozesse zu erforschen, mit denen die bedingtreflektorische Tätigkeit des Gehirns realisiert wird. Diese Tätigkeit bildet die physiologische Grundlage jeglichen Verhaltens, einschließlich seiner kompliziertesten, spezifisch menschlichen Formen.« (1972, 13, in nämlichem Sinne 1958, 171). Insofern kann denn auch aus der anschließenden Explikation der Spezifik der menschlichen Erfahrungsbildung keineswegs abgeleitet werden, daß beim Menschen »das reflektorische Wesen des Verhaltens und der psychischen Widerspiegelung 'aufgehoben'« sei; »im Gegenteil«, so das Fazit Leontjews: »Wir müssen sogar von der Reflextheorie ausgehen, um menschliches Verhalten und menschliches Bewußtsein wirklich erklären zu können.« (1972, 30; in der Vortragsversion fehlt dieser Passus) 11 In diesem Zusammenhang ist der Hinweis durchaus angebracht, dass es sich auch bei der Verwendung des Ausdruckes »Aneignung« (russ. = »owladenije«, »uswojenije« bzw. »oswojenije«) im Sinne des »assimilierenden« Erwerbs von Kenntnissen, Fertigkeiten, Gewohnheiten usw., durch den diese dann zu einem »inneren Eigentum« der jeweiligen Person werden bzw. mit deren Wesen verschmelzen, keineswegs, wie bisweilen unterstellt wird, um ein Spezifikum der »kulturhistorischen Theorie« handelt. Vielmehr haben

246 wir es dabei mit einem auf bestimmte Grundvorstellungen J.G. Herders (1784/1785) einerseits und J.G. Fichtes (1793) andererseits zurückgehenden Topos zu tun, der bereits im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts fest im pädagogisch-psychologischen Diskurs etabliert war und von Wygotski und seinen Mitarbeitern bei der Ausarbeitung des »kulturhistorischen« Ansatzes unreflektiert übernommen wurde. Hier sei nur daran erinnert, dass der des öfteren von Wygotski zitierte K. Groos in seinem berühmten Buch »Die Spiele der Menschen« (1899) nicht nur von einer »Aneignung der von anderen erworbenen Gewohnheiten« spricht (a.a.O., 362), sondern im gleichen Zusammenhang auch darauf hinweist, dass sich »von allen unseren Kulturerrungenschaften ... so gut wie nichts physisch zu vererben« scheine, es vielmehr eine »nicht mehr physische, bloss noch 'sociale' Vererbung der Kultur von Geschlecht zu Geschlecht« gebe (a.a.O., 364). Und in K. Koffkas »Grundlagen der psychischen Entwicklung« (ein Buch, auf das sich Wygotski ebenfalls sehr häufig bezieht) heißt es: »Die Loslösung von der Wirklichkeit, wie sie unserm Denken möglich und geläufig ist, ist ein spezifisches Erzeugnis unsrer Kultur. Das Kind muß in kurzer Zeit einen ungeheuren Weg zurücklegen, wenn es sich unsre Art zu denken, die nicht die ihm natürliche ist, aneignet.« (21925, 254) (Zu präziseren Daten der Ideengeschichte der Aneignungsmetapher sowie zu ihrer Kritik vgl. unten, Anm. 38) 12 Von nicht unbedeutendem Einfluss auf die Neubestimmung des eigenen Standortes dürften die Einlassungen einiger anderer Teilnehmer des Straßburger Symposiums gewesen sein, mit denen Leontjew unmittelbar im Anschluss an sein Referat konfrontiert worden war, insbesondere die (vordergründig als Kompliment kaschierte) Kennzeichnung seiner Konzeption als mittlerweile reichlich angejahrten »Versuch, auf der Ebene des zweiten Signalsystems die Lehren Pawlows und Wygotskis zu vereinigen: einerseits die reflexologische Grundlage und andererseits die Berücksichtigung der gesellschaftlichen Einflüsse, die in die Entwicklung des Kindes hineinwirken« (Zazzo 1958, 196 - Übers. P.K.). 13 Diese Arbeit wurde im Jahre 1959 gleich zweimal publiziert: einmal als Beitrag zu dem von der Akademie der pädagogischen Wissenschaften der RSFSR herausgegebenen zweibändigen Sammelwerk »Die psychologische Wissenschaft in der UdSSR«, das andere Mal als zentrales Kapitel des später auch hierzulande sehr bekannt gewordenen Buches »Probleme der Entwicklung des Psychischen«, in dem Leontjew eine Anzahl von Texten zusammengestellt hatte, die, »zu verschiedenen Zeitpunkten verfaßt«, »verschiedene Aspekte des Entwicklungsproblems« behandeln (vgl. Leontjew 1973a, 1). 14 Dieser Aufsatz geht auf einen Vortrag Leontjews über die Prinzipien der psychischen Entwicklung des Kindes und das Problem des geistigen Zurückbleibens zurück, den er für ein 1959 in Mailand von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) veranstaltetes internationales Seminar ausgearbeitet hatte; er wurde gleichfalls in die »Probleme der Entwicklung des Psychischen« aufgenommen.

247 15 Die von Leontjew in der Arbeit über die historische Methode in der Psychologie vorgestellte Konzeption bildete auch die Grundlage für seinen dem Problem der Fähigkeiten gewidmeten Vortrag auf dem I. Kongress der Unionsgesellschaft der sowjetischen Psychologen, der vom 29. Juni bis zum 4. Juli 1959 in Moskau stattfand (auf dem Kongress war direkt ein spezielles Symposium zum Problem der psychischen Fähigkeiten vorgesehen). Der Vortragstext wurde unter dem Titel »Über die Bildung von Fähigkeiten« im ersten Heft des Jahrganges 1960 der Zeitschrift Woprossy psichologii veröffentlicht und erschien bereits im darauffolgenden Jahr im Rahmen einer »Beiträge zum Begabungsproblem« betitelten Broschüre auch in deutscher Sprache. 16 Vgl. Leontjew 41981, 374. Dieser (in den deutschen Fassungen der Leontjew-Texte nicht nachvollziehbare!) Austausch der Termini (an die Stelle von »uswojenije« tritt »priswojenije«) ist, wie sich zeigt, einer der entscheidenden ' Knackpunkte' der leontjewschen Konzeption von 1959. Dem bis dahin von ihm verwendeten russischen Wort entspricht nämlich innerhalb des deutschen Nominalkomplexes »Aneignung« sowohl die Bedeutungsdimension der »Aneignung in physischer Hinsicht (iIntussusceptio)« (= »innige Aufnahme fremder Stoffe in den organischen Körper, um sie demselben zu verähnlichen und ihn dadurch in seiner Integrität zu erhalten«) (vgl. W.T. Krugs »Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften«, 1. Bd., 1832, 144; Leontjew 1973b, 24; Leontjew 1981, 39) als auch die der »Aneignung in psychischer Hinsicht, durch die man sich fremde Vorstellungen, Fertigkeiten und andre Vorzüge oder Fehler, selbst Tugenden und Laster, zu eigen machen kann« (Krug, a.a.O.). Der neu eingeführte Terminus »priswojenije« hingegen korrespondiert der juristisch-ökonomischen Bedeutung des deutschen Wortes »Aneignung«: »Aneignung in rechtlicher Hinsicht (appropriation ist diejenige Handlung, durch welche man eine Sache, die bisher entweder gar keinen oder einen andern Herrn hatte, zu seinem Eigenthume macht.« (Krug, a.a.O.) Die Pointe der leontjewschen Konzeption ist also, dass er nun (mit Blick auf Marx) von »Aneignung« im juristisch-ökonomischen Sinne redet, von der Sache her aber weiterhin »Aneignung« im biologisch-psychologischen Sinne meint - ein Quidproquo, das formal dadurch ermöglicht wird, dass er beiläufig einfach eine Bedeutungsäquivalenz von »uswojenije« bzw. »owladenije« einerseits und »priswojenije« andererseits unterstellt: »prozess priswojenija ili owladenija« (1981, 375) bzw. »tschto prozess uswojenija ili priswojenija« (1960, 11). Auf diese Weise bleiben dann innerhalb seines Aneignungskonzepts einerseits all diejenigen Vorstellungen als Bedeutungsmomente wirksam, mit denen in der einschlägigen Literatur traditionellerweise die Aneignungsmetapher unterlegt ist (vgl. hierzu ausführlicher Anm. 38) - andererseits wird aber auch ein weder intensional noch extensional genau bestimmbares »Mehr« an Bedeutung reklamiert, das im Fundus all jener Vorstellungen gründen soll, »die Marx im Sinn hat, wo immer er von 'Aneignung' spricht« (sei dies nun in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten«, der »Deutschen Ideologie«, den »Grundrissen« oder im »Kapital«).

248 17 In dieser deutlichen Relativierung wird offenbar der von P. Oldron auf dem Straßburger Symposium gegen Leontjew geltend gemachte Einwand reflektiert, dass er die Sprache als Kriterium spezilisch menschlicher Lernprozesse überstrapaziere: »Es scheint mir eine ziemlich ernste Gefahr für die Psychologie, jedesmal die Sprache zu bemühen, wenn man bei menschlichen Subjekten einen Verhaltenstyp - in diesem Fall das Lernen - feststellt, den es beim Tier nicht gibt und der offenbar die Möglichkeiten des Tieres übersteigt. Es ist außerdem eine Attitüde, die man beinahe schon als 'klassisch' bezeichnen könnte, da man sie bereits bei verschiedenen Zeitgenossen Pawlows oder sogar noch früheren Autoren antrifft.« (Oleron 1958, 204 - Übers. P.K.). 18 Als erste Orientierungshilfe diente dabei das bereits 1975 in deutscher Sprache erschienene Buch J.A. Budilowas »Philosophische Probleme in der sowjetischen Psychologie«. 19 Bei dem betreffenden, erstmals 1960 in den Woprossy psichologii veröffentlichten, Text handelt es sich um den Wortlaut des Referates, das Rubinstein für das Spezialsymposium zum Problem der Fähigkeiten vorbereitet hatte, welches im Rahmen des I. Kongresses der Unionsgesellschaft der sowjetischen Psychologen durchgeführt werden sollte (vgl. oben, Anm. 15). Die für dieses Symposium vorgesehenen Referenten (außer Leontjew und Rubinstein waren dies G.S. Kostjuk und W.N. Mjasischtschew) publizierten ihre Thesen vorab in dem Sammelband »Thesen der Referate auf dem I. Kongress der Gesellschaft der Psychologen« (Heft 3, Moskau 1959), so dass sie in ihren Vorträgen direkt aufeinander Bezug nehmen konnten. Da indes Rubinstein wegen einer schweren Erkrankung dem Kongress selbst fernbleiben musste und ein halbes Jahr später (11. Januar 1960) verstarb, konnten die zwischen ihm und Leontjew bestehenden Streitpunkte nicht mehr abschließend geklärt werden, (vgl. Bruschlinski 1979, 214) Die deutsche Fassung seines Vortragstextes erschien (ebenso wie die des leontjewschen Kongressreferates) erstmals in der schon erwähnten, 1961 herausgegebenen Broschüre »Beiträge zum Begabungsproblem« und dann noch einmal 1979 im Rahmen des von A.W. Bruschlinski mit ausführlichen Kommentaren versehenen Sammelbandes »Probleme der Allgemeinen Psychologie«, der bereits 1973 in russischer Sprache veröffentlicht worden war und Arbeiten Rubinsteins aus den Jahren 1934 bis 1959 enthält. 20 Tatsächlich hatte Leontjew in der Arbeit über die historische Methode in der Psychologie an exponierter Stelle darauf hingewiesen, dass die »Interiorisierung, das heißt die allmähliche Umbildung äußerer in innere, geistige Handlungen« ein zentraler Mechanismus der individuellen psychischen Entwicklung sei, »ein Prozeß, der sich in der Ontogenese des Menschen zwangsläufig vollzieht«. Er habe insofern obligatorischen Charakter, als es »der Hauptinhalt der kindlichen Entwicklung« sei, »die Errungenschaften der menschlichen Entwicklung, etwa die Errungenschaften des menschlichen Denkens und der menschlichen Erkenntnis, zu erwerben«. Diese »Errungenschaften«, so Leontjew, »offenbaren sich dem Kinde zunächst als äußere Erscheinungen, in Form von Gegenständen, Begriffen und Kenntnissen. Ihre Einwirkung ruft bei den Jungen und Mädchen irgendwelche Reaktionen hervor, die anfanglich allerdings nur deren gegen-

249 ständlicher Seite und nicht den spezifischen Eigenschaften entsprechen. Sie werden demnach noch im ersten Signalsystem und nicht über das Prisma der verallgemeinerten Erfahrung der gesellschaftlichen Praxis widergespiegelt. Soll das Kind diese Erscheinungen in ihrer spezifischen Eigenschaft, in ihrer Bedeutung, widerspiegeln, dann muß es ihnen gegenüber Handlungen vollziehen, die der in ihnen 'vergegenständlichten' und verkörperten menschlichen Tätigkeit adäquat sind. Handelt es sich um eine geistige Erscheinung, beispielsweise um irgendeinen Begriff, dem das Kind begegnet, dann muß es die entsprechende geistige, gedankliche Tätigkeit vollziehen. (...) Soll das Kind geistige Handlungen erlernen, die der Aneignung historisch gebildeter Kenntnisse und Begriffe zugrunde liegen, dann muß es von äußeren, entfalteten Handlungen zu solchen auf sprachlicher Ebene übergehen, die dann allmählich interiorisiert und zu zusammengedrängten geistigen Operationen, zu Denkakten werden. Dieser Prozeß muß natürlich nicht immer alle Stufen durchlaufen und alle Glieder einer neu zu bildenden geistigen Handlung umfassen. Bereits gefestigte geistige Handlungen treten selbstverständlich beim Erlernen einer neuen Handlung als fertige Denkfähigkeiten auf, die nur in Gang gesetzt zu werden brauchen. Das erweckt mitunter den Anschein, als sei die Interiorisierung äußerer Handlungen lediglich ein Sonderfall, dem wir hauptsächlich auf den ersten Stufen der geistigen Entwicklung begegnen. In Wirklichkeit muß sich dieser Prozeß in der Ontogenese des Menschen unbedingt vollziehen. Er ist von grundsätzlicher Bedeutung und bildet den Schlüssel für das Verständnis der psychischen Entwicklung des Menschen.« (1973c, 296 f. u. 299 f.) 21 So sollte ja bereits seine eigentümliche Wiedergabe des 'Kernsatzes' der 6. Feuerbach-These (»den Menschen als 'Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse' betrachten«) zu denken geben! Es hieße indes erheblich über die mit der Aufgabenstellung dieser Studie vorgegebenen thematischen Grenzen hinausgehen, wollten wir die Frage der Adäquatheit der rubinsteinschen Marx-Rezeption erschöpfend behandeln (in welchem Zusammenhang ja notwendig auch auf das heikle Problem der Authentizität der offiziellen russischen Marx-Übersetzungen eingegangen werden müsste). Daher mag an dieser Stelle der Hinweis genügen, dass zwar der von Rubinstein gegen Leontjew erhobene Vorwurf, er betreibe mit seiner Berufung auf Marx einen regelrechten Etikettenschwindel, zu vollem Recht besteht (was freilich in der achtzehn Jahre später von A. Wacker formulierten LeontjewKritik noch viel klarer herauskommt als bei Rubinstein selbst), dass zugleich aber auch sein eigener Versuch, den Bedeutungsgehalt des 'eigentlichen' marxschen Aneignungsbegriffs auf den einer »politischen« Kategorie zu reduzieren, jenem Bedeutungsreichtum keineswegs gerecht wird, durch welchen sich die marxsche Begrifflichkeit tatsächlich auszeichnet (und dies beileibe nicht bloß in den »Frühschriften«, sondern auch in den Werken des »reifen« Marx - vgl. hierzu ausführlicher Keiler 1988b sowie Keiler 1990a). So wird etwa, wenn man die strittige Passage der »Deutschen Ideologie« vor dem Hintergrund der »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie« liest (vgl. insbes. MEW 42, 400-407), ohne weiteres einsichtig, dass hier von mehr die Rede ist als nur von einem revolutionären Umsturz der juristi-

250 sehen Eigentumsverhältnisse, nämlich von dem, was Marx die »wirkliche Aneignung« nennt. In der Tat kann es über den 'tieferen' Sinn der Bestimmung, wonach »die Aneignung einer Totalität von Produktionsinstrumenten die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst« ist, keinerlei Zweifel mehr geben, wenn man sie mit Marx' Ausführungen über die handwerksmäßige Arbeit im Rahmen des Zunft-Korporationswesens zusammenliest, »wo das Eigentum an dem Instrument oder das Verhalten des Arbeiters zum Instrument als eignem (...) schon als selbständige Form gesetzt ist, neben und außer dem Grundeigentum« und »die Kunst, sich das Instrument wirklich anzueignen, es als Arbeitsmittel zu handhaben, als eine besondre Fertigkeit des Arbeiters erscheint, die ihn als Eigentümer des Instruments setzt« (a.a.O., 406 u. 407). Im einen wie im anderen Fall geht es darum, dass der formale (i.e. juristische) Eigentümer eines Produktionsinstruments erst zu dessen wirklichem Eigentümer wird, wenn er »die diesem Produktionsinstrument entsprechenden individuellen Fähigkeiten in sich selbst entwickelt«, wobei die »wirkliche Aneignung« einer »Totalität von Produktionsinstrumenten« zwangsläufig die »Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten« erfordert (zur ausführlicheren Behandlung dieses Problemkomplexes vgl. Keiler 1988b, 109 f. u. 117 f. bzw. Keiler 1990a, 121 f. u. 126 f.). Bei alledem ist klar, dass durch die Zurückweisung der von Rubinstein propagierten reduktionistischen Interpretation des marxschen Aneignungsbegriffs keineswegs die von Leontjew vorgenommene Ausweitung dieses Begriffs zu rechtfertigen ist. Bei Marx ist nirgendwo von einer »Aneignung« von in den Produktionsinstrumenten »vergegenständlichten« Fähigkeiten oder Operationen (oder auch nur von einer »Aneignung historisch gebildeter Kenntnisse und Begriffe« bzw. »gesellschaftlich-historischer Erfahrung«) die Rede. Gegenstand der »Aneignung« ist für ihn vielmehr immer das Produktionsinstrument (bzw. der materielle Gegenstand) selbst, und die »Produktion (i.e. Entwicklung) gewisser Fähigkeiten auf Seiten des Subjekts« (vgl. MEW 42, 400) ist der subjektive Aspekt eben dieser »Aneignung«. Insofern kann es denn auch nicht verwundern, dass Marx gerade dort, wo er nach der Logik des leontjewschen »VergegenständlichungsAneignungs«-Konzepts eigentlich von »Aneignung« reden müsste, es eben nicht tut. So ist etwa im »Kapital« zum Thema »Der Teilarbeiter und sein Werkzeug« Folgendes zu lesen: »Auch vervollkommnet sich die Methode der Teilarbeit, nachdem sie zur ausschließlichen Funktion einer Person verselbständigt ist. Die stete Wiederholung desselben beschränkten Tuns und die Konzentration der Aufmerksamkeit auf dieses Beschränkte lehren erfahrungsmäßig den bezweckten Nutzeffekt mit geringstem Kraftaufwand erreichen. Da aber immer verschiedne Arbeitergenerationen gleichzeitig zusammenleben und in denselben Manufakturen zusammenwirken, befestigen, häufen und übertragen sich bald die so gewonnenen technischen Kunstgriffe.« (MEW 23, 359) 22 Der Aufsatz war zwar bereits am 31. Mai 1933 bei der Redaktion der Sowjetska psichotechnika eingegangen, wurde jedoch erst im darauffolgenden Jahr publiziert. Ein zweites Mal erschien er dann im Rahmen des 1973 herausgegebenen Sammelbandes »Probleme der Allgemeinen Psychologie«

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(deutsch 1979) und ein drittes Mal schließlich zehn Jahre später (aus Anlass der fünfzigjährigen Wiederkehr seiner Abfassung) in den Woprossy psichologii (Heft 3, 1983). Über die Wirkung, die er zum Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung beim Fachpublikum hatte, gibt es recht widersprüchliche Verlautbarungen. Während Leontjew in seiner programmatischen Arbeit über die historische Methode in der Psychologie zwar den »grundlegenden« Charakter des rubinsteinschen Aufsatzes einräumt, zugleich aber auch behauptet: »Leider wurde ihm nicht die Beachtung geschenkt, die ihm gebührte« (Leontjew 1973c, 271), spricht der sowjetische Psychologiehistoriker M.G. Jaroschewski im Rahmen seiner Rezension der 1983 in zwei Bänden herausgegebenen »Ausgewählten psychologischen Werke« Leontjews nicht nur davon, dass Rubinsteins Aufsatz seinerzeit »unter den Psychologen eine große Resonanz gefunden« hatte, sondern er vertritt auch die Auffassung, dass Leontjew selbst »bei der Entwicklung« seines eigenen, sich ab Mitte der 30er Jahre herausbildenden Tätigkeits-Konzepts (wörtlich: »des neuen Erklärungsschemas«) von diesem Aufsatz »beeinflußt« wurde (vgl. Jaroschewski 1985, 552). Zwar war schon 1927 ein wesentlicher Teil der 1923 von D. Rjasanow im Parteiarchiv der SPD entdeckten »Manuskripte« (präziser: das komplette dritte Manuskript) unter dem Titel »Vorbereitende Arbeiten zur 'Heiligen Familie'« in der vom Moskauer Marx-Engels-Institut herausgegebenen Zeitschrift Marx-Engels-Archiv in russischer Ubersetzung veröffentlicht worden (vgl. Archiv K. Marksa i F. Engelsa, Kn. 3, 247-286), der Gesamttext erschien dann aber 1932 ausschließlich in deutscher Sprache (und dies gleich in zwei Versionen: einmal innerhalb der von S. Landshut und J.P. Mayer edierten »Frühschriften« zweitens im Rahmen des 3. Bandes der 1. Abteilung der MEGA1). Eine vollständige russische Fassung kam erst 1956 heraus (vgl. »Iz rannich proizwedeni«, 517-642). N.B.: Rubinstein zitiert in diesem Zusammenhang einen Satz aus dem (traditionell so bezeichneten) »letzten Kapitel« der »Ok.-phil. Mskpte.«, der folgenden Wortlaut hat: »Das Grosse an der Hegeischen Phänomenologie und ihrem Endresultate - der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Princip - ist also einmal, daß Hegel die Selbsterzeugung d[es] Menschen als einen Proceß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäusserung und als Aufhebung dieser Entäusserung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift.« (Marx 1988, 190) Leider 'vergisst' Rubinstein anzugeben, wo diese bemerkenswerte Aussage »im 'Kapital'« nachzulesen ist. Quellenverweis auf den betreffenden Passus in den »Ök.-phil. Mskptn.« (vgl. Marx 1988, 166) Quellenverweis auf den betreffenden Passus in den »Ök.-phil. Mskptn.« (vgl. Marx 1988, 167) N.B.: Jaroschewski untermauert seine These eines direkten Einflusses der Auffassungen Rubinsteins auf die Theoriebildung Leontjews mit dem Hinweis auf einen erstmalig in den »Ausgewählten psychologischen Werken«

252 (1. Band) veröffentlichten Arbeitsplanentwurf Leontjews aus dem Jahre 1935, in welchem er nicht nur die »grundsätzliche Aufgabe« einer »'Überwindung der Kluft zwischen Bewußtsein und Tätigkeit' (S. 67)« formuliert, sondern auch direkt »von der gegenseitigen Durchdringung der Tätigkeit und ihres Gegenstands, von dem sich in der menschlichen Tätigkeit vollziehenden Übergang 'des Subjekts in das Objekt' (ebenda)« spricht und noch »eine Reihe weiterer Thesen« aufstellt, »die an Rubinsteins Argumentation anklingen« (Jaroschewski 1985, 552). 29 Unter diese pauschale Kritik muss wohl auch der bereits 1930 (Varnitso, H. 3, S. 36-44) erschienene Aufsatz Wygotskis »Die sozialistische Umgestaltung des Menschen« subsumiert werden; denn Wygotski hatte hier zwar darauf hingewiesen, dass »Marx in einem seiner frühen Werke« davon spreche, »dass die Psychologie, wenn sie eine wirklich bedeutungsvolle Wissenschaft werden will, lernen muss, das Geschichtsbuch der materiellen Industrie zu lesen, in welchem 'die Wesenskräfte des Menschen' verkörpert sind und das daher selbst eine konkrete Verkörperung der menschlichen Psychologie ist«, dann aber die von Marx entworfene Programmatik nicht in dem Sinne gedeutet, in welchem sie Leontjew 29 Jahre später verstanden wissen wollte. Vielmehr heißt es bei ihm unmittelbar anschließend: »Tatsächlich besteht die ganze innere Tragödie des Kapitalismus darin, dass zugleich mit dem schnellen Wachstum dieser objektiven, d.h. gegenstandsorientierten Psychologie des Menschen, die in sich ein unbegrenztes Potential für die Beherrschung der Natur und die Entwicklung seiner [i.e. des Menschen] eigenen Natur barg, sein wirkliches geistiges Leben immer mehr herunterkam und jenen Prozess durchlief, den Engels so anschaulich als Verkrüppelung des Menschen beschreibt.« (zit. nach Vygotsky 1994b, 180 - Übers, u. Einfüg. in eckigen Klammern P.K.) 30 Diese Arbeit ging zunächst als Kapitel in Rubinsteins 1959 veröffentlichtes Buch »Prinzipien und Wege der Entwicklung der Psychologie« (deutsch 1963) ein und erschien dann noch einmal im Rahmen des 1973 herausgegebenen Sammelbandes »Probleme der Allgemeinen Psychologie«. 31 Bezeichnenderweise bleibt in dieser Studie ebenso wie in Rubinsteins Aufsatz von 1934 eine wesentliche Frage unthematisiert, die Frage nämlich, wie man sich denn die als Übergang aus dem Subjekt in das Objekt konzipierte »Vergegenständlichung« der menschlichen »Wesenskräfte« 'rein technisch' vorzustellen habe - eine Frage, die umso heikler ist, als ja bereits J.W.F. Schelling im »praktischen« Teil seines »Systems des transcendentalen Idealismus« keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass »ein Uebergang aus dem Subjektiven in das Objektive, der doch wenigstens fur die Erscheinung wirklich stattfindet, selbst einen Widerspruch gegen Naturgesetze« enthält (zit. nach SW 1.3, 570 - Hervorhn. P. K.). Dass man auch bei Leontjew in dieser Angelegenheit keine Aufklärung erhält, ist dann, nach allem, nur folgerichtig. 32 Quellenverweis auf den betreffenden Passus im 1. Band des »Kapitals« (MEW 23, 192) 33 Weder dem Vorwort zu Kurellas 1958 herausgegebener Schriftensammlung »Der Mensch als Schöpfer seiner selbst. Beiträge zum sozialistischen Hu-

253 manismus«, in welcher »Die kapitalistische Entfremdung und ihre sozialistische Aufhebung« erstmals abgedruckt wurde, noch der Einleitung zu »Das Eigene und das Fremde«, in der Kurella etwas ausführlicher auf die Mitte der 30er Jahre in der Sowjetunion herrschenden Rezeptionsbedingungen für die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« eingeht (vgl. Kurella 1981b, 200 f.), ist zu entnehmen, warum der besagte »im Beginn der Emigration entstandene« Aufsatz (vgl. Kurella 1958a, 7) nicht schon unmittelbar nach seiner Fertigstellung publiziert wurde (wobei das Faktum der NichtVeröffentlichung umso auffälliger ist, als Kurellas Bibliographie für 1937 immerhin die Publikation von 11 und für 1938 sogar von 13 anderen Aufsätzen in den beiden deutschsprachigen Emigranten-Zeitschriften Das Wort und Internationale Literatur auffuhrt). 34 N.B.: Auch bei Kurella eine bemerkenswerte Unbekümmertheit darum, wie man sich diese »Übertragung« der »jeweiligen Fähigkeiten« eines Menschen »auf konkrete Gegenstände, auf die Produkte seiner Arbeit« bzw. »ihre Hineinverlegung in produzierte Gegenstände« unter 'rein technischen' Gesichtspunkten und in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen vorzustellen habe. In der Tat ist mir aus der gesamten einschlägigen Literatur nur ein einziger Autor bekannt, der sich an dieses Problem herangewagt hat, und der hieß allerdings Paul von Lilienfeld (vgl. hierzu ausführlicher das zehnte Kapitel dieser Studie). 35 Tatsächlich liest sich das von G.S. Batischtschew für die 3. Auflage der Großen Sowjetenzyklopädie verfasste Stichwort »Opredmetschiwanije i Raspredmetschiwanije« (»Vergegenständlichung und Entgegenständlichung«) wie eine (die Termini »Aneignung« und »Entgegenständlichung« als bedeutungsäquivalent setzende) 'Synthese' aus der 1959er Konzeption Leontjews und den 'klassischen' Ausführungen von Rubinstein und Kurella: »Vergegenständlichung und Entgegenständlichung, Kategorien der marxistischen Philosophie, durch die sich die Gegensätzlichkeit, Einheit und wechselseitige Durchdringung ausdrücken, die die menschliche gegenständliche Tätigkeit ist. Vergegenständlichung, das ist deijenige Prozess, in dem die menschliche Fähigkeit in den Gegenstand übergeht und sich in ihm verkörpert, dank dessen der Gegenstand ein sozial-kultureller oder 'menschlicher Gegenstand' (siehe K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 ...) wird. In seinem Resultat besitzt die Vergegenständlichung stets zusammen mit der realen auch ideale (sinnhafte) Bedeutung, so dass jedes Ergebnis der Vergegenständlichung eine kulturhistorische Adressatenschaft besitzt, an andere Leute, soziale Gruppen gerichtet ist. Entgegenständlichung, das ist deijenige Prozess, in dem die charakteristische Eigentümlichkeit, das Wesen, 'die Logik des Gegenstands' Eigentum des Menschen, seine Fähigkeiten werden, dank dessen letztere sich entwickeln und mit gegenständlichem Inhalt erfüllen. Der Mensch entgegenständlicht sowohl Formen vergangener Kultur als auch natürliche Erscheinungen, welche er auf diese Weise in seine gesellschaftliche Welt einschließt. V. und E. enthüllen den inneren Dynamismus der materiellen und geistigen Kultur als eines lebenden Ganzen, allein bestehend im Prozess der ununterbrochenen Reproduktion seiner und der Schöpfung menschlicher Wirksamkeit. Dadurch fixieren diese Kategorien elementare Zellen der

254 Wirksamkeit, mittels welcher der Mensch in das geschichtlich bestimmte Sein eingeschlossen ist. Durch V. und E. verhält sich der Mensch auf bestimmte Weise zu seiner gegenwärtigen, vergangenen und künftigen Kultur. Auf kleinster Stufe treten die Kategorien V. und E. in nützlichen Konsumgütern zutage, auf der höchsten Stufe - in den Werken der geistigen Kultur. Die Entdeckung der Kategorien V. und E. durch K. Marx besitzt fundamentale Bedeutung für die Forschung im Bereich der philosophischen Probleme des Menschen, für die Einsicht in die Prinzipien und Perspektiven der kommunistischen Erziehung.« (Bd. 18, 1974, 438, Sp. 1301-1302 Übers. P. Ruben) 36 »Folglich«, charakterisiert die Rubinstein-Schülerin Budilowa treffend diese Konzeption, »weist das Psychische verschiedene Existenzformen auf - im Menschen und in den materiellen und ideellen objektiven Produkten der menschlichen Tätigkeit. Indem der Mensch diesen Produkten gegenüber eine Tätigkeit verrichtet, die der adäquat ist, durch die sie geschaffen wurden, 'eignet' er sich das in ihnen eingeschlossene und außerhalb von ihm bewahrte Psychische 'an'.« M.a.W.: »... (das) Objekt (wird) als Träger des Psychischen angesehen. Im Objekt als dem Produkt der Tätigkeit der Menschen ist deren Psyche verkörpert, die danach durch eine sekundäre Umgestaltung, durch die 'Aneignung' erneut den Menschen eigen wird.« (Budilowa 1975, 272 u. 275) In letzter Instanz ist damit aber »die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten« recht eigentlich nicht »die Entwicklung des Menschen«, sondern die Entwicklung »der Dinge, die er erzeugt« (vgl. Rubinstein 1961, 14 bzw. 1979, 180 - letzte Hervorh. P.K.). 37 »... das Produkt menschlicher Arbeit, das vergegenständlichte Gerinnsel der 'Wesenskräfte' des Menschen ...«, heißt es wörtlich (vgl. Rubinstein 1961, 12). 38 Hatte Fichte in seinem 1791 verfassten, aber erst zwei Jahre später publizierten »Beweis der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks« bereits die Fundamente für eine i.e.S. psychologische Auffassung des »inneren Eigentums« gelegt (vgl. FGA 1/1, 411 ff.), so begannen sich die genaueren Konturen dieser Auffassung abzuzeichnen, als das zunächst lediglich als terminologische Variante von »Zueignen« eingeführte Wort »Aneignen« (vgl. Adelung 1793, 1. Bd., 284) offiziell zur terminologischen Fixierung der von Fichte eröffneten Denkmöglichkeit des Gemeineigentums an immateriellen Gütern unter Voraussetzung des Privateigentums an Sachgütern eingesetzt wurde. Den Anfang macht die in J.H. Campes »Wörterbuch der Deutschen Sprache« gegebene Worterklärung: »1) Sich etwas aneignen, sich zu eigen machen, gleichsam zu einer Eigenschaft von sich machen, von unkörperlichen Dingen, wozu man berechtiget ist, da man sich hingegen körperliche Dinge oder Gegenstände zueignen kann, ohne ein Recht dazu zu haben« (1807, 1. Bd., 134). Die hier unter der Hand vollzogene Gleichsetzung von Eigentum und Eigenschaft wird in späteren Nachschlagwerken weiter ausdifferenziert und bildet dann die eigentliche Grundlage für die bis heute übliche Belegung des Ausdrucks »Aneignung« mit lernpsychologischen bzw. pädagogischen Inhalten. So heißt es etwa schon bei Th. Heinsius: »Aneignen, th. Z., sich zu eigen machen, gleichsam zu einer Eigenschaft von sich machen, gebraucht von unkörperlichen Dingen (Kennt-

255 nissen), wozu man berechtigt ist: ich eigne mir seine Gelassenheit an.« (1818, 1. Bd., 105) Und bei J.Chr.A. Heyse lesen wir: »aneignen, trb. ziel. Zw., sich zu eigen machen, in eine Eigenschaft von sich verwandeln, von geistigen Gegenständen, die man rechtmäßiger Weise in sich aufnehmen und mit seinem Wesen verschmelzen kann; (ich eigne mir seinen Muth, seine Kenntnisse an; zueignen kann man sich etwas, ohne ein Recht dazu zu haben).« (1833, 1. Bd., 58) Dabei ist diese (spätestens mit Fr.D.E. Schleiermachers Vorlesungen zur Ethik von 1812/13 einsetzende) Entwicklung zur pädagogisch-psychologischen Chiffre insofern konsequent, als im Sinne der von Fichte entworfenen und außerhalb des rechtlich Fassbaren stehenden Konzeption eines jederzeit um eine beliebige Anzahl von Teilhabern erweiterbaren gemeinschaftlichen Eigentums an der »Gedankenmaterie« (vgl. Schwab 1975, 87) die verschiedenartigsten Analogkonstruktionen nicht nur für alle Erscheinungsformen des Geistigen, sondern auch für den Verhaltensbereich (»Gewohnheiten«, »Fertigkeiten«) möglich sind. In diesem Sinne schreibt dann auch P.J.A. v. Feuerbach in seinem Buch über Kaspar Hauser, dieser habe sich schon in seiner ersten Reitstunde »die Hauptregeln und Elemente der Reitkunst nicht blos gemerkt, sondern auch, nach den ersten Versuchen, sogleich angeeignet« (1832, 102), und für J.H. Kaltschmidt (1834, 33) gilt »Aneignen« bereits direkt als Synonym für »Anüben« bzw. »Lernen«. Durchaus symptomatisch für die ideologische Funktion der Aneignungsmetapher (in der ja die »aufnehmende« Beziehung des Einzelnen zum 'Gegenstand', d.h. das letztlich private Verhältnis zu ihm betont wird) ist es dann, dass mit ihrer Etablierung herkömmliche Ausdrücke wie »Nacharten«, »Ablernen«, »Abmerken« o.ä., in denen das soziale Moment menschlichen Lernens erfasst wird, immer ungebräuchlicher werden. Aufs Ganze gesehen erscheint so das pädagogisch-psychologische Aneignungskonzept als ein eigentümliches Vorstellungskonglomerat, dessen einzelne Elemente entsprechend dem jeweiligen konzeptionellen Rahmen auf durchaus unterschiedliche Weise berücksichtigt und dynamisiert werden können. Infolgedessen sind, wenn die in den verschiedenen psychologischen und pädagogischen Konzeptionen mit dem Ausdruck »Aneignung« verknüpften Vorstellungen aufeinander abgebildet werden, mitunter erhebliche Abweichungen in den Details feststellbar. Andererseits weist die Bedeutung von »Aneignung« über die Grenzen der unterschiedlichsten Rahmenkonzeptionen hinweg wesentliche Gemeinsamkeiten auf, so dass, wo immer in der psychologischen und pädagogischen Literatur der letzten 160 Jahre im Zusammenhang der Lern- und Lehrproblematik von »Aneignen« die Rede ist, Vorstellungen von der Art zugrunde liegen dürften, wie sie O. Willmann in Roloffs »Lexikon der Pädagogik« (1913) unter dem Stichwort »Aneignungsstufen« zusammengefasst hat: »Man unterscheidet Besitz u. Eigentum dadurch, daß man dem letzteren die Merkmale der Sicherung durch das Recht sowie des Innehabens mit Verständnis u. mit der Fähigkeit des Verfügens zuschreibt. In diesem Sinne hat man das Eigentum als die Fortsetzung der Person, d.i. des mit Verstand u. Wille begabten Individuums, in das Gebiet der körperlichen Sachen bezeichnet. Diese Bestimmungen gelten nun mutatis mutandis auch im geisti-

256 gen Gebiete: die Aneignung eines Wissens u. Könnens geschieht durch ein der Besitzergreifung analoges Aufnehmen, durch Verstehen des Aufgenommenen u. durch die Fähigkeit, über dieses zu verfügen, es anzuwenden, sich darin u. damit zu betätigen. Beim Lernen erscheinen diese drei Momente als Auffassen, Verstehen u. Betätigen, od., wenn man sie mit Ableitungen von 'greifen' ausdrücken will, von: Aufgreifen, Umgreifen, Zwgreifen. Die beiden ersten Akte geben ein Wissen, der dritte macht den Übergang zum Können ... Diese drei Momente stellen im allgemeinen Stufen dar. (...) der Wissende hat nur erst potentiell einen Besitz, den er durch Ausübung aktuell u. zu seinem Eigentum machen soll ... was innen war, muß heraustreten als ein von außen Eingetretenes, aber im Innern Verarbeitetes. (...) In der Lehrpraxis hat sich jederzeit das Einhalten unsrer A. von selbst aufgedrängt ... Jeder Lehrer weiß, daß mit dem Darbieten eines Lehrinhalts noch nicht dessen Verständnis gegeben ist, u. daß für dessen 'Verwachsen' noch manches getan werden muß.« (a.a.O., 1. Bd., 142 f. - lediglich wie eine präzisierende Erläuterung ebendieser Bestimmungen liest sich dann etwa das, was Rubinstein in der von 1946 datierenden 2. Aufl. seiner »Grundlagen der Allgemeinen Psychologie« über die »Aneignung des Wissenssystems« ausfuhrt; vgl. 1977, 750 ff.) So die 'Theorie' vieler Tatsachen zugleich, ohne indes auch nur eine von ihnen exakt genug zu bezeichnen, um als wissenschaftlicher Terminus gelten zu können, ist der Ausdruck »Aneignung« ein plastisches Lehrbeispiel für jenen anscheinend chronischen Mangelzustand der psychologischen Fachsprache, den Wygotski bereits 1926/27 anlässlich seiner Analyse der Krise der Psychologie folgendermaßen charakterisierte: »Die psychologische Sprache der Gegenwart hat ihre Termini noch nicht genügend ausgearbeitet, das heißt, die Psychologie hat noch keine eigene Sprache. Ihr Wortschatz ist ein Konglomerat aus dreierlei Wörtern: 1. Wörter aus der Alltagssprache. Sie sind verschwommen, mehrdeutig, dem praktischen Leben angepaßt. (...) 2. Wörter der philosophischen Sprache. Diese haben ihre frühere Bedeutung verloren, wurden im Kampf der verschiedenen philosophischen Schulen mehrdeutig, sind in höchstem Grade abstrakt und verunreinigen ebenfalls die Sprache der Psychologen. (...) 3. Wörter und Sprachformen schließlich, die den Naturwissenschaften entlehnt sind, die im übertragenen Sinne gebraucht werden und die direkt dem Betrug dienen.« (zit. nach ASch Bd. 1, 154 f.) Wenn nun, wie Wygotski sarkastisch feststellt, »sämtliche Wörter der Psychologie von überall hergeholte Metaphern« sind (a.a.O., 174), so liegt die besondere Pointe des Ausdrucks »Aneignung« darin, dass er nicht nur bereits alltagssprachlich eine Metapher, sondern dazu auch noch eine aus zwei völlig unterschiedlichen Bereichen (Rechtsphilosophie und Biologie) zugleich »hergeholte«, d.h. gewissermaßen eine doppelte Metapher, bzw. Metapher in der Metapher ist. Dabei zeigt bereits die einfache Rekonstruktion der Genese dieser Metapher, dass sie generell und nicht erst von dem Moment an problematisch ist, wo sie »direkt dem Betrug dient«, indem etwa das »innere« als die gegenüber dem »äußeren« (d.h. dem Eigentum an Sachgütern) wesentlichere Form des Eigentums proklamiert wird. Denn tatsächlich impliziert sie ja nicht nur den kategorialen Missgriff einer Gleichsetzung von Eigentum und

257 Eigenschaft sowie, damit korrespondierend, einer Verdinglichung von Kenntnissen, Verhaltensweisen, Fähigkeiten, Uberzeugungen usw., sondern auch eine Verdoppelung der Person in einen »äußeren«, den Gesetzen der materiellen Welt unterworfenen, und einen »inneren geistigen Menschen« (vgl. Herder 1965a, 181), dem als Bürger einer »geistigen« Welt Möglichkeiten offen stehen, die für die materielle Welt völlig undenkbar sind, wie etwa die eines »Eigentums«, das Gemeineigentum und Privateigentum zugleich ist, bzw., in den Worten Fichtes, »vermöge seiner geistigen Natur Vielen gemein sein kann, so daß doch jeder es ganz besitze« (FGA 1/1, 412). Dass dabei dem »inneren« Menschen zugleich Fähigkeiten und 'Organe' zukommen müssen, die denen direkt analog sind, mit denen der »äußere« (d.h. sinnlich-körperliche) Mensch von der materiellen Welt Besitz ergreift bzw. sie sich assimiliert, ist eine gewöhnlich nicht thematisierte conditio sine qua non des psychologischen Aneignungskonzepts, wird aber bisweilen doch zumindest angedeutet, wie etwa in den ursprünglichen Überlegungen Herders (vgl. a.a.O., 180 f. u. 337 f.), den bereits zitierten Ausführungen Willmanns über die »Aneignungsstufen« oder in Ch. Bühlers »Kindheit und Jugend«, wo davon gesprochen wird, dass »der geistige Neuerwerb des Schulneulings mit dem Erwerb des geistigen Handwerkszeugs in einer sozusagen rein manuellen, technischen Aneignung« beginne (vgl. 1928, 201) - womit in eindeutiger Weise »geistige Hände« unterstellt sind, die als genuine Organe der »Aneignung« fungieren. (Konsequent zu Ende gedacht - siehe Herder a.a.O., 181 -, müsste der »innere« Mensch dann freilich auch über »geistige Verdauungsorgane« und einen »geistigen Blutkreislauf« verfügen, um die »geistige Nahrung« zu »assimilieren«!) 39 N.B.: Schon bei Herder kann man lesen: »Von wem er also, was und wieviel er aufnehme, wie er's sich zueigne, nutze und anwende: das kann nur durch seine, des Aufnehmenden, Kräfte bestimmt werden ...« (1965a, 337) 40 Grundlage meines Referats und meiner Zitate ist die von R. van der Veer und J. Valsiner in ihren »Vygotsky Reader« aufgenommene (von Theresa Prout besorgte) englische Übersetzung des Originaltextes. In Zweifelsfällen habe ich eine mir freundlicherweise von R. van der Veer zur Verfügung gestellte Photokopie der Originalversion zu Rate gezogen. Dass es sich bei den Zitaten um Übersetzungen von mir handelt, wird in der Folge nicht mehr vermerkt. 41 Als Beispiel nennt Wygotski hier »Kinder, die einen Ganztags-Kindergarten besuchen«, wo es »womöglich nur eine einzige Betreuerin für verschiedene Kinder oder eine ganze Gruppe von Kindern gibt«. Anders als »ein im Kindergartenalter befindliches Kind, das zu Hause erzogen wird«, wo es seine Mutter oder auch eine andere Person hat, »die es permanent in direkter Weise mit ihm sprechen hört, was auf einen kontinuierlichen Wechselwirkungsprozess mit der Idealform hinausläuft«, besteht die Möglichkeit einer solchen Wechselwirkung für die Ganztags-Kindergarten-Kinder im wesentlichen darin, »miteinander zu sprechen«. Indes: »Sie sprechen nicht sehr gut und auch nicht sehr viel, so dass diese Gespräche ihnen nicht als eine Quelle irgendeiner signifikanten Entwicklung dienen können«, und das Resultat ist dann das hinlänglich bekannte Phänomen einer (gegenüber den gleichaltrigen Kindern, die zu Hause aufwachsen) »verzögerten Sprachent-

258 wicklung«. Hierin zeige sich wiederum, »dass notwendigerweise von Anfang an die Idealform der kindlichen Entwicklung gewissermaßen den Weg weisen muß, damit es überhaupt zu einer irgendwie günstigen und erfolgreichen Entwicklung der höheren, spezifisch menschlichen Merkmale kommen kann«, (vgl. a.a.O., 350 f.) 42 In der Tat spricht Wygotski in dem referierten Text nur an einer einzigen Stelle von »Aneignung«, und zwar in negativer Hinsicht. Mit Blick darauf, dass »ein Kind zu Beginn seiner Entwicklung lediglich die primären Formen meistert« und »im Bereich der Sprache beispielsweise nur fiihig ist, einzelne Wörter auszusprechen«, während die Mutter den Dialog mit ihm in der »Idealform« führt, »die das Kind am Ende seiner Entwicklung erreichen soll«, fragt er: »Wird das Kind in der Lage sein, diese Idealform zu meistern, indem es sie sich einfach im Verlauf von einem oder von anderthalb Jahren seines Lebens aneignet [uswoit], sie einfach imitiert [podrashat]? Sicherlich nicht. Aber kann, anders gefragt, ein Kind dieses Alters, indem es sich Schritt für Schritt vorwärts bewegt, seine primäre Form nach und nach der Finalform angleichen? Ja, entsprechende Untersuchungen haben gezeigt, dass genau dies geschieht.« (a.a.O., 349 - zum Wortlaut des Originals vgl. Wygotski 1935, 72) 43 Eine weitere Wortneuschöpfung Feuerbachs, die er, soweit ich sehe, erstmals im Rahmen seiner 1833 veröffentlichten »Geschichte der neuern Philosophie«, und zwar anlässlich der Behandlung der Auffassung J. Böhmes von der Erkennbarkeit der Natur verwendet (vgl. GW 2, 225). 44 In den »Gedanken über Tod und Unsterblichkeit« beschreibt Feuerbach denselben Sachverhalt noch mit folgenden Worten: »Die Einbildung erschafft, verselbständigt in Bildern, verkörpert; auf dem weichen Polster der Einbildung hält der Verstand seine Sieste, und in diesem glückseligen Zustande verdichten und verkörpern sich ihm vermittelst der Magie der Phantasie die eignen Poren und Lücken seiner Erkenntnis zu den selbständigen Gestalten des Jenseits.« (GW 1, 305) 45 »In der Logik«, heißt es im von N.I. Kondakow herausgegebenen Wörterbuch der Logik unter dem Stichwort »Gegenstand«, »wird alles das als G. bezeichnet, auf das unsere Gedanken gerichtet sein können, alles, was irgendwie wahrgenommen bzw. benannt werden kann. In diesem Sinne gelten als Gegenstände auch Urteile, Begriffe und mittelbare Schlüsse.« (1983, 175) 46 Ein geradezu klassisches Beispiel für derartige Konfusionen liefert Rubinstein im Rahmen seiner Leontjew-Kritik. 47 Spätestens mit der »Wissenschaftslehre von 18042« hat bei Fichte der Terminus »Objektivirung« bzw. »Objektiviren« vorwiegend die Bedeutung des Als-außerhalb-des-Subjekts-und-unabhängig-von-ihm-existierendSetzens (vgl. FGA II/8, 12, 70, 100, 104, 210, 226, 234, 242, 254, 258, 298, 322, 350, 358 ff., 374, 386, 392, 404, 410 ff. u. 420), während »Entäußern« gleichbedeutend mit etwas von sich absondern ist (vgl. a.a.O., 210, 232, 350 u. 392). 48 Zu ähnlich gelagerten Missverständnissen hat es geführt, dass Marx von der ersten zur zweiten Auflage des »Kapitals« in zwei (später ungezählte Male

259 zitierten) 'Kernsätzen' das eindeutige Wort »assimilieren« durch den mehrdeutigen Ausdruck »aneignen« substituiert hat, heißt es doch ursprünglich, der Mensch setze »die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form zu assimiliren«, und: das Produkt des Arbeitsprozesses sei »ein Gebrauchswerth, ein durch Formveränderung menschlichen Bedürfnissen assimilirter Naturstoff«, (vgl. MEGA2 II/5, 129 u. 132) 49 Tatsächlich knüpft ja Marx mit seinem später so häufig zitierten Gedanken, die »gewöhnliche, materielle Industrie« sei das »aufgeschlagne Buch« bzw. die »exoterische Enthüllung der menschlichen Wesenskräfte« einerseits direkt an Feuerbachs Charakterisierung des Buches als Spiegel des menschlichen Wesens an; andererseits ist dieser Gedanke aber auch schon eine kritische Reaktion auf die Tatsache, dass Feuerbach die in seinen »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« formulierten Prinzipien einer »wirklichen inhaltvollen und reellen Wissenschaft« vom Menschen selbst nicht konsequent genug umzusetzen gewusst hatte. Zur Erläuterung: Gestützt auf die Erkenntnis, dass die »Religion nichts andres als das vergegenständlichte Selbstbewußtsein des Menschen«, die »Reflexion, die Spiegelung des menschlichen Wesens in sich selbst« ist (GW 5, 126 u. 127), stellt Feuerbach bereits 1842 in einer polemischen Sammelreplik auf verschiedene Rezensionen seines »Wesens des Christentums« fest, dass »die Basis« einer kritisch betriebenen »Religionsphilosophie in ihren niedern Teilen ... esoterische Anthropologie« und »in ihren höhern Teilen ... esoterische Psychologie« sein müsse (GW 9, 240). In Weiterführung dieses Gedankens kommt er dann im Jahr darauf in den »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« zwar zu der Forderung, »den Menschen mit Einschluß der Natur, als der Basis des Menschen, zum alleinigen, universalen und höchsten Gegenstand der Philosophie«, mithin »die Anthropologie ..., mit Einschluß der Physiologie, zur Universalwissenschaft« zu machen, bleibt dann aber hinter den mit diesem Postulat gegebenen Möglichkeiten zurück, indem er direkt anschließend erklärt: »Kunst, Religion, Philosophie oder Wissenschaft sind nur die Erscheinungen oder Offenbarungen des wahren menschlichen Wesens.« (GW 9, 337) Und an eben dieser Inkonsequenz setzt Marx an und moniert, dass auch Feuerbach, obwohl bereits einen entscheidenden Schritt weiter als die anderen Junghegelianer, nach wie vor in Vorstellungen befangen ist, die theoretischer Ausdruck der Entfremdung des Menschen von seinem »wahren« Wesen sind - einer Entfremdung, die, wie Marx inzwischen bereits erkannt hat, notwendige Konsequenz bestimmter, sich auf das Privateigentum gründender und an den egoistischen Bedürfnissen der Einzelnen orientierter Produktionsverhältnisse ist: »... man sieht, wie die Lösung der theoretischen Gegensätze selbst nur auf eine praktische Art, nur durch die praktische Energie d[es] Menschen möglich ist und ihre Lösung daher keineswegs nur eine Aufgabe der Erkenntniß, sondern eine wirkliche Lebensaufgabe ist, welche die Philosophie nicht lösen konnte, eben weil sie dieselbe als nur theoretische Aufgabe faßte. - Man sieht, wie die Geschichte der Industrie und das gewordne gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagne Buch der menschli-

260 chen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie ist, die bisher nicht in ihrem Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen, sondern immer nur in einer äussern Nützlichkeitsbeziehung gefaßt wurde, weil man - innerhalb der Entfremdung sich bewegend - nur das allgemeine Dasein dfesl Menschen, die Religion, oder die Geschichte in ihrem abstrakt-allgemeinen Wesen, als Politik, Kunst, Litteratur etc als Wirklichkeit der menschlichen Wesenskräfte und als menschliche Gattungsakte zu fassen wußte. In der gewöhnlichen, materiellen Industrie (- die man eben so wohl als einen Theil jener allgemeinen Bewegung fassen, wie man sie selbst als einen besondern Theil der Industrie fassen kann, da alle menschliche Thätigkeit bisher Arbeit, also Industrie, sich selbst entfremdete Thätigkeit war -) haben wir unter der Form sinnlicher, fremder, nützlicher Gegenstände, unter der Form der Entfremdung, die vergegenständlichten Wesenskräfte des Menschen vor uns. Eine Psychologie, für welche dieß Buch, also grade der sinnlich gegenwärtigste, zugänglichste Theil der Geschichte zugeschlagen ist, kann nicht zur wirklichen Inhaltsvollen und reellen Wissenschaft werden. (...) Die Industrie ist das wirkliche geschichtliche Verhältniß der Natur und daher der Naturwissenschaft zum Menschen; wird sie daher als exoterische Enthüllung der menschlichen Wesenskräfte gefaßt, so wird auch das menschliche Wesen der Natur oder das natürliche Wesen d[es] Menschen verstanden, daher die Naturwissenschaft ihre abstrakt materielle oder vielmehr idealistische Richtung verlieren und die Basis der menschlichen Wissenschaft werden, wie sie jetzt schon - obgleich in entfremdeter Gestalt - zur Basis des wirklichen menschlichen Lebens geworden ist; eine andre Basis für das Leben, eine andre für die Wissenschaft ist von vornherein eine Lüge. Die in der menschlichen Geschichte - dem Entstehungsakt der menschlichen Gesellschaft werdende Natur - ist die wirkliche Natur dfes] Menschen, darum die Natur, wie sie durch die Industrie, wenn auch in entfremdeter Gestalt wird, die wahre anthropologische Natur ist.« (Marx 1988, 167 f.) 50 Wenn Feuerbach etwa im »Wesen des Christentums« schreibt: »Gott ist das ab- und ausgesonderte subjektivste Wesen des Menschen ... Je subjektiver Gott ist, desto mehr entäußert der Mensch sich seiner Subjektivität, weil Gott per se sein entäußertes Selbst ist« (GW 5, 73), so steht er damit eindeutig nicht in der Nachfolge Hegels - vielmehr haben wir es hier offensichtlich mit der radikalen Fortführung eines Gedankens zu tun, der zunächst bei Kant in den »Vorlesungen über philosophische Religionslehre« (1783/84) nur erst angedeutet, aber dann bereits bei Fichte im »Versuch der Critik aller Offenbarung« (1792) sehr deutlich ausgesprochen ist, heißt es hier doch: »Die Idee von Gott, als Gesetzgeber durch's Moralgesetz in uns, gründet sich also auf eine Entäußerung des unsrigen, auf Uebertragung eines Subjectiven in ein Wesen außer uns, und diese Entäußerung ist das eigentliche Princip der Religion, insofern sie zur Willensbestimmung gebraucht werden soll.« (FGA 1/1, 33) Andererseits erweist sich der für Feuerbachs Vergegenständlichungskonzeption zentrale Gedanke, jedes Individuum habe im Universum seiner Gegenstände den umfassenden Spiegel seines Wesens (vgl. GW 5, 33 f.), als eine direkte Umkehrung der Kernthese der leibnizschen Monadologie, derzufolge »jede Monade das gesamte Uni-

261 versum widerspiegelt* (vgl. zur Präzisierung dieses Gedankens die vorangehende Studie, Kap. 1.2.) - während schließlich seine Vorstellungen über die i.w.S. psychologischen Mechanismen der »Vergegenständlichung« (im Sinne des »Sich-selbst-Objekt-Werdens des Subjektiven«) weitgehend den einschlägigen Überlegungen Schellings in dessen »System des transcendentalen Idealismus« (1800) verpflichtet sein dürften (vgl. SW 1.3, 345, 470, 507, 534). 51 In nuce findet sich der gleiche Gedanke übrigens bereits in der »Heiligen Familie« (1845), wo Marx die von P.J. Proudhon gemachte Unterscheidung zwischen Privateigentum und Besitz ganz im Sinne der Auffassung Feuerbachs dahingehend auslegt, dass das »Interessante« am Besitz gerade nicht darin bestehe, »den andern 'auszuschließen', sondern meine eignen Wesenskräfte zu betätigen und zu verwirklichen« (zit. nach MEW 2, 44). 52 Hier geht Marx davon aus, dass unter der Voraussetzung des zur Warengesellschaft entwickelten Privateigentums die Arbeit mehr und mehr »in die Categorie einer Erwerbsarbeit« fällt, »bis sie endlich nur mehr diese Bedeutung« hat und es »ganz zufällig und unwesentlich wird, sowohl ob der Producent in dem Verhältniß des unmittelbaren Genusses und des persönlichen Bedürfnisses zu seinem Product steht, als auch ob die Thätigkeit, die Action der Arbeit selbst ihm Selbstgenuß seiner Persönlichkeit, die Verwirklichung seiner Naturanlagen und geistigen Zwecke ist« (zit. nach Marx 1988, 233 f.). Somit liegt in der Erwerbsarbeit: »1) Die Entfremdung und Zufälligkeit der Arbeit vom arbeitenden Subjekt; 2) die Entfremdung und Zufälligkeit der Arbeit vom Gegenstand derselben; 3) die Bestimmung des Arbeiters durch die gesellschaftlichen Bedürfnisse, die ihm aber fremd und ein Zwang sind, dem er sich aus egoistischem Bedürfniß, aus Noth unterwirft und die für ihn nur die Bedeutung einer Quelle der Befriedigung für seine Nothdurft, wie er für sie nur als ein Sklave ihrer Bedürfiiisse vorhanden ist; 4) daß dem Arbeiter die Erhaltung seiner individuellen Existenz als Zweck seiner Thätigkeit erscheint und sein wirkliches Thun ihm nur als Mittel gilt; daß er sein Leben bethätigt, um Lebensmittel zu erwerben.« (a.a.O., 234) Nun kann aber, wie es an späterer Stelle heißt, meine Arbeit nur als das, was sie ist, »in meinem Gegenstand erscheinen« und nicht als das, »was sie ihrem Wesen nach nicht ist«. Sie erscheint daher unter den gegebenen Voraussetzungen (wo sie »mir verhaßt, eine Qual, ... darum auch nur eine erzwungene und nur durch eine äusserliche zufällige Noth, nicht durch eine innere nothwendige Noth mir auferlegt(e) (Thätigkeit)« ist) auch »nur noch als der gegenständliche, sinnliche, angeschaute und darum über allen Zweifel erhabene Ausdruck meines Selbstverlustes und meiner Ohnmacht« (a.a.O., 244). Und bei einer solchen Ausgangslage dennoch im »gewordne(n) gegenständliche(n) Dasein der Industrie das aufgeschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie« zu sehen, dazu gehört in der Tat viel, nämlich die perspektivische Vorwegnahme einer Gesellschaft, in welcher, unter Beibehaltung der Arbeitsteilung, sich die arbeitenden Menschen nicht mehr in erster Linie als Produzenten von Tauschwerten, sondern wesentlich als Produzenten von

262 Gebrauchswerten aufeinander beziehen, d.h. als Menschen fir Menschen produzieren: »Gesetzt wir hätten als Menschen producirt: Jeder von uns hätte in seiner Production sich selbst und den andern doppelt bejaht. Ich hätte 1) in meiner Production meine Individualität, ihre Eigentümlichkeit vergegenständlicht und daher sowohl während der Thätigkeit eine individuelle Lebensäusserung genossen, als im Anschauen des Gegenstandes die individuelle Freude, meine Persönlichkeit als gegenständliche, sinnlich anschaubare und darum über allen Zweifel erhabne Macht zu wissen. 2) In deinem Genuß oder Deinem Gebrauch meines Produkts hätte ich unmittelbar den Genuß, sowohl des Bewußtseins, in meiner Arbeit [ein] menschliches Bedürfhiß befriedigt, also das menschliche Wesen vergegenständlicht und daher dem Bedürfniß eines andern menschlichen Wesens seinen entsprechenden Gegenstand verschafft zu haben, 3) für dich der Mittler zwischen dir und der Gattung gewesen zu sein, also von dir selbst als eine Ergänzung deines eignen Wesens, als ein notwendiger Theil deiner selbst gewußt und empfunden zu werden, also sowohl in deinem Denken als in deiner Liebe mich bestätigt zu wissen, 4) in meiner individuellen Lebensäusserung unmittelbar Deine Lebensäusserung geschaffen zu haben, also in meiner individuellen Thätigkeit unmittelbar mein wahres Wesen, mein menschliches, mein Gemeinwesen bestätigt und verwirklicht zu haben. Unsere Productionen wären eben so viele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegen leuchtete. Dieß Verhältniß wäre dabei wechselseitig, von deiner Seite geschähe, was von meiner geschieht.« (a.a.O., 244) 53 Vgl. die in der vorangegangenen Anmerkung zitierten Ausführungen in den »Bemerkungen zu James Mill«. 54 Vgl. Marx 1847, 31, 32, 38, 62 u. 73. 55 Vgl. Cassell's »German and English dictionary« 1949, Teil 2, 49. 56 Stellvertretend sei hier auf A. Kurella verwiesen, durch dessen einschlägige Arbeiten (vgl. Kurella 1981) sich dieses Quidproquo wie ein roter Faden zieht. 57 Vgl. hierzu insbes. Marx 1988, 163 ff., 217 u. 243 f. 58 Übrigens sollte spätestens bei der Lektüre dieser beiden Passagen endgültig klar werden, was es mit dem von Marx im Zusammenhang seiner HegelKritik in den »Ök.-phil. Mskptn.« (und nur hier) als Pendant zu »Vergegenständlichung« verwendeten Ausdruck »Entgegenständlichung« recht eigentlich auf sich hat. »Der Rohstoff«, können wir in den »Grundrissen« lesen, »wird konsumiert, indem er verändert wird, geformt durch die Arbeit, und das Arbeitsinstrument wird konsumiert, indem es verbraucht wird in diesem Prozeß, aufgenutzt wird. (...) Alle drei Momente des Prozesses, das Material, das Instrument, die Arbeit, fallen zusammen in ein neutrales Resultat - das Produkt. In dem Produkt sind zugleich reproduziert die Momente des Produktionsprozesses, die in ihm aufgezehrt worden sind. Der ganze Prozeß erscheint daher als produktive Konsumtion, d.h. als Konsumtion, die weder im Nichts endet noch in der bloßen Subjektivierung des Gegenständlichen, sondern die selbst wieder als ein Gegenstand gesetzt ist. Das Verzehren ist

263 nicht einfaches Verzehren des Stofflichen, sondern Verzehren des Verzehrens selbst; im Aufheben des Stofflichen Aufheben dieses Aufhebens und daher Setzen desselben. Die formgebende Tätigkeit verzehrt den Gegenstand und verzehrt sich selbst, aber sie verzehrt nur die gegebne Form des Gegenstands, um ihn in neuer gegenständlicher Form zu setzen, und sie verzehrt sich selbst nur in ihrer subjektiven Form als Tätigkeit. Sie verzehrt das Gegenständliche des Gegenstandes - die Gleichgültigkeit gegen die Form - und das Subjektive der Tätigkeit; formt den einen, materialisiert die andre.« (a.a.O.) Im gleichen Sinne heißt es dann im Manuskript von 1861-63: »Die Formgebende Thätigkeit verzehrt den Gegenstand und sich selbst; sie formirt ihn und materialisirt sich; sie verzehrt sich selbst in ihrer subjektiven Form als Thätigkeit und verzehrt das Gegenständliche des Gegenstands, d.h. hebt seine Gleichgültigkeit gegen den Zweck der Arbeit auf.« (a.a.O., 52) Also nicht vom »Ubergang des Objekts in das Subjekt« ist die Rede, wenn es um das (ontologische) »Wesen der Arbeit« geht, sondern vom »Verzehren des Gegenständlichen des Gegenstandes»! Und sieht man sich daraufhin die marxsche Hegel-Kritik in den »Ök.-phil. Mskptn.« genauer an, dann wird man feststellen, dass in der Tat unter der Chiffre »Entgegenständlichung« nichts anderes als die »Überwindung« bzw. »Aufhebung der Gegenständlichkeit des Gegenstandes« firmiert, weil im marxschen Verständnis für das hegelsche »Selbstbewußtsein« eben »nicht der bestimmte Charakter des Gegenstandes, sondern sein gegenständlicher Charakter das Anstößige und die Entfremdung ist« (vgl. hierzu ausführlicher Marx 1988, 190-198). 59 So ist ja etwa in der von ihm verfassten Einleitung in den ersten Band der sechsbändigen Wygotski-Werkausgabe explizit von der »Aneignung [russ.: uswojenije] des in den Schöpfungen der Kultur verkörperten Weltgeistes ('verstehende Psychologie' von Dilthey)« die Rede (vgl. Leontjew 1985, 33). 60 In seinem Kommentar zu Rubinsteins 1934er Aufsatz zitiert Bruschlinski auch die scharfe Rüge, die 1930 »einer der führenden Philosophen dieser Zeit - Deborim den marxistischen sowjetischen Psychologen erteilt hatte, weil sie sich bis zu diesem Zeitpunkt »noch nicht einmal Gedanken über das von Marx auf dem Gebiet der Psychologie empfohlene Vorgehen gemacht« hätten (vgl. Bruschlinski 1979, 204). »Erst zu Beginn der dreißiger Jahre«, so Bruschlinski im unmittelbaren Anschluss an das Deborin-Zitat, habe sich »in dieser Hinsicht ein ernstzunehmender Umschwung« abgezeichnet (ebd.). Leider 'vergisst' er hinzuzufügen, dass das Resultat dieses »ernstzunehmenden Umschwungs«, wie am Beispiel Rubinsteins nur allzu deutlich wird, wohl im wesentlichen darin bestand, die Bemerkungen, die Marx an die Charakterisierung der Industrie als das »aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende Psychologie« angeschlossen hatte, einfach als »materialistische« Version des von Dilthey propagierten methodischen Prinzips zu interpretieren. Tatsächlich findet sich ja in dessen »Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« der einschränkende Hinweis, dass, »was aus dem Leben des

264 Tages entspringt, ... unter der Macht seiner Interessen« stehe, folglich auch die »Deutung« dessen, »was beständig der Vergänglichkeit anheimfällt, ... von der Stunde bestimmt«, d.h. der Möglichkeit der Täuschung unterworfen sei, wohingegen »in großen Werken ein Geistiges sich loslöst von seinem Schöpfer, dem Dichter, Künstler, Schriftsteller«, so dass es hier keine Täuschung geben könne (vgl. 1927b, 206 f.). Nichts einfacher dann, als diesen »idealistischen Ansatz« dadurch zu »überwinden«, dass man ihn unter Berufung auf Marx dahingehend 'korrigiert', dass ein »Übergang des Subjekts in das Objekt« eben nicht nur in der »höheren Arbeit« (Dilthey), sondern in der »gesamten Tätigkeit des Menschen« stattfinde, so dass auch in der »gewöhnlichen, materiellen Industrie« und nicht bloß in der »Kunst, Litteratur etc« ein »Geistiges sich loslöst von seinem Schöpfer« und sich »in die Werke hineinverlegt«. - Dass dies im Sinne Deborins gewesen sein soll, darf getrost bezweifelt werden (vgl. hierzu Kap. 3.1. der zweiten Studie). 61 Vgl. die diesbezügliche (nach allem korrekturbedürftige) Argumentation in Keiler 1988a. 62 Also bereits hier das später von Rubinstein so energisch bekämpfte Interiorisations-Konzept! 63 Man beachte die bemerkenswerte, teilweise wörtliche Übereinstimmung zwischen diesen Ausführungen Jodls und dem weiter oben zitierten Passus aus Iljenkows »Probleme des Ideellen«. 64 Mehr als ein dreiviertel Jahrhundert später kann man bei Iljenkow zum selben Thema Folgendes lesen: »Das gerade geborene Tier hat die äußere Welt vor sich. Die Formen der Lebenstätigkeit sind ihm zusammen mit der Morphologie seines Körpers angeboren; es braucht keine besondere Tätigkeit zu ihrer 'Vervollkommnung' zu vollbringen, es bedarf lediglich der Leitung durch die in ihm kodierten Verhaltensformen. Eine Entwicklung vollzieht sich nur in der Entwicklung der Instinkte, der ihm angeborenen Reaktionen auf Dinge und Situationen. Durch die Umwelt wird diese Entwicklung nur korrigiert. Ganz anders beim Menschen. Das gerade geborene menschliche Kind hat vor und außer sich nicht nur die äußere Welt, sondern auch das überaus komplizierte System der Kultur, das von ihm solche 'Verhaltensweisen' erfordert, die in seinem Körper weder genetisch (morphologisch) kodiert, noch überhaupt vertreten sind. Hier geht es nicht um die Korrektur vorbereiteter Verhaltensschemata, sondern um die Aneignung [russ.: uswojenije!] solcher Arten der Lebenstätigkeit, die überhaupt keine Beziehungen zu biologisch notwendigen Reaktionsformen seines Organismus auf Dinge und Situationen haben.« (Iljenkow 1979, 154 - Übers. R. Broda) 65 Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Jodls »Lehrbuch der Psychologie« beileibe keine 'Eintagsfliege' war, sondern bis 1924 noch vier weitere Auflagen (21903, 31908, 41915) erlebte, in denen das, was er bereits in der ersten Auflage über den »objektiven Geist« und seine »Aneignung« durch die Individuen ausgeführt hatte, immer wieder identisch reproduziert wurde. 66 Vgl. hierzu ausführlicher die §§ 483-552 im dritten Teil der hegelschen »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« von 1830, die, worauf neuerlich wieder H.-H. Holz mit Nachdruck hingewiesen hat, »nach Um-

265 fang und Spezifikation genau den Gegenstandsbereich der Rechtsphilosophie ab(decken) - nicht weniger und nicht mehr«, so dass »die Theorie des objektiven Geistes« im strengen hegelschen Sinne »identisch ist mit der Theorie von Recht und Staat« (Holz 1993, 32). 67 Dasselbe gilt natürlich auch für Dilthey, der im Unterschied zu Jodl diesen Sachverhalt allerdings ganz offen anspricht. »Ich habe bisher«, kann man im »Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« lesen, »diese Objektivation des Lebens auch mit dem Namen des objektiven Geistes bezeichnet. Das Wort ist von Hegel tiefsinnig und glücklich gebildet. Ich muß aber den Sinn, in dem ich es gebrauche, genau und deutlich von dem unterscheiden, den Hegel mit ihm verbindet. Dieser Unterschied betrifft ebenso die systematische Stelle des Begriffes wie seine Abzweckung und seinen Umfang. Im System Hegels bezeichnet das Wort eine Stufe in der Entwicklung des Geistes. Hegel setzt diese Stufe ein zwischen den subjektiven und den absoluten Geist. Der Begriff des objektiven Geistes hat sonach seine Stelle bei ihm in der ideellen Konstruktion der Entwicklung des Geistes, welche zwar seine historische Wirklichkeit und die in ihr waltenden Beziehungen zu ihrer realen Unterlage hat und sie spekulativ begreiflich machen will, aber eben darum die zeitlichen, empirischen, historischen Beziehungen hinter sich läßt. Die Idee, welche in der Natur zu ihrem Anderssein sich entäußert, aus sich heraustritt, kehrt auf der Grundlage dieser Natur im Geist zurück zu sich selbst. Der Weltgeist nimmt sich zurück in seine reine Idealität. Er verwirklicht seine Freiheit in seiner Entwicklung. (...) Die Objektivierung des Geistes vollzieht sich im Recht, der Moralität und der Sittlichkeit. Die Sittlichkeit verwirklicht den allgemeinen vernünftigen Willen in der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat. (...) Aber die Voraussetzungen, auf die Hegel diesen Begriff gestellt hat, können heute nicht mehr festgehalten werden. Er konstruierte die Gemeinschaften aus dem allgemeinen vernünftigen Willen. Wir müssen heute von der Realität des Lebens ausgehen; im Leben ist die Totalität des seelischen Zusammenhanges wirksam. Hegel konstruiert metaphysisch; wir analysieren das Gegebene. (...) Indem so der objektive Geist losgelöst wird von der einseitigen Begründung in der allgemeinen, das Wesen des Weltgeistes aussprechenden Vernunft, losgelöst auch von der ideellen Konstruktion, wird ein neuer Begriff desselben möglich: in ihm sind Sprache, Sitte, jede Art von Lebensform, von Stil des Lebens ebensogut umfaßt wie Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat und Recht. Und nun fällt auch das, was Hegel als den absoluten Geist vom objektiven unterschied: Kunst und Religion und Philosophie unter diesen Begriff, ja gerade in ihnen zeigt sich das schaffende Individuum zugleich als Repräsentation von Gemeinsamkeit, und eben in ihren mächtigen Formen objektiviert sich der Geist und wird in denselben erkannt.« (zit. nach Dilthey 1927a, 148 ff.) 68 Zumindest in Hinblick auf Feuerbach muss die Behauptung entschieden zurückgewiesen werden, auch er habe sein Scherflein zur Herausbildung der im »Lehrbuch der Psychologie« propagierten Konstruktion beigetragen. Und so ist denn auch das von Jodl in diesem Zusammenhang (übrigens ohne

266 Quellenangabe) zitierte Diktum Feuerbachs, wonach der Mensch wohl seine Existenz der Natur, sein Menschsein aber den anderen Menschen verdanke (vgl. Jodl 1896, 161 und GW 5, 166) mitnichten geeignet, besagte Behauptung zu belegen, steht es doch als Chiffre für jene von Feuerbach bereits in seiner Habilitationsschrift von 1828 vertretene Grundkonzeption, derzufolge »der Mensch nur erst durch die Vereinigung, die zwischen ihm und dem anderen zustande kommt, Mensch wird« (vgl. hierzu ausführlicher weiter unten, Anm. 71). 69 Zur genaueren Eingrenzung des Publikationsdatums vgl. den Brief von Lazarus an A. v. Gonzenbach vom 10. Juli 1863 (LSB II/2, 749). 70 Zur Erläuterung der Programmatik der »Völkerpsychologie« vgl. insbesondere die Pilotstudie von Lazarus »Ueber den Begriff und die Möglichkeit einer Völkerpsychologie« (1851), das letzte Kapitel in H. Steinthals »Grammatik, Logik und Psychologie« (1855) sowie den von Lazarus und Steinthal gemeinsam verfassten Aufsatz »Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie, als Einladung zu einer Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft« (Lazarus & Steinthal 1860). 71 Schon im ersten Teil seiner »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (1784) schreibt Herder: »Also auch um die Wildheit der Menschen zu brechen und sie zum häuslichen Umgange zu gewöhnen, sollte die Kindheit unsres Geschlechts lange Jahre dauren; die Natur zwang und hielt es durch zarte Bande zusammen, daß es sich nicht, wie die bald ausgebildeten Tiere, zerstreuen und vergessen konnte. Nun ward der Vater der Erzieher seines Sohns, wie die Mutter seine Säugerin gewesen war, und so ward ein neues Glied der Humanität geknüpfet. Hier lag nämlich der Grund zu einer notwendigen menschlichen Gesellschaft, ohne die kein Mensch aufwachsen, keine Mehrheit von Menschen sein könnte. Der Mensch ist also zur Gesellschaft geboren, das sagt ihm das Mitgefühl seiner Eltern, das sagen ihm die Jahre seiner langen Kindheit.« (zit. nach Herder 1965a, 157) Im zweiten, 1785 erschienenen Teil ist dann in diesem Sinne zunächst die Rede davon, dass der Mensch »also wirklich in und zu der Gesellschaft gebildet« sei und »ohne sie weder entstehen noch ein Mensch werden (konnte)« (a.a.O., 311), was an späterer Stelle folgende Zuspitzung erfährt: »Der Naturstand des Menschen ist der Stand der Gesellschaft; denn in dieser wird er geboren und erzogen, zu ihr führt ihn der aufwachende Trieb seiner schönen Jugend, und die süßesten Namen der Menschheit, Vater, Kind, Bruder, Schwester, Geliebter, Freund, Versorger, sind Bande des Naturrechts, die im Stande jeder ursprünglichen Menschengesellschaft stattfinden.« (a.a.O., 360 - Hervorh. P.K.) Fichte nimmt in seinen 1794 herausgegebenen Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten den herderschen Gedanken auf und resümiert: »Der gesellschaftliche Trieb gehört demnach unter die Grundtriebe des Menschen. Der Mensch ist bestimmt, in der Gesellschaft zu leben; er soll in der Gesellschaft leben; er ist kein ganz vollendeter Mensch und widerspricht sich selbst, wenn er isolirt lebt.« (zit. nach FGA 1,3, 37) Stärker ins Detail geht dann wieder Feuerbach, bei dem es (34 Jahre nach Fichte) im § 17 seiner Habilitationsschrift zunächst heißt: »Der

267 Mensch glüht von dem ihm nicht auszutreibenden, unauslöschlichen Verlangen, sich mit dem anderen, von dem er von Natur getrennt ist, wie auch immer zu vereinigen. Er verlangt und sucht nach dem anderen. Eine innere, verborgene Macht und Kraft drängt ihn, den anderen zu lieben; er kann ohne ihn nicht sein, so daß der Mensch nur erst durch die Vereinigung, die zwischen ihm und dem anderen zustande kommt, Mensch wird. Dagegen wäre ein Mensch, der völlig und in sich selbst vereinzelt und allein wäre, ein Tier ...« (zit. nach GW 1, 93) Was dann in einer Anmerkung folgende ausführliche Erläuterung findet: »Der Mensch wird also erst zum Menschen, er wird nicht als solcher geboren. Von Natur aus denkt er nämlich nicht, von Natur aus ist er vernunftlos und vom Anderen völlig getrennt. Dem Menschen ist die Vernunft nicht etwa, wie vergleichsweise dem Magneten die magnetische Kraft angeboren und in ihm liegend, sie geht auch nicht aus ihm hervor wie die Frucht aus dem Baum, sondern der Mensch ist als Einzelner ganz ohne Vernunft. Die Vernunft ist ja etwas Gemeinsames und Allgemeines; und der Mensch als Einzelner ist gänzlich geschieden und getrennt vom Anderen, also kann der einzelne Mensch nicht denken. (...) Da die Vernunft ein Gemeinsames ist und nicht dem einzelnen Menschen angeboren und ihm eigentümlich, gelangt der Mensch mithin, wenn er nicht in einem Staatsverband lebte, niemals zur Vernunft oder zum Denken. Der Mensch kommt nicht von selbst, sondern durch jene Vernunft, die schon vorhanden ist, die als Gemeinschaft und Gesellschaft des Lebens auftritt, zur denkenden Vernunft. (...) von den Anlangen des Menschengeschlechtes an waren die Menschen aufs engste durch Gesellschaft und Lebensgemeinschaft miteinander verbunden. Das Tier ist als Einzelwesen Tier. Die Menschen hingegen sind nur als der Eine Mensch, als Menschengattung, als Ein Ganzes, als Eine Gesellschaft wirklich Menschen. Der Ursprung der Vernunft, soweit sie im Einzelmenschen vorhanden ist, ist aus dem Ganzen, das früher als seine Teile ist, wie wir mit Aristoteles festzustellen durch die Vernunft selbst gezwungen sind, ist aus dem Anderen und der Anschauung desselben, ohne die der Einzelne sich weder seiner selbst noch der Dinge, die ihm von außen entgegentreten, bewußt wäre, sie ist überhaupt aus seiner Verbindung mit dem Anderen herzuleiten. Der Mensch ist folglich mit dem Anderen derart verbunden und vereint, daß der einzelne Mensch nur etwas Angenommenes ist; und wenn wir einen Menschen suchen wollten, der noch nicht durch die Menschengesellschaft beeinflußt ist, an dem wir feststellen könnten, was der Mensch außerhalb der Gesellschaft wäre, so müßten wir solch einen Menschen suchen, der weder gezeugt noch geboren, sondern aus dem Nichts erschaffen wäre. Denn der arme Mensch wird ja schon in seiner Mutter Leib oder Uterus durch die Menschengesellschaft geschändet und verdorben, da ohne Zweifel die Mutter auf die Seele des ungeborenen Kindes nicht nur großen Einfluß hat, sondern dieser sogar für die erste Vernunft und Wesensart des Kindes anzusehen ist.« (a.a.O., 163/165) 72 Wie später noch deutlicher werden soll, ist mit dieser Relativierung der Bedeutung des »Sozialen« gegenüber dem »Historischen« bereits die entscheidende Wende in Richtung auf die These vollzogen, die über das Stadium

268 der Primitivität hinausführende 'Humanisation' der »Einzelnen« bestehe im wesentlichen in einer kontinuierlichen »Aneignung« des die Generationen überdauernden »objektiven Geistes«, dem eine substantielle Existenz jenseits der lebendigen Menschengemeinschaft zukommt - eine These, die umso mehr Gestalt annimmt, je mehr einerseits das Gegenwärtige überhaupt als eine Erscheinungsform der Vergangenheit aufgefasst und andererseits das anfänglich unterstellte Verhältnis von Individuum und »Gesellschaft« in eine Makler-Klienten-Beziehung umgedeutet wird bis zur schließlichen Exklusivbestimmung der »Gesellschaft« als 'Agentur' des »objektiven Geistes«. 73 Vgl. hierzu den § 240 der (erstmals 1834 erschienenen und später in den fünften Band der Sämmtlichen Werke aufgenommenen) zweiten Auflage von Herbarts Lehrbuch zur Psychologie. 74 Wörtlich heißt es: »Es verbleibe also der Mensch als seelisches Individuum Gegenstand der individuellen Psychologie, wie eine solche die bisherige Psychologie war; es stelle sich aber als Fortsetzung neben sie die Psychologie des gesellschaftlichen Menschen oder der menschlichen Gesellschaft, die wir Völkerpsychologie nennen«. 75 Genau besehen firmieren nach alledem also unter dem Etikett »Völkerpsychologie« zwei völlig verschiedene Grundkonzeptionen, die zueinander in einem Verhältnis wechselseitiger Exklusion stehen - was sehr sinnfällig darin zum Ausdruck kommt, dass die erste, nämlich die einer »Psychologie des gesellschaftlichen Menschen«, unmittelbar nachdem sie ihre Funktion erfüllt hat, die Notwendigkeit einer anderen Psychologie, »als es die bisherige Psychologie war«, zu begründen, ohne jede weitere Erklärung ad acta gelegt wird. Tatsächlich dürfte ja nach den eingangs formulierten Einsichten die »individuelle Psychologie« für sich genommen überhaupt keine Existenzberechtigung mehr haben, vielmehr bestenfalls noch als (durch systematische Abstraktion gewonnenes) 'Grenzgebiet' einer »Psychologie des gesellschaftlichen Menschen« überdauern können. Eine Konsequenz, die sich übrigens in Steinthals »Grammatik, Logik und Psychologie« noch viel deutlicher abzeichnet, wo es heißt: »Die heutige Psychologie nämlich ist individuelle Psychologie, d.h. ihr Gegenstand ist das seelische Individuum, wie es sich ganz allgemein in jedem beseelten Wesen, dem Menschen und auch, bis auf einen gewissen Punkt, dem Thiere offenbart. Nun ist es aber eine wesentliche Bestimmung der menschlichen Seele, nicht ein für sich allein stehendes Individuum zu sein, sondern einer Gemeinschaft anzugehören, und zwar zunächst, leiblich und seelisch, einem Volke. (...) Das Individuum kann also gar nicht vollständig begriffen werden ohne Rücksicht auf die geistige Gesammtheit, in der es entstanden ist und lebt. (...) Wir können uns den Menschen gar nicht anders denken, denn ... als Glied einer Volksgemeinschaft, und folglich die Menschheit nicht anders, denn als getheilt in Völker und Stämme. Jede andere Auffassung, die den Menschen nimmt, wie er vor der Bildung der Völker und Sprachen war, kann eine nothwendige wissenschaftliche Fiction sein, wie die mathematische Linie, der mathematische Punkt, der Fall im luftleeren Räume; ergreift aber den Menschen keineswegs nach seinem

269 wirklichen Dasein.« (Steinthal 1855, 388 u. 390 - durchgehende Hervorhn. P.K.) Wenn also zugestandenermaßen die »individuelle Psychologie« eine »wissenschaftliche Fiction« ist, die »den Menschen keineswegs nach seinem wirklichen Dasein (begreift)« während »die Völkerpsychologie uns ... sogleich mitten in die Wirklichkeit des menschlichen Lebens (versetzt)« (a.a.O., 390) - ist es dann nicht eine methodische Absurdität, in Letzterer lediglich eine »Ergänzung« zur »individuellen Psychologie« (vgl. a.a.O., 388) sehen zu wollen, anstatt eine Ersetzung der »individuellen Psychologie« durch die »Völkerpsychologie« (im Sinne einer »Psychologie des gesellschaftlichen Menschen«), d.h. einen Paradigmenwechsel zu fordern? Ganz anders verhält es sich indes, wenn man von vornherein gar nicht auf das »seelische Individuum«, inwiefern es »leiblich und seelisch einem Volke angehört« und durch diese Zugehörigkeit »in seiner geistigen Entwickelung mannigfach bestimmt« wird (vgl. ebd.), als Gegenstand bzw. »Subjekt« der »Völkerpsychologie« reflektiert, sondern als deren zentralen Gegenstand einen in direkter Analogie zum »'Geist' des Individuums« konzipierten »Gesamt-« bzw. »Volksgeist« bestimmt (vgl. in diesem Sinne bereits Lazarus 1851) - dann ist allerdings die »individuelle Psychologie« als allgemein verbindliches Referenzsystem auch weiterhin unverzichtbar. Freilich erweist sich dann aber auch die vermeintlich so radikale Kritik an ihr in letzter Instanz als folgenlose Spiegelfechterei! 76 In eben diesem Sinne kann man bereits bei W. v. Humboldt in seiner posthum (1836) erschienenen Schrift »Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts« lesen: »Die aus ihrer inneren Tiefe und Fülle in den Lauf der Weltbegebenheiten eingreifende Geisteskraft ist das wahrhaft schaffende Princip in dem verborgenen und gleichsam geheimnißvollen Entwicklungsgänge der Menschheit (...) Sie unterscheidet sich besonders dadurch, daß ihre Werke nicht bloß Grundlagen werden, auf die man fortbauen kann, sondern zugleich den wieder entzündenden Hauch in sich tragen, der sie erzeugt. Sie pflanzen Leben fort, weil sie aus vollem Leben hervorgehn. Denn die sie hervorbringende Kraft wirkt mit der Spannung ihres ganzen Strebens und in ihrer vollen Einheit, zugleich aber wahrhaft schöpferisch, ihr ... eignes Erzeugen als ihr selbst unerklärliche Natur betrachtend; sie hat nicht bloß zufallig Neues ergriffen oder bloß an bereits Bekanntes angeknüpft.« (a.a.O., 12) Offenbar eine Variation des schon gut zweieinhalb Jahrzehnte früher von A.H. Müller in seinen »Elementen der Staatskunst« angeschlagenen Themas vom »geistigen Kapital«. Müller hatte in Anlehnung an die Lehre der klassischen politischen Ökonomie von den drei Elementen des Nationalreichtums (Land, Arbeit, Kapital) zunächst für das dritte Element folgende Definition gegeben: »In so fern Produkte oder ihr Werth zu neuer Erzeugung aufbewahrt oder angewendet werden, nennen wir sie: Capital« und diese Definition dann dahingehend erläutert, dass das Kapital »also das Resultat früherer Production« sei, »welches uns bei der gegenwärtigen Production beisteht, und wodurch der Mensch eine große Masse von Kraft in einen einzelnen Moment zusammenzudrängen in Stand gesetzt wird«. Dementsprechend ist

270 das »National-Capital« Müller zufolge »die gesammte Verlassenschaft früherer Generationen, oder früherer Jahre, früherer Tage, die auf den gegenwärtigen Augenblick herabkommt und der gegenwärtigen Generation eine unendlich größere Production zu Stande bringen hilft, als sie, auf ihren eignen isolirten Kräften ruhend, je zu erzeugen vermöchte. In dem NationalCapitale verbirgt sich der Beistand der Vergangenheit, welchen die Gegenwart, auf ihre eigene Kraft trotzend, so gern verläugnen möchte.« (Müller 1809, Teil 2, 458) Dabei ist »dieses Capital«, wie es an späterer Stelle heißt, »doppelter Natur, ein geistiges und ein physisches«. Präziser: »Es giebt zwei große Gemeingüter der Menschen, welche alle Verbindungen und Trennungen unter den Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft zu bestimmen und anzuordnen dienen: das eine dieser Gemeingüter ist ein mehr geistiges, die Sprache, das andere ein mehr physisches, das Geld. (...) Nach Maßgabe der Localität eines bestimmten Landes, und des Charakters einer bestimmten Nation, werden sich diese beiden Auseinandersetzungsund zugleich auch Verbindungs-Instrumente eigenthümlich ausprägen. (...) In dieser Landessprache und in diesem Landgelde vornehmlich, stellt sich das Capital einer Nation dar: ihr Capital an Erfahrungen, Ideen und Lebensweisheit wird aufbewahrt und bewirthschaftet vermittelst der Sprache; ihr Waaren- und Sachen-Capital wird conservirt und in Bewegung gesetzt vermittelst des Geldes.« (Müller 1809, Teil 3, 29 u. 30) 77 Bereits an früherer Stelle weisen Lazarus und Steinthal darauf hin, dass das, »was Franklin in seiner Definition des Menschen hervorgehoben« habe, »nicht bloß in praktischer, sondern auch in theoretischer Beziehung ... von der wesentlichsten Bedeutung« sei: »'Der Mensch ist ein Werkzeug machendes (tool-making) Thier.' Eine Reihe von erfindenden Vorstellungen gewinnt im Werkzeug ihre Verwirklichung und wird zu einer Kraft, welche von den durch die Natur selbst gegebenen Kräften verschieden ist; sie bewirkt den Fortschritt und die Erhebung über die Natur hinaus, während alle Thiere auf die Art und das Maß der von Natur gegebenen Kräfte beschränkt bleiben. Und das Werkzeug und sein Product wirkt wieder auf den Geist und seine That zurück: zur Erfindung anreizend und befähigend. Tiefer liegend aber und nicht minder wichtig ist die Betrachtung, daß innerhalb des menschlichen Geistes, rein in dem Wesen seiner Thätigkeit es gegeben ist, fast mit jeder geistigen Arbeit zugleich ein geistiges Werkzeug zu schaffen«, so dass also »die Bewegung der Vorstellungen ein organisches System zur Erzeugung von geistigen Werkzeugen (einschließt), welche einander helfen, heben und fortbilden.« (a.a.O., 18) 78 N.B.: Schon in »Grammatik, Logik und Psychologie« hatte Steinthal den »Webstuhl« als den »verkörperte(n) Gedanke(n) des Webens« bezeichnet (vgl. Steinthal 1855, 111). 79 Vgl. hierzu die vorvergangene Anmerkung. 80 Wesentlich auf Betreiben des Nationalökonomen B. Hildebrand (zu diesem Zeitpunkt nicht nur Rektor der Berner Universität, sondern zudem auch Berater der Regierung in hochschulpolitischen Fragen) war zum Sommersemester 1860 eine ad personam Lazarus konzipierte Professur für »Psychologie und Völkerpsychologie« eingerichtet worden, die er dann bis

271 zum Frühjahr 1866 inne hatte (vgl. hierzu ausführlicher Leicht 1904, 39 f., Belke 1971, XXVI ff., Heller 1986, 3 ff.). 81 Unmittelbar anschließend bemerkt Lazarus, dass »bei einer anderen Gelegenheit« (gemeint sind die »Einleitenden Gedanken«) »bereits darauf hingewiesen« worden sei, »daß der Mensch sich nicht blos physische, sondern auch psychische Instrumente schafft, und daß seine höchste Entwicklung durch diese bedingt ist«. 82 Auch hier scheint eine starke Anlehnung an Herder vorzuliegen, bei dem es bereits im zweiten Teil der »Ideen« unter der Überschrift »So gern der Mensch alles aus sich selbst hervorzubringen wähnet, so sehr hanget er doch in der Entwicklung seiner Fähigkeiten von andern ab« heißt: »Die Vernunft ist ein Aggregat von Bemerkungen und Übungen unsrer Seele, eine Summe der Erziehung unsres Geschlechts, die nach gegebnen fremden Vorbildern der Erzogne zuletzt als ein fremder Künstler an sich vollendet. Hier also liegt das Principium zur Geschichte der Menschheit, ohne welche es keine solche Geschichte gäbe. Empfinge der Mensch alles aus sich und entwickelte es abgetrennt von äußern Gegenständen, so wäre zwar eine Geschichte des Menschen, aber nicht der Menschen, nicht ihres ganzen Geschlechts möglich. Da nun aber unser spezifische Charakter eben darin liegt, daß wir, beinah ohne Instinkt geboren, nur durch eine lebenslange Übung zur Menschheit gebildet werden, und sowohl die Perfektibilität als die Korruptibilität unsres Geschlechts hierauf beruhet, so wird eben damit auch die Geschichte der Menschheit notwendig ein Ganzes, d.i. eine Kette der Geselligkeit und bildenden Tradition vom ersten bis zum letzten Gliede.« (Herder 1965a, 335) Solange daher »der Mensch unter Menschen« bleibt, kann er der »bildenden oder mißbildenden Kultur nicht entweichen: Tradition tritt zu ihm und formt seinen Kopf und bildet seine Glieder. Wie jene ist und wie diese sich bilden lassen, so wird der Mensch, so ist er gestaltet. Selbst Kinder, die unter die Tiere gerieten, nahmen, wenn sie einige Zeit bei Menschen gelebt hatten, schon menschliche Kultur unter dieselbe, wie die bekannten meisten Exempel beweisen ...« (a.a.O., 338 f.) An späterer Stelle ist dann die Rede davon, dass »die Vernunft und Humanität der Menschen von Erziehung, Sprache und Tradition« abhängen und dass »unser Geschlecht hierin völlig vom Tier unterschieden« sei, »das seinen unfehlbaren Instinkt auf die Welt mitbringt« (a.a.O., 388). Und im dritten, 1787 veröffentlichten Teil der »Ideen« schließlich können wir lesen: »Die Fortpflanzung der Geschlechter und Traditionen knüpfte also auch die menschliche Vernunft aneinander, nicht als ob sie in jedem einzelnen nur ein Bruch des Ganzen wäre, eines Ganzen, das in einem Subjekt nirgend existieret, ... sondern weil es die Anlage und Kette des ganzen Geschlechts so mit sich führte. Wie sich die Menschen fortpflanzen, pflanzen die Tiere sich auch fort, ohne daß eine allgemeine Tiervernunft aus ihren Geschlechtern werde; aber weil Vernunft allein den Beharrungsstand der Menschheit bildet, mußte sie sich als Charakter des Geschlechts fortpflanzen; denn ohne sie war das Geschlecht nicht mehr.« (Herder 1965b, 251 f.) 83 Nicht, dass der »völkerpsychologische« Ansatz Hegel nicht auch konzeptionell etwas zu verdanken hätte. Allerdings sind die betreffenden Anknüpfungspunkte eben nicht in Hegels Rechtsphilosophie zu suchen (vgl. oben,

272 Anm. 66), sondern zum einen in seiner Geschichtsphilosophie (vgl. TWA 10, 347-353 u. TWA 12, 11-133 sowie 559 f.) und zum anderen in seiner Anthropologie (vgl. insbes. TWA 10, 57-74). Dabei ist der Nachweis, dass die lazarus-steinthalsche »Völkerpsychologie«, insoweit sie »Volksgeist«-Lehre ist, vor allem der hegelschen Geschichtsphilosophie Wesentliches verdankt, keineswegs nur über eine aufwendige vergleichende Textanalyse zu erbringen (vgl. hierzu Eckardt 1971, 96-102), vielmehr gibt es diesbezügliche explizite Hinweise sowohl in Lazarus' Pilotstudie »Ueber den Begriff und die Möglichkeit einer Völkerpsychologie« (vgl. Lazarus 1851, 113 ff.) als auch (damit nahezu wörtlich übereinstimmend) in den lazarus-steinthalschen »Einleitenden Gedanken« (vgl. Lazarus & Steinthal 1860, 20 f.). 84 Auch dies ein Gedanke, der sich in nuce bereits bei W. v. Humboldt in seiner posthumen Schrift »Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues ...« findet, heißt es hier doch: »Denn so innerlich auch die Sprache durchaus ist, so hat sie dennoch zugleich ein unabhängiges, äußeres, gegen den Menschen selbst Gewalt übendes Dasein.« (a.a.O., 11). 85 N.B.: Schon F. List hatte in seinem »Nationalen System der politischen Ökonomie« (11841) den Anwendungsbereich des von A. Müller geprägten Begriffs des »geistigen Kapitals« (vgl. oben, Anm. 76) erheblich über die Sprache hinaus erweitert und auf »alle Fortschritte« ausgedehnt, »die im Laufe der verflossenen Jahrtausende in den Wissenschaften und Künsten, in den häuslichen und öffentlichen Einrichtungen, in der Geistesbildung und in der Produktionsfahigkeit gemacht worden sind«. Danach »(ist) der jetzige Zustand der Nationen eine Folge der Anhäufung aller Entdeckungen, Erfindungen, Verbesserungen, Vervollkommnungen und Anstrengungen aller Generationen, die vor uns gelebt haben; sie bilden das geistige Kapital der lebenden Menschheit, und jede einzelne Nation ist nur produktiv in dem Verhältnis, in welchem sie diese Errungenschaft früherer Generationen in sich aufzunehmen und sie durch eigene Erwerbungen zu vermehren gewußt hat«, (zit. nach List 1930, 179) Was Lazarus betrifft, so ist seine Bekanntschaft mit den Auffassungen Müllers und Lists wohl weniger eine direkte als eine durch B. Hildebrand vermittelte gewesen und könnte sowohl durch persönliche Gespräche mit diesem als auch durch die Lektüre seines 1848 erschienenen Buches »Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft« zustande gekommen sein. (Zur Zuordnung des »völkerpsychologischen« Ansatzes zu bestimmten ökonomischen Grundkonzeptionen vgl. auch Freyer 1921, 118 ff.). 86 In einer diesem Passus direkt zugeordneten Fußnote macht Lazarus die einschränkende Bemerkung, dass »rein symbolische Verkörperungen des Gedankens von der Continuität des Verständnisses, d.h. der subjectiven Thätigkeit, völlig abhängig« bleiben. So seien etwa »die Hieroglyphenschriften von dem Aussterben ihrer Kenner bis zur erneuten Entzifferung wirkliche Gedankenmumien« gewesen, denen »erst durch das Genie der Combination neuer Lebensodem eingehaucht« wurde. Und »selbst die classischen Werke der Plastik waren für ein ganzes Jahrtausend in so fern verstummt, als es kein Organ gab, sie zu verstehen« (a.a.O.). Diese Erkenntnis konsequent zu

273 realisieren, hätte freilich bedeutet, das Konstrukt des »objektiven Geistes« grundsätzlich in Frage zu stellen. 87 Spätestens hier zeigt sich, wie weit Lazarus - bei auf den ersten Blick vergleichbaren Ausgangspositionen - am Ende doch von Herder entfernt ist. Sicher, auch dieser konnte nicht genug betonen, wie sehr »die Vernunft und Humanität der Menschen von Erziehung, Sprache und Tradition« abhängen (1965a, 388) und dass daher »die Tradition eine an sich vortreffliche, unserm Geschlecht unentbehrliche Naturordnung« sei (1965b, 93); er gab zugleich aber auch zu bedenken, dass die Tradition, sobald sie »sowohl in praktischen Staatsanstalten als im Unterricht alle Denkkraft fesselt« und »allen Fortgang der Menschenvernunft und Verbesserung nach neuen Umständen und Zeiten hindert«, sich als »wahre(s) Opium des Geistes sowohl für Staaten als Sekten und einzelne Menschen« auswirkt (a.a.O., 93 f.). Deshalb war es für Herder eine ausgemachte Sache, dass jedes »Menschendenkmal« immer nur eine zeitlich befristete Bedeutung haben könne, »da es im Strom der Generationen nur von den Händen der Zeit für die Zeit errichtet war und augenblicklich der Nachwelt verderblich wird, sobald es ihr neues Bestreben unnötig macht oder aufhält« (1965a, 342). Überdies sei die »zerfallende Brechlichkeit auch der schönsten Werke von ihrer Materie unzertrennlich«, mit der Konsequenz, dass »auf den Trümmern derselben eine neue bessernde oder bauende Mühe der Menschen stattfände«. Jeder Einzelne müsse »davon«, und es könne »ihm sodann gleich sein, was die Nachwelt mit seinen Werken vornehme«; mehr noch, »(es) wäre einem guten Geist sogar widrig, wenn die folgenden Geschlechter solche mit toter Stupidität anbeten und nichts Eigenes unternehmen wollten« (ebd.). Im Fazit lässt sich Herder daher auch nicht vom »Maschinenwerk der Revolutionen« irritieren, er sieht vielmehr genau, dass »es unserem Geschlecht so nötig (ist) wie dem Strom seine Wogen, damit er nicht ein stehender Sumpf werde« (a.a.O., 343) - während für Lazarus gerade die Bewahrung des einmal Erreichten die unabdingbare Voraussetzung für jeden weiteren Fortschritt ist, Revolutionen daher bestenfalls die Rolle eines 'retardierenden Moments' im ansonsten gleichförmig ablaufenden Prozeß einer fortwährenden Akkumulation des »geistigen Kapitals« spielen können (vgl. hierzu ausführlicher Lazarus 1862b, 428 ff. u. 443 ff. sowie die folgenden Zitate im vorliegenden Text). 88 Vgl. hierzu ausführlicher den gesamten, »Formen des Zusammenwirkens im Gesammtgeist« betitelten § 4 des Essays (Lazarus a.a.O., 21-38). 89 Wenn H. Sprung in ihrem 1992 erschienenen kleinen Aufsatz über die Ursprünge der Völkerpsychologie sehr zurückhaltend von der »mittelbare(n) Fortsetzung« spricht, welche »ehemalige völkerpsychologische Probleme« in den Fragestellungen der »sowjetischen kulturhistorischen Schule« gefunden haben (vgl. H. Sprung 1992, 94), so ist damit bereits angedeutet, dass vorderhand nicht ohne weiteres von einem direkten Deszendenzverhältnis ausgegangen werden kann, vielmehr auch die Möglichkeit einer mehrfach (teils auch über 'Umwege' und über Vermischungen mit anderen Traditionslinien) vermittelten Tradierung in Betracht gezogen werden muss.

274 90 Zu detaillierteren biographischen Angaben über diesen, in der Fachliteratur besser unter dem Namen Paul von Lilienfeld bekannten Autor vgl. Nowikow 1988, 32 ff. u. 136. 91 Da er die Originalversion des Buches (es erschien 1873 auch in deutscher Sprache) nicht unter seinem vollen Namen, sondern nur unter den Initialen »P.L.« publizierte, wurde v. Lilienfeld, der ein hoher zaristischer Beamter und überzeugter Monarchist war, zur »Hauptperson einer komischen und später in ganz Rußland belachten Episode«: »Das Pseudonym 'P.L.' ... brachte die Zensur auf den Gedanken, daß sein Autor P.L. Lavrov sei, der damals im Westen lebte und von Zeit zu Zeit unter einem ähnlichen Pseudonym Artikel in Rußland drucken ließ. Das Buch wurde verboten und die Anordnung erlassen, daß es aus den öffentlichen Bibliotheken zu entfernen sei. P.F. Lilienfeld, der zu dieser Zeit Gouverneur von Kurland [das heutige Lettland - P.K.] war, sah sich genötigt, diese Anweisung zu befolgen und den Befehl zur Entfernung des Buches - dessen Inhalt nichts mit sozialistischen oder revolutionären Gedanken zu tun hatte - aus den öffentlichen Bibliotheken zu vollstrecken.« (Nowikow, a.a.O, 34, Fußn. 36) Bliebe zu ergänzen, dass wohl nicht nur die Initialen »P.L.«, sondern auch der Titel des Buches, der ja deutliche Anklänge an Feuerbachs »Grundsätze der Philosophie der Zukunft« aufweist, als Indiz dafür genommen wurde, dass es sich bei seinem Autor um den Soziologen und Publizisten Pjotr Lawrowitsch Lawrow (1823-1900), einen der führenden Ideologen der Volkstümlerbewegung, prominentes Mitglied der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) und Teilnehmer an der Pariser Kommune, handelte ein Irrtum, der dann, wie es scheint, in den 40er Jahren unseres Jahrhunderts noch einmal zum Tragen kam. 92 Vgl. hierzu Rubinstein 1973, 201 f. sowie Rubinstein 1977, 103 f. 93 »Menschliche Arbeit schlechthin, Verausgabung menschlicher Arbeitskraft, ist zwar jeder Bestimmung fähig, aber an und für sich unbestimmt. Verwirklichen, vergegenständlichen kann sie sich nur, sobald die menschliche Arbeitskraft in bestimmter Form verausgabt wird, als bestimmte Arbeit, denn nur der bestimmten Arbeit steht ein Naturstoff gegenüber, ein äußeres Material, worin sie sich vergegenständlicht. Bloß der Hegel'sche 'Begriff bringt es fertig, sich ohne äußern Stoff zu objektiviren.« (Marx 1867, 18 zit. nach MEGA2 II/5, 31) (N.B.: In einer erläuternden Fußnote zitiert Marx aus dem ersten Teil der hegelschen »Enzyklopädie« folgenden Satz: »Der Begriff, welcher zunächst nur subjektiv ist, schreitet, ohne daß er dazu eines äußeren Materials oder Stoffs bedarf, seiner eignen Thätigkeit gemäß, dazu fort, sich zu objektiviren.« - vgl. TWA 8, 351) 94 Viele Jahrzehnte später kann man dann, quasi als Quintessenz der Ausführungen v. Lilienfelds, bei Leontjew lesen: »Der Komplex von Fähigkeiten, die das Individuum bei der Arbeit einsetzt und die im Arbeitsprodukt fixiert werden, muß natürlich auch körperliche Kräfte und Fähigkeiten umfassen, die jedoch die spezifische Seite menschlicher Arbeit, die ihren psychologischen Inhalt ausdrückt, lediglich praktisch realisieren.« (Leontjew 1973c, 280)

275 95 Entsprechend wird es bei Leontjew dann heißen: »Ein recht kompliziertes Problem ist die Nachahmung der Affen, über die schon viel diskutiert worden ist. (...) Jedenfalls dürfte die Nachahmungsfahigkeit und die Rolle, die sie im Verhalten spielt, auch bei diesen Tieren, die am meisten zur Nachahmung neigen, äußerst begrenzt sein. (...) Recht aufschlußreich sind in dieser Hinsicht die ... Tatsachen über das Verhalten des jungen Schimpansen Jonny. Das Tier imitierte oft Handlungen von Menschen, insbesondere Werkzeughandlungen, wie das Einschlagen eines Nagels mit dem Hammer. Trotzdem vermochte er die objektive Logik seines Tuns nicht zu erfassen: Er wandte nicht die erforderliche Kraft auf, er setzte den Nagel nicht senkrecht zur Fläche an oder schlug mit dem Hammer daneben.« (a.a.O., 294) 96 An späterer Stelle schreibt v. Lilienfeld selbst: »Die von einem Menschen ausgegangene geistige Kraft kann in solcher Weise eine unbestimmbar lange Zeit aufbewahrt werden, gleich dem Licht und der Wärme, die ein fester Körper absorbirt. Und sowie die Wirkung eines galvanischen Stroms nur dann erfolgt, wenn die galvanische Batterie geschlossen wird, so erfolgt auch der Reflex vollständig erst dann, wenn durch irgend eine zweite Person die Aufnahme der in Schrift, in Druck oder einer anderen Form verkörperten geistigen Kraft erfolgt ist.« (a.a.O., 220) 97 Dass derartige Gedankengänge in der Tat auch die 'Folie' von Leontjews »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzepts bilden, davon kann man sich leicht überzeugen, wenn man seinem Hinweis auf einen 1958 publizierten Text von H. Pidron folgt, der als Beleg dafür dienen soll, dass »die Anschauung, die den besonderen Charakter der psychischen Entwicklung des Menschen als einen Prozeß anerkennt, in dem das übertragen und angeeignet wird, was frühere Generationen erworben haben, in der Psychologie immer mehr anerkannt« wird (Leontjew 1961, 28). Bei Pidron stößt man nämlich auf folgenden bemerkenswerten Passus: »Or les instruments verbaux de nos langues de civilisation occidentale permettent une notable dconomie de la memoire par ses enregistrements condeses, dont les versions dcrites assurent une independance qui permet, quand on envisage les bibliothfeques, une assimilation ä des 'super-cerveaux', 'Uebergehirne' de Bernard Rensch.« (Pidron 1958, 93) Und bei B. Rensch selbst (»Die stammesgeschichtliche Sonderstellung des Menschen«) heißt es: »Von entscheidender Bedeutung in der Entwicklung aller Kulturen war die Erfindung der Schrift, durch welche die Tradition gefestigt und die Bildung abstrakter Begriffe erleichtert wurde. Die Vervielfältigungsmöglichkeiten, späterhin vor allem durch den Druck, schufen außerordentliche Möglichkeiten der Ausbreitung und damit auch der weiteren Beschleunigung aller kulturellen Fortschritte. Noch viel wesentlicher aber war die Tatsache, daß in den Manuskripten und Büchern Erfahrungen und Gedankenreihen in einem Ausmaß niedergelegt werden konnten, wie sie ein einzelnes Hirn gar nicht zu erfassen und behalten in der Lage wäre. Unsere Büchereien stellen gewissermaßen soziale Übergehirne dar. Alle die zahllosen dort gestapelten Werke enthalten - wie ich dies einmal (1947, 1954) bezeichnete 'extracerebrale Assoziationsketten d.h. Gedankenfolgen, die man beim Lesen jederzeit in sich aufnehmen kann, die aber in ihrer Ge-

276 samtheit niemals in einem Hirn oder selbst in allen Hirnen eines Volkes völlig bewahrt werden könnten, weil das Gedächtnisvermögen begrenzt ist.« (Rensch 1957, 27 - bei der von Rensch erwähnten früheren Arbeit handelt es sich um die 1947 in erster Auflage erschienene Schrift »Neuere Probleme der Abstammungslehre. Die transspezifische Evolution«.) 98 Wir erinnern uns: Leontjew zufolge ist »die geistige, die psychische Entwicklung« menschlicher Individuen »das Produkt eines besonderen Prozesses - der Aneignung -, den es beim Tier nicht gibt, ebenso wie bei diesem auch der entgegengesetzte Vorgang - die Vergegenständlichung von Fähigkeiten in den Produkten der Tätigkeit - nicht existiert« (1973c, 282). 99 Siehe insbesondere den ersten Band von »Bau und Leben des socialen Körpers« (11875, 21881), in welchem Schäffle - in Verteidigung der von Lazarus begründeten Auffassungen gegen die Einwände E. v. Hartmanns (vgl. v. Hartmann 1871) einerseits und im Rückgriff auf die Konstruktionen v. Lilienfelds andererseits - eine ausführliche Darstellung der Konzeption des »objektiven Geistes« (inklusive der Aneignungsmetapher) gibt, wobei ein bestimmter Passus aus dem vierten Hauptabschnitt des Buches insofern besonderes Interesse verdient, als er eindeutig belegt, dass das 'leontjewsche' »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept bereits im Jahre 1875 nicht nur von den Vorstellungsinhalten, sondern auch von der Terminologie her vollständig etabliert war, und zwar im Rahmen einer Gesamtkonzeption, die wohl an keinem Punkt Gefahr läuft, mit Marx ' historischem Materialismus oder seiner Kritik der politischen Ökonomie verwechselt zu werden: »Uebrigens wird die für alle Zeiten vorausgethane geistige Vorarbeit auch äußerlich nicht blos in Symbolen festgehalten. Sie fixirt sich ferner in allen praktischen Anstalten, Werkzeugen, Maschinen, Verwaltungseinrichtungen, und wird in diesen überliefert. Jeder, der ein Werkzeug handhabt oder einen Verwaltungsmechanismus benüzt, wird der praktisch vergegenständlichten Ideen aller Jener theilhaftig, welche zur Erfindung und Ausbildung der fraglichen Einrichtung geistig beigetragen haben.« (Schäffle 1875, 398 - Hervorhn. im letzten Satz P.K.) 100 Auch bei Simmel (»Philosophie des Geldes«) ist der Gedanke zentral, dass »in Sprache und Sitte, politischer Verfassung und Religionslehren, Literatur und Technik die Arbeit unzähliger Generationen niedergelegt (ist), als gegenständlich gewordener Geist, von dem jeder nimmt, so viel er will oder kann, den aber überhaupt kein einzelner ausschöpfen könnte«, so dass »(also) diese verdichtete Geistesarbeit der Kulturgemeinschaft sich zu ihrer Lebendigkeit in den individuellen Geistern wie die weite Fülle der Möglichkeit zu der Begrenzung der Wirklichkeit (verhält)« (zit. nach Simmel 2 1907, 506 u. 506 f.). Dabei realisiert sich das »allgemeine und grundlegende Verhältnis zwischen dem vergegenständlichten Geist ... und dem individuellen Subjekt« auf folgende Weise: Wir beziehen, »historisch angesehen«, den »überwiegenden Teil (unserer Lebensinhalte) aus jenem Vorrat aufgespeicherter Geistesarbeit der Gattung«, sie liegen in diesem als »präformierte Inhalte vor, der Verwirklichung in individuellen Geistern sich darbietend, aber auch jenseits solcher ihre Bestimmtheit festhaltend«. Eine Bestimmtheit, die indes »keineswegs die eines materiellen Gegenstandes« ist; denn: »selbst

277 wenn der Geist an Materien gebunden ist, wie in Geräten, Kunstwerken, Büchern, so fallt er doch nie mit dem zusammen, was an diesen Dingen sinnlich wahrnehmbar ist. Er wohnt ihnen in einer nicht weiter definierbaren potenziellen Form ein, aus der heraus ihn das individuelle Bewußtsein aktualisieren kann.« (a.a.O., 509 f.) Alles in allem ist so »mit der Vergegenständlichung des Geistes die Form gewonnen, die ein Konservieren und Aufhäufen der Bewußtseinsarbeit gestattet; sie ist die bedeutsamste und folgenreichste unter den historischen Kategorien der Menschheit. Denn sie macht zur geschichtlichen Tatsache, was als biologische so zweifelhaft ist: die Vererbung des Erworbenen. Wenn man es als den Vorzug des Menschen den Tieren gegenüber bezeichnet hat, daß er Erbe und nicht bloß Nachkomme wäre, so ist die Vergegenständlichung des Geistes in Worten und Werken, Organisationen und Traditionen der Träger dieser Unterscheidung, die dem Menschen erst seine Welt, ja: eine Welt schenkt.« (a.a.O., 510 f.) 101 Vgl. insbesondere sein 1930 erschienenes Essay »Form und Technik«, aber auch den dritten Band seiner »Philosophie der symbolischen Formen« (1929, 322 f.). 102 Nach dem Vorgang von Freyers »Theorie des objektiven Geistes« (11923, 2 1928, 31933) ist das »Reaktivieren« des »in einem fremdgeistigen Gegenstand niedergeschlagenen Bedeutungskomplexes« weder ein »originales Hervorbringen, das der aufnehmende Geist an der objektivierten Form ausübt«, noch eine »volle Wiederholung der ursprünglich schöpferischen Akte«, das heißt, es braucht »nicht der ganze Schöpferweg mit allen Umwegen noch einmal durchlaufen zu werden; durch die Objektivation ist der Weg gleichsam gebahnt« - vielmehr ist »jedes tätige Hantieren mit geistgeladener Materie, jede praktische Lebensbeziehung zu ihr, ja jedes bloß verstehende Verhalten zu ihr« aufzufassen »als durchsetzt von einer Aktivität, die mit den ursprünglichen hervorbringenden Akten nicht identisch, aber ihnen nach Richtung und Qualität verwandt ist« (Freyer 1923, 64). 36 Jahre später paraphrasiert Leontjew denselben Gedankengang folgendermaßen: »Selbst die einfachsten Werkzeuge und Gegenstände des täglichen Bedarfs, denen das Kind begegnet, müssen von ihm in ihrer spezifischen Qualität erschlossen werden. Mit anderen Worten: Das Kind muß an diesen Dingen eine praktische oder kognitive Tätigkeit vollziehen, die der in ihnen verkörperten menschlichen Tätigkeit adäquat (obwohl mit ihr nicht identisch) ist. In welchem Maße das gelingt und wie weit sich dem Kinde dabei die Bedeutung des gegebenen Gegenstandes oder der gegebenen Erscheinung erschließt, ist ein anderes Problem; es muß jedoch stets diese Tätigkeit vollziehen.« (Leontjew 1973c, 281) Dabei war der hier angesprochene Zusammenhang zwischen dem »bloß verstehenden Verhalten« und den »ursprünglichen hervorbringenden Akten« von Freyer bereits an früherer Stelle ausführlich erörtert worden; mit Blick auf »die Kategorie 'Gerät'« heißt es dort: »Die betreffenden Handlungen mit ihren unmittelbaren materiellen Erfolgen sind nun selbst ein Verlauf in dieser gegenständlichen Welt. (...) Zwecke reihen sich in ihm an Mittel, Erfolge an Vorbereitungen. (...) Und überall nun, wo aus diesem Prozeß ein Teilstück herausgelöst und zum

278 Sinngehalt einer Form objektiviert wird, liegt die Kategorie Gerät vor. Geräte sind die Formen des objektiven Geistes, deren Sinngehalt ein Teilstück aus einem zwecktätig gerichteten Handlungszusammenhang ist. (...) Und eben daraus, daß ... ein bloßes Teilstück einer Gesamthandlung den Sinngehalt der Objektivation bildet, ergibt sich der Gerätecharakter des Produkts: dieses ist und bleibt seinem Sinn nach wesentlich Teil, es genügt sich nicht selbst, sondern will dem Ganzen der Handlung dienstbar wieder eingefügt werden. Es weist immer außer sich, es ist nie Gebilde mit in sich geschlossenem Bedeutungsgehalt. Sondern es fordert eine Erfüllung seiner Sinnintentionen durch hinzutretende Akte der Verwendung. Daß es verwendbar und zwar in bestimmter Richtung verwendbar ist, das ist dem Gerät nicht wie dem Kunstwerk zufällig und unwesentlich, sondern es liegt in der Gesamtstruktur seines Bedeutungsgehalts. (...) Solche Teilstücke von Zwecktätigkeiten also werden in den Formen der Geräte objektiviert. Liegen dann die Formen fertig vor, so findet der Handlungszusammenhang ein Stück seiner selbst vorgetan, er läuft durch das Gerät hindurch ... Das Gesamtbild des Handlungsverlaufs wird natürlich durch Einfügung dieser objektiv geistigen Form, dieses technischen Faktors verändert: einfach deswegen, weil das Vorhandensein dieser Form die gegenständliche Struktur des Wirkungsfeldes verändert hat, dem die Handlung sich anpassen muß. Anstatt die Hand hohl zu machen, ergreife ich mittels ganz andersartiger Bewegungen die Trinkschale.« (a.a.O., 49 f.) - Hieraus wird dann bei Leontjew das in der Folge auch in den Publikationen der Kritischen Psychologie wieder und wieder zitierte »Tassen-« bzw. »Löffelbeispiel«, an dem sich exemplarisch demonstrieren lässt, wie sich »die Handbewegungen des Kindes ... der objektiven Logik des Umgangs mit« dem jeweiligen »Gerät [sie!] unter(ordnen)«, die »in der Eigenart seiner Form verkörpert ist« (vgl. Leontjew 1973c, 291 f. u. 1973d, 452 f. sowie Holzkamp 31976, 190; 1983, 447 f.; 1987, 24, 27 f., 30, 32 f. u. 1993, 286). Nicht uninteressant dürfte in diesem Zusammenhang sein, dass das, was innerhalb der freyer-leontjew-holzkampschen Konstruktion als 'rationaler Kern' erscheint, bereits in der (allen drei Autoren gleichermaßen bekannten) Schrift W. Köhlers »Intelligenzprüfungen an Menschenaffen« (1921) viel klarer und dabei ohne jede Tendenz zur Mystifikation expliziert worden ist, und zwar im Rahmen der Erörterung der »Funktionswert«-Problematik. Im direkten Anschluss sowohl an die Gedankengänge Köhlers als auch bestimmte Konzepte K. Lewins (»Aufforderungscharakter«) und E.C. Tolmans (»Manipulanda-expectations«, »Means-end-expectations«) hat dann K. Duncker in seiner berühmten Untersuchung »Zur Psychologie des produktiven Denkens« (11935, 21966) unter Zugrundelegung der Unterscheidung zwischen »Funktions-« bzw. »Funktionalem« einerseits und »Funktionalcharakter« andererseits eine so differenzierte und in sich schlüssige Konzeption vorgelegt (vgl. hierzu ausführlicher Keiler 1987b), dass, wenn schon nicht Leontjew, so doch immerhin die Kritische Psychologie bei einer konsequenteren Überprüfung der ideengeschichtlichen Voraussetzungen des eigenen Theoretisierens die fatale Nähe zu Freyer und anderen Repräsentanten der Theorie des »objektiven Geistes« durchaus hätte vermeiden können. Da dies versäumt wurde, bleibt als Resultat eines selbstkritischen Rück-

279 blicks nur die Einsicht, dass einem eben nicht bloß die Not, sondern ebenso auch die Unwissenheit mitunter zu »seltsamen Bettgenossen« verhilft (vgl. W. Shakespeare: »The Tempest«, Act II, Scene II). 103 Von der Rolle, die Lukäcs (nach seinen eigenen Worten ein »Schüler Simmeis und Diltheys« [vgl. Lukäcs 1982, 57]) bei alledem gespielt haben könnte, mag man sich anhand der 'Selbstkritik' ein Bild machen, die er im Rahmen seines Vorworts zur 1968er Neuauflage von »Geschichte und Klassenbewußtsein« (Erstveröffentlichung 1923) an den von ihm in den 20er Jahren vertretenen Auffassungen übt. Bekanntlich beansprucht er in besagtem Vorwort nicht nur, in »Geschichte und Klassenbewußtsein« die Entfremdungsproblematik »zum erstenmal seit Marx als Zentralfrage der revolutionären Kritik des Kapitalismus behandelt« und in ihren »theoriegeschichtliche(n) wie methodologische(n) Wurzeln auf die Hegeische Dialektik zurückgefühlt« zu haben (vgl. Lukäcs, 1970, 23), sondern er räumt auch ein, dass er dabei den methodischen Fehler des »Uberhegeln Hegels« begangen habe, wodurch er zu einer »Konstruktion« gelangt sei, »die an kühner gedanklicher Überhebung über jede Wirklichkeit objektiv den Meister selbst zu übertreffen beabsichtigt« (a.a.O., S. 25). Darüberhinaus, so Lukäcs weiter, sei ihm in diesem Zusammenhang ein konzeptioneller »Irrtum« unterlaufen, der letztlich aber wiederum auf den »Meister« selbst zurückgehe. Bei Hegel nämlich erscheine »zum erstenmal das Problem der Entfremdung als Grundfrage der Stellung des Menschen in der Welt, zu der Welt«, sie sei »aber bei ihm, unter dem Terminus Entäußerung, zugleich das Setzen einer jeden Gegenständlichkeit«, so dass »Entfremdung« daher, »zu Ende gedacht, mit dem Setzen von Gegenständlichkeit identisch« sei. »Geschichte und Klassenbewußtsein« folge nun Hegel insofern, »als auch in ihm Entfremdung mit Vergegenständlichung (um die Terminologie der 'Ökonomisch-philosophischen Manuskripte' von Marx zu gebrauchen) gleichgesetzt« werde - ein »fundamentale(r) und grobe(r) Irrtum«, der »sicherlich vieles zum Erfolg von 'Geschichte und Klassenbewußtsein' beigetragen« habe; denn: »Die gedankliche Entlarvung der Entfremdung lag ... damals in der Luft, sie wurde sehr bald zu einer Zentralfrage in der Kulturkritik, die die Lage des Menschen im Kapitalismus der Gegenwart untersuchte. Für die bürgerlich-philosophische Kulturkritik, es genügt an Heidegger zu denken, war es sehr naheliegend, die gesellschaftliche Kritik in eine rein philosophische zu sublimieren, aus der dem Wesen nach gesellschaftlichen Entfremdung eine ewige 'condition humaine' zu machen, um einen später entstandenen Terminus zu gebrauchen. Es ist klar, daß diese Darstellungsweise von 'Geschichte und Klassenbewußtsein', wenn das Buch auch Anderes, ja Entgegengesetztes intentionierte, solchen Einstellungen entgegenkam. Die mit der Vergegenständlichung identifizierte Entfremdung war zwar als eine gesellschaftliche Kategorie gemeint - der Sozialismus sollte ja die Entfremdung aufheben -, ihre unaufhebbare Existenz in den Klassengesellschaften und vor allem ihre philosophische Begründung näherte sie trotzdem der 'condition humaine' an.« (a.a.O., S. 25 f.) So weit so gut, sollte man meinen. Aber Lukäcs belässt es eben nicht bei diesem Eingeständnis eines folgenreichen »Irrtums«, sondern beansprucht

280 zugleich auch für sich, früher als alle anderen die fehlerhaften Ansichten überwunden und durch das »einzig richtige Verständnis« der Vergegenständlichungsproblematik ersetzt zu haben: 1930 zum wissenschaftlicher Mitarbeiter des Moskauer Marx-Engels-Instituts avanciert, sei er »in die Lage« gekommen, »das bereits völlig entzifferte Manuskript der 'Ökonomisch-philosophischen Manuskripte' zu lesen«, was zu einem »Zusammenbruch« aller »idealistischen Vorurteile von 'Geschichte und Klassenbewußtsein'« geführt habe. Verantwortlich hierfür seien vor allem »die Worte von Marx über Gegenständlichkeit als primär materielle Eigenschaft aller Dinge und Beziehungen« gewesen, die ihm die »Einsicht« vermittelten, »daß Vergegenständlichung eine natürliche - je nachdem positive oder negative - Art der menschlichen Bewältigung der Welt ist, während Entfremdung eine spezielle Abart darstellt, die sich unter bestimmten gesellschaftlichen Umständen verwirklicht« (a.a.O., S. 42). Von da ab habe er in der »Vergegenständlichung« »tatsächlich eine unaufhebbare Äußerungsweise im gesellschaftlichen Leben der Menschen« gesehen: »Wenn man bedenkt, daß jede Objektivation in der Praxis, so vor allem die Arbeit selbst eine Vergegenständlichung ist, daß jede menschliche Ausdrucksweise, so auch die Sprache, die menschlichen Gedanken und Gefühle vergegenständlicht usw., so ist evident, daß wir es hier mit einer allgemein menschlichen Form des Verkehrs der Menschen miteinander zu tun haben. Als solche ist die Vergegenständlichung freilich wertfrei: das Richtige ist ebenso eine Vergegenständlichung wie das Falsche, die Befreiung ebenso wie die Versklavung. Erst wenn die vergegenständlichten Formen in der Gesellschaft solche Funktionen erhalten, die das Wesen des Menschen mit seinem Sein in Gegensatz bringen, das menschliche Wesen durch das gesellschaftliche Sein unteijochen, entstellen, verzerren usw., entstehen das objektiv gesellschaftliche Verhältnis der Entfremdung und in ihrer notwendigen Folge alle subjektiven Kennzeichen der inneren Entfremdung.« (a.a.O., S. 26) Die Schwammigkeit dieser Ausführungen, die stillschweigende Gleichsetzung von »Vergegenständlichung« und »Objektivation«, die Charakterisierung der »Entfremdung« als einer »Abart« der »Vergegenständlichung« all dies lässt berechtigte Zweifel daran aufkommen, dass Lukäcs je auch nur annähernd begriffen hat, was Marx unter »Vergegenständlichung« versteht. Dass er sich bei der Gewinnung des »richtigen« Standpunktes in der Tat an ganz anderen Quellen als den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« orientiert hat, wird im übrigen schlagartig klar, wenn man feststellt, wie problemlos die von ihm gebrauchte Wendung, derzufolge »die Sprache die menschlichen Gedanken und Gefühle vergegenständlicht«, als 'Drehschleuse' zum Übergang auf das funktioniert, was E. Cassirer in »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt« (1932) über die »der Sprache innewohnende Kraft zur Vergegenständlichung, zur 'objektiven' Bestimmung und Abhebung« ausgeführt hat (vgl. Cassirer 1985, S. 134 f.), wobei Cassirers Ausführungen wiederum nur eine Kurzfassung dessen sind, was bereits früher von Ch. Bühler in ihrem Buch »Kindheit und Jugend« zum Thema »Vergegenständlichung« geschrieben worden war. Bei ihr und eben nicht bei Marx kann man nämlich lesen, dass sich das Kind »mit der Spra-

281 che als Material die Vergegenständlichung, die sprachliche Absetzung und Herausstellung seelischer Vorgänge sowie sachlicher und logischer Zusammenhänge (erarbeitet)« und »damit das Bewußtsein der seelischen, stofflichen und geistigen Welt (gewinnt)« (Bühler, 1928, S. 123), wobei »durch sprachliche Vergegenständlichung« nicht nur »eine Sozialisierung des eigenen Tuns und Erlebens« erfolge, sondern generell »durch die Sprache seelischesachliche und logische Bezüge prinzipiell erarbeitet, d.h. vergegenständlicht« werden (a.a.O., S. 122), so dass schließlich auch »das Ich, von der Sprache vergegenständlicht, und im Willen deutlich erlebt, in das Bewußtsein des Kindes« trete (a.a.O., S. 155; vgl. auch a.a.O., S. 62, S. 76 f., S. 81, S. 125, S. 147, S. 153 f., S. 158 f. u. S. 292 - N.B.: ein direkter Verweis auf die 1931 erschienene 3. Auflage des Bühlerschen Buches findet sich bei Cassirer a.a.O., S. 129, Fußn. 6). Nicht unerwähnt bleiben darf, dass kein Geringerer als E. Husserl der 'Vordenker' für derartige Konzeptionen gewesen ist, in denen der Ausdruck »Vergegenständlichung« die Bedeutung einer erlebnismäßigen, vor allem aber auch der sprachlichen »Absetzung und Herausstellung« hat, durch die etwas im psychologischen Sinne zum »Objekt« wird. Immerhin kann man schon in seinen »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie« von 1913 Folgendes lesen: »Es ist zu beachten, daß intentionales Objekt eines Bewußtseins (so genommen, wie es dessen volles Korrelat ist) keineswegs dasselbe sagt wie erfaßtes Objekt. (...) Das intentionale Objekt, das Werte, Erfreuliche, Geliebte, Erhoffte als solches, die Handlung als Handlung wird vielmehr erst in einer eigenen 'vergegenständlichenden' Wendung zum erfaßten Gegenstand.« (zit. nach Husserl, 1976, S. 75 u. S. 76). Bereits ein Jahr später heißt es bei W. Windelband in dessen »Einleitung in die Philosophie«, die »Kategorie der Inhärenz« sei es, »welche zunächst und zumeist den Vorstellungsinhalt objektiviert, projiziert oder externalisiert, d.h. als eine bestehende Wirklichkeit betrachten läßt«, wiewohl man »eine Zeitlang unter dem Eindruck der Schopenhauerschen Lehre ... diese primäre Funktion der Vergegenständlichung lieber der anderen konstitutiven Grundkategorie, der Kausalität, zugeschrieben« habe (Windelband, 1914, S. 42). 104 In Hinblick auf die Vergegenständlichungsproblematik vgl. insbesondere den Abschnitt über die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« im 5. Kapitel seiner Schrift »Karl Marx. L'homme et l'oeuvre« (1934, 324-341). 105 Als aktuellste Version des Versuchs, wesentliche Momente der Theorie des »objektiven Geistes« in einen biologistischen Grundansatz zu integrieren, kann wohl die von R. Dawkins im Rahmen des viel diskutierten Projekts einer »Soziobiologie« eingeführte Konzeption der »Meme« (vgl. Dawkins 1982) angesehen werden, die uns W. Wickler, ein deutscher Repräsentant dieses Projekts, in seiner Broschüre »Dialekte im Tierreich« folgendermaßen erläutert: »Ein Mem ist ein nicht-genetischer Replikator, der nur in einer Umwelt gedeiht, wie sie von komplexen, miteinander kommunizierenden Gehirnen bereitgestellt wird. Es ist eine Informationseinheit im Gehirn, und es hat diejenige Struktur, die das Hirn üblicherweise benutzt, um Informationen zu speichern. Ein Mem ist zu unterscheiden von seinen phänotypischen

282 Wirkungen, also den Effekten, die es außerhalb des Gehirns zeitigt. Ein solcher Effekt eines Mems kann die Form eines Wortes, einer Melodie, einer Geste sein, oder auch das Öffnen von Milchflaschenverschlüssen (wie bei den englischen Meisen), usw. Das sind die äußerlich wahrnehmbaren Manifestationen der Meme im Gehirn. Diese Manifestationen können durch die Sinne von einem anderen Lebewesen aufgenommen werden und in dessen Hirn eine Kopie des zugehörigen Mems verursachen. Diese Kopie (nicht unbedingt ein ganz exaktes Duplikat) kann nun ihrerseits wieder phänotypische Effekte und dadurch weitere Kopien in weiteren Hirnen verursachen. Die Parallele zu den Genen liegt auf der Hand: Gene bestehen aus DNA, die einerseits mit Hilfe des zellulären Apparates Kopien von sich selbst herstellt, andererseits äußere Wirkungen hat, welche die ÜberlebensChance der Gen-Kopien beeinflußt. Statt des Zellapparates benutzen die Meme den Apparat inter-individueller Kommunikation und der Imitation zur Replikation ihrer selbst. Und ihre äußere Wirkung besteht in jedem Einfluß auf das Verhalten des Mem-Trägers, der die Uberlebens-Chance des Mems beeinflußt. (...) Äußert sich das Mem als wissenschaftliche Idee, dann hängt sein Überleben davon ab, wie verträglich diese Idee mit den bereits in den Hirnen eingenisteten anderen Ideen ist. (...) Verursacht es eine religiöse oder politische Idee, so wird es große Überlebens-Chancen haben, wenn einer seiner phänotypischen Effekte darin besteht, seinen Träger intolerant gegen neue solche Ideen zu machen. Da ein Mem seine eigenen Replikationswege und phänotypischen Effekte hat, besteht kein Grund zu der Annahme, daß der Erfolg eines Mems mit dem genetischen Erfolg gekoppelt sein sollte. Das Erfolgskriterium für ein Mem ist nicht die Darwinsche Fitness ihres Trägers. Natürlich sind Meme abhängig davon, daß es überhaupt Träger mit den notwendigen Eigenschaften (Hirne, Kommunikation, Imitationsfähigkeit) gibt.« (Wickler 1986, 69 f.) Abgesehen von seiner geradezu beängstigenden Nähe zu den abstrusen Konstruktionen eines P. v. Lilienfeld (der dadurch zwangsläufig seinen Status eines nicht ernst zu nehmenden 'Exoten' verliert) liegt das Frappante dieses Ansatzes darin, uns mit einem Schlage zu der Einsicht zu verhelfen, dass es sich auch bei Leontjews Konzeption von den Gebrauchsgegenständen, in denen die spezifisch menschlichen Fähigkeiten »veranlagt« sind (die also gewissermaßen als extracorporale 'Gene' fungieren), in letzter Konsequenz um ein »biologistisches« Modell handelt!

»BEHINDERUNG« ALS PÄDAGOGISCH-PSYCHOLOGISCHES PROBLEM UND ALS SOZIAL-ETHISCHE HERAUSFORDERUNG Humanistischer Materialismus konkret*) »Nur die soziale Erziehung kann die Einsamkeit der Idiotie und der tiefen Zurückgebliebenheit überwinden, das schwer zurückgebliebene Kind durch den Prozess der Menschwerdung führen; denn - nach einer bemerkenswerten Redewendung von L. Feuerbach, die als Motto für eine Lehre von der Entwicklung des anomalen Kindes dienen könnte -: was dem Einzelnen absolut unmöglich ist, ist zweien möglich. Fügen wir hinzu: Das, was auf der Ebene der individuellen Entwicklung unmöglich ist, wird auf der Ebene der sozialen Entwicklung möglich.« (L.S. Wygotski 1932) 1. Apropos Bruckberg: Einleitende Überlegungen zur Behindertenproblematik als Gegenstand einer »solidaristischen Ethik« im Sinne des humanistischen Materialismus L. Feuerbachs Nicht nur Menschen und Bücher, auch Wohnungen haben ihr Schicksal. Nachdem Feuerbach, durch finanzielle Umstände genötigt, im Jahre 1860 mit seiner Familie Schloss Bruckberg verlassen hatte, das ihm fast ein Vierteljahrhundert Heimstatt, ja im wahrsten Sinne des Wortes Lebensraum gewesen war, »kaufte die Bayrische Regierung das Schloß und richtete darin eine Anstalt für jugendliche Verbrecher und Taugenichtse ein; Inspektor dieser Anstalt wurde ein pietistischer Geistlicher« (Kohut 1909, 315). Zwischen 1872 und 1892 wechselte das Schloss mehrmals seinen Besitzer und seine Bestimmung, um schließlich in das Eigentum der Diakonissenanstalt Neuendettelsau überzugehen. »Seitdem ist es Heimat für behinderte Menschen. Nur während der Kriegszeit diente es vorübergehend auch als Lazarett. Heute leben in den Bruckberger Heimen, wovon das Schloß ein Teilbereich ist, rund 580 geistig und mehrfach behinderte Schulkinder, Jugendliche und Erwachsene.« (zit. nach einem 1990 vom Evangelisch-Lutherischen Diakoniewerk Neuendettelsau herausgegebenen Informationsblatt)1 Ein recht bewegtes Schicksal also - ein Schicksal aber auch, das die Frage provoziert, ob denn dieser Wandel der Bestimmungen nicht jeden »Feuerbachianer« wehmütig stimmen müsse, wenn auch womöglich aus recht unterschiedli-

284 chen Gründen2. Konsequent zu Ende gedacht, liefe diese Frage allerdings auf ein Problem grundsätzlicherer Art hinaus: die Frage nämlich, inwieweit eine sich auf die Prinzipien feuerbachischer Philosophie berufende »solidaristische Ethik«, wenn sie erst einmal die Ebene der abstrakten »Einheit von Ich und Du« hinter sich gelassen hat und gesellschaftliche Relevanz anmeldet, auch den »Verbrecher« und den »Idioten« einbegreift. Dass Feuerbachs Solidarität generell den von der bürgerlichen Gesellschaft Benachteiligten galt, ist bekannt, macht er doch bereits 1847 in seiner »Unsterblichkeitsfrage vom Standpunkt der Anthropologie« keinen Hehl daraus, dass er die von der aufkommenden Arbeiterbewegung auf die Tagesordnung gesetzten Forderungen für gerechtfertigt hält (vgl. GW 10, 279) - eine Haltung, die sich in den darauffolgenden Jahren noch radikalisiert (vgl. GW 6, 345 sowie Grün II, 285 f.) und ihn schließlich 1870 in die Reihen der neugegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands führt. Aus demselben Jahr stammt auch ein Dokument, das Feuerbach als Sympathisanten der sich gerade formierenden Frauenbewegung ausweist.3 Und da seine fortschreitende Radikalisierung auf der gesellschaftspolitischen Ebene mit einer Radikalisierung auch seiner wissenschaftlichen Auffassungen einherging, kann es kaum verwundern, wenn sich in den i.e.S. moralphilosophischen Überlegungen des späten Feuerbach auch die Verbrechensproblematik betreffende Gedanken finden, die nicht zuletzt wegen ihrer »psychologisierenden« Grundtendenz erstaunlich modern wirken.4 Leider finden sich nirgendwo im Werk Feuerbachs ähnlich deutliche und in die Details gehende Stellungnahmen in Hinblick auf die Behindertenproblematik, so dass an diesem Punkt ansetzende Überlegungen weitgehend den Status einer »Extrapolation« der Grundprinzipien feuerbachischer Ethik und Philosophie überhaupt haben müssen. Freilich ist auch in dieser Frage die allgemeine Richtung der anzustellenden Überlegungen durch bestimmte Äußerungen Feuerbachs vorgegeben, die sich in seiner nachgelassenen Schrift zu Moralphilosophie finden und zumindest folgenden Grundsatz deutlich erkennen lassen: Welcher Art und wie schwer das Handikap eines Menschen auch immer sein mag, das zentrale Motiv seines Lebens ist nicht das durch die Behinderung wirklich oder vermeintlich bedingte Ausgeschlossensein vom Glück, sondern es sind die unter den Bedingungen des jeweiligen Handikaps realisierbaren Glücksmöglichkeiten. Oder in Feuerbachs eigenen Worten: »Was gehört zur Glückseligkeit? Alles was zum Leben gehört; denn Leben, versteht sich, mangelloses, gesundes, normales Leben und Glückseligkeit ist an sich, ist ursprünglich eins. Alle, wenigstens gesunde, Triebe sind, wie gesagt, Glückseligkeitstriebe; alle, wenigstens notwendige, nicht überflüssige oder nutzlose Glieder und Organe des Lebens oder Leibes Glückseligkeitsorgane; aber sie sind nicht alle von gleicher Wich-

285 tigkeit, von gleichem Werte. Zur vollkommnen und vollständigen Glückseligkeit gehört allerdings auch ein vollkommner und vollständiger Leib, aber deswegen ist doch auch die verstümmelte, verkrüppelte Glückseligkeit noch immer Glückseligkeit. Mag auch ein lebendiges Wesen noch so elend und unglückselig sein, so lange es noch lebt und leben will, so lange ist es noch nicht vollends, nicht radikal elend, so lange gilt ihm noch das ipsum esse jucundum est, 'das bloße Sein ist angenehm', wenn auch unendlich viel diesem Sein fehlt, was sonst nicht fehlen dürfte, um sich wohl zu fühlen; so lange glimmt noch ein Funke von Glückseligkeitstrieb. Ja auch der Krüppel selbst rechnet sich noch, und zwar mit vollem Rechte, zu den Glücklichen, weil er trotz der erlittnen Verluste sich noch des Lebens erfreut.« (zit. nach Feuerbach 1994, 374 f.)5 Ist also im Sinne der feuerbachschen Moralphilosophie der Glücksanspruch des Krüppels, allgemein des Behinderten, direkt mit seiner Existenz gesetzt und keineswegs einer besonderen Ableitung aus abstrakten ethischen Prinzipien bedürftig, so ist freilich, wie wir ergänzend hinzufügen müssen, die Durchsetzbarkeit dieses Glücksanspruchs deutlicher erkennbar noch als beim unversehrten Menschen daran geknüpft, dass »die Lebensliebe, das Interesse, der Egoismus« des Einzelnen (vgl. GW 6, 340) immer nur in der Gemeinschaft mit anderen Menschen Erfüllung finden können, menschlicher Egoismus daher a priori »nicht ein-, sondern zwei- oder gegenseitige(r) Egoismus - die durch die Anerkennung der Selbstliebe anderer sich selbst Anerkennung, Geltung verschaffende und sichernde Selbstliebe des Menschen« ist (vgl. GW 7, 141). Mit anderen Worten: Das eigentliche Problem liegt nicht in einer womöglich durch den körperlichen Mangel induzierten Verkrüppelung des »Glückseligkeitstriebes«, sondern in der vollen Anerkennung des Glücksanspruches des Krüppels durch seine unversehrten Mitmenschen (vgl. Feuerbach 1994, 414)6, die in ihm in erster Linie den Menschen zu sehen haben und erst in zweiter Linie den Krüppel. Feuerbach selbst hat, wie gesagt, diesen Gedanken nicht im Detail entwickelt. Allerdings brauchen wir uns, wenn wir die angedeutete Richtung weiterverfolgen wollen, keineswegs in völligem Neuland zu bewegen. Tatsächlich liegt nämlich seit längerem eine sehr differenzierte Konzeption zur Behindertenproblematik vor, die, wie zu zeigen sein wird, durchaus als ein legitimer Ausbau feuerbachischer Grundgedanken auf der Ebene empirischer Einzelwissenschaften und somit in gewisser Weise auch als Beitrag zur Konkretisierung der Idee einer »solidaristischen Ethik« im Sinne des humanistischen Materialismus Feuerbachs angesehen werden kann. Die Rede ist von der durch den sowjetischen Psychologen L.S. Wygotski ab Mitte der 20er Jahre in direkter Rückkoppelung mit den Problemen und Fortschritten defektologischer Praxis7 entwickelten Theorie der Psychologie und Pädagogik der kindlichen Defektivität. Eine Theorie, die nach Wygotskis Tod im Jahre 1934 ebenso wie seine psycholin-

286 guistischen und entwicklungspsychologischen Konzeptionen systematisch aus dem wissenschaftlichen Diskurs gedrängt wurde, aber mit der schrittweisen »Rehabilitierung« Wygotskis in der Nach-Stalin-Ära erneut das Interesse sowjetischer Pädagogen und Psychologen auf sich zog8 und seit ungefähr anderthalb Jahrzehnten auch bei uns im Rahmen der Behindertenpädagogik zunehmend an Akzeptanz gewinnt9. 2. Wygotskis Programm einer integrativen Behindertenpädagogik Ausgangspunkt der Überlegungen Wygotskis (formuliert bereits in seinem Beitrag zu einem 1924 unter dem Titel »Fragen der Erziehung blinder, taubstummer und geistig zurückgebliebener Kinder« erschienenen Sammelband10) ist die Erkenntnis, dass »jeder körperliche Mangel - sei es Blindheit, Gehörlosigkeit oder angeborener Schwachsinn - nicht nur die Beziehung eines Menschen zur natürlichen Umwelt (verändert), sondern sich vor allem auf seine Beziehungen zu anderen Menschen aus(wirkt)«, eine »organische Schädigung oder Störung« also gewöhnlich »ihren Ausdruck in einem sozial anomalen Verhalten (findet)« (zit. nach Wygotski 1975, 65). So sei das blinde, gehörlose oder schwachsinnige Kind selbst im engsten Kreise der Familie »in erster Linie ein besonderes Kind«, nehmen doch die Familienmitglieder ihm gegenüber »eine ungewöhnliche, eine besondere Haltung« ein, »anders als zu einem anderen Kind«. Und dies treffe nicht nur für jene Familien zu, in denen man ein solches Kind »als Last und Strafe« empfinde, sondern gelte auch dort, wo man es »mit doppelter Liebe, mit verzehnfachter Fürsorge und Zärtlichkeit« umgebe. Dabei seien, so Wygotski weiter, gerade die erhöhte Aufmerksamkeit und das Mitleid »eine schwere Bürde für das Kind« und bildeten gewissermaßen »eine Sperrmauer«, die es von den übrigen Kindern isoliere. (a.a.O., 66) Die wesentliche Ursache für diese Haltung der Mitmenschen gegenüber dem behinderten Kind sieht nun Wygotski darin, dass bis dato »sowohl in der wissenschaftlichen pädagogischen Literatur als auch in der allgemeinen Vorstellung die Probleme der kindlichen Defektivität größtenteils als biologisches Problem aufgefaßt und beantwortet worden« seien. So sei denn auch der jeweilige physische Mangel »hauptsächlich unter dem Aspekt der Veränderungen untersucht worden, die er in der biologischen Struktur der Persönlichkeit, in ihrer Beziehung zur natürlich-physikalischen Welt hervorruft«, habe man unter pädagogischen Aspekten »immer von der Kompensation gesprochen, mit der die Erziehung die gestörten Funktionen des Organismus ersetzen kann«. Das heißt, die Frage sei letztlich immer »im engen Rahmen des betreffenden Organismus« gestellt worden, in welchem dann die Erziehung zur Herausbildung bestimmter, den Mangel

287 kompensierender Fertigkeiten führen solle - »in der Art, wie bei der Entfernung einer Niere die andere einen Teil ihrer Funktionen übernimmt«. Aber nicht nur auf der pädagogisch-psychologischen Ebene habe man sich dem Problem unter dieser reduktionistischen Perspektive zugewandt, auch von der Medizin sei der jeweilige organische Mangel immer nur als rein physischer Defekt erforscht und kompensiert worden: »Blindheit bedeutete einfach ein Fehlen des Sehvermögens, Gehörlosigkeit ein Fehlen des Hörvermögens, als wenn es sich um einen blinden Hund oder einen gehörlosen Schakal handeln würde.« (ebd.) Übersehen habe man dabei indes, »daß im Gegensatz zum Tier ein organischer Defekt des Menschen oder ein Mangel in der biologischen Organisation der Persönlichkeit sich niemals unmittelbar als solcher auswirken muß, weil Auge und Ohr beim Menschen nicht nur physische, sondern auch soziale Organe sind, weil zwischen natürlicher Umwelt und Menschen noch die soziale Umwelt steht, die ihrerseits alles, was vom Menschen zur Welt und von der Welt zum Menschen geht, bricht und steuert«. Insofern bedeute ein Mangel des Auges oder des Ohrs »vor allem den Ausfall wichtiger sozialer Funktionen, die völlige Veränderung der gesellschaftlichen Beziehungen, die Verschiebung aller Verhaltenssysteme«. (ebd.) Erforderlich, so die Schlussfolgerung Wygotskis, sei daher ein grundlegender Perspektivwechsel, müsse doch das Problem der kindlichen Defektivität in der Psychologie und in der Pädagogik endlich »als soziales Problem« erkannt und durchdacht werden, und dies umso mehr, als sich »das bisher übersehene soziale Moment, das gewöhnlich als zweitrangig und abgeleitet angesehen worden ist, in Wirklichkeit als primäres Moment, als Hauptmoment« erweise. Vor allem müsse man sich »ein für alle Mal von der von der Wissenschaft entkräfteten, aber noch lebendigen und im allgemeinen Bewußtsein populären Legende von der biologischen Kompensation der körperlichen Mängel trennen«, jener Legende, derzufolge »die 'weise Natur', wenn sie dem Menschen ein Sinnesorgan nimmt - das Auge oder das Ohr -, ihm gewissermaßen als Entschädigung für den Grunddefekt eine größere Empfindlichkeit anderer Organe zuteilt« (a.a.O., 66 f.). Zwar liege dieser Auffassung die richtige Beobachtung zugrunde, »daß beim Ausfall eines Wahrnehmungsorgans andere gewissermaßen an seine Stelle treten und anfangen, Funktionen auszuüben, die von ihnen bei normalen Menschen nicht ausgeübt werden«, so dass etwa »der Blinde mit Hilfe der Hand an den Gegenständen mehr (erkennt) als ein Sehender zu ertasten vermag« und »der Gehörlose die Sprache von den Lippen ab(liest), was kein normal hörender Mensch tut«. Die genaue Untersuchung zeige aber, dass auch das Tastvermögen der Blinden und das Sehvermögen der Gehörlosen »keinerlei Besonderheiten im

288 Vergleich zur normalen Entwicklung dieser Sinnesorgane aufweisen)«. Tatsächlich sei nämlich »die hervorragende Stärke des Tastvermögens bei den Blinden und das Sehvermögen bei den Gehörlosen vollständig aus den besonderen Erfahrungsbedingungen zu erklären, denen hier diese Organe ausgesetzt werden«. Anders ausgedrückt: »Die Ursachen dafür sind nicht konstitutionell und organisch, sind nicht durch eine irgendwie spezifische Verfeinerung des Baus eines Organs oder seiner Nervenbahnen erklärbar, sondern sind funktional bedingt, gehen auf eine längere Benutzung des betreffenden Organs zu anderen Zwecken, als das bei normalen Menschen der Fall ist, zurück.« (a.a.O., 67) Das heißt, »das Tastvermögen im System des Verhaltens des Blinden und das Sehvermögen beim Gehörlosen spielen nicht die Rolle wie bei normal sehenden und hörenden Menschen; ihre Aufgabe in bezug auf den Organismus, ihre Funktionen sind andere: Sie müssen über ihre Bahnen gewaltige Mengen solcher Verbindungen mit der Umwelt leiten, die bei normalen Menschen auf anderen Bahnen verlaufen«. Daraus resultiere dann »ihr funktionaler, in der Erfahrung erworbener Reichtum, der fälschlicherweise als angeborener, als strukturell-organischer Reichtum betrachtet« werde. (a.a.O., 68) Gehe man, nach allem, davon aus, dass es sich bei den betreffenden Funktionsabläufen um bedingte Reaktionen handele, so könne man das entscheidende Grundprinzip der Pädagogik der defektiven Kindheit folgendermaßen formulieren: »Das psychologische Wesen der Anerziehung bedingter Reaktionen beim Blinden (Abtasten der Punkte beim Lesen) und beim Gehörlosen (Absehen) ist ganz genau dasselbe wie auch beim normalen Kind; folglich gleicht auch die Natur des Erziehungsprozesses der defektiven Kinder im wesentlichen der normaler Kinder.« Mit einem Wort: »Die Erziehung des Blinden und des Gehörlosen unterscheidet sich grundsätzlich durch nichts von der Erziehung des normalen Kindes.« Man könne daher sagen, dass es »bei psychologischer Betrachtung keinerlei besondere, grundsätzlich unterschiedliche, getrennte Pädagogik der defektiven Kinder« gebe, die Bildung und Erziehung des defektiven Kindes folglich »Gegenstand nur eines Kapitels der allgemeinen Pädagogik« sei. (ebd.) Dies ist Wygotskis offene Kampfansage an das Credo der traditionellen Sonderpädagogik, wonach man den Blinden, den Gehörlosen und den Schwachsinnigen nicht mit demselben Maß messen darf wie den Normalen. Ein Credo, das, wie er mit kritischem Blick auch auf die Verhältnisse in der jungen Sowjetunion feststellt, »das A und O nicht nur der allgemein verbreiteten Theorie, sondern auch der Praxis in fast ganz Europa und bei uns« bilde, »die bei der Erziehung defektiver Kinder realisiert wird«. Ein Credo, dem er seine eigene psychologische und pädagogische Grundposition entgegenhält: »Den Blinden, den Gehörlo-

289 sen und den Schwachsinnigen kann und muß man mit demselben Maß messen wie den Normalen.« (a.a.O., 68 f.) Überhaupt sei es der allergrößte Fehler, die kindliche Anomalie nur als Krankheit aufzufassen; zwar mit größter Sorgfalt »die Körnchen der Defekte, die Goldkörnchen der Krankheit, die wir bei den anomalen Kindern vorfinden«, zu erforschen, dabei aber nicht »die Pud11 an Gesundheit« zu bemerken, »die in jedem kindlichen Organismus enthalten sind, wie schwer er auch immer unter dem Defekt gelitten haben mag«. In der Tat müsse es unfassbar scheinen, dass »ein so einfacher Gedanke bisher nicht als Binsenwahrheit in die Wissenschaft und in die Praxis Eingang gefunden«, sich vielmehr »bisher in 9 von 10 Fällen die Erziehung auf die Krankheit und nicht auf die Gesundheit« orientiert habe. Und dabei sei doch beispielsweise in der wissenschaftlichen Blindenpsychologie nichts naheliegender als die Losung: »Zuerst ein Mensch und erst dann ein besonderer Mensch, d.h., ein Blinder.« (a.a.O., 69) In diesem Zusammenhang müsse dann auch noch mit einem anderen Vorurteil aufgeräumt werden, das einer konsequent wissenschaftlichen Behandlung der Behindertenproblematik im Wege stehe, mit der »ganz falsche(n) Vorstellung der Sehenden« nämlich, »daß die Blindheit ein ständiges Im-Dunkel-Sein oder die Gehörlosigkeit ein Untertauchen in Stille und Schweigen sei«. Eine, so Wygotski, »unzutreffende und naive Meinung und ein ganz unangebrachter Versuch der Sehenden, in die Psyche des Blinden einzudringen«. Indem wir uns vorzustellen versuchen, wie der Blinde seine Blindheit erlebt, vollziehen wir sozusagen »eine gedankliche Subtraktion von unserem gewöhnlichen und normalen Selbstgefühl«, wobei wir »davon Licht und die visuelle Wahrnehmung der Welt abziehen«. Demgegenüber müsse man mit aller Deutlichkeit feststellen (und Wygotski stützt sich hierbei wesentlich auf das Zeugnis der blinden Wissenschaftlerein A.M. Stscherbina), dass der Blinde »die Dunkelheit nicht unmittelbar (empfindet)« und sich daher auch durch sie »überhaupt nicht belastet (fühlt)«. Mithin sei es keineswegs so, »daß 'er sich abmüht, sich von dem dunklen Vorhang zu befreien'«, vielmehr empfinde er seine Blindheit 'als solche' »in keiner Weise«. Mit anderen Worten: »'Die unfaßbare Dunkelheit' ist dem Blinden in der Erfahrung als unmittelbares Erleben überhaupt nicht gegeben, und der Zustand seiner Psyche empfindet keinerlei Schmerz darüber, daß seine Augen nicht sehen.« Insofern ist auch, so das Fazit Wygotskis, »die Blindheit als psychologischer Fakt keineswegs ein Unglück. Sie wird erst als sozialer Fakt zu einem solchen.« (ebd. - Hervorhn. P.K.) Auszugehen sei daher von der Blindheit als dem »normale(n), nicht aber krankhafte(n) Zustand für das blinde Kind« - ein Zustand, den es »nur mittelbar, sekundär, als auf es selbst reflektiertes Ergebnis seiner sozialen Erfahrung«

290 spüre, weshalb denn auch die Blinden ihre Blindheit recht unterschiedlich erlebten, nämlich »je nachdem, in welchen sozialen Formen dieser Defekt seine Realisierung erfährt«. Jedenfalls sei es so, dass »der Stein auf der Seele, der gewaltige, unerschöpfliche Kummer, dieses nicht auszudrückende Leiden«, welches uns zwinge, »den Blinden zu bedauern und mit Schaudern an sein Leben zu denken«, dass all dies »seine Entstehung den sekundären, den sozialen, nicht aber den biologischen Momenten (verdankt)« (a.a.O., 70). So rühre denn letztlich das bedauerliche Unglück der Blinden nicht von der physischen Blindheit an sich her, liege die eigentliche Tragödie nicht in der Blindheit selbst. Vielmehr sei es das den Blinden während seines ganzen Lebens begleitende Jammern und Wehklagen seiner Mitmenschen, durch welches sich langsam aber sicher das gewaltige zerstörerische Werk vollziehe, (ebd.) Von daher sei auch die pädagogische Hygiene vollauf berechtigt, die vorschreibe, »mit dem blinden Kind genauso umzugehen, als ob es sehen könnte: es im gleichen Alter gehen zu lehren, wie alle anderen Kinder auch, es zu lehren, sich selbst zu bedienen12, es zu veranlassen, mit sehenden Kindern zu spielen (...), in seiner Gegenwart niemals über seine Blindheit zu klagen usw.« (ebd.) Gehe man von solchen Grundsätzen aus, dann erfahre auch das Problem des Lichts in der Bildung und Erziehung der Blinden eine richtige Lösung. Denn selbstverständlich müsse auch ein Blinder wissen, was das Licht ist - aber dies nicht etwa, weil, wie falschlich behauptet werde, »ein instinktives, organisches Streben zum Licht« die Grundlage seiner Psyche bilde, und auch nicht, um die Welt der Farben in die Sprache der Töne usw. umsetzen zu können (vgl. ebd.), sondern einfach deswegen, weil das Licht eine wesentliche Bedingung ßr die Tätigkeit der anderen Personen ist und auch der Umstand, dass er selbst zwar nicht sehen, wohl aber gesehen werden kann, in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. »Der Blinde muß wissen«, schreibt Wygotski, »daß man ihn durch die Gardine am Fenster von der Straße her sehen kann, daß, wenn im Zimmer Licht brennt und die Fenster nicht verhängt sind, ihn jeder sehen kann usw. Es ist für ihn von Bedeutung, daß er die wichtigsten Kenntnisse von der Welt besitzt, die ein Mensch mit Hilfe seiner Augen erwirbt. Die Welt ist von sehenden Menschen hauptsächlich als sichtbares Phänomen aufgebaut, und auf das Leben in dieser allen gemeinsamen Welt müssen wir das blinde Kind vorbereiten.« (a.a.O., 71) Gerade an dieser Spezialfrage, so Wygotski weiter, werde die Hauptlinie der von ihm entwickelten Gedanken deutlich, dass nämlich »die Probleme der Erziehung defektiver Kinder nur als Problem der Sozialpädagogik gelöst werden« können, dass mithin »die spezielle Erziehung der sozialen Erziehung untergeordnet sein, mit ihr verknüpft werden - und sogar noch mehr - mit ihr organisch

291 verschmelzen, zu ihrem Bestandteil werden« müsse, weshalb auch »die medikamentöse Versorgung des defektiven Kindes seine normale allgemeine Ernährung nicht beeinträchtigen« dürfe (ebd.). Dabei wird von Wygotski die Notwendigkeit einer speziellen schulischen Bildung und Erziehung für die defektiven Kinder keineswegs geleugnet. Im Gegenteil. »Wir behaupten«, heißt es bei ihm, »daß die Ausbildung der Blinden im Lesen oder der Gehörlosen im Artikulieren eine sonderpädagogische Technik verlangen, besondere Methoden und Verfahren erfordern. Und nur eine hohe wissenschaftliche Kenntnis dieser Technik kann den wahren Pädagogen auf diesem Gebiet schaffen. Aber daneben dürfen wir auch nicht vergessen, daß man nicht einen Blinden, sondern vor allem ein Kind zu erziehen hat.« (ebd.) Ebenso wenig dürfe man allerdings vergessen, dass die Blindheit nicht nur für den Blinden selbst ein sozialer Faktor sei, vielmehr würden »ganze Epochen und Länder gezwungen, ein bestimmtes System der Bildung und Erziehung der Blinden und eine bestimmte Einstellung zu ihnen als sozial unausweichliche Aufgabe zu schaffen«. Die Sonderschule von jener verhängnisvollen ideologischen Verwirrung zu befreien, »in der sie den physischen Defekt angebetet hat, indem sie ihn nährte, aber nicht heilte«; sie von »jeder Spur philanthropisch-religiöser Erziehung« zu befreien; sie auf »die gesunde Basis einer realen und sozialen Pädagogik« zu stellen - das seien die Aufgaben, »vor denen unsere Schule steht und die von der wissenschaftlichen Auffassung vom Gegenstand sowie von den Forderungen der revolutionären Wirklichkeit erhoben werden«, (ebd.) »Vermutlich«, so die kühne Vision Wygotskis, »wird die Menschheit früher oder später sowohl die Blindheit als auch die Gehörlosigkeit und den Schwachsinn besiegen. Aber wesentlich früher wird sie sie sozial und pädagogisch als medizinisch und biologisch besiegen. Möglicherweise ist die Zeit nicht mehr fern, da die Pädagogik es als peinlich empfinden wird, von einem defektiven Kind zu sprechen, weil das ein Hinweis darauf sein könne, es handele sich um einen unüberwindbaren Mangel seiner Natur.« (a.a.O., 71 f.) Mehr noch: »Der sprechende Gehörlose, der arbeitende Blinde - sie nehmen am allgemeinen Leben in seiner ganzen Fülle teil - werden selbst ihren Mangel gar nicht mehr spüren, und sie werden dazu anderen Menschen auch keinen Anlaß mehr geben.« (a.a.O., 72) Den Bürgern der sich bildenden neuen Gesellschaft13 obliege es, so zu handeln, »daß das gehörlose, das blinde und das schwachsinnige Kind nicht defektiv sind«; dann werde »auch das Wort selbst verschwinden, das wahrhafte Zeichen für unseren eigenen Defekt« (ebd.). Unabhängig von dieser weitreichenden Zukunftsperspektive müsse allerdings die Losung schon jetzt lauten:

292 »Enger heran an die Sehenden. Tiefer ins Leben. Umfassende Kommunikation mit der Welt, die nicht auf dem passiven Studieren, sondern auf der aktiven und handelnden Teilnahme am Leben beruht. Umfassende gesellschaftspolitische Erziehung, die den Blinden aus dem engen Kreis herausführt, den ihm sein Defekt läßt, Teilnahme an der Kinder- und Jugendbewegung - das sind die bedeutendsten Hebel der Sozialerziehung, mit deren Hilfe es möglich sein wird, gewaltige erzieherische Kräfte frei zu machen und wirksam werden zu lassen.« (ebd.) 3. Feuerbachische Elemente in Wygotskis Konzeption der Defektivität Sicher, Wygotski erwähnt nicht ein einziges Mal den Namen Feuerbachs, lässt vielmehr ausschließlich »Spezialisten« und »Betroffene« (darunter auch die bekannte Schriftstellerin Helen Keller) zu Worte kommen; dennoch ist die Affinität seines Ansatzes zu den Grundauffassungen Feuerbachs unübersehbar, und dies sowohl in inhaltlicher als auch in methodischer Hinsicht. So lesen sich ja etwa jene Passagen seines Artikels, in denen er den Gedanken entwickelt, dass »eine nackte, unsoziale, unmittelbare Kommunikation zwischen Mensch und natürlicher Umwelt« nicht bestehe, vielmehr »alles, was vom Menschen zur Welt und von der Welt zum Menschen geht«, durch die soziale Umwelt »gebrochen« und »gesteuert« werde (vgl. a.a.O., 66), so dass auch das blinde Kind seine Blindheit 'als solche' nicht unmittelbar, sondern »nur mittelbar, sekundär, als auf es selbst reflektiertes Ergebnis seiner sozialen Erfahrung« erlebe (vgl. a.a.O., 69 f.), wie Paraphrasierungen eines längeren Abschnittes im »Wesen des Christentums«, wo es heißt: »Der andere Mensch ist das Band zwischen mir und der Welt. Ich bin und fühle mich abhängig von der Welt, weil ich zuerst von andern Menschen mich abhängig fühle. (...) Ich versöhne, ich befreunde mich mit der Welt nur durch den andern Menschen. Ohne den andern wäre die Welt für mich nicht nur tot und leer, sondern auch sinn- und verstandlos. (...) Ein absolut für sich allein existierender Mensch würde sich selbstlos und unterschiedslos in dem Ozean der Natur verlieren; er würde weder sich als Menschen noch die Natur als Natur erfassen. Der erste Gegenstand des Menschen ist der Mensch. Der Sinn für die Natur, der uns erst das Bewußtsein der Welt als Welt erschließt, ist ein späteres Erzeugnis; denn er entsteht erst durch den Akt der Absonderung des Menschen von sich. (...) Das Bewußtsein der Welt ist also für das Ich vermittelt durch das Bewußtsein des Du.« (GW 5, 165 f.) Auch der Gedanke, dass die letztendliche Leistungsfähigkeit eines Organs nicht so sehr von den konstitutionellen Ausgangsbedingungen abhänge, sondern wesentlich funktional bedingt sei und auf die längerfristige Benutzung des betreffenden Organs zu bestimmten Zwecken zurückgehe (Wygotski a.a.O., 67 f.),

293 findet sich bereits bei Feuerbach. So lesen wir etwa in »Über Spiritualismus und Materialismus«: »Aber auch das Organ hängt von seiner Verrichtung ab; es erschlafft, es magert ab, stirbt endlich ganz ab, wenn es nicht gehörig gebraucht und verbraucht wird (...) Übung macht den Meister. Erst durch das Denken wird das Hirn zum Denkorgan ausgebildet, ans Denken gewöhnt und durch die Gewohnheit, dies oder jenes, so oder so zu denken, auch so oder so modifiziert, bleibend bestimmt, gleichwie durch die Gewohnheit, in die Nähe oder Ferne zu sehen, die Gestalt des Sehorgans bleibend bestimmt wird. (...) Leibesbildung ist Selbstbildung, ... Leibesübung Geistesübung, die nur dadurch eine himmelweit verschiedene wird, je nachdem dieses oder jenes Organ oder ein und dasselbe Organ in dieser oder jener Richtung und Beziehung eingeübt und ausgebildet wird. Erst durch das Denken wird das Hirn zum wirklichen Denkorgan gebildet, aber durch das ausgebildete Denkorgan wird auch erst das Denken selbst gebildetes, geläufiges, gesichertes. Was ist hier ausschließliche Ursache oder ausschließliche Wirkung? Was Wirkung fist], wird zur Ursache, und umgekehrt.« (GW 11, 154, 155) Und wenn Feuerbach in derselben Schrift an anderer Stelle fragt: »Weiß der Blindgeborene aus sich selbst, daß er blind [ist], daß er nicht sieht? Weiß man, was sehen heißt, wenn man nicht sehen kann, was dunkel ist, wenn man nichts vom Lichte weiß? Wenn man also dem Blindgeborenen die Empfindung wenigstens der Dunkelheit des innern Sehraumes zuschreibt, legt man nicht seinen Zustand im Sinne des Sehenden aus?« (a.a.O., 186) wird dann dieser Gedanke nicht nahezu identisch in Wygotskis kritischer Wendung gegen die »unzutreffende und naive Meinung« reproduziert, die sich die Sehenden von der Psyche der Blinden bilden, indem sie einfach eine »gedankliche Subtraktion von ihrem gewöhnlichen und normalen Selbstgefühl« vollziehen (vgl. oben, S. 289)? Als »feuerbachisch« wird man sicher auch Wygotskis Attitüde charakterisieren können, das Leiden der Behinderten zu entmystifizieren und so dem Mitleid mit ihnen jene realistische Basis zu geben, auf der sich überhaupt erst eine »solidaristische« Haltung ihnen gegenüber entwickeln kann14. Und ist nicht auch sein »historischer Optimismus«, die Überzeugung, dass die Menschheit früher oder später sowohl die Blindheit als auch die Gehörlosigkeit und den Schwachsinn besiegen wird, und zwar wesentlich früher sozial und pädagogisch als medizinisch und biologisch, Geist vom Geiste Feuerbachs? Immerhin heißt es bei diesem in der letzten seiner »Vorlesungen über das Wesen der Religion«: »Die notwendige Folgerung aus den bestehenden Ungerechtigkeiten und Übeln des menschlichen Lebens ist einzig der Wille, das Bestreben, sie

294 abzuändern (...) Wenn wir nicht mehr ein besseres Leben glauben, sondern wollen, aber nicht vereinzelt, sondern mit vereinigten Kräften wollen, so werden wir auch ein besseres Leben schaffen, so werden wir wenigstens die krassen, himmelschreienden, herzzerreißenden Ungerechtigkeiten und Übelstände, an denen bisher die Menschheit litt, beseitigen.« (GW 6, 318, 319) Freilich gibt es in einem späteren Text Wygotskis auch so etwas wie ein regelrechtes »Schlüsselwort«, von dem her sich gewissermaßen retrospektiv das Verständnis der Abhängigkeit des Grundtenors seiner defektologischen Auffassungen von bestimmten Grundgedanken Feuerbachs einstellt. Es findet sich am Ende der von ihm verfassten Einleitung zu dem 1932 erschienenen Buch J.K. Gratschewas »Erziehung und Unterricht des schwer zurückgebliebenen Kindes« und lautet: »Nur die soziale Erziehung kann die Einsamkeit der Idiotie und der tiefen Zurückgebliebenheit überwinden, das schwer zurückgebliebene Kind durch den Prozess der Menschwerdung führen; denn - nach einer bemerkenswerten Redewendung von L. Feuerbach, die als Motto fur eine Lehre von der Entwicklung des anomalen Kindes dienen könnte -: was dem Einzelnen absolut unmöglich ist, ist zweien möglich. Fügen wir hinzu: Das, was auf der Ebene der individuellen Entwicklung unmöglich ist, wird auf der Ebene der sozialen Entwicklung möglich.« (Sobranije sotschineni, Tom 5, 230; vgl. auch Vygotsky 1993c, 218 f.) Dabei darf man sich nicht durch den Sachverhalt irritieren lassen, dass es sich bei dieser »bemerkenswerten Redewendung von L. Feuerbach« offenbar um genau dasselbe Diktum handelt, auf das sich Wygotski zwei Jahre später im Schlusskapitel von »Denken und Sprechen« berufen wird, um die Bedeutung der Auffassungen Feuerbachs für die Begründung einer »neuen psychologischen Bewußtseinstheorie« herauszustreichen (vgl. hierzu ausführlicher die zweite Studie in diesem Band, Kap. 4.4.). Tatsächlich liegt nämlich in beiden Fällen dem Rekurs auf Feuerbach das zugrunde, was I. Kant als eine »Synthesis« bezeichnet hat und worunter er »in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung« verstand, »verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen« (vgl. Kant 1956, 116), wobei im Falle der Einleitung zu Gratschewas Buch wohl im wesentlichen bestimmte Vorstellungen aus drei Paragraphen der feuerbachschen »Grundsätze der Philosophie der Zukunft« (1843) sowie aus zwei Passagen im »Wesen des Christentums« (1841) »synthetisiert« werden sollen. »Der einzelne Mensch für sich hat das Wesen des Menschen nicht in sich«, heißt es im § 61 der »Grundsätze der Philosophie der Zukunft«, »weder in sich als moralischem, noch in sich als denkendem Wesen. Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des

295 Menschen mit dem Menschen enthalten - eine Einheit, die sich aber nur auf die Realität des Unterschieds von Ich und Du stützt.« (GW 9, 338 f.) Weiter dann der § 62: »Einsamkeit ist Endlichkeit und Beschränktheit, Gemeinschaftlichkeit ist Freiheit wad Unendlichkeit.« (a.a.O., 339) Und im § 65 schließlich gibt Feuerbach den Hinweis, dass er bereits im »Wesen des Christentums« »das Geheimnis des gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Lebens - das Geheimnis der Notwendigkeit des Du ßr das Ich« entschlüsselt habe. Danach besteht dieses »Geheimnis« in der »Wahrheit, daß kein Wesen, es sei und heiße nun Mensch oder Gott oder Geist oder Ich, ßr sich selbst allein ein wahres, ein vollkommnes, ein absolutes Wesen, daß die Wahrheit und Vollkommenheit nur ist die Verbindung, die Einheit von zwei sich wesensgleichen Wesen. Das höchste und letzte Prinzip der Philosophie ist daher die Einheit des Menschen mit dem Menschen. Alle wesentlichen Verhältnisse ... sind nur verschiedene Arten und Weisen dieser Einheit.« (a.a.O., 339 f.) Und gehen wir dann diesem expliziten Hinweis auf das »Wesen des Christentums« nach, so finden sich in dieser Schrift folgende zwei Passagen, die sich sehr gut mit dem von Wygotski zitierten Satz 'auf den Punkt' bringen lassen. In der einen heißt es: »So ist der Mensch der Gott des Menschen. Daß er ist, verdankt er der Natur; daß er Mensch ist, dem Menschen. Wie er nichts physisch vermag ohne den andern Menschen, so auch nichts geistig. Vier Hände vermögen mehr als zwei; aber auch vier Augen sehen mehr als zwei. Und diese vereinte Kraft unterscheidet sich nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ von der vereinzelten. Einzeln ist die menschliche Kraft eine beschränkte, vereinigt eine unendliche Kraft.« (a.a.O., 166) Und in der anderen Passage lesen wir: »Gemeinsamkeit erhöht die Gemütskraft, steigert das Selbstgefühl. Was man allein nicht vermag, vermag man mit andern. Alleingefühl ist Beschränktheitsgefühl, Gemeingefuhl Freiheitsgefühl.« (GW 5, 224, Fußn.) Und dass Wygotski mit seinem Rekurs auf Feuerbach genau diese Bestimmungen im Sinn hat, wird nur allzu deutlich, wenn wir zum Ausgangspunkt unserer kleinen 'philologischen' Exkursion zurückkehren und uns den umfassenderen Kontext ansehen, in dem die Bezugnahme auf die »bemerkenswerte Redewendung von L. Feuerbach« steht. Im letzten Teil der Einleitung zu Gratschewas Buch geht nämlich Wygotski recht detailliert auf die Auffassungen Edouard S6-

296 guins, des (neben seinem Lehrer Jean Itard) wohl bedeutendsten Vertreters der Heilpädagogik des 19. Jahrhunderts, ein und zieht schließlich folgende Bilanz: »Der Pfad der Entwicklung verläuft für das schwer zurückgebliebene Kind durch die Zusammenarbeit, die soziale Hilfe eines anderen menschlichen Wesens, das anfänglich sein Geist, sein Wille, seine Tätigkeit ist. Eine Behauptung, die vollständig mit dem Gang der Entwicklung eines normalen Kindes übereinstimmt. Der Pfad der Entwicklung eines schwer zurückgebliebenen Kindes verläuft durch die Beziehungen und die Zusammenarbeit mit anderen Menschen. Aus genau diesem Grund enthüllt uns die soziale Erziehung von schwer zurückgebliebenen Kindern Möglichkeiten, die vom Standpunkt einer rein biologisch fundierten physiologischen Erziehung (wie Sdguin sein System nannte) völlig utopisch erscheinen. Der Ausdruck Idiot ... bedeutet wörtlich übersetzt Einzelgänger, einsamer Mensch: Er ist wirklich allein mit seinen Empfindungen, ohne jeden intellektuellen oder moralischen Willen. (...) Die zeitgenössische wissenschaftliche Forschung belegt eindeutig ..., dass Einsamkeit die Quelle der Idiotie ist. (...) In dieser Hinsicht stellt, wie bereits gesagt, die soziale Erziehung für die schwer zurückgebliebenen Kinder den einzig gangbaren und wissenschaftlich vertretbaren Weg dar. Mehr noch, sie allein ist fähig, die wegen eines biologischen Defektes nicht vorhandenen Funktionen herauszubilden. Nur die soziale Erziehung kann die Einsamkeit der Idiotie und der tiefen Zurückgebliebenheit überwinden, das schwer zurückgebliebene Kind durch den Prozess der Menschwerdung fuhren ...« (zit. nach Vygotsky 1993c, 218 - Übers. P.K.) 4. Das Verhältnis von »Technischem« und »Sozialem« in Wygotskis Ansatz einer integrativen Behindertenpädagogik Allerdings hat für Wygotski die Behindertenproblematik keineswegs nur diese soziale Dimension. Vielmehr ist sie für ihn, wie ja bereits an seinem Bekenntnis zur Notwendigkeit einer speziellen schulischen Bildung und Erziehung für die defektiven Kinder ablesbar (vgl. oben, S. 291), zugleich auch ein i.w.S. »technisches« Problem. Daher ist es, wie er in seiner 1931-32 verfassten Monographie »Die Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen« ausdrücklich betont, durchaus nicht gleichgültig, sondern von wesentlicher Bedeutung, »auf welcher biologischen Grundlage die kulturelle Entwicklung des Kindes erfolgt« (Vuigotskij 1987, 43 - Übers. P.K.15). Immerhin habe sich die menschliche Kultur nur wegen einer gewissen Stabilität und Konstanz der biologischen Grundausstattung des Menschen immer mehr anreichern können. Ihre Werkzeuge, ihre psychologisch-sozialen »Apparate« und Einrichtungen seien auf eine normale psychophysiologische Organisation hin kalkuliert, und die Verwendung dieser Werkzeuge und Apparate unterstelle in Form einer notwendigen

297 Voraussetzung das Vorhandensein von dem Menschen eigentümlichen Organen und Funktionen. (a.a.O., 45) Dementsprechend lasse sich das zentrale »technische« Problem der kindlichen Defektivität folgendermaßen charakterisieren: »Indem der Defekt eine Abweichung vom überdauernden biologischen Typus des Menschen produziert, indem er zum Verlust einzelner Funktionen, zur Unzulänglichkeit oder zur Schädigung der Organe führt und so eine mehr oder weniger wesentliche Umstrukturierung der Entwicklung auf neuer Grundlage, gemäß einem neuen Typus bedingt, entstellt er natürlich den normalen Verlauf der Einwurzelung des Kindes in die Kultur. Da nämlich die Kultur auf den normalen Typus des Menschen zugeschnitten und an dessen Konstitution angepasst ist, kann sich die durch den Defekt bedingte atypische Entwicklung16 nicht auf direkte und unmittelbare Weise mit dem Kulturprozess verbinden, wie dies beim normalen Kind der Fall ist. Dabei findet die für das defektive Kind bestehende Schwierigkeit, sich in die Kultur einzuwurzeln, ihren stärksten Ausdruck ... im Bereich der höheren psychischen Funktionen und der Beherrschung der kulturellen Methoden und Weisen des Verhaltens. Die einen wie die anderen erfordern ... für ihre Entwicklung die Unversehrtheit des psychophysiologischen Apparates des Kindes. Die einen wie die anderen sind besondere Formen des Verhaltens, die im Prozess der historischen Entwicklung der Menschheit aufkommen und durch die Kultur geschaffen werden1' - Formen, die gewissermaßen die kulturelle Fortsetzung der natürlichen psychophysiologischen Funktionen bilden, analog dazu, wie die Werkzeuge eine Fortsetzung der Organe sind. In gleicher Weise, wie die Entwicklung der Hand und des Gehirns die notwendige biologische Voraussetzung für den Gebrauch von Werkzeugen ist, bildet der normale Typus der psychophysiologischen Entwicklung des Kindes eine notwendige Prämisse für seine psychologisch-kulturelle Entwicklung. Und eben deshalb verläuft die Entwicklung der höheren psychischen Funktionen des anomalen Kindes auf eine völlig andere Weise.« (a.a.O., 46) Während sich nun die traditionelle Defektologie auf der Ebene der Theorie noch nicht einmal mit der Vorstellung vertraut gemacht habe, »dass der Defekt eben nicht nur auf der biologischen Ebene die Schwierigkeit des Zurückbleibens und der Abweichung hervorruft, sondern genauso auch in der Sphäre der kulturellen Entwicklung des Verhaltens« (ebd.), arbeite man, so Wygotski weiter, in der defektologischen Praxis, in der sogenannten Heilpädagogik, ohne sich der theoretischen Bedeutung dieses Umstands bewusst zu werden, bereits des längeren sehr erfolgreich nach einem wichtigen Prinzip, das man als »Prinzip der Schaffung von Nebenwegen der kulturellen Entwicklung« bezeichnen könnte (a.a.O., 47) und das sich am eindrucksvollsten am Beispiel der Entwicklung blinder oder taubstummer Kinder erläutern lasse:

298 »Das blinde Kind kann die Schriftsprache nicht beherrschen, da ja die Schrift ein System graphischer Symbole und Zeichen ist, die die einzelnen Laute der Sprache ersetzen. Die Schrift basiert auf einem System optischer Reize, das dem Blinden verschlossen ist. Diese Form des Verhaltens, diese kulturelle Funktion, die eine immense Bedeutung für die Entwicklung der inneren Sprache und für das Denken (für das Lesen), für die kulturellen Formen des Gedächtnisses usw. hat, blieb für das blinde Kind unzugänglich, bis ein Nebenweg für die Entwicklung der Schriftsprache geschaffen und eingeführt wurde: das Braille-System. Das Tastalphabet ersetzte das optische und eröffnete so dem Blinden den Zugang zum Lesen und Schreiben. Aber dazu war die Schaffung eines speziellen, an die Eigentümlichkeiten des blinden Kindes angepassten künstlichen Hilfssystems erforderlich. Die Heilpädagogik ist voll von Beispielen dieses Typs. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass die Schaffung von Umwegen das A und O der kulturellen Entwicklung ist. In analoger Weise ist neben der Lautsprache der ganzen Menschheit die Gebärdenund Fingersprache für die Taubstummen geschaffen worden: die Daktylologie, die das Sprechen durch das Schreiben in der Luft ersetzt. Die Beherrschung dieser kulturellen Hilfssysteme und ihr Gebrauch unterscheiden sich grundlegend von dem Gebrauch der gewöhnlichen Kulturmittel. Mit der Hand lesen, wie es das blinde Kind tut, und mit den Augen lesen sind psychologisch unterschiedliche Prozesse, obwohl beide im Verhalten des Kindes dieselbe kulturelle Funktion erfüllen und obwohl beiden benachbarte physiologische Mechanismen zugrunde liegen. So wie die Blindheit sich hemmend auf die Entwicklung der Schriftsprache auswirkt und Nebenwege der Entwicklung notwendig macht, macht die Taubheit die Beherrschung der Lautsprache unmöglich, woraus sich eine der schwersten Komplikationen der gesamten kulturellen Entwicklung des tauben Kindes ergibt, das einen von dem des normalen Kindes völlig verschiedenen Entwicklungsprozess durchlaufen muss. Der Defekt schafft eine Sorte von Schwierigkeiten für die biologische Entwicklung und eine andere, völlig verschiedene für die kulturelle. So erweist sich die Taubheit auf der Ebene der organischen Entwicklung nicht als besonders ver1 heerende und schwere Insuffizienz, das taube Tier ist fast immer besser angepaßt als das blinde. Aber auf der Ebene der kulturellen Entwicklung ist die Taubheit eines der schwierigsten Hindernisse, und hier führen dann die Umwege der sprachlichen Entwicklung zu neuen und einzigartigen Verhaltensformen.« (ebd.) Allerdings ist für Wygotski die Organdefizienz nicht die einzig mögliche Ursache einer nicht der Norm entsprechenden Verschmelzung des Biologischen mit dem Kulturellen, vielmehr hat der organische Defekt innerhalb der Linie der kulturellen Entwicklung sein Analogon im sogenannten Primitivismus, zu dem Wygotski Folgendes bemerkt: »Obwohl die Definition dieses Begriffs noch polemische Elemente enthält, gibt es anscheinend gegen die Annahme eines besonderen Typs der psychischen Entwicklung des Kindes, nämlich der des primitiven Kindes von keiner Seite her Einwände. Die Bedeutung dieses Konzepts liegt in

299 der Entgegensetzung von Primitivität und Kultur. Auf die gleiche Weise, wie der Defekt der negative Pol des Talents ist, bildet die Primitivität den Gegenpol zur Kultur. Das primitive Kind ist ein Kind, das nicht den Weg der kulturellen Entwicklung durchlaufen hat bzw. sich, genauer gesagt, auf den niedrigsten Stufen der kulturellen Entwicklung befindet.« (a.a.O., 48)18 Dabei, so Wygotski weiter, dürfe die theoretisch-methodologische Bedeutung dieses Konzepts nicht unterschätzt werden, sei doch der »Primitivismus« der kindlichen Psyche lange Zeit als eine pathologische Form der kindlichen Entwicklung verkannt und mit der organisch bedingten geistigen 'Zurückgebliebenheit' konfündiert worden. Zwar sei das äußere Erscheinungsbild beider Formen häufig außergewöhnlich ähnlich, aber in Wirklichkeit handele es sich doch um Phänomene verschiedener Ordnung. »Unter bestimmten Bedingungen«, schreibt Wygotski, »ist das primitive Kind durchaus in der Lage, eine normale kulturelle Entwicklung zu durchlaufen und das intellektuelle Niveau eines Kulturmenschen zu erreichen. Und genau das ist es, was den Primitivismus vom Schwachsinn unterscheidet. Dieser ist das Ergebnis eines organischen Defekts. Der Schwachsinnige ist in seiner natürlichen intellektuellen Entwicklung, in der Entwicklung des Gehirns eingeschränkt, und in Konsequenz hiervon kann er sich der kulturellen Entwicklung nicht auf die gleiche Weise wie die anderen, normalen Kinder anschließen, sondern nur auf Umwegen. Dagegen weicht der Primitive in seiner natürlichen Entwicklung nicht von der Norm ab, er bleibt lediglich außerhalb der kulturellen Entwicklung, und zwar aus den unterschiedlichsten, zum größten Teil äußerlichen Gründen.« (ebd.) Dabei könne, wie klinische Beobachtungen gezeigt hätten, dieser »Primitivismus« durchaus als isolierte Form der ' Zurückgebliebenheit' in der kulturellen Entwicklung auftreten, andererseits jedoch auch eine Kombination mit den verschiedensten Formen der Defektivität eingehen. Aber nicht nur, dass man zwei verschiedene Typen der kindlichen Unterentwicklung zu unterscheiden hat: die organisch bedingte geistige 'Zurückgebliebenheit' und den »Primitivismus« - man muss Wygotski zufolge noch einen Schritt weitergehen und anerkennen, »dass jedes beliebige normale Kind auf den verschiedenen Altersstufen in unterschiedlichem Grade einen ganzen Symptomkomplex des Primitivismus aufweist und dass dies den allgemeinen und normalen Zustand eines Kindes darstellt, das noch nicht die kulturelle Entwicklung durchlaufen hat«. Dies treffe natürlich in noch stärkerem Maße für das in biologischer Hinsicht anomale Kind zu, dessen organische Insuffizienz »immer zu einem Rückstand in der kulturellen Entwicklung und infolgedessen zum Primitivismus« führe. (a.a.O., 49) Denn:

300 »Die natürlichen Ressourcen - diese elementaren Prozesse, von denen ausgehend sich die höheren kulturellen Verfahrensweisen des Verhaltens aufbauen - erweisen sich als unbedeutend und dürftig, und deshalb ist einem solchen Kind häufig auch die eigentliche Möglichkeit zur Ausbildung und Entwicklung der höheren Formen des Verhaltens verschlossen, da die Unzulänglichkeit jener natürlichen Ressourcen schon die Ausbildung grundlegender kultureller Formen des Verhaltens beeinträchtigt.« (a.a.O., 163) Andererseits zeigt sich, »dass im Prozess der kulturellen Entwicklung des Kindes eine Ersetzung von Funktionen durch andere Funktionen stattfindet, eine Trassierung kolateraler Wege, die für die Entwicklung des anomalen Kindes völlig neue Möglichkeiten eröffnet. Wenn dieses Kind etwas nicht auf dem direkten Wege erreichen kann, wird stattdessen die Entwicklung kolateraler Wege zur Grundlage der Kompensation. Indem es diesen Umwegen folgt, beginnt das Kind, ebendasselbe zu erreichen, was es nicht auf direktem Wege erreichen konnte. Diese Ersetzung von Funktionen ist tatsächlich die Grundlage der gesamten kulturellen Entwicklung des anomalen Kindes.« (a.a.O., 164) Wenngleich in dieser Konzeption der Kompensation des Defekts durch eine »Trassierung kolateraler Wege« eindeutig der »technische« Aspekt dominiert, ist dennoch nicht zu übersehen, dass sie selbstverständlich auch einen sozialen Aspekt hat - allerdings in Form einer stillschweigenden, d.h. nicht thematisierten Voraussetzung. Tatsächlich ist ja die Schaffung der betreffenden Nebenwege der kulturellen Entwicklung nicht das Werk der defektiven Kinder selbst, und auch die »Beherrschung dieser kulturellen Hilfssysteme« ist eine Leistung, die ihren Ursprung nur im Umgang mit anderen Menschen haben kann, so dass sich auch hier die von Feuerbach formulierte Erkenntnis als relevant erweist, letztlich alle spezifisch menschlichen »Seelenkräfte« seien »Kräfte der Menschheit, nicht des Menschen als eines Einzelwesens« (vgl. GW 5, 166). Insofern taucht das »technische« Problem (die Frage nach dem »Ob« und »Wie« der Nebenwege der kulturellen Entwicklung) überhaupt erst auf, wenn das moralische Problem (die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis der »Normalen« zu ihren von einem organischen Defekt betroffenen Mitmenschen) zumindest vom Prinzip her bereits gelöst ist. Genau besehen ist daher das (für die verschiedenen Formen der Defektivität ja jeweils anders gelagerte) »technische« Problem eine Konkretisierung der Frage, wie denn die von Wygotski geforderte Integration der Behinderten in das Gemeinschaftsleben zu bewerkstelligen sei. Dabei erschöpft sich die Integrationsproblematik keineswegs in der Frage nach der Ausgestaltung der Gemeinschaft von Behinderten und Nicht-Behinderten, sondern umfasst auch das Problem der Gemeinschaft der Behinderten unter-

301 einander. Ein Problem, das sich mit besonderer Schärfe im Bereich der geistigen Behinderung stellt und das Wygotski zunächst im Rahmen seines 1931 in der Zeitschrift Woprossy defektologii (»Fragen der Defektologie«) erschienenen Aufsatzes »Das Kollektiv als Faktor der Entwicklung des defektiven Kindes« und dann noch einmal im darauffolgenden Jahr in seiner Einleitung zu J.K. Gratschewas Buch »Erziehung und Unterricht des schwer zurückgebliebenen Kindes« behandelt. Gestützt auf eine empirische Studie von W. Krasusski, die gezeigt hatte, dass sich selbst überlassene geistig 'zurückgebliebene' Kinder untereinander Gruppen von »gemischter Intelligenz« bilden (analog der gemischten Altersstruktur, die sich in spontan gebildeten Gruppen normaler Kinder findet), entwickelt er in diesen beiden Arbeiten das Konzept der »heterogenen Gruppen« als Bedingung für die Förderung der Entwicklung von geistig Behinderten wiederum ein der seinerzeit gängigen Praxis der Behindertenbetreuung entgegengesetztes Konzept19. Der Grundgedanke ist dabei, dass einerseits behinderte Kinder mit einem höheren intellektuellen Niveau gegenüber den stärker 'zurückgebliebenen' Mitgliedern der Gruppe Betreuungsfunktionen übernehmen und dabei ihre sozialen Fähigkeiten entwickeln können, während die stärker 'zurückgebliebenen' Kinder an den Kindern mit einem höheren intellektuellen Leistungsniveau ein realistisches Ideal ihrer eigenen Entwicklung haben. Nicht die annähernde Gleichheit, sondern die Verschiedenheit der intellektuellen Niveaus bildet so einen wesentlichen Ausgangspunkt der individuellen Höherentwicklung innerhalb des Kinderkollektivs: »In seiner Analyse der gesammelten Daten kommt Krasusski zu dem Schluss, dass der Idiot zusammen mit dem Imbezillen oder der Imbezille zusammen mit dem schwer Debilen die am meisten wünschenswerten sozialen Kombinationen bilden, diejenigen, welche die Kinder von selbst am häufigsten eingehen. In beiden Kombinationen gibt es dieselben gegenseitigen Vorteile: Den intellektuell höher Begabten bietet sich die Gelegenheit, gegenüber den weniger Begabten und weniger Aktiven eine gesteigerte soziale Aktivität an den Tag zu legen, während letztere aus ihren sozialen Beziehungen zu den höher Begabten und stärker Aktiven das erschließen, was für sie selbst noch nicht erreichbar ist, aber nichtsdestoweniger als ein unbewusstes Ideal wirkt, dem das intellektuell minderbemittelte Kind nacheifert. Augenscheinlich stellt die Anwesenheit von Kindern verschiedener intellektueller Niveaus in Kinderkollektiven einen genauso bedeutsamen Erziehungsfaktor dar wie die Kooperation zwischen den ein gegebenes Kollektiv bildenden Kindern. In freien Kollektiven, wo die Mitglieder sich nicht als die einfache Summe der jedes Kind für sich charakterisierenden Eigentümlichkeiten sehen, sondern wo jedes Kollektivmitglied neue Eigenheiten und Qualitäten erwirbt, indem es sich innerhalb eines [sozialen] Ganzen gewissermaßen selbst neu erschafft, zeigt sich daher nach Krasusskis Auffassung die Persönlichkeit geistig stark zurückgebliebener Kinder in einem völlig neuen Licht. Das heißt,

302 die Erforschung des nicht reglementierten sozialen Lebens von geistig stark zurückgebliebenen Kindern deckt von einer völlig neuen Seite die biologische Bedeutung der Unzulänglichkeit in der Persönlichkeit des Idioten und des Imbezillen auf und macht deren Entwicklungsmöglichkeiten sichtbar. Die Untersuchung des Soziallebens von schwer defektiven Kindern erlaubt einen Zugang zum Problem der geistigen Defizienz unter der Perspektive der sozialen Anpassungsfähigkeit dieser Kinder an das Leben um sie herum.« (zit. nach Vygotsky 1993c, 217 f. - Übers. P.K.) 5. Die Verdrängung des von Wygotski initiierten Ansatzes aus dem offiziellen Diskurs der sowjetischen Defektologie und ihre Folgen Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Wygotskis Konzeption der kindlichen Defektivität repräsentierte weder zu seinen Lebzeiten noch irgendwann danach jemals den Stand »der« Defektologie in der Sowjetunion, vielmehr blieb Wygotski auch auf diesem Gebiet eher ein Außenseiter. Mehr noch: Im Zuge der 1930/31 gegen ihn und seine Mitarbeiter einsetzenden wissenschaftspolitischen Kampagne (die ihrerseits Teil einer umfassenderen Kampagne war, in deren Mittelpunkt der Philosoph A.M. Deborin und die um ihn gruppierten »Dialektiker« standen)20 gerieten bestimmte Teilmomente seines defektologischen Ansatzes direkt in Misskredit. Tatsächlich war für ihn ja die Behindertenproblematik ein zwar seinem Wesen nach soziales und i.w.S. auch gesellschaftliches, dabei jedoch zugleich ein eher »ö//ge/wmmenschliches« Problem, jenseits der Frage von Klassengegensätzen. Und eben dieser »klassenneutrale« Standpunkt wurde ihm bereits ab 1932 wiederholt als ideologische Verfehlung angelastet, die einen »verhängnisvollen Einfluss« auf die pädagogische Praxis habe (vgl. van der Veer & Valsiner a.a.O., 380 f.). Nicht zuletzt die bittere Einsicht, dass jene Zeiten endgültig vorbei waren, in denen das Wort »Kommunismus« ohne Umschweife mit der Vision einer entwickelteren (im weitesten Sinne »humaneren« und den Glücksansprüchen der Individuen adäquateren) Form der »Gemeinschaft des Menschen mit dem Menschen« assoziiert werden konnte, mag dann Wygotski dazu bewogen haben, auch in der Behindertenproblematik von jener umfassenderen (einzelwissenschaftliche direkt mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen verknüpfenden) Perspektive Abstand zu nehmen, die nicht nur für seine Arbeiten der 20er Jahre charakteristisch ist, sondern auch noch in dem Aufsatz »Das Kollektiv als Faktor der Entwicklung des defektiven Kindes« sowie in seiner Einleitung zu J.K. Gratschewas Buch über die Probleme der Erziehung und Unterrichtung von Kindern mit geistiger Behinderung deutlich zum Ausdruck kommt. Jedenfalls fällt auf, dass er in seinen letzten beiden Lebensjahren nur mehr Detailproblematiken be-

303 arbeitet hat, die in Hinblick auf ihre politisch-ideologische Relevanz unverfänglich waren - ein PerspektivWechsel, der sich sehr gut anhand seiner 1935 (bereits posthum) publizierten Arbeit »Das Problem des geistigen Zurückbleibens« demonstrieren lässt, in der die soziale Dimension der Behindertenproblematik keinerlei Erwähnung mehr findet, es stattdessen um ein ausschließlich intra-individuelles Problem geht, nämlich um die Frage nach dem für das geistig behinderte Kind charakteristischen Verhältnis zwischen Intellekt und Affekt (untersucht im Zusammenhang mit der Fähigkeit des Kindes, im Rahmen experimentell etablierter Spiel- und Beschäftigungssituationen längere Zeit bei ein und derselben Tätigkeit auszuharren oder zu einer unterbrochenen Tätigkeit zurückzukehren).21 Indes sicherte auch die Strategie der »Unauffalligkeit« und der teilweisen Zugeständnisse an den 'Zeitgeist', wie sie für Wygotskis wissenschaftliche Tätigkeit ab 1932 insgesamt charakteristisch ist22, seinen Auffassungen nur noch eine zeitlich befristete Akzeptanz. Hatten bereits zum Zeitpunkt seines Todes die gegen ihn und seine Mitarbeiter gerichteten Angriffe an Schärfe zugenommen, so geriet unter den Vorzeichen des am 4. Juli 1936 vom ZK der KPdSU(B) verabschiedeten »Pädologiedekrets«23 schließlich alles, was er je publiziert hatte oder was an druckreifen Manuskripten von ihm vorlag, auf den Index. Wenn auf diese Weise Wygotskis ursprünglichem defektologischen Ansatz auch für lange Zeit die offizielle Anerkennung versagt blieb, so muss andererseits konstatiert werden, dass einzelne von ihm empfohlene methodische Prinzipien durchaus Eingang in die defektologische Praxis fanden (was insofern unproblematisch war, als sie ohne expliziten Bezug auf ihre Herkunft praktisch umgesetzt werden konnten24). So wandte etwa der führende Defektologe und »Vater« der sowjetischen Taubblinden-Pädagogik I. Sokoljanski (ursprünglich ein Schüler Bechterews und Pawlows) bereits in den 30er Jahren in der von ihm 1923 gegründeten Taubblinden-Internatsschule in Charkow (Ukraine) bestimmte von Wygotski propagierte Methoden der »Zusammenarbeit« zwischen Zögling und Erzieher an25 und entwickelte sie weiter. Die wohl wichtigste basiert auf dem Prinzip der »aufgeteilten gemeinsamen Tätigkeit«. Danach realisiert zunächst der Erzieher die vollständige (einen materiellen Gegenstand einbeziehende) Handlung, indem er dabei die Hand des taubblinden Kindes führt. Allmählich lernt dieses dann, die Handlung ohne direkte Hilfe auszuführen, in der Endphase des Lernprozesses nur noch durch vom Erzieher kommende Signale geleitet.26 Später »werden« die »Handlungen mit Objekten, wie sie das Kind zusammen mit dem Erzieher und unter dessen Anleitung (im buchstäblichen Sinne des Wortes) vollbringt, zur Grundlage für Gesten, d.h. für die anfängliche Kommunikationssprache«. Dabei ist zunächst »die

304 Geste selbst eine Handlung, nur ohne den realen Gegenstand (Löffel, Handtücher, Puppen usw.), die deshalb die neue Funktion (Bedeutung) eines Zeichens, einer Form des Verkehrs mit einem anderen Menschen, nämlich mit dem anderen Teilnehmer der gegenständlichen Handlung, erlangt«. Indem »die Geste allmählich 'mäßiger'« wird, kommt es zum »natürliche(n) Übergang zur wörtlichen (zunächst daktylen) Bezeichnung der Handlungen und ihrer Gegenstände und dann zu einem System solcher Bezeichnungen, d.h. zur Sprache im eigentlichen Sinne«. Die »Beherrschung der Sprache« wiederum »eröffnet dem Blindtaubstummen prinzipiell neue Horizonte der Entwicklung der Psyche, der Persönlichkeit und schafft neue Möglichkeiten sensorisch-gegenständlicher Tätigkeit«, wobei »das Geheimnis des auf diese Weise erzielten Erfolges« darin liegt, »daß die gesamte Erziehung und Ausbildung als ein Prozeß der allmählichen Verwandlung äußerer gegenständlicher Handlungen in innere Handlungen, als 'Interiorisierung' der äußeren Tätigkeit« verläuft (Leontjew in Gurgenidse & Iljenkow 1976, 213). Als berühmteste Absolventin der von Sokoljanski geleiteten Internatsschule (die übrigens im Sommer 1941 einem faschistischen Brandanschlag zum Opfer fiel, bei dem die meisten ihrer Insassen ums Leben kamen) gilt Olga Skorochodowa, ein taubblindes Mädchen, das nicht nur eine bekannte Schriftstellerin wurde, sondern auch selbst als Forscherin auf dem Gebiet der Defektologie zu arbeiten begann. Noch größeres Aufsehen erregte allerdings in den 70er Jahren ein anderer, eng mit dem Namen und Wirken des Defektologen A. Meschtscheijakow verknüpfter Fall einer umfassenden Rehabilitation, der in der einschlägigen Literatur unter der Bezeichnung »Sagorsker Experiment« diskutiert wird. Meschtscheijakow (ein Schüler sowohl des ehemaligen Wygotski-Mitarbeiters Lurija als auch Sokoljanskis)27 hatte in Sagorsk (heute: Sergiew Posad) in der Nähe von Moskau eine weitere Spezialschule für taubblinde Kinder gegründet und ein umfassendes Programm für deren Rehabilitation entwickelt. Vier der in Sagorsk seit 1963 betreuten Taubblinden (Natalia Kornejewa, Juri Lerner, Sergej Sirotkin und Alexander Suworow) durchliefen das Rehabilitationsprogramm mit solchem Erfolg, dass sie nach Beendigung der Schule 1971 an der Moskauer Lomonossow-Universität das Psychologie-Studium aufnehmen konnten und dieses Studium Anfang 1977 mit dem Diplom abschlössen. 6. Das »Sagorsker Experiment« - Mythos und Wirklichkeit Zweifellos verdienen die unter der Leitung von Sokoljanski und Meschtscheijakow in der Arbeit mit Taubblinden erzielten Rehabilitationserfolge in ihrer Faktizität volle Anerkennung, andererseits werfen sie jedoch nicht zuletzt wegen des

305 ihnen seinerzeit (d.h. anlässlich der offiziellen Evaluierung des »Sagorsker Experiments«)28 von führenden sowjetischen Wissenschaftlern zugeschriebenen Status eines definitiven Prototyps auch eine Reihe von grundsätzlichen Fragen auf. So sollte es etwa zu denken geben, dass Dawydow (ein bedeutender Entwicklungspsychologe und zum damaligen Zeitpunkt Direktor des Instituts für Psychologie der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der UdSSR) anlässlich der Würdigung der Leistungen Sokoljanskis und Meschtscheijakows kein verbindliches Urteil darüber abgeben mochte, inwiefern es eine Verbindung zwischen beider Tätigkeit und den »Arbeiten Wygotskis« gebe, er vorläufig nur gewisse Parallelen im methodischen Bereich gelten lassen wollte (vgl. Dawydow in Gurgenidse & Iljenkow 1976, 218). Dass Dawydow sich zu einer klaren Stellungnahme nicht durchringen konnte, erscheint dabei umso verwunderlicher, als ja die Zeitschrift Defektologija gerade ein Jahr zuvor anlässlich des 40. Todestages von Wygotski dessen 1924 erschienenen Grundsatzartikel erneut publiziert hatte. Und da im selben Jahr auch Meschtscheijakows bereits 1971 fertig gestellte, die Arbeit im Sagorsker Heim behandelnde, Dissertation in Buchform herausgekommen war (Titel: »Taubblinde Kinder«), hätte es wohl kaum einen angemesseneren Zeitpunkt geben können, Rechenschaft darüber abzulegen, inwieweit die seinerzeit von Wygotski auf die Zukunft ausgestellten Wechsel mittlerweile bereits eingelöst worden waren. Oder gab es womöglich »gute Gründe«, bei der Evaluierung des »Sagorsker Experiments« schon den Gedanken an diese Frage gar nicht erst aufkommen zu lassen? In der Tat gewinnt man bei einer genaueren Durchsicht des Sitzungsberichtes den Eindruck, dass zwar die Arbeit Sokoljanskis und Meschtscheijakows den ursprünglich von Wygotski verfolgten Intentionen in einigen Punkten durchaus entspricht, insgesamt jedoch diese Intentionen in entscheidender Weise verfehlt werden, und zwar dadurch, dass das für Wygotskis Grundkonzeption charakteristische Verhältnis von »Technischem« und »Sozialem« regelrecht in sein Gegenteil verkehrt wird. War bei Wygotski eindeutig das »technische« Moment der sozialen Fragestellung untergeordnet29 und lag seiner Konzeption letztlich die Vision des Aufbaus einer neuen, umfassenderen Form der Gemeinschaft von »Normalen« und Behinderten zugrunde, so erscheint nun das »Soziale« (d.h. die handgreifliche Unterstützung des taubblinden Kindes durch den Erzieher oder die Erzieherin) nur mehr als Moment einer übergeordneten technischen Problemstellung, deren Ausgangsgröße die durch den organischen Defekt bedingte vollständige Orientierungslosigkeit des Kindes gegenüber der gegenständlichen Umwelt und deren wesentliche Zielgröße seine erfolgreiche Eingliederung in den »gegenständlichen Verkehr«, d.h. seine Befähigung zu einem selbständigen und

306 dabei sachgemäßen Umgang mit den es umgebenden Dingen ist. Offensichtlich eine beträchtliche Verengung der ursprünglich bei Wygotski sehr breit angelegten Problemperspektive - eine Verengung, die sich andererseits aber mit Blick auf die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse als die womöglich 'realistischere' Alternative empfiehlt und die zu akzeptieren umso leichter fallen sollte, wenn man zur Kenntnis nimmt, wie sich die Angelegenheit vom Standpunkt eines »Betroffenen« aus darstellt. Immerhin formuliert S. Sirotkin30 am Ende seiner Stellungnahme zu den grundsätzlichen Problemen der Rehabilitation Taubblinder folgende bemerkenswerte Einschätzung: »Die sensorisch-physische Behinderung - Blindtaubstummheit (von Fällen starker pathologischer Verletzungen des Gehirns abgesehen) - beeinträchtigt die Möglichkeit psychischer Entwicklung des blindtaubstummen Menschen auf keine Weise. Das Problem besteht hier nicht in der Möglichkeit der psychischen Entwicklung, sondern im pädagogischen System der Einflußnahme (Ausbildung und Erziehung) auf den Blindtauben. Im Grunde handelt es sich hier um ein rein technisches Problem (um die Art und Methodik der rationell-effektiven Einwirkung auf das Kind, der Formierung seiner ganzheitlichen Psyche und seiner Aktivität). Hierin allein tritt die Spezifik der Blindtauben im Vergleich zu Sehend-Hörenden zutage. Ein rein technisches Problem ist auch die Schaffung der technischen Mittel und Vorrichtungen, die das menschliche Auge und Ohr in der praktischen Tätigkeit des Blindtauben ersetzen. (...) Somit können Blindtaube bei richtiger Lösung der spezifisch-technischen Probleme (der pädagogischen Organisation der Erziehung und Ausbildung, der technischen und sozialen Kompensation des fehlenden Gesichts- und Gehörsinns) ihrem Wesen nach, nicht aber äußerlich, Sehend-Hörenden gleich werden; sie können auf gleicher Ebene wie die Sehend-Hörenden die menschliche Kultur souverän meistern!« (Sirotkin in Gurgenidse & Iljenkow 1976, 226 - Hervorhn. P.K.) Trotz Verengung der Problemperspektive am Ende also gar mehr als Wygotski seinerzeit in Aussicht gestellt hatte? Schließlich heißt es bei ihm: »Der Blinde bleibt blind und der Gehörlose gehörlos, aber sie hören auf, defektiv zu sein, weil die Defektivität ein sozialer Begriff ist und der Defekt ein Auswuchs der Blindheit, der Taubheit, der Stummheit ist.« (Wygotski 1975, 72) Dass indes der von Sirotkin propagierte »technozentrierte« Optimismus (ein Optimismus, der auch in seiner Überschwänglichkeit zunächst umso überzeugender wirken musste, als ja der Propagandist selbst für den »lebenden Beweis« seiner Berechtigung genommen werden konnte) denn doch einer erheblichen Relativierung bedarf, wird allerdings deutlich, wenn man den Argumentationsrahmen des Sitzungsberichtes verlässt und ein Buch zur Hand nimmt, das viereinhalb Jahre nach der Evaluierung des »Sagorsker Experiments« in englischer Sprache in

307 Moskau erschien. »Awakening to Life. Forming Behaviour and the Mind in Deaf-blind Children«, so der Titel, enthält nämlich außer der ursprünglich bereits 1974 publizierten Monographie Meschtscheijakows »Taubblinde Kinder« sowie den von A. Saporoshez, O. Skorochodowa und E. Iljenkow verfassten Vor-, Begleit- und Nachworten auch jeweils einen Beitrag von N. Kornejewa, J. Lerner, S. Sirotkin und A. Suworow. Beiträge, in denen man das findet, was man in ihren zum seinerzeitigen Sitzungsbericht beigesteuerten Stellungnahmen vergeblich sucht: detaillierte autobiographische Angaben, aus denen hervorgeht, welche spezifischen subjektiven Voraussetzungen jede(r) von ihnen in das als »hervorragender Erfolg der sowjetischen Wissenschaft« apostrophierte »Sagorsker Experiment« eingebracht hatte. Was beispielsweise Sirotkin betrifft, so können wir Folgendes lesen: »Meine erste Lehrerin, der ich immer zutiefst dankbar sein werde, war Raissa Marejewa, die, zusammen mit meiner Mutter, daran arbeitete, die 'Vermenschlichung' ('humanisation') meines Verhaltens zustande zu bringen, und mir die Fertigkeiten der mündlichen, daktylischen und Schriftsprache beibrachte. Diese Arbeit wurde in dem Kindergarten für taubstumme Kinder durchgeführt, den ich besuchte. Nachdem ich im Alter von fünf Jahren vollständig mein Sehvermögen verlor, wurde beschlossen, dass ich zukünftig eher Einzel- denn Gruppenunterricht in derselben Institution erhalten sollte. Raissa Marejewa, darin ausgebildet, taubstumme Kinder zu unterrichten, organisierte spezielle Unterrichtsstunden für mich, in denen sie mich mit Haushaltsgegenständen (wie Möbeln, Geschirr und Kleidungsstücken) und mit Naturphänomenen wie etwa verschiedenen Arten von Wetter, den Eigenschaften von Wasser und Schnee usw. vertraut machte. Mir wird jetzt klar, wie glücklich ich es bei alledem in Hinblick auf die Gruppe von Kindern getroffen hatte, mit denen ich meine Tage verbrachte: Die taubstummen Kinder behandelten mich trotz meines vollständig fehlenden Sehvermögens als ihresgleichen und ließen mich bei ihren Spielen mitmachen, in denen ich oft sogar der Anführer war. Indem ich in dieser Umgebung aufwuchs, fühlte ich mich wegen meiner Taubblindheit keineswegs benachteiligt. Zuerst leistete ich starken Widerstand, wenn ich zum Zweck des Individualunterrichts aus dieser Umgebung herausgenommen wurde. Indes gelang es Raissa Marejewa, meine Unterrichtsstunden sehr interessant zu machen, und meine Proteste ließen allmählich nach. Die Gruppenspiele mit den anderen Kindern halfen mir, all das schneller und leichter aufzunehmen, was mir in den Unterrichtsstunden beigebracht wurde.« (Sirotkin 1979, 327 f. Übers. P.K.) Der Sachverhalt, dass mit einer solchen autobiographischen Notiz genaugenommen der »technozentrierte« Standpunkt in der Taubblinden-Pädagogik nicht bloß relativiert, sondern eigentlich bereits grundsätzlich in Frage gestellt ist und sozusagen auf informeller Ebene wieder die ursprüngliche Perspektive Wygotskis

308 zu Ehren kommt, wird uns noch zu beschäftigen haben. Im Folgenden soll es zunächst um einen anderen, nicht minder wichtigen Punkt gehen: die auffällige Diskrepanz zwischen dem »klinischen Bild« Sirotkins und jener Beschreibung eines (nach den gängigen Vorstellungen)31 »typischen« taubblinden Kindes, mit der Meschtscheijakow seinerzeit in »Taubblinde Kinder« die Reihe seiner Schilderungen von Fällen eröffnet hatte, die als für die Arbeit im Sagorsker Heim exemplarisch angesehen werden konnten: »Eines der unter unserer Beobachtung stehenden taubblinden Kinder war Nina H. Sie war im Alter von acht Monaten an Meningitis erkrankt. Während der Genesungsphase begann sie, an Schläfrigkeit zu leiden, stellte sich nicht mehr auf die Beine und setzte sich auch nicht mehr auf. Als sie im Alter von achtzehn Monaten in ein neurologisches Krankenhaus und in eine Augenklinik gebracht wurde, zeigte sich, dass sie weder sehen noch hören konnte. Im Alter von vier Jahren kam sie in ein Heim für behinderte Kinder. Zu dem Zeitpunkt, als wir uns mit ihrem Fall zu beschäftigen begannen, bestanden ihre übliche Haltung und ihr üblicher Zeitvertreib in Folgendem: Sie saß in ihrem Bett und wiegte ihren Rumpf hin und her, bisweilen in der Bewegung innehaltend, als würde sie auf etwas lauschen; dann schüttelte sie den Kopf zwei oder dreimal und begann wieder, ihren Körper zu schaukeln; jedesmal, wenn sie sich nach vorne beugte, atmete sie scharf durch die zusammengebissenen Zähne aus. Manchmal hob sie gleichzeitig ihren rechten Arm und ihr rechtes Bein hoch und drehte dabei ihren Kopf auf die rechte Seite. Bisweilen machte sie die gleichen Bewegungen mit ihrem linken Arm und linken Bein, aber weniger häufig. Aus einer liegenden Position setzte sie sich von selbst auf, aber gewöhnlich legte sie sich nicht selbständig hin; manchmal schlief sie sogar im Sitzen ein. Der rechte Arm des Mädchens war sichtlich aktiver als ihr linker. Manchmal legte sie ihre rechte Faust an die Wange oder klopfte leicht auf ihr Gesicht rund um das rechte Auge, auf die Stirn oder den Nasenrücken. Sie pflegte ihr rechtes Auge mit ihrer rechten Hand zu reiben. Wenn sie sich aufsetzte, veränderte sie selbständig die Körperhaltung, indem sie sich drehte, hochbog und die Beine ausstreckte. Sie war in der Lage zu stehen, wenn sie sich irgendwo festhielt, aber sie stand niemals von selbst auf. Wenn jemand sie aufstellte und ließ sie dann ohne Unterstützung, setzte sie sich sofort wieder hin. Wenn sie jemand berührte, um sie an- oder auszuziehen oder ihr Hin- und Herwiegen zu beenden, erstarrte das kleine Mädchen fur einen Augenblick, als würde sie darauf warten, dass etwas passierte, und begann dann zu wimmern. Wurde sie daraufhin allein gelassen, hörte das Wimmern auf. Sie pflegte laut zu weinen, indem sie dabei den Kopf konvulsivisch nach hinten warf, bisweilen ihre Beine in die Luft oder nach einer Seite schleudernd. Ihr Verhalten zur Schlafenszeit war unterschiedlich: Manchmal schlief sie sofort ein, sobald man sie hinlegte, ein andermal sträubte sie sich dagegen, sich hinzulegen. Nachts schlief sie friedlich und konnte manchmal das Frühstück verschlafen, wenn sie nicht dafür geweckt wurde. Die Bewegungen ihrer Zunge und ihrer Lippen variierten sehr: Manchmal pflegte sie ihre Lippen zu einer Schnute vorzu-

309 stülpen, ein andermal streckte sie ihre Zunge weit heraus, und zwar entweder nach unten in Richtung Kinn oder nach oben in Richtung Nase usw., und sie pflegte eine Anzahl unartikulierter Laute auszustoßen. Das war unseres Wissens alles, wozu Nina H. fähig war; sie konnte nicht laufen, nicht allein essen, nicht auf den Topf gehen, sich nicht selbst anoder ausziehen. Sie hielt keinen Gegenstand fest oder hantierte mit ihm. Jeden Gegenstand (außer dem Schnuller), den man ihr in die Hand gab, ließ sie kraftlos fallen, und wenn er ihr wieder in die Hand gelegt wurde, stieß sie ihn fort; sie machte keinerlei Versuche, mit einem Spielzeug oder etwas anderem zu hantieren, selbst dann nicht, wenn es ihr direkt in die Hand gegeben wurde. Genaueste Beobachtung von Ninas täglichem Stundenplan und ihrem Leben überhaupt sowie Versuche, sie in den elementarsten Verhaltensfertigkeiten zu trainieren, deckten verschiedene Faktoren auf, die die Arbeit mit diesem Kind besonders schwierig machten. Zum Beispiel war die Haltung des kleinen Mädchens zum Fütterungsvorgang entschieden negativ. Während des Fütterns weinte sie, biss die Zähne zusammen, wandte sich vom Löffel weg, spie das Essen aus usw. Die für sie verantwortliche Kinderschwester erzählte uns, dass, wenn Nina Wutanfälle hatte und das Essen verweigerte, man sie auf den Rücken legen und ihr das Essen mit Gewalt eintrichtern musste und dass sie dann, obwohl sie weiter weinte, wenigstens aß.« (zit. nach Meshcheryakov 1979, 96 f. - Übers. P.K.*2) Ein Kind wie Nina H. war also der empirische Bezugspunkt, als Leontjew auf der die Evaluierung des »Sagorsker Experiments« betreffenden Sitzung des Wissenschaftlichen Rates der Psychologischen Fakultät der Moskauer Universität folgendes Bild vom 'Innenleben' eines taubblinden Kindes vor dem Einsetzen der i.w.S. »pädagogischen« Maßnahmen entwarf: »Bei intaktem Gehirn kein Kontakt zu den umgebenden Menschen und somit keine Bildungsmöglichkeit. Selbst die Gegenstände der Umwelt werden zunächst nicht unterschieden, die vom eigenen Organismus ausgehenden Empfindungen verquicken sich und verschmelzen mit den äußeren (extrazeptiven) Empfindungen, so daß kein einigermaßen deutliches Bild der Umwelt entstehen kann. Die völlige Hilflosigkeit im Raum und, was besonders auffällt, das praktische Fehlen von Orientierungsreaktionen. Es gibt keine gegenständlichen Bedürfnisse, lediglich elementare Bedürfhisse des Organismus, die kein einigermaßen organisiertes und orientiertes Verhalten bewirken können. Unter solchen Umständen ist die Psyche - wenn in diesem Fall von einer Psyche überhaupt die Rede sein kann - etwas völlig Amorphes, Unorganisiertes, Chaotisches, und das sowohl objektiv als auch subjektiv gesehen. Keine einigermaßen stabile Abbilder können sich in diesem Strom von Empfindungen herauskristallisieren.« (Leontjew in Gurgenidse & Iljenkow 1976, 212) Und um Kinder wie Nina H. oder womöglich Rita L. (vgl. Meshcheryakov a.a.O., 102-110) oder Lena G. (vgl. a.a.O., 110-124 u. 205-208) geht es dann zwangsläufig auch, wenn Leontjew den von Meschtscherjakow eingeschlagenen

3 IC »Weg des beharrlichen Suchens nach den vernünftigen Möglichkeiten zur Schaffung einer Psyche bei Kindern, die von Geburt (oder vom frühesten Alter an, was auf dasselbe hinausläuft) blind und taub waren«, mit den Worten beschreibt: »Die gesamte Arbeit stützte sich begreiflicherweise auf die maximale Auswertung der verbliebenen sensoriellen Kontakte des Kindes mit der Umwelt, des gesamten Spektrums seiner Empfindungen. Vor allem handelte es sich um taktile, dann um Vibrations-, Geruchs- und intrazeptive Empfindungen. (...) Um die verbliebenen Quellen der Erkenntnis und der Entwicklung der Psyche nutzen zu können, muß eine wahre Grundlage für ihre Entwicklung gefunden werden. (...) Ein Anhalt für die Formierung der menschlichen Psyche wurde schließlich im Prozeß der Herausbildung von Handlungen mit Objekten gefunden«, und zwar »Handlungen mit menschlichen Objekten, d.h. mit Gegenständen, die vom Menschen für den Menschen geschaffen wurden und deren Gesamtheit, um mit Marx zu reden, den anorganischen Körper des Menschen bildet. Einzig über solche Handlungen erschließen sich dem blindtaubstummen Kind erstmalig die funktionellen Eigenschaften der Objekte, d.h. die Art ihrer Nutzung durch den gesellschaftlichen Menschen. (...) Das Kind wird in den 'gegenständlichen Prozeß' oder, wie es Mestscheijakow zu sagen pflegte, den 'gegenständlichen Verkehr' einbezogen und gewinnt sowohl ein menschliches Verhältnis zur Umwelt als auch eine Vorstellung von dieser Welt.« (Leontjew a.a.O., 212 f.) Der offizielle Anlass der Sitzung des Wissenschaftlichen Rates war nun aber keineswegs die Evaluierung der von Meschtscheijakow bei Nina H., Rita L. und Lena G. erzielten Rehabilitationserfolge, vielmehr ging es darum, Erfolg oder Misserfolg des Versuchs zu beurteilen, die von ihm in den Jahren 1963-1971 verantwortlich betreuten vier jungen Taubblinden Natalia K., Juri L., Sergej S. und Alexander S. zum Studium der Psychologie an der Moskauer Universität zuzulassen. Zur Debatte hätten also die praktische Effektivität und die theoretische Fundierung genau jener pädagogisch-therapeutischen Methoden stehen müssen, die bei diesen vier angewandt worden waren, um sie in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung so weit zu bringen, dass ein Hochschulstudium als ein realistisches Unterfangen erscheinen konnte. Und diese Methoden mussten zweifellos von differenzierterer, wenn nicht gar anderer Art gewesen sein als diejenigen, die zunächst von Leontjew in allgemeiner Form vorgestellt und dann von den »Betroffenen« S. Sirotkin und N. Kornejewa in einigen ihrer Details erläutert wurden. Jedenfalls wird, wenn wir auf die weiter oben zitierte autobiographische Notiz Sirotkins zurückgreifen und sie mit dem konfrontieren, was er in seinem auf der Sitzung des Wissenschaftlichen Rates gehaltenen Referat zum Thema »Selbständigkeit« ausführt, unmittelbar die Kluft deutlich, die zwischen den von ihm referierten theoretisch-methodologischen Grundpositionen der »So-

311 koljanski-Meschtscheijakow«-Pädagogik und jenen realen Problemen besteht, die in seiner eigenen Entwicklung zu lösen waren. »Die Pädagogik Sokoljanskis und Mestscheijakows«, so Sirotkin, »hat bei der Erziehung und Ausbildung blindtaubstummer Kinder die Idee der Aktivitätsformung praktisch demonstriert. Solange das blindtaubstumme Kind bei den gemeinsam mit dem Pädagogen (oder speziell ausgebildeten Erwachsenen) ausgeführten Handlungen zur Befriedigung seiner natürlichen, organischen Bedürfnisse (z.B. Nahrungs- oder Exkretionsbedürfnisse) eine elementare Selbständigkeit nicht erlangt, wird es nie zum Menschen. Hier liegt eben die ganze Verantwortung der Pädagogik: die ersten (auch die geringsten) Regungen von Selbständigkeit beim Kind nicht zu übersehen, sie nicht durch unnötige Aktivität des Erwachsenen zu unterdrücken. ... Damit die menschlichen Verhaltensformen (Arten der Befriedigung von Erfordernissen und menschlichen Bedürfnissen) dem blindtaubstummen Kind nicht entgehen, stellt der Pädagoge sie gleichsam als Hindernisse auf dem Weg zur Befriedigung seiner organischen Bedürfnisse auf. Er vollzieht diese Handlungen (die menschlichen Formen der Befriedigung von Erfordernissen) gemeinsam mit dem Kind, indem er z.B. dessen Hände in den seinen hält. Sowie das blindtaubstumme Kind erste selbständige Bewegungen bei der Befriedigung seiner Erfordernisse ausführt, verringert der Erzieher sogleich seine aktive Hilfe, d.h. läßt ihm mehr Freiheit. Allmählich steigt die Aktivität des Kindes bei entsprechender Verminderung der des Pädagogen. So entstehen und entwickeln sich bei dem Kind Handlungsabbilder. Dank diesen Abbildern führt das Kind selbständig Handlungen aus, die vorher der Pädagoge gemeinsam mit ihm ausführte. Diese Abbilder ersetzen dem Kind sozusagen allmählich den Pädagogen und die gemeinsame Tätigkeit wird zur getrennten«, so dass also »die Aktivität schrittweise vom Erwachsenen auf das Kind verlagert wird.« (Sirotkin in Gurgenidse & IIjenkow 1976, 223) Ähnlich verhält es sich, wenn Natalia Kornejewa den von Meschtscherjakow in seinem Buch beschriebenen Fall referiert, »wo ein Mädchen in früher Kindheit Gesichtssinn und Gehör verloren hatte und wo eine unqualifizierte Pflege ihr Streben nach Verkehr und Selbständigkeit unterdrückte, ja ein negatives Verhalten gegenüber Speisezuführung und allen hygienischen Handlungen hervorrief« (Kornejewa in Gurgenidse & Iljenkow 1976, 230). Auch dies ist keineswegs ihre eigene Geschichte, sondern es geht um Nina H. und deren schrittweise Einbeziehung in die elementarsten Formen des »gegenständlichen Verkehrs«33. Um es kurz zu machen: Nirgendwo im Sitzungsbericht wird auf jene spezifischen pädagogisch-therapeutischen Probleme eingegangen, die im Zusammenhang der »Fälle« Natalia Kornejewa, Juri Lerner, Sergej Sirotkin und Alexander Suworow in den verschiedenen Entwicklungsstadien (Säuglingsalter, Kleinkindalter, Vorschulalter, Schulalter, Pubertät, Jugendalter) zu lösen waren. Man

312 ist daher, um in dieser Frage überhaupt weiterzukommen, wiederum genötigt, Meschtscheijakows Buch »Taubblinde Kinder« zur Hilfe zu nehmen (das ja zum Zeitpunkt der Evaluierung des »Sagorsker Experiments« im Original bereits vorlag). Was dort mitgeteilt wird, ist dann allerdings wenig zufriedenstellend und lässt eher grundsätzliche Zweifel am Urteilsvermögen jener Vertreter der sowjetischen Wissenschaft aufkommen, die sich seinerzeit bei der Evaluierung der Sagorsker Unternehmung durch eine besonders 'offensive' Interpretation der Ergebnisse hervorgetan haben. Sieht man von kurzen Erwähnungen in der Mitte des Buches ab34, so tauchen Natalia (Natascha) Kornejewa, Juri Lerner, Sergej Sirotkin und Alexander Suworow als »Fälle« erst kurz vor Ende von Meschtscheijakows Buch auf, und zwar im Rahmen des Kapitels »Schüler, die nach dem Lehrplan fur Oberklassen gewöhnlicher Schulen unterrichtet werden« - ein Kapitel, in dem insgesamt acht auf zwei Gruppen verteilte Schüler vorgestellt werden, Schüler, von denen es zunächst heißt: »Sie sind entweder völlig blind (Sergej S., Wasja U., Julia W. und Torna B.) oder haben nur noch ein minimales Sehvermögen, das es ihnen lediglich erlaubt, zwischen hell und dunkel zu unterscheiden (Natalia, Sh., Alexander S.) oder verfügen über einen Rest von Sehvermögen von nicht mehr als 0.02 (Juri L., Natascha K.). Die Mehrzahl dieser Schüler war zunächst entsprechend den Methoden unterrichtet worden, die für taubblinde Kinder empfohlen wurden, bevor es irgendeine spezielle Einrichtung für ihre Pflege und Ausbildung gab. Sie bekamen ihre Ausbildung entweder am Forschungsinstitut für körperliche und geistige Behinderungen oder in anderen Einrichtungen oder zu Hause unter Anleitung von Mitarbeitern des Instituts.« (Meshcheryakov a.a.O., 266) Im Detail lesen sich dann die (weitgehend unter »rein medizinischen« Gesichtspunkten abgefassten) Lebensläufe von Sergej, Juri, Natascha und Alexander (die die »Gruppe 1« bildeten), wie folgt: »Sergej Sirotkin kam im Alter von vierzehn in das Heim für Taubblinde. (...) Das Kind war im halberstickten Zustand geboren worden, mit der Nabelschnur um seinen Hals. Als der Junge ungefähr acht Monate alt war, bemerkten die Eltern, dass er nicht auf Geräusche reagierte. Etwas früher schon hatten sie bemerkt, dass Licht ihn erschreckte und er nur Gegenstände zur Kenntnis nahm, die sehr nahe waren. Er verlor das Sehvermögen auf einem Auge vollständig im Alter von einem Jahr und zwei Monaten, und sein zweites Auge hörte zu funktionieren auf, als er fünf war. Er entwickelte keinerlei sprachliche Fertigkeiten. Im Alter von sechs, ein Jahr nachdem er sein Sehvermögen vollständig verloren hatte, begann Sergej, systematischen Unterricht als ein taubblindes Kind zu erhalten. Anfanglich wurde er von R.A. Marejewa unterrichtet. Sergejs Verhalten war von desorganisiertem Charakter, und es war unmöglich,

313 ihn dazu zu bringen, sich an ein Pult zu setzen. Der Unterricht musste in Form von Spielen abgehalten werden. Juri Lerner kam im Alter von siebzehn in das Heim für Taubblinde. (...) Juri wurde mit normaler Gesundheit geboren, aber er war ein schwaches Kind. Im Alter von sechs Monaten bekam er Lungenentzündung, als er ein Jahr alt war, hatte er Keuchhusten, und dann mit drei Jahren Masern. Er hatte häufig Mandelentzündungen. Bis zum Alter von vier konnte Juri sehen, hören und sprechen. Im Alter von vier erkrankte er an tuberkulöser Meningitis. Zwei Wochen nach Beginn der Krankheit verlor er vollständig das Sehvermögen. Er begann, das Gehör zu verlieren. Im Verlauf der Behandlung wurde sein Sehvermögen in einem unbedeutenden Grad wiederhergestellt. Er verlor das Gehör vollständig, als er im Alter von sieben einen zweiten Anfall von Meningitis hatte (Degeneration des akustischen Nerves). Er ging niemals zur Schule. Mit neun begann er, Einzelunterricht zu bekommen. Er wurde in Fingersprache und Braille-Schrift unterwiesen. Seine mündliche Sprache, die begonnen hatte, sehr unartikuliert zu werden, wurde wiederhergestellt. Als er in das Heim für Taubblinde kam, hatte er seine Primärbildung abgeschlossen und wurde in der Folge nach dem Lehrplan der gewöhnlichen Schulen unterrichtet. Natascha Kornejewa wurde im Alter von zwölf in eine Gruppe von taubblinden Kindern am Forschungsinstitut für körperliche und geistige Behinderungen aufgenommen. (...) Bis zum Alter von zweieinhalb Jahren hatte sich Natascha, den Aussagen ihrer Mutter zufolge, normal entwickelt: Sie hatte sehen, hören, sprechen und laufen können. Im Alter von zweieinhalb hatte sie einen Anfall, bei dem sie sich, um die Worte ihrer Eltern zu gebrauchen, 'auf dem Fußboden gerollt' hatte. Der Anfall hatte zweieinhalb Stunden gedauert. Zwei Monate später bemerkten Nataschas Eltern, dass die Augen des Kindes zu 'wandern' begannen, dass sich ihr Sehvermögen verschlechtert hatte und dass sie 'beim Rennen ständig stolperte und hinfier. Sie bemerkten auch, dass sie nicht gut hören konnte. Ein Jahr später gingen die Eltern zum Arzt. Der Arzt stellte fest, dass Natascha jetzt an einer Atrophie der optischen Nerven als Folge einer Meningitis litt. Das Ausmaß ihrer Gehörschädigung wurde bei dieser Gelegenheit nicht gemessen, aber es war beträchtlich. Als das Mädchen neun Jahre alt war, wurde es in der ersten Klasse einer Blindenschule untergebracht. Im Alter von elf erkrankte Natascha an Kinderlähmung: Ihre Beine waren gelähmt, und sie verlor vollständig ihr Gehör und ihr Sprechvermögen. Allmählich wurden ihr Sprechvermögen und die Bewegungsfahigkeit ihrer Beine wiederhergestellt, aber die Taubheit blieb. Das Mädchen musste die Blindenschule als stocktaub verlassen. Danach blieb sie zu Hause, wo sie häufig übertage allein bleiben musste. Ihr Sprechen begann sich zu verschlechtern. Im Alter von zwölf wurde sie in die Gruppe von taubblinden Schülern am Institut aufgenommen, wo sie knapp zwei Jahre verbrachte. Sie kam in das Heim für Taubblinde im Alter von vierzehn. Sie konnte in jeder Hinsicht selbst für sich sorgen, sie konnte sprechen, beherrschte die Fingersprache und konnte BrailleSchrift lesen und schreiben. Während des ersten Jahres im Heim holte sie den Stoff nach, den sie versäumt hatte, so dass sie den für gewöhnliche

314 Schulen vorgesehenen Vier-Jahres-Kurs abschließen und im folgenden Jahr mit dem Lehrplan für die fünfte Klasse anfangen konnte. Alexander Suworow kam im Alter von elf in das Heim für Taubblinde. Es war nicht möglich, die Natur der Krankheit festzustellen, die zu einem allmählichen Verlust seines Hör- und Sehvermögens geführt hatte. Sein Sehvermögen verschlechterte sich langsam. Bis zum Alter von drei bemerkten seine Eltern keinerlei Anomalien in seiner Entwicklung. Im Alter von zwei hatte er Masern und Windpocken, beides in schwerer Form. Ein Jahr später wurden seine Eltern einer Verschlechterung seines Sehvermögens gewahr. Im Alter von fünf wurde der Zustand seines Sehvermögens als 'Atrophie der optischen Nerven' diagnostiziert. Nur HellDunkel-Wahrnehmung blieb übrig. Mit sieben wurde der Junge in eine Blindenschule geschickt. Seine Sprechfahigkeit war zu diesem Zeitpunkt gut entwickelt. Im Alter von neun bemerkte man, dass das Hörvermögen seines rechten Ohres beeinträchtigt war, und dann begann sich schnell das Hörvermögen seiner beiden Ohren zu verschlechtern. Im letzten Jahr an der Blindenschule war für Alexander die Arbeit wegen seiner zunehmenden Taubheit schwierig - seine Lehrer mussten ihm laut direkt in die Ohren schreien. Alexander wurde von der vierten Klasse der Blindenschule (wo er während seines letzten Jahres Einzelunterricht erhalten hatte) in das Heim für Taubblinde überwiesen. (...) Zu dem Zeitpunkt, als er in das Heim für Taubblinde kam, konnte er nicht mehr verstehen, was ihm die Leute ins Ohr schrien. Es wurde notwendig für ihn, die Fingersprache zu lernen. Das erste Jahr seiner Betreuung verging damit, die Lücken in seiner Kenntnis des Lehrstoffs zu schließen, der für die Erfüllung des Lehrplans der gewöhnlichen Grundschule nötig war, sowie Alexander ein neues Kommunikationsmittel und ein neues Lernmedium beizubringen. Zu Beginn des Jahres hatte er an Hysterieanfallen gelitten (Schreien, Weinen). Es machte ihm keine Freude, mit Schülern zu kommunizieren, die über Sehkraft verfügten; er sagte, dass ihn sehende Kinder in der Vergangenheit schikaniert hätten. Während seines zweiten Jahres im Heim wurde Alexander soziabler, er schloss Freundschaft mit einigen der älteren Schüler und ergriff Partei für die jüngeren, wenn er den Eindruck hatte, dass sie ungerecht behandelt wurden. Er wurde nach dem Lehrplan für die fünfte Klasse gewöhnlicher Schulen unterrichtet. Er beherrschte den ganzen notwendigen Lehrstoff, bis auf ein arithmetisches Problem: Summen, die Operationen mit Dezimalzahlen und gemeinen Brüchen involvierten. Handwerkliche Arbeit andererseits fiel ihm schwer. Obwohl er lernte, wie man Sicherheitsnadeln herstellt, machte er die Nadeln sehr langsam. Er brauchte auch sehr lange, um sein Bett zu machen und sich anzuziehen, wodurch er häufig zu spät zum Frühstück kam.« (a.a.O., 267-271) Geht man davon aus, dass der Eintritt der vier in das Sagorsker Taubblindenheim exakt zum Zeitpunkt seiner Eröffnung, d.h. 1963 erfolgte, dann war die Faktenlage also die, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Immatrikulation an der Moskauer Universität zwar acht Jahre unter den Bedingungen des »Sagorsker Experiments« zugebracht, die gesamte voraufgehende Zeit, die bei allen vier den

315 größeren Teil ihres Lebens ausmachte, aber unter »außerexperimentellen«, d.h. letztlich unkontrollierten Bedingungen gelebt hatten. Es war von daher bereits ein flagranter Verstoß gegen die elementaren Regeln empirischer Forschung, wenn man ihre 1971 durch das Bestehen der Aufnahmeprüfung an der Moskauer Universität dokumentierte Hochschulreife ausschließlich als Ergebnis der systematischen Arbeit Meschtscherjakows und seiner Mitarbeiter wertete, so, als hätten die vier nicht auch schon davor ein Leben geführt und eine geistige Entwicklung durchlaufen, und zwar eine Entwicklung, die womöglich durch ganz andere Faktoren bestimmt war als diejenigen, die nach dem pädagogisch-therapeutischen Ansatz Meschtscheijakows für die geistige Entwicklung eines taubblinden Kindes entscheidend sind35. Es konnte doch nicht angehen, die von Sergej, Juri, Natascha und Alexander im Sagorsker Heim durchlaufene Entwicklung einfach als die 'logische Fortsetzung' jener unter den »Sagorsker« Bedingungen erzielten Rehabilitationserfolge aufzufassen, wie sie für Nina H., Rita L. und Lena G. dokumentiert worden waren36. Tatsächlich bestand aber offenbar ein starkes Interesse, das »Sagorsker Experiment« in genau diesem Sinne zu interpretieren, d.h. das Faktum der Existenz der »vier hervorragenden Studenten« (Leontjew) als 'Beweis' dafür zu nehmen, dass es bei Anwendung der von Sokoljanski und Meschtscheijakow entwickelten Methoden grundsätzlich möglich sei, aus einer Nina H. eine Natascha K. zu machen. Eine 'offensive' Interpretation, die allerdings von der Faktenlage her umso weniger gerechtfertigt war, als Sergej, Juri, Natascha und Alexander offenbar von vornherein andere und vor allem günstigere Ausgangsbedingungen für ihre Entwicklung gehabt hatten als die drei kleinen Mädchen, deren erste Rehabilitationserfolge Meschtscheijakow eingangs des zweiten Teils seines Buches schildert. Genau besehen hatten die vier sogar, was die »rein medizinische« Seite ihrer Entwicklungsgeschichte betraf, günstigere Ausgangsbedingungen als die seinerzeit von Anne Sullivan betreute Helen Keller, deren Fall Meschtscheijakow im zweiten Kapitel des ersten Teils ausführlich referiert (vgl. a.a.O., 55-69) und deren Krankengeschichte er mit den Worten beginnt: »Als Baby entwickelte sich das Mädchen zunächst gut und wuchs schnell. Im Alter von achtzehn Monaten wurde sie krank und verlor sowohl ihr Seh- als auch ihr Hörvermögen. Wegen ihrer Taubheit war Helen unfähig, sprechen zu lernen. Unmittelbar nach ihrer Krankheit konnte sich Helen überhaupt nicht zurechtfinden und war unfähig zu laufen.« (a.a.O., 57 f.) Bei Lichte besehen war also das der breiteren Öffentlichkeit als »hervorragender Erfolg der sowjetischen Wissenschaft« präsentierte »Sagorsker Experiment« im Grunde genommen eine (wenn man den bereits von Sokoljanski mit Olga Sko-

316 rochodowa erzielten Rehabilitationserfolg mitrechnete)37 erneute Wiederholung der seinerzeit von Anne Sullivan erbrachten Pionierleistung. Eine »Replikation«, die sich zwar in quantitativer Hinsicht vom Originalfall unterschied, jedoch in qualitativer Hinsicht eigentlich nichts Neues brachte (schließlich hatte auch Helen Keller einen erfolgreichen College-Abschluss aufzuweisen und sogar in Philosophie promoviert) - eine Replikation, die andererseits aber, vor allem unter dem Gesichtspunkt der praktischen Relevanz der von Sokoljanski und Meschtscheijakow entwickelten Methoden, dennoch als ein mitnichten gering zu schätzender Erfolg zu bewerten war. Bei alledem hätte wohl Meschtscheijakow selbst, der in seinem Buch keinen Hehl aus der tiefen Achtung gemacht hatte, die er für Anne Sullivan hegte (eine Achtung, die ihn im Übrigen nicht daran hinderte, seinen Finger auch auf die Schwachpunkte ihrer Arbeit zu legen38), eine solche realistische Einschätzung wohl eher als ein Kompliment, denn als eine Herabwürdigung seiner eigenen Leistung aufgefasst. Andererseits war, ohne dass von seiner Seite entsprechende Ambitionen geltend gemacht worden wären39, auf 'höherer Ebene' das »Sagorsker Experiment« zwischenzeitlich zu einer Prestigeangelegenheit von sozusagen epochaler Bedeutung hochstilisiert worden, so dass jede Relativierung der Ergebnisse zugleich einen erheblichen Prestigeverlust für diejenigen bedeutete, die sich entweder aus wissenschaftspolitischen Erwägungen oder aus Erwägungen, die den Geltungsanspruch der von ihnen vertretenen einzelwissenschaftlichen oder philosophischen Auffassungen betrafen, in dieser Unternehmung engagiert hatten. Dass es bei jener denkwürdigen Sitzung des Wissenschaftlichen Rates der Psychologischen Fakultät der Moskauer Universität von vornherein um wesentlich mehr ging als um die nüchterne Bewertung der von Meschtscheijakow tatsächlich erzielten Rehabilitationserfolge und die kritische Evaluierung der von ihm angewandten pädagogisch-therapeutischen Methoden und ihrer theoretischen Fundierung, kommt dann insbesondere in den im Sitzungsbericht dokumentierten Evaluierungsbeiträgen von Iljenkow und Leontjew zum Ausdruck. Während Iljenkow (der nach seinen eigenen Worten »die Arbeit Meschtscheijakows und seiner bewunderungswürdigen Zöglinge mehr als zehn Jahre lang aus der Nähe« beobachtet hatte40) meinte, eine »präzise wissenschaftliche Beschreibung der« (die Sagorsker Unternehmung betreffenden) »Tatsachen in ihrer Verkettung und Reihenfolge« ergebe »schon an und für sich so etwas wie eine materialistische Variante der Hegeischen Phänomenologie des Geistes« (Iljenkow in Gurgenidse & Iljenkow a.a.O., 216), wollte Leontjew (der sowohl in seiner Eigenschaft als Dekan der Psychologischen Fakultät als auch aus Gründen, die den Geltungsanspruch des von ihm seit Ende der 50er Jahre propagierten entwicklungspsychologischen Ansatzes betrafen, besonders involviert war) die Ergebnisse des

317 »Sagorsker Experiments« als »endgültiges Argument in der ideologischen Auseinandersetzung mit den Interpreten des Phänomens Helen Keller« gefeiert wissen: Immerhin seien die »glänzenden Resultate Sokoljanskis und Meschtscheijakows lediglich dadurch ermöglicht« worden, »daß die beiden einen Weg gingen, der zur Annäherung der besten materialistischen Traditionen unserer Wissenschaft ... mit der marxistisch-leninistischen Philosophie, mit der dialektischmaterialistischen Auffassung vom Wesen des Bewußtseins und des Denkens, von ihren Beziehungen zur Umwelt führte«. Insofern beweise schon allein die Existenz der »vier hervorragenden Studenten« einmal mehr die grundsätzliche Überlegenheit dieser Auffassung; denn: »Keine andere philosophische Konzeption hat den Schlüssel zur Lösung des Problems der Ausbildung und der Formung der Persönlichkeit von Blindtaubstummen geliefert und war auch nicht imstande, das zu leisten (weder auf theoretischer noch auf praktisch-pädagogischer Ebene).« (vgl. Leontjew a.a.O., 211, 209 f., 211, 210)41 Bei einer derartigen, wahrlich nicht bescheidenen Vorgabe musste mit der durch die Veröffentlichung von »Awakening to Life« provozierten 'Entzauberung' dessen, was bei mangelnder Kenntnis der wirklichen Ausgangsbedingungen in der Tat »den Eindruck eines geradezu unglaubwürdigen Wunders erweckt« (Gurgenidse & Iljenkow 1976, 209), die anfangliche Euphorie42 zwangsläufig in eine umso tiefere Ernüchterung umschlagen. Konkret äußerte sich dies zunächst darin, dass nicht lange nach Erscheinen von »Awakening to Life« die ohnehin keineswegs üppige staatliche Unterstützung für das Sagorsker Heim (vgl. Bakhurst & Padden 1991, 212) noch weiter zurückging, so dass »die Arbeit mit den taubblinden Kindern in den 80er Jahren nur unter äußerst eingeschränkten finanziellen, materiell-technischen und personellen Bedingungen fortgeführt werden« konnte (Friedrich 1993, 33), und dass dann ab Mitte der 80er Jahre in einer 'Nach-Evaluierung' das »Sagorsker Experiment« sowohl in der psychologischen als auch der philosophischen Fachliteratur eher negativ-kritisch eingeschätzt wurde (vgl. hierzu ausführlich Bakhurst & Padden a.a.O., 211-214). Dabei stand dann einer mehr an Sachfragen denn an personalisierender Polemik orientierten zügigen Klärung der Probleme nicht zuletzt der Umstand im Wege, dass einerseits Meschtscheijakow selbst bereits im Oktober 1974 verstorben war und andererseits auch jene beiden Wissenschaftler, die sich nach seinem Tode bei der offensiven Interpretation der Ergebnisse des »Sagorsker Experiments« am stärksten exponiert hatten, nämlich Iljenkow und Leontjew, zum Zeitpunkt des Erscheinens von »Awakening to Life« (Anfang 1980) schon nicht mehr unter den Lebenden weilten43. Insgesamt stellt sich so das »Sagorsker Experiment« nach wie vor als ein sehr komplexes Phänomen dar, in dem einzelwissenschaftliche, philosophische und

318 mssenschaftsethische Probleme44 aufs engste miteinander verwoben sind. Diese verschiedenen Problemebenen auseinanderzuhalten, sollte aber der erste Schritt sein, um zu einer sachlichen Beurteilung nicht nur der tatsächlichen praktischen Bedeutung der von Meschtscheijakow angewandten pädagogisch-therapeutischen Methoden, sondern auch der Realitätsangemessenheit der mit diesen Methoden verknüpften theoretischen Vorstellungen über die Grundprinzipien einer Behinderten-Pädagogik im allgemeinen und der Taubblinden-Pädagogik im besonderen zu kommen. 7. Biologie und »objektiver Geist« - die theoretischen Grundlagen der Taubblinden-Pädagogik A. Meschtscheijakows Worin besteht nun aber jener von Meschtscheijakow seiner praktischen pädagogisch-therapeutischen Arbeit mit taubblinden Kindern zugrunde gelegte theoretische Ansatz, in dem Leontjew eine »Annäherung der besten materialistischen Traditionen unserer Wissenschaft an die dialektisch-materialistische Auffassung vom Wesen des Bewußtseins und des Denkens, von ihren Beziehungen zur Umwelt« sehen wollte? Um es kurz zu machen: Sofern bei Meschtscheijakow überhaupt von einer »Theorie« der Psychologie und Pädagogik der Taubblinden die Rede sein kann, so ist sie ein Konglomerat aus biologistisch-mechanistischen Theoremen über die frühkindliche Entwicklung und bestimmten Kernthesen jener traditionsreichen Theorie des »objektiven Geistes«, die in ihren Grundzügen bereits Anfang der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts von M. Lazarus entworfen worden war (vgl. Lazarus 1860, 1862a u. 1865), danach in Fr. Jodls »Lehrbuch der Psychologie« (vgl. Jodl 1896 ff.) eine erste Systematisierung erfahren und schließlich in H. Freyers Monographie »Theorie des objektiven Geistes« (vgl. Freyer 1923 ff.) eine umfassende Darstellung gefunden hatte. »In der Ontogenese eines taubblinden Kindes«, heißt es an zentraler Stelle in Meschtscheijakows Buch, »ist die als erste auftretende Tätigkeit die, welche auf die Befriedigung seiner primären physischen Bedürfhisse gerichtet ist. Die wichtigsten dieser Bedürfnisse, deren Befriedigung Möglichkeiten bietet, das Verhalten zu modellieren, sind die der Ernährung, des Selbstschutzes und der Exkretion. (...) Es gibt aber noch ein anderes Bedürfnis, das sich beim Kind vom Augenblick seiner Geburt an äußert das Bedürfnis nach Bewegung. Vom ersten Tag seines Lebens an beginnt das Kind seine Arme und Beine zu bewegen. Alle späteren motorischen Formen, abgesehen von diesen angeborenen Bewegungen und motorischen Reflexen, die mit dem Saugen an der Brust zusammenhängen, werden dem Kind von den Erwachsenen um es herum beigebracht. Wenn diese Unterweisung infolge des Fehlens von Kontakten nicht stattfindet, kann dies in der ungünstigen Situation des taubblinden Kindes dazu führen, dass es ... dieses Bedürfnis in monoton wiederholten Bewegungen

319 befriedigt, die mit keinerlei Gegenständen außerhalb von ihm verknüpft sind. Ein spontanes Bedürfnis nach Bewegung kann aus sich selbst keinerlei mit einem Gegenstand verknüpftes Verhalten hervorbringen. Die Entstehung von menschlichem Verhalten und geistigen Prozessen besteht bei einem taubblinden Kind von Anbeginn seiner Entwicklung in der Assimilation menschlicher Erfahrungen, die erstens in den fiir die Befriedigung seiner physischen Bedürfhisse erforderlichen Gegenständen, zweitens in den fur die Befriedigung dieser Bedürfhisse nötigen Instrumenten oder Werkzeugen und drittens in den mit diesen Instrumenten oder Werkzeugen verknüpften Handlungsweisen konzentriert sind. Die Aufnahme und anschließende Aneignung von gesellschaftlicher Erfahrung durch das Kind geht in seiner direkten Kommunikation mit einem Erwachsenen vor sich, in deren Verlauf dieser es in praktischer Tätigkeit unterweist, die auf die Befriedigung der Bedürfnisse des Kindes gerichtet ist.« (Meshcheryakov a.a.O., 134 - Hervorhn. im Original) Dabei war die »Annäherung« dieser Konzeption an die »dialektisch-materialistische Auffassung vom Wesen des Bewußtseins und des Denkens, von ihren Beziehungen zur Umwelt« von Meschtscheijakow dadurch vollzogen worden, dass er bereits an früherer Stelle im Rahmen einer »kleinen Abschweifung von der Übersichtsgewinnung (survey) über die Probleme der Taubblindheit« (a.a.O., 84) ausdrücklich jenes Modell der psychischen Entwicklung des Menschen als für seinen Ansatz verbindlich deklariert hatte, das von Leontjew erstmals 1959 in einem Beitrag zu dem Sammelwerk »Die psychologische Wissenschaft in der UdSSR« vorgestellt worden war - ein Modell, das dadurch charakterisiert ist, dass in ihm unter direkter Berufung auf K. Marx (insbesondere auf dessen erstmals 1956 vollständig in russischer Sprache erschienenen »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte«) die Theorie des »objektiven Geistes« offiziell die Weihen einer »genuin marxistischen« Doktrin erhält. Wörtlich heißt es bei Meschtscheijakow: »Der vermenschlichende (humanising) Einfluss von Gegenständen, als den Produkten gesellschaftlicher Arbeit, und die Wichtigkeit der Unterweisung eines Kindes, sie korrekt zu handhaben, werden bis heute sowohl von Lehrern als auch in der psychologischen Theorie unterschätzt. Dabei ist es gerade dieses Verhalten zu Gegenständen, das heißt die Fähigkeit, Gegenstände in Übereinstimmung mit der ihnen immanenten Logik zu gebrauchen, die das Wesen des menschlichen Verhaltens ausmacht. In diesem Zusammenhang schrieb Marx: 'Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz, alle Organe seiner Individualität... sind in ihrem gegenständlichen Verhalten oder in ihrem Verhalten zum Gegenstand die Aneignung des Gegenstandes, die Aneignung menschlicher Wirklichkeit' ( . . . ) . Menschliches Verhalten und Denken formen und entwickeln sich bei einem Individuum kraft des Vorhandenseins von durch menschliche Arbeit geschaffenen

320 Gegenständen, in denen das Können des Menschen greifbar gemacht worden ist. 'Die Aneignung einer Totalität von Produktionsinstrumenten ist schon deshalb die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst' (...)46. Alexeji Leontjew wies auf die entscheidende Bedeutung dieser grundlegenden Äußerungen von Karl Marx für die wissenschftliche Psychologie hin. 'In seiner ontogenetischen Entwicklung tritt der Mensch in besondere, spezifische Beziehungen zur Welt deijenigen Gegenstände und Erscheinungen, die von den vorangegangenen Menschengeschlechtern geschaffen wurden', schrieb Leontjew47. 'Das Kind muß ihnen (den Werkzeugen, Instrumenten, Gegenständen des täglichen Gebrauchs - A.M.) gegenüber diejenige praktische oder theoretische Tätigkeit ausüben, die der darin verkörperten menschlichen Tätigkeit adäquat (wenn auch nicht identisch) ist' (...)48. 'Somit ist die geistige, psychische Entwicklung der einzelnen Menschen das Produkt (eines besonderen Prozesses,) der Aneignung, die es bei den Tieren überhaupt nicht gibt, wie es bei diesen auch den entgegengesetzten Prozeß der Vergegenständlichung ihrer Fähigkeiten in (den) objektiven Produkten (ihrer Tätigkeit) nicht gibt' ( . . . ) . Weiter: 'Die adäquate Beziehung eines Menschen zum Werkzeug drückt sich (zunächst und) vor allem darin aus, dass er sich die darin verkörperten (embodied) Operationen aneignet und dabei seine menschlichen Fähigkeiten entwickelt. Dasselbe gilt selbstverständlich für alle anderen menschlichen Gegenstände' (...)50.« (Meshcheryakov a.a.O., 85 f.) Vieles spricht dafür, dass diese offizielle Verpflichtung auf das (vermeintlich in den Auffassungen von Marx gegründete) leontjewsche »VergegenständlichungsAneignungs«-Konzept51 wesentlich Alibi-Funktion hatte, darauf abgestellt, dem pädagogisch-therapeutischen Ansatz Meschtscheijakows post festum nicht nur einzelwissenschaftlich-theoretischen, sondern vor allem auch ideologischen 'Tiefgang' zu verleihen. In Wirklichkeit war die diesem Ansatz inhärente (und bereits in frühen Arbeiten Meschtscheijakows festgelegte)52 'Hausphilosophie' nämlich weitaus bescheidener: Der »von den meisten Taubblinden-Lehrern in der Vergangenheit begangene Fehler«, so Meschtscheijakow, habe darin bestanden, »dass sie als erstes versuchten, bei ihren Schülern sprachliche Fertigkeiten zu entwickeln«, seien sie doch von dem »Prinzip« ausgegangen, »dass der Hauptunterschied zwischen dem Menschen und den Tieren« in der »Gabe der Sprache« liege. Deshalb hätten sie den Weg verfolgt, vor allem »diese 'Gabe' in mündlicher oder schriftlicher Form oder als Finger-Sprache« zu entwickeln. Da allerdings »diese Sprache nicht in einem System unmittelbarer Abbilder verwurzelt« gewesen sei, »die die Umwelt des Kindes widerspiegelten«, habe sie »keine wirkliche Fundierung« gehabt53 und habe so auch »nicht als Grundlage für die geistige Entwicklung des Kindes dienen« können (a.a.O., 84). Die notwendige Folgerung aus alledem sei, dass »die Förderung von sprachlichen Fertigkeiten« bei taubblinden Kindern

321 »nicht die erste Aufgabe« sein könne und dürfe, wenn es um die »Herausbildung einer menschlichen Psyche« gehe (ebd.). Stattdessen müsse von dem Prinzip ausgegangen werden, dass die Psyche eines jeden Kindes sich »infolge ihrer Wechselwirkung mit der Welt der Dinge und der Welt der Menschen« forme und entwickle (a.a.O., 86). Dabei sei vor allem zu berücksichtigen, dass »eine systematisierte Auffassung von der Umwelt nicht bloß durch die Stabilität der gegenständlichen Umgebung ermöglicht« werde, in der ein Kind sich vorfindet, »sondern vor allem durch die integrierte Natur seiner Handlungen innerhalb dieser gegenständlichen Situation (setting)«. Deshalb sollten »die Handlungen eines Kindes, die ihm von einem Erwachsenen beigebracht werden« auch »keine isolierten, unverbundenen Handlungen« bleiben, vielmehr bestehe »eines der bei der Unterweisung taubblinder Kinder einzuhaltenden Hauptprinzipien« in der »Forderung, ein integriertes Verhaltenssystem zu entwickeln, sobald das Kind ein Minimum an Verhaltenselementen gelernt hat, die notwendig sind, um ein solches System aufzubauen«. (a.a.O., 304 f.) »Die Handlungen eines Kindes in seinem Tagesablauf«, so Meschtscherjakow, »müssen alle miteinander verbunden sein, obwohl sie anfanglich nur durch seine physischen Bedürfnisse hervorgerufen sein mochten. Mit der Hilfe eines Erwachsenen steht das Kind auf, setzt sich auf den Topf, wäscht sich seine Hände und sein Gesicht, zieht sich an, isst sein Frühstück, geht spazieren usw. Eine Handlung folgt der anderen, ein Verhaltensabschnitt (instance of behaviour) liefert das Signal für den nächsten. Zusammengenommen bilden diese Handlungen ein integriertes Verhaltensmuster, in dem jedes Glied natürlicherweise aus dem vorangehenden folgt und natürlicherweise zum nächsten führt. Isolierte und unverbundene Fertigkeiten der Selbstpflege und isolierte Verhaltensgewohnheiten, so komplex sie in sich sein mögen, besitzen keine entscheidende Bedeutung beim Aufziehen (rearing) eines taubblinden Kindes, wenn sie in ihrer Gesamtheit kein integriertes Muster menschlichen Verhaltens bilden.« (a.a.O., 305) Was nun die Gegenstände in der Umwelt des Kindes betreffe, so würden sie »im Zusammenhang ihrer Funktionen und Bestimmungen, in ihren äußeren Wechselbeziehungen und funktionalen Verbindungen« erkannt, denn: »ihre Erkenntnis ist eingegliedert in das integrierte Verhalten eines Kindes, welches für dieses von praktischer Bedeutung ist«. Das heißt, »Abbilder der Gegenstände formen sich, wenn das Kind Handlungen meistert, in die Gegenstände einbezogen sind«, und »zweckmäßige Tätigkeit, die diese Handlungen zu einem System vereinigt, ruft integrierte Strukturen von Abbildern hervor, die in ihrer Gesamtheit ein integriertes Bild der äußeren Welt bilden«, (ebd.)

322 Nicht vergessen werden dürfe bei alledem, dass »sich die Psyche eines taubblinden Kindes erst zu entwickeln« beginne, »wenn es in Beziehungen zu einem Erwachsenen tritt«, wobei »das Wesen dieser Beziehung« darin bestehe, »dass das Kind die Erfahrung anderer Menschen begreift und assimiliert, dass es sie für die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse nützt«. Was aber das Kind »zuallererst« lerne, sei »praktische Tätigkeit, Alltagsverhalten«. Anfanglich »von allereinfachster Art und auf die Befriedigung seiner physischen Bedürfnisse gerichtet«, werde »die praktische Tätigkeit eines taubblinden Kindes später, wenn seine Bedürfnisse sich entwickeln, immer komplexer« und forme seine geistige Entwicklung. (a.a.O., 306) Dabei sei »der erste Schritt in Richtung auf die Entstehung von selbständigem menschlichem Verhalten die Einführung von aufgeteilt-gemeinsamen gegenständlichen Handlungen (shared actions involving objects)«, wobei »das Wesen solcher Handlungen bestimmt« werde durch »Gegenstände, die durch menschliche Arbeit geschaffen wurden, und durch Verfahrensweisen, die im Lauf der gesellschaftlichen Erfahrung mit den in Frage stehenden Gegenständen verknüpft worden sind«. Und »indem es diese Verfahrensweisen zur Befriedigung seiner Bedürfiiisse meistert, eignet sich das taubblinde Kind gesellschaftliche Erfahrung an«, ein Vorgang, der »durch aufgeteiltgemeinsame gegenständliche Handlung bewirkt« werde. Denn: Sofern »der Prozess der ursprünglichen Unterweisung eines Kindes in korrekter Weise organisiert« sei, entwickele sich »die Handlung des Erwachsenen bei der Befriedigung der Bedürfnisse des Kindes« zu »einer gemeinsamen Handlung von Erwachsenem und Kind« und werde »zwischen ihnen aufgeteilt«. (a.a.O., 306 f.) »In dieser gemeinsamen zwischen ihm und einem Erwachsenen aufgeteilten Handlung«, so nun die entscheidende These, »formiert das Kind notwendigerweise ein Abbild des Gegenstandes, der in die Handlung einbezogen ist, und ebenso ein Abbild der Handlung selbst, da die Handlung niemals ausgeführt werden könnte, wenn es keine antizipatorische Vorstellung von ihr gäbe.« Das heißt: »Ein Kind muss sich notwendigerweise vorstellen, was es zu tun im Begriffe ist, andernfalls ist Selbständigkeit in der Ausführung einer Handlung unmöglich.« Dabei, dies der weitere Ausbau der These, habe »diese Vorstellung der Handlung eine Orientierungsfunktion«; denn »die Vorstellung eines Kindes von dem Gegenstand und der mit ihm auszuführenden Handlung« helfe ihm »zu entscheiden, was es als nächstes, d.h. nachdem der Erwachsene eine bestimmte Handlung begonnen hat, tun« müsse. Bei alledem sei »in der Tat die aufgeteiltgemeinsame gegenständliche Handlung die winzige Zelle, aus welcher der ganze 'Körper' des menschlichen Verhaltens und menschlicher Denkungsart« hervorsprieße, wobei »in dieser aufgeteilt-gemeinsamen Handlung ursprünglich nur unmittelbare Widerspiegelungen der Gegenstände und der mit ihnen ausgeführ-

323 ten Handlungen Gestalt annehmen«, jedoch »später sich auf dieser Grundlage komplexere Widerspiegelungen der Wirklichkeit entwickeln, die durch Zeichen und Symbole ausgedrückt werden, die ihrerseits die Erkenntnis von Begriffen fördern«. (a.a.O., 307) Um es überblicksartig zusammenzufassen: »Die ursprüngliche Aufteilung von gegenständlichen Handlungen zwischen Erwachsenem und Kind findet statt, während das Kind in den einfachen Fertigkeiten der Selbstpflege trainiert wird; später meistert das Kind durch aufgeteilt-gemeinsame Handlung komplexere SelbstpflegeFertigkeiten (Leibwäsche säubern und ausbessern, Schuhe putzen, kleinere Kleidungsstücke waschen und bügeln). Indem es die Fertigkeiten gemeinsamer Hausarbeit meistert, begreift ein Kind Arbeitsoperationen, die zwischen ihm und seinen Kameraden aufgeteilt sind; gemeinsam machen sie ihre Wohnräume sauber, kommen sie Aufsichtspflichten im Speisezimmer nach und arbeiten sie in dem Winkel, wo sich ihre Haustiere befinden. Später wird das Kind in einer Werkstatt arbeiten und die Fertigkeiten produktiver Arbeit lernen. In der praktischen Erfahrung der Teilnahme an kollektiver Arbeit erwirbt es Wissen über die gesellschaftliche Arbeitsteilung und die Beziehungen zwischen den Menschen.« (ebd.) Alles in allem, so die Schlussanwendung Meschtscheijakows, sei »das führende Prinzip« seiner Arbeit das der »Einbeziehung eines taubblinden Kindes in ein aktives Leben, das den Normen menschlicher Kultur entspricht«, wobei es sich bei diesen Normen »zunächst um die der alltäglichen häuslichen Kultur, der Kultur der Selbstpflege« handele, die »beim Kind gefördert« werde, »indem man ihm beibringt, mit den Gegenständen ordentlich (d.h. in Übereinstimmung mit den Regeln unserer menschlichen Lebensweise) umzugehen«. Sei dies erst einmal erreicht, dann seien alle anderen Aufgaben grundsätzlich unkompliziert: »Sprachunterricht (zuerst Zeichensprache, dann Fingersprache und schließlich Lautsprache), die Entwicklung von logischem Denken und die Meisterung moralischer Normen. Alle diese Fertigkeiten entwickeln sich auf der Grundlage, die von der vorher etablierten Verhaltenskultur bereitgestellt wird.« (a.a.O., 308) Insofern sei er fest davon überzeugt, »dass eine Umkehrung der Vorgehensweise zu einem Fehlschlag führen« müsse, und zwar »sowohl hinsichtlich der Formung (shaping) des Alltagsverhaltens als auch in Hinblick auf die Vermittlung moralischer Prinzipien«. Jedenfalls widerlege seine Erfahrung »die immer noch von einigen Pädagogen vertretene Vorstellung, dass der menschliche Geist nur erweckt werde, wenn Sprache oder Rede gemeistert werden«. Nach seiner Auffassung könne »Sprache in den frühen Entwicklungsstadien nur jene Elemente des menschlichen Denkens« ausformen, »die bereits im Zusammenhang von

324 praktischem, Gegenstände einbeziehendem Verhalten Gestalt angenommen haben«. Dabei verstehe es sich von selbst, »dass, wenn die Sprache erst einmal etabliert« sei, »sie einen äußerst machtvollen Einfluss auf die vorhandenen Verhaltensmuster eines Kindes und seine Psyche« ausübe und es dieser ermögliche, »sich auf ein höheres Entwicklungsniveau zu erheben, eines, das ohne Sprache unerreichbar gewesen wäre«. Denn, so Meschtscheijakows Schlussgedanke, »eine taubblinde Person« werde »erst, nachdem sie die Sprache meistert« fähig, »ihre eigenen Handlungen mit den kulturellen Standards zu vergleichen, die von der Menschheit in Hinblick auf alle Lebensbereiche entwickelt worden sind«, (ebd.) Wendet man nun diese eher »allgemeinen Prinzipien der Modellierung von Verhalten und Psyche« auf das Feld der »praktischen Arbeit der Unterweisung taubblinder Kinder« an, dann hat man nach Meschtscheijakow von Folgendem auszugehen: »Bevor das taubblinde Kind ein geregeltes Training empfangt, ist seine Welt leer und bar jeder Gegenstände. Die Gegenstände, die in unserem Leben von so großer Bedeutung sind, existieren für es nicht, das heißt, sie werden von ihm nur insofern zur Kenntnis genommen, als es mit ihnen zusammenstößt, aber sie existieren für es nicht mit Funktionen und Bestimmungen - mit gesellschaftlicher Bedeutung54, wie wir jetzt sagen können.« (a.a.O., 86 f.) Bei dieser Ausgangslage bestehe dann das Hauptproblem darin, das nicht-sehende und nicht-hörende Kind dazu zu bringen, »der Mannigfaltigkeit von Gegenständen in der es umgebenden Welt gewahr« zu werden. Da nun andererseits »klar« sei, »dass der Pfad zur Erkenntnis der Welt für ein solches Individuum nur in einer Richtung verläuft, nämlich über die Analyse durch Berührung und Bewegung«, scheine indes die Lösung des Problems im Grunde genommen recht einfach zu sein: »Man sollte dem Kind Gegenstände in die Hand geben, dann wird es sie befühlen und auf diese Weise allmählich dazu kommen, für sich selbst eine unendlich große Menge von Abbildern der Gegenstände um es herum hervorzubringen.« (a.a.O., 87) Tatsächlich habe aber die Erfahrung mit der Unterweisung taubblinder Kinder gezeigt, dass »dieser Pfad unpassierbar« sei, da sie, »bevor sie eine spezielle Ausbildung erhalten, ... kein Bedürfiiis haben, die Welt zu entdecken und keine Fertigkeiten besitzen, die sie dazu befähigen, sich in ihr zurechtzufinden oder das zu analysieren, womit sie zusammenstoßen«. Gebe man daher einem solchen Kind Gegenstände zum »Ausprobieren«, lasse es sie sofort fallen, ohne die geringsten Anstalten, sich mit ihnen vertraut zu machen, und dies »unabhängig da-

325 von, wie neuartig die taktilen Reize auch sein mögen«. Deshalb müsse man, um ein taubblindes Kind überhaupt dazu zu bringen, mit Gegenständen zu hantieren, erst einmal »Bedingungen schaffen, unter denen es dem Kind zum Bedürfnis wird, Gegenstände kennenzulernen«, wobei an seinen »grundlegenden natürlichen Erfordernissen (zu essen, zu exkrementieren und sich selbst zu schützen)« anzusetzen sei (ebd.). »Anfanglich«, so Meschtscheijakow, »sind diese Erfordernisse für sich genommen noch keine wirklichen Bedürfiiisse im psychologischen Sinne des Wortes. Sie existieren nicht als menschliche Bedürfnisse im strengen Sinne ... Diese Erfordernisse werden nur zu wirklichen Bedürfnissen, nachdem damit begonnen wurde, sie zu vergegenständlichen (objectivise) und auf menschliche Weise zu befriedigen, was Werkzeuge und Geräte nötig macht. Das Vertrautwerden des Kindes mit den Gegenständen seiner Umwelt findet im Verlauf seiner Tätigkeit statt, die auf eine Befriedigung dieser elementaren natürlichen Erfordernisse gerichtet ist. Das bedeutet, dass in den frühen Phasen der Entwicklung eines taubblinden Kindes die Aneignung der gesellschaftlichen Erfahrung, die es vermenschlicht, mit konkreter praktischer Tätigkeit verknüpft sein muss, Tätigkeit, die auf Befriedigung seiner realen (zunächst organischen, aber später mannigfaltigeren) Bedürfiiisse gerichtet ist, die sich entsprechend der Ausdehnung seiner Tätigkeit erweitern.« (87 f.) Welche »Werkzeuge« sind es nun aber, mit denen das taubblinde Kind sich in den ersten Stadien seines Trainings vertraut zu machen »gezwungen«55 ist, und welche Funktionen, die mit diesen »Werkzeugen« verknüpft sind, »meistert« es? »Anfänglich kann man diese 'Werkzeuge' an den Fingern zweier Hände abzählen, später sind es Hunderte und Tausende. Zuallererst sind da die zahlreichen Haushaltsgegenstände, deren Meisterung im Falle eines Kindes mit normalem Gesichts- und Gehörsinn quasi unbemerkt voranschreitet und als selbstverständlich hingenommen wird. Ein Kind lernt, mit Löffel und Gabel von einem Teller zu essen, auf einem Stuhl an einem Tisch zu sitzen, ein Stück Brot abzubeißen und dann einen Löffelvoll Suppe zu sich zu nehmen, danach ein Getränk in einer Tasse oder einem Glas mit einem Teelöffel umzurühren und schließlich seinen Mund mit einer Serviette abzuwischen. Ihm wird beigebracht, nach einem genau festgelegten Zeitplan ins Bett zu gehen, sich auf ein Laken zu legen, seinen Kopf auf ein Kopfkissen zu betten, sich mit einer Decke zuzudecken, zu einer festgesetzten Zeit aufzuwachen und aufzustehen, dann sein Bett zu machen, sich auf den Nachttopf zu setzen oder auf die Toilette zu gehen, seine Morgengymnastik zu absolvieren, in das Badezimmer zu gehen, die Wasserhähne auf- und zuzudrehen, das Fließen des warmen und des kalten Wassers zu regulieren, das aus der Mischbatterie kommt, seine Hände und sein Gesicht einzuseifen, dann die Seife abzuwaschen, seine Zähne zu putzen, sich mit einem Handtuch abzutrocknen und das Haar zu kämmen; Unterwäsche, Strümpfe, Hosen und ein Hemd oder ein Kleid an- und auszuziehen, Socken, Pantoffeln, Schuhe, Filzstiefel und

326 Galoschen, Mantel und Mütze an- und auszuziehen; es lernt, Türen zu öffnen und zu schließen, eine Treppe hinauf- und hinunterzugehen, mit dem Ball oder mit der Puppe zu spielen und sich auch an allen möglichen anderen Spielsachen zu erfreuen.« (91 f.) Diese Liste, so Meschtscheijakow, sei keineswegs eine willkürliche Aneinanderreihung von Tätigkeiten, vielmehr müsse »all dies einem taubblinden Kind wirklich eines nach dem anderen mit jeweils speziell dafür ausgeklügelten Methoden beigebracht« werden, sei in praktischer Hinsicht »das gesamte Leben eines taubblinden Kindes ein endloses Lernprogramm« (a.a.O., 92). Insgesamt bilde die Unterweisung solcher Kinder in den »Fertigkeiten der Selbstpflege« (eine Unterweisung, die wesentlich darauf abzielt, »sie dazu zu befähigen, ihre individuellen Bedürfhisse unter Anwendung gesellschaftlich entwickelter Methoden zu befriedigen«) eine »elementar wichtige Stufe in dem umfassenden Programm des Aufziehens (rearing) und der Unterweisung des taublinden Kindes«; mehr noch: »Mit ihr werden die Fundamente für seine nachfolgende Entwicklung gelegt« (ebd.); denn: »Kognitive Tätigkeit entspringt innerhalb der praktischen Tätigkeit und zur Erfüllung der Erfordernisse der letzteren (tatsächlich ist dies der einzige Weg, auf welchem sie ins Dasein treten kann); sie entsteht als eine unerlässliche Bedingung für die Verwirklichung der praktischen Tätigkeit. Allerdings nimmt die kognitive Tätigkeit, nachdem sie zuerst innerhalb der praktischen Tätigkeit entstanden ist, relative Unabhängigkeit an. Als Ergebnis ihrer relativen Unabhängigkeit erwirbt ein Kind Wissen über die äußere Welt (Abbilder von Gegenständen), das sich über den engen Bereich jenes Wissens hinaus erstreckt, das für die Ausführung konkreter Typen praktischer Tätigkeit wesentlich ist. Auf diese Weise werden Bedingungen für die Meisterung komplizierterer Formen praktischer Tätigkeit geschaffen, und neue Tätigkeitsformen entstehen. Die praktische Tätigkeit wird vielfältiger und dehnt sich über die einfache Befriedigung der physischen Bedürfhisse des Kindes hinaus aus, und dies seinerseits macht einen weiteren Fortschritt im Lernen möglich. Die relative Unabhängigkeit der kognitiven Tätigkeit setzt den Lehrer des taubblinden Kindes in den Stand, dessen Wissen nicht bloß im Verlauf der praktischen Tätigkeit zu vergrößern, sondern auch durch besonderen Unterricht und Spiele.« (a.a.O., 93) Alles in allem ist so, wie Meschtscheijakow bereits in einer früheren, den Hauptprinzipien des Bildungs- und Erziehungssystems taubblinder Kinder gewidmeten Arbeit feststellt, die Entwicklung des Denkens und Verhaltens der taubblinden Kinder im wesentlichen durch zwei Stufen gekennzeichnet: »Die erste und bedeutsamste Stufe ist die der 'ersten Menschwerdung'. Auf dieser Stufe sammelt das Kind Vorstellungen von Objekten und bildet ein System von Verhaltensgewohnheiten heraus. Auf der zweiten

327 lernt das Kind die grammatische Struktur der Wortsprache, denn diese Struktur spiegelt gleichzeitig die Logik der Objekte in der umgebenden Welt wider. All dies versetzt das Kind in die Lage, das Wissen aufzunehmen, das durch die Menschheit angehäuft worden ist und in den Büchern und in den durch die menschliche Arbeit produzierten Gegenständen seinen Niederschlag gefunden hat.« (Meschtscheijakow 1965, 234) 8. Der Verlust des i.e.S. »Sozialen« als wesentliches Defizit der Konzeption Meschtscheijakows Sofern mit den im voraufgegangenen referierten Vorstellungen Meschtscheijakows der Anspruch verknüpft ist, als »Theorie« der wirklichen (und eben nicht bloß 'idealtypisch' projektierten) Entwicklung von taubblinden Kindern und der diese Entwicklung bestimmenden Faktoren zu gelten, so besteht ihr entscheidendes Manko (ein Manko, das sowohl die ursprüngliche, einfachere als auch die kompliziertere, um das leontjewsche »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzept erweiterte Variante betrifft) ganz eindeutig in ihrer systematischen Vernachlässigung des i.e.S. Sozialen in den Wechselbeziehungen zwischen dem Kind und seinen Mitmenschen. Tatsächlich wird ja mit keinem Wort darauf eingegangen, dass bereits in den elementarsten vom Kind »zusammen mit dem Erzieher und unter dessen Anleitung (im buchstäblichen Sinne des Wortes)« (Leontjew) vollbrachten Handlungen eben nicht nur das Verhältnis des Kindes zu den Dingen, sondern genauso auch sein Verhältnis zu seinen Mitmenschen »modelliert« wird56 - ein Verhältnis, das sich ja als Verhältnis zu Personen in grundsätzlich anderen Kategorien bewegt als das Verhältnis zu Sachen. »Glaube, Zutrauen, Achtung, Ehrfurcht, Liebe«, heißt es bereits bei Feuerbach, »sind allein die innerhalb der Sphäre der Persönlichkeit liegenden adäquaten, gehörigen Verhältnisse, in denen du zu einem Wesen stehst, das ein persönliches ist.« (GW 8, 184) Diese Spezifik des persönlichen Verhältnisses eines taubblinden Kindes zu seinen Mitmenschen hat offenbar innerhalb der theoretischen Vorstellungen Meschtscheijakows keinen Platz, ebenso wenig wie die Spezifik des persönlichen Verhältnisses der (in ihrer Mehrheit sehend-hörenden) Mitmenschen zu einem taubblinden Kind. Diese werden ja, nach allem, nicht unter dem Gesichtspunkt einer (wie auch immer begründeten) emotionalen Beziehung zu dem betreffenden Kind in die Problemstellung einbezogen, sondern ausschließlich unter der Perspektive einer abstrakten Verantwortung für die »technische« Optimierung jenes Prozesses, in dessen Verlauf die taubblinden Kinder ihre Verhaltensweisen, Bedürfnisse und Ansprüche mehr und mehr den »objektiv« vorgegebenen Normen57 angleichen, um am Ende »die menschliche Kultur« (die programmatisch in erster Linie als eine »Kultur« des Umgangs mit Dingen konzi-

328 piert ist58) ebenso »souverän« und »auf gleicher Ebene« wie die Sehend-Hörenden »meistern« zu können.59 Dass es sich bei diesem »technozentrierten« Reduktionismus, innerhalb dessen die das behinderte Kind umgebenden Personen diesem ausschließlich als Interpreten einer der »vermenschlichten« Sachenwelt inhärenten »objektiven Logik« (d.h. gewissermaßen als 'Funktionäre' des »objektiven Geistes«) gegenübertreten (und eben nicht als jemand, an den und dem man »glaubt«, zu dem man »Zutrauen« hat und den man »liebhaben« kann, und der im Übrigen außerhalb seiner Beziehung zu den von ihm betreuten behinderten Kindern auch ein »eigenes« Leben ftihrtum eine den tatsächlichen Lebens- und Entwicklungsbedingungen taubblinder Kinder unangemessene Modellvorstellung handelt, kann freilich solange nicht zum Thema werden, wie man sich bei den vordergründigen Momenten des Erfolgs des »Sagorsker Experiments« aufhält, d.h. weder nach den wirklichen Voraussetzungen der von Meschtscheijakow und seinen Mitarbeitern erzielten Rehabilitationsleistungen fragt noch jene kritischen Töne zur Kenntnis nimmt, die bereits 1975 auf der Sitzung des Wissenschaftlichen Rates in den Berichten der beiden »Betroffenen« A. Suworow und N. Kornejewa angeklungen waren. Kritische Töne, die den offiziellen (und zum damaligen Zeitpunkt auch von Sirotkin so vehement unterstützten) »technozentrierten« Standpunkt durchaus in Frage stellen. So charakterisiert etwa Suworow - nachdem er zunächst geschildert hat, auf welche Weise bestimmte »technische« Probleme gelöst wurden, die auftraten, als man die vier »Sagorsker« zu Beginn ihres Studiums in den normalen Unterrichtsablauf integrieren wollte61 - die »üblichen Studienformen« dahingehend, dass sie »die Rolle physiologisch vollkommen unschädlicher Schlafmittel« spielen. Danach trifft er die (für die Charakterisierung des Hochschulsystems der Sowjetunion der 70er Jahre insgesamt wenig schmeichelhafte) Feststellung, »daß Studenten eigentlich wie zum Spott 'Lernende' heißen«, man sie stattdessen »im Grunde 'Belehrte' nennen« müsste (a.a.O., 227), spricht dann von der »regsamen Passivität beim 'Durchnehmen' des Pensums« und konfrontiert schließlich die mit der Evaluierung des »Sagorsker Experiments« befassten Wissenschaftler und Wissenschaftspolitiker mit einer höchst bemerkenswerten Forderung: »Statt der Diktatur des Lehrers, oder des Dozenten62 - seine Zusammenarbeit mit den Schülern, mit den Studenten, das ist meines Erachtens die Richtung, in der die Lösung dieses Problems zu suchen ist. In unserer Experimentalgruppe von blindtauben Studenten bestehen alle Voraussetzungen für die Suche nach effektiven Formen einer solchen Zusammenarbeit. Anfanglich war diese Suche eher spontan, seit dem dritten Studienjahr aber bewußt, als Ludmilla Obuchowa unsere Betreuerin wurde, eine kluge, sehr gütige, feinfiihlende Frau, die nicht nur auf das

329 Studienprogramm, sondern auch auf die Studenten achtet.« (a.a.O., 228 Hervorhn. P.K.)63 Und dass bei alledem die Herausbildung der i.w.S. »moralischen« Dimension der Persönlichkeit von Taubblinden ganz offensichtlich keineswegs das direkte Resultat der »Interiorisation« äußerer gegenständlicher Handlungen (vgl. Leontjew in Gurgenidse & Iljenkow 1976, 213) und damit »im Grunde ein rein technisches Problem« ist, das auf gleicher Ebene liegt wie das Problem der »Schaffung der technischen Mittel und Vorrichtungen, die das menschliche Auge und Ohr in der praktischen Tätigkeit des Blindttauben ersetzen« - daran lässt dann Kornejewa keinerlei Zweifel, wenn sie auf folgenden Sachverhalt hinweist: »Leider konnten wir auch Blindtaubstumme beobachten, die sich im Studium umfangreiche Informationen aneigneten, fehlerlos schrieben und jede Frage aus dem Schulpensum beantworten konnten, aber einen engen Interessenkreis, primitive Moralbegriffe und primitive Gewohnheiten im menschlichen Umgang hatten.« (a.a.O., 232 f.)64 Aber nicht genug mit dieser indirekten Kritik am offiziellen »technozentrierten« Standpunkt des »Sagorsker Experiments« - im Zusammenhang mit der Schilderung eines Vorfalls aus dem Alltagsleben des Sagorsker Taubblinden-Heimes macht Kornejewa auf beeindruckende Weise auch direkt die Fragwürdigkeit dieses Standpunktes deutlich: »Eine Gruppe von sehschwachen Kindern wird spazieren geführt. Sie haben bereits die Fertigkeiten der Selbstbedienung erlernt und verstehen einfache Gesten, können aber noch nicht aktiv miteinander verkehren. Man muß eine zielgerichtete Tätigkeit organisieren, etwa den Schnee aufschaufeln, daß er rascher taut. Die Kleinen bekommen Schaufeln, für sie aber sind es keine Werkzeuge, sondern nur neue Gegenstände, die man irgendwie handhaben, drehen oder auf dem Boden herumschleppen kann. Nun zeigt man den Kleinen, wie man Schnee auf die Schaufeln nimmt und auf den dunklen Asphalt wirft. Mit Vergnügen machen sie sich an die neue Beschäftigung. Doch nun bemerkt der Erzieher mit Unruhe, daß die Kleinen bestrebt sind, sich einander zu nähern, so daß sie in ihrem Arbeitseifer den Nebenmann leicht mit der Schaufel stoßen können. Man stellt sie weiter auseinander, sie widerstreben aber und gehorchen erst, wenn man ihnen droht, die Schaufeln wegzunehmen. (...) Genaue Beobachtungen führten zu der Annahme, daß es hier um das Motiv der Tätigkeit geht. Zunächst wurden die Kinder von der Neuheit der Betätigung angezogen, doch dieser Beweggrund war bald erschöpft, sie begannen mit der Schaufel zu manipulieren und vergaßen jede zielgerichtete Tätigkeit, da ihnen der Beweggrund der Arbeit zum allgemeinen Wohl noch fremd war. Allein zu arbeiten, schien keinem mehr interessant, alle möglichen Manipulationen mit der Schaufel waren bereits versucht, die Hilfe des Erwachsenen aber, der ihnen zielgerichtetes Handeln beibringen

330 wollte, wurde als unverständlich und aufgezwungen nur negativ und passiv angenommen. Eine andere Sache ist es, wenn man den anderen Kindern zuschaut und wie sie handelt. Da aber die Sehkraft schwach ist, rücken sie alle einander näher. Wie sehr sie von der gemeinsamen Tätigkeit hingerissen wurden, zeigte der Umstand, daß sie nach längerer Arbeit die Schaufeln nicht abgeben wollten. Man könnte sagen, daß dieser Fall den Ursprung eines sich formierenden Verhältnisses zur kollektiven Arbeit erschließt. Hätte man den Kleinen aus Angst vor Verletzungen die Möglichkeit gemeinsamer Betätigung und damit auch die Möglichkeit zu beobachten und zu imitieren, den Wunsch, zusammen zu arbeiten, genommen, hätte man sie gezwungen, zielgerichtete Handlungen ohne entsprechende Motivation auszuführen, so wäre ihr Verhalten zu einer derartigen Arbeit zweifellos negativ.« (a.a.O., 231 f.) Nach allem ist also die programmatische Vernachlässigung des i.e.S. Sozialen in den Wechselbeziehungen zwischen einem Kind und seinen Mitmenschen (genauer: die Vernachlässigung der dieser Dimension immanenten Motivationsdynamik) nicht nur unter »moralischen« Gesichtspunkten ein wesentliches Defizit der dem »Sagorsker Experiment« unterlegten Konzeption von Taubblinden-Pädagogik, sondern durchaus auch in theoretisch-methodologischer Hinsicht. Denn tatsächlich bleibt ja unter den gegebenen Voraussetzungen völlig unklar, warum sich das taubblinde Kind überhaupt auf die ihm vom Erzieher oder der Erzieherin aufgezwungene »gemeinsame« Tätigkeit einlässt und sich nicht von vornherein grundsätzlich jedem Versuch einer pädagogischen Einwirkung auf sein 'präkulturelles' Verhalten, d.h. die »natürlichen« Formen der Befriedigung seiner »organischen Bedürfhisse« widersetzt bzw. an einem zunächst geäußerten Widerstand festhält (vgl. hierzu die drastische Schilderung der bei Nina H. angewandten Methoden der Zwangsernährung)65. Denn mag das »pädagogische System der Einflußnahme (Ausbildung und Erziehung) auf den Blindtauben« noch so ausgetüftelt und mögen auch sämtliche »die Art und Methodik der rationell-effektiven Einwirkung auf das Kind, der Formierung seiner ganzheitlichen Psyche und seiner Aktivität« betreffenden »rein technischen Probleme« gelöst sein - solange das Kind auf »pädagogische« Maßnahmen per se nicht 'anspricht' (d.h. sich der Führung durch einen Anderen grundsätzlich nicht anvertraut), kann schwerlich jener Prozess in Gang kommen, den Meschtscheijakow im Anschluss an Sokoljanski (vgl. Meschtscheijakow 1965, 205 f., 206, 207) durchaus treffend als »beginnende Menschwerdung« des Kindes bezeichnet. Dabei wäre eine Neuinterpretation der von Meschtscheijakow und seinen Mitarbeitern erzielten Rehabilitationserfolge unter der Perspektive einer systematischen Berücksichtigung der dem i.e.S. Sozialen immanenten Motivationsdynamik umso mehr angebracht, als diese Dimension ohnehin nicht nur auf der Ebene von Meschtscheijakows Fallbeschreibungen mehr als einmal deutlich in Erscheinung

331 tritt66, sondern durchaus auch im Zusammenhang der Explikation seiner theoretischen Vorstellungen eine Rolle spielt, freilich die Rolle eines deus ex machina - etwa, wenn er schreibt: »Viele Arten der Tätigkeit, die man ein Kind lehrt, werden nicht durch ein einzelnes Bedürfnis, sondern eine komplexe Kombination von Bedürfnissen hervorgerufen. Spieltätigkeit zum Beispiel befriedigt mindestens drei Bedürfnisse - die nach Bewegung, Imitation und Kommunikation', die Tätigkeit bei der Befolgung von Reinlichkeitsgewohnheiten wird diktiert durch die Exkretions-, Bewegungs- und Imitationsbodürfmsst des Menschen, und so weiter.« (Meshcheryakov 1979, 297 - Hervorh. P.K.) Oder: »In einigen Fällen kann die Ubereinstimmung einer vom Kind durchgeführten Handlung mit der Idee (conception), die es von der Handlung hat, als aktuelle Verstärkung wirken, während in andern Fällen die Verstärkung aus dem Beifall (approbation) seitens eines Erwachsenen oder Freundes kommt.« (a.a.O., 299 - Hervorhn. P.K.)67 9. Ansätze zu einer Neuinterpretation des »Sagorsker Experiments« im Lichte der Auffassungen Wygotskis Wenn sich so nun mehr und mehr herauskristallisiert, dass eine befriedigende Erklärung (und eben nicht bloß Beschreibung der Aufeinanderfolge einzelner Etappen) der Rehabilitationserfolge Meschtscheijakows offenbar nur möglich ist, wenn man vorbehaltlos zur ursprünglichen Perspektive Wygotskis zurückkehrt, dann versteht es sich allerdings von selbst, dass dabei mehr gefordert ist als ein einfacher Rückzug auf den (seit Feuerbach letztlich trivialen) Grundsatz, wonach die Sozialität zu den unabdingbaren Wesensmerkmalen menschlicher Existenz gehört und die (im strengen Sinne) soziale Umwelt die wesentliche Bedingung der psychischen Entwicklung des Kindes, der Herausbildung seiner spezifisch menschlichen Eigenschaften und Funktionen ist. Vielmehr muss eine solche Erklärung dem Umstand gerecht werden, dass es sich bei der Sozialität des Menschen keineswegs um ein invariantes Merkmal handelt, sondern jedes Entwicklungsstadium durch eine ihm eigentümliche Form der Sozialität charakterisiert ist, so dass die Gesetzmäßigkeiten, die für eine bestimmte Entwicklungsstufe gelten, nicht automatisch auch für andere Entwicklungsstufen geltend gemacht oder gar von vornherein als universelle Prinzipien unterstellt werden können. Und in der Tat hat ja Wygotski, wie wir bereits wissen68, in seinen letzten Lebensjahren (d.h. zwischen 1932 und 1934) ein Modell der psychischen Entwicklung des Kindes ausgearbeitet, das an Differenziertheit wohl nichts zu wünschen übrig lässt. Der Grundgedanke dieses Modells ist, dass 1. die für jede Altersstufe »spezifische, einzigartige und unwiederholbare ... soziale Entwick-

332 lungssituation69 ... streng gesetzmäßig die gesamte Lebensweise des Kindes (determiniert)« (vgl. ASch Bd. 2, 75 f.), dass 2. als Hauptkriterium für die Charakterisierung der Altersstufen und ihre Abgrenzung voneinander die der jeweiligen »sozialen Entwicklungssituation« korrespondierenden psychischen Neubildungen zu gelten haben und dass 3. die Folge der Altersstufen »durch den Wechsel von stabilen und kritischen Perioden (bestimmt)« wird (vgl. a.a.O., 69). In der Ausführung dieses Grundgedankens ergibt sich dann ein Schema, das, den Zeitraum von der »Krise des Neugeborenen« bis zur »Krise des Siebzehnjährigen« abdeckend, insgesamt elf Entwicklungsstufen umfasst (vgl. a.a.O., 70 f.)70, wobei gilt, dass die in einer »kritischen Periode« gemachten Erwerbungen stets »Übergangscharakter« tragen, dass sie »niemals für das weitere Leben erhalten« bleiben, während das, was das Kind in einer »stabilen Altersperiode« erwirbt (z.B. das Laufen, die normale Umgangssprache, das Schreiben) »fürs Leben« erworben wird (vgl. ASch Bd. 2, 196). Ein typisches Beispiel für eine solche »Erwerbung mit Übergangscharakter« ist die sogenannte autonome Kindersprache, die dem »kritischen Alter« des ein bis zweijährigen Kindes korrespondiert (Wygotski spricht auch direkt von der »Krise der Einjährigen«) und den Entwicklungsschritt von der sprachlosen Periode, in der das Kind nur lallt, zur Periode des eigentlichen Spracherwerbs vermittelt (vgl. hierzu ausführlicher weiter unten). Gemäß diesem Modell ist dann bereits das Säuglingsalter jene Entwicklungsperiode, in der darüber entschieden wird, ob und wie sich die individuelle Entwicklung eines Kindes mit dem Leben und der Entwicklung seiner Mitmenschen zu einer Einheit verbindet. Abweichend von der gängigen (auch von Meschtscheijakow vertretenen) Auffassung, derzufolge »der Säugling ein rein biologisches Wesen« und daher »das Säuglingsalter eine Periode der asozialen Entwicklung des Kindes« ist, geht nämlich Wygotski davon aus, »daß wir es im Säuglingsalter mit einer ganz spezifischen, sehr eigentümlichen Sozialität des Kindes zu tun haben« (ASch Bd. 2, 107). Ein Grundsatz, der im Zusammenhang einer Neuinterpretation des »Sagorsker Experiments« umso bedeutsamer ist, als ja insbesondere das von Leontjew entworfene Bild vom 'Innenleben' taubblinder Menschen vor jeder i.w.S. »pädagogischen« Betreuung (vgl. oben, S. 309) die Auffassung nahelegt, ihre Psyche befinde sich unabhängig von ihrem tatsächlichen chronologischen Alter offenbar in dem gleichen Zustand, den Wygotski als charakteristischflirdie Psyche der Neugeborenen unterstellt71, so dass folgerichtig für das Verständnis ihrer Entwicklung exakt jene Gesetzmäßigkeiten zu bemühen wären, die er für das Säuglingsalter geltend macht, dessen grundlegende psychische Neubildung das »Ur-Wir-Bewußtsein« ist.

333 Dabei besteht nach Wygotski das wesentliche Charakteristikum der »einmaligen, unwiederholbaren sozialen Entwicklungssituation« des Säuglingsalters darin, dass das Kind »nicht in der Lage« ist, »auch nur ein einziges seiner Lebensbedürfnisse selbständig zu befriedigen« (a.a.O., 107). Sei es die Nahrungsaufnahme, die Ortsbewegung oder das Umdrehen von der einen auf die andere Seite: All dies »ist nicht anders möglich als in Zusammenarbeit mit Erwachsenen«. Auf welche Art auch immer das Kind tätig sein mag, der Hauptweg »(führt) in diesem Alter über andere, führt über die Erwachsenen. Absolut alles im Verhalten des Säuglings ist eingesponnen und eingewoben in Soziales.« Selbst »die Beseitigung von störenden Reizen« (zu denen im Übrigen nicht nur überlaute Geräusche, grelles Licht o.ä., sondern vor allem auch die Exkremente des Kindes gehören) »erfolgt immer auf demselben Wege, nämlich über andere«. Auf diese Weise ergibt sich eine »einzigartige, unvergleichliche Abhängigkeit des Kindes von den Erwachsenen, die ... auch die scheinbar intimsten individuellen biologischen Bedürfnisse des Säuglings prägt und durchdringt. Als Folge der Abhängigkeit des Säuglings von den Erwachsenen gewinnt sein Verhältnis zur Realität (und zu sich selbst) einen ganz spezifischen Charakter: es werden diese Beziehungen nämlich immer durch andere vermittelt, sie werden immer durch das Prisma der Beziehungen zu einem anderen Menschen gebrochen.« (a.a.O., 108) Wenn er bei alledem auch »in weitaus größerem Maße Objekt der sozialen Beziehungen als ihr Subjekt, ihr aktiver Teilnehmer« ist (a.a.O., 107), so ist dennoch das Verhältnis des Säuglings zur Wirklichkeit ganz eindeutig »von Anfang an ein soziales Verhältnis«, er selbst also von Anbeginn »ein höchst soziales Wesen«; denn jede, selbst die elementarste seiner Beziehungen zur Umwelt »ist stets eine Beziehung, die gebrochen ist durch die Beziehung zu einem anderen Menschen. Das gesamte Leben des Säuglings ist so organisiert, daß in jeder Situation, sichtbar oder unsichtbar, ein anderer Mensch anwesend ist. Man kann das auch so ausdrücken: Jede Beziehung des Kindes zu den Dingen ist eine Beziehung, die mit Hilfe eines anderen Menschen beziehungsweise über ihn realisiert wird.« (a.a.O., 108 f.) Aber nicht allein, dass der Säugling so buchstäblich nur 'durch den anderen Menschen lebt', dieser also gewissermaßen sein »Gott« ist, wie Feuerbach es provokant, aber zugleich auch sehr treffend ausgedrückt hat - der andere Mensch ist für ihn auch der primäre Bezugspunkt aller seiner Aktivitäten. Ein Sachverhalt, den Wygotski, wie folgt, erläutert:

334 »Der erwachsene Mensch ist das Zentrum jeder Situation im Säuglingsalter. Deshalb ist es nur natürlich, daß sich für den Säugling die Situation einfach in Abhängigkeit davon extrem und grundlegend verändert, ob ein Erwachsener in seiner Nähe ist oder nicht. Bildlich gesprochen kann man sagen: Das bloße Näherkommen oder Weggehen des Erwachsenen mobilisiert oder schwächt die Aktivität des Kindes. Ist kein Erwachsener in der Nähe, so ist der Säugling hilflos. Seine Aktivität gegenüber der Außenwelt ist irgendwie gelähmt oder zumindest in höchstem Grade eingeschränkt. (...) Ist der Erwachsene anwesend, so ist es für die Aktivität des Kindes die normalste und natürlichste Sache, sie über den anderen Menschen zu realisieren. Aus diesem Grunde ist der andere Mensch für den Säugling stets das psychologische Zentrum jeder Situation. Deshalb wird auch der Sinn jeder Situation für den Säugling in erster Linie durch dieses Zentrum, das heißt durch dessen sozialen Inhalt bestimmt. Im weiteren Sinne kann man sagen: Die Beziehung des Kindes zur Umwelt ist abhängig und abgeleitet von seinen konkreten, unmittelbaren Beziehungen zum erwachsenen Menschen.« (Wygotski a.a.O., 138 f.) Insofern ist auch »völlig natürlicherweise zu erwarten, daß sich im« (diese objektive Konstellation subjektiv nachvollziehenden) »Erleben des Säuglings vor allem sein gemeinsames Tun mit anderen Menschen in einer konkreten Situation differenzieren, abheben, Gestalt annehmen muß«. Und ebenso »ist auch zu erwarten, daß der Säugling sich selbst noch nicht von seiner Mutter« (als der ihn im Regelfall betreuenden Person) »abgrenzt« (a.a.O., 142), so dass also »das erste, was im Bewußtsein des Säuglings entsteht, am treffendsten und präzisesten als Ur-Wir bezeichnet werden (kann)«, wobei, und dies festzuhalten ist wichtig, »dieses erste Bewußtsein von der psychischen Gemeinschaft, das der Entstehung des Bewußtseins von der eigenen Persönlichkeit vorausgeht (d.h. dem Bewußtwerden eines differenzierten, abgehobenen Ich)« nicht mit »jene(m) flexible(n), komplizierte(n) spätere(n) Bewußtsein des Wir« verwechselt werden darf, »das bereits das Ich einschließt und erst in höherem Alter auftritt« (a.a.O., 143). Und wenn nun diese als grundlegende Neubildung des Säuglingsalters zu charakterisierende »psychische Gemeinschaft des Säuglings mit seiner Mutter« (bzw. mit der ihn hauptsächlich betreuenden Person) den wesentlichen »Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung des Bewußtseins« bildet (vgl. ebd.), dann allerdings nicht nur in kognitiver, sondern vor allem auch in affektiv-motivationaler Hinsicht. So weist Wygotski unter Berufung auf die Resultate einer experimentellen Untersuchung von S. Fajans (1933) darauf hin, dass der »affektive Drang nach Gegenständen« beim Säugling »davon abhängig« sei, »ob die Möglichkeit besteht, die Situation zusammen mit einem anderen Menschen zu meistern«; mehr noch: dass »selbst das simpelste affektive Begehren beim Säugling erst dann entfacht wird, wenn eine unmittelbare Beziehung zwischen

335 dem Gegenstand und dem anderen Menschen existiert, wenn eine psychische Gemeinschaft vorliegt« (Wygotski a.a.O., 148). Kann nach alledem davon ausgegangen werden, dass die Herausbildung eines »Ur-Wir-Bewußtseins« eine Entwicklungsleistung ist, die jedes Kind erbringen muss, wenn seine Integration in den Kulturprozess gelingen soll, so darf allerdings nicht übersehen werden, dass es sowohl hinsichtlich der Genese dieser elementaren Bewusstseinsform selbst als auch hinsichtlich der Möglichkeiten, in der weiteren Entwicklung über sie hinauszugelangen und differenziertere Formen des Bewusstseins auszubilden, wesentliche Unterschiede zwischen einem taubblinden Kind einerseits und einem sehend-hörenden Kind andererseits gibt. Tatsächlich bildet ja der sehend-hörende Säugling die »psychische Gemeinschaft« mit der ihn betreuenden Person nicht ausschließlich auf der Grundlage eines direkten Körperkontaktes mit ihr aus, wie das bei einem taubblinden Kind der Fall ist, vielmehr erfüllen bei ihm schon recht früh Augen und Ohren die Funktion von Kommunikationsorganen, die eine Realisierung der Gemeinschaft mit einem anderen Menschen auch 'auf Distanz' ermöglichen. Dabei zeigt sich dann im Übrigen einmal mehr, dass - entsprechend dem Diktum Feuerbachs (vgl. oben, S. 292) - der andere Mensch »der erste Gegenstand des Menschen« ist. So reagiert ja etwa das sehend-hörende Kind bereits zwischen dem ersten und zweiten Lebensmonat mit einem Lächeln auf die menschliche Stimme, und im Alter von zwei bis drei Monaten erwidert es den Blick eines Erwachsenen mit einem Lächeln, während ebendiese »soziale Reaktion« (Wygotski a.a.O., 135)72 bei Reizeinwirkungen anderer Art ausbleibt (vgl. a.a.O., 149). Aber nicht nur, dass das »Ur-Wir-Bewußtsein« beim taubblinden Kind eine bedeutend schmalere sinnliche Grundlage hat als beim sehend-hörenden Kind, es ist auch in iunktionaler Hinsicht wesentlich 'enger'. Während der ältere sehendhörende Säugling, der schon aufrecht sitzen und im Zimmer umherkriechen kann (etwa ab Beginn des zweiten Lebenshalbjahres), bereits in der Lage ist, sich in gewisser Weise »selbständig«, d.h. unabhängig vom Körperkcutakt mit der ihn betreuenden Person, mit den ihn umgebenden Dingen zu beschäftigen und sich dabei, vermittelt über Blick- und Lautkontakt, dennoch immer in »psychischer Gemeinschaft« befindet73, kann sich beim taubblinden Kind auch in einem fortgeschritteneren Stadium der Körperbeherrschung die »innere Motivation« des »Ur-Wir-Bewußtseins« nur unter der Bedingung des direkten Körperkontakts mit der es betreuenden Person auswirken. Zwangsläufig bleiben so für das taubblinde Kind seine Beziehungen zu den Dingen auch viel länger in unmittelbarer Weise mit seinen sozialen Beziehungen verschmolzen als dies beim sehend-hörenden Kind der Fall ist. Insofern sind denn auch die »Handlungen mit Objekten, wie sie das Kind zusammen mit dem Erzieher und unter dessen An-

336 leitung (im buchstäblichen Sinne des Wortes) vollbringt« (Leontjew), für das taubblinde Kind zunächst etwas ganz anderes als sie es für den Erzieher sind. Während dieser sie von vornherein als gegenständliche Handlungen auffasst, die perspektivisch einer bestimmten Idealform angenähert werden müssen, sind sie für das Kind in erster Linie eine weitere, durch die Einführung zusätzlicher Komponenten komplizierter gestaltete, Variante seiner sozialen Beziehungen74. Dabei den gegenständlichen Aspekt der gemeinsamen Aktivität als solchen überhaupt erlebnismäßig zu erfassen, ist dann bereits eine beträchtliche Differenzierungsleistung des Kindes, die umso höher zu bewerten ist, als ja der betreffende Gegenstand außerhalb der direkten sozialen Beziehung für es gar nicht existiert, und die offenbar nur möglich ist, weil es den Erwachsenen, der für es »stets das psychologische Zentrum jeder Situation« bildet, bereits als konstante Größe seines 'Innenlebens' fixiert hat. Wenn daher »das blindtaubstumme Kind erste selbständige Bewegungen bei der Befriedigung seiner Erfordernisse ausführt« (Sirotkin), so haben wir auch darin eine in ihrem Wesen soziale Handlung zu sehen, eine Handlung nämlich, die das Kind gewissermaßen in »Zusammenarbeit« mit dem »anderen Ich im Ich« (sensu Feuerbach) ausführt75. Es wäre also grundverkehrt anzunehmen, dass die betreffende Handlung sich zu diesem Zeitpunkt in motivationaler Hinsicht schon als »rein gegenständliche«, d.h. von ihrem ursprünglichen »sozialen Inhalt« sozusagen 'gereinigte' Handlung selbst trägt. Und zeigt nicht gerade die von Kornejewa so eindrucksvoll geschilderte Schneeschaufel-Episode (vgl. oben, S. 329 f.), wie schnell sogar noch bei jenen sehbehinderten Kindern, die »bereits die Fertigkeiten der Selbstbedienung erlernt« haben, unter bestimmten Bedingungen die »rein gegenständliche« Orientierung einer Tätigkeit in eine soziale Orientierung umschlagen kann? Ein Phänomen, das im Übrigen keineswegs für Kinder mit der hier zur Diskussion stehenden Behinderung spezifisch ist, sondern unter der Rubrik »normales Kleinkindverhalten« verbucht werden muss. Immerhin können wir bei Kleinkindern (d.h. Kindern ab Beginn des dritten Lebensjahres), für welche gewöhnlich »das Soziale und das Gegenständliche einer Situation bereits hinreichend differenziert« sind, allgemein »die interessante Erscheinung beobachten, daß die gegenständliche Situation in eine soziale verwandelt wird, sobald es zu einem Mißerfolg kommt, sobald das Ziel nicht erreichbar ist« (was konkret heißt, dass sich das Kind vom Ziel ab- und hilfesuchend direkt dem Erwachsenen zuwendet) (vgl. Wygotski a.a.O., 146). Wenn nun aller Grund zu der Annahme besteht, dass auch die unter den »Sagorsker« Bedingungen pädagogisch betreuten taubblinden Kinder in ihrer Persönlichkeitsentwicklung eine Phase durchlaufen, die ganz allgemein dem »Kleinkindalter« des sehend-hörenden Kindes entspricht, dann wäre vor allem zu

337 berücksichtigen, dass »die grundlegende Neubildung« dieser Altersstufe »mit der Sprache verbunden« ist. »Durch sie«, so Wygotski, »verkehrt das Kind auf eine neue, andere Art mit der sozialen Umwelt als der Säugling76. Das heißt, es verändert sich sein Verhältnis zu jener sozialen Einheit, deren Teil es selbst ist.« (ASch Bd. 2, 224) Diese Veränderung ist zum einen dadurch charakterisiert, dass sich das Kind psychisch von der es hauptsächlich betreuenden Person »emanzipiert«, d.h. »sich aus der ursprünglichen Gemeinschaft mit ihr (löst)« (vgl. ASch Bd. 2, 142), und zum anderen dadurch, dass es ein situationsgebundenes aktives Interesse an den es umgebenden Gegenständen als solchen entwickelt, ein Interesse, das scheinbar von den Gegenständen selbst gesteuert wird, die für das Kind einen bestimmten (positiven oder negativen) »Aufforderungscharakter«77 annehmen. Dieser von den Gegenständen ausgehenden »Provokation« entspricht eine veränderte Haltung des Kindes in Hinblick auf die (Gegenstände einbeziehenden) gemeinsamen Handlungen mit den es betreuenden Personen. Während es im Säuglingsalter die direkte »Zusammenarbeit« mit ihnen suchte, setzt sich nun immer mehr das Bestreben durch, selbständig zu handeln: »Zum Beispiel nimmt es den Löffel und will selbst essen, protestiert dagegen, gefuttert zu werden.« (a.a.O., 210) Dies bedeutet aber keineswegs, dass es sich nun gewissermaßen in einer 'asozialen' Phase seiner Entwicklung befindet - ganz im Gegenteil: man kann, so Wygotski, »das Kleinkindalter geradezu als das Alter bezeichnen, in dem als zentrale Neubildung die Grundlagen für zwischenmenschliche, für soziale Beziehungen entstehen« (a.a.O., 208). (Dies äußert sich u.a. darin, dass sich das Kind in Problemsituationen eben nicht mehr nur an die Mutter um Hilfe wendet, sondern auch an andere, selbst fremde Personen.) Das heißt, im Kleinkindalter geht nicht die Sozialität des Kindes an sich verloren, vielmehr wird lediglich jene elementare Form überwunden, deren subjektiver Ausdruck das »UrWir-Bewußtsein« als »ursprüngliche psychische Gemeinschaft des Kindes mit seiner Mutter« (bzw. mit der es hauptsächlich betreuenden Person) ist, jene Form der Sozialität also, die nicht mehr den objektiven Möglichkeiten entspricht, die sich inzwischen nicht zuletzt auch durch die Entwicklung bestimmter körperlicher Fähigkeiten des Kindes ergeben haben. Tatsächlich kann sich nämlich beim Kleinkind überhaupt nur deshalb das Bedürfnis herausbilden, sich aus der »ursprünglichen psychischen Gemeinschaft« mit der Mutter zu lösen, weil es ihr bereits im buchstäblichen Sinne davonlaufen kann - oder in den Worten Feuerbachs: »... indem er (der Mensch - P.K.) im eigentlichen Sinne auf seinen eigenen Beinen stehen lernt, wird er auch im uneigentlichen Sinne erst selbständig.« (GW 11, 155)

338 Wenn so die Herausbildung einer höheren, differenzierteren Form der Sozialität (innerhalb derer sich dann das Kind bereits als ein besonderes Einzelwesen erlebt) den Veränderungen der objektiven Möglichkeiten in der Beziehung zwischen dem Kind und der es umgebenden Wirklichkeit entspricht, kann indes nicht davon ausgegangen werden, dass die Auflösung des »Ur-Wir-Bewußtseins« ein Vorgang ist, der sich schlagartig und problemlos vollzieht. Vielmehr gibt es in der Entwicklung des Kindes zwischen dem Säuglingsalter und dem Kleinkindalter eine (gewöhnlich gegen Ende des ersten Lebensjahres einsetzende) Übergangsperiode, die von Wygotski zu den »kritischen Altersstufen« gezählt wird, weil sie durch eine Reihe von gesetzmäßig auftretenden Krisenerscheinungen charakterisiert ist. Was etwa das zentrale Phänomen dieser Altersstufe, das Laufenlernen, betrifft, so befindet sich das Kind in der fraglichen Zeit in einer Phase, »in der man nicht sagen kann, das Kind läuft bereits oder es läuft noch nicht«, ist es doch erst ein »im Entstehen begriffene(s) Laufen, das man in einer höchst dialektischen Formel als Einheit von Sein und Nichtsein bezeichnen kann: es ist da und ist nicht da« (ASch Bd. 2, 163). Demgegenüber lässt sich vom Kleinkind eindeutig sagen, dass es läuft. Wenn es dies »auch zunächst noch schlecht, unbeholfen und mit großer Mühe« tut, so ist nichtsdestoweniger auf dieser Entwicklungsstufe das Laufen für das Kind bereits zur »Hauptform der Bewegung im Raum« geworden (ebd.). Bei der zweiten, die fragliche Altersstufe eindeutig als Übergangsperiode charakterisierenden Erscheinung handelt es sich um die autonome Kindersprache, die als Phänomen in der wissenschaftlichen Literatur erstmals von Ch. Darwin in seiner 1877 erschienenen »Biographischen Skizze eines Säuglings« beschrieben wurde. Funktional gesehen stellt sie einen (wesentlich vom Kind ausgehenden) Versuch dar, jenen für das Säuglingsalter charakteristischen Widerspruch zu überwinden, der »zwischen dem maximalen Sozialbezug des Säuglings (die Situation, in der er sich befindet) und seinen minimalen Kommunikationsmöglichkeiten« (ASch Bd. 2, 109) besteht, wobei sie sich Wygotski zufolge durch einige wesentliche Merkmale von der Erwachsenensprache und der Sprache des älteren Kindes unterscheidet: »Erstens unterscheidet sich die lautliche Zusammensetzung der Wörter des Kindes stark von der Lautstruktur unserer Wörter. Diese Sprache deckt sich motorisch, das heißt vom Standpunkt der Artikulation und Phonetik, nicht mit unserer Sprache. Es handelt sich dabei gewöhnlich um Wörter wie 'pufu' oder 'bobo', um Wörter, die manchmal Bruchstücke unserer Wörter darstellen. (...) Manche dieser Wörter sind unseren Wörtern ähnlich, manche unterscheiden sich stark, manche kann man

339 für entstellte Wörter unserer Sprache halten.« (Wygotski ASch Bd. 2, 175). Der zweite Unterschied zwischen der autonomen Kindersprache und der Sprache des Erwachsenen oder des älteren Kindes - Wygotski bezeichnet ihn als den »wesentlichere(n) und wichtigere(n) Unterschied« - besteht darin, »daß sich die Wörter der autonomen Sprache auch in ihrer Bedeutung von unseren unterscheiden«(a.a.O., 176). »Diese Bedeutung«, so Wygotski, »ist fast immer sehr komplex. Sie gliedert sich nicht in einzelne Eigenschaften, so wie wir das von der Bedeutung der einzelnen Wörter kennen«, vielmehr handelt es sich dabei immer um ein Gesamtbild.« (ebd.) Das heißt, das Kind bezeichnet mit jedem seiner »Wörter« einen »ganzen Komplex von Dingen, die wir keinesfalls mit einem Wort benennen. Diese Wörter stimmen, was ihre Bedeutung anbelangt, nicht mit unseren Wörtern überein, nicht eines davon kann umfassend in unsere Sprache übersetzt werden.« (a.a.O., 177) Wenn sich also die »autonome Kindersprache« von der unseren sowohl phonetisch als auch semantisch unterscheidet, »dann muß sich«, dies das dritte Unterscheidungsmerkmal, »auch die Kommunikation mit Hilfe dieser Sprache stark von der Kommunikation mit unserer Sprache unterscheiden«. Überhaupt ist eine Kommunikation »nur zwischen dem Kind und denjenigen Menschen möglich, welche die Bedeutung seiner Wörter verstehen«. Es handelt sich also »nicht um eine Kommunikation, die im Grunde mit allen Menschen möglich ist, wovon wir bei unseren Wörtern ausgehen«, vielmehr kann es Kommunikation »nur mit den Menschen geben, die in das Geheimnis der Kindersprache eingeweiht sind« (ebd.). Und auch dies ist keineswegs eine hinreichende Bedingung; denn selbst wenn wir in die Bedeutung der kindlichen Wörter eingeweiht sind, »könnten wir das Kind trotzdem nicht außerhalb irgendeiner konkreten Situation verstehen«. (a.a.O., 178) Insgesamt ist daher mit Kindern dieser Altersstufe »Kommunikation nur in der konkreten Situation möglich« und ein Wort »ist für die Kommunikation nur dann brauchbar, wenn sich der entsprechende Gegenstand im Blickfeld befindet«, (ebd.) Zwangsläufig ist dann aber auch die Kommunikation in dieser Sprachform durch permanente Verständigungsschwierigkeiten belastet - ein Mangel, in dem Wygotski den wesentlichen Grund für die gerade in der betreffenden Entwicklungsphase häufig auftretenden »hypobulischen« Reaktionen (eine bestimmte Art von Trotzverhalten) des Kindes sieht (vgl. a.a.O., 179)78. Fazit: Mit Hilfe der autonomen Sprache ist Kommunikation zwar möglich, »aber diese Kommunikation hat andere Formen, trägt einen anderen Charakter als die Kommunikation, zu der das Kind später fähig ist« (ebd.).

340 Betont werden muss bei alledem, »daß die autonome Kindersprache nicht etwas ist, das nur selten vorkommt«, sie bildet keineswegs eine Ausnahme, sondern »(ist) die Regel, das Gesetz, zu beobachten in der sprachlichen Entwicklung jedes Kindes« - ein Gesetz, das sich folgendermaßen formulieren lässt: »Bevor das Kind von der sprachfreien Entwicklungsperiode zur Aneignung der Sprache der Erwachsenen übergeht, kommt es zur Entwicklung einer autonomen Kindersprache.« (a.a.O., 180 f.) Einerseits markiert also »die autonome Kindersprache eine notwendige Periode in der Entwicklung jedes normalen Kindes« - andererseits kann die Ausdehnung dieser Periode über einen langen Zeitabschnitt (der Sohn des Philosophen C. Stumpf ist hier ein berühmtes Beispiel)79 ein pathologisches Symptom sein. Allerdings: Auch in den Fällen, wo die autonome Sprache sich ungewöhnlich lange hält und das Festhalten an ihr eindeutig das Symptom einer »anomalen Entwicklung der Sprache« ist, »erfüllt sie ihre Hauptfunktion«, nämlich die einer »Brücke, auf der das Kind von der sprachlosen Zeit zur Sprache gelangt«. Sie spielt also in der Entwicklung sowohl des normalen als auch des anomalen Kindes eine wesentliche Rolle. (Wygotski a.a.O., 181) Der hohe Stellenwert, den Wygotski der autonomen Kindersprache einräumt, kommt u.a. auch darin zum Ausdruck, dass er sich entschieden von der in der deutschsprachigen Literatur anzutreffenden Tradition abgrenzt, sie als »Ammensprache« abzuqualifizieren, die vermeintlich »von den Erwachsenen künstlich für das Kind geschaffen wird« (vgl. a.a.O., 177 f.). Diese Sprache, betont er, sei keineswegs eine von den Betreuungspersonen übernommene, sondern »eine Sprache des Kindes«, da ja »alle Bedeutungen nicht von der Amme, sondern vom Kinde selbst festgelegt« werden, beispielsweise wenn die Mutter »Glas« sagt, ein vollständiges Wort also, und beim Kind nur »As« oder etwas Ähnliches zustande kommt, (vgl. a.a.O., 181) Andererseits zeigt dieses Beispiel aber auch, dass es ebenso falsch wäre, zu sagen, »die autonome Sprache sei eine Sprache allein des Kindes« - tatsächlich ist sie »das Resultat der Wechselbeziehungen zwischen dem Kind und den Menschen seiner Umgebung« (a.a.O., 183). Und gerade unter dieser Perspektive ist noch ein anderes Moment bedeutsam: »Das Kind verfugt nicht nur über seine eigene Sprache«, sondern es versteht ansatzweise auch die unsrige, »das heißt, es versteht eine ganze Menge Wörter, bevor es sie spricht. Es versteht, wenn wir zu ihm sagen 'steh auf, 'setz dich', 'Brot', 'Milch', 'heiß' usw., und das ist kein Hinderais für die Existenz der zweiten Sprache.« (a.a.O., 182) Mehr noch: »Wenn das Kind längere Zeit in der autonomen Sprache spricht, die Sprache der Erwachsenen jedoch recht gut versteht, erwächst bei ihm das Bedürfnis, sich zusammenhängend mitzuteilen.« Es »versucht dann sogar,

341 mit den Mitteln der autonomen Sprache Wortverbindungen zu bilden«, die aber »kaum an unsere Sätze (erinnern), weil der Sprache der syntaktische Zusammenhang fehlt«. Sie »wirken eher wie einfach aneinandergereihte Wörter beziehungsweise wie Entstellungen unserer Sprache« (a.a.O., 188). Alles in allem stellt so die autonome Kindersprache ein paradoxes Phänomen dar: »Von einem Kind, das über die autonome Sprache verfugt, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es sprechen kann oder nicht, weil es die Sprache in unserem Sinne des Wortes nicht beherrscht, es sich aber auch schon nicht mehr in der sprachlosen Periode befindet, denn es spricht ja immerhin.« (a.a.O., 182 f.) Wenn es auch das Schicksal der autonomen Kindersprache ist, beim Eintritt in das Kleinkindalter (das von Wygotski als eine »stabile Periode« bezeichnet wird, in der das, was das Kind erwirbt, »fürs Leben« erworben wird) zu verschwinden, es sich bei ihr also in der Tat nur um ein Übergangsphänomen handelt, ist sie »dennoch von sehr großer genetischer Bedeutung«; denn: »Ohne die autonome Sprache würde das Kind niemals von der sprachlosen Periode zu jener Entwicklungsstufe aufsteigen, in der es normal sprechen kann.« (a.a.O., 197) Wendet man nun die von Wygotski in Hinblick auf die Übergangsphase zwischen Säuglings- und Kleinkindalter formulierten Erkenntnisse auf das Problem der Entwicklung taubblinder Kinder an, muss man sich zunächst einmal darüber im klaren sein, dass die chronologische Bezeichnung »Krise der Einjährigen«, die für das sehend-hörende und dazu noch geistig normale Kind im allgemeinen durchaus zutreffend ist, in diesem Fall keinen Sinn ergibt. Tatsächlich ist ja für das Einsetzen besagter Krise nicht das kalendarische Alter des Kindes entscheidend, sondern der Umstand, dass es sowohl in anatomisch-physiologischer als auch in psychischer Hinsicht ein bestimmtes Entwicklungsstadium abgeschlossen hat und über eine elementare Form menschlichen Bewusstseins verfugt. Infolgedessen wäre es verfehlt, von einem ein- bis anderthalbjährigen Kind, das offensichtlich noch kein »Ur-Wir-Bewußtsein« ausgebildet hat und nicht in der Lage ist, sich selbständig kriechend fortzubewegen geschweige denn sich von selbst in den Stand aufzurichten, zu erwarten, dass es die von Wygotski unter der Rubrik »Krise der Einjährigen« beschriebenen Symptome zeigt. Insofern ist es auch keineswegs überraschend, dass etwa im von Meschtscheijakow beschriebenen Fall der kleinen Lena G. sich das der autonomen Kindersprache zugrunde liegende Bedürfnis, von sich aus zu entwickelteren Formen der Kommunikation mit seinen Mitmenschen zu kommen, erst im Alter von knapp vier Jahren (und nach zweijähriger intensiver Betreuung im Heim) manifestierte (vgl. Meshcheryakov

342 1979, 206) und dass dann noch ein weiteres Jahr verstrich, bis das Mädchen zu jenem Verhalten überging, das für Kinder im Kleinkindalter »typisch« ist, nämlich die sie umgebenden Menschen gezielt nach dem Namen von Dingen zu fragen (vgl. a.a.O., 208). Leider lassen die von Meschtscheijakow selbst mitgeteilten empirischen Daten nicht mehr als solche schlaglichtartigen Aufhellungen der tatsächlichen Entwicklungszusammenhänge zu, hat insbesondere sein programmatischer Verzicht darauf, »den gesamten Verlauf der Entwicklung eines Kindes zu beschreiben«, zwangsläufig die Konsequenz, dass jeder weitergehende Versuch, Wygotskis Stufenmodell mit Blick auf die »Sagorsker« Kinder systematisch auf seine Anwendbarkeit hin zu überprüfen, sehr schnell in willkürliche Spekulation ausarten muss. Insofern mag man es als eine Ironie der Wissenschaftsgeschichte ansehen, dass es dann gerade die von Meschtscheijakow sehr detailliert mitgeteilten Daten über die Kindheit Helen Kellers sind, die in geradezu »klassischer« Weise ein Anwendungsbeispiel für das auf dem zentralen Begriff der »sozialen Entwicklungssituation« aufbauende Stufenmodell Wygotskis liefern, ja, dass sich bereits aus der einfachen Darstellung der Daten wie von selbst die Vernünftigkeit der von Wygotski vorgeschlagenen Untersuchungsmethode ergibt. Gemäß dieser Methode »muß bei der Analyse a) die kritische Phase, die eine Altersstufe und deren hauptsächliche Neubildung einleitete, bestimmt werden; b) muß sodann die Entstehung und Ausbildung der neuen sozialen Situation verfolgt, müssen ihre inneren Widersprüche aufgedeckt werden; c) muß die Genese der wichtigsten Neubildungen untersucht und d) muß schließlich die Neubildung selbst untersucht werden, die in sich die Bedingungen für den Zerfall der für dieses Alter charakteristischen sozialen Situation trägt« (Elkonin 1987, 42; vgl. hierzu ausführlicher ASch Bd. 2, 72-77). Und tatsächlich scheint Meschtscheijakow genau dies gewissermaßen 'im Hinterkopf zu haben, wenn er die Entwicklung Helen Kellers nach ihrer Genesung von jener Krankheit, die sie im Alter von anderthalb Jahren befiel und zu ihrer Taubblindheit führte, wie folgt beschreibt: »Unmittelbar nach ihrer Krankheit konnte sich Helen überhaupt nicht zurechtfinden und war unfähig zu laufen. Aber die Umgebung, in der Helen sich befand, war extrem günstig für die Entwicklung eines taubblinden Mädchens. (...) Nachdem sie von ihrer Krankheit genesen war und auch wieder zu laufen gelernt hatte, heftete sich das kleine Mädchen an den Rocksaum ihrer Mutter, wenn diese ihrer Hausarbeit nachging (Frau Keller hatte nichts dagegen, da Helen so, obwohl sie ihr ständig in die Quere kam, wenigstens unter ihrer Aufsicht stand und sicher war). Das Kind pflegte nach jedem Gegenstand, den ihre Mutter benutzte, zu tasten und ihn zu befühlen und allen Handbewegungen ihrer Mutter zu folgen.

343 Auf diese Weise machte sich das taubblinde Mädchen mit einer großen Menge von Haushaltsgegenständen vertraut, lernte, soweit sie sie verstand, die Verwendung jedes Gegenstandes und konnte schließlich mit einer großen Zahl solcher Gegenstände richtig umgehen. Helens erste Gesten der Kommunikation entwickelten sich in diesen konkreten, fast möchte man sagen: geschäftsmäßigen Kontakten mit den Menschen um sie herum: Ein Kopfnicken drückte Zustimmung aus, Schütteln des Kopfes von einer Seite zur anderen bedeutete Widerspruch, eine den 'Gesprächspartner' fortschiebende Handbewegung hieß 'Geh weg!', und ihn in die eigene Richtung ziehen bedeutete 'Komm her!'. Das kleine Mädchen wusste, wie Brot geschnitten und wie Zucker im Kaffee umgerührt wurde. Imitationen solcher Handlungen befanden sich ebenfalls unter ihren frühen Gesten. Niemand von den Leuten um sie herum (mit einer Ausnahme, auf die noch einzugehen sein wird) maß diesen ersten Gesten des taubblinden Mädchens irgendwelche Bedeutung bei, niemand erkannte sie als Manifestationen eines Bedürfnisses und einer Sehnsucht nach Kontakt mit anderen menschlichen Wesen. Mehr noch, das Gestikulieren des Kindes erschien der Familie lächerlich, ja sogar unangenehm, nur dazu angetan, der Anomalie eines Kindes Nachdruck zu verleihen, das, anstatt einfache bekannte Wörter zu äußern, versuchte, einige kaum zu verstehende Zeichen zu machen. Die einzige, bereits erwähnte Ausnahme war ein kleines schwarzes Mädchen mit Namen Martha Washington, die Tochter der Köchin der Kellers und nur drei Jahre älter als Helen. In der Kommunikation zwischen Helen und Martha waren Gesten unentbehrlich. Das von den Erwachsenen unbeachtete Leben dieser Kinder war vielfältig und komplex. Es war eine Mischung aus Spiel und Arbeit (das kleine schwarze Mädchen war gezwungen zu arbeiten). Die beiden kleinen Mädchen verbrachten miteinander geschäftige Tage in der Küche, im Hof, in den Pferde- und Kuhställen sowie in den Scheunen. Martha brachte dem taubblinden Mädchen bei, ihr bei ihrer Arbeit zu helfen. Sie scheint beachtliche Geduld gehabt zu haben. (...) Helen Keller beschreibt diesen Abschnitt ihres Lebens in ihrem Buch Die Geschichte meines Lebens. (...) Martha verstand Helen gut, und Helen machte es Spaß, Martha Befehde zu erteilen, die sie gewöhnlich befolgte, weil Helen immer ganz genau wusste, was sie wollte, und, um sich durchzusetzen, auch nicht abgeneigt war, Zähne und Fingernägel zu gebrauchen. (...) Leider gibt es keine detaillierten Aufzeichnungen der Gestensprache, die Helen Keller in jener Periode verwendete, aber aus gewissen Hinweisen geht hervor, dass sie extrem vielseitig war. (...) Allerdings war es fur Helen nicht genug, nur eine Person zu haben, mit der sie reden konnte. Das kleine taubblinde Mädchen versuchte, ihre Gestensprache anderen beizubringen. Sie begann mit der Hündin: 'Ich bemühte mich redlich, sie meine Zeichensprache zu lehren, aber sie war dumm und unaufmerksam.' Martha dagegen war mehr als geduldig, und im Vergleich hierzu war das Kommunizieren mit Erwachsenen weitaus schwieriger: 'Ich hatte bemerkt, dass meine Mutter und meine Freundinnen nicht wie ich Zeichen verwendeten, wenn sie etwas erledigt haben wollten, sondern mit ihren Mündern sprachen. Manchmal stand ich zwischen zwei Personen, die miteinander sprachen und berührte ihre Lippen.

344 Ich konnte nichts verstehen und war irritiert. Ich bewegte meine Lippen und gestikulierte wie wild, ohne Ergebnis. Das machte mich bisweilen so wütend, dass ich mit den Füßen trat und schrie, bis ich erschöpft war.' Erwachsene verstanden das kleine Mädchen nicht, und ihr Bedürfnis, mit anderen Menschen zu kommunizieren wuchs die ganze Zeit. Als 'Anfalle von Tollheit' bezeichnet Helen Keller selbst ihre Proteste gegen den Mangel an Verständnis - Anfalle, bei denen sie mit den Füßen trat, kratzte und biss und die immer häufiger zu werden begannen, bis sie mehrmals am Tag aufzutreten pflegten. Es war zu diesem Zeitpunkt (Helen war inzwischen sechseinhalb Jahre alt - P.K.), als ihre Lehrerin Anne Sullivan eintraf.« (Meshcheryakov 1979, 58 ff.) Wird angesichts dieser Beschreibung eines sich über einen Zeitraum von etwa fünf Jahren erstreckenden Entwicklungsprozesses einerseits unmittelbar die heuristische Fruchtbarkeit von Wygotskis Stufenmodell deutlich, ist andererseits nicht zu übersehen, dass für eine präzise Erfassung der Entwicklung taubblinder Kinder offenbar jene den »Verwerfungen im Bereich der Geologie« analogen Phänomene besonders berücksichtigt werden müssen, die er unter allgemeineren Gesichtspunkten bereits in der »Entwicklungsgeschichte der höheren psychischen Funktionen« angesprochen hatte, wo es heißt, dass es im Falle eines organischen Defekts bei der »Verschmelzung« des Biologischen und des Kulturellen in der Entwicklung des Kindes zu Abweichungen vom gewöhnlichen Entwicklungstypus kommt, wir »infolgedessen nicht eine einheitliche, ununterbrochene, hermetisch geschlossene Reihe vor uns haben, sondern eine Reihe von Vereinigungen verschiedener Art, verschiedenen Charakters und verschiedenen Grades« (vgl. Vuigotskij 1987, 44 f.). So ist ja etwa die Entwicklung Helen Kellers dadurch gekennzeichnet, dass das Laufenkönnen, das beim sehend-hörenden Kind die Voraussetzung dafür bildet, dass es sich psychisch von der Mutter »emanzipiert«, d.h. »sich aus der ursprünglichen Gemeinschaft mit ihr (löst)« (vgl. ASch Bd. 2, 142), bei ihr gerade die notwendige Bedingung fur die Rekonstituierung des »Ur-Wir« war, während die der Betreuung durch Anne Sullivan unmittelbar voraufgehende Entwicklungsperiode sich als eine Phase darstellt, die Merkmale sowohl des »Kleinkindalters« als auch der »Krise der Einjährigen« aufweist. Was dann ihre nachfolgende, d.h. sich bereits unter dem Einfluss ihrer Lehrerin vollziehende Entwicklung betrifft, so bietet sie in ihrer ersten Etappe wiederum das geradezu lehrbuchmäßige Bild der Entwicklungsfortschritte eines Mädchens im »Kleinkindalter«. Tatsächlich zeitigten Ann Sullivans pädagogische Bemühungen nämlich erst Erfolg, als sie sich nicht mehr am kalendarischen Alter Helens orientierte, sondern dazu überging, sie »exakt wie ein zweijähriges Kind« zu behandeln (vgl. Meshcheryakov 1979, 63). Folgerichtig zeigt denn auch ihr Vorgehen bei dem Versuch, das Mädchen in der Daktylsprache mit den Namen der sie umgebenden Gegenstände sowie den Bezeichnungen elementarer Tätigkeits-

345 formen vertraut zu machen, eine weitgehende Ähnlichkeit mit der gewöhnlich bei einem Kleindkind angewandten Methode, ihm in der Lautsprache die Namen von Dingen und Bezeichnungen von Tätigkeiten beizubringen: »Als sie Helen lehrte, verschiedene Dinge zu befühlen und zu handhaben, buchstabierte Fräulein Sullivan immer deren Namen in die Hand ihrer Schülerin oder führte Helens Finger, um die Namen nachzuzeichnen. Das war die Methode, die sie anwandte, während sie Helen mit allen Pflanzen und Tieren in ihrer kleinen Welt bekannt machte, als da sind: Hühner, Kaninchen, Grillen, Eichhörnchen, Frösche, wilde Blumen und Bäume. Für jedes von ihnen musste ein besonderes Zeichen mit den Fingern nachgezeichnet werden, ebenso für laufen, rennen, stehen, trinken, für Blumenblätter, Flügel, Flussboote und so weiter und so fort.« (Meshcheryakov a.a.O.) Auch das von Anne Sullivan beschriebene Phänomen, dass Helen nach einiger Zeit zwar in der Lage war, ganze Sätze in Daktylsprache zu verstehen, selbst aber nur einzelne Wörter von sich gab (vgl. Meshcheryakov a.a.O., 64 f.), ist durchaus typisch für ein Kind im Kleinkindalter, für das nach Wygotski generell gilt, dass es »bedeutend mehr (versteht), als es zu sagen vermag« (ASch Bd. 2, 210)80. Unter allgemeineren Gesichtspunkten noch wichtiger ist allerdings eine andere Erfahrung, die Anne Sullivan mit ihrer kleinen Schülerin machte und die eine Gesetzmäßigkeit betrifft, über die wir bei Wygotski (der dabei das »normale«, d.h. nicht-defektive Kind im Auge hat) Folgendes lesen können: »Man kann davon ausgehen, daß die Besonderheit des Unterrichts beim Kind bis zu drei Jahren darin besteht, daß das Kind dieses Alters nach seinem eigenen Programm lernt. Das wird am Beispiel des Sprechenlernens deutlich. Die Abfolge der Stadien, die das Kind durchläuft, die Dauer jeder einzelnen Etappe werden nicht vom Programm der Mutter bestimmt, sondern hauptsächlich davon, was das Kind selbst aus der Umwelt entnimmt. Natürlich verläuft die Entwicklung der Sprache des Kindes in Abhängigkeit davon, ob die Sprache seiner Umgebung reich oder arm ist, jeweils anders. Das Programm aber, nach dem es die Sprache lernt, bestimmt das Kind selbst.« (ASch Bd. 2, 256) Und als ginge es ihm direkt darum, eben diese Gesetzmäßigkeit am Beispiel Helen Kellers zu illustrieren, schreibt Meschtscheijakow81: »Zuerst reservierte Fräulein Sullivan eine besondere Zeit für das Lernen von Daktyl-Wörtern, nämlich die Stunde von zwölf bis ein Uhr nachmittags. Allerdings bemerkte die Lehrerin bald, dass es Helen leichter fiel, sich Wörter außerhalb der Unterrichtszeit zu merken, in einer mehr natürlichen Situation, während eines Spaziergangs oder beim Spielen. Dann begannen sie, Wörter sowohl während als auch außerhalb der Unterrichtszeit zu lernen. Indes, die Wörter, welche Helen lernte, erschienen

346 als etwas ihrem alltäglichen Leben Äußerliches und Fremdes, nur mit den Unterrichtsstunden in Zusammenhang Stehendes, denn sie verwendete sie nicht, wenn sie mit anderen Leuten kommunizierte, sondern behalf sich weiterhin mit Gesten, die sie selbst erfunden hatte.« (Meshcheryakov a.a.O., 63) Nicht unerwähnt bleiben darf, dass Anne Sullivan ihre Stelle bei der Familie Keller mit der Erwartung angetreten hatte, Helen von Anfang an nach der von S.G. Howe in Hinblick auf seine Arbeit mit Oliver Caswell82 beschriebenen Methode Wörter im Daktyl-Alphabet beibringen zu können. Ihre Reaktion auf die anfanglichen, nur allzu deutlichen Misserfolge war dann, dass sie eine Zeit lang die Wirksamkeit »aller ausgearbeiteten und speziellen Erziehungssysteme« überhaupt in Zweifel zog und dafür plädierte, »die Kinder frei kommen und gehen zu lassen«, (vgl. Meshcheryakov a.a.O., 62 u. 65) Erst durch die sorgfältige Beobachtung von Helens fünfzehn Monate alter Cousine, die noch kein Wort selbst sprach aber auf an sie gerichtete Fragen und Aufforderungen mit adäquaten Zeigegesten und Handlungen reagierte, fand sie den Zugang zu jener Methode, die eine geregelte Unterrichtung Helens erlaubte: »Ich werde genauso in ihre Hand 'sprechen', wie wir einem Baby in die Ohren sprechen. Ich werde davon ausgehen, dass sie die Aufnahme- und Imitationsfähigkeit eines normalen Kindes hat. Ich werde in ganzen Sätzen zu ihr reden und die Bedeutung mit Gesten und den von ihr verwendeten beschreibenden Zeichen auffüllen, wenn es die Notwendigkeit erfordert« (zit. nach Meshcheryakov a.a.O., 64). Eine Vorgehensweise, die, wie Meschtscheijakow schreibt, von »überwältigendem Erfolg« gekrönt war, konnte Anne Sullivan doch bereits nach nur zwei Wochen in ihr Tagebuch notieren: »Das neue System funktioniert großartig. Helen kennt jetzt die Bedeutung von mehr als hundert Wörtern und lernt jeden Tag neue, ohne die leiseste Ahnung, dass sie eine äußerst schwierige Leistung vollbringt. Sie lernt gewissermaßen von selbst, so wie ein Vogel fliegen lernt.« (zit. nach Meshcheryakov a.a.O.)83 Im Fazit bestand also die Lösung des Problems nicht in der Ersetzung der »Diktatur des Lehrers« durch ein »No-education«-Modell, sondern darin, dass eine dem tatsächlichen Entwicklungsstand des Kindes adäquate Form der »Zusammenarbeit« gefunden und das 'offizielle' mit seinem »eigenen Programm« in Übereinstimmung gebracht wurde. Dass dies im Übrigen nicht bloß ein in besonders schwierigen Fällen oder nur bei kleinen Kindern anzuwendendes Prinzip, sondern eine Grundregel jeder Erziehung und jeden Unterrichts sein sollte, ist dann in eindruckvoller Weise von Alexander Suworow auseinanderge-

347 setzt worden, der im Eingangsteil seiner kurzen, »Awakening to Lite« abschließenden Autobiographie schreibt: »Ein Lehrer erfasst gewöhnlich den Unterrichtsprozess von außen, indem er sich fragt: 'Wie sollte der Unterricht fortschreiten?' anstatt: 'Wie fühlt sich das Kind?' Das Kind ist selbstverständlich in seinen eigenen Gefühlen befangen, die aus der speziellen Lernsituation entspringen, in der es sich befindet. Ich bin sicher, dass die Weise, in der ein Kind fühlt, der allerwichtigste Faktor ist, der in letzter Instanz darüber entscheidet, ob die Versuche, ihm Wissen und Verhaltensmaßstäbe zu vermitteln, erfolgreich sind oder nicht. (...) Aus dem vorangegangenen geht klar hervor, dass ich für die Lösung aller Unterrichtsprobleme von innen her bin. Mit anderen Worten, ich würde zuerst und vor allem auf die Kinder selbst sehen ... Unterrichtsprobleme müssen von innerhalb des Unterrichtsprozesses gelöst werden, vom Standpunkt des Objektes, d.h. des Kindes, das auf seinen Schultern die ganze Last der Fehler seitens des Subjekts, d.h. des Lehrers, aber auch die Last der Triumphe des Letzteren zu tragen hat.« (Suvorov 1979, 334 f.)

Anmerkungen zur 4. Studie *) Meinem akademischen Lehrer Klaus Holzkamp aus Anlass seiner Emeritierung gewidmet 1 Zu einer detaillierteren Chronologie sowie zu den Einzelheiten der Förderungs- und Betreuungsarbeit in den verschiedenen Einrichtungen der Bruckberger Heime vgl. die 1992 erschienene Jubiläumsschrift »100 Jahre Bruckberger Heime des Evang.-Luth. Diakoniewerkes Neuendettelsau«. 2 So nimmt ja etwa Kohut offenbar keineswegs daran Anstoß, dass Bruckberg nach dem Weggang Feuerbachs unter die Kuratel gerade jener theologischen Richtung geriet, die er seit seinen frühen »Gedanken über Tod und Unsterblichkeit« aufs schärfste bekämpft hatte. Was ihn stört, ist vielmehr, dass das Philosophen-Domizil von Staats wegen zu einer Besserungsanstalt für jugendliche Rechtsverletzer »degradiert« wurde. 3 Vgl. Grün II, 201 f. (siehe das diesbezügliche längere Zitat am Ende der ersten Studie dieses Bandes). 4 Vgl. hierzu etwa das 6. Kapitel von »Über Spiritualismus und Materialismus« (GW 11, 85-102) sowie Feuerbachs Brief an G. Bäuerle vom 31. 5. 1867 (Grün II, 187 f.). 5 Zu einer Variante dieser Passage vgl. a.a.O., Fußn. 34. 6 Wörtlich heißt es bei Feuerbach, es sei »unmoralisch ..., nur den eignen, nicht auch den Glückseligkeitstrieb der Andern als eine berechtigte Macht theoretisch und praktisch anzuerkennen, nicht das Unglück Anderer wie eine Verletzung des eigenen Glückseligkeitstriebes zu Herzen zu nehmen«. 7 N.B.: Ab 1927 bis zu seinem Tode im Juni 1934 war er der wissenschaftliche Leiter des von ihm mitgegründeten Instituts für experimentelle Defek-

348 tologie in Moskau (vgl. hierzu ausführlicher van der Veer & Valsiner 1991, 45). 8 Vgl. hierzu den von Ch. Samski anlässlich des fünfundsiebzigsten Geburtstages von Wygotski verfassten und 1972 zunächst in der sowjetischen Fachzeitschrift Defektologija und danach auch in der DDR-Zeitschrift Die Sonderschule veröffentlichten Aufsatz »Lew Semjonowitsch Wygotski und die Hilfsschulpädagogik«. 9 Als wesentliche Impulsgeber wären hier insbesondere W. Jantzen, G. Feuser und Ch. Manske (Pseudonym Iris Mann) mit ihren zahlreichen einschlägigen Publikationen zu nennen (vgl. etwa bereits Jantzen 1980, Feuser 1981, Mann 1981). 10 Herausgegeben wurde dieser Sammelband, für den Wygotski insgesamt die redaktionelle Verantwortung trug, von der Abteilung sozialer und rechtlicher Schutz für Unmündige, Hauptverwaltung Sozialerziehung des Volkskommissariats für Volksbildung der RSFSR. Die meiner Darstellung zugrundeliegende, 1975 in der Zeitschrift Die Sonderschule erschienene deutsche Fassung des wygotskischen Beitrages ist gegenüber der Originalversion »geringfügig gekürzt«. Zum vollen Wortlaut vgl. Sobranije sotschineni, Tom 5 (1983), 62-84 sowie Vygotsky 1993a, 76-93. 11 altes russisches Gewicht = 16,38 kg 12 Als negatives Beispiel kolportiert Wygotski den von Stscherbina mitgeteilten »Fall, in dem in einer Blindenanstalt 'der Betreuer einen achtjährigen Jungen mit dem Löffel füttern mußte, einfach weil man es im Elternhaus nicht für möglich gehalten hatte, daß dieser es selbst lernen könne'« (ebd.). 13 Wörtlich spricht Wygotski von »uns«, d.h. von sich selbst und seinen Zeitgenossen. 14 Exemplarisch für diese Attitüde ist folgender Passus seines Aufsatzes: »Darum entbehren die Vorstellungen des Blinden von der Welt keineswegs der 'gegenständlichen Realität'; die Welt eröffnet sich dem Blinden nicht durch einen Nebel oder einen Vorhang. Wir berücksichtigen dabei gar nicht, wie organisch und natürlich Blinde die fast wunderbaren Möglichkeiten des Tastens entwickeln. 'Es schickt sich nicht für mich, zu sagen, ob wir mit dem Auge oder mit der Hand besser sehen', bemerkt die berühmte Taubblinde Helen Keller. 'Das Tastgefühl gibt dem Blinden einige süße Wahrheiten, ohne die unsere glücklicheren Brüder leben müssen, weil bei ihnen dieses Gefühl nicht so vollkommen ausgebildet ist.' Der sogenannte sechste Sinn der Blinden (die Wärmeempfindung) gestattet es ihnen, Gegenstände auf eine Entfernung wahrzunehmen, und der siebente Sinn der Gehörlosen (die Vibrationsempfindung) gestattet es ihnen, Bewegungen, Musik usw. wahrzunehmen. Sie sind natürlich nichts spezifisch Neues für die normale Psyche. Es sind nur die bis zur höchsten Vollendung gebrachten, auch bei normalen Menschen vorhandenen Empfindungen. Wir können uns jedoch nicht vorstellen, welches wesentliche Moment in den Erkenntnisprozessen diese Gefühle sein können. Es versteht sich: Uns scheint die Ankündigung einer Gehörlosen grausig, die ein Stück gehört hat, das auf dem Klavier gespielt wurde: 'O, wie schön! ich habe es mit den Füßen gespürt'. Aber die Tatsache als solche ist sehr wichtig: Für den Gehörlosen existieren

349 die Musik, ein Gewitter, das Brausen des Meeres, wie auch Helen Keller bezeugt. Für die Blinden gibt es Tag und Nacht, eine Entfernung der Gegenstände, diese haben eine Größe, eine Form usw.« (a.a.O., 70) 15 Dass es sich bei den Zitaten um Übersetzungen von mir handelt, wird in der Folge nicht mehr vermerkt. 16 Gemeint ist hier die i.e.S. biologische Entwicklung des Kindes, d.h. der organische Wachstums- und Reifungsprozess (vgl. a.a.O., 40). 17 »Witz, Scharfsinn, Phantasie, Gefühl, als unterschieden von der Empfindung, Vernunft als subjektives Vermögen, alle diese sogenannten Seelenkräfte ... sind Kulturprodukte, Produkte der menschlichen Gesellschaft«, heißt es bereits im »Wesen des Christentums« (GW 5, 166). 18 Als 'klassisches' Beispiel eines »primitiven Kindes« im Sinne Wygotskis wäre dann wohl Kaspar Hauser anzusehen. 19 In Hinblick darauf, dass es auch heute noch in den Einrichtungen für geistig behinderte Kinder und Jugendliche weitgehend üblich ist, unter dem Gesichtspunkt einer falsch verstandenen 'Betreuungs-Ökonomie' möglichst homogene Gruppen zusammenzustellen, verdient der Sachverhalt besonders hervorgehoben zu werden, dass in einem der Bruckberger Heime, dem zwischen 1966 und 1969 erbauten »Sonnenhof«, in dem über 100 Kinder und Jugendliche betreut werden, »alle Heimgruppen altersmäßig und nach dem Schweregrad der Behinderung 'gemischt'« sind und dass in einigen »Jungen und Mädchen gemeinsam« wohnen (vgl. hierzu ausführlicher die 1992 erschienene Jubiläumsschrift, 22 f.). 20 Vgl. hierzu ausführlicher Rawidowicz 1931, 498 f., van der Veer & Valsiner 1991, 373-389 sowie die zweite Studie in diesem Band, Kap. 3.1. 21 Siehe hierzu ausführlicher Vygotsky 1993d. - Sollte der 'tiefere Sinn' der betreffenden Untersuchungen darin bestanden haben, die Frage klären zu helfen, von welcher Altersstufe ab und in welchem Ausmaß geistig Behinderte sinnvoll in den gesellschaftlichen Produktionsprozess integriert werden können, so ist dies aus dem Text selbst jedenfalls nicht ersichtlich. 22 Vgl. hierzu die zweite Studie in diesem Band, Kapp. 3.2. u. 3.3. 23 Zu dessen Wortlaut vgl. den zweiten Anhangstext in Wortis 1950 bzw. Wortis 1953. 24 Dies gilt insbesondere für jene Methoden, die - ursprünglich von anderen Autoren in die Diskussion eingebracht und zwischenzeitlich in den Hintergrund gedrängt - von Wygotski 'wiederentdeckt' und im Zuge des Ausbaus seiner eigenen Konzeptionen erneut thematisiert worden waren, und zwar unter namentlicher Nennung des jeweiligen Originalautors. So hatte er etwa in der bereits mehrfach erwähnten Einleitung zu J.K. Gratschewas Buch geschrieben: »Niemand anderer als Sdguin hat sich vor fast einhundert Jahren gegenüber einem Erzieher zum Problem des schwer zurückgebliebenen Kindes folgendermaßen geäußert: 'Wenn es immer liegt, bring' es zum Sitzen; wenn es sitzt, bring' es dazu, dass es aufsteht; wenn es nicht selbständig isst, halte seine Finger; wenn es nicht hört und sieht, sprich mit ihm und sieh es an. Ernähre es wie einen Mann, der arbeitet, und bringe es dazu,

350 dass es arbeitet, arbeite mit ihm. Seiflir es sein Wille, sein Geist, seine Tätigkeit' (1903, pp. 74-75). Der Pfad der Entwicklung verläuft für das schwer zurückgeliebene Kind durch die Zusammenarbeit, die soziale Hilfe eines anderen menschlichen Wesens, das anfänglich sein Geist, sein Wille, seine Tätigkeit ist. Eine Behauptung, die vollständig mit dem Gang der Entwicklung eines normalen Kindes übereinstimmt. Der Pfad der Entwicklung eines schwer zurückgebliebenen Kindes verläuft durch die Beziehungen und die Zusammenarbeit mit anderen Menschen. Aus genau diesem Grund enthüllt uns die soziale Erziehung von schwer zurückgebliebenen Kindern Möglichkeiten, die vom Standpunkt einer rein biologisch fundierten physiologischen Erziehung völlig utopisch erscheinen ...« (Vygotsky 1993c, 218 - Übers. P.K.; das Zitat im Zitat stammt aus dem ursprünglich bereits 1843 erschienenen und dann Anfang dieses Jahrhunderts auch ins Russische übersetzte Buch E. Seguins »Traitement moral, hygifene et education des idiots et des autres enfants arrieres«.) 25 Zu den Möglichkeiten eines direkten Einflusses von Wygotski auf Sokoljanski vgl. Bakhurst & Padden 1991, 207. 26 Vgl. hierzu ausführt. Meschtscheijakow 1965, 206. 27 Vgl. Bakhurst & Padden a.a.O., 206. 28 Einige Monate nach dem Tode Meschtscheijakows (er war im Oktober 1974 im Alter von einundfünzig Jahren gestorben) hielt der Wissenschaftliche Rat der Psychologischen Fakultät der Moskauer Universität unter Vorsitz des Dekans dieser Fakultät, A.N. Leontjew, eine Sitzung ab, auf der eine Zwischenbilanz des »einzig dastehenden Experiments« gezogen wurde. Zu den Teilnehmern dieser Sitzung gehörten u.a. drei weitere international bekannte sowjetische Psychologinnen und Psychologen (B. Seigarnik, A. Lurija, W. Dawydow), eine Reihe namhafter Philosophen (E. Iljenkow, B. Kedrow, M. Lifschiz, L. Naumenko) sowie die Direktorin des Instituts für Defektologie der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften T. Wlassowa und Meschtscheijakows Nachfolger A. Aprauschew. Auch die vier taubblinden Psychologie-Studenten selbst nahmen an der Sitzung teil und kamen in eigenen, längeren Redebeiträgen zu Wort (sie beherrschten bereits zu diesem Zeitpunkt die Lautsprache so gut, dass sie sich für jeden verständlich in mündlicher Form mitteilen konnten). Ein von G. Gurgenidse und E. Iljenkow zusammengestellter Bericht über diese Sitzung wurde zunächst in Heft 6 des Jahrgangs 1975 der Zeitschrift Woprossy ftlosofii unter dem Titel »Ein hervorragender Erfolg der sowjetischen Wissenschaft« veröffentlicht und erschien im darauffolgenden Jahr dann auch in deutscher Sprache in der von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR herausgegebenen Zeitschrift Gesellschaftswissenschaften (Nr. 2, 1976), nun mit der Überschrift »Ein beispielloses Experiment sowjetischer Psychologen«. 29 Vgl. die entsprechende Charakterisierung seiner Intentionen bei Samski 1972, 197. 30 Zur Erinnerung: Sirotkin war einer der vier taubblinden Psychologiestudenten, die zum Zeitpunkt der Evaluierung des »Sagorsker Experiments« kurz vor ihrem Studienabschluss standen und die in der Sitzung des Wissenschaftlichen Rats ebenfalls zu Wort kamen.

351 31 Vgl. hierzu Meshcheryakov 1979, 79 f. 32 Dass es sich bei den Zitaten aus dem Buch »Awakening to Life« um Übersetzungen von mir handelt, wird in der Folge nicht mehr vermerkt. 33 »Die Aneignung der gesellschaftlichen Bedeutung von Gegenständen begann damit, daß man dem Mädchen beibrachte, die Nahrung vom Löffel zu schlürfen. Zunächst wurde der Löffel im Mund umgekippt, sobald aber die geringste Regung des Mädchens, die Nahrung mit der Oberlippe zu ergreifen, bemerkt wurde, kippte man den Löffel nicht mehr um, sondern bot dem Kind die Möglichkeit, sich aktiv an der Beförderung der Speise in den Mund zu beteiligen. Später wurde der Löffel nicht mehr in den Mund geführt, er berührte nur noch die Lippen, und das Kind mußte selbst den Mund öffnen und die Speise aufnehmen. Je aktiver das Kind wurde, desto geringer war die Aktivität des Erwachsenen - die Handlung wurde allmählich dem Kind übergeben. Gleichzeitig wurde sein Händchen auf die Hand des Erwachsenen gelegt, um ihm eine Orientierung bei der Bewegung des Löffels zu ermöglichen; weiterhin gab man ihm den Löffel in die Hand und brachte ihm das selbständige Essen bei.« (Kornejewa a.a.O.; vgl. auch Meshcheryakov a.a.O., 97 f., 101 f.) 34 Im »Die Rolle der Arbeitserziehung bei der Entwicklung des Geistes« betitelten IV. Kapitel des zweiten Teils lesen wir: »Juri L. und Sergej S. bauten das Modell einer großen Rakete (ungefähr 1,80 m hoch) komplett mit Luken und Sitzen im Innern für die Kosmonauten etc.« (Meshcheryakov, a.a.O., 183) - »Wasja U., Alexander S. und Boris G. arbeiteten sechs Monate lang an einer Reliefkarte der Sowjetunion. Sergej S. und Juri L. bauten Sauiowas Lernmaschine und führten gewisse Verbesserungen in das Design ein.« (ebd.) - »Natascha K. lernte während dieser Zeit, ein Sommer-Schürzenkleid und die dazu passende Bluse zuzuschneiden und zu nähen. Diese beiden Sachen und einen Badeanzug stellte sie in 58 Stunden Unterrichtszeit her.« (a.a.O., 185) 35 In diesem Zusammenhang wäre etwa auf den auffalligen Kontrast zwischen den autobiographischen Notizen Sirotkins und seinem in Meschtscheijakows Buch mitgeteilten offiziellen »klinischen Bild« hinzuweisen. (Vgl. in eben diesem Sinne auch Korneyeva 1979, Lerner 1979 u. Suvorov 1979.) 36 Meschtscheijakow selbst hatte im ersten, Fragen der Methode behandelnden Kapitel der »Taubblinden Kinder« geschrieben: »Beim Niederschreiben dieses Buches«, das »eine Zusammenfassung der im Verlauf der Unterrichtung (teaching) von fünfzig Schülern des Sagorsker Heims für taubblinde Kinder sowie einer am Forschungsinstitut für körperliche und geistige Behinderungen ausgebildeten Experimentalgruppe gewonnenen Ergebnisse« darstellt, »wurde deutlich, dass wenig damit gewonnen würde, den gesamten Verlauf der Entwicklung eines Kindes zu beschreiben; denn einige Kinder erwarben am deutlichsten und klarsten die eine neue geistige Fähigkeit und andere wiederum eine andere. Daher haben wir bei der Beschreibung der einen oder anderen Entwicklungsstufe als Beispiel immer dasjenige Kind genommen, bei dem die in Frage stehende Tätigkeit am vollsten entwickelt war und in dessen Verhalten die der Tätigkeit zugrunde liegenden Muster sich von allen am klarsten offenbarten.« (a.a.O., 25)

352 37 Olga Skorochodowa schreibt in ihrem Begleitwort zu »Awakening to Life«: »Ich wurde 1914 in dem kleinen ukrainischen Dorf Bjeloserko geboren. Meine Eltern waren arme Bauern. In früher Kindheit erkrankte ich an Meningitis und verlor vollständig mein Sehvermögen, später auch mein Gehör. Der Verlust des Sehvermögens und des Gehörs in der frühen Kindheit isoliert ein Kind von denen, die es umgeben. Gewöhnlich führt diese erzwungene Isolation zu geistiger Degeneration. Dies geschah glücklicherweise nicht in meinem Fall: Ich wurde in eine spezielle Schul-Klinik für taubblinde Kinder gebracht, die 1923 von Professor Iwan Sokoljanski in der ukrainischen Stadt Charkow eingerichtet worden war. Meine Sprachfähigkeit wurde wiederhergestellt. Ich bekam regulären Unterricht in allen Fächern des gewöhnlichen Schullehrplans, sobald ich im daktylischen (d.h. dem Finger-) Alphabet unterwiesen worden war und die Braille-Schrift beherrschte. Ich beendete die Schule, bekam eine höhere Bildung und begann mich dann in der Forschung zu engagieren.« (Skorokhodova 1979, 13) 38 Vgl. Meshcheryakov 1979, 66-70. 39 Der von Meschtscheijakow den »Krankengeschichten« von Natascha, Juri, Alexander und Sergej vorangestellte detaillierte Überblick über die Fähigkeiten und Fertigkeiten, welche die vier zum Zeitpunkt ihrer Immatrikulation an der Universität besaßen, ist frei von jeder Effekthascherei, vergleichbar einer nüchternen Aufzählung der Gebrauchswerteigenschaften eines Handwerksprodukts durch den für die Herstellung dieses Produkts verantwortlichen Meister: »Sie alle haben ein gutes Sprachverständnis, auf das sie sich bei ihrer Kommunikation mit Erwachsenen und untereinander stützen. Die Kommunikation wird über Fingersprache seitens des 'Sprechers' auf die Innenhand des 'Zuhörers' realisiert. Außerdem machen sie reichlich Gebrauch von technischen Geräten, die es dem 'Zuhörer' ermöglichen, Buchstaben und Zeichen in erhabener Schrift zu erfassen. Die Schüler können auch die mündliche Sprache gebrauchen, die bei ihnen genügend artikuliert ist, um verstanden zu werden. Diese Schüler können Braille-Ausgaben von belletristischer und anderer Literatur lesen. Unterstützt durch technische Hilfsmittel können ihnen Bücher, Magazine und Zeitungen vorgelesen werden, die nicht in Braille-Schrift gedruckt sind. Außer auf Braille-Schreibmaschinen können diese Schüler mit aller Geschicklichkeit auch auf gewöhnlichen Schreibmaschinen schreiben. Diese Schüler finden sich selbständig innerhalb des Heimes und in dessen Garten zurecht. Sie sind in der Lage, sich um ihre eigenen täglichen Bedürfnisse zu kümmern, führen verschiedene Aktivitäten mit jüngeren Schülern durch, unterweisen sie im Modellieren, in Arbeitsgewohnheiten und in Fertigkeiten der Selbstpflege (self-care). Sie haben alle Arten von produktiver Arbeit gemeistert, in denen Schüler im Heim ausgebildet werden können: Tischlern, Nähen und die Herstellung von Sicherheitsnadeln. Sie organisieren gesellschaftliche Aktivitäten für Mitglieder der Pionier- und Komsomolorganisation, stellen die Heim-Zeitung her (in Braille-Schrift), organisieren Partys und veranstalten Diskussionen. (...) 1971 wurden sie an der Moskauer Staatlichen Universität eingeschrieben, nachdem sie die Eingangsexamen bestanden hatten.« (a.a.O., 266 f.)

353 40 Tatsächlich reichte seine Bekanntschaft mit Meschtscheijakow bis in die gemeinsame Studienzeit an der Moskauer Universität zurück (vgl. Bakhurst & Padden a.a.O., 206). 41 Wie grundsätzlich anders war doch Wygotskis Haltung in solchen Fragen gewesen: Nicht als ein dieser oder jener Ideologie oder diesem oder jenem Wissenschaftler anzurechnendes Verdienst, sondern als eine »sozial unausweichliche Aufgabe« hatte er es angesehen, ein bestimmtes (umfassendes) System der Bildung und Erziehung für die Blinden und Gehörlosen zu schaffen und dabei gleichzeitig für die Entwicklung einer grundlegend neuen Einstellung zu ihnen zu sorgen - eine Aufgabe, die sich seiner Überzeugung nach einerseits aus der »wissenschaftlichen Auffassung vom Gegenstand« herleitete und andererseits den »Forderungen der revolutionären Wirklichkeit« entsprach. Und er hatte auch keinen Zweifel daran gelassen, dass für ihn die Perspektive der Erfüllung dieser Aufgabe direkt mit den Perspektiven der »veränderten Gesellschaftsordnung« verknüpft war, die Fortschritte in der Lösung der Behindertenproblematik somit zugleich als Gradmesser des Entwicklungsfortschrittes der sozialistischen Gesellschaft angesehen werden konnten (vgl. Wygotski 1975, 71 f.). Dies veranlasste ihn aber keineswegs dazu, jene ersten bemerkenswerten Erfolge, die bereits unter den Bedingungen der »alten« Gesellschaft erzielt worden waren, zu diskreditieren. Vielmehr dienten ihm nicht zuletzt gerade die Selbstzeugnisse der »berühmte(n) Taubblinden Helen Keller« (vgl. a.a.O., 70) als wertvolle Argumente bei der Explikation seiner eigenen Auffassungen, wobei er es nicht einmal für erwähnenswert erachtete, dass bereits vorher der »Klerikalismus« das »Phänomen Keller triumphierend zu seinem Aktivposten gerechnet« (vgl. Leontjew a.a.O., 210) hatte. Vermutlich hätte er daher auch zur Charakterisierung der unter der Leitung Sokoljanskis und Meschtscherjakows erzielten Rehabilitationserfolge nicht nur andere Worte gewählt, sondern auch grundsätzlich andere Bewertungskriterien zugrunde gelegt als sein ehemaliger Mitarbeiter Leontjew. 42 Symptomatisch für diese Euphorie war es, dass der ursprüngliche Titel des Sitzungsberichts für die Publikation in der von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR herausgegebenen Zeitschrift Gesellschaftswissenschaften in »Ein beispielloses Experiment sowjetischer Psychologen« umgewandelt wurde. 43 Leontjew war, knapp sechsundsiebzigjährig, nach längerer Krankheit zu Beginn des Jahres 1979 gestorben, und Iljenkow, der Zeit seines Lebens in der sowjetischen Philosophie eher ein Außenseiterdasein geführt hatte und mehrfach repressiven politischen Maßnahmen ausgesetzt war, schied, fünfundfünzigjährig, im März desselben Jahres aus dem Leben (zu einer detaillierteren Aufschlüsselung der biographischen Daten Iljenkows vgl. Friedrich 1993, 54 f.). 44 Unabhängig davon, wie man am Ende die moralische Haltung der einzelnen an der Evaluierung des »Sagorsker Experiments« beteiligten Wissenschaftler und Politiker beurteilen mag (vgl. etwa den von Bakhurst & Padden a.a.O., 211 ff. unternommenen Versuch zur Ehrenrettung Iljenkows) - deutlich wird auf jeden Fall, dass die ethische Dimension der Behindertenproblema-

354 tik sich keineswegs in der Frage nach der Gestaltung der konkreten Lebensbedingungen für die Behinderten sowie der Frage nach der Gestaltung des Verhältnisses zwischen Behinderten und »Normalen« erschöpft, sondern viel umfassender ist. 45 Vgl. MEW EB I, 539 f. sowie Leontjew 1969, 17 bzw. (als Paralleltext) Leontjew 1973c, 282. 46 Vgl. MEW 3, 68 sowie Leontjew 1969, 17, Fußn. 9 bzw. Leontjew 1973c, 283. 47 Vgl. Leontjew 1969, 15 bzw. Leontjew 1973c, 281. 48 Leontjew 1969, 16 bzw. Leontjew 1973c, 281. 49 Vgl. Leontjew 1969, 17. Die Einfügungen wurden entsprechend dem Wortlaut des Paralleltextes (Leontjew 1973c, 282) vorgenommen, der in dieser Hinsicht näher an der englischen Version ist. 50 Vgl. Leontjew 1969, 17 sowie 1973c, 283 (beide deutsche Versionen weisen Differenzen gegenüber der englischen Version auf). 51 Die Frage, ob es sich bei der Berufung auf Marx um eine Selbsttäuschung Leontjews oder um einen bewussten Etikettenschwindel handelt, wird wohl nie mit letzter Sicherheit zu beantworten sein. Hier mag die Erinnerung an den in der 3. Studie dieses Bandes detailliert geführten Nachweis genügen, dass sich sämtliche von Leontjew im Zusammenhang seines »Vergegenständlichungs-Aneignungs«-Konzepts thematisierten Gedanken bereits bei Fr. Jodl (vgl. Jodl 1896, 161-166), G. Simmel (vgl. Simmel 1907, 506511) und H. Freyer (vgl. Freyer 1923, 49-78) finden, d.h. ihren wirklichen Ursprung in der außer-, teilweise sogar dezidiert ö/itfmarxistischen Tradition haben. 52 Vgl. insbesondere Meschtscheijakow 1965. 53 Ein deutlicher Seitenhieb auf Anne Sullivans zwar 'im Prinzip richtige', aber 'in der Durchführung inkonsequente' Arbeit mit Helen Keller, in deren Verlauf diese nach eigenen Aussagen auch »eine Unmenge von Wörtern und Sätzen auswendig lernte, für deren Bedeutung sie nicht den geringsten Anhaltspunkt hatte«, (vgl. hierzu ausführlicher Meshcheryakov 1979, 66 ff.) 54 »Diese gesellschaftlich entwickelte Methode des Gebrauchs eines Dinges, die unvermeidlich seine objektiven Eigenschaften widerspiegelt, konstituiert auch die gesellschaftliche Bedeutung eines jeden Dinges.« (a.a.O., 86) 55 Vgl. zur Verwendung dieses Ausdrucks a.a.O., 88. 56 Tatsächlich spricht ja Meschtscheijakow nur davon, dass das Kind in der gemeinsamen zwischen ihm und einem Erwachsenen aufgeteilten Handlung »notwendigerweise ein Abbild des Gegenstandes, der in die Handlung einbezogen ist, und ebenso ein Abbild der Handlung selbst« formiert (zusätzl. Hervorhn. P.K.). Dass es dabei auch, und zwar ebenso notwendigerweise, ein Abbild seines Hsndhxngspartners formiert, scheint ihm nicht einmal ansatzweise in den Sinn zu kommen, ebenso wenig wie der Gedanke, dass es dem Kind überhaupt nur unter der Voraussetzung eines bereits formierten Abbildes seines Handlungspartners möglich ist, dessen »Part« der gemeinsamen Handlung zu »übernehmen«.

355 57 Wie leicht einzusehen, ist der von Meschtscheijakow gebrauchte und auch später im Zusammenhang der Evaluierung des »Sagorsker Experiments« mit Blick auf die Intersubjektivität der Normen gegenständlichen Handelns wiederholt verwendete Ausdruck »Logik« irreführend. Korrekterweise müsste nämlich, da offensichtlich nicht das formale Verhältnis verschiedener (dabei jedoch denselben Gegenstand betreffende) Aussagen zueinander zur Debatte steht, sondern es eindeutig um die (an den Regeln der »technisch-praktischen Vernunft« im Sinne Kants orientierte) Bewertung der Alternativen des praktischen Umgangs mit ein und demselben Gegenstand geht, von »Pragmatik« die Rede sein, und zwar in dem Sinne, in dem die griechischen Termini »pragmatike« und »techne« synonym sind, d.h. »die Kunst, richtig zu handeln« bedeuten. Allerdings hat dieses Quidproquo zum fraglichen Zeitpunkt innerhalb der sowjetischen Psychologie bereits eine gewisse Tradition, kann man doch schon in Leontjews großem Essay von 1959 über den historischen Aspekt bei der Untersuchung der menschlichen Psyche lesen: »Auf ähnliche Weise« (wie es etwa den sachgemäßen Gebrauch einer Tasse lernt) »eignet sich das Kind auch solche speziell menschlichen Handlungen wie z.B. den Gebrauch des Löffels, der Schaufel u.a.m. an. Zuerst wird der Gegenstand, den das Kind in die Hand nimmt, in das System der natürlichen Bewegungen einbezogen: Den vollen Löffel führt das Kind so zum Munde, als ob es mit einem beliebigen natürlichen Gegenstand, der kein Werkzeug ist, hantiere, d.h., ohne ihn z.B. in horizontaler Lage zu halten. Infolgedessen werden, abermals unter dem Einfluß eines direkten Eingriffs des Erwachsenen, die Handbewegungen des Kindes mit dem Löffel radikal umgestaltet: Sie werden zu Bewegungen, die der objektiven Logik des Löffelgebrauchs untergeordnet sind.« (zit. nach Leontjew 1969, 25 - Hervorhn. P.K.; vgl. auch Leontjew 1973c, 292) Dabei ist mit der Qualifizierung der sich auf »Gegenstände, die vom Menschen für Menschen geschaffen wurden« beziehenden Handlungsnormen als »objektiv« offenbar die Absicht verbunden, diese Normen als sozusagen 'direkt vom Gegenstand ausgehende Vorschriften' zu hypostasieren (vgl. insbes. Meshcheryakov 1979, 300), d.h. den grundlegenden Sachverhalt zu verschleiern, dass die betreffenden Dinge nur deshalb überhaupt »Gegenstände« sein können, weil das jeweilige Subjekt, dem sie Gegenstand sein sollen, eben nicht bloß über so oder so beschaffene Sinnesorgane, sondern auch (und vor allem) über in bestimmter Weise gestaltete und in bestimmter Weise funktionierende Greif- und Fortbewegungsorgsne verfügt. Tatsächlich ist aber die »objektive Logik« des Umgangs mit den meisten der »vom Menschen für den Menschen geschaffenen Gegenstände« eine 'Logik' der Anatomie und Physiologie unversehrter menschlicher Greif- und Fortbewegungsorgane und damit etwas durchaus Relatives. Daher entpuppt sich denn auch die in der Nachfolge Leontjews ungezählte Male wiederholte Gleichsetzung des »menschlichen Verhältnisses zur Umwelt« mit der »Unterordnung unter die objektive Logik des Umgangs mit den vom Menschen für den Menschen geschaffenen Gegenständen« beim näherer Überprüfung als der ideologische Reflex eines zirkulären Mechanismus, innerhalb dessen eine bestimmte

356 psychophysiologische Organisation - nämlich die psychophysiologische Organisation des »normalen«, d.h. nicht-defektiven Menschen - bestimmte »menschliche Objekte« sollizitiert und umgekehrt. 58 Diese Programmatik kommt wohl nirgendwo so deutlich zum Ausdruck wie in der »Schlussanwendung« des Meschtscheijakowschen Buches, die mit den Worten beginnt: »Wenn ein Kind auf die Welt kommt, findet es sich selbst in einer vermenschlichten Umwelt. Der es umgebende Raum ist mit vom Menschen hergestellten Gegenständen angefüllt: das Haus, in dem das Kind geboren wird und lebt, das Bettchen, in welchem es zuerst die meiste Zeit des Tages verbringt, die Kleidung und die zahlreichen für seine Pflege erforderlichen Gegenstände, Haushalts- und Arbeitsgeräte, die mit vom Menschen vor langem erdachten Funktionen und Handlungsweisen verknüpft sind.« (Meshcheryakov 1979, 291) Sofern in dieser »vermenschlichten« (d.h. irgendwann in der Vergangenheit durch »den« Menschen geschaffenen) Welt von Dingen und den sich auf diese Dinge beziehenden Handlungsnormen auch lebendige ßfit-)Menschen vorkommen, so ausschließlich in der Funktion, »für das Kind das Ganze seiner vermenschlichten Umwelt zu aktualisieren« (vgl. ebd.). 59 Äußerungen in diesem Sinne finden sich bereits in einem Vortrag Leontjews über die Prinzipien der psychischen Entwicklung des Kindes und das Problem des geistigen Zurückbleibens, den er für ein 1959 in Mailand von der WHO veranstaltetes internationales Seminar ausgearbeitet hatte. Ausgangspunkt ist dabei wieder das Löffel-Beispiel, und die Frage, die es zu beantworten gilt, ist, ob sich »die Fertigkeit, den Löffel zu gebrauchen, nicht vielleicht auch außerhalb des Umgangs und ohne die gemeinsame Handlung mit dem Erwachsenen erwerben« ließe - eine Frage, die sich angesichts der kurz zuvor getroffenen Feststellung, »die gesellschaftlich erarbeitete Art und Weise des Gebrauchs« eines Löffels sei »in der Eigenart seiner Form verkörpert« zwangsläufig aufdrängt, da diese Feststellung ja den Gedanken nahelegt, die »objektive Logik des Umgangs mit diesem Gerät« müsse sich im Verhalten des Kindes auch gewissermaßen 'im Selbstlauf durchsetzen können). »Theoretisch«, so Leontjew, »läßt sich das natürlich annehmen. Man kann das Kind sogar praktisch in Bedingungen versetzen, unter denen dieser Weg der einzig mögliche ist. Das ist jedoch eine völlig abstrakte Annahme, eine Robinsonade. In Wirklichkeit kann ein Kind ohne praktischen und sprachlichen Umgang mit den Erwachsenen weder leben noch sich entwickeln. Nehmen wir trotzdem an, ein Kind sei gezwungen, irgendeine Fertigkeit selbständig zu erwerben, weil sich die Methoden, mit denen ihm die Erwachsenen helfen wollen, als unzulänglich erweisen. Es kann dabei durchaus einen Erfolg erzielen. Wieviel Zeit braucht es jedoch dazu und wie unterlegen ist es in dieser Fertigkeit einem glücklicheren Altersgefahrten, dessen Hand man richtig gesteuert hat?« (zit. nach Leontjew 1973d, 453) 60 Wenn Meschtscheijakow mit unverhohlener Bewunderung über Anne Sullivan schreibt, sie habe »ihr gesamtes Leben der Arbeit mit Helen Keller geweiht« (Meshcheryakov 1979, 67), so feiert er damit einen 'Altruismus', der nicht nur im Sinne der feuerbachschen Moralauffassung höchst fragwürdig ist (vgl. insbes. Feuerbach 1994), sondern auch die realen Möglich-

357 keiten »normaler« Sonderpädagogik aufs gröbste verkennt. Tatsächlich gilt hierfür ja (ganz im Sinne der Forderung Wygotskis, die Bildung und Erziehung der Behinderten »auf die gesunde Basis einer realen und sozialen Pädagogik zu stellen«) im wesentlichen dasselbe, was der bekannte sowjetische Pädagoge A.S. Makarenko (der im Übrigen mit seiner generellen Betonung der »technischen« Seite der Pädagogik den Auffassungen von Meschtscherjakow-Sirotkin sehr nahe kommt) in den Vorarbeiten zu seinem berühmten (erstmals 1933-35 veröffentlichten) »Pädagogischen Poem« über »den« Erzieher im allgemeinen ausführt: »Wir haben einen Erzieher, der über normale menschliche Eigenschaften verfugt. (Auch ich verkünde: Der Erzieher ist auch ein Mensch.) Nehmen wir an, daß er durchschnittliche Fähigkeiten besitzt, sich aber für Wissenschaft, Literatur und die politische Arbeit interessiert. Im übrigen ist er nicht abgeneigt, Fußball oder Schach zu spielen, das Theater zu besuchen, Eis zu essen und, falls es sich um einen Mann handelt, mit Freunden eine Flasche Bier zu trinken. Kommt er als Erzieher in ein Kinderheim will er ehrlich arbeiten, aber ein höheres Gehalt und unbedingt zwei Monate Urlaub erhalten. Außerdem wird er oder sie sich bestimmt in jemanden verlieben. Man möchte den Abend zu zweit im Park oder zur Winterszeit im warmen Zimmer verbringen. Dann heiratet man, richtet sich in jedem Fall mit seiner Frau oder seinem Mann ein, schafft sich Kommode, Bücherbrett und Büffet an und schließlich ein eigenes Kind, das einem unbedingt um einiges besser zu sein scheint, wenn man es mit allen übrigen Kindern auf dem Erdball vergleicht. Mit einiger Wahrscheinlichkeit kann man annehmen, daß es nicht nur ein so gutes Kind geben wird, sondern zwei oder drei, und jedes von ihnen wird nach einer festgesetzten Norm Wäsche, Kapuzen und Schuhe brauchen. Das alles wechselt mit Fakten der Arbeit, die teils Befriedigung, teils Enttäuschung bringt, gleichzeitig aber auch mit dienstlichen Unannehmlichkeiten, Antipathien innerhalb des Kollektivs und kameradschaftlichen Abendessen, man läßt sich den Blinddarm behandeln, Zähne plombieren und wird schließlich auf eine bessere Stelle versetzt. Unter den vielen derartigen Mitarbeitern gibt es sowohl schöpferische Menschen und wirkliche Enthusiasten, Menschen mit gutem Herzen, die sich mit Aufbietung all ihrer Kräfte für die fremden Kinder aufopfern, als auch wenig befähigte und inaktive Personen und sogar ausgesprochene Faulpelze. Wir werden niemand glauben machen, daß es bei der Organisierung der Erziehung angebracht sei, seine Hoffnung auf Enthusiasten, Helden oder gute Herzen zu setzen.« (zit. nach Makarenko Werke Bd. I, 707 f.) 61 »Wenn wir wirklich lernen wollen und nicht nur so tun, als ob wir lernen, müssen wir das getrennt von den gewöhnlichen Studenten tun. Unsere Schwierigkeiten sind rein technischer Art. Die individuelle Studienmethode kann als bloße Anpassung der üblichen Methode an unsere Technik aufgefaßt werden. Praktisch sieht diese Anpassung an die Technik so aus: Wir werden nicht zu Vorlesungen, Seminaren, Praktika usw. an der Fakultät eingeladen, da sich der Verkehr zwischen Dozenten und Studenten dort ausschließlich auf Sehvermögen und Gehör stützt. Uns dagegen ist nur die Daktylologie, das ABC der Finger, zugänglich. Und im Vergleich zur gewöhnlichen Sprache bewegen sich die Finger etwa so langsam wie das Auto

358 im Vergleich zum Flugzeug. Noch langsamer ist zudem die taktile Wahrnehmung. Deshalb werden die Vorlesungen für uns auf Tonband aufgenommen und dann in die Braille-Blindenschrift übertragen. Seminare, Konsultationen und Prüfungen werden über Teletaktor in unserem Wohnzimmer abgehalten. (Der Teletaktor ist eine Maschine, die es einer Gruppe von Blindtauben ermöglicht, durch taktile Signale in Verkehr mit einem beliebigen Sehend-Hörenden zu treten, der die gewöhnliche oder die BrailleSchreibmaschine beherrscht.) Auch die gesamte Literatur für das Studium, die Kursusarbeiten, die selbständige Lektüre im besonders anziehenden Wissensbereich wird in die Braille-Schrift übertragen.« (Suworow in Gurgenidse & Iljenkow 1976, 227) Weitere aufschlussreiche Details über die »Schwierigkeiten rein technischer Art« finden sich im Bericht Natalia Kornejewas. Zunächst hätten sie und ihre drei Kameraden versucht, sich auf eine direkte Art des Wissenserwerbs einzustellen, doch habe sich dies als »unproduktiv« erwiesen, »da der Übersetzer dem Dozenten kaum folgen konnte und nach wenigen Stunden der Sinn des Übersetzens hinter der Anstrengung zurücktrat, die die Wahrnehmung der Daktyleme erfordert, und hinter den Wunsch, die Lage der ermüdeten Hand zu wechseln«. Auch die direkte Mitarbeit in den Seminaren habe zu unüberwindlichen Problemen geführt, »da wir die Situation des jeweiligen Moments nicht erfaßten - ehe man uns das eine übersetzt hatte, war die Rede schon von anderem«. Infolgedessen mussten andere (nämlich die von Suworow geschilderten) Methoden für die Vermittlung des Lehrstoffes gefunden werden, »die seine qualitative Verarbeitung ermöglichten«. (Kornejewa in Gurgenidse & Iljenkow 1976, 233) 62 Es passt durchaus in das von Meschtscheijakow in den »Taubblinden Kindern« gezeichnete »klinische Bild« Suworows als eines 'schwierigen Schülers' (vgl. oben, S. 314 sowie Suvorov 1979, 336 f.), dass er die Dinge bereits 1975 ohne Scheu beim richtigen Namen genannt und das Augenmerk darauf gelenkt hat, dass die vom taubblinden Kind geforderte »Gewinnung eines menschlichen Verhältnisses zur Umwelt« letztlich identisch ist mit seiner Unterwerfimg unter die (durchaus wohlgemeinte) »Diktatur der Normalen« - es andernfalls genötigt ist, gestützt auf jene »technischen Mittel und Vorrichtungen, die das menschliche Auge und Ohr in der praktischen Tätigkeit des Blindtauben ersetzen« (vgl. Sirotkin a.a.O., 226) sein Verhältnis zur Umwelt »getrennt von den gewöhnlichen« Menschen zu gewinnen. 63 Zu einer detaillierteren Ausführung des Gedankens, dass »Erfolg oder Misserfolg des Unterrichts vor allem davon abhängen, in welchem Ausmaß ein Schüler seinem Lehrer zugetan ist oder von ihm inspiriert wird«, vgl. Suvorov 1979. 64 Zur Erinnerung: Auch Feuerbach fasst ja die Herausbildung der Moralität eines Menschen gewissermaßen als einen Prozess der »Verinnerlichung« auf, freilich in einem ganz anderen Sinne als es der durch Leontjew repräsentierte Ansatz der »Tätigkeitstheorie« tut. »Das Gewissen ist der alter ego, das andere Ich im Ich«, schreibt er bereits in der »Theogonie« (GW 7, 137) und erläutert diese Bestimmung dann in seiner späten Arbeit zur Moralphilosophie, wie folgt: »Was heißt: das andere Ich im Ich? Doch wohl nicht,

359 wie sich für den Verständigen von selbst versteht, das andere Ich mit Haut und Haaren, mit Fleisch und Bein, sondern das vorgestellte, in der Abwesenheit vergegenwärtigte, zu Gemüte gezogene, kurz das Bild des andern ...« (Feuerbach 1994, 419) Dabei ist, wie es weiter heißt, »das Bild des andern (so sehr) in mein Selbstbewußtsein, mein Selbstbild eingewoben, daß selbst der Ausdruck des Allereigensten und Allerinnerlichsten, das Gewissen ein Ausdruck des Sozialismus, der Gemeinschaftlichkeit ist; daß ich selbst in den geheimsten, verborgensten Winkel meines Hauses, meines Ichs mich nicht zurückziehen und verstecken kann, ohne zugleich ein Zeugnis von dem Dasein des andern außer mir abzugeben« (a.a.O, 422). Als treffendes Beispiel für das von Feuerbach Gemeinte kann dann im Übrigen eine weitere autobiographische Notiz S. Sirotkins herangezogen werden. »Meine geistige und emotionale Entwicklung«, schreibt er, »wurde von früher Kindheit an durch eine wohlbekannte Persönlichkeit gefördert: Olga Skorochodowa. Ich wurde ihr durch ihren Lehrer, Professor Sokoljanski, vorgestellt. Sie und ich sollten sehr gute Freunde werden. Schon bald weckte sie mein Interesse für ihre Hobbys, ein Tagebuch zu führen und Geschichten zu schreiben. Oft bat ich meine Mutter, mit mir 'Tante Olja', wie ich sie nannte, zu besuchen. Wenn ich in ihrer Wohnung war, gefiel es mir, an der Braille-Schreibmaschine zu sitzen und Geschichten zu schreiben. Später, an meinem zwanzigsten Geburtstag, machte mir Olga Skorochodowa diese Schreibmaschine zum Geschenk.« (Sirotkin 1979, 328 f.) 65 An späterer Stelle lesen wir: »Am Anfang war Nina während der Prozeduren des An- und Auskleidens, des Waschens, der Toilettenbenutzung oder des Essens nicht einfach nur passiv, sondern widerstand allen Versuchen, ihr selbständige Gewohnheiten beizubringen, indem sie ihre Hände von denen der Lehrer fortzog und ihr Gesicht von ihnen abwandte.« (Meshcheryakov 1979, 101) 66 So heißt es z.B. in der Rita L. betreffenden Fallbeschreibung ganz lapidar: »Allmählich wurzelte sich bei ihr das Bedürfnis ein, die Menschen um sie herum zu imitieren.« (Meshcheryakov 1979, 105) Und über Lena G. erfahren wir: »Genau am Ende ihres zweiten Jahres (im Heim, d.h. im Alter von knapp vier Jahren - P.K.) begann sie, ein Interesse an der Daktylsprache zu zeigen. Sie 'inspizierte' die Hände anderer Schüler und der Erwachsenen, wenn sie sich mit Hilfe der Fingersprache unterhielten. Manchmal versuchte sie, eine Fingerbewegung zu machen, die der ähnlich war, die sie auf der Handfläche eines anderen Kindes 'beobachtet' hatte. Lena begriff (realised), dass Finger über die Handfläche einer anderen Person bewegen 'Konversation' war.« (a.a.O., 206) 67 Zur Erinnerung: Nach Meschtscheijakow hat ein Kind lediglich vier elementare Bedürfnisse: das nach Nahrung, das der Exkretion, das des Selbstschutzes und das nach Bewegung. Woher die Bedürfnisse nach Imitation, Kommunikation und Beifall seitens der Mitmenschen kommen, wird von ihm nirgendwo erläutert. 68 Vgl. die zweite Studie in diesem Band, Kapp. 3.3. u. 4.1.

360 69 »Jedermann muß anerkennen«, schreibt Wygotski in seiner Arbeit über das Problem der Altersstufen, »daß sich zu Beginn jeder Altersperiode eine völlig eigene, für die jeweilige Altersstufe spezifische, einzigartige und unwiederholbare Beziehung zwischen dem Kind und der es umgebenden Wirklichkeit, vor allem der sozialen, herausbildet. Diese Beziehung bezeichnen wir als die soziale Entwicklungssituation der entsprechenden Altersstufe.« (ASch Bd. 2, 75) 70 Hier sei daran erinnert, dass es gemäß den Auffassungen Meschtscheijakows lediglich zwei Hauptstufen in der Entwicklung des Verhaltens und Denkens eines Kindes gibt: die vorsprachliche Periode der »ersten Menschwerdung« und die Periode, in der das Kind Menschheitserfahrungen und gesellschaftliche Verhaltensnormen wesentlich über Sprache vermittelt in sich aufnimmt. Eine für die »Erklärung« des Übergangs von der ersten zur zweiten Entwicklungsstufe notwendige (freilich von Meschtscheijakow nirgendwo deutlich ausgesprochene) Annahme ist dabei, dass jedes »geistig normale« Kind irgendwann einmal (gewöhnlich im Alter von anderthalb bis zweieinhalb Jahren) zwei entscheidende »Entdeckungen« macht: 1. die »Entdeckung«, dass die Mitmenschen »noch einmal Ich« sind, und 2. die »Entdeckung« der Symbolfunktion der Sprache. 71 Wygotski geht davon aus, dass beim Neugeborenen nur von einem »rudimentären Zustand psychischen Lebens« die Rede sein könne, »wo alle eigentlich intellektuellen und volitiven Bewußtseinserscheinungen auszuschließen sind«. Weder gebe es »angeborene Vorstellungen noch ein wirkliches Wahrnehmen, das heißt ein Erfassen äußerer Gegenstände und Vorgänge als solcher«. Das einzige, was man »mit einiger Berechtigung annehmen« dürfe, seien »dumpfe, unklare Bewußtseinszustände, in denen sinnliche und emotionale Bestandteile noch unlöslich miteinander verschmolzen sind« und die man als »sinnliche Gefühlszustände oder als emotional gefärbte Empfindungszustände« bezeichnen könne (ASch Bd. 2, 102). Insgesamt sei das psychische Leben des Neugeborenen durch zwei wesentliche Momente charakterisiert: »Das erste ist das starke Überwiegen undifferenzierten, ungegliederten Erlebens, das gleichsam eine Legierung aus Trieb, Affekt und Empfindung darstellt. Das zweite besteht darin, daß das Psychische des Neugeborenen sich selbst und sein Erleben nicht von der Wahrnehmung der objektiven Dinge trennt und noch nicht zwischen sozialen und physischen Objekten unterschieden wird.« (a.a.O., 103) Das heißt, das neugeborene Kind hebt »weder sich selbst noch andere Menschen aus der Gesamtsituation heraus, die sich aus seinen instinktiven Bedürfnissen ergeben hat. Zweitens existiert für das Kind in dieser Zeit noch nichts und niemand, es erlebt eher Zustände als bestimmte objektive Inhalte.« (a.a.O., 142) 72 Bekanntlich ist gerade das »erste Lächeln« des Säuglings für die ihn betreuenden Erwachsenen ein »Schlüsselreiz« von grundlegender, die weitere Ausgestaltung ihres Verhaltens zu ihm direkt beeinflussender Bedeutung. 73 Überaus wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Wygotski die bereits im Säuglingsalter auftretenden Nachahmungshandlungen als Handlungen auffasst, die in direkter Weise ein elementares soziales Bedürfnis befriedigen:

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»Die Gemeinschaft ist als psychisches Faktum eine innere Motivation ... Das Kind verschmilzt in seinem Tun unmittelbar mit dem, den es nachahmt. Das Kind ahmt niemals Bewegungen unbelebter Dinge nach, zum Beispiel das Schwingen eines Pendels. Zu Nachahmungshandlungen kommt es beim Säugling unverkennbar nur dann, wenn eine persönliche Gemeinschaft zwischen ihm und dem, den er nachahmt, besteht.« (Wygotski ASch Bd. 2, 149 f. - Hervorhn. P.K.) Deutlicher noch als bei »geistig normalen« taubblinden Kindern macht sich dies im Übrigen bei jenen Kindern bemerkbar, bei denen zusätzlich zu ihrer Taubblindheit auch noch »geistiges Zurückgebliebensein« (mental retardation) diagnostiziert wird (vgl. hierzu ausführlicher Meshcheryakov 1979, 281-290). Es sind demzufolge nicht »die Abbilder der selbständigen Handlungen, die dem Kind allmählich den Pädagogen ersetzen«, wie Sirotkin im Anschluss an Leontjew unterstellt, sondern umgekehrt: Das »Abbild« des Pädagogen ermöglicht es dem Kind, jene Handlungen »selbständig« auszuführen, die vorher der Pädagoge gemeinsam mit ihm ausführte. Nach Wygotski besteht der wesentliche innere Widerspruch der »sozialen Entwicklungssituation« im Säuglingsalter darin, »daß bei maximaler Abhängigkeit von den Erwachsenen, bei völligem Eingebettetsein des gesamten Verhaltens des Säuglings in Soziales das Kind noch nicht über das Hauptmittel der sozialen Kommunikation, die menschliche Sprache verfügt. (...) Mit seiner gesamten Lebensweise ist er (der Säugling - P.K.) darauf angewiesen, in maximalem Umfang mit Erwachsenen in Kommunikation zu treten. Aber diese Kommunikation ist eine wortlose, oftmals stumme Kommunikation ganz eigener Art.« (ASch Bd. 2, 109). »Von jedem Gegenstand«, schreibt Wygotski, der sich bei der Erläuterung dieses Phänomens auf experimentelle Untersuchungen des deutschen Psychologen K. Lewin beruft, »geht gleichsam ein Affekt aus, er wirkt anziehend oder abstoßend auf das Kind, löst eine gewisse Motivation bei ihm aus. Jeder Gegenstand zieht das Kind an, es möchte ihn berühren, in die Hand nehmen, betasten. Oder es tritt auch das Gegenteil ein: Der Gegenstand stößt das Kind ab. Der Gegenstand gewinnt das, was Lewin als Aufforderungscharakter bezeichnet. Jedes Ding vermag beim Kind einen Affekt auszulösen. Der Gegenstand kann dermaßen verlockend sein, daß er einen 'Befehlscharakter' annimmt. Folglich stellen für das Kind dieses Alters die Dinge seiner Umwelt gleichsam ein Kräftefeld dar, in dem die ständig auf es einwirkenden Dinge es anziehen und abstoßen. Das Kind kann nicht gleichgültig beziehungsweise 'uneigennützig' gegenüber den Dingen seiner Umgebung sein. Wie Lewin bildhaft zum Ausdruck bringt, reizt eine Treppenstufe das zweijährige Kind zum Heraufklettern und Hinunterspringen, Türen reizen es zum Aufmachen und Zuschlagen, mit dem Glöckchen muß geklingelt, ein Kästchen muß auf- und zugemacht, ein Ball muß gerollt werden. Mit einem Wort, jedes Ding ist für das Kind in dieser Situation mit solch einer affektiven Kraft der Anziehung und Abstoßung geladen, besitzt für es eine affektive Valenz und provoziert es, entsprechend zu handeln, das heißt, das Kind wird von den Dingen gesteuert.« (ASch Bd. 2, 200 f.)

362 78 Unter »hypobulischen« Reaktionen (der Ausdruck stammt von E. Kretschmer) ist nach Wygotski Folgendes zu verstehen: »Als Krisenerscheinung treten beim Kind erste Verhaltensformen des Protestes, der Opposition, des Sichwidersetzens, der 'Widerspenstigkeit' auf, um es mit Worten aus der autoritären Familienerziehung zu sagen. (...) Bei einem Kind, dem man irgend etwas verwehrt oder das man nicht verstanden hat, kommt es gewöhnlich zu einer starken Zuspitzung des Affekts, der oftmals damit endet, daß sich das Kind hinwirft, wütend schreit, sich weigert, weiterzugehen, mit den Füßen auf den Fußboden stampft. Aber es ist bei alledem immer seiner Sinne mächtig, es kommt nicht zum Speichelausfluß, nicht zur Enuresis, noch treten andere Symptome auf, die für epileptische Anfalle kennzeichnend sind.« (a.a.O., 164) 79 Vgl. hierzu Stumpf 1901 sowie Wygotski a.a.O., 180, 183, 187. 80 Vgl. hierzu auch die einschlägigen, Lena G. und Jelena B. betreffenden Mitteilungen Meschtscheijakows (Meshcheryakov a.a.O., 208 u. 211). 81 N.B.: Dem Literaturverzeichnis von Meschtscheijakows Buch ist zu entnehmen, dass er die betreffende, Probleme der Entwicklung im Vorschulalter behandelnde Arbeit Wygotskis kannte, die erstmals 1935 und dann erneut 1956 publiziert worden war. 82 Zum »Fall« Oliver Caswell vgl. Meshcheryakov a.a.O., 52 ff. 83 Nicht, um damit ihre eigene Leistung zu schmälern, sondern nur, um der Meschtscheijakows einseitiger Betonung der »technischen« Momente inhärenten Perspektiwerzerrang entgegenzuwirken, muß spätestens an dieser Stelle daran erinnert werden, daß Anne Sullivans Erfolge durch den eigentlichen 'guten Engel' im Leben Helen Kellers, Sarah Washington, gewissermaßen 'vorprogrammiert' worden sind. Immerhin war sie es, die »den Lebensweg von Helen Keller von ihrem ersten Lebenstag an (begleitete). Sie saß vorurteilsfrei an ihrem Bettchen, sie faßte den ganzen Tag ihre Hand und zeigte ihr die Umwelt. Sie teilte mit ihr das Leben. Das waren die Voraussetzungen, die es der späteren Lehrerin von Helen Keller ermöglichten, mit ihr die Begriffe für die Gegenstände zu lernen, die Helen aus der Umwelt bereits kannte. Die kleine Sklaventochter ist vergessen worden. Sie war die gute Kraft, die das 'Wunder' bewirkte.« (Mann 1991, 154)

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PERSONENREGISTER Adelung, J.Ch. 254, 363 Aglaus (griech. Sagengestalt) 27 Ahlberg, R. 242 Aprauschew, A. 350 Arndt, A. 22, 156, 242, 363 Aschen, C. 365 Axelrod-Orthodox, L.A. 88, 365

Campe, J.H. 254, 363 Cassirer, E. 241, 280 f., 363f. Caswell, O. 346,362 Claparfede, E. 159 Cole, M. XIV, 153, 364 Comte, A. 215 Cornu, A. 242,364

Bachmann, C.F. 23 Bacon, F. XIX, 69, 91, 128, 143, 146, 159, 363 Bäuerle, G. 347 Bakhurst, D. 317,350,353,363 Bastian, A. 86 Batischtschew, G.S. 241, 253, 363 Bauer, B. 36, 157, 204 Bauer, E. 36, 365 Bebel, A. 5 Bechterew, W.M. 139, 140, 303, 363 Belke, I. 271, 363, 375 Bernstein, E. 206, 375 Beurton, P. XXXVII, 242 Beyer, C. 33,363 Bialas, W. 2,363 Bielfeldt, H.H. 40, 363 Binswanger, L. 136 Bismarck, O. von 33 Bleuler, E. 96 f., 137, 158, 159 Blonski, P. 161 Bode, H. 33 Boehlich, W. 66, 136, 363, 367 Böhme, J. 258 Bogdanow, A.A. 90, 101 ff., 160 Bolin, W. XXIX, 29, 37, 39, 63, 64, 65, 136, 363 Boris G. 351 Boshowitsch, L.I. 147, 152 f. Braun, H.-J. XXXVII, 363, 371, 376 Brentano, F. 136 Broda, R. 229,264 Bruschlinski, A.W. 248, 263, 363 Budilowa, J.A. IX, XI, 63, 110, 248, 254, 363 Bühler, Ch. 173, 257, 280 f., 363 Bühler, K. 115 f., 144, 146, 149, 151, 163 f., m,363

Darwin, Ch. 164, 169, 282, 338 Daumer, G.F. 54, 130, 149, 364 Dawkins, R. 281, 364 Dawydow, W. 305,350 Deborin, A.M. 45, 87-94, 144, 154, 155, 156, 263, 302, 365 Dessoir, M. 63, 364 Dilthey, W. XXIV, XXV, XXVI, XXVIII, 168, 210 ff., 215, 263 f., 265, 279, 364 Diderot, D. 11 Dobkin, S. 143,364 Dostojewski, F.M. 120 Duboc, J. 11,212 Dudyschkin 157 Duncker, K. 21%, 364 Dürkheim, E. 101 Eckardt, G. 212,364 Elkonin, D.B. XIII, XIV, 75, 112, 145, 153, 161, 342, 364 Engels, F. XII, XXVIII, XXIX, 1-4, 12-15, 16, 20-23, 25, 26, 28 ff., 3539, 41, 42, 47, 62, 76, 88, 91 ff., 133, 154, 155, 195, 206, 208, 245, 252,364f., 374, 375 Engeström, Y. 113,365 Fajans, S. 334, 365 Feuerbach, B. (L. Feuerbachs Gattin) XXXV, 6, 10, 33 f. Feuerbach, E. (L. Feuerbachs Tochter) 33 f. Feuerbach, L. III, XI f., XIX-XXIII, XXVI, XXVIII ff., XXXIII ff., 142, 43-69, 74 ff., 84-91, 94 ff., 103 f., 107, 109, 114, 121, 123-127, 127-137, 141 ff., 144, 147, 148, 152, 154, 156 ff., 160, 162, 165,

382 170, 179 f., 185, 196-205, 207, 208, 215, 216, 242, 243 f., 258, 259 ff., 265 f., 266 f., 274, 283 ff., 292-295, 300, 327, 331, 333, 335 f., 337, 347, 356, 358 f., 365f. Feuerbach, P.J.A. von 54, 130, 255, 366 Feuser, G. 348,366 Fichte, J.G. 42, 52, 129, 198, 202, 216, 246, 254 f., 257, 258, 260, 266, 366 Finger, O. 30, 42, 366 Freud, S. XIX, XXX, 30, 66 f., 69, 95 f., 106, 110, 136 f., 139, 144, 366f. Freyer, H. XXV, XXVIII, 168, 241, 272, 277 f., 318, 354, 367 Friedrich, J. 105, 117, 145, 150, 367 Fröbel, J. 33 Galperin, P.J. XVI ff., XXXVI, 161, 367 Gerhardt, S. 242 G.F. 367 Gimpl, G. XXV, 242 Goethe, J.W. v. 159 Gratschewa, J.K. 114, 294 f., 301, 302, 349 Groos, K. 173, 246, 367 Grün, K. 6, 7, 9, 11, 13, 15, 16, 17, 18, 20, 26, 27, 29, 39, 46, 47, 60, 127, 136, 160, 284, 347, 367 Gurgenidse, G. 304, 305, 306, 309, 311, 316, 317, 329, 350, 358, 367 Gyges (oder Krösus: griech. König) 27 Hager, K. 3,4,367 Halbwachs, M. Hanfman, E. XVI, 367 Harich, W. XXIX, 3, 22 f., 26, 41, 42, 367 Hartmann, E. von 276, 367 Hartmann, N. 168, 367 Hauser, K. XXXVII, 54, 59, 130, 148 f., 349 Hegel, G.W.F. XIX f., XXIV f., 3, 4, 17, 30, 34, 35, 42, 49, 69, 76, 89, 93, 101 f., 128, 143, 144, 147,

150, 155, 156, 157, 182, 183, 185, 196, 198, 203, 209 f., 215, 224, 251, 260, 265, 271, 279, 367f. Heidenreich, F.W. 130, 148 f., 368 Heinsius, Th. 254, 368 Heller, D. 271,368 Helv£tius, Cl.-A. 11 Herbart, J.F. 129, 135, 217, 268, 368 Herder, E.G. von 5 Herder, J.G. von XXXIX, 165 f., 216, 246, 257, 266, 271, 273, 368 Heyse, J.Ch. 255,368 Hildebrand, B. 270, 272, 368 Hobbes, Th. 91 Höppner, J. XI f., 201, 368, 374 Holbach, P.H.D. baron de 11 Holz, H.H. 264 f.,368 Holzkamp, K. IX f., XIV f., XXII, XXVII f., XXX ff., XXXVI, XXXVII, XXXVIII, 134, 168, 177, 209, 241, 278, 347, 368 Holzkamp-Osterkamp, U. 177, 368 Howe, S.G. 346 Humboldt, W. von 269, 272, 369 Husserl, E. XXXVI, 142 f., 281, 369 Iljenkow, E.W. 209 f., 241 f., 264, 304-307, 309,311,316 f., 329, 350, 353, 358, 367, 369 Irrlitz, G. 201, 369 Itard, J. 296 Jaeger, S. XXXVIII, 242, 369 Jaeschke, W. 23, 31, 38, 242, 369 Janet, P. 14 f., 369 Jantzen, W. 150,348,369 Jaroschewski, M.G. 210 f., 251 f., 369 JelenaB. 362 Jennings, H.S. 76, 78, 147 f., 369 Jodl, F. XXV, XXVIII, 63-66, 135 f., 168, 212-215, 264, 265, 266, 318, 354, 369 Johannes der Täufer 25 Kaltschmidt, J.H. 255,369 Kant, I. 19, 91, 102, 157, 165, 260, 294, 355, 369f.

383 Kapp, Fr. 27, 34 Karew, N. 90, 92, 155 Kautsky, K. 206, 375 Kawelin, K.D. 231 Kedrow, B. 350 Keiler, P. X, XIX ff., XXIII, XXV, XXX, XXXIII, XXXV, XXXVI, 41, 42, 66, 128, 149, 150, 173, 177, 250,264, 278, 370f. Keller, H. 292, 315 ff., 342-346, 348 f., 353, 354, 356, 362 Keseling, G. XVI, 371 Köhler, W. 82, 115 f., 149, 150 f., 164, 173, 278, 371 Köhnke, K.Ch. XXVI, 242 Koffka, K. 115, 121, 173, 246, 371 Kohut, A. XXXV, 283, 347, 371 Kolbanowski, W.N. 161 Kondakow, N.I. 258,577 Kornejewa (Korneyeva), N. 304, 307, 310, 311 ff., 315, 328 f., 336, 351, 352, 358, 371 Kosing, A. XXIX, 28, 371 Kostjuk, G.S. 248 Kozulin, A. 146,577 Krasusski, W. 301 Kretschmer, E. 151, 362 Krösus (oder Gyges: griech. König) 27 Krug, W.T. 202, 247, 577 Kugelmann, L. 35 f. Kurella, A. 185 f., 196, 201, 209, 241 f., 252 f., 262, 572 Landshut, S. 251 Lang, A. XXXIX, 242 Laufenberg, H. 177, 572 Lawrow (Lavrov), P.L. 274 Lazarus, M. XXVI ff., XXXVIII, 134, 137, 146, 168, 215-230, 266, 269, 270 f., 272 f., 276, 318, 572, 375 Le Bon, G. 139 Lefevre, W. XXXVIII, 34, 35, 61, 572 Leibniz, G.W. 51, 64, 129, 203, 260 Leicht, A. 271,572 Lena G. 309 f., 315, 341, 359, 362

Lenin, W.I. 10 ff., 28, 41, 62, 87 ff., 92 f., 101 ff., 147, 154, 155, 157, 160, 572 Leontjew (Leont'ev), A.A. 152, 575 Leontjew (L^ontiev), A.N. IX ff., XII-XIX, XXII-XXVIII, XXXII f., XXXVI, 62, 70, 98, 113, 134, 137, 144 f., 145, 146, 147, 148, 150, 152 f., 161, 162, 167 f., 170-191, 196, 209-212, 213, 215, 230 f., 241 f., 244-249, 251, 252, 253, 263, 274 f., 276, 277 f., 282, 304, 309 f., 315 ff., 318, 319, 320, 327, 329, 332, 336, 350, 353, 354, 355, 356, 358, 361, 575 Lerner, J. 304, 307, 310, 311 ff., 315, 351, 352, 575 Lessing, H.-U. XXVI, XXXVII, 575 Lewin, K. 278, 361, 575 Lewina, R.J. 98, 152 Lichtenberg, G.Ch. 71, 86, 152 Liebknecht, W. 5 Lifschiz, M. 350 Lilienfeld, P. von XXV f., XXVIII, 63, 215, 230-241, 242, 253, 274 f., 282, 374 List, F. 272, 374 Lompscher, J. XIV, 374 Lorenz, S. 201, 374 Luckmann, Th. XVI, 374 Lüning, O. 33 Lukäcs, G. 27, 30, 42, 156, 242, 279 f., 374 Lurija (Luria), A.R. XV f., XIX, 70, 98, 113, 144, 145, 146, 148, 152 f., 161, 162, 304, 350, 575, 374, 379 Maiers, W. XXXVI, 374 Makarenko, A.S. 351,374 Manske, Ch. (Pseudonym Iris Mann) 348, 362, 374 Marejewa, R. 307, 312 Marx, K. III, IX-XII, XV, XXI, XXIII ff., XXIX, XXXIII, 1-4, 9, 12, 13, 14, 20, 21-28, 33 f., 35, 36, 38, 39 f., 41, 42, 49 f., 62, 67, 69, 71 f., 76, 85, 88, 89, 91 f., 128, 132, 133, 140, 150, 154, 157, 168, 174 f., 177 ff., 181 ff., 185, 188,

384 195 f., 197 f., 203-209, 210, 212, 241, 245, 247, 249 ff., 252, 253, 259-263, 274, 279 f., 310, 319 f., 354,365, 374f. Mayer, J.P. 251 Memminger, A. 39 Merleau-Ponty, M. XXXVI Meschtscheijakow (Meshcheryakov, Mestscheijakow) A.I. XXXIV, 304 f., 307-312, 315-321, 323-328, 330 ff., 341 f., 344 ff., 350-353, 354 ff., 358 ff., 361, 362, 375 Mitin, M.B. 90-93, 155, 156, 161, 375 Mjasischtschew, W.N. 248 Moleschott, J. 157, 158 Morosowa, N.G. 152 Müller, A.H. 269 f., 272, 375 Müller, J. 53, 129, 375 Natalia Sh. 312 Naumenko, L. 350 Nietzsche, F.W. 30,66 NinaH. 310,315,359 Nowikow, N. 274,375 Obuchowa, L. 328 Oiserman, T.J. XXXIX, 376 Oteron, P. 248, 376 Oliva Ruiz, L. 148,579 Padden, C. 317,350,353,365 Paulhan, F. 122 Pawlow, I.P. 169, 172, 173, 245, 246, 248, 303 Piaget, J. 74 f., 83 f., 94-105, 110, 113, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 376 Pi€ron, H. 215, 376 Plechanow, G.W. 10-12, 20 ff., 35, 40 f., 42, 44, 61,62, 68, 85, 87 f., 127, 128, 133, 134, 134 f., 137 f., 155, 157, 376 Proudhon, P.J. 35,206,261 Prout, Th. 257 Radsichowski, L.A. 44, 127, 147 Rawidowicz, S. 22, 41, 88 f., 136, 154, 349, 376 Reitemeyer, U. 132, 376 Rensch, B. 275 f., 376

Ricardo, D. 206, 376 Richter, F. 5, 33, 376 Richter, K. 2,363 Riedel, K. 32 RitaL. 309 f., 315, 359 Rjasanow, D. 87, 155, 156 f., 251, 376 Röhr, W. XXXVII, 242 Ruben, P. XXIV, XXXVII, 242, 254 Rubinstein, S.L. IX, XII ff., XVII ff., XXXII f., XXXVI, 62, 153, 157, 168, 176, 178-190, 191, 196, 209, 210, 231, 241, 242, 248, 249252, 254, 256, 258, 263, 264, 274, 377 Rüge, A. 35 Samski, Ch.S. 348,350,377 Saporoshez, A.W. 147, 152 f., 307 Sass (Saß), H.-M. XXXVII, 31, 42, 66, 363, 371, 376, 377 Schachlewitsch, T.M. XIV, 377 Schäffle, A.E.F. XXV, 168, 215, 241, 276, 377 Schelling, F.W.J. 42, 54, 129 f., 131, 157, 252, 261, 377 Schleiermacher, F.D.E. 255, 377 Schmidt, A. 66, 377 Schmidt, H.-D. XXXVII, XXXIX, 178, 209, 242, 377 Schopenhauer, A. 30, 64, 66, 135 Schröder, W. 201,374 Schuffenhauer, W. XXXVII, 1, 26 f., 32 ff., 38, 39, 41, 42, 204, 242, 363, 369, 371, 376, 377f., 378 Schurig, V. X, XV, XXVII, XXXII, 168, 177, 209, 241, 368, 371 Schwab, D. 255,378 S€guin, E. 295 f., 349 f. Seidel, H. 177, 372 Seigarnik, B. 350 Setschenow, I.M. 231 Sfeve, L. 2,62,242,378 Shakespeare, W. 279 Silberstein, E. 136 Simmel, G. XXV, XXVIII, 168, 241, 276 f., 279, 354, 378

385 Sirotkin, S. (Sergej S.) 304, 306 ff., 310 ff., 315, 328, 336, 350 ff., 357 ff., 361, 378 Skorochodowa (Skorokhodova), O. 304, 307, 316, 352, 359, 378 Slawina, L.S. 152 Smith, A. 206,207 Sokoljanski, I. 303 ff., 311, 315 f., 317, 330, 350, 352 f., 359 Spinoza, B. 68, 69, 91, 128, 143, 378 Sprung, H. XXXVII, 273, 378 Sprung, L. XXXVII, 242 Staeuble, I. XXVI, XXXVIII, 369, 378 Stalin, J.W. XXII, XXX f., 87, 89, 90, 93 f., 113, 154 f., 156, 286, 378 Starcke, C.N. XXVIII f., 13 ff., 16, 37, 39, 378 Steinfeld, F. 177, 372 Steinthal, H. III, XXVI f., 134, 137, 146, 215-220, 266, 268 f., 270, 272, 372, 375, 378 Sten, J. 90, 92, 155 Stern, Cl. 105, 378 Stern, W. 104, 105, 110, 115, 145, 161, 378 Stirner, M. 36, 157 Strauß, D.F. 136 Stscherbina, A.M. 289,348 Stumpf, C. 340, 362, 378 Sullivan, A. 315 f., 344 ff., 354, 356, 362 Suworow (Suvorov), A. 304, 307, 310, 311 f., 314, 315, 328, 346, 351, 352, 358, 378

Ulmann, G. 242 Vakar, G. XVI Valsiner, J. XXXI, XXXVI, 68, 87, 146, 147, 161, 173, 257, 302, 348, 349, 379 van der Veer, R. XXXI, XXXVI, 68, 87, 146, 147, 161, 173, 257, 302, 348, 349, 379 Vogt, K. 33, 157 Wacker, A. 178,249,579 Wahrig, G. 159, 379 Warnke, C. XXXVII Washington, M. 343, 362 WasjaU. 312,351 Wickler, W. 281 f., 379 Willmann, O. 255 f., 257, 379 Windelband, W. 32, 39, 281, 380 Winkler, M. 242 Wlassowa, T. 350 Wolkogonow, D.A. 155, 380 Wortis, J. 161, 349, 380 Wundt, W. XXVII, 115, 136, 139, 140, 146, 380 Wygotski (Vuigotskij, Vygotski, Vygotsky), L.S. XI, XII-XXIV, XXVIII, XXX f., XXXIII ff., XXXVI, XXXVII, 44 f., 67-86, 92124, 126 f., 135, 137-148, 149-153, 157, 158 ff., 161-165, 168 ff., 171, 173 f., 190, 192-195, 242 f., 244, 246, 252, 256, 257 f., 283, 285292, 296-303, 305, 306, 307, 331342, 344, 345, 348, 349, 350, 353, 360, 361, 362, 374, 379, 380 Zazzo, R. 246, 380

Taubert, I. 42,378 Teplow, B.M. 145, 148, 161 Thies, E. 365 Thorn, M. 2, 363 Tolman, E.C. 278 Tolstoi (Tolstoj), L.N. 158, 379 Torna B. 312 Tomasoni, F. 363, 371, 376 Trujillo Matienzo, C. 148, 379 Tschernyschewski, N.G. 11,87,94, 127, 137, 157 f.